Fühlen und Form: Eine Theorie der Kunst 9783787328802, 9783787328796

Susanne K. Langer gehört zu den einflussreichsten amerikanischen PhilosophInnen des 20. Jahrhunderts. Die Whitehead-Schü

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German Pages 660 [692] Year 2018

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Fühlen und Form: Eine Theorie der Kunst
 9783787328802, 9783787328796

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Philosophische Bibliothek

Susanne K. Langer Fühlen und Form Eine Theorie der Kunst

Meiner

SUSANNE K . L ANGER

Fühlen und Form Eine Theorie der Kunst

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christiana Goldmann und Christian Grüny Mit einer Einleitung, Literaturverzeichnis und Registern herausgegeben von Christian Grüny

FELIX MEINER VERL AG HA MBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 685

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2879-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2880-2

Gedruckt mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Erstveröffentlichung unter dem Titel Feeling and Form. A Theory of Art Developed from Philosophy in a New Key, New York 1953. Copyright für die deutsche Ausgabe Felix Meiner Verlag Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruck­papier: alterungs­beständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Einleitung. Von Christian Grüny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

2. Form und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

3. Fühlen und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

4. Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

SUSANNE K . L ANGER

Fühlen und Form Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

TEIL I  ·  Das Kunstsymbol 1. Kapitel: Das Maß der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

2. Kapitel: Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Kapitel: Das Symbol des Fühlens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

TEIL II  ·  Die Herstellung des Symbols 4. Kapitel: Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5. Kapitel: Virtueller Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6. Kapitel: Die Modi des virtuellen Raums . . . . . . . . . . . . 186 7. Kapitel: Das Bild der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 8. Kapitel: Die musikalische Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 9. Kapitel: Das lebendige Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

6

Inhalt

10. Kapitel: Das Prinzip der Assimilation . . . . . . . . . . . . . 274 11. Kapitel: Virtuelle Mächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 12. Kapitel: Der magische Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 13. Kapitel: Poesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 14. Kapitel: Das Leben und sein Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 15. Kapitel: Virtuelle Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 16. Kapitel: Die großen literarischen Formen . . . . . . . . . . 465 17. Kapitel: Die dramatische Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 18. Kapitel: Die großen dramatischen Formen: der Rhythmus des Komischen . . . . . . . . . . . . 531 19. Kapitel: Die großen dramatischen Formen:   der tragische Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 Teil III  ·  Die Macht des Symbols 20. Kapitel: Expressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 21. Kapitel: Das Werk und seine Öffentlichkeit . . . . . . . . 624 Anhang Eine Bemerkung zum Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Von Susanne K. Langer verwendete Literatur . . . . . . . . . . 659 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681

EINLEITUNG

1. Allgemeines For meaning is expression, which depends upon order; and the art of expressing very subtle ideas is the art of seeing very subtle forms, very delicate patterns in nature, thought, and feeling.1 Das vorangestellte Zitat aus Susanne K. Langers erstem Buch, The Practice of Philosophy von 1930, kann als Beschreibung ihrer gesamten philosophischen Arbeit gelten. Den Beginn bildet der Begriff der Bedeutung, der von Anfang an im Zentrum stand und im Laufe der Jahrzehnte immer reicher kontextualisiert und in eine Philosophie der Symbole, der Kunst und schließlich des Lebendigen eingewoben wurde. Die Kopplung der nächsten beiden Begriffe, Ausdruck und Ordnung, benennen den Raum, in den dieser Bedeutungsbegriff eingezeichnet wird – »expression« ist bei Langer im logischen Sinne als Benennung, Beschreibung, Darstellung gemeint, und Struktur und Ausdruck stehen nicht im Widerspruch, sondern bedingen einander. Der zweite Teil des Satzes beschreibt die sehr spezifische Ausprägung, die sie ihrer Symbolphilosophie gegeben hat: Der Ausdruck oder die Darstellung von Ideen und die Wahrnehmung von Formen und Mustern werden hier nicht nur in einen engen Zusammenhang miteinander gebracht, sondern geradezu miteinander identifiziert. Auch zu einer Zeit, in der Langer ihr eigenes Unternehmen noch einem weiten Begriff von Logik zuordnete, wird der Subtilität und Sensibilität der Auffassung und des   PP 102. Die Texte Langers werden im Folgenden mit Kürzel im Text zitiert; s. dazu das Literaturverzeichnis. Seitenzahlen ohne Kürzel verweisen auf die vorliegende Ausgabe. 1

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Ausdrucks zumindest so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie der systematischen Analyse oder Konstruktion von Systemen. Die zwei unterschiedlichen Auffassungen von Philosophie, die James Campbell bei Langer beobachtet und als unvereinbar betrachtet – »her sense of the fullness of experience, incorporating as it does art and mythology and ritual and dreams« auf der einen und »an understanding of philosophy that would limit it to the analysis and improvement of our stock of concepts« 2 auf der anderen Seite – müssen als zwei Seiten desselben Unternehmens angesehen werden, denn es geht um »ways of saying things, that make for special ways of seeing things« (M1 xxii). Philosophische Begriffe werden nicht nur im Hinblick auf ihre Kohärenz und Eindeutigkeit, sondern vor allem auch in Bezug auf ihre Angemessenheit an Welt und Erfahrung untersucht, und dafür bedarf es neben logischer Strenge großer Sensibilität der Auffassung und Subtilität des Ausdrucks. Man darf wohl sagen, dass Langers Stärke, bei allem Insistieren auf Logik, vor allem im letzteren Bereich liegt. Als Gegenstände, auf die sich diese Sensibilität richtet, werden Natur, Denken und Fühlen genannt, die in der Tat die zentralen Gegenstände ihrer Forschungen bis zu ihrem Lebensende waren. Nicht explizit genannt ist derjenige Bereich, der den Angelpunkt ihres Denkens und den Gegenstand des vorliegenden Buches bildet: die Kunst, die in dem frühen Buch tatsächlich nur einen peripheren Auftritt hat. Tatsächlich aber ist sie mit der Evokation größtmöglicher Subtilität in Wahrnehmung und Darstellung recht direkt angesprochen, auch wenn die »Kunst« des Ausdrucks und des Sehens nicht die Kunst im engeren Sinne ist. Man könnte es so sagen: Der Ort, an dem die Subtilität der Wahrnehmung und des Ausdrucks besonders kultiviert werden, ist gerade die Kunst, und die Aufgabe   James Campbell, Langer’s Understanding of Philosophy, in: Trans­ actions of the Charles S. Peirce Society 33,1 (1997), S. 133–147, hier 138. Robert Innis spricht treffender von einer »double philosophical method, of top down and bottom up« (Robert E. Innis, Susanne Langer in Focus: The Symbolic Mind, Bloomington: Indiana UP 2009, S. 255). 2



Einleitung

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der Philosophie ist es mehr als alles andere, dies aufzuarbeiten und ihm gerecht zu werden. Nicht zuletzt diese zentrale Rolle der Kunst macht Langers Symbolphilosophie so bemerkenswert. Susanne K. Langers Philosophie ist in Deutschland alles andere als präsent. Das einzige ihrer Bücher, das ins Deutsche übersetzt wurde, ist Philosophy in a New Key von 1942, das zuerst 1965 erschien und seit langem vergriffen ist. Dass es in den USA kaum anders aussieht, wurde immer wieder bemerkt – auch wenn eben jenes Buch angeblich das bis heute meistverkaufte Paperback in der Geschichte der Harvard University Press ist. 3 Die Sekundärliteratur ist überschaubar; es liegt nur eine Handvoll Monographien vor, von denen besonders die von Rolf Lachmann und Robert Innis hervorzuheben sind, einige Langer gewidmete Ausgaben von Zeitschriften und ein (!) Sammelband.4 Der einzige Bereich, in dem sie bis heute kontinuierlich rezipiert wird, ist die Diskussion um Musik und Gefühl 5 – wobei dieser Fokus eine deutliche, bis zur Verzerrung gehende Reduktion ihrer Philosophie mit sich bringt –, und der amerikanische Diskurs zur Musikerziehung. 6 Ange  So Richard M. Liddy, »Susanne K. Langer’s Philosophy of Mind«, in: Transactions of the Charles S. Peirce Society 33, 1 (1997), S. 149–160, S. 158, Fn. 1. 4  Rolf Lachmann, Susanne K. Langer. Die lebendige Form mensch­ lichen Fühlens und Verstehens, München: Fink 2000; Innis, Susanne Langer in Focus, a. a. O.; Journal Phänomenologie 45: Susanne K. Langer: Fühlen und Form (2016); Cornelia Richter u. Petra Bahr (Hg.), Naturalisierung des Geistes und Symbolisierung des Fühlens. Susanne K. Langer im Gespräch der Forschung, Marburg 2008 5  Vgl. etwa Malcolm Budd, Music and the Emotions. The Philosophical Theories, London u. New York 1992, S. 104 ff.; Stephen Davies, Musical Meaning and Expression, Ithaca u. London 1994 (Cornell UP), S. 123 ff.; Laird Addis, Of Mind and Music, Ithaca u. London 1999 (Cornell UP), S. 23 ff.; für den deutschen Sprachraum Peter Rinderle, Die Expressivität von Musik, Paderborn 2010, S. 77 ff. 6  Vgl. etwa Bennett Reimer, A Philosophy of Music Education, Englewood Cliffs 1970 (Prentice Hall). Exemplarisch für Langers Rolle in diesem Feld ist die Tatsache, dass die erste Ausgabe der Philosophy of 3

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sichts all dessen ist eine allgemeinere Einführung in ihr Denken am Platze, die von den Motiven des Eingangszitats ausgehen kann. Die Kontinuität von Langers Denken über die beinahe fünf Jahrzehnte ihrer philosophischen Arbeit ist bemerkenswert; dennoch lassen sich einige Verschiebungen ausmachen. So unterteilt Rolf Lachmann die philosophische Entwicklung Langers in drei Phasen, von der symbolischen Logik über den neuen Symbolbegriff und die Philosophie der Kunst bis zu einer Begründung der Wissenschaften vom Menschen.7 Zwischen diesen Phasen finden sich keine Brüche oder grundlegende Wenden, sondern Transformationen und Erweiterungen der zentralen Begriffe und Schwerpunktverlagerungen, die als Vertiefungen verstanden werden. Tatsächlich kann man s­ agen, dass Langers Philosophie auf recht wenige Grundbegriffe auf baut, anhand derer ihr Denken hier vorgestellt werden soll: Form, Symbol, Fühlen und Akt. Während die ersten beiden Begriffe sich von den frühesten Texten bis zur großen, biologisch informierten Theorie des menschlichen Geistes im dreibändigen Mind. An Essay on Human Feeling ziehen, gewinnt derjenige des Fühlens erst in der mittleren Phase an Prominenz, und der Aktbegriff ist eine Errungenschaft der letzten Phase, die hier nur sehr kursorisch in den Blick genommen werden soll. In den folgenden zwei Abschnitten werde ich mich zuerst anhand der Begriffe Form und Symbol den frühen Texten bis zu Philosophy in a New Key zuwenden, um dann mit dem Begriff des Fühlens das vorliegende Buch in den Blick zu nehmen und mit einem Ausblick auf Mind zu enden. Einige Bemerkungen zur Übersetzung werden die Einleitung abschließen. Music Education Review von 1993 mit Beiträgen von Estelle Jorgensen, Mary Reichling, Iris M. Yob, Kingsley Price, Bennett Reimer und Forest Hansen im Ganzen Langers Denken gewidmet ist. 7 Lachmann, Susanne K. Langer, a. a. O., S. 15 ff. Innis ist hier zurückhaltender und betont eher die Kontinuität (vgl. Susanne Langer in Focus, a. a. O.) – offensichtlich gibt es Anhalt für beides.



Einleitung

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2.  Form und Symbol Der wichtigste akademische Lehrer der Studentin Langer war der Logiker Henry M. Sheffer, der Betreuer ihrer Dissertation Alfred N. Whitehead, und beide haben ihr Denken nachhaltig geprägt. Die ersten Arbeiten Langers standen ganz im Zeichen Sheffers und damit der symbolischen bzw. mathematischen Logik, wenn auch bereits in einem denkbar weiten Verständnis. 8 Tatsächlich ist es weniger die Introduction to Symbolic Logic von 1937 als ihr 1930 veröffentlichtes erstes Buch The Practice of Phi­ losophy und die in dessen Umkreis veröffentlichten Aufsätze, in denen Langer die für ihr Denken zentralen Motive ausbreitet. Die Veränderungen, die zwischen diesem Buch und dem zwölf Jahre später erschienenen Philosophy in a New Key liegen, betreffen den systematischen Kontext, in dem diese Motive stehen, und ein verändertes und erweitertes Verständnis von Symbolisierung. Wenn es im frühen Buch heißt, die Methode der Philosophie sei die logische Analyse, so scheint dies auf den ersten Blick in Richtung eines logizistischen Reduktionismus zu weisen. Aber das trifft die Sache von Anfang an nicht wirklich. Der Gegenstand der Philosophie ist für Langer Bedeutung in all ihren Schattierungen, also unser symbolischer Umgang mit der Welt, und das Ziel der Analyse ist es nicht, diese Sprech- und Darstellungsweisen auf einige wenige oder gar eine einzige zu reduzieren, sondern sie verständlich zu machen und im Hinblick auf ihre Implikationen zu betrachten – »unsere Ideen zu klären«, wie es in Fühlen und Form Peirce zitierend heißt (S. 58). Es wäre für Langer eine Anmaßung der Philosophie, Sprechweisen als solche als legitim oder illegitim zu kritisieren; was sie ihr aber durchaus zutraut, ist eine genaue Analyse von Grundbegriffen und ihren Zusammenhängen, auf deren Grundlage klärend   Zu Sheffer vgl. Michael Scanlon, »The Known and Unknown H. M. Sheffer«, in: Transactions of the Charles S. Peirce Society 36, 2 (2000), S. 193–224. 8

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und korrigierend eingegriffen werden kann, und die Ausarbeitung neuer Begriffe und Begriffskonstellationen. Dabei ist der Logikbegriff, den sie anlegt, bereits hier denkbar weit: »Logic is the science of forms as such, the study of patterns.« (PP 83) Zuerst einmal ist damit natürlich auf die Struktur von Aussagen angespielt, auf Prädikationen, logische Relationen, Bedingungsverhältnisse etc.; gemeint ist aber Form im weitesten Sinne, die die Alltagssprache, aber auch geometrische Formen, visuelle Gestalten, musikalische Formen einschließt, die allesamt auf Bedeutung bezogen bleiben. Form ist dabei bestimmt als innere Relation innerhalb eines Ganzen, als Struktur (ISL 24 f.): »the form of the thing is the way its parts are put together.« (PP 87) Vielleicht kann man sagen, dass das Band, das diesen Formbegriff zusammenhält, in einer gewissen Anschaulichkeit liegt, in der diese Relationen gegeben sind. Von der Form als visueller oder auditiver Gestalt, wo dies offensichtlich gilt, bis zu Wittgensteins schwierigem Begriff der logischen Form als Bild (»picture«)9 durchzieht die Vorstellung eines anschauenden, analogisch funktionierenden Denkens das ganze Feld dieses Begriffs von Form – auch dort, wo sie eigentlich nicht hinzugehören scheint, nämlich beim »diskursiven Symbolismus« der Sprache. Entsprechend hat Langer auch kein Problem damit, den von Frege für die Sprache geprägten Begriff der »logischen Form« auf Form in jeglichem Sinne auszuweiten.10 Die Figur der Analogie ist und bleibt auch später zentral für diesen Symbolbegriff: » Solch eine formale Analogie oder Kongruenz logischer Strukturen ist die wichtigste Voraussetzung  Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (dt.-engl.), London u. New York: Routledge 1974, 2.1 ff. 10  Es ist aufschlussreich, wie Manfred Bierwisch in seiner klassischen Untersuchung zu Sprache und Musik der logischen Form der Sprache eine »gestische Form« der Musik gegenüberstellt. Inhaltlich ist er damit, ohne sie zu erwähnen, sehr nahe bei Langer – nur dass für sie die gestische Form ein spezieller Typus logischer Form wäre (vgl. Manfred Bierwisch, Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise, in: Jahrbuch Peters 1978, Leipzig 1979, S. 9–102).  9



Einleitung

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für die Beziehung zwischen einem Symbol und dem, was es bedeuten soll.« (S. 101) Es scheint so, als vertrete sie eine Art erweiterter Abbildtheorie der Bedeutung, die von einem realen Vorhandensein logischer Formen in der Welt ausgeht, die in Symbolen lediglich nachgezeichnet werden. Tatsächlich ist das nicht der Fall, denn das Verhältnis zwischen Symbol und Bedeutung ist komplexer: »there is no such things [sic] as the form of a real thing, or of an event« (PP 135; vgl. bereits FC 437), denn es kann mehrere angemessene Beschreibung und Darstellungen der Wirklichkeit geben. Form, so könnte man sagen, fin­ det statt innerhalb von Symbolisierungsbeziehungen und liegt nicht einfach vor. Wenn also weiterhin von mehr oder weniger angemessenen Symbolisierungen gesprochen werden soll, so muss klar sein, dass es davon nicht nur eine einzige, sondern mehrere, unter Umständen sehr unterschiedliche Formen gibt. Bereits hier gilt also: Symbole erschließen Wirklichkeit, indem sie vermittels ihrer inneren Struktur deren Form darstellen. Gegeben ist die Form aber erst in der Symbolisierung, die hier nicht Benennung, sondern Beschreibung, Interpretation oder eben Darstellung von Wirklichkeit ist. Den spezifischen Modus dieser Darstellung bezeichnet Langer später in Anlehnung an die Darstellung der Erdoberfläche auf Landkarten als Projektion (vgl. PNW 86 f., M 75 ff.). Symbol ist in diesem Sinne alles, vermittels dessen eine solche »Formulierung und Darstellung« (PNW 219) geschehen kann; der Begriff wird im Folgenden ausdifferenziert und demjenigen des Anzeichens (»sign«, später weniger missverständlich »signal« (»Anzeichen«, S. 100, Fn. 16) entgegengesetzt, der in etwa Peirces »Index« entspricht: ein »Symptom eines Sachverhalts« (PNW 65), das auf eine kausale Wirkung zurückgeht und nicht von jemandem gesetzt ist.11 Dabei beschreibt Symbol   Für einen Vergleich dieser Unterscheidung mit der klassischen Peirceschen Trias von Ikon, Index und Symbol und ihren Ausfaltungen vgl. Robert Innis, »Peirce’s Categories and Langer’s Aesthetics: On Dividing the Semiotic Continuum«, in: Journal Phänomenologie 45 (2016), S. 20–34. 11

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keine Klasse von Gegenständen in der Welt, sondern eine funktionale Eigenschaft, in die im Prinzip jeder beliebige Gegenstand eintreten kann. Ungeachtet dessen, dass die Sprache der frühen Texte von der Logik geprägt ist, verraten Langers Begriffe von Form und Symbol hier den Einfluss Ernst Cassirers. Bereits in ihrer ersten eigenständigen Veröffentlichung, »Form and Content: A Study in Paradox« von 1926, wird die Funktion symbolischer Formierung bis in die Wahrnehmung ausgedehnt, wenn es heißt: »every concrete object of our experience is an interpretation of familiar forms« (FC 436). Den Begriff der Interpretation verwendet Langer nicht terminologisch; er steht hier für die Gegenoperation zur Abstraktion, auf die noch einzugehen sein wird. Ohne dass es genauer ausgeführt würde, scheinen wir es hier mit einem (neu)kantianischen Modell zu tun zu haben, für das Erfahrung auf der Anwendung eines bestimmten logischen Systems beruht, und zwar eines aus einer aus logischen Gründen unabschließbaren Pluralität von Systemen. Dies hat Auswirkungen auf den Begriff der Tatsache, der nun selbst als eine je bestimmte Formierung erscheint: »A fact […] is a perspective of an event.« (F 185) Der affirmative Bezug auf Wittgenstein muss von hier gedacht werden: Es gibt Tatsachen nur innerhalb von Sprachen oder Systemen der Bezugnahme, und nur in ihrem Kontext ist es sinnvoll, von einer Entsprechung zwischen Satz und Tatsache zu sprechen. Der Satz passt nicht aufgrund einer metaphysischen Isomorphie zur Welt, sondern weil die Sprache die Gegenstände möglicher Bezugnahme bereits symbolisch präformiert hat.12 Die nicht symbolisch geformte Welt ist eine Welt von Ereignissen, auf die laut Langer nur mit Eigennamen Bezug genommen, die aber nicht ausgedrückt werden können.   Im Übrigen ist »Isomorphie« wie »Ähnlichkeit« ein Begriff, der Langer von ihren Kritikern immer wieder untergeschoben wird, auch wenn sie ihn fast nie verwendet (vgl. in diesem Sinne Mary J. Reichling, »Intersections: Form, Feeling, and Isomorphism«, in: Philosophy of Music Education Review 12, 1 [2004], S. 17–29). 12



Einleitung

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Während hier noch ein eindeutig von den Symbolsystemen zur Erfahrung gehendes Bedingungsverhältnis angenommen wird, wird zunehmend der Wahrnehmung selbst Aufmerksamkeit gewidmet, ohne dass damit der Grundgedanke aufgegeben würde. Seit Philosophy in a New Key macht sich hier der Einfluss der Gestalttheorie geltend, wenn Wahrnehmung als »Prozess der Formulierung« und Objekte als eine »gedeutete Form« (PNW 95) bezeichnet werden und es schließlich heißt: »[U]nser Verständnis der sichtbaren Welt beginnt im Auge« (PNW 97). Auch wenn den Artikulationen der wahrgenommenen Welt nun ein größeres Eigengewicht eingeräumt wird, indem sie nicht mehr als Anwendungen gegebener Formen, sondern als Beginn des Prozesses der Formulierung angesehen werden, bleibt die Kontinuität zwischen ihnen und symbolischen Formungen erhalten. Auch hier weiß sich Langer im Einklang mit Cassirer. Dieser taucht am Rande bereits in The Practice of Philosophy auf und wird in Philosophy in a New Key als einer unter anderen genannt, die jene »neue Tonart« angeschlagen haben; Feeling and Form schließlich ist seinem Andenken gewidmet. Tatsächlich ist Langers Symbolbegriff spätestens seit Philosophy in a New Key (das Whitehead gewidmet war) offensichtlich von Cassirer her gedacht; der Begriff der symbolischen Form ist das entscheidende Analyseinstrument für die Untersuchung von Mythos, Ritual, Sprache und Kunst. Langer hatte die Philosophie der symbolischen Formen früh gelesen, lange bevor es ins Englische übersetzt wurde.13 1941 hatte sie Cassirer auch persönlich kennengelernt und in der Folge seine Schrift Sprache und Mythos übersetzt; bis heute wird sie als Vermittlerin Cassirers   Langers eigener enger Bezug zu Cassirer wird deutlich in einem ihm gewidmeten Aufsatz von 1949 (vgl. OC). Insgesamt hat sie aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit – Deutsch war die Sprache, die in ihrem Elternhaus gesprochen wurde, und sie besuchte eine französische Schule – durchgängig zahlreiche deutsche und französische Autoren rezipiert und einige für sie wichtige Texte zur Kunst schließlich in eigener Übersetzung der amerikanischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht (vgl. RA). 13

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in den amerikanischen Diskurs oder auch als seine Schülerin wahrgenommen. Wenn Langer nun der zitierten Rede von der »gedeuteten Form« der Wahrnehmung erläuternd hinzufügt, dies sei »eine Form, die gleichzeitig ein erlebtes Einzelding und ein Symbol für dessen Begriff, für diese Art von Ding ist« (PNW 95), so spielt dies direkt auf eine Formulierung im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen an. Dort heißt es: »Jeder noch so ›elementare‹ sinnliche Gehalt […] ist niemals einfach, als isolierter und abgelöster Inhalt, ›da‹; sondern er weist in eben diesem Dasein, über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von ›Präsenz‹ und ›Repräsentation‹.«14 Cassirer erläutert hier seinen Begriff der »symbolischen Prägnanz«, und auch Langers Formulierung könnte darauf bezogen werden; gleichwohl gibt es Unterschiede in der Blickrichtung, die etwas mit dem jeweiligen Interesse zu tun haben: Cassirer denkt bei der »geistige[n] ›Artikulation‹«15 weniger an die innere Gliederung des Wahrgenommenen, sondern an die systematische Einbettung des so Gegliederten, während für Langer die Form selbst im Mittelpunkt steht. Man könnte sagen, dass es jenem um eine Philosophie der Typen symbolischer Form geht, während diese ihre Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der konkreten Formen richtet. Von dort her erklärt sich auch die zentrale Stellung der Kunst bei Langer, während sie bei Cassirer zwar als bedeutsam anerkannt, aber nicht wirklich behandelt wird.16 Systematisch wird dies bereits in The Practice of Philosophy begründet, auch wenn Kunst dort noch kaum Thema ist. Im Kapitel zu »insight« heißt es: »The possibility of dealing precisely and intelligibly with the highest rather than the lowest   Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (ECW 13), Hamburg: Meiner 2002, S. 149 15  A. a. O., S. 231. 16  Vgl. dazu Christian Grüny, »System und Tonart. Zur Rolle der Kunst bei Ernst Cassirer und Susanne K. Langer«, in: Journal Phäno­ menologie 42 (2015), S. 65–77. 14



Einleitung

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forms of meaning is to me the crucible, the fire-test of such a theory.« (PP 153) Von dort aus führt ein direkter Weg zu den späteren Schwerpunkten ihrer Philosophie. Innerhalb des Kollektivsingulars der Kunst wird in Philosophy in a New Key einer bestimmten Kunstform noch einmal ein besonderer Stellenwert zugebilligt, nämlich der Musik: »[E]ine adäquate, präzise Definition für das, was ›musikalische Bedeutung‹ ist, geben zu können, und zwar eine Definition in Hinblick auf künstlerische, nicht positivistische Zusammenhänge und in solcher Absicht, das wäre der Prüfstein für eine wirklich leistungsfähige Philosophie des Symbolismus.« (PNW 216 f.)17 Dieser Devise folgend widmet das Buch zwei seiner zehn Kapitel der Musik und sticht damit in mehrfacher Hinsicht deutlich heraus: Nicht nur ist es für einen symboltheoretischen oder semiotischen Text höchst ungewöhnlich, die Kunst auf diese Weise in den Mittelpunkt zu stellen; eine derart intensive Beschäftigung mit der Musik findet sich im 20. Jahrhundert in der Regel nicht einmal in großen Entwürfen zur Ästhetik. Dies spiegelt sich auch in einer Vielzahl musikalischer Metaphern und nicht zuletzt auch im Titel des Buches wieder: Philosophy in a New Key ist Philosophie in einer neuen Tonart, also in einer neuen inneren Organisa­ tions­form, durch die sich die Bedeutung jedes einzelnen Begriffs verändert. Langers Aufmerksamkeit auf das Konkrete bleibt aber eine Akzentsetzung, denn Form impliziert für sie stets Allgemeinheit. Der Prozess der Wahrnehmung als Formulierung ist von Anfang an ein Auffassen von Mustern, Regelmäßigkeiten und Strukturen und insofern kein bloßes Aufnehmen des Konkreten. Langer spricht hier von einem »Sinn für Formen« und bezeichnet diesen als »die primitive Wurzel aller Abstraktion« (PNW 96). Die elementaren Formen der Wahrnehmung werden nun so stark von der Symbolisierung her gedacht, dass sie   Das ist weit entfernt von dem frühen, noch ganz von der mathematischen Logik geprägten Versuch, eine Art musikalisches Kalkül aufzustellen (vgl. SP). 17

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schließlich nicht mehr als Wurzel, sondern selbst als Abstraktion gelten. So heißt es später lapidar: »the perception of form is abstraction.« (PS 62) Dabei geht es ihr immer noch wesentlich um die Bedeutung symbolischer Formen auch für den Prozess der Wahrnehmung; dennoch erscheint die Rückübertragung des Abstraktionsbegriffs auf den Formulierungsprozess selbst nicht besonders glücklich – ohne den Widerpart des Konkreten verliert die Rede von Abstraktion ihre Kontur. Die elementaren Formen, in denen uns die Welt in der Wahrnehmung gegenübertritt, sind das erste Konkrete, aber sie sind als Auffassung von Typen, Regelmäßigkeiten und Mustern von bereits mittlerer Allgemeinheit. Das Einzelne in seiner Besonderheit und das Allgemeine höherer Stufe werden von hier aus in entgegengesetzten Richtungen erschlossen. Insgesamt bleibt der Begriff der Abstraktion für Langers Philosophie zentral, und er ist eng gekoppelt an den Symbolbegriff; am deutlichsten ist hier die Einleitung des vorliegenden Buches: »Ein Symbol ist jedes Instrument, das uns befähigt, eine Abstraktion vorzunehmen.« (S. 62) Die Beziehung zwischen dem Auffassen von Formen in der Wahrnehmung und den Formen der Symbolisierung geht wie gesagt in beide Richtungen: Auf der einen Seite wirken Symbolisierungen erschließend und formierend auf die Wahrnehmung zurück, auf der anderen sind deren Formen Quelle von Symbolisierungen. Der »spontane[n] und natürliche[n] Abstraktion« wird eine »spontane und natürliche Interpretation« (S. 604) zur Seite gestellt, die die Verallgemeinerbarkeit jener Formen erkennt und sie verwendet, um wiederum andere Formen zu bezeichnen und zu erschließen: »Die von Auge und Ohr vollzogenen Abstraktionen – die Formen der direkten Wahrnehmung – sind […] echtes symbolisches Material, Medien des Verstehens […].« (PNW 98)18 Diesen Vor  Es gibt an dieser Stelle auch Parallelen zur Symboltheorie Whiteheads, der von der »Verwendung reiner Sinnes-Wahrnehmungen in ihrer Eigenschaft als Symbole für primitivere Elemente in unserer Erfahrung« spricht (Alfred North Whitehead, Kulturelle Symbolisierung, Frankfurt a. M. 2000, S. 65). 18



Einleitung

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gang sieht Langer als Basis jeder Form symbolischer Praxis, er weist aber insbesondere auf die Konzeption, für die sie heute noch am ehesten bekannt ist: diejenige der »präsentativen« Symbole, die von den »diskursiven« Symbolen unterschieden werden. Diesen Symboltypen werden später korrespondierende Typen von Abstraktion zugeordnet, nämlich »generalizing« und »presentational abstraction«, wobei erstere der Wissenschaft (und der Logik) und letztere der Kunst zugeordnet werden (M1, 153 ff.; vgl. a. PA 163 ff.). Die Grundunterscheidung jener beiden Symboltypen wird in Philosophy in a New Key ausgearbeitet, und auch sie findet sich früh vorgebildet, wenn in The Practice of Philosophy zwischen »diskursiven« und »intensiven« Symbolismen unterschieden (PP 164) und an einer Stelle sogar der Begriff des Präsentativen verwendet wird (PP 161). Der Unterschied dieser beiden Symbolisierungsformen kann wiederum als einer der Form beschrieben werden: Während ein diskursiver Symbolismus aus reproduzierbaren und rekombinierbaren Elementen besteht und prinzipiell übersetzbar ist, ist all dies bei präsentativen Symbolen nicht der Fall. Langers Beispiel für präsentative Symbolisierung ist zuerst einmal das Bild und schließlich die Musik. In beiden Fällen kann von für sich bestehenden Elementen als Bedeutungsträgern, die geregelt kombiniert werden, keine Rede sein – auch die Töne sind dies nicht. Das führt zum nächsten, zentralen Punkt. Es ist offensichtlich, dass hier nicht eine Symbolordnung, in der es um die konkrete Form geht, einer gegenübergestellt werden soll, in der diese Form belanglos oder arbiträr ist; stattdessen geht es um die unterschiedliche Rolle, die die Form jeweils annimmt. Wenn man die Vorstellung einer logischen Form der Sprache mitmacht, geht es bei ihr dennoch nicht um die Präsentation einer konkreten Konstellation, sondern um die Benennung einer allgemeinen Struktur. Dagegen ist »[d]er nichtdiskursive Symbolmodus […] zuerst und hauptsächlich die unmittelbare Präsentation eines Einzeldings« (PNW 102) oder besser: einer spezifischen Form, bei der nicht nur ihre Grundstruktur, son-

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dern potentiell jede Einzelheit zählt. Ein präsentatives Symbol sagt nicht etwas über etwas, sondern zeigt etwas in seiner spezifischen Gestalt. Bedeutsam ist diese Gestalt, weil sie in irgendeiner Weise als exemplarisch erscheint und diese Präsentation gleichzeitig als Darstellung von etwas anderem aufgefasst wird. Dabei muss aber klar sein, dass es nicht allein die Kunst oder besser: die Künste sind, in denen sich präsentative Symbole finden; Diagramme aller Art gehören ebenso dazu. Am prägnantesten und systematischsten ist die Sache aber tatsächlich in den Künsten entwickelt. Während Langer hier anfangs noch vom präsentativen Symbolismus spricht, ist sie in späteren Texten hier vorsichtiger geworden. Ein Symbolismus wäre ein Symbolsystem, ein entwickeltes Gefüge identifizierbarer Elemente und benennbarer Kombinationsregeln – also genau das, was den diskursiven Symboltyp ausmacht und dem präsentativen gerade fehlt. Man müsste dann sagen, dass die Kunst Symbole produziert, ohne eines Symbolismus zu bedürfen. Langer nennt das Musikstück ein »unvollendetes Symbol, eine sinnhaltige Form ohne konventionellen Sinngehalt« (PNW 236), und diese vorsichtigere Formulierung deutet bereits die Mischung aus Verteidigung ihres Symbolbegriffs und Relativierung an, mit der sie auf Kritiker reagiert hat (vgl. PA 127 ff., PS 64). Worum es aber letztlich geht, ist eine Erweiterung des Rationalitätsbegriffs, und das heißt hier der Mittel, mit denen sich etwas darstellen und denken lässt, und damit des Bereichs dessen, was sich darstellen und denken lässt. Wie gezeigt versteht sie Symbolisierung primär als Formulierung oder Artikulation der Welt, nicht als nachträgliche Bezeichnung einer bereits fertig vorliegenden Welt. Dies ist die Hauptstoßrichtung von Langers Denken überhaupt, und sie denkt nicht daran, hier den Rückzug anzutreten.19

  Vgl. Beatrice K. Nelson, »Susanne K. Langer’s Conception of Sym­ bol – Making Connections Through Ambiguity«, in: The Journal of Speculative Philosophy, New Series 8,4 (1994), S. 277–296. 19



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Am stärksten hat sich die Kritik an der Vorstellung eines Symbols gestoßen, das das verkörpert, was es bezeichnet – das sei, so ein Kritiker, der sich damit neben Langer auf David Prall und John Dewey bezieht, »a symbol that is not a symbol«20 . Man kann diesem Vorwurf mit dem Hinweis begegnen, dass er die Substruktur symbolischen Verweisens in der Wahrnehmung ignoriert, die Cassirer und Langer herausgearbeitet haben, und verkennt, dass Symbolisierung nicht erst mit konventionellen, arbiträren Zeichen beginnt. Nelson Goodman späteres Konzept der metaphorischen Exemplifikation kann, aus der etwas anderen Richtung einer analytischen Symboltheorie, als Reformulierung von Langers präsentativem Symboltyp gelten, jenes unsymbolischen Symbols. Goodmans Bestimmungen der Fülle und der semantischen und syntaktischen Dichte sind dabei hilfreiche Präzisierungen.21 Wichtig ist zu sehen, dass mit diskursiv und präsentativ keine Symbolsysteme unterschieden werden, sondern »Grundtypen des Symbolismus« (PNW 276), die in keinem System rein vorliegen und ebenso wie der Symbolbegriff insgesamt funktional gedacht werden müssen – auch wenn Langer es bisweilen so aussehen lässt, als ginge es um die Unterscheidung von Sprache und Kunst.22 Am problematischsten sind die Aussagen zur Sprache dort, wo ihre Begrenzungen deutlich gemacht werden sollen, um Platz für die präsentativen Symbole zu schaffen; zu Recht wurde eingewandt, dass bereits 1942 und erst recht heute kaum jemand mehr eine derart reduktionistische, vom logischen Positivismus geprägte Sprachtheorie vertreten hat.   William E. Kennick, »Art and the Ineffable«, in: The Journal of Philosophy 58, 12 (1961), S. 309–320, hier 320; ähnlich Paul Welsh, »Discursive and Presentational Symbols«, in: Mind, New Series 64, 254 (1955), S. 181–199. 21  Vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symbol­ theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. Goodman schuldet Langer offensichtlich mehr, als er zuzugeben bereit ist. 22  So etwa Jerry H. Gill, »Langer, Language, and Art«, in: Internati­ onal Philosophical Quarterly 34, 4 (1994), S. 419–432. 20

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Tatsächlich macht sie sich diesen Sprachbegriff auch nicht zu eigen, sondern betrachtet Sprache trotz allem als das umfassendste Symbolsystem. So heißt es etwa später, dass »the basic abstractive processes are all exemplified in language at various stages of its ever-productive career« (PA 168) und dass von einer zunehmenden Diskursivierung der Sprache ausgegangen werden muss (vgl. PNW 144). Gegen die schlichte Identifikation der Sprache als diskursive Symbolform spricht auch die besondere Rolle, die Langer der Metapher einräumt: Sie vertritt nicht nur die präsentative Dimension in der Sprache, sondern wird als der gemeinsame Ursprung aller Symbolisierung ausgemacht, ja als Grundlage der Abstraktion (vgl. PA 104 f.). Als verallgemeinertes Konzept schließt die Metapher an die oben zitierte Rede von den Formen der Wahrnehmung als »Medien des Verstehens« an: Meta­ phorisch ist die symbolische Übertragung einer Form auf einen anderen Bereich, an dem sie etwas erschließt, was vorher nicht sichtbar war, an dessen Formulierung sie also arbeitet. Ehe diskursive Mittel, also bedeutungstragende Elemente und Kombinationsregeln, zur Verfügung stehen, ist dies die einzige Möglichkeit der Symbolisierung. Diese ist damit zuerst kein Verhältnis eines Symbolsystems zu einer unmittelbar gegebenen Welt, sondern ein Verhältnis innerhalb der aufgefassten Welt, in dem sich einzelne Aspekte sozusagen aneinander artikulieren. Aber auch in der entwickelten Sprache bleibt die Metapher das Prinzip ihres »Lebens« (PNW 143).23 Man kann sagen, dass Metaphorizität insgesamt ein angemesseneres Modell für die Grundlage von Symbolbeziehungen in Langers Sinne geliefert hätte als das der Analogie, denn es schließt die formierende, erschließende Dimension mit ein, die gerade nicht auf prima facie gegebener Ähnlichkeit beruht und   Die eigenartige Formulierung aus Problems of Art, »metaphor is not language« (PA 23), auf die Gill seine Kritik stützt (a. a. O.), scheint mir eher Langers inkonsistenter Begriffsverwendung zuzuschreiben zu sein. 23



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von der sie ausgeht.24 Auch wenn sie den Begriff der Metapher bis hin zu Aussagen, ein Kunstwerk sei ein »metaphorical symbol« (M1 104), immer wieder in Anspruch genommen hat, hat sie ihn dennoch nie wirklich systematisch verwendet oder zu einem ihrer Grundbegriffe gemacht – er hätte ein produktives Komplement zu den Begriffen Form und Symbol sein können, die sich von ihren frühesten Texten bis zum letzten, unvollendeten Band von Mind ziehen. Ein weiterer zentraler Begriff, der erst allmählich ins Spiel kommt, um dann im vorliegenden Buch ins Zentrum zu rücken, ist derjenige des Fühlens. Von ihm aus soll Langers spätere Philosophie aufgerollt werden.

3.  Fühlen und Geist Susanne K. Langer wird, wenn sie heute überhaupt noch rezipiert wird, zumeist als Kunstphilosophin wahrgenommen – wofür es, wie wir gesehen haben, auch gute Gründe gibt. Dennoch ist ihre Theorie der Kunst nur wirklich zu verstehen, wenn sie im Kontext des philosophischen Gesamtprojekts gesehen und nicht unter das »unfortunate current word« (PNK 7) »Ästhetik« subsumiert wird. Fühlen und Form, das diese Theorie entwickelt, stellt in Langers Werk einen Angelpunkt dar: Man kann sagen, dass Philosophy in a New Key auf dieses Buch vor- und Mind auf es zurückblickt. Diese Stellung bringt es mit sich, dass es auch aus diesen beiden Richtungen erklärungsbedürftig ist. In ihrer Einleitung bezeichnet es Langer als zweiten Band des früheren Buches, dessen Inhalt daher vorausgesetzt werde; pro  So Iris M. Yob, »The Form of Feeling«, Philosophy of Music Edu­ cation Review 1,1 (1993), S. 18–32. Insofern ist es produktiv, Langer mit den Metapherntheorien von Paul Ricoeur (vgl. Nelson, »Susanne K. Langer’s Conception of Symbol«, a. a. O.) und George Lakoff und Mark Johnson (vgl. Donald Dryden, »Susanne Langer and William James: Art and the Dynamics of the Stream of Consciousness«, in: The Jour­ nal of Speculative Philosophy, New Series 15, 4 (2001), S. 272–285) ins Gespräch zu bringen. 24

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blematischer ist die andere Seite: Der Begriff des feeling, der ja dem Buch seinen Titel gibt, wird erst später wirklich expliziert, und zwar vor allem in einem Aufsatz aus Philosophical Sketches und dann im ersten Kapitel von Mind.25 Die Kunst ist für Langer nicht nur jene Symbolform, die der Theorie die höchsten Ansprüche stellt, sondern »the spearhead of human development, social and individual« (PS 83 f.). Sie ist kein Spätprodukt der kulturellen Entwicklung, sondern begleitet die menschliche Entwicklung von Anfang an und ist dennoch keine primitive Frühform der Symbolisierung. Ihre Bedeutung hängt daran, dass sie etwas darstellen kann, an dem diskursive Symbolismen scheitern, nämlich menschliches Fühlen: »Kunst ist das Erschaffen von Formen, die menschliches Fühlen symbolisieren.« (S. 120) Sie hat diese Grundthese immer wieder in unterschiedlichen Kontexten wiederholt und ausgeführt. Es scheint mir offensichtlich, dass sie in dieser Allgemeinheit nicht haltbar ist; ehe sie aber fundiert kritisiert werden kann, muss der Begriff feeling genauer bestimmt werden.

3.1  Der Begriff des Fühlens Die Frage der Darstellbarkeit menschlichen Fühlens spielt bereits in Philosophy in a New Key eine wichtige Rolle, denn sie motiviert wesentlich die Einführung des Konzepts der präsentativen Symbole. Langer spricht hier davon, »daß Gefühle bestimmt umrissene Formen haben, die in fortschreitender Artikulation begriffen sind« (PNW 106), und dass Rationalität nicht als kleine Insel sprachgebundener Klarheit inmitten eines Meers diffusen Erlebens gedacht werden kann. Damit kommt sie der gegenwärtigen Emotionsforschung entgegen.26 Interes  Reimer sieht hier nicht ganz unplausibel einen der Gründe dafür, warum Langer vergleichsweise wenig rezipiert und vielfach missverstanden wurde: vgl. Bennett Reimer, »Langer on the Arts as Cognitive«, in: Philosophy of Music Education Review 1, 1 (1993), S. 44–60. 26  Vgl. etwa als Überblick Sabine A. Döring (Hg.), Philosophie der Ge­ 25



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sant ist dabei allerdings, dass sie an keiner Stelle die spezifische Intentionalität oder allgemeiner Weltbezogenheit im Blick hat, die in den vergangenen Jahren in den Fokus gerückt ist, 27 und auch nicht den Wertungscharakter, der damit verbunden ist. Ebenso wenig geht es ihr um das, was der Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe Daniel Stern, der sich explizit auf Langer bezogen hat, »kategoriale Affekte«28 nennt, also Freude, Trauer, Wut etc., zumindest nicht in ihrer kategorialen Bestimmtheit. Stattdessen betrachtet sie die konkreten Verlaufsformen, ihre »tatsächliche Bewegung […], ihr[en] Lauf, ihre Ausbalancierung«, ihre »Morphologie« (PNW 106, 234), also ihre zeitliche Artikulation. Auch wenn mit der spezifischen Dynamik des Fühlens ein ungewöhnlicher Aspekt ins Zentrum gestellt wird, ist Langer hier doch noch recht nahe am gewöhnlichen Verständnis von feeling als Gefühl – wie das Wort dann auch übersetzt wurde. Spätestens in Fühlen und Form wird deutlich, dass sie von einem deutlich weiteren Verständnis des Begriffs ausgeht, ohne dass dies aber klar expliziert würde; dafür muss wie gesagt auf spätere Texte zurückgegriffen werden. Ein erster wichtiger Hinweis ist, dass es für Langer auf den verbalen Charakter des Wortes ankommt, denn »[t]o feel is to do something, not to have something« (M1 20). Entsprechend ist »Fühlen« die angemessenere Übersetzung, womit überdies durch das wenig eingängige Verbalsubstantiv vorab ein gewisser Abstand zur zeitgenössischen Diskussion über Gefühle eingezogen wird.

fühle, Frankfurt a. M. 2009; als sehr deutlich akzentuierte Positionen Luc Ciompis, Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwick­ lung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung, Stuttgart: Klett-Cotta 1982; Ronald de Sousa, Die Rationalität der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009. 27  Vgl. etwa Jan Slaby, Achim Stephan u. Henrik Walter (Hg.), Affek­ tive Intentionalität. Beiträge zur welterschließenden Funktion menschlicher Gefühle, Mainz 2011. 28  Daniel N. Stern, Die Lebenswelt des Säuglings, Stuttgart 1992, S. 82 ff.

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Gefühle und Emotionen sind nur ein Teil dessen, was der Begriff bezeichnen soll, vielmehr geht es um die Dynamik innerer Erfahrung überhaupt. Fühlen wird hier in einem mehrfachen Sinne verwendet: einmal als Ursprung jener Erfahrung, dann als ihr Inbegriff und schließlich als eine ihrer Dimensionen. Im ersten Sinne ist Fühlen die ursprüngliche Matrix, aus der sich Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken ausdifferenzieren, »the generic basis of all mental experience« (PS 11). Schließlich wird es für Langer zum allgemeinsten Begriff, mit dem das Leben des menschlichen Geistes auch in seiner entwickelten Form bezeichnet werden kann: »the entire psychological field – including human conception, responsible action, rationality, knowledge – is a vast and branching development of feeling.« (M1 23) Entsprechend lautet der Untertitel von Mind schlicht An Essay on Human Feeling. In einer aufschlussreichen Fußnote zitiert sie William James’ Überlegung, welchen Begriff er wählen soll, um mentale Zustände und Vorgänge insgesamt zu beschreiben. James schwankt zwischen feeling und thought, entscheidet sich dann aber für Letzteres;29 Langer trifft die umgekehrte Wahl, um den Anschluss an elementare Weisen des Gewahrseins zu erhalten. Dabei ist offensichtlich, dass diese Verwendung des Begriffs, so gut begründet sie sein mag, gerade im Kontext der Kunst extrem missverständlich ist, und die Aussage, Kunst schaffe Symbole des Fühlens, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen fast unweigerlich in Richtung einer Gefühlsästhetik im traditionellen Sinne gelesen werden wird. Insgesamt kann William James’ Theorie des stream of thought als wichtige Quelle für das Konzept des Fühlens gelten. 30 Worum es beiden geht, sind die prozessuale Struktur des Bewusstseins und die Qualitäten, die sich damit verbinden. James unterscheidet »substantive« und »transitive parts« des Gedankenstroms, wobei Erstere für scheinbar dem Prozess entzogene   William James, Principles of Psychology, Cambridge, Mass. 1981 (Harvard UP), S. 186; vgl. M1 21, Fn. 36. 30  Vgl. Dryden, »Susanne Langer and William James«, a. a. O. 29



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Gegenstände wie Ideen, Bilder und reale Objekte und Letztere für die Übergänge und die Verhältnisse zwischen ihnen stehen. 31 Sein Punkt ist, dass wir kaum ein Sensorium für die Übergänge haben, da wir auf das Beharrende, Gleichbleibende fixiert sind.32 Beziehungen, Entwicklungen, Tendenzen, Bedeutsamkeit und Wert sind aber nichts, was dem Gedachten als isoliertem zukommt, sondern liegen im Prozess, der erst mühsam ins aktive Bewusstsein gehoben werden muss. Interessanterweise greift auch James an dieser Stelle zum Begriff des feeling, wenn er etwa von »feelings of tendency«33 spricht oder schreibt: »We ought to say a feeling of and, a feeling of if, a feeling of but, and a feeling of by, quite as readily as we say a feeling of blue or a feeling of cold.«34 Wenn Fühlen damit nicht nur der Ursprung mentaler Aktivität ist, sondern sie überdies in ihrer ganzen Bandbreite beschreiben soll, so gilt dies vor allem in einer bestimmten Hinsicht: Was Langer damit primär meint, ist die Erfahrung, wie es ist, etwas Bestimmtes zu fühlen, erfahren oder denken, und zwar vor allem im Hinblick auf seine zeitliche Artikulation. Man könnte an Thomas Nagels berühmte Frage denken, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, mit der er auf die Irreduzibilität von Bewusstsein hinweisen wollte. 35 Als Mensch – und nicht als Fledermaus – wahrzunehmen, zu fühlen und zu denken, soll nun für Langer nicht als globales Gesamtgefühl, sondern in seinen je konkreten Artikulationen angesehen werden. Diese Artikulationen sind immer spezifisch, je nachdem, was für eine Erfahrung wir machen, und Langers wie James’ Punkt ist, dass  James, Principles of Psychology, a. a. O., S. 236. 32  Vgl. auch Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissen­ schaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana Bd. VI), Den Haag 1976 (Nijhoff), S. 179. 33 James, Principles of Psychology, a. a. O., S. 240 ff. 34  Ebd., S. 238. 35  Thomas Nagel, »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein 1993, S. 261– 275. 31

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sprachliche Benennung und Beschreibung hier nur sehr eingeschränkt weiterhilft. Aber: »All conscious experience is symbolically conceived experience; otherwise it passes ›unrealized‹.« (M1 100) Wenn Fühlen das spezifische Wie unterschiedlicher Erfahrungen ausmacht, ist es nicht unplausibel zu sagen, dass es auch oder vielleicht sogar gerade bei Erfahrungen kaum »realisiert« ist, deren Was uns sehr klar vor Augen steht. Etwas zu denken, ein theoretisches Modell zu entwickeln, ein Argument nachzuvollziehen sind für Geisteswissenschaftler vertraute Erfahrungen, ohne dass sie aber notwendigerweise ein differenziertes Bewusstsein davon hätten, wie es ist, dies zu tun. An dieser Stelle kommen die präsentativen Formen zu ihrem Recht und mit ihnen die Kunst.

3.2  Fühlen und Form Der Ausgangspunkt für die Einführung des Begriffs der präsentativen Symbole war die Beobachtung, dass Sprache als diskursiver Symbolismus (dass man die beiden nicht identifizieren kann, haben wir gesehen) nicht imstande ist, bestimmte Aspekte der Erfahrung auszudrücken, bei denen es um die konkrete Form, insbesondere im Sinne kontinuierlicher Verlaufskurven geht.36 Dazu brauchen wir präsentative Formen, die in der Kunst ihre differenzierteste Ausprägung gewonnen haben. Als Formulierung und Darstellung des Fühlens verdoppeln auch sie nicht Formen, die uns ohnehin vertraut sind, sondern erschließen sie und erlauben es damit, unser eigenes Erfahrungsleben schärfer zu artikulieren oder, noch stärker, überhaupt erst vor uns zu bringen.   Forest Hansen merkt zu Recht an, dass kein Gegenstand, kein Ereignis und keine Wahrnehmung in ihrer ganzen Differenziertheit sprachlich ausgedrückt werden kann (vgl. Forest Hansen, »The Ad­ equacy of Verbal Articulation of Emotions«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 31, 2 [1972], S. 249–253, hier 252). Der Punkt liegt aber eher darin, dass das Fühlen im Gegensatz zum pragmatisch Verfügbaren überhaupt erst als solches erschlossen werden muss. 36



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Langer lässt hier keine Gelegenheit verstreichen, sich von jeder Form der Ausdrucks- oder Wirkungsästhetik abzugrenzen: Kunstwerke sind, wie sie immer wieder deutlich sagt, keine Symptome eines realen Gefühlslebens, sondern symbolischer Ausdruck von Formen des Fühlens, die sie unserer Beobachtung darbieten. Diese Beobachtung muss keine distanzierte Kenntnisnahme sein, aber auch hier geht es nicht um das eigene Bewegtwerden, sondern um die Darstellung des Bewegtseins. Die reale affektive oder gar körperliche Wirkung ist keine Bedingung für die Qualität oder die Rezipierbarkeit eines Kunstwerks, sondern eher ein Rezeptionshindernis (vgl. etwa S. 63). Wenn dennoch von Ausdruck die Rede ist, so ist dies immer primär als logischer oder symbolischer Ausdruck zu verstehen. Im Kapitel über den Sinngehalt der Musik in Philosophy in a New Key zitiert Langer ausführlich das einflussreiche Buch Vom Mu­ sikalisch-Schönen des Musikkritikers und -theoretikers Eduard Hanslick, mit dem dieser 1854 der Idee der absoluten Musik ihre entscheidende Formulierung gegeben hat. Seine Tiraden gegen die »verrottete Gefühlsästhetik«37 finden ihre uneingeschränkte Zustimmung. Im Zuge dessen neigt Langer allerdings dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten, und formuliert eine grundsätzliche und in Manchem ungerechte Kritik an zeitgenössischen Theorien der Erfahrung – etwa John Deweys Kunst als Erfahrung. Dadurch übersieht sie die große Nähe zwischen ihrer eigenen Philosophie und derjenigen Deweys, eine Nähe, die sich nicht nur auf die Kunsttheorie, sondern auch auf die Philosophie des Lebendigen erstreckt.38 Entsprechend kommt die Seite der Auffassung symbolischer Darstellungen des Fühlens eher zu   Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revi­ sion der Ästhetik der Tonkunst (Nachdruck der 1. Aufl. v. 1854), Darmstadt 1991, S. V. 38  Vgl. John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980; ders., Erfahrung und Natur, Frankfurt a. M. 1995; Innis spricht davon, dass Langer »continues to studiously avoid Dewey’s Peirce-inspired (and Schiller-inspired) position in an almost perverse way« (Innis, Susanne 37

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kurz, man darf aber davon ausgehen, dass sie nicht als neutrale Kenntnisnahme gedacht wird: Wären wir nicht zumindest auch affektiv beteiligt, so wüssten wir nicht einmal, was wir da eigentlich erfahren und dass es etwas mit uns selbst zu tun hat. Ihre verständliche Abwehr jeder Form von Gefühlsästhetik hindert Langer aber daran, dies genauer in den Blick zu nehmen.39 Fühlen und Form ist nun der Versuch auszubuchstabieren, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die einzelnen künstlerischen Disziplinen daran arbeiten, die Formen des Fühlens zu artikulieren und darzustellen. Um dies zu tun, muss sich die Philosophin in die Künste und ihre Diskurse einarbeiten, und auch wenn die Ausgangsthese sich auf »die Kunst« im Singular bezieht, ist das Buch wesentlich eine Philosophie der Künste, und zwar mit der Perspektive des künstlerischen Schaffensprozesses als Ausgangspunkt. Systematisch von einer Einheit der Künste auszugehen beraubt sich laut Langer der Möglichkeit, etwas Substantielles über den Modus dieser Einheit zu sagen. Die Methode sollte daher sein, das je spezifische Vorgehen der einzelnen Künste möglichst genau zu verfolgen, um auf diese Weise zu einem Punkt zu kommen, wo sie konvergieren: »Where no more distinctions can be found among the several arts, there lies their unity.« (PA 79) Man wird sicher fragen dürfen, ob diese Einheit – die Symbolisierung menschlichen Fühlens – nicht in Wirklichkeit vorausgesetzt war. In der Tat prägt dies ihre Beobachtungen zu den einzelnen Künsten, die allerdings derart treffend und hilfreich sind, dass sie davon unabhängig Bestand Langer in Focus, a. a. O., S. 103). In seinem Buch finden sich zahlreiche Hinweise auf die Nähe der Positionen. 39  Hier liegt auch der in der Musikphilosophie, in der Langer noch am ehesten präsent ist, immer wieder erhobene Vorwurf eines Kognitivismus begründet, der allerdings oft auf eine recht selektive Lektüre gegründet ist. Deutlich wird dies etwa in Stephen Davies’ Zusammenfassung ihrer Position, »music (and art in general)« sei »an iconic symbol of mental states identifiable as emotions« (Musical Meaning and Ex­ pression, a. a. O., S. 123). Wie wir gesehen haben, geht dies an Langers Philosophie weitgehend vorbei.



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haben. Außerdem wird man feststellen, dass diese Prägung im Einzelnen durchaus produktiv ist, so skeptisch man auch der These in ihrer universalen Reichweite gegenübersteht. Die »Künste«, die getrennt behandelt werden, sind die traditionellen Gattungen, die als solche nicht hinterfragt, aber produktiv in »sich ereignende« (occurrent) und »bildende« (plastic) Künste unterteilt werden (S. 236).40 Langers Kriterium ihrer Differenzierung ist das der »primary illusions«. Gemeint ist damit Folgendes: Kunst erzeugt virtuality, also eine Sphäre, die es nur als wahrnehmbare gibt. Sie zeigt Dinge, die nicht wirklich da sind, die aber auch nicht lediglich Aspekte der Welt illusionär verdoppeln, und macht so etwas auf neue Weise erfahrbar. Der etwas irritierende Begriff der illusion ist Teil eines ganzen Begriffsfeldes, das auch noch semblance und später apparition umfasst. Der bei all dem im Hintergrund stehende Begriff ist der deutsche »Schein«, auf den sie im Zusammenhang mit Schiller auch explizit Bezug nimmt (vgl. S. 130). Ihre direkte Übersetzung von »Schein« ist semblance, und gemeint ist im Prinzip dasselbe wie illusion: keine Täuschung, sondern reine, für sich stehende Erscheinung. Um Missverständnisse zu vermeiden, hat Langer den Begriff der »primary illusions« später durch den der »primary apparitions« (PA 81) ersetzt. Für jede Kunst macht Langer nun eine spezifische Weise aus, dies zu tun, einen Bereich, in den diese Virtualität ausgebaut wird. Auch wenn die Künste damit auf einen jeweiligen Kern zurückgeführt werden, ist dies keine Theorie der Medienspezifität, wie sie Clement Greenberg propagiert hat,41 und schreibt die Künste auch nicht auf ein Set an Materialien fest. Sie ver Den Terminus der »occurent arts« hat kürzlich aufgegriffen Brian Massumi, Semblance and Event. Activist Philosophy and the Oc­ current Arts, Cambridge, Mass. u. London 2011 (MIT Press), der sich in seinem vor allem an Whitehead orientierten Buch auch auf Langer bezieht. 41  Vgl. Clement Greenberg, »Zu einem neueren Laokoon«, in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Amsterdam/ Dresden 1997, S. 56–81. 40

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wenden »alle möglichen Materialien, die sich für eine Bearbeitung eignen: Töne, Farben, formbare Substanzen, Wörter, Ges­ ten oder andere physische Mittel« (S. 158). Eine auf spezifische Formierungsprozesse setzende Theorie der Künste ist flexibler als eine von essentialisierten Medien ausgehende und kann besser mit intermedialen Phänomenen umgehen, wie Langer selbst bemerkt. Auch wenn sie selbst dies nicht tut, ist es von hier aus problemlos möglich, sich eine Musik vorzustellen, die gänzlich in einem anderen Medium als dem des Klanges arbeitet. Über die »primären Illusionen« der einzelnen Künste hinaus – virtueller Raum für bildende Kunst und Architektur, virtuelles Vergehen (passage) für die Musik, virtuelle Kräfte für den Tanz und virtuelle Geschichte für die Literatur – gibt es auch noch »sekundäre« Illusionen oder Erscheinungsformen, etwa Räumlichkeit in der Musik und Zeit in der bildenden Kunst, über die die eine Kunst sozusagen im Inneren der anderen auftaucht. Es wäre verfehlt, diese hierarchische Ordnung des Primären und Sekundären allzu normativ zu lesen; vielmehr geht es darum, was in jedem Fall gegeben ist und was hinzutreten kann, aber nicht muss, wobei die sekundären Illusionen wesentlich für »Reichtum, […] Elastizität und große schöpferische Freiheit« (S. 233) der Kunst verantwortlich sind. Was sich daraus allerdings in der Tat ergibt, ist, dass jedes Kunstwerk einer Gattung zugeordnet werden kann und es weder Intermedialität im Sinne eines unentscheidbaren Zwischen noch ein Gesamtkunstwerk geben kann. Stattdessen formuliert Langer vor allem von der Musik aus ein »principle of assimilation«, demzufolge in jedem Fall eine Kunst die Oberhand gewinnt und die anderen sozusagen aufzehrt: »Wenn Worte und Musik im Lied zusammenkommen, verschluckt die Musik die Worte […].« (S. 279) Auch dies ist primär deskriptiv gemeint und soll jede Diskussion um mediale Reinheit überflüssig machen; auch ist das Auftauchen genuin neuer künstlerischer Disziplinen damit nicht ausgeschlossen. Sicherlich wird es zweifelhaft erscheinen, ob es in der gegenwärtigen künstlerischen Produktion tatsächlich so leicht ist, Werke einer Gattung zuzuordnen, also die Er-



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scheinungsformen nach primären und sekundären zu sortieren; dennoch wäre Langers auf Bereiche der Formierung statt auf Medien oder Materialien setzende Kategorisierung als recht flexibles Analyseinstrument erst einmal auszuprobieren. Nun versteht sich nicht von selbst, wie die so unterschiedenen Darstellungsbereiche der einzelnen Künste mit der allgemeinen Grundthese zusammenhängen, Kunst sei die Darstellung des Fühlens. Bufford sieht hier gar zwei unverbundene und letztlich auch inkompatible Theorien der Kunst, nämlich eine »perceivability theory«, nach der jede Kunst einen bestimmten Bereich der Erfahrung erschließt und einer deutlichen Wahrnehmung zugänglich macht, und eine »expression theory«42, die ein Name für die Grundthese ist. Auch wenn mir das deutlich überzogen erscheint, gibt es hier in der Tat eine gewisse Spannung. Es ist offensichtlich, dass die Grundthese von Kunstwerken als Darstellungen des Fühlens an Langers Referenzkunst Musik gebildet ist und dass sie am besten auf nichtgegenständliche Künste anwendbar ist, in denen die Artikulation energetisch aufgeladener Formen im Mittelpunkt steht; so ist es vielleicht kein Zufall, dass Malerei, Skulptur und Architektur unter einer gemeinsamen Rubrik in nur zwei Kapiteln abgehandelt werden. 43 Wenn Langer nun aber im Zusammenhang mit den bildenden Künsten von virtuellem Raum spricht, meint sie aber etwas, das der These von der Darstellung des Fühlens gerade nicht widerspricht. Virtueller Raum ist gefühlter Raum und nicht objektiver, aber er ist auch nicht der Raum der Erfahrung. Gemeint ist jener rein visuelle, von Spannungen durchzogene Raum, den verschiedene Maler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa im Umkreis des Bauhauses, erforscht haben. Langer selbst zitiert Hans Hofmann, den Paten der abstrakten   Vgl. Samuel Bufford, »Susanne Langer’s Two Philosophies of Art«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 31, 1 (1972), S. 9–20. 43  Vgl. Dirk Westerkamp, »Symbolische Abstraktion. Susanne K. Langers Kunstphilosophie und der abstrakte Expressionismus«, in: Journal Phänomenologie 45 (2016), S. 52–68. 42

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Kunst in den USA (vgl. AA 381); man könnte ebenso Wassily Kandinsky oder Paul Klee anführen. 44 Nun könnte man auch in Bezug auf die alltägliche räumliche Erfahrung von einem nicht neutralen, sondern von Spannungen durchzogenen Raum ausgehen, der in einem dynamischen Prozess erfahren wird – man denke etwa an Kurt Lewins Feldtheorie, die hier eine produktive Vermittlung leisten könnte, von Langer aber nicht zur Kenntnis genommen wird. 45 In dieser Hinsicht könnte auch ein Dialog mit von ihr ebenfalls nicht rezipierten phänomenologischen Ansätzen zu einer fruchtbaren Weiterentwicklung beitragen. 46 Für den Stand der Theorie in Fühlen und Form gilt allerdings: Auch wenn Fühlen in Langers Sinne kein Geschehen in weltloser Innerlichkeit meint, bleibt es dabei, dass nichtgegenständliche Darstellungen ihr weit eher entgegenkommen. Es ist nicht überraschend, dass eine so starke These wie die der Kunst als Darstellung von Fühlen bisweilen ins Normative kippt, etwa wenn es heißt, Kunst müsse »der Struktur der Erfahrung entsprechen« (S. 596). Nach allem Gesagten kann sich dies nicht auf ein Repertoire an festgelegten Formen der Erfahrung beziehen, wohl aber auf einen bestimmten Typus von Struktur, der vor allem mit eben jenen dynamischen Verläufen arbeitet und im weitesten Sinne »organisch« funktioniert, also als integrale Einheit im klassischen Sinne. Es scheint mir unabweisbar, dass sie mit all dem zu hoch zielt. Was mit diesen Mitteln sicher nicht gedacht werden kann, sind Werke, die diese Form der Einheit aufgeben, Kunst, die den Werkcharakter als   Vgl. Hans Hofmann, Search for the Real and Other Essays, Cambridge, Mass. 1948 (MIT Press); Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zur Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926; Paul Klee, Das bildnerische Denken, Basel 1971 (Schwabe). 45 Lewins Principles of Topological Psychology war 1936 erschienen (dt. Kurt Lewin, Grundlagen der topologischen Psychologie, Bern 1969 (Hans Huber)). 46  Vgl. etwa Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrneh­ mung, Berlin 1966, 2. Teil, Kap. II. 44



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solchen in Frage stellt, und erst recht konzeptuelle Arbeiten, die in den Jahrzehnten nach Veröffentlichung des Buches immer prominenter geworden sind; auch politische Aspekte von Kunst müssten so letztlich als ideologische Verunreinigung begriffen werden. Schließlich erscheint bisweilen ein expliziter, darstellender Weltbezug als solcher als problematisch, was etwa dort deutlich wird, wo sie die Deutungs- und Rezeptionsfallen benennt, die in die einzelnen Künste sozusagen eingebaut sind: Bei der Musik sind es die körperlichen Wirkungen, bei der Literatur ihre Beziehung zu Tatsachen und propositionaler Wahrheit und bei der bildenden Kunst »das Pseudoproblem der ›Nachahmung‹« (S. 63). Über die unbestreitbare Tatsache hinaus, dass Literatur nicht einfach Fakten benennt und Bilder Gegenstände imitieren, scheint das Problem darin zu bestehen, dass sie sich überhaupt auf Dinge in der Welt beziehen oder etwas über etwas sagen und so von ihrem Wie ablenken. Man kann sagen, dass jede Form der Kunst, die nicht emphatisch auf Form setzt, für Langer eher schwierig ist. Wie dem auch sei: Es spricht für sie, dass sich diese normativen Tendenzen an keiner Stelle in fundamentale Kritik an bestimmten Kunstwerken oder -richtungen umsetzt – der Preis ist allerdings, dass sie sie gar nicht zur Kenntnis nimmt. Im ersten Band von Mind gibt es eine Formulierung, die sich darauf bezieht, dass die Bedeutung von Kunstwerken nicht fixierbar ist, weil sie kein kodifiziertes Symbolsystem bilden: Kunstwerke seien »forever problematical« (M1 81). Man kann sagen, dass sie dies bei aller Fixiertheit auf ihre Grundthese selbst berücksichtigt hat. Der Tendenz zum Konservatismus, die die These vom organischen Charakter der Kunst mit sich bringt, wirken Langers genaue Aufmerksamkeit und intellektuelle Redlichkeit entgegen. Der Weltbezug in Langers Theorie der Kunst bleibt vermittelt über unser Fühlen. Man könnte es so sagen: Wir erfahren in der Kunst, wie wir die Welt erfahren, nämlich in den differenzierten Formen unseres Fühlens. Dann aber ist es keine vernichtende Kritik, wie Malcolm Budd glaubt, wenn er festhält, dass »feel-

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ings have no special forms which distinguish them from many other kinds of phenomena« 47, sondern die Voraussetzung dafür, dass diese Symbolisierung überhaupt funktionieren kann: Wir finden dynamische, affektiv geladene Verlaufsformen in den unterschiedlichsten Bereichen, aber sie erscheinen als solche, etwa als eruptiv, nur vermittelt über die Formen unserer Auffassung von ihnen. Ein Sturm und ein Vulkanausbruch (Budds Beispiele) oder auch die Bewegung eines Zugs48 sind einander ähnlich, weil sie in ihrer Erfahrung analoge Formen des Fühlens verkörpern, und wir behandeln auch solche Phänomene wie quasi-Darstellungen und arbeiten über sie an der Artikulation unseres Fühlens. Langer zufolge sind es aber erst Erfahrungen mit Kunst, die uns auf diese Übertragungen bringen: »Art is the objectification of feeling, and the subjectification of nature.« (M1 87)

3.3 Mind An genau diesem Punkt setzt Langer mit ihrem späten Hauptwerk Mind. An Essay on Human Feeling an. Dieses letzte Buch Langers, als dreibändiges Großprojekt angelegt, über fast zwei Jahrzehnte bearbeitet und schließlich unvollendet geblieben, unternimmt eine Theorie des menschlichen Geistes, die diesen in seiner Genese zu rekonstruieren versucht und dabei ausdrücklich nicht reduktionistisch-biologistisch vorgeht. Robert Innis hat das Buch als »a kind of philosophical tour de force, a complex web of semiotic, phenomenological, psychological, metaphysical, and meta-philosophical reflections«49 beschrieben. Es ist unmöglich, diesem Projekt hier auch nur annähernd gerecht zu  Budd, Music and the Emotions, a. a. O., S. 114.   Das ist Panaiotidis ebenfalls in kritischer Absicht angebrachtes Beispiel: vgl. Elvira Panaiotidi, »Zwischen Gefühl und Illusion. Die Immanenz der musikalischen Bedeutung bei Susanne K. Langer«, in: Mu­ sik & Ästhetik 13, 50 (2009), S. 59–73. 49 Innis, Susanne Langer in Focus, a. a. O., S. 148. Für eine detaillierte 47

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Einleitung

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werden, daher werde ich mich auf zwei Aspekte beschränken, die im Hinblick auf das vorliegende Buch erhellend sind und die im ersten der drei Bände ausgeführt werden: die Rolle der Kunst in dieser Theorie und das Konzept des Aktes (act), auf das sie wesentlich auf baut. Wenn die Kunst in einer Theorie des Geistes und seiner Entwicklung auftaucht, so würde man sie als Verkörperung einer Form menschlicher Kultur verorten, die die Entwicklung der Menschheit von ihren Anfängen bis zu den höchsten Entwicklungsstufen begleitet. Tatsächlich geht Langer zuerst einmal einen anderen Weg, der durch ihre vorherigen Arbeiten vorgezeichnet ist. Da Geist insgesamt als Entwicklung und Ausdifferenzierung des Fühlens verstanden wird und Kunst nicht nur eine, sondern die Darstellung menschlichen Fühlens schlechthin sein soll, wird sie als heuristisches Instrument herangezogen. Sie bildet geradezu den Ausgangspunkt einer Theorie der lebendigen Form und ihrer Dimension des Fühlens, das wichtigste Instrument, um uns über diese Formen klar zu werden und sie vor uns zu bringen. Ziel der Theorie ist ein genetisches und systematisches Modell des menschlichen Geistes, und es ist Langer klar, dass Kunstwerke nicht selbst schon ein solches Modell sind oder in sich bergen. Der erste Schritt zu einer solchen Theorie ist es für sie aber, uns ein Bild, eine Vorstellung davon zu machen, wie der Gegenstandsbereich überhaupt gedacht werden kann; ein Bild ist noch kein Modell, aber ohne ein solches Bild oder mit einem ungeeigneten, der Tradition entstammenden Vorrat an Vorstellungen kann die Theorie nicht gelingen. Dabei geht es offenbar weniger um einzelne Darstellungen, in denen sich bestimmte Aspekte des Fühlens genau formuliert finden, als um die grundsätzliche Art der Darstellung, die ein bestimmtes Verständnis des Gegenstandsbereichs nahelegt und als Hintergrundfolie und Leitmetapher zugleich verstanden werden kann: Auseinandersetzung mit Mind vgl. a. a. O., Kap. 6–8 und v. a. Lachmann, Susanne K. Langer, a. a. O., Kap. 7–12.

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»Under the aegis of the holistic symbol, the concept of life builds up even in entirely scientific terms very much like the vital image in art, with no break between somatic and mental events, no ›addition‹ of feeling or consciousness to physical machinery, and especially, no difference of attitude, point of view, working notions, or ›logical language‹ dividing physics and chemistry from biology, or physiology from psychology.« (M1 xx). Diese kurze Skizze des Projekts macht bereits deutlich, auf welche Weise die Kunst die Theorie des Geistes informiert: Der entscheidende Punkt ist die Kontinuität zwischen Körper und Geist und eine entsprechende Kontinuität der Arbeitskonzepte der jeweiligen Disziplinen. Während Ersteres eine theoretische Aufgabe ist, nimmt sich Langer für den zweiten Punkt auch theoriepolitisch einiges vor. Angelpunkt ist wiederum das Fühlen, das nun genetisch als die elementarste psychische Tatsache gedacht wird, als der Moment, an dem ein vitaler Prozess eine Dimension von Erfahrung bekommt. Langer versteht dies nicht als Hinzutreten einer neuen Entität namens Bewusstsein, sondern als Übergang in einen neuen Modus: »[B]eing felt is a phase of the process itself. A phase is a mode of appearance, not an added factor.« (M1 21) Sie zielt damit auf den Kern des alten Leib-Seele-Problems in seiner neuen Gestalt als Gehirn-Geist-Problem, ohne die zugrundeliegenden Prozesse auf neuronale Vorgänge zu beschränken. Dryden bezeichnet ihre Position zu Recht als naturalistisch, allerdings in einem spezifischen, nicht-reduktionistischen Sinne, der sich in eine bestimmte amerikanische Tradition einschreibt, durch die Spannweite des Horizonts und die Vermittlung zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und philosophischem Denken aber aus ihr herausragt. 50 Wogegen sich Langer spätestens seit Philosophy in a New Key entschieden gewandt hat, ist die Vorstellung eines substanziellen   Vgl. Donald Dryden, »Susanne K. Langer and American Philosophical Naturalism in the Twentieth Century«, in: Transactions of the Charles S. Peirce Society 33, 1 (1997), S. 161–182. 50



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Geistes (vgl. PNW 48), der nicht letztlich als Naturphänomen beschrieben werden kann. Die Kontinuität der Sache und der Appell an eine Kohärenz der theoretischen Beschreibungen sollen dabei gerade keine Reduktion des menschlichen Geistes auf die Biologie oder gar die Physik implizieren. Die Aufgabe der Theorie ist es für Langer, die prinzipielle Kontinuität mit mehreren Übergängen zusammen zu denken, die radikale neue Ordnungen ins Spiel bringen, und zwar den Übergang von chemischen Prozessen zum Leben, denjenigen zum Auftretens des Fühlens als Gewahrsein der eigenen Lebensprozesse und schließlich den vom Tier zum Menschen. Auch wenn die Kontinuitätsthese zwischen Vorgang und Fühlen sicher die kontroversere ist,51 ist es vor allem letzterer Übergang, auf den sie ihre Aufmerksamkeit richtet: »The central problem of the present essay is the nature and origin of the veritable gulf that divides human from animal mentality, in perfectly continuous course of development of life on earth that has no breaks.« (M1 xvi) Das Neue in diesem fundamentalen Sinne muss als emergent begriffen werden, auch wenn es den »semblance of a saltus naturae« (M1 424) hat. Das Brückenkonzept ist hier neben Fühlen das des Aktes, das bereits in Kapitel 17 von Fühlen und Form als Grundeinheit der Literatur auftaucht. Mit Akt bezeichnet Langer, nun in einem nochmal deutlich erweiterten Sinne, die basale Einheit lebendiger Prozesse, also auch hier weder Entitäten noch Mechanismen, sondern elementare Prozesse, die in ihren konkreten Gestalten und Verkoppelungen zu untersuchen sind. Ein Akt ist gekennzeichnet durch einen Impuls und eine spezifische Verlaufsform, er erwächst aus einer von anderen Akten geprägten Situation, wird gestützt oder inhibiert und geht verändernd wieder in sie ein. Intentionalität und Bewusstsein sind dabei nicht vorausgesetzt, sondern stellen sich nur auf einer   Sie hat denn auch eine Reihe von skeptischen Kritiken hervorgerufen: Vgl. neben den damaligen Rezensionen ausführlicher Peter A. Bertocci, »Susanne K. Langer’s Theory of Feeling and Mind«, in: The Review of Metaphysics 23, 3 (1970), S. 527–551. 51

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höheren Stufe und in spezifischen Fällen ein – als Akt gilt alles von der Adrenalinsekretion der Nebenniere über die unwillkürliche Körperbewegung bis zur intentionalen kommunikativen Geste. Wiederum wird damit nicht behauptet, dass es keine Unterschiede zwischen diesen Vorgängen gäbe, sondern es wird lediglich eine grundlegende Vergleichsebene eingezogen, ein formales Konzept definiert, innerhalb dessen die entsprechenden Differenzierungen untersucht werden können. Ausdrücklich wird dabei nicht von Agenten ausgegangen, seien es handelnde Subjekte oder Organismen. Ein solcher Agent ist aus dieser Perspektive keine substantielle, sondern eine funktionale Einheit, eine systematische Organisationsform von Akten (M1 307 ff.). Das ist eine grundlegende Umkehrung der Perspektive: Zuerst einmal muss verstanden werden, wie sich ein lebendiges Wesen aus dem komplexen Ineinandergreifen von Akten konstituiert, ehe von Akten dieses Wesens gesprochen werden kann. Die Entwicklung des Lebens bis zum Geist ist dann eine Entwicklung von Akten in ihrem systematischen Zusammenhang. Fragen nach Intentionalität, Identität und Verantwortung gehören einer hohen Entwicklungs- und Integra­ tions­stufe an, die aber nicht durch eine Art ontologischer Kluft von dem Leben von Einzellern getrennt ist. Diese prozessorientierte Auffassung lehnt sich offensichtlich eng an Whiteheads »atomistische« Prozessontologie mit ihren actual entities als Basiseinheiten an.52 Sie kann als Versuch der wissenschaftlichen Operationalisierung dieses metaphysischen Entwurfs gelten, die selbst ausdrücklich keine Metaphysik sein will, sondern ein Beitrag zu einer biologisch fundierten philosophischen Theorie, der sich auf empirische Belege und deren begriffliche Verarbeitung stützt.53   Vgl. Alfred N. Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cos­ mology, New York 1929 (Macmillan). Die deutsche Fassung übersetzt actual entity höchst irreführend mit »wirkliches Einzelwesen« und ist insgesamt problematisch (Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M. 1979). 53  Wesley Wehr zufolge war Langer höchst ungehalten, als Herbert 52



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Die Organisation von Organismen hat Langer bereits in Füh­ len und Form als Typ von Einheit beschrieben, deren Formpermanenz ein »Muster von Veränderungen« (S. 156) ist, und mit dem Motiv des Rhythmus zusammengebracht. Auf der elementaren Ebene ist Rhythmus eine Verkettung oder besser Verflechtung von Ereignissen oder eben Akten, »Vorbereitung eines neuen Ereignisses durch das Beenden eines vorangegangenen« bzw. »das Erzeugen neuer Spannungen durch die Auflösung früherer« (S. 244), die auf einer höheren Ebene zu jenem Integrationsmuster führen, das den Organismus ausmacht, denn es ist das Prinzip, »das die physische Existenz in eine biologische Gestalt bringt« (ebd.). Auch hier lassen sich Parallelen zu Whitehead, für den rhythmische Komplexität das entscheidende Kennzeichen lebender Wesen ist, und zu Dewey feststellen, der Langers Definitionen vorwegnimmt und dies ebenfalls auf organische Vorgänge bezieht.54 Über die dynamischen Gestalten der Akte und ihre Verflechtung zu Rhythmen lässt sich die Verbindung zwischen organischen Vorgängen und dem Fühlen herstellen: Als Phase vitaler Prozesse hat dieses ihre Form mit ihnen gemeinsam, und dies muss sich vom elementarsten Gewahrsein bis zu den höchsten Gedanken als ihr Wie, ihre konkrete Verlaufsform nachvollziehen lassen. Die Kunst wäre demnach die Darstellung der gefühlten Seite von Akten jed­ Read das Buch als »metaphysical system« bezeichnete (zit. bei Dryden, »Susanne K. Langer and American Philosophical Naturalism«, a. a. O., S. 175). Bereits in The Practice of Philosophy spricht Langer davon, dass wirklich neue Gedanken zuerst in der Form des philosophischen Mythos erscheinen, der eine Welt an neuen Möglichkeiten eröffnet, obwohl oder gerade weil er leicht abwegige Züge hat (vgl. PP 175 ff.). Es trifft die Sache recht gut, Whiteheads Prozessontologie als einen solchen Mythos zu begreifen (so Langer in einem unveröff. Ms., zit. bei Donald Dryden, »Whitehead’s Influence on Susanne Langer’s Conception of Living Form«, in: Process Studies 26, 1–2 (1997), S. 62–85, hier 74). 54  Vgl. Alfred North Whitehead, An Enquiry Concerning the Princi­ ples of Natural Knowledge, Cambridge 1919 (Cambridge UP), S. 195 ff.; Dewey, Kunst als Erfahrung, a. a. O., S. 179, 200.

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weden Registers und jedweder Komplexität; die Logik von Organismus und Gattung und die Auseinandersetzung mit der Umwelt finden interessanterweise gerade in der Komödie ihre angemessene Darstellung (vgl. Kap. 18). Das Riesenprojekt Mind hat Langer über zwei Jahrzehnte beschäftigt, in denen sie sich zunehmend aus der Öffentlichkeit und auch aus der philosophischen Diskussion verabschiedet hat. Die Zeit war nicht unbedingt günstig für ein derartiges Projekt, zumal wenn es die Auseinandersetzung mit so vielen unterschiedlichen Wissenschaftswelten erforderte. Die Rezensionen waren eher skeptisch bis ablehnend, und das Buch hat in der Philosophie und in den behandelten und angesprochenen Wissenschaften so gut wie keinen Widerhall gefunden. Für Donald Dryden liegt dies schlicht daran, dass sie zu früh kam und zu radikal war; er findet erst in der zeitgenössischen Diskussion zahlreiche Anknüpfungspunkte und Entwicklungen, die in eine ähnliche Richtung gehen. Er nennt die wesentlich von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch angestoßene embodiment-Diskussion, George Lakoff und Mark Johnsons Metapherntheorie, Terrence Deacons Theorie der Entwicklung des Symbolischen als Spezifikum des Menschen, die Theorie dynamischer Systeme, die Phänomenologie, speziell Maurice Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Psychologie und Biologie und deren Fortsetzung bei Evan Thompson, Francisco Varelas Neurophänomenologie und einige andere.55 In all diesen Fällen ginge es nicht darum, bloße Vorwegnahmen wichtiger Gedanken (oder auch, im Falle von Merleau-Ponty, Parallelentwicklungen) zu konstatieren, sondern um Impulse, die von Langers Essay on Human Feeling auch heute noch ausgehen können. Es ist sicher nicht nötig, Mind in seinem ganzen Umfang zur Kenntnis zu nehmen, um Fühlen und Form rezipieren zu können. Dennoch ist es hilfreich, sich Langers Gesamtprojekt vor   Vgl. Donald Dryden, »The Philosopher as Prophet and Visionary: Susanne Langer’s Essay on Human Feeling in the Light of Subsequent Developments in the Sciences«, in: The Journal of Speculative Philosophy, New Series 21, 1 (2007), S. 27–43. 55



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Augen zu führen, das den Hintergrund ihrer Theorie der Kunst bildet und ohne das die zentralen Thesen einigermaßen missverständlich sind. 1988, drei Jahre nach ihrem Tod, bemerkte Arthur C. Danto über Susanne Langers Philosophie und insbesondere über Mind, es sei »one of the most audacious philosophical visions of recent times«56 , und kurze Zeit später schrieb Thomas Sebeok: »Clearly, however, her work merits detailed reconsideration in the near future, especially in its implications for aesthetics.«57 Diese detaillierte Auseinandersetzung ist bis heute ein Desiderat. Es steht zu hoffen, dass eine verbesserte Editionslage sie befördert.

4.  Zu dieser Ausgabe Die vorliegende Ausgabe legt den Text der Originalausgabe von 1953 zugrunde, der auch in späteren Auflagen keine Überarbeitungen oder Revisionen erfahren hat. Das philosophische Werk Susanne K. Langers stellt die Übersetzung nicht in gleichem Maße vor grundlegende Schwierigkeiten wie das mancher anderer Philosophen. Trotzdem sind, was die Grundbegriffe angeht, einige Entscheidungen zu treffen, die hier kurz dargestellt werden sollen. Den naheliegenden Anfang bildet der titelgebende Begriff des feeling, zu dem im dritten Abschnitt einiges gesagt wurde. Eine Übersetzung mit »Gefühl« hätte die Leser inhaltlich auf eine vollkommen falsche Fährte geführt, weil sie in keiner Weise dem entsprochen hätte, was Langer unter diesem Begriff verstanden hat und was sie mit ihm wollte. Die gewählte Alternative »Fühlen« behält den verbalen Charakter bei, weicht aber trotz der im Prinzip wörtlichen Übersetzung insofern vom  Arthur C. Danto, »Foreword«, in: Susanne K. Langer, Mind. Abridged Edition (gekürzt von Gary Van Den Heuvel), Baltimore 1988 (Johns Hopkins UP), S. v–vi, hier vi. 57  Thomas A. Sebeok, Semiotics in the United States, Bloomington u. Indiana 1991, S. 44. 56

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Original ab, als ein vollkommen alltäglicher Begriff durch einen eher ungewöhnlichen ersetzt wird. Auf der anderen Seite markiert diese Abweichung Langers tatsächlich ungewöhnliche Verwendung des Begriffs und bietet damit den Vorteil, den verbreiteten Missverständnissen vorzubeugen, die der englische Begriff fast unvermeidlich auslöst. Ganz lässt sich dies freilich nicht durchhalten: An den Stellen, wo nicht von »Fühlen« als Typus der Erfahrung, sondern von einzelnen oder spezifischen Gefühlen die Rede ist, wird auch hier von »Gefühl« gesprochen. Der zweite Punkt betrifft ebenfalls den Titel eines Buches, allerdings den des davor erschienenen. Die Philosophy in a New Key ist wörtlich eine Philosophie in neuer Tonart. Der Titel der deutschen Übersetzung Philosophie auf neuem Wege trifft zwar im Großen und Ganzen, was Langer damit meint, blendet den gesamten musikalischen Assoziationsraum aber vollständig aus, der für jeden muttersprachlichen Leser ganz offensichtlich ist. Wie wichtig er für sie inhaltlich ist, wurde bereits gezeigt, und es handelt sich um eine mit Bedacht gesetzte Metapher. Der Beginn des Buches buchstabiert diese aus, indem er von einem Anschlagen der neuen Tonart spricht, von einer Transposition und davon, dass jeder Wechsel der Tonalität das zuvor Erklungene in einem neuen Licht erscheinen lasse (vgl. ähnlich S. 95). Die Übersetzerin Ada Löwith hat all dies in ihr Bild des Wegs übertragen, was tatsächlich nicht weiter auffällt, wenn man das Original nicht im Ohr hat – allerdings hat man es nun mit einer etwas hölzern wirkenden Metapher zu tun, deren Wahl mäßig gut motiviert erscheint. All dies führt uns dazu, auch in Fühlen und Form die entsprechenden Verweise auf die deutsche Übersetzung von Philosophy in a New Key mit dem wörtlich übersetzten Titel zu versehen. Die missliche Lage, dass diese nun nicht mehr mit dem publizierten Titel übereinstimmen, erscheint uns angesichts des inhaltlichen Gewinns erträglich. Der schwierige Begriff der illusion wurde wörtlich beibehalten, auch wenn er, wie oben bemerkt, mit Recht als »Erscheinung« hätte übersetzt werden können – Langers spätere Wahl



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der apparition weist in genau diese Richtung. Damit wären sowohl dieser Begriff als auch der der semblance als dem Begriffsfeld des »Scheinens« zugehörig erkennbar, denn man kann vermuten, dass diese Begriffe wesentlich vom Deutschen her gedacht sind. Dennoch schien uns hier der Nachteil zu überwiegen, der darin läge, dass »primäre Erscheinung« nicht sehr eingängig wäre und die Sache auch nicht wirklich träfe und dass Langers eigene Erklärungen hinsichtlich der Begriffswahl ins Leere liefen. Langer benutzt mehrere Begriffe, um unterschiedliche Aspekte des Begriffsfeldes von Sinn und Bedeutung zu benennen; auch hier ist ihre Terminologie nicht ganz einheitlich. Meaning ist hier eindeutig als »Bedeutung« zu übersetzen, während mit »Sinngehalt« für significance die Übersetzung beibehalten wurde, die auch Ada Löwith gewählt hat. Der von Clive Bell eingeführte Ausdruck significant form wird aus Gründen der Wiedererkennbarkeit als »signifikante Form« wiedergegeben. Ein weiterer zentraler Begriff ist import: In Problems of Art schreibt Langer, sie habe in Reaktion auf Ernest Nagels Kritik in Bezug auf die Kunst den Begriff meaning fallengelassen und stattdessen von import gesprochen, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um Bedeutung im semantischen, eindeutig feststellbaren Sinne handelt (vgl. PA 127); tatsächlich hatte sie dies auch in Philosophy in a New Key schon fast durchgängig getan. Um die Offenheit dieses Bedeutungsbegriffs und die Verbindung von Bedeutung und Wichtigkeit abzubilden, wurde hier »Bedeutsamkeit« gewählt, insofern der Begriff terminologisch verwendet wird. Wirklich problematisch ist der Begriff, mit dem die Eigentümlichkeit der Architektur bezeichnet werden soll: ethnic do­ main. Während domain noch einigermaßen unproblematisch als »Gebiet« übersetzt werden kann, verbietet sich eine wörtliche Übersetzung von ethnic. Noch fataler wäre es, zu einem von »Volk« oder irgendeiner Variante von »Ursprung« abgeleiteten Begriff zu greifen – nicht nur gehen die Assoziationen im Deutschen hier in eine katastrophale Richtung, die Begriffe entsprä-

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chen auch nicht dem, was Langer im Sinn hat. Infolgedessen wurde hier die etwas sperrige Übersetzung »sozio-kulturelles Gebiet« gewählt, mit der die Eingängigkeit des Ausdrucks der Unmissverständlichkeit der Bedeutung geopfert werden musste – was uns als der geringere Verlust erschien. Langers oft nicht ganz vollständige oder einheitliche Literatur­ angaben wurden stillschweigend ergänzt und vereinheitlicht; an einigen Stellen wurden Referenzen nachgetragen und als solche kenntlich gemacht.

LITERATUR

1.  Veröffentlichungen von Susanne K. Langer AA

Abstraction in Art

F

Facts: The Logical Perspectives

FC

Form and Content: A Study in Paradox

FF

Feeling and Form

ISL

An Introduction to Symbolic Logic

M

Mind. An Essay on Human Feeling, Bd. 1

OC

On Cassirer’s Theory of Language and Myth

PA

Problems of Art

PNW / PNK

Philosophie auf neuem Wege / Philosophy in a New Key

PP

The Practice of Philosophy

PS

Philosophical Sketches

RA

Reflections on Art

SP

A Set of Postulates for the Logical Structure of Music

Form and Content: A Study in Paradox, in: The Journal of Philosophy 23, 16 (1926), S. 435–438. Confusion of Symbols and Confusion of Logical Types, in: Mind, New Series 35, 138 (1926), S. 222–229. A Logical Study of Verbs, in: The Journal of Philosophy 24 (1927), S. 120–129. A Set of Postulates for the Logical Structure of Music, in: The Monist 39, 4 (1929), S. 561–570. The Treadmill of Systematic Doubt, in: The Journal of Philosophy 26, 14 (1929), S. 379–384. The Practice of Philosophy, New York: Henry Holt & Co. 1930.

48 Literatur

Facts: The Logical Perspectives, in: The Journal of Philosophy 30, 7 (1933), S. 178–187. On a Fallacy in ›Scientific Fatalism‹, in: The International Journal of Ethics 46, 4 (1936), S. 473–483. An Introduction to Symbolic Logic, New York 1937 (Dover). Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art (1942), Cambridge, Mass. 31957 (Harvard UP), dt.: Philo­ sophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M.: Fischer 1984. The Lord of Creation, in: Fortune 29 (1944), S. 127–154. Translator’s Preface, in: Ernst Cassirer, Language and Myth, New York u. London 1946 (Harper), S. vii–x. Symbols and Emblems for a United Word, in: Common Cause. A Journal of One World 2 (1949), S. 338–340. On Cassirer’s Theory of Language and Myth, in: Paul A. Schilpp (Hg.), Ernst Cassirer, Evanston 1949, S. 381–400, dt. Stuttgart/ Berlin 1966, S. 263–280. The Principles of Creation in Art, in: Hudson Review 2, 4 (1950), S. 515–534. The Primary Illusions and the Great Theories of Art, in: Hudson Review 3, 2 (1950), S. 219–233. (mit Eugene T. Gadol), The Deepening Mind. A Half-Century of American Philosophy, in: The American Quarterly 2, 2 (1950), S. 118–132. World Law and World Reform, in: The Antioch Review 11, 4 (1951), S. 462–473. (Hg. mit Paul Henle u. Horace M. Kallen), Structure, Method, and Meaning: Essays in Honor of Henry M. Sheffer, New York 1951 (Liberal Arts Press). Abstraction in Science and Abstraction in Art, in: dies., Henle, Kallen u. Langer, Structure, Method, and Meaning, a. a. O., S. 171– 182. Feeling and Form. A Theory of Art Developed From Philosophy in a New Key, New York 1953. Art: The Symbol of Sentience, in: New World Writing 4 (1953), S. 46– 55.



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50 Literatur

2.  Sonstige Literatur Die folgende Liste führt neben den zitierten Texten einige einschlä­ gige Titel aus der Sekundärliteratur zu Langer auf, erhebt aber kei­ nen Anspruch auf Vollständigkeit. Addis, Laird, Of Mind and Music, Ithaca/London 1999 (Cornell UP). Auxier, Randall, Susanne Langer on Symbols and Analogy: A Case of Misplaced Concreteness?, in: Process Studies 26 (1998), S. 86– 106. Bertocci, Peter A., Susanne K. Langer’s Theory of Feeling and Mind, in: The Review of Metaphysics 23, 3 (1970), S. 527–551. Bierwisch, Manfred, Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise, in: Jahrbuch Peters 1978, Leipzig 1979, S. 9–102. Budd, Malcolm, Music and the Emotions. The Philosophical Theories, London/New York 1992. Bufford, Samuel, Susanne Langer’s Two Philosophies of Art, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 31, 1 (1972), S. 9–20. Ciompi, Luc, Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Ent­ wicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung, Stuttgart 1982. Colapietro, Vincent, Susanne Langer on Artistic Creativity and Creations, in: C. W. Spinks u. John Deely (Hg.), Semiotics 1997, New York 1997 (Peter Lang). –, Symbols and the Evolution of Mind: Susanne Langer’s Final Bequest to Semiotics., in: C. W. Spinks u. John Deely (Hg.), Semi­ otics 1998, New York 1998 (Peter Lang). Danto, Arthur C., Mind as Feeling; Form as Presence; Langer as Philosopher, in: The Journal of Philosophy 81, 11 (1984), S. 641– 647. –, Foreword, in: Susanne K. Langer, Mind, Abridged Edition (gekürzt von Gary Van Den Heuvel), Baltimore 1988 (Johns Hopkins UP), S. v–vi. Damnjanovic, Milan, Susanne K. Langer: Die Kunst als symbolische Form. Mit besonderer Berücksichtigung der Musiktheorie,



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53

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54 Literatur

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SUSANNE K. L ANGER

FÜHLEN UND FORM EINE THEORIE DER KUNST

In Erinnerung an ERNST CASSIRER



Einleitung In Philosophie in neuer Tonart 1 hieß es, die dort entwickelte Theorie des Symbolismus würde in eine Kritik der Kunst münden, die ebenso schwer wiegt und weit reicht wie die Kritik der Wissenschaft, die sich aus der Analyse des diskursiven Symbolismus ergibt. Fühlen und Form möchte nun dieses Versprechen einlösen und jene Kritik der Kunst liefern. Da diese Philosophie der Kunst fest in der oben erwähnten semantischen Theorie wurzelt, muss das vorliegende Buch die Bekanntschaft des Lesers mit dem vorangegangenen Werk voraussetzen, ja es ist im Grunde dessen Fortsetzung. Zwar hätte ich es vorgezogen, ein in sich geschlossenes Werk vorzulegen, aber sein eigener Gegenstand ist trotz der gelegentlichen Skizzenhaftigkeit so umfangreich, dass eine Wiederholung der einschlägigen oder auch nur der wesentlichsten Inhalte des früheren Buches zwei Bände nötig gemacht hätte, wovon der erste quasi eine Dublette des bereits vorgelegten Werks gewesen wäre. Daher muss ich den Leser bitten, Fühlen und Form tatsächlich als den zweiten Band einer Untersuchung über den Symbolismus zu betrachten, deren Anfang die Philosophie in neuer Tonart bildet. Was für einen Menschen gilt, gilt auch für ein Buch: Es kann nicht alles leisten. Es kann nicht auf ein paar hundert Seiten alle Fragen beantworten, die das Elefantenkind in seiner unersättlichen Neugier vielleicht stellen möchte.2 Daher sollte ich wohl   Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key. A Study in the Symbo­ lism of Reason, Rite and Art, Cambridge, Mass. 1942; dt. Übers.: Philoso­ phie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M. 1984. [ A nm. d. Hg. ] 2  Verweis auf Rudyard Kiplings Geschichte Das Elefantenkind, in: ders., Wie der Leopard zu seinen Flecken kam. Tierfabeln oder Genau-soGeschichten, München 2015, S. 49–64. [ A nm. d. Hg. ] 1

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von Anfang an sagen, was es nicht zu unternehmen gedenkt. Es stellt keine Kriterien für die Beurteilung von »Meisterwerken«, auch nicht gelungener im Gegensatz zu weniger gelungenen, minderen Werken auf – seien es nun Bilder, Gedichte, Musikstücke, Tänze oder was auch immer. Es stellt keinen Kanon des guten Geschmacks auf. Es macht keine Aussagen darüber, was innerhalb der Grenzen einer jeden Kunstgattung möglich oder unmöglich ist, welches Material von ihr verwendet werden mag, welche Themen ihr angemessen sind usw. Es wird niemandem zu einer künstlerischen Konzeption verhelfen, noch ihn lehren, wie er diese in irgendeinem Medium umsetzt. Dergleichen Normen und Regeln scheinen mir nicht in die Zuständigkeit des Philosophen zu fallen. Aufgabe der Philosophie ist es, Begriffe zu entwirren und zu ordnen, den Ausdrücken, die wir in unserem Reden über irgendein Thema (hier die Kunst) verwenden, eine eindeutige, befriedigende Bedeutung zu geben; sie hat mithin, wie Charles Pierce meint, »unsere Ideen zu klären«. Auch setzt dieses Buch nicht Kunsttheorien mit metaphysischen Standpunkten, mit »Welthypothesen«, wie Stephen Pepper sie nennt, in eine Beziehung.3 Dieser Gegenstand ist zwar durchaus ein philosophischer, aber er würde über den Rahmen meiner gegenwärtigen philosophischen Untersuchung hinausgehen. Innerhalb der Grenzen, die ich mir selbst gesetzt habe, kann ich nicht mehr als eine Kunsttheorie entwickeln, und ich habe nicht die »Welthypothese« aufgestellt, die diese einschlösse, geschweige denn, dass ich ein so umfangreiches Begriffssystem mit einem alternativen vergleichen könnte. Darüber hinaus muss ich mich, sollen meine eigenen Ideen und meine Darstellungsform beherrschbar bleiben, weiteren Beschränkungen unterwerfen, und die erste ist die, dass ich mich nicht mit zu vielen Theorien auseinandersetze, seien es klassische oder neuere, die meiner eigenen in wesentlichen Punkten widersprechen. Würde ich jede andere Lehre wider­   Vgl. Stephen C. Pepper, World Hypotheses: A Study in Evidence, Berkeley u. a. 1942. [ A nm. d. Hg. ] 3

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legen wollen, die meinen Argumentationsgang berührt, so würde sich dieser im Streit der Kontroversen verlieren. Folglich habe ich Polemiken soweit wie möglich – aber selbstverständlich nicht vollkommen – vermieden. Erörtern tue ich hauptsächlich jene Vorstellungen meiner Kollegen und Vorgänger, auf denen ich auf baue, wobei sich meine Kritik an ihnen auf das richtet, was mir als ihre Grenzen und Fehler erscheinen. Sooft es möglich war, habe ich Diskussionen in die Fußnoten verlegt. Das führt zu vielen Anmerkungen – vor allem in den Kapiteln über Dichtung, Prosa und Drama, Themen, deren wissenschaftliche Untersuchung eine lange Tradition hat, so dass die kritische Literatur auf diesem Feld enorm ist – aber auf diese Weise kann der Text ungehindert von Schnörkeln eklektischer Bildung fortschreiten und sein eigenes großes Thema möglichst direkt entwickeln. Die Fußnoten enthalten daher mehr als nur Literaturangaben und sind ebenso für den allgemeinen Leser wie für den Studenten vom Fach gedacht. Daher bin ich auch von der strikten Gepflogenheit abgegangen, fremdsprachige Autoren im Original zu zitieren.4 Und schließlich wird nichts in diesem Buch erschöpfend behandelt. Jedes seiner Themen bedarf einer weiteren Analyse, Forschung und Behandlung. Der Grund dafür ist, dass es sich im Wesentlichen um eine Forschungsarbeit handelt, die, wie Whitehead einmal über William James’ Pragmatismus sagte, »vor allem eine Menge Hasen aufscheucht, damit andere ihnen nachjagen«. Was Fühlen und Form bezweckt, ist die Bedeutung der Wörter Ausdruck, Schöpfung, Symbol, Bedeutsamkeit (import), An­ schauung (intuition), Vitalität und organische Form so zu bestimmen, dass wir durch sie das Wesen der Kunst und ihrer Beziehung zum Gefühl, die verhältnismäßige Eigenständigkeit   Für die vorliegende Ausgabe wurden (mit wenigen Ausnahmen) sämtliche Zitate ins Deutsche übertragen bzw. werden nach den angegebenen deutschen Übersetzungen wiedergegeben; die von der Autorin genannten deutschsprachigen Quellen werden im Original zitiert. [ A nm. d. Hg. ] 4

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der verschiedenen Künste und ihre grundlegende Einheit in der »Kunst« selbst, die Funktionen von Gegenstand und Medium, die erkenntnistheoretischen Probleme von künstlerischer »Mitteilung« und »Wahrheit« verstehen. Eine lange Reihe anderer Probleme – ist eine Aufführung zum Beispiel eine »Schöpfung«, eine »Nachschöpfung« oder nur »bloßes Handwerk«, sind Dramen »Literatur« oder nicht, warum erreicht der Tanz den Zenit seiner Entwicklung häufig im primitiven Stadium einer Kultur, in der andere Künste sich gerade erst am Horizont dieser Gemeinschaft abzeichnen, um nur einige wenige zu nennen – ergeben sich aus den zentralen Fragen und werden wie sie beantwortbar gemacht. Das Hauptziel dieses Buches lässt sich daher so beschreiben: Es stellt einen geistigen Rahmen für philosophische Studien auf, die sich auf allgemeine oder ins Einzelne gehende Weise mit der Kunst beschäftigen. Diese Unternehmung trifft auf ihr eigentümliche Schwierigkeiten, von denen einige praktischer, andere semantischer Natur sind. Die Philosophie der Kunst sollte im Atelier beginnen, nicht in Galerien, Theatersälen oder Bibliotheken. Ebenso wie die Wissenschaftsphilosophie zu ihrer angemessenen Entwicklung des Standpunkts von Wissenschaftlern bedurfte und nicht den von Leuten wie Comte, Büchner, Spencer und Haeckel, die »Wissenschaft« als ein Ganzes betrachteten, ohne jedoch irgendeine Vorstellung ihrer wirklichen Probleme und Arbeitskonzepte zu haben, ist die Philosophie der Kunst auf den Standpunkt des Künstlers angewiesen, um die Aussagekraft ihrer Begriffe zu überprüfen und leere oder naive Verallgemeinerungen zu verhindern. Der Philosoph muss die Künste sozusagen »von innen« kennen. Aber niemand wird alle Künste auf diese Weise kennen. Dazu müsste man die Anstrengung unternehmen, eine beträchtliche Reihe nichtakademischer Studien zu betreiben. Und die Lehrer dafür wären selbst Künstler, die ihre eigene Sprache sprechen, eine Sprache, die sich größtenteils einer Übersetzung in das sorgfältigere, wortgetreuere Vokabular der Philosophie widersetzt. Das wird vermutlich für Ungeduld sorgen. Tatsächlich aber ist es unmöglich, über Kunst

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zu sprechen, ohne die Sprache der Künstler bis zu einem gewissen Grad zu übernehmen. Warum sie so reden, wie sie reden, hat seinen Grund nicht nur darin, dass sie dialektisch nicht gut ausgebildet sind und sich populär ausdrücken, noch darin, dass sie sich aufgrund ihrer »schlechten Sprachgewohnheiten« dazu haben verleiten lassen, den Menschen als einen »Geist in der Maschine« zu sehen, wie Gilbert Ryle meint. Ihr Vokabular ist metaphorisch, weil es plastisch und kraftvoll sein muss, damit sie ihre ernsten, oft schwierigen Gedanken auszusprechen imstande sind. Sie können in der Kunst nicht dieses oder jenes leicht verständliche Phänomen sehen; sie sind viel zu sehr an ihr interessiert, um Zugeständnisse an die Sprache zu machen. Der Kritiker, der ihre poetische Redeweise verachtet, wird sie sehr wahrscheinlich nur sehr oberflächlich untersuchen und den Künstlern Ideen beilegen, die sie gar nicht vertreten, statt herauszufinden, was sie wirklich denken und wissen. Es genügt freilich nicht, die Sprache der Ateliers zu erlernen, denn schließlich besteht das Geschäft eines Philosophen darin, das Gelernte anzuwenden, um Theorien und nicht einen »Arbeitsmythos« aufzustellen. Und wenn der Philosoph sich an seine eigenen Kollegen wendet, gerät er in eine neue semantische Schwierigkeit: Statt die Metaphern der Künstler zu interpretieren, muss er nun mit den Launen der akademischen Sprachverwendung kämpfen. Wörter, die er in aller Nüchternheit und Genauigkeit gebraucht, werden von nicht weniger ernsthaften Autoren in einem völlig anderen Sinne verwendet. Nehmen wir zum Beispiel ein Wort, auf dem das ganze vorliegende Buch aufgebaut ist: »Symbol«. In seinem ausgezeichneten Buch The Poetic Image versteht Cecil Day Lewis darunter stets das, was ich ein »zugeschriebenes Symbol« genannt habe, ein Zeichen, mit einer konventionell festgelegten, buchstäblichen Bedeutung.5 Collingwood geht noch einen Schritt weiter und schränkt den Terminus auf bewusst gewählte Zeichen ein, wie es die Symbole der symbolischen Logik sind. Dann dehnt 5

  Vgl. Cecil Day Lewis, The Poetic Image, New York 1947.

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er das Wort »Sprache« so aus, dass es alles abdeckt, was ich als »Symbole« bezeichnen würde, darunter religiöse Symbole, Riten und Kunstwerke.6 Albert Cook hingegen stellt »Symbol« und »Begriff« (concept) gegenüber und versteht unter Letztem alles, was Day Lewis mit »Symbol« meint, plus alles, was er, Cook, als »mechanisch« verurteilt, etwa die Komödie Rabelais’. Er spricht von der »unendlichen Suggestionskraft des Symbols«.7 Offenbar ist »Symbol« eine Art Ehrentitel, aber ich weiß nicht wofür. David Daiches verfügt über eine weitere Verwendungsweise, ja über eine Definition: »Wie hier verwendet«, sagt er in A Study of Literature, »bezeichnet es [ ›Symbol‹ ] einfach einen Ausdruck, der mehr andeutet, als er sagt.« 8 Aber wenig später schränkt er seinen Sinn tiefgreifend ein: »Ein Symbol ist etwas, in dem empfindsame Menschen ihr potentielles Schicksal erkennen …«9 »Symbol« mag hier dasselbe bedeuten wie das, woran Cook denkt, oder auch nicht. Dem armen Philosophen bleibt nichts anderes übrig, als seine Worte zu definieren und darauf zu vertrauen, dass sich der Leser an ihre Definition erinnert. Der Leser ist aber oft nicht bereit, eine Definition zu akzeptieren – vor allem dann nicht, wenn sie in irgendeiner Weise vom Üblichen abweicht –, solange er nicht sieht, was der Verfasser damit bezweckt, warum er das Wort so und nicht anders definiert, zumal dies erst später im Laufe des Buches erfolgen mag. Meine Definition von »Symbol« fällt aus eben diesem Grund in Kapitel 20, und da dies tatsächlich recht spät ist, gebe ich sie besser schon hier und verspreche, dass sie durch den Gang des Buches erhellt und begründet wird: Ein Symbol ist jedes Instrument, das uns befähigt, eine Abstraktion vorzunehmen.   Eine recht ausführliche Diskussion der Arbeit von Collingwood findet sich unten im 20. Kapitel. 7  Albert Cook, The Dark Voyage and the Golden Mean: A Philosophy of Comedy, Cambridge, Mass. 1949, S. 173. 8  David Daiches, A Study of Literature: For Readers and Critics, Ithaca 1948, S. 36. 9 Ebd. 6

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Nahezu sämtliche Schlüsselwörter in einem philosophischen Diskurs leiden unter der großen Bandbreite an Bedeutungen, die sie in früheren Texten gehabt haben. So verwendet Eisenstein in The Film Sense »Repräsentation« für das, was man gewöhnlich als »Bild« bezeichnet, und »Bild« für etwas nicht notwendig Konkretes, was ich einen »Eindruck« nennen würde. Doch sein Wort »Bild« hat gewisse Gemeinsamkeiten mit Day Lewis’ »poetischem Bild«. Zudem spricht dies zu ihren Gunsten: Beide wissen, was sie unter dem Wort verstehen, und sie machen es uns deutlich. Ein schwieriger und für dieses Buch sehr wichtiger Ausdruck ist »Illusion«. Für gemeinhin wird er mit »Täuschung« verwechselt, weshalb seine Erwähnung im Kontext der Kunst üblicherweise sofort Proteste auslöst, als hätte man behaupten wollen, dass Kunst eine »bloße Täuschung« sei. Aber Illusion, wie sie in der Kunst vorkommt, hat mit Täuschung gar nichts tun, auch nicht mit Selbsttäuschung oder Vorspiegelung. Neben den Schwierigkeiten, die sich allgemein für die Kunsttheorie durch den guten oder schlechten Geruch von Wörtern ergeben, der ihre genauen Bedeutungen beeinträchtigt, und durch die Unterschiedlichkeit selbst ihrer definierten Bedeutungen in der Literatur, wird jede Kunst noch von einer ihr eigenen Last natürlicher Missverständnisse gedrückt. Mehr als jede andere Kunst leidet die Musik darunter, dass sie deutliche körperliche Wirkungen hervorruft, die nur allzu oft für ihren eigent­lichen Wert gehalten werden. Für die Literatur ist ihr Verhältnis zur Tatsache, zur Aussagenwahrheit, das Kreuz, das sie trägt, für das Drama ist es seine Nähe zu Moralfragen, für den Tanz ist es das persönliche Element, das sinnliche Interesse, für Malerei und Skulptur ist es das Pseudoproblem der »Nachahmung« und für die Architektur ist es der offensichtliche Umstand ihrer Nützlichkeit. Gegen alle diese Popanze bin ich, so gut ich konnte, angegangen. Letzten Endes hoffe ich, dass es vielleicht nicht die direkten Widerlegungen, sondern die Theorie selbst, die ganze systematische Idee sein wird, die spezielle wie allgemeine Vorurteile zerstreuen wird.

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Gegen Ende des Buches könnte man erwarten, dass die in Beziehung auf eine bestimmte, für sich betrachtete Kunst entwickelten Ideen verallgemeinert und auf die anderen Künste übertragen würden. Der Leser wird häufig selbst dazu in der Lage sein und sich fragen, warum ich dies unterlassen habe. Der Grund dafür ist der, dass, wenn ich die Künste zueinander in Beziehung setzen und ihre grundlegende Einheit aufweisen werde, dies systematisch geschehen wird; und das wird ein weiteres Buch sein. Nichts in diesem Essay ist zu Ende geführt, auch kann Kunsttheorie niemals abgeschlossen sein. Es mag irgendwann neue Künste geben; ohne Zweifel wird es neue Formen in der einen oder anderen Kunst geben. In unserer Zeit haben wir die Entstehung der bewegten Bilder erlebt, die nicht nur in einem neuen Medium realisiert werden, sondern in einer neuen Form (siehe den Anhang »Eine Bemerkung zum Film«). Doch wie Philoso­ phie in neuer Tonart eine Philosophie der Kunst angekündigt hat, so hoffe ich von Herzen, dass dieses Buch der Anfang von etwas ist, das sich unendlich fortsetzen lässt. Vermutlich wäre es nicht einmal ein Anfang – ja es würde überhaupt nicht vorliegen –, wenn ich nicht beständig die Unterstützung von Freunden erfahren hätte. Knapp vier Jahre wurde ich dank des Einsatzes der Columbia-Universität von der Rocke­ feller-Stiftung gefördert. Dadurch verringerten sich meine Lehrverpflichtungen, so dass ich mich der Forschung widmen konnte und mir ein Teil der Zeit ein unschätzbarer Assistent zur Verfügung stand. Dafür danke ich beiden, der Stiftung und der Universität, herzlich. Der Dank, den ich meinem Assistenten, Eugene T. Gadol, schulde, ist kaum auszudrücken. Er hat nicht nur seine Fachkenntnisse über das Theater mit mir geteilt, er war nahezu immer in meine Arbeit involviert, ja er war meine rechte Hand. Ferner möchte ich Helen Sewell meine besondere Dankbarkeit ausdrücken. Sie hat mir in vielem die Ansicht der Künstlerin nähergebracht und das Manuskript mehrfach gelesen; im Lichte ihrer pointierten und freimütigen Kritik wurde das 5. Kapitel nahezu vollständig umgeschrieben, und die noch

Einleitung

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enthaltenen Fehler gehen auf den Umstand zurück, dass sie es nicht geschrieben hat. Auch bei Katrina Fischer, die mich bei den Forschungen für das 18. Kapitel unterstützt hat, bei meiner Schwester Ilse Dunbar, die bei den vielen Übersetzung aus französischen und deutschen Quellen geholfen hat, bei Alice Dunbar, die mir Ratschläge als Bildhauerin gab und mir in letzter Minute geholfen hat, das Buch für den Druck vorzubereiten, und bei Kurt Appelbaum, der nahezu das ganze Buch gelesen hat und mich in den Genuss der sehr überlegten Reflexionen eines Musikers hat kommen lassen, stehe ich in tiefer Schuld. Was ich einigen meiner ehemaligen Studenten verdanke, wird, wie ich meine, im Text hinreichend deutlich. Ein Wort der Wertschätzung für den kooperativen Geist, mit dem der Verlag Charles Scribner’s Sons, insbesondere Burroughs Mitchell, dafür sorgten, dass dieser Band in der von mir erhofften Form erscheinen konnte, sei auch noch angefügt. Ein Buch, das mit einer so großen Dankeslast in die Welt hinausgeht, ist beinahe ein Gemeinschaftsunternehmen. Ich hoffe, die Gemeinde der Künstler, Kunstliebhaber und Gelehrten wird es mit anhaltendem Interesse zur Kenntnis nehmen und es durch ernsthafte Kritik lebendig erhalten. Hurley, N. Y. 1952 

S. K. L.

TEIL I Das Kunstsymbol

1. Kapitel Das Maß der Ideen Die Philosophie ist ein Geflecht von Ideen. Anders als die Naturwissenschaft besteht sie nicht aus einem Korpus allgemeiner Sätze, die entdeckte Tatsachen ausdrücken, auch ist sie keine Sammlung »moralischer Wahrheiten«, die durch andere Mittel als die der Entdeckung von Tatsachen erkannt werden. Die Philosophie mustert den Ideenbestand, bezüglich dessen Tatsachen und Gesetze, Überzeugungen, Maximen und Hypothesen formuliert werden – kurz, sie untersucht den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen alle unsere Behauptungen, seien sie wahr oder falsch, aufgestellt werden. Sie hat es in der Hauptsache mit Bedeutungen zu tun – mit dem Sinn des von uns Gesagten. Wenn die Begriffe in unserem Diskurs einander widersprechen oder verwirrt sind, ist das gesamte intellektuelle Unternehmen, zu dem sie gehören, hinfällig; unsere angeblichen Überzeugungen sind dann nicht falsch, sondern scheinhaft. Das übliche Anzeichen dafür, dass unsere grundlegenden Ideen zu einem Thema nicht geklärt sind, ist das hartnäckige Fortdauern konkurrierender Lehren, die alle schon häufig widerlegt und doch nicht aufgegeben worden sind. In einem im Grunde, wenn auch nicht in allen Stücken klaren Gedankensystem verdrängen neue Theorien die alten als überholt. Auf einem Feld, auf dem die Grundbegriffe nicht deutlich sind, suchen einander widerstreitende Auffassungen und Terminologien Seite an Seite weiter nach Anhängern. Der Bereich der Kunstkritik ist dafür berüchtigt. Selbstverständlich stützen sich alle begründeten Urteile auf irgendeine Art von theoretischem Fundament. Doch selbst die größten Kenner dieses Feldes sind nicht wirklich in der Lage, eine interessante Theorie zu entwickeln, die ihre Befunde rechtfertigt.

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Teil I  ·  Das Kunstsymbol

Philosophische Überlegungen zur Kunst bilden eine große, faszinierende Literatur, die von gelehrten Abhandlungen bis zu reiner Belletristik reicht: Essays, Aphorismen, Memoiren, ja Dichtung. In diesem gewachsenen Fundus ist eine reiche Vielfalt von Lehren dargelegt worden, einige davon sind die Blüte einer langen Tradition, andere wieder sind recht jung, manche haben geniale Einsichten, sind unsystematisch und doch tiefschürfend, und alle liegen in uneinheitlicher Fülle vor, so dass ihre natürliche Verbundenheit miteinander und mit der Geschichte und Gegenwart der schöpferischen Künste verdunkelt wird. Die Künste selbst weisen jedoch eine erstaunliche Einheit und Logik auf und scheinen ein guter Boden für das systematische Denken zu sein. Warum also die Verwirrung? Warum die unverbundenen Theorien, die ständig beschworene Gefahr, den Kontakt mit der Realität zu verlieren, die vielen philosophischen Anfänge, denen es immer noch nicht gelingen will, zu organischen geistigen Strukturen heranzuwachsen? Eine wirklich erhellende Kunsttheorie sollte aus wichtigen künstlerischen Einsichten entstehen und sich von allein von einer Phase zur nächsten entwickeln, so wie die großen Gedankengebäude – Mathematik, Logik, die Naturwissenschaften, Theologie, Recht, Geschichte – aus dauerhaften Wurzeln erwachsen und ihre eigenen Implikationen mehr und mehr entfalten. Warum existiert keine solche systematische Kunsttheorie? Der Grund ist meines Erachtens der, dass die zentralen Fragen in der Beurteilung und dem Verstehen der Kunst, mögen sie in der Praxis auch noch so deutlich sein, philosophisch nicht gesichtet und in ihrer Eigenheit erkannt worden sind. Eine sys­ tematische Lehre wird erst dann richtig gegliedert, wenn ihre Schlüsselprobleme formuliert sind, und diese Probleme, deren Lösung oft nach einer leistungsfähigen Terminologie wie auch nach einem methodischen Prinzip verlangt und sie hervorbringt, werden durch das Eindringen offensichtlicher Fragen verdunkelt, auf die der gesunde Menschenverstand unmittelbar verfällt und die wegen ihrer Offensichtlichkeit als »grundlegend« betrachtet werden. Solche Fragen sind: Was sind die



Kap.   1  ·  Das Maß der Ideen

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Gegenstände der Kunst? Was ist wichtiger: die Form oder der Inhalt? Was ist Schönheit? Welchen Kompositionskanon gibt es? Wie wirkt sich ein großes Kunstwerk auf den Betrachter aus? Viele dieser Fragen werden seit Hunderten von Jahren erörtert, doch wenn wir sie beantworten, bringt dies die Theorie keinen Schritt weiter. Wir haben einen Standpunkt eingenommen und auf dem stehen wir dann. Alle diese Fragen sind vollkommen berechtigt, und der Zweck einer Kunstphilosophie ist es, sie zu beantworten. Doch als Ausgangspunkte der Theorie sind sie schädlich, denn sie sind Produkte des »gesunden Menschenverstandes« und entsprechend zwingen sie unserem Denken das Vokabular und den ganzen begrifflichen Rahmen dieses Verstandes auf. Mit diesem Instrument können wir nicht über Gemeinplätze hinaus denken. Gewisse Missverständnisse über das philosophische Denken sind, merkwürdig genug, durch das Interesse der modernen Philosophen für Methoden entstanden, aus der Zustimmung zu Prinzipien und Idealen, die, wenn wir über sie in Konferenzen und auf Symposien sprechen, einwandfrei klingen. Eines dieser Prinzipien besagt, die Philosophie beschäftige sich mit Allgemein­ begriffen. Dieses Diktum wird in nahezu jedem Einführungswerk wiederholt und in der einen oder anderen Verbindung auf jedem Philosophenkongress geäußert. Die Betonung liegt dabei jedes Mal auf »Allgemeinbegriffe«, aber das Interessante ist, dass wir angeben, uns mit ihnen zu beschäftigen, und dass Philosophie diese Beschäftigung ist. Dieses Prinzip wirkt sich unmittelbar dahingehend aus, dass Untersuchungen von vornherein auf Allgemeinheiten ausgehen: Schönheit, Wert, Kultur usw. Derartige Begriffe sind aber systematisch nicht von Vorteil; es sind keine deskriptiven Ausdrücke wie beispielsweise die wissenschaftlichen Begriffe von Masse, Zeit, Ort usw. Sie besitzen keine Einheit und lassen sich nicht in bestimmten Verhältnissen kombinieren. Sie stellen »abstrakte Eigenschaften« dar, vergleichbar den Grundelementen der griechischen Naturphilosophie: Feuchtigkeit und Trockenheit, Wärme und Kälte, Leichtigkeit und Schwere. Und so wie

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Teil I  ·  Das Kunstsymbol

nie eine Physik aus der Einteilung der Dinge anhand solcher Attribute hervorgegangen ist, so entsteht keine Kunsttheorie aus der Betrachtung »ästhetischer Werte«. Der Wunsch, von Anfang an mit allgemeinen Ideen umzugehen, weil man meint, eben das sei das Geschäft des Philosophen, führt zu dem, was man als »Fehlschluss der offensichtlichen Abstraktion« bezeichnen könnte: die Abstraktion und Schematisierung von Eigenschaften, die für den Menschenverstand am offensichtlichsten sind, und wie sie traditionell im »materialen Modus« der Sprache verkörpert ist. Statt unablässig zu wiederholen, dass die Philosophie sich mit allgemeinen Ideen beschäftigt, oder alles unter dem Gesichtspunkt des »Allgemeinen« abzuhandeln, sollte man betrachten, was sie in Bezug auf Allgemeinbegriffe tut. Ich würde sagen, sie konstruiert sie. Woraus? Aus den spezifischeren Begriffen, die wir verwenden, um spezifisches und ins Einzelne gehendes Wissen zu formulieren – praktisches, wissenschaftliches, gesellschaftliches oder rein sinnliches. Ihre Arbeit besteht in einer beständigen Verallgemeinerung. Das geht nicht ohne logische Technik, Vorstellungskraft und Scharfsinn. Mit solchen Allgemeinheiten wie »Kunst ist Ausdruck« oder »Schönheit ist Harmonie« zu beginnen, würde dieses Ziel nicht erreichen. Sätze dieser Art sollten am Ende einer philosophischen Untersuchung stehen, nicht an ihrem Anfang. Am Ende handelt es sich um Zusammenfassungen deutlicher und geordneter Ideen, die ihnen eine Bedeutung verleihen; als Ausgangspunkte präjudizieren sie zu viel und geben keine Bedingungen an, unter denen sie weiter erhellt werden können. Ein weiteres unseliges Produkt der Selbstkritik unserer Zunft ist das Dogma, dass Philosophie ihr Ziel, eine vollständig zur Einheit gebrachte Lebenssicht, nie wirklich erreichen kann. Sie nähert sich diesem Ziel allenfalls an. Doch selbst wenn es eine solche ideale Grenze für unser fortschreitendes Verstehen gibt – und daran mag man zweifeln, denn eine derartige synoptische Einsicht riecht nach einer »illegitimen Totalität« –, so liefert sie keinen Maßstab für tatsächlich Geleistetes. Im Gegenteil: Wenn



Kap.   1  ·  Das Maß der Ideen

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alle gebührend von der Unmöglichkeit beeindruckt sind, eine Aufgabe zu erfüllen, können wir viel zu viel Nachsicht beanspruchen; jedes Scheitern ließe sich als eine »bloße Annäherung« entschuldigen. Folglich finden wir heute praktisch keinen Maßstab für philosophische Arbeiten. In Fachzeitschriften wimmelt es von abgedroschenen Argumenten, die ihren Gegenstand in keiner Weise weiterbringen, und Diskussionsforen lassen ihre tiefgreifenden Fragen genauso unbeantwortet und unbeantwortbar zurück wie zuvor. Die Art von Anstrengung und Scharfsinn, die für die Lösung wissenschaftlicher oder his­ torischer Probleme aufgewandt wird, würde die Fragen unmittelbar analysieren und hart kritisieren, sie durch maßgeblichere und sinnvollere ersetzen und nach Mitteln suchen, wirkliche Antworten zu finden. Wird eine Prämie auf definitive Antworten ausgesetzt, verwendet man eine Menge Zeit und Mühe darauf, die intellektuellen Instrumente zur Behandlung schwieriger Gegenstände zu entwickeln. Wissenschaftler sprechen sehr selten über wissenschaftliche Methoden, aber sie finden oft sehr ausgefeilte, gewundene Wege, eine Frage so zu drehen und zu wenden, dass sie irgendeiner Untersuchungsmethode zugänglich wird, die zu einer Lösung führen wird. Das Problem selbst ist es, das über die Herangehensweise befindet. Philosophen hingegen entscheiden sich für gewöhnlich, an philosophische Probleme im Allgemeinen heranzugehen und die uralten Nüsse zu knacken – auf denen schon so viel herumgekaut worden ist, dass sie feste Bezeichnungen haben: das Problem des Seins, das Problem des Bösen etc. –, so wie sie schon von Platon oder seinem Lehrer Parmenides formuliert worden sind. Gleichwohl ist Philosophie ein lebendiges Projekt, und philosophische Fragen sind nicht ihrer Natur nach unlösbar. Tatsächlich sind sie ganz anders geartet als wissenschaftliche Fragen, denn sie betreffen die Folgen und andere Wechselbeziehungen von Ideen, nicht die Ordnung physikalischer Ereignisse; bei ­ihren Antworten handelt es sich um Interpretationen, nicht um Tatsachenberichte, und ihre Aufgabe ist es nicht, unserer Wissen von der Natur zu erweitern, sondern besser zu verstehen,

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Teil I  ·  Das Kunstsymbol

was wir wissen. Tatsächlich wirkt sich die Weiterentwicklung von Begriffen unmittelbar auf unsere Fähigkeit aus, Tatsachen zu beobachten, denn durch die systematische Konzeptualisierung werden einige Tatsachen wichtig und andere trivial. Linnaeus, der in der Naturforschung mithilfe augenfälliger qualitativer Abstraktionen nach neuen Wegen suchte, klassifizierte Pflanzen anhand der Farbe ihrer Blüten: Für eine morpholo­ gische Konzeption der Botanik, die jeden Teil einer Pflanze zum gesamten Organismus in Beziehung setzt und darüber hinaus pflanzliches und tierisches Leben in ein biologisches System einbindet, wird die Farbe der Blüten zu einem unwichtigen ­Faktor. Es gibt eine von Männern wie Poincaré, Russell, Lenzen und Weyl schrittweise entwickelte Naturphilosophie, die unserer Naturwissenschaft zugrunde liegt, und auch wenn sie nicht an das »synoptische« Ideal heranreichen mag, klärt eine solche philosophische Arbeit, wie beispielsweise Whitehead sie auf diesem Feld geleistet hat, unsere Begriffe der physikalischen Ordnung, des organischen Lebens, der Geistigkeit und des Wissens. Ähnlich hat es die Philosophie der Mathematik vermocht, diese alte Disziplin zu einem Vorbild an intellektueller Klarheit und Handhabbarkeit zu machen. Die Denker, die auf diesen Begriffssystemen auf bauten, ließen alle konkurrierenden Doktrinen über Sein, Wert und Geist links liegen und gingen von recht speziellen Problemen aus – der Bedeutung von »Gleichzeitigkeit« in astronomischen Beobachtungen oder der Bedeutung von √ –2 in der Zahlenreihe oder von einem »dimensionslosen Punkt« in der physikalischen Messung. Man beachte, dass all dies philosophische Probleme sind, Fragen der Bedeutung. Weil es sich aber um spezielle Fragen handelt, müssen die anzugebenden Bedeutungen bestimmte und recht komplexe Forderungen erfüllen. Die Definition der kosmischen »Gleichzeitigkeit« verlangte nach einer vollständigen Neufassung der Vorstellungen von Raum und Zeit. Die Interpretation von √ –2 erforderte eine Theorie der mathematischen Reihen, um die äußerst nützliche Verwendung dieses rätselhaften Symbols zu begründen.



Kap.   1  ·  Das Maß der Ideen

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Der Begriff eines dimensionslosen Punkts oder der reinen Loka­lisierung führte zu Whiteheads Theorie der »extensiven Abstraktion« – eine philosophisch höchst wichtige Vorstellung. Von solchen Ideen stellt sich am Ende heraus, dass sie sowohl allgemeine als auch besondere Anwendungen zulassen, d. h. sobald sie für ihre besonderen Zwecke in allen Einzelheiten ausformuliert worden sind, stellt sich heraus, dass sie auch zur Verallgemeinerung fähig sind. Die Formulierung solcher Ideen in ihrer besonderen Form enthält sehr viele andere Aussagen, die sich derselben Begriffe bedienen und auf weitere Definitionen verweisen. Und wenn die philosophische Analyse der Grundbegriffe fortschreitet, wird der Gegenstand zunehmend systematisch; ausgehend von der Klärung aktueller Probleme zeigen sich ähnliche Formen in allen möglichen Richtungen, bis schließlich eine ganze Kosmologie, Ontologie oder Erkenntnistheorie daraus hervorgeht. Eine Philosophie dieser Art entsteht durch das Prinzip der Verallgemeinerung. Sie ist aus einem Guss und dennoch lässt sie sich nicht zu einer Überzeu­ gung zusammenfassen, noch lässt sie sich durch irgendwelche Ismen bestimmen oder ablehnen, sowenig wie sie sich einfach »anwenden« lässt, um die Erfahrung als Ganze zu deuten. Prinzipien der logischen Konstruktion versetzen uns in die Lage, Erfahrung zu bewältigen, aber sie liefern uns keine vorgefertigten Konstruktionen. Seit der junge Bertrand Russell seinen leidenschaftlichen Angriff auf die traditionelle Metaphysik gestartet hat, ist die Diskussion der »wissenschaftlichen Methode in der Philosophie« nicht mehr abgerissen. Dennoch sind wissenschaftliche und philosophische Methode nicht dasselbe. Hypothesenbildung und Experimente nehmen in der Philosophie nicht denselben Ehrenplatz ein wie in der Naturwissenschaft. Tatsachen und Verbindungen von Tatsachen bilden für sie Ausgangspunkte, sie sind nicht die Ergebnisse einer Untersuchung. Ihre Ergebnisse sind Ideen, die Bedeutung dessen, was wir sagen, nicht nur über Naturtatsachen, sondern über alle möglichen menschlichen Belange: Kunst, Religion, Vernunft, Absurdität, Freiheit

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oder Kalkül. Von wirklichem Wert werden solche allgemeinen Worte erst durch einen Rahmen weiterer Bedeutungen. Zum Auf bau einer Theorie – »der Architektur der Ideen«, wie Charles Peirce sagte – bedarf es mehr logischer Über­legun­ gen, als sich diejenigen, die über Methodenfragen diskutieren, normalerweise klarmachen. Es genügt nicht, das Forschungsgebiet abzustecken, es in das zu zerlegen, was wir für seine einfachsten Bestandteile halten, und es als eine Ordnung dieser »Daten« zu beschreiben. Um eine Theorie zu konstruieren, müssen wir von Sätzen ausgehen, die Implikationen haben. Theoretisches Denken besteht darin, ihre Reichweite und Bedeutung zu erweitern. Daher liefert nicht jede wahre Aussage über Wissenschaft, Kunst, Leben oder Moral einen »Ansatz« zur systematischen Untersuchung des fraglichen Gegenstands, die Aussage muss Ideen enthalten, die sich manipulieren, definieren, modifizieren und in Verbindungen verwenden lassen. Sie hat sowohl interessant als auch wahr zu sein. Diese logische Bedingung könnte man als das Prinzip der Fruchtbarkeit bezeichnen. Nehmen wir als ein großartiges Beispiel für konstruktives Denken die neue Interpretation physikalischer Ereignisse, die Newton in seinen Principia Mathematica unter der vollkommen zutreffenden Bezeichnung »Naturphilosophie« vorlegt. Die Legende will es, dass das Herabfallen eines Apfels die erste Tatsache war, die er anhand seiner neuen Begriffe beschrieben hat. Dass ein Apfel zu Boden fällt, war immer ein Gemeinplatz; doch dass der Apfel von der Erde angezogen wird, drückt eine große Idee aus. Groß wird sie vor allem dadurch, dass sie der Verallgemeinerung fähig ist. Selbstverständlich könnten wir auch das »Fallen« des Apfels verallgemeinern und sagen »Alle Dinge haben die Neigung, auf die Erde zu fallen«. Doch von dieser Regel gibt es Ausnahmen. Der Mond fällt nicht herunter, und die Wolken auch nicht. Aber »Alle Massen ziehen einander an« gilt ausnahmslos. »Der Apfel wird von der Erde angezogen« beschreibt genau dieselbe Beobachtung wie der Satz »Der Apfel fällt«, nur ist jener Satz auch dann wahr, wenn der Apfel am



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Baum hängt, und er bleibt selbst dann wahr, wenn der Apfel auf dem Boden verfault. Und eben dasselbe lässt sich über den Mond sagen, obwohl er niemals »fällt« – d. h. nie auf die Erde stürzt –, und so auch über die Wolken, die auf unbestimmte Zeit über uns hinweg segeln, ja sogar über die Sonne. Das zweite Merkmal, dem Newtons Interpretation ihre Großartigkeit verdankt, ist ihre Fruchtbarkeit. Der Begriff der »Anziehung« enthält nämlich ein dynamisches Element, das in jeder früheren mathematischen Physik fehlte. Die rein geometrischen Systeme mussten alle irgendeine besondere eingreifende Instanz außerhalb der Welt annehmen, die das Ganze in Bewegung setzt. Anziehung ist jedoch eine Kraft und dadurch eine Quelle der Bewegung innerhalb des physikalischen Systems. Außerdem ist sie messbar, und ihre Messung zeigt, dass sie sich proportional zu den bekannteren Voraussetzungen Masse und Entfernung verhält. Nachdem die »neue Naturphilosophie« vorlag, dauerte es nicht lange, bis sich die Wissenschaft der Physik entwickelte. Kunstkritik ist keine Wissenschaft, denn sie befasst sich nicht mit der Beschreibung und der Vorhersage von Tatsachen. Selbst wenn ihre Prämissen klar und kohärent und ihre Begriffe produktiv wären, bliebe sie eine philosophische Disziplin, da ihr ganzes Ziel darin liegt, etwas zu verstehen. Die Prinzipien der Verallgemeinerung und der Fruchtbarkeit gehören ihrem Wesen nach nicht der Naturwissenschaft an; es handelt bei ihnen um Prinzipien des philosophischen Denkens, und nur insofern, als die Wissenschaft eine geistige Konstruktion ist, nimmt sie an ihnen teil. Möglicherweise haben diejenigen, die eine »wissenschaftliche Methode« für die Philosophie vertreten, sie gerade deshalb weitgehend unbeachtet gelassen. Nur dort, wo wirkliche philosophische Arbeit geleistet worden ist – z. B. bei der Grundlegung der Naturwissenschaft, der Jurisprudenz und der mittelalterlichen Theologie –, sind sie stillschweigend übernommen worden. Besonders in den vagen, unsystematischen Bereichen des Denkens geschieht es, dass ein einzelnes Problem, für das hart-

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näckig eine Lösung gesucht wird, ein neues logisches Vokabular hervorruft, d. h. eine neue Reihe von Ideen, die über das Problem selbst hinausgehen und auf eine produktiver anwendbare Konzeption des ganzen Feldes drängen. Eine solche Frage in den Mittelpunkt unseres Interesses zu stellen heißt, damit zu beginnen, sich ernsthaft mit dem betreffenden Gegenstand auseinanderzusetzen. Genau das möchte ich hier für die Philosophie der Kunst leisten. Es scheint mir, dass bei den vielen Spekulationen der Ästhetiker und dem unausgegorenen, aber wichtigen Atelierdiskurs der Künstler ein entscheidendes Thema nie ganz in den Blick genommen, sondern mit einer Art intellektueller Ehrfurcht umgangen oder so emotional behandelt wird, dass überhaupt keine Forderung einer Bedeutungserklärung erhoben wird: das Problem des künstlerischen Schaffens. Ist die Arbeit eines Künstlers wirklich ein Schöpfungsprozess? Was wird da geschaffen? Gibt es eine Begründung für die recht verbreitete Vorstellung, dass wir besser von Nach-Schaffen reden sollten als davon, dass in der Kunst etwas geschaffen würde? Oder ist die ganze Idee der »schöpferischen Arbeit« Sentimentalität? Alle diese und einige weitere Fragen führen Aspekte ein und desselben Problems vor. Die Lösung des Problems gibt auf alle mit derselben Entschiedenheit eine Antwort. Dazu müssen wir uns allerdings unter den bekannten Ideen von Kunstkritik und Philosophie neu orientieren. Die Lösung fordert zudem eine strengere Behandlung des Wortes »Ausdruck« und weist dem Wort »Anschauung« eine einfache, in keiner Weise rätselhafte Bedeutung zu. Vor allem schließt sie eine spezielle Fassung nahezu aller großen Probleme der Kunst ein, insbesondere das der Einheit der verschiedenen Künste, trotz der oft bestrittenen, aber dennoch offenkundigen Tatsache ihrer tatsächlichen Spaltung; das Paradox, dass Abstraktion in einem Modus stattfindet, der durch seine Konkretheit charakterisiert sein soll; der Bedeutungsgehalt (significance) des Stils, die Macht der Technik. Sobald die Frage »Was schafft die Kunst?« beantwortet wird, scheint von der zentralen These ein neues Licht auf all die weiteren Fragen des Warum und Wie, der Künstlerpersönlich-



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keit, des Talents und Genies usw. zu fallen. Und das bedeutet schlicht, dass die These zentral ist und dass das Problem, das sie angeregt hat, fruchtbar und letztlich allgemein ist. Wenn der Gegenstand allmählich Gestalt annimmt, erhalten die in der Vergangenheit vorgebrachten Ideen eine neue Aussagekraft. Man entdeckt, dass auf dem Gebiet schon bemerkenswert viel gute Arbeit geleistet worden ist. Die kunsttheoretische Literatur, die so zusammenhanglos und voller glückloser »Ansätze« scheint, enthält in Wirklichkeit einen reichen Schatz an wesentlichen Gedanken und wertvollen wissenschaftlichen Befunden. Es ist nicht nötig, von einer Tabula rasa auszugehen und die Arbeit unter Missachtung aller bestehenden Schulen voranzutreiben; die Samen und die nicht selten weit entwickelten Wurzeln der philosophischen Theorie finden sich überall. In gewisser Weise erschwert dies die Aufgabe schlicht deshalb, weil die Literatur zu den verschiedenen Künsten und ein erheblicher Teil von Philosophie und Psychologie zusammengenommen einen so riesigen intellektuellen Hintergrund bilden und weil die wichtigen Beiträge zu wirklicher Erkenntnis so tief vergraben sind, dass eine wissenschaftliche Erforschung eines so weiten und fruchtbaren Gebiets kaum menschenmöglich ist. Das Fundament jeder neuen Theorie, die beansprucht, von der Kunst selber auszugehen, wobei »Kunst« Musik, Literatur, aber auch Tanz und plastischen Ausdruck umfasst, ist zwangsläufig schwach und willkürlich. Eine Philosophie ist aber nie die Sache nur eines Menschen. Der ganze Umfang eines Fachs kann von niemandem allein überblickt werden. Es übersteigt unsere Fähigkeit, mehr zu versammeln, als es die jeweilige Zwecksetzung erfordert – hier der Versuch, die Behandlung eines äußerst wichtigen, aber speziellen Themas, nämlich des Problems des künstlerischen Schaffens, auf eine sichere Grundlage zu stellen. Sollte diese Behandlung tatsächlich einen Ausblick auf die Kunsttheorie im Allgemeinen erlauben, sollten die hinter uns liegende Literatur (mag sie dem Einzelnen bekannt sein oder nicht) und die noch vor uns liegenden Fragen innerhalb dieser

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Perspektive die angemessene Form und den angemessenen Ort einnehmen, wo immer wir ihnen im Fortschreiten des philosophischen Gedankens begegnen.

2. Kapitel Paradoxien In den letzten zweihundert Jahren – seit den Tagen Winckelmanns und Herders – haben Philosophen anhaltend über den Bedeutungsgehalt und die Triebfeder der Künste nachgedacht. Dem Problem der Kunst ist sogar die Ehre zuteil geworden, unter der Bezeichnung »Ästhetik« – die je nachdem als »Wissenschaft vom Schönen«, als »Theorie oder Philosophie des Geschmacks«, als »Wissenschaft der schönen Künste« oder in jüngerer Zeit (in Croces Bezeichnung) als »Wissenschaft des Ausdrucks« definiert worden ist – zu einer philosophischen Disziplin aufgestiegen zu sein. Alle diese Definitionen sind mehr oder weniger schief. Ein philosophisches Interesse an einem bestimmten Gegenstand wie Geschmack oder Schönheit begründet so wenig eine Wissenschaft wie das weite Feld des »Ausdrucks«; wenn »das Schöne« das Gebiet der Ästhetik ist, dann ist dieses Gebiet umfassender als das der schönen Künste und auch als das Feld des »Ausdrucks«. Geschmack ist andererseits nur ein mit Schönheit verbundenes Phänomen – sei es in der Kunst oder in anderen Bereichen – und steht ebenso in einer Beziehung zu Anstand und Sitte wie zur Mode. Vielleicht ist es besser, einen unbekannten Kontinent nicht im Vorhinein zu vermessen, sondern zunächst einmal bloß all die philosophischen Probleme zu untersuchen, die von der Kunst aufgeworfen werden, und darauf zu vertrauen, dass jede sorgfältige Analyse und konstruktive Behandlung selbst eher spezieller Fragen (z. B. »Was kommt in der Architektur zum Ausdruck?«, »Ist eine musikalische Aufführung ein schöpferischer Akt?« oder »Hat Geschmack etwas mit Talent zu tun?«) schon bald ihre Verbundenheit miteinander enthüllen und das allgemeine Feld ihrer Relevanz bestimmen werden. Selbst in den verschwommenen oder willkürlichen Grenzen einer Pseudowissenschaft ist mittlerweile eine Menge Gedan-

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kenarbeit geleistet worden, manchmal in enger Verbindung zur allgemeinen Philosophie, manchmal in Form eines theoretischen Exkurses im Rahmen von Kritik. Im Laufe solcher ernsthaften Überlegungen zu den Künsten haben sich bestimmte Leitideen herausgebildet, die eine Art von intellektuellem Vokabular der zeitgenössischen Ästhetik bilden. Zumindest indirekt sind sie alle untereinander verbunden, auch wenn ihre Beziehungen alles andere als klar und einfach sind, ja oftmals sind sie sogar widersprüchlich. Einige der Leitideen selbst scheinen logische Schwierigkeiten zu enthalten. Ganz grob umrissen handelt es sich bei diesen Ideen, die immer wieder in den verschiedensten Gestalten und Verbindungen auftreten, um folgende: Geschmack, Gefühl, Form, Darstellung, Unmittelbarkeit und Illusion.10 Jede von ihnen bildet ein starkes Leitmotiv in der Kunstphilosophie, doch die auf ihnen gründenden Theorien haben die merkwürdige Eigenart, einander entweder offen zu widersprechen oder zumindest einem Thema keinerlei Beachtung zu schenken. Theorien der Kunst als sinnliches Wohlgefallen, d. h. eine Berufung auf den Geschmack, müssen sehr sorgfältig mit Gefühl umgehen und der Darstellung strikte Grenzen setzen. Die vielen Gefühlstheorien können den Geschmack und, was schlimmer ist, die Form nur als sehr untergeordnete Punkte abhandeln. Diejenigen, welche die Form an die erste Stelle setzen, schließen für gewöhnlich jede Berufung auf Gefühle aus, und Darstellung ist für sie oft eher eine Last als ein Gewinn. Diejenigen, die in der Haupt­ sache vom Begriff der Darstellung ausgehen, kommen mit der Kategorie der Illusion, ja selbst mit der des Gefühls, gut zurecht, aber sie können Form nicht als einen unabhängigen Wert betrachten, und die Funktion des Geschmacks beschränkt sich für sie auf das bloße Geschäft der Zensur. Unmittelbarkeit, die eine metaphysische Eigenschaft der unverstellten Wirklichkeit oder   Jede Anthologie der Ästhetik wird Beispiele dafür liefern; Melvin Raders A Modern Book of Aesthetics (New York 1935) teilt Theorien ein in »Gefühlstheorien«, »Theorien der Form« etc. 10



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konkreten Individualität ist, enthält die Idee der Anschauung als direkte Wahrnehmung alles dessen, was über ein Kunstwerk zu wissen ist. Sie fügt sich gut in Theorien des Geschmacks ein und ist mit den meisten Gefühlstheorien wie auch mit den subtileren Behandlungen der Darstellung zumindest vereinbar, allerdings nicht, wie gemeinhin angenommen wird, mit der Vorstellung von Kunst als Form. Es ist logisch unmöglich, die Einzigartigkeit einer Form zu begründen. Keine Form ist not­ wendigerweise einzigartig, und ohne diese Notwendigkeit könnte der Charakter der Einzigartigkeit nicht dazu dienen, ihr einen metaphysischen Rang zu verleihen. Was das Motiv der Illusion betrifft, so wird diese im Allgemeinen mit ihrem Gegenteil, der Wirklichkeit, verbunden, und das wirft mehr Schwierigkeiten auf, als es sie löst. Häufig gilt sie als Reizthema, das wegerklärt werden muss. Die allgemeine Unordnung unseres intellektuellen Fundus auf dem Feld der Ästhetik wird noch durch den Umstand vergrößert, dass es zwei entgegengesetzte Perspektiven gibt, aus denen sich jedes Kunstwerk betrachten lässt: die des Urhebers und die des Betrachters (oder je nachdem des Hörers oder Lesers). Aus der einen Perspektive stellt es sich als Ausdruck dar, aus der anderen als Eindruck. Vom ersten Standpunkt aus stellt sich ganz natürlich die Frage: »Was bewegt einen Künstler dazu, sein Werk zu erschaffen, was geht darin ein, was, wenn überhaupt etwas, will er damit sagen?« Vom zweiten Standpunkt drängt sich andererseits sofort die Frage auf: »Was lösen Kunstwerke in uns aus oder was bedeuten sie uns?« Selbst in ernsthaften theoretischen Überlegungen treffen wir häufiger auf diese Fragen, denn schließlich gibt es mehr Menschen, die Kunst rezipieren, als solche, die sie schaffen, und das gilt für Philosophen ebenso wie für jedes normale Publikum. Die meisten Ästhetiker können über das Problem des künstlerischen Eindrucks kenntnisreicher als über das des Ausdrucks reden. Wenn sie über die Stimmungen und Inspirationen von Künstlern sprechen oder über die Quellen und Motive eines bestimmten Werkes spekulieren, verlassen sie den rechten Pfad der intel-

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lektuellen Redlichkeit und lassen ihrer Phantasie oft auf recht unverantwortliche Weise freien Lauf. Dennoch sind Theorien des Ausdrucks, wenngleich sie den Laien in den Künsten mehr Schwierigkeiten bereiten, fruchtbarer als analytische Untersuchungen des Eindrucks. So wie die interessanteste Wissenschaftsphilosophie entworfen worden ist, um den logischen Problemen im Labor zu begegnen, so stammen die wichtigsten Themen in der Kunstphilosophie aus dem Atelier. Die Leitideen kommen in beiden Theorietypen vor, doch von solch verschiedenen Standpunkten aus betrachtet sehen sie unterschiedlich aus. Dieser Umstand trägt zu der anscheinenden Verwirrung in der ästhetischen Begrifflichkeit bei. Was aus der Perspektive des Eindrucks als Geschmack figuriert, d. h. als Reaktion der Lust oder Unlust auf eine sinnliche Stimulation, erscheint vom entgegengesetzten Blickwinkel aus als das Prinzip der Auswahl, als das sogenannte »Schönheitsideal«, das angeblich den Künstler bei seiner Wahl der Farben, Töne, Worte usw. leitet. Gefühl mag entweder als Wirkung eines Werkes auf den Betrachter gesehen werden oder als die Quelle, aus welcher der Urheber seine Auffassung geschöpft hat, und die daraus entspringenden Theorien werden das ganze Thema des Gefühls vollkommen unterschiedlich behandeln (die eine wird zu der Sorte von Laborpsychologie neigen, die nach ästhetischen Prinzipien in den per Diagramm geordneten Reaktionen von Schulkindern, Eltern, Doktoranden oder Radiohörern suchen, die andere zu psychoanalytischen Studien über Künstler). Die Betrachtung der Form vom Standpunkt des Eindrucks führt zu solchen Begriffen wie allgemeines Gesetz, dynamische Symmetrie, bedeutungsvolle Form; vom Standpunkt des Ausdrucks verstrickt sie uns in die Probleme der Abstraktion. Darstellung lässt sich so auffassen, wie Platon und Aristoteles es getan haben –, d. h. als die soziale Funktion des Bildes oder der Statue, des Gedichts oder Schauspiels – als die Funktion, den Geist des Betrachters auf etwas jenseits des Kunstwerks zu lenken, nämlich auf das dargestellte Objekt oder die dargestellte Handlung;



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oder man könnte darin das Motiv des Künstlers für die Schaffung des Werkes sehen – eine Aufzeichnung dessen, was ihn fasziniert, seien es Personen oder Landschaften, die er unsterblich machen will. Er könnte seine Geliebte malen, seine Erinnerung an Tahiti oder auf subtilere Weise seinen Geisteszustand. Aber für den Betrachter stellt das Bild eine Frau dar, einen Blick auf die Südsee oder ein Symbol der Libido. Ähnlich wird der Kritiker von seinem Standpunkt aus das Problem der Illusion so beschreiben, dass es sich unsere Leichtgläubigkeit zunutze macht, unsere Bereitschaft, dem »Schein« Glauben zu schenken, während es vom Standpunkt des Ateliers aus als Spiel, als »Realitätsflucht« oder als Traum des Künstlers gesehen wird. Diese Bestandsaufnahme erschöpft keineswegs den Reichtum von Ideen, die sich in der zeitgenössischen Ästhetik finden. Doch selbst ein so kursorischer Überblick vermittelt einen Eindruck von der verworrenen Überfülle und der generellen Unvereinbarkeit der hervorstechenden Begriffe miteinander. Ein Ästhetiker spricht von der »signifikanten Form« und ein anderer von Traum. Der eine meint, die Aufgabe der Kunst bestehe darin, über die zeitgenössische Szene zu berichten, ein anderer erklärt, dass »gewisse Kombinationen« von reinen Klängen oder harmonisch im Raum verteilte Farben ihm jenes »ästhetische Gefühl« vermittelten, das sowohl Zweck als auch Kriterium der Kunst ist. Der eine Künstler behauptet, seine persönlichen Gefühle zu malen, der nächste, er drücke pythagoreische Wahrheiten über das astronomische Universum aus. Diese seltsame wechselseitige Irrelevanz der leitenden Begriffe ist nicht das einzige befremdliche Merkmal der zeitgenössischen Kunsttheorie; eine tiefer gehende Schwierigkeit liegt in ihrer unverbesserlichen Neigung zum Paradox. Die meisten Leitideen, auch wenn man sie je für sich nimmt, laufen Gefahr, widersprüchlich zu sein. Sobald wir sie weiter ausführen, sind wir mit dialektischen Begriffen konfrontiert. Wir haben eine signifikante Form, der es auf gar keinen Fall erlaubt sein soll, etwas zu bezeichnen, mit einer Illusion, die die höchste Wahrheit ist, mit gezügelter Spontaneität, mit konkreten idealen Struk-

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turen, mit unpersönlichem Gefühl, mit »vergegenständlichter Lust« und mit öffentlichem Träumen. Diese Kuriositäten wird man nicht einfach als selbstwidersprüchlich abtun können.11 Bloße Inkonsistenz ist nicht dasselbe wie ein Paradox. Widersprüchliche Ideen werden generell aus dem Verkehr gezogen, sobald ihre schwerwiegenden Mängel aufgedeckt worden sind, und sollten sie, sei es auch nur zeitweilig, auf Zustimmung stoßen, dann weil ihre Fehlerhaftigkeit nicht offen zutage liegt. Ein widersinniger Ausdruck oder eine selbstwidersprüchliche Aussage, die selbst dann noch, wenn ihr logisches Ärgernis offensichtlich ist, im ernsten systematischen Denken weiterhin eine Aufgabe übernehmen, sind paradox. Die darin enthaltenen unvereinbaren Ideen widerstreiten einander, weil sie tatsächlich verzerrt sind. Würden sie richtig formuliert, wären sie bezogen aufeinander nicht widersprüchlich. Sie werden falsch aufgefasst und folglich wird auch ihre Verbindung falsch verstanden, aber sie gründet in der richtigen Einsicht, dass diese Ideen wichtig sind und in einer logischen Beziehung zueinander stehen. Das Wort »paradox« bezeugt diesen eigentümlichen Status, beide widersprüchlichen Elemente sind »lehrgemäß«, das heißt, sie sind wirklich akzeptiert und ihre Konjunktion ist erlaubt, auch wenn sie nicht wirklich verstanden ist. Wann immer der »üppig wuchernde Morast von Begriffen«12, die Brutstätte der menschlichen Vernunft, ein echtes Paradox hervorbringt, wie etwa »fiktionale Wahrheit«, »selbstrepräsentierende Symbole« oder »unpersönliche Gefühle«, stehen wir vor einem unmittelbaren philosophischen Problem. Ein Paradox ist ein Symptom dafür, dass etwas begrifflich nicht richtig ver  Und noch weniger als Hochstapelei oder feierlichen Unsinn, wie Ducasse es in einer vehementen, um nicht zu sagen giftigen Tirade gegen den Begriff der »signif kanten Form« Clive Bell vorgeworfen hat (vgl. Curt J. Ducasse, The Philosophy of Art, New York 1929, Appendix). 12  Charles S. Pierce, Wie unsere Gedanken zu klären sind, in: ders., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1991, S. 182–214, hier 186. [ A nm. d. Hg. ] 11



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standen worden ist; und Philosophie ist nichts anderes als eine kohärente, systematische Konzeptualisierung, d. h. der Prozess, in dem Erfahrung sinnvoll begriffen wird. Eine paradoxe Idee sollte daher nicht fallengelassen, sondern einer Lösung zugeführt werden. Wo beide Elemente einer offensichtlichen Antinomie ihren Anschein von Wahrheit, ihren pragmatischen Vorzug aufrechterhalten und beide beanspruchen können, in bestimmten akzeptierten Prämissen zu gründen, liegt der Grund ihres Widerstreits vermutlich in eben diesen Prämissen. Es ist eine Erbsünde. Die Prämissen ihrerseits werden oft stillschweigend vorausgesetzt, so dass die eigentliche Aufgabe des Philosophen darin besteht, sie aufzudecken, zu analysieren und zu korrigieren. Gelingt ihm das, findet sich implizit ein neues Schema der leitenden Ideen vor, das nicht mit den paradoxen Begriffen des alten Standpunkts behaftet ist. Ein solches philosophisches Vorgehen ist jedoch sehr radikal. Für gewöhnlich wird daher zuerst einmal versucht, die gegensätzlichen Ideen miteinander zu versöhnen, indem sie wie »Prinzipien« im klassischen Sinne behandelt werden, als gegensätzliche Eigenschaften, die in verschiedenen Anteilen vorliegen können, als entgegengesetzte Pole, zwischen denen es einen vollkommenen Gleichgewichtspunkt gibt. Dieses Schema ist im philosophischen Denken so gut verankert – schließlich reicht es mindestens bis zu Empedokles zurück –, dass selbst der Laie keine Schwierigkeit damit hat. Wir kennen das Schema aus der antiken und mittelalterlichen Wissenschaft: Dieses oder jenes Maß des warmen Prinzips und dieses oder jenes Maß des kalten Prinzips ergibt eine bestimmte Temperatur, so und so viel Bewegung und so und so viel Ruhe erzeugen eine bestimmte Geschwindigkeit usw. Wärme und Kälte, Bewegung und Ruhe, Handeln und Erleiden, Leben und Tod sind Extreme, die in jedem von ihnen beeinflussten Phänomen einander entgegenwirken, und zwar stets in einem charakteristischen Verhältnis. Die berühmteste Verwendung dieser Polarität entgegengesetzter »Prinzipien« ist Nietzsches Einordnung aller Kunstwerke zwischen den Extremen des reinen Gefühls und der rei-

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nen Form und ihre Einteilung in dionysische oder apollinische, je nachdem ob das eine oder andere Prinzip vorherrscht. Tatsächlich hat dieser Umgang mit einer grundlegenden Antithese in der Kunsttheorie eine ganze Klasse damit verwandter »Polaritäten« aufgenommen: Gefühl und Vernunft, Freiheit und Zwang, Subjektivität und Tradition, Trieb und Intellekt usw. Curt Sachs’ »großer Rhythmus« zwischen den Polen »Ethos« und »Pathos« fügt sich in derselben Weise in die uns vertrauten Gegensätze in der Kunsttheorie ein. Der paradoxe Charakter der Ästhetik lässt sich freilich nicht dadurch beheben, dass man Zuflucht bei der Polarität sucht. Die Polarität von Gefühl und Form ist selbst ein Problem, denn die Beziehung zwischen den beiden »Polen« ist keine wirklich »polare«, d. h. eine Beziehung zwischen positiv und negativ, denn Gefühl und Form sind nicht logisch komplementär. Sie sind bloß mit dem Negativen des jeweils anderen assoziiert. Gefühl ist mit Spontaneität assoziiert, Spontaneität mit Formlosigkeit oder Gleichgültigkeit gegenüber der Form und somit (aufgrund eines gedanklichen Kurzschlusses) mit dem Fehlen von Form. Andererseits konnotiert Form Formalität, Regeln, also die Unterdrückung des Gefühls und (durch den gleichen gedanklichen Kurzschluss) das Fehlen von Gefühl. Das Konzept der Polarität, so faszinierend es sein mag, ist tatsächlich eine unglückliche Metapher, die eine logische Konfusion in den Rang eines Grundprinzips erhebt. Selbstverständlich ist in der Kunstgeschichte zu beobachten, dass die Phasen von »Ethos« und »Pathos« sich abwechseln, und das hat sicherlich etwas zu bedeuten, doch darin die Enthüllung eines dualistischen »Prinzips« (im mittelalterlichen Sinne) zu sehen und zu meinen, damit erkläre sich das Wesen der Kunst, heißt nicht ein Paradox aufzulösen, sondern es als endgültig zu akzeptieren.13 Dadurch   Sachs betrachtet den in den verschiedenen Künsten parallel verlaufenden Wechsel von Ethos und Pathos als Beweis für die Einheit der Künste. Die Logik dieses »Beweises« ist unklar, denn irgendein äußerer Einfluss könnte einen solchen Wechsel – einen, der sich immer gleichzeitig auf ganz verschiedenen Feldern vollzieht –, bewirken. Ja, seine 13



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wird dort ein abschließender philosophischer Standpunkt eingenommen, wo eine philosophische Untersuchung überhaupt erst beginnen sollte. Zudem wird die alte Trennung zwischen den beiden Perspektiven, der des Künstlers und der des Rezipienten – Kunst als Ausdruck im Gegensatz zu Kunst als Eindruck –, nicht dadurch überbrückt, dass ein beständiges Tauziehen zwischen den entgegengesetzten Polen, regelbestimmte Form und Gefühls­ gehalt, akzeptiert wird. Selbst ein geistiges »Kraftfeld« sieht von den verschiedenen Standpunkten unterschiedlich aus. Für den Künstler, der trotz technischer Vorschriften und Tabus sich selbst ausdrücken soll, sind seine Gefühle die Kräfte, mit denen er gegen die Vorschriften der Verständlichkeit, der Komposition und der Vollkommenheit der Formen ankämpft. Für den Kritiker, der die sinnliche Schönheit in den Formen erkennen, der sie mit dem nötigen »seelischen Abstand« und mit ausgeglichener Gemütsverfassung betrachten soll, während sie doch teilnahmsvolle Gefühle in ihm erwecken, sind die »Pole« der ästhetische Wert einerseits und die Gefühlsstimulation andererseits. In praktischer Hinsicht stellen uns diese alternativen Perspektiven vor eine schwierige Wahl. Sollen wir das Kunstwerk als eine Äußerung beurteilen, in der sein Urheber seinen Gefühlen freien Lauf lässt, oder als Stimulus, der im Rezipienten gewisse Empfindungen weckt? Ein Kunstwerk kann ohne Zweifel beides sein, aber möglich ist auch, dass es als Ausdruck vollkommen genügt, nicht aber als Anreiz für Gefühle, und umgekehrt könnte der Künstler noch immer unbefriedigt sein, aber gleichwohl die stärksten Reaktionen im Rezipienten hervor­r ufen. Wenn Selbstausdruck Zweck der Kunst ist, dann wird nur der Künstler selbst den Wert seiner Schöpfungen zu beurteilen wissen. Ist es ihr Zweck, Gefühle zu erregen, dann eigene spätere Beobachtung, dass Moden in der Kleidung, Umgangsformen und Sitten demselben Rhythmus folgen, führt dazu, dass sein Prinzip entweder gar nichts oder zu viel beweist – nämlich, dass solche Erscheinungen ebenfalls »Kunst« und eigentlich von Malerei, Musik oder Literatur nicht zu unterscheiden sind.

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sollte er sein Publikum studieren und seine psychologischen Erkenntnisse in sein Werk einfließen lassen, wie es Werbefachleute ja auch tun. Beide Hypothesen klingen, milde ausgedrückt, unkonventionell; frei heraus gesagt, sind sie beide unsinnig. Die Beziehung zwischen Kunst und Gefühl ist offensichtlich subtiler, als dass sie in reiner Katharsis oder Erregung aufginge. Tatsächlich neigen Kritiker mit dem größten Sachverstand dazu, diese beiden subjektiven Elemente kaum zu beachten, und behandeln den Gefühlsaspekt eines Kunstwerks als etwas zu ihm Gehöriges, als etwas, das ebenso objektiv wie die physische Form, die Farbe oder das Klangmuster eines rezitierten Textes selbst ist. Ein Gefühl, das nicht subjektiv ist, stellt uns freilich vor ein neues Paradox. Versuche, ein derartiges Phänomen zu beschreiben, wenn nicht zu erklären, sind verschiedentlich unternommen worden. Santayana versteht Schönheit als »objektivierte Lust«, als die Lust des Rezipienten, die in das Objekt projiziert wird, das sie ausgelöst hat. Nur aus welchem Grund und wie diese Projektion sich vollzieht, bleibt unklar. Es handelt sich nicht um eine Zuschreibung, denn wir schreiben dem Parthenon keinen Genuss zu und wir denken auch nicht, dass Dürers gekreuzigter Christus, der Jünger und die ohnmächtig niedersinkende Mutter unter dem Kreuz oder das Kreuz selbst unsere angebliche Lust an dem Bild »haben«. Was das Bild »hat«, ist Schönheit, die unsere projizierte, d. h. objektivierte Lust ist. Aber warum genügt subjektive Lust nicht? Warum objektivieren und projizieren wir sie als »Schönheit« in visuelle oder auditive Formen, während wir doch damit zufrieden sind, sie in Naschereien, Wohlgerüchen und weichen Polstern unmittelbar als Genuss zu empfinden? In einem kleinen Aufsatz, der 1923 unter dem Titel »Kunst und Gefühl« in Logos erschienen ist, behandelt Otto Baensch die Frage des objektiven Gefühls auf recht radikale Weise. So erkennt er offen das Paradox der »objektiven Gefühle« als eine unbestreitbare, wenngleich nicht zu verstehende Tatsache an. Durch dieses resignierte Eingeständnis spitzt sich das Pro-



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blem in einem Maße zu, dass seine Lösung nicht mehr fern ist. Die intellektuelle Bühne dafür ist bereitet, alle notwendigen Requisiten sind versammelt. Baensch selbst nähert sich dem logischen Blickwinkel, von dem aus sich das ganze Wirrwarr des künstlerischen »Ausdrucks« plötzlich zu entwirren und zu ordnen scheint und dabei eine erstaunliche Anzahl anderer Para­doxien auflöst. Die beste Einführung in das, was ich für die Schlüsselidee halte, ist wohl daher, seinen inhaltsreichen kleinen Aufsatz ausführlich zu zitieren, auch wenn Baensch selbst die Lösung in keiner Weise gesehen hat. »In der folgenden Betrachtung«, so sagt er zu Beginn, »soll gezeigt werden, daß die Kunst, wie die Wissenschaft, eine Geistestätigkeit ist, durch die wir uns den Weltinhalt zu allgemeingültigem Bewußtsein erheben, und daß es dabei die besondere Aufgabe der Kunst ist, dieses Werk an dem Gefühlsgehalt der Welt zu vollbringen. Nicht also ist es nach dieser Ansicht der Sinn der Kunst, das Subjekt in irgendeiner und sei es auch der edelsten Weise zu beglücken, sondern es mit etwas bekannt zu machen, das es nicht kennt. Genau wie die Wissenschaft, will auch die Kunst in erster Linie ›verstanden‹ werden. […] Das aber, dessen Verständnis sie vermittelt, ist stets gefühlshafter Art und wird daher Wohlgefallen oder Mißfallen des fühlenden Subjekts stets mehr oder minder heftig herausfordern, so daß die Urteilstäuschung, als ob es gerade auf das Wohlgefallen und die zustimmende Erregtheit des Subjekts ankäme, leicht erklärlich ist.« Und weiter: »Die Stimmung einer Landschaft erscheint uns als mit ihr selbst gegenständlich gegeben, als eine Eigenschaft dieser Landschaft, die ihr zugehört, wie andere ihrer Eigenschaften auch, mit denen zugleich wir sie wahrnehmen. […] Wir denken nicht daran, die Landschaft, wie verschwommen auch immer, als ein beseeltes Wesen aufzufassen, dessen äußere Gestalt die Stimmung als eine in ihm innerlich vorhandene ›ausdrücke‹. Die Landschaft drückt nicht die Stimmung aus, sondern sie hat sie; die Stimmung umschwebt, erfüllt und durchdringt sie, wie das Licht, in dem sie leuchtet, wie der Duft,

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der ihr entströmt; sie gehört mit zu ihrem Gesamteindruck und läßt sich nicht durch Abstraktion als ein besonderer Teil aus diesem herauslösen.« Wir sollen also hier ein Gefühl, das nicht empfunden wird, als tatsächlichen Gehalt der Welt erkennen. Da ist kein Subjekt, das es ausdrückt, es ist einfach objektiv da. Baensch ist sich der besonderen Stellung dieses Gefühls so sehr bewusst, dass er es ganz bewusst davor bewahrt, mit Gefühlen verwechselt zu werden, die sich in Symptomen ausdrücken. »Miene und Haltung des traurigen Menschen mögen Trauer ›ausdrücken‹, so daß wir meinen, dem Menschen die Trauer, die ihn innerlich bewegt, unmittelbar anzusehen: dennoch braucht das objektive Gefühl, das dem Bilde des traurigen Menschen einhaftet, selbst nicht Trauer zu sein.« Das Bild mag beispielsweise lächerlich sein, es könnte auch sehr beschwingt sein, ja sogar ausgelassen. Daher weist der Verfasser darauf hin: »Das Gefühl, das in einer Gegenstandvorstellung als ausgedrücktes aufscheint, und das objektive Gefühl, das ihrer Ganzheit einhaftet, können daher wohl gleicher Art sein, sie brauchen es aber so wenig, daß sie sich sogar häufig genug zueinander gegensätzlich verhalten werden. Für unser […] Bewußtsein gibt es also ›objektive Gefühle‹, Gefühle, die außer uns objektiv vorhanden sind, ohne innere Zustände eines beseelten Wesens zu sein. Freilich, die objektiven Gefühle kommen nicht freischwebend und für sich vor, sondern sie sind immer eingeschmolzen und verwoben in Gegenstände, von denen sie sich nicht real trennen, sondern nur in der Abstraktion unterscheiden lassen: objektive Gefühle sind stets unselbständige Teile von Gegenständen.« In seiner nächsten bemerkenswerten Beobachtung äußert er sich über die Ähnlichkeit dieser Gefühle zu sinnlichen Qualitäten, obgleich sie selbst unsinnlicher Art sind: »Zur Form des Gegenstandes gehören sie jedenfalls nicht, sie sind keine Beziehungen, sondern inhaltlichen Wesens. […] Mit den Beziehungsformen teilen sie die Unsinnlichkeit, mit den Empfindungsinhalten aber haben sie gemein, daß auch sie in der Zeit



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auftretende qualitative Inhalte sind, […] die den Sinnesqualitäten an abwechslungsreicher Verschiedenheit und unüberseh­ barer Fülle nicht nachgeben.« Damit aber enden auch die Parallelen zu den vertrauten Bestandteilen Form und Inhalt, Beziehung und Qualität. Wie Gefühle in leblose Objekte »verwoben« sein können, stellt das analytische Denken vor eine große Herausforderung. Baenschs Erklärungsversuch ist nicht rundum erfolgreich, aber er ist dennoch so umsichtig und zielt auf das Richtige ab, dass er zweifellos dazu taugt, die Frage zu klären, auch wenn er sie nicht entscheidet. Wann immer objektive Gefühle in konkrete Gegenstände »verwoben« sind, schreibt er, »so ist die Art dieses Enthaltenseins eine solche, daß eine Parallele mit den sinnlichen Qualitäten nicht gezogen werden kann. Diese nämlich stehen in den Beziehungsformen, werden von diesen umgriffen und gegliedert und fügen sich so zum Bilde des Gegenstandes zusammen. Die unsinnlichen Qualitäten dagegen umschweben und durchdringen dieses ganze Gebilde in fließender Unabgegrenztheit, ohne sich in angebbarer Weise jener Gliederung einzuordnen. Sie haften sowohl an den sinnlichen Qualitäten, wie an den Beziehungsformen, und trotz aller Verschiedenheiten und Kontraste verschmelzen und verschwimmen sie ineinander zu einem Gesamteindruck, der sich schwer analysieren läßt.« Alle Gefühle sind, so Baensch, unsinnliche Qualitäten; subjektive sind in einem Selbst enthalten, objektive in unpersönlichen Dingen. Die große Schwierigkeit besteht nun darin, sie als unabhängig von einem Träger zu denken, sie als unabhängige Weltinhalte aufzufassen. »Gewiß sind die Gefühle als erlebte Qualitäten an sich nicht unbestimmt, sondern von höchst konkreter Eigenart. Aber der begrifflichen Abgrenzung und Ordnung entziehen sie sich, sobald diese über die gröbsten Allgemeinheiten hinausgelangen will; es gibt keinen Weg zu einer Systematik, deren Gliederung fein genug wäre, um sie einfangen zu können.« Und weiter: »So bleibt uns in Leben und Wissenschaft nichts anderes übrig, als den Gefühlen von außen beizukommen und

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sie nach den begrifflich faßbaren Ereignissen in und außer uns, an die sie sich irgendwie geknüpft zeigen, zu beschreiben, indem wir dabei die Erinnerung eines jeden anrufen, erwartend, daß sie ihm an Hand solcher Beschreibung die gemeinte Gefühlsqualität irgendwie vergegenwärtigen werde.«14 Das entscheidende Problem ist offensichtlich das, Gefühle nicht dem Genuss (auch nicht im Sinne von Samuel Alexander), sondern dem begrifflichen Erfassen zu öffnen. Nicht das Erleben von Gefühlen (das in der Berufung auf die Erinnerung vorausgesetzt wird) ist schwer zu erlangen, wohl aber ein Wissen über sie. »Da sie unsinnliche Qualitäten sind, ist die Anschauung, vermöge deren wir ihrer innewerden, eine unsinnliche Anschauung. […] [E]s gibt keine andere Anschauung, die so blind wäre wie die unsinnliche der Gefühle.« »Wie können wir die Gefühle so einfangen, bannen und binden, daß ihr anschaulicher Gehalt für das Bewußtsein allgemeingültig festgestellt wird, ohne im eigentlichen Sinne, also durch Begriffe, erkannt zu werden? Die Antwort darauf ist: wir können es, indem wir Gegenstände schaffen, denen wir die zu bannenden Gefühle als objektive Gefühle so einlegen, daß jedem diese Gegenstände betrachtenden Subjekt bei fühlender Hingabe an sie die eingelegten Gefühle in der Weise der unsinnlichen Gefühlsanschauung gleichmäßig zum Bewußtsein kommen müssen. Wir nennen solche Gegenstände Kunstwerke und die Tätigkeit, die sie hervorbringt, Kunst.«15 Fast sämtliche Absätze des Aufsatzes von Baensch sind für die Theorie, die vorzuschlagen und zu entwickeln ich mich anschicke, von Bedeutung. Man ist versucht, mit dem Zitieren gar nicht mehr aufzuhören, und bei späterer Gelegenheit werde ich dies auch wieder großzügig tun. Die obigen Zitate werden aber wohl genügen, um die Zwickmühle deutlich zu machen, in die die Kunstphilosophie, in welcher Gestalt auch immer, geraten ist:   Otto Baensch, Kunst und Gefühl, in: Logos, Bd.  XII (1923/24), S. 1–28, hier 5 f. 15  Ebd., S. 14. 14



Kap.   2 · Paradoxien

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Ausdruck und Eindruck, Form und Gefühl, Bedeutungsgehalt und Empfindung. In dieser jüngsten Version enthalten Kunstwerke Gefühle, aber fühlen sie nicht. Wir entdecken die Gefühle darin und reagieren auf deren Wahrnehmung mit Lust oder Unlust, also mit unseren eigenen Gefühlen, mit denen, die wir zu dem Zeitpunkt empfinden. Doch der Rang der Kunstgegenständen inhärenten ungefühlten Gefühle ist ontologisch reichlich obskur, und ihre unsinnliche Wahrnehmung in einem Werk, von dem im Allgemeinen angenommen wird, dass es sich direkt und gänzlich der sinnlichen Wahrnehmung darbietet, stellt uns erkenntnistheoretisch vor nicht geringere Schwierigkeiten. Die Antwort liegt meines Erachtens in einer Idee, die der Ästhetik selbst nicht fremd ist, deren ganzes Potential und wahrhafte Zwecke aber nie richtig ausgeschöpft worden sind. Es handelt sich um die produktivste generative Idee in den heutigen Geisteswissenschaften, weshalb ich sie anderenorts als »die neue Tonart« in der Philosophie bezeichnet habe. Da Baensch das Problem des Gefühls in der Kunst angesiedelt hat, ist es zumindest reif dafür, in die neue Tonart transponiert zu werden, die es zu ungeahnten Harmonien bringen wird. Ja, mehr als reif. Die Modulation ist geradezu vollkommen, wenn er erklärt, die Aufgabe der Kunst bestehe wie die der Wissenschaft darin, den Rezipienten mit etwas bekannt zu machen, das ihm bis dahin unbekannt war. Die Idee der symbolischen Funktion (sym­ bolic agency) ist hier so nahe, dass sie recht deutlich zwischen den Zeilen durchscheint. Ihre wirkliche Aufgabe hat jedoch nichts mit den ikonographischen Funktionen zu tun, die den Symbolen in der Kunst normalerweise zugeschrieben werden. Das künstlerische Symbol als künstlerisches vermittelt Einsicht, es ist nicht Bezugnahme. Es beruht nicht auf Konvention, vielmehr motiviert es Konventionen und gebietet sie. Es geht tiefer als jede Semantik der allgemein anerkannten Zeichen und ihrer Referenten, es ist essentieller als jedes Schema, das heuristisch interpretiert wird. Die vielen Leitideen, die heute in der ästhetischen Theorie gängig sind, wovon eine jede ihren eigenen Weg sucht, um die

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Mysterien der künstlerischen Erfahrung zu durchdringen, und die allesamt ständig irgendeiner Paradoxie aus dem Weg gehen oder sie akzeptieren, treffen sich alle in ein und demselben Problem: Was ist der »Sinngehalt« (significance) in der Kunst? Anders gesagt, was ist mit »signifikante Form« gemeint? Die Antwort darauf enthält, wie ich meine, die Lösung für alle miteinander zusammenhängenden und doch auf seltsame Weise unvereinbaren Paradoxien und vor allem für jenes Para­ dox, das in Baenschs Begriff von objektiven Gefühlen, von un­ sinnlichen, unsichtbar wahrgenommenen Qualitäten liegt. Unser Eröffnungszug besteht nun darin, eine solche Antwort vorzuschlagen.

3. Kapitel Das Symbol des Fühlens Das Buch, dessen Nachfolger das vorliegende ist, enthält ein »Vom Sinngehalt der Musik« betiteltes Kapitel. Die dort entwickelte Theorie des Sinngehalts ist eine spezielle Theorie, die nicht beansprucht, eine weitere Anwendung zu finden als die, die von ihr auf diesem ursprünglichen Feld, nämlich der Musik, gemacht worden ist. Je mehr wir jedoch über den Sinngehalt der Kunst im Allgemeinen nachdenken, umso mehr scheint die Musiktheorie uns die Richtung zu weisen. Und sicherlich legt sich die Hypothese nahe, dass die oft behauptete grundlegende Einheit der Künste nicht so sehr in Parallelen zwischen ihren jeweiligen Elementen oder analogen Techniken besteht als vielmehr in der Einheitlichkeit ihrer charakteristischen Bedeutsamkeit (import), in der Bedeutung des »Sinngehalts« bezogen auf jede einzelne Kunst. Die »signifikante Form« – die wirklich Sinngehalt besitzt – ist das Wesen jeder Kunst, sie ist das, was wir meinen, wenn wir etwas »künstlerisch« nennen. Wenn die vorgeschlagene Richtung uns nicht in die Irre führt, dann verfügen wir hiermit über ein Analyseprinzip, das sich innerhalb jeder einzelnen Kunstgattung anwenden lässt, um deren besondere Wahl und Verwendung von Materialien zu erklären; ein Kriterium dafür, was bei der Beurteilung von Kunstwerken in den einzelnen Feldern relevant ist und was nicht; eine unmittelbare Präsentation der Einheit aller Künste – ohne dass dazu ein Rückgriff auf »Ursprünge«, sei es in einer fragmentarischen, zweifelhaften Geschichte oder gar in einer noch fragwürdigeren Vorgeschichte, nötig wäre – und über die Formulierung einer echt allgemeinen Kunsttheorie als solcher, in der die verschiedenen Künste sowohl hinsichtlich ihrer Unterschiede als auch hinsichtlich des sie Verbindenden erfasst werden können und die darüber hinaus hoffen lässt, dass alle

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von ihnen aufgeworfenen philosophischen Probleme – solche ihres relativen Wertes, ihrer besonderen Vermögen oder Grenzen, ihrer sozialen Funktion, ihrer Verbindung zu Traum und Phantasie oder zum Zeitgeschehen etc. etc. – zu lösen sein werden. Die geeignete Weise, eine allgemeine Theorie aufzustellen, ist die, eine spezielle zu verallgemeinern. Ich bin überzeugt, dass die Analyse des musikalischen Sinngehalts, wie sie in Phi­ losophie in neuer Tonart vorliegt, zu solch einer Verallgemeinerung in der Lage ist und eine gültige Theorie des Sinngehalts für den gesamten Parnass zu liefern vermag. Die Untersuchung des musikalischen Sinngehalts entstand aus einer früheren philosophischen Überlegung zur Bedeutung des sehr populären Wortes »Ausdruck«. In der Literatur zur Ästhetik nimmt dieses Wort einen herausragenden Ort oder vielmehr herausragende Orte ein, denn es wird in mehr als einem Sinne verwandt und wechselt folglich seine Bedeutung von einem Buch zu einem anderen, mitunter sogar in einem einzigen Werk von einem Abschnitt zu einem anderen. Manchmal gebrauchen Autoren, die einander eigentlich sehr nahe stehen, es auf nicht zu vereinbarende Weise und widersprechen buchstäblich den Aussagen des jeweils anderen, ohne dies tatsächlich zu bemerken, da jeder das Wort so deutet, wie der andere es gemeint hat, und nicht, wie er es dort, wo es vorkommt, tatsächlich verwendet. So will Roger Fry Clive Bells berühmte, aber kryptische Formulierung »signifikante Form« dadurch erhellen, dass er sie mit Flauberts »Ausdruck der Idee« gleichsetzt, und vermutlich stimmt Bell Frys Deutung, soweit sie trägt, uneingeschränkt zu (aber sie trägt eben, wie Fry bemerkt, nicht sehr weit, denn die »Idee« ist das nächste Hindernis). Bell selbst sagt jedoch bei dem Versuch zu erklären, was er meint: »Es ist nutzlos, in eine Gemäldegalerie nach Ausdruck zu suchen; wonach man suchen muss, ist die signifikante Form.« Natürlich denkt Bell hier in einem ganz anderen Sinne an »Ausdruck«. Vielleicht meint er, man solle nicht nach dem Selbstausdruck des Künstlers Ausschau halten, d. h. nach einer Aufzeichnung seiner Gefühle. Allerdings ist diese Interpretation zweifelhaft,



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denn an anderer Stelle im selben Buch schreibt er: »Es scheint mir möglich, wenn auch keineswegs gewiss, dass die geschaffene Form uns so tief bewegt, weil sie das Gefühl ihres Schöpfers ausdrückt.« Ist nun das Gefühl des Schöpfers die »Idee« im Sinne Flauberts? Oder hat der Ausdruck im selben Werk möglicherweise zwei verschiedene Funktionen? Und was ist mit der Art von Ausdruck, die wir nicht in einer Gemäldegalerie suchen sollen? Selbstverständlich steht es uns frei, nach jedem beliebigen Ausdruck zu suchen, und es besteht sogar eine gute Chance, dass wir ihn auf finden werden, worin auch immer er bestehen mag. Ein Kunstwerk ist häufig ein spontaner Gefühlsausdruck, d. h. ein Symptom für die Geistesverfassung des Künstlers. Wenn es Menschen darstellt, gibt es vermutlich auch irgendeine Art von Gesichtsausdruck wieder, der auf deren Gefühle verweist. Ferner könnte man behaupten, es würde in einem anderen Sinne das Leben der Gesellschaft »ausdrücken«, in der es seinen Ursprung hat, d. h. es verweise auf die Sitten, die Kleidung, das Verhalten und spiegele Verwirrung oder Anstand, Gewalt oder Frieden. Neben all dem drückt das Kunstwerk sicherlich auch die unbewussten Wünsche und Albträume seines Urhebers aus. All dies können wir in Museen und Galerien finden, wenn wir es zur Kenntnis nehmen. Ebenso gut könnten wir es aber auch in Papierkörben oder auf den Rändern von Schulbüchern finden. Das bedeutet freilich nicht, dass jemand ein Kunstwerk weggeworfen hat oder dass er eins hervorgebracht hat, wenn er sich bei der Lösung von Divisionsaufgaben langweilt. Es besagt nur, dass alle Zeichnungen, Äußerungen, Gesten oder persönlichen Aufzeichnungen, welcher Art auch immer, Gefühle, Überzeugungen, gesellschaftliche Bedingungen ausdrücken; »Ausdruck« in einem dieser genannten Sinne ist nichts der Kunst Eigentümliches, und folglich besteht darin auch nicht der künstlerische Wert. Künstlerischer Sinngehalt oder »Ausdruck der Idee« ist noch in einem anderen, ja in einem radikal davon verschiedenen Sinne »Ausdruck«. In allen oben angeführten Zusammenhän-

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gen fungiert das Kunstwerk oder ein anderes Objekt als Zeichen, das auf einen Tatbestand verweist – wie sich jemand fühlte, was er glaubte, wann und wo er lebte oder was ihn in seinen Träumen quälte. Doch der Ausdruck einer Idee verweist auch in der gewöhnlichen Verwendung, wenn also nicht im emphatischen Sinne von Idee die Rede ist, nicht auf die Zeichenfunktion, d. h. auf das Anzeigen einer Tatsache mittels irgend­eines natürlichen Symptoms oder eines erfundenen Signals. Normalerweise bezieht er sich auf den primären Zweck der Sprache, nämlich den Gedankenaustausch (discourse), das Darlegen bloßer Ideen. Wenn wir sagen, etwas sei gut ausgedrückt, dann meinen wir nicht unbedingt, die ausgedrückte Idee beziehe sich auf unsere gegenwärtige Situation, noch müssen wir sie für wahr halten. Wir meinen damit lediglich, die Idee sei klar und objektiv für eine nähere Betrachtung formuliert worden. Derartiger »Ausdruck« ist die Aufgabe von Symbolen: die Äußerung und Darlegung von Begriffen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Symbole grundlegend von Anzeichen.16 Ein Anzeichen wird verstanden, wenn es uns auf das Objekt oder die Situation aufmerksam macht, auf die es hinweist. Ein Symbol wird verstanden, wenn wir die von ihm dargelegte Idee begreifen.  In Philosophie in neuer Tonart (im Weiteren kurz Neue Tonart) wurde in der Hauptsache zwischen »Zeichen« und »Symbolen« unterschieden. In Signs, Language and Behavior (New York 1946) unterscheidet Charles W. Morris zwischen »Anzeichen« und »Symbolen«. Diese Verwendung der Worte scheint mir besser zu sein, denn »Zeichen« kann dann die Aufgabe übernehmen, sowohl »Anzeichen« als auch »Symbol« abzudecken, während meine frühere Verwendungsweise mir keinen allgemeinen Terminus lieferte. Ich habe mich daher seinem Vorgehen angeschlossen, und das trotz des Umstands, dass sich dadurch eine terminologische Abweichung zwischen den beiden Büchern ergibt, die eigentlich zusammengehören. [Wenn auf das Buch im Text allgemein verwiesen wird, wird die angegebene Abkürzung Neue Tonart verwendet. Bei konkreten Verweisen auf einzelne Stellen wird auf die vorliegende Übersetzung Philosophie auf neuem Wege zurückgegriffen. Zum Titel dieses Buches s. die Einleitung d. Hg., Abschnitt 5.] 16



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Der logische Unterschied zwischen Anzeichen und Symbolen ist, wie ich meine, hinreichend in Philosophie in neuer Ton­ art ausgeführt worden, so dass ich mir hier eine Wiederholung sparen kann, obwohl sich sehr viel mehr darüber sagen ließe, als es in jener recht allgemeinen kleinen Abhandlung geschehen ist. Hier wie auch dort gehe ich zu einer Folgerung aus den logischen Untersuchungen über, zu einer Theorie des Sinngehalts, die auf den Gegensatz zwischen den Aufgaben der Kunst und denen der Rede (discourse) verweist; dieses Mal tue ich es jedoch mit Bezug auf alle Künste, nicht nur mit Bezug auf die nicht-sprachliche und im wesentlichen nicht-darstellende Kunst der Musik. Gleichwohl bildet die Theorie der Musik unseren Ausgangspunkt, weshalb ich kurz zusammenfasse, was sich am Ende des früheren Buchs ergeben hat: Die tonalen Strukturen, die wir »Musik« nennen, weisen eine große logische Ähnlichkeit zu den Formen menschlichen Gefühls auf – Formen von Zunahme und Verminderung, von Fließen und Stauung, von Konflikt und Auflösung, Schnelligkeit, Innehalten, ungeheurer Erregung, Ruhe oder subtiler Belebung und träumerischen Fehltritten – vielleicht nicht unbedingt von Freude und Trauer, wohl aber von der Heftigkeit des einen oder von beiden – von Größe, Kürze und dem unauf hörlichen Vergehen von allem, was lebendig gefühlt wird. Dies ist Struktur oder die logische Form des Empfindens (sentience): und die Struktur der Musik ist von eben derselben Form, ausgeführt in reinem, gemessenem Klang und Stille. Musik ist ein tonales Analogon des Gefühlslebens. Solch eine formale Analogie oder Kongruenz logischer Strukturen ist die wichtigste Voraussetzung für die Beziehung zwischen einem Symbol und dem, was es bedeuten soll. Das Symbol und das symbolisierte Objekt müssen irgendeine gemeinsame logische Form haben. Allein auf der Grundlage einer formalen Analogie wäre jedoch nicht zu entscheiden, welche der beiden kongruenten Strukturen das Symbol ist und welche die Bedeutung, denn die Kon-

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gruenzbeziehung oder die formale Gleichheit ist symmetrisch, d. h. sie funktioniert in beide Richtungen. (Wenn John James so ähnlich sieht, dass man ihn nicht von James unterscheiden kann, dann ist auch James nicht von John zu unterscheiden.) Es muss, wie bei zwei Entitäten oder zwei Systemen, einen Grund geben, warum das eine als Symbol des anderen gewählt wird. Normalerweise ist der ausschlaggebende Grund der, dass das eine leichter zu erkennen und zu handhaben ist als das andere. Nun sind Laute sehr viel leichter zu erzeugen, zu verknüpfen, zu erkennen und zu identifizieren als Gefühle. Formen des Empfindens kommen nur in der Natur vor, musikalische Formen können aber beliebig erfunden und intoniert werden. Ihr allgemeines Muster lässt sich durch wiederholte Aufführung immer wieder neu verkörpern. Tatsächlich ist die Wirkung nie genau die gleiche, auch dann nicht, wenn die physische Wiederholung ganz exakt ist, wie etwa bei einem aufgezeichneten Musikstück, denn der genaue Grad der Vertrautheit mit einem Übergang schlägt sich auf dessen Erleben nieder, und dieser Faktor ist nicht konservierbar. Solche Variationen sind glücklicherweise in sehr vielen Fällen unwichtig. Bei einigen musikalischen Formen sind selbst weniger feine Veränderungen nicht wirklich störend, beispielsweise eine andere Instrumentierung, und in Grenzen gilt dies sogar für Unterschiede in der Tonhöhe oder im Tempo. Für andere sind sie verheerend. Im Großen und Ganzen aber sind Töne, anders als Gefühle, ein handhabbares Medium, das sich für willentliche Komposition und Wiederholung eignet. Dank dieser Eigenschaft empfehlen sich tonale Strukturen für symbolische Zwecke. Ferner wird ein Symbol dazu gebraucht, um Ideen von etwas zu artikulieren, über das wir nachdenken wollen, und solange wir nicht über einen einigermaßen angemessenen Symbolismus verfügen, können wir nicht darüber nachdenken. Daher spielt das Interesse stets eine nicht unbedeutende Rolle, wenn ein Ding, oder auch eine Gruppe von Dingen, zur Bedeutung von etwas anderem gemacht wird, zum Symbol oder einem System von Symbolen.



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Klang als rein sinnliches Moment in der Erfahrung mag beruhigend oder anregend, angenehm oder quälend sein; doch das gilt auch für Geschmack, Geruch und Tastsinn. Körperliche Einflüsse dieser Art auszuwählen und zu nutzen zielt auf Genuss und hat mit Kunst nichts zu tun. Für gewöhnlich verfügt eine aufgeklärte Gesellschaft über gewisse öffentliche oder private Weisen, ihre Künstler zu alimentieren, denn ihre Arbeit gilt als geistige Leistung, die der ganzen Gemeinschaft zur Ehre gereicht. Bloße Epikureer werden kaum ein solches Ansehen erreichen. Selbst Köche, Parfümeure und Polsterer, die anderen die Mittel für ihr sinnliches Vergnügen bereitstellen, werden nicht als Fackelträger der Kultur und inspirierte Schöpfer angesehen. Nur wenn sie für sich werben, schmücken sie sich mit diesen Titeln. Wenn die Musik, der strukturierte Klang, lediglich dazu dienen würde, unsere Nerven zu stimulieren und zu beruhigen, unseren Ohren genauso zu schmeicheln wie eine gut zusammengestellte Mahlzeit unserem Gaumen schmeichelt, wäre sie wohl sehr beliebt, aber kulturell nicht von großem Belang. Ihre historische Entwicklung wäre ein viel zu triviales Thema, um viele Menschen zu einer lebenslangen Beschäftigung mit ihr anzuregen, auch wenn unter der Rubrik »Sozialgeschichte« ihrer anekdotischen Vergangenheit ein paar bemühte Dissertationen abgerungen würden. Und Musikkonservatorien würden zu Recht kein höheres Ansehen genießen als Kochschulen. Unser Interesse an Musik ergibt sich aus ihrer innigen Beziehung zum höchst wichtigen Leben des Fühlens, wie immer diese Beziehung genau aussehen mag. Nach eingehender Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorien kam Philo­ sophie in neuer Tonart zu dem Schluss, dass die Funktion der Musik nicht in der Stimulation von Gefühlen liegt, sondern darin, sie auszudrücken; darüber hinaus geht es nicht um den symptomatischen Ausdruck von Gefühlen, die den Komponis­ ten bedrängen, sondern um den symbolischen Ausdruck seines Verständnisses der Formen des Empfindens. Sie zeugt eher von seiner Einbildungskraft im Hinblick auf das Fühlen als von seinem eigenen Gefühlszustand und bringt zum Ausdruck, was

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er über das sogenannte »Innenleben« weiß; und dies mag über seinen persönlichen Fall hinausgehen, denn für ihn ist Musik eine symbolische Form, mit deren Hilfe er Ideen über menschliche Sensibilität sowohl erfahren als auch äußern kann. Mit der Annahme, Musik sei ein Symbol, sind viele Schwierigkeiten verknüpft, denn wir sind so sehr vom Inbegriff der symbolischen Form – der Sprache – geprägt, dass wir ganz natürlich ihre Eigenschaften auf unsere Vorstellungen und Erwartungen übertragen, die wir an jeden anderen Modus knüpfen. Musik ist nun aber keine Art von Sprache. Ihr Sinngehalt unterscheidet sich strikt von dem, was herkömmlich und eigentlich »Bedeutung« genannt wird. Vielleicht lassen sich die Logiker und positivistischen Philosophen, die den Terminus »implizite Bedeutung« aufgrund der Überlegung kritisiert haben, dass »Bedeutung« im eigentlichen Sinne immer erklärbar, definierbar und übersetzbar ist, von dem sehr vernünftigen Grund leiten, einen ohnehin schwierigen Terminus von allen weiteren Verwicklungen und Quellen der Verwirrung freizuhalten; wenn dies zu leisten ist, ohne das Konzept auszuschließen, das ich als »implizite Bedeutung« bezeichnet habe, dann scheint es zweifellos klug, ihren Einschränkungen zu folgen. Die bequemste Weise, die Natur der musikalischen Symbolisierung präzise zu verstehen, ist wohl die, die Eigenschaften der Sprache zu betrachten, um dann durch Vergleich und Gegenüberstellung die anders geartete Struktur der Musik ebenso herauszustellen wie die daraus sich ergebenden Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den jeweiligen Funktionen dieser beiden logischen Formen. Weil der Diskurs der Hauptzweck der Sprache ist, wird der Begriffsrahmen, der sich unter ihrem Einfluss herausgebildet hat, als »diskursive Vernunft« bezeichnet. Wenn wir überhaupt von »Vernunft« reden, dann setzen wir für gewöhnlich ihr diskursives Muster voraus. In einem weiteren Sinne ist aber jedes Erkennen von Form, jedes Gewahrwerden von Mustern in der Erfahrung Vernunft; und mit all seinen Verfeinerungen (z. B. dem mathematischen Symbolismus, der eine Erweiterung der Sprache ist) ist der Diskurs nur



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ein mögliches Muster. Wo es um praktischen Austausch geht, um wissenschaftliche Erkenntnis und philosophische Gedanken, ist er das einzige Instrument, über das wir verfügen. Aus genau diesem Grund bezeichnen Philosophen ganze Erfahrungsbereiche als »unaussprechlich«. Erscheinen nun gerade diese Bereiche jemandem als die wichtigsten überhaupt, ist er natürlich versucht, Philosophie und Wissenschaft als unfruchtbar und falsch zu verurteilen. Jeder ist berechtigt, ein solches Urteil zu fällen, nichts aber berechtigt ihn zu der Behauptung, Instinkt, Anschauung, Gefühl oder was auch immer seien der bessere Weg zur philosophischen Wahrheit. Anschauung ist der grundlegende Prozess allen Verstehens, und sie ist im diskursiven Denken ebenso wirksam wie in deutlichen Sinneswahrnehmungen und unmittelbaren Urteilen – dazu wird bald mehr zu sagen sein. Geht es aber um die Formulierung von Theorien, seien sie empirisch oder transzendental, dann ist sie freilich kein Ersatz für die diskursive Logik. In meinem früheren Buch ist der Unterscheid zwischen diskursiven und nicht-diskursiven logischen Formen, ihren jeweiligen Vorzügen und Beschränkungen und ihren daraus sich ergebenden symbolischen Verwendungen bereits erörtert worden, doch da die dort entwickelte Theorie der Musik als symbolischer Form hier den Ausgangspunkt für die ganze Philosophie der Kunst bildet, ist es vielleicht geraten, an die zugrundeliegenden semantischen Prinzipien noch einmal ausdrücklich zu erinnern. In der Sprache, dem erstaunlichsten Symbolsystem, das die Menschheit erfunden hat, werden einzelne Wörter auf der Grundlage einer schlichten Eins-zu-eins-Zuordnung Gegenständen zugewiesen, die von der Erfahrung als einzelne wahrgenommen werden. Ein nicht zusammengesetztes Wort – also nicht eines, das aus zwei oder mehr je für sich bedeutsamen Vokabeln besteht wie »all-mächtig« oder »zusammen-gesetzt« – kann irgendein Objekt bedeuten, das als eines aufgefasst wird. Ja, es steht uns durch eine willkürliche Setzung frei, ein Wort wie »allmächtig« als eines zu betrachten, ihm eine nicht zusam-

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mengesetzte Konnotation zuzuweisen, beispielsweise wenn wir ein Rennpferd »Allmächtig« nennen. Praisegod Barbon (»Barebones«) war daher ein unteilbares Wesen, obwohl sein Eigenname ein zusammengesetztes Wort ist. Er hatte einen Bruder, der »If-Christ-had-not-come-into-the-world-thou-wouldst-havebeen-condemned« hieß. Die einfache Zuordnung zwischen einem Eigennamen und seinem Träger hat hier zwischen einem ganzen als ein Wort aufgefassten Satz und einem Objekt statt, dem er willkürlich zugewiesen worden ist. Jedes Symbol, das etwas benennt, wird »als eines aufgefasst«, und so auch das Objekt. Eine »Menschenmasse« ist eine Menge von Menschen, aber als eine Menge aufgefasst, also eben als Masse. Solange wir Symbole und Begriffe auf diese schlichte Weise zuordnen, steht es uns frei, sie nach Gutdünken miteinander zu koppeln. Ein Wort oder Kennzeichen, das willkürlich dazu verwandt wird, etwas zu denotieren oder zu konnotieren, können wir als assoziatives Symbol bezeichnen, denn seine Bedeutung hängt völlig von einer Assoziation ab. Sobald aber Wörter, die verschiedene Dinge konnotieren sollen, miteinander verbunden werden, wird etwas durch die Art und Weise, wie sie verbunden sind, zum Ausdruck gebracht. Der ganze Komplex ist ein Symbol, denn die Verbindung von Wörtern bringt zwangsläufig auch ihre Konnotationen in einem Komplex zusammen, und dieser Ideenkomplex ist analog zum Wortkomplex. Wer die Bedeutung aller Wörter kennt, die den Eigennamen von Praise­ gods Bruder bilden, für den wird der Name vermutlich absurd klingen, denn schließlich handelt es sich dabei um einen Satz. Die mit den Wörtern assoziierten Begriffe bilden einen komplexen Begriff, dessen Teile sich zu einem Muster zusammenfügen, das dem des Wortmusters analog ist. Wortbedeutungen und grammatische Formen oder Regeln für den Wortgebrauch können frei zugewiesen werden. Sobald sie aber allgemein akzeptiert sind, ergeben sich von alleine Propositionen als Bedeutungen von Sätzen. Man könnte sagen, die Elemente der Propositionen werden durch Wörter benannt, aber die Propositionen selbst werden durch Sätze artikuliert.



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Ein komplexes Symbol, wie ein Satz eines ist oder eine Landkarte (deren Umrisse formal den weitaus größeren Umrissen eines Landes entsprechen) oder ein Diagramm (das vielleicht unsichtbaren Bedingungen analog ist, dem Anstieg und Fall von Preisen, der Ausbreitung einer Epidemie), ist eine artikulierte Form. Die für sie charakteristische symbolische Funktion nenne ich den logischen Ausdruck. Er drückt Relationen aus, und er kann jeden Komplex von Elementen »bedeuten« – konnotieren oder denotieren –, der die gleiche artikulierte Form wie das Symbol hat, die Form, die das Symbol »ausdrückt«. Die Musik ist wie die Sprache eine artikulierte Form. Ihre Teile verschmelzen nicht nur miteinander zu einem größeren Gebilde; indem sie dies tun, behalten sie auch einen bestimmten Grad ihrer getrennten Existenz, und der sinnliche Charakter eines jeden Teils ist dadurch bestimmt, welche Funktion er in dem komplexen Ganzen erfüllt. Das heißt, das größere Gebilde, das wir als Komposition bezeichnen, ist nicht allein durch eine Mischung zustande gekommen, so wie etwa eine neue Farbe dadurch entsteht, dass verschiedene Farben miteinander vermischt werden. Stattdessen ist sie artikuliert, das heißt ihre innere Struktur bietet sich unserer Wahrnehmung dar. Warum ist die Musik dann nicht die Sprache des Gefühls, als die sie so oft bezeichnet worden ist? Weil es sich bei ihren Elementen nicht um Wörter handelt – um unabhängige assoziative Symbole, deren Bezug durch die Konvention festgelegt ist. Nur soweit sie eine artikulierte Form ist, entspricht sie irgendetwas anderem, und da keinem ihrer Teile eine Bedeutung zugewiesen worden ist, fehlt es ihr an dem grundlegenden Merkmal von Sprache – an festgelegter Verknüpfung und damit an einem einzigen, unzweideutigen Bezug. Es steht uns frei, ihre subtil artikulierten Formen mit einer passenden Bedeutung zu versehen, das heißt: Die Musik kann die Idee von etwas vermitteln, das in ihrem logischen Bild gedacht werden kann. Daher ist sie, obwohl wir sie als eine signifikante Form auffassen und die Lebens- und Empfindungsprozesse mittels ihres hörbaren, dynamischen Musters

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verstehen, dennoch keine Sprache, denn sie besitzt kein Vokabular. Halten wir uns an den Grundsatz der strikten Benennung, dann sollten wir ihren Gehalt wohl auch nicht als »Bedeutung« bezeichnen. So wie Musik nur in einem uneigentlichen Sinne eine Sprache genannt wird, so sprechen wir auch nur in einem recht lockeren Sinne von ihrer symbolischen Funktion als Bedeutung, da es ihr an einem konventionellen Bezug fehlt. In Philosophie in neuer Tonart habe ich Musik als ein »unvollendetes« Symbol bezeichnet.17 Bedeutung, in dem gewöhnlichen Sinne, wie er in der Semantik gebraucht wird, beinhaltet, dass es einen konventionellen Bezug gibt bzw. dass die symbolische Beziehung vollendet ist. Musik kommt Bedeutsamkeit (import) zu, und diese besteht im Muster des Empfindens – dem Muster des Lebens selbst, wie es gefühlt und unmittelbar erkannt wird. Daher sollten wir den Sinngehalt der Musik ihre »vitale Bedeutsamkeit« und nicht ihre »Bedeutung« nennen, wobei »vital« nicht als eine Art unbestimmter Ehrentitel verstanden wird, sondern als erläuterndes Adjektiv, das die Relevanz der »Bedeutsamkeit« auf die Dynamik der subjektiven Erfahrung einschränkt. So viel zur Theorie der Musik; Musik ist eine »signifikante Form«, und ihr Sinngehalt ist der eines Symbols, eines höchst artikulierten sinnlichen Objekts, das aufgrund seiner dynamischen Struktur die Formen vitalen Erlebens zum Ausdruck zu bringen vermag, für deren Vermittlung die Sprache besonders ungeeignet ist. Fühlen, Leben, Bewegung und Emotion machen ihre Bedeutsamkeit aus. So lautet in groben Umrissen die spezielle Musiktheorie, die sich, wie ich meine, verallgemeinern lässt, um zu einer Theorie der Kunst als solcher zu gelangen. Der Grundbegriff ist der einer artikulierten, aber nicht-diskursiven Form, die Bedeutsamkeit besitzt, ohne sich jedoch in konventioneller Weise auf etwas zu beziehen. Sie zeigt sich daher nicht als Symbol im gewöhn17

 Langer, Philosophie auf neuem Wege, a. a. O., S. 236.



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lichen Sinne, sondern als »signifikante Form«, in der dem Moment des Sinns keine logische Unterscheidung zugrunde liegt; dieser wird eher als Qualität gefühlt denn als Funktion erkannt. Sollte dieser Grundbegriff auf alle Erzeugnisse dessen anwendbar sein, was wir »die Künste« nennen, d. h. sollten alle Kunstwerke in genau dem Sinne als signifikante Formen betrachtet werden können, wie er auf musikalische Werke zutrifft, dann lassen sich vermutlich alle wesentlichen Sätze der Musiktheorie auch auf die anderen Künste ausweiten, denn mit ihnen wird das Wesen des Symbols und seiner Bedeutsamkeit bestimmt oder erläutert. Diese wichtige Verallgemeinerung legt sich bereits durch den einfachen Umstand nahe, dass der Terminus »signifikante Form« ursprünglich mit Bezug auf andere Künste, nicht auf die Musik, eingeführt worden ist, und zwar im Rahmen einer weiteren speziellen Theorie. Alles, was bislang darüber geschrieben worden ist, sollte in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, für die bildenden Künste gelten. Clive Bell, der den Ausdruck geprägt hat, ist Kunstkritiker und nach eigenem Bekunden kein Musiker. Er selbst führt den Terminus mit folgenden Worten ein: »Jedermann spricht von ›Kunst‹ und macht damit eine geistige Klassifikation, durch die er die Klasse ›Kunstwerke‹ von allen anderen unterscheidet. Was ist die Rechtfertigung für diese Klassifikation? […] Es muß irgendeine Eigenschaft da sein, ohne die ein Werk nicht Kunstwerk sein kann. Ist sie an einem Werk auch nur im leisesten Grade vorhanden, so ist sie nicht ganz wertlos. Was ist das für eine Eigenschaft? Welche Eigenschaft ist allen Dingen zugehörig, die auf unser ästhetisches Gefühl wirken? Welches ist die gemeinsame Eigenschaft an der Hagia Sophia und den Fenstern in Chartres, einer mexikanischen Skulptur, einer persischen Schale, chinesischen Teppichen, Giottos Fresken in Padua und den Meisterwerken eines Poussin, Piero della Francesca und Cézanne? Nur eine Antwort scheint mir möglich – bedeutsame Form (significant form). In jedem einzelnen dieser Werke erregen Linien und Farben, die auf ge-

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wisse Weise zusammengestellt sind, und gewisse Formen und Formverbindungen unser ästhetisches Gefühl. Diese Zusammenstellungen und Formen nenne ich ›bedeutsame Form‹, und ›bedeutsame Form‹ ist die allen Werken der bildenden Kunst eigene gemeinsame Eigenschaft.«18 Bell ist davon überzeugt, dass es Sache der Ästhetik ist, sich mit dem ästhetischen Gefühl und seinem Gegenstand, das Kunstwerk, zu beschäftigen, und dass der Grund, warum bestimmte Gegenstände uns zu bewegen vermögen, jenseits der Grenzen der Ästhetik liegt.19 Wäre dies so, gäbe es wenig Interessantes, mit dem man sich beschäftigen könnte. Mir scheint, dass der Grund für unser unmittelbares Erkennen der »signifikanten Form« den Kern des ästhetischen Problems bildet; und Bell selbst hat uns mehrere Hinweise gegeben, wo eine Lösung zu suchen wäre, obgleich seine vollkommen berechtigte Scheu vor heuristischen Kunsttheorien ihn davon abhält, seinen eigenen Beobachtungen zu folgen. Im Lichte der Musiktheorie, die im Begriff der »signifikanten Form« kulminiert, sind die Hinweise in seiner Kunsttheorie vielleicht doch hinreichend. »Stellen wir nicht«, fragt er (um sich dann noch vor dem Ende des Absatzes schnell gegen jede philosophische Fest­legung zu verwahren), »ehe uns Formverbindungen ästhetisch erregen, ihre Richtigkeit und Notwendigkeit verstandesgemäß fest? Wenn wir das tun, so erklärt das die Tatsache, daß wir bei flüchtiger Betrachtung wohl erkennen, ob ein Bild gut ist, obgleich wir nicht sagen können, daß es ein starkes Gefühl in uns wachgerufen hätte. Wir scheinen die Richtigkeit der Formen intellektuell zu erfassen, ohne mit unserer Aufmerksamkeit zu verweilen und ihre emotionelle Bedeutung aufzunehmen. Stimmt das, so wäre es erlaubt, zu fragen, ob es die Formen selbst sind oder die Erkenntnis ihrer Notwendigkeit und Richtigkeit, die das ästhetische Gefühl verursachen.«20   Clive Bell, Kunst, Dresden 1922, S. 17 f.   Ebd., S. 21. 20  Ebd., S. 27. 18 19



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»Richtigkeit und Notwendigkeit« sind zweifellos philosophisch folgenreiche Eigenschaften, und sie wahrzunehmen ist sicherlich ein aufschlussreicheres Ereignis als das Konstatieren eines unerklärlichen Gefühls. Zu erkennen, dass etwas richtig und notwendig ist, ist ein rationaler Akt, gleichgültig wie spontan und unmittelbar diese Erkenntnis sich einstellt. Sie verweist darauf, dass in einem künstlerischen Urteil ein intellektuelles Prinzip am Werk ist und dass das Gefühl, das Bell als »das ästhetische Gefühl« bezeichnet, ein rationales Fundament hat. Dieses Gefühl ist, wie ich meine, die Folge einer künstlerischen Wahrnehmung, wie er in dem oben zitierten Abschnitt behauptet, es ist eine persönliche Reaktion auf die Entdeckung von »Richtigkeit und Notwendigkeit« in den sinnlichen Formen, die es ausgelöst haben. Wann immer wir es erleben, befinden wir uns in der Gegenwart von Kunst, d. h. einer »signifikanten Form«. Er selbst hat es als die Erfahrung identifiziert, die sowohl in der Wertschätzung von Kunst als auch im reinen musikalischen Hören vorliegt, auch wenn er dieses Gefühl, wie er zugibt, selten in der Musik erlangt hat. Aber wenn sie den bildenden und tonalen Künsten gemeinsam ist und wenn sie tatsächlich den künstlerischen Wert ihres Gegenstands bezeugt, dann ist dies eine weitere Stütze der Theorie, dass die signifikante Form die Essenz aller Kunst ist. Das ist jedoch schon alles, was das Gefühl uns zu bieten hat. Bells Behauptung, jede Theorie der Kunst müsse mit der Betrachtung des »ästhetischen Gefühls« beginnen und die Ästhetik habe tatsächlich kein anderes Geschäft, 21 scheint mir ganz und gar falsch zu sein. Sich auf seinen Gemütszustand im Angesicht eines Kunstwerks zu konzentrieren, fördert nicht das Verständnis des Werkes und seines Werts. Die Frage, wodurch das Gefühl zustande kommt, ist gerade die Frage danach, was das Objekt zu einem künstlerischen macht; und das ist, so wie ich es sehe, genau der Punkt, an dem die philosophische Kunsttheorie überhaupt anfängt. 21

  Ebd., S. 21.

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Teil I  ·  Das Kunstsymbol

Dieselbe Kritik lässt sich an allen Theorien üben, an deren Anfang eine Analyse der »ästhetischen Einstellung« steht; sie gelangen nicht über sie hinaus. Schopenhauer, der hauptsächlich für die Vorstellung verantwortlich ist, ein vollkommen wunschloser Zustand reinen, sinnlichen Urteilens sei die richtige Einstellung Kunstwerken gegenüber, baute sein System nicht darauf auf, es war vielmehr eine Folge daraus. Warum ist sie dann, vor allem in jüngster Zeit, so beharrlich als das Hauptmerkmal der künstlerischen Erfahrung behandelt worden? Möglicherweise geschah dies unter dem Druck der psychologistischen Strömungen, die zumindest in den letzten fünfzig Jahren alle philosophischen Probleme der Kunst in die Grenzen des Behaviorismus und Pragmatismus zu zwängen versucht haben, in denen sie aber weder eine Entwicklung erfahren noch einer Lösung zugeführt werden. Vielmehr werden sie den vagen Gebieten des »Werts« und des »Interesses« zugewiesen, bloß dass auf diesen bislang nichts von großem Wert oder Interesse getan worden ist. Es wurde erklärt, warum es überhaupt Kunst gibt, und eingeräumt, dass sie von Wert ist, aber das ist es dann auch. Die Fragen, die den Ästhetiker wirklich umtreiben – z. B. die genaue Natur und der Grad der Wechselbeziehung zwischen den Künsten, die Bedeutung von »wesentlich« und »unwesentlich«, das Problem der Übersetzbarkeit oder Übertragbarkeit künstlerischer Ideen –, können in einem psychologistischen Kontext entweder gar nicht auftauchen oder werden ohne wirkliche Untersuchung allein aufgrund einer allgemeinen Prämisse beantwortet, unter die sie zu fallen scheinen. Die Grundhaltung der modernen Philosophie, insbesondere in Amerika, kommt einer ernsthaften Spekulation über die Bedeutung, Schwierigkeit und Ernsthaftigkeit von Kunstwerken in keiner Weise entgegen. Doch die pragmatische Perspektive mit ihrer Verbindung zur Naturwissenschaft hält uns so sehr in ihrem Bann, dass keine akademische Diskussion sich der Anziehungskraft und Ausrichtung ihrer Begriffe zu entziehen vermag; jede Lehre, die sich den Anschein von Respektabilität geben will, muss von ihrem fundamentalen Psychologismus ausgehen.



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Das Losungswort dieser anerkannten Lehre lautet »Erfahrung«. Wenn führende Philosophen eine Reihe von Aufsätzen mit solchen Titeln wie Freiheit und Erfahrung22 veröffentlichen oder ihren systematischen Diskurs von Erfahrung und Natur23 handeln lassen, so dass uns auch in ihrer Ästhetik Die ästheti­ sche Erfahrung24 und Kunst als Erfahrung vorgelegt wird, dann ist es nur natürlich, wenn Künstler, die philosophische Amateure sind, ihr Thema im selben Tenor zu behandeln suchen und schreiben: Amerikanische Gemälde erfahren25 oder: Tanz. Eine kreative Kunsterfahrung.26 Diese Schriftsteller, die mehr oder weniger auf der Suche nach Grundsätzen der theoretischen Analyse sind, übernehmen so weit wie möglich die gegenwärtige Terminologie und verpflichten sich damit auf die herrschende Denkmode. Da diese Mode sich unter der Schirmherrschaft der Naturwissenschaft etabliert hat, führt sie nicht nur die großen Ideale des Empirismus mit sich, nämlich Beobachtung, Analyse und Überprüfung, sondern auch gewisse liebgewonnene Hypothesen, die aber von den am wenigsten vollkommenen und erfolgreichen Wissenschaften stammen: der Psychologie und der Soziologie. Die oberste Annahme, von der sich das gesamte Vorgehen der pragmatischen Philosophie leiten lässt, lautet, dass sämtliche menschlichen Interessen direkt oder mittelbar Bekundungen von »Trieben« sind, die unseren tierischen Bedürfnissen entspringen. Durch die Prämisse wird die Klasse der anerkannten menschlichen Interessen auf jene beschränkt, die sich auf die eine oder andere Weise im Rahmen der Tierpsychologie deuten lassen. Tatsächlich ist ein erstaunlich großer Teil menschlichen Verhaltens mühelos so zu deuten; und bislang haben Pragma  Sidney Hook u. Milton R. Konvitz (Hg.), Freedom and Experience. Essays in Honor of Horace M. Kallen, New York 1947. 23  John Dewey, Experience and Nature, Chicago 1925. 24  Laurence Buermeyer, The Aesthetic Experience, Merion 1924. 25  Ralph M. Pearson, Experiencing American Pictures, New York 1943. 26  Margaret H’Doubler, Dance – A Creative Art Experience, New York 1949. 22

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tisten noch nicht eingeräumt, dass es einen Punkt gibt, an dem das Prinzip klarerweise scheitert und seine Anwendung unsere empirischen Befunde widerlegt. Die genetische Prämisse wirkt sich auf die Kunsttheorie dahingehend aus, dass ästhetische Werte entweder als unmittelbare Befriedigungen, d. h. als Lusterlebnisse, zu betrachten sind oder instrumentellen Wert haben, also Mittel zur Erfüllung biologischer Bedürfnisse sind. Kunst ist entweder ein Freizeitinteresse wie Sport und Hobbys, oder sie ist als gesellschaftlicher Kitt von Wert – weil sie die Moral stärkt, soziale Gruppen integriert oder gefährlichen unterdrückten Gefühlen in einer harmlosen Katharsis Luft verschafft. In beiden Fällen unterscheidet sich die künstlerische Erfahrung nicht wesentlich von der gewöhnlichen körperlichen, praktischen und sozialen Erfahrung.27   »Fasst man alle genannten Kräfte zusammen, so bewirken auch die Bedingungen, die zu der in der modernen Gesellschaft allgemein bestehenden Kluft zwischen Hersteller und Verbraucher führen, eine weitgehende Trennung zwischen der gewöhnlichen und der ästhetischen Erfahrung. Als Beweis für diese Kluft haben wir schließlich jene Theorien als selbstverständlich angenommen, die die Kunst in einem ansonsten gänzlich unbewohnten Gebiet ansiedeln, und die über jedes vernünftige Maß hinaus den rein kontemplativen Charakter des Ästhetischen betonen.« (John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980, S. 17) Ebenso Ivor A. Richards: »Wenn wir ein Bild betrachten oder ein Gedicht lesen oder Musik hören, dann tun wir nicht etwas völlig anderes als das, was wir auf unserem Weg zur Galerie oder beim morgendlichen Anziehen taten. Die Art und Weise, in der die Erfahrung in uns evoziert wird, ist verschieden. Sie ist in der Regel komplexer und, wenn wir erfolgreich sind, einheitlicher. Aber unsere Aktivität ist nicht von fundamental anderer Art.« (Prinzipien der Literaturkritik, Frankfurt a. M. 1985, S. 54 f.) Laurence Buermeyer schließt sich dieser Darlegung des künstlerischen Ausdrucks mit der Erklärung an: »Das bedeutet nun, um es noch einmal zu sagen, nicht, dass das, was der Künstler zu sagen hat, sich der Art nach von dem unterscheidet, was im wirklichen Leben zu sagen ist, oder dass das Reich der Kunst in irgendeiner wesentlichen 27



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Der wahre Kunstkenner spürt aber sofort, dass uns ihr Wesen entgeht, eben das, was Kunst genauso wichtig macht wie Wissenschaft und sogar Religion und sie dennoch als eine eigenständige, kreative Funktion eines spezifisch menschlichen Geistes auszeichnet, wenn wir große Kunst als Quelle von Erfahrungen behandeln, die sich im Wesentlichen nicht von alltäglichen Erfahrungen unterscheiden – als Stimulus für aktive Gefühle und vielleicht als Kommunikationsmittel zwischen Individuen oder Gruppen, das ihre wechselseitige Wertschätzung fördert. Fühlt er sich dann von der vorherrschenden akademischen Schule gezwungen, seine Erfahrung, Einstellung, Reaktion oder seinen Genuss zu analysieren, bleibt ihm nur der Hinweis darauf, dass die ästhetische Erfahrung von jeder anderen verschieden ist, dass die Einstellung zu Kunstwerken eine sehr spezielle ist, dass die charakteristische Reaktion in einem eigenständigen Gefühl besteht, das mehr ist als gewöhnlicher Genuss – dass es nichts mit der Lust oder Unlust zu tun hat, die von der aktuellen Umgebung ausgelöst wird und daher durch sie eher gestört wird als in die gegenwärtige Szene eingebunden. Diese Überzeugung entspringt keiner sentimentalen Sorge um das Ansehen und die Würde der Künste, wie Dewey nahelegt;28 sie folgt vielmehr aus dem Umstand, dass Menschen, deren Kunstbegeisterung spontan und ausgeprägt ist – ob sie sich auf Malerei, Musik, Theater oder was auch immer richtet – und die von einer psychologistischen Mode veranlasst werden, über ihre Einstellung gegenüber den von ihnen geschätzten Hinsicht vom Reich der Wirklichkeit getrennt ist.« (The Aesthetic Ex­ perience, a. a. O., S. 79) 28  Während er über die Trennung von Kunst und Leben spricht und darüber, dass »viele Theoretiker und Kritiker sich rühmen, diese Trennung aufrechtzuerhalten oder gar zu vertiefen«, schreibt er dies dem Bestreben zu, die Kunst als etwas »Geistiges« zu bewahren, und erklärt dies so: »Das ›Geistige‹ und ›Ideelle‹ ist für viele mit der Aura eines Gemisches aus Ehrfurcht und Unwirklichkeit umgeben, während im Gegensatz dazu ›Materie‹ zum Inbegriff der Verachtung geworden ist – zu etwas, das man wegdiskutieren oder für das man sich entschuldigen muß.« (John Dewey, Kunst als Erfahrung, a. a. O., S. 6)

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Werken nachzudenken, entdecken, dass diese mit der Einstellung zu einem neuen Auto, einem geliebten Wesen oder einem herrlichen Morgen überhaupt nicht vergleichbar ist. Sie haben ein anderes Gefühl, und sie fühlen es auf eine andere Weise. Da Kunst als eine besondere Art von »Erfahrung« gilt, die all denjenigen versperrt ist, die sich nicht in die richtige Geistesverfassung versetzen können, hat sich die »ästhetische Einstellung« unter den Besuchern von Kunstgalerie und Konzerthalle zu einem wahren Kult ausgewachsen. Doch die ästhetische Einstellung, von der behauptet wird, sie rufe die Kunsterfahrung in der Gegenwart geeigneter Objekte hervor – was die Objekte zu geeigneten macht, scheint ein kleineres Problem zu sein, das die »Wissenschaft« mit der Zeit schon beantworten wird –, ist schwer zu erreichen, noch schwerer aufrechtzuerhalten und selten vollkommen. H. S. Langfeld, der ein ganzes Buch darüber schrieb, beschreibt sie als eine Einstellung, »die von den meisten Individuen kultiviert werden muss, wenn sie inmitten der widerstrebenden und damit störenden Einflüsse, an denen es nie fehlt, überhaupt existieren soll«29. Und David Prall bemerkt in seinem hervorragenden Buch Aesthetic Analysis: »Selbst ein junger Musikbegeisterter wird in einem Konzert seiner Lieblingsmusik ein wenig Aufmerksamkeit für die Bequemlichkeit seines Körpers und seiner Haltung übrig haben, ein vages Bewusstsein, wo die Ausgänge sind, und der Grad dieser Aufmerksamkeit wird schnell größer, wenn die Bewegungen seiner Nachbarn seine Bequemlichkeit stören oder wenn zufällige Geräusche von irgendwoher sein Ohr erreichen, sei es dass sie auf Feuer hinweisen oder auf einen weniger dramatischen Anlass, etwas zu unternehmen. Vollständige ästhetische Versunkenheit, auf einen einzigen Gegenstand beschränkt, kommt zumindest selten vor; die Welt als ausschließlich ästhetische Oberfläche ist wenn überhaupt nur selten der einzige Gegenstand unserer Aufmerksamkeit.«30 29

  Herbert S. Langfeld, The Aesthetic Attitude, New York 1920, S. 65.   David W. Prall, Aesthetic Analysis, New York 1936, S. 7 f.

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Nur wenige Zuhörer oder Zuschauer erreichen je vollkommen den Zustand, den Roger Fry in Vision and Design als »interesselose Intensität der Kontemplation«31 bezeichnet hat – den einzigen Zustand, in dem man ein Kunstwerk wirklich wahrnimmt und die Erfahrung des ästhetischen Gefühls macht. Die meisten Menschen sind zu beschäftigt oder zu träge, um ihren Geist von all ihren gewöhnlichen Interessen abzuziehen, bevor sie ein Bild oder eine Vase betrachten. Damit soll auch eine Bemerkung erklärt sein, die er zuvor in demselben Aufsatz gemacht hat: »In dem Maße, wie die Kunst reiner wird, nimmt auch die Zahl der Menschen ab, die sie anspricht. Sie entledigt sich all der romantischen Obertöne, durch die sich die Menschen für gewöhnlich dazu verlocken lassen, ein Kunstwerk gelten zu lassen. Es appelliert bloß an die ästhetische Sensibilität, und die ist in den meisten Menschen verhältnismäßig schwach ausgebildet.«32 Wenn jede echte Kunsterfahrung tatsächlich auf solch einer raffinierten, seltenen und künstlichen Einstellung beruht, ist es fast schon ein Wunder, dass die Welt überhaupt Kunstwerke als Schätze der Menschheit anerkennt. Und dass alle primitiven Völker, angefangen von den Höhlenbewohnern von Altamira bis zu den frühen Griechen, ganz unmissverständlich gewusst haben sollen, was schön ist, wird zu einer schieren Absurdität. So viel lässt sich zumindest zugunsten der Pragmatisten sagen: Sie erkennen an, dass das Kunstinteresse etwas Natürliches und Robustes ist, kein anfälliges Treibhauspflänzchen, das den Hochkultivierten und Eingeweihten vorbehalten ist. Doch der kleine Kreis möglicher menschlicher Interessen, den ihre biologischen Voraussetzungen zulassen, macht die Pragmatisten blind für die Tatsache, dass eine sehr spontane, ja ursprüngliche Tätigkeit möglicherweise dennoch eine Eigentümlichkeit des Menschen ist und eine intensive eigenständige Untersuchung erfordert, bevor erkennbar wird, in welchen Be31

  Roger Fry, Vision and Design, London 1925, S. 29.   Ebd., S. 15.

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ziehungen sie zu unserem übrigen Verhalten steht. Zu behaupten, wie I. A. Richards es tut, dass, wenn wir mehr über das Nervensystem und seine Reaktionen auf »bestimmte Stimuli« (man beachte, dass »bestimmt«, angewendet auf hypothetische Gegebenheiten, »unbestimmt« bedeutet, da diese nicht genau benannt werden können) wüssten, die »unvorhersehbaren und wunderbaren Veränderungen in der Gesamtreaktion, die geringe Verschiebungen in der Anordnung der Stimuli herbeiführen, demnach als Ausdruck der Sensibilität des Nervensystems vollständig erklärt werden« können und damit »die Geheimnisse der ›Formen‹ lediglich eine Folge unserer Unkenntnis der Einzelheiten seines Funktionierens« sind, 33 ist nicht bloß ein absurder Anspruch (denn woher wissen wir, welche Tatsachen wir entdecken würden und was aus ihnen folgte, bevor wir sie entdeckt haben?), sondern auch eine leere Hypothese, da wir nicht einmal die elementarsten Erfolge vorzuweisen haben, die uns die Richtung weisen würden, in die sich eine neurologische Ästhetik entwickeln könnte. Verfügten über wir einen theoretischen Ansatz, wäre es vorstellbar, dasselbe Verfahren auf die künstlerische Erfahrung auszuweiten, um diese als konditionierte Reflexe, elementare Impulse oder möglicherweise zerebrale Schwingungen zu beschreiben. Bislang aber haben die von Galvanometern und Enzephalographen gelieferten Daten sich nicht auf künstlerische Probleme erstreckt, nicht einmal so weit, dass der einfache und offensichtliche Unterschied in der Wirkung einer Dur- und der parallelen Moll-Tonleiter erklärbar würde. Die Behauptung, dass die Tatsachen, würden wir sie kennen, sich so und so herausstellen würden, ist nichts als ein naiver, pseudowissenschaftlicher Glaubensartikel. Der von der allgemeinen empiristischen Tendenz in der Philosophie diktierte psychologische Ansatz hat uns nicht in die Nähe eines echten Problems der Kunst gebracht. Statt die »geringen Verschiebungen der Stimuli« zu untersuchen, die »unvorhersehbare und wunderbare Veränderungen« in den Reak33

 Richards, Prinzipien der Literaturkritik, a. a. O., S. 215.



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tionen unserer Nerven hervorrufen, täten wir besser daran, das Kunstobjekt sui generis zu betrachten und seine Eigenschaften als solche, die von unseren vorbereiteten Reaktionen unabhängig sind – als Eigenschaften, die unsere Reaktionen allererst herausfordern und Kunst zu dem eigenständigen, essentiellen Element machen, das sie in jeder menschlichen Kultur ist. Der Begriff der signifikanten Form als eines artikulierten Gefühlsausdrucks, der die unsagbaren und daher unbekannten Formen des Empfindens spiegelt, bietet sich zumindest als Ausgangspunkt solcher Untersuchungen an. Jede Artikulation ist schwierig, anspruchsvoll und geistreich; für das Verfertigen eines Symbols ist Handwerkskunst ebenso nötig wie für das Herstellen einer praktischen Schale oder eines gut funktionierenden Paddels, und die Techniken des Ausdrucks sind sogar noch wichtigere gesellschaftliche Traditionen als die Fähigkeiten zur Selbsterhaltung. Diese wird ein intelligentes Wesen, auch wenn es auf sich gestellt ist, schon entwickeln, jedenfalls soweit, dass es einer gegebenen Situation gewachsen ist. Die grundlegende Technik des Ausdrucks – die Sprache – muss jedoch jeder von uns durch Beispiel und Praxis lernen, d. h. durch bewusste oder unbewusste Ausbildung.34 Menschen, deren Sprachübung sehr oberflächlich war, sind weniger sensibel für den genauen und passenden Ausdruck einer Idee als solche, die sich in kultivierteren Formen bewegen; dies betrifft nicht nur arbiträre Verwendungsregeln, sondern auch die logische Richtigkeit und Notwendigkeit des Ausdrucks, um zu sagen, was man meint, und nicht etwas anderes. Ich denke, auch das Verfertigen einer expressiven Form ist auf ganz ähnliche Weise eine Kunstfertigkeit. Die normale Entwicklung der Kunst ist daher eng mit praktischen Fertigkeiten verbunden – mit Bauen, Töpfern, Weben, Schnitzen und magischen Praktiken, von deren Wichtigkeit das durchschnittliche zivilisierte Individuum nichts mehr weiß.35 Daher  Vgl. Neue Tonart, Kap. 5, »Die Sprache«.   Vermutlich aber war ein allgegenwärtiges magisches Interesse das natürliche Band zwischen praktischer Tauglichkeit und Expressi34 35

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Teil I  ·  Das Kunstsymbol

ist auch die Sensibilität für die Richtigkeit und Notwendigkeit bildlicher oder musikalischer Formen bei Individuen mit einer gewissen künstlerischen Ausbildung ausgeprägter und treffsicherer als bei denjenigen, die nur eine flüchtige Bekanntschaft mit den Künsten gemacht haben. Technik ist ein Mittel, um expressive Formen zu schaffen, das Symbol des Empfindens; der Prozess der Kunst ist die Anwendung einer menschlichen Fertigkeit zu diesem wichtigen Zweck. An dieser Stelle werde ich so kühn sein, eine Definition der Kunst anzubieten, die helfen soll, ein »Kunstwerk« von allem anderen in der Welt zu unterscheiden und zugleich zu zeigen, warum und wie ein nützliches Objekt auch ein Kunstwerk sein kann und wie ein Werk der sogenannten »reinen« Kunst seinen Zweck unter Umständen verfehlt und einfach schlecht ist, so wie ein Schuh, den man nicht tragen kann, einfach schlecht ist, weil er seinen Zweck nicht erfüllt. Außerdem soll sie die Beziehung zwischen Kunst und körperlicher Fertigkeit begründen bzw. zwischen Herstellen einerseits und Gefühl und Ausdruck andererseits. Hier ist die vorläufige Definition, auf der die nachfolgenden Kapitel auf bauen: Kunst ist das Erschaffen von Formen, die menschliches Fühlen symbolisieren. Das Wort »Erschaffen« wird hier im vollen Bewusstsein seines problematischen Charakters eingeführt. Es gibt einen klaren Grund, warum wir sagen, ein Handwerker stellt Güter her, aber erschafft etwas Schönes; ein Baumeister errichtet ein Haus, aber erschafft ein Bauwerk, sofern das Haus, wie bescheiden auch immer, wirklich ein Werk der Architektur ist. Ein Artefakt als solches ist lediglich eine Verbindung von materiellen Teilen oder die Veränderung eines natürlichen Objekts, um menschlichen Zwecken zu dienen. Es ist nichts Erschaffenes, sondern eine Anordnung gegebener Faktoren. Ein Kunstwerk hingegen ist mehr als eine »Anordnung« gegebener Dinge, handele es sich dabei auch um qualitative Dinge. Aus der Anordnung von vität in primitiven Artefakten. Vgl. Neue Tonart, Kap. 9, »Die Genesis des künstlerischen Sinngehalts«.



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Tönen oder Farben entsteht etwas, das zuvor nicht da war, und dieses, nicht das angeordnete Material, ist das Symbol des Empfindens. Das Verfertigen dieser expressiven Form ist der schöpferische Prozess, der die höchste technische Fertigkeit eines Menschen in den Dienst seines höchsten konzeptuellen Vermögens, seiner Einbildungskraft, stellt. Nicht die Erfindung neuer, origineller Wendungen noch das Aufgreifen neuer Themen verdient das Wort »schöpferisch«, sondern das Verfertigen eines für das Gefühl symbolischen Werks, mag dies auch in einem ganz kanonischen Kontext oder auf ganz kanonische Weise geschehen. Alle Mittel und Konventionen des Werks mögen schon tausendfach verwendet worden sein. Eine griechische Vase ist nahezu immer eine Schöpfung, obwohl ihre Form ganz traditionell ist und ihre Verzierung kaum von der ihrer zahllosen Vorgänger abweicht. Dennoch war das schöpferische Prinzip vermutlich seit der ersten Drehung der Töpferscheibe am Werk. Nur wenn wir dieses Prinzip für jede eigenständige Sparte der Kunst erläutern und ausführen, lässt sich die Definition begründen, die ja in Wahrheit eine philosophische Theorie der Kunst im Kleinen ist.

TEIL II Die Herstellung des Symbols

4. Kapitel Schein Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass Menschen, die ihr ganzes Leben in engster Berührung mit den Künsten verbringen – Künstler, für die eine Würdigung des Schönen zweifellos eine anhaltende, »unmittelbare« Erfahrung ist –, eine ästhetische Einstellung weder voraussetzen noch kultivieren. Für sie ist der künstlerische Wert eines Werkes dessen offensichtlichste Eigenschaft. Sie nehmen ihn ganz natürlich und ständig wahr; sie müssen dazu nicht erst die übrige Welt aus ihrem Bewusstsein ausschließen. Im Hintergrund nehmen sie vermutlich durchaus ihre Umwelt wahr, wie es jeder tut, der in ein interessantes Gespräch vertieft ist oder sich von Geschehnissen gefangen nehmen lässt. Nur wenn diese so aufdringlich wird, dass sie nicht mehr zu ignorieren ist, können sie unter Umständen ziemlich ungehalten werden. Normalerweise ist der Reiz des Objektes jedoch größer als die Ablenkungen, die mit ihm konkurrieren. Nicht der Rezipient sperrt seine Umgebung aus, es ist vielmehr das Kunstwerk, das, sofern es gelungen ist, sich von der übrigen Welt loslöst; der Rezipient nimmt es bloß so wahr, wie es sich ihm präsentiert. Jedes wirkliche Kunstwerk neigt dazu, von seiner profanen Umgebung losgelöst zu erscheinen. Der unmittelbarste Eindruck, den es vermittelt, ist der einer »Andersheit« zur Wirklichkeit – es erweckt den Eindruck einer Illusion, die Gegenstand, Handlung, Aussage oder Klangfluss einhüllen, die das Werk ausmachen. Selbst wenn das Element der Repräsentation fehlt, wenn nichts nachgeahmt oder vorgespiegelt wird – etwa bei einem schönen Stoff, einem Krug, einem Gebäude, einer Sonate –, ist dieser Schein von Illusion, von reiner Bildhaftigkeit, nicht weniger stark gegeben als im Falle eines täuschend realistischen Bildes oder einer ganz und gar glaubwürdigen

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Teil II  ·  Die Herstellung des Symbols

Erzählung. Wo der Kenner der fraglichen Kunst unmittelbar eine »Richtigkeit und Notwendigkeit« der Formen wahrnimmt, nimmt der ungeschulte, aber sensible Betrachter nur einen eigenartigen Anschein von »Andersheit« wahr, der je nachdem als »Fremdheit« »Schein«, »Illusion«, »Transparenz« »Autonomie« oder »Selbstgenügsamkeit« beschrieben worden ist. Diese Losgelöstheit von der Wirklichkeit, die »Andersheit«, die selbst einem alltäglichem Gegenstand wie einem Gebäude oder einer Vase eine gewisse Aura der Illusion verleiht, ist ein entscheidender Faktor, der auf das Wesen der Kunst weist. Weder dem Zufall noch einer Laune ist es zuzuschreiben, dass Ästhetiker sich immer wieder mit ihr auseinandersetzen – und in einer psychologistisch denkenden Zeit suchen sie die Erklärung in einer Geistesverfassung. Im Element der »Unwirklichkeit«, das sie abwechselnd beunruhigt und entzückt hat, liegt der Schlüssel zu einem sehr tiefen und wesentlichen Problem: dem der Kreativität. Was wird in einem Kunstwerk »erschaffen«? Mehr als den Leuten im Allgemeinen bewusst ist, wenn sie von »kreativ sein« sprechen oder die Charaktere in einem Roman als »Geschöpfe« des Autors bezeichnen. Mehr als eine reizvolle Verbindung sinnlicher Elemente; und weitaus mehr als irgendeine Reflexion oder »Deutung« der Objekte, Personen, Ereignisse – also jener Erfindungen, die Künstler in ihrem schöpferischen Werk verwenden und die einige Ästhetiker dazu veranlasst haben, ein solches Werk als eine »Nach-schöpfung« zu bezeichnen und nicht als eine genuine Schöpfung. Zudem ist ein Gemälde weder eine Person noch eine Blumenvase. Es ist ein Bild, das zum ersten Mal aus Dingen geschaffen wurde, die nicht der Phantasie entsprungen, sondern ganz realistisch sind – Leinwand oder Papier, Farben, Kohle oder Tinte. Für die naive Reflexion ist es ganz natürlich, sich zunächst einmal auf die Beziehung zwischen einem Bild und seinem Gegenstand zu konzentrieren, und nicht weniger natürlich erscheint es ihr, ein Bild, eine Skulptur oder eine lebhafte Beschreibung als Nachahmung der Wirklichkeit zu behandeln.



Kap.   4 · Schein

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Erstaunlich ist allerdings, dass noch lange, nachdem die Kunsttheorie das naive Stadium hinter sich gelassen und jeder ernsthafte Denker erkannt hatte, dass Nachahmung weder das Ziel noch der Maßstab des künstlerischen Schaffens ist, das Verhältnis des Bildes zu seinem Modell nicht seinen zentralen Platz unter den philosophischen Problemen der Kunst eingebüßt hat. In Gestalt der Frage nach Form und Inhalt, nach Deutung, Idealisierung, Glaube und Vortäuschung sowie Eindruck und Ausdruck ist es immer wieder aufgetaucht. Dabei lässt sich die Idee einer Nachahmung der Natur nicht einmal auf alle Künste anwenden. Was kopiert ein Bauwerk? Welcher Gegenstand ist die Vorlage für eine Melodie? Ein Problem, das nicht verschwindet, obwohl die Philosophen es für unmaßgeblich erklärt haben, erfüllt in der intellektuellen Welt immer noch die Aufgabe eines Störenfrieds. Seine Bedeutung übersteigt tatsächlich alle seine Formulierungen. So auch hier: Die philosophische Frage, die für gewöhnlich als die nach einem Bild und seinem Gegenstand begriffen wird, dreht sich im Grunde genommen um das Wesen der Bilder an sich und um ihre wesentliche Unterschiedenheit von Wirklichem. Der Unterschied ist in ihrer Funktion zu suchen, folglich nehmen reale Objekte, die auf eine Weise funktionieren, wie sie für Bilder üblich ist, unter Umständen einen rein bildhaften Charakter an. Aus diesem Grund mag Kunstwerken, die gar nichts darstellen, der Charakter der Illusion anhaften. Nicht die Nachahmung von etwas anderem macht die wesentliche Kraft der Bilder aus, obgleich sie sehr wichtig ist und das ganze Problem des Realen und Fiktiven ursprünglich ihretwegen in den Gesichtskreis des philosophischen Denkens getreten ist. Die wahre Kraft des Bildes liegt jedoch in dem Umstand begründet, dass es eine Abstraktion ist, ein Symbol, der Träger einer Idee. Wie ist es möglich, dass ein Kunstwerk, das nichts darstellt – ein Bauwerk, ein Krug, ein gemusterter Stoff – als Bild bezeichnet wird? Es wird zu einem Bild, wenn es sich unserem Auge rein darbietet, d. h. als bloß visuelle Form und nicht als Gegenstand, der mit einem bestimmten Ort oder einer Praxis

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Teil II  ·  Die Herstellung des Symbols

verbunden ist. Sofern wir es als ein rein visuelles Ding betrachten, abstrahieren wir seine Erscheinung von seiner materiellen Existenz. Das, was wir auf diese Weise wahrnehmen, wird zu einem Seh-Ding – zu einer Form, einem Bild. Es löst sich selbst von seiner aktuellen Umgebung ab und tritt in einen anderen Zusammenhang ein. Ein Bild in diesem Sinn, nämlich etwas, das nur für die Wahrnehmung existiert, abstrahiert von der physischen und kausalen Ordnung, ist eine Schöpfung des Künstlers. Das auf einer Leinwand präsentierte Bild ist unter all den anderen Gegenständen im Atelier nicht noch ein »neuer« Gegenstand. Die Leinwand war bereits da und ebenso die Farben; der Maler hat ihnen nichts hinzugefügt. Einige hervorragende Kunstkritiker und auch Maler selbst sprechen davon, dass der Künstler Formen und Farben »arrangiert«, und betrachten das daraus hervorgegangene Werk in erster Linie als »Arrangement«. Whistler scheint über seine Gemälde in diesen Begriffen gedacht zu haben. Doch selbst die Formen gehören als Phänomene nicht der Ordnung der tatsächlichen Gegenstände an, wie es etwa Fle­ cken auf einem Tischtuch tun; die Formen in einer Zeichnung haben – wie abstrakt diese auch sein mag – ein Leben, das bloßen Flecken nicht eigen ist. Es entsteht etwas durch den Vorgang der Anordnung von Farben auf einer Oberfläche, etwas, das erschaffen worden ist und nicht einfach nur versammelt und in eine neue Ordnung gebracht: Eben das ist das Bild. Es entspringt plötzlich der Verteilung der Farbpigmente, und mit seinem Auftreten scheint die Existenz der Leinwand und der auf ihr angeordneten Farbe zu verschwinden; es fällt dann schwer, diese realen Objekte für sich genommen zu betrachten. Eine neue Erscheinung hat ihr natürliches Sein verdrängt. Ein Bild ist in der Tat ein rein virtueller »Gegenstand«. Seine Bedeutung liegt darin, dass wir ihn nicht dazu verwenden, auf etwas Reales und Praktisches hinzuweisen, sondern ihn als ein in sich geschlossenes Gebilde zu behandeln, das nur visuelle Merkmale und Beziehungen aufweist. Er hat nicht anderes außer sich, seine Seinsweise erschöpft sich in seiner Visualität.



Kap.   4 · Schein

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Die bemerkenswertesten virtuellen Objekte in der Natur sind optischer Art – eindeutig bestimmte sichtbare »Dinge«, die sich nicht berühren lassen, wie etwa Regenbogen und Luftspiegelungen. Viele halten daher ein Bild oder eine Illusion für etwas notwendig Visuelles. Diese begriffliche Einschränkung hat sogar einige Literaturkritiker, die den wesentlich bildhaften Charakter der Dichtung erkannt haben, zu der Annahme verleitet, dass Dichter vor allem Augenmenschen sein müssen, und zu dem Urteil kommen lassen, dass Redefiguren, die keine visuellen Bilder herauf beschwören, nicht wirklich poetisch seien.36 Mit einer Konsequenz, die schon ans Heroische grenzt, meint F. C. Prescott, »Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang« sei unpoetisch, weil es nichts Visuelles andeute.37 Aber das poetische Bild ist in Wahrheit überhaupt nicht das Bild eines Malers. Was genau der beträchtliche und weitreichende Unterschied ist, wird in den nachfolgenden Kapiteln erörtert. Im Augenblick ist allein die weite Bedeutung von »Bild« von Belang, diejenige, die den genuin künstlerischen Charakter der nicht-visuellen Künste erklärt, ohne auf Wortmalerei oder andere Ersatzformen für die Verteilung von Pigmenten auf einer Fläche Bezug zu nehmen, um die Leute Bilder sehen zu lassen. Das Wort »Bild« ist nahezu untrennbar mit dem Gesichtssinn verbunden, denn unser Paradebeispiel dafür ist die Spiegelwelt, die uns eine sichtbare Kopie der dem Spiegel gegenüberliegenden Gegenstände liefert, ohne dass sie für den Tastsinn oder einen anderen Sinn ähnliches produzierte. Doch einige andere Worte, die zur Bezeichnung des virtuellen Charakters sogenannter »ästhetischer Objekte« verwandt worden sind, verweigern sich dieser Assoziation. Carl Gustav Jung spricht zum Beispiel von »Schein«. Sein Musterbeispiel für eine Illusion ist nicht das reflektierte Bild, sondern der Traum. In einem Traum gibt es Geräusche, Gerüche, Gefühle, Ereignisse, Absichten,   Vgl. zum Beispiel Rémy de Gourmont, Le Problème du Style. Ques­ tions d’Art, de Littérature et de Grammaire, Paris 1902, insbesondere S. 47, wo der Autor erklärt, nur Augenmenschen könnten »schreiben«. 37  Frederick C. Prescott, The Poetic Mind, New York 1922, S. 49. 36

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Gefahren – alle möglichen unsichtbaren Elemente, aber auch Gesehenes, und nach dem Maßstab anerkannter Tatsachen ist all das gleichermaßen unwirklich. Träume bestehen nicht gänzlich aus Bildern, aber alles in ihnen Vorkommende ist imaginär. Die im Traum vernommene Musik kommt von einem virtuellen Klavier, gespielt von einem scheinbaren Musiker; die ganze Erfahrung ist ein Anschein von Ereignissen. Sie mag so lebhaft wie nur irgendetwas Reales sein, dennoch ist sie das, was Schiller »Schein« nennt. Schiller hat als erster Denker erkannt, was den »Schein« für die Kunst so wichtig macht: die Tatsache, dass er die Wahrnehmung – und damit auch das Vorstellungsvermögen – von allen praktischen Zwecken loslöst und den Geist bei der schieren Erscheinung der Dinge verweilen lässt. Die Funktion der künstlerischen Illusion ist nicht die »Vorspiegelung«, wie viele Philosophen und Psychologen annehmen, sondern das genaue Gegenteil. Es geht ihr um die Abkopplung von Überzeugungen, um die Betrachtung der Sinnesqualitäten jenseits ihrer üblichen Bedeutungen von »Hier ist dieser Stuhl«, »Das ist mein Telefon«, »Die Zahlen sollten zusammengerechnet den Kontostand ergeben« usw. Das Wissen, dass das vor uns Liegende in der Welt keine praktische Bedeutung hat, befähigt uns, seiner Erscheinung als solcher Aufmerksamkeit zu schenken. Alles führt sowohl einen Aspekt der Erscheinung als auch einen der kausalen Bedeutung mit sich. Selbst etwas so Unsinnliches wie eine Tatsache oder eine Möglichkeit erscheint dieser Person auf diese und einer anderen Personen auf jene Weise. Das ist ihr »Schein«, wodurch sie wahrscheinlich verschiedenen Dingen »ähnelt«, und wo der Schein benutzt wird, um das Urteil über ihre kausalen Eigenschaften zu täuschen, wird behauptet, er »verberge« ihre Natur. Wo wir wissen, dass ein »Gegenstand« ganz aus seinem Schein besteht, dass er, abgesehen von seiner Erscheinung, keine Geschlossenheit und Einheit aufweist – wie ein Regenbogen oder ein Schatten –, sprechen wir von einem bloß virtuellen Objekt oder einer Illusion. In diesem buchstäblichen Sinn ist ein Bild eine Illusion: Wir sehen ein Ge-



Kap.   4 · Schein

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sicht, eine Blume, ein Seestück oder eine Landschaft usw. und wissen, dass, würden wir unsere Hand danach ausstrecken, wir eine mit Farbe beschmierte Oberfläche berührten. Das Gesehene ist nur dem Gesichtssinn gegeben. Darin besteht der Hauptzweck der »Nachahmung« oder »gegenständ­ lichen« Malerei. Dem Blick etwas zu präsentieren, von dem wir wissen, dass es eine Illusion ist, ist eine geeignete – aber keineswegs notwendige – Weise, die sichtbaren Formen von ihrem üblichen Kontext zu abstrahieren. Unter normalen Umständen ist der Schein nicht irreführend; etwas ist, was es zu sein scheint. Doch selbst wo keine Täuschung vorliegt, kann es geschehen, dass ein Gegenstand – beispielsweise eine Vase oder ein Bauwerk – einen Sinn so ausschließlich in Beschlag nimmt, dass es allein diesem Sinn gegeben scheint und darüber alle seine anderen Eigenschaften irrelevant werden. Es ist ganz unverstellt da, aber es ist nur (zum Beispiel) wegen seines visuellen Charakters von Bedeutung. Wir sind dann geneigt, es als ein Gesicht zu akzeptieren. Die Konzentration auf die Erscheinung ist so hoch, dass man den Eindruck hat, reine Erscheinungen zu sehen, d. h. den Eindruck einer Illusion [siehe Abb. I].

Abb I.  Tonschüssel von Thorne N. Edwards

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Hierin liegt die »Unwirklichkeit« der Kunst, die selbst vollkommen reale Gegenstände wie Krüge, Gewebe und Tempel anfliegt. Ob wir es nun mit tatsächlichen Illusionen oder mit solchen durch künstlerisches Wollen entstandenen Quasiillusionen zu tun haben, was da in beiden Fällen vorgestellt wird, ist eben der von Schiller so genannte Schein, und unter den rauen, substantiellen Wirklichkeiten der natürlichen Welt ist der Schein ein seltsamer Gast. Seltsamkeit, Gesondertheit, Andersheit – man nenne es, wie man will – ist sein offensichtliches Schicksal. Der so hervorgehobene Schein eines Dinges ist dessen direkte ästhetische Qualität. Einigen bedeutenden Kunstkritikern zufolge versucht der Künstler genau das um seiner selbst willen zu deutlich zu machen. Doch die Betonung der Qualität oder der Essenz ist nur eine Stufe in der künstlerischen Konzeption. Es geht dabei um das Erschaffen eines verfeinerten Elements, das seinerseits dazu dient, etwas anderes zu erschaffen – das bildhafte Kunstwerk selbst. Diese Form nun ist das nicht-diskursive, artikulierte Symbol des Gefühls. Wir sind nun, wie ich meine, in der Lage, das klar zu formulieren, womit Clive Bell sich auf eine recht konfuse Weise in dem Abschnitt beschäftigt hat, in dem er die »signifikante Form« (die jedoch nicht die Bedeutung von irgendetwas ist) mit der ästhetischen Qualität gleichsetzt. Das Herausstellen der reinen Qualität oder des Scheins schafft eine neue Dimension, die von der uns vertrauten Welt getrennt ist. Darin besteht seine Aufgabe. In dieser Dimension werden sämtliche künstlerischen Formen konzipiert und vorgestellt. Da ihre Substanz Illusion oder Schein ist, sind sie vom Standpunkt der praktischen Wirklichkeit bloße Formen. Sie existieren nur für den Sinn oder die Vorstellungskraft, die sie wahrnimmt – gleich der Fata Morgana oder der komplizierten, unwahrscheinlichen Ereignisstruktur in unseren Träumen. Der Schein hat die Funktion, die Formen in rein qualitativen, unwirklichen Einzelfällen neu zu verkörpern, sie aus ihrer üblichen Verkörperung in realen Dingen freizusetzen, so dass sie als an sich seiende erkannt und im Interesse des letzten Ziels künstlerischen Schaffens frei kon-



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zipiert und komponiert werden: des Sinngehalts oder des logischen Ausdrucks. Daher sind alle Formen in der Kunst abstrahierte Formen: Ihr Inhalt ist nur Schein, reine Erscheinung, dessen Funktion es ist, auch sie zum Scheinen zu bringen – sie freier und ungehinderter erscheinen zu lassen, als es der Fall wäre, wenn sie im Kontext wirklicher Umstände und besorgter Interessen aufträten. In diesem grundlegenden Sinne ist alle Kunst abstrakt. Ihre bloße Substanz, ihre Qualität, die bar jeder praktischen Bedeutung ist, ist eine Abstraktion von der materiellen Existenz; und eine Exemplifizierung in diesem illusorischen oder quasi-illusorischen Medium sorgt dafür, dass die Formen der Dinge (nicht nur Gestalten, sondern logische Formen 38 , zum Beispiel die Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Graden der Wichtigkeit in Ereignissen oder zwischen unterschiedlichen Geschwindigkeiten in Bewegungen) sich selbst in abstracto präsentieren. Diese grundlegende Abstraktheit ist den meisten gegenständlichen Wandmalereien und realistischen Bühnenstücken, vorausgesetzt sie sind in ihrer Art gut, ebenso unvermeidlich eigen wie den bewussten Abstraktionen, die nur ganz entfernt etwas darstellen oder ganz und gar ungegenständliche Zeichnungen sind. Die abstrakte Form ist jedoch kein künstlerisches Ideal an sich. Es ist das Geschäft des Logikers, nicht das des Malers oder Dichters, die Abstraktion so weit wie möglich zu treiben und zur reinen Form in einem denkbar nüchternen begriff­lichen Medium zu gelangen. Formen in der Kunst werden nur abstrahiert, um dadurch offensichtlich in Erscheinung zu treten, und aus ihrer gewöhnlichen Verwendung werden sie nur herausgelöst, um in neuen Kontexten verwendet zu werden: um  In Prinzipien der Literaturkritik bemerkt I. A. Richards, wenn Leute von »logischer Form« reden, wüssten sie nicht, was sie damit genau meinen. Vielleicht weiß er es nicht, ich aber schon, und wenn ihm daran gelegen ist, es zu wissen, empfehle ich ihm meine elementare, aber gleichwohl systematische Erklärung im 1. Kapitel meines Buches Introduction to Symbolic Logic (New York 1937). 38

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als Symbole zu figurieren, um menschliches Fühlen auszudrücken. Ein künstlerisches Symbol ist weitaus komplexer als das, was wir gemeinhin für eine Form halten, denn es enthält sämtliche Beziehungen, in denen seine Elemente zueinander stehen, alle Ähnlichkeiten und Unterschiede der Qualität, nicht bloß geometrische oder andere uns vertraute Relationen. Aus eben diesem Grund gehen Qualitäten direkt in die Form selbst ein, nicht als ihr Inhalt, sondern als deren konstitutive Elemente. Unsere wissenschaftliche Konvention, mathematische Formen zu abstrahieren, in denen es keinerlei Qualität gibt, und sie auf die Erfahrung anzuwenden, macht aus qualitativen Faktoren immer einen »Inhalt«. Da wir uns in unserem akademischen Denken von der wissenschaftlichen Konvention bestimmen lassen, wird gemeinhin als selbstverständlich angenommen, dass wir auch zum Verständnis der Kunst die Form als Gegensatz zum qualitativen »Inhalt« betrachten sollen. Doch durch diese unkritische Annahme gerät die ganze Konzeption von Form und Inhalt in eine Schieflage, und die Analyse endet mit der verworrenen Behauptung, Kunst sei »geformter Inhalt«, Form und Inhalt seien eins.39 Die Lösung dieses Paradoxes ist darin zu suchen, dass ein Kunstwerk eine Struktur ist, dessen untereinander verbundene Elemente häufig Qualitäten darstellen oder auch Eigenschaften von Qualitäten, wie etwa ihre Intensitätsgrade. Diese Qualitäten gehen in die Form ein und sind dadurch genauso eins mit ihr wie die von ihnen und nur von ihnen aufgewiesenen Relationen. Von ihnen als von einem Inhalt zu sprechen, von dem sich die Form logisch abstrahieren lässt, ist Unsinn. Die Form besteht aus ihren eigentümlichen Relationen; und diese sind formale Elemente in der Struktur, keine Inhalte. Formen sind aber entweder leere Abstraktionen oder sie haben einen Inhalt, und künstlerische Formen haben einen sehr   Morris Weitz legt in seinem Buch Philosophy of the Arts eine erschöpfende Untersuchung der Form-Inhalt-Problematik vor, das die begriffliche Konfusion aufweist, auf der sie beruht (vgl. Morris Weitz, Philosophy of the Arts, Cambridge, Mass. 1950, Kapitel 3, S. 35–41). 39



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besonderen, nämliche ihre Bedeutsamkeit. Es handelt sich um logisch expressive oder signifikante Formen. Es sind Symbole zur Artikulation des Fühlens, und sie vermitteln das schwer fassbare und doch vertraute Muster des Empfindens. Als wesentlich symbolische Formen sind sie in einer anderen Dimension als physische Objekte angesiedelt. Sie fallen in dieselbe Kategorie wie die Sprache, wenngleich ihre logische Form eine andere ist, und wie Mythos und Traum, wenngleich sie nicht dieselbe Funktion haben. Darin liegt die »Fremdheit« oder »Andersheit« begründet, wie sie für ein künstlerisches Objekt charakteristisch ist. Die Form ist der Wahrnehmung unmittelbar gegeben, und dennoch geht sie über sich hinaus; sie ist Schein, aber dennoch scheint sie wirklichkeitsgesättigt. Wie die Rede, die physikalisch aus nichts als kleinen schwirrenden Tönen besteht, ist sie mit Bedeutung erfüllt, und ihre Bedeutung ist eine Wirklichkeit. Bei einem artikulierten Symbol durchzieht die symbolische Bedeutsamkeit die ganze Struktur, denn jede Artikulation dieser Struktur ist eine Artikulation der von ihr vermittelten Idee. Die Bedeutung (oder, richtiger bezogen auf ein nicht-diskursives Symbol, die vitale Bedeutsamkeit) ist der Inhalt der symbolischen Form, der sozusagen mit ihr der Wahrnehmung gegeben ist. 40 Als sei es ein Beleg für das symbolische Wesen der Kunst, ist ihre eigentümliche »Fremdheit« manchmal auch als »Durchsichtigkeit« bezeichnet worden. Genau diese Durchsichtigkeit verbirgt sich uns, wenn unser Interesse durch die Bedeutungen der nachgeahmten Objekte abgelenkt wird. Dann nimmt das Kunstwerk einen buchstäblichen Sinngehalt an und erweckt Gefühle, die den emotionalen Inhalt der Form verdunkeln, diejenigen Gefühle, die logisch dargestellt werden. Das ist natür  Im Fall der Sprache grenzt diese Sättigung der physikalisch trivia­ len Form mit einer begrifflichen Bedeutsamkeit an ein Wunder. Wie Bernard Bosanquet es ausdrückt: »Sprache ist so transparent, dass sie gewissermaßen in ihrer eigenen Bedeutung verschwindet, und uns überhaupt kein charakteristisches Medium bleibt.« (Three Lectures on Aesthetics, London 1923, S. 64) 40

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lich die Gefahr, die jede Repräsentation läuft und die immer dann auftritt, wenn dieses Mittel weit über die Erfordernisse seiner primären Funktion hinaustrieben wird. Bei der Schaffung der künstlerischen Form – über die noch mehr zu sagen sein wird – kommen ihr auch sekundäre Funktionen zu, weshalb viele große Künstler von ihren Nachahmungsfähigkeiten überreichlich Gebrauch gemacht haben. In einem Werk von Meisterhand ist die expressive Form jedoch so beherrschend, die Durchsichtigkeit so deutlich, dass jemand, dem das Phänomen der künstlerischen Bedeutsamkeit überhaupt vertraut ist, sie kaum übersehen wird. Das Problem ist vielmehr, dass viele sie überhaupt noch nicht erfahren haben, weil sie in einem Tollhaus mit zu viel Kunst gelebt haben, in dem groß­ artige Werke mit schauderhaft schlechten zusammengewürfelt sind, statt wie Gipfel die Ebene einer bescheidenen, aber guten Tradition von Gestaltung und handwerklichem Können zu überragen. Schon die Wahrnehmung von Form ist durch schmerzhafte Erfahrung abgestumpft, statt dass einfache, wohlgeformte Beispiele sie zur ständigen Ausübung einladen, wie es in weniger überladenen und eklektischen Kulturen der Fall ist. Tillyard hat einmal bemerkt, wer große Dichtung lesen wolle, müsse zunächst durch die Lektüre vieler guter Verse geschult werden. Ähnlich gilt: Große Bilder zu erkennen wird am besten dadurch eingeübt, dass man schon auf einem bescheidenen Niveau von guten visuellen Formen umgeben ist: von gefälligen Stoffmustern und Haushaltsutensilien, von wohlgeformten, verzierten Krügen, Gläsern, Vasen, von gut proportionierten Türen und Fenstern, von guten Schnitzereien und Stickereien – statt, wie Roger Fry beklagte, von »diesen wilden Mustern, die sich auf allen Oberflächen wie Geschwüre ausbreiten« – und von guten Buchillustrationen, vor allem in Kinderbüchern. In einer bodenständigen, ihre Tradition pflegenden Kultur entstehen gewisse Grundformen, die dem schlichten Gefühl gerecht werden und dadurch von denjenigen verstanden werden, die, mag es ihnen auch an schöpferischer Vorstellungskraft fehlen, die gegenwärtigen Ideen annehmen und das



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Gelernte anwenden. In einer haltlosen, von allen möglichen Einflüssen übersättigten Gesellschaft bleibt nichts lange genug bewahrt, um von einem deutlichen Gefühl beherrscht zu werden und es wahrhaft auszudrücken. Es gibt keine schlichten bedeutungsvollen Formen als Vorbilder, die plötzlich durch ein Auf blitzen der Phantasie sich zu großartigen Schöpfungen zusammenfügten und dabei immer noch in der Tradition der vertrauen, von ihnen transzendierten Prinzipien stünden. Die eine Tankstelle gefällt sich im Stil des Taj Mahal, die andere im Kolonialstil, ein dritte gleicht einer halbherzigen Pagode und neben ihr stehen die Zapfsäulen feierlich aufgereiht vor einem Schweizer Chalet. Und dieses »gefällt« uns und jenes nicht, und wir meinen, wir sollten das fünfte Exemplar, einen funktional hingestellten Bogen aus Glas und Beton, »mögen«, weil er so amerikanisch, so modern, so sehr »unsere Tradition« etc. ist. Nur eine außergewöhnliche Sensibilität für Form kommt heil aus diesem Gewirr historischer Fäden heraus, die alle in dem Knoten enden, den wir Zivilisation nennen. Der durchschnittliche Instinkt für Malerei oder Musik ist verworren bis zur vollständigen Frustration, und die natürliche Abwehr besteht darin, die Sprache der plastischen Form, der Musik oder Dichtung ganz aufzugeben und sich nur noch auf die standardisierten Deutungen der Sinneserfahrung zu stützen, die Coleridge »primäre Einbildungskraft« nannte. Die Darstellungskraft der Kunst wird daher zur Zuflucht, einem Garant von Bedeutung in der vertrauten Manier der Wirklichkeit, und der Durchschnittsmensch – wie auch zu viele Kritiker – glaubt wirklich, Künstler »schüfen« Früchte, Blumen, Frauen und Urlaubsziele »neu«, damit er sie in seinen Wunschträumen in Besitz nehmen kann. Wie Ortega formuliert: »Die meisten Leute sind nun unfähig, ihre Aufmerksamkeit auf das Glas und das Durchsichtige zu richten, das Kunstwerk heißt. Statt dessen sehen sie durch es hindurch, ohne daran hängenzubleiben, und vertiefen sich in die menschliche Wirklichkeit, auf die darin angespielt wird. Fordert man sie auf, ihre Beute fahren zu lassen und das Kunst-

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werk selbst zu betrachten, so werden sie behaupten, dass sie nichts sehen, weil es dann in der Tat nichts Menschliches zu sehen gibt, sondern nur Durchsichtigkeiten, reine Virtualitäten.« 41 Wir sind nicht so sehr mit schlechtem Geschmack als vielmehr mit gar keinem Geschmack geschlagen. Die Leute dulden das Gute und das Schlechte, weil sie die abstrahierte expressive Form, das Symbol des Fühlens, überhaupt nicht erkennen. Aus diesem Grund ist die Rolle des Fühlens in der Kunst zu einem Rätsel geworden. Wer die wahrgenommene Form wiederentdeckt und erkennt, dass sie der wirklich wesentliche Faktor ist, setzt sie normalerweise an die höchste Stelle, indem er jede Verbindung mit irgendeiner »Bedeutung« ausschließt. Damit verwirft er das Gefühl gemeinsam mit verschiedenen begleitenden »Inhalten«. Zurück bleibt ein »erregendes« Mosaik von Qualitäten, dass uns zu nichts erregt, ein genuin »ästhetisches« Objekt, eine Sackgasse für jegliches Erleben, reine Virtualität. Es ist Form und Qualität; Form in Qualität; formhafte Qualität. Aber Menschen mit künstlerischem Urteil – und nur solche werden die Wahrnehmungsform anregend finden – wissen, dass auf irgendeine Art jeder bildhaften Form ein Gefühl innewohnt. Halten sie dann treu an ihrem reinen Reich der Qualitäten fest, so muss es eine Qualität sein. Hier begegnen wir nun den merkwürdigen phänomenologischen Befunden von Baensch und den ähnlichen Schlussfolgerungen, zu denen David Prall in seiner Aesthetic Analysis kommt. Pralls Betrachtung ist insofern besonders interessant, als sie, soweit ich weiß, der bislang ernsthaftesten systematischen Untersuchung des sinnlichen Elements in den Künsten entspringt, das er als »ästhetische Oberfläche« bezeichnet. Prall zufolge hat jede Kunst einen eingeschränkten Sinnesbereich, der durch die Selektivität eines spezialisierten Sinnes bestimmt wird, und darin gründet ihre ganze Existenz. Das ist die »ästhe  José Ortega y Gasset, Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, München 1964, S. 12. 41



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tische Oberfläche«, die aufgebrochen werden kann, ohne dass das Werk selbst, mit der sie verbunden ist, zerstört wird, denn sie ist schließlich die Totalität, innerhalb deren sich die künstlerische Form artikuliert. Die gesamte Skala der Farben bildet einen dieser Bereiche und die der Töne einen anderen. Immer aber wird die »ästhetische Oberfläche« ebenso von der Natur vorgegeben wie die grundlegenden Regeln der Struktur, die der Natur des Materials entspringen, so wie sich beispielsweise die diatonische Tonleiter aus den Obertönen ergibt, die in jedem Grundton einer bestimmten Tonhöhe liegen. Die verschieden Künste werden daher durch das natürliche Ressort der einzelnen Sinne bestimmt, jeder gibt dem Künstler eine besondere Klasse von Elementen vor, die er bis an die Grenzen seiner Erfindungsgabe zu Kombinationen und Entwürfen zusammensetzen kann. Pralls philosophische Herangehensweise an die Künste ist auffallend technisch und auf verschiedenen Feldern von einem guten künstlerischen Sinn geleitet. Jedes Kunstwerk behandelt er als eine Struktur, die den Zweck verfolgt, uns die sinnlichen Formen auf eine logische Weise begreif bar zu machen. »Der Unterschied zwischen einer klaren Wahrnehmung und einer distinkten Erkenntnis ist nicht so groß, wie man uns mitunter glauben macht.« 42 Und weiter: »Jeder Inhalt wird nur insoweit als verständlich betrachtet, als er als Form oder Struktur begriffen wird. Und das bedeutet selbstverständlich als etwas, was aus Elementen besteht, die aufgrund der zwischen ihnen gegebenen Beziehungen tatsächlich zusammenkommen. […] Denn Elemente, die nicht durch eine irgendwie geartete Beziehung ihrer Natur gemäß geordnet sind, werden für uns nie Strukturen ergeben, auch bilden von sich aus miteinander verwandte Elemente in unseren Augen keine Struktur, sofern nicht zu erkennen ist, um welche Art von Beziehung es sich handelt. Man wird kein räumliches Ganzes schaffen können, ohne dass die Elemente ihrer Natur und ihrem Sein nach räumlich ausgedehnt sind. Man wird auch keine melodischen Strukturen 42

 Prall, Aesthetic Analysis, a. a. O., S. 39.

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schaffen können, es sei denn die Elemente sind aufgrund einer internen Beziehung ihrer Natur nach in Tonhöhen geordnet, aus denen sie nicht zu entfernen sind. […] Die Elemente müssen sich in einer Ordnung befinden, die ihrem Sein angemessen ist, in einer Ordnung, von der wir erkennen können, durch welche Beziehung sie zustande gekommen ist. Wir nennen eine Struktur verständlich, […] insofern wir sehen, dass sie durch Analyse in auf solche Weise verbundene Elemente zerlegbar ist.« 43 Anders ausgedrückt: Strukturen oder Formen im weitesten Sinne müssen in einer geistigen Dimension liegen, um wahrgenommen zu werden. Kunstwerke bestehen aus sinnlichen Elemente, aber nicht jedes sinnliche Material eignet sich dazu; denn zusammenstellen lässt sich nur das, was einen Ort in einem idealen Kontinuum hat – z. B. Farben in einer Schattierungsskala, in der jedes Intervall zwischen zwei gegebenen Farben durch weitere implizite Elemente auszufüllen ist, oder Töne auf einer kontinuierlichen Skala von Tonhöhen, in der es keine Löcher gibt, für die keine bestimmte Tonhöhe anzugeben wäre. Pralls Methode scheint mir einwandfrei zu sein: In ihr wird das Kunstwerk selbst untersucht und nicht unsere Reaktionen und Gefühle ihm gegenüber. Ebenso richtig scheint es mir, die Organisationsprinzipen eines Kunstwerks aufdecken zu wollen, die dessen Funktionen erklären, seine physikalischen Voraussetzungen und seinen Anspruch auf unsere Wertschätzung. Wenn ich von einer anderen Prämisse ausgehe, dann nicht, weil ich Pralls Behauptungen zurückweise – ich stimme ihnen fast ausnahmslos zu –, sondern weil seine Theorie schon durch die Grundkonzeption gewissen Beschränkungen unterliegt, die sich bei leicht veränderten Annahmen auflösen. Auf eine dieser Beschränkungen stoßen wir in der Analyse der Dichtung, bei der nur ein Bestandteil – das zeitliche Klangmuster oder das »Metrum« – so etwas wie eine echte »ästhetische Oberfläche« mit kommensurablen Elementen aufweist, die in formalen Beziehungen eingesetzt werden können, und obwohl dieser Be43

  Ebd., S. 41 f.



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standteil nicht unwichtig ist, ist er auch nicht der wichtigste. In der Prosadichtung ist er für eine Skandierung zu frei. Dennoch glauben wir, dass das richtige formale Prinzip, nach dem die Literatur aufgebaut ist, in der einen Gattung ebenso offensichtlich und vorherrschend sein muss wie in einer anderen. Ein Charakteristikum wie das Muster des Versmaßes ist freilich nur ein besonderes Mittel, um dies zu erreichen; und jede spezifische literarische Form muss über ihre ureigenen Mittel, wenn auch nicht über ein neues Prinzip verfügen, um Literatur zu sein. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit der Tanzkunst zuwenden. Diese Kunst ist von Prall keiner Analyse unterzogen worden, aber er hat nebenbei darauf hingewiesen, dass er sie als eine raum-zeitliche Form behandeln würde, und deren konstitutive Elemente – die Bewegungen – sind natürlich sowohl hinsichtlich des Raums als auch der Zeit messbar und einander angemessen. Fasst man jedoch ihre grundlegenden Formen in dieser Weise auf, fallen sie gänzlich und ohne Abstriche in dieselbe Kategorie wie kine­ tische Skulpturen. Selbst wenn man noch einige Merkmale heranziehen würde, durch die sich die beiden raum-zeitlichen Künste unterscheiden, blieben sie eng verbunden. Tatsächlich aber sind sie nur sehr entfernt miteinander verwandt; die kinetische Skulptur weist keine größere Verbindung zum Tanz auf als stehende Skulpturen. Beide sind ganz und gar Skulpturen, während Tanz etwas völlig anderes ist. Noch schwerer als der Tanz ist die Schauspielkunst zu analysieren, denn das sinnliche Kontinuum von Raum und Zeit, Farbe und Rhythmus wird durch Klangelemente, nämlich Wörter, noch komplizierter. Tatsache ist, dass Pralls Theorie klarerweise allein auf rein visuelle oder rein auditive Künste – Malerei und Musik – zutrifft; sie auf andere Bereiche auszudehnen, auch auf die Dichtung, gleicht eher einem Projekt als einer natürlichen Konsequenz. Kurz gesagt: Die in Pralls Theorie angelegte Begrenztheit geht darauf zurück, dass er sich an jene »grundlegenden Ord-

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nungen« bindet, auf die sie so hervorragend anwendbar ist, dass praktisch alles zutrifft, was er über ihre künstlerischen Funktionen sagt. Das Prinzip der »ästhetischen Oberfläche« führt bei konsistenter Befolgung tatsächlich zu der Sorte von puristischer Kritik, welche die Oper als eine Mischform ablehnt, das Schauspiel nur insofern toleriert, als sie es der Literatur einverleiben kann, und für die religiöse oder historische Motive in der Malerei nur befremdliche Zutaten zur reinen Gestalt sind. Einsichten in die Unterschiede und Verbindungen zwischen den Künsten verschafft das Prinzip uns hingegen nicht, denn die grundlegenden Unterscheidungen, die es zwischen den Sinnesordnungen trifft, liegen auf der Hand. Entsprechend liegen auch die von ihm erlaubten Verbindungen – z. B. dank der zeitlichen Bestandteile die zwischen Musik und Dichtung oder Musik und Tanz – auf der Hand; sie sind offensichtlich, aber bisweilen irreführend. Beschränktheit ist an sich kein Grund, eine Theorie zurückzuweisen. Prall war sich der Grenzen seiner Untersuchung durchaus bewusst und ging keine Probleme an, die jenseits ihrer Reichweite liegen. Es gibt nur eine Begründung dafür, ein grundlegendes Prinzip zu verwerfen: Man muss einen stärkeren Begriff anbieten, der dieselbe konstruktive Leistung wie der frühere erbringt und darüber hinaus geht. Die Schwäche der Prall’schen Ästhetik ist, wie ich meine, in einer falschen Vorstellung der Dimensionen zu suchen, die den verschiedenen Künsten zugrunde liegen, und folglich einer falschen Vorstellung von den fundamentalen Organisationsprinzipien. Die neue Vorstellung der künstlerischen Strukturen, die mir radikaler und doch flexibler als Pralls Annahme skalierter oder raumzeitlicher Ordnungen erscheint, zieht einen gewissen Perspektivenwechsel in der Kunstphilosophie nach sich; statt nach Gefühlselementen in den sinnlichen Inhalten zu suchen bzw. nach Qualia, die buchstäblich in dem Kunstobjekt enthalten sind, werden wir unmittelbar auf das Problem der geschaffenen Form – und diese ist nicht immer sinnlich – und ihres Sinngehalts gestoßen, also auf die Phänomenologie des Fühlens. Da-



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mit rückt die Frage der Kreativität, die zu erwähnen Prall nie Gelegenheit hatte, in den Mittelpunkt, denn die Elemente selbst sind ebenso wie die Totalitäten, innerhalb deren sie als diese bestimmten Elemente existieren, geschaffen und nicht einfach übernommen worden. 44 Ein Kunstwerk unterscheidet sich dadurch von allen anderen schönen Dingen, dass es »ein Glas und eine Durchsichtigkeit« ist – und nicht in irgendeinem relevanten Sinn ein Ding, sondern ein Symbol. Jeder gute Philosoph oder Kunstkritiker erkennt selbstverständlich, dass in der Kunst auf irgendeine Weise Gefühl ausgedrückt wird. Doch solange ein Kunstwerk in erster Linie als eine »Arrangement« sinnlicher Elemente begriffen wird, deren Zweck irgendeine nicht weiter zu erklärende ästhetische Befriedigung ist, bleibt das Problem der Expressivität ein Fremdkörper. In einem sorgfältig argumentierenden psychologischen Kapitel setzt Prall sich mit diesem Problem auseinander, und obgleich seine Psychologie klar und bestechend ist, wird man den Eindruck nicht los, vor einem Paradox zu stehen, denn das Gefühlselement scheint der Kunst auf irgendeine Weise wesentlicher zu sein als die im engen Sinn »ästhetische« Erfahrung selbst, und es scheint auf eine andere Weise vorzuliegen; dennoch verhält sich das Werk gegen jedes wirkliche Gefühl spröde und kann durch jede Verbindung mit Gefühlsassoziationen nur Schaden nehmen. Daher muss das Gefühl in irgendeinem Sinne im Werk sein, ebenso wie ein gutes Kunstwerk die Formen und Farben verdeutlicht und aufweist, die der Künstler klarer gesehen, erkannt und gewürdigt hat, als seine Mitmenschen es ohne Hilfe tun könnten, so verdeutlicht und präsentiert es die diesen Formen und Farben eigenen Gefühle. Das in der Kunst ausgedrückte Gefühl ist ein »Gefühl oder eine Emotion, die als der qualitative Charakter des bildhaften Inhalts dargestellt wird« 45.   Nicht die Skalen und Geometrien, denn diese sind logischer Art, wohl aber die exemplifizierten Kontinua der Existenz, des Raumes sowie der Dauer und der Kraftfelder. 45  Ebd., S. 145. 44

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Im Wesentlichen stoßen wir hier auf die gleiche Behandlung des Gefühls wie in Baenschs Essay »Kunst und Gefühl«, allerdings mit der Ausnahme, dass Baensch zu dem Schluss gelangt, man würde das Gefühl nicht gänzlich im Bereich des Sinnlichen, also in dem, was als »Inhalt« gelten könnte, auffinden, da es auch die formalen und ästhetischen Elemente eines jeden Kunstwerks durchziehe. Beide Autoren suchen jedoch ihr Heil in demselben Kunststück, nämlich darin, die Gefühlselemente einfach als Qualitäten eines konkreten Objekts zu behandeln, als etwas, was dieses unbeseelte Objekt und nicht der Rezipient auf irgendeine Weise »hat«; und beide wissen, dass der »Ausdruck« wirklichen menschlichen Fühlens durch ein nicht-menschliches Objekt, das sich ohne Rückgriff auf raumzeitliche Relationen analysieren lässt, ein Paradox darstellt und dass ihr philosophischer Kunstgriff eigentlich Akt der Verzweiflung ist. So schreibt Prall: »Fragt man, wie ein qualitativer bildhafter Inhalt ein Gefühl darzustellen vermag, wie die Kunst ein reales Gefühl ausdrücken kann, werden wir an das angebliche Wunder verwiesen, dass Kunst, wie oft behauptet wird, die Verkörperung des Geistes in der Materie sei. Das Denken aber pflegt keinen Umgang mit Wundern. Und da das einfachste Denken meint, Kunstwerke drückten Gefühle aus, sind wir durch den offensichtlichen Charakter unserer Befunde genötigt, das Gefühl im dargestellten Inhalt zu suchen, es als einen Aspekt des Inhalts zu betrachten, das heißt als zu seinem tatsächlichen präsenten Charakter gehörig oder als dessen einheitlich qualitative Natur im Ganzen.« 46 Die Lösung für diese Schwierigkeit liegt meines Erachtens in der Erkenntnis, dass die Kunst nicht ein tatsächlich gegebenes Gefühl ausdrückt, sondern Ideen von Gefühlen, wie ja auch die Sprache nicht tatsächliche Dinge und Ereignisse ausdrückt, sondern ihre Idee. Kunst ist durch und durch expressiv – mit jeder Zeile, jedem Ton, jeder Geste, und darum ist sie zu hundert 46

 Ebd.



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Prozent symbolisch. Sie ist nicht sinnlich angenehm und auch noch symbolisch. Die sinnliche Qualität steht im Dienst ihrer vitalen Bedeutsamkeit. Ein Kunstwerk ist weitaus symbolischer als ein Wort, das gelernt und verwendet werden kann, ohne dass man im geringsten weiß, was es bedeutet, denn ein rein und vollkommen artikuliertes Symbol präsentiert seine Bedeutsamkeit unmittelbar jedem Betrachter, der überhaupt für artikulierte Formen in einem bestimmten Medium empfänglich ist. 47 Eine artikulierte Form muss jedoch deutlich gegeben und verstanden sein, bevor sie irgendeine Bedeutsamkeit vermitteln kann, insbesondere dort, wo keine konventionelle Referenz vorliegt, durch die ihr eine eindeutige Bedeutung zugeschrieben wird; die Übereinstimmung von symbolischer Form und der Form einer lebendigen Erfahrung muss aber allein kraft der Gestalt*48 unmittelbar wahrgenommen werden. Aus eben diesem Grund ist das Abstrahieren der Form, das Absehen von allen Nebensächlichkeiten, die ihre Logik verdunkeln könnten, so eminent wichtig, und eine besondere Funktion kommt dem Akt zu, sie aller üblichen Bedeutungen zu entkleiden, damit sie für neue offen ist. Zunächst muss sie der Wirklichkeit entrückt werden, damit ihr »Andersheit«, »Selbstgenügsamkeit« zuwächst. Das geschieht, indem ein Reich der Illusion geschaffen wird,   Prall ist dieser Erkenntnis so nahe gekommen, dass es schon nach Absicht aussieht, wie er den Begriff »Symbol« vermeidet. Offenbar zieht er die fadenscheinige Theorie, der zufolge Gefühle in den sinnlichen Qualitäten enthalten sind, einer semantischen Kunsttheorie vor, die ihm den Vorwurf des Intellektualismus oder Ikonismus hätte einbringen können. Daher hält er daran fest, dass ein Gefühl in einem Bild ist und wir es »haben«, wenn wir das Werk betrachten. Man vergleiche beispielsweise den folgenden Absatz damit, was gerade über ein vollendetes präsentatives Symbol gesagt worden ist: »Der Sinn des Bildes, sein Daseinszweck, ist gerade dieses darin verkörperte Gefühl, das wir haben, wenn wir uns auf es einlassen, so dass sein Charakter zum Inhalt unseres eigenen, bewussten Gefühlslebens in diesem Augenblick wird.« (Ebd., S. 163) 48  Im Original deutsch. 47

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in dem sie als Schein, losgelöst von allen weltlichen Aufgaben, fungiert. Zweitens muss ihr Plastizität zukommen, damit sie um des Ausdrucks willen und nicht im Hinblick auf einen praktischen Sinn gestaltet werden kann. Erreicht wird das durch die gleichen Mittel: Abkopplung vom praktischen Leben, Abstraktion hin zu einer freien konzeptuellen Erfindung. Nur solche Formen können plastisch sein und willentlicher Verformung, Modifikation und Komposition im Dienste des Ausdrucks unterworfen werden. Und schließlich muss sie »durchsichtig« werden, was dann geschieht, wenn ihr Urheber sich bei seinem Schöpfungsakt von der Einsicht in die auszudrückende Realität, von der Gestalt* lebendiger Erfahrung leiten lässt. Wo immer handwerkliches Können zur Kunst wird, kommen diese Prinzipien – Abstraktion, plastische Freiheit, Expressivität – voll und ganz zum Tragen, sogar in den schwächsten Werken. Einige Theorien weisen den verschiedenen Erscheinungsformen der Kunst einen unterschiedlichen Wert zu (z. B. dem reinen Muster, der Illustration, dem Staffeleibild) und ordnen sie nach »niederen« oder »höheren« Typen, von denen allein die »höheren« expressiv sind, während die »niederen« bloß einen dekorativen Wert haben. Sie vermitteln uns ein sinnliches Vergnügen, ohne weiter von Bedeutung zu sein. 49 Eine solche Unterscheidung stiftet jedoch in jeder Kunsttheorie nur Verwirrung. Wenn »Kunst« etwas bedeutet, dann muss das Wort in seiner Anwendung auf einem wesenhaften Kriterium beruhen und nicht auf mehreren, miteinander unverbundenen Kriterien: Expressivität, Gefälligkeit, Nützlichkeit, Gefühlswert usw. Wenn Kunst »das Erschaffen von Formen ist, die menschliches Fühlen ausdrücken«, dann muss sinnlicher Genuss entweder   Eugène Véron ist der bekannteste Vertreter dieser Auffassung (siehe sein Buch L’esthétique, Paris 1878, insbesondere Kapitel 7). Man vergleiche aber auch die jüngere Ansicht von Henry Varnum Poor, dass »Dekoration um der Dekoration willen dazu neigt, seicht und beschränkt zu sein«, und nach irgendeiner Verbindung mit »realistischer Malerei« verlangt, um die Phantasie anzuregen (Magazine of Art, ­August 1940). 49



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diesem Zweck dienen oder irrelevant sein. Ich stimme Thomas Mann aus vollem Herzen zu, wenn er sagt, es gebe keine höhe­ ren und niederen Künste, keine, die es nur zum Teil oder ergän­ zend sind: »Die Kunst ist ganz und vollkommen in jeder ihrer Erscheinungsformen; man braucht nicht ihre Gattungen zu summieren, um sie vollkommen zu machen.«50 Das reine Muster (design) ist daher ein Prüfstein, eine Nagelprobe des in diesem Buch entwickelten Kunstbegriffs und verdient eine nähere Untersuchung. Es ist nämlich ein Grundphänomen: Überall auf der Welt stoßen wir auf gewisse Elemente graphischen Ausdrucks, farbige Muster auf ansonsten leeren Oberflächen – Wänden, Stoffen, Keramiken, auf Holz-, Metalloder Steinplatten – die sich nur an den Gesichtssinn richten und Genuss bereiten. Manchmal dienen sie als magische Symbole, manchmal als Stellvertreter für oder Erinnerungen an natürliche Objekte; doch ob sie nun eine Funktion haben oder nicht, immer erfüllen sie den einen Zweck, auf den sie vor allem zugeschnitten sind: Dekoration. Was aber ist »Dekoration«? Als Synonyme bieten sich offensichtlich »Ornamentierung«, »Verzierung« an, doch wie die meisten Synonyme sind auch diese nicht ganz präzise. »Dekoration« bezieht sich nicht bloß auf »Schönheit« wie »Verzierung«, noch meint es die Hinzufügung eines unabhängigen Ornaments. Dekoration ist mit dem Wort »Dekorum« verwandt und konnotiert Angemessenheit, Formalisierung. Was aber wird angemessen und formalisiert? Eine sichtbare Oberfläche. Die unmittelbare Wirkung einer guten Dekoration besteht darin, die Oberfläche auf irgendeine Weise sichtbarer zu machen, eine schöne Bordüre an einem Stoff betont nicht nur die Kanten, sondern hebt auch die einfachen Falten hervor, und ein regelmäßiges, großflächiges Muster macht, wenn es gut ist, die Oberfläche nicht bloß ab  Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: ders., Ausgewählte Essay in drei Bänden, Bd. 3: Schriften über Musik und Philo­ sophie, Frankfurt a. M. 1978, S. 64–114, hier 72. 50

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wechslungsreich, sondern verleiht ihr vor allem eine Einheit. Jedenfalls lenkt auch das elementarste Muster den Blick auf die Fläche, die es schmückt. [Vgl. Abb. II und III].

Abb. II. Altes Kilt-Muster

Abb. III. Neu-Guinea, ­modellierter Schädel



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Die Ähnlichkeit der Formen in rein dekorativer Malerei und Linienzeichnung, wie man auf sie Krügen und Decken, Paddeln, Segeln und tätowierten Körpern in denkbar weit voneinander entfernten Ecken der Welt findet, ist so erstaunlich, dass André Malraux als Erklärung eine vorgeschichtliche Einheit der Kultur behauptet hat.51 Diese Vorstellung ist nicht abwegig, auch nicht im Hinblick auf die grundlegendsten Muster, doch bringt sie so erhebliche historische Probleme mit sich, dass man lieber nach einer einfacheren suchen sollte. Es scheint zumindest möglich, dass diese elementaren Formen – Parallelen, Zickzacklinien, Dreiecke, Kreise und Schnörkel – eine instinktive Grundlage in den Prinzipien der Wahrnehmung haben, dass in ihnen der Drang zu einer Art Gliederung des Gesichtsfeldes so unmittelbar zum Ausdruck kommt, dass er praktisch keinen verzerrenden kulturellen Einflüssen unterliegt, sondern vielmehr ein Zeugnis der visuellen Erfahrung auf ihrer untersten Stufe liefert. Albert Barnes betrachtet das bloße Muster in eben dieser Weise, wenn er schreibt: »Der Reiz solcher dekorativen Schönheit lässt sich vermutlich damit erklären, dass sie unser allgemeines Bedürfnis befriedigt, etwas frei und gefällig wahrzunehmen. Alle unsere Sinne verlangen nach angemessener Anregung, ungeachtet dessen, was sie anregt. […] Dieses Bedürfnis, unsere Fähigkeiten in einer uns angemessenen Weise einzusetzen, wird von der Dekoration erfüllt und befriedigt.«52 Die Befreiung der Sinne ist in der Tat ein Aspekt der künstlerischen Wahrnehmung. Gewisse Formen sind dem Gesichtssinn »angemessen« – durchgezogene Linien, die das Auge ohne Behinderung von einem Ort zum anderen führen, und die einfachen Gebilde, von denen die Gestaltpsychologen heraus­gefunden haben, dass sie die natürlichen Maßstäbe der  Siehe Psychologie der Kunst, Bd. II: Die künstlerische Gestaltung. Bezogen auf die Höhlen von Altamira und die Kunst der Buschmänner ist seine These in der Tat höchst plausibel, und sie ist schon früher von dem Anthropologen William J. Sollas in seinem Buch Ancient Hunters and Their Modern Representatives (1924) aufgestellt worden. 52  Albert Barnes, The Art in Painting, New York 1928, S. 29. 51

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Wahrnehmungsurteile ausmachen. 53 Verständlichkeit und logische Klarheit allein reichen jedoch nicht aus, um ein virtuelles Objekt zu schaffen und von der Realität abzugrenzen. Für sich genommen sind Kreise und Dreiecke keine Kunstwerke, doch dekorative Muster sind es sehr wohl. In einem frühen Abschnitt unterscheidet Barnes in The Art in Painting zwischen dekorativen und expressiven Werten,54 was mir falsch erscheint. Wie alle geschaffenen Formen ist Dekoration expressiv,55 nicht bloß eine »adäquate Anregung«, sondern eine fundamentale künstlerische Form von emotionaler Bedeutsamkeit. Ihre Aufgabe erschöpft sich nicht darin, der Wahrnehmung entgegenzukommen; sie will diese vielmehr befruchten und verändern, sie möchte die plastische Phantasie bilden. Dekorative Muster bieten dem Betrachter eine Logik des Gesichtssinns – und dafür stellen sie keine Regel oder Erklärung auf, die reine Veranschaulichung reicht dazu aus. Diese Tatsache ist auch schon vorher bemerkt worden; was aber nicht bemerkt worden ist, ist die zusätzliche und entscheidende Tatsache, dass diese Logik keine konzeptuelle Logik räumlicher Beziehungen ist, die zur Geometrie führt (welcher Art Geometrie auch immer).56 Die Prinzipien des Gesichtssinns, die in der Struktur dekorativer Formen offenbar werden, sind solche des künstlerischen Sehens, durch den visuelle Elemente aus dem amorphen Chaos der Sinneseindrücke herausgearbeitet werden, allerdings nicht um Namen und Prädikationen zu entsprechen, wie es die Ergebnisse der praktischen Erkenntnis tun, sondern dem biologischen Füh  Siehe Wolfgang Köhler, Gestalt psychology, New York 1929, insbesondere Kapitel V, »Sensory Organization«. 54 Barnes, The Art in Painting, a. a. O., S. 30 f. 55  An späterer Stelle gesteht er das auch ein und kommt tatsächlich zum gleichen Schluss wie ich. Dennoch rechtfertigt er seine frühere Behauptung nie oder zieht sie zurück. 56  Weil er diesen Unterschied nicht sieht, ist Birkhoffs ehrgeiziges Werk Aesthetic Measure eine so merkwürdige, anwendungsfremde Spekulation über die Kunst (vgl. George D. Birkhoff, Aesthetic Measure, Cambridge, Mass. 1933). 53



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len und seiner emotionalen Kristallisation, dem menschlichen »Leben«. Sie unterscheiden sich ab initio von den Elementen, die dem diskursiven Denken eigen sind; doch ihre Funktion für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist wahrscheinlich genauso wichtig und tiefgehend. Die Kunst ist, wie das Sprechen, überall das Kennzeichen des Menschen. So wie Sprache, wo immer sie auftritt, sich in Worte gliedert und der Konventionen bedarf, um diese teilweise unabhängigen Worte so in eine Struktur zu bringen, dass sie Propositionen ausdrü­ cken, so entwickelt die Grammatik des künstlerischen Sehens plastische Formen, um die fundamentalen Lebensrhythmen auszudrücken. Möglicherweise sind bestimmte dekorative Mittel aus diesem Grund nahezu universal; vielleicht ist es eher Konvergenz als Divergenz, die die verblüffenden Parallelen von Mustern erklärt, die sich bei so völlig unverbundenen kulturellen Erzeugnissen finden wie der chinesischen Stickerei, der mexikanischen Keramik, der afrikanischen Körperbemalung und dem englischen Blumendruck. Rein dekorative Muster sind eine direkte Projektion lebendigen Fühlens auf sichtbare Figuren und Farben. Dekoration kann sehr abwechslungsreich sein oder sehr schlicht, doch sie verfügt stets über etwas, das der geometrischen Form, etwa einer exemplarischen Zeichnung im Euklid, abgeht, nämlich über Bewegung und Ruhe, rhythmische Einheit, Ganzheit. Das Muster hat keine mathematische Form, sondern eine »lebendige«, oder besser: es ist »lebendige Form«, wobei es nicht irgendetwas Lebendiges darstellen muss, auch keine Weinreben oder Immergrün. Dekorative Linien oder Flächen drücken Vitalität durch das aus, was sie selbst zu »tun« scheinen. Wenn sie ein Wesen abbilden, das tatsächlich etwas tun könnte – etwa ein Krokodil, einen Vogel, einen Fisch –, dann ist es genauso wahrscheinlich, in einigen Traditionen sogar wahrscheinlicher, dass diese ruht, wie dass sie in Bewegung ist. Aber das Muster selbst drückt Leben aus. Linien, die sich in einem Mittelpunkt schneiden, »gehen« aus ihm »hervor«, obwohl sie ihr Verhältnis zum Mittelpunkt tatsächlich nie verändern. Ähnliche oder

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kongruente Elemente »wiederholen« einander, Farben »halten« einander »im Gleichgewicht«, obgleich ihnen physikalisch kein Gewicht zukommt usw. All diese Metaphern bezeichnen Beziehungen, die dem virtuellen Objekt, der geschaffenen Illusion eigen sind, und sie lassen sich ebenso auf das schlichteste Muster auf einem Paddel oder einer Schürze anwenden – wenn dieses künstlerisch gelungen ist – wie auf ein Staffeleibild oder ein Wandgemälde. In einem kleinen Lehrbuch über dekorative Zeichnung stieß ich auf diese naive, normative Aussage über ornamentale Bänder: »Bänder müssen sich vorwärtsbewegen und dabei wachsen.« 57 Was bedeuten die Wörter »bewegen« und »wachsen« in diesem Zusammenhang? Das Band ruht fest auf der Oberfläche, auf der es gemalt, gedruckt, gestickt oder geschnitzt ist, und es fällt im Falle eines Tischtuchs oder eines Titelblatts schwer zu sagen, welche Richtung »vorwärts« ist. Im wissenschaftlichen Sinn ist die »Bewegung« des Bandes nicht wirklich Bewegung, Ortsveränderung. Sie ist der Anschein eines Rhythmus, und »vorwärts« ist die Richtung, in der die wiederholten Elemente des Musters sich dicht an dicht reihen. Viele Bänder bewegen sich in die eine oder andere Richtung, je nachdem wie wir sie »deuten« wollen, doch bei einigen hat man den starken Eindruck einer eindeutigen Richtung. Wirkungen dieser Art gehen unmittelbar auf das Muster und auf nichts anderes zurück; die Bewegung eines Musters, ob vorwärts, rückwärts oder nach außen, ist in seiner Konstruktion angelegt. Und was bedeutet nun zweitens »wachsen«? Ein Band kann nicht größer werden als der Rand, den es schmückt, und ein solches Wunder wäre auch nicht wünschenswert. Wohl aber scheint die Reihe seiner Wiederholungen länger zu werden, einem eigenen Gesetz zu folgen, nach dem sie sich fortsetzt. Auch das ist Rhythmus, der Schein des Lebens (die Definition von Rhythmus, die den Begriff unmittelbar ebenso auf räumliche wie auf zeitliche For  Adolfo Best-Maugard, A Method for Creative Design, New York 1937, S. 10. 57



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men anwendbar sein lässt und gelegentlich auch auf andere als serielle Anordnungen, kann hier nicht gegeben werden, wird aber im 7. Kapitel diskutiert). Jedwede Bewegung in der Kunst ist Wachstum – nicht das Wachstum von etwas Dargestelltem, etwa eines Baumes, sondern von Linien und Räumen. Diese Illusion ist der Tendenz nach in unserer »primären Imagination«, unserem praktischen Gebrauch des Gesichtssinnes, angelegt. Bewegung und Linien sind ebenso wie Linien und Wachstum in der Vorstellung eng miteinander verbunden. Eine über den Boden huschende Maus beschreibt einen Pfad, eine ideale Linie, die mit der von der Maus zurückgelegten Entfernung wächst. Wir sagen, die Maus ist unter das Sofa und dann die Wand entlang gelaufen. Genauso können wir sagen, dieser Pfad verläuft so. Jemand, der »in der Luft schreibt«, erzeugt Buchstaben, die in unserer Phantasie erscheinen, unsichtbare Linien, die vor uns wachsen, obwohl unser Auge nur die sich bewegende Hand sieht. In einem ornamentalen Band gibt es nichts, was sich bewegte, weder eine Maus noch eine Hand, die die Spitze einer wachsenden Linie bildeten. Das Band selbst »läuft« an der Kante des Tischtuchs entlang oder um den Rand einer Seite. Eine Spirale ist eine fortschreitende Linie, was aber tatsächlich zu wachsen scheint, ist ein Raum, die zweidimensionale, von ihr definierte Fläche. Diese dynamischen Wirkungen, die von etwas ausgehen, was letztlich vollkommen statische Punkte auf einem Hintergrund sind, werden klassischerweise mit einer wirkungsvollen »Überredung des Auges« erklärt, die dieses Organ veranlasst, sich tatsächlich zu bewegen, wobei die Empfindung in der Augenmuskulatur dafür sorgt, dass wir die Bewegung spüren.58 Im alltäglichen Leben wandert unser Auge jedoch unter sehr viel stärkerer Muskelbetätigung von einem Ding zu einem anderen,   Diese Hypothese ist von Theodor Lipps in seiner Ästhetik (Hamburg 1903) sowie in anderen seiner Schriften verfochten worden. Verteidigt wurde sie von Violet Paget [Vernon Lee] insbesondere in ihrem bekannten Büchlein The Beautiful, Cambridge 1913. 58

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und dennoch scheinen die Dinge in einem Raum nicht herumzulaufen. Ein kleiner Ausschnitt einer Bordüre wie diese hier

nehmen wir mit einem Blick, praktisch ohne jede Augenbewegung, wahr. Tatsächlich ist da nichts, was sich hinreichend stark bewegte, um uns die Empfindung von Bewegung zu vermitteln. Das Muster hingegen ist eine symbolische Form, welche die Stetigkeit, Gerichtetheit und Bewegungsenergie abstrahiert und die Vorstellung dieser so abstrahierten Charaktere genau auf die Weise vermittelt, wie jedes Symbol es mit seiner Bedeutung tut. Es präsentiert in der Tat noch etwas Komplexeres als das Wesen der Bewegung, und das gelänge ihm nicht, wenn es bloß durch die Stimulation kleiner Bewegungen in unseren Augen Bewegung konnotieren würde: nämlich die Idee von Wachstum. Zu verstehen, wie eine voranschreitende Linie die Illusion von Wachstum erzeugt, führt uns mitten hinein in das Thema der geschaffenen Erscheinung, und die weitere Frage, warum Bänder, die sich »bewegen«, »wachsen« sollten, wirft letztendlich das Problem von Form und Fühlen in der Kunst auf. Wir wollen daher betrachten, welches Licht von der Theorie des Scheins und der symbolischen Bedeutsamkeit auf dieses Problem fällt und welche Lösung von ihr dafür angeboten wird. In bestimmten Linienmustern, die sich physikalisch gesehen vollkommen ruhig auf einem Untergrund befinden, scheint es Bewegung zu geben, obwohl nichts den Ort wechselt. Andererseits umreißt Bewegung, wo sie stattfindet, eine bleibende konzeptuelle Linie, selbst dann, wenn sie keine Spur hinterlässt. Die rennende Maus scheint einem auf dem Boden markierten Pfad zu folgen, und die ruhige, gemalte Linie scheint zu laufen. Der Grund dafür ist, dass beide das abstrakte Prinzip der Rich­ tung verkörpern, wodurch sie logisch hinreichend äquivalent sind, um ein Symbol füreinander zu sein. Wenn wir unseren Gesichtssinn auf die normale, intelligente Weise betätigen, lassen wir sie ständig als Stellvertreter füreinander eintreten, auch



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wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Diese Funktion erfassen wir nicht zuerst auf diskursivem Wege und weisen sie dann einem möglichen Symbol zu, sie wird vielmehr nicht-diskursiv demonstriert und wahrgenommen, lange bevor sie in einem wissenschaftlichen Zeichen anerkannt wird (wie in der physikalischen Sprache, wo Vektoren konventionell durch Pfeile dargestellt werden). Bewegung steht daher logisch in Relation zur linearen Form, und wo eine Linie nicht unterbrochen ist und unterstützende Formen ihr eine Richtung verleihen, führt ihre bloße Wahrnehmung die Idee der Bewegung mit sich, die durch unseren Eindruck des realen Sinnesdatums hindurchscheint und mit ihm zu einem bewussten Erfassen verschmilzt. Das Ergebnis ist eine sehr elementare künstlerische Illusion (keine Täuschung, denn anders als eine Täuschung übersteht sie die Analyse), die wir »lebendige Form« nennen. Dieser Terminus ist wiederum durch eine logische Verbindung gerechtfertigt, die zwischen dem halb-illusorischen Datum und dem Begriff des Lebens besteht, wodurch jenes ein natürliches Symbol für dieses ist; die »lebendige Form« zeigt unmittelbar, was das Wesen des Lebens ist – unauf hörlicher Wandel oder Prozess, der eine dauerhafte Form artikuliert. Der Weg einer physikalischen Bewegung ist eine ideale Linie. In einer Linie, die »Bewegung hat«, gibt es ideale Bewegung. In dem Phänomen, das wir »Leben« nennen, existieren beide, unauf hörlicher Wandel und dauerhafte Form, real. Die Form aber entsteht durch komplizierte Disposition wechselseitiger Einwirkungen zwischen den physikalischen Einheiten (Atome, Moleküle, dann Zellen, dann Organe) und wird von ihnen aufrechterhalten, wobei Veränderungen dazu neigen, immer auf bestimmte, ausgezeichnete Weisen aufzutreten. Lebendiges untersteht nicht einem einfachen Transformationsgesetz, wie wir es von anorganischer Veränderung kennen, es existiert stattdessen durch einen kumulativen Prozess. Es nimmt Elemente seiner Umgebung in sich auf, und diese Elemente fallen unter das Gesetz der Veränderung, das die organische Form des »Lebens« ist. Das Prinzip des Wachstums ist eben diese Assimi-

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lation von Faktoren, die ursprünglich nicht zum Organismus gehörten und nun Teil seines Lebens werden. Was wächst, muss nicht notwendigerweise größer werden. Da der Stoffwechsel nicht auf hört, sobald eine nicht-lebendige Substanz aufgenommen und lebendig geworden ist, sondern ein ununterbrochener Oxidationsprozess ist –, lösen sich auch einzelne Elemente aus dem organischen Muster heraus; sie zerfallen wieder in unorganische Strukturen, d. h. sie sterben. Übersteigt das Wachstum den Zerfall, wird die lebendige Form größer; hält sich beides die Waage, erhält sie sich selbst; vollzieht sich der Zerfall schneller als das Wachstum, geht der Organismus unter. An einem gewissen Punkt endet der Stoffwechselprozess plötzlich, und das Leben ist zu Ende. Beständigkeit der Form ist daher das ständige Ziel lebendiger Materie; nicht das letzte (denn es wird letztendlich verfehlt), wohl aber das, was unauf hörlich erreicht wird, und dies ist immer, in jedem Augenblick, eine Leistung, da es völlig von der Tätigkeit des »Lebens« abhängt. Doch »Leben« ist selbst ein Prozess, ein ständiger Wandel; steht es still, zerbricht die Form – denn die Beständigkeit ist ein Muster von Veränderungen. Nichts ist daher im Gefüge unseres Fühlens so grundlegend wie der Sinn für Beständigkeit, Veränderung und ihre enge Einheit. Sprechen wir in der Kunst von »Bewegung«, dann ist damit nicht notwendig ein Ortswechsel gemeint, sondern es geht ihr um den auf irgendeine Weise wahrnehmbar, d. h. vorstellbar ge­ machten Wandel. Alles, was Wandel symbolisiert, so scheinen wir es zu sehen, nennen Künstler, mehr ihrer Intuition als der Konvention folgend, ein »dynamisches« Element. Es kann sich dabei um einen »dynamischen Akzent« in der Musik handeln, der physikalisch nichts anderes als Lautstärke ist, oder um ein Wort, das gefühlsgeladener als andere ist, oder um eine Farbe, die dort, wo sie sich befindet, »erregend« ist, d. h. physikalisch anregend. Eine Form, die Dauer veranschaulicht, wie beispielsweise eine fixierte Linie oder ein umgrenzter Raum (die dauerhaftesten Ruhepunkte für den Gesichtssinn), und dennoch Bewegung symbolisiert, führt den Begriff des Wachstums mit sich,



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denn Wachstum ist die normale Tätigkeit dieser beiden in wechselseitiger Abhängigkeit verbundenen Prinzipien. Aus diesem Grund ist die metaphorische Aussage »Bänder müssen sich vorwärtsbewegen und dabei wachsen« vollkommen vernünftig, sobald wir betrachten, dass und warum sie Derartiges zu tun scheinen. Warum aber »müssen« sie gezeichnet werden, um so zu erscheinen? Nun, diese Illusion, dieses Scheinen, ist das echte Symbol des Fühlens. Dieses elementare Muster des Fühlens, ausgedrückt in solchen allgemein anerkannten Formen, die Wachstum symbolisieren, ist der Sinn des Lebens (sense of life), die primitivste »Erfüllung«, und sie spiegelt sich nicht in den physischen Linien, sondern in dem Geschaffenen, in der Bewegung, die sie haben. Das dynamische Muster, das in Wirklichkeit eine Illusion ist, bildet die Form des vitalen Fühlens ab. Die Bänder müssen sich bewegen und wachsen, wenn sie expressiv sein wollen. Die »Bewegung« eines Musters vollzieht sich stets im Rahmen gefühlter Stabilität, denn anders als die reale Bewegung hat sie nichts mit Veränderung zu tun. Der einzige, der, soweit ich weiß, dieses Merkmal des plastischen Raumes erkannt hat, war kein Maler, sondern ein Komponist: Roger Sessions. In einem bemerkenswert scharfsinnigen kleinen Aufsatz, »The Composer and His Message«59, auf den ich wohl mehr als einmal zurückkommen werde, schreibt Sessions: »Die bildenden Künste herrschen über eine Welt des Raumes, und es scheint mir, dass die vielleicht tiefste Empfindung, die der Raum in uns auslöst, nicht so sehr die der Ausdehnung, als vielmehr die der Beständigkeit ist. Auf der primitivsten Ebene empfinden wir den Raum als etwas Dauerhaftes, etwas grundlegend Unwandelbares. Nimmt das Auge Bewegung wahr, findet diese sozusagen in einem statischen Rahmen statt, und die psychologische Wirkung dieses Rahmens ist weitaus mächtiger als die der Schwingungen, die innerhalb seiner Grenzen vorkommen.« In   Roger Sessions, The Composer and His Message, in: Augusto Centeno (Hg.), The Intent of the Artist, Princeton 1941, S. 101–134; s. S. 106. 59

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der Tat ist es gerade diese Dualität von Bewegung-in-Beständigkeit, also das, was die Abstraktion der reinen Dynamik bewirkt und den Schein von Leben oder einer Tätigkeit erzeugt, die ihre Form aufrechterhält. »Ausdruck« in diesem Sinne – die Darstellung einer Idee durch ein artikuliertes Symbol – ist das, was die Kunst beherrscht und bezweckt. Und das Symbol ist etwas von Anfang bis Ende Geschaffenes. Die das Kunstwerk begründende Illusion ist keine bloße Anordnung gegebener Materialien zu einem ästhetisch gefälligen Muster. Sie geht aus deren Anordnung hervor und ist buchstäblich etwas, das der Künstler macht, nicht etwas, was er findet. Sie gehört zu seinem Werk und löst sich mit dessen Zerstörung auf. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, die wesentliche Illu­sion herzustellen und aufrechtzuerhalten, sie deutlich von der umgebenden Welt der Realität abzuheben und die Artikulation ihrer Form so weit zu treiben, dass sie unverkennbar mit Formen des Fühlens und Lebens zusammenfällt. Zu diesem Zweck verwendet er alle möglichen Materialien, die sich für eine Bearbeitung eignen: Töne, Farben, formbare Substanzen, Wörter, Gesten oder andere physische Mittel.60 Das Erschaffen des »Scheins« und die Artikulation der lebendigen Form innerhalb seines Gerüsts bilden daher unser Leitthema, von dem aus auf alle anderen Probleme der Kunst – die Möglichkeiten der Einbildungskraft, das Wesen der Abstraktion, die Phänomene der Begabung und des Genies usw. – ein Licht fällt, wie die zentrale Idee es durch Implikation zu werfen vermag. Eben darin liegt die philosophische Kraft und der pragmatische Wert von Begriffen.   Die häufig vertretene Behauptung, die Malerei könne nichts anderes aufnehmen als Farben, die Musik nichts anderes als Töne usw., ist, wie ich meine, nicht uneingeschränkt wahr. Auch dies ist ein Problem, für dessen Lösung die Theorie der geschaffenen Form besser gerüstet ist als jede Theorie, die auf dem Medium der Kunst beruht (Alexander, Prall, Fry), da sie das im 10. Kapitel erörterte Prinzip der Assimilation zulässt. 60

5. Kapitel Virtueller Raum Die Grundformen, die in den dekorativen Künsten sämtlicher Zeitalter und Völker vorkommen – beispielsweise der Kreis, das Dreieck, die Spirale, die Parallele –, werden als Motive von Mus­ tern bezeichnet. Es handelt sich bei ihnen nicht um »Werke«, ja nicht einmal um Ornamente, sie eignen sich aber für Kompositionen und regen daher das künstlerische Schaffen an. Das Wort Motiv lässt diese Funktion erkennen: Motive sind Gestaltungsmittel, die die künstlerische Phantasie in Gang setzen und so das Werk in einem ganz naiven Sinn »motivieren«. Sie treiben es vorwärts und leiten seinen Fortschritt. Einige dieser Grundgebilde lassen an Formen uns vertrauter Dinge denken. Ein Kreis mit einem markanten Mittelpunkt und einem vom Mittelpunkt aus sich entfaltenden Muster deutet eine Blume an. Dieser Hinweis genügt, um der Komposition des Künstlers die Richtung zu geben. Sogleich ergibt sich eine neue Wirkung, entsteht eine neue Schöpfung – eine Repräsentation, die Illusion eines Gegenstands. Die Blütenrosette ist eines der ältesten und am weitesten verbreiteten dieser ornamentalen Muster, die offensichtlich einen Gegenstandsbezug haben. Wir finden sie auf assyrischen Gewändern, chinesischen Vasen, Geräten der Indianer im Nordwesten Amerikas, in peruanischen Schnitzarbeiten, auf römischen Brustplatten, Bauernmöbeln und Geschirr in ganz Europa und in den Rosettenfenstern der gotischen Kathedralen. Die Behandlung ist häufig recht formal, botanisch ziemlich phantastisch: Der Mittelpunkt mag eine Spirale sein, die Blütenblätter einfache strahlenförmige Linien oder Kreise, die einen zentralen Ring umgeben oder in einen großen Kreis eingeschlossen sind, es könnten aber auch Ovale oder Dreiecke sein, ja sogar bogenförmige Linien, die konzentrische Ringe bilden.

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Abb. IV

Teil II  ·  Die Herstellung des Symbols

Assyrisch

Indonesisch

Venezianisch

Mexikanisch

Pennsylvania-Dutch

Chinesisch



Abb. V

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Chinesisch

Mexikanisch

Chinesisch

Mexikanisch

Das Interessante daran ist, dass in all diesen Erfindungen die Form unverkennbar eine Blume ist. [Siehe Abb. IV]. Plötzlich ist das Element der Repräsentation nicht nur gegeben, es scheint das bestimmende zu sein. Für gewöhnlich halten wir solche Muster nicht für geometrische Formen, die bildhaft gedeutet werden, wir sehen in ihnen stattdessen stilisierte Bilder von Blumen. Gemeinhin wird angenommen, dass zuerst das Aus-

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sehen von wirklichen Blumen nachgebildet worden ist und erst später, aus einem nicht weiter erfindlichen Grund, all diese seltsamen Gebilde von den wirklichkeitsgetreuen Abbildungen »abstrahiert« worden sind. Tatsächlich wird meiner Ansicht nach eine vergleichende Untersuchung der dekorativen Kunst und der primitiven darstellenden Kunst überzeugend darlegen, dass die Form zuerst da ist und die Repräsentationsfunktion hinzukommt.61 Nach und nach werden die dekorativen Formen so verändert, dass sie am Ende alle möglichen Sorten von Gegenständen abbilden – Blätter, Weinreben, die faszinierenden Gestalten der Meereswelt, Vogelzüge, Tiere, Menschen, Dinge. Die Grundmotive bleiben dabei dieselben: Ringe werden ohne weitere Modifizierung zu Augen, Dreiecke zu Bärten, Spiralen zu Locken, Ohren, Geäst, brechenden Wellen. [Siehe Abb. V S. 161] Die Zickzacklinie könnte ebenso eine Schlange schmücken wie den Rand eines Gefäßes, oder sie könnte die Schlange selbst darstellen. Allmählich werden die Elementarformen immer mehr zu gegenständlichen Bildern verfeinert, bis sie schließlich zu verschwinden scheinen. Oft genügt freilich ein genaueres Hinsehen, um sie selbst in einer hochentwickelten gegenständlichen Behandlung wiederzuentdecken, und wo immer wir sie aufspüren, besteht ihre Aufgabe in der ursprüng­ lichen Absicht, dekorative Muster zu erzeugen. Eine ähnliche Verschiebung tritt in der Entwicklung der Farbe auf. Zunächst herrschen allein die Primärfarben vor und scheinen eine ausschließlich ornamentale Funktion zu haben. In echter Volkskunst kann eine Schale ringsum abwechselnd mit schwarzen Hirschen mit blauen Augen und blauen Hirschen mit schwarzen Augen verziert sein, und Krieger wie auch Palmen kommen in allen Farben vor. Durch Konvention werden   Das ist kein »Gesetz«, das als allgemein wahr angenommen wird, denn es könnte sehr wohl Kunstformen geben, die unmittelbar von Fetischen, Zeichen usw. ausgehen, d. h. von Repräsentationen. Die natürlichste und stärkste Quelle von Stilen ist jedoch, glaube ich, die dekorative Form, und möglicherweise entwickeln sich unter ihrem Einfluss sogar Schöpfungen, die eher praktischen Ursprungs sind. 61



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dann Farben festgelegt, die in einer gewissen Beziehung zu den natürlichen Farbtönen stehen, aber nicht darum bemüht sind, bestimmte Wirkungen nachzubilden. So sind Männer auf ägyptischen Gemälde terracottafarben und Frauen weiß oder hellbraun; in mittelalterlichen Psaltern haben Engel oft buchstäblich goldenes Haar, und in der Bauernkunst sind zinnoberrote Schnurrbärte und gelbe Zöpfe an der Tagesordnung. Die Verwendung von Farbe ist, wie die der Formen, zuerst ornamental und später stellt sie natürliche Merkmale dar. Gestützt auf quasi-geometrische Formen, die unserer räumlichen Anschauung »angemessen« sind, und geleitet vom Interesse an empfundenen Stetigkeiten, Rhythmen und emotionaler Dynamik ist Dekoration eine einfache, aber reine und abstrakte Ordnung der expressiven Form. Schließen Muster bildhafte Elemente ein – Hunde, Wale, Gesichter –, werden diese Bilder vereinfacht und ganz nach Belieben verzerrt, um sie dem übrigen Muster anzupassen. Ihre graphische Wiedergabe ist nie eine Nachbildung des unmittelbare visuellen Eindrucks, sondern Formulierung, Gestaltung, Bestimmung der Eindrücke nach den Prinzipien der Expressivität bzw. der lebendigen Form; sie sind symbolhaft von Anfang an. Aber wenn man der Suggestion des Gegenständlichen einmal nachgegangen ist, bringt das Darstellungsinteresse die Kunst dazu, ihre Grundmotive zu trans­ zendieren. Es entsteht ein neues Organisationsverfahren: Die alten dekorativen Mittel werden der systematischen Abbildung von Gegenständen angepasst.62 Die Wichtigkeit dieses Prinzips nimmt in dem Maße zu, wie die Formen komplizierter, asymmetrischer und subtiler wer  In seinem Traktat von der Malerei [Jena 1909, S. 52; Anm. d. Hg.] hat Leonardo den Studenten geraten, sich in zufällige Formen wie Risse im Putz und Astlöcher in Brettern zu vertiefen und zu versuchen, daraus Figuren zu machen, d. h. die Umrisse von Menschen und Dingen in sie hineinzudeuten. Dies sei eine sehr gute Übung für die Phantasie des Malers. Das klingt albern, aber war Leonardo albern? Oder hat nicht auch er gespürt, dass die sichtbare »Wirklichkeit« aus den Formen besteht, die das Innenleben des Menschen ausdrücken? 62

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den, und nicht nur durch so offensichtliche Mittel wie Umrisse und reine Farben erzeugt werden, sondern auch durch die Illusion des Tiefenraums und dadurch, dass gestalterische Einheiten sich aneinander orientieren. Die Deutung solcher Einheiten als Formen von Gegenständen ist eine unschätzbare Hilfe bei der Schaffung neuer räumlicher Beziehungen, der Vervielfältigung von Fokuspunkten und dabei, diese zu einer visuellen Einheit zu gestalten. Über Jahrhunderte haben sich in Europa und Asien Zeichnung und Malerei hauptsächlich anhand von Regeln der Repräsentation entwickelt, und wie wir in dekorativen Mustern Zickzacklinien und Kreise als »Motive« bezeichnen, so wenden wir nun das Wort Motiv auf das an, was von den Linien und Gebilden dargestellt wird. Doch ungeachtet der vielen Möglichkeiten, die sich für die künstlerische Phantasie durch die Fähigkeit eröffnen, Dinge darzustellen, ist Nachahmung nie der Hauptgesichtspunkt ihrer Gestaltung. Der Zweck aller plastischen Kunst besteht darin, eine visuelle Form zu artikulieren und diese Form – die so unmittelbar menschliches Fühlen ausdrückt, dass sie mit Gefühl aufgeladen zu sein scheint – als das alleinige oder doch zumindest wichtigste Objekt der Wahrnehmung zu präsentieren. Das bedeutet freilich, dass das Kunstwerk für den Betrachter nicht bloß eine Gestalt im Raum sein darf, sondern eine Gestaltung des Raums sein muss – des ganzen ihm gegebenen Raums. Wenn wir systematisch untersuchen, was alles in dieser Behauptung enthalten ist, gelangen wir zu immer tieferen Fragen und endlich zum Problem der Schöpfung: Was wird durch das Auftragen von Farbe auf einen Untergrund geschaffen und wie wird es geschaffen? Raum, so wie wir ihn in der praktischen Welt erfahren, hat keine Gestalt. Selbst in der Wissenschaft hat er keine, obgleich er eine »logische Form« besitzt. Zwar gibt es räumliche Relationen, aber es gibt keine konkrete Totalität von Raum. In unserem tätigen Leben ist der Raum selbst amorph, und im wissenschaftlichen Denken ist er rein abstrakt. Er ist ein Substrat unserer gesamten Erfahrung und zeigt sich nach und nach im



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Zusammenwirken unserer verschiedenen Sinne – bald gesehen, bald gefühlt, bald als ein Faktor unseres Treibens und Tuns erkannt –, er ist eine Grenze für unser Hören, eine Beschränkung unseres Aktionsradius. Wenn die räumliche Erfahrung des Alltagslebens durch die Exaktheit und die Vorrichtungen der Wissenschaft weiterentwickelt wird, wird der Raum zu einer Koordinate in mathematischen Funktionen. Niemals ist er ein Gebilde, ein Ding. Wie aber lässt er sich dann »organisieren«, »gestalten« oder »artikulieren«? Allen diesen Termini begegnen wir in erstzunehmenden Abhandlungen über Ästhetik. Die Antwort liegt meines Erachtens darin, dass der Raum, in dem wir leben und handeln, keineswegs der ist, der in der Kunst bearbeitet wird. Der harmonisch organisierte Raum in einem Bild ist nicht der empirische Raum, den wir durch den Gesichts- und Tastsinn erfahren, durch Bewegungsfreiheit und Einengung, nahe und entfernte Töne, durch verwehte oder als Echo erklingende Stimmen. Er ist eine durch und durch visuelle Angelegenheit. Für den Tast- und Gehörsinn, das Spiel der Muskeln existiert er nicht. Für diese gibt es bloß eine flache, verhältnismäßig kleine Leinwand oder eine kalte, leere Wand, wo das Auge einen tiefen Raum voller Gestalten erblickt. Dieser rein visuelle Raum ist eine Illusion, denn unsere Sinneserfahrungen stimmen hier nicht überein. Der Bildraum wird nicht nur mittels Farbe (Schwarz und Weiß sowie das zwischen ihnen liegende Spektrum von Grautönen) organisiert, er wird geschaffen; wären da nicht die ordnenden Gestalten, gäbe es ihn schlicht nicht. Wie der Raum hinter der Spiegeloberfläche ist er das, was Physiker als »virtuellen Raum« bezeichnen – ein unberührbares Bild. Dieser virtuelle Raum ist die primäre Illusion aller bildenden Kunst. Jedes Element eines Musters, jede Verwendung von Farbe, jeder Anschein von Gestalt hilft den allein für das Auge existierenden Bildraum zu erzeugen, zu stützen und zu entwickeln. Als bloß visueller hängt dieser Raum nicht mit demjenigen zusammen, in dem wir leben. Er ist durch den Rahmen begrenzt, durch ihn umgebende leere Flächen oder durch andere inkon-

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gruente Dinge, die ihn abtrennen. Doch wird man nicht einmal von seinen Grenzen sagen können, sie trennten ihn vom praktischen Raum, denn was durch eine Grenze getrennt ist, wird durch sie immer auch verbunden, und zwischen dem Bildraum und jedem anderen Raum existiert gar keine Verbindung. Der geschaffene virtuelle Raum ist unabhängig und steht nur für sich. Adolf Hildebrand war der erste Kunsttheoretiker, der das rein visuelle und auch in anderer Hinsicht illusionäre Wesen des Bildraums erkannt und dessen hohe Bedeutung für die Ziele und Praktiken des Malers verstanden hat. In seinem nicht umfangreichen, doch sehr gehaltvollen Buch Das Problem der Form in der bildenden Kunst untersucht er den Vorgang der bildlichen Darstellung vom Standpunkt der Raumerzeugung und bezeichnet diesen als »architektonisch«. Der Begriff ist nicht ganz glücklich gewählt, weil er an die Baukunst denken lässt, aber um sie geht es nicht. Hildebrand meint damit lediglich, dass die Arbeit des Künstlers darin besteht, Raum für nur einen Sinn, nämlich den Gesichtssinn, aufzubauen. Dieses virtuelle Bild bezeichnet er als »Vorstellungsraum« und unter der »architektonischen Methode« versteht die systematische Konstruktion von Formen, die einen solchen Raum darstellen und artikulieren. Was immer in einem Bild bedeutsam und künstlerisch stichhaltig ist, muss sichtbar sein, und was immer sichtbar ist, dient architektonischen Zwecken. Wo wir im praktischen Leben andere Fähigkeiten als den Gesichtssinn heranziehen, um das, was unserem Gesichtssinn in der Erfahrung nur fragmentarisch gegeben ist, zu vervollständigen – beispielsweise Erinnerung, aufgezeichnete Messungen, physikalische Annahmen über die Beschaffenheit von Dingen, Wissen über ihre Beziehungen im Raum, auch wenn sie sich hinter uns befinden oder durch anderes verstellt werden –, stehen uns im virtuellen Raum eines Bildes solche Hilfsinformationen nicht zur Verfügung. Alles, was überhaupt gegeben ist, ist dem Gesichtssinn gegeben. Wir brauchen daher einen visuellen Ersatz für das, was wir normalerweise durch Tastsinn, Bewegung oder Schlussvermögen wissen. Aus diesem Grund genügt es nicht, eine unmittelbare Kopie des-



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sen zu liefern, was wir sehen. Eine Kopie des Gesehenen würde derselben Ergänzung durch nicht-visuelle Quellen bedürfen wie die ursprüngliche Wahrnehmung. Die visuellen Ergänzungen der nicht-sichtbaren Bestandteile in der Raumerfahrung bilden den großen Unterschied zwischen einer photographischen und einer schöpferischen Wiedergabe: Diese ist notwendigerweise eine Abkehr von der direkten Nachahmung, werden dabei doch räumliche Gebilde allein durch Farbe (vielleicht nur durch verschiedene Schattierungen einer Farbe) konstruiert, durch alle möglichen Arten von Mitteln, um auf einen Schlag und vollkommen überzeugend die primäre Illusion einer gänzlich sichtbaren, vollkommen verständlichen Raumtotalität zu darzubieten. »Die architektonische Gestaltung«, so Hildebrand, »ist das, was aus der künstlerischen Naturerforschung ein höheres Kunstwerk schafft. Das mit Imitativ bezeichnete stellt also eine der Natur selbst entnommene Formenwelt dar, welche erst architektonisch verarbeitet zum vollen Kunstwerk wird.« Und weiter: »Überblicken wir die künstlerische Tätigkeit früherer Zeiten, so steht die architektonische Gestaltung des Kunstwerks durchaus im Vordergrund, die imitative bildet sich erst langsam aus.« 63 Vergleich wir diese Beobachtung mit Befunden über die Volkskunst, so ist die Übereinstimmung erstaunlich. Der architektonische Prozess, wie Hildebrand ihn begreift, besteht darin, Formen im Raum so zu konstruieren und zu ordnen, dass sie den Raum bestimmen und organisieren. Doch ein mittels der Vorstellung bestimmter Raum ist eine Gestalt: Die vollständige Gestaltung eines gegebenen Gesichtsfeldes ist daher ein Werk der bildenden Kunst. Der Hauptbegriff der Hildebrand’schen Ästhetik ist der des Sehfeldes oder der Bildfläche. Tatsächlich beruht seine gesamte Kunstkritik auf bildlichen Werten – fürwahr eine seltsame Eigentümlichkeit bei einem Bildhauer! Doch innerhalb ihrer Beschränkungen, nämlich der von der Malerei, der Zeichnung,   Adolf Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst, Straßburg 31901, S. 6 f. 63

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der Radierung, dem Flachrelief bewirkten bildnerischen Projektion, ist seine Untersuchung des geschaffenen Raums so unmittelbar zur Sache und so erhellend, dass sie verdient, ausführ­ licher betrachtet zu werden. Der architektonische Prozess, schreibt er, behandle die Elemente des Gesichtssinns immer als solche, die sich auf einer dem Auge gegenüberliegenden Fläche ausbreiten. Die Grundformen, aus denen primitive Maler ihre Darstellungen schöpfen, liegen ausschließlich auf solch einer Fläche. Nun sind aber unsere Augen tatsächlich dazu imstande, sich auf unterschiedliche Tiefen einzustellen, wodurch dem Gesichtssinn das Vermögen zufällt, in weitere Entfernungen vorzudringen. Gleichwohl ist bei jedem Wechsel der Entfernung das Sehen nur dann voll­ kommen, wenn es eine neue Fläche findet. Um den Gesichtssinn wieder auf eine andere Tiefe einzustellen, muss eine neue, ideelle Fläche bestimmt werden. Die Erfahrung im zusammengesetzten und amorphen Raum der gewöhnlichen Wahrnehmung hat uns gelehrt, gewisse Linien als »verkürzt« zu deuten, d. h. als Anzeichen von etwas, das sich in senkrechter Richtung zu unserem Gesichtsfeld verlängert. In der plastischen Kunst dienen solche Linien nur dazu, zwischen den verschiedenen Flächen oder Schichten des Bildes im komplexen visuellen Raum zu vermitteln. Sobald wir damit beschäftigt sind zu konstruieren, wie es in der von uns wegführenden Richtung weitergeht, haben wir es nicht mehr mit visuellen Formen zu tun, sondern mit Dingen und ihrer Geschichte. Künstlerisch gesehen sind Dinge und Auftritte nur Motive, auf denen Formen auf bauen und wodurch Formen so zueinander in Beziehung gesetzt werden, dass sie den visuellen Raum definieren und seinen Charakter darlegen. Indem er dem Imitativen und seinen natürlichen Vorbildern den ihnen gebührenden Platz anweist, geht Hildebrand offen das Problem von Realität und Illusion an. Den Charakter der Dinge, wie wir sie durch das Zusammenspiel aller unserer Sinne gesehen, empfunden oder konstruiert haben, nennt er in aller philosophischen Unschuld ihre »reale Form«. Sieht man davon



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ab, dass »real« möglicherweise naive ontologische Überzeugungen vermittelt, ist es kein schlecht gewählter Begriff, denn er bezieht sich auf Eigenschaften von Dingen, die wir in der Sphäre unserer Handlungen gelernt haben und die in ihr von Wert sind. Mit dieser realen Form arbeitet der Künstler. Das Wofür seiner Arbeit besteht andererseits darin, ihre »Wahrnehmungsform« bzw. ihre sichtbare Erscheinung zu klären. Für den Künstler ist nur das von Bedeutung, was zu dieser Wahrnehmungsform beiträgt. Diese Form ist ein Schein der Dinge, und die gegenüber dem wahrnehmenden Auge gestaffelten Sichtflächen sind ein Schein des Raums. Sie gehören dem virtuellen Raum an, der meines Erachtens die erste Schöpfung der plastischen Kunst ist, die primäre Illusion, in der alle harmonischen Formen als sekundäre Illusionen existieren, als geschaffene Symbole für den Ausdruck von Gefühl und Empfindung. Da der virtuelle Raum gänzlich unabhängig und kein lokaler Bereich im realen Raum ist, muss er als in sich geschlossenes Gesamtsystem verstanden werden. Ob er nun zwei- oder dreidimensional ist, er setzt sich in alle möglichen Richtungen fort und ist unbegrenzt formbar. Die Dimensionalität seines Raumes und dessen kontinuierlicher Charakter sind im Kunstwerk stets implizit sichergestellt. Vorstellungsformen werden aus ihm herausgearbeitet und müssen, trotz ihrer höchst klaren Grenzen, immer noch auf ihn bezogen erscheinen. Hildebrand macht diese Idee durch einen Vergleich plausibel, der wohl die beste Erklärung für sie liefert. »Stellen wir uns deshalb das Raumganze vor wie eine Wassermasse, in die wir Gefäße senken und dadurch Einzelvolumina abgrenzen als die bestimmten geformten Einzelkörper, ohne die Vorstellung der kontinuierlichen Wassermasse zu verlieren.« Und weiter unten kommt er zu dem Schluss: »Bei der Darstellung jedoch handelt es sich ja gerade darum, durch die hervorgebrachte Erscheinung und nur durch sie diese Vorstellung des Raumes zu erwecken.« 64 64

  Ebd., S. 43 f.

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Stellt der Künstler daher eine Scheinwelt von Objekten, Menschen, Landschaften usw. dar, so geschieht dies um der Raumwerte ihrer Erscheinungen willen, die ja Teile des Vorstellungsraums sind. Im Gegensatz zu manchem Autor, der über Ästhetik schreibt, definiert Hildebrand diesen wichtigen Begriff: »Das jeweilige Produkt von Erscheinungsgegensätzen, welches eine räumliche Vorstellung ausmacht, wollen wir zum Unterschiede von den Anregungen, welche in Vorgangsvorstellungen bestehen, mit dem Ausdruck Raumwerte der Erscheinung bezeichnen. Wenn also z. B. eine Form durch Licht und Schatten fürs Auge modelliert wird, so ist das Erscheinungsmittel oder der Gegensatz: hell und dunkel. Insofern jedoch hell und dunkel in diesem bestimmten Verhältnis und an dieser bestimmten Stelle zu einer modellierenden Wirkung gelangt, und es für das kombinierende geistige Auge seinen Wert abgibt, stellt es einen Raumwert der Erscheinung dar.« 65 Anders ausgedrückt: Die Darstellung hat den Zweck, individuelle Formen zu schaffen, die in sichtbarer Beziehung zueinander stehen. Sie veranlasst die Phantasie, das Auge dabei zu unterstützen, virtuelle Verhältnisse, Verbindungen und Blickpunkte herzustellen. Der Verweis auf vertraute, in dieser Weise verwandte Objekte ist im Wesentlichen ein Mittel, um Volumina, Entfernungen, Sichtebenen und den Raum zwischen ihnen aufzubauen; und als solcher ist er eine echt künstlerische Größe. Wiederum ist Hildebrands konkrete Veranschaulichung vermutlich der beste Kommentar zu unserem Text: »Um das einfachste Beispiel zu geben, so denke man sich eine Ebene. Es ist einleuchtend, dass sie deutlicher zur Anschauung kommt, wenn irgend etwas darauf gestellt wird, z. B. ein Baum, also ein Senkrechtes. Dadurch, dass etwas auf ihr steht, spricht sich sofort die horizontale Lage der Fläche, man könnte fast sagen, als räumlich sich betätigend aus. Umgekehrt wirkt aber auch der Baum, in seiner anstrebenden, senkrechten Formtendenz durch die horizontale Fläche gesteigert. […] 65

  Ebd., S. 49 f.



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Ziehen am Horizonte ein paar Wolkenstreifen den Blick nach hinten, so schreiten wir auf der Ebene nach der Tiefe und erleben somit mit den einfachsten Erscheinungsmitteln alle Raum­ dimen­sionen als eine gemeinschaftliche Anregung.« 66 Bäume, Wolken, Horizonte, Gebäude und Schiffe, Menschen in vielerlei Posen, Gesichter in unterschiedlicher Beleuchtung, all das offenbart jemandem, der über ein schöpferisches Auge verfügt, die expressive Form. All das mag sich im virtuellen Reich rein sichtbarer Figuren und Zwischenräume darstellen. Es ist jedoch nicht, wie vor allem Croce und Bergson meinen, die reale Existenz des abzubildenden Gegenstands, die der Künstler besser als andere Menschen begreift. Es ist der Schein, sein Aussehen und die gefühlsmäßige Bedeutsamkeit seiner Form, die er wahrnimmt, während andere nur »das Etikett« seiner realen Natur »lesen« und bei seiner Realität verweilen. Seit Platon die Kunst als »Abbild eines Abbildes« geißelte, haben sich die Philosophen mit dem Problem der »Imitation« oder der Wiedergabe der Erscheinung eines Modells herumgeplagt. Fast alle Wissenschaftler, die sich zu ästhetischen Fragen geäußert haben, sahen sich mit dem Gegensatz von Imitation und Schöpfung konfrontiert, und heute suchen sie ihr Heil in der Theorie, dass der Künstler aus dem ganzen ihm zur Verfügung stehenden Vorrat gewisse Sinneseindrücke auswählt und seine Kreativität auf der neuen Wirkung beruht, die er durch diesen Auswahlprozess bewirkt. Das Ergebnis sagt etwas über seinen besonderen Geschmack, d. h. seine Persönlichkeit, aus, oder aber es vermittelt uns durch das, was er hervorgehoben oder ausgelassen hat, seine Einsicht in die »Wirklichkeit« seines Gegenstandes, den er so zeigt, wie er wirklich ist – nicht eine Art Ding oder dieses oder jenes Geschöpf, sondern ein einzigartiges Individuum, das er »leidenschaftlich gesehen« 67 hat. In beiden Fällen stellt er das Unwesentliche zurück und akzentuiert das dem Gegenstand   Ebd., S. 46 f.   Vermutlich Verweis auf Walt Whitmans Gedicht »Song of the Banner at Daybreak« (aus: Leaves of Grass). [ A nm. d. Hg. ] 66 67

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Wesentliche, um so dessen Wesen oder seine eigenen Gefühle ihm gegenüber offenzulegen. Jede Analyse dieser Art führt nun aber zu einer grundlegenden Verwirrung von Kunst und Natur und bindet die künstlerische Wahrheit an dieselbe Instanz wie die Aussagenwahrheit, nämlich an das Abgebildete. Es erstaunt daher nicht, wenn einige Ästhetiker behaupten, unsere Wahrnehmung der Dinge, so wie der Maler sie gesehen habe, unterscheide sich der Art nach nicht von unseren Wahrnehmungen im praktischen Leben, sondern grenze sich nur hinsichtlich des Zusammenhangs und des Gebrauchs von diesen ab.68 Auf die Veränderungen, die ein Künstler durch Auswahl und Akzentuierung an der Erscheinung von Dingen vornimmt, das Wort »Schöpfung« anzuwenden, klingt ein wenig anmaßend. Einige bescheidene Gemüter begnügen sich daher damit, von der Kunst als »Nach-Schöpfung« der Erfahrung zu sprechen, einer »Abschrift« der gegenwärtigen Welt. Ein Prinzip der freien Gestaltung gibt es hier nicht; sämtliche Abweichungen vom Gewöhnlichen sind Anzeichen einer geistigen Unausgeglichenheit, sie »schaffen« Albträume »nach«. Die künstlerische Freiheit erschöpft sich in kleinen Freiheiten und taktvollen Bearbeitungen, der Künstler sich bei der Abschrift des Buchs der Natur nimmt. Wenn DeWitt Parker erklärt, dass ein Maler das von ihm Gesehene nachschaffe, dass es jedoch »für sein kritisches Auge etwas […] zu wenig oder zu viel, etwas Hinzuzufügendes oder Auszulassendes« 69 gibt, dann wird man nicht mehr dem Schluss entgehen können, dass der Künstler kleine Retuschen an der Realität vornimmt und damit die wirkliche Welt ein wenig verschönert. Man vergleiche dies mit der deutlichen, ans Prinzipielle gehenden Aussage in Hildebrands Buch: Was der Künstler uns vorstellig macht, lässt uns erkennen, wie die Formen im Kontinuum eines gesamten Vorstellungsraums sich aufeinander be  Vgl. Kap. 3, Fußnote ¶¶ (13).   DeWitt Parker, The Analysis of Art, New Haven u. London 1926, S. 51. 68 69



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ziehen. Alles, was er akzentuiert und ausgewählt hat, verfolgt ebenso wie radikale Verzerrungen oder starke Abweichungen von der »realen Form« der Gegenstände den Zweck, den Raum sichtbar und seine Kontinuität spürbar werden zu lassen. Der Raum selbst ist ein projiziertes Bild, und alles Abgebildete hilft dabei, ihn zu bestimmen und zu organisieren. Jede Darstellung bekannter Objekte ist, so sie überhaupt vorkommen, ein Mittel zu diesem Zweck. Der virtuelle Raum, die Essenz der bildenden Kunst, ist eine Schöpfung, keine Nach-Schöpfung. Dennoch waren die meisten großen Künstler und hier gerade die, die die kühnsten Abweichungen von der »realen Form« der Dinge vorgenommen haben, z. B. Leonardo und Cézanne, davon überzeugt, die Natur getreulich nachgebildet zu haben. Leonardo empfahl seinen Schülern sogar, eine Glasscheibe aufzustellen, durch die die Gegenstände gesehen werden konnten, und auf sie ihre Umrisse zu zeichnen. (Er selbst verzichtete selbstverständlich auf dieses Hilfsmittel, da er besonders gut aus der Hand zu zeichnen vermochte. Einen neuen Leonardo hat diese Methode seltsamerweise nicht hervorgebracht.) In Cézannes Überlegungen, die stets um die uneingeschränkte Autorität der Natur kreisen, offenbart sich das Verhältnis des Künstlers zu seinem Modell auf unbewusste und schlichte Weise: Die Verwandlung des natürlichen Objekts in Bildelemente vollzog sich in seinem Sehen, im Akt des Betrachtens, nicht im Akt des Malens. Indem er daher festhielt, was er sah, war er ernsthaft davon überzeugt, dass er genau das malte, was »da war«. In seiner Untersuchung des gesehenen Objekts legt er das Prinzip des Raumauf baus dar, das seine Gemälde bezeugen. »[D]ie Natur [bietet] sich mir sehr vielgestaltig dar […]. Man muß sein Modell gut betrachten und sehr richtig empfinden […]. Um Fortschritte zu machen, gibt es nur eins: die Natur; im Kontakt mit ihr wird das Auge erzogen. Es wird konzentrisch infolge des vielen Schauens und Arbeitens. Ich will damit sagen, daß es in einer Orange, einem Apfel, einer Kugel, einem Kopf einen kulminierenden Punkt gibt, und dieser Punkt ist – trotz der gewalti-

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gen Wirkung von Licht, Schatten und Farbeindrücken – stets unserem Auge am nächsten. Die Ränder der Gegenstände fliehen in der Richtung eines Punktes, der auf unserem Horizont liegt.«70 Der große Maler schreibt an dieser Stelle den von ihm gesehe­ nen Objekten die Eigenschaften zu, die Hildebrand im virtuellen Raum entdeckt: »Der eigentliche Raum aber, welcher erscheint, liegt hinter dieser Distanzschicht [der »Bildfläche«, der transformierten Oberfläche, SKL] oder fängt mit dieser erst eigentlich an. Unsere Vorstellung erfasst den Raum, indem sie in der vollen Ausdehnung unseres Sehfeldes eine Bewegung nach der Tiefe ausführt, nach der Tiefe strebt. […] Auf diese Weise werden alle räumlichen Beziehungen und alle Formunterschiede von einem Standpunkte aus so zu sagen von vorn nach hinten abgelesen.«71 Cézanne war in so ausgezeichneter Weise mit dem Auge eines Malers begabt, dass aufmerksames Schauen und räumliche Komposition für ihn ein und dasselbe waren. Der virtuelle Raum war die Wohnstätte seines Geistes. Vielleicht war auch Leonardo in der Lage, die »Natur« so naiv »abzubilden«, weil er tatsächlich nur das sah, was auf die Leinwand übertragen oder durch eine Glasscheibe nachgezeichnet die primäre Illusion, den Schein von Raum, entstehen ließ. (In dieser Weise ist der Blick des Malers tatsächlich selektiv; nur wird man die Linie, die eine Form »auswählt«, nie in der Wirklichkeit finden.) Es bedarf eines geringeren Künstlers, eines, der das alltägliche Licht kennt, um festhalten, durch welchen Interpretationsprozess die Sinnesdaten, diese für das normale Auge nur zur Hälfte gesehenen Anzeichen der physikalischen Bedingungen, von dieser Aufgabe entbunden werden und als vollständig gesehene zu neuen abstrahierten Formen werden, in denen sich das Aufleuchten des Fühlens und der Sinn des vitalen Prozesses sichtbar artikulieren. Hildebrand, der kein Maler war und bestenfalls ein zweitklassiger Bildhauer, war als Theoretiker oft im Vorteil.   Paul Cézanne, Briefe, Zürich 1979. Die beiden Zitate finden sich in zwei Briefen an Émile Bernard vom 12. Mai und 25. Juli 1904. 71 Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst, a. a. O., S. 55. 70



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Allen Werken der bildenden Kunst ist gemeinsam, dass sie einen »virtuellen Raum« schaffen. Doch damit wird nur das Universum hergestellt, in dem die symbolische Form existiert. Es gibt unendliche Grade der Expressivität. Der künstlerische Erfolg wäre dann vollkommen, wenn eine Idee vollkommen artikuliert und die Wirkung perfekte Lebendigkeit des Werkes wäre. »Tote Flecken« sind nichts anderes als nicht-expressive Teile. Vom ersten bis zum letzten ist jeder Pinselstrich Komposition. Ist dies Ziel erreicht, haben wir eine echte »signifikante Form« vor uns. [Siehe Tafel V, S. 161] Durch nichts wird die symbolische Bedeutsamkeit der virtuellen Formen deutlicher vorgeführt als durch die ständigen Verweise, wie wir sie in den Reden und Schriften der Künstler finden, auf das »Leben« von Gegenständen in einem Bild (Tische und Stühle ebenso wie Geschöpfe) und auch auf die Bildfläche selbst als eine »beseelte« Oberfläche. Das Leben in der Kunst ist ein »Leben« der Formen oder sogar des Raumes selber. Einem Überblick über theoretische Äußerungen einer Anzahl von Künstler der unterschiedlichsten Schulen und Standpunkten72 können wir Hinweise auf diese grundlegende Wirkung auf allen Ebenen der Bildkonzeption entnehmen, angefangen von dem schlichten Bestreben, menschliches Handeln »nachzu­ ahmen«, bis hin zu mystischen Konzeptionen eines durch Farben oder geometrische Linien vermittelten Dynamismus. »Die künstlerische Form«, so Liebermann, »ist lebendige Form. Es leuchtet ein, dass diese Form die Grundlage aller bildenden Kunst ist. Aber sie ist viel mehr: sie ist auch das Letzte und Höchste.« In seinen Bemerkungen zu Ingres’ Mme. Riviére sagt Walter Sickert: »Die Zeichnung ist zu etwas Lebendigem geworden, mit einem Leben, einem eigenen Soll und Haben. Was sie sich hier geborgt hat, kann sie nach Belieben dort zurückzahlen,   Vor mir liegt eine äußerst interessante Anthologie, nämlich Artists on Art, die von Robert Goldwater und Marco Treves herausgegeben worden ist (New York 1945). Alle nachstehenden Zitate stammen, sofern nichts anders angegeben ist, aus dieser Quelle. 72

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oder auch nicht.« Und an anderer Stelle: »Unter Rembrandts Radierungen sind Die badenden Knaben reine Zeichnung ohne Polsterung. Nicht eine Linie darin, die nicht lebendig wäre.« Fernand Léger nimmt für Farben dasselbe in Anspruch, was Sickert Zeichnungen und sogar bloßen Linien zuschreibt: »[…] Farbe verfügt über eine eigene Wirklichkeit, ein eigenes Leben.« Kandinsky spitzt die Metapher vom »Leben« noch weiter zu, indem er sie bewusst der buchstäblichen Bedeutung in seinem Vergleich einer abstrakten Linie mit einem Fisch angleicht: »Diese isolierte Linie wie auch der isolierte Fisch sind lebendige Wesen mit ihnen eigenen Kräften – verborgenen Kräften. Es sind Kräfte des Ausdrucks für diese Wesen und Kräfte des Eindrucks für die menschlichen Wesen. Weil jedes Wesen ein beeindruckendes ›Gesicht‹ hat, das sich durch seinen Ausdruck manifestiert. Es ist die Umgebung der Linie und des Fisches, die das Wunder zustandebringt, daß die verborgenen Kräfte erwachen, der Ausdruck strahlend wird und der Eindruck tief. Statt einer schwachen Stimme hört man einen Chor. Die verborgenen Kräfte sind dynamisch geworden. Die Umgebung ist die Komposition. Die Komposition ist die organisierte Summe von inneren Funktionen (Ausdrücken) aller Teile des Werkes.« Damit gelangen wir zu der noch allgemeineren Idee vom »Leben« in einem Bild, von der »Belebung« der Leinwand selbst, der Oberfläche als ganzer. Auch dies ist für einen Maler eine natürliche Vorstellung. Edward Wadsworth formuliert es so: »Ein Bild ist in erster Linie die Belebung einer unbelebten zweidimensionalen Oberfläche durch den räumlichen Rhythmus von Formen und Farben.« Und Alfred Sisley meint: »Zu den schwierigsten Problemen der Malerei gehört die Belebung der Leinwand. Dem Kunstwerk Leben einzuhauchen ist zweifellos die notwendigste Aufgabe des echten Künstlers. Alles muss diesem Zweck untergeordnet sein: Form, Farbe, Fläche.« Worin besteht nun dieser Vorgang der »Belebung« einer Fläche, die in Wirklichkeit »unbelebt« ist? Eben darin, dass die re-



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ale räumliche Gegebenheit, die Leinwand oder das Blatt Papier, in einen virtuellen Raum verwandelt wird, dass die primäre Illusion des künstlerischen Sehens geschaffen wird. Diese erste Neuausrichtung ist von solch einer Bedeutung, dass einige Maler, die sich dessen in aller Schärfe bewusst geworden sind, sich mit der bloßen Schöpfung von Raum begnügen, und ganz davon absehen, dass sich in seinen virtuellen Dimensionen auch noch anderes erschaffen lässt – man denke an Malewitsch und seine Faszination für das magische Quadrat, das letztlich Raum und nur Raum erzeugt. Und diejenigen, denen der Unterschied zwischen der realen Oberfläche und der Bildebene noch nicht deutlich geworden ist, neigen dennoch dazu, ihn zu empfinden, wie es fraglos bei Redon der Fall war, als er über seine »unbesiegbare Absonderlichkeit« bemerkte: »Ein weißes Blatt Papier jagt mir Angst und Schrecken ein. […] Ein Blatt Papier entsetzt mich derart, dass ich, sobald es auf der Staffelei ist, sogleich gezwungen bin, mit Kohle, Bleistift oder irgendetwas anderem darauf zu kritzeln, und dieser Prozess verleiht ihm Leben.« Es ist nun kein Papier mehr, sondern ein Raum. Für die großen Maler ist die Illusion von Raum normalerweise so selbstverständlich, dass sie sogar dann, wenn sie über die reale materielle Oberfläche sprechen, dies nur in Bezug auf das Element des Geschaffenen tun können. Etwa Matisse: »Wenn ich ein Blatt Papier mit einer bestimmten Größe nehme, werde ich es mit einer Zeichnung versehen, die in einer notwendigen Beziehung zu seinem Format steht. […] Und wenn ich sie auf einem Papier, das dieselben Proportionen hat, aber zehn Mal größer ist, wiederholen müsste, würde ich mich nicht darauf beschränken, sie zu vergrößern: eine Zeichnung muss über ein Ausdehnungsvermögen verfügen, das den sie umgebenden Raum lebendig macht.« Das alles ist natürlich nur metaphorisch gesprochen. Doch auch wenn wir es als Metapher nehmen, was bedeutet es? In welchem Sinn ist es möglich zu sagen, van Goghs gelber Stuhl oder ein Atelierofen seien lebendig? Was tut eine Fläche, wenn

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sie, wie Alfred Sisley sagte, »manchmal zur höchsten Stufe der Lebendigkeit« erhoben wird? Solche vollkommen berechtigten Fragen würden fast jedem Künstler banausisch, ja abwegig erscheinen. Möglicherweise besteht er in vollem Ernst darauf, dass er sich keineswegs einer Metapher bedient habe, dass der Stuhl wirklich lebendig ist und eine belebte Fläche wirklich lebt und atmet usw. Das heißt einfach, dass sein Gebrauch von »Leben« und »lebendig« ein stärkerer symbolischer Modus ist als eine Metapher: Es ist ein Mythos. Das Kennzeichen eines echten Mythos ist sein Vermögen, seine Erfinder als buchstäbliche Wahrheit zu beeindrucken, auch wenn alle Beweise für das Gegenteil sprechen und sämtliche Argumente ignoriert werden. Es scheint sich um eine dermaßen heilige Wahrheit zu handeln, dass zu fragen, in welchem Sinn er denn wahr sei, oder ihn als Redefigur zu bezeichnen, einer Frivolität gleichzukommen scheint. Denn er ist eine Gedanken-, nicht bloß eine Redefigur, und sie zu zerstören heißt, eine Idee in ihrer reinen Form, wenn sie den Menschen gerade dämmert, zu zerstören. Eben deshalb sind mythische Überzeugungen wirklich heilig. Sie gehen mit einer noch nicht ausformulierten Idee schwanger.73 Eines Tages wird diese Idee jedoch reifen müssen, sich von dem phantastischen Nährboden lösen und eine logische Form annehmen. Wenn dies geschieht, ruft sie zunächst die Partei der Gläubigen und die der Spötter auf den Plan, wobei Letztere einfach nicht verstehen, wie irgendjemand etwas derartig Widersinniges vertreten kann. Am Ende stellt kein ernsthafter Denker den Mythos mehr infrage. Er scheint eine naheliegende Redefigur für eine anerkannte Tatsache zu sein. So wie es aus  Diese von Ernst Cassirer in der Philosophie der symbolischen For­ men (3 Bde., Berlin 1923–29, jetzt in: Gesammelte Werke, Bd. 11–13, Hamburg 2001 f.) entwickelte Theorie vom Wesen des Mythos habe ich bereits mit Blick auf philosophische Lehren in Neue Tonart, Kap. 7 sowie ausführlicher in einem früheren Buch, nämlich The Practice of Philosophy (New York 1930) erörtert. 73



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sieht, ist die Tatsache an anderer Stelle, im rationalen Diskurs, gefunden worden. In Wahrheit ist das diskursive Denken einfach mit ihr vertraut geworden und hat der neuen Idee einen wörtlichen Ausdruck verliehen, so dass die Fakten nun in ihrem Lichte betrachtet werden können. Die »lebendige Form« ist das unanfechtbarste Produkt aller guten Kunst, sei es Malerei, Architektur oder Keramik. »Lebendig« ist eine solche Form in derselben Weise, in der eine Bordüre oder ein Spirale aus sich heraus »wachsen«: Sie drückt Leben aus – Gefühl, Wachstum, Bewegung, Emotion und all das, was für die lebendige Existenz charakteristisch ist. Zudem ist dieser Ausdruck keine Symbolisierung im gewöhnlichen Sinn, also keine konventionelle Zuschreibung von Bedeutung, sondern die Darstellung einer hochgradig artikulierten Form, in welcher der Betrachter, ohne bewusst zu vergleichen oder zu beobachten, sondern vielmehr durch unmittelbares Erkennen, die Formen des menschlichen Fühlens wahrnimmt: Emotionen, Stimmungen, selbst Empfindungen mit dem für sie charakteristischen Vergehen. Die intellektuelleren Künstler (damit meine ich die mit einem scharfen Verstand und nicht jene, die sich in Programmschriften zur Kunst ergehen) – Delacroix, Matisse, Cézanne und einige jüngere, nicht immer gleichermaßen wortmächtige Männer – haben dies ganz deutlich erkannt. Die »lebendige« Form ist der Symbolismus, durch den die Idee lebendiger Wirklichkeit vermittelt wird, und die gefühlsmäßige Bedeutsamkeit gehört zur Form selbst und nicht zu etwas, das sie darstellt oder andeutet. »Unsere ganze Innenwelt ist Wirklichkeit«, erklärt Chagall, »und das vielleicht in höherem Maße als die sichtbare Welt.« Mit Sicherheit ist es diese Wirklichkeit, die Mondrian in seinen Überlegungen pries: »›Kunst‹ ist nicht der Ausdruck der Erscheinung von Wirklichkeit, so wie wir sie sehen, noch des Lebens, so wie wir es führen, sie ist […] vielmehr der Ausdruck wahrer Wirklichkeit und wahren Lebens […], undefinierbar, aber doch im Plastischen erkennbar.« Kunst ist, wie Marsden Hartley bemerkte, logischer und nicht psychologischer Ausdruck: »Maler müssen zu ihrer eigenen Er-

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bauung und ihrem Vergnügen malen, und es ist das, was sie zu sagen haben, nicht das, was zu fühlen sie sich genötigt sehen, wird die interessieren, die an ihnen interessiert sind. Der Gedanke der Zeit ist das Gefühl der Zeit.« Der letzte Satz ließe sich abwandeln: Das Gefühl im Werk ist der Gedanke im Werk. So wie der Inhalt eines Diskurses der diskursive Begriff ist, so ist der Inhalt eines Kunstwerks der nicht-diskursive Begriff des Fühlens, und ausgedrückt wird er unmittelbar durch die Form, die Erscheinung vor uns. Courbet sagte dazu: »Sobald das Schöne real und sichtbar ist, enthält es seinen eigenen künstlerischen Ausdruck.« Maurice Denis äußerte sich in eben diesem Sinn: »Das Gefühl – sei es bitter, süß oder wie die Maler sagen »literarisch« – entspringt der Leinwand selbst, einer glatten, mit Farbe überzogenen Fläche.74 Es gibt keinen Grund, die Erinnerung an einen früheren Sinneseindruck (etwa an einen von der Natur abgeleiteten Gegenstand) dazwischenzuschalten.« Und ferner: »Ein byzantinischer Christus ist ein Symbol; der Jesus eines modernen Malers ist, mag er auch einen noch so korrekt gezeichneten Turban tragen, bloß literarisch. Im einen Fall ist die Form expressiv, im anderen will die Nachahmung der Natur es sein.« Am deutlichsten aber sagt es Henri Matisse: »Nach meinem Dafürhalten besteht der Ausdruck nicht in der Leidenschaft, die sich auf einem menschlichen Antlitz spiegelt, noch in einer heftigen Geste. Die ganze Anordnung meines Bildes ist expressiv. Der von den Figuren oder Objekten eingenommene Ort, der sie umgebende leere Raum, die Proportionen – all das spielt eine Rolle. […] [Abb. VI u. VII, S. 181 u. 182] Ein Kunstwerk muss seine vollständige Bedeutung in sich selbst tragen und sie dem Betrachter aufdrängen, noch bevor er den Gegenstand ausmachen kann. Wenn ich Giottos Fresken   In gewisser Weise ist dies richtig, besser aber wäre es zu sagen, es entspringe der Illusion, die durch die Farben auf der Leinwand geschaffen worden ist, den Formen im virtuellen Raum. Würden diese nicht erzeugt werden, vermittelten die Farben nichts Bemerkenswertes. 74



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Abb. VI. Giotto, »Die Heimsuchung«

in Padua betrachte, kümmere ich mich nicht darum, welche Szene aus dem Leben Christi ich vor mir sehe, vielmehr nehme ich sogleich die Empfindung wahr, die von ihnen ausstrahlt und die Komposition in jeder Linie und Farbe erfüllt. Der Titel dient nur dazu, meinen Eindruck zu bestätigen.« Vom ersten Strich einer dekorativen Zeichnung bis zu den Werken Raffaels, Leonardos oder Rubens’ wird dasselbe Prinzip der bildenden Kunst voll und ganz veranschaulicht: die Schaffung eines virtuellen Raums und seine Organisation durch

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Abb. VII. Matisse, »Atelier in Nice«



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Formen (das mögen Linien, Volumina, sich überschneidende Flächen, Schatten oder Helligkeit sein), die die Muster von Empfinden und Fühlen wiedergeben. Der Bildraum, ob er nun zwei- oder dreidimensional konzipiert wird, löst sich vom realen Raum, in dem die Leinwand oder andere physische Träger exis­ tieren. Seine Funktion als Symbol gestaltet die Gegenstände in einem Bild so, dass sie sich von gewöhnlichen physischen Gegenständen ebenso stark unterscheiden, wie ein gesprochenes Wort sich vom Klang von Schritten, Rascheln, Geklapper oder Geräusch unterscheidet, die es für gewöhnlich begleiten und manchmal übertönen. Der leise Klang einer Stimme nimmt das Ohr inmitten eines Durcheinanders mechanischer Töne gefangen, und er ist etwas völlig anderes, da seine Bedeutung einer anderen Ordnung angehört. In ähnlicher Weise nimmt der Raum in einem Bild unseren Blick völlig in Beschlag, weil er in sich bedeutungsvoll ist, und nicht als Teil des umgebenden Raums. Die primäre Illusion des virtuellen Raums entsteht mit dem ersten Pinsel- oder Bleistiftstrich, der den Geist gänzlich auf die Bildebene lenkt und die realen Grenzen des Blicks neutralisiert. So erklärt sich, warum Redon sich beim Anblick eines leeren Papiers auf seiner Staffelei gedrängt fühlte, so schnell wie möglich mit irgendetwas, das eine Spur hinterließ, darauf zu kritzeln. Man ziehe nur eine Linie im virtuellen Raum, und sogleich sind wir im Reich der symbolischen Formen. Die geistige Verschiebung ist hier nicht weniger deutlich als diejenige, den wir vom Hören eines Klopfens, Quietschens oder Summens zum Hören von Sprache vollziehen, wenn wir plötzlich inmitten all der kleinen uns umgebenden Laute ein einzelnes Wort ausmachen. Der ganze Charakter unseres Hörens ist dann wie verwandelt. Das Durcheinander physikalischer Geräusche löst sich auf, das Ohr empfängt Sprache, vielleicht aufgrund der störenden Töne nur undeutlich, doch sie kämpft sich durch diese hindurch, als sei sie etwas Lebendiges. Genau dieselbe Art der Neuorientierung bewirkt die Schöpfung jedes rein visuellen Raums für den Gesichtssinn. Das Bild, sei es eine Darstellung oder ein bloßes Muster, steht in seiner Expressivität vor uns: als signifikante Form.

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Aus eben diesem Grund haben Künstler und gebildete Kunstliebhaber es nicht nötig, die »ästhetische Einstellung« zu kultivieren. Sie wählen nicht Sinnesdaten aus der realen Welt aus und betrachten sie dann als rein qualitative Erfahrungen. Der Maler hat sie für sie »ausgewählt«, und er hat nur jene sinnlichen Qualitäten verwendet, die er gebrauchen konnte, um die von ihm für die Organisation des virtuellen Gesamtraums gewünschten illusorischen Formen zu schaffen. Die Betrachtung seiner geschaffenen Formen, den ganzen organisierten Scheins, sollte uns so leicht gemacht werden, dass die Rückkehr zur Wirklichkeit wie ein Aufschrecken ist. In Gegenwart großer Kunst ist es manchmal kaum möglich, auf seine reale Umwelt zu achten. Die primäre Illusion jeder Kunstgattung ist die grundlegende Schöpfung, in der alle ihre Elemente existieren; umgekehrt bringen diese ihrerseits sie hervor und stützen sie. Sie existiert nicht aus sich selbst heraus. »Primär« bedeutet hier nicht, dass sie als erstes vorhanden ist, sondern dass sie immer vorhanden ist, wo überhaupt irgendwelche Elemente gegeben sind. Es gibt zahllose Möglichkeiten, Raum sichtbar zu machen, d. h. ihn virtuell darzustellen. Welches sind nun die »Elemente« eines Kunstwerks? Elemente sind Momente des Scheins und als solche sind sie selbst virtuell, sind sie unmittelbare Bestandteile der Gesamtform. Darin unterscheiden sie sich von Materialien, die real sind. Farben (paints) sind Materialien, und so auch die Farben (colors), die Maler in der Tube haben oder auf der Palette; in einem Bild aber sind Farben Elemente, die durch ihre Umgebung bestimmt sind. Sie sind warm oder kalt, sie lassen andere Farben hervor- oder zurücktreten, verstärken, dämpfen oder beherrschen sie; sie erzeugen Spannungen und sorgen für Akzente im Bild. Die Farben in einem Farbkasten leisten nichts dergleichen. Sie sind Materialien und liegen in ihrem realen, undialektischen Materialismus einfach nur nebeneinander. Die Wahl der Materialien mag selbstverständlich die Bandbreite der verfügbaren Elemente beeinflussen. Die Lichtdurchlässigkeit von Glas erlaubt es, besondere Farbelemente herzu-



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stellen und zu verwenden, die von Farben auf einem hölzernen Untergrund niemals zustande gebracht werden könnten. Glasund Holzmalerei stellen daher den Künstler vor unterschied­ liche Probleme und regen dazu an, unterschiedliche Ideen zum Ausdruck zu bringen. Manchmal wird gesagt, Glas und Holz »fühlten sich unterschiedlich an«. Sie erlauben, ja fordern ganz bestimmte Formen und damit natürlich auch eine bestimmte Bandbreite der vitalen Bedeutsamkeit. All die erkennbaren Elemente in einem Bild unterstützen die primäre Illusion, die selbst unveränderlich ist, während die sie artikulierenden Formen unendlich wandelbar sind. Die primäre Illusion ist ein Substrat des Reichs virtueller Formen. Sie ist an ihrem Auftreten beteiligt.75 Die primäre Illusion verfügt jedoch über verschiedene Modi, über unterschiedliche grundlegende Konstruktionsmöglichkeiten, die klar distinkte Bereiche der bildenden Kunst entstehen lassen. Es genügt nicht zu verstehen, in welchem Sinn alle bildenden Künste ein und dasselbe sind, denn das würde nur zu vorschnellen Gleichsetzungen und fatalen Verwechslungen führen. Im Lichte der elementaren Funktion – der Erschaffung der primären Illusion an sich – können wir es jedoch wagen, allen Unterscheidungen nachzugehen, mit deren Hilfe verschiedene Kunstformen voneinander abgrenzbar sind, ohne dabei Gefahr zu laufen, uns in den vorgefassten Kategorien rein akademischer Beschreibung zu verlieren.

  Es mag auch sekundäre Illusionen geben, gewisse nicht visuell erzeugte Wirkungen wie etwa »ein Bewusstsein von Zeit«, das, was Malraux »Heiligkeit« nennt, ein Gefühl von Dramatik, »Kräften« usw., welche die plastische Absicht unterstützen. Die Funktion solcher sekundärer Formen des Scheins wird später noch zu betrachten sein. 75

6. Kapitel Die Modi des virtuellen Raums Bislang haben wir uns nur mit der »visuellen Projektion« beschäftigt, in der Raum als Beziehung zwischen Gegenständen begriffen wird, die sich in einem gewissen Abstand zu einem bestimmten Brennpunkt befinden, aber auch jenseits von ihm, hinter ihm liegen. Die Bildebene täuscht dieses Muster vor. Aber sie rückt ihre Fläche nicht einfach an die Stelle anderer Eindrücke, die wir möglicherweise haben. In physischer Hinsicht ist ein Bild für gewöhnlich nur einer von mehreren Gegenständen, die uns ins Auge fallen, es ist von einer Wand, Möbeln, Fens­tern usw. umgeben. Nur sehr wenige Bilder sind so groß, dass sie unser Blickfeld aus einer normalen Entfernung gänzlich ausfüllen, d. h. aus einer Entfernung, die uns die dargestellten Formen am vorteilhaftesten sehen lässt. Dennoch ist ein Bild ein vollständiges visuelles Feld. Seine erste Aufgabe besteht darin, einen einzigen, in sich geschlossenen Wahrnehmungsraum zu schaffen, der uns ebenso natürlich gegenübertritt wie die Szene, die sich vor unseren Augen entfaltet, wenn wir sie auf die reale Welt richten. Damit ist gesagt, dass die in der bildenden Kunst erzeugte Illusion eine virtuelle Szene ist. Wenn ich von »Szene« spreche, dann nicht in dem speziellen Sinn von »Szenerie« – das Bild kann sehr wohl nur ein Objekt darstellen oder auch nur aus rein dekorativen Formen ohne jeden Darstellungswert bestehen – doch es schafft immer einen dem Auge gegenüberliegenden Raum, einen Raum, der sich unmittelbar und wesentlich ans Auge richtet. Genau das nenne ich »Szene«. Der Begriff des Wahrnehmungsraums als virtueller Szene leitet sich von Hildebrand her, und die Idee, dass er durch rein visuelle Formen erzeugt wird, ja dass visuelle Mittel an die Stelle aller anderen normalen Mittel treten, ist sein wesentlicher Beitrag zur Kunsttheorie. Leider bringt er sein Steckenpferd durch



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einen unüberlegten Sprung zu Fall. Man ist oft stark in Versuchung, von einer Theorie einen weitergehenden Gebrauch zu machen, ohne zu untersuchen, was an ihr wirklich allgemein ist und was speziell, und folglich neues Material so hinzubiegen, dass es theoretische Bedingungen erfüllt, die nicht seine eigenen sind, statt das allgemeine Prinzip, das auch den neuen Fall erfassen würde, exakt zu formulieren. Dass der Bildhauer Hildebrand dieser Versuchung in der Weise, in der er es tat, erlegen ist, ist jedoch merkwürdig; statt in seinen Überlegungen von dem Feld ausgehen, das er am besten kennt, und dann möglicherweise einige Prinzipien auf andere Gebiete anzuwenden (was, sei es auch noch so schade, immerhin verständlich wäre), überträgt er den Begriff des Bildraums mit allem Drum und Dran auf die Bildhauerei. Damit macht er seine eigene Kunst zu einem Stiefkind und analysiert sie in wesentlich malerischen Begriffen. Folglich ist das Basrelief für ihn die Matrix der skulpturalen Form und die Dreidimensionalität entweder ein untergeordnetes Charakteristikum oder ein Verfahren, um viele Bilder (d. h. Aspekte einer Figur) durch höchstes technisches Geschick zu einem physischen Objekt zu verbinden. So wie das Formproblem für den Maler darin besteht, scheinbare Volumina mittels einer zweidimensionalen Fläche zu erschaffen, so besteht das der Bildhauerei, folgen wir Hildebrand, darin, mithilfe eines realen Volumens eine zweidimensionale Bildebene zu schaffen.76 Diese durch den Zwischenschritt der Reliefschnitzerei erzielte Angleichung der Bildhauerei an die Malerei widerstreitet dem skulpturalen Sinn der meisten Menschen, und der innere Protest dagegen wird nur noch entschiedener, wenn auch die Architektur nonchalant als nur eine andere Art der Bildherstellung betrachtet wird und Bauwerke zu eine Ansammlung von   Für Hildebrand dient die dreidimensionale Skulptur demselben Zweck wie ein chinesisches Rollbild: Es liefert eine kontinuierliche Reihe bildlicher Kompositionen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass man die Rolle entrollt, aber um die Statue herumgeht. Vgl. Das Problem der Form, a. a. O., S. 87. 76

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Fassaden ohne jedes innere Gefühl werden. Das ist eine viel zu simple Weise, um von einer speziellen Theorie des Bildraums zum Begriff des Wahrnehmungsraums im Allgemeinen zu gelangen, der allen sogenannten »bildenden Künsten« zugrunde liegt und aus ihnen eine einzige Familie bildet. Jedes ihrer Mitglieder hat seine eigene Seinsweise. Wenn wir diese getrennten Weisen anerkennen, müssen wir nicht befürchten, ihre grundlegende Beziehung zueinander zu übersehen. Nicht die Szene ist die primäre Illusion – sie ist nicht mehr als eine ihrer Artikulationen –, sondern der wie auch immer konstruierte virtu­ elle Raum. Malerei, Bildhauerei und Architektur: Dies sind drei große Manifestationen des Raumentwurfs. Sie sind gleichermaßen originell und gleichermaßen dazu bestimmt, vollständig entwickelt zu werden, ohne miteinander verwechselt zu werden. Selbst wenn die eine in den Dienst der anderen gestellt wird, verschmelzen ihre verschiedenen Charaktere nicht zu einem. Wir dürfen daher erwarten, dass die Bildhauerei ihre eigene Version des virtuellen Raums besitzt und ebenso auch die Architektur, statt dass in der Malerei das Maß allen plastischen Ausdrucks gesehen wird. Das, wodurch eng verwandte Künste sich unterscheiden, ist nicht weniger interessant als das, wodurch sie sich ähneln. Gerade durch die Unterschiede erhält diese vielseitige Familie ihren beeindruckenden Reichtum und ihre Bandbreite. Im Bereich der Skulptur scheint die Illusion eine weniger wichtige Rolle zu spielen als in der Malerei, in der eine glatte Fläche einen dreidimensionalen Raum »schafft«, der offensichtlich virtuell ist. Eine Skulptur ist tatsächlich dreidimensional. In welchem Sinn »schafft« sie dann einen Raum für das Auge? Vermutlich war es diese Frage, die Hildebrand zu der Behauptung veranlasste, es sei die Aufgabe des Bildhauers, ein dreidimensionales Objekt in der zweidimensionalen Bild­ ebene des »Wahrnehmungsraums« darzustellen. Doch obwohl die Antwort seiner Theorie genügt, ja sie geschickt vervollständigt, fehlt es ihr an einer Bestätigung durch die unmittelbare Erfahrung oder die künstlerische Anschauung. Bildhauer selbst denken selten im Sinne von Bildern oder idealen Sichtebenen,



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die hintereinander gestaffelt einen Tiefenraum ergeben – es sei denn, es geht um vollkommen flache Reliefs mit rechtwinkligen Schnitten oder bloß eingeritzten Linien. Dann haben wir es tatsächlich mit einer Bildkunst zu tun, in der der Stichel den Pinsel ersetzt. Die Skulptur, selbst wenn sie mit einem Hintergrund verschmolzen ist, ist wesentlich Volumen, nicht Szene. Das Volumen ist allerdings kein Raummaß wie der Raum, den eine Kiste einschließt. Es ist mehr als die Masse der Figur; es ist ein sichtbar gemachter Raum, und es ist mehr als der Platz, den die Figur tatsächlich einnimmt. Die materielle Form wird durch einen leeren Raum ergänzt, den sie unbedingt erfordert, der mit ihr und nur mit ihr gegeben ist und der in der Tat Teil des skulpturalen Volumens ist. Die Figur selbst scheint in einer Art Kontinuität mit der sie umgebenden Leere zu stehen, wie sehr ihre feste Masse sich auch als solche behaupten mag. Sie wird von einer Leere eingeschlossen, und der sie einschließende Raum hat als Fortsetzung der Figur eine lebendige Form. Die Quelle dieser Illusion – der leere, nicht eingeschlossene Raum hat ja in Wahrheit keine sichtbaren Teile und keine sichtbare Gestalt – ist das grundlegende Prinzip des skulpturalen Volumens: der Schein eines Organismus. In der Literatur über Bildhauerei findet man häufiger als anderenorts Verweise auf die »zwangsläufige Form«, die »notwendige Form« und die »unantastbare Form«. Was aber bedeuten diese Ausdrücke? Was in der Natur sorgt dafür, dass Formen »zwangsläufig«, »notwendig«, »unantastbar« sind? Nur die vitale Funktion. Lebendige Organismen erhalten sich selbst, widerstehen Veränderungen, streben danach, ihre Struktur wiederherstellen, wenn sie gewaltsam beschädigt worden ist. Jedes andere Muster ist kaleidoskopisch und zufällig. Doch Organismen, die für sie charakteristische Funktionen ausüben, müssen gewisse allgemeine Formen aufweisen oder aber zugrunde gehen. Sie stehen unter einer Regel für die organische Struktur, der zufolge sie sich zwangsläufig selbst auf bauen, indem sie Materie aus ihrer zufälligen Umgebung aufnehmen, und ihre Teile sind von der Art, dass sie diesen zunehmend komplexer werdender Prozess fortfüh-

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ren. Daher haben die Teile eine für ihre jeweilige Funktion notwendige Gestalt. Die äußerst spezialisierten Aktivitäten werden jedoch in jedem Augenblick von dem Prozess unterstützt, dem sie dienen: dem Leben des Ganzen. Das Unantastbare ist daher das funktionale Ganze. Zerfällt es und hören sämtlich untergeordneten Aktivitäten auf, fallen die einzelnen Bestandteile auseinander und die »lebendige Form« ist verschwunden. Keine andere Art der Form ist im eigentlichen Sinn »notwendig«, denn Notwendigkeit setzt eine gewisse Teleologie voraus, und allein das Leben verfügt über ein τέλος. Allein das Leben erlangt, einmal in Gang gesetzt, zwangsläufig bestimmte Formen, solange es sich überhaupt erhält: Aus der Eichel wird eine Eiche, aus dem Sperlingsei ein Sperling, aus der Made eine Fliege. Jede andere Materieballung mag eine Form haben, in der sie norma­ lerweise auftritt, sie strebt aber nicht danach, diese zu erreichen, noch sich in ihr zu erhalten. Ein entzweigebrochener Kristall ergibt schlicht zwei Kristallstücke. Ein zweigeteiltes Geschöpf stirbt entweder, d. h. es zerfällt, oder es regeneriert einen Teil oder beide, um dann wieder als ein Ganzes zu wirken. Es könnte sogar auseinanderfallen, weil die beiden neuen Ganzen schon vorgeformt sind oder die Regeneration nahezu abgeschlossen ist, so dass das Auseinanderbrechen Teil seiner Dynamik ist. An einem bildhauerischen Werk ist nichts wirklich organisch. Selbst geschnitztes Holz ist tote Materie. Allein seine Form ist die Form des Lebens, und der von ihm sichtbar gemachte Raum ist so belebt, wie er es durch eine organische Tätigkeit in seinem Mittelpunkt sein würde. Es handelt sich um ein virtuelles kinetisches Volumen, das durch den Schein der lebendigen Form und mit ihm geschaffen worden ist. Dabei muss eine Skulptur nicht einen natürlichen Organismus darstellen. Auch Figuren, die nichts Konkretes darstellen, können den Schein von Leben mit sich führen, wie etwa ein schlichter, behauener Monolith, monumentale Säulen, reine Erfindungen oder Wandschirme, Urnen usw., Dinge, die keinen anderen Gegenstand als das darstellen, was sie sind, mithin sich selbst. Sie könnte auch etwas Unorganisches darstellen wie Boc-



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cionis Flaschen oder Moores Körbe und Vogelkäfige und dennoch eine vollkommen lebendige Form sein. Denn was einer Skulptur »Leben« verleiht, ist der Ausdruck des biologischen Fühlens, nicht die Andeutung einer biologischen Funktion. Wo dieses Gefühl wirklich vermittelt wird, haben wir den Schein der »zwangsläufigen«, »notwendigen« und »unantastbaren« Form vor Augen, die den von ihr ausgefüllten Raum organisiert und auch den Raum, der sie zu berühren und für ihre Erscheinung notwendig zu sein scheint. Die primäre Illusion, der virtuelle Raum, ist hier in einem Modus geschaffen worden, der sich von demjenigen der Malerei stark unterscheidet. Im Falle der Malerei ist die Szene unmittelbares Sehfeld. Die Skulptur schafft einen ebenso sichtbaren Raum, aber keinen, der sich unmittelbar dem Gesichtssinn darbietet, denn Volumen ist eigentlich und ursprünglich etwas für den Tastsinn, und zwar sowohl haptisch als auch dadurch, dass er der Bewegungsfreiheit des Körpers ein Hindernis ist. Das Geschäft des Bildhauers besteht nun darin, die Volumendaten ins rein Visuelle zu übertragen, d. h. den tastbaren Raum sichtbar zu machen. Die innige Beziehung zwischen Tast- und Gesichtssinn, die durch den Schein des kinetischen Volumens zustande kommt, erklärt zum Teil die komplexe sinnliche Reaktion, welche Laien ebenso wie Bildhauer ihm gegenüber zeigen. Viele Leute verlangt es danach, jede Figur anzufassen. Bei manchen entspringt der Wunsch zweifellos sentimentalen Gründen: Sie anthropomorphisieren die Statue und stellen sich einen menschlichen Kontakt vor. Genau diese Haltung brachte Rodin zum Ausdruck, und das Wissen darum, dass er kalten Marmor berühren würde, ließ ihn wehmütig werden, wie Pygmalion.77 Andere jedoch – vermutlich die Mehrheit der Künstler – stellen sich die Berührung von Stein oder Holz, Metall oder Ton vor; sie wollen die Substanz fühlen, mit der sie es wirklich zu tun haben, und   Auguste Rodin, Die Kunst. Gespräche des Meisters gesammelt von Paul Gsell, Leipzig 1912, S. 70 f. 77

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ihre Hand über ihre reine Form gleiten lassen. Sie wissen, dass die Empfindung nicht immer den visuellen Eindruck bestätigt, ja ihm unter Umständen sogar widerspricht. Dennoch sind sie davon überzeugt, dass ihre Wahrnehmung des Werkes auf irgendeine Weise dadurch geschärft wird. Die skulpturale Form ist eine wirkmächtige Abstraktion von wirklichen Objekten und vom dreidimensionalen Raum, den wir mit ihrer Hilfe durch den Tast- und Gesichtssinn konstruieren. Sie schafft ihre eigene dreidimensionale Konstruktion, nämlich den Schein eines kinetischen Raums. So wie unser unmittelbares Gesichtsfeld in Wirklichkeit als eine Ebene in der Entfernung eines natürlichen Brennpunkts organisiert ist, so ist auch der kinetische Bereich berührbarer Volumina oder Dinge und freier Lufträume zwischen ihnen in der tatsächlichen Erfahrung eines jeden Menschen als seine Umgebung organisiert, d. h. als ein Raum, dessen Mittelpunkt er selbst bildet. Sein Körper und die Reichweite seiner Bewegungsfreiheit, seine Atemluft und die Reichweite seiner Glieder machen sein eigenes kinetisches Volumen aus, den Orientierungspunkt, von dem aus er die Welt der greif baren Realität entwirft – Objekte, Entfernungen, Bewegungen, Gestalt, Größe und Masse. In seinem Buch Probleme des Bildhauers hat Bruno Adriani mehrere Seiten gefüllt, um den Vergleich des skulpturalen Raums mit der subjektiven Konstruktion der Welt als eines Bereichs zu verteidigen, in dem das eigene kinetische Volumen den Mittelpunkt bildet. Die Übereinstimmung unserer Auffassungen – des Bildhauers und des Theoretikers – scheint mir so bemerkenswert, dass es sich lohnt, Adrianis Behauptungen wörtlich anzuführen. Zum Beispiel: »Wenn wir das Wort Raum im Zusammenhang mit künstlerischen Problemen verwenden, ist weder der mathematische Begriff des dreidimensionalen Raumes noch die Theorie des Physikers bezüglich der vierdimensionalen Einheit von Raum und Zeit anwendbar. Sie haben ihre Quelle im abstrakten Denken und drücken etwas aus, das nicht unseren Sinnen zugänglich ist.



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Raum in der Kunst […] kann von unserer Sensibilität erfühlt und erlebt werden. Er ist die mit der sinnlichen Anschauung auffaßbare Szene unserer menschlichen Erlebnisse, die Sphäre unserer Aktivität, aller unserer Beziehungen zur Wirklichkeit.«78 »Sie [die Skulptur] ist ein Teil des von uns ›erlebten‹ Raumes; sie steigert sein Leben, indem sie es zum gefühlsmäßigen Bewußtsein bringt.« »Während der Wissenschaftler abstrakte Begriffe vom ›Raum‹ gewinnt, ist der Künstler bestrebt, einen konkreten Raum durch die Anschauung wahrzunehmen und ihn in einer formalen Schöpfung wahrnehmbar zu machen.«79 »Der Mathematiker Henri Poincaré entwickelt in einem Buch ›Science et Méthode‹ den Gedanken, daß wir unseren eigenen Körper als Werkzeug und Maß benutzen, um den Raum aufzubauen – nicht einen geometrischen Raum, noch einen Raum der ›reinen Anschauung‹, sondern einen Raum, der von einer Art ›instinktiver Geometrie‹ gebildet werde.« »Dieses Bewegungssystem gebe uns die Mittel, die nötig seien, um unsere Position im Raum zu bestimmen.« »Poincaré kommt zu dem Schluß, daß jeder Mensch zuerst diesen beschränkten Raum für seine persönlichen Bedürfnisse […] bilde und daß er dadurch befähigt werde, durch einen Akt der Vorstellungskraft den begrenzten Raum zu dem Raum auszuweiten, in dem er ›das Universum selbst unterbringen könne‹.« »Es besteht eine Analogie zwischen dem von Poincaré dargestellten instinktiven Verfahren, den sinnlich erlebbaren Raum zu konstruieren, und der auf einer höheren Ebene sich abspielenden geistigen Tätigkeit des Bildhauers, der durch ein organisches Bewegungssystem von Achsen das innere Gerüst seines Werkes bestimmt.«   Bruno Adriani, Probleme des Bildhauers, Ulm 1948, S. 16.  Adriani, Problems of the Sculptor, New York 1943, S. 19. [Das Zitat findet sich nicht in der deutschen Ausgabe; Anm. d. Übers.] 78 79

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»Durch die Organisierung der sich in den Raum hinein entwickelnden Formen schafft er seinen ›beschränkten Raum‹ […] als ein Symbol des universalen Raums.« 80 Eine Skulptur ist der Mittelpunkt eines dreidimensionalen Raums. Sie ist ein virtuelles kinetisches Volumen, das einen umgebenden Raum beherrscht, und diese Umgebung verdankt ihr auf die gleiche Weise sämtliche Proportionen und Beziehungen, wie die wirkliche Umgebung sie vom eigenen Selbst erhält. Das Werk ist der Schein eines Selbst und erschafft den Schein eines taktilen Raums – und überdies einen visuellen Schein. Für den Gesichtssinn bewirkt es die Vergegenständlichung des Selbst und seiner Umgebung. Eine Skulptur ist buchstäblich das Bild kinetischen Volumens im Wahrnehmungsraum. Aus diesem Grund habe ich von einer wirkmächtigen Abstraktion gesprochen. Und an dieser Stelle trenne ich mich von Adriani, denn er fährt, während er immer noch über den Bildhauer redet, mit folgenden Worten fort: »Der ideale Betrachter seines Werkes überträgt, ebenfalls intuitiv, das System der Achsen der Skulptur in seinen eigenen Organismus.« Mir scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Weil wir den Raum, dessen Mittelpunkt die Statue bildet, gerade nicht mit unserer eigenen Umgebung gleichsetzen, bewahrt die geschaffene Welt ihre Objektivität und vermag auf diese Weise zu einem Bild des uns umgebenden Raums zu werden. Es handelt sich um eine Umgebung, allerdings nicht um unsere; und es handelt sich auch nicht um die irgendeines anderen, die sich punktuell mit unserer eigenen überschneidet, so dass der Betreffende und seine Umgebungen für uns zu »Objekten« werden, die in unserem Raum existieren. Zwar ist eine Statue tatsächlich ein Objekt, aber wir behandeln sie nicht als solche. Wir betrachten sie als den Mittelpunkt eines nur ihr zugehörigen Raums. Doch ihr kinetisches Volumen und die von ihr geschaffene Umgebung sind Illusion – sie existieren allein für unseren Gesichtssinn, sie sind ein Schein des Selbst und seiner Welt. 80

  Probleme des Bildhauers, a. a. O., S. 18 und 20.



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Möglicherweise ist das auch eine Erklärung dafür, dass es der organischen Erscheinung einer Skulptur zwar widerspricht, wenn unsere Hand Stein oder Holz berührt, wir aber dennoch nicht enttäuscht sind, weil wir die plastische Form erst dadurch richtig würdigen können. Die Berührung durchbricht unsere anthropomorphe Phantasie und verstärkt die abstraktive Kraft des Werks. Doch das Ertasten einer Figur bleibt, was immer wir dadurch gewinnen, ein bloßes Intermezzo in unserer Wahrnehmung der Form. Dazu müssen wir zurücktreten und sie von unseren Händen, die in die Sphäre ihrer Raumwirkung eindringen. ungestört betrachten. * * * Es gibt einen dritten Modus, einen virtuellen Raum zu erschaffen, der subtiler als die Konstruktion einer illusionären Szene und sogar eines illusionären Organismus ist und doch künstlerisch nicht weniger fordernd und in seiner Reichweite der anspruchsvollste von allen: die Architektur. Was an ihr »Illusion« ist, gerät in Anbetracht der Offensichtlichkeit und Wichtigkeit ihres realen Nutzens, nämlich Schutz, Bequemlichkeit und sichere Auf bewahrung, leicht aus dem Blick. Ihre praktischen Aufgaben sind derartig wesentlich, dass Architekten selbst sich oft über ihren Rang täuschen. Einige haben sie als hauptsächlich zweckgebunden und, außer im Fall von Denkmälern, nur nebenbei als ästhetisch betrachtet, andere haben sie als eine angewandte Kunst behandelt, in der die praktischen Überlegungen die »Vision« des Künstlers immer in den Hintergrund gerückt haben, und wieder andere haben versucht, den prosaischen Forderungen der Nützlichkeit entgegenzukommen, indem sie der Funktion den höchsten Stellenwert einräumten, während sie zugleich meinten, dass wirklich angemessene Formen immer auch schön seien. 81 Das Problem von Erscheinung   Louis H. Sullivan war der erste Lehrmeister, der erklärte, um Architektur zu sein, müsse ein Gebäude das Bild seiner Funktion sein, und sein berühmter Satz »Form follows function« ist bei passender und unpassender Gelegenheit zitiert worden. Ihm stand offenbar mehr als 81

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und Wirklichkeit tritt in keiner anderen Kunst so deutlich auf wie in der Architektur. Damit wird sie zum Prüfstein einer ästhetischen Theorie, denn eine wahrhaft allgemeine Theorie lässt keine Ausnahmen zu, und sollte es solche dennoch geben, ist die Theorie nicht richtig formuliert worden. Wenn Architektur mit der Ausnahme von Denkmälern nutzenorientiert ist, dann ist Nützlichkeit nicht ihre Essenz. Wenn sie sich wie eine Skulptur behandeln lässt, außer dort, wo praktische Bedürfnisse die Richtung vorgeben, wie etwa bei unterirdischen Bauten, oder spezielle Erfordernisse vorliegen wie im Falle von Spundwänden oder Hühnerställen, dann sind skulpturale Werte nicht wesentlich. Wenn den funktionellen Interessen ohne Rücksicht auf Schönheit angemessen gedient ist, dann mag die Form noch so glücklich aus der Funktion folgen, doch die Funktionalität ist nicht der Maßstab für Schönheit. Im Allgemeinen gilt die Architektur als Raumkunst im Sinne eines realen, praktischen Raums, und ein Gebäude ist so eindeutig die Herstellung von etwas, das räumliche Einheiten bestimmt und anordnet, dass jedermann die Architektur als eine »räumliche Schöpfung« bezeichnet, ohne zu fragen, was da eigentlich geschaffen wird oder wie der Raum dabei ins Spiel kommt. Die Begriffe des Arrangements im Raum und der Schöpfung von Raum werden ständig verwechselt, und die pridie praktische Funktion vor Augen, als er behauptete: »Soll das Werk organisch sein, muss die Funktion des Teils dieselbe Qualität wie das Ganze haben, und die Teile […] müssen die Qualität der Masse haben.« (Kindergarten Chats [1901], New York 1947, S. 47). 30 Jahre später bemerkte László Moholy-Nagy: »Auf allen schöpferischen Gebieten streben die Arbeiter heute danach, rein funktionelle Lösungen technisch-biologischer Art zu finden: also jedes Werkstück allein aus den Elementen herzustellen, die für seine Funktion erforderlich sind.« (The New Vision, New York 1938, S. 61.) Vgl. dazu auch Frank Lloyd Wright, On Architecture. Selected Writings 1894–1940, New York 1941, S. 236: »›Form follows function‹ ist nichts anderes als eine Tatsachenfeststellung. Nur wenn wir behaupten, ›Form und Funktion sind eins‹, überführen wir eine bloße Tatsache in das Reich kreativen Denkens.«



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märe Illusion scheint einer primären Wirklichkeit gewichen zu sein. In den Schriften moderner Architekten wird nichts so willkürlich verwendet wie die Wörter: Illusion, Wirklichkeit, Schöpfung, Konstruktion, Arrangement, Ausdruck, Form und Raum. Aber die Architektur ist eine plastische Kunst, und ihre ers­te Leistung ist, unbewusst und unvermeidlich, immer eine Illusion, etwas rein Imaginäres oder Konzeptuelles, das in visu­elle Eindrücke übersetzt ist. Welchen Einfluss die zugrundeliegende Idee hat, zeigt sich in solchen Schlagwörtern wie »funktionale Form« 82, »Leben im Raum« 83 oder »Inbesitznahme des Raums« 84 . Funktionale Form ist ein der Biologie oder der Mechanik entliehener Begriff. Da Gebäude, nüchtern betrachtet, nicht selbst aktive Lebewesen sind, sondern es den Menschen ermöglichen, in ihnen ihren Tätigkeiten nachzugehen, bedeutet »funktionale Form« buchstäblich genommen so viel wie eine geeignete Anordnung. »Eine Maschine, um darin zu leben« ­bezeichnet daher dasselbe, wenn man den Ausdruck für die ­A rchitektur von Wohnhäusern reserviert und nicht auch auf Viadukte, Gräber und Funktürme anwendet. Prosaisch gesprochen befindet sich alles Leben im Raum. Den Raum »in Besitz nehmen« kann daher nur heißen, ihn physisch einzunehmen. De­cken, die in eine Truhe gelegt werden, füllen sie vollständig aus, nehmen den Raum in ihr in Besitz. Moholy-Nagy hatte aber sicherlich nicht das physische Ausfüllen im Kopf, als er The New Vision mit diesem fulminanten Absatz schloss: »Ein unauf haltsames Fließen, das sich seitwärts, aufwärts, strahlenförmig in sämtliche Richtungen erstreckt, kündigt dem Menschen an, dass er, soweit seine menschlichen Fähigkeiten und gegenwärtigen Begriffe es erlauben, den unwägbaren, unsichtbaren und doch allgegenwärtigen Raum in Besitz genommen hat.«  Sullivan, Kindergarten Chats, a. a. O., S. 47.   Le Corbusier (C. E. Jeannert-Gris), Kommende Baukunst, Berlin u. a. 1926. 84 Moholy-Nagy, The New Vision, a. a. O., S. 180 u. 202. 82

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Diese mystische Konzeption des Raums ist nur eine rauschhaft überhöhte Form einer unter Architekten gegenwärtig verbreiteten und weitgehend akzeptierten Vorstellung des Raums als einer Einheit, dessen innere Beziehungen manchmal als »dynamisch«, manchmal als »organisch« bezeichnet werden. Man liest da etwas über »sich schneidende Räume« und »Spannungsintervalle des Raums«. Bezogen auf unsere praktischen oder wissenschaftlichen Begriffe des Raums ergeben derartige Ausdrücke einfach keinen Sinn. Linien oder Strahlen können sich schneiden, aber Räume nicht. Es gibt nur einen Raum, den der gesunde Menschenverstand als einen idealen Behälter begreift, in dem alles enthalten ist, und der wissenschaftliche Verstand sieht den Raum als ein Koordinatensystem, durch das alles aufeinander bezogen ist. Dies scheint aber nicht der Fall für die Architekten zu sein, sonst hätten wir nicht alle diese Schriften über den »lebendigen«, »aktivierten«, »organischen«, ja sogar »allgegenwärtigen« Raum – über einen Raum, mit dem man lebt, den man erfährt, intuitiv auffasst und was sonst nicht noch alles. Kurzum, der Architekt hat es mit einem geschaffenen Raum zu tun, mit etwas Virtuellem: mit der primären Illusion plastischer Kunst, die durch eine grundlegende, der Architektur eigentümliche Abstraktion bewirkt ist. So wie Szene die grundlegende Abstraktion der Bildkunst und kinetisches Volumen die der Skulptur ist, so ist die der Architektur ein sozio-kulturelles Gebiet. In Wirklichkeit ist ein Gebiet natürlich kein »Ding« unter anderen »Dingen«. Er ist die Einflusssphäre einer Funktion oder mehrerer Funktionen. Sie mag sich auf einen geographischen Ort physisch auswirken oder auch nicht. Nomadenkulturen oder kulturelle Phänomene wie die Seefahrt hinterlassen ihre Spuren nicht an einem bestimmten Ort auf der Erde. Dennoch ist ein Schiff, hält es sich auch ständig woanders auf, ein eigenständiger Ort, und das trifft auch auf ein Zigeunerlager, ein Indianerlager oder ein Zirkuslager zu, unabhängig davon, wie oft sie ihre geodätischen Koordinaten wechseln. Wortwörtlich sagen wir, dass ein Lager



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an einem Ort ist, kulturell ist es ein Ort. Ein Zigeunerlager ist ein anderer Ort als ein Indianerlager, auch wenn es sich geographisch dort befindet, wo vormals ein Indianerlager bestanden hat. Ein Ort in diesem nicht-geographischen Sinn ist etwas Geschaffenes, ein sichtbar, greif bar, wahrnehmbar gemachtes sozio-kultureller Gebiet. Als solcher ist er selbstverständlich eine Illusion. Wie jedes andere plastische Symbol ist er primär die Illusion eines eigenständigen, selbstgenügsamen Wahrnehmungsraums. Sein Organisationsprinzip ist jedoch ein ihm eigentümliches: Er ist nämlich organisiert als ein sichtbar gemachter funktionaler Bereich – der Mittelpunkt einer virtuellen Welt, das »sozio-kulturelle Gebiet«, das selbst ein geographischer Schein ist. Die Malerei schafft Sichtebenen oder eine uns auf einer realen, zweidimensionalen Fläche vor Augen gestellte »Szene«, die Skulptur schafft aus realem dreidimensionalen Material, d. h. aus realem Volumen, ein virtuelles »kinetisches Volumen«, die Architektur durch die Bearbeitung eines realen Orts das »sozio-kulturellen Gebiet« oder den virtuellen »Ort«. Die architektonische Illusion lässt sich durch eine bloße Reihe aufrecht stehender Steine herstellen, die einen das Heilige vom Profanen trennenden Zauberkreis abstecken, oder auch durch einen einzelnen, einen Mittelpunkt markierenden Stein, d. h. durch ein Denkmal. 85 Die Außenwelt wird, obgleich sie nicht physisch ausgeschlossen ist, durch das Heiligtum beherrscht und wird zu seinem sichtbaren Kontext, der Horizont zu seinem Rahmen. Der Poseidontempel am Kap Sounion bezeugt diese organisierende Kraft einer komponierten Form. Andererseits vermag ein in Fels gehauenes Grab ein vollständiges Gebiet zu erschaffen, eine Welt der Toten. Es hat keine Außenseite; seine Proportionen leiten sich aus dem Inneren ab, aus dem Stein, dem Begräbnisplatz, und definieren einen architektonischen Raum mit Höhe, Breite und Tiefe, der real nur ein paar Kubik85

  Vgl. Sullivan, Kindergarten Chats, a. a. O., S. 121.

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meter umfassen könnte. Der geschaffene »Ort« ist wesentlich Schein, und was immer diesen Schein bewirkt, ist architektonisch von Bedeutung. Eine Leuchte auf dem Boden könnte ihn in eine Geisterhöhle verwandeln, ein Licht an der Decke die Gesteinsadern hervortreten lassen, die Struktur der Decke und der Wände, und ihn so in eine eigentümlich würdevolle Kammer verwandeln. Alle diese Möglichkeiten sind mit der architekto­ nischen Idee gegeben. Le Corbusier schreibt: »Die Baukunst ist das weise, korrekte und großartige Spiel der unter der Sonne sich sammelnden Baukörper«. 86 Licht und Sonne sind jedoch variable Faktoren. Die Elemente der Architektur – die Komponenten des totalen Scheins – müssen so wandelbar sein, dass sie, frei und zuverlässig, die radikalen Wandlungen zulassen, die durch die Veränderungen des Lichts hervorgerufen werden. Bei guten Bauwerken sind solche Veränderungen eine Quelle von Fülle und Leben. Ungewöhnliche Lichteinfälle heben neue Formen heraus, doch alle Formen sind schön, und jede Veränderung bewirkt eine vollkommene, wahrnehmbare Stimmung. Eine Kultur besteht faktisch aus den Tätigkeiten der Menschen; sie ist ein System ineinandergreifender, sich überschneidender Handlungen, ein fortdauerndes funktionales Muster. Als solche ist sie selbstverständlich ungreif bar und unsichtbar. Sie hat physische Bestandteile – Artefakte – und auch physische Symptome – die ethnischen Wirkungen, die dem menschlichen Gesicht eingeprägt werden, das, was wir als seinen »Ausdruck« kennen, und der Einfluss der sozialen Bedingungen auf die Entwicklung, Haltung und Bewegung des menschlichen Körpers. Alle diese Dinge sind jedoch Fragmente, die nur für diejenigen, die mit ihm vertraut sind, das Gesamtmuster des Lebens »bedeuten« oder die durch sie daran erinnert werden. Sie sind die Bestandteile einer Kultur, nicht ihr Bild. Der Architekt schafft ihr Bild: eine physisch präsente menschliche Umgebung, die jene charakteristischen, rhythmischen, funktionalen Muster ausdrücken, die eine Kultur bestimmen. 86

  Le Corbusier, Kommende Baukunst, a. a. O., S. 16.



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Solche Muster sind der Wechsel von Schlaf und Wachen, Unternehmungslust und Sicherheit, Passion und Ruhe, Nüchternheit und Überfluss; das Tempo und die Gleichmäßigkeit oder Plötzlichkeit des Lebens; die schlichten Formen der Kindheit und die Komplexität reifer Moralität, die sakramentalen und kapriziösen Weisen, die eine soziale Ordnung auszeichnen und die jedes persönliche Leben wiederholt, das dieser Ordnung entspringt, wenn auch in charakteristischer Auswahl. Noch einmal möchte ich Le Corbusier anführen: »Die Baukunst muß […] sich jener Elemente bedienen, die be­ fähigt sind, auf unsere Sinne zu wirken und die Wünsche unserer Augen zu erfüllen, und sie derart verteilen, daß ihr Anblick uns eine klare Anschauung gewährt durch Feinheit oder ungebrochene Kraft, durch Aufruhr oder heitere Ruhe, durch kühle Beschwichtigung oder Anspruch auf lebendige Anteilnahme. Diese Elemente sind Elemente bildenden Gestaltens, Formelemente, die unser Auge in Klarheit sieht, die unser Geist mißt.«87 »Die Baukunst ist die erste Tat des Menschen, der sich seine Eigenwelt selbst erschafft, der sie erschafft nach dem Bilde der Natur […]. Die physikalischen Grundgesetze sind einfach und gering an Zahl. Die sittlichen Grundgesetze sind einfach und gering an Zahl.« 88 Ein vom Menschen und für ihn erschaffenes Universum »nach dem Bilde der Natur« – erschaffen nicht durch die Nachahmung natürlicher Objekte, sondern durch Veranschaulichung der »Gesetze der Schwerkraft, der Statik und Dynamik« – ist der räumliche Schein einer Welt, denn es ist in den realen Raum gestellt, steht aber dennoch nicht in systematischer Kontinuität mit der Natur, gewissermaßen in einer vollständigen Demokratie der Orte. Es besitzt einen eigenen Mittelpunkt, eine eigene Peripherie, trennt nicht einen Ort von allen anderen, sondern 87

  Ebd., S. 7.   Ebd., S. 56.

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begrenzt von innen heraus, was immer entstehen soll. Das ist das Bild eines sozio-kulturellen Gebiets, die primäre Illusion in der Architektur. Das bekannteste Erzeugnis der Architektur ist natürlich das Haus. Auf Grund seiner Allgegenwärtigkeit ist es die detaillierteste und doch die wandelbarste allgemeine Form. Es kann einer Person oder hundert Familien Schutz bieten, aus Stein oder Holz, Lehm, Beton oder Metall oder aus mehreren Materialien bestehen – sogar aus Papier, Gras oder Schnee. Menschen haben Häuser in den Höhlen kahler Berge errichtet oder aus Tierhäuten gemacht, um sie bei ihren Wanderungen mitzunehmen; sie haben ausladende Bäume als Dach genutzt und ihre Häuser an den lebenden Stämmen befestigt. Die zwingende Notwendigkeit, unter allen möglichen Umständen Obdach zu finden, von den Polen, die nahezu ebenso lebensfeindlich wie der Mond sind, bis hin zu den üppigen Landstrichen am Mittelmeer, hat zu allen denkbaren Baukonstruktionen geführt. Das Haus war die Grundschule des Baumeisters. Große architektonische Ideen sind freilich selten, wenn überhaupt, aus häuslichen Bedürfnissen erwachsen. Sie entstanden als Tempel, als Grabstätte, als Festung, als Saalbau und als Theater. Der Grund dafür ist mehr als einfach: Stammeskulturen sind Kollektive, und ihr Gebiet ist daher im Wesentlichen ein öffentliches. Wird er sichtbar gemacht, ist sein Bild das eines öffentlichen Bereichs. Die Architektur der Frühzeit – Stonehenge, Hügelgräber, der Sonnentempel – bestimmen, wie wir sagen könnten, den »religiösen Raum«. Es handelt sich um einen virtuellen Bereich. Obwohl sich der Tempel nach den Äquinoktien richtet, symbolisiert er für einfache Leute, die die astronomische Anordnung überhaupt nicht erkennen, lediglich die »­Ecken der Erde«. Der Tempel machte ihren größeren Weltenraum, die Natur, zur Wohnstätte von Göttern und Geistern. In dem von ihm bestimmten Rahmen ließen sich Auf- und Untergang der Himmelskörper beobachten; und so wie er diesen Raum dem volkstümlichen Denken präsentierte, vereinigte er Erde und Himmel, Menschen und Götter. [Abb. VIII, S. 203].



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Abb. VIII Stonehenge

Das Gleiche lässt sich über die zivilisatorisch höher entwickelten Gebäude sagen, die das religiöse Leben vor dem Eindringen des Profanen schützen sollen. Die ägyptischen, griechischen und römischen Tempel, die Kirche, die Moschee, sie alle bieten dem Blick von außen eine Mauer, hinter der sich das Heiligtum verbirgt. Die Kinder des Tierkreises sind nicht mehr eingeladen, zu kommen und zu gehen und zwischen den Tempelsäulen ihren Himmelslauf nachzuzeichnen. Den Altar umschließt eine Zelle. Das Bauwerk aber ragt über der Gemeinschaft empor, und sein äußeres Erscheinungsbild gliedert die Stadtanlage. Zwar ist die Religion nicht mehr das Ganze des Lebens, aber alle Ideen laufen auf sie zu. Innerhalb des Heiligtums wird das kulturelle Gebiet durch äußerst sparsame und konzentrierte architektonische Mittel versinnbildlicht – es ist eine heilige Welt, in der zu wohnen unmöglich ist. Dafür ist sie zu rein und bewegend, doch in sie tritt man ein, um sich bewusst mit Gott und den Menschen zu vereinen. Die großen Gräber sind das Bild einer Unterwelt. Ihre fens­ terlosen Wände erschaffen einen Erdenschoß, mögen sie auch oberirdisch und im vollen Sonnenschein errichtet werden. Ge-

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dacht sind sie für die Stille und das Totenreich. Künstlerisch ist jedoch nichts lebendiger als die spannungsvolle Ruhe solcher Kammern. Nichts drückt ihre Gegenwart und ihre Lebenswelt so unzweideutig aus wie ein ägyptisches Grab. Selbst seines einbalsamierten Leichnams beraubt, wenn es also seine reale Funktion nicht mehr erfüllt, bleibt es das vorgestellte Totenreich. In einer säkularen Gesellschaft, beispielsweise in der barbarischen Kultur der Goten, in der Schwerter Namen trugen und der Treueschwur auf den Kriegsherrn und nicht auf Gott abgelegt wurde, war die Versammlungshalle das natürliche Symbol einer Menschenwelt, in der der Mensch meint, er sei »[g]leich dem Sperling, der zur einen Tür hereinfliegt, und zu einer anderen wieder hinaus […] zurück in den dunklen Winter, aus dem er gekommen ist« 89. Die Architektur schafft den Schein jener Welt, die das Gegenüber eines Selbst ist. Sie ist das Sichtbarwerden einer vollständigen Umwelt. Dort wo das Selbst ein kollektives ist, wie in einem Stamm, ist seine Welt eine gemeinschaftliche; für das persönliche Selbstsein ist es das Heim. So wie die reale Umwelt eines Geschöpfs ein System funktionaler Beziehungen ist, so ist eine virtuelle »Umwelt«, der geschaffene Raum der Architektur, ein Symbol funktionaler Existenz. Das heißt nun freilich nicht, dass Zeichen von wichtigen Tätigkeiten – Haken für Gerätschaften, bequeme Bänke, durchdachte Türen – in seinen Sinngehalt eingehen. Auf dieser falschen Annahme gründet der Irrtum des Funktionalismus – nicht dass er sehr tief ginge, vermutlich geht er nur so tief wie die Theorie selbst. Der symbolische Ausdruck ist meilenweit entfernt von vorausschauender Planung oder einer gelungenen Anordnung. Er verweist nicht auf etwas, das hier oder dort verrichtet werden soll, vielmehr verkörpert er das Gefühl, den Rhythmus, die Leidenschaft oder Nüchternheit, die Leichtfertigkeit oder Furcht, mit der überhaupt etwas verrichtet wird. Das ist das Bild des Lebens, das in den Bauwerken geschaf Nach Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum. [Anm. d. Übers.] 89



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fen wird, es ist der sichtbare Schein eines »sozio-kulturellen Gebiets«, das Symbol des Menschseins, das sich in der Kraft und dem Zusammenspiel der Formen niederschlägt. Weil wir Organismen sind, entwickeln sich alle unsere Handlungen in organischer Weise; die Struktur unserer Gefühle wie auch unserer körperlichen Akte ähnelt einem Stoffwechsel. Systole, Diastole; Auf bauen, Abbauen; Crescendo, Diminuendo. Manchmal auch Aufrechterhalten, nie aber für einen unbegrenzten Zeitraum; Leben, Tod. Ähnlich trägt die menschliche Umwelt, das Gegenstück zu jedem menschlichen Leben, den Stempel eines funktionalen Musters; sie ist die komplementäre organische Form. Jedes Bauwerk, das daher die Illusion einer sozio-kulturellen Welt zu erschaffen vermag, einen »Ort«, an dem sich der Abdruck des menschlichen Lebens artikuliert, muss daher den Anschein des Organischen bei sich führen, einer lebendigen Form gleichen. Die Losung der Architektur lautet »Organisation«. Liest man die Schriften großer Architekten mit philosophischen Neigungen – zum Beispiel von Louis Sullivan, seinem Schüler Frank Lloyd Wright oder von Le Corbusier –, stößt man häufig auf Begriffe von organischem Wachstum, organischer Struktur, Leben, Natur, vitaler Funktion, vitalem Gefühl und auf unzählige andere Vorstellungen, die eher aus der Biologie als aus der Mechanik stammen. Keiner dieser Begriffe bezieht sich auf die realen Materialien oder den geographischen Raum, die ein Bauwerk benötigt. »Leben«, »Organismus« und »Wachstum« sind weder für ein Grundstück noch für Baustoffe von irgendeiner Bedeutung. Ihr Bezugspunkt ist der virtuelle Raum, das geschaffene Gebiet der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten. Der Ort, den ein Haus auf der Erde einnimmt – also seine Lokalisation im realen Raum –, bleibt derselbe, auch wenn das Haus abbrennt, zerfällt und abgerissen wird. Der vom Architekten erschaffene Ort ist hingegen eine Illusion, erzeugt durch den sichtbaren Ausdruck eines Gefühls, das, was wir manchmal »Atmosphäre« nennen. Diese Art von Ort verschwindet mit der Zerstörung des Hauses oder verändert sich tiefgreifend, wenn das Haus irgend­

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einen einschneidenden Umbau erlebt. Der Umbau braucht nicht einmal sehr radikal oder umfangreich zu sein: Protzige Dachgauben, überladene Vordächer und andere Auswüchse sind nur die Spitze des Eisbergs. Eine scheußliche Farbgebung und eine zusammengewürfelte Inneneinrichtung sind ein vergleichsweise milder Fehlgriff, aber das könnte sehr wohl reichen, um die architektonische Illusion einer sozio-kulturellen Totalität oder den virtuellen »Ort« zu zerstören.90 Was hier vorgeschlagen wird, nämlich dass die primäre Illusion der bildenden Kunst, der virtuelle Raum, in der Architektur als Vorstellung eines sozio-kulturellen Gebiets auftritt, hat einige interessante Folgen. In erster Linie befreit es die Konzeption der Architektur von allen Fesseln besonderer Konstruktionsbausteine, auch von so elementaren wie Stützpfeiler, Türsturz und Bogen. Wie wichtig solche alten Bauelemente waren, steht außer Frage, doch sogar sie können neuen technischen Möglichkeiten weichen, und was ohne ihre Zuhilfenahme Gestalt annimmt, kann sehr wohl reine, unstrittige Architektur sein. Zweitens verleiht sie einem Grundsatz, der von den großen Architekten unserer Tage beharrlich verteidigt wird, eine neue Bedeutung und Überzeugungskraft: dass Architektur vom Inneren zum Äußeren eines Gebäudes fortschreitet, so dass die Fassade niemals etwas ist, das getrennt von allem anderen entworfen wurde. Sie ist vielmehr wie die Haut oder der Panzer eines Lebewesens die Außengrenze eines vitalen Systems, sein Schutz gegen die Welt und zugleich der Punkt seiner Berührung der Welt und Inter­ aktion mit ihr.91 Ein Bauwerk kann von einer massiven, alles verbergenden Mauer umgeben sein wie ein Renaissancepalast oder   Vieles ließe sich hier über die Innengestaltung sagen, d. h. über Möblierung und Dekoration. Bei diesem Thema ergeben sich jedoch interessante Beziehungen zum Problem der Aufführung, das sich in der Musik, im Schauspiel und Ballett stellt. Ich werde es daher bis zu einem späteren Kapitel aufschieben. 91  Vgl. László Moholy-Nagy, The New Vision, a. a. O., S. 198: »Da nicht skulpturale Strukturen, sondern räumliche Positionen die Bauelemente in der Architektur sind, muss das Innere des Gebäudes mit 90



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ein türkischer Harem, wo sich das Leben nur im Innenhof offen abspielt; es kann aber auch praktisch gar keine Hülle haben und von seiner Umgebung nur durch Glas, bewegliche Sonnenblenden, Vorhänge und Gitter getrennt sein. Sein virtuelles Gebiet schließt vielleicht Terrassen und Gärten, Reihen von Sphinxen oder ein großes rechteckiges Wasserbecken ein. Meer und Himmel könnten die Abstände zwischen seinen Säulen füllen und Teil seines Raumes sein. Drittens liefert diese Auffassung ein Kriterium dafür, was eigentlich zur Architektur gehört, was davon wesentlich, was variabel (wie Dächer oder Räume, die sich für den Sommer und Winter umrüsten lassen) oder bloßes Hilfsmittel ist. Inneneinrichtungen gehören zur Architektur nur insoweit, wie sie am Erschaffen einer sozio-kulturellen Lebenswelt teilhaben.92 Bilder, die von »Innenausstattern« als bloßer Raumschmuck betrachtet werden, fügen sich oft nicht in ihn ein oder strahlen sogar Ablehnung aus. Ein großartiges Bild hingegen hat ein Recht auf einen Raum, und ein Raum, der ihm offensichtlich gewidmet ist, ist ein sozio-kulturelles Gebiet besonderer Art, seine Funktion wird ihm dadurch zugewiesen. Viele praktische Vorrichtungen sind andererseits überhaupt nicht von architektonischer Bedeutung, auch wenn sie ins Haus »eingebaut« sind: Dampf- oder Warmwasserheizungen, Klappen in Kaminen usw. Sie wirken sich auf die Zweckmäßigkeit des Gebäudes aus, nicht aber auf seinen Schein, nicht einmal auf seinen funktionalen Schein. Sie sind bloß materielle Bestandteile, keine architektonischen Elemente.93 der Außenseite durch seine räumliche Einteilung verzahnt und verbunden sein.« 92  Nichts wird einem Musiker so ketzerisch erscheinen wie Wrights Erklärung, ein Klavier solle im Raum »eingebaut werden«, so dass nur die »notwendigen« Teile – die Klaviatur, das Notenpult und die Pedalen – eine hübsche Wand im Raum durchbrechen. Ganz davon abgesehen, wie sich das auf den Klang auswirkt, ist dies eine ungeheure Beleidigung für das Instrument, denn es ist eine lebendige Präsenz im Raum, dessen Schönheit beachtet werden sollte, statt einem Architektenentwurf geopfert zu werden. 93  Nichtsdestoweniger muss sich der Architekt darum kümmern,

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Das interessanteste Ergebnis der Theorie besteht jedoch darin, dass sie uns Einsichten in die Beziehung von Architektur und Skulptur verschafft. Das Problem der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Künsten, ja ihre letztendliche Einheit, gehört eigentlich in einen viel späteren Teil meiner Untersuchung. Da aber an dieser Stelle die besondere Verbindung dieser beiden Künste (verwandt, wie sie nun einmal sind) ganz natürlich zutage tritt, wäre es reine Pedanterie, das Reden darüber aufzuschieben. Die älteste uns bekannte Skulptur ist eine vollkommene Rundplastik ohne jedes Beiwerk: die primitiven »Venusfiguren« aus der Prähistorie. Sofern die megalithischen Dolmen und bestimmte Hügelgräber nicht so weit zurückreichen wie die archaischen Fetische, verfügen wir über keine architektonischen Monumente aus dieser Zeit. Doch sobald die ersten Bauten aus behauenem Stein auftreten, wird die Skulptur in die Architektur aufgenommen. Allerorten geht die Statue in den Altar über, in die Tempelwand, die Säule, den Stützpfeiler. Reliefs und freistehende Figuren werden nahezu auf gleiche Weise von den Bauten gestützt, mit denen sie verbunden sind und als deren »Schmuck« sie allgemein gelten. Die große Skulptur, mag sie auch noch so innig mit einem Bauwerk verbunden sein, ist gleichwohl kein architektonisches Element. Der erschaffene Ort muss ihr, statt sie sich einfach einzuverleiben und so in den Schatten zu stellen, einen Platz einräumen. Genau aus diesem Grund sind nur sehr starke, selbstgenügsame Innenräume in der Lage, eine Skulptur zu dulden. Die beiden Kunstformen sind in der Tat die exakte Ergänzung der jeweils anderen: die eine, die Illusion eines kinetischen Volumens, welches das Selbst symbolisiert, den Mittelpunkt des Lebens – die andere eine Illusion des sozio-kulturellen Gebiets oder der durch Selbstheit erschaffenen Umwelt. Beide artikulieund wenn er es hier an Sorgfalt fehlen lässt, tut er seinem Werk nicht genug Ehre an – wie ein Leonardo, der mit experimentellen, nicht haltbaren Pigmenten malt.



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ren die eine Hälfte des Lebenssymbols unmittelbar und die andere implizit. Mit welcher von den beiden wir auch den Anfang machen, die jeweils andere bildet seinen Hintergrund. Der die Statue beherbergende Tempel oder umgekehrt die im Tempel beherbergte Statue ist die absolute Idee; wie alles Absolute ist sie ein geistiger Ruhepunkt, eher eine Matrix des künstlerischen Ausdrucks als ein richtungsweisendes Prinzip. Wo die durch ein Gebäude geschaffene Umwelt weit über den moralischen Vorstellungen ihrer Bewohner steht, artikuliert die Skulptur ihren Sinn, der ansonsten verloren gehen würde, in aller Klarheit. Die großen Kathedralen bieten einer Fülle von Statuen Raum, die unmittelbar mit der architektonischen Schöpfung verbunden sind, ohne dabei jedoch Architektur zu erschaffen. [Abb. X] Die Kathedrale ist eher ein Ort für Lebenssymbole als für wirkliches Leben, das weit hinter der architektonischen Idee zurückbleibt. In hochgradig idealen Schöpfungen müssen sich Skulptur und Architektur häufig wechselseitig ergänzen, und in den vollendetsten Kulturen, in denen der Geist weit über das ausgegriffen hat, was Menschen tatsächlich erreichbar ist, ist das immer der Fall gewesen – in Ägypten, Griechenland, dem europäischen Mittelalter, China und Japan, den großen religiö­ sen Epochen in Indien und in Polynesien auf der Höhe seiner künstlerischen Entfaltung. In dem Moment, wo der Begriff der sozialen Umwelt in emotionale Verwirrung gerät, zu einem soziologischen und problematischen wird, wo »Leben« nur noch als etwas verstanden wird, was sich in den Individuen vollzieht, gewinnt die moderne Skulptur wieder ein unabhängiges Dasein. Wiederum ist das, was unmittelbar ausgedrückt wird, ein Selbst, und das soziokulturelle Gebiet wird nur implizit geschaffen, sein Gefühlswert nur vage begriffen. Und die Malerei – der Schein objektiver, visueller Szene – kommt als die vorrangige Kunst unserer Zeit zur vollen Geltung. Die Malerei blickt auf eine andere Entwicklungsgeschichte zurück und stützt sich auf andere Phänomene als die Architektur. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht über ihre Geschichte

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Abb. X Kathedrale von Albi

und Verbindungen auslassen, nur so viel sei bemerkt: Es ist ein Fehler, wenn einige Architekten, sobald sie entdecken, wie wichtig Farbe für die Architektur ist, darauf aus sind, die »Kunst des Malers« ihrem eigenen Wirkungskreis anzupassen. Ein gemeinsames Material verbindet zwei Künste noch lange nicht in irgendeiner bedeutsamen Weise. In einem Haus ist Farbe etwas ganz anderes als in einem Bild. Selbst der tatsächliche Ausblick, der sich von einem Fenster aus bietet, ist eine ganz andere Art



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von Element als die Sichtebene im virtuellen Raum. Die hier gesuchten Verbindungen sind in Wahrheit für eine solch oberflächliche Lösung viel zu schwierig. Um sie zu entdecken, bedarf es eines ganz anderen philosophischen Niveaus. Kehren wir zur primären Illusion der bildenden Künste zurück: dem virtuellen Raum in seinen verschiedenen Modi. Die Tatsache, dass ein jeder dieser Modi für eine Möglichkeit steht, Raum zu erschaffen, verbindet sie ebenso deutlich, wie es sie voneinander unterscheidet. Zudem liefert sie uns plausible Gründe dafür, warum unterschiedliche Gemüter ihre jeweilige Ausdrucksform in unterschiedlichen grundlegenden Abstraktionen und deren großen Formen finden und dennoch eine weitaus größere Nähe zu Formen der bildenden Kunst haben, die nicht in ihr eigenes Metier fallen, als zu Künsten, die überhaupt keinen virtuellen Raum erschaffen; oder konkreter gesagt, warum ein Maler wahrscheinlich auch ein sachkundiges Urteil über Architektur, Bildhauerei, Stoffmuster, Schmuckstücke, Keramiken oder irgendeine andere Schöpfung von visuellem Raum fällen wird, aber nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit als ein Laie (freilich auch nicht mit einer geringeren) ein ausgezeichnetes Verständnis für Musik oder Literatur besitzt. Tatsächlich mag er geneigt sein, andere Künste, wie etwa das Ballett oder Theater, völlig vom Standpunkt der plastischen Form aus zu beurteilen, obwohl diese in ihren Feldern nicht entscheidend ist. Was die Künste am tiefsten voneinander trennt, sind ihre jeweiligen Welten, also die Unterschiede bezüglich dessen, was die verschiedenen Künste erschaffen bzw. die Unterschiede, die sich aus ihrer primären Illusion ergeben. Viele Menschen – ob nun Künstler, Kunstkritiker oder Philosophen – sind jeder ernsthaften Untersuchung dieser Trennungen abgeneigt, weil sie spüren, dass die Kunst irgendwie eins ist und dass die Einheit realer als die Vielheit, die, wie sie immer betonen, nur Trug sein kann, bloß auf einen Unterschied in den Materialien zurückgeht, rein technisch bleibt, allenfalls oberflächlich ist. Eine solch vorschnelle Zurückweisung eines Problems zeugt jedoch für gewöhnlich eher von Furchtsamkeit als von der festen Über-

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zeugung, dass es tatsächlich unbedeutend ist. Auch ich glaube, dass die Kunst im Wesentlichen eine einzige ist, dass die symbolische Funktion in jeder Art von künstlerischem Ausdruck dieselbe ist, alle Arten gleich bedeutend sind und ihre Logik ist aus einem Stück ist, die Logik der nicht-diskursiven Form (die die literarische ebenso bestimmt wie jede andere geschaffene Form). Will man aus diesen Glaubenssätzen vernünftig begründete Aussagen machen, dann genügt es nicht, sie wieder und wieder mit Emphase zu äußern und alles abzutun, was dagegen spricht; stattdessen geht es darum, die Unterschiede zu untersuchen und den Unterscheidungen zwischen den Künsten soweit wie möglich nachzugehen. Sie gehen tiefer, als man meinen könnte. Allerdings gibt es eine bestimmte Ebene, auf der sich keine Unterscheidungen mehr treffen lassen. Was sich dann von jeder einzelnen Kunst sagen lässt, lässt sich auch von jeder anderen sagen. Dort liegt die Einheit. Alle Trennungen lösen sich in jener Tiefe auf, die das philosophische Fundament der Kunsttheorie darstellt.

7. Kapitel Das Bild der Zeit Von den bildenden Künsten, die den Raum in den verschiedenen Modi sichtbar werden lassen, in denen wir ihn instinktiv begreifen und auffassen, wenden wir uns nun einer anderen großen Kunstgattung zu: der Musik. Sogleich ist uns, als beträten wir ein anderes Reich. Verschwunden sind der Spiegel der Welt, der Horizont des menschlichen Lebensraums und alle greif­baren Realitäten. Objekte verschwimmen, der Gesichtssinn wird bedeutungslos. Dennoch ist dieses so radikal veränderte Erfahrungsfeld gänzlich erfüllt. Wir finden darin allerlei Formen, große und kleine, Formen in Bewegung, die manchmal zusammenlaufen, um den Eindruck der Vollendung zu vermitteln und von ihrer Bewegung auszuruhen; es gibt heftige Bewegtheit, aber auch große Stabilität, und all das ist nur Luft, spielt sich in einem Universum des reinen Klangs ab, in einer hörbaren Welt, in einer klangvollen Schönheit, die sich des Ganzen unseres Bewusstseins bemächtig. Seit Pythagoras entdeckt hat, dass die Höhe eines Tons in einem Verhältnis zur Schwingungsfrequenz des Körpers steht, der diesen Ton erzeugt, hat sich die Analyse der Musik vor allem mit physikalischen, physiologischen und psychologischen Studien der Töne beschäftigt: mit ihren somatischen Wirkungen auf Mensch und Tier, ihrer Aufnahme im menschlichen Bewusstsein. Die Akustik ist zu einer nützlichen Wissenschaft geworden, die es nicht nur ermöglich hat, die Bedingungen für die Produktion und das Hören von Musik zu verbessern, sondern die auch im Bereich der Musik selbst zur temperierten Tonleiter und zur Festlegung eines Kammertons beigetragen hat. Die Objektivität dieser Errungenschaften hat die Hoffnung genährt, dass, wie sehr Malerei und Dichtung sich auch gegen

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eine wissenschaftliche Behandlung sträuben mögen, zumindest die Musik sich mit verhältnismäßig einfachen Naturgesetzen verstehen und abhandeln lässt, was dann per Analogie auf das Verständnis weniger abstrakter und durchsichtiger Künste übertragbar sein könnte. Daher ist wiederholt versucht worden, die musikalische Erfindung mithilfe der physikalischen Komplexität der Töne selbst zu erklären und die Gesetze und Grenzen der Komposition auf der Grundlage von Zahlenverhältnissen oder mathematischen Folgen zu entdecken, die es zu veranschaulichen gilt. Es erübrigt sich wohl, den schieren Unsinn oder die akademischen Kuriositäten zu erörtern, die durch diese Hoffnung entstanden sind, wie etwa das Schillinger-System der Komposition94 oder die ernsthafte und kunstvolle Bemühung von G. D. Birkhoff 95, den genauen Schönheitsgrad in jedem Kunstwerk – sei es plastisch, poetisch oder musikalisch – dadurch zu berechnen, dass man das »ästhetische Maß« seiner Bestandteile nimmt und diese integriert, um so zu einem quantitativen Werturteil zu gelangen. Die einzige mir bekannte in künstlerischer Hinsicht begründete und nützliche Theorie, die sich vor allem auf die zusammengesetzte Natur des Tons stützt, ist die Arbeit von Heinrich Schenker. Die Bedeutung Schenkers wird jedoch sehr viel offensichtlicher werden, wenn ich meine eigene grundlegende These formuliert haben werde. Ich werde daher alle Kommentare zu seiner Analyse auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Hier nur so viel: Der Wert seiner Analyse liegt weitgehend darin, dass sie immer Analyse bleibt und niemals vorgibt, eine synthetische Aufgabe zu erfüllen. Ein Kunstwerk ist ursprünglich eine   Siehe Joseph Schillinger, The Schillinger System of Musical Com­ position, New York 1946 sowie The Mathematical Basis of the Arts, New York 1948. 95 Birkhoff, Aesthetic Measure, a. a. O. Eine weitere »akademische Kuriosität« – um es höflich auszudrücken – war mein eigener jugendlicher Versuch, die symbolische Logik auf die Musik anzuwenden. Ich bekenne mich dazu, werde aber ansonsten Stillschweigen darüber bewahren. 94



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Einheit und keine Synthese unabhängiger Bauteile. Die Analyse bringt seine Elemente zum Vorschein und kann unendlich fortschreiten, wobei sie zu einem immer größeren Verständnis führt, doch ohne je ein Rezept zu formulieren. Da Schenker diese Beziehung zwischen dem Theoretiker und seinem Gegenstand respektiert, behandelt er ein Meisterwerk immer mit der nötigen Achtung, auch wenn er seine Untersuchungen auf das kleinste Detail ausdehnt. Wo der Intellekt seiner eigentlichen Aufgabe nachgeht, ist »Überintellektualität« keine Gefahr.96 Die philosophische Frage »Was ist Musik?« wird jedoch nicht einmal von Schenker beantwortet, denn sie lässt sich nicht dadurch beantworten, dass man die Bestandteile erforscht, aus denen musikalische Werke beschaffen sind. Nahezu jede ernsthafte Untersuchung hat sich bislang lediglich mit dem Material der Musik und seinen Kombinationsmöglichkeiten beschäftigt. Die Tatsache, dass die tonalen Verhältnisse zu den ersten physikalischen Gesetzen gerechnet werden, die mathematisch formuliert, überprüft und systematisiert worden sind, hat die Musik seit der Antike bis heute in den Rang einer Wissenschaft erhoben, ja sogar eines wissenschaftlichen Modells für die Kosmologie.97 Die Materie selbst ist interessant und eröffnet ein konkretes, spezialisiertes Untersuchungsfeld. Die Reihenfolge der Töne ist kontinuierlich und entspricht einer gleichermaßen geordneten Reihe von Schwingungsverhältnissen. Auch die Lautstärke lässt sich in mathematischen Graden einer lücken  Schenker spricht zwar von »Synthese«, aber nicht im Sinne eines regelrechten Verfahrens. Für ihn ist sie eine mystische Aktivität, die er der Urlinie selbst, nicht dem Komponisten zuschreibt: »Zur Urlinie verhält sich die Diminution wie zum Knochengerüst eines Menschen das lebenblühende Fleisch. […] Die Urlinie führt geradenwegs zur Synthese des Ganzen. Sie ist die Synthese.« Heinrich Schenker, Der Tonwille, H. 2 (1921), S. 5. 97  Vgl. z. B. Matila C. Ghyka, Essai sur le rythme, Paris 1938, S. 78: »Die ganze vitruvianische Theorie der Proportionen und der Eurythmie ist nichts anderes als die Übertragung der Pythagoreischen Theorie der Saiten auf räumliche Verhältnisse oder besser: der musikalischen Intervalle, wie sie im Timaios abgehandelt werden (die Zahl als Weltseele).« 96

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losen Skala auszudrücken. Sogar die Klangfarbe, das am deutlichsten qualitative Charakteristikum von Tönen – ist durch die Einfachheit oder Komplexität der Schwingungen bedingt, die den Ton hervorbringen. Sobald der Vorschlag ergeht, in strikten Begriffen über das »Musik« genannte Phänomen nachzudenken, drängt sich die Physik des Klangs als natürliches Fundament einer jeden solchen Theorie auf. Doch Klang, sogar Ton als solcher ist noch nicht Musik; Musik ist aus – in der Regel exakt intoniertem – Klang gemacht. Nun ist die Verwandtschaft zwischen einfachen Tonbeziehungen (Oktave, Quinte, Terz) und einer angenehmen Empfindung (Konsonanz) eng genug, um zu meinen, es gebe ein System psychischer »Reaktionen«, die exakt dem physikalischen System der tonalen »Reize« entsprechen. Der Wissenschaft der Akustik gesellte sich so ein Alter Ego bei, die von Carl Stumpf initiierte Musikpsychologie. Sie geht von der Vorstellung getrennter akus­ tischer Wahrnehmungen aus und versucht, die gesamte musikalische Erfahrung als Gefühlsreaktion auf komplexe tonale Reize verständlich zu machen, die noch durch die Empfindung von Kontrasten, Überraschendem, Vertrautem und vor allem durch persönliche Assoziationen verstärkt werden. Heute verfügen wir über eine recht umfangreiche Literatur zu den psychologischen Befunden auf diesem Feld. Weit größer als die Gesamtheit der Befunde ist der Glaube an dieses Unterfangen, dem hauptsächlich Menschen anhängen, die dergleichen Daten selbst weder erhoben noch interpretiert haben. Es ist eher das Programm als seine Einlösung, das sowohl musikalische als auch unmusikalische Menschen zu der Meinung veranlasst hat, die Tonkunst sei ein Prozess der affektiven Erregung, und eines Tages würde sich die musikalische Erfahrung als »nervöse Schwingungen« beschreiben lassen, die den physikalischen Schwingungen der Klanginstrumente entsprechen.98   So z. B. in dem Kapitel über Musik, das Paul Krummreich in Louis W. Flaccus’ The Spirit and Substance of Art (New York 1931) geschrieben hat. Nachdem er behauptet hat, die Musik rufe instinktive Reaktionen hervor, erklärt der Autor: »Triebe lassen sich als eine Phase unseres 98



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Diese ehrgeizige Hoffnung beruht natürlich auf der weitverbreiteten Überzeugung, die eigentliche Aufgabe der Kunst sei es, eine verfeinerte Art sinnlicher Lust zu verursachen, die ihrerseits eine zeitlich wohlabgestimmte, vielfältige Folge von Gefühlen hervorruft. Es erübrigt sich wohl, diese »Reiztheorie« noch einmal zu betrachten, nachdem sie sich für die Kunst im Allgemeinen schon als unglaubwürdig erwiesen hat. Es genügt darauf hinzuweisen, dass, wenn die Musik eine Kunst und nicht eine epikureische Lust ist, die Untersuchung der Schwingungsmuster auf Tonspuren und Enzephalogrammen uns zwar erstaunliche Einsichten über den Gehörsinn liefern könnten, aber nichts über die Musik aussagen, die eine von Klängen erzeugte Illusion ist. Die traditionelle Beschäftigung mit den Bausteinen der Musik hat sich auf eher unglückliche Weise auf das theoretische Studium, die Kennerschaft und die Kritik ausgewirkt und dann auch, vermittelt über die Kritik, auf die Ideen und Haltungen des allgemeinen Publikums. Man hat sich dadurch verführen lassen, auf die falschen Dingen zu hören und anzunehmen, um Musik zu verstehen, müsse man nicht einfach bloß viele Musikstücke kennen, man müsse auch viel über Musik wissen. Konzertbesucher versuchen ernsthaft, Akkorde zu erkennen, einen Wechsel der Tonart festzustellen und die einzelnen Instrumente in einem Ensemble herauszuhören – alles technische Einsichten, die man bei wachsender Vertrautheit mit Musik ganz von allein gewinnt, so wie man Glasuren auf Kera­miken Unbewussten begreifen, und das Unbewusste können wir im Sinne von Schwingungen beschreiben.« In seiner Erörterung geht es jedoch um Schwingungen, niemals um etwas anderes, das im Sinne von Schwingungen thematisiert wird. Zu den ernstzunehmendsten dieser hoffnungsvollen Unternehmungen gehört La musique et la vie intérieure. Essai d’une histoire psycho­ logique de l’art musical von Lucien Bourguès und Alexandre Denéréaz, Paris 1921. Siehe auch Francis E. Howard, »Is Music an Art or a Science«, Con­ necticut Magazine VIII, 2 (1903), S. 255–288. Es ließen sich noch Dutzende weiterer Beispiele anführen.

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oder die strukturellen Teile in Bauwerken erkennt –, statt sich auf die musikalischen Elemente zu konzentrieren, also auf das Harmonische und Melodische, auf Veränderungen im Tonumfang oder in der Klangfarbe, auf Rhythmik oder dynamische Akzente oder schlicht auf den Wechsel der Lautstärke, alles Dinge, die für ein Kind ebenso hörbar sind wie für einen erfahrenen Musiker. Denn nicht Töne einer bestimmten Höhe, Dauer und Lautstärke, nicht Akkorde und Taktschläge sind die Elemente der Musik. Wie alle anderen künstlerischen Elemente sind diese etwas Virtuelles, etwas nur für die Wahrnehmung Geschaffenes. Eduard Hanslick bezeichnet sie daher treffend als »tönend bewegte Formen«99. Solche Bewegtheit ist die Essenz der Musik; eine Bewegtheit unsichtbarer Formen, die sich nicht dem Auge, wohl aber dem Ohr darbieten. Aber was sind diese Formen? Sie sind keine Gegenstände in der wirklichen Welt wie jene Formen, die uns gewöhnlich das Licht offenbart, denn obwohl der Klang sich durch den Raum fortpflanzt und von den Wänden, auf die er trifft, entweder verschluckt oder zurückgeworfen wird, d. h. widerhallt, wird er durch sie nicht hinreichend so modifiziert, dass er einen Eindruck von ihrer Gestalt vermittelte, wie das Licht es tut.100 Gegenstände in einem Raum können sich auf einen Ton im Allgemeinen auswirken, doch beeinflussen sie weder die tonalen Formen auf eine spezifische Weise, noch behindern   Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revi­ sion der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1854, S. 32. 100  Dieser funktionale Unterschied zwischen Licht und Klang wurde vor etwa fünfzig Jahren von Joseph Goddard bemerkt: »Licht breitet sich kontinuierlich von einer einzigen zentralen Quelle aus und wird von Körpern in einer ihnen entsprechenden Weise reflektiert. […] Obwohl der musikalische Klang mehr oder weniger von den Körpern reflektiert oder absorbiert wird, zwischen denen er sich bewegt, verändert sich dadurch nur seine allgemeine Lautstärke und sein allgemeiner Charakter – etwa wenn Musik in einem leeren oder einem vollen Saal aufgeführt wird –, nicht aber erhalten wir dadurch einen Eindruck von den Körpern.« (The Deeper Sources of the Beauty and Expression in Music, London 1905, S. 25 ff.)  99



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sie deren Bewegungen, denn die Formen sind ebenso wie die Bewegungen nur scheinbar da – als Elemente in einer rein hörbaren Illusion. In all den fortschreitenden Bewegungen, die unser Ohr wahrnimmt – der schnellen oder langsamen Bewegung, der Pause, dem Anschlag, der aufsteigenden Melodie, der sich erweiternden oder verengenden Harmonik, den drängenden Akkorden und den fließenden Figuren –, gibt es tatsächlich nichts, was sich bewegt. Hier mag ein Wort angebracht sein, um einem verbreiteten Fehlschluss zuvorzukommen, nämlich der Annahme, die musikalische Bewegung sei real, weil die Saiten oder Flöten und die Luft um sie herum sich bewegen. Was wir wahrnehmen, ist aber nun nicht diese Bewegung. Die Schwingung ist winzig, sehr schnell, und wenn sie zur Ruhe kommt, verschwindet der Klang einfach. Im Gegensatz dazu ist die Bewegung der tonalen Formen weitgespannt und auf einen relativen Ruhepunkt ausgerichtet, der nicht weniger hörbar ist als die zu ihm führende Abfolge. In einer einfacher Passage wie dieser:

laufen die drei Noten aufwärts hin zum C. Tatsächlich aber findet keine Fortbewegung statt. Das C ist ihr Ruhepunkt; doch während es gehalten wird, gibt es eine schnellere Schwingung als in jedem anderen Teil der Phrase. Mit einem Wort: Die musikalische Bewegung hat mit einer physischen Ortsveränderung überhaupt nichts zu tun. Sie ist Schein und nichts anderes. Die letzte Note in unserem Beispiel führt ein weiteres Element ein, das kein Vorbild in der physikalischen Dynamik hat: die anhaltende Ruhe. Wenn in einem Stück eine Abfolge ihren Ruhepunkt erreicht hat, steht die Musik deshalb nicht still, sie schreitet vielmehr fort. Sie bewegt sich mittels statischer Harmonien, ausgehaltener Töne, etwa Orgelpunkte, und Stille. Ihre nach vorne treibende Dynamik ist sogar imstande, sie rhythmisch über den letzten Ton hinauszutragen, wie es in einigen

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Teil II  ·  Die Herstellung des Symbols

Werken Beethovens der Fall ist, z. B. am Ende von Opus 9, Nr. 1, wo der letzte Takt ein stummer Ausklang ist:

Die Elemente der Musik sind bewegte Klangformen, doch in ihrer Bewegung wird nichts fortbewegt. Das Reich, in dem sich tonale Einheiten bewegen, ist ein Reich der reinen Dauer. Diese Dauer ist allerdings so wenig wie die musikalischen Elemente ein reales Phänomen. Sie ist kein Zeitraum – nicht zehn Minuten, eine halbe Stunde oder irgendein Bruchteil eines Tages –, sondern etwas vollkommen anderes als die Zeit, in der sich unser öffentliches und praktisches Leben abspielt. Sie ist inkommensurabel mit dem Fortgang der Dinge des Alltags. Die musi­kalische Dauer ist ein Bild dessen, was man »gelebte« oder »erfahrene« Zeit nennen könnte – ein Bild des Lebensflusses, der für uns spürbar wird, wenn aus Erwartungen ein »Jetzt« und das »Jetzt« zu einer unabänderlichen Tatsache wird. Solch ein Fluss lässt sich nur in Bezug auf Empfindungen, Spannungen und Gefühle messen, und er weist nicht nur ein anderes Maß, sondern eine völlig andere Struktur auf als die wissenschaft­ liche Zeit oder jene, die unsere Alltagsgeschäfte bestimmt. Der Schein dieser vitalen, erlebten Zeit ist die primäre Illusion der Musik. Die ganze Musik erschafft eine Ordnung der virtuellen Zeit, in der ihre tönenden Formen sich in Beziehung zueinander bewegen – immer und nur zueinander, denn etwas existiert dort nicht. Die virtuelle Zeit ist von der Aufeinanderfolge realer Geschehnisse so verschieden wie der virtuelle Raum vom realen. Zunächst einmal ist sie durch den Gebrauch eines einzigen Sinnes, des Gehörs, wahrnehmbar. Keine andere Art von sinnlicher Erfahrung tritt ergänzend hinzu. Schon allein



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dadurch unterscheidet sie sich erheblich von unserer »Common-Sense«-Version der Zeit, die sogar noch zusammengesetzter, heterogener und fragmentarischer als unser vergleichbarer Raumsinn ist. Innere Spannungen und äußere Veränderungen, Herzschläge und Uhren, Tageslicht, Routinen und Ermüdung liefern uns verschiedene unzusammenhängende Zeitinformationen, die wir aus praktischen Gründen dadurch koordinieren, dass wir die Herrschaft der Uhr akzeptieren. Die Musik hingegen bietet die Zeit unserem unmittelbaren, vollständigen Erfassen dar, indem sie es unserem Gehör erlaubt, sie zu monopolisieren – sie ganz allein zu organisieren, zu erfüllen und zu gestalten. Sie erschafft ein Bild der Zeit, wie sie gemessen wird durch die bewegten Formen, die ihr Substanz verleihen, eine Substanz freilich, die allein aus Klang besteht und so die Vergänglichkeit selbst ist. Musik macht Zeit hörbar und ihre Form und Kontinuität fühlbar. Diese Theorie der Musik wird überraschenderweise von den Beobachtungen Basil de Selincourts bestätigt, die er in seinem kurzen, wenig bekannten, aber wichtigen Aufsatz »Music and Duration« festgehalten hat. Er ist mir erst kürzlich in die Hände gefallen und in mehreren Hinsichten bemerkenswert, insbesondere, weil sein Verfasser sowohl hinsichtlich des Raums als auch der Zeit klar und deutlich zwischen dem Realen und dem Virtuellen unterscheidet. Seine vor dreißig Jahren geschriebenen Worte verdienen es, hier zitiert zu werden: »Musik ist eine Form der Dauer. Sie setzt die gewöhnliche Zeit außer Kraft und bietet sich selbst als idealen Ersatz und Äquivalent an. Nichts ist in der Musik metaphorischer und künstlicher als die Behauptung, die Zeit verfließe, während wir ihr lauschen, die Entwicklung der Themen folge der zeitlichen Handlung der einen oder anderen Person, die in ihnen verkörpert ist, oder wir veränderten uns selbst beim Zuhören. Der von einem Maler verwandte Raum ist ein übertragener Raum, in dem sich alle Objekte in Ruhelage befinden, und auch wenn Fliegen über seine Leinwand kriechen, liefert ihr Kriechen kein Maß für die Entfernung von einem Farbton zu einem anderen.

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[…] Auf ähnliche Weise ist die musikalische Zeit eine ideale Zeit, und wenn wir ihrer weniger direkt gewahr werden, dann deshalb, weil unser Leben und unser Bewusstsein stärker durch die Zeit als durch den Raum bedingt sind. […] Die idealen und realen Raumrelationen zeigen in der Einfachheit des Gegensatzes, den wir zwischen ihnen wahrnehmen, die Verschiedenheit ihrer Natur an. Die Musik verlangt anderseits, dass wir unser ganzes Zeitbewusstsein von ihr absorbieren lassen. Unsere eigene Kontinuität muss in der des Klangs, dem wir lauschen, verloren gehen. […] Unser Leben wird ja durch Rhythmen gemessen: durch unsere Atmung, unseren Herzschlag. Solange Zeit aber Musik ist, sind sie belanglos, tritt ihre Bedeutung zurück. […] Wenn wir beim Hören von Musik ›aus der Zeit fallen‹, lässt sich dieser Zustand am besten durch die einfache Überlegung erklären, dass es ebenso schwierig ist, sich gleichzeitig in zwei Zeiten zu befinden wie an zwei Orten. Zeit ist für die Musik ein Element des Ausdrucks und Dauer ist ihr Wesen. Anfang und Ende einer Komposition sind nur dann eins, wenn die Musik von dem Zeitraum zwischen ihnen Besitz ergriffen und ihn ganz ausgefüllt hat.«101 Was die virtuelle Zeit radikal von der realen scheidet, liegt zweitens in ihrer Struktur, ihrem logischen Muster begründet, das von der eindimensionalen Ordnung abweicht, von der wir aus praktischen Gründen (alle historischen und wissenschaftlichen eingeschlossen) ausgehen. Die virtuelle, in der Musik geschaffene Zeit liefert uns ein Bild der Zeit in einem anderen Modus, d. h. sie scheint anderen Bestimmungen und Beziehungen zu unterliegen.   Basil de Selincourt, Music and Duration, in: Music and Letters I, Nr. 4 (1920), S. 286–293, hier 286 f. Vergleiche auch die folgende Passage aus dem oben erwähnten »The Composer and His Message« von Roger Sessions: »Mir scheint, das entscheidende Medium der Musik, die Grundlage ihrer Ausdruckskraft und das Element, aus dem sie ihren einzigartigen Wert bezieht, ist die Zeit, die für uns durch ihr expressives Wesen, sprich ihre Bewegung, lebendig wird.« (A. a. O., S. 104) 101



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Die Uhr – aus metaphysischem Blickwinkel ein höchst problematisches Instrument – liefert eine spezielle Abstraktion der Zeiterfahrung, nämliche Zeit als reine Abfolge, die durch eine Klasse idealer, in sich unterschiedsloser Ereignisse symbolisiert wird. Allerdings sind sie dank der Relation der Aufeinanderfolge zu einer unendlich »dichten« Reihe geordnet. So verstanden ist Zeit ein eindimensionales Kontinuum, und Abschnitte daraus reichen von einem ausdehnungslosen »Moment« zu einem nachfolgenden. Jedes gegenwärtige Ereignis lässt sich dann gänzlich in nur einem Segment der Reihe lokalisieren, so dass es dieses vollständig ausfüllt. Es kann hier nicht darum gehen, diesen genialen Zeitbegriff ausführlicher zu beschreiben. Begnügen wir uns mit der Bemerkung, dass er das einzige uns bekannte Schema ist, das uns angemessen ermöglicht, unsere praktischen Tätigkeiten zu synchronisieren, vergangene Ereignisse zu datieren und einen Ausblick auf zukünftige zu liefern. Zudem lässt der Zeitbegriff sich so erweitern, dass er die Forderungen eines sehr viel exakteren Denkens erfüllt, als es der »gesunde Menschenverstand« ist. Die moderne wissenschaftliche Zeit, die nur eine Koordinate in einer viel-dimensionalen Struktur bildet, ist eine systematische Verfeinerung der »Uhr-Zeit«. Trotz all ihrer logischen Vorzüge ist diese eindimensionale, unendliche Folge von Momenten eine Abstraktion der unmittelbaren Zeiterfahrungen, und sie ist nicht die einzig mögliche. Ihre großen intellektuellen und praktischen Vorteile haben einen Preis: Viele interessante Phasen unserer Zeitwahrnehmung müssen vollständig ausgeklammert werden. Folglich besitzen wir viele Zeiterfahrungen – d. h. ein unmittelbares, anschauliches Wissen von der Zeit –, die nicht als »wahr« gelten, weil sie sich nicht formalisieren und in einem symbolischen Modus darstellen lassen; sofern wir die Zeit diskursiv erfassen wollen, bleibt uns nur die eine Möglichkeit: die Uhr. Veränderung heißt das Prinzip, das der Uhr-Zeit zugrunde liegt. Gemessen wird sie durch die Gegenüberstellung zweier Zustände eines Messinstruments, ob dies nun die Sonne in

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verschiedenen Positionen ist, der Zeiger auf einem Zifferblatt an verschiedenen Orten oder ein Vorbeiziehen monotoner, ähnlicher Ereignisse wie Ticken oder Lichtblitze, die durch die Korrelation mit einer Reihe diskreter Zahlen »gezählt«, d. h. unterschieden werden. In jedem Fall werden die »Zustände«, die »Augenblicke«, oder wie immer wir die Glieder der Reihe nennen wollen, symbolisiert und damit explizit erfasst; die Veränderung von einem zum anderen wird in Bezug auf ihre Unterschiede begriffen. Die »Veränderung« selbst ist nichts, was dargestellt wird, sie ist durch die Gegenüberstellung der verschiedenen, sich selbst nicht verändernden »Zustände« implizit mitgegeben.102 Der aus solchen Messungen hervorgehende Zeitbegriff ist weit von dem entfernt, was wir aus unserer unmittelbaren Erfahrung über die Zeit wissen. Sie erscheint uns da wesentlich als Übergang, als Vergehen (passage) oder als Bewusstsein der Flüchtigkeit. Wenn wir eine wissenschaftlich brauchbare, das heißt messbare, Zeitordnung formulieren wollen, müssen wir das Vergehen gerade nicht berücksichtigen, und weil wir diesen psychologisch höchst wichtigen Aspekt vernachlässigen können, ist die Uhr-Zeit homogen, einfach und kann als ein­ dimensional betrachtet werden. Zeiterfahrung ist aber in keiner Weise etwas Einfaches. Zu ihren Eigenschaften gehört mehr als »Länge« oder das Intervall zwischen ausgewählten Augenblicken, denn ihr Vergehen weist auch auf etwas hin, was ich metaphorisch nur als Volumen bezeichnen kann. Eine Zeiteinheit mag uns subjektiv als groß oder klein, lang oder kurz er  Charles Koechlin hat 1926 einen Aufsatz mit dem Titel »Le temps et la musique« (La Revue Musicale, VII, 3., S. 45–62) veröffentlicht, worin sich folgender Absatz findet: »Gewissen Denkern erscheint die Zeit als das Ergebnis unserer Erinnerungen an viele Geisteszustände, von denen wir ›annehmen‹, sie seien durch eine fortgesetzte Dauer untereinander verbunden. In Anbetracht der Begrenzungen einer gemessenen Entfernung liegt ein Weg zwischen diesen Punkten. Tatsächlich räumen jene Philosophen nur die Existenz der Begrenzungen ein und bestreiten, dass es einen Weg gibt.« (S. 48) 102



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scheinen. Psychologisch gesehen ist der umgangssprachliche Ausdruck »a big time« zu erleben, zutreffender als die Rede von einer »hektischen«, »angenehmen« oder »aufregenden« Zeit. Wie Bergson schon vor vielen Jahren bemerkt hat, ist es die Voluminosität der unmittelbaren Erfahrung des Vergehens, die für deren Unteilbarkeit sorgt.103 Doch selbst ihr Volumen ist nichts Einfaches, da es mit seinen eigenen charakteristischen Formen erfüllt ist, so wie der Raum mit materiellen Formen. Wäre dem nicht so, könnten wir ihn weder beobachten noch würdigen. Die Phänomene, die die Zeit erfüllen, sind Spannungen – seien es physische, emotionale oder geistige. Die Zeit existiert für uns, weil wir Spannungen und ihre Auflösung erleben. Die große Vielfalt der zeitlichen Formen verdankt sich ihrer besonderen Art sich auf bauen, abzunehmen oder zu längeren und größeren Spannungen zusammenzufließen. Würden wir nur einzelne aufeinanderfolgende organische Anspannungen erleben, wäre die subjektive Zeit vielleicht so eindimensional wie die im Ti­c ken der Uhr angezeigte Zeit. Leben ist jedoch immer ein dichtes Gewebe gleichzeitiger Spannungen, und eine jede von ihnen ist ein Zeitmaß, wobei die Messungen selbst nicht zusammenfallen. Daher zerfällt unsere Zeiterfahrung in unvereinbare Elemente, die, nehmen wir sie alle zusammen, nicht als deutliche Formen zu erkennen sind. Wird eines als Parameter genommen, werden andere »irrational«, geraten aus dem logischen Fokus und werden unaussprechlich. Einige Erfahrungen treten daher immer in den Hintergrund, einige treiben voran, andere bremsen, doch was die Wahrnehmung betrifft, so verleihen sie dem Vergehen der Zeit eher Qualität als Form. Das Vergehen entfaltet sich in den Mustern der vorherrschenden, deutlichen Anspannungen, durch die wir es messen.104  In Matière et mémoire, zuerst erschienen 1896, schreibt er: »Jede Bewegung als Übergang von einer Ruhelage zu einer Ruhelage ist absolut unteilbar.« (Materie und Gedächtnis, Hamburg 2015, S. 234) 104  Phänomenologen versuchen diese komplexe Erfahrung diskursiv zu beschreiben, und sie tun dies bezogen auf momentane Eindrücke und gegenwärtige Gefühle. Was dabei herauskommt, ist eine gewaltige 103

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Die unmittelbare Erfahrung des Vergehens, wie sie im Leben eines jeden Menschen vorkommt, ist selbstverständlich etwas Reales, genauso real wie das Fortschreiten der Uhr oder des Geschwindigkeitsmessers, und wie alle Realität wird sie nur zum Teil wahrgenommen, so dass ihre fragmentarischen Informationen durch praktisches Wissen und aus völlig anderen Denkbereichen stammende Ideen ergänzt werden. Gleichwohl gewinnen wir genau daraus das Modell für die von der Musik erschaffene virtuelle Zeit. In ihr erfassen wir das vollständig artikulierte und reine Bild der Zeit: Jede Art von Spannung wird in musikalische Spannung umgewandelt, jeder qualitative Gehalt in musikalische Qualität, jeder irrelevante Faktor durch musikalische Elemente ersetzt. Die primäre Illusion der Musik ist das tönende Bild des Vergehens und des Übergangs, abstrahiert von der Realität, um frei, formbar und vollständig wahrnehmbar zu werden. Die meisten Leser werden zweifellos schon lange bemerkt haben, dass das, was hier als »subjektive Zeit« bezeichnet wird, die »reale Zeit« oder die »Dauer« ist, die Henri Bergson zu fassen und zu verstehen suchte. Bergsons Traum – in Zusammenhang mit seinem Gedanken von »Begriff« zu sprechen, will man nicht so recht wagen – von der durée réelle führt seine Metaphysik dicht an das Reich der Musik, ja an die Schwelle zu einer Philosophie der Kunst heran. Was ihn daran hinderte, eine allgemeine Kunsttheorie aufzustellen, war vor allem mangelnde logische Kühnheit. Indem er vor schädlichen Abstraktionen zurückschreckt, flüchtet er sich auf ein Feld ohne jegliche Abstraktion, und da er seinen Geist an den Werkzeugen der Physik wundgestoßen hat, hat er alle Werkzeuge in Bausch und Bogen verworfen. Seine Nähe zu den Problemen der Kunst hat ihn jedoch zum Philosophen der Künstler schlechthin gemacht. Dass Croce und Komplikation von »Zuständen«, in denen das Bewusstsein des Verge­ hens völlig im Vorüberziehen der »Augenblicke« verloren geht. Siehe z. B. den Aufsatz von Philip Merlan, Time Consciousness in Husserl and Heidegger, in: Journal of Phenomenology, 8, 1 (September 1947), S. 23–53.



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Santayana, die beide eine Ästhetik entworfen haben, zu keiner Zeit das künstlerische Denken so beeinflusst haben, wie Bergson es noch immer tut, ist schon eine seltsame Tatsache. Dabei haben sie viel Zutreffendes über die Künste gesagt, während Bergson manches Gefühlsselige und Amateurhafte geäußert hat.105 In seiner Metaphysik beschäftigt er sich jedoch mit Gegenständen, die zum Kern aller Künste, vor allem der Musik, vorstoßen. Seine in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzende Einsicht ist kurz gesagt die, dass jede begriffliche Form, die darlegen soll, was Zeit ist, diese in einem Maße simplifiziert, dass ihre interessantesten Aspekte dabei wegfallen, nämlich die charakteristischen Erscheinungen des Vergehens, und wir am Ende nur ein wissenschaftliches Äquivalent zurückbehalten, nicht aber ein begriffliches Symbol der Dauer. Diese Kritik stellt die Fähigkeit des Philosophen, ein logisches Konstrukt zu finden, vor eine neue Herausforderung: Liefere uns einen Symbolismus, mit dessen Hilfe wir unser unmittelbares Wissen von der Zeit erfassen und ausdrücken können! Doch an dieser Stelle tritt der Kritiker selbst den Rückzug an: Die Herausforderung sei nur rhetorisch gewesen. Seine eigene Antwort besteht in dem Rat, es gar nicht zu versuchen – solch eine Konzeption sei schlicht unmöglich, ihr symbolischer Ausdruck nur ein metaphysischer Fallstrick, da jegliche Symbolisierung ihrem Wesen nach eine Verfälschung sei. Sie führe nur zu einer »Verräumlichung«, und jeder Rückgriff auf den Raum sei ein Verrat an unserem wirklichen Wissen über die Zeit.106   Zum Beispiel der Abschnitt in La perception du changement: »Die Kunst läßt uns ohne Zweifel in den Dingen mehr Qualitäten und Nuancen entdecken, als wir für gewöhnlich darin wahrnehmen. Sie bereichert unsere Wahrnehmung, aber mehr an der Oberfläche als in der Tiefe. Sie bereichert unsere Gegenwart, aber sie reich nicht weit über diese hinaus.« (Henri Bergson, Die Wahrnehmung der Veränderung, in: ders., Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 149–179, hier 178) 106 Siehe Denken und schöpferisches Werden, a. a. O., insbes. Kap. 1; 105

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Die Philosophie müsse sich vom diskursiven Denken, von jeder logischen Konzeption verabschieden und versuchen, das innere Bewusstsein der Dauer durch Anschauung zu erfassen. Die Erfindung eines Symbolismus verhindert nun aber nicht per se ein Verständnis der »gelebten« Zeit. Das tut nur die ungeeignete und daher unfruchtbare Struktur des sprachlichen Symbols. Was Bergson von der Philosophie fordert – die dynamischen Formen der subjektiven Erfahrung darzulegen –, kann nur die Kunst erfüllen. Möglicherweise erklärt dies, warum er für Künstler der Philosoph par excellence ist. Croce und Santayana stellen Forderungen an die Kunst, die im Kern philosophisch sind. Daher finden Philosophen sie interessant, während Künstler sie in der Regel ignorieren. Bergson hingegen stellt eine Aufgabe, die im Bereich des diskursiven Ausdrucks unmöglich zu erfüllen ist, also jenseits des Gebiets der Philosophie liegt (und wohin im auch die Berufung auf den Trieb keinen Zugang verschafft), aber sie fällt genau in den Tätigkeitsbereich des Künstlers. Einem Dichter oder Musiker könnte Bergsons metaphysisches Ziel durchaus vernünftig erscheinen. Ohne sich zu fragen, ob es in der Philosophie erreichbar ist, akzeptiert der Künstler dieses Ziel und favorisiert eine Philosophie, die es für sich in Anspruch nimmt. Sobald das expressive Symbol, das Bild der Zeit, erkannt worden ist, kann man das philosophieren, was es enthüllt, und gewisse Irrtümer Bergsons im Lichte besseren Wissens korrigieren. Bergsons Lehre hat oft scharfsinnige Widerlegungen erfahren, aber nur selten eine konstruktive Kritik. Eine Aus­ nahme sind die Musiker. Sie erkannten, worauf er hinauswollte, und steuerten mit dem Mut der Unschuld direkt auf eine Lösung zu, während er sich von seinen philosophischen Skrupeln verwirren ließ. Ich denke da vor allem an zwei Aufsätze in La Revue Musicale. Sie griffen das Haupthindernis an, das eine kurze, aber grundlegende Darstellung findet sich auch in seiner Einführung in die Metaphysik, in: Denken und schöpferisches Werden, S. 180–225.



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sich der Formulierung einer Kunstphilosophie ausgehend von Bergsons reichhaltigem und neuem Zeitverständnis entgegengestellt hat, nämlich dessen radikalen Widerstand gegen den Raum, die Ablehnung jeder Eigenschaft, die dieser mit der Zeit teilen könnte. Die Kunst errichtet ihre Illusion im Raum oder in der Zeit. Metaphysisch können wir den einen Bereich ebenso leicht verstehen oder missverstehen wie den anderen. Die interessanten Charakteristika der Dauer zu finden ist nun aber sehr schwer, wenn es allzu vieles gibt, was auf keinen Fall gefunden werden sollte. Die beiden Aufsätze stammen zum einen von Charles Koechlin, nämlich der bereits erwähnte »Le temps et la musique«107, und zum anderen von Gabriel Marcel. Dessen Aufsatz erschien ein wenig früher unter dem Titel »Bergsonisme et musique«108 . Beide Verfasser sympathisieren stark mit Bergsons These, dass die unmittelbare Zeitanschauung unser Maßstab für eine philosophische Konzeption sein müsse, und beide erkennen, was Bergson nie richtig deutlich geworden ist, dass seine »konkrete Dauer«, seine »gelebte Zeit« das Urbild der »musikalischen Zeit« ist, nämlich das Vergehen in seiner charakteristischen Form.109 Auch spricht es intellektuell für sie, dass beide zwischen der realen und der musikalischen Dauer, der lebendigen Wirklichkeit und dem Symbol unterscheiden.110   Vgl. S. 224, Fn. 102.   La Revue Musicale 8, 3, S. 219–229. 109  Marcel schreibt: »Einem Leser Bergsons fällt es sehr schwer – gegen alle Vernunft – nicht anzunehmen, dass eine bestimmte Musikphilosophie in der Theorie der konkreten Zeit steckt […].« (A. a. O., S. 222.) Und Koechlin: »Gehörte Zeit kommt der reinen Dauer so nah, dass man sagen könnte, sie sei die Empfindung der Dauer selbst.« (A. a. O., S. 47) 110  Vgl. Marcel, a. a. O. S. 222: »Die konkrete Dauer ist nicht ihrem Wesen nach musikalisch. Umso mehr lässt sich, wenngleich in einer Formulierung […], die Bergson vehement abgelehnt hätte, sagen, die melodische Kontinuität liefere ein Beispiel, eine Illustration der reinen Kontinuität, damit der Philosoph es direkt in einer sowohl allgemeinen als auch konkreten Realität erfassen kann.« 107

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Bergson erkennt tatsächlich eine enge Verwandtschaft zwischen der musikalischen Zeit und der durée pure, doch sein Ideal eines Denkens ohne Symbole erlaubte es ihm nicht, die Kraft des dynamischen Bildes auszuschöpfen. Der Wunsch, jegliche räumliche Struktur auszuschließen, veranlasste ihn, seiner »konkreten Dauer« überhaupt eine Struktur abzusprechen. Wenn er selbst den Vergleich mit der musikalischen Zeit anführt, behandelt er sie wie ein vollkommen formloses Fließen, spricht von den »sukzessive[] Töne[n] einer Melodie, durch die wir uns einwiegen lassen«111. Infolgedessen entgeht ihm die wichtigste und ungewohnteste Enthüllung der Musik – die Tatsache, dass Zeit keine reine Aufeinanderfolge ist, sondern mehr als eine Dimension besitzt. Sein Abscheu vor wissenschaft­ lichen Abstraktionen, wie er sie in der Geometrie typisiert findet, lässt ihn an der eindimensionalen reinen Aufeinanderfolge von »Zuständen« festhalten, die der abstrakten Struktur von Newtons eindimensionalem Zeitfluss verdächtig ähnlich ist. Nun verfügt die musikalische Zeit aber über Form und Orga­ nisation, Volumen und unterscheidbare Teile. Wenn wir eine Melodie verstehen, lassen wir uns nicht vage auf ihr dahintreiben. Wie Marcel bemerkt: »Wenn wir von der Schönheit einer melodischen Linie sprechen, bezieht sich diese ästhetische Bestimmung nicht auf ein inneres Fortschreiten, sondern auf ein bestimmtes Objekt, auf eine bestimmte nicht-räumliche Gestalt, für die die Welt der Ausdehnung nur einen SymbolisKoechlin führt ebenfalls die verschiedenen Zeitbegriffe auf: Reine Dauer, ein Merkmal unseres Tiefenbewusstseins und anscheinend von der Außenwelt unabhängig: sich entfaltendes Leben. Psychologische Zeit. Diesen Eindruck von der Zeit empfangen wir entsprechend den Ereignissen im Leben: Minuten, die uns wie Jahrhunderte vorkommen, Stunden, die zu schnell vergehen […]. Die mathematisch gemessene Zeit […]. Und schließlich würde ich die musikalische Zeit nennen wollen […]. Die gehörte Zeit ist ohne Zweifel diejenige, die der reinen Dauer am nächsten kommt […].« (A. a. O., S. 46) 111  Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg, 1994, S. 80. [ A nm. d. Hg. ]



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mus liefert, von dem wir wissen, dass er nicht angemessen ist. Während wir allmählich von Ton zu Ton übergehen, entsteht ein gewisses Ensemble, baut sich eine Form auf, die sich gewiss nicht auf eine organisierte Abfolge von Zuständen zurückführen lässt. […] Es gehört zum Wesen dieser Form, sich selbst als Dauer zu enthüllen und dennoch auf eine ihr eigentümliche Weise die rein zeitliche Ordnung, in der sie erscheint, zu übersteigen.« Betrachtet man wie Bergson die musikalische Form und Relation als »räumlich«, verkennt man gerade das wirkliche Sein der Musik. Die echte musikalische Wahrnehmung apperzipiert die Musik als etwas Dynamisches. »Dieser Akt der Apperzeption […] löst sich keinesfalls in jener Gleichgestimmtheit auf, durch den ich mit der Phrase eins werde und sie lebe. Ja, ich möchte sagen, es handelt sich nicht um Preisgabe, im Gegenteil es ist eine Art der Beherrschung.«112 Die häufigen Verweise auf den »musikalischen Raum« in der Fachliteratur sind nicht rein metaphorisch. Ohne Zweifel werden in der Musik räumliche Illusionen geschaffen, und damit sind nicht das Phänomen des Volumens gemeint, das buchstäblich räumlich ist, und die Tatsache, dass Bewegung logisch einen Raum voraussetzt, wodurch Bewegung wohl zu wörtlich aufgefasst würde. Der »Tonraum« ist etwas ganz anderes, er ist ein echter Schein von Entfernung und Umfang. Er leitet sich von der Harmonik her und nicht von der Bewegung und der Fülle des Tons. Der Grund dafür ist meiner Ansicht nach darin zu sehen, dass die harmonische Struktur unserem Gehör eine Orientierung im Tonsystem ermöglicht, die uns die musikalischen Elemente so wahrnehmen lässt, als würden sie Orte in einem idealen Tonumfang besetzen.113 Allerdings wird der musikalische Raum, anders als das Gefüge der virtuellen Zeit, niemals ganz und gar wahrnehmbar. Er ist ja in Wirk  Marcel, a. a. O., S. 223–224.   Siehe dazu Donald F. Tovey, Essays in Musical Analysis, Bd. 5: Vocal Music, Oxford 1937. Im Zusammenhang mit Händels Modulationen schreibt er: »Im Chor der Dunkelheit […] durchlaufen sie den Großteil des harmonischen Raums.« (S. 97) 112 113

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lichkeit ein Merkmal der musikalischen Zeit, eine Erscheinung, die es ermöglicht, die Zeitlichkeit in mehr als einer Dimension zu entwickeln. Der Raum in der Musik ist eine sekundäre Illu­ sion. Doch ob nun primär oder sekundär, er ist durch und durch virtuell, d. h. vom Raum der realen Erfahrung abgekoppelt. In seiner Musikpsychologie vergleicht Ernst Kurth ihn mit dem »energetischen Raum«114, und in Werner Danckerts Ursymbole melodischer Gestaltung wird er als virtueller »Ort« bezeichnet.115 J. Gehring spricht seinerseits von der in Flächen geschichteten musikalischen Tiefe.116 Offenbar ist das räumliche Element, das all diese Verfasser in der Musik entdecken, ein plastischer, künstlerisch gestalteter Raum, jedoch nicht in einem näher bestimmten visuellen Modus. Weder ist er aus der realen Erfahrung übernommen – auch wenn Kurth häufig mit assozia­ tions­psychologischen Argumenten liebäugelt –, noch stellt er die wesentliche Substanz der Kunst dar. Das räumliche Element entsteht durch die Art und Weise, wie sich die virtuelle Zeit in diesem oder jenem Werk entfaltet – es taucht auf und rückt wieder in den Hintergrund. Die Tatsache, dass die primäre Illusion einer Kunst, gleichsam als Echo, in einer anderen als sekundäre Illusion erscheint, ist ein Hinweis darauf, dass alle Künste im Grunde miteinander   »Allen diesen Erscheinungen gegenüber wäre bei den inneren psychischen Raumeindrücken der Musik wohl am besten vom ›energetischen Raum‹ zu sprechen, da er unmittelbar aus den psychischen Bewegungsenergien hervorgeht. Erst an seinen Grenzerscheinungen löst er sich in die anschaulichen Momente auf […].« (Ernst Kurth, Mu­ sikpsychologie, Berlin 1931, S. 136) 115  »Wie jede Räumigkeit des Kunstwerks. So ist auch diese [i.e. die musikalische Räumigkeit] nichts anderes als ein kosmisches Symbol, ein Sinnbild der ›Stellung‹, des ›Standortes‹ und des ›Spielraumes‹ des Menschen im größeren Weltzusammenhange.« (Werner Danckert, Ursymbole melodischer Gestaltung. Beiträge zur Typologie der Personal­ stile aus sechs Jahrhunderten der abendländischen Musikgeschichte, Kassel 1932, S. 66) 116  Jakob Gehring, Grundprinzipien musikalischer Gestaltung, Leipzig 1928, S. 4 ff. 114



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zusammenhängen. Plötzlich mag sich in der Musik ein Raum auftun, Zeit in ein visuelles Kunstwerk eintreten. Ein Bauwerk ist beispielsweise die Verkörperung eines vitalen Raums, indem es jedoch das Lebensgefühl symbolisiert, das zu seiner Umgebung gehört, verweist es unweigerlich auf die Zeit, und bei manchen Bauwerken ist dieses Element beeindruckend stark. Dennoch stellt die Architektur uns Zeit nicht in einer Totalansicht vor, wie sie es für den Raum leistet. Zeit ist bloß eine sekundäre Illusion. Die »Substanz«, der wirkliche Charakter eines Kunstwerks, wird immer durch die primäre Illusion bestimmt, doch die Möglichkeit sekundärer Illusionen verleiht ihm jenen Reichtum, jene Elastizität und große schöpferische Freiheit, die es so schwer machen, wirkliche Kunst mit dem Netz der Theorie einzufangen. Sobald wir Musik als durch und durch symbolisch, als Bild der subjektiven Zeit, begreifen, verstehen wir ohne Weiteres, warum Bergsons Ideen für einen künstlerischen Kopf so reizvoll sind. Musik stellt die Realität zwar nicht unmittelbarer dar, als der philosophische Diskurs es vermag, aber sie stellt eine empfindende und fühlende Realität in einem nicht-diskursiven Bild angemessener dar – globalement, wie der Franzose sagen würde. Dank dieses Werkzeugs bewirkt sie genau das, was er von der vraie métaphysique erwartet. Nur eines leistet sie nicht: Sie liefert uns am Ende keine diskursive Darlegung ihrer selbst. Das würde ja auch bedeuten, alles auf einmal haben zu wollen, und darum ist die Kunst weder Philosophie noch ein Ersatz für Philosophie. Allerdings ist sie selbst eine erkenntnistheoretische Gegebenheit, über die sich philosophieren lässt. Das Hervorbringen des Symbols ist für den Musiker, wie für jeden anderen Künstler auch, das allumfassende Problem. Alle besonderen Schwierigkeiten, vor denen wir im Umgang mit der Musik stehen, entspringen dem Wesen der musikalischen Illusion und den schöpferischen Prozessen, die an ihrer Gestaltung und Wiedergabe beteiligt sind. Zu solchen untergeordneten Themen zählen: dass zwischen den Komponisten und sein Publikum ein Ausführender tritt; dass es für jedes beliebige Stück

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eine Bandbreite an »Interpretationen« gibt; dass Virtuosität wertvoll, aber auch gefährlich ist; dass der Popanz der »bloßen Technik« auftaucht; dass der Prozess des »Selbstausdrucks« mal dem Komponisten, mal dem Aufführenden oder bei Orchesterwerken dem Dirigenten zugeschrieben wird; dass Dichtungen eine Rolle spielen; dass das Prinzip des »petit roman« mangels eines Textes die Komposition inspiriert oder erklärt; dass die meisten Musikwissenschaftler und Kritiker das entgegengesetzte Ideal der »reinen Musik« beschwören und dass die meisten großen Komponisten sich paradoxerweise für die Oper erwärmen. Alle diese Probleme müssen in Verbindung mit unserem gegenwärtigen Thema erörtert werden. Freilich sind sie zu vielschichtig, viel zu sehr mit Folgen für andere Künste behaftet, als dass es genügen wird, sie nur im Vorübergehen zu benennen. Einer Lösung können sie nur entgegengeführt werden, wenn wir über das zentrale Thema sehr viel mehr wissen: Was bringt der Musiker zu welchem Zweck mit welchen Mitteln hervor?

8. Kapitel Die musikalische Matrix

»Eine dunkle, mächtige Totalidee«   Schiller

Selbstverständlich ist das, was der Musiker hervorbringt, ein Musikstück. Nun ist Musik etwas Hörbares, so wie ein Bild etwas Sichtbares ist, und zwar nicht nur als Konzeption, sondern als sinnlich Existierendes. Wenn ein Musikstück vollständig vorliegt, dann ist es da, um vom physischen ebenso wie vom inneren Ohr gehört zu werden. Was immer Croce und andere ernstzunehmende Ästhetiker auch sagen mögen,117 der letzte Vorgang, in dem eine Idee in sinnliche Erscheinung umgesetzt wird, ist keine mechanische Angelegenheit, sondern ein untrennbarer Bestandteil des schöpferischen Drangs selbst, und jedes Detail wird vollkommen der künstlerischen Einbildungskraft unterworfen. Ein großer Teil der Produktion kann jedoch stattfinden, ohne dass es zu einem offenen Ausdruck kommt. Diese physische, nicht-sinnliche Struktur verfügt über ein eigenes dauerhaftes Dasein und eine eigene Identität. Sie ist das, was sich in vielen vergänglichen Erscheinungen, die ihre »Aufführungen« sind, »wiederholen« lässt, und in gewissem Sinn kann der Komponist nur dieses wirklich als sein Stück bezeichnen. Er mag zwar dadurch vollenden, dass er es selbst aufführt und diese Aufführung dann auf einem dauerhaften Tonträger festhält, so dass auch diese wiederholt abspielbar ist, aber die Komposition ist dennoch etwas, das schriftlich oder im Gedächtnis konservierbar ist und auch von einem anderen aufgeführt werden kann.   Diese meiner eigenen entgegengesetzte Theorie wird weiter unten im 20. Kapitel erörtert werden. 117

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Der Zweck jeder musikalischen Anstrengung, ob nun in Gedanken oder durch physische Tätigkeit, besteht darin, die Illu­sion des Zeitflusses in seinem Vergehen zu erschaffen und auszuführen, ein mit Bewegung erfülltes Vergehen hörbar zu machen, das ebenso illusorisch ist wie die dadurch gemessene Zeit. Die Musik ist in einem engeren, wichtigeren Sinn als dem üblichen, in dem der Ausdruck nicht nur auf Musik, sondern auch auf Literatur, Schauspiel und Tanz angewendet wird, eine »Zeitkunst«, in dem Sinn nämlich, dass sie eine bestimmte Zeit der Wahrnehmung erfordert. So verstanden bilden die »Zeitkünste« das Gegenstück zu den »Raumkünsten«. Der Musik kommt dieser Titel jedoch in zwei Bedeutungen zu, und wenn die Philosophie mit etwas unglücklich ist, dann mit Doppelsinnigkeiten, mit double-entendres. Aus diesem Grund werde ich den Ausdruck »Zeitkünste« ganz und gar fallenlassen und stattdessen zwischen den bildenden und den sich ereignenden Künsten (occurrent arts) unterscheiden (nicht »Aufführungskünsten«, denn die zur stillen Lektüre gedachte Literatur wird man nicht als »aufgeführt« bezeichnen können, es sei denn in einem sekundären, uneigentlichen Sinn). Musik ist eine sich ereignende Kunst; ein musikalisches Werk entwickelt sich von der ersten Vorstellung seiner allgemeinen Bewegung bis zu ihrer vollständigen, physischen Darstellung, seinem Sichereignen. In dieser Entwicklung können wir jedoch einzelne Phasen unterscheiden – unterscheiden, nicht immer aber voneinander trennen. Die erste Phase ist der Prozess der Konzeption, der vollständig im Kopf des Komponisten stattfindet (unabhängig davon, welche äußeren Reize ihn angestoßen haben oder am Laufen halten) und zu einer mehr oder weniger plötzlichen Erkenntnis der zu erreichenden Gesamtform führt. »Mehr oder weniger plötzlich«, weil dieser zündende Moment in der typischen Erfahrung verschiedener Komponisten und sogar in den Erfahrungen, die jeder Einzelne von ihnen damit macht, vermutlich je anders ausfällt. Ein Musiker sitzt vielleicht am Klavier und fügt alle möglichen Themen und Figuren zu einer losen Phan-



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tasie zusammen, bis ein Gedanke sich Bahn bricht und aus den plätschernden Klängen eine Struktur auftaucht, oder er hört die ganze musikalische Gestalt auf einmal, ohne dass er irgendwelche physischen Töne, ja möglicherweise nicht einmal eine genaue Tonfarbe unterscheidet. Doch wie immer sich ihm die Gesamtgestalt darstellt, er erkennt darin die grundlegende Form des Stückes, und sein Geist ist nicht länger frei, unverbindlich von einem Thema zu einem anderen zu wandern, von einer Tonart, einer Stimmungslage zu einer anderen. Diese Form ist die »Komposition«, die auszuführen er sich aufgefordert fühlt. (Dass wir in analogem Sinn auch in der Malerei von »Komposition« reden, ist an dieser Stelle recht vielsagend. Gemeint ist damit die grundlegende Form des Bildes, die es zu entwickeln gilt und die jede Linie, jeden Akzent bestimmt.) Ist die wesentliche musikalische Form erst einmal gefunden, liegt ein Musikstück im Keim vor: Im Kern ist alles schon da, auch wenn sein endgültiger, vollständig artikulierter Charakter noch nicht determiniert ist, weil die Komposition viele mögliche Wege einschlagen kann. Dennoch gibt die allgemeine Gestalt im anschließenden Prozess der Erfindung und Ausführung den Maßstab dafür vor, ob etwas richtig oder falsch, zu viel oder zu wenig, zu stark oder zu schwach ist. Diese ursprüngliche Konzeption könnte man als die Leitform (commanding form) des Werks bezeichnen. Sie verlangt nach Ausschmückung, Zuspitzung oder größerer Einfachheit. Möglicherweise schließt sie eins der bewährten Mittel ihres Schöpfers aus und zwingt ihn, nach einem neuen zu suchen. Gleich einem lebendigen Organismus bewahrt sie ihre Identität, und angesichts von Einflüssen, die sie zu etwas funktional anderem machen wollen, scheint sie an ihrer ursprünglichen Bestimmung festzuhalten und eher ihre eigentlichen Linien zu verformen als sich durch etwas anderes ersetzen zu lassen. Wenn der erste Schein einer organischen Form erreicht worden ist, zeichnen sich tatsächlich die allgemeinen symbolischen Möglichkeiten eines Kunstwerks ab. Es verhält sich wie mit e­ iner unvollständigen oder sogar nur angedeuteten Aussage, ­deren

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allgemeine Absicht gleichwohl verständlich ist. Dieser zentrale Sinngehalt ist, wie ich meine, eben das, was Flaubert die »Idee« nennt, und ihr Symbol ist die Leitform, die dem Urteil des Künstlers auch in Augenblicken höchster Erregung und Inspiration die Richtung weist. Die Grundbewegung hat in der Musik die Kraft, das ganze Stück durch eine Art impliziter Logik zu gestalten, die dann durch bewusste Kunstfertigkeit explizit wird. Was den Fähigkeiten des Künstlers unauf hörlich das Äußerste abverlangt, ist vor allem der Reichtum an Möglichkeiten, die in solch einer Matrix enthalten sind. Da sie sich nicht alle verwirklichen lassen, ist jede Entscheidung zugleich ein Opfer. Jede Artikulation schließt nicht nur ihre eigenen Alternativen aus, sondern auch alle möglichen Entwicklungen, die durch sie lebensfähig geworden wären. Ist die Leitform erst einmal erkannt, ist das Werk so etwas wie Leibniz’ »beste aller möglichen Welten« – die beste Wahl, die ihr Schöpfer unter den vielen möglichen Elementen hat treffen können, von denen jedes, als Teil einer organischen Struktur, so viel Spielraum, Ausarbeitung, Einbindung und Unterstützung seitens anderer Faktoren erfordert, dass schon die Gestaltung eines kleinen Details den Künstler auf eine weitreichende Entscheidung festlegen kann. Beherrscht er seine Kunst, dann ist sein Geist dazu ausgebildet und dafür empfänglich, jede Option in Bezug auf andere und das Ganze klar zu sehen. Wie Picasso meinte: »Ich habe weder etwas ausprobiert noch herumexperimentiert. Wenn ich etwas zu sagen hatte, dann habe ich es so gesagt, wie es meinem Gefühl nach gesagt werden musste.«118 Die Matrix – in der Musik die Grundbewegung der Melodie bzw. die harmonische Sequenz –, die für ein Stück den Rhythmus im Großen und den Gestaltungsraum bestimmt, entspringt dem Gedanken und Gefühl des Komponisten, doch sobald er sie als individuelles Symbol erkennt und ihre Kontur darlegt, wird sie zum Ausdruck einer unpersönlichen Idee und eröffnet ihm und anderen einen reichen Schatz an Möglichkeiten. Das 118

  Siehe Goldwater und Trewes, Artists on Art, a. a. O., S. 418.



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wesentliche Merkmal der Leitform ist ja nicht ihre Beschränkung, sondern ihre Fruchtbarkeit. Eine vollkommen ungezügelte Phantasie leidet ja gerade unter dem Fehlen von Druck. Sie befindet sich noch in dem unbestimmten und tastenden Stadium, das der Konzeption der Gesamtform vorausgeht. Der große schöpferische Durchbruch ist der Moment, in dem die Matrix erkannt wird, denn sie birgt alle Motive für dieses besondere Werk; nicht alle Themen – ein Thema mag hinzukommen, wenn es einen geeigneten Ort findet –, wohl aber die Tendenzen des Stücks, die Notwendigkeit von Dissonanz und Konsonanz, Neuheit und Wiederholung, Länge der Phrasen und zeitliche Gestaltung der Kadenzen. Da es die organische Form selbst ist, die nach diesen allgemeinen Funktionen verlangt, steht die Phantasie des Komponisten vor spezifischen Problemen. Allerdings ist nicht er es, der die Probleme aufwirft, um sein Können bei der Lösungsfindung auf die Probe zu stellen, sie ergeben sich vielmehr aus der von ihm bereits geschaffenen objektiven Form. Darum rätselt man manchmal recht lange über die genaue Form eines Ausdrucks und erkennt nicht, was an diesem oder jenem Aspekt nicht stimmt, und dann, wenn die richtige Form sich einstellt, fügt sich alles fast wie von allein. Da der Gefühlsgehalt des neuen Elements nicht ohne jeglichen Ausdruck im Voraus absehbar ist, kann seine Angemessenheit durch diesen nicht mit derselben Genauigkeit und Sicherheit beurteilt wie durch diese intuitiven Erfahrung von Stimmigkeit. Die Leitform des Werks ist die Gewähr für ein derartiges Urteil.119 Unter dem Einfluss der »Totalidee« komponiert der Musiker jeden Teil seines Stückes. Die Artikulationsprinzipien der   Vgl. Roger Sessions, The Composer and His Message, a. a. O.: »[Mitunter] nimmt die Inspiration jedoch nicht die Gestalt eines plötzlichen musikalischen Einfalls an, sondern eines klar vor Augen stehenden Drangs auf ein bestimmtes Ziel hin, das der Komponist unbedingt erreichen wollte. Wenn [im Fall der Hammerklaviersonate Beethovens] diese vollkommene Verwirklichung jedoch gelungen ist, dann konnte es überhaupt kein Zögern mehr geben – sondern nur noch die blitzartige Erkenntnis, dass er genau das gewollt hat.« (S. 126 f.) 119

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Musik sind so vielfältig, dass jeder Komponist auch in der Tradition, deren Erbe er zufällig ist, seine eigene Sprache findet. So wie ihm die Idee kommt, legt sie ihm schon seine eigene Kompositionsweise nahe, und in diesem Prozess liegt die Individuation des Stücks. Die Leitform, der bedeutendste Satz oder wie immer man es nennen will, ist daher nicht die von Schenker so genannte Urlinie*, denn wie Riezler nachgewiesen hat, sehen sich die Urlinien* sehr unterschiedlicher Stücke eigentümlich ähnlich.120 Die musikalischen Konzeptionen, aus denen sich die jeweiligen Werke entwickelt haben, müssen genauso unverwechselbar gewesen sein wie die Endergebnisse. Das liegt daran, dass die ursprüngliche »Idee« der Anfang eines schöpferischen Prozesses ist und einen bestimmteren Entwicklungsplan in Gang setzt, als es das Auflösen natürlicher Akkorde in Tonfolgen und der dadurch sich ergebenden Obertonstrukturen in neue Abfolgen ist – das Prinzip, das Schenker Auskomponieren* nennt. Das wirkliche Erzeugungsprinzip einer Komposition besteht in einer charakteristischen Weise, die tonalen Möglichkeiten der ersten Harmonien zu entfalten, und es mag in unentwickelter Form in einer rhythmischen Figur oder im Bewusstsein extremer Stimmumfänge (Schenkers Intervallzug*, vorerst ohne Bezug auf die tatsächlichen genauen Intervalle), dicht aufeinanderfolgender Wechsel oder großer Bögen, eines leichten, schnellen Erglühens oder atemberaubender Intensität liegen. Die Urlinie* hingegen ist das Endergebnis einer Strukturanalyse, und Schenker wäre vermutlich der Letzte, der annehmen würde, der Komponist beginne mit einer ausdrücklichen Vorstellung seiner protomusikalischen Linie, einer Art Bauplan, und komponiere dann sein Stück innerhalb dieses Rahmens. Die Idee des Stücks enthält die Urlinie* in derselben Weise, wie eine Aussage ihre Syntax enthält. Wenn wir in einer Sprache, die wir beherrschen, einen diskursiven Gedanken ausdrücken wollen, dann bilden wir unseren Satz, ohne einen 120

510.

  Walter Riezler, Die Urlinie, in: Die Musik XXII, 7 (1930), S. 502–



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Gedanken an Subjekt und Prädikat zu verschwenden, und dennoch wird unsere Mitteilung durch einen nachvollziehbaren syntaktischen Kanal fließen, zu denen auch die verwickeltsten Konstruktionen noch in Abhängigkeit stehen. Die »Sprache der Musik«, so wie sie uns vertraut ist, hat ihre eigenen Formen entwickelt und diese bilden eine ebensolche Tradition wie die Strukturelemente in der Rede. Gleichwohl mag es sein, dass selbst die Urlinie* kein unabänderliches Gesetz jeder Musik ist, sondern nur unserer europäischen Musikgeschichte; dass Schenker weniger das Prinzip der Kunst selbst entdeckt hat als das der »großen Tradition«121. Seine beharrliche Berufung auf »Meisterwerke« und seine Ablehnung jeder neuen Sprache erinnern an die Vertreter der so genannten »gegenständlichen« Malerei.122 Die Naturgesetze, die sie für die gesamte bildende Kunst entdeckt zu haben meinen, sind in Wahrheit die Prinzipien der »großen Tradition«, die ihren Entwicklungsgang in der Geschichte unserer Kultur inspiriert und gefördert haben. Sollte die Urlinie* das Merkmal unserer besonderen Art musikalischer Schöpfung sein, dann ist es kein Wunder, wenn wir sie in allen guten Kompositionen ausmachen und auch in vielen schlechten; und nichts wäre dann irrelevanter als Riezlers Kritik an Schenkers Analyse, dass alle Urlinien gleich aussehen und wir nach einem Blick auf sie nicht sagen können, ob die Werke, von denen sie abstrahiert worden sind, nun großartig oder schwach sind.123 Was aber ist dann das Wesen aller Musik? Die Schöpfung einer virtuellen Zeit und ihre vollständige Bestimmung durch die Bewegung der hörbaren Formen. Es gibt zahlreiche Mittel, um diese primäre Illusion der Zeit herzustellen; das Erkennen verwandter Töne (Grundtöne und Obertöne, und durch Ablei  Verweis auf F. R. Leavis’ Buch The Great Tradition (London 1948), sinnbildlich für eine deutlich akzentuierte und insofern notwendigerweise restriktive Kanonbildung. 122  Siehe beispielsweise Kenyon Cox, The Classic Point of View. Six Lectures on Painting, New York 1911. 123  Riezler, Die Urlinie, a. a. O., S. 509. 121

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tung unser ganzes harmonisches System) ist das mächtigste Strukturprinzip, das je verwendet worden ist, jedenfalls dann, wenn die künstlerische Kraft anhand der Bandbreite und Ausdruckskraft der Strukturen beurteilt wird, die sich diesem Prinzip verdanken. Andere musikalische Traditionen haben jedoch andere Mittel eingesetzt. Die Trommel ist höchst wirkungsvoll verwendet worden, um das Ohr gefangen zu nehmen, um sozusagen die Welt der praktischen Zeit auszublenden und im Klang ein neues Zeitbild zu schaffen. In unserer Musiktradition ist die Trommel ein untergeordnetes Element, aber wir besitzen Aufnahmen von afrikanischer Musik, in denen ihre konstruktive Kraft entscheidend ist.124 In solchen Aufführungen fällt der Stimme im Wesentlichen die Aufgabe zu, mit dem stetigen Ton der Trommel zu kontrastieren – umherzuschweifen, zu steigen und zu fallen, während das rein rhythmische Element unerbittlich wie das Schicksal ist. Die Wirkung ist weder melodisch noch harmonisch, aber es handelt sich um Musik: Sie besitzt Bewegung und eine autonome Form, und jeder, der mit vielen Werken dieser Art vertraut ist, fühlt vermutlich schon bei den ersten Schlägen, wie ihre Struktur und Stimmung beschaffen sind. Ein anderes Leitprinzip der Musik war die Intonation der Sprache. Wenn der Sprechgesang in seinem ältesten Sinn eine protomusikalische Linie ist, dann ist diese nicht wie Schenkers   Beispielsweise Victor 89-B, Secret Society Drums, Bini Tribe (5 Trom­meln). Unter Europäern gilt es als ausgemacht, dass jede Trommelmusik »primitiv« ist, dieses Trommeln ist aber alles andere als primitiv – es ist hochentwickelt, das komplexe Produkt einer lebendigen Tradition. Würden wir dieses afrikanische Trommeln damit vergleichen, wie europäische Bauern die Trommel zur Tanzbegleitung einsetzen (L’anthologie sonore, 16: a, Musik des 13. Jahrhunderts; b, Musik des 14. Jahrhunderts), dann klingt Letzteres im Kontrast wirklich »primitiv«, d. h. unentwickelt. [Der erste Verweis bezieht sich auf eine ethnographische Aufnahme, die damals auf Schellackplatte verfügbar war; sie kann im Internet unter https://archive.org/details/78_secretsociety-drums_bini-tribe_gbia0000933b nachgehört werden. Die An­ thologie sonore war eine von Curt Sachs begründete Schallplattenreihe historischer und ethnographischer Aufnahmen; Anm. d. Hg.] 124



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Urlinie* harmonisch aufgebaut, sondern beruht auf einem anderen Prinzip. Der Klang eines Sprechchors ist unabhängig von seinem poetischen Inhalt bereits Musik. Er erschafft eine dynamische Form, eine rein tönende Bewegung, die ihre eigene hörbare Zeit selbst demjenigen zumisst, der die Worte nicht versteht, obgleich er dadurch nicht den ganzen Reichtum des musikalischen Gefüges verstehen wird. Das wird jedoch der Gegenstand einer späteren Diskussion sein. Hier geht es lediglich darum, dass die Musik universeller ist als jede einzelne künstlerische Tradition, und dass es nicht das Fehlen irgendeines Konstruktionsprinzips ist, was Musik von Geräusch unterscheidet, sondern das Fehlen einer Leitform. Auch Geräusche können bisweilen musikalische Phänomene ausmachen; man denke an Hammer und Amboss, Kreissägen und tropfende Wasserhähne; aber wirkliche Musik kommt nur dann zustande, wenn jemand das Motiv aufgreift und es entweder als zu entwickelnde Form oder als Element verwendet, das in eine größere Form eingeht. Das Wesen aller Komposition – sei sie tonal oder atonal, vokal oder instrumental oder sogar, wenn man so will, rein perkussiv – ist der Schein organischer Bewegung, die Illusion eines unteilbaren Ganzen. Vitale Organisation ist der Rahmen allen Fühlens, denn Fühlen gibt es nur in lebendigen Organismen. Daher ist die Logik aller Symbole, die fähig sind, Fühlen auszudrücken, die Logik organischer Prozesse. Rhythmus ist das charakteristischste Prinzip vitaler Aktivität. Alles Leben ist rhythmisch; unter schwierigen Bedingungen können seine Rhythmen sehr vielschichtig werden, doch wenn sie wirklich verloren gegangen sind, kann das Leben nicht lange fortdauern. Dieser rhythmische Charakter von Organismen durchzieht die Musik, denn Musik ist eine symbolische Darstellung der höchs­ ten organischen Reaktion, des Gefühlslebens von Menschen. Eine Aufeinanderfolge von Gefühlen, die nicht aufeinander verweisen, bildet kein »Gefühlsleben«, so wie ein zusammenhangloses, unabhängiges Funktionieren von Organen, die unter einer Haut versammelt sind, kein physisches »Leben« wäre. Es ist die große Aufgabe der Musik, unsere Vorstellung des Fühlens

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so zu organisieren, dass darin mehr als ein gelegentliches Wahrnehmen von Gefühlsaufwallungen enthalten ist, d. h. uns einen Einblick in das zu geben, was zu Recht als »Gefühls­leben« bezeichnet wird bzw. als subjektive Einheit der Erfahrung, und sie tut dies mit Hilfe desselben Prinzips, das die physische Existenz in eine biologische Gestalt bringt – Rhythmus. Zahllose Untersuchungen zum Rhythmus haben sich auf den Begriff der Periodizität oder der regelmäßigen Wiederkehr von Ereignissen gestützt. Ohne Zweifel sind regelmäßig wiederkehrende Phasen ein Merkmal rhythmischer Lebensfunktionen: der Herzschlag, die Atmung und die einfacheren Stoffwechselprozesse. Das Ticken einer Uhr ist regelmäßig und wiederholt sich dauernd, aber es ist nicht in sich rhythmisch; das lauschende Ohr hört Rhythmen in der Aufeinanderfolge des immer gleichen Tickens, der menschliche Geist organisiert sie in eine zeitliche Form. Das Wesen des Rhythmus ist die Vorbereitung eines neuen Ereignisses durch das Beenden eines vorangegangenen. Wer sich rhythmisch bewegt, braucht keine einzelne Bewegung exakt zu wiederholen. Wohl aber müssen seine Bewegungen vollständige Gesten sein, so dass man Anfang, Absicht und Voll­ endung und in der Schlussphase der einen die Bedingung, ja das Entstehen einer anderen erkennt. Rhythmus ist das Erzeugen neuer Spannungen durch die Auflösung früherer. Diese müssen in keiner Weise von gleicher Dauer sein, doch die Situ­ a­t ion, die eine neue Krise heraustreibt, muss in der Auflösung ihrer Vorgängerin enthalten sein. An der Atmung kann man den physiologischen Rhythmus am klarsten sehen: Während wir die Luft ausstoßen, die wir eingesogen haben, baut sich ein körperliches Bedürfnis nach Sauer­stoff auf, das die Motivation und damit der wirkliche Beginn des neuen Einatmens ist. Wenn das Ausatmen nicht synchron zum wachsenden Bedürfnis nach dem nächsten Einatmen ist – beispielsweise wenn körperliche Anstrengung den Sauerstoff schneller verbraucht, als wir ausatmen können, so dass das neue Bedürfnis sich geltend macht, noch bevor der



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Atemzyklus abgeschlossen ist –, atmen wir nicht rhythmisch, sondern schnappen nach Luft. Dieselbe funktionale Kontinuität veranschaulicht der Herzschlag: Die Diastole bereitet die Systole vor und umgekehrt. Die gesamte Selbstwiederherstellung lebendiger Körper beruht auf der Tatsache, dass die Erschöpfung eines vitalen Prozesses immer zu einer Gegenmaßnahme führt, die sich ihrerseits dabei erschöpft, Bedingungen zu schaffen, die nach neuer Verausgabung verlangen. Das Prinzip der rhythmischen Kontinuität ist die Grundlage jener organischen Einheit, die lebendigen Körpern Bestand verleiht – ein Bestand, der wie ich oben bemerkt habe (vgl. S. 66), im Grunde ein Muster von Veränderungen ist. Nun ist das sogenannte »Innenleben« – unsere gesamte subjektive Realität, ein Geflecht aus Gedanken und Gefühlen, Vorstellungen und Sinneswahrnehmungen – ganz und gar ein vitales Phänomen, das dort am höchsten entwickelt ist, wo die organische Einheit der prekären individuellen Form am vollständigsten und komplexesten ist, d. h. im Menschen. Was wir Geist, Seele, Bewusstsein oder – wie man heute oft hört – Erfahrung nennen, ist eine gesteigerte Vitalität, eine Art Extrakt allen empfindsamen, teleologischen, organisierten Wirkens. Das menschliche Gehirn in seiner ganzen Differenziertheit steht für die Außenwelt weit offen und macht tiefgreifende, mehr oder weniger dauerhafte Veränderungen aufgrund von Eindrücken durch, welche die »älteren«, weniger veränderlichen Organe nur durch kurzzeitige Reaktionen, die körperlichen Symptome von Gefühlen, verzeichnen. Bei Tieren ist der Intellekt hinsichtlich dessen, was er aufnimmt, beinahe ebenso wählerisch wie der Mund, und was er zulässt, ist geeignet, den gesamten Organismus in Bewegung zu setzen. Das menschliche Gehirn ist gegenüber Eindrücken unvergleichlich toleranter, denn es besitzt die Fähigkeit, mit Reizen umzugehen, die um jeden Preis gehindert werden müssen, den ganzen Stoffwechselprozess stark zu affizieren: Diese Fähigkeit besteht in der symbolischen Transformation von Wahrnehmungen.

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Wo der symbolische Prozess hochentwickelt ist, übernimmt er praktisch den Bereich der Wahrnehmung und des Gedächtnisses und drückt sämtlichen geistigen Funktionen seinen Stempel auf. Doch selbst in seinen höchsten Tätigkeiten folgt der Geist noch dem organischen Rhythmus, der die Quelle der vitalen Einheit ist: Dem Entstehen einer neuen dynamischen Gestalt in eben dem Prozess, der eine frühere sich auflösen lässt. Solche echten Rhythmen finden sich auch in der anorganischen Natur. Rhythmus ist zwar das Fundament des Lebens, aber nicht darauf beschränkt. Das Schwingen eines Pendels ist rhythmisch und wird nicht erst durch unsere organisierende Interpretation dazu (obwohl dank ihrer für uns aus einer bloßen Abfolge von Tönen – und mehr nehmen wir ja nicht wahr, wenn wir beispielsweise einer Uhr lauschen – ein Rhythmus entsteht). Die kinetische Kraft, die ein Pendel zum höchsten Punkt schwingen lässt, schafft das Potential dafür, dass es wieder zurückschwingt; das Auf bringen kinetischer Energie bereitet den Wendepunkt und das Zurückschwingen vor. Das allmähliche Abnehmen des Schwingungsbogens aufgrund der Reibung ist normalerweise nicht unmittelbar zu beobachten, daher scheint sich die Bewegung exakt zu wiederholen. Anderseits zeigt ein springender Ball eine rhythmische Bewegung ohne jedes Gleichmaß. Das eindrücklichste den meisten Menschen vertraute Beispiel für Rhythmus ist jedoch das Brechen der Wellen in einer gleichmäßigen Brandung. Jede neue auf den Strand zulaufende Woge wird durch die Unterströmung der zurückfließenden geformt und verstärkt ihrerseits durch den Sog das Zurückweichen der vorherigen Welle. Die beiden Ereignisse sind nicht scharf voneinander zu trennen. Dennoch ist eine brechende Welle ein Ereignis, wie man es sich bestimmter nicht wünschen kann: eine echte dynamische Gestalt*. Derartige Phänomene in der unbelebten Welt sind starke Symbole der lebendigen Form, gerade weil sie selbst keine Lebensprozesse darstellen. So betont beispielsweise Gegensatz zwischen dem scheinbar vitalen Verhalten und der offensichtlich anorganischen Struktur von Meereswellen den reinen



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Schein des Lebens und liefert unserer geistigen Anschauung die ersten Abstraktionen ihres Rhythmus. Darin besteht die wichtigste Funktion von Symbolen. Ihre zweite Funktion soll uns ermöglichen, die gewonnenen Begriffe zu manipulieren. Dazu ist mehr nötig als das Erkennen von sogenannten »natürlichen Symbolen«, nämlich ein überlegtes Herstellen expressiver Formen, die auf verschiedene Weisen verwendbar sind, um neue Bedeutungen offenzulegen. Solche von uns produzierten Gestalten*, die uns einen logischen Einblick in Fühlen, Vitalität und Gefühlsleben verschaffen, sind die Kunstwerke. Die Leitform eines Musikstücks enthält dessen fundamentalen Rhythmus, der zugleich die Quelle seiner organischen Einheit und seines Gesamtgefühls ist. Versteht man unter Rhythmus eine Beziehung zwischen Spannungen und nicht eine Frage der gleichmäßigen Zeiteinteilung (d. h. des Metrums), dann wird verständlich, dass harmonische Progressionen, Auflösungen von Dissonanzen, Richtungen von »Läufen« und »Leittöne« in der Melodie allesamt als rhythmische Mittel dienen. Alles, was eine Zukunft vorbereitet, erschafft einen Rhythmus; alles, was eine Erwartung erzeugt oder steigert, die Erwartung schierer Fortdauer eingeschlossen, bereitet eine Zukunft vor (regelmäßige »Schläge« sind eine offensichtliche, wichtige Quelle rhythmischer Organisation) und alles, was die verheißene Zukunft auf vorhersehbare oder nicht vorhersehbare Weise erfüllt, artikuliert das Symbol des Fühlens. Welche besondere Stimmung oder emotionale Bedeutsamkeit das Stück auch haben mag, der vitale Rhythmus der subjektiven Zeit (der »gelebten« Zeit, die wir, wie Bergson uns nahelegt, in der reinen Erfahrung suchen sollten) durchzieht das komplexe, mehr­ dimensionale musikalische Symbol als dessen innere Logik, die die Musik auf deutliche Weise eng mit dem Leben verbindet. Und was ist mit der Wiederholung von Formen, gleichmäßigen Teilungen, wenn periodische Wiederkehr nicht die wirkliche Grundlage des Rhythmus ist? Was ist die Funktion der zahllosen Regelmäßigkeiten in Betonung, Phrase, Figur und Takt in den großen Meisterwerken?

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Wiederholung ist ein weiteres Strukturprinzip – eng mit Rhythmus verbunden, wie überhaupt alle Grundprinzipien miteinander zusammenhängen –, das einem Musikstück den Anschein vitalen Wachstums verleiht. Denn was wir im Klangfluss wiederzuerkennen meinen, ist oft eine recht freie Variation des Vorangegangenen, eine bloße Analogie und nur logisch eine Wiederholung. Wohl aber ist es genau die Art von Spiel mit einem Grundmuster, vor allem die Wiederspiegelung des Gesamtplans in der Struktur eines jeden Teils, wie es für organische Formen charakteristisch ist. Schenker nennt es das Prinzip der »Diminution«125 und Roger Sessions das »Prinzip der Assoziation«126 . Die vollständigste Anerkennung seiner »vitalisierenden« Funktion, von der ich weiß, findet sich in dem Artikel von Basil de Selincourt, den ausführlich zu zitieren ich schon Gelegenheit hatte, und ich möchte es nicht unterlassen, dem Verfasser dieses meisterhaften kleinen Aufsatzes wieder das Wort zu erteilen: »Die Wiederholung beginnt mit dem Takt und setzt sich in der Melodie, in jeder Phrase oder Einheit fort, in die sie sich auflösen lässt. Das Wachsen einer Komposition lässt sich mit dem einer blühenden Pflanze vergleichen, […] an der nicht nur die Blätter einander wiederholen, sondern auch die Blätter die Blüten, und selbst die Stängel und Zweige unentfaltete Blätter sind. […] Dem Muster der Blüte entspricht ein weiteres Muster, das sich in der Anordnung der Blüten an den Zweigen zeigt, und unter der Leitung des vitalen Impulses teilen sich die Zweige und stehen in ausgewogenen Verhältnissen zueinander. […] Der musikalische Ausdruck folgt derselben Regel.«127 Sobald eine musikalische Idee organischen Charakter annimmt (durch welche Mittel auch immer dies erreicht wird), bringt sie die autonome Form eines Werks zum Ausdruck, die »Leitform«, die die gesamte nachfolgende Entwicklung be  Siehe insbesondere Heinrich Schenker, Das Meisterwerk in der Musik, 3 Bde., München 1925–1930, passim. 126  Sessions, The Composer and His Message, a. a. O., S. 129 ff. 127  Basil de Selincourt, Music and Duration, a. a. O., S. 288. 125



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stimmt. Das Verständnis für diese organische Einheit und Individualität versetzt einen Komponisten in die Lage, ein längeres Werk allein aufgrund der Kraft seiner ursprünglichen »Inspiration« auszuführen und das Ergebnis so zu gestalten, dass durch den ständigen Zufluss neuer Ideen – mitunter auch von Themen, die ihm schon vor langer Zeit eingefallen sind, von Entwicklungen, die er schon anderenorts verwendet hat, von Mitteln, die ihm die Tradition bereitstellt –, die alle von der einen Komposition assimiliert und umgeformt werden, eher eine stärkere als eine schwächere Einheit entsteht. Solange er den musikalischen Organismus in seiner Einbildungskraft lebendig erhalten kann, braucht er keine andere Regel und kein anderes Ziel. In der musikwissenschaftlichen Literatur und den Äußerungen großer Musiker finden sich zahllose Hinweise, die die zentrale Bedeutung der lebendigen Form, des Scheins spontaner Bewegung für die Musik bezeugen: Man könnte fast beliebig Zitate von Marpurg, Goddard, Tovey, Schweitzer, Schenker oder Lussy anführen oder aus den Notizen und Briefen von Mozart, Chopin, Mendelssohn oder Brahms, ja von beinahe jedem versammeln, der ernsthaft und kenntnisreich über Musik geschrieben hat. Man wird, ob man will oder nicht, immer wieder an die beharrliche Betonung des Vitalismus erinnert, an die einhellige Auffassung, dass jede Raumkomposition eine organische Qualität hat, wie sie die am Ende des 5. Kapitels zusammengestellten Kommentare der großen bildenden Künstler durchzogen hat, und es fiele in der Tat schwer, nicht wenigstens die Hypothese zu vertreten, dass alle Kunstwerke, unabhängig von ihrem jeweiligen Feld, im gleichen Sinne »organisch« sind. Begnügen wir uns aber vorerst mit der Hypothese, bis sich der Beweis von selbst einstellt, und untersuchen wir weiter die musikalische Form, ohne sie vorschnell zu verallgemeinern. Das wohl erstaunlichste an ihr ist der bereits erwähnte objek­ tive Charakter. Hat die künstlerische Phantasie sich erst einmal die Matrix eines musikalischen Gedankens, eine »Leitform«, angeeignet, nimmt diese einen eigentümlich unpersönlichen

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Rang an, so als sei sie ein Eindruck von außen, etwas »Gegebenes«. Große Musiker haben davon gesprochen, dass sie gegenüber der musikalischen »Idee« ein untrügliches Gefühl moralischer Verpflichtung empfänden, so als trügen sie die Verantwortung dafür, dass sie richtig entwickelt und vervollkommnet wird. So schrieb Mendelssohn an seinen Freund Ferdinand Hiller, einen begabten, aber oberflächlichen Komponis­ ten: »Mir ist nichts widerwärtiger, als ein Tadel der Natur oder des Talents eines Menschen […]. Aber ist es der Fall, wie hier in Deinem Stück, daß gerade alle Thema’s, alles was Talent oder Eingebung ist (nenn’s wie Du willst), gut ist und schön und ergreifend, und die Entwicklung desselben ist nicht gut, da meine ich, man dürfe es nicht verschweigen […] – und wie ich glaube, daß ein Mensch mit herrlichen Anlagen die Verpflichtung hat, was Gutes zu werden, daß man es seine Schuld nennen kann, wenn er sich nicht ganz so entwickelt, wie ihm die Mittel dazu gegeben sind, – so glaube ich es auch bei einem Musikstücke. […] [I]ch weiß recht gut, daß kein Musiker seine Gedanken, sein Talent anders machen kann, als der Himmel sie ihm gibt; daß er aber, wenn der Himmel sie ihm gibt, sie auch gut ausführen können muß, das weiß ich ebenfalls. Sage mir ferner nicht etwa, […] die Ausführung sei eben so wie die Composition bei Dir; ich glaube es nicht.«128 Noch deutlicher ist da Beethoven, jedenfalls wenn wir Bettina Brentanos Bericht an Goethe glauben wollen, dem sie versichert, dank ihres außergewöhnlichen Gedächtnisses gebe sie ihn fast wörtlich wieder: »Es gehört Rhythmus des Geistes dazu, um Musik in ihrer Wesenheit zu erfassen. […] alle echte [musikalische] Erfindung ist ein moralischer Fortschritt. – Sich selbst ihren unerforschlichen Gesetzen unterwerfen, vermöge dieser Gesetze den eigenen Geist bändigen und lenken, daß er ihre Offenbarungen ausströme: das ist das isolierende Prinzip der Kunst. […] So ist jede echte Erzeugung der Kunst unabhängig,   Felix Mendelssohn-Bartholdy, Meister-Briefe, hg. von Ernst Wolff, Bd. II, Berlin 1907, S. 128 f. 128



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mächtiger als der Künstler selbst […]. Musik gibt dem Geist die Beziehung zur Harmonie. […] [S]o ist jeder Gedanke in der Musik in innigster, unteilbarster Verwandtschaft mit der Gesamtheit der Harmonie, die Einheit ist.«129 Wenn ich die Objektivität und Wirkmächtigkeit der Leitform in einem Musikstück so stark betone, dann weil ich glaube, dass hier der Schlüssel für all die Scheinprobleme der Aufführung, des Verstehens, der Adaption und sogar den alten Zankapfels des Selbstausdrucks zu finden ist. Aus der Matrix, der größten Bewegung, fließt das Leben eines Werks mit allen seinen Zufälligkeiten, Kräften und Fährnissen in die Gemeinschaft des menschlichen Geistes.

  Ludwig van Beethoven, Briefe und Gespräche, Zürich 1944, S. 146.

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9. Kapitel Das lebendige Werk Sehr viele der Überlegungen und Rätsel, auf die man früher oder später in allen Künsten stößt, zeigen sich am klarsten in Verbindung mit der Musik und sind daher hier am greif barsten. Die philosophischen Probleme der Kunst sind allgemein so miteinander verflochten, dass man nahezu jedes von ihnen an jedem beliebigen Punkt aufwerfen kann. Um die Ziellosigkeit einer rein willkürlichen Reihenfolge zu vermeiden, werde ich daher jedes spezielle Thema nicht immer gleich bei der ersten Gelegenheit erörtern, sondern im Kontext derjenigen Kunst, die es am schärfsten konturiert. Die Frage der wörtlichen Bedeutung und des künstlerischen Sinngehalts stellt sich im Bereich der Literatur besonders ausgeprägt, und die der »psychischen Distanz« vor allem im Schauspiel. Ist ein mehr oder weniger spezielles künstlerisches Problem erst einmal benannt und gelöst worden, lässt es sich für gewöhnlich zumindest in rudimentärer Form in der gesamten Ordnung der Künste wieder­finden. In der Musik ergeben sich alle möglichen interessanten Fragen, sobald eine Komposition ins Licht der Welt getreten ist und dort Rang und Geschichte als lebendiges Kunstwerk hat. Zunächst einmal wird es von vielen verschiedenen Menschen aufgeführt werden, und dabei wird es sich bisweilen ein Geist seiner selbst anhören oder, noch schlimmer, wie eine Karikatur. Dieser Kontrast ist so groß, dass viele Musiker und Psychologen meinten, so etwas wie das Stück gebe es gar nicht, sagen wir zum Beispiel Bachs erste Fuge aus dem Wohltemperierten Kla­ vier (C-Dur). Was es gebe, seien vielmehr so viele Stücke, wie es Aufführende gibt, oder auch so viele, wie tatsächlich aufgeführt worden sind. Was wir als »die C-Dur-Fuge« bezeichnen, ist für sie in Wirklichkeit eine Klasse von Stücken, deren Gemeinsam-



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keit sich in den Eigenschaften erschöpft, die durch die Notationen der Partitur symbolisiert sind. Dieser Art von Behauptung begegnet man häufig in Ateliergesprächen. Ihre Verteidiger bezeichnen sich stolz als »Häretiker«, denn was sie interessiert, ist vor allem ihre Abweichung von der Mehrheitsmeinung, die sie als die »orthodoxe« bezeichnen, so als existierte ein Korpus von Lehrsätzen hinter all dem, was so beiläufig akzeptiert wird, und als seien sie aufgerufen, diesen Sätzen zu widersprechen. Die Häresie verfolgt aber gar nicht den Zweck, eine weitreichende philosophische Diskussion anzustoßen; sie soll einige ungewöhnliche »Freiheiten« rechtfertigen, wenn nicht verklären, zum Beispiel in dieser oder jener Wiedergabe der Bach’schen Fugen, so das Nichtbeachten stilis­ tischer Elemente, fragwürdige Umsetzungen usw. Wollte man philosophisch eine »heterodoxe« Theorie präsentieren, dann bestünde der erste Teil nicht aus der pauschalen Erklärung »So etwas wie ›das Stück‹ gibt es gar nicht«, sondern aus dem Formulieren einer zwar schwierigen, aber dennoch zu beantwortenden Frage: »Was verstehen wir unter ›dem Stück‹?« Und der zweite Teil – »Es gibt so viele Stücke, wie es Aufführende oder gar Aufführungen gibt« – würde lauten: »Wenn wir unter ›dem Stück‹ ein vollständiges, hörbares Werk verstehen, dann ist es wirklich ein neues Phänomen, das auf irgendeine Weise eng mit dem verwandt ist, was wir in einem anderen Sinne ›das Stück‹ nennen, nämlich das Opus des Komponisten.« Die Kraft der Disjunktion »Aufführende oder gar Aufführungen« würde dann dafür sorgen, den nächsten Zug zu eröffnen und so weiter und so fort. Denn in der Häresie steckt natürlich eine gewisse Wahrheit, aber es ist keine einfache, und um sie zu entdecken, bleibt nur, die verschiedenen Fragen, die noch ganz ungeklärt in dieser Behauptung enthalten sind, voneinander zu trennen und zu untersuchen. Beginnen wir mit der ersten ernsten Frage: Wenn wir von einem nahezu allgemein bekannten Musikstück sprechen, etwa der ersten Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier, was meinen wir dann mit »dem Stück«, das wir so nennen und kennen? Wir

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meinen eine organisch entwickelte Illusion der Zeit, die hörbar vergeht. Hier stolpern wir zugleich über eine Mehrdeutigkeit. Denn »hörbar« kann sich sowohl auf ein reales als auch auf ein imaginäres Hören beziehen. Wer in der Lage ist, Musik so leicht zu lesen wie die meisten Menschen Sprachwerke, für den wird die Musik, wenn er eine Partitur durchliest, auf dieselbe Weise hörbar wie Worte beim gewöhnlichen Lesen. Man verfällt daher ganz von selbst auf die Frage: Macht man beim stillen Lesen von Musik die gleiche Erfahrung wie beim stillen Lesen von Literatur? Hätte jeder in der frühen Kindheit gelernt, Musik zu lesen, so wie man uns beigebracht hat, Wörter zu lesen, würden die meisten Menschen dann beim stillen Lesen musikalische Befriedigung finden, so wie sie literarische Befriedigung beim Durchlesen von Büchern finden? In Music and Literature: A comparison of the Arts beantwortet Calvin Brown diese Fragen mit einem schlichten ›Ja‹. Nachdem er bemerkt hat, dass ein stilles Lesen von Musik möglich ist, hält er das für einen hinreichenden Beweis dafür, dass Tonstrukturen und Wortstrukturen sich »dem Ohr« auf dieselbe essentielle Weise »darstellen«.130 Es gibt jedoch einen tiefgreifenden Unterschied, den Brown übersieht, der aber ans Licht kommt, wenn man sich auf das zentrale Problem konzentriert, was in einem Kunstwerk geschaffen wird: In der Musik ist es das Vergehen der Zeit, hörbar gemacht durch rein tönende Elemente. Diese Elemente existieren allein für das Ohr. Alle musikalischen Hilfestellungen für unsere tatsächliche Zeitwahrnehmung sind aufgehoben und durch Klangerfahrungen im musikalischen Bild  »Niemand hält die gedruckten Noten auf einem Notenblatt fälschlicherweise für Musik; sie sind lediglich Symbole, die einem Aufführenden mitteilen, welche Töne er hervorbringen soll, und die Töne selbst sind die Musik. Ganz genau dasselbe gilt für die Literatur, und kein Analphabet würde eine solche Verwechslung begehen. Der einzige Grund, dass wir hinsichtlich der Musik nicht denselben Fehler machen, ist tatsächlich der, dass wir weitgehend musikalische An­alpha­ beten sind.« (Calvin S. Brown, Music and Literature: A comparison of the Arts, Athens 1948, S. 8) 130



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der Dauer ersetzt worden. Die Elemente der Literatur hingegen sind nicht Klänge als solche; selbst in der Dichtung sind die Worte nicht dazu da, bloß gehört zu werden; Worte sind keine reinen Gegenstände der Sinne, die wie Gestalten und Töne zu »natürlichen« symbolischen Formen werden können, vielmehr sind sie bereits Symbole, nämlich »festgesetzte« Symbole, und die durch sie geschaffene künstlerische Illusion ist kein Gefüge tönend bewegter Formen. Es handelt sich bei ihnen um eine ganz andere Illusion. Das Phänomen des stillen Lesens mag daher in beiden Künsten vorkommen, doch in den jeweiligen Kontexten kommt ihm ein unterschiedlicher Wert zu. Die Beziehung zwischen innerem und realem Hören prägt in der Musik eine ganze Phase der künstlerischen Produktion: die Arbeit des Aufführenden. In dieser Verbindung verdient sie eine eigene genaue Untersuchung, die zeigt, dass sie interessanter ist, als eine vage allgemeine Auffassung von ihr vermuten lässt. Die beiden Arten des Hörens – das physische und das mentale – unterscheiden sich in einer Weise voneinander, die nicht allgemein anerkannt ist, doch bevor wir ihre genauen Beziehungen hinsichtlich der musikalischen Erfahrung offenlegen können, müssen zunächst ihre Unterschiede verstanden werden. Das physische Hören, die tatsächlich sinnliche Wahrnehmung von Tönen, hängt vom Wesen eines äußeres Reizes ab und davon, was das Sinnesorgan übermittelt und das wache Bewusstsein auffasst, sei es als tatsächliche Erinnerung, sei es als »mentale Einstellung« für die Aufnahme weiterer Eindrücke. Selbst intelligentes Zuhören ist in gewissem Maße passiv, durch eine äußere Ursache bestimmt. Es ist weitgehend selektiv und filtert Irrelevantes heraus; einiges Irrelevante dringt allerdings immer durch. Unser Wahrnehmungsapparat ist für praktische Zwecke ausgelegt und hat sich nur mehr oder weniger erfolgreich auf künstlerische eingestellt. Jene Aspekte des physischen Tons, die von praktischer Bedeutung sind, neigen daher dazu, sich unserer Aufmerksamkeit aufzudrängen, und je passiver wir zuhören, umso herausragender spielen sie in das von uns Gehörte hinein. Sie liefern die direkten Reize, die unserem Ohr gegebenen »Sin-

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nesdaten«. Es versteht sich von selbst, dass die Empfänglichkeit des menschlichen Geistes für solche physischen Eindrücke von Individuum zu Individuum verschieden ist. Die Wahrnehmung ist so sehr von der Vorstellung beeinflusst, dass eine völlige geis­ tige Passivität vermutlich auf Unempfänglichkeit hinauslaufen würde. In unserem Hören gibt es Grade von Unmittelbarkeit, und diese können am besten dadurch bestimmt werden, dass wir festzuhalten, welche Elemente der musikalischen Erfahrung uns durch nachlässiges Zuhören entgehen, d. h. wenn wir ihr, wie abgelenkte oder gleichgültige Konzertbesucher, nur oberflächliche Aufmerksamkeit schenken. Die absolute Tonhöhe entgeht uns nicht. Damit ist nicht gesagt, dass wir wissen, welchen Ton wir gerade hören, aber jeder Ton wird entsprechend der von ihm verursachten physikalischen Schwingung als so und so hoch wahrgenommen. Zweitens hören wir seine absolute Dauer. Diese ist unmittelbar gegeben; auch wenn wir ihre genaue Länge nicht bemerken, umfasst sie doch eine bestimmte Zeitspanne. Drittens erkennen wir die Klangfarbe – die Tonqualität von Holz- oder Blechbläsern, Gambe, Klavier oder menschlicher Stimme. Spielen mehrere Instrumente zusammen, ist die orchestrale Klangfarbe, die für ein ungeübtes Ohr vorherrscht, tatsächlich etwas Unbenennbares, ihr schierer Eindruck aber ist unvermeidlich »gegeben«. Als viertes kommt die Lautstärke hinzu: Ob etwas laut oder leise ist, wird stets unmittelbar, ohne besondere geis­tige Anstrengung gehört. Das trifft auch auf die allgemeine Eigenschaft von Konsonanz oder Dissonanz zu, auch wenn es hier große Unterschiede gibt, vor allem wenn der Zuhörer an dissonante Klängen gewöhnt ist (jemand, der mit Jazz vertraut ist, wird harmonische Reibungen nicht weiter bemerken). Und schließlich ist da noch das Element der Betonung. Dynamische Akzente rufen die aufdringlichsten auditiven Wirkungen hervor. Wir mögen noch so zerstreut zuhören, einen abrupten Einsatz, einen rhythmischen Taktschlag oder Swing, eine sanfte, stürmische oder rasche Bewegung hören wir, und wir hören sie in einem vollständig bestimmten Tempo.



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Was uns beim unaufmerksamen Zuhören entgeht, ist die logische Verbundenheit der Tonsequenz. Uns ist nicht deutlich bewusst, was vorübergezogen ist, und daher haben wir weder einen Eindruck von der melodischen oder harmonischen Entwicklung noch eine bestimmte Erwartung, was kommen wird. Folglich vermag uns ein plötzliches Sforzando aus unserem, wie wir es nennen könnten, rein physischen Zuhören aufschrecken, ohne dass wir über sein unerwartetes Einbrechen erstaunt wären. Wir hören eher eine Aufeinanderfolge als einen Verlauf und überhören jede untergeordnete Melodie; wenn es gar kein offensichtliches melodisches Thema gibt, entgeht uns wahrscheinlich Melodie überhaupt. Nur der Wechsel der aktuellen Töne mit ihrer spezifischen Höhe, Länge, Klangfarbe, Lautstärke und ihrem Gesamteindruck von Rauheit oder Glätte zieht in einem bestimmten Tempo vorbei – eilend, leicht oder endlos ausgedehnt. Für das mentale Hören, so wie es im stillen Lesen erlebt wird, gelten die genau entgegengesetzten Bedingungen: Diejenigen Toneigenschaften, die dem physischen Ohr in größter Bestimmtheit gegeben sind und selbst bei unaufmerksamem Zuhören nicht verschwinden, sind eben diejenigen, die für das innere Ohr einigermaßen vag sind oder ihm vollkommen fehlen. Für jemanden, der nicht über das absolute Gehör verfügt, bedeutet die geschriebene Note, z.  B.

, einen mehr

oder weniger beliebigen Ton, der irgendwo in der Mitte der Sopranlage liegt. Er mag die Note in einer bestimmten Klangfarbe, als Klavier-, Gamben- oder Gesangston hören oder auch nicht. Sicherlich aber ist ihre Tonqualität nicht so bestimmt wie die des physischen Klangs, der unverwechselbar gegeben, ein guter oder ein schlechter Ton ist. Lautstärke wird nur dann vorgestellt, wenn die Komposition offensichtlich auf überwältigende Kraft abzielt oder ein besonderes Pianissimo vorbereitet hat. Darüber hinaus wird die tatsächliche Länge der Töne nicht immer »gehört«, auch wenn sie irgendwie erkannt wird. Beim Lesen eines langsamen Satzes neigt man dazu, schneller zu lesen, als die

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Aufführung in realer Zeit verlaufen würde.131 Niemals entgehen einem Strukturelemente wie harmonische Spannungen und ihre Auflösungen, die Melodie, mag sie auch noch so kurz anklingen, Vorbereitung und Erfüllung, d. h. Verlauf, Thema und Entwicklung, imitative oder antwortende Passagen und der eigentlich musikalische – nicht kinetische – Rhythmus, der sich aus dem Einsatz harmonischer Wechsel und melodischer Akzente ergibt. Inneres Hören ist eine Leistung des Geistes, es beginnt mit einer Vorstellung der Form und endet mit ihrer vollständigen Präsenz in der imaginierten Sinneserfahrung. Unterstützt wird sie durch allerlei symbolische Mittel: die Anleitung durch die Partitur, die spezifischen, wenngleich winzigen muskulären Reaktionen von Atmung und Stimmbändern, wie sie für stummes Singen typisch sind, vielleicht auch individuelle Tonerinnerungen und andere Bezugnahmen auf die Erfahrung. Der Einfluss exakt erinnerter Sinneseindrücke fällt allerdings sehr unterschiedlich aus: Inneres Hören erreicht für gewöhnlich nicht die Bestimmtheit hinsichtlich von Qualität und Dauer, die charakteristisch für einen realen Sinneseindruck sind. Der letzte Akt der Einbildungskraft, die Vergegenwärtigung des Tons selbst als etwas, das vollständig durch das Ganze bestimmt ist, dessen Teil er ist, bedarf einer besonderen symbolischen Unterstützung, einer hoch artikulierten körperlichen Geste. Diese ist offensichtlich der Akt der Tonerzeugung, der Ausdruck des Tons durch den Aufführenden; physiologisch handelt es sich um das Gefühl für den Ton in den zu seiner Erzeugung angespannten Muskeln, und sie ist das Symbol, durch das der Ton vorgestellt wird. Vermutlich ist jede akustische Phantasie irgendwie unvollständig, sofern es an einer solchen symbolischen Handlung fehlt, es sei denn, sie stützt sich auf die lebhafte Erinnerung an eine tatsächlich gehörte Musik.   Dies ist mir aus berufenem Munde bestätigt worden, nämlich von Kurt Appelbaum, einem herausragenden Musiker, an dessen großem Erfahrungsschatz ich meine eigenen Beobachtungen abgeglichen habe. 131



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Die meisten Komponisten führen den Akt der schöpferischen Vorstellungskraft von seinen Anfängen als »Leitform« oder als Matrixidee (die Mendelssohn »die Komposition« nennt) bis zu einem Punkt kurz vor der vollständigen Verwirklichung des musikalischen Werks, d. h. seiner Aufführung. Das Stück des Komponisten ist ein unvollständiges Werk, aber es ist ein vollständig bestimmtes Stück in einem vollständig bestimmten Stadium. Wenn wir von »der ersten Fuge im Wohltemperierten Klavier« sprechen, meinen wir damit etwas, das jeder innerlich hören kann und das sich dadurch vervollständigen lässt, dass seine Klangartikulation bis zum Ende geführt wird, wodurch es seine vollständige Bestimmtheit gewinnt. Ein sehr fähiger Musiker mag dies in der schieren Einbildungskraft zustande bringen. In der Regel geht die Einbildungskraft des Aufführenden jedoch Schritt für Schritt vor und wird dabei von Augenblick zu Augenblick von dem bereits im Spiel verwirklichten Ton unterstützt. Die Aufführung ist die Vervollständigung eines musikalischen Werks, eine logische Fortsetzung der Komposition, in der die Schöpfung vom Gedanken bis zum physischen Ausdruck fortentwickelt wird. Der Gedanke muss daher klarerweise vollständig erfasst werden, anders lässt er sich nicht fortführen. Komposition und Aufführung sind nicht säuberlich an dem Punkt zu trennen, der durch die Beendigung der Partitur markiert ist, denn beide entspringen der Leitform und sind durchgehend von ihren Forderungen und Verlockungen beherrscht. Keine allgemeine Theorie der Phrasierung und des Tempos noch ein Studium von Epochen und Stilen kann den Aufführenden eines Stücks in die Lage versetzen, seine Arbeit am gedruckten Werk zu beginnen: Alles Allgemeinwissen dieser Art liefert bloß Orientierungshilfen, Wahrscheinlichkeitserwägungen, die sein Verständnis der wesentlichen, in der Partitur ausgedrückten Bewegung beschleunigen können. Das Lesen von Note zu Note, das ein dem Maschineschreiben vergleichbares Reaktionsmuster ist, hat mit wirklichem Lesen nichts zu tun.132 132

  Zum Nutzen junger Musikschüler schreibt Robert Schumann in

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Eine ausgebildete Schreibkraft würde nicht beanspruchen, ein Buch gelesen zu haben, nur weil sie es abgetippt hat, und viele, die am Klavier vom Blatt spielen, haben nie ein Musikstück gelesen; ihre Hand reagiert nur Note für Note auf den Reiz. Selbst die Wiedergabe einer Phrase nach der anderen, die jede von ihnen als getrennte Einheit behandelt, ist nicht die Aufführung eines Stücks. Es ist eher eine formelhafte Deklamation: »Ich, John« – »Ich, John « – »Nehme dich, Mary« – »Nehme dich, Mary« – »Zu meiner Ehefrau« – »Zu meiner Ehefrau.«

Vergleichen ließe es sich auch mit dem Lesen eines griechischen Textes von jemandem, der genau weiß, wie die Wörter auszusprechen sind, der sie flüssig hersagt, seine Stimme bei einem Komma hebt, sie nach einem Satz senkt und Pausen zwischen den Absätzen einlegt, ohne dabei mehr als hier und da ein paar Brocken zu verstehen. Ein Stück aufzuführen ist ein ebenso schöpferischer Akt wie es zu komponieren, wie ja auch das Ausarbeiten einer Idee durch den Komponisten, nachdem er die Gesamtbewegung und damit die Leitform erfasst hat, immer noch eine schöpferische Arbeit ist. Der Aufführende führt sie lediglich weiter. Manchmal ist dieser der Komponist selber; in diesem Fall mag das, was er zur Vollendung bringt, eine von ihm erdachte, vielleicht sogar niedergeschriebene Komposition sein (dann würden wir sagen, er »spielt sein eigenes Stück«), oder aber er erfindet sie hier und jetzt (»improvisiert«). Handelt es sich bei dem Aufführenden nicht um den Komponisten, dann hat er die Leitform aus anderer Hand erhalten und in eins damit eine variable, gewöhnlich aber beträchtliche Menge an Einzelheiten im Hinblick auf die Entwicklung der Form.133 Die letzte Entscheidung, wie jeder »Musikalische Haus- und Lebensregeln«: »Nur erst, wenn dir die Form ganz klar ist, wird dir der Geist klar werden.« (Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig 1914, Bd. 2, S. 170) 133  Da es ihnen an genauen Bedeutungen fehlte, verlangten die mittelalterlichen Neumen von den Aufführenden recht viel Urteilsvermö-



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Ton klingt, muss er jedoch selbst treffen. An einem bestimmten, kritischen Punkt im Laufe der musikalischen Schöpfung stellt sich ein neues Gefühl ein, das die tonale Vorstellung verstärkt und ihr zugleich unterliegt: das Gefühl des sich Äußerns ( feel­ ing of utterance). Wer dieses Gefühl des sich Äußerns stark und deutlich empfindet, der ist von Natur aus ein Virtuose. Diese Stärke und Deutlichkeit ist jedoch nicht dasselbe wie ein bloßer Wunsch, Gefühle auszudrücken. Die künstlerische Äußerung strebt immer danach, ein möglichst vollständiges, transparentes Symbol zu schaffen, während sich eine persönliche Äußerung unter dem Druck eines tatsächlichen Gefühls normalerweise mit halbartikulierten Symbolen begnügt, die gerade so hinreichen, die Symptome des inneren Drucks zu erklären. Wo die Musik den primären Zweck verfolgt, Gefühle auszudrücken, wird das Gefühl des sich Äußerns nicht vollständig durch das innere Hören bestimmt, sondern durch eine unmusikalische Geste verwirrt, die sich nur unvollkommen in den Prozess der Tonerzeugung einfügt. In der Folge werden die dynamischen Betonungen in jeder Passage übertrieben hervorgehoben, über die Anforderungen der melodischen und harmonischen Spannungen hinaus, um deren Verdeutlichung es in logischer und künstlerischer Hinsicht eigentlich geht. Die dadurch erzielte Wirkung ist dann im schlechten Sinn »romantisch«.134 Eine ähnliche Diskrepanz zwischen Bedeutung und leidenschaftlicher Emphase nennen wir in der gesprochenen Rede »oratorisch«. Üblicherweise wird sie mangelnder Selbstbeherrschung zugeschrieben, aber das ist nicht die eigentliche Quelle. Ist die Äußerung eines Aufführenden einzig und allein durch die Leitform eines Werks bestimmt, gen. In der modernen Notation gilt der bezifferte Generalbass als Mindestanweisung, und sie setzt voraus, dass der Aufführende imstande ist, das auszuführen, was wir heute auf jeden Fall als Teil der Arbeit des Komponisten betrachten. 134  Es gibt auch »romantische Musik« im guten Sinne, nämlich eine Musik, die so komponiert ist, dass die genuin tonalen Spannungen zu einer beträchtlichen dynamischen Farbgebung beitragen.

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muss er nichts zurückhalten, im Gegenteil, er legt alles, was er hat, in jede Phrase, jede aufgelöste oder nicht aufgelöste harmonische Spannung im Werk. Inneres Hören, die muskuläre Vorstellung des Tons, der Wunsch, ihn äußerlich hörbar zu machen: Das ist es, was das letzte Stadium in der Produktion eines musikalischen Werks bedingt. Über das zu verfügen, was ich nur als die »muskuläre Vorstellung« bezeichnen kann und was die Grundlage stimmlicher oder instrumentaler Technik ausmacht, geht nicht immer Hand in Hand mit dem inneren Hören, der Grundlage alles musikalischen Denkens. Viele Komponisten treiben ihre schöpferische Arbeit nur bis zu einem Punkt diesseits der vollständigen Klangvorstellung fort. In ihren Augen ist die Form bereits vollständig und in sich klar, noch bevor sie einen offenen Ausdruck erfährt. Tatsächlich kommt es vor, dass sie in dieser letzten Phase die Kontrolle über sie verlieren, so dass sie ihr eigenes Werk nur höchst mangelhaft aufführen. Andere sind natürliche Virtuosen; in vielen Fällen durchläuft ihr Denken die ganze Palette von der ersten musikalischen Konzeption bis zum aufgeführten Stück so unfehlbar, dass ihre Musik klingt, als sei sie dem Instrument gewidmet. Chopins Klavierkunst scheint schon in seinen ersten Gedanken eine Rolle gespielt zu haben. Chopin war vor allem Komponist, daher war der Einfluss des Klaviers nur ein Faktor in seinem Denken; ist aber jemand in erster Linie Instrumentalist und wendet sich von dort aus der Komposition zu, dann wird die Macht des Instruments ausschlaggebend. Kreislers Gelegenheitskompositionen beispielsweise klingen, als seien sie unmittelbar von den schwingenden Saiten inspiriert, wie Kadenzen, Impromptuvariationen, melodische Etüden. Die Matrix ist einfach und klein, das Haupt­interesse und der Reiz des Werkes liegen in seiner leichten, ausgeprägten Entwicklung hin zum physischen Ton. Diese beiden Arten musikalischer Vorstellungskraft – wir können sie als »konzeptuell« und »klangbezogen« bezeichnen (um das verfängliche Wort »interpretatorisch« zu vermeiden) – treten jedoch im Allgemeinen getrennt auf, und die Form des



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inneren Hörens, die für die konzeptuelle Vorstellungskraft, die eigentliche Begabung des Komponisten, unerlässlich ist, ist eher suggestiv als von voll entwickelter Sinnlichkeit. Was die skizzenhafte Qualität eines solchen Hörens bedeutsam macht, ist, dass es abstrahierend vorgeht, dass es sich mit den grundlegenden Beziehungen beschäftigt, durch die Klang zur Musik wird, zu einer signifikanten tonalen Form. Die klangbezogene Vorstellungskraft arbeitet andererseits auf das letztendliche Ziel der künstlerischen Konzeption hin – auf die Mitteilung der »Idee«, die artikulierte Äußerung. Das führt uns, auf neue und tiefere Weise, zum Problem des »Selbstausdrucks«: Dessen Punkt ist nicht die subjektive Interpretation, die die Kunst zum Vehikel der persönlichen Ängste und Stimmungen des Aufführenden macht, sondern das Element der Hingabe an die vermittelte Bedeutsamkeit. Dies ist natürlich ein tatsächliches Gefühl, nicht etwas, das durch die Musik symbolisiert ist, sondern etwas, das das Symbol wirkungsvoll macht; es ist die ansteckende Begeisterung des Künstlers über den vitalen Gehalt des Werks. Fehlt diese, so ist das Symbol »kalt«. Da es sich dabei um ein reales und kein virtuelles Phäno­ men handelt, ist die künstlerische »Wärme« nichts, was sich planen oder durch irgendeine Technik gewährleisten lässt. Sie offenbart sich im Endergebnis, allerdings immer als unbewuss­ ter Faktor. In den bildenden Künsten ist ihr Kennzeichen die leidenschaftliche Darstellung der »Idee« vom ersten bis zum letzten Pinselstrich. In der Musik ist es die Qualität des leidenschaftlichen sich Äußerns. Diese Eigenschaft kommt natürlicherweise der menschlichen Stimme zu. Diese ist jedoch weitaus mehr ein Instrument der biologischen Resonanz als der Kunst, so dass sich alle gegenwärtigen Gefühle, seien sie grob oder feinsinnig, tief oder beiläufig, in ihrem spontan veränderlichen Ton spiegeln. Sie ist das Mittel der Wahl, um sich selbst auszudrücken, und in dieser ausdrucksvollen Fähigkeit überhaupt kein wirkliches musikalisches Instrument. Wie Joseph Goddard bemerkt, »ist es ein Sprung von der Intonation zur Melodie. […] Und es ist auch ein

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Sprung von der Klangfarbe zur Harmonie. […] Die Intonation in der Sprache erfüllt noch immer die praktische Ausdrucksfunktion, im Hinblick auf die sie allererst entwickelt worden ist. Melodie und Harmonie haben aber keinerlei praktische Funktion; […] sie lassen ganz neue Arten der Empfindung entstehen.«135 In ihrer gesamten Lauf bahn als Trägerin musikalischer Ideen hat die Stimme ihre Bereitschaft zum Pathos behalten, ihre Verbindung zum tatsächlichen Gefühl, zu dem, was man Lebensnähe nennen könnte. Solange die stimmliche Äußerung von einem unmittelbaren Pathos beherrscht wird, das den Gefühlen des Augenblicks entspringt, mag die Stimme noch so ungehemmt wehklagen, vor sich hin summen oder jubilieren, aber sie singt nicht. Musik entsteht erst dann, wenn ein formaler Faktor – Rhythmus oder Melodie – als Rahmen begriffen werden, innerhalb dessen Akzent und Intonation als eigenständige Elemente und nicht als zufällige Eigenschaften der individuellen Rede auftreten. Möglicherweise ließ der Wunsch, chorische Gebete weiter hallen zu lassen, als die lauteste Rede es vermag, und dabei die Stimme weniger anzustrengen und deutlicher zu artikulieren als durch Schreien, die Menschen in den frühen Tagen des religiösen Lebens die Entdeckung machen, dass ihre Worte dank der Kraft der Intonation weiter »tragen«. Wir wissen es nicht. Doch sobald Silben mit einer festen Tonhöhe verbunden sind, muss die Atmung gestützt werden, die Vokale erhalten einen Vorrang gegenüber den Konsonanten, die allein dazu dienen, sie auseinanderzuhalten, und statt des Gesagten wird der Klang der Äußerung zum herausgehobenen Phänomen; damit wäre die Beschwörung der natürliche Anfang des wirklichen Gesangs. Auf dieser Ebene der Sprachorganisation wird deutlich, auf wie viele unterschiedliche Weisen wir Töne artikulieren können. Lange oder kurze Vokale, offene und geschlossene, harte oder weiche Konsonanten, betonte Silben und formale Ähnlichkei Goddard, The Deeper Sources of the Beauty and Expression in music, a. a. O., S. 23. 135



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ten wir Alliteration, Reim und rhythmische Analogien, lauter Dinge, die beim Sprechen eher unbeachtet bleiben, rücken nun in den Vordergund. Alle diese Faktoren sorgen dafür, dass das Interesse vom buchstäblichen Inhalt der Worte, dem Gesagten, zur Klangform, dem Gesungenen, übergeht. Ging es beim stimmlichen Artikulieren ursprünglich darum, Worte zu erzeugen, so erzeugt es nun eine Klanglichkeit, die als Zweck und weniger als Mittel geschätzt wird. Es unterstreicht und verfeinert den volltönenden Klang, der die Worte »trägt«, und das Ergebnis ist eine hörbare Form, ein Stück Musik. Natürlich wäre die Stimme selbst im Gesang mit so vielen emotionalen Spannungen belastet, dass ihre musikalische Funktion ständig Gefahr liefe, Schaden zu nehmen. Die Abstraktion solcher Elementen wie Tonhöhe und Metrum (vor allem des komplizierten poetischen Metrums der religiösen Rede) inmitten einer persönlichen Äußerung ist nicht immer leicht. Bevor uns formale Konzepte vertraut und deutlich sind, müssen sie verstärkt werden, damit sie uns nicht wieder entgleiten. In primitiven Gesängen wird das Metrum oft durch Klatschen oder Stampfen aufrechterhalten. Solches Tun neigt freilich dazu, das Hören der Musik ebenso zu stören wie zu unterstützen, da es eher kinetisch (als reale Teilnahme) wahrgenommen wird denn als hörbar (als Sinneseindruck). Daher stellt die Trommel einen merklichen Fortschritt dar. Sie setzt, mit relativ geringem körperlichen Einsatz, einen scharfen, genauen und primär hörbaren Akzent, der leichter und freier zu handhaben ist als gymnastisches Stampfen. Ihre Technik lässt sich von Einzelnen vervollkommnen und führt so zur Virtuosität. Selbst monotoner Gesang, der von kunstvollem Trommeln begleitet wird, ist unverkennbar Musik, mag er für ein musikalisch ausgebildetes Ohr auch noch so schematisch und karg klingen. Doch ist der entscheidende Schritt in der Musik die Konzeption des melos, die Festlegung und der künstlerische Gebrauch der Tonhöhe, und dieses verdankt seine Existenz vermutlich der Entdeckung unbelebter, physischer Hilfsmittel, denen sich durch Zupfen, Streichen, Reiben oder Blasen Töne einer bestimmten Höhe

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entlocken lassen. Mithilfe gestimmter Instrumente wird die Intonation plötzlich objektiviert, denn Instrumente geben einen Maßstab vor, mit dem sich der gesungene Ton vergleichen lässt. In Europa, wo die Musik zweifellos ihre größte Entfaltung erreicht hat, wurden melodische Instrumente über Jahrhunderte hauptsächlich als Begleitinstrumente für den Gesang eingesetzt. Die Flöte stellt eine wichtige Ausnahme dar, da sie aus zwei Gründen schon früh Eigenständigkeit gewonnen hat: Erstens ist sie eine Variante der Hirtenflöte, die von Menschen in der Einsamkeit erfunden worden ist, die entweder auf einem Rohr blasen oder singen konnten, nicht aber beides zugleich, so dass gerade die Beschränktheit ihrer Mittel sie auf die Existenz wortloser Instrumentalmusik gestoßen hat; zweitens sind Holzblasinstrumente unter den frühen Instrumenten diejenigen, die den Qualitäten der Stimme am nächsten kommen. Die wesentlichen Beiträge der Stimme und der Instrumente kommen von entgegengesetzten Polen des Gebiets der Musik. Die strukturellen Elemente lassen sich am leichtesten mittels schwingender Saiten und Pfeifen entwickeln, deren voll entfalteter Umfang bei weitem den jeder Stimme übertrifft, selbst wenn man hohe und tiefe Stimmlagen zusammennimmt. Die Vokalmusik vermag sich der Flexibilität, der Deutlichkeit, der tonalen und rhythmischen Genauigkeit von Instrumenten allenfalls anzunähern. Intonationssprünge, Figuren, Triller und Läufe, die sich so leicht auf einer Geige oder auf dem Klavier erzeugen lassen, sind der Traum technischer Kontrolle, den ein jeder Sänger hegt. Das Ideal der Stimme als eines Instruments, das befreit wäre von den physiologischen Funktionen der Lunge, von den Emotionen, die die Kehle einschnüren, oder den nicht-musikalischen Gewohnheiten der Zunge, leitet die klangliche Vorstellung und Arbeit des Sängers. Durch Zuhören und Übung bereinigt er dasjenige Element, das für die Vokalmusik von höchstem, unersetzlichen Wert ist und zugleich eine Gefahr für sie darstellt: das Element des sich Äußerns. Dem Spieler eines Instruments stellt sich das genau entgegengesetzte Problem. Schon allein durch den Bau musikalischer



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Instrumente ist der konzeptuelle Rahmen von Melodie und Harmonie gewährleistet, doch der Anschein von Liedhaftigkeit wird nur durch ihre allmähliche Vervollkommnung erreicht, vor allem aber dadurch, dass sie sich bei ihrem Einsatz vom »kinetischen Hören« anregen lassen. Die Instrumentalmusik strebt nach der Expressivität des Gesangs, nach dem Klang der direkten Äußerung, nach der »Stimme«. Darin liegt meiner Ansicht nach der oft bemerkte qualitative Unterschied zwischen Gesang und allen anderen Arten von Musik begründet.136 Nicht die Macht unserer emotionalen Bindung an die Stimme sorgt, wie Goddard meint, dafür, dass sie so ausgesprochen »menschlich« ist, sondern die Tatsache, dass die Äußerung als geistige Funktion des menschlichen Organismus stets eine auf fundamentale Weise vitale Form hat. Wird sie von jedem realen Kontext abstrahiert, wie es im musikalisch bewussten Gesang der Fall ist, wird sie zur Kunst, ohne dadurch ihre Lebensnähe* zu verlieren. Der Umstand, dass Gesang durch ständige Formalisierung an musikalischer Kraft zunimmt, sich dem Instrumentalklang immer mehr annähert, während alle anderen Arten der Tonzeugung, solange sie noch   So beispielsweise Joseph Goddard: »Wenn Musik von der menschlichen Stimme erzeugt wird, ist sie nicht länger bar jeder Assoziation, sondern gekleidet in die vielfältigen Assoziationen der Menschheit. […] Dieser immense Wechsel von einem abstrakten Ton zu einem in den Reichtum menschlicher Assoziationen eingebetteten Ton – von fremden zu vertrauten Tönen – ist es, den wir mit Staunen und voller Dankbarkeit empfinden, wenn menschliche Stimmen in die Instrumentalmusik einfallen. In der Vokalmusik besitzen die mystischen Eigenschaften des musikalischen Klangs einen menschlichen Aspekt. Dadurch erklärt sich, dass einer hoch musikalischen Ausstrahlung in Vokalform etwas vom Charakter beseelter Äußerung anhängt.« (The Deeper Sources of the Beauty and Expression in Music, a. a. O., S. 78 f.) Denselben Gefühlsgegensatz bemerkten auch Guido M. Gatti, Composer and Listener, in: Musical Quarterly 33, I (1947), S. 52–63; Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, a. a. O., II; Günther Stern, Zur Phänomenologie des Zuhörens, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft, IX (1926–27), S. 610–619 sowie Tovey, Essays in Mu­ sical Analysis, Bd. V, a. a. O., S. I. 136

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keine »Stimme«, also den Schein von Gesang angenommen haben, irgendwie schematisch und leblos bleiben, steht für eine eigentümliche Dialektik des musikalischen Tonphänomens, die vermutlich die Existenz zweier unterschiedlicher Begabungen erklärt – die erfinderische, die sich in der musikalischen Abstraktion zu Hause fühlt, und die interpretierende, die sich an der kinetischen Tonvorstellung ausrichtet, die zur Erzeugung vollkommen intentionaler und kontrollierter Klänge führt. Die zweite Begabung entspringt der natürlichen Verbindung zwischen Geist und Stimme. Warum der Gesang sich entwickelt hat, ist auf dieser Grundlage nicht schwer zu verstehen, warum aber mit der Evolution von Klanginstrumenten etwas auftaucht, das man bei deren Spielen nur als »Äußerung« bezeichnen kann, ist das wirklich Verblüffende. Hier liegt eine Übertragung der ideomotorischen Resonanz von den Stimmorganen auf die Hände vor. Wenn sie das ihnen vertraute Instrument halten, reagieren die Hände eines Musikers genauso intuitiv auf den vorgestellten Ton wie die Kehle. Wahrscheinlich wird niemand den exakten Abstand aller möglichen Intervalle auf dem Griffbrett ausrechnen oder auswendig lernen können; aber man stelle sich das Intervall deutlich vor und die Finger werden es treffsicher finden, ja sich nach einmaligem Spielen sogar an ein Instrument anpassen, auf dem die Griffe eine winzige Kleinigkeit vom gewohnten Maßstab abweichen. Was die verschiedenen Tonqualitäten und -nuancen betrifft, die hauptsächlich mit Hilfe des Bogens erzeugt werden, so hängen sie offensichtlich vom »kinetischen Hören« ab. Der Geist hört und die Hand folgt ihm so genau, wie die Stimme selbst dem »inneren Ohr« gehorcht.137 Möglicherweise können das natürliche und das künst  »Ich sage mir im Kopf jede Note mit ihrem richtigen Notenwert auf, und mein gesamtes Nervensystem stellt sich so spontan darauf ein, dass meine Finger praktisch vor der Ausführung stehen. Oder ich denke mir ein bestimmtes melodisches Thema, eine Entwicklung, und ich tue dies wieder Note für Note und mit dem richtigen Notenwert, als seien sie eine konkrete Realität. […] Ist es beispielsweise etwas für Holzbläser oder Celli, dann stellt sich bei mir kein offensichtlicher Impuls 137



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liche Instrument, die direkte und indirekte Äußerung, deshalb am Ende so vollständig miteinander verschmelzen, wie sie es in großen Opern, Kantaten und Liedern tun, die der vollkommenen, vollständig geäußerten Form sehr nahe kommen. Darüber hinaus bedeutet es, dass dem Instrumentalisten ebenso wie dem Sänger ein Medium zur Verfügung steht, das auf psychische Befindlichkeiten empfindlich reagiert, so dass die Nutzwerte und Gefahren des persönlichen Gefühls für beide die gleichen sind. Solange sich das persönliche Gefühl auf den mu­ sikalischen Inhalt, d. h. auf den Bedeutungsgehalt des Stücks kon­ zentriert, ist es der Nerv und die »Triebfeder« des Künstlers. Dank dieser Dynamik schafft er das hörbare Symbol in der Weise, die ihm als die klarste, greif barste und eindrücklichste erscheint. Diese intensive Konzeption sorgt für die höchste Kraft des musikalischen Ausdrucks. Jede Spannung, jede Bewegung im Rahmen der geschaffenen Zeit scheint eine persönliche Emotion zu sein, allerdings eine, die mit den Belangen des Tages nichts zu tun hat. Wenn der Spieler sich andererseits von seinem Bedürfnis nach emotionaler Katharsis dazu verleiten lässt, die Musik zu seinem Ventil zu machen, wird er wahrscheinlich mit Leidenschaft, mit erregender Dynamik spielen, dem Werk aber wird es an Intensität fehlen, weil seine expressiven Formen unartikuliert und diffus bleiben. Die Aufführung gerät zu einem Symptom des Gefühls, und wie es bei allen solchen Symptomen – Lachen, Weinen, Zittern – der Fall ist, ist sie einen Augenblick lang mitreißend; nur wird niemand aus solch einer persönliein, ihm mit meinen Händen Ausdruck zu verleihen, aber ich summe es beinahe, als wären meine Kehle und Lippen in Bereitschaft versetzt worden, als würde ich zu singen, oder besser gesagt sie zu reproduzieren, zu transponieren anfangen. […] Ich lebe nahezu das Stück mit meinem ganzen Sein, dem ganzen Umfang meiner physischen Mittel, und das in einer Zeit und einem Tempo, mit denen ich mir keinerlei Freiheiten erlauben kann, denn der von mir gesuchte Ausdruck hängt davon ab.« (Philippe Fauré-Fremiet, Pensée et ré-création, Paris 1934, S. 32 f.)

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chen Zurschaustellung irgendetwas Bleibendes mitnehmen, da Abschnitt für Abschnitt der Komposition, die sich logisch aus der Hauptbewegung herleiten, an ihrer natürlichen Vollendung gehindert werden und dazu herhalten müssen, ein neues, von außen herangetragenes Gefühl zu vermitteln. Jeder Aufführende verfügt über ein – wie man sagen könnte – »persönliches Repertoire« von Stücken, die ihm von seinem Temperament her liegen: Musik innerhalb seines Gefühlshorizonts. Denn obwohl er nicht jedes von ihm vermittelte Gefühl tatsächlich schon erlebt haben muss, sollte er fähig sein, es sich vorzustellen, und jede Idee, ob sie nun Physisches oder Psychisches betrifft, kann nur innerhalb des Erfahrungszusammenhangs gebildet werden. Damit ist gesagt, dass eine Form des Empfindens, Denkens oder Fühlens, die er sich vorstellen kann, ihm möglich sein muss. Innerhalb der Bandbreite seiner eigenen Gefühlsmöglichkeiten kann er sogar rein durch die Musik lernen, auf eine Weise zu fühlen, die ihm bis dahin unbekannt war.138 Im reichen Gefüge unserer subjektiven Existenz machen wir Entdeckungen auf die gleiche Weise, wie wir es in der Außenwelt tun: durch die Vermittlung geeigneter Symbole. Durch die Kunst lernen wir den Charakter und die Reichweite subjektiver Erfahrung kennen, so wie wir durch den Diskurs die objektive Welt in ihren Einzelheiten kennenlernen. Seltsamerweise läuft gerade der Spieler, der nebensächliche Gefühle, Fragmente seines eigenen Innenlebens, in die Musik projiziert, Gefahr, »bloß technisch« zu brillieren, weil er die   Die folgende Mitteilung habe ich im Gespräch von einem großen Pianisten erhalten: »Wenn ich zum ersten Mal eine Partitur lese, erfasse ich sie gemäß meinem Erfahrungshorizont. Doch während ich mich mit ihr beschäftige, komme ich an einen Punkt – manchmal dauert es recht lange, aber wenn es geschieht, dann immer plötzlich und mit großer Bestimmtheit –, an dem ich fühle, dass sich meine Persönlichkeit unter dem Einflusses des Stücks verändert hat. Ich habe gelernt, auf eine neue Weise zu fühlen oder ein neues Gefühl zu verstehen. Dann habe ich die musikalische Idee begriffen und studiere das Stück danach ganz anders ein, nämlich mit dem Ziel, sie zu artikulieren.« 138



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Musik nicht im Ganzen denkt. Da er spielt, was in der Partitur steht, sind alle geistig nicht durchdrungenen Einzelheiten seines Spiels reine physische Reaktionen und vermitteln den Eindruck, als würden seine Finger, sieht man vom Ausdruck musikalisch unmotivierter und unbeabsichtigter Leidenschaften ab, »daherschwätzen«. Die Feinheiten der Kompositionen erhalten ihre Bedeutung von der Leitform selbst, und vor allem wenn sie schnell dahinfließen, gelingt es ihm nicht, sie seinen eigenen Gefühlen anzupassen, die keine so deutliche und elaborierte Form haben; daher spult er ganze Passagen ab, nur weil sie notiert worden sind, und alles, was er vermittelt, ist die Tatsache, dass er auf all diese vielen Noten mechanisch reagieren kann. Ist ein Virtuose hingegen frei von verwirrenden Gefühlen, so dass er in musikalischen Formen denkt und nur ihre Bedeutsamkeit fühlt, geht die höchste körperliche Leistung ganz in der Wiedergabe, in der ausgestalteten virtuellen Dauer, im Bild des empfindenden Lebens auf. Er kann dann nicht an einem Zuviel an Technik leiden: Diese ist nichts anderes als sein geistige Ausdrucksfähigkeit und seine Äußerungskraft. Bislang haben wir uns nur mit dem Machen von Musik beschäftigt; eine andere, nicht weniger wichtige Funktion blieb dabei unberücksichtigt, nämlich das Zuhören, das eine fast ebenso große Bandbreite von höchster Leistungsfähigkeit bis zu völliger Borniertheit aufweist, wie wir sie in der Aufführung angetroffen haben. Musikalisches Hören ist selbst eine Gabe, eine besondere Intelligenz des Ohrs, und wie alle anderen Gaben wird es durch Übung fortentwickelt. Wer Zuhören gewohnt ist, dem fällt es leicht, selbst sehr langen oder verwickelten Kompositionen zu folgen, während es sogar von Natur aus musikalischen Individuen ohne nennenswerten musikalischen Hintergrund – sie mögen zwar häufig Musik gehört haben, aber immer nur nebenbei – schwer fällt, länger als ein paar Minuten zuzuhören. Vermutlich ist das der Grund, warum Provinzkonzerte, Laienorchester und auch recht ernsthafte Amateurvereinigungen normalerweise Programme zur Aufführung bringen, die aus kurzen Stücken und Auszügen längerer Werke bestehen: aus

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einem Sonatensatz, einem Triosatz, der Serenade von Haydns Streichquartett Op. 3, Nr. 5 usw. Das Publikum ist außerstande, ein ganzes Haydnquartett oder eine ganze Beethoven­sonate anzuhören. Obwohl viele meinen, die Fähigkeit, die getrennten Elemente einer Komposition und die dabei verwandten Mittel unterscheiden zu können, sei das erste Prinzip musikalischen Hörens, kommt es in Wahrheit auf etwas anderes an, darauf nämlich, die primäre Illusion zu erfahren, die zusammenhängende Bewegung zu fühlen und sofort die Leitform zu erkennen, die das Stück zu einem unantastbaren Ganzen macht. Selbst kleine Kinder tun das, wenn sie entzückt einer Melodie lauschen. Wenn die älteren Familienmitglieder anspruchsvollere Hausmusik pflegen und die Kinder dazu erziehen, sich während einer Aufführung schon aus Höflichkeit still zu verhalten, wird ihre Hörfähigkeit ganz von allein zunehmen, wie ja auch ihre Lesefähigkeit dadurch zunimmt, dass sie hier ein Zeichen, dort eine Schlagzeile oder Überschrift lesen. Im Bett zu liegen und vor dem Einschlafen gutem Gesang oder guter Instrumentalmusik zu lauschen, ist eine natürliche Form der Bildung. Natürlich bietet auch das Radio reichlich Gelegenheit, das Gehör zu schulen, nur birgt es auch eine Gefahr – diejenige, gerade nicht zuhören zu lernen –, und diese Gefahr ist vielleicht größer als seine Vorteile. Die Menschen lernen, mit Musik – sei sie auch schön und eindrucksvoll – im Hintergrund zu lesen oder zu lernen. Indem sie so Unaufmerksamkeit oder geteilte Aufmerksamkeit kultivieren, wird die Musik als solche immer mehr zu einem psychischen Anregungs- oder Beruhigungsmittel (ob sie das eine oder andere ist, wird vom jeweiligen Fall abhängen), das sie selbst bei Gesprächen genießen. Auf diese Weise fördern sie passives Hören, das genaue Gegenteil des Zuhörens. Das wirkliche Fundament des Musikverständnisses ist das gleiche wie beim Machen von Musik: das Erkennen von Formen in der virtuellen Zeit, die von der vitalen Bedeutsamkeit aller Künste durchzogen sind, von den Spielarten menschlichen Fühlens. Es geht um die Wahrnehmung des Fühlens durch einen



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rein scheinhaften Fluss des Lebens, der nur in der Zeit existiert. Alles, was der Zuhörer tut oder denkt, um diese Erfahrung lebendiger zu machen, ist musikalisch gut. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass alles, was Menschen gerne beim Hören von Musik tun, gut ist, denn häufig verwechseln sie »Musikgenuss« mit unmusikalischem Selbstgenuss mit Musik. Doch alles, was der Konzentration und dem Aufrechterhalten der Illusion hilft – sei es inneres Mitsingen, sei es das Verfolgen einer halbverstandenen Partitur oder das Träumen in dramatischen Bildern –, könnte ein ganz persönlicher Weg zum Verständnis der Musik sein. Zuhören ist nämlich die primäre musikalische Tätigkeit. Der Musiker hört seiner eigenen Idee zu, bevor er sie spielt und niederschreibt. Die Grundlage eines jeden musikalischen Fortschritts ist verständigeres Hören. Und worauf wirklich jeder Künstler angewiesen ist, will er weiterhin Musik erschaffen, ist eine Welt, die zuhört.

10. Kapitel Das Prinzip der Assimilation Der besondere Charakter der Vokalmusik ist im vorigen Kapitel ausführlicher betrachtet worden, weil durch ihn das Problem der persönlichen Äußerung am klarsten in den Blick gerät. Freilich ist das nicht das einzige philosophische Thema, das auf dem Gebiet des Gesangs und des Liedes von besonderer Brisanz ist. Das viel debattierte Prinzip der »Reinheit« des künstlerischen Mediums ist nicht weniger grundlegend. Der Gesang ist ja normalerweise mit Worten verschwistert. Vermutlich entstand er dadurch, dass die Worte intoniert worden sind, um sie in Gebeten und Beschwörungen mächtiger werden zu lassen. Man nimmt an, dass Gesang und Dichtung in früheren Zeiten eins waren, da jede Deklamation intoniert worden ist. Die gesamte Musikgeschichte hindurch ist die Wichtigkeit der Worte von der einen Schule betont und von der anderen bestritten worden. Die italienischen Camarati hielten die Vermittlung der Worte für die vornehmste Aufgabe der Musik. Die Päpste haben kunstvolle Hymnen und Kantaten verurteilt, welche die heiligen Texte vernebelten, zerstückelten oder die Zeilen so überlagerten, dass kein Satz mehr klar zu verstehen war. Angeblich hat Glucks berühmte Widmung der Alceste an Peter Leopold Großherzog der Toskana in der Oper den Vorrang des Wortes über die Musik postuliert, obwohl seine Behauptung meines Erachtens nicht so zu verstehen, als sei sein Werk eigentlich Dichtung oder gar Schauspiel statt Musik. Gluck gilt allgemein als Komponist, nicht als Dramatiker und auch nicht als jemand, der Calzabigis Dichtung für die Bühne arrangiert hat; und soviel ich weiß, hat noch niemand das Stück als Schauspiel von Calzabigi mit Musik von Gluck bezeichnet. Das lässt darauf schließen, dass unabhängig davon, wie oberflächlich sein Vorwort aufgefasst wird, die künstlerische Wahrnehmung die Theorie widerlegt,



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die man dort hineingelesen hat. Was Glucks Verbeugung vor dem Text in Wahrheit bedeutet, wird etwas später deutlich werden, daher dürfen wir die Frage erst einmal aufschieben. Die Geschichte zeigt, dass Komponisten unabhängig von der gerade herrschenden Lehre über die Beziehung zwischen Wort und Musik mit ihren Texten stets so frei umgegangen sind, wie sie wollten. Manchmal ist Bach rezitativartig der Struktur der Worte genau gefolgt, manchmal hat er, wie in den Chorälen, die ihrerseits bereits komponierte Gedichtzeile zur Grundlage seiner Musik gemacht und manchmal die Sätze zerlegt, einzelne Phrasen oder Worte wiederholt und diese Sprachfragmente zu höchst komplexen vokalen Fugati verwoben, etwa in den Motetten. All das hat Palestrina schon vor ihm getan, Mozart sollte es nach ihm tun und Prokofjew hat es noch in jüngerer Zeit getan. Dennoch könnte niemand ein größeres Verständnis oder mehr Achtung vor dem Wort haben, als Bach sie den heiligen Texten entgegengebracht hat. Alle guten Komponisten gehen mit Sprache so um, dass sie weder ihren Charakter missachten, noch sklavisch den poetischen Regeln folgen. Sie verwandeln vielmehr das gesamte sprachliche Material – seinen Klang, seine Bedeutung und alles andere – in musikalische Elemente. Wenn Worte in die Musik eingehen, hören sie auf, Prosa oder Poesie zu sein, sie werden zu Elementen der Musik. Ihnen fällt dann die Aufgabe zu, zur Schöpfung und Entwicklung der primären musikalischen Illusion, der virtuellen Zeit, beizutragen und nicht zur Illusion der Literatur, die von ganz anderer Art ist. Sie geben also ihren literarischen Rang auf und erfüllen rein musikalische Funktionen. Das heißt nun aber nicht, dass sie jetzt nur noch einen Klangwert haben. David Pralls Theorie, dass die »ästhetische Oberfläche« der Musik aus reinem Klang, versehen mit einer bestimmten Höhe, Stärke und Farbe, besteht und dass wir beim Hören von Musik im Umkreis dieser »ästhetischen Oberfläche« Gestaltungen wahrnehmen, bedarf einer kleinen Korrektur, wenn sie nicht angesichts einiger der großartigsten musikalischen Anstrengungen – Lied, Kantate, Oratorium und Oper – bedeutungslos werden soll. Denn das von

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uns Wahrgenommene ist nicht die ästhetische Oberfläche. Wir hören Bewegung, Spannung, Wachstum, lebendige Form, kurz: die Illusion eines mehrdimensionalen Vergehens der Zeit. Die »ästhetische Oberfläche« liegt dieser Illusion zugrunde. Wenn wir eine »ästhetische Einstellung« einnehmen und versuchen, nur die abstrahierten Tonelemente wahrzunehmen, dann ignorieren wir den sich aufdrängenden Schein, um seinen sinnlichen Träger zu verstehen. Ein derartiges Interesse verpflichtet uns auf den Grundsatz, Wörter als pure Phoneme zu behandeln, und führt zu künstlichen Verrenkungen, die in dem Maße zunehmen, wie die Freiheit und Kraft vokaler und dramatischer Musik wächst. In der Vorstellung des Komponisten spielen Worte ja nicht einfach als Vokale eine Rolle, die durch Konsonanten voneinander abgesetzt sind, obwohl die Intonation ihre phonetischen Eigenschaften hervorhebt und ihnen möglicherweise auch unabhängige Funktionen in der hörbaren Struktur zuweist. Das Werk besteht, wie Prall sagt, aus Klängen. Doch alles, was Klängen ein anderes Auftreten als Bewegung, Konflikt, Ruhe, Emphase usw. verschafft, ist ein musikalisches Element. Alles, was Figuren miteinander verbindet, sie kontrastiert oder abschwächt, kurz: die Illusion beeinflusst, ist ein musikalisches Element. Worte gehen direkt in die musikalische Struktur ein, auch ohne dass sie buchstäblich verstanden werden; der Schein der Rede genügt schon. Der Kirchengesang, der cantus planus, ist eine bemerkenswerte Veranschaulichung dieses Prinzips. Das Tonmaterial eines solchen mittelalterlichen Gesangs ist extrem reduziert: Wir hören eine einzige melodische Linie mit geringem Tonumfang, ohne Begleitung, ohne polyphone Unterstützung, ohne einen regelmäßig wiederkehrenden Akzent oder »Schlag«. Spielt man diese Linie auf einem Klavier oder einem anderen Melodieinstrument, klingt sie dürftig und banal, und ihr scheint keine besondere Bewegung eigen zu sein. Doch sobald die Worte artikuliert werden, beginnt sie sich zu bewegen, ihre wandernden rhythmischen Figuren hören in dem Maße auf



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umherzuwandern, wie sie die Rhythmen der intonierten Rede aufnehmen, und die wunderbaren lateinische Worte füllen die melodische Form genauso aus, wie es Akkorde und Kontrapunkte tun würden. Der Umstand, dass die den Ton stützenden Silben durch ihren ursprünglichen, nicht-musikalischen Charakter zu Wörtern und Sätzen verknüpft sind, bewirkt, dass die Töne organischer aufeinander folgen als in der reinen Abfolge, wie sie in der instrumentellen Paraphrase vorliegt. Nicht die in den Worten ausgedrückte Empfindung ist der Grund dafür, dass im Gregorianischen Choral alles von ihnen abhängt; Dieser liegt vielmehr im Zusammenhang der lateinischen Zeile, in der Schlichtheit der Aussage, in der Größe bestimmter Worte, die den Komponisten veranlassen, bei ihnen zu verweilen, und alles unterzuordnen, was an ihnen kontextbezogen ist. Selbst jemand, der nicht die geringste Ahnung vom Griechischen hat – vielleicht nicht einmal bemerkt, dass griechische Wörter in der lateinischen Messe auftauchen –, spürt die heiligen Bedeutung des Textes: Kyrie Eleison, Christe Eleison, weil das Ausschöpfen dieser vier Wörter ein ganzes musikalisches Ereignis darstellt.139 Zudem verlangt die Kargheit der musikalischen Mittel nach der Lebhaftigkeit und Wärme, die der menschlichen Stimme eigen ist. Stehen Worte und Stimme jedoch so schwachen formalen Elementen wie einer homophonen Melodie ohne Taktstriche gegenüber, fehlt es an einer Verankerung in Tonika und Dominante, an einer mechanisch festgelegten Tonhöhe, wie sie von Streichinstrumenten oder Flöten gewährleistet ist, dann läuft man immer Gefahr, dass sich die künstlerische Illusion   In späterer Musik ist diese Aufgabe des Textes erhalten geblieben. So sagt Donald Tovey über das »Magnificat« aus Bachs H-Moll-Messe: »Es ist ein Konzert, in dem die Chorstimmen die Rolle des Soloinstruments übernehmen.« (Essays in Musical Analysis, Bd. V, a. a. O., S. 52) Worum es geht, ist »magnificat«. 139

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unter dem Einfluss des persönlichen sich Äußerns ganz und gar auflöst. Um seine Unpersönlichkeit und Objektivität zu sichern, muss das Werk noch etwas anderes auf bieten, und tatsächlich wahrt es diese Werte vor allem dank der formalen Bedingungen seiner Aufführung. Der Chorgesang ist ein starkes Gegenmittel zur Sentimentalität, denn was jeder Einzelne an momentanen, die musikalische Illusion gefährdenden Gefühlen hineinlegt, hebt sich im Gesang der Gruppe gegenseitig auf. Daher bringt ein Chor stets eine unpersönliche Wirkung hervor. Wo diese Absicherung nicht vorhanden ist – etwa wenn ein einzelner Kantor den Gottesdienst intoniert –, ist der Geist seines Vikariats, sein depersonalisierter Status, die Gewähr dafür, dass die künstlerische Integrität des Gesangs erhalten bleibt, der als etwas Objektives, Wirkmächtiges begriffen wird und nicht als Gelegenheit, sich selbst auszudrücken. Das Selbst mit all seinen gegenwärtigen Wünschen tritt zurück, wenn der Priester sein Amt zelebriert. Mit dieser Diskussion des Kirchengesangs sollte anhand eines klassischen Beispiels gezeigt werden, wie die Musik Phänomene aufnehmen und verwenden kann, die überhaupt nicht zu ihrem normalen Material gehören, zur »ästhetischen Oberfläche« der Töne in ihren verschiedenen Beziehungen zueinander. Doch was immer sie in ihren Bezirk hineinholt, verwandelt sie voll und ganz in musikalische Elemente. Ob etwas den musikalischen Ausdruck unterstützt oder behindert, hängt davon ab, was die primäre Illusion sich einverleiben kann. Der Sinn der Worte, die Inbrunst der Äußerung, die Frömmigkeitsübungen, der Wechselgesang – das alles ist musikfernes Material, aber insofern es das Bild der Zeit beeinflusst, entweder dadurch, dass es seine Abgrenzung von der realen Erfahrung sicherstellt, oder dadurch, dass es seine vitale Bedeutsamkeit unterstreicht, oder auch dadurch, dass es als echter Strukturfaktor wirkt, ist es ein virtuelles Element der rein musikalischen Vorstellung. Alles, was sich dem vitalen Symbolismus der Musik einfügt, gehört zur Musik, und alles, was das nicht leistet, hat mit Musik nichts zu schaffen.



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Wenn Worte und Musik im Lied zusammenkommen, verschluckt die Musik die Worte, und nicht nur Worte und Sätze in ihrer schlichten Bedeutung, sondern auch literarische Wortstrukturen, Poesie. Das Lied ist kein Kompromiss zwischen Musik und Dichtung, auch wenn der Text für sich genommen ein großartiges Gedicht sein mag; ein Lied ist Musik. Es braucht nicht einmal eine Melodie im engeren europäischen Sinne; ein monotoner Gesang, unterbrochen durch wechselnde Akkorde,140 ein afrikanisches Trommelstück, das durch lange, klagende Deklamation unterbrochen wird, die innerhalb eines stufenlosen Tonkontinuums auf- und abschwillt, ist Lied, nicht Rede. Die Prinzipien der Musik bestimmen seine Form unabhängig von den verwendeten Materialien, von rasselnden Kalebassen bis zu heiligen Namen. Wenn ein Komponist ein Gedicht in Töne setzt, löscht er das Gedicht aus und schafft ein Lied. Darum können banale oder sentimentale Gedichte für ihn genauso taugliche Texte sein wie großartige Dichtungen. Um die Vorstellung eines Musikers zu anzuregen, müssen die Worte eine komponierbare Idee vermitteln, Gefühlsachsen und Verbindungslinien suggerieren. Einige Komponisten, etwa Beethoven, werden so von großer Literatur angeregt,141 andere entdecken ebenso oft einen musikalischen   Ein Beispiel dafür – und ein europäisches noch dazu – findet sich in Carl Orffs Antigone. 141  Bettina Brentano berichtet Goethe in einem Brief, was Beethoven über seine Gedichte gesagt hat. Sie zitiert aus ihrem hervorragenden Gedächtnis die Worte des Komponisten: »Goethes Gedichte behaupten nicht allein durch den Inhalt, auch durch den Rhythmus eine große Gewalt über mich. Ich werde gestimmt und aufgeregt zum Komponieren durch diese Sprache, die wie durch Geister zu höherer Ordnung sich auf baut und das Geheimnis der Harmonie schon in sich trägt. Da muß ich denn von dem Brennpunkt der Begeisterung die Melodie nach allen Seiten hin ausladen. Ich verfolge sie, hole sie mit Leidenschaft wieder ein, […] ich kann mich nicht von ihr trennen, ich muß mit raschem Entzücken in allen Modulationen sie vervielfältigen, und im letzten Augenblick da triumphiere ich über den ersten musikalischen Gedanken.« (Beethoven, Briefe und Gespräche, a. a. O., S. 145.) 140

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Kern in recht belanglosen Versen wie in wirklicher Dichtung. Schubert hat aus den unbestreitbar zweitklassigen Gedichten Wilhelm Müllers einen Liederzyklus komponiert, der ebenso schön und wichtig ist wie seine Vertonung der poetische Schätze von Heine und Shakespeare. Müllers Werke bleiben literarisch weit hinter diesen zurück, doch als Texte sind sie genauso gut, und in den von ihnen inspirierten musikalischen Werken ist ihre Minderwertigkeit aufgehoben, denn als Poesie sind sie verschwunden. Bedeutende Ästhetiker haben wiederholt erklärt, die ­höchste Form der Liedkomposition sei das Verschmelzen von vollkommener Poesie mit vollkommener Musik.142 Tatsächlich aber kommt es vor, dass ein sehr starkes Gedicht sich gegen jede Musik sperrt. Als Robert Schumann sich von seinen ursprünglichen literarischen und kritischen Interessen abwandte und sich dem Komponieren widmete, machte er eben diese Entdeckung. In seiner Jugend schrieb er einen Aufsatz mit dem Titel »Über die innige Verwandtschaft der Poesie und Tonkunst«. Nachdem er länger in romantischer Manier die beiden Künste je für sich gepriesen hat, schreibt er: »Größeres wirket ihr Bund: Größeres und Schöneres, wenn der einfache Ton durch die geflügelte Silbe, oder das schwebende Wort durch die melodische Woge des Klanges erhöht, wenn der leichte Rhythmus des Verses mit dem geordneten Maße des Taktes sanft sich vereint und lieblich abwechselt […].«143 Er bleibt damit ganz im Rahmen der typischen literarischen Musikkritik, für die Musik eine sanfte romantische Begleitung ist mit dem Ziel, die Klangwirkungen der Dichtung zu vervielfältigen. Als reifer Musiker schreibt er jedoch ganz anders. Er hatte bereits viele Lieder geschaffen und wusste, dass die Vertonung eines Textes nicht ein zarter Kompromiss, keine liebliche Abwechslung von poetischen und musikalischen Werten ist. In einer Besprechung der Vertonung   Der berühmteste von ihnen ist natürlich Wagner, der von einem Werk träumte, das alle Künste gleichberechtigt zu einem Gesamtkunstwerk* vereinigt. 143  Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Bd. 2, a. a. O., S. 173 f. 142



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von Gedichten aus Goethes Wilhelm Meister durch Joseph Klein erklärt er: »Soll ich es gleich gestehen, so scheint es mir, als ob sich der Komponist noch zu sehr vor seinem Gedichte, als ob er ihm wehe zu tun fürchte, wenn er es zu feurig anfaßte; daher überall Pausen, Stockungen, Verlegenheiten. Das Gedicht soll aber dem Sänger wie eine Braut im Arme liegen, frei, glücklich und ganz. Dann klingt’s wie aus himmlischer Ferne.« Und weiter unten heißt es mit besonderem Bezug auf Mignons Lied »Kennst du das Land«: »Was aber noch schlimmer, überhaupt kenne ich, die Beethovensche Komposition ausgenommen, keine einzige dieses Liedes, die nur im mindesten der Wirkung, die es ohne Musik macht, gleichkäme.«144 Hier stoßen wir auf den Schlüssel für die tiefgehende Schwierigkeit, mit der die Vertonung von Texten behaftet ist. Ein Gedicht mit vollendeter Form, in dem alles gesagt ist und nichts bloß angedeutet, ein vollkommen entfaltetes und geschlossenes Werk, wartet nicht darauf, vertont zu werden. Das trifft auf die meisten Gedichte von Goethe zu. Die dichterischen Schöpfungen sind so autonom und selbstgenügsam, dass manch ein besserer Komponist, als Klein einer war, davor zurückgeschreckt ist, ihnen Gewalt anzutun, indem er sie zu einer bloß plastischen Substanz für ein anderes Werk verwandelt und sie dann aufs Neue als musikalische Elemente ohne eigenständige Form verwendet. Ein zweitrangiges Gedicht ist für diesen Zweck vermutlich besser geeignet, da es der Musik leichter fällt, sich seine Worte, Bilder und Rhythmen anzuverwandeln. Andererseits ergeben einige sehr schöne Gedichte ausgezeichnete Textvorlagen, beispielsweise Shakespeares Gelegenheitslieder, Burns’ robuste, schlichte Verse, die meisten Gedichte Verlaines und besonders die von Heine. Der Grund dafür ist der, dass alle diese Dichter ebenso viel andeuten wie sie sagen. Die Form bleibt lose gefügt, mag sie auch noch so kunstvoll sein (wie es ganz sicherlich bei Verlaine und Heine der Fall ist), die darin vermittelten Ideen sind nicht vollständig ausgeschöpft, die Ge144

  Ebd., Bd. 1, S. 272 f.

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fühle sind nicht dramatisch aufgebaut, wie sie es in Goethes Gedichten sind. All ihre Potentialitäten sind noch vorhanden und werden durch die ironisch beiläufige Form betont. Entsprechend kann sich das dichterische Werk bei der Berührung durch eine andere phantasievolle Kraft wieder auflösen, und die schönen, übermäßig aufgeladenen Worte »My love is like a red, red rose« oder »Les sanglots longues des violons« können zu völlig neuen expressiven Formen anregen, die nun musikalisch statt poetisch sind. Dies ist es, wozu der Text in textbasierter Musik vor allem da ist. Unter der alten Bezeichnung »Air« haben wir eine Musikform, die mit einem Text beginnt, ihm aber hauptsächlich die metrische Struktur entlehnt, um daraus eine einfache, eigenständige Melodie zu machen, die auch ohne Worte gespielt oder zu allen möglichen Versen gesungen werden kann, sofern diese ihrem Metrum folgen. Volks- und Kirchenlieder sind Beispiele für eine solchermaßen abstrahierbare Vokalmusik. Das Air ist charakteristischerweise weder fröhlich noch traurig, aber dass durch die unterschiedlichen Worte, die man ihm unterlegen kann, diese oder jene besondere Färbung annimmt, zeigt, wie sehr Fröhlichkeit und Traurigkeit, Ausgelassenheit und Zorn, Zufriedenheit und Melancholie sich in ihrem Wesen einander ähneln. Dieselbe Melodie kann ein Trinklied oder eine Nationalhymne, eine Ballade oder ein belangloses Lied sein.145 Doch selbst wo die Worte beliebig austauschbar sind, werden sie von der Melodie als Elemente assimiliert, die die Musik leichter oder tiefer klingen lassen, sie vorwärts treiben oder zügeln, sie weicher oder langsamer machen. Ein ohne Worte gespieltes Volkslied kann hübsch sein, aber es hört sich immer ein wenig einfältig an. In der Tat ist es leer, unvollständig. Man stelle sich   »The Star-Spangled Banner« taucht zum ersten Mal als englisches Trinklied auf. Thomas Moores »Believe me, if all those endearing Charms« ist zu einem irischen Air geschrieben worden, zu dem damals auch schon Harvards Universitätshymne »Fair Harvard« gesungen wurde. 145



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den Unterschied dazwischen vor, vier Strophen eines solchen Liedes, zum Beispiel von »Marleborough s’en va-t-en guerre«, in einer Fremdsprache, also ohne die Worte zu verstehen, und die Melodie viermal hintereinander auf einem Instrument gespielt zu hören! Die Artikulation der Worte, das von ihnen beigetragene Element der Äußerung, ist ein Bestandteil der Musik, ohne jeden literarischen Reiz. Obwohl ich glaube, dass er die musikalisch wichtige Funktion des Textes nie wirklich von seinen vormaligen literarischen Funktionen unterschieden hat, erkannte Donald Tovey gleichwohl, was für eine aktive Verantwortung dem Text in einem Lied zukommt: »Bislang habe ich noch keine Gelegenheit gefunden, eine Vokalmusik ohne Worte zu schaffen, wie etwa Medtners Vokalsonate oder Debussys Sirènes, daher habe ich mich noch nicht mit den interessanten Fragen beschäftigt, die sich dann ergeben, wenn die menschliche Stimme alle Instrumente beiseite schiebt, wie sie es unvermeidlich tut, nur um die Erwartung menschlicher Rede zu enttäuschen.«146 Im sogenannten »Kunstlied« kann sich eine bewusste Ironie einstellen, wenn die gleichen Worte mit verschiedenen musikalischen Phrasen versehen sind, beispielsweise in Schuberts »In Grün will ich mich kleiden«147, wo die Worte »Mein Schatz hat’s Grün so gern« in einer heiteren, hohen Phrase erscheinen, um dann sofort in einer tieferen Lage ohne Tonsprünge wiederholt zu werden, gleichsam wie ein düsterer Unterton:

mein Schatz hat's Grün so

gern,

mein Schatz hat's

Grün

so gern.

 Tovey, Essays in Musical Analysis, Bd. 5, a. a. O., S. 1. Tatsächlich ist der Titel des Liedes »Die liebe Farbe« (Nr. 16 aus Die schöne Müllerin, D 795) [ A nm. d. Hg. ]. 146 147

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Der Text ist hier das gleichbleibende Element und zugleich dasjenige, was die beiden musikalisch gegebenen Stimmungen deutlich kontrastiert und durch denselben Wortlaut verbindet. Doch welche Funktion die Worte auch immer im Besonderen erfüllen, sie gehen normalerweise in die Matrix des Liedes ein.148 Das Grundprinzip der Kunst, das die Umsetzung einer Gedichtzeile in einen musikalischen Gedanken möglich macht, hat Mario Castelnuovo-Tedesco knapp, aber in aller Klarheit in einem kleinen Aufsatz dargelegt: »Das Gedicht muss einen expressiven Kern haben, es sollte einen ›Seelenzustand‹ ausdrücken. […] Es sollte den ›Kern‹ in einer vollkommenen, schlichten, klaren und harmonischen Form ausdrücken, ohne jedoch zu viel Worte zu machen. Der Musik sollte ein gewisser ›Spielraum‹ bleiben. Unter diesem Gesichtspunkt ist ein intimes, verhaltenes Gedicht einem allzu volltönenden und ornamentierten vorzuziehen. […] Wenn ich auf ein Gedicht stoße, das mich besonders anspricht und meine Gefühle anregt, lerne ich es auswendig. […] Nach einer gewissen Zeit singe ich es ganz von selbst vor mich hin; die Musik ist geboren. […] So viel zum Vokalteil. Aber ein Lied hat auch einen Instrumentalpart. […] Um ihn auf angemessene Weise zu machen, muss man die richtige Atmosphäre finden, den ›Hintergrund‹, die Umgebung, die den gesangliche Linie umgibt und entwickelt. […] Auch in der Poesie gibt es dieses Etwas. Wie ich oben bereits gesagt habe, muss jedes für eine Vertonung geeignete Gedicht einen ›expressiven Kern‹ haben – er mag aus einem oder auch mehreren Grundelementen beste  Ein Brief Beethovens an seine Leipziger Verleger Breitkopf und Härtel ist dafür ein schönes Zeugnis: »Bei dem Chor im Oratorium ›Wir haben ihn gesehen‹ sind Sie trotz meiner Nota für den alten Text doch wieder bei der unglücklichen Veränderung geblieben. Ei du lieber Himmel, glaubt man denn in Sachsen, daß das Wort die Musik mache? Wenn ein nicht passendes Wort die Musik verderben kann, welches gewiß so ist, so soll man froh sein, wenn man findet, daß Musik und Wort nur eins sind, und, trotzdem daß der Wortausdruck an sich gemein ist, ihn nicht besser machen wollen […].« (Beethoven, Briefe und Gespräche, a. a. O., S. 82) 148



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hen – und dieser Kern liefert den Schlüssel zum Gedicht selbst. Diesen Schlüssel, diese Elemente, gilt es nun zu ent­decken und sie müssen durch beinahe ›symbolische‹ musikalische Mittel zur Äußerung gebracht werden.«149 Das Prinzip der Assimilation, demzufolge eine Kunst die Erzeugnisse einer anderen »verschluckt«, legt nicht nur die Beziehung von Musik und Dichtung fest, es liefert auch eine Lösung für die ganze Kontroverse über reine und unreine Musik, die Vorzüge und Mängel von Programmmusik und die Verurteilung der Oper als »Mischform« im Gegensatz zum Ideal des Gesamtkunstwerks. Es gibt keine »minderwertige« oder »unreine« Art der Musik. Es gibt nur gute oder schlechte Musik. Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Arten – vokale und instrumentale, lyrische und dramatische, weltliche und religiöse, naive und kultivierte –, doch keine dieser Arten steht »höher« oder ist »reiner« als eine andere. Ich vermag in keiner Weise W. J. Henderson (dessen Buch What is Good Music? mir eine Art musikalisches Benimmbuch zu sein scheint, das einen gesellschaftlichen Maßstab für guten Geschmack aufstellt) und seiner kategorischen Erklärung zuzustimmen: »Musik, die nicht von einem Text begleitet wird, nennen wir absolute Musik, und diese ist ohne Zweifel die höchste Form der Kunst.«150 Und ebenso wenig kann ich die Auffassung von Paul Bertrand unterschreiben, dass es in der Tonsetzung entgegengesetzte Ziele gibt, von denen eins der Herstellung der Form, das andere dem Ausdruck von Gefühl gilt, und dass das erste dem Ideal der »reinen«, das zweite dem der »dramatischen« Musik folgt.   Mario Castelnuovo-Tedesco, Music and Poetry: Problems of a Song Writer, in: Musical Quarterly 30, 1 (1944), S. 102–111. Der Ausdruck »beinahe ›symbolische‹ musikalische Mittel« macht sein Wissen darum deutlich, dass die Äußerung symbolisch ist, da aber keine Defi­nition von »Symbol« die Eigenart eines musikalischen Werks trifft, betrachtet er seinen Ausdruck als metaphorisch. 150  William James Henderson, What is good Music ?, New York 1920, S. 87. 149

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»Es ist allgemein anerkannt«, so Bertrand, »dass die Musik, die vorrangig die Sprache des Gefühls ist, auf zwei sehr verschiedene Arten ausgedrückt werden kann, auf zwei wesensmäßig unterschiedene Arten. Reine Musik verfolgt vor allem den Zweck, Klänge ästhetisch zusammenzuführen. Da sie nicht direkt auf Dichtung zurückgreift, drückt sie ein Gefühl nur vage und allgemein aus, da es ihr an der Genauigkeit der Sprache fehlt. Hier ist die Musik ganz und gar souverän. Da sie sich selbst genügt, ist sie genötigt, aus sich heraus die Ausgewogenheit der Form zu bewahren, die darauf ausgelegt ist, den Intellekt in jedem Augenblick zufriedenzustellen und dafür etwas von der Intensität ihres Ausdrucks zu opfern. Die dramatische Musik auf der anderen Seite ordnet die Musik den Worten, Gesten, Handlungen unter, befreit sie weitgehend von der Verantwortung für die Ausgewogenheit der Form, da sie erkennt, dass die Dichtung, die Sprache des Intellekts, unmittelbar eingreift und die Musik sie bloß verstärkt, indem sie all die ihr zur Verfügung stehende Ausdruckskraft beisteuert. Diese beiden Bezeichnungen, reine und dramatische Musik, stehen daher nicht für eine willkürliche Einteilung des musikalischen Schaffens, sondern für zwei verschiedene – in gewissem Maße entgegengesetzte – Auffassungen der Rolle der Musik. […] Es war immer so, dass eine dieser beiden Auffassungen auf Kosten der anderen gewachsen ist und sich entwickelt hat.«151 Dieser Abschnitt belegt nicht nur die verbreitete Verwirrung zwischen dem musikalischen Ausdruck, der eine Formulierung des Gefühls ist, und dem Selbstausdruck, der die Katharsis eines mehr oder weniger unartikulierten Gefühls ist, er zeigt zudem die Inkonsistenz, die eine auf dieser Verwirrung beruhende Theorie der Musik beeinträchtigt. Wenn nämlich die Musik »vorrangig die Sprache des Gefühls« sein soll, wie Bertrand  Paul Bertrand, Pure Music and Dramatic Music, in: Musical Quarterly 9 (1923), S. 545–555, hier 545 (ursprünglich erschienen in Le Ménestrel, Juni 1921, übersetzt von Fred Rothwell). 151



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erklärt, warum ist reine Musik dann nicht rein eine solche Sprache? Warum sollte das vorrangige Instrument, wenn es ganz auf sich gestellt ist, das Gefühl »nur vage und allgemein« ausdrü­ cken können? Und wenn ihre wahre Aufgabe darin besteht, als ein sinnlicher Reiz zu wirken, der die Emotionalität des Dramas oder der Dichtung erhöht, warum sollte eine Komposition dann jemals »Klänge ästhetisch zusammenführen«, um den Intellekt zufriedenzustellen? Eine Theorie, die die Musik als eine Kunst erscheinen lässt, die in sich zerrissen ist und die abwechselnd zwei ihrem Wesen nach unvergleichbare, wenn nicht gar unvereinbare Tätigkeiten ausführt, wird kaum tief in ihre Probleme eindringen. In Wahrheit ist, denke ich, das Spektrum der musikalischen Formen gewaltig, wie ja auch die Vielfalt vitaler Erfahrungen eine gewaltige ist. Sie nehmen flammende Leidenschaften auf, die nur in großem Stil darstellbar sind, und ebenso das hintergründige, unspektakuläre Gefühlsleben, das zu seiner Artikulation subtiler, komplexer, eigenständiger Symbole bedarf, die intensiv und alles andere als vage zu sein haben. Ist eine Musik stark und frei, vermag sie nicht nur Worte zu »schlucken« und sich zu assimilieren, sondern auch das Drama. Dramatische Handlungen werden, wie der »poetische Kern«, zu anregenden Knotenpunkten des Gefühls, zu musikalischen Ideen. Als Mendelssohn Goethes Walpurgisnacht vertonte, schrieb er an den Autor: »[W]enn der alte Druide sein Opfer bringt, und das Ganze so feierlich und unermeßlich groß wird, da braucht man gar keine Musik erst dazu zu machen, sie liegt so klar da, es klingt Alles schon, ich habe mir immer schon die Verse vorgesungen, ohne daß ich dran dachte [sie zu komponieren]. […] Das einzige, was ich hoffe ist, daß man es meiner Musik anhören mag, wie tief ich die Schönheit der Worte empfunden habe.«152 Die schlichte Annahme, alle Künste würden dasselbe auf dieselbe Weise tun, nur mit unterschiedlich sinnlichem Material, hat die meisten Menschen zu einem fatalen Fehlschluss über 152

 Mendelssohn-Bartholdy, Meisterbriefe, a. a. O., S. 37 f.

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die Beziehung der Musik zur Dichtung und zum Drama verleitet. Die Textvorlage hat zweifellos eine literarische Form. Wäre die Vorgehensweise der einzelnen Künste tatsächlich analog, könnte ein Komponist diese Form nur in ihr musikalisches Pendant übertragen. In diesem Fall wäre es sinnvoll, mit Henderson zu sagen, die Opernmusik werde »vollkommen vom Text beherrscht«153.Aber Versformen und literarischen Begriffen wie ein Schatten zu folgen, bringt keinen musikalischen Organismus hervor: Musik muss aus ihrer eigenen »Leitform« erwachsen. Lassen wir noch einmal Mendelssohn zu Wort kommen: »Aber ohne Spaß, ich kann mir nur dann Musik denken, wenn ich mir eine Stimmung denken kann, aus der sie hervorgeht; bloße kunstgerechte Töne, die gut zu dem Wortfall passen, und die auch bei starken Worten forte und bei sanften piano gehen und hübsch klingen, aber nicht was aussprechen, die habe ich von je her eigentlich nicht verstehen können. Und doch kann ich nur solche Musik mir zu diesem Gedichte denken; solche nicht eindringende, durchdrungene, poetische, sondern begleitende, nebenhergehende, musikalische Musik; – letztere mag ich aber nicht.«154 Der Ausdruck »musikalische Musik« ist auf den ersten Blick verwirrend, vergleicht man ihn jedoch mit dem vorangegangenen Ausdruck »poetisch«, wird er recht klar. Das im Gedicht enthaltene Gefühl muss in die musikalische Keimzelle selbst eingehen. Musik, in die der Kern eines Gedichts eingeflossen ist, ist meines Erachtens das, was Mendelssohn unter »poetischer« Musik versteht; genauer gesagt Musik, die nicht die literarische Struktur nachahmt. Ein »poetisch« aufgefasstes Lied klingt nicht wie das Gedicht klingt, sondern wie es sich anfühlt; im Prozess der Vertonung bieten die einzelnen Worte, Bilder und Handlungen dem Komponisten nur den Anlass dafür, seine Gedanken zu entwickeln. Einzelheiten der Erzählung oder der Bildwelt, die keine solchen Möglichkeiten eröffnen, verschwin153

 Henderson, What is good Music?, a. a. O., S. 86.  Mendelssohn-Bartholdy, Meisterbriefe, a. a. O., S. 109.

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den in der neuen Schöpfung: Sie mögen anwesend sein, sind aber nicht erkennbar. Was Mendelssohn andererseits als »musikalische Musik« bezeichnet, ist etwas vom Gedicht Unabhängiges, das ihm äußerlich in der Struktur ähnelt, aber aus vollkommen unabhängigem Material erstellt wurde, um den Versen zu »entsprechen«, die im Wesentlichen unverändert bleiben. Das Maß dafür, ob ein Text, ein Libretto oder auch ein Thema sich für die Musik gut eignen, hängt schlicht und einfach an ihrer musikalischen Umsetzbarkeit, und diese hängt wiederum von der Vorstellungskraft des Komponisten ab. Als Mozart an der Entführung aus dem Serail arbeitete, schrieb er daher an seinen Vater, der am Libretto allerhand auszusetzen fand: »Was des Stephanie seine Arbeit anbelangt, so haben Sie freilich recht […], und ich weiß wohl, daß die Verseart darin nicht von der besten ist; doch ist sie so passend mit meinen musikalischen Gedanken (die schon vorher in meinem Kopf herumspazierten) übereingekommen, daß sie mir notwendig gefallen mußte, und ich wollte wetten, daß man bei dessen Aufführung nichts vermissen wird.«155 Da der Text vor allem anderen ein Bestandteil der Leitform, der musikalischen Konzeption im Ganzen sein muss, ist eine direkte Zusammenarbeit zwischen Dichter und Komponist gar nicht so unschätzbar, wie die Leute zu glauben geneigt sind. Allerdings ist sie auch nicht wertlos. Zweifellos hat Mozart von Stephanies Zuarbeit im Laufe seiner eigenen Arbeit am Werk profitiert,156 und Beethoven, dem die Arbeit sehr viel weniger leicht von der Hand ging als Mozart, hat mit der Hilfe seines Li  Wolfgang Amadeus Mozart, Briefe, hg. v. Albert Leitzmann, Leipzig 1910, S. 362 (Brief vom 13. Oktober 1781). 156  In einem anderen, wiederum an seinen Vater gerichteten Brief schreibt Mozart: »Im Anfange des dritten Akts ist ein charmantes Quintett oder vielmehr Finale, dieses möchte ich aber lieber zum Schluß des zweiten Aktes haben. Um dies bewerkstelligen zu können, muß eine große Veränderung, ja eine ganz neue Intrige vorgenommen werden, und Stephanie hat über Hals und Kopf Arbeit.« (A. a. O., S. 361; Brief vom 26. September 1781) 155

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brettisten in zwei Wochen ein Oratorium geschrieben; dennoch konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verbindung dieser vollkommen untergeordneten Worte mit seiner Musik nicht mehr als eine mariage de convenance, eine Zweckehe, war. Zu dieser Zeit schreibt er: »Was mich aber angeht, so will ich lieber selbst Homer, Klopstock, Schiller in Musik setzen. Wenigstens wenn man auch Schwierigkeiten zu besiegen hat, so verdienen dies diese unsterblichen Dichter.«157 Angesichts der Praxis und Äußerungen dieser großen Komponisten klingt Wagners Kritik, die Oper habe am meisten darunter gelitten, dass die dramatischen Elemente den Launen, Neigungen und Vorlieben der Komponisten untergeordnet worden sind, während doch das Drama das vorherrschende Element sein und die Musik es mit dem bloßen Gefühlsausdruck begleiten sollte,158 seltsam gegenstandslos und ungerechtfertigt. Noch seltsamer ist freilich die praktische Auswirkung seines Entschlusses, die Musik zu einem bloßen Mittel zu machen, mit dem Ziel, die Handlung zu unterstützen und ihr eine emotionale Intensität zu verleihen. Mozart hat seine Partituren erbarmungslos zusammengestrichen, wann immer er den Eindruck hatte, dass Arien oder Ensembles den Gang der Handlung behindern oder, wie er einmal meinte, die Szene blass und kalt und für die anderen Schauspieler höchst peinlich werden ließen, weil sie währenddessen untätig herumstehen müssen, während sich die Handlung in Wagners Opern, wie aufregend die Musik auch ist, unendlich hinzieht und die Sänger die meis­te Zeit herumstehen. Vor allem aber ist keine  Beethoven, Briefe und Gespräche, a. a. O., S. 108 (Brief an die Wie­ ner Gesellschaft der Musikfreunde, 23. Januar 1824). 158  »[W]enn ich also erkläre, der Irrthum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war, so geschieht dies […], um so gegen die unselige Halbheit zu Felde zu ziehen, die sich in Kunst und Kritik bei uns ausgebreitet hat.« (Richard Wagner, Oper und Drama (erster Teil), in: ders., Sämtli­ che Schriften und Dichtungen, Bd. III, Leipzig 1911, S. 222–320, hier 231) 157



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andere Oper so unverkennbar mehr Musik als Drama. Wagners Ouvertüren, der Liebestod oder der Feuerzauber, hört man in vielen Symphoniekonzerten, doch hat je eine Theatertruppe auch nur sein bestes Libretto, die Meistersinger, als Schauspiel ohne Musik aufgeführt? Würde irgendjemand auf den Gedanken kommen, den Tristan als gesprochene Tragödie zu inszenieren? Und was für seine dramatische Kunst gilt, trifft auch auf seine anderen nicht-musikalischen Anstrengungen zu. Das Schauspiel mag noch so großartig sein, die Bühnengestaltung noch so anspruchsvoll (wie es die Drehbühne für den Parsifal zu seiner Zeit fraglos war), Wagners theatralische Einfälle zeugen nicht von außerordentlicher Bühnenkunst, die Libretti sind keine große Dichtung, das von ihm verlangte Bühnenbild ist so wenig wie in anderen Fällen große Malerei, denn Bühnenbildnerei ist überhaupt keine bildende Kunst; kurz gesagt, sein Musikdrama ist nicht das in seiner Theorie entworfene Gesamt­ kunstwerk, sondern ein Werk der Musik, so wie all die »widerwärtigen« Opern vor ihm. Das führt uns zum ersten großen Opernkomponisten zurück, der erklärt hat, seine Musik der dramatischen Handlung unterordnen zu wollen: Gluck. Auch er hat wesentlich musikalische Werke geschaffen, obgleich er anders als Wagner schon vorliegende Schauspiele als Libretti genommen hat. Das Schauspiel löst sich jedoch in der großartigen, einheitlichen und wahrhaft dramatischen Bewegung der Musik auf. Nicht nur die Gefühle der personae dramatis, auch der Sinn der Handlung, die Reichweite des Sujets, das Gefühl des Stückes im Ganzen bilden Elemente der ersten musikalischen Konzeption. »Untergeordnet« ist die Musik lediglich in dem Sinn, dass der Text ihr Anlass ist. Über Glucks dramatische Kunst gibt es einen kleinen, scharfsinnigen Aufsatz eines Autors, der von sich selbst sagt, er sei ein »Liebhaber, der sich seit langem am Instrument und gelegentlich wohl auch theoretisch mit Musik beschäftigt«. Emil Staiger, dieser bescheidene Liebhaber, beschreibt die Bedeutung des Gluck’schen Vorhabens und sein musikalisches Er-

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gebnis in einer Weise, die seinen Aufsatz zu einem unmittelbaren Zeugnis für das hier erörterte Prinzip der »Assimilation« macht.159 Staiger schreibt: »Wagner verwendet die Musik, um die Dichtung psychologisch und philosophisch auszulegen. In dieser Absicht bildet er die Technik der Leitmotive aus, die ihm erlaubt, sich jeder Wendung des Dichterwortes anzuschmiegen, auf mythische und seelische Zusammenhänge anzuspielen und auszusprechen, was den Helden selber vielleicht noch nicht bewußt ist oder was sie klüglich verschweigen. Je mehr die Musik sich aber so auf die Einzelheiten des Textes einläßt, desto mehr läuft Wagner Gefahr, die große Linie zu verlieren. Tatsächlich lassen der ›Ring‹, ja sogar die einzelnen Teile und Akte des ›Ring‹ sich nicht mehr als Einheit übersehen – es sei denn durch die Reflexion, die auf den Ideenzusammenhang abstellt. Der große Bogen der Spannung fehlt in dieser musikalischen Epik. Aus dem Meer der Seele steigen die Töne und Gestalten auf, begabt mit ungeheurer Magie – wer dürfte das im Ernst bestreiten? Doch sie sinken haltlos wieder zurück, und nur selten rafft sich das Werk zu großräumigeren Formen auf.« Und weiter: »Ganz anders Gluck! Zwar das menschliche Interesse Wagners erfüllte auch ihn. […] [Doch] nicht etwa durch ein Leitmotiv, schon eher durch tonale Bezüge, meist aber durch ein der Beschreibung kaum zugängliches Etwas, eine eigentümliche Führung der Linie, ein melodisches Profil sozusagen, das bei allem äußerlichen Wandel unverrückbar fest besteht. So ist Orpheus in allem, was er singt, großer und edler Schmerz, so gefaßt, daß seine ergreifendste Klage sogar in Dur ertönt, Eurydikes scheue Reinheit von beinah gläserner Transparenz. Und wenn man auch dies, verglichen mit Wagners differenzierter Seelenkunde, als primitiv ansprechen wollte, so wäre hier gerade zu sagen, daß Gluck von einer höheren dramatischen Einsicht geleitet war, die Wagners Epoche und die auch unserm   Emil Staiger, Vorwort zum ersten Teil, in: ders., Musik und Dich­ tung, Zürich 1947, S. 9–28, hier 9. 159



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Geschlecht verlorengegangen ist, und die nun gerade auch eine Unterordnung der Psychologie verlangt. Hölderlin vergleicht einmal den Duktus der antiken Tragödie mit dem Duktus eines Verses. Ein Vers hebt an und erreicht irgendwo die Höhe der Intonation. Dann senkt er sich wieder und erstirbt. Ähnlich verläuft ein attisches Drama. […] Der Dichter beginnt mit einer qualvoll aufgeregten Situation, die dringend eine Lösung erheischt. Er steigert das Unerträgliche. Er schaltet Ruhepunkte ein und setzt zu neuer Steigerung an, bis ein Umschlag eintritt und die gespannte Lage sich schnell oder langsam entspannt. Die Lust des Hörers erweckt viel mehr, als er selber weiß, der Rhythmus der Szenen, die weise Dosierung der Affekte, der große Bogen, den vom Anfang bis zum Ende die Leidenschaft beschreibt.« Diesen »großen Bogen« der Leidenschaft, der sich aus dem ruhelosen Anfang zu erhabenen Höhen aufschwingt und schließlich einer heiteren Schlusskadenz weicht, entdeckt Staiger in der Struktur, der »Leitform« der Gluck’schen Opern. Gluck selbst war sich ihrer Wurzeln in der griechischen Sage so klar bewusst, dass er Calzibigi den Löwenanteil an seinen eigenen Werken zurechnete. Doch was ihre literarische Kraft und Form betrifft, sind die Libretti letztlich weit von der griechischen Tragödie entfernt. Das »happy end« des Orpheus widerspricht dem Mythos, so dass er als Schauspiel untragbar wäre. Gluck spürte jedoch den Geist des Mythos selbst in dieser abgemilderten Form. Eben weil er ihn von Anfang als das auffasste, was seine Musik schließlich daraus machen würde, besaß er für ihn Form und Schönheit. Tatsächlich aber sagt Staiger ganz zu Recht: »Am Komponisten lag es, die Gewichte richtig zu verteilen, an diesem Punkt noch mit dem Ausbruch der Leidenschaften zurückzuhalten, jetzt auszuholen mit ganzer Kraft und dann behutsam den Ton zu dämpfen und von der Höhe wieder auf die Ebene zurückzugleiten. Dem Komponisten blieb es insbesondere vorbehalten, einen neuen Typus der Oper zu schaffen.« Und schließlich benennt er das Geheimnis, das in Glucks Beziehung zum Gang der Handlung waltet:

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»Er wollte, wie er im Vorwort zur ›Alkestis‹ sagt, daß die Musik das Interesse der Situationen verstärke, ohne die Handlung zu unterbrechen. Wir wissen jetzt, was dies bedeutet. Es handelt sich nicht darum, der Neugier des Publikums ohne musikalische Aufenthalte Genüge zu tun. Sondern darum geht es, die eine Spannung, den ungeheuren rhythmischen Bogen des Ganzen nie zu verlieren. […] Blicken wir von daraus [auf Glucks Werk] zurück, so fällt auf das umstrittene Wort, daß die Musik der Dichtung dienen müsse, auf einmal ein anderes Licht. Obwohl sich Gluck ausdrücklich entschloß, mit seiner Musik der Dichtung zu dienen, war er doch keinen Augenblick genötigt, die Musik zu verraten, deshalb nicht, weil er auch das Drama, die Tragödie der alten Griechen, von Anfang an musikalisch erfaßte, als Kunstwerk, das mit Leidenschaften, mit abgestimmten Charakteren und Situationen musiziert.«160 Nun ist genau dies das Prinzip der Assimilation, durch das die Worte eines Gedichts, die biblischen Anspielungen in einer Kantate, die Charaktere und Ereignisse in einer Komödie oder Tragödie zu musikalischen Elementen werden, wenn sie musikalisch eingesetzt werden. Sofern die Komposition überhaupt Musik ist, ist sie reine Musik und nicht eine Mischform aus zwei oder mehr Künsten. Das Gesamtkunstwerk ist eine Unmöglichkeit, weil ein Werk nur in einer primären Illusion gegeben sein kann, an deren Produktion, Stützung und Entwicklung jedes Element mitwirken muss. Genau das ist das Schicksal von Wagners Opern, was immer er Gegenteiliges sagen mag: Sie sind Musik, und was er an Nicht-Musikalischem in sie hineingetragen und nicht vollkommen in Musik verwandelt hat, ist Schund. Eine große Frage, für viele vielleicht die wichtigste überhaupt, bleibt uns noch: Reinheit oder Unreinheit, Verdienst oder Schwäche der »Programmmusik«. Dafür und dagegen ist so viel geschrieben worden, dass wir vermutlich am besten daran tun, die bekannten Argumente kurz zu berühren und an den Begriff 160

  Emil Staiger, Glucks Bühnenkunst, a. a. O., S. 29–44, hier 32–41.



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des »Programms« denselben Maßstab wie an alle anderen früher besprochenen problematischen Begriffe anzulegen. Dieser Maßstab liegt in der grundlegenden Frage: Wie wirkt sich das »Programm« auf die Produktion, die Wahrnehmung oder das Verstehen des Musikstückes als expressive Form aus? Die Antwort darauf enthüllt meines Erachtens den Gebrauch und Missbrauch des petit roman in angemessenem Kontrast. Seit die Musik zu einer eigenständigen Kunst geworden ist, sich von intonierter Rede und getanzten Rhythmen gelöst hat (und möglicherweise auch schon vorher), kannte man Melodien, die durch natürliche Klänge und Bewegungen inspiriert worden sind und die man in einem allgemeinen Sinne als »Programmmusik« bezeichnen könnte. Die Nachahmung des Kuckucksrufs in dem Kanon »Sumer is i-cumen in« wird für gewöhnlich als das älteste bislang entdeckte Beispiel anerkannt. Später folgte dann die Zeit der »musikalischen Hermeneutik«, als aufund absteigende melodische Bewegungen als Symbole für hochfliegende bzw. niedergedrückte Stimmungen gedeutet wurden, d. h. für Freude und Trauer, Leben und Tod. Dann zitterten die Sechzehntel, die Chromatik klagte, die Arpeggien priesen den Herrn. Im Zeitalter von Bach und Händel waren derartige Deutungen schon so weit Gemeingut geworden, dass sie dem Komponisten, der einen Text vertonen wollte, einen Vorrat an Ideen bereitstellten. Darin liegt der Wert dieser konventionellen »Tonmalerei«: Sie schlug musikalische Mittel vor, die sich in den verschiedensten Gesamtformen und ursprünglichen Kontexten verwenden ließen, geradeso wie die Bibel ihre Sprache für ganz spontane und persönliche Gebete anbietet. Die Mittel bestanden aus anerkannten melodischen Figuren und Rhythmen, und ihre allgemeine Anerkennung befreite den Komponisten von jeder Verpflichtung, natürliche Intonationen oder Gesten nachzu­ ahmen. Hinzu kommt, dass, während direkte Nachahmungen an die Ideen gebunden sind, die sie vermitteln sollen, es sich bei den traditionellen Darstellungsweisen um freie musikalische Elemente handelt. Sie können zu rein schöpferischen Zwe­ cken in der Produktion von Ausdrucksformen verwandt wer-

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den, die nicht durch irgendeinen poetischen Text motiviert sind. Schweitzers Behauptung, Bach habe regelmäßig bestimmte musikalische Formen in Verbindung mit gefühlsgeladenen Worten wie »Tod«, »Freude«, »Leid«, »Himmel« gebraucht und diese Figuren transportierten, wenn sie in seiner rein instrumentalen Musik auftauchten, noch immer die gleichen poetischen Konnotationen, so dass seine Fugen und Suiten als in Musik übertragene »Gedichte« zu betrachten seien,161 scheint mir jeder Grundlage zu entbehren. Wie Tovey über das Gefüge musikalischer Gesten sagt, die offensichtlich von den Worten in der Vokalmusik inspiriert worden sind: »Für Bach war dies selbstverständlich, und er legte ihm nichts von der Bedeutung bei, die sich bei Lesern damit verbinden könnte, die heute von seiner Wiederentdeckung hören. Gute Musik war für ihn etwas, das sich zu beliebigen guten neuen Zwecken verwenden ließ, ungeachtet dessen, was ihre Details in ihrem ursprünglichen Kontext bezeichnet haben mochten.«162 Tatsächlich lassen sich dieselben Figuren, die in kirchlichen Kantaten Todesangst und Selbsterniedrigung begleiten, in Haydns Schöpfung humoristisch einsetzen, um schlängelndes Gewürm zu konnotieren, und ebenso können sie in Mozarts Menuetten vorkommen, in denen zweifellos niemand herumkriecht. Die Worte der Kantaten haben womöglich durch ihre Gefühlswerte eine gewisse tonale Darstellung nahegelegt, doch letztlich läuft alles darauf hinaus, dass diese Worte mit ihrer ganzen religiösen oder profanen Bedeutung von einer rein musikalischen Form, der Matrix der Kantate, assimiliert worden sind, aus der die rhythmischen und melodischen Figuren, in denen sie sich finden, sich mit der gleichen Logik entwickeln wie die funktionalen Details in einem Organismus. Solch eine Komposition ist keine »Programmmusik«, sie ist schlicht Musik. Für eine wahrhaft tonale Vorstellungskraft enthält alles, was klingt, die Möglichkeit tönender Formen und kann 161

  Vgl. Albert Schweitzer, J. S. Bach, Leipzig 1908.   A. a. O., Bd. V, »Vocal Musik«, S. 51.

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zu einem Motiv werden, und auch vieles, was stumm ist, bietet seinen Rhythmus als Quelle musikalischer Ideen an. Alles, was zu einem Thema, einer Passage, einer Bewegung werden kann, ist brauchbar: der Ruf des Kuckucks, der zu einem Kanon führt, die Glocken, die den Bass in Mussorgskys Ostermusik läuten lassen, der Herzschlag, der in Mozarts Entführung aus dem Serail so kunstvoll den Geigen anvertraut wird (um einer viel größeren Transformation willen, als sie den Pauken möglich wäre), oder Ideen von dramatischen Handlungen und Leidenschaften. Alle derartigen Ideen regen den Gang der Musik an, der sich dank ihrer Hinweise entwickelt. Keineswegs aber ahmt sie so getreu wie möglich nach und nähert sich Naturgeräuschen und nicht dramatisiertem Selbstausdruck an, denn »die Musik muß«, wie Mozart sagt, »allzeit Musik bleiben«163. Die Musik muss Musik bleiben, und alles andere, was hineinkommt, muss Musik werden. Hier haben wir nun meines Erachtens das ganze Geheimnis der »Reinheit« und die einzige Regel, die darüber befindet, was relevant ist und was nicht. Musik mag in dem Sinne »darstellend« sein, dass sie Themen aus   »Der Zorn des Osmin wird dadurch in das Komische gebracht, weil die türkische Musik dabei angebracht ist. In der Ausführung der Aria habe ich seine schönen tiefen Töne schimmern lassen. Das ›Drum beim Barte des Propheten‹ ist zwar im nämlichen Tempo, aber mit geschwinden Noten, und da sein Zorn immer wächst, so muß, da man glaubt, die Aria seie schon zu Ende, das Allegro assai ganz in einem andern Zeitmaße und andern Tone eben den besten Effekt machen; dann [sic!] ein Mensch, der sich in einem so heftigen Zorn befindet, überschreitet ja alle Ordnung, Maß und Ziel, er kennt sich nicht, und so muß sich auch die Musik nicht mehr kennen. Weil aber die Leidenschaften, heftig oder nicht, niemals bis zum Ekel ausgedrückt sein müssen und die Musik auch in der schaudervollsten Lage […] allzeit Musik bleiben muß, so habe ich keinen fremden Ton zum F (dem Ton der Aria), sondern einen befreundeten, aber nicht den nächsten, D mi­ nore, sondern den weiteren, A minore, dazu gewählt. Nun die Aria vom Belmonte in A=Dur: ›O wie ängstlich, o wie feurig‹, wissen Sie, wie es ausgedrückt ist, auch ist das klopfende Herz schon angezeigt, die Violinen in Oktaven.« (Mozart, Briefe, a. a. O., S. 191; Brief an Leopold Mozart vom 26. September 1781) 163

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Vogelgesängen, Marktschreien, Huf- oder Herzschlägen, Echoeffekten, tropfendem Wasser oder den Bewegungen von Schiffen und Maschinen entnimmt. Sie mag auch anhand der Bach und Buxtehude vertrauten Mittel die Gefühlskonnotationen von Worten »darstellen« oder, sich weniger auf die Konvention verlassend, das auf der Bühne aufgeführte Ansteigen und Abnehmen der Leidenschaften. Wo aber die Musik wirklich Musik ist, und mögen ihren Formen auch Vorstellungen von Dingen oder Situationen zugrunde liegen, sind diese Vorstellungen doch nie notwendig, um das Gehörte zu erklären, ihm eine Einheit oder, im schlechtesten Fall, einen Gefühlswert zu verleihen. Im strikten Sinn ist »Programmmusik« eine moderne Marotte, das musikalische Pendant zum Naturalismus in den bildenden Künsten. Ihre große Popularität gründet darin, dass auch die Unmusikalischen sie genießen können, und in einer Massenzivilisation, in der ein Publikum aus Tausenden statt aus Dutzenden von Zuhörern besteht, ist die Mehrheit nicht wirklich musikalisch. Musik bewegt die meisten Menschen, aber nicht notwendigerweise als Kunst, so wie auch Bilder bei fast jedem die Phantasie anregen, obgleich nur Menschen mit einem klaren Verstand und einem entwickelten Anschauungsvermögen ihre vitale Bedeutsamkeit wirklich verstehen, während der Durchschnittsmensch auf das Dargestellte reagiert und sich abwendet, wenn er nichts findet, was seine diskursiven Gedanken fördert oder seine realen Gefühle stimuliert. Ein Programm, das von imaginären Streichen berichtet, die Bildersujets in einer Ausstellung auflistet oder verkündet, das dieser oder jener nun dies und dann das tut, als handelte es sich um eine Radioübertragung eines Spiels oder eines Kampfes, ist eine Stimme aus dem Reich der Wirklichkeit, auch wenn ihre Aussagen phantastisch sind. Wenn die »Interpretation« korrekt das Rohmaterial des Komponisten bespricht, holt es sie als solches wieder hervor, d. h. als nicht verändertes und assimiliertes Material, um die Illusion eines Zeitflusses zu stören, in dem alles Fühlen eine hörbare Form annimmt. Manchmal gewährt der Kommentator aber nicht einmal solche Einblicke in die Künstlerwerkstatt,



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sondern verkauft nur, was ihm an Träumen beim Hören der Musik kommt, und lädt das Publikum ein, unter dem hypnotischen Einfluss des Klangs eine banale literarische Synopse mit ihm zu teilen. Alle Künste haben eine gewisse hypnotische Wirkung, doch keine verfügt so prompt und offenkundig darüber wie die Musik. Etwas Vergleichbares geht von architektonischen Werken wie den großen Kathedralen, den griechischen Tempeln und einigen besonders eindrucksvollen öffentlichen Orten wie Museumssälen aus, die ihre Schätze mit einer vollkommen harmonischen Welt zu umgeben scheinen. Alles, was an solchen Orten gesagt oder getan wird, hat den Anschein, als würde es durch die Größe des lebendigen Raumes und seiner Atmosphäre bedeutsamer und dramatischer. Der Einfluss erstreckt sich auch auf Dinge, die überhaupt nicht zur Kunst gehören. Damit der Durchschnittsmensch sich hypnotisiert fühlt, muss die Architektur schon ihre stärksten Wirkungen auf bieten, während die Musik fast immer diese Kraft hat. Hören wir mit einem Ohr zu, während wir an etwas denken, was unsere Gefühle nicht unberührt lässt, dann werden diese durch den bloß sinnlichen Hintergrund der Musik noch verstärkt. Wo das Denken und Fühlen tatsächlich durch die Betrachtung eines Problems bestimmt ist, vermitteln die Tonformen überhaupt keine Idee. Die Funktion der Musik erschöpft sich dann vollkommen in etwas, das stets in jeder künstlerischen Darstellung mitspielt – in der Kraft der Isolation. Dadurch macht die »Hintergrundmusik« es einigen Menschen leichter, unmusikalisch zu denken, und erhöht die emotionale Gestimmtheit. Da unsere Ohren für die ganze Welt offen stehen, und Hören anders als Sehen keiner ausschließenden Ausrichtung bedarf, erreichen uns Eindrücke über das Gehör, ohne unsere bewusste Aufmerksamkeit zu fordern Möglicherweise ist das der Grund, warum wir den hypnotischen Einfluss der Musik erleben und dabei stehenbleiben können – diesseits einer bedeutungsvollen Wahrnehmung –, und das auf eine Weise, wie es uns bei irgendeiner anderen Kunst nicht so leicht möglich wäre.

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Zwischen dem wirklichen Zuhören, also einem aktiven Denken der Musik, und überhaupt nicht Zuhören, so wie es ein Schüler tut, der eine Algebraaufgabe löst, während das Radio eine Symphonie überträgt, gibt es eine Grauzone des Musikgenusses, bei dem sich die Tonwahrnehmung mit Tagträumen mischt. Vermutlich ist das die populärste Art, Musik zu rezipieren, denn sie macht keine Mühe und ist sehr genussvoll. Ästhetiker, die jegliches Vergnügen als den Zweck der Kunst betrachten und für die daher der Genuss zentral für die Würdigung der Kunst ist, bestärken uns noch darin. Seine Auswirkung auf den musikalischen Verstand ist allerdings fragwürdig. Dem völlig ungeschulten Hörer mag er dabei helfen, überhaupt expressive Formen zu entdecken, wenn er eine begleitende romantische Geschichte extemporiert und die Musik Gefühle ausdrücken lässt, die durch deren Szenen erklärbar werden. Für den kompetenten Hörer ist dies jedoch eine Fallgrube, denn es verstellt die volle vitale Bedeutsamkeit der Musik, indem es nur das zur Kenntnis nimmt, was einem bestimmten Ziel entgegenkommt und was Haltungen und Gefühle ausdrückt, die dem Zuhörer schon vorher vertraut waren. Alles, was neu und interessant an einem Werk ist, wird auf diese Weise ausgeblendet, denn was nicht zu dem petit roman passt, wird übergangen, und was passt, gehört dem Träumer selbst. Vor allem aber wird damit die Aufmerksamkeit nicht auf die Musik gelenkt, sondern weg vor ihr – die Musik als Mittel zur Schwelgerei. Mit dieser Art Traum lässt sich ein ganzer Abend füllen, ohne einen anderen Ertrag als die Entspannung eines »erschöpften Geschäftsmannes« – eine musikalische Einsicht, ein neues Gefühl wird nicht erlangt, und gehört wird tatsächlich nichts. Der Grund, warum nichts wirklich Musikalisches zurückbleibt, ist darin zu suchen, dass die Musik im Verlauf der Tagträumerei dem Traum assimiliert wird, so wie das Gedicht in einem Lied von der Musik »geschluckt« wird und dem Drama in der Oper das gleiche Schicksal zuteil wird. Ein Traum ist kein Kunstwerk, folgt aber dem gleichen Gesetz; er ist kein Kunstwerk, weil er rein zu Zwecken des Selbstausdrucks oder



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der romantischen Befriedigung improvisiert wird und daher nicht den Anforderungen der Kohärenz, der organischen Form oder eines mehr als persönlichen Interesses gehorchen muss. Das Ergebnis eines solchen Musikhörens ist die freie Kreativität, wie sie Heranwachsenden eigen ist, wenn das Gefühlsleben führungslos ist und nach immer neuen fiktiven Abenteuern verlangt. Vielleicht ist es nur natürlich und diesem Lebensalter durchaus angemessen, wenn auch die Musik vor allem ein Weg zu romantischen Phantasien ist. Der ganze Prozess führt uns jedoch weg von der Kunst und hin zu bloßer Subjektivität. Wird Musik jedoch wirklich gehört und vorstellend begriffen, lässt sie sich künstlerisch »verwenden«, Werken assimilieren, die mit anderen Formen der Illusion arbeiten – sie lässt sich also ebenso »verschlucken«, wie sie selbst Dichtung oder Drama »verschluckt«. Das ist aber eine andere Geschichte, die uns besonders im nächsten Kapitel beschäftigen wird.

11. Kapitel Virtuelle Mächte Keine Kunst leidet so sehr unter Missverständnissen, gefühlsgeleiteten Urteilen und mystifizierenden Interpretationen wie die Tanzkunst. Die kritische, oder schlimmer noch die unkritische, pseudo-ethnologische und pseudo-ästhetische Literatur über sie ist eine ermüdende Lektüre. Und doch hat gerade diese Verwirrung darüber, was Tanz ist – was er ausdrückt, was er erschafft und wie er sich zu den anderen Künsten, zum Künstler, zur realen Welt verhält –, eine eigene philosophische Bedeutung. Sie entspringt zwei grundlegenden Quellen: der primären Illusion und der elementaren Abstraktion, durch die diese geschaffen und gestaltet wird. Die intuitive Wertschätzung des Tanzes ist genauso unmittelbar und natürlich wie der Genuss jeder anderen Kunst, doch aus Gründen, die bald deutlich werden, ist es besonders schwierig, die Art seiner künstlerischen Wirkungen zu analysieren; dementsprechend gibt es zahllose irre­ führende Theorien darüber, was Tänzer tun und was ihr Tun zu bedeuten hat, Theorien, die den Betrachter vom einfachen, intuitiven Verstehen ablenken und seine Aufmerksamkeit entweder auf den technischen und akrobatischen Aspekt, auf den persönliche Charme und erotische Wünsche lenken oder ihn nach Bildern, Geschichten, Musik suchen lassen – kurz nach allem, an was sich sein Denken mit einiger Sicherheit halten kann. Die verbreitetste Auffassung ist die, dass die Essenz des Tanzes musikalisch ist: Der Tänzer drückt gestisch aus, was er für den Gefühlsgehalt der Musik hält, und diese regt den Tanz als Ursache an und trägt ihn. Er reagiert so, wie wir alle reagieren würden, wenn wir nicht gehemmt wären; sein Tanz ist Selbstausdruck, und er ist schön, weil sein Auslöser schön ist. Man könnte zu Recht sagen, er »tanze die Musik«.



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Diese Auffassung von Tanz als einer gestischen Wiedergabe musikalischer Formen ist nicht allein populär, sie wird auch von einer Reihe berühmter Tänzer, und einigen – wirklich nur einigen wenigen – Musiker vertreten. Der Musikkritiker, der sich selbst Jean d’Udine164 nennt, schreibt in seinem äußerst provokativen (um nicht zu sagen ärgerlichen) Büchlein L’art et le geste: »Das expressive Gestikulieren eines Dirigenten ist schlicht und einfach Tanz. […] Jede Musik ist Tanz – jede Melodie eine Reihe von Haltungen, Posen.«165 Auch Jaques-Dalcroze, von Haus aus Musiker und nicht Tänzer, ist der Ansicht, der Tanz könne durch Körperbewegungen die gleichen Bewegungsmuster ausdrücken, die von der Musik für das Ohr geschaffen werden.166 In der Regel ist es freilich eher der Tänzer, Choreograph oder Tanzkritiker als der Musiker, der den Tanz als eine musikalische Kunst betrachtet.167 Aufgrund der Annahme, jede Musik lasse sich auf diese Weise »übertragen«, unternahm Fokine es, Beethovens Symphonien zu tanzen, und Massine hat dasselbe getan, beide offenbar mit unterschiedlichem Erfolg. Alexander Sacharoff reizte in seinen Reflexions sur la musique et sur la danse das »musikalische Bekenntnis« bis zum Letzten aus: »Wir – Clotilde Sacharoff und ich – tanzen nicht zu Musik   Albert Cozanet.   Jean d’Udine, L’art et la geste, Paris 1910, S. xiv. 166  Jaques-Dalcroze ist natürlich der bekannteste Vertreter dieser Auffassung, systematischer ist sie allerdings von L. Bourguès und A. Denéréaz in La musique et la vie intérieure ausgearbeitet worden. Dort lesen wir: »Jedes Musikstück schafft im Organismus des Hörers einen anregenden globalen Rhythmus, von dem jeder Moment eine Totalität all seiner anregenden Faktoren bildet, Intensität, Umfang, Dauer, Erzeugungsart, Klangfarben, die sich zu simultanen Wirkungen verbinden und beim Zuhörer gemäß ihrer Abfolge einen Eindruck hinterlassen.« (A. a. O., S. 17) »Wenn ›Zönästhesie‹ die Seele des Gefühls ist, dann ist Kinästhesie schließlich nichts anderes als die ›Seele des Gestischen‹.« (Ebd., S. 20) 167  Siehe beispielsweise George Borodin, This Thing Called Ballet, London 1945; Rudolf Sonner, Musik und Tanz: vom Kulttanz zum Jazz, Leipzig 1930. 164 165

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und von Musik begleitet, wir tanzen die Musik.« Diesen Punkt wiederholt er mehrmals. Isadora Duncan sei es gewesen, die ihn gelehrt habe, nicht mit Musik zu tanzen, sondern die Musik selbst.168 Es steht außer Zweifel, dass sie im Tanz die sichtbare Inkarnation der Musik sah, dass es für sie keine »Tanzmusik« gab, sondern nur reine, als Tanz wiedergegebene Musik. Sacharoff bemerkt, viele Kritiker hätten gemeint, Isadora Duncan habe die von ihr getanzte Musik nicht wirklich verstanden, sie habe sie fehlinterpretiert und ihr Gewalt angetan. Er jedoch denke, sie habe sie im Gegenteil so gut verstanden, dass sie es wagen konnte, die Musik frei zu interpretieren.169 Es mag para­ dox klingen, doch ich glaube, sowohl Sacharoff als auch ihre Kritiker lagen richtig. Isadora Duncan hat die Musik nicht mu­ sikalisch verstanden, aber für ihre Zwecke hat sie sie vollkommen richtig verstanden. Sie wusste, was tänzerisch (balletic)170 war, und mehr brauchte sie nicht zu wissen. Tatsächlich war das so sehr alles, was sie wusste, dass sie meinte, mehr gebe es auch nicht zu wissen, und das von ihr Getanzte sei wirklich »die Musik«. Ihr musikalischer Geschmack als solcher war unentwickelt – nicht einfach mangelhaft, sondern vollkommen rätselhaft. Sie nennt Ethelbert Nevins »Narcissus« in einem Atemzug mit Beethovens Cis-Moll-Sonate in und Mendelssohns »Frühlingslied« in einem Atemzug mit einigen sehr guten Étuden von Chopin, die ihre Mutter gespielt hatte. Interessant ist Isadoras Mangel an musikalischem Urteil gerade vor dem Hintergrund der angeblich elementaren Identität   Alexander Sacharoff, Reflexions sur la musique et sur la danse, ­Buenos Aires 1943, S. 46. 169  Ebd., S. 52. 170  »Balletic« wird hier im allgemeinen Sinne als den Tanz betreffend verwendet und nicht mit spezifischem Bezug zu der Art Tanz, die als »Ballett« bekannt ist. Es gibt kein allgemein akzeptiertes englisches Adjektiv, dass aus »Tanz« oder einem ähnlichen Wort gebildet ist und falsche Konnotationen vermeidet; in Merle Armitages und Virginia Stewarts bewundernswerter Sammlung Modern Dance (New York 1935) wird das deutsche Wort »tänzerisch« mit »dancistic« übersetzt (S. 9), was aber unnatürlich klingt. 168



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von Musik und Tanz (für Sacharoff sind sie »so eng verwandt wie Poesie und Prosa« – d. h. zwei Hauptformen ein und derselben Kunst). Die meisten Künstler sind – wie uns anlässlich der bildenden Künste schon aufgefallen ist – fähig, in ihrer eigenen Kunst Werke beliebiger Form und sogar beliebiger Erscheinungsweisen sachkundig zu beurteilen: Ein Maler hat normalerweise ein richtiges Empfinden für Gebäude und Statuen, ein Pianist für Vokalmusik vom gregorianischen Choral bis zur Oper usw. Doch Tänzer sind keine besonders scharfsinnigen Musikkritiker, und Musiker stehen dem Tanz nur in sehr seltenen Fällen auch nur wohlwollend gegenüber. Selbstverständlich gibt es auch solche, die Ballettmusik schreiben und zweifellos etwas von Ballett verstehen; dennoch finden sich unter der großen Schar von Musikern – Komponisten wie Aufführende – nur sehr wenige, die eine natürliche Neigung zum Tanz haben, so dass man kaum an die Verschwisterung der beiden Künste glauben mag. Das Vorliegen einer solchen engen Beziehung – sei es nun eine solche der Identität oder der Beinahe-Identität – ist von einigen Tänzern und Tanzbegeisterten in der Tat abgelehnt, ja heftig bestritten worden. Sie behaupten – ganz zu Recht –, dass ihre Kunst eine unabhängige ist; und diese wenigen Verteidiger des reinen Glaubens sind sogar so weit gegangen, die uralte Vereinigung von Musik und Tanz für rein zufällig oder eine Sache der Mode zu halten. Frank Thiess, der Verfasser eines Buches, das viele bemerkenswerte Einsichten und Urteile enthält, lässt sich von seiner Überzeugung, dass der Tanz kein Modus der musikalischen Kunst ist, hinsichtlich der tänzerischen Funktion der Musik verwirren, von der er geringschätzig sagt, sie sei bloß »ein akustisch verzierter Rhythmus«, der parallel zum unabhängigen Tanz läuft.171 Eine andere Interpretation des Tanzes, die vom klassischen Ballett inspiriert war und daher in der Vergangenheit allgemeiner anerkannt war als heute, geht davon aus, dass der Tanz 171

  Frank Thiess, Der Tanz als Kunstwerk, München 31923, S. 42 f.

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eine der bildenden Künste ist, ein Schauspiel wechselnder Tableaus, belebter Bilder oder sogar bewegter Statuen. Dieser Ansicht ist der große Choreograph Noverre gewesen, der, wie sich von selbst versteht, nie wirklich bewegte Bilder oder ein Mobile gesehen hat.172 Seit es diese Medien gibt, ist der Unterschied zwischen ihren Erzeugnissen und dem Tanz offenkundig. Calders vom Winde bewegte, ausbalancierte Figuren umschreiben einen wirklich skulpturale Raum, den sie mit einer freien, faszinierenden Bewegung füllen – ich denke hier vor allem an seine Skulptur »Lobster Pot and Fishtail« (Hummerreuse und Fischschwanz) im Treppenhaus des Museum of Modern Art in New York –, aber tanzen tun sie zweifellos nicht. Bewegte Bilder sind aus dem einfachen Grund, dass es sich bei beiden um »Bewegungskünste« handelt, ernsthaft mit dem Tanz verglichen worden.173 Der hypnotische Einfluss der Bewegung ist freilich   »Dasselbe, was ein Bild in der Malerei hervorbringt, bringt auch ein Bild in der Tanzkunst hervor: diese beiden Künste haben eine ähnliche Wirkung, beide müssen dieselbe Aufgabe erfüllen, sie müssen nämlich durch das Auge zum Herzen sprechen […]. Alles, wovon in der Tanzkunst Gebrauch gemacht wird, ist imstande, Bilder zu erstellen, und alles, was in der Malerei eine Bildwirkung erzeugt, kann als Vorbild für die Tanzkunst herangezogen werden, so wie der Ballettmeister auch alles verwerfen sollte, was der Maler verwirft.« (Jean-Georges Noverre, Lettres sur les arts imitateurs en général et sur la dance en par­ ticulier, Paris 1807, Bd. 2, S. 337) Vgl. auch seine Lettres sur la danse, et sur les ballets, XIV. Brief: »[D]ie Pantomime ist ein Pfeil, die großen Leidenschaften drücken ihn ab; es ist eine Menge Blitze, die schnell auf einander folgen; die Gemählde, die daraus entstehen, sind voller Feuer, sie dauren nur einem Augenblick und machen alsobald andern Platz.« (Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, Hamburg 1769, S. 319) 173  »Beide, Ballett und Film, bedienen sich ähnlicher Grundmaterialien. Beide sind durch die Darstellung eines bewegten Bildes charakterisiert. […] Wie das Ballett ist der Film ein bewegtes Muster, eine Abfolge von ständig sich verändernden Bildern, die allerdings einem künstlerischen Plan folgen, zumindest was seine höchste Form betrifft. So auch das Ballett. Tatsächlich ist nur die Ausdrucksweise, die Formulierung, eine andere. Ballett und Film unterscheiden sich so, wie zwei Sprachen sich unterscheiden, die einen gemeinsamen Ursprung 172



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alles, was ihnen gemeinsam ist – es sei denn, es handelt sich um die Verfilmung einer Tanzdarbietung –, und eine psychologische Wirkung gibt nicht den Maßstab einer Kunstform ab. Eine Schauspielverfilmung, eine Wochenschau, ein Dokumentarfilm hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Tanz. Weder ein musikalischer Rhythmus noch eine Körperbewegung allein reichen aus, um einen Tanz zu erzeugen. Wir sprechen von Mücken, die in der Luft »tanzen«, oder von Bällen, die auf einem Springbrunnen »tanzen«, der sie empor schleudert; in Wahrheit sind alle derartigen Bewegungsmuster Tanzmotive ab, ohne selbst Tanz zu sein. Dasselbe lässt sich über ein drittes Medium sagen, das manchmal als ein Grundelement im Tanz bezeichnet worden ist: die Pantomime. Für die Vertreter dieser Auffassung ist Tanzen eine dramatische Kunst. Und natürlich können sie zur Verteidigung ihres Ansatzes eine weitgehend akzeptierte Theorie anführen, dass nämlich das griechische Drama aus dem chorischen Tanz hervorgegangen ist. Wenn wir uns jedoch selbst den kunstvollsten pantomimischen Tanz ganz unvoreingenommen anschauen, hat es keineswegs den Anschein, als erlebten wir die Handlung eines echten Schauspiels.174 Eher ist man versucht, die ehrwürdigen Ursprünge des Schauspiels anzuzweifeln, als an das dramatische Ideal der Tanzbewegung zu glauben. Denn haben – so wie beispielsweise Italienisch und Spanisch oder Niederländisch und Englisch. Die Grundlagen sind in beiden Fällen nahezu dieselben, sie haben sich nur in verschiedene Richtungen entwickelt.« (Borodin, This Thing Called Ballet, a. a. O., S. 56) 174  Auf die Vorwürfe von Kritikern, er habe gegen die dramatische Einheit der griechischen Themen in seinen Tanzaufführungen verstoßen, entgegnet Noverre: »Es genügt wohl zu sagen, dass das Ballett kein Schauspiel ist, dass ein Erzeugnis dieser Art nicht den strengen aristotelischen Regeln zu unterwerfen ist. […] Dies sind die Regeln meiner Kunst; jene des Dramas sind voller Fesseln; weit davon entfernt, ihnen zu entsprechen, sollte ich besser so tun, als wüsste ich überhaupt nichts von ihnen, und mich über die Gesetze erheben, die niemals für die Tanzkunst aufgestellt worden sind.« (Lettres sur les arts imitateurs, a. a. O., S. 334–336)

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der Tanz, der wie viele religiöse Tänze von der Pantomime ausgeht, neigt im Laufe seiner späteren Geschichte dazu, eher tänzerischer als dramatischer zu werden.175 Wie reine Bewegungsmuster, plastische Bilder und musikalische Formen, so liefert auch die Pantomime Material für den Tanz, etwas, das zu einem tänzerischen Element werden kann, aber der Tanz selbst ist etwas anderes. Welche Beziehung hier in Wahrheit besteht, hat Thiess sehr schön auf den Punkt gebracht. Er betrachtet die Pantomime als »einen Bastard zweier verschiedener Künste«, nämlich des Tanzes und der Komödie,176 bemerkt aber: »Wer freilich daraus die Folgen ziehen wollte, daß sie zu dauernder künstlerischer Unfruchtbarkeit verdammt sei, verkennt die Bedeutung wichtiger Entwicklungsprozesse in der Kunst. […] [A]uch eine Tanzpantomime [kann sich] zu einer reinen Kunstform innerhalb   Belege für diese Behauptung lassen sich in Sachs’ Weltgeschichte des Tanzes finden, auch wenn der Verfasser selbst glaubt, das Drama habe sich aus dem Tanz entwickelt, der auf einem mythischen oder historischen Thema auf baute (vgl. Curt Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, Berlin 1933, S. 226 f.). In seiner Erörterung über die Entwicklung der Tiertänze schreibt er: »Schon an diesen Beispielen sehen wir, daß der Tiertanz das Schicksal einer dauernden Entnaturalisierung trägt. Der Zwang, in geordnetem Tanz die Bewegungen zu stilisieren, also zu entwirklichen, nimmt den Schritten und Gebärden mehr und mehr das Naturhafte.« (S. 58) 176  Man vergleiche dazu Isadora Duncans Kommentar: »Nun habe ich aber die Pantomime niemals für Kunst angesehen, Bewegung fällt in das Gebiet des Lyrischen, des leidenschaftlichen Ausdrucks und hat mit dem gesprochenen Worte nichts gemein; in der Pantomime jedoch bemühen sich die Darsteller, Worte durch Gebärden zu ersetzen, so daß weder die Kunst des Tänzers noch jene des Schauspielers sich zeigen kann, weshalb diese Kunstgattung keiner der beiden Forderungen gerecht wird und zu lächerlicher Bedeutungslosigkeit verurteilt bleibt.« (Memoiren, Berlin 1988, S. 28) Ich halte die Pantomime ebenfalls überhaupt nicht für eine Kunst, sondern, wie den Mythos und das Märchen, für ein vorkünstlerisches Phänomen, das vielen verschiedenen Künsten – Malerei, Bildhauerei, Schauspiel, Tanz, Film usw. – als Motiv dienen kann. 175



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der Provinz des Tanzes entwickeln. Das wäre dann freilich eine Pantomime […], die vom ersten bis zum letzten Takte auf dem Grundgesetz des Tanzes aufgebaut ist: der rhythmischen Bewegtheit.« Als Meister der tänzerischen Pantomime nennt er Rudolf von Laban. »Bei ihm verschwindet – wie in der absoluten Musik – der ›Inhalt‹ eines Geschehnisses gänzlich hinter der tänzerischen Gestaltung. […] alles [ist] Ausdruck, Geste, Bindung und Lösung von Körpern geworden […]. Und in geschickter Verwertung von Raum und Farbe ist die tänzerische Pantomime entstanden, auf der sich vielleicht die Zukunft des Ensembletanzes gründen wird.«177 Was also ist Tanz? Soll er eine unabhängige Kunst sein, was er ja tatsächlich zu sein scheint, muss er seine eigene primäre Illusion bei sich führen. Rhythmische Bewegtheit? Sie ist das, was sich tatsächlich ereignet, und keine Illusion. Die »primäre Illusion« einer Kunst ist jedoch etwas Geschaffenes und mit dem ersten Strich Geschaffenes – in diesem Fall mit der ersten Bewegung, sei sie ausgeführt oder nur impliziert. Als physische Realität und damit als »Material« in der Kunst muss die Bewegung transformiert werden. Doch in was? – In dem oben zitierten Abschnitt hat Thiess uns schon die Antwort gegeben: »Alles ist Ausdruck, Geste.« Jede Tanzbewegung ist gestisch oder ein Element in der Bekundung des Gestischen – vielleicht ihr mechanischer Kontrast und Hintergrund, stets aber durch den Schein einer expressiven Bewegung motiviert. Mary Wigman hat irgendwo einmal gesagt: »Eine bedeutungslose Geste ist mir ein Greuel.« Eine »bedeutungslose Geste« ist nun eigentlich ein Widerspruch in sich; doch für den großen Tänzer war jede Bewegung im Tanz Geste – ein anderes Wort gab es nicht; ein Fehler war eine »bedeutungslose Geste«. Das Interessante daran ist, das die Behauptung selbst ebenso gut von Isadora Duncan, Laban oder Noverre stammen könnte. Denn selbst die Künstler, die aberwitzig weit auseinandergehende Theorien über das vertreten, was Tanz ist – 177

 Thiess, Der Tanz als Kunstwerk, a. a. O., S. 44–48.

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sichtbar gewordene Musik, eine Abfolge von Bildern, ein Schauspiel ohne Worte –, sind sich über seinen gestischen Charakter einig. Das Gestische ist die grundlegende Abstraktion, durch die die Illusion des Tanzes produziert und organisiert wird. Gestisches ist vitale Bewegung. Demjenigen, der sie ausführt, ist sie sehr präzise als kinetische Erfahrung, d. h. als Handlung, vertraut und etwas unbestimmter als sichtbares Ergebnis. Anderen erscheint sie als sichtbare Bewegtheit, doch nicht als Bewegung von Dingen, die gleiten, wogen oder herumrollen – vielmehr wird sie als vitale Bewegung gesehen und verstanden. Sie ist daher immer zugleich subjektiv und objektiv, privat und öffentlich, gewollt (oder hervorgerufen) und wahrgenommen. Im realen Leben fungieren Gesten als Zeichen oder Symp­ tome für unsere Wünsche, Absichten, Erwartungen, Forderungen und Gefühle. Da sie bewusst kontrolliert werden können, lassen sie sich ebenso wie stimmliche Laute zu einem System von festgelegten und kombinierbaren Symbolen weiterentwickeln, zu einer echten diskursiven Sprache. Wenn wir die Rede unseres Gegenübers nicht verstehen, greifen wir immer zu dieser einfacheren Form des Dialogs, um Behauptungen, Fragen, Urteile auszudrücken. Ob eine Geste nun eine sprachliche Bedeutung hat oder nicht, jedenfalls ist sie stets in spontaner Weise expressiv, und das ist sie auch dank ihrer Form: Je nach dem seelischen Zustand der sie ausführenden Person ist sie frei und weit ausholend oder nervös und eng, schnell oder lässig usw. Dieser Aspekt des Selbstausdrucks ist dem Ton der Stimme in der Rede verwandt. Gestikulation als Teil unseres realen Verhaltens ist nicht Kunst. Sie ist schlicht vitale Bewegung. Ein aufgescheuchtes Eichhörnchen, aufrecht sitzend mit der Pfote am Herzen, vollzieht eine Geste, und dazu eine sehr expressive. Dennoch steckt in seinem Verhalten keine Kunst. Es tanzt nicht. Erst wenn die Bewegung, die beim Eichhörnchen eine echte Geste war, als solche vorgestellt wird, so dass sie losgelöst von der momentanen Lage und Gemütsverfassung des Eichhörnchens aufgeführt werden kann, wird sie zu einem künstlerischen Element, einer



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möglichen Tanzgeste. Sie wird dann zu einer freien Symbolform, die sich verwenden lässt, um Ideen des Fühlens, des Bewusstseins oder der Vorahnung mitzuteilen und mit anderen virtuellen Gesten verbunden oder in sie aufgenommen werden kann, um andere körperliche oder geistige Spannungen auszudrücken. Jedes Wesen, das natürliche Gesten macht, ist das Zentrum einer vitalen Kraft, und andere sehen in seinen expressiven Bewegungen Zeichen seines Willens. Virtuelle Gesten sind aber keine Zeichen, sie sind Symbole des Willens. Der spontan gestische Charakter von Tanzbewegungen ist ebenso illusionär, wie die von ihnen ausgedrückte vitale Kraft illusionär ist. Die »Mächte«, d. h. die Zentren vitaler Kraft, sind im Tanz erschaffene Entitäten, erschaffen durch die Scheingeste. Die primäre Illusion des Tanzes ist ein virtuelles Reich der Macht, keiner realen, physisch ausgeübten Macht, sondern der Erscheinung von Einfluss und Tätigkeit, wie sie durch virtuelle Gesten erzeugt wird. Schaut man einem Ensembletanz zu – sagen wir einem künstlerisch gelungenen Ballett – dann sehen wir nicht herum­ rennende Menschen. Wir sehen, wie der Tanz hierhin treibt, dorthin gezogen wird, sich hier sammelt, dort zerstreut, wir sehen ein Fliehen, ein Ausruhen, ein Aufsteigen usw. Alle diese Bewegtheit scheint Mächten zu entspringen, die sich den Aufführenden selbst entziehen.178 In einem Pas de deux scheinen die beiden Tänzer einander zu magnetisieren. Die Beziehung zwischen ihnen ist mehr als eine räumliche, sie ist eine   Man vergleiche Cyril W. Beaumonts Beschreibung einer Probe des Alhambra Balletts: »Der Pianist gibt das Thema der Bewegung wieder […], während die Tänzer eine Formationsentfaltung nach der anderen ausführen und dabei von Nijinska mit dramatischen Gebärden ihrer Arme kontrolliert und geleitet werden. Die Tänzer bilden wirbelnd lange gewundene Linien, verschmelzen zu einer pulsierenden Menge, teilen sich, bilden Kreise, drehen sich und stürzen dann aus dem Blickfeld« (erschienen 1921 in Fanfare, zitiert in ders., A Miscellany for Dancers, London 1934, S. 167). 178

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Relation von Kräften, doch die von ihnen ausgeübten Kräfte, die ebenso physisch zu sein scheinen wie diejenigen, die eine Kompassnadel zum Nordpol ausrichten, sind in Wirklichkeit überhaupt nicht physischer Art. Es sind Tanzkräfte, virtuelle Mächte. Der Prototyp dieser rein scheinbaren Energien ist nicht das »Kraftfeld« der Physiker, sondern die subjektive Erfahrung von Willensäußerung und unbehinderter Wirksamkeit und des Widerstrebens gegen einen fremden, Zwang ausübenden Willen. Das Bewusstsein von Leben, von vitaler Macht, selbst der Macht, Eindrücke zu empfangen, die Umgebung zu begreifen und auf Veränderungen zu reagieren: all das macht unser unmittelbarstes Selbstbewusstsein aus. Das ist das Gefühl von Macht, und das Spiel solcher »gefühlten« Energien unterscheidet sich von jedem System physikalischer Kräfte ebenso, wie sich die psychologische Zeit von der Uhrzeit und der psychologische Raum vom geometrischen unterscheiden. Der höchst populäre Glaubenssatz, jedes Kunstwerk entstehe aus einem Gefühl, das den Künstler aufwühlt und seinen unmittelbaren »Ausdruck« in ihm findet, ist in der Literatur zu jeder einzelnen Kunst anzutreffen. Darum vertiefen sich Wissenschaftler in die Lebensgeschichten berühmter Künstler, um auf diskursivem Wege herauszufinden, welche Gefühle den Künstler bewegt haben, als er dieses oder jenes Werk schuf, um auf diese Weise dessen Botschaft zu »verstehen«.179 Aber es gibt für gewöhnlich einige philosophische Kritiker – von denen manche selbst Künstler sind –, die erkennen, dass das in einem Kunstwerk enthaltene Gefühl etwas ist, was der Künstler sich vorstellt oder ausdenkt, wenn er die symbolische Form schafft, die es darstellen soll, statt dass er es in einem künstlerischen Prozess erleidet und unwillkürlich herauslässt. Ein Wordsworth zum Beispiel sieht in der Dichtung keineswegs ein Symptom für   Margret H’Doubler bekennt: »Wer Kunstwerke begreifen will, kann dies nur auf eine Weise tun. Er muss sich mit den Bedingungen und Ursachen vertraut machen, aus denen sie hervorgegangen sind.« (Dance: A Creative Art Experience, a. a. O., S. 54) 179



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explosive Gefühle, sondern ein Bild von ihnen – »ein in der Seelenruhe erinnertes Gefühl«; ein Riemann erkennt, dass die Musik einem Gefühl gleicht, sein objektives Symbol ist und nicht seine psychische Wirkung;180 und ein Mozart weiß aus Erfahrung, dass Gefühlsaufruhr die künstlerische Auffassung nur stört.181 Einzig in der Tanzliteratur besteht nahezu Einhelligkeit darüber, dass Tanz ein unmittelbarer Selbstausdruck ist. Nicht allein die schwärmerische Isadora Duncan, auch bedeutende Theoretiker wie Merle Armitage und Rudolf von Laban stimmen ebenso wie Gelehrte vom Schlage eines Curt Sachs und zahllose aus der Introspektion urteilende Tänzer der naturalistischen These zu, dass der Tanz eine Freisetzung von überschüssiger Energie oder Gefühlserregung ist. Angesichts so vieler Zeugnisse fühlt man sich natürlich gedrängt, die ganze Theorie der Kunst als symbolischer Form zu überprüfen. Stellt der Tanz eine Ausnahme dar? Nun mag eine gute Theorie Sonderfälle kennen, aber Ausnahmen sollte sie nicht kennen. Bricht damit die gesamte philosophische Theorie zusammen? »Funktioniert« sie im Fall des Tanzes schlicht nicht und wird dadurch eine grundlegende Schwäche offenbar, die in anderen Zusammenhängen verborgen geblieben ist? Niemand würde doch so kühn sein und behaupten, alle Kenner eines Faches irrten sich! Nun gibt es jedoch einen eigenartigen Umstand, der uns den Weg aus diesem Dilemma weist: Alle wirklich großen Kenner – Choreographen, Tänzer, Ästhetiker und Historiker – bekräftigen zwar ausdrücklich die These vom Gefühlssymptom, widersprechen ihr aber stillschweigend, wenn sie über einen   Riemanns Auffassung findet sich zitiert in Philosophie auf neuem Wege, S. 239, Fn. 60. 181  In einem Brief an seinen Vater vom 9. Juni 1781 schreibt Mozart: »Und ich, der ich nun immer zu komponieren habe, brauche einen heitern Kopf und ruhiges Gemüt.« (Mozart, Briefe, a. a. O., S. 176) Und zu einer anderen Gelegenheit (27. Juli 1782): »Mein Herz ist unruhig, mein Kopf verwirrt, wie kann man da was Gescheites denken und arbeiten?« (Ebd., S. 219) 180

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bestimmten Tanz oder einen spezifischen Vorgang sprechen. Soweit ich weiß, hat noch niemand behauptet, Pawlowas Darstellung des langsam schwindenden Lebens im »Sterbenden Schwan« sei dann am gelungensten gewesen, wenn sie sich tatsächlich schwach und krank gefühlt hat. Auch hat noch niemand vorgeschlagen, Mary Wigman dadurch in die richtige Stimmung für ihre tragischen »Abendtänze« zu versetzen, dass man ihr, ein paar Minuten bevor sie die Bühne betritt, eine schreckliche Nachricht mitteilt. Ein guter Ballettmeister mag einer Ballerina, die Bestürzung bekunden soll, sagen: »Stell dir vor, dein Geliebter ist gerade mit deiner besten Freundin durchgebrannt!« Aber er würde niemals im Ernst sagen: »Dein Geliebter hat mich gebeten, dir sein Lebwohl mitzuteilen, er will dich nicht mehr sehen.« Oder er könnte einer Sylphide bei der Probe zu einem »Freudentanz« vorschlagen, sich einen Urlaub unter Palmen und Orangenhainen vorzustellen, aber er wird sie vermutlich nicht an eine aufregende Verabredung nach der Probe erinnern, dann das könnte sie vom Tanzen ablenken, vielleicht sogar falsche Bewegungen auslösen. Was den Tanz bestimmt, ist ein imaginiertes Gefühl, keine realen Gefühlszustände. Überfliegt man all die Theorien über spontane Gefühle, mit denen nahezu jedes moderne Buch über den Tanz beginnt, stößt man sehr schnell darauf, worauf sich diese These stützt. Die Tanzgeste ist keine reale Geste, sie ist virtuell. Die Bewegung des Körpers ist selbstverständlich höchst real, doch das, was sie zu einer gefühlsgeladenen Geste macht, d. h. ihr spontaner Ursprung in einer, wie Laban sagt, »Gemüts- und Verstandesbewegung«, ist illusionär.182 Die Bewegung ist daher   Rudolf von Laban, der unauf hörlich betont, dass die Geste dem realen Gefühl entspringt (vgl. Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenrei­ gen, Stuttgart 1922, insbes. S. 14), erkennt gleichwohl, dass der Tanz in der Vorstellung eines Gefühls gründet, einem Erfassen von Freude oder Trauer und ihren expressiven Formen: »Blitzartig wird die Erkenntnis plastisch. Aus einem Punkt, plötzlich keimt die Trauer, die Freude im Menschen auf. Einfall ist alles. Alle Dinge entwickeln sich aus der einheitlichen Gebärdenkraft, alle Dinge lösen sich in ihr auf.« (S. 80) 182



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nur innerhalb des Tanzes »Geste«. Sie ist reale Bewegung, aber virtueller Selbstausdruck. Hierin ist meiner Meinung nach die Quelle jenes merkwürdigen Widerspruchs zu suchen, der die Theorie der Tanzkunst verfolgt: das Ideal eines Verhaltens, das zugleich spontan und geplant sein soll, einer Tätigkeit, die der persönlichen Leidenschaft entspringt und die doch irgendwie die Form eines vollendeten künstlerischen Werks haben soll, spontan, emotional und doch auf Aufforderung wiederholbar. Merle Armitage schreibt beispielsweise: »Der moderne Tanz ist ein Standpunkt und kein System. […] Diesem Standpunkt liegt das Prinzip zugrunde, dass eine emotionale Erfahrung sich unmittelbar durch Bewegung auszudrücken vermag. Und da die emotionale Erfahrung von Individuum zu Individuum verschieden ist, wird auch der äußere Ausdruck verschieden sein. Wenn aber der moderne Tanz als Kunstform eine Zukunft haben möchte, muss sein Aus­ gangspunkt die vollendete und angemessene Form sein.«183 Wie es möglich ist, dass die Form den Ausgangspunkt für eine unmittelbare emotionale Reaktion sein kann, bleibt sein Geheimnis. George Borodin definiert das Ballett als »spontanen Gefühlsausdruck mithilfe der verfeinerten, auf die höchste Ebene gehobenen Bewegung«184 . Was sie erhebt und warum dies geschieht, erklärt er allerdings nicht. Am bemerkenswertesten ist diese Antinomie in der hervorragenden Arbeit von Curt Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, zu beobachten, denn der Verfasser begreift wie nur wenige Theoretiker neben ihm das Wesen der Tanzillusion – die Illusion von Mächten, ob menschlichen, dämonischen oder unpersönlich magischen – in einer nicht physischen, wohl aber symbolisch überzeugenden »Welt«. Tatsächlich bezeichnet er das Tanzen als »lebendige Nachbildung erschauter und erahnter Welt«185 . Wendet er sich jedoch den Ursprüngen des Tanzes zu, dann   Armitage u. Stewart, Modern Dance, a. a. O., S. vi.  Borodin, This Thing Called Ballet, a. a. O., S. xvi. 185 Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, a. a. O., S. 1. 183

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räumt er ohne Zögern ein, dass das Balzverhalten der Vögel, die »Kreiselspiele« und vage rhythmischen Gruppenpossen der Affen – von denen Wolfgang Köhler berichtet, hinsichtlich deren Deutung er sich aber sehr bedeckt hält – echte Tänze darstellten, und nachdem er sich so leicht zu dieser Prämisse hat hinführen lassen, geht er nicht weniger leicht zu dem Schluss über: »Der Tanz der Tiere, namentlich der Menschenaffen, beweist, daß der menschliche Tanz in seinen Anfängen eine lustbetonte motorische Reaktion, ein zu rhythmischer Ordnung drängendes Spiel überschüssiger Kräfte ist.«186 Selbstverständlich ist der »Beweis« überhaupt kein Beweis, sondern eine bloße Vermutung, bestenfalls ist sie eine Bestätigung des in Philosophie in neuer Tonart erörterten allgemeinen philosophischen Prinzips, dass die ersten Bestandteile der Kunst sich für gewöhnlich aus den zufällig in der kulturellen Umwelt vorgefundenen Formen ergeben, welche die Vorstellungskraft als brauchbare künstlerische Elemente anregen.187 Die ausgelassenen Bewegungen, die bei Affen rein beiläufig sind, die instinktgeleiteten, aber dennoch äußerst artikulierten und charakteristischen Schaugesten der Vögel sind ganz offensichtlich Vorbild für die Kunst des Tänzers, ebenso wie es die ausgestalteten und anerkannten »richtigen« Haltungen und Gesten vieler praktischer Fertigkeiten – Schießen, Speerwerfen, Ringen, Paddeln, Lassowerfen – und von Spielen und Sportarten sind. Sachs ist sich der Verbindung solcher Phänomene und echter Kunstformen bewusst, scheint aber die Tragweite des Schritts vom einen zum anderen nicht zu erkennen – oder gibt sie jedenfalls nicht zu erkennen. Wie John Dewey schreibt er die ernsthafte Ausführung dieser Spielgesten als Tanz dem Wunsch nach einem ernsten Zweck, einer Rechtfertigung für die Aufwendung von Energie und Geschicklichkeit zu.188 ­Deweys Erklärung bin ich bereits andernorts entgegengetreten,   Ebd., S. 38.  Vgl. Philosophie auf neuem Wege, Kap. 9, vor allem S. 243. 188  Dewey, Erfahrung und Natur, a. a. O. 186 187



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und ich möchte mich hier nicht wiederholen.189 Es mag daher der Hinweis genügen, dass eine charakteristische Geste, sobald sie markant jemandem gegenüber ausgeführt wird, der nicht vollständig in ihren praktischen Zweck vertieft ist – zum Beispiel spielerische Gesten und zweckfreie Körperübungen –, zu einer gestischen Form wird und wie alle anderen artikulierten Formen dazu neigt, symbolische Funktionen anzunehmen. Ein nach Symbolen suchender Geist (anders als ein zweckbestimmter, praktischer Geist) wird sie sich zu eigen machen. Es gibt zwei Gründe, warum der Glaube so weit verbreitet, wenn nicht allgegenwärtig ist, Tanzgesten seien wesentlich Selbstausdruck: Erstens ist jede vom Tänzer aufgeführte Bewegung eine »Geste« in zwei verschiedenen Bedeutungen, die systematisch verwechselt werden, und zweitens spielt Gefühl in die verschiedenen Arten von Gesten unterschiedlich hinein, und seine verschiedenen Funktionen werden nicht auseinandergehalten. Nun sind die Beziehungen zwischen realen und virtuellen Gesten tatsächlich sehr komplex, doch ein wenig geduldige Analysearbeit kann uns hier Klarheit verschaffen. Im Wörterbuch findet sich für »Geste« die Definition »Ausdrucksbewegung«. Nun hat »Ausdruck« zwei alternative Bedeutungen – von Nebenbedeutung ganz zu schweigen: Entweder ist er »Selbstausdruck«, d. h. symptomatisch für vorliegende subjektive Zustände, oder »logischer Ausdruck«, d. h. symbolisch für einen Begriff, der sich auf tatsächlich gegebene Zustände bezieht oder auch nicht. Ein Zeichen vertritt oft beide Möglichkeiten, es kann für ein Symptom oder ein Symbol stehen. Für gesprochene Worte ist es ganz normal, in beiden Hinsichten »expressiv« zu sein. Sie vermitteln, was der Sprecher denkt, und sie verraten auch, dass er die fraglichen Vorstellungen vertritt (oder dass es manchmal gerade nicht der Fall ist), und in gewissem Maße legen sie seinen sonstigen seelisch-körperlichen Zustand offen. Das gleiche gilt von einer Geste: Sie ist entweder selbstexpressiv oder logisch expressiv bzw. beides. Sie kann Forderungen 189

 Vgl. Philosophie auf neuem Wege, S. 158 ff.

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und Absichten anzeigen, wenn Menschen beispielsweise einander Zeichen geben, oder sie kann konventionelle Symbole übermitteln, wie es in der Gehörlosensprache geschieht, zugleich aber verweist die Art und Weise, mit der eine Geste ausgeführt wird, normalerweise auf die Geistesverfassung des Ausführenden. Sie ist nervös oder ruhig, heftig oder sanft usw. Auch kann sie reiner Selbstausdruck sein, so wie die Rede reiner Ausruf zu sein vermag. Die Sprache ist primär symbolisch und nur nebenher manchmal symptomatisch; ein Ausruf kommt verhältnismäßig selten vor. Anders die Geste: Sie ist als Mittel des Selbstausdrucks sehr viel wichtiger denn als »Wort«. Ein expressives Wort formuliert eine Idee klar und treffend, doch eine hochexpressive Geste wird normalerweise als eine aufgefasst, die ein Gefühl oder eine Emotion offenbart. Sie ist eine spontane Bewegung. Im Tanz verbinden sich die realen und virtuellen Aspekte von Gesten auf vielfältige Weise. Die Bewegungen sind natürlich real. Sie entspringen einer Intention und sind in diesem Sinn reale Gesten. Doch sind sie nicht die Gesten, die sie zu sein scheinen, denn sie scheinen dem Gefühl zu entspringen, was sie aber tatsächlich nicht tun. Die realen Gesten des Tänzers werden dazu verwandt, den Schein des Selbstausdrucks zu erzeugen, und dadurch in virtuelle spontane Bewegung oder virtuelle Gesten verwandelt. Die Emotion, mit der die Geste beginnt, ist eine virtuelle, ist ein Tanzelement, das die ganze Bewegung zu einer Tanzgeste macht. Wodurch aber wird die Aufführung der realen Bewegung gesteuert? Durch ein reales Körpergefühl, ähnlich demjenigen, das die Erzeugung von Tönen bei einer Musikaufführung steuert – durch die schließliche Artikulation eines vorgestellten Gefühls in der ihm angemessenen körperlichen Form. Die Vorstellung eines Gefühls versetzt den Körper des Tänzers in die Lage, es zu symbolisieren. Die virtuelle Geste kann den Schein eines Selbstausdrucks schaffen, ohne ihn in der realen Persönlichkeit zu verankern, die als Ursprung der realen (nicht-spontanen) Gesten im Tanz



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ebenso verschwindet wie diese. An ihre Stelle tritt die geschaffene Persönlichkeit, ein Tanzelement, das einfach als ein psychisches, menschliches oder übermenschliches Wesen in Erscheinung tritt. Und dieses ist es, das sich ausdrückt. Im sogenannten »modernen Tanz« scheint der Tänzer seine eigenen Emotionen darzustellen, der Tanz erscheint mithin als ein Selbstporträt des Künstlers. Die geschaffene Persönlichkeit erhält seinen eigenen Namen. Doch ein Selbstporträt zu erstellen ist nur ein Motiv, und obwohl es bei den heutigen Solotänzern äußerst beliebt und zum Fundament einer ganzen Schule geworden ist, ist es für »kreatives Tanzen« nicht unverzicht­ barer als jedes andere Motiv. Ein nicht weniger großartiger Tanz kommt auch durch andere Mittel zustande, beispielsweise dadurch, dass die notwendige Verbindung der Bewegungen nachgebildet wird, also die mechanische Einheit der Funktionen, wie es in Petruschka geschieht, oder dadurch, dass der Schein fremder Kontrolle erweckt wird und das Motiv der »Marionette« mit all seinen Varianten und Ableitungen verwandt wird. Dieses letztgenannte Mittel kann zumindest auf eine ebenso große Karriere verweisen wie der Schein persönlicher Gefühle, das Leitprinzip des sogenannten »modernen Tanzes«. Das Auftreten der Bewegung als Geste erfordert nur ihr (scheinbares) Hervorgehen aus einem Zentrum lebendiger Kraft. Seltsamerweise verstärkt ein »zum Leben erweckter« Mechanismus diesen Eindruck noch, möglicherweise aufgrund des dargestellten inneren Kontrastes. Ähnlich ist die mystische Kraft, die durch Fernkontrolle wirkt und ihre eigenen Außenposten in die Körper der Tänzer legt, eine noch wirkungsvollere sichtbare Macht als die naturalistische Erscheinung des Selbstausdrucks auf der Bühne. Virtuelle Elemente und reale Materien auseinanderzuhalten ist nicht leicht für jemanden, der keine philosophische Ausbildung genossen hat. Am schwersten ist es aber vielleicht für Künstler, für die die geschaffene Welt unmittelbarer wirklich und wichtiger ist als die faktische. Es bedarf gedanklicher Schärfe, um ein vorgestelltes Gefühl oder eine genau erfasste,

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mittels eines wahrnehmbaren Symbols formulierte Emotion nicht mit einem Gefühl oder einer Emotion zu verwechseln, die als Reaktion auf reale Ereignisse tatsächlich erfahren wird. Schon allein der Gedanke, dass Gefühle und Emotionen nicht wirklich empfunden, sondern nur vorgestellt werden, ist den meisten Menschen fremd. Gleichwohl gibt es solche imaginierten Affekte, ja es gibt sogar verschiedene Arten: solche, von denen wir uns vorstellen, sie seien unsere eigenen, solche, die wir realen Personen auf der Schauspiel- oder Tanzbühne beilegen, solche, die fiktiven Charakteren in der schönen Literatur zugeschrieben werden oder die in Bildern und Skulpturen dargestellte Geschöpfe zu charakterisieren scheinen und die daher wesentlicher Bestandteil einer illusionären Szene oder eines illusionären Selbst sind. Und alle diese emotionalen Inhalte unterscheiden sich von den Gefühlen, Stimmungen oder Emotionen, die im Kunstwerk als solchem zum Ausdruck kommen und seine »vitale Bedeutsamkeit« bilden. Die Bedeutsamkeit eines Symbols ist ja nicht etwas Illusionäres, sondern etwas Reales, das durch das Symbol enthüllt, artikuliert und greif bar wird. Alles Illusionäre und jeder vorgestellte Faktor (etwa ein Gefühl, von dem wir uns vorstellen, es zu haben), der zur Illusion beiträgt, gehört der symbolischen Form an; das Gefühl des ganzen Werkes ist die »Bedeutung« des Symbols, die Realität, welche der Künstler in der Welt vorgefunden hat und von der er seinen Mitmenschen eine klare Vorstellung vermitteln möchte. Vorgestellte Gefühle, scheinhafte Gefühlssymptome und Schilderungen empfindender Subjekte sind als Bestandteile der Kunst schon lange anerkannt. Vor mehr als fünfzig Jahren hat Konrad Lange solche Gefühlselemente als Scheingefühle* bezeichnet.190 Unter diese Rubrik subsumiert er all die   Vgl. sein 1901 erschienenes Buch Das Wesen der Kunst. Grund­ züge einer illusionistischen Kunstlehre, 2 Bde., Berlin 1901. In der Abhandlung »Die Musik im Lichte der Illusions-Ästhetik« (Die Musik, II, 10 (1903), S. 243–252) hat sein Zeitgenosse Josef Sittard dieses Buch eingehend besprochen. Sittard streift kurz die Illusion von Objekten 190



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verschiedenen Arten von Gefühlen – vorgestellte, simulierte, abgebildete –, die in ein Kunstwerk eingehen, und interpretiert die Reaktion des Rezipienten als einen Prozess des »Vorgebens«, d. h. der spielerischen Behandlung des Werkes als eine Wirklichkeit, bei der man so tut, als erlebe man die darin dargestellten oder angedeuteten Gefühle. Im Rahmen von Langes genetischen und utilitaristischen Prämissen verbot sich natürlich der Gedanke, durch ein künstlerisches Symbol werde ein Gefühl unserem Intellekt präsentiert. Von seinem Standpunkt aus kann ein Werk nur eine »Botschaft« haben, seinen thematischen Inhalt, also das, was es repräsentiert, und da das einzige erkenntnistheoretische Problem die Klärung von Überzeugun­ gen im Sinne einer alltagspraktischen Begrifflichkeit ist, besteht nur eine Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit, nämlich die von Sinnesdatum und wissenschaftlicher Tatsache. Da das Bild eines Pferdes ganz offensichtlich kein Pferd ist, auf dem man reiten kann, und ein Stillleben mit Äpfeln nichts Essbares, erklärt Überzeugung nicht, warum man sich für Malerei und Fiktionen interessiert. Als Erklärung kommt dann nur die Psychologie des »Vorgebens« in Frage oder ein Spiel, bei dem das Wissen, dass die »Überzeugung« eine Vortäuschung ist, es ermöglicht, sich auf diese Weise selbst an traurigen Szenen und in sich abstoßenden Objekten zu erfreuen, wie Kunstliebhaber es offenbar tun. Welche Fortschritte das erkenntnistheoretische Denken im 20. Jahrhundert gemacht hat, wird uns schlagend durch den Unterschied zwischen Langes naiver Behandlung des Gefühlsinhalts in der Kunst und Baenschs Analyse in seinem Aufsatz »Kunst und Gefühl« vorgeführt, von dem im 2. Kapitel ausund Ereignissen, verweilt aber bei dem Begriff der Scheingefühle. »Die Gefühls-Illusion bildet den eigentlichen Kern der Illusions-Ästhetik« (ebd., S. 244). Nachdem er den Unterschied zwischen realen und vorgestellten Gefühlen deutlich gemacht hat, bemerkt er: »Darin besteht ja überhaupt die Grösse eines Künstlers, dass er sich in jedes Gefühl versetzen kann, auch in ein solches, das ihn nicht erfüllt« (ebd., S. 246).

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führlich die Rede war.191 Seltsamerweise entgeht Lange der Unterschied zwischen erlebten Gefühlen und wahrgenommenen Gefühlen – beide Arten klassifiziert er mit unterschiedlichen Graden der Ernsthaftigkeit als »erfahren«, während Baensch der Unterschied zwischen einem Gefühls selbst, das ein reales biologisches Ereignis ist, und seinem Begriff entgeht, der ein Verstandesobjekt oder die Bedeutung eines Symbols ist. Daher sieht er sich mit dem Paradox konfrontiert, dass es reale vorliegende Gefühle gibt, die niemand erleidet. Die daraus folgenden philosophischen Donquixoterien und ihre Auflösung, für die Kunstformen als Symbole und nicht als Realitäten betrachtet werden müssen, sind bereits erörtert worden und müssen hier nicht wiederholt werden. Der springende Punkt ist der, dass die grundlegende Abstraktion im Tanz selbst ein Scheingefühl* enthält. Die reale Geste entspringt dem (physischen oder psycho-physischen) Gefühl. Doch ist das Gefühl selbst, das in solch einer scheinbar spontanen »Geste« enthalten ist, ein geschaffenes Tanzelement – ein Scheingefühl* –, das nicht einmal dem Tänzer zugeschrieben werden muss, sondern auch irgendeiner natürlichen oder übernatürlichen Macht beigelegt werden kann, die sich durch ihn ausdrückt. Wir können uns durchaus vorstellen, dass der bewusste Wille, der ihn zu motivieren oder anzuregen scheint, außerhalb seiner Person liegt, die dafür bloß die Antenne oder auch nur die momentane Verdichtung ist – Laban nennt dies »Ballung von Tanzenergien«. Warum es fast durchgängig zu einer Verwechslung von Selbstausdruck und Tanzausdruck, von persönlicher Emotion und tänzerischer Emotion kommt, ist nicht schwer zu verstehen, wenn man betrachtet, in welchen Beziehungen der Tanz tatsächlich zum Gefühl und seinen körperlichen Symptomen steht. Überdies trägt nicht nur durch die verbreitete Auffassung der Kunst als emotionale Katharsis zu ihr bei, sondern sie wird noch verstärkt durch eine andere, ebenso ernstzunehmende und hochangesehene Glaubenslehre (die ich in vielen Punkten 191

  Vgl. S. 190 ff.



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für unhaltbar halte, auch wenn es die von Croce und Bergson vertretene Theorie ist), nämlich dass ein Künstler uns Einblick in die Wirklichkeit gewährt, dass er zum Wesen der einzelnen Dinge vordringt und uns den einzigartigen Charakter solcher gänzlich individuellen Gegenstände oder Personen zeigt. Im sogenannten »Modernen Tanz« ist das übliche Motiv eine Person, die ihre Gefühle ausdrückt. Die absolut individuelle Essenz, die auf diese Weise enthüllt würde, wäre dann eine menschliche Seele. Die traditionelle Lehre von der Seele als einer echten Substanz, die ganz und gar einzigartig oder individuell ist, kommt dieser Kunsttheorie auf mehr als halbem Wege entgegen, und wenn die Personen, deren Freuden und Leiden der Tanz darstellt, keine anderen als die Tänzer selbst sind, dann ist die Verwechslung von gezeigtem und dargestelltem Gefühl, von Symptom und Symbol, Motiv und geschaffenem Bild nahezu unentrinnbar. Die Anerkennung einer echten künstlerischen Illusion, eines Reichs von »Mächten«, in dem rein erfundene Wesen, von denen die vitale Kraft ausgeht, durch ihre magnetartigen, psychophysischen Handlungen eine ganze Welt dynamischer Formen gestalten, befreit den Begriff des Tanzes von all seinen theoretischen Verwicklungen mit Musik, Malerei, Komödie, Karneval oder ernsthaftem Theater und erlaubt uns danach zu fragen, was zum Tanz gehört und was nicht. Zudem bestimmt sie exakt, wie andere Künste historisch mit der Tanzkunst verbunden sind, und erklärt, warum diese so alt ist, warum sie Zeiten des Niedergangs erlebt hat, warum sie zum einen so eng mit Amüsement, Maskerade, Frivolität verbunden ist und zum anderen mit Religion, Schrecken, Mystizismus und Wahnsinn. Vor allem aber wird durch sie die Einsicht hoch gehalten, dass der Tanz, wie unterschiedlich seine historischen Phasen auch waren und wie vielfältig, bisweilen wenig würdevoll er eingesetzt wurde, unbestreitbar und wesentlich zur Kunst gehört, und dass er im Kult wie im Spiel die Funktionen der Kunst erfüllt. Nähert man sich der Literatur zum Tanz im Lichte dieser Theorie, findet man sie allerorten bestätigt, auch dort, wo ex-

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plizit eine ganz andere Auffassung von Tanz vertreten wird. Implizit stoßen wir immer auf die Anerkennung geschaffener Tanzkräfte, unpersönlicher Handlungssubjekte und vor allem kontrollierter, rhythmisierter, formal konzipierter Gesten, die die Illusion erzeugen, hier würden verschiedene Gefühle und Willen miteinander streiten. Autoren, die ihre Einleitungen und Eröffnungsabschnitte mit Behauptungen füllen, die sie auf eine tägliche Portion Emotionen, mit der man einen normalen Menschen umbringen könnte, und auf deren Zurschaustellung auf Abruf festlegen, sprechen nicht über spezifische Emotionen und Gefühle, wenn sie sich auf Diskussionen über spezielle Tanzprobleme einlassen, sondern sie ausnahmslos darüber, wie Spannungen aufgebaut, Kräfte dargestellt und Gesten geschaffen werden, die Gefühle oder sogar Gedanken konnotieren. Die tatsächlich dahinterliegenden Gedanken, Erinnerungen und Empfindungen sind rein persönliche Symbole, die für die künstlerische Auffassung von Nutzen sein können, aber nicht in Erscheinung treten. Mary Wigman hat es einmal so formuliert: »Wie die Tanzerfahrung sich dem Individuum mitteilt, mag sein Geheimnis bleiben. Nur die künstlerische Leistung ist das einzig gültige Zeugnis.«192 Eben diese Leistung hat Artur Michel im vollen Bewusstsein der dahinter stehenden leidenschaftlichen Persönlichkeit rein im Hinblick auf Tanzkräfte, virtuelle Spannungen, virtuelle Energiezentren oder »Energiepole« beschrieben: »Den Menschen als Spannung im Raum zu erkennen, das heißt die Auflösung des Tänzers in schwingende, Spannung freisetzende Bewegung, war der Gedanke, die Aufgabe und das Ziel von Mary Wigman. Niemandem, der nicht so großartig und dämonisch besessen ist, so zwischen Himmel und Hölle ausgespannt, wie Mary Wigman es ist, hätte es je gelingen können, in sich selbst die menschliche Existenz als Spannung tänzerisch zu verkörpern. Vielleicht konnte nur so jemand auf den Gedanken verfallen,   Mary Wigman, The New German Dance, in: Armitage u. Stewart, Modern Dance, a. a. O., S. 19–24, hier 22. 192



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dass kreatives Tanzen das Pendeln eines Menschen zwischen zwei äußeren Spannungspolen ist, und so den tanzenden Körper aus der sinnlichen Seinssphäre des Materialismus und dem realen Raum in die symbolische Übersphäre des Spannungsraum versetzen.«193 »Wenn sie tanzt, scheinen ihr Rumpf und ihre Glieder von einer Naturkraft beherrscht zu sein, die nach geheimnisvollen Gesetzen wirkt.«194 »Mary Wigmans tänzerische Kreativität verlangte immer drängender danach, dass die Polarität der Raumspannung neben ihrer Bekundung durch einen einzelnen Tänzer durch einen zweiten Tänzer oder eine Gruppe sichtbar gemacht wurde.«195 »Die Tanzgruppe ist eine Persönlichkeit, ein stöhnendes, leidendes, Geschöpf, ergriffen von einer Tanzspannung, die es treibt, mit einem sichtbaren (oder unsichtbaren) Partner zu kämpfen. Im Gegensatz dazu ist der Chor eine tanzende Menge. Seine Bewegungen bringen nicht zum Ausdruck, was er persönlich fühlt. Er bewegt sich nach unpersönlichen Gesetzen. Man könnte ihn mit einem architektonischen Werk vergleichen, das lebendig wird, sich selbst von einer Gestalt in eine andere verwandelt […], er ist eine raumgestaltende Schöpfung und Neuschöpfung dieser Form von Körperspannung […], eine Architektur, die in ihrem unauf hörlichen Wandel eine spirituelle Atmosphäre erzeugt.«196 Nun ist die Gruppenpersönlichkeit sicherlich kein reales Geschöpf, das irgendwelchen Angriffen ausgesetzt ist, und ebenso wenig bilden die Tänzer des Chors tatsächlich eine untermenschliche organische Masse. Bei allen diesen Entitäten handelt es sich um Tanzelemente, die sich durch das Zusammenspiel virtueller Kräfte der »Raumspannungen« und »Körperspannungen« oder, noch weniger spezifisch, »Tanzspannun  Artur Michel, The Development of the New German Dance, in: a. a. O., S. 3–17, hier 5. 194  Ebd., S. 6. 195  Ebd.. S. 7. 196  Ebd. S. 9. 193

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gen« ergeben, die durch Musik, Licht, Bühnenbild, poetische Andeutung und einiges mehr geschaffen werden. Die Schriften der selbst nachdenklichsten Tänzer lassen sich oft nur mit Mühe lesen, weil sie die Grenze zwischen physischer Tatsache und künstlerischem Sinngehalt so spielerisch überqueren. Die vollständige Identifizierung von Tatsache, Symbol und Bedeutsamkeit, die jedem buchstäblichen Glauben an den Mythos zugrunde liegt,197 belastet auch das diskursive Denken der Künstler, und das in einem Ausmaß, dass ihre philosophischen Überlegungen vielfach im gleichen Maße ergiebig wie verwirrt sind. Dem sorgfältigen Leser, der über eine gute Portion gesunden Menschenverstands verfügt, werden sie unsinnig vorkommen, einem philosophisch gebildeten Menschen erscheinen sie so lange abwechselnd gesucht oder mystisch, bis er entdeckt, dass sie mythisch sind. Rudolf von Laban ist dafür ein hervorragendes Beispiel: Seine Gedanken dazu, was im Tanz eigentlich geschaffen wird, sind sehr klar, doch wenn es um die Beziehung der geschaffenen »Spannungen« zur Physik der realen Welt geht, verfällt er in eine mystische Metaphysik, die bestenfalls phantasievoll und schlimmstenfalls schwärmerisch und sentimental ist.198 Der Hauptgrund für diese nutzlosen Spekulationen liegt in der mangelnden Unterscheidung zwischen dem, was beim Hervorbringen eines Symbols real und was davon virtuell ist, und zwischen dem »virtuellen« Symbol selbst und seiner Bedeutsamkeit, die uns an die Realität zurückverweist. Dieses Ineinanderschieben von Symbol und Bedeutung, Wort und Welt, zu einer metaphysischen Einheit ist genau das, was Cassirer als »das mythische Bewusstsein« bezeichnet hat, und dieses ist strukturell mit dem künstlerischen Bewusstsein identisch. Es ist fast von Anfang bis Ende metaphorisch. Wenn wir uns jedoch daran erinnern, dass Labans Behauptungen zu Emotionen sich auf Körpergefühle beziehen, auf physische Gefühle, die der Idee 197

 Vgl. Neue Tonart, Kap. 6.   Vgl. Laban, Die Welt des Tänzers, a. a. O., passim.

198



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einer Emotion entspringen und symbolische, eben diese Idee artikulierende Gesten auslösen, und dass seine »emotionalen Kräfte« der Schein physischer oder magischer Kräfte sind, dann lässt sich seine irreführende physische Erklärung der Welt und ihrer Energien in eine Beschreibung des illusionären Reichs von »Mächten« überführen, und dann leuchten alle seine Analysen ein.199 Vor allem seine Behandlung von Gegenständen als komplexen Gebilden aus sich überschneidenden Kräften im Tanzraum 200 ist eine kühne logische Konstruktion, denn sie lässt uns die gesamte Welt des Tanzes als ein Feld virtueller Kräfte verstehen – nichts in ihr ist noch real, es gibt kein Material, das nicht verwandelt worden wäre, sondern nur noch Elemente, lebende Wesen, Kraftzentren und ihr Zusammenspiel. Der wichtigste Ertrag, den wir durch die Erkenntnis der primären Illusion des Tanzes und der grundlegenden Abstraktion – virtuelle spontane Geste – gewinnen, die die Tanzillusion erzeugt, erfüllt und ordnet, besteht darin, dass sie ein neues Licht auf den Rang, die Verwendungen und die Geschichte des Tanzes wirft. Alle möglichen Arten von rätselhaften Tanzfor  Vgl. ebd., Zweiter Reigen, in dem eine pseudo-wissenschaftliche Erörterung der physischen Natur mit dem Absatz endet: »Die Spannungen, die uns erscheinen, plötzlich, überall, im Stillstand, im Aufblitzen des Fallens, des Schwingens, sind die Funken, die Glieder einer großen, unsichtbaren, für uns wohl schrecklichen Welt, von der wir wenig ahnen.« (S. 74) 200  Laban beschreibt Spannung als »ein zusammenklingendes Sichwahrnehmen, Sichfühlen, Sichbetasten, Sicherleben aller unendlichen Wandelformen und Wandelmöglichkeiten der Welt untereinander.« Nach dieser heroischen Anstrengung, eine kosmische Definition zu liefern, fährt er fort: »Aus diesem Allgeschehen entsprießt dann ein sinnlich Wahrnehmbares, eine Seinsform, die ich in diesem Werk Ballung nenne. Diese Ballung entsteht, dauert, vergeht und zeugt durch dieses Spannungsspiel das Empfinden Zeit – Raum – Kraft oder Ähnliches. […] Eine Ballung aus der besonders gearteten Zusammenschwungsform der einheitlichen Unendlichkeit entstanden, wird von einem unserer Organe, dem Auge, deutlich und grob gespiegelt. Deutlich im Sinne von ›deutbar‹. Unsere Erfahrung deutet die Erscheinung als eine raumbeanspruchende Ballung, ein Ding.« (Ebd., S. 6) 199

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men, Praktiken, Ursprüngen, Verbindungen mit anderen Künsten und Beziehungen zu Religion und Magie werden in dem Augenblick verständlich, wo wir den Tanz weder als plastische Kunst noch als Musik und auch nicht als Darstellung einer Geschichte begreifen, sondern in ihm ein sichtbar gemachtes Spiel von Mächten sehen. Von diesem Standpunkt aus verstehen wir den ekstatischen Tanz, den Tiertanz, den sentimentalen Walzer und das klassische Ballett, die Maske, die Pantomime und den orgiastischen Karneval ebenso wie den feierlichen Begräbnisreigen oder den tragischen Tanz eines griechischen Chores. Nichts bestätigt die Theorie der künstlerischen Illusion und des künstlerischen Ausdrucks so überzeugend wie eine gründliche Geschichte des Tanzens, die im Lichte dieser Theorie neu gedeutet wird. Daher werden im nächsten Kapitel zumindest ein paar bedeutsame Tatsachen aus Geschichte und Gegenwart vorgelegt, um die Auffassung vom Tanz als einer vollkommenen und eigenständigen Kunst, einer Schöpfung und Anordnung eines Reichs virtueller Mächte zu begründen.

12. Kapitel Der magische Kreis Kräfte, die nicht wissenschaftlich fundiert und messbar sind, müssen vom philosophischen Standpunkt allesamt als unwirklich betrachtet werden. Wenn solche Kräfte Teil unserer unmittelbaren Erfahrung zu sein scheinen, sind sie »virtuell«, d. h. sie sind ein nicht-realer Schein. Das gilt für chthonische Mächte, göttliche Mächte, Schicksale und Zauber wie auch für alle mystischen Gewalten, für die Macht des Gebets, des Willens, der Liebe und des Hasses und ebenso für die oft unterstellte hypnotische Macht, die ein Geist über einen anderen ausübt (womit ich nicht das Phänomen des Hypnotisierens einer Person bezweifeln möchte, sondern nur die Vorstellung einer psychischen »Kraft«, die von einem »überlegenen Geist« ausgeht). Die Annahme geheimnisvoller »Mächte« oder Kraftkonzentrationen, die nicht theoretisch-mathematischen Termen zu berechnen sind, beherrscht jede vorwissenschaftliche Vorstellungskraft. Das Weltbild eines naiven Menschen entspringt auf natürliche Weise dem Muster subjektiven Handelns und Leidens. Ebenso wie die geistige Vorstellung räumlicher Beziehungen von dem ausgeht, was Poincaré unsere »natürliche Geometrie«201 nennt, beginnt das Verständnis dynamischer Beziehungen mit unserer Erfahrung von Anstrengung und Hindernis, Streit und Sieg oder Niederlage. Die Auffassung von »Mächten«, die Trieben gleich in der Natur wirken, und von Kräften, die den Dingen auf die gleiche Weise innewohnen, wie Kraft als etwas im Körper empfunden wird, drängt sich auf. Dennoch ist sie ein Mythos, der auf dem ursprünglichsten Symbol auf baut – dem Körper. (Wie ja auch ein Großteil unserer deskriptiven Sprache auf dem Symbolismus von Kopf und Fuß, 201

  Siehe oben Kap. 6, S. 193.

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Bein und Arm, Mund, Hals, Rücken, Rumpf usw. beruht: der »Fuß« eines Berges, die »Flanke« eines Gebirges, der »Schenkel« eines Dreiecks, der »Flaschenhals«, die »Landzunge« usw. Diese Vorstellung der Welt als eines Reichs einzelner lebendiger Kräfte, von denen eine jede ein Wesen mit Wünschen und Zwecken ist, die es mit anderen teleologisch ausgerichteten Mächten in Konflikt bringen, ist der eigentliche Schlüsselgedanke jeder mythischen Deutung: Der Gedanke der Geisterwelt. In seinen umfangreichen Schriften zur Entwicklung der symbolischen Formen 202 hat Ernst Cassirer dieses Prinzip der »Beseelung« (die nicht eigentlich »anthropomorphisierend« ist, da sie das Menschenbild selbst in seltsamer Weise beeinflusst), durch das ganze Gefüge der Sprache verfolgt und so nachgewiesen, wie der menschliche, in Worten denkende Geist seine ganze Welt aus »Mächten« aufgebaut hat, deren Vorbild subjektive Machtgefühle sind. Diese grundlegende in die Sprache aufgenommene Weltanschauung* spiegelt sich in der Religion, der Geschichte, der Politik und sogar in den traditionellen Abstraktionen der Philosophie. Die vom subjektiven Vorbild hervorgebrachte Formulierung ist tatsächlich eine große Metapher, in der unsere »natürliche« Weltauffassung ausgedrückt wird. Doch wo der menschliche Geist nur über ein Symbol verfügt, um einen Gedanken darzustellen, sind das Symbol und seine Bedeutung nicht voneinander zu trennen, weil es keine andere Form gibt, in der die Bedeutung gedacht und vom Symbol unterschieden werden kann. Folglich wird die große Metapher mit ihrer Bedeutung gleichgesetzt. Die Gefühle von Macht, die als Symbole fungieren, werden der symbolisierten Realität zugeschrieben, und die Welt erscheint so als ein Reich machtvoller Wesen.   Siehe vor allem Bd. I und II von Die Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O.; ferner Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (1925), in: Gesammelte Schriften, Bd. 16: Aufsätze und kleine Schriften 1922–1926, Hamburg 2003, S. 227–311, und Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (1944), Hamburg 1990, Teil I, passim, vor allem Kapitel 2: »Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen: das Symbol«. 202



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Diese Auffassung der Natur ist charakteristisch für das, was Cassirer das »mythische Bewusstsein« nennt. Wie aber das mythische Denken die Form der Sprache bestimmt und dann seinerseits durch die Sprache gestützt und gefördert wird, so zerbricht die fortschreitende Artikulation und Schärfung dieses überragenden Werkzeugs schließlich die mythische Schale. Die allmähliche Vervollkommnung der diskursiven Form, die der Syntax der Sprache so innewohnt, wie die Metapher ihrem Vokabular innewohnt, erzeugt nach und nach einen neuen Denkmodus, das »wissenschaftliche Bewusstsein«, das im Alltagsbewusstsein verschiedener Einzelner und Gruppen das mythische mehr oder weniger ablöst. Vermutlich ist der Übergang niemals vollkommen vollzogen, doch soweit er bewerkstelligt worden ist, tritt die wörtliche Aussage an die Stelle der Metapher und weicht die Mythologie der Wissenschaft.203 Die primitiven Phasen der sozialen Entwicklung werden gänzlich vom »mythischen Bewusstsein« beherrscht. Von den frühesten Zeiten über die späten Stadien des Stammeswesens lebt der Mensch in einer Welt von »Mächten« – von göttlichen oder halbgöttlichen Wesen, deren Willen den Lauf der kosmischen und menschlichen Ereignisse bestimmt. Malerei, Skulptur und Literatur, wie archaisch sie auch sein mögen, zeigen uns diese Mächte bereits in eine sichtbare oder beschreibbare Form gebannt, sei sie anthropomorph oder zoomorph: ein heiliger Bison, eine heilige Krähe, ein Skarabäus, ein Tiki, ein Hermes oder eine Korê, schließlich Apollo, Athene, Osiris, Christus – der Gott, der sogar bis hin zu seiner Barttracht ein persönliches Aussehen hat, eine persönliche Geschichte von Geburt, Tod und Verklärung, einen symbolischen Kult, eine poetische und musikalische Liturgie. Doch in den frühen Tagen der Einbildungskraft verkörpern keine bestimmten Formen die schrecklichen und fruchtbaren   Vgl. Cassirers Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Unter­ suchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), Gesammelte Schriften, Bd. 6, Hamburg 2000. 203

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Mächte, von denen die Menschheit umgeben ist. Anerkannt werden sie zum ersten Mal durch das Gefühl, dass im menschlichen Körper eine persönliche Macht und ein persönlicher Wille stecken, und zum ersten Mal dargestellt werden sie durch eine körperliche Tätigkeit, die den Eindruck von Macht von den praktischen Erfahrungen abstrahiert, in denen sie für gewöhnlich nur dunkel erahnt werden. Diese Tätigkeit kennen wir als »tanzen«. Der Tanz schafft ein Bild der namenlosen, ja sogar der körperlosen Mächte, die ein geschlossenes, autonomes Reich, eine »Welt«, erfüllen. Er liefert die erste Darstellung der Welt als eines Reichs mystischer Kräfte. Daraus erklärt sich die frühe Entwicklung des Tanzes als einer vollkommenen und auch komplexen Kunstform. In seiner umfangreichen Weltgeschichte des Tanzes bemerkt Curt Sachs nicht ohne eine gewisse Verblüffung: »[S]o seltsam es klingen mag – seit der Steinzeit hat der Tanz ebenso wenig neue Formen wie Inhalte aufgenommen. Die Geschichte des schöpferischen Tanzes spielt sich in der Vorgeschichte ab.«204 Der Tanz ist in der Tat im geistigen Leben des Wilden eine sehr ernsthafte Angelegenheit: In ihn geht die Vorstellung von einer Welt ein, die jenseits des Hier und Heute der eigenen animalischen Existenz liegt, die erste Auffassung vom Leben als einem Ganzen – als ein zusammenhängendes, überpersönliches Leben, in dem Geburt und Tod Akzente setzen und das von der übrigen Natur genährt wird. Aus dieser Perspektive erscheint die vorgeschichtliche Entwicklung des Tanzens in keiner Weise seltsam. Genau von dieser Art ist der Prozess des religiösen Denkens, der die Vorstellung von »Mächten« erzeugt, indem er sie symbolisiert. Für das »mythische Bewusstsein« handelt es sich bei diesen Schöpfungen nicht um Symbole, sondern um etwas Reales. Sie werden in keiner Weise als etwas durch den Tanz Geschaffenes empfunden, sie sollen vielmehr beschworen, angefleht, herausgefordert oder beschwichtigt werden, je nachdem was gerade geboten ist. Das Symbol der Welt, das tänzerische Reich der 204

  Eine Weltgeschichte des Tanzes, a. a. O., S. 42.



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Kräfte, ist die Welt, und im Tanz nimmt der menschliche Geist an ihr teil. Die Welt des Tänzers ist freilich eine verklärte, zu einer besonderen Art von Leben erweckte. Sachs bemerkt, dass die älteste Tanzform der Reigen* zu sein scheint, in dem er ein Erbe unserer tierischen Vorfahren sieht.205 Er betrachtet ihn als spontanen Ausdruck von Ausgelassenheit, nicht darstellend und daher »introvert«, wie er es mit einer (ziemlich unglücklichen) Anleihe bei den Kategorien der Jung’schen Psychodynamik nennt. Tatsächlich aber symbolisiert der Reigen eine sehr wichtige Lebensrealität des primitiven Menschen – den Bezirk des Heiligen, den magischen Kreis. Der Reigen als Tanzform hat nichts mit spontanem Herumtanzen zu tun. Er kommt einer heiligen Aufgabe nach, vielleicht sogar der höchsten heiligen Aufgabe des Tanzes: Er trennt die Sphäre des Heiligen von der des profanen Daseins. Auf diese Weise erschafft er die Tanzbühne, in deren Mittelpunkt natürlich der Altar steht oder auch sein Pendant – das Totem, der Priester, das Feuer – womöglich auch der erlegte Bär oder der tote Häuptling, der geweiht werden soll.   »Die Anfänge des menschlichen Tanzes werden uns freilich weder von der Völkerkunde noch von der Prähistorie gewiesen. Vielmehr ist es der Schimpansentanz, aus dem wir sie zu erschließen haben: lustvoller Reigen im Kreis um einen feststehenden, ragenden Gegenstand muß schon Urbesitz der Menschheit von ihren tierischen Ahnen her sein. Ihn dürfen wir daher auch für die Frühen Grundkulturen, die erste wahrnehmbare Schicht menschlicher Gesittung, als ständiges Tanzgut voraussetzen« (ebd., S. 142). Zweifellos vereinfacht Sachs das Problem der Kunst allzu sehr und ebenso zweifellos überschätzt er die Belege – sie stammen von Köhler – für die von ihm angenommene Lösung. Wir wissen nicht, ob Affen nur lebhaften Spaß empfinden, wenn sie um einen Pfahl herumstampfen. Vielleicht erwacht in dem Augenblick eine flüchtige Vorform mystischer Erregung in ihnen. Vielleicht sind ihre Posen nur spielerisch. Vielleicht wurde ihre Neigung zum rhythmischen Stampfen von Köhler ausgelöst und hätte sich nie von allein im Urwald entwickelt, es sei denn, sie hätten irgendwo tanzende Menschen beobachtet. Wir wissen einfach zu wenig, um irgendetwas aus »dem Schimpansentanz« abzuleiten. 205

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Im magischen Kreis werden sämtliche dämonischen Kräfte entfesselt. Alles Weltliche bleibt ausgeschlossen und damit meistens auch die in diesem Bereich geltenden Beschränkungen und Schicklichkeiten. Zu Recht hält Sachs fest, dass jeder Tanz ekstatisch ist, der heilige Gruppentanz, der schwindelerregende Wirbeltanz eines Einzelnen ebenso wie der erotische Paartanz. »In solcher Ekstase schlägt der Mensch die Brücke zum Jenseits, zu Dämon, Geist und Gott«.206 Mitunter wird der Kampf gegen die Mächte der Finsternis in einem Waffentanz mit einem unsichtbaren Partner aufgeführt; manchmal wird die kriegerische Tapferkeit als Zusammenstoß zweier sichtbarer Gegner dargestellt. Indem sie diese werfen, auffangen, herumwirbeln und schwingen, können sie die Wirksamkeit ihrer Waffen feiern. Alle entscheidenden Lebenstätigkeiten sind durch den Tanz geweiht worden, ob nun Geburt, Adoleszenz, Heirat oder Tod – Säen und Ernten, Jag, Schlachten und Siege – Jahreszeiten, Versammlungen und Hauseinweihungen. Die Anlässe zu solch heiligen Tänzen haben ganz natürlich dazu geführt, dass die Objekte des Begehrens und der Furcht pantomimisch veranschaulicht worden sind; die Pantomime hat neue Tanzformen bereitgestellt, die sich häufig für umfangreiche Ausgestaltungen anboten. Diese kamen nicht ohne Requisiten aus – Kostüme, Geräte, Masken –, die dann ihrerseits Tanzcharaktere erschufen, Geister und Tiere, Gespenster und Götter, je nachdem, was zum konzeptuellen Repertoire der Tänzer gehörte. Der »Landteufel« aus dem Kongo ist eine riesige Tanzmaske, deren furchterregende Wohnstätte ein Baum im Urwald ist. Dort, in sicherer Entfernung vom Lager, hängt sie, wenn sie nicht für den Tanz gebraucht wird.207 In der europäischen Tradition ist die »Maikönigin« eine Tanzpersona, die vermutlich den Platz einer Fruchtbarkeitsgöttin einnimmt, an die sich der Tanz ursprünglich gerichtet hat. Die Nebengestalt des »Maikönigs«,   Ebd., S. 1.   So berichtet Pearl Primus in einer Vorlesung nach ihrer Rückkehr aus Afrika (Winter 1949/50). 206 207



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der manchmal gekrönt und der Königin beigesellt wird, lässt vermuten, dass im Mittelpunkt der ganzen Feier ein erotischer Paartanz gestanden hat, der die Fruchtbarkeit der Felder, der Weinberge und der Herden beschwören oder durch einen Sympathiezauber erwecken soll. Doch was auch immer der Tanz bezweckt, welcher dramatischen und rituellen Elemente er sich dabei bedient, zuallererst erschafft er einen Bereich virtueller Macht. »Ekstase« ist nichts anderes als das Eintreten in ein solches Reich. Es gibt Tanzformen, die in erster Linie dafür sorgen, die Bande zur Wirklichkeit durchzuschneiden und eine »außerweltliche« Atmosphäre zu schaffen, in der illusorische Mächte wirken. Wirbeln und Kreisen, Gleiten, Springen und Balancieren, das sind grundlegende Gesten, die den tiefsten Quellen des Fühlens zu entspringen scheinen, den Rhythmen des physischen Lebens als solchem. Da sie für keine Vorstellung von Gegenständen außerhalb des Organismus stehen, sondern nur für objektivierte Vitalität selbst, bezeichnet Sachs diese Elemente als »bildfrei« und betrachtet sie als das besondere Repertoire »introverter« Menschen. Die Unterscheidung zwischen »introverten« und »extraverten« Tänzern, die sich danach richtet, ob »bildfreie Tänze« oder »bildhafte Tänze« bzw. nachbildende aufgeführt werden, durchzieht das gesamte Buch. An keiner Stelle stützt sie sich aber auf einen psychologischen Befund, der belegen würde, dass die rein ekstatischen Tänzer – Derwische, Teufels­ tänzer, Schlangentänzer – introverter sind als etwa die Mänaden, die Tod und Auferstehung des Dionysos in Szene setzen, oder auch dass die Gemütsverfassung von Menschen, die auf der Dorfwiese im Kreis tanzen, sich von derjenigen von Tänzern unterscheidet, die einen sich windenden Kettentanz ausführen, wobei sie ihre Motive dem Vorgang des Webens entnehmen, oder die mit flatternden Armen den Flug der Vögel nachahmen. Während er die Geschichte der »bildfreien Tänze« nachzeichnet, scheinen diese mit der dramatischen Pantomime zu verschmelzen, und umgekehrt zeigt er mit seiner Darlegung über die nachahmenden Gesten, dass sie sich tänzerisch ge-

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nerell von der Mimikry entfernen und zur rein rhythmischen, expressiven Geste werden. Er selbst fasst seine Befunde so zusammen: »Schon an diesen Beispielen sehen wir, daß der Tiertanz das Schicksal einer dauernden Entnaturalisierung trägt. Der Zwang, in geordnetem Tanz die Bewegungen zu stilisieren, also zu entwirklichen, nimmt den Schritten und Gesten mehr und mehr das Naturhafte. Allzuleicht wird aus dem Entengang ein einfacher Hockschritt […]. Vielleicht sind auch umgekehrt Bewegungen rein eigenmotorischer Herkunft ebenbildlich-tierisch gesehen und umgedeutet worden.«208 In seinen Überlegungen zu diesen Tatsachen fällt eine allgemeine Bemerkung, die das ganze nachahmende Gewerbe der Kunst in einem, wie ich meine, richtigen Licht darstellt – nämlich als Leitbegriff oder als Motiv. »Es sind also im Tiertanz genau die gleichen Beziehungen und Fragen, die aus der Geschichte des Ornaments bekannt sind: es geht um die Abstraktion und Geometrisierung eines Tiermotivs oder um die zoomorphe Naturalisierung eines abstrakt-geometrischen Motivs.« (Vergleicht man diese Bemerkungen mit den Gedanken über die Motive der Muster im 4. Kapitel, wird sogleich eine grundlegende Beziehung zwischen zwei sehr verschiedenen Künsten deutlich, nämlich ihr genau analoger Gebrauch von Naturformen.) Die Unterscheidung zwischen extravertem und introvertem, darstellendem und nicht darstellendem Tanz, die im Verlauf des Werks zunehmend schwächer wird, ist im Grunde sehr viel weniger nützlich als die Betrachtung, was in den verschiedenen Tanzarten geschaffen wird und welchen Zwecken daher die verschiedenen rhythmischen, mimetischen, musikalischen, akrobatischen und sonstigen Elemente dienen. Was da erschaffen wird, ist das Bild einer Welt von körperlichen oder körperlosen vitalen Kräften. In den Frühstadien menschlichen Denkens, als Symbol und Bedeutsamkeit noch als eine einzige Realität begriffen wurden, ist dieses Bild das Reich des Heiligen, in spä208

 Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, a. a. O., S. 58.



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teren Stadien dann wird es als Kunstwerk anerkannt, als die expressive Form, die es wirklich ist. In beiden Fällen freilich erfüllen die verschiedenen Tanzelemente im Wesentlichen konstruktive Aufgaben. Sie sollen das Spiel der »Mächte« herstellen, aufrechterhalten und artikulieren. Mit Hilfe von Masken und Pantomime allein ist das nicht zu erreichen, sowenig wie eine naturalistische Darstellung von Objekten aus sich heraus einen Bildraum zu schaffen oder zu gestalten vermag. Theatralische Motive sichern allerdings die Illusion, die »Tanzekstase«. Wie Sachs erklärt: »Er [der Tanz] bezweckt Ekstase schlechthin, oder er nimmt die Form der mystischen Einkreisung an, in der die Kraft von den Kreisenden auf den Eingeschlossenen oder umgekehrt von dem Eingeschlossenen auf die Umkreisenden überspringt. […] [D]as Volk umschließt den abgeschnittenen Feindeskopf, den Opferbüffel, den Altar, das goldene Kalb, die Hostie, daß ihre Kraft geheimnisvoll herüberflutet – immer geht es um das Dich in mir.«209 Welche Motive auch immer aus dem Alltagsleben in den Tanz eingehen mögen, durch ihren Eintritt werden sie rhythmisiert und formalisiert. Innerhalb des magischen Kreises steigert sich jede Handlung zu einer tänzerischen Bewegung und Akzentuierung: Das Hochheben eines Kindes oder eines Kelchs, die Nachahmung von wilden Tieren und Vögeln, der Kuss, der Kriegsruf. Die Bewegung im freien Tanz erzeugt – für den Aufführenden ebenso wie für den Betrachter – die Illusion, dass die Schwerkraft aufgehoben ist, der Körper des Tänzers daher nicht mehr von den realen Kräften bestimmt wird, die er normalerweise kennt und spürt. Frank Thiess hat diesen Umstand in seinem hervorragenden, bereits im vorigen Kapitel zitierten Buch dargelegt. Im Anschluss an einige sachkundige Bemerkungen zum übertriebenen Einsatz von Streckungen, Sprüngen und der sogenannten »Ballontechnik« in sonst eher nichtssagenden Aufführungen, »mit denen die Balletteusen dartun wollten, daß die Schwerkraft der Erde sie wirklich so gut wie gar nicht mehr 209

  Ebd., S. 39.

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bindet«, fügt er hinzu: »Immerhin aber lag dieser Forderung nach Überwindung der Schwere eine richtige Erkenntnis vom Wesen des Tanzes zugrunde. Denn seine Haupttendenz ist und bleibt die Überwindung der ›gewichtigen‹ Gebundenheit, und die Leichtigkeit der Bewegungen ist vielleicht die technische Kardinalforderung, die man an einen Tänzer stellen muß. […] Ist sie doch nichts anderes als eine Überwindung der materiellen Hemmungen überhaupt und somit innerhalb der Kunst gar keine Einzelerscheinung. Man denke an die Überwindung des Steins in der Plastik, an die Überwindung der Fläche in der Malerei, an die Überwindung des Wortes in der Dichtung usw. Also gerade das eigentliche Material, mit dem die jeweilige Kunst arbeitet, ihr Spezifisches und Charakteristisches, soll überwunden werden, soll bis zu einem gewissen Grade nicht mehr in Erscheinung treten.«210 Noch immer in diesem Zusammenhang bezeichnet er an etwas späterer Stelle den Spitzentanz als das »erstarrte Symbol dieses Gedankens«, der in erster Linie dazu gedacht ist, den Körper als nahezu gewichtslos zu zeigen, so dass er allein durch die Zehenspitzen gestützt wird. Sein daran anschließender Kommentar unterstreicht, welche Bedeutung das für die Theorie des Scheins hat: »In Wahrheit sind die Zehen in festen Einlagen und der Träger des Körpers ist der Spannmuskel. Aber darauf kommt es ja auch nicht an, der Körper soll schwerelos scheinen und damit vom künstlerischen Standpunkt aus auch schwerelos sein.«211 Sogar der von Isadora Duncan und der von ihr inspirierten Schule so verachtete Spitzentanz ist im Wesentlichen schöpferisch und nicht akrobatisch. Die Tanzkunst ist als Kategorie sehr viel umfassender als jede besondere Vorstellung, die eine Tradition, einen Stil, einen sakralen oder profanen Gebrauch bestimmt; sie ist umfassender als der Kulttanz, der Volkstanz, der Gesellschaftstanz, das Ballett, der moderne »Ausdruckstanz«. Weil sie fest davon überzeugt war, dass allein das Darstellen   Der Tanz als Kunstwerk, a. a. O., S. 61 f.   Ebd., S. 65.

210 211



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persönlicher Gefühle ein berechtigtes Thema für Terpsichores Kunst ist, war sie unfähig, ihre eigene Reaktion auf den Tanz der Kschessinskaja und Pawlowa zu verstehen, der sie trotz ihrer Überzeugungen und Ideale in den Bann schlug. »Ich bin zwar eine Gegnerin des Balletts,« schreibt sie, »das ich für eine verlogene, groteske, ja eigentlich überhaupt keine Kunst halte, aber wer würde der feengleichen Gestalt der Ksches­ sinskaja, wenn sie eher wie ein lieblicher Vogel oder wie ein Schmetterling denn wie ein Mensch über die Bühne flattert, den Beifall versagen können? […] Einige Tage später besuchte mich die wunderschöne Pawlowa, und abermals schickte man mir ein Logenbillett, diesmal für das entzückende Ballett ›Giselle‹. Obwohl alle Bewegungen der Tänzerinnen jedem künstlerischen und menschlichem Empfinden widersprachen, konnte ich nicht umhin, der unvergleichlichen Pawlowa Beifall zu spenden, als sie leichtbeschwingt über die Bühne schwebte.«212 Wie ein Ballett »entzückend« sein kann, das mit jeder Bewegung der Kunst und dem menschlichen Fühlen widerspricht, ist eine Frage, der sie in ihrem Theoretisieren nicht nachgeht. Hätte sie über ihre eigenen Worte gründlicher nachgedacht, hätte sie vielleicht entdeckt, was das Geheimnis der Lieblichkeit der Kschessinskaja und Pawlowa und ihrer vollkommen »verlogenen, grotesken« Kunst ist und was ihrem eigenen Tanz schmerzlich zu fehlen schien: der Tänzer als Erscheinung. Das Spiel der virtuellen Mächte offenbart sich in den Bewegungen illusorischer Personen, deren leidenschaftliche Gesten die von ihnen geschaffene Welt erfüllen, eine entrückte, rational nicht zu beschreibende Welt, in der Kräfte sichtbar zu werden scheinen. Doch das, was sichtbar gemacht wird, ist selbst nicht immer mit dem Auge zu sehen. Gehör und Kinästhesie kommen dem rhythmischen, bewegten Bild in einem Maße zu Hilfe, dass die Tanzillusion für den Tänzer ebenso existiert wie   Memoiren, Zürich 1928, S. 115. [Der erste Satz des Zitats findet sich nicht in der deutschen Ausgabe, sondern nur im Original: My Life, New York 1927, S. 164; Anm. d. Übers.] 212

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für die Zuschauer. In einer Stammesgesellschaft nehmen an einigen Tänzen alle Anwesenden teil, so dass niemand zuschaut. Ein Tänzer hat nun sicherlich visuelle Eindrücke, doch niemals einen wirklichen Gesamteindruck der Aufführung. Ein Solotänzer sieht nicht einmal die anderen Mitglieder des Ensembles, von dem er ein Teil ist. Dennoch richtet sich der Tanz in erster Linie an das Auge. Mir ist kein Kult bekannt, der in vollkommener Dunkelheit Tänze aufführt, noch kenne ich einen guten Tänzer, der blind ist. Häufig wird dem Halbdunkel gehuldigt, aber das geschieht gerade wegen seiner visuellen Wirkungen, wegen des Verschwimmens und Verschmelzens von Formen, des Geheimnisses schwarzer Räume. Der Schein des Mondes und des Feuers wird von primitiven Tänzern genauso kunstvoll wie das Rampenlicht und die farbigen Scheinwerfer verwendet, die wir von modernen Choreographen kennen, mit der einen Abweichung, dass sie den Tanz zur Lichtquelle bringen, so dass eine vorgegebene Beleuchtung ausgenutzt wird, statt dass nach Anweisung Lichteffekte erzeugt werden, die genau für diese Aufführung bewusst entworfen worden sind.213 Diese Schwierigkeit löst sich auf, wenn wir erkennen, dass die grundlegende Abstraktion die virtuelle Geste ist und dass eine Geste sowohl ein sichtbares als auch ein muskuläres Phänomen ist, also sowohl sichtbar als auch fühlbar ist. Eine bewusste Geste ist, wie die Sprache, ihrem Wesen nach Kommunikation. In völliger Finsternis büßt sie ihren kommunikativen Charakter ein. Wenn wir mit uns selbst verkehren, stellen wir uns ihren sichtbaren Charakter vor, und das können wir selbstverständlich auch im Dunkeln tun. Für einen Blinden aber ist eine bewusste Geste so wenig natürlich wie das Sprechen für einen Gehörlosen. Die unmittelbarste Kenntnis gestischen Ausdrucks haben wir durch ein Muskelgefühl, aber sein Zweck besteht darin gesehen zu werden. Entsprechend lässt sich die Illusion der Geste entweder visuell oder kinästhetisch zur Er  Auch diese Beobachtung wurde von Pearl Primus nach ihrer Rückkehr aus »dem Busch« berichtet. 213



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scheinung bringen: wird jedoch nur ein Sinn tatsächlich angesprochen, muss der andere implizit zu seinem Recht kommen. Da die Tanzgeste eine symbolische, objektivierte ist, muss jeder Tanz, der vor allem für die Beteiligten tänzerische Bedeutung haben soll, notwendig ekstatisch sein. Er muss den Tänzer »über sich hinausführen«, und das wird durch eine erstaunliche Bandbreite von Mitteln erreicht; durch die kleinste Andeutung von Bewegung, wenn der Körper durch Getränke, Drogen oder Fasten darauf vorbereitet worden ist; durch eine Musik, die zugleich monoton und aufpeitschend ist, wie beispielsweise bei den Derwischen, die erst lange zuhören, bevor sie sich erheben; durch starke musikalische und physische Rhythmen, die den Tänzer fast sogleich in eine romantische Realitätsferne verstricken (dieses Kunstgriffes bedient sich normalerweise der weltliche »Gesellschaftstanz«); oder durch das ursprünglichste und natürlichste Mittel von allen, durch das Bilden eines »magischen Kreises« rund um den Altar oder die Gottheit, wodurch der Tänzer auf der Stelle in den Rang eines Mystikers erhoben wird. Jede seiner Bewegungen ist zu einer Tanzgeste geworden, denn er hat sich in einen Geist verwandelt, eine Tanzperson, die mehr oder weniger als ein Mensch ist – mehr, wenn die Anrufung des Stammes sich in seiner besonderen Aufführung konzentriert, weniger, wenn er einfach nur die Bewegungen seiner Glieder in die größere Bewegung des Reigens* und seinen Geist in die unbestimmte, ehrfurchtsvolle Gegenwart eingehen lässt, die den Kreis erfüllt. Jeder Tänzer sieht genug vom Tanz, damit seine Vorstellungskraft ihn als ein Ganzes erfassen kann, und dank seines eigenen Körpergefühls versteht er die Gestenformen, eben jene ineinander verwobenen, grundlegenden Elemente des Tanzes. Seine eigene Form als solche sieht er nicht, aber er kennt ihre Erscheinung – die von seinem Körper beschriebenen Linien sind in den Verschiebungen seines Blickfelds impliziert, selbst dann, wenn er alleine tanzt, und gewährleistet werden sie durch das rhythmische Spiel seiner Muskeln, durch die Freiheit, mit der seine Impulse sich in vollständigen, bewussten Bewegungen veraus-

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gaben. Er sieht die Welt, in der sein Körper tanzt, und darin liegt die primäre Illusion seines Werks; in diesem abgeschlossenen Bereich entwickelt er seine Gedanken. In seiner naturhaften Kraft ist der Tanz vollkommen schöpferisch. Im Rahmen von Raum und Zeit werden Mächte offenbar, doch wie alles andere im tänzerischen Bereich sind auch diese Dimensionen nicht real. Ebenso wie die räumlichen Phänomene in der Musik eher dem plastischen Raum gleichen als den Räumen von Geometrie und Geographie, 214 so sind auch Raum und Zeit im Tanz, da sie in die primäre Illusion eingehen und gelegentlich aus eigenem Recht als sekundäre Illusionen auftreten, stets geschaffene Elemente, also virtuelle Formen. Der ursprüngliche Tanz erzeugt sein eigenes Reich und sichert seine Dauerhaftigkeit hauptsächlich durch die ungebrochene Spannung des Kreisens und Drehens, durch sein akrobatisches Gleichgewicht und die rhythmische Vollendung der Bewe­g ungen. Die »Körperhaltung« (body set) der Tänzer, die durch die eksta­ tische Konzentration auf meisterhafte Sprünge, Herumwirbeln, maschinenartiges Stampfen des Takts aufrechterhalten wird, hält die Zeitstruktur zusammen, und die Aktivität selbst lässt die klangliche Begleitung entstehen, die einst ein musikalisches Nebenprodukt und ein starkes Bindemittel war. Das »how-how-how« der Indianer ist ebenso ein unabdingbarer Teil des Kriegstanzes wie das Summen des Fakirs bei seinen mystischen Handlungen. Sachs weist darauf hin, dass Tiertänze ganz natürlich von Klängen begleitet werden, die an das dargestellte Tier erinnern, und schließt daraus, dass der echte Tiertanz auf jede andere Musik verzichten könne. Das klangliche Element ist tänzerisches Handeln, ein Mittel, den Zeitrahmen der Aufführung auszufüllen und zu verlebendigen. Die musikalischen und bildlichen Wirkungen, die vielfach und auf unterschiedliche Weise als die Essenz, das Ziel oder die bestimmenden Vorbilder der Tanzkunst betrachtet worden sind, 214

  Vgl. oben Kap. 7, S. 231 f.



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scheinen sich als Tanzelemente mit strukturellen, rein tänzerischen Funktionen ganz unabhängig von den bildenden Künsten und der Harmonik entwickelt zu haben. Aufgrund der komplexen Natur seiner primären Illusion – der Erscheinung von Macht – und seiner grundlegenden Abstraktion – der virtuellen Geste – behauptet der primitive Tanz eine vollständige Hoheit über alle künstlerischen Materialien und Mittel, allerdings ohne sie über seine eigenen Notwendigkeiten hinaus auszuschöpfen. Manch ein Tänzer und manch ein Tanzästhetiker bezeugen in ihren Schriften, wie wichtig Raum und Zeit in Terpsichores Kunst sind und dass sie von essentiell künstlerischer, illusorischer Natur sind. In einem »Music for the Dance« betitelten Aufsatz macht Hanns Hastings die vielsagende Bemerkung: »Wenn ein Tänzer von Raum spricht, dann meint er damit nicht nur, ja nicht einmal prinzipiell den realen Raum, sondern den Raum, der etwas Immaterielles, Irreales, Imaginäres bezeichnet, der über die sichtbaren Silhouetten einer oder mehrerer Gesten hinausgeht.«215 Wie tief die Beziehungen zwischen den Künsten aufgrund ihrer eigentümlichen symbolischen Schöpfungen tatsächlich gründen, bezeugt ein Abschnitt in Rudolf Sonners Musik und Tanz, wo es heißt: »In den unteren Kulturschichten ist Tanz typisches Symbol des Raumes, wirkt sich als intensivstes Raumerlebnis aus. Hier existiert noch kein Kultraum, höchstens als abgestecktes Feld (heiliger Hain), heilige Umgrenzung. Mit dem Augenblick aber, da durch Kultbauten ein neues tiefes Raumerlebnis mit anderer Symbolik geschaffen ist, scheint der Tanz   Hanns Hasting, Music for the dance, in: Armitage u. Stewart, Modern Dance, a. a. O., S. 35–42, hier 39. Es heißt dann weiter: »Diesem Gefühl entspringt das Bedürfnis nach musikalischen Formen, die den gleichen musikalischen Raum schaffen.« Auch wenn eine solche Betonung der räumlichen Bedeutung gewisse Vorteile haben mag, kann ich dem Autor nicht darin folgen, dass er ein allgemeines Prinzip des Parallelismus annimmt, das er dann auch im Weiteren entwickelt. Es gibt keinen Grund, warum der im Tanz hergestellte Raum generell durch eine ähnliche sekundäre Illusion in der Musik verdoppelt werden sollte. 215

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als Kultzeremonie von den Kräften der Architektur verdrängt zu werden […].«216 Offensichtlicher ist die Beziehung zwischen Tanz und Musik, und sie ist auch weitaus erschöpfender untersucht worden. Ob ein Tanz nun musikalisch begleitet wird oder nicht, jedenfalls bewegt er sich stets in der musikalischen Zeit; die Anerkennung dieser natürlichen Beziehung zwischen den beiden Künsten liegt ihrer allgemeinen Verwandtschaft zugrunde. In hochgradig ekstatischen Aufführungen bedarf die zeitliche Eigenständigkeit des Tanzes keines ausgefeilten musikalischen Gefüges, um unterstrichen und gesichert zu werden; Liedfragmente und der atonale Takt von Stöcken oder Trommeln, die bloße Interpunktion des Klangs, genügen vollkommen. Die körperlichen Empfindungen der Tänzer, die mit Blicken und Klängen verschmelzen, mit dem ganzen Kaleidoskop von (häufig maskierten) Figu­ren und mystischen Gesten, halten den großen Rhythmus zusammen. Der einzelne Tänzer tanzt weniger mit seinen Partnern – sie sind alle in Tanzwesen verwandelt worden oder sogar in bloße Teile eines dämonischen Organismus – als vielmehr mit der Welt. Er tanzt mit der Musik, mit seiner eigenen Stimme, mit seinem Speer, der in seiner Hand schwingt, als täte er es aus eigener Kraft, mit dem Licht, dem Regen und der Erde. Eine neue Forderung ergeht an den Tanz, wenn er nicht nur die Ausführenden fesseln soll, sondern auch die passiven Zuschauer (zu diesen zählt nicht ein dörfliches Publikum, das durch Singen und Klatschen für die Musik sorgt, denn es nimmt in Wirklichkeit am Tanz teil). Der Tanz als Schauspiel wird im Allgemeinen als Dekadenzphänomen betrachtet, als säkularisierte Form einer eigentlich religiösen Kunst. 217 Tat  Rudolf Sonner, Musik und Tanz: vom Kulttanz zum Jazz, Leipzig 1930, S. 76. 217  »Der Tanz entspringt letzten Endes immer einem religiös-kultischen Zweckmotiv. Erst ganz spät gleiten die Tänze ab in die rein genießerisch-ästhetische Sphäre, hinter der kein ernster Sinn mehr steht.« (Rudolf Sonner, Musik und Tanz, a. a. O., S. 9) 216



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sächlich aber ist es selbst innerhalb der Grenzen des »mythischen Bewusstseins« eine ganz natürliche Entwicklung, denn die Tanzmagie lässt sich auf einen Betrachter projizieren, sei es zur Heilung, Reinigung oder Initiation. Tylor beschreibt eine Initiationszeremonie bei Wilden, in denen die Knaben feierlich einem von den Alten aufgeführten Hundetanz beiwohnen. Schamanen, Medizinmänner, Wunderheiler und Zauberer führen für gewöhnlich Tänze auf, deren magische Wirkungen sich nicht auf den Tänzer richten, sondern auf die ehrfürchtigen Zuschauer. Vom künstlerischen Standpunkt aus ist diese Verwendung des Tanzes ein großer Schritt über die reine Ekstase hinaus, denn für ein Publikum gedacht wird der Tanz wesentlich und nicht bloß zufällig zu einem Schauspiel und findet so zu seinem wahren schöpferischen Ziel: zum Sichtbarmachen einer Welt von Mächten. Dieses Ziel legt auch den Grund für alle möglichen Arten neuer Techniken, denn körperliche Erlebnisse, Muskelspannungen, Schwungkraft, das Fühlen eines labilen Gleichgewichts oder die Antriebe eines Ungleichgewichts reichen nicht mehr zuverlässig aus, um dem Tanz Form und Kontinuität zu verleihen. Ein jedes solcher kinästhetischen Elemente muss durch visuelle, hörbare oder theatralische Elemente ersetzt werden, um eine vergleichbare ekstatische Illusion beim Betrachter zu erwecken. Auf dieser Stufe unterscheiden sich die Probleme des Kult- oder Stammestanzes praktisch nicht von denen des modernen Balletts: Es gilt, den Wirklichkeitssinn des Betrachters zu durchbrechen und das virtuelle Bild einer anderen Welt aufzurichten, ein Spiel von Kräften zu erschaffen, das dem Rezipienten entgegentritt, statt ihn einzuhüllen, wie es Ebenso Curt Sachs: »Schon früh, in steinzeitlichen Kulturen, verdichten sich Tänze zu Kunstwerken, bis, an der Schwelle der metallzeitlichen Hochkulturen, der Mythos den Tanz ergreift und ihn zum Drama steigert. Aber wenn er in den Hochkulturen eine Kunst im engeren Sinn wird, wenn er sich zur Schau stellt und auf Menschen statt auf Geister wirken will, dann ist seine Welt umspannende Macht gebrochen.« (Eine Weltgeschichte des Tanzes, a. a. O., S. 3)

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geschieht, wenn er tanzt, und seine Aktivität ist ein wichtiger Faktor, um die Tanzillusion hervorzubringen. Die Anwesenheit eines Publikums verleiht dem Tanz seine künstlerische Disziplin, und handelt es sich um ein hochrangiges Publikum, beispielsweise wenn die Tänzer vor königlichen Zuschauern auftreten, wird die choreographische Kunst sehr schnell zu einer höchst überlegten, formalisierten und fachmännischen Darbietung. Gleichwohl könnte der Tanz immer noch religiös sein. Im Orient hat der Tanz seine kultische Bedeutung nie ganz verloren, obwohl seine ehrwürdige Tradition ihn heute in einen Stand der technischen Perfektion und kulturellen Finesse versetzt hat, mit dem unsere eigenen tänzerischen Bemühungen nicht mithalten können, ja den unser tänzerisches Denken wohl nicht einmal ermessen können. Sachs schreibt: »In Südostasien, wo der Renktanz in das engere Kunstgebiet übergetreten ist, werden die Glieder schulgerecht im wörtlichsten Sinne ausgerenkt. […] Hier [in Kambodscha] sind Arme und Beine im Winkel abgeknickt, die Schulterblätter zusammengeschoben, der Leib eingezogen und der Körper im ganzen in ›Schraubenzieherstellung‹. […] Ganz bewußt ist diese Beziehung zur Gliederpuppe dort, wo die hohe Kunst des Tanzes, nach absolutem Maß gemessen, einen ihrer Gipfel erreicht hat: bei den Mitgliedern der javanischen Sultansfamilien und, ein wenig abgeschwächt, bei den javanischen Berufstänzern, deren Vorbilder sie sind. Denn der Tanz, der von den lebendigen Menschen auf der Bühne getanzt wird, und die pantomimische Aufführung der alten Heldengeschichten durch ausgeschnittene Lederpuppen auf dem Schirm des javanischen Schattenspiels, sie stehen seit Jahrhunderten in ständiger Schicksals- und Stilgemeinschaft. […] Der javanische Tanz ist fast zweidimensional und eben dadurch, daß jedes Körperglied sich unverdeckt und unverkürzt zeigen muss, so unvergleichlich ausdrucksstark.« 218 Diese Art des Tanzes ist dazu gedacht, dem Publikum eine einheitliche und vollständige Erscheinung zu präsentieren. 218

  Ebd., S. 32.



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Gleichwohl mag auch der theatralischste Tanz noch immer eine religiöse Konnotation haben. »Tanz ohne Gebet gilt nach strenger indischer Auffassung als gemein, wer ihm zusieht, bleibt kinderlos und wird in Tierleibern wiedergeboren.«219 Die wichtigste Wirkung, die das passive Publikum auf die Geschichte des Tanzes gehabt hat, liegt meiner Ansicht nach in der Trennung des Tanzes als Schauspiel vom Tanz als Aktivität und in den von dort ausgehenden getrennten Entwicklungen dieser verschiedenen Phasen. Der einen verdanken wir das Ballett, das ganz und gar eine Angelegenheit von Berufstänzern ist, und der anderen den Gesellschaftstanz, der nahezu ausschließlich von Amateuren gepflegt wird. Der Step- und Holzschuhtanz behaupten eine mittlere Position; wie der Squaredance gehören sie eigentlich der Volkskunst an. Sie haben sich nicht vollständig vom dörflichen Tanz gelöst, an dem die Zuschauer durch Singen, manchmal durch Klatschen, Stampfen oder Springen teilnehmen. Als solche haben sie sich eigentlich nicht unter dem Einfluss des passiven Publikums entwickelt, sondern gehören einer ursprünglicheren Ordnung an. Vielleicht liegt darin der Grund für ihre Wiederbelebung und ihre Beliebtheit in unserer Gesellschaft, die viele Zeichen des Primitivismus aufweist: recht grob geschminkte Gesichter, künstlich veränderte Augenbrauen, lackierte Finger- und Fußnägel usw., eine Vorliebe für immer lautere Geräuschkulissen, eine wilden Völkern abgelauschte Musik, eine starke Neigung zu mythischen und kultischen Aktivitäten im politischen Leben und eine Rückkehr zu einem umfassenden, nationalen Militär, statt sich auf besonders ausgebildete Berufsarmeen zu verlassen, die im 17. und 18. Jahrhundert in Europa die Herausbildung einer wesentlich bürgerlichen Kultur ermöglicht haben. Wie dem auch sei, die Abspaltung des Bühnentanzes vom rein ekstatischen Tanz hat sich vor langer Zeit ereignet – vielleicht in einigen Teilen Asiens sehr viel früher als in Europa –, und seit dieser Spaltung haben die beiden Arten des Tanzes 219

  Ebd., S. 153.

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ganz unterschiedliche Entwicklungsverläufe genommen, und beide sind auf je eigene Weise von dem großen Trauma beeinflusst worden, das die abendländische Zivilisation allen Künsten unausweichlich aufgebürdet hat – der Säkularisierung. Warum tanzen Menschen dann überhaupt noch, wenn ihr Motiv doch nicht mehr das ist, die Götter zu verehren oder Zauber auszuüben? Weil das Bild von Mächten für sie in gewissem Sinn immer noch ein Bild der Welt ist. Für das »mythische Bewusstsein« stellt es Wirklichkeit, Natur dar, für einen sekulären Geist offenbart es eine romantische Welt, für den aufgeklärten Psychologen ist dies eine infantile »Welt« spontaner, verantwortungsloser Reaktionen, von Allmachtsphantasien, von Freiheit – die Traumwelt. Wie in frühesten Zeiten, so ist auch heute noch die ungebrochene Beliebtheit des Tanzes in seiner ekstatischen Funktion zu suchen. Doch statt den Tänzer aus einem profanen in einen heiligen Zustand zu versetzen, versetzt der Tanz ihn nun aus dem, was er als »Wirklichkeit« anerkennt, ins Reich des Märchenhaft-Romantischen. Selbst im Gesellschaftstanz werden ganz echte »virtuelle Mächte« geschaffen. Künstlerisch mögen sie banal sein – mehr als die magnetischen Kräfte, die eine Gruppe von Tänzern, im einfachsten Fall ein Paar, vereinigen, und die rhythmischen Kräfte, die den Körper mit größerer Leichtigkeit durch den Raum »tragen« als normalerweise, kommt nicht ins Spiel –, dennoch sind sie überzeugend. Darum ist sogar der Gesellschaftstanz eine Form der Kunst, auch wenn er bloß ein paar elementare Formen beisteuert, bevor er für nicht-künstlerische Zwecke eingespannt wird – Trugbilder, Selbsttäuschung, Ausbruch. Die Traumwelt ist im Wesentlichen ein Gefüge erotischer Kräfte. Häufig dient die Tanztechnik lediglich dazu, ihre primäre Illusion freier, nicht physischer Mächte zu errichten, so dass ein Tagtraum durch das ekstatische Verlassen der Wirklichkeit durch den Tänzers »angestoßen« werden kann, danach freilich verwirrt sich der Tanz und macht den Weg zu reinem und schlichtem Selbstausdruck frei. Ein Tanz, der wie der bayrische Schuhplattler damit endet, den Mädchen unsittliche Avancen zu machen, oder wie



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der frühe Walzer damit, sie zu umarmen und zu küssen, oder in recht unschuldigen Geschicklichkeitsspielen – Auffangen eines Rings, Ausbruch aus dem Kreis etc. –, ist bloß zweckgebunden. Seine Kreativität steht auf der alleruntersten Stufe, und sobald der Tanz einem praktischen Zweck gedient hat, fällt er in sich zusammen. Freilich ist dies ein extremes Bild des durch die Säkularisierung ausgelösten Niedergangs des Tanzes. Sein normales Los ist einfach das, von der religiösen Verwendung zur romantischen überzugehen. Der künstlerische Wert einiger religiös ekstatischer Tänze, die Jahr ein, Jahr aus von Tanzsekten ausgeführt werden, ist zweifellos nicht größer als der einer Sarabande, eines Menuetts, eines Walzers oder eines Tangos. Die göttlichen Mächte, mit denen der traditionelle mystische Tanz in Kontakt tritt, sind tatsächlich sehr oft kaum von den erotischen Kräften, den Liebesbanden und der intimen Nähe oder der Schwerelosigkeit zu unterscheiden, wie sie von Enthusiasten des Gesellschaftstanzes erlebt werden. Vom tänzerischen Standpunkt ist das letztgenannte – das Bewusstsein der Schwerelosigkeit – das allerwichtigste. Wenn der Tanz seine kultische Bedeutung verliert und zu einem Unterhaltungsvergnügen wird, dann bleibt dieser Bestandteil der Tanzillusion davon unberührt. Er stellt eine unmittelbare, kraftvolle Wirkung einer rhythmisierten Geste dar, die noch durch die gestreckte Haltung gesteigert wird, die nicht nur die Reibungsfläche des Fußes verringert, sondern auch alle natürlichen Körperbewegungen einschränkt – den ungehinderten Gebrauch der Arme und Schultern, das unbewusste Wenden des Oberkörpers und vor allem die unwillkürlichen Reaktionen der Beinmuskeln bei der Fortbewegung – und damit ein neues Körpergefühl erzeugt, bei dem sich jede Muskelspannung als etwas kinästhetisch Neues, als für den Tanz Eigentümliches meldet. Keine Bewegung ist in einem so disponierten Körper unwillkürlich; sollte es hier irgendeine spontane Handlung geben, so ist sie durch den in der Vorstellung erzeugten Rhythmus veranlasst und in den ersten, intentionalen Akten angelegt

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und nicht in praktischer Gewohnheit. Wer einen Hang zum Tanzen hat, verfügt über ein intensives und vollständiges Körpergefühl, das sich auf jeden willkürlichen Muskel erstreckt, auf die Fingerspitzen, den Hals, die Augenlider, ein Gefühl von Virtuosität, vergleichbar dem Artikulationsbewusstsein, das ein begabter Musiker besitzt. Der Körper des Tänzers ist bereit für den Rhythmus. Musik ist das einfachste Mittel, um den Rhythmus zu liefern, der aus jeder Bewegung eine Geste machen soll und aus dem Tänzer selbst ein Geschöpf, das von den gewöhnlichen Banden der Schwerkraft und der Muskelträgheit befreit ist. Im höchst ernsthaften, beschwörenden religiösen Tanz musste die Musik häufig für einen vollständigen Trancezustand sorgen, bevor die Tänzer sich zu rühren begannen; im säkularen Vergnügungstanz ist die zu schaffende Illusion hingegen so elementar, das Gestenmuster oft so schlicht, dass ein bloß metrischer Rhythmus normalerweise genügt, um die Ausführenden in Bewegung zu setzen. Zwei Takte, vier Takte, die Füße beginnen zu zucken, die Partner koordinieren ihre Bewegungen, und durch Wiederholung, Variation, Ausschmückung baut sich die Ekstase auf, unterstützt noch durch den Pulsschlag des Klangs, der eher empfunden als gehört wird. Das so motivierte populäre Tanzen, das vom Geist der Liebesromanzen, der Weltflucht, der Befreiung von der Last der Realität lebt, ohne spirituell Anstrengung – also der erotische und unterhaltsame Vergnügungstanz –, hat eine entsprechende Musikgattung hervorgebracht, die ursprünglich nur als Teil des Tanzes gedacht war: die gesamte Literatur der »Tanzmusik«. Diese hat ihrerseits zu musikalischen Formen geführt, die sich heute aus der ursprünglichen Verbindung gelöst haben: die Suite, die Sonate, und die Symphonie. Sogar der Walzer, der Tango, die Rumba haben zu Musikstücken angeregt, die nicht wirklich zum Tanzen sind.220 Dergleichen Entwicklungen sind jedoch musikalischer, nicht tänzerischer Natur. Der Tanz bezo220

  In Evelyn Porters Music Through the Dance (New York 1938) fin-



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gen auf die Konzertsuite, die mit einer Intrata beginnt und einer Gigue endet, dient als musikalisches Motiv, das zu der Zeit, als Haydn sich der Sonate widmet, schon weitgehend fallengelassen worden ist. Wirkliche »Tanzmusik« ist etwas ganz anderes, und jede Epoche hat ihren Anteil daran – eine Musik, die ausdrücklich dazu gemacht ist, vom schlichten, mitreißenden, aber kurzlebigen Amateurtanz im Ballsaal »geschluckt« zu werden. Normalerweise ist sie in künstlerischer Hinsicht genauso unbedeutend wie die romantischen Schöpfungen, denen sie dient. Dennoch kann ein solches Musikstück – wie in allen labyrinthischen Nebenwegen der Kunst – ein wahres Kunstwerk sein. Und sollte ein begabter Tänzer es hören, bewirkt es auch etwas für den Tanz, denn selbst der Gesellschaftstanz besitzt alle Möglichkeiten einer ernsthaften Kunst. Die Expressivität des Schautanzes kennt theoretisch keine Grenzen. Damit er über einen objektiven Sinngehalt und Schönheit verfügt, braucht es nur eines: tänzerisches Ingenium. Ein Tanz kann nur dann zu einem Kunstwerk werden, wenn die kinästhetische Erfahrung in sichtbare und hörbare Elemente überführt wird. Diese Überführung habe ich oben als die künstlerische Disziplin bezeichnet, die durch die Anwesenheit eines passiven Betrachters auferlegt wird. Der oder die Tänzer müssen die Bühne ebenso für das Publikum wie für sich selbst in einen autonomen, geschlossenen, virtuellen Bereich verwandeln und in einer ungebrochenen, virtuellen Zeit aus allen Bewegungen ein Spiel sichtbarer Kräfte machen, doch ohne dadurch ein Werk der bildenden Kunst oder des »Melos« zu bewirken. Als wahrnehmbare Faktoren lösen sich Zeit und Raum nahezu vollständig in der Tanzillusion auf, denn statt selbst in Erscheinung zu treten, helfen sie, den Anschein aufeinander wirkender Kräfte zu erzeugen. Das bedeutet, dass die Musik von der Bewegung geschluckt werden muss, während Farbe, Bildkomposition, Kostüm und Dekor – die eigentlich plastischen Eledet sich eine Untersuchung über diesen Einfluss des Tanzes auf die Musikgeschichte.

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mente – zum Rahmen und zur Folie für die Geste werden. Die plötzlichen Wirkungen der reinen Zeit oder des vollkommenen Raums, die manchmal auftreten, gehen fast sofort wieder in das Leben des Tanzes ein. Die primäre Illusion des Tanzes ist eine besonders reiche Erfahrung. Sie ist ebenso unmittelbar wie die der Musik oder der bildenden Künste, aber komplexer. Gemeinsam mit ihr werden implizit Raum und Zeit erschaffen. Wie ein roter Faden zieht sich eine Geschichte durch sie hindurch, ohne dass sie dadurch irgendetwas mit der Literatur verbinden würde. Ihre grundlegende Abstraktion, die virtuelle Geste, schließt oft sys­te­ matisch die Darstellung von Personen und die Pantomime ein, aber trotzdem ist eine Tanzpantomime kein Schauspiel. Die Vermummung mit Masken und Kostümen, zu der ihre thematischen Gesten gehören, führt eher zu einer Entpersönlichung als zu einem Interesse am Menschlichen. Der Tanz, die Kunst der Steinzeit, die Kunst des primitiven Lebens par excellence, hat die Vorherrschaft über alle Materialien der Kunst. Aber wie jede andere Kunst duldet er in seiner illusorischen Welt kein Rohmaterial, keine Dinge oder Tatsachen. Die virtuelle Form hat organisch, autonom und von der Wirklichkeit geschieden zu sein. Was immer in den Tanz eintritt, tut dies als etwas radikal künstlerisch Anverwandeltes: Sein Raum ist plastisch, seine Zeit musikalisch, seine Themen phantastisch, seine Handlungen symbolisch. So erklärt sich meines Erachtens warum Tänzer und Ästhetiker so viele verschiedene Vorstellungen vom Wesen des Tanzes vertreten haben. Von jeder seiner sekundären Illusionen ist behauptet worden, sie sei der wahre Schlüssel zu seinem Wesen, wobei das gesamte Phänomen Tanz dem Bereich angepasst wird, in dem die jeweilige Illusion die primäre ist. So ist der Tanz als eine Kunst des Raums, eine Kunst der Zeit, als eine Art Poesie, eine Art Schauspiel bezeichnet worden.221 Nur ist der Tanz nichts von alledem, sowenig wie er die Mutter irgendeiner anderen Kunst ist – nicht 221

  Vgl. Kap. 11, besonders S. 302  – 307.



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einmal des Schauspiels, wie eine Untersuchung der theatralen Schöpfung weiter unten zeigen wird.222 Tänzer, welche die Tanzbewegung wesentlich musikalisch auffassen, sind in der Regel solche, die vor allem den Solotanz im Auge haben und sich nicht so recht von der subjektiven, kinästhetischen Erfahrung der Tanzformen als deren vollständigem Erfassen lösen können. Der musikalische Rhythmus fließt ein wenig unmittelbarer und nachdrücklicher in die kinästhetische Wahrnehmung der eigenen Gesten ein als in die objektive Wahrnehmung der von anderen ausgeführten Gesten, und das unabhängig davon, wie gut die Musik im zweiten Fall eingesetzt wird. Diejenigen, die andererseits den Tanz für eine Kunst des Raumes halten, sind für gewöhnlich die echten Bühnentänzer und Ballettmeister. Beide Parteien lassen sich jedoch davon irreführen, dass sie ihre sekundären Illusionen wahrnehmen, dabei ist diese eigentlich nur ein Mittel, das die Gesamtschöpfung unterstützt oder seine Expressivität erhöht. Die Möglichkeit solcher vorübergehenden künstlerischen Wirkungen, die einen Augenblick lang glauben machen, es gäbe hier einen Ausflug in einen ganz anderen Bereich der Kunst, liefert uns einen Hinweis auf eine der tiefsten Beziehungen zwischen den großen Kunstgattungen: die Verwandtschaft ihrer primären Illusionen. Bei dieser Beziehung handelt es sich jedoch immer um eine der Verwandtschaft, nicht der Identität, so dass zwei radikal verschiedene Klassen niemals verschmelzen. Ein Werk gehört niemals mehr als einem Bereich an, und diesen bringt es vollständig und unmittelbar hervor, als seine eigene Substanz. Das deutliche Auftreten einer einfacheren Illusion, beispielsweise des reines Raumes oder der reinen Zeit, im Kontext der komplexeren Illusion des Tanzes oder der schönen Literatur bewirkt jedoch oft, 223 dass durch die Betonung und Abstraktion eines formalen Aspekts, der ihren Gefühlsgehalt sichtbar macht, plötzlich die emotionale Bedeutsamkeit offengelegt 222 223

  Siehe unten, Kap. 17.   Zur literarischen Illusion mehr im nächsten Kapitel.

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wird. Die gleiche Hervorhebung kommt manchmal dadurch zustande, dass für einen Moment zu einem anderen Modus der primären Illusion gewechselt wird. Sullivan bemerkt, dass skulpturales Schmuckwerk in der Architektur zu einer Gefühlssteigerung führt,224 und D. G. James behauptet in Scepticism and Poetry, sämtliche Hauptcharaktere bei Shakespeare erreichten in einer lyrischen Passage, der eigentlichen Apotheose des Stü­ ckes, eine »Depersonalisierung des Gefühls«225 . Die reiche Struktur der primären Tanzillusion sorgt beim Theoretiker für Verwirrung, für den schöpferischen Künstler aber gehört zu seinem Tanz alles, was dazu beiträgt, den Schein der psychischen und mystischen Mächte zu einem Bild der »Mächte« zu machen, die in jedem organischen Leben, dem körperlichen wie dem geistigen, aktiv oder passiv empfunden werden. Wie Mary Wigman schreibt: »Starke und überzeugende Kunst ist noch nie aus Theorien hervorgegangen. Sie ist stets organisch gewachsen. Getragen und unterstützt wird sie von den wenigen schöpferischen Naturen, denen das Schicksal den Weg für ihre Arbeit gewiesen hat.«226 Heute, in unserer säkularen Kultur, sind diese Künstler die Bühnentänzer, die Tänzer des russischen Balletts und seiner Abkömmlinge, der verschiedenen Schulen des »modernen Tanzes« und gelegentlich auch die Revuetänzer, wenn einige ihrer Nummern in einem Potpourri guter und schlechter Unterhaltung sich dank des unbeabsichtigten Eingreifens eines Genies zu unvorhergesehenen Höhen aufschwingen. Die Arbeit an einer Tanzkomposition ist so klar und konstruktiv, so ideenreich und kunstvoll wie jede Komposition in der bildenden Kunst oder der Musik auch. Sie entspringt der Vorstellung von einem Gefühl, einer Matrix symbolischer Form und entfaltet sich wie jedes andere Kunstwerk organisch. Vergleicht man Mary Wigmans weitere Ausführungen in dem so Sullivan, Kindergarten Chats, a. a. O., S. 188.   D. G. James, Scepticism and Poetry. An Essay on the Poetic Imagi­ nation, London 1937, S. 118. 226  Wigman, The New German Dance, a. a. O., S. 20. 224

225



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eben zitierten Essay mit den Zeugnissen von Musikern über den schöpferischen Prozess, 227 ergeben sich eigentümliche Parallelen: »Jede Tanzgestaltung ergibt sich aus dem Tanzerlebnis, das der Ausführende zu verkörpern ausersehen ist und das seiner Schöpfung erst den richtigen Stempel aufdrückt. Das Erlebnis bildet den Kern, den Grundakkord seiner Tanzexistenz, um den herum sich alles andere kristallisiert. Jeder schöpferische Mensch birgt sein eigenes charakteristisches Thema in sich. Es wartet darauf, durch das Erlebnis erweckt zu werden, und vervollständigt sich durch vielfältige Ausstrahlungen, Variationen und Verwandlungen während eines ganzen schöpferischen Zyklus.«228 Die Substanz einer solchen Tanzschöpfung ist die gleiche Macht, die auch alte Höhlen und Wälder verzauberte, nur dass wir sie heute im vollen Wissen darum beschwören, dass sie Illusion ist, und damit in durch und durch künstlerischer Absicht. Das Hinauswachsen des menschlichen Verstandes über mythische Vorstellungen hin zu philosophischem und wissenschaftlichem Denken hat den magischen Bezirk rund um den Altar unvermeidlich und mit Recht zerstört. Der Tanz, das heiligste Werkzeug von Zauberei, Götterverehrung und Gebet, erlitt, seines hohen Amtes beraubt, den Niedergang aller überwundenen Rituale: Er verkam zum irrationalen Brauch oder zum Gesellschaftsspiel. Als Erbe zurückgelassen hat er uns jedoch seine großartigen Illusionen und in eins damit die Herausforderung an eine künstlerische Vorstellungskraft, die nicht länger von Täuschungen abhängt, um sich in Gang zu setzen. Abermals tanzen Menschen mit großer Ernsthaftigkeit und Leidenschaft; der Tempeltanz und der Regentanz sind nie ehrfurchtsvoller gewesen als das Werk unserer hingebungsvollen Künstler. Der ernsthafte Tanz ist sehr alt, als Kunst aber ist er, sieht man von einigen alten asiatischen Kulturen ab, verhältnismäßig 227

  Siehe Kap. 8.   Wigman, The New German Dance, a. a. O., S. 21.

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neu. Als Kunst erschafft er das Bild jenes pulsierenden organischen Lebens, dessen Stiftung und Erhaltung in früherer Zeit von ihm erwartet worden ist. »Das Form gewordene Bild ist ein Zeugnis der primären Vision, die sich durch das innere Erleben ergeben hat. Diese Schöpfung wird in ihrer Wirkung immer die reinste und kraftvollste sein, da sie in ihrem kleinsten Detail von der vibrierenden, beseelten Einheit zeugt, die die Idee hervorgerufen hat. Die Gestalt, die das innere Erleben des Individuums annimmt, […] wird auch über die einzigartige, magnetische Übertragungskraft verfügen, dank deren andere Personen, die teilnehmenden Zuschauer, in den magischen Kreis der Schöpfung hineingezogen werden.«229

229

  Ebd., S. 23.

13. Kapitel Poesis Die Literatur ist eine der großen Künste, und mehr als jede andere ist sie Gegenstand von Lehre und Studium; dabei bedeuten Lippenbekenntnisse in Bezug auf ihren Kunstcharakter aber nicht, dass dieser klar erfasst und sie entsprechend behandelt würde. Dass die Literatur zum gängigen akademischen Kanon gehört, hat seinen Grund gerade darin, dass man sie als etwas anderes denn als Kunst betrachten kann. Da üblicherweise die Sprache ihr Material ist, also das Medium des Diskurses, lässt ein literarisches Werk sich immer auch als eine Behauptung von Tatsachen und Meinungen betrachten, d. h. als Teil des diskursiven Symbolismus, der genauso funktioniert wie eine gewöhnliche Mitteilung auch. Dieser trügerische Aspekt der sprachlichen Kunst hat aus der »Literatur« eines unserer obligatorischen Prüfungsfächer gemacht, während das Studium anderer Künste generell als etwas gilt, wozu eine besondere Neigung oder ein besonderes Talent erforderlich ist und das daher der Wahl der Studenten überlassen bleibt. Bücher über die Grundlagen der literarischen Kunst füllen ganze Bibliotheken, weil diese Grundlagen dem intellektuellen Zugang, der Wissenschaftlern selbstverständlich ist, zugleich äußerst faszinierend und höchst irritierend erscheinen. Der Sinn eines jeden literarischen Werkes muss, so die Annahme, in dem liegen, was der Verfasser sagt. Doch jeder Kritiker, der diesen Namen verdient, hat genug literarisches Gespür, um zu wissen, dass es eigentlich darauf ankommt, wie etwas gesagt wird. Besonders offensichtlich ist dies in der Dichtung. Soll der Leser daher sein Interesse zwischen dem Wert der Behauptung einerseits und der spezifischen Weise, wie sie zum Ausdruck gebracht wird, andererseits aufspalten? Ist die Formulierungsweise nicht das Entscheidende? Sollte aber die Formulierung

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nicht selbst danach beurteilt werden, wie genau sie die Ideen des Verfassers wiedergibt? Die wesentliche Aufgabe der Kritik scheint darin zu liegen, die eigentümliche Ausdrucksform zu bestimmen und zu sehen, wie sie dem dient, was der Autor sagen will. Einführungen in die Dichtung, die uns zu erklären und zu beurteilen auffordern, »was der Dichter sagen will« und »wie gut er es sagt«, gibt es wie Sand am Meer. Wenn der Leser jedoch klären kann, was der Dichter sagen will, warum kann dieser es dann nicht von vornherein klar sagen? Wir müssen uns häufig zurechtlegen, was ein Fremder, der sich in unserer Sprache ausdrückt, eigentlich sagen möchte; aber geht der Dichter ebenso ungeschickt mit Worten um? Wenn wir diejenigen sind, die mit seiner Sprache nicht vertraut sind, dann haben wir nicht herauszufinden, was er uns sagen will, sondern was er uns sagt; und es ist nicht an uns, darüber zu urteilen, wie gut er es sagt, denn schließlich sind wir die Lehrlinge. Das Merkwürdigste an dieser offenbaren sprachlichen Schwierigkeit ist, dass auch solche von ihr befallen werden, die im Bereich der Dichtung alles andere als Neulinge sind. So bemerkt I. A. Richards, der Verfasser einer ernstzunehmen­ den Studie über »das weitverbreitete Unvermögen, eine Bedeu­ tung zu interpretieren«, ein wenig erstaunt, dass »nicht nur diejenigen, die wenig Erfahrung mit Dichtung haben, hier ver­sagen. Einige, die den Eindruck machen, sehr belesen zu sein, scheinen sich wenig oder gar keine Mühe zu geben, zu einem Verständnis zu kommen, oder bleiben zumindest seltsam erfolglos. Tatsächlich werden wir, je mehr wir diesen Gegenstand untersuchen, umso mehr entdecken, dass ›eine Liebe zur Dichtung‹ von dem Unvermögen begleitet ist, sie zu verstehen oder zu interpretieren. Dieses Interpretieren, das müssen wir voraussetzen, ist nicht annähernd so leicht und ›natürlich‹ zu leisten, wie wir anzunehmen geneigt sind.«230 Gleichwohl ist er   I. A. Richards, Practical Criticism. A Study of Literary Judgment, London 1929, S. 312. 230



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davon überzeugt, dass es ein notwendiger Schritt ist, um zu einer wirklichen Wertschätzung zu kommen, und dass es gelehrt werden kann und sollte, da die einzige Alternative dazu, die gelesene Dichtung zu »verstehen«, die ist, eine Art von »sentimentalem« Vergnügen an den Worten zu finden. Denn »es steht außer Zweifel, dass ein gewisser ›sentimentaler‹ Hang zur Dichtung recht wertlos ist oder dass diese dürftige Fähigkeit, komplexe und unvertraute Bedeutungen zu interpretieren, eine Quelle grenzenloser Verluste ist […].«231 Für zeitgenössische Pragmatisten ist es ein Gemeinplatz, dass Sprache nur zwei wesentliche Funktionen hat (wie ausführlich sie auch von ihren vielen, vielen Verwendungsweisen sprechen), nämlich Informationen zu übermitteln und Gefühle und Einstellungen beim Hörer auszulösen. Die Leitfragen der Kritik von Dichtung müssten daher lauten: Was will der Dichter sagen? und: Was will der Dichter für Gefühle in uns auslösen? Dass die Gefühle, die er hervorrufen will, angemessene Reaktionen auf die von ihm formulierten Aussagen sind, ist ein weiterer Gemeinplatz. Zwischen der besonderen Schwierigkeit zu verstehen, was das Gedicht sagt, und den Ablenkungen, die eine »angemessene« Gefühlsreaktion unter Umständen verhindern, scheint die Würdigung von Dichtung eine äußerst komplizierte Übung für Geist und Nerven zu sein. Ich vermute, Richards würde dem zustimmen, denn über das wörtliche Verstehen allein schreibt er: »Es ist eine Fertigkeit, so wie Mathematik, Kochen, Schuhmacherei Fertigkeiten sind. Es lässt sich erlernen […].«232 Und dann sind da noch all die Gefährdungen, denen die Reaktion ausgesetzt ist! »›Sich eine Meinung zu einem Gedicht zu bilden‹ gehört zu den heikelsten aller denkbaren Unterfangen. Wir müssen Millionen von flüchtigen, halbunabhängigen Impulsen zu einer augenblicklichen Struktur von ungeheurer Komplexität zusammenführen, deren Kern oder Keim nur in den Worten gegeben ist. Was wir ›bilden‹, diese augenblickliche, 231

  Ebd., S. 313.   Ebd., S. 312 f.

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zitternde Ordnung in unserem Kopf, ist zahllosen irrelevanten Einflüssen ausgesetzt. Gesundheit, Wachheit, Ablenkungen, Hunger und andere Triebspannung, die bloße Qualität der von uns eingeatmeten Luft, die Feuchtigkeit, das Licht, all das beeinträchtigt uns. Beispielsweise wird niemand, der überhaupt einen Sinn für Rhythmus hat, daran zweifeln, dass das neue, allgegenwärtige, nahezu unauf hörliche Gemurmel und Gerausche des modernen Verkehrs […] imstande ist, in vielfältiger Weise unsere Lektüre von Versen zu stören.«233 Bezogen auf die Dichtung ist dies das genaue Gegenstück zu Pralls »jungem Musikbesessenen«, dessen Erfahrung so lange nicht vollkommen musikalisch ist, solange er sich noch seines Körpers und seiner Umgebung bewusst ist. Es ist ein weiteres Beispiel der Blüten, die die Reiz-Reaktions-Theorie der Kunst treiben – der Annahme, Kunst sei nur eine besondere Weise, etwas zu »erfahren«, das sich nicht an sich von unseren Alltagserlebnissen unterscheidet. Ich möchte hier nicht wiederholen, was ich gegen diesen psychologischen Ansatz bereits an Einwänden vorgebracht habe, 234 sondern hier lediglich noch einmal eine Auffassung des Kunstwerks vorlegen, die mir produktiver erscheint. Unter Lehrern der Poesie ist es heute Mode, den Unterricht mit dem Hinweis zu beginnen, dass das Wort »Poet« »Hersteller« bedeutet. Doch was genau hat der Verfasser eines Gedichtes hergestellt? Das Anordnen von Wörtern ist so wenig eine Schöpfung wie das Anordnen von Tellern auf einem Tisch. Manch einer, dem das klar geworden ist, hat sich dennoch dafür entschieden, an dem Begriff festzuhalten, und folglich nennt er jedes bewusste Ordnen von Elementen – Teller auf einem Tisch, Wäsche auf einem Bord, Wörter in einem Verzeichnis oder Wörter in einem Gedichtbuch – eine »Schöpfung«. Diese Praxis kommt dem Pragmatismus, demzufolge die Dichtung sich nur »graduell« von allem anderen im Leben unterscheidet, mehr 233

  Ebd., S. 317 f.   Vgl. Kapitel 3, S. 112 ff.

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als nur halbwegs entgegen. »Graduell« von was? Von »gewissen Reaktionen«, »gewissen Einbeziehungen«, »gewissen Werten«. Die Fortschritte der Wissenschaft sind noch nicht weit genug gediehen, um diese Gewissheiten weiter zu analysieren.235 Wenn wir uns jedoch dieselben Fragen über die Dichtung stellen, die ich im Hinblick auf andere Künste aufgeworfen habe, so erweist sich, dass die Antworten genau parallel zu denen verlaufen, die in Bezug auf die Malerei, die Musik oder den Tanz gegeben wurden. Der Dichter bedient sich des Diskurses, um eine Illusion zu erschaffen, eine reine Erscheinung, die eine nicht-diskursive symbolische Form ist. Das durch diese Form ausgedrückte Gefühl ist weder seines noch das seines Helden noch unseres. Es ist die Bedeutung des Symbols. Möglicherweise brauchen wir eine gewisse Zeit, um es zu erkennen, aber das Symbol bringt es jederzeit zum Ausdruck, und in diesem Sinn »existiert« es objektiv, wann immer es uns vorgelegt wird, und nicht erst dann, wenn irgendjemand »gewisse ganzheit­ liche Reaktionen« auf das zeigt, was ein Dichter sagt. Es kann sein, dass wir einen Blick auf eine Seite werfen und uns beinahe sofort sagen »Dies ist ein gutes Gedicht!«, auch wenn das Licht einer nackten Glühbirne das Zimmer grässlich erscheinen lässt, die Nachbarn Kohl kochen und unsere Schuhe nass sind. 236 Denn ein Gedicht ist wesentlich etwas, das wahrgenommen werden muss, und Wahrnehmungen sind starke Erfahrungen, die für gewöhnlich durchdringender sind als die »augenblickliche, zitternde Ordnung in unserem Kopf«, das Ergebnis der verschiedenen Reize – sei es nun Behaglichkeit und süße Luft oder Kälte, Trostlosigkeit und Kohl. Die anfänglichen Fragen lauten daher nicht: »Was will uns der Dichter sagen, und welche Gefühle will er diesbezüglich in uns erwecken?« Sie lauten stattdessen: »Was hat der Dichter geschaffen und wie hat er es geschaffen?« Er hat eine Illusion   Vgl. Richards, Prinzipien der Literaturkritik, a. a. O., S. 287 f.   Man vergleiche dazu Clive Bells im 3. Kapitel (S. 110) zitierte Bemerkung, dass wir auf einen Blick erkennen, ob ein Bild gut ist. 235

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geschaffen, die ebenso vollständig und unmittelbar ist wie die durch ein paar Striche auf einem Papier geschaffene Illusion des Raums, wie die Zeitdimension in einer Melodie, wie das durch die erste Geste eines Tänzers hervorgebrachte Spiel der Mächte. Er hat mithilfe von Worten eine Illusion hervorgebracht – Worten, die einen Klang und einen Sinn haben, eine Aussprache und eine Schreibweise, Dialektformen und verwandte Wörter (»Kognaten«); Worten mit einer Abstammungen und Ableitungen, d. h. mit einer Geschichte und Einflüssen; Worten mit archaischen und modernen Bedeutungen, mit umgangssprach­ lichen Bedeutungen, mit metaphorischen Bedeutungen. Was er jedoch erschafft, ist keine Anordnung von Worten, denn diese sind nur sein Material, aus dem er seine poetischen Elemente erstellt. Die Elemente sind dasjenige, was er einsetzt und ausbalanciert, ausbreitet, verstärkt oder auf baut, um ein Gedicht zu verfassen. Was für eine Art Ding der Dichter erschafft, lässt sich vielleicht am ehesten verstehen, wenn wir eine recht banale Erfahrung betrachten, die vermutlich jeder irgendwann gemacht hat: dass man nämlich als Reaktion auf eine vollkommen aufrichtige und wahre Aussage »Es klingt so furchtbar, wenn du es so formulierst!« zu hören bekommt. Nun ist die Tatsache, auf die Bezug genommen wird, nicht furchtbarer, wenn sie durch dieses statt durch jenes sprachliche Symbol mitgeteilt wird; die Tatsache ist einfach, was sie ist. Aber sie erscheint wirklich furchtbar, wenn sie auf eine bestimmte Weise festgehalten wird. Der Zuhörer beschwert sich ja nicht »Es ist so furchtbar, wenn du es so formulierst«, sondern »Es klingt so furchtbar …« Oder wir fassen den Inhalt einer Rede ganz und gar sinngetreu zusammen, indem wir lediglich jeden einzelnen Punkt kurz nennen, und erhalten zur Antwort: »Wenn du es so formulierst, wirkt es natürlich albern!« Wiederum ist zu sagen, dass der Inhalt unserer Zusammenfassung, so er denn zutreffend ist, nicht alberner ist als jener der Rede. Aber dort erschienen die aufgestellten Behauptungen wunderbar, während sie in der trockenen Kurzversion lächerlich erscheinen.



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Was sich in der Wiedergabe verändert, ist nicht die Tatsache oder die ausgedrückte Überzeugung, wohl aber ihre Erscheinung. Dasselbe Ereignis mag zwei Menschen, die es erleben, völlig verscheiden erscheinen. Die Unterschiede gehen zweifellos auf Assoziationen, Haltungen, Einsichten und andere psychologische Faktoren zurück, die die Gesamtreaktion bestimmen. Solche Gründe kann ein Dichter nicht kontrollieren, schließlich ist er ja kein genialer Psychologe, der die Gemütsverfassung seiner Leser kennt und mit dem Geschick eines Werbefachmanns auf sie einwirkt. Die Erscheinungen von Ereignissen in unserem realen Leben sind wie die meisten unserer Erfahrungen fragmentarisch, flüchtig und oft unbestimmt, so wie der Raum, in dem wir uns bewegen, wie die Zeit, deren Vergehen wir empfinden, wie die menschlichen und nichtmenschlichen Kräfte, die uns herausfordern. Das Geschäft des Dichters besteht darin, die Erscheinung von »Erfahrungen«, den Schein gelebter und gefühlter Ereignisse, zu erschaffen und sie so zu organisieren, dass sie eine rein und vollständig erfahrene Realität bilden, ein Stück virtuellen Lebens. Dieses Stück kann klein oder groß sein – so groß wie die Odyssee oder so klein, dass es nur ein winziges Ereignis umfasst, wie das Denken eines Gedankens oder die Wahrnehmung einer Landschaft. Was es jedoch auszeichnet, was es von jedem realen Segment des Lebens radikal unterscheidet, ist der Umstand, dass die Ereignisse darin vereinfacht sind und gleichzeitig vollständiger erfasst und beurteilt werden als das Durcheinander von Geschehnissen in der realen Geschichte eines Menschen. Das heißt nun nicht, dass es nicht auch im virtuellen Leben ein Durcheinander geben könnte: Nichts könnte beispielsweise ein größeres Durcheinander bilden als die Ideen und Szenen in The Waste Land (Das wüste Land). Diese Verwirrung verfolgt freilich einen künstlerischen Zweck, sie ist keine Kopie von etwas, das sich tatsächlich so ereignet hat. Die virtuelle Erfahrung, die aus diesen höchst geschickt zusammengewürfelten Eindrücken geschaffen worden ist, vermittelt eine dichte und klare Sicht auf gesellschaftliche Gewaltherrschaft, versehen mit all

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den Untertönen des persönlichen Grauens, des Widerwillens, der an Wahnvorstellungen grenzenden Wahrnehmung und des emotionalen Hintergrunds, vermittels derer dieses bunte Sortiment in einer einzigen Illusion des Lebens zusammengehalten wird, so wie ein Farbschema alle Gestalten eines bunt belebten Bildes im Reich seines virtuellen Raums vereinigt. Diese Illusion von Leben ist die primäre Illusion jeder poetischen Kunst. Bereits mit dem allerersten Satz, der die Haltung des Lesers oder Hörers vom konventionellen Interesse auf das literarische lenkt, mithin weg von der Wirklichkeit und hin zur Fiktion, wird die Illusion zumindest vorläufig hergestellt. Wir führen diesen Wechsel mit großer Leichtigkeit und sehr viel häufiger aus, als uns deutlich wird, selbst mitten in einem Gespräch. Da muss bloß jemand sagen »Kennst du die Geschichte von den zwei Schotten, die …«, und schon steigt jeder in Hörweite aus seinem gegenwärtigen Gespräch aus und widmet seine Aufmerksamkeit »den« beiden Schotten und »ihrem« Irrwitz. Witze sind eine besondere literarische Form, bei der Menschen von einem Augenblick zum anderen auf horchen. Kinder lauschen mit der gleichen Bereitwilligkeit Geschichten und Versen, wie sie stets bereit sind, Bilder anzuschauen. Dieses Kapitel wird sich aus mehreren Gründen nur mit der Dichtung, insbesondere der Lyrik, beschäftigen: Erstens empfinden die meisten Menschen den Unterschied zwischen wörtlicher und künstlerischer Bedeutsamkeit hier weitaus stärker als bei anderen Arten von Literatur, auch wenn sie ihn nicht erklären können; zweitens wird das rein sprachliche Material – metrische Betonungen, Vokalwerte, Reim, Alliteration usw. – in der Dichtung stärker ausgeschöpft als in der Prosa, so dass die Technik des Schreibens in Versen markanter zu Tage tritt und auf diesem eingeschränkten Feld leichter zu untersuchen ist; und drittens lassen sich alle Formen der literarischen Kunst, auch der sogenannten Sachliteratur, sofern sie künstlerisch wertvoll ist, durch die Vertiefung und Ausweitung poetischer Mittel verstehen. Jegliches Schreiben veranschaulicht die gleichen schöpferischen Prinzipien, und der Unterscheid zwischen



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den literarischen Hauptformen wie Vers und Prosa ist einer der in der literarischen Schöpfung verwandten Mittel. So wie ich den Begriff des »virtuellen Raums« zunächst ausschließlich in Bezug auf die Bildkunst entwickelt habe, 237 werde ich die Illusion der Erfahrung oder das »virtuelle Leben« in diesem Kapitel ausschließlich mit Blick auf die Dichtung im engeren Sinn erörtern. Sobald das Prinzip der poetischen Schöpfung verstanden worden ist, ist der Übergang zur Prosaliteratur sehr leicht zu vollziehen. Das Wort »Leben« wird in zwei unterschiedlichen allgemeinen Bedeutungen verwendet, wenn wir die vielen esoterischen oder speziellen Bedeutungen, die es daneben noch haben mag, außer Acht lassen: in der biologischen Bedeutung, der zufolge »Leben« die charakteristische Funktion des Organismus ist und im Gegensatz zum »Tod« steht, sowie in der sozialen Bedeutung, der zufolge »Leben« das ist, was geschieht, was dem Organismus (oder, wenn man so will, der Seele) zustößt und womit er zurechtkommen muss. In der ersten Bedeutung weist jede Kunst den Charakter des Lebens auf, da ja alle Werke einen organischen Charakter haben müssen 238 und es für gewöhnlich sinnvoll ist, von ihrem »grundlegenden Rhythmus« zu sprechen. »Leben« in der zweiten Bedeutung kommt jedoch besonders der dichterischen Kunst zu, nämlich als deren primärer Illusion. Der Schein erlebter Ereignisse, die Illusion von Leben, ist mit der ersten Zeile hergestellt; der Leser tritt augenblicklich einer virtuellen Ordnung von Erfahrungen gegenüber, die einen unmittelbar aufscheinenden Wert haben, ohne dass nachweisliche Gründe für das Gute oder Böse, die Wichtigkeit oder Banalität, selbst den natürlichen oder übernatürlichen Charakter gegeben werden, die sie zu haben scheinen. Denn illusorische Ereignisse haben keinen Realitätskern, der es ihnen ermöglichte, unter vielen Aspekten zu erscheinen. Sie besitzen nur solche Aspekte, die ihnen in der Erzählung gegeben werden; 237

  Vgl. Kapitel 4 und 5.   Vgl. Kapitel 8.

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sie sind so entsetzlich, so wunderbar, so anheimelnd oder so bewegend, wie sie »klingen«. Tyger! Tyger! burning bright In the forests of the night (Tiger! Tiger! Brand entfacht In den Wäldern tiefer Nacht)239

Plötzlich ist der »tyger« ein übernatürliches Tier, keine Wesen, das bei einer englischen Jagd erlegt und gehäutet werden kann. Ein gewöhnlicher Tiger würde durch den dunklen Dschungel streifen, nicht in den »Wäldern tiefer Nacht« brennen. Die Wendung »Wälder tiefer Nacht« macht den Ort ebenso wie das Geschöpf selbst zu etwas Irrealem und Symbolischen, denn die grammatische Konstruktion – sie allein! – gleicht die Wälder der Nacht an, statt dass die Dunkelheit zu einem Attribut der Wälder würde, wie man es im Alltag durch die gewöhnliche adjektivische Konstruktion tut: »dunkle (oder düstere) Wälder«. Blakes »tyger« ist nicht auf natürlichem Wege geboren worden, er hat keine täglichen Gewohnheiten; er ist der »tyger«, von Gott geschaffen, mit einem Herz voll satanischer Gefühle und einem überlegenen Verstand. In ihm liegt das Geheimnis der Natur: »Did He who made the Lamb make thee?« (Schuf er, der auch das Lamm schuf, dich?) Die Vision eines solchen Tigers ist eine virtuelle Erfahrung, die von der ersten bis zu letzten Zeile des Gedichts aufgebaut wird. Freilich lässt sich gar nichts auf bauen, wenn nicht schon die allerersten Worte des Gedichts einen Bruch mit der realen Umgebung des Lesers vollziehen. Aufgrund dieses Bruchs ist jede körperliche Verfassung, sofern sie nicht stark ablenkend ist, für die poetische Erfahrung unerheblich. Wie immer unsere ganzheitliche organische Reaktion ausfallen mag, sie ist keine Reaktion auf die sich häufenden kleinen sprachlichen Reize –   William Blake, The Tyger/Der Tiger, in: ders., Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke, zweisprachige Ausgabe, hg. u. übers. v. Thomas Eichhorn, München 1996, S. 94 f. [ A nm. d. Hg. ] 239



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keine labil aufrechterhaltene Entwicklung von Erinnerungen, Assoziationen, unbewussten Wünschen, Gefühlen –, sondern eine Reaktion auf eine stark artikulierte virtuelle Erfahrung, auf einen beherrschenden Reiz. Wir haben keine Möglichkeit, zu bemerken und zu verfolgen, was uns psychisch in Beschlag nimmt – und das lässt mich daran zweifeln, dass die »Wissenschaft« uns je eine interessante Theorie der künstlerischen Werte wird liefern können –, wohl aber sind wir imstande, in einigem Detail das Erschaffen der virtuellen Darstellung nachzuzeichnen, auf die verschiedene Menschen zwar unterschiedlich reagieren, die aber von hinreichend vielen Menschen im Wesentlichen auf die gleiche Weise wahrgenommen wird, so dass ihre symbolische Funktion wirksam ist. Die fesselnde Unwirklichkeit ist in einem Gedicht wie »Der Tiger« so offenkundig, dass der Bruch mit der realen Existenz als etwas Besonderes erscheinen mag, als etwas, das mystischen Gedichten eigen ist und sich daher nicht so recht als Prinzip von Dichtung überhaupt aufstellen lässt. Wie steht es mit Gedichten, die der gewöhnlichen Erfahrung ziemlich nahe kommen, wie die schönen, dichten Verse eines alten chinesischen Dichters, in denen reale Orte erwähnt werden und die sich oft an reale Menschen wenden? Betrachten wir die schlichten, präzisen Aussagen dieses kleinen Gedichts: A Farewell in the Evening Rain To Li Ts’ao Is it raining on the river all the way to Ch’u? The evening bell comes to us from Nan-king. Your wet sail drags and is loath to be going And shadowy birds are flying slow. We cannot see the deep ocean-gate – Only the boughs of Pu-kou, newly dripping. Likewise, because of our great love, There are threads of water on our faces.240   Wei Ying-Wu, A Farewell in the Evening Rain, in: The Jade Moun-

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Teil II  ·  Die Herstellung des Symbols

Abschied im Abendregen Für Li Ts’ao Regnet es auf dem Fluss von hier bis Ch’u?– Von Nanking tönt die Abendglocke zu uns herüber. Schlaff ist dein nasses Segel, es will nicht fahren Und schattenhafte Vögel fliegen langsam. Wir können das tiefe Meerestor nicht sehen – Nur die Zweige von Pu-kou, die frisch tropfen. Genauso rinnen, so groß ist unsere Liebe, Wasserfäden über unsere Gesichter.

Selbst in der Übersetzung, der es an den ursprünglichen Verskonventionen der chinesischen Literatur (wie immer diese sein mögen) fehlt, ist dies Dichtung, kein Bericht über Li Ts’aos Abreise. Was erwähnt wird, schafft eine vollkommen subjektive Situation, doch alles, was für den Alltagsverstand von Bedeutung ist – wohin der Freund reist, wie weit weg, warum und mit wem –, wird gänzlich ausgelassen. Der Regen auf dem Fluss, den Segeln, den die Sicht behindernden Ästen wird schließlich zu einem Tränenstrom. Über das Gedicht hinweg ist etwa in jeder zweiten Zeile die Rede von ihm, so dass die anderen Objekte – die Glocke, die schattenhaften Vögel, das unsichtbare Meerestor – mit ihm verschmelzen und daher mit ihm zusammen in die große Liebe eingehen, um die das ganze Gedicht trauert. Zudem sind alle diese scheinbar beiläufigen lokalen Ereignisse, die zwischen den Regenzeilen eingestreut sind, Symbole der Verbindung, die die Trennung so schmerzhaft macht. Nanking ruft, das Segel ist schwer, das Segeln mühsam, die wegfliegenden Vögel sind langsam, und sie sind schattenhaft – sind der Schatten; das »tiefe Meerestor«, der größere Ort, Li Tsaos nächste Bestimmung, bleibt wegen des kostbaren nahen tain. A Chinese Anthology, being Three Hundred Poems of the T’ang Dynasty, hg. u. übers. v. Witter Brynner, New York 1929, S. 207. [Da es keine zuverlässige deutsche Übersetzung dieses Gedichts gibt, ist hier die englische wiedergegeben und übersetzt, die Langer selbst zitiert; Anm. d. Hg.]



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Orts verborgen, der »Zweige von Pu-kou«, die jedes Interesse an der Unternehmung verstellen. So steigert sich die scheinbar einfache Beschreibung zum Bekenntnis eines menschlichen Gefühls, das in meisterhafter Indirektheit als bloßer Vergleich zu den äußeren Ereignissen auftaucht, obwohl sie doch eigentlich nur seiner Vorbereitung dienen: Genauso rinnen, so groß ist unsere Liebe, Wasserfäden über unsere Gesichter.

»Wir« und der Regen, der Fluss, die Trennung, die Bewegungen und Klänge und die Tageszeit, das sind die allein durch Worte, durch die Erwähnung, geschaffenen poetischen Elemente. Der Ort und das Geschehnis beziehen ihren Charakter ebenso aus dem, was ausgelassen, wie aus dem, was genannt wird. Alles, was im Gedicht vorkommt, hat einen doppelten Charakter: Es ist zum einen ein Detail in einem vollkommen überzeugenden virtuellen Ereignis und zum anderen ein emotionaler Faktor. Es gibt nichts im gesamten Auf bau, was nicht seinen Gefühlswert hätte, und nichts, was nicht zur Illusion einer bestimmten und – in diesem Fall – vertrauten menschlichen Situation beitrüge. Der Illusion wäre nicht mit zusätzlichem Wissen geholfen – wenn wir etwa tatsächlich mit dem genannten Ort vertraut wären oder mehr über die Lauf bahn oder die Persönlichkeit Li Ts’aos wüssten oder Fußnoten uns über die Verfasserschaft des Gedichts und die Umstände seiner Abfassung auf klärten. Solche Zusätze würden das poetische Bild des Lebens nur mit unmaßgeblichen Mitteilungen überfrachten – und unmaßgeblich wären sie, weil sie nicht dem Organisationsprinzip entspringen, dank dessen die Illusion zustande kommt: dass jedes Element in der Handlung zugleich Ausdruck des darin liegenden Gefühls ist, so dass der Dichter eher psychische Ereignisse schafft und nicht ein Stück objektive Geschichte produziert. Der Erfahrungscharakter der virtuellen Ereignisse sorgt dafür, dass die »Welt« in höherem Maße bedeutungsvoll ist als die reale Welt, in der Tatsachen zweiter Hand, die in keiner Verbindung zur persönlichen Existenz stehen, stets das Gerüst

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bilden, so dass die Orientierung in der Welt ein großes Problem ist. In einem literarischen Rahmen mögen die drama­ tis personae orientierungslos sein, der Leser aber ist es nicht. Selbst T. S. Eliots Welt der Täuschung und der Vergeblichkeit, die J. Alfred Prufrock so irritiert, ist für den Leser vollkommen durchsichtig – mag sie ihn auch bedrücken, verwirren tut sie ihn nicht. 241 Wenn der Leser außerstande ist, die dargestellte Welt zu begreifen, stimmt etwas nicht mit dem Gedicht oder seiner literarischen Auffassung. Die virtuelle Welt, in der sich poetische Ereignisse entwi­ckeln, ist immer eine dem Werk eigentümliche; es ist diese besondere Illusion von Leben, die von jenen Ereignissen geschaffen wird, so wie der virtuelle Raum eines Bilds der besondere Raum der in ihm enthaltenen Formen ist. Die »Welt« eines Gedichtes muss, will sie eine kohärente Phantasie liefern, aus Ereignissen im Phantasiemodus bestehen – im Modus naiver Erfahrung, in dem Handlung und Gefühl, sinnlicher und moralischer Wert, Kausal- und Symbolverbindung noch ungetrennt sind. Denn die primäre Illusion der Literatur, der Schein von Leben ist eine Abstraktion des unmittelbaren, persönlichen Lebens, wie ja auch die primären Illusionen der anderen Künste – virtueller Raum, virtuelle Zeit und virtuelle Mächte – Bilder des wahrgenommenen Raums, der vitalen Zeit, der gefühlten Mächte sind. Virtuelle Ereignisse sind die grundlegende Abstraktion der Literatur. Mit ihrer Hilfe wird die Illusion von Leben erzeugt, aufrechterhalten und auf spezifische, artikulierte Weise geformt. Ein kleines Ereignis mag Stoff für ein ganzes Gedicht liefern und seine Einzelheiten in dem vereinfachten, es von allem anderen trennenden Rahmen einer rein poetischen Wirklichkeit entfalten. Betrachten wir die Geringfügigkeit, ja Belanglosigkeit der tatsächlichen Aussage von Herricks »Delight in Disorder«. Er zieht eine gewisse Lässigkeit der weiblichen Kleidung jeder Ordentlichkeit und Sorgfalt vor. Lohnt es sich,   Vgl. T. S. Eliot, J. Alfred Prufrocks Liebesgesang, in: ders., Gesam­ melte Gedichte 1909–1962, Frankfurt a.M. 1972, S. 6–15. [ A nm. d. Hg. ] 241



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eine solche Aussage mehr als dreihundert Jahre zu bewahren? Sicherlich nicht als Tatsachenaussage, von der Art wie das Kleingedruckte in Zeitungen. Was hat Herrick aber daraus gemacht? Ein psychisches Ereignis: das Auftreten und den Gang eines Gedankens. Sofort wird gewinnt das Thema an Leben. Der Gedanke beginnt mit der Betrachtung einer allgemeinen Wirkung und ihrer Quelle: A sweet disorder in the dress Kindles in clothes a wantonness: (Reizvolle Unordnung im Kleid entzündet leicht Begehrlichkeit:)

Schon die ersten Worte »reizvolle Unordnung« vollziehen den Bruch mit der Wirklichkeit, denn sie drücken ein außergewöhnliches Urteil so unbekümmert aus, als müsste jeder ihm zustimmen. Und im selben Atemzug wird der Reiz erklärt: eine solche Lässigkeit ist verlockend. Das Wort »entzünden« sagt alles. Die Begehrlichkeit, heißt es, soll sich im Kleid entzünden. Die ganze amouröse Schwärmerei, die im Gentleman durch den Mutwillen der Dame entzündete Leidenschaft, verharrt so auf der oberflächlichen Ebene der Galanterie; in Gedanken fährt er fort, sie von Kopf bis Fuß zu mustern: A lawn about the shoulders thrown Into a fine distraction: An erring lace, which here and there Enthralls the crimson stomacher: A cuff neglectful, and thereby Ribbands to flow confusedly: A winning wave (deserving note) In the tempestuous petticoat: A careless shoestring, in whose tie I see a wild civility: Do more bewitch me, than when art Is too precise in every part.

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Ein zartes Tuch, das Hals und Rücken Lässig umschlingt, erregt Entzücken. Ein Spitzensaum, der hin und wieder Hervorschaut aus dem roten Mieder: Manschetten, nachlässig gekraust, Und Bänder wirr und wie zerzaust: Ein kesser Schwung, der Blicke lockt, Im sturmgebauschten Unterrock: Ein Schuh, der, unachtsam geschnürt, Durch wilde Artigkeit verführt: Dies findet eher meine Gunst Als allzu ordentliche Kunst.242

Die letzten beiden Zeilen enthalten sein abschließendes Urteil, und der Gedanke ist damit beendet. Vom launigen Anfang bis zum offenherzigen Schluss handelt es sich um eine kokette Träumerei; die vollkommen regelmäßigen Zweizeiler, regelmäßig bis in die Satzzeichen, liefern den wohlanständigen Hintergrund für das Verrutschen und Bezaubern, für die Unordnung, das Einnehmende, das Stürmische und Sorglose der Kleidung, der dem offensichtlichen Spiel mit dem Doppelsinn einen Anstrich von raffinierter Ungezogenheit verleiht. Die Form des Gedichts stellt deutlich heraus, in welchem stillschweigend gebilligten Rahmen sich die Betrachtungen des Gentlemans bewegen, nämlich in einem sehr konventionellen – in einer strengen, regelgerechten Struktur sozialer Schutzmechanismen, die es erlauben, sich faszinieren zu lassen.243   Robert Herrick, Delight in Disorder/Reiz der Unordnung, in: Friedhelm Kemp u. Werner v. Koppenfels (Hg.), Englische und Ameri­ kanische Dichtung 1: Von Chaucer bis Milton, München 2000, S. 382 f. [ A nm. d. Hg. ] 243 In English Poetry and the English Language. An Experiment in Li­ terary History behauptet F. W. Bateson, dass dieses Gedicht, »statt das bloße jeu d’esprit, das es zu sein scheint, […] in Wahrheit eine Verteidigung des Heidentums« ist (Oxford 1934, S. 42 f.). Dieser moralischen Deutung kann ich beim besten Willen nicht zustimmen. Ich erkenne 242



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Diese ganze Analyse soll nun keine Übung in New Criticism sein, sie will lediglich zeigen, dass jedwede Dichtung illusorische Ereignisse erschafft, selbst wenn sie wie eine Meinungsäußerung – sei es eine philosophische, politische oder ästhetische – aussieht. Das Auftreten eines Gedankens ist ein Ereignis in der persönlichen Geschichte eines Denkers und es verfügt über einen ebenso eindeutigen qualitativen Charakter wie ein Abenteuer, ein Anblick oder eine menschliche Begegnung. Es handelt sich dabei nicht um eine Aussage, sondern das Erwägen einer solchen, und dazu gehören notwendig vitale Spannungen, Gefühle, das Eindringen anderer Gedanken und der Widerhall früherer Überlegung. Poetische Reflexionen sind daher wesentlich keine logischen Argumentationen, mögen sie auch zumindest Fragmente diskursiver Beweisführungen enthalten. hier weder einen Angriff auf den Puritanismus noch auf sonst irgendetwas. Die Akkuratesse, die der Gentleman ablehnt, ist nicht die sittsame Reinlichkeit puritanischer Mädchen, sondern sie ist »Kunst«, die bezaubern soll und der er vorwirft, dass sie es nicht tut. Nicht gegen den Gebrauch von »Kunst« wendet er sich; die aufrichtige Natürlichkeit von Wordsworths »Lucy« würde ihn in keiner Weise fesseln. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Dame versucht, ihn zu bezaubern, und er äußert sich galant über »a winning wave (deserving note)«. Nur ein absichtliches Missgeschick verdient es, Beachtung zu finden. Ein Gedicht, das wesentlich ein Appell ist, sollte sicherlich sein Pathos irgendwo zum Ausdruck bringen, wie subtil auch immer. In diesem Gedicht gibt es aber keinen gesellschaftlichen Protest, nicht einmal einen rebellischen Rhythmus: Wer nicht weiß, dass der Dichter in puritanischen Zeiten schreibt, würde anhand des Gedichts nie auf den Gedanken kommen, es sei in so repressiven Verhältnissen entstanden. Bedeutungen und Motive, die allein der historisch Gebildete beisteuern kann, fügen den poetischen Ereignissen oder ihrem poetischen Sinngehalt nichts hinzu. Der Sprecher im Gedicht tritt nicht für Freiheiten ein, er nimmt sie sich, wenngleich in der geschützten Form stiller Betrachtungen, und das Gedicht selbst ist kein moralisches Plädoyer, sondern »a fine distraction«. [Langers Anspielungen funktionieren hier offensichtlich nicht mit der deutschen Übersetzung, daher wurde auf das Original verwiesen; Anm. d. Hg.]

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Sie erschaffen den Schein von Argumentation, Ernsthaftigkeit, Anstrengung und Fortschritt, eines Eindrucks von zunehmendem Wissen, zunehmender Klarheit, Überzeugung und Zustimmung – der ganzen Erfahrung philosophischen Denkens. Selbstverständlich baut ein Dichter ein philosophisches Gedicht für gewöhnlich auf einer Idee auf, die ihm zu dem Zeitpunkt als wahr und wichtig erschienen ist, doch er tut es nicht in der Absicht, sie zu diskutieren. Er billigt sie und stellt ihren Gefühlswert und die Möglichkeiten heraus, die sie der Einbildungskraft eröffnet. Nehmen wir Platons Anamnesislehre in Wordsworths »Ode: Intimations of Immortality«: Wie finden dort keine Aussagen dafür oder dagegen, keine Zweifel und Beweise, sondern in erster Linie die Erfahrung, eine so großartige Idee zu haben – wie erregend sie ist, wie ehrfurchtgebietend, welch einen Hauch von Heiligkeit sie der Kindheit verleiht, wie sie erklärt, warum unser Leben mit wachsendem Alter alltäglicher wird und wie wir schließlich dahin gelangen, eine Einsicht resignierend zu akzeptieren. Es wäre jedoch falsch, Wordsworth als Vertreter einer auf Treu und Glauben übernommenen philosophischen Theorie zu verstehen, denn er hätte seine Position weder ausgeführt noch verteidigt oder dies auch nur gekonnt. Die platonische Lehre, auf die das Gedicht ihn festzulegen scheint, wird tatsächlich von der Kirche abgelehnt, zu deren Lehren er sich bekennt. So wie er sie in der Ode präsentiert, geht es auch nicht um irgendwelche theologischen Folgerungen; die Lehre geht nicht über das Gedicht hinaus. Wenige seiner Bewunderer haben tatsächlich den Eindruck, nun vom Glauben an ein früheres Leben überzeugt zu sein, und außer implizit in einigen verstreuten Zeilen verheißt das Gedicht kein Leben nach dem Tode: Thou, over whom thy Immortality Broods like the Day (Du, über dem Unsterblichkeit dem Tag gleich lastend schwebt) oder:



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Our Souls have sight of that immortal sea Which brought us hither (sehn unsere Seelen selbst das Meer der Ewigkeit aus dem man sie gebracht hierher)244

Die logische Struktur des Gedankens ist recht lose; dennoch klingt die ganze Komposition wie ein Stück metaphysischer Argumentation, und der Schein frischer Ideen, die in einer alles andere als akademischen Umgebung auftauchen, verleiht ihr eine besondere Tiefe, die aber im Grunde genommen eine Tiefe der Erfahrung, nicht des Verstandes ist. Denken ist Teil unserer instinktiven Tätigkeit – der menschlichste, emotionalste und individuellste Teil. Diese äußerst individuelle Gabe ist allerdings auch diejenige unserer Reaktionen, die am deutlichsten sozialen Charakter hat, denn sie ist so eng mit der Sprache verbunden, dass das Nachdenken nicht von Weisen des Sprechens getrennt werden kann; und wie originell wir auch in unserem Sprachgebrauch sind, die Praxis selbst ist ein rein soziales Erbe.245 Der diskursive Gedanke, der so tief in der Sprache und damit in der Gesellschaft und ihrer Geschichte wurzelt, formt nun seinerseits unsere individuelle Erfahrung. Wir bemerken und behalten im Grunde das, was »aussprechbar« ist. Das Unsagbare mag in unser Bewusstsein eindringen, aber es hat immer etwas von einer bangen Mutmaßung an sich, und je Temperament lehnen wir es ab oder lassen es zu, mit dem Eindruck des Geheimnisvollen. Die Formulierung der Gedanken durch die Sprache, die jeden zum Angehörigen einer bestimmten Gesellschaft macht, schafft eine stärkere Verbindung zum eigenen Volk, als eine »soziale Haltung« oder »Interessensgemeinschaft« es je tun könnten, denn dieses ursprüngliche   William Wordsworth, Ode (›There was a time‹), in: ders., The Ma­ jor Works, Oxford 2000, S. 299–302, hier 301 f.; Übersetzung Dietrich H. Fischer: http://www.william-wordsworth.de/translations/ode.html (zuletzt aufgerufen am 28. 6. 2017)) [ A nm. d. Hg. ] 245  Eine detaillierte Betrachtung der Sprache findet sich in Neue Tonart, Kapitel 5. 244

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geistige Band umfängt den Eremiten, den einsamen Geächteten und den Exkommunizierten ebenso wie den tadellos angepassten Bürger. Was immer eine nackte Tatsache sein mag, die Erfahrung, die wir von ihr haben, trägt den Stempel der Sprache. In poetischen Ereignissen ist das Element der nackten Tatsache eine Illusion: Der Abdruck der Sprache erzeugt das Ganze, er erschafft die »Tatsache«. Aus diesem Grund sind sprachliche Eigentümlichkeiten – liturgische Ausdrucksweisen, Archaismen, Infantilismen 246 – dichterische Mittel und die Dialektdichtung eine eigene literarische Form. Der Dialekt bezeugt eine Denkweise, die die Ereignisse prägt, denen wir im Gedicht begegnen und die mit denen es sich beschäftigt. Burns hätte die Feldmaus in der englischen Hochsprache weder ansprechen noch auch nur bemerken können, ohne dass seine Betrachtungen etwas albern oder sentimental ausgefallen wären. Die bäuerliche Sprache ordnet das Geschehen in die einfache Welt von Ackerscholle und Getreide, von Umgraben und Ernten ein, in ein Leben, das so sehr dem Boden verhaftet ist, dass der Mensch mit seinen Werkzeugen und Gehilfen das Gleiche tut wie die Maus mit ihrem Nagen und Tragen. Das schwere Los der Maus kann auf dem Lande jeden treffen, und niemand könnte das besser wissen als der Bauer: »tha maun live«247. Die Realität seiner eigenen Abhängigkeit von eben demselben Getreide wird durch den Dialekt unterstrichen, der die ganze Erfahrung aus der Sicht eines mit den Härten des Winters vertrauten Menschen gestaltet. Der Dialekt ist ein wertvolles literarisches Instrument, das sich subtiler einsetzen lässt als einfach nur dadurch, dass auf sein Vokabular zurückgegriffen wird, denn er geht, ohne dass es wahrgenommen würde, in den umgangssprachlichen Gebrauch von Wörtern, in Redewendungen ein, die eher eigenwillige Ge  Zum Beispiel der Ausdruck »ein Überall«* in Rainer Maria Rilkes »Das Lied des Idioten« [in: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte, Erster Teil, Frankfurt a.M. 1955, S. 452–453, hier 453]. 247 Tatsächlich »thou maun live« (du musst leben), aus: Robert Burns, To a mouse, in: ders., Complete Poems and Songs, Glasgow 2000, S. 83. [ A nm. d. Hg. ] 246



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danken spiegeln als feste Sprachgewohnheiten. Walter de la Mare verwendet beispielsweise in dem kleinen märchenhaften Gedicht »Berries« sämtliche Schattierungen des formellen und volkstümlichen Englisch: There was an old woman Went blackberry picking Along the hedges From Weep to Wicking Half a pottle – No more she got, When outs steps a Fairy From her green grot; And says, ›Well, Jill Would ›ee pick ›ee mo? And Jill, she curtseys, And looks just so. ›Be off,‹ says the Fairy, ›As quick as you can, Over the Meadows To the little green lane, That dips to the hayfields Of Farmer Grimes: I’ve berried those hedges A score of times; Bushel on bushel I’ll promise ›ee, Jill, This side of supper If ›ee pick with a will.‹ She glints very bright, And speaks her fair; Then lo, and behold! She had faded in air.

(Jill eilt zu dem beschriebenen Feldweg und entdeckt die He­cken, die strahlen »like William and Mary’s bower«, und pflückt so viel, wie sie tragen kann.)

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When she comes in the dusk To her cottage door, There’s Towser wagging As never before, To see his Missus So glad to be Come from her fruit-picking Back to he. As soon as next morning Dawn was grey, The pot on the hob Was simmering away; And all in a stew And a hugger-mugger Towser and Jill A-boiling of sugar And the dark clear fruit That from Faerie came, For syrup and jelly And blackberry jam. Twelve jolly gallipots Jill put by; And one little teeny one, One inch high; And that she’s hidden A good thumb deep, Half way over From Wicking to Weep.

Solange die Ereignisse realistisch sind, bewegt sich das Gedicht auf einer recht gehobenen Sprachebene, wann immer sie aber hauptsächlich dem Kopf der alten Frau entspringen, verfällt die Sprache in den Dialekt. Im ersten Augenblick des Staunens redet die Fee in der Volkssprache, und ihr Verschwinden wird, obwohl es sich um die unpersönliche Beschreibung des Dichters handelt, noch immer in Jills Sprache wiedergegeben:



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She glints very bright, And speaks her fair;

Das ist für den wunderlichen und trotzdem wenig extravaganten Charakter des Gedichts verantwortlich. Der wahre Geniestreich aber besteht in dem objektiven Bericht über das, was der Hund denkt und in dem ein beliebter grammatischer Fehler steckt. To see his Missus So glad to be Come from her fruit-picking Back to he.

Was der Hund »denkt«, ist schließlich nichts anderes als ihre Interpretation seines Schwanzwedelns: »Ja, Jill ist wieder da, Jill ist wieder da! Ja, ja sie ist froh, wieder bei ihm zu sein!« Einzig und allein durch seine Erzählkonstruktion hebt der Dichter diesen Gedanken, zwar verdichtet, aber unangetastet, auf das Niveau einer objektiven Tatsache. Damit kommen wir zum Prinzip der dichterischen Schöpfung: Virtuelle Ereignisse sind durch ihre bloße Verfasstheit von qualitativer Art– losgelöst von ihren Wertungen existieren die »Tatsachen« nicht, ihre emotionale Bedeutsamkeit ist Teil ihrer Erscheinung. Es ist daher unmöglich, sie festzustellen und dann »auf sie zu reagieren«. Sie treten allein so auf, wie sie scheinen – es sind dichterische Tatsachen, keine neutralen Tatsachen, zu denen wir eine poetische Haltung einnehmen sollen. E. M. W. Tillyard stellt in seinem Buch Poetry, Direct and Ob­ lique die These auf, dass es zwei verschiedene Arten von Dichtung gibt: die direkte oder die »Aussagenpoesie«, die nur die Ideen wiedergibt, die uns der Dichter mitteilen möchte, und die indirekte »Poesie der Mittelbarkeit« (poetry of obliquity), die ihre wichtigsten Ideen überhaupt nicht nennt, sondern sie nur impliziert oder andeutet, und zwar durch die subtilen Beziehungen zwischen den scheinbar trivialen Aussagen, die sie macht, und durch den Rhythmus, die Bilder, die Bezüge, die Metaphern und andere Elemente, die in ihnen vorkommen. In diesem Buch

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finden sich zahlreiche interessante Überlegungen zur Rhetorik, zum Mythos, zum Charakter, zum thematischen Material und literarischen Verfahren, kurz gesagt: Es ist ein ausgezeichnetes Buch. Dennoch meine ich, dass seine Hauptthese wenn nicht falsch, so doch sicherlich auf der falschen Spur ist. Die Unterscheidung zwischen »Aussagenpoesie« und »mittelbarer Poesie« ist sicher richtig, aber sie bezieht sich auf einen Unterschied in den technischen Mitteln und nicht auf die dichterische Qualität, und folglich geht sie nicht so tief, wie Tillyard meint. Zudem hebt seine Darlegung der »mittelbaren« Bedeutungen nahezu die Einsicht in dichterische Bedeutungen als solche auf, die doch vermutlich der Anlass seiner ganzen Untersuchung war. »Mittelbare« Bedeutungen sind solche, die DeWitt ­Parker »zwischen den Zeilen« zu lesende »Tiefenbedeutungen« nennt.248 Tillyard veranschaulicht dieses Konzept durch den Vergleich zweier Gedichte, die im Großen und Ganzen dasselbe Thema behandeln: Goldsmiths »The Deserted Village« und ­Blakes »The Echoing Green«. Goldsmiths Gedicht ist sehr lang und er führt daraus nur den Teil an, der das Dorf beschreibt. Da ich unten noch etwas zu seiner Interpretation zu sagen habe, werde ich die Sache hier übergehen. Blakes Gedicht soll jedoch vollständig zitiert werden: The Echoing Green The sun does arise, And make happy the skies; The merry bells ring To welcome the Spring; The skylark and thrush, The birds of the bush, Sing louder around To the bells’ cheerful sound While our sports shall be seen On the Echoing Green. 248

  The Principles of Aesthetics, a. a. O., vor allem S. 32.



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Old John, with white hair, Does laugh away care, Sitting under the oak, Among the old folk. They laugh at our play, And soon they all say: »Such, such were the joys When we all, girls and boys, In our youth time were seen On the Echoing Green.« Till the little ones, weary, No more can be merry; The sun does descend, And our sports have an end. Round the laps of their mothers Many sisters and brothers, Like birds in their nest, Are ready for rest, And sport no more seen On the darkening Green.

(Das tönende Grün Der Sonnenball Beglückt die Himmel all; Die frohen Glocken klingen, Den Frühling einzusingen; Lerche und Drossel erwecken Der Vögel der Hecken Lauten Gesang Zu der Glocken heiterem Klang, Wenn zur Kurzweil wir ziehn Auf das tönende Grün. Der alte John mit weißen Haaren Läßt die Bedenken fahren

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Unter der Eiche heute Inmitten alter Leute. Sie lachen zum Spiele, Und bald sagen viele: »Dies waren die Freuden, Als zu unseren Zeiten Buben und Mädel zogen hin Auf das tönende Grün.« Bis es die Kleinsten, die müd, Heimwärts dann zieht; Die Sonne sinkt, Und unser Spiel verklingt. Am Rock ihrer Mütter Die Schwestern und Brüder, Wie Vögel im Nest, Klammern sich fest, Und die Spiele verblühn Auf dem dunkelnden Grün.)249

Goldsmith, so behauptet Tillyard, »möchte, dass der Leser hauptsächlich an Dörfer denkt, wenn er von Auburn spricht. […] Wir meinen dies, weil die formalen Teile der Dichtung die Aussage bekräftigen, statt dass sie ihr fremde Gedanken nahelegen. Die Zweizeiler entwickeln sich in einer einfachen Folge von Erläuterungen; sie entfalten die Szene, ohne dass es einen Hinweis auf eine darüber hinausgehende Bedeutung gibt; ihre Frische und Unverstelltheit entsprechen denen des klaren Sonnentags, den sie beschreiben.« 250 Über »The Echoing Green« schreibt er andererseits: »Ich glaube, Blake bringt in diesem Gedicht eine Idee zum Ausdruck, eine Idee, die an sich nichts mit den Vögeln, den Alten und Jungen oder dem Dorfanger zu tun hat und die zu denen gehört, die in Blakes dichterischem Werk   William Blake, The Echoing Green, in: ders., Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke, S. 40–43. [ A nm. d. Hg. ] 250  E. M. W. Tillyard, Poetry, Direct and Oblique, London 1934, S. 8. 249



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immer wieder auftauchen. Ich denke hier an die Idee, dass erfülltes Verlangen einen Wert hat. Obwohl von Verlangen nicht die Rede ist, ist der Grundton des Gedichts die Erfüllung. […] Das Gedicht vermittelt den Eindruck eines vollkommen gereiften Apfels, der einem bei der leichtesten Berührung in die Hand fällt. Es drückt den tiefen Frieden eines ganz und gar gestillten Verlangens aus. […] Wenn man es so deutet, wird man kaum ein so vollkommenes Beispiel für poetische Mittelbarkeit finden wie ›The Echoing Green‹. […] Weit davon entfernt, die abstrakte Vorstellung selbst zu formulieren, wird sie in eine gänzlich konkrete Form übersetzt; sie hat sich in ihr scheinbar wesensfremde Tatsachen aufgelöst. Dadurch dass ›The Echoing Green‹ derart mittelbar ist, fällt es in eine andere Kategorie als Goldsmiths Zeilen und muss nach anderen Maßstäben beurteilt werden.«251 »Die Interpretation vorausgesetzt, dass gestilltes Verlangen einen Wert hat, können wir über das Gedicht sagen, es drücke einen großen Gemeinplatz über das Menschsein aus, einen, der in Blakes Tagen mehr als in unseren danach verlangte, geäußert zu werden.«252 Wonach Tillyard offensichtlich (und zu Recht) sucht, ist die poetische Bedeutsamkeit des Werks, doch was entdeckt er für uns? Eine Moral, die er in fünf Wörtern darlegen kann; eine Aussage, die von Humanisten unterschrieben wird und von Anhängern asketischer Schulen abgelehnt. Nichts an solch einem »großen Gemeinplatz« ist von der Art, dass er sich prinzipiell nicht in diskursiver Rede darlegen ließe. Mag sein, dass, wie Till­yard meint, »es vermutlich wenig Gewicht hätte, ihn direkt auszusagen«, dass »wir vom Sprecher erwarten, dass er zunächst über allerlei redet, bevor er sagt, was er am dringendsten sagen muss«, und dass »wir die höchste Form der Mittelbarkeit sogar vorziehen, durch die er überhaupt ganz auslässt, was er zu sagen hat, und es nur durch ein kunstvolles Muster scheinbarer 251

  Ebd., S. 11 f.   Ebd., S. 25.

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Unerheblichkeiten impliziert« 253. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass der »große Gemeinplatz« eine Moral, eine Wahrheit ist, die aussprechbar ist. Blake selbst hat sie unmittelbar formuliert: Abstinence sows sand all over The ruddy limbs & flaming hair, But Desire Gratified Plants fruits of life & beauty there.254 (Sand streut die Enthaltsamkeit über rosige Glieder und flammendes Haar, gestilltes Verlangen aber sät dort Früchte des Lebens und Schönheit.)

Bei seiner Untersuchung von »The Echoing Green« stieß Till­ yard indes auf den »emotionalen Kern« des Gedichts, den er vermutlich schon bei der ersten Lektüre intuitiv erfasst hat, denn er sagt, das Gedicht habe ihn sowohl abgestoßen als auch gefesselt – abgestoßen, weil er dachte, eine bloße Schilderung des Dorfangers vor sich zu haben, warum jedoch gefesselt, wurde ihm erst deutlich, als er dessen »Mittelbarkeit« entdeckte.255 Indem er auf die angebliche Moral verweist, legt er meines Erachtens den Finger auf die tatsächliche Bedeutung, auf das Gefühl, das in dem kleinen Werk entwickelt und enthüllt wird: »Der Grundton des Gedichts ist Erfüllung.« Erfüllung ist der Lebensprozess selbst, und ihre unmittelbare Erfahrung löst in uns die tiefste Harmonie aus, die zu empfinden wir fähig sind. Vermöge der Mittel, auf die Tillyard die Aufmerksamkeit gelenkt hat und vermöge einiger, die er nicht genannt hat, erzeugt das Gedicht in drei kurzen Strophen genau diese Erfahrung. Gestilltes Verlangen steht erst am Ende dieser Erfahrung; das Verlangen selbst, die ganze Freude des Anfangs, die Freiheit, die   Ebd., S. 28.   William Blake, in: ders., Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke, S. 142. [ A nm. d. Hg. ] 255 Tillyard, Poetry, Direct and Oblique, a. a. O., S. 10 f. 253

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Kraft, dann die schiere Ausdauer und schließlich die Ermattung und die Dunkelheit – dies alles in dem einen konzentrierten Blick auf spielende Menschen versammelt – sind gleichermaßen bedeutsam, um das Symbol des vollkommen genossenen Le­ bens zu erzeugen. Die Vollkommenheit wird gefühlt, und der besondere élan und der Verlauf dieses Gefühls ist die Abstraktion, die von der poetischen Form hervorgebracht wird. Die gleiche Gefühlsstruktur (emotional pattern) lässt sich jedoch in vielen Erfahrungen auf vielen Ebenen des Lebens erkennen, was für Gefühlsstrukturen insgesamt der Fall ist. Aus diesem Grund scheint ein wirklich künstlerisches Symbol ständig auf andere konkrete Phänomene zu verweisen, seien sie real oder virtuell, und zu verarmen, wenn ihm irgendeine einzelne Bedeutung zugewiesen wird – wenn also die Bedeutungsbeziehung logisch ganz vollzogen wird. Indem Tillyard einen »großen Gemeinplatz« in das Gedicht hineinliest, ist er genötigt, einige seiner stärksten Elemente außer Acht zu lassen, beispielsweise den Titel, der ein integraler Bestandteil des Werks ist. Ein Dorfanger ist normalerweise flach und offen, die Häuser sind zu weit entfernt, um ein hörbares Echo auszulösen. Blake verwendet »echoing« nicht beschreibend, ganz im Gegenteil: Das Wort wirkt der Flachheit und Offenheit des gewöhnlichen Angers entgegen und hält Blakes Bild vom Leben gleichsam wie in einem unsichtbaren Rahmen zusammen. Das »Echo« ist in Wirklichkeit das der sich wiederholenden Lebensgeschichte – die Alten lachen über die Jungen und erinnern sich ihrer eigenen Jugend, die Jungen kehren zur älteren Generation zurück – »Round the laps of their mothers, many sisters and brothers […]«, und wir sehen noch eine weitere Ebene des »Echos« des Lebens – eine Lebensform wird durch eine anderen versinnbildlicht: Die Kinder sind »wie Vögel in ihren Nestern« und die Alten versammeln sich unter der Eiche. Wenn Tillyard schreibt: »Warum sitzt der alte John in der zweiten Strophe unter der Eiche? Nun, um Schutz vor der Mittagssonne zu suchen«, dann ist ihm, wie ich meine, die eigentliche Pointe entgangen. Gewiss, es ist Mittag in der zweiten Strophe,

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aber das folgt eher aus der Tatsache, dass das Spiel der Kinder seinen Höhepunkt erreicht hat, als aus irgendeiner Funktion des Baumes. Die Eiche grünt von allen Schattenbäumen am spätesten und wenn »die fröhlichen Glocken den Frühling begrüßen«, ist sie wohl immer noch kahl. Die Eiche ist jedoch ein traditionelles, natürliches Symbol für die Lebensdauer. Sie ist der Baum der Alten. Selbst in der Zeile »der alte John mit weißem Haar« werden Alter und Jugend miteinander verflochten, denn »John« bedeutet »der Junge« und Blake kannte das Neue Testament gut genug, um mit dem Name die Vorstellung des Jüngers zu verbinden, der von allen der jüngste war. Das häufige Vorkommen dieses Namens in englischen Dörfern ermöglicht ihm diese subtile Namenswahl. Man kann in diesem Gedicht nahezu Wort für Wort den Aufbau einer künstlerischen Form nachvollziehen, die als durch und durch organische imstande ist, die großen vitalen Rhythmen und ihre emotionalen Ober- und Untertöne zu artikulieren. Was solch eine symbolische Form zeigt, lässt sich nicht buchstäblich ausdrücken, da die Logik der Sprache es uns nicht erlaubt, die alles durchdringende Ambivalenz zu erfassen, die für das menschliche Fühlen charakteristisch ist. Tillyard spricht von der »grundlegenden melancholischen Freude«256 , und mehr als ein solches Gefühl mit einer paradoxen Bezeichnung zu belegen kann die Philosophie nicht tun. Wäre Dichtung in der Hauptsache ein Mittel, um diskursive Ideen vorzutragen, sei es nun direkt oder implizit, stünde sie der Metaphysik, der Logik und der Mathematik näher als eine der anderen Künste. Aber Propositionen – die Grundstrukturen des Diskurses, die wahre oder falsche Überzeugungen »diskursiv« formulieren und vermitteln – sind nur das Material der Dichtung. Was Tillyard als »Aussagenpoesie« bezeichnet, ist eine Dichtung, die nicht mit bloß implizierten Behauptungen arbeitet; sie bedient sich aber selbstverständlich anderer Mittel, um die Illusion von Leben zu erschaffen. Wenn er reine Empfind256

  Ebd., S. 44 ff.



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samkeit unter den von »mittelbaren Aussagen« ausgedrückten Bedeutungen aufführt, 257 scheint »Mittelbarkeit« schlicht den Besitz irgendeiner vitalen Bedeutsamkeit zu bedeuten. Doch eine Ansammlung von Zeilen, die nicht in diesem Sinn »mittelbar« ist, ist keine Dichtung. Tillyard erkennt diese große Schwäche seiner Unterscheidung zwischen »mittelbarer« und »direkter« Dichtung an, verteidigt jedoch ihren pragmatischen Nutzen als Prinzip der Kritik.258 Fragen wir uns jedoch, wie die primäre Illusion hergestellt und aufrechterhalten wird, welche poetischen Elemente geschaffen und wie sie eingesetzt werden, dann brauchen wir nicht zu künstlichen Kontrasten oder Klassifizierungen Zuflucht zu nehmen, um den Unterschied zwischen Blake und Gold­ smith, Wordsworth und Pope zu verstehen und ihre jeweiligen Gedichte nach ein und demselben Maßstab zu beurteilen, und dennoch werden wir ihren unterschiedlichen Absichten gerecht. Dichtung erschafft virtuelles »Leben« oder, wie manchmal gesagt wird, »eine Welt für sich«. Diese Wendung ist nicht ganz glücklich, klingt darin doch die bekannte Vorstellung von der »Realitätsflucht« an. Eine als künstlerisches Bild geschaffene Welt ist uns aber gegeben, um sie anzuschauen, nicht um in ihr zu leben, und darin unterscheidet sie sich radikal von der »Privatwelt« des Neurotikers. Wegen dieser schädlichen Assoziation ziehe ich es daher vor, von »virtuellem Leben« zu sprechen, auch wenn ich manchmal den Ausdruck »die Welt des Gedichts« verwende, um auf die primäre Illusion zu verweisen, wie sie in einem bestimmten Werk auftritt.   Ebd., S. 18 ff. 258  »Schließlich sollte ich einräumen, dass ich eine bewusste Täuschung begangen habe. Die Begriffe ›direkte‹ und ›mittelbare‹ Dichtung bilden keinen echten Kontrast. Jegliche Dichtung ist mehr oder weniger mittelbar; eine direkte Dichtung gibt es nicht. Doch […] überzeugend und allgemein verständlich zu sein ist nur möglich, wenn durch Täuschung und Übertreibung ein hypothetischer und zweckmäßiger Kontrast forciert wird.« (A. a. O., S. 5.) Leider macht »Ungenauigkeit« eine Aussage nicht zu einer hypothetischen. 257

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Nach allem, was darüber geschrieben worden ist, dass der wörtliche Inhalt eines Gedichts nicht seine wirkliche Bedeutung ist, erscheint es seltsam, wenn ein echt literarischer Geist sich auf eine Theorie auch nur der »relativ direkten« Dichtung verlegt und behaupten, diese sei nach einem besonderen Maßstab zu beurteilen. Wenn direkte Aussagen in einem guten Gedicht vorkommen, so ist ihre Direktheit ein Mittel, um eine virtuelle Erfahrung zu erschaffen, eine nicht-diskursive Form, die eine besondere Art von Gefühl oder Empfindsamkeit ausdrückt, das heißt, ihre Verwendung ist poetisch, selbst wenn es sich dabei um nackte Tatsachenbehauptungen handelt. Um den Stier bei den Hörnern zu packen, möchte ich meinen Punkt durch eben das Gedicht veranschaulichen, das Tillyard als ein Beispiel für »direkte Poesie« anführt und dessen einzige oder zumindest Hauptaufgabe es ist, die von seinen Sätzen geäußerten Ideen mitzuteilen. Sein Beispiel ist der alte Hymnus: Stabat mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa dum pendebat filius; cuius animam gementem contristatem et dolentem pertransivit gladius. O quam tristis et afflicta Fuit illa benedicta Mater unigeniti, quae maerebat et dolebat et tremebat, cum videbat nati poenas inclyti! (Christi Mutter stand mit Schmerzen bei dem Kreuz und weint’ von Herzen, als ihr lieber Sohn da hing. Durch die Seele voller Trauer, schneidend unter Todesschauer, jetzt das Schwert des Leidens ging.



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Welch ein Schmerz der Auserkornen, da sie sah den Eingebornen, wie er mit dem Tode rang. Angst und Jammer, Qual und Bangen, alles Leid hielt sie umfangen, das nur je ein Herz durchdrang.)259

»Wie beeindruckend er auch sein mag, dieser Hymnus ist direkte Poesie. Er tut nichts anderes, als die von ihm geschilderte Szene zu beschreiben und herauszustellen.« So Tillyard. Tatsächlich aber wird diese Szene auf eine ganz besondere Weise beschrieben, nämlich in kurzen Zeilen, die eigentlich gar nicht beschreiben, was gerade geschieht, sondern bloß auf bekannte Ereignisse anspielen: auf das herzdurchbohrende Schwert, die gebenedeite Mutter, den eingeborenen Sohn, den aus der Jungfrau geborenen Sohn. Schon in den ersten beiden Strophen finden sich außergewöhnlich viele Versatzstücke. In der dritten Strophe kommt dann noch die Gottesmutter dazu, in der vierten sein Tod für die Sünden der Welt, eine Anspielung auf Christi Geißelung, für die ein Wort genügt, und dann die lakonische Bemerkung: »dum emisit spiritum« (dann hauchte er seinen Geist aus). Die eingestreuten Verweise auf Gefühle sind vollkommen gängige Münze: stöhnen und weinen, klagen, leiden, trauern. Gäbe es kein anderweitiges Motiv für all diese Anleihen und das Zusammenfügen von traditionellen Floskeln und selbstverständlichen Wörtern, wären die ersten vier Strophen reines Handwerk, und ich wüsste nicht, warum Tillyard sie beeindru­ ckend findet. Das Gedicht ist aber beeindruckend. In der fünften, mit den Worten Eia, mater, fons amoris! (O du Mutter, Brunn der Liebe)   Übersetzung Heinrich Bone, 1847. Langer gibt hier nur das lateinische Original an. [ A nm. d. Hg. ] 259

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beginnenden Strophe werden die Worte »fac, ut« (mache, dass) eingeführt und danach kommt das »fac« neunmal vor, immer an herausragender Stelle und mit einer Ausnahme stets zu Beginn einer Zeile. Das Gedicht ist nicht länger eine Aussage, es ist zu einem Gebet geworden. Die Aneinanderreihung monotoner Worte (»quae maerebat et dolebat et tremebat cum videbat« oder in Strophe vier »suum dulcem natum, morientem, desolatum« (zwischen »subditum« und »spiritum«)) endet, und es kommt zu einer fließenden Bewegung zum unglaublich musikalischen und feierlichen Schluss: Quando corpus morietur, fac ut animae donetur Paradisi gloria. (dass die Seel sich mög erheben frei zu Gott in ewgem Leben, wann mein sterbend Auge bricht!)

Die vier deklarativen Strophen bilden in dem ganzen Gedicht eine bemerkenswert statische Einleitung. Die ersten Worte – »Stabat mater« – bereiten diesen Eindruck durch ihren Sinn vor, und die außergewöhnliche Härte der zweiten Zeile »iuxta crucem lacrimosa« stützt durch ihren Klang das »stabat«. Dann folgen die Monotonie und die unausgeführten Anspielungen. Deren Wirkung ist die von eingespielten Vorstellungen, die uns allesamt vertraut sind – wie ja auch die erwähnten Gefühle –, durch einen kleinen Kreis von Stichwörtern zusammengehalten werden und so unverrückbar wie ein Fels sind. Es ist keineswegs so, dass die direkten Aussagen »die Szene beschreiben und hervorheben«. Sie erzeugen vielmehr ein Gefühl, das der melodramatischen Szene nicht im Mindesten angemessen ist – ein Gefühl, das zum Glauben gehört, zur Bejahung einer Lehre, sie erwecken den Eindruck von Gewissheit und dogmatischer Richtigkeit: die Bekräftigung des Glaubensbekenntnisses. Von diesem gefühlten Glauben schwingt sich das weitaus weniger zuversichtliche und inbrünstigere Gebet auf: Tempo und Ton des



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Gedichts steigern sich in einem Crescendo von Klang und Sinn von der Betrachtung der Kreuzigung (Strophe sechs und sieben) zum »Virgo virginem praeclara«, dem jüngsten Gericht und der Herrlichkeit des Paradieses. Nur die ersten beiden Strophen zu zitieren ist irreführend. Sie verändern ihren Charakter bezogen auf das Ganze. Zwar sind ihre Aussagen »direkt«, aber der poetische Zweck dieser Direktheit ist von einer Mittelbarkeit, die Blake nicht übertreffen könnte. Wenn man irgendetwas, das den Namen Dichtung verdient, als Tatsachenaussage behandelt, die einfach nur »in Verse gesetzt« ist, scheint mir eine künstlerische Auffassung von Anfang an zu vereiteln. Ein Gedicht erschafft das Symbol eines Gefühls nie dadurch, dass es an Objekte erinnert, die dieses Gefühl selbst hervorrufen, sondern dadurch, dass es ein Muster aus Worten webt – aus bedeutungsgeladenen Worten, die aufgrund literarischer Assoziationen eine bestimmte Färbung haben – ähnlich dem dynamischen Muster des Fühlens (das Wort »Fühlen« bezeichnet hier mehr als einen »Zustand«, denn Fühlen ist ein Prozess, der nicht nur aufeinanderfolgende Phasen aufweisen, sondern auch verschiedene gleichzeitige Entwicklungen nehmen kann; es ist vielschichtig und seine Artikulationen sind schwer zu fassen.) Betrachten wir nun das Gedicht, das Tillyard in Auszügen zitiert, um es »The Echoing Green« gegenüberzustellen, nämlich Goldsmiths Beschreibung von Auburn und seinen Feiertagsvergnügungen zu Beginn von »The Deserted Village«: How often have I loitered o’er thy green, Where humble happiness endeared each scene! How often have I paused on every charm, The sheltered cot, the cultivated farm, The never-failing brook, the busy mill, The decent church that topt the neighboring hill, The hawthorn bush, with seats beneath the shade, For talking age and whispering lovers made! How often have I blessed the coming day,

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When toil remitting lent its turn to play, And all the village train from labour free Led up their sports beneath the spreading tree, While many a pastime circled in the shade, The young contending as the old surveyed; And many a gambol frolicked o’er the ground, And sleights of art and feats of strength went round; And still as each repeated pleasure tired, Succeeding sports the youthful band inspired. (Wie oft bin ich über deinen Anger gegangen, wo bescheidenes Glück regierte! Wie oft, ruhte mein Auge auf deinen Reizen, Der windgeschützten Hütte, den bestellten Äckern, Dem immer rauschenden Bach, der fleißigen Mühle, Der ehrbaren Kirche auf dem Nachbarhügel, Dem Weißdornstrauch, der Bank in seinem Schatten, Drauf Alte plaudern und frisch Verliebte flüstern. Wie oft hab ich begrüßt den nächsten Tag, Wenn aller Plage Lasten den Mußestunden weicht, Und alle Welt von Arbeit frei Der Zug der Dörfler auf zum Spiele drängt, Manch eine Kurzweil sich im Schatten drehte. Unter dem Auge der Alten wetteifert die Jugend)

»Hier sehen wir«, so Tillyard, »ein Beispiel für die Art von Dichtung, die ich als eine der direkten Aussage bezeichne: Es geht ihr zu einem gewissen Grad um das, was die Worte feststellen, aber auch darum, was sie implizieren.« Trotz einer geringfügigen Mittelbarkeit, etwa das Fehlen einer direkten moralischen Stellungnahme, möchte der Dichter, »dass der Leser vor allem an Dörfer denkt, wenn er über Auburn spricht. […] Wir nehmen das an, weil die formalen Bestandteile der Dichtung die Aussage eher verstärken, statt Gedanken nahezulegen, die ihr fremd sind.«260 260

 Tillyard, Poetry, Direct and Oblique, a. a. O., S. 8.



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Wenn wir die nicht-wörtliche Bedeutsamkeit eines Gedichts als Gedanken begreifen, der dem Gegenstand fremd ist, eine Moral oder ein Werturteil, dann weist Goldsmiths Erinnerung an den Dorfanger tatsächlich keine »Mittelbarkeit« auf, denn einen solchen Inhalt finden wir darin nicht. Betrachten wir es hingegen als eine erschaffene virtuelle Geschichte, dann verfolgen die Zweizeiler, die »sich in einer einfachen erläuternden Folge entwickeln«, einen ganz anderen Zweck, als den Leser »hauptsächlich an Dörfer denken« zu lassen. Ihr Zweck ist der, jene Geschichte in einer präzisen und bedeutungsvollen Form zu gestalten. Die »formalen Bestandteile« verstärken nicht die Aussage, sie werden durch sie verstärkt. Die Gegenstände, auf die Bezug genommen wird, sind »ausgewählt worden« (das heißt, sie sind dem Dichter eingefallen), weil sie dem formalen Ganzen dienen. Der Grundgedanke der poetischen Form ist Komplexität und nicht Einfachheit, und es ist die Komplexität eines Gruppentan­ zes. Zeile für Zeile ist entweder von einer geschmeidigen, einer anhaltenden, kreisenden, prozessionsartigen Bewegung oder einem Wechsel des Ortes die Rede. Vor allem die letzte Form tritt immer wieder auf, selbst dort, wo gar keine Bewegung stattfindet. Dafür gibt es einen künstlerischen Grund. Zunächst wird dargelegt, dass das Dorf sich in ständiger Tätigkeit befindet: »The never-failing brook, the busy mill« (»Der immer rauschende Bach, die fleißige Mühle«). Man beachte, dass diese Zeile als direkte Wortmalerei nicht am richtigen Ort ist; es begann mit dem Anger. Der Bach und die Mühle liegen vermutlich nicht mitten im Ort, genauso wenig wie die geschützte Hütte und die bestellten Äcker. Der Anger hingegen ist der Tanzplatz, und alles andere im Dorf wird von Goldsmith für seine Zwecke auf ihn bezogen: der Wetterschutz, die »bestellten« Äcker, das Symbol der natürlichen Tätigkeit, der Bach, und der mensch­ lichen Tätigkeit, die Mühle. Und warum The decent church that topt the neighboring hill? (Die ehrbare Kirche, oben auf dem nahen Hügel)

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Die Kirche ist die soziale Hüterin dieses symbolischen Tanzes: die göttliche Schutzpatronin, mag sie auch abseits stehen, ist gleichwohl präsent. Das ganze Treiben findet gleichsam unter einem Baldachin statt: »mit Bänken unter dem Schattendach« oder »im Schatten«, »unter dem ausladenden Baum«. Damit ist der magische Kreis gezogen. Dann folgt die Prozession: Der »Zug der Dörfler«, der »die Vergnügungen anführt«. In Blakes Gedicht findet sich eine solche Wendung nicht, weil er nicht das Bild eines Tanzes erschafft. Sämtliche Zeilen bei Goldsmith werden von einem Muster durchzogen: Da wendet sich etwas, kreist, wechselt sich ab, wiederholt sich, folgt aufeinander. When toil remitting lent its turn to play, While many a pastime circled in the shade, And many a gambol frolicked o’er the ground, And sleights of art and feats of strength went round; And still as each repeated pleasure tired, Succeeding sports the youthful band inspired.

Und schließlich gibt es zwei Zeilen, die uns zu erkennen geben, wer die Partner in diesem Volkstanz tatsächlich sind: For talking age and whispering lovers made! und The young contending as the old surveyed.

Die abwechselnden Partner sind die Jugend und das Alter, der Tanz ist der Lebensreigen, und Goldsmiths Dorf ist der Schauplatz des Menschlichen. Als solches ist das Fragment, das Tillyard als »Aussagenpoesie« behandeln wollte, nur die eine Hälfte der Gegenüberstellung, von der sich das ganze Gedicht leiten lässt: Stück für Stück wird der Tanz mit dem späteren Schauplatz kontrastiert, auf dem der Anger von Unkraut überwuchert ist, der Bach versickert und morastig, die Kirche verlassen, die Bauernhöfe aufgegeben. Hätte Goldsmith das Wiedersehen mit Auburn auf diesen Gegensatz beschränkt und mit sparsamen, aber markanten Worten den Grund dafür genannt – das Eindringen einer verantwortungslosen Aristokratie in die



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nüchterne, ausgeglichene, ländliche Wirtschaft –, dann hätte er ein starkes Gedicht geschrieben. Aber das Gedicht ist länger als sein poetischer Gedanke, und darum verfällt es am Schluss ins »Moralisieren« und verliert sich in schwachem Wortgeklingel. Es ist nichts an einer mit Leidenschaft vorgetragenen moralischen Idee in der Dichtung einzuwenden, vorausgesetzt diese Idee wird für poetische Zwecke eingesetzt. Shelley, ein bekennender Gegner moralischer Lyrik, benutzte das abgedroschene, alte Thema der Eitelkeit weltlicher Mächte für eines seiner besten Gedichte, »Ozymandias«. Die Form des Sonetts ist für moralische Motive besonders geeignet. Nehmen wir die Themen einiger berühmter Sonette. The world is too much with us; late and soon, Getting and spending, we lay waste our powers. (Die Welt ist uns über; wir erschöpfen uns, von früh bis spät, durch Gewinn und Verlust.) Let me not to the marriage of true minds Admit impediment. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove. (Laß mich von keinen Hindernissen hören, die treuer Seelen Ehebund bedräun. Lieb’ ist nicht Liebe, wenn sie Störer stören, Wenn sie Zerstreuung irrend kann zerstreun. – Übersetzung Johann Gottlieb Regis) Leave me, O Love! Which reachest but to dust; And thou my mind, aspire to higher things. (Da doch nur Staub zu schmecken Du mir gibts, geh weg, o Liebe, damit ich streb’ nach Höherem.) O how much more doth beauty beauteous seem By that sweet ornament which truth doth give!

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(O wie viel schöner strahlt die Schönheit doch im edlen Schmuck, den ihr die Treue leiht. – Übersetzung Dorothea Tieck)

Als »moralische Verse« betrachtet, ist uns ihre Botschaft so vertraut, dass sie nahezu banal ist. Aber gerade weil ihr wörtlicher Inhalt nicht interessant genug ist, um darüber zu streiten, können wir die Moral als ein Thema betrachten, das den Anlass zu einer dichterischen Schöpfung gibt, zu einer virtuellen Erfahrung ernsthaften Nachdenkens, an deren Ende eine Einsicht steht. Diese Erfahrung beinhaltet mehr als bloßes Argumentieren. Schon die ersten Zeilen machen deutlich, dass jedes Sonett ein anderes Gefühl als Initialzündung für seine Reflexion nimmt. Wordsworth beginnt mit einer abgeschlossenen Erkenntnis; Shakespeares erstes Sonett mit einem streitbaren Tonfall, der eher einen Wunsch als eine objektive Einsicht zum Ausdruck bringt; Sidneys Sonett beginnt mitten in einem geistigen Ringen; und Shakespeares zweites Sonett geht von einem Ausruf, einem plötzlichen Einfall aus. Blakes »The Echoing Green« ist zwar ein besseres Gedicht als Goldsmiths »The Deserted Village«, aber das bedeutet nicht, dass wir an dieses, weil es von anderer Art ist, einen anderen Beurteilungsmaßstab anzulegen haben. Blakes Gedicht ist gelungener, weil es vollkommen expressiv ist, während Goldsmith seinen poetischen Gedanken nicht bis zum Ende aufrechterhalten hat. Unerheblich ist dabei, dass sie sich in ihren Mitteln unterscheiden. Atmosphäre, Anspielungen, eine sachliche Exposition, Moralvorstellungen und Maximen, all das dient in der Hand des Dichters nur einem Zweck: der Erschaffung eines virtuellen Ereignisses, der Entwicklung und Gestaltung der Illusion unmittelbar erfahrenen Lebens. Da jedes Gedicht, das so gelungen ist, um – unabhängig von Stil und Gattung – den Namen »Dichtung« zu verdienen, ein nicht-diskursives Symbol ist, darf man annehmen, dass die Regeln, die das Erzeugen von Dichtung anleiten, nicht die der dis-



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kursiven Logik sind. Gewiss, es handelt sich dabei nicht weniger um »Regeln des Denkens«, als die Prinzipien des Schlussfolgerns es sind, aber sie gelten nie für wissenschaftliches oder pseudowissenschaftliches (praktisches) Argumentieren. In Wirklichkeit handelt es sich um Regeln der Vorstellungskraft. Als solche erstrecken sie sich über sämtliche Künste, nur dass die Literatur das Feld ist, auf dem ihre Unterschiede zur diskursiven Logik am schärfsten hervortreten, weil Künstler, die sie anwenden, dies in sprachlicher Form tun und damit auf einer anderen semantischen Ebene zugleich die Regeln des Diskurses verwenden. Kritiker haben sich dadurch verführen lassen, die Dichtung unterschiedslos sowohl als Kunst wie auch als Diskurs zu behandeln. Der Umstand, dass etwas behauptet zu werden scheint, hat sie auf den Abweg der eigenartigen Untersuchung dessen gebracht, »was der Dichter sagt«, bzw., falls nur eine fragmentarische Behauptung verwendet worden ist oder der Schein des propositionalen Denkens nicht einmal ganz vollständig ist, zu Spekulationen darüber, »was der Dichter zu sagen versucht«. In Wahrheit ist es so, denke ich, dass sie den tatsächlichen Prozess der dichterischen Schöpfung nicht erkennen, da die ohnehin wenig bekannten Regeln der Vorstellungskraft durch die Regeln des Diskurses verstellt werden. Die sprachliche Aussage ist offensichtlich und verbirgt die charakteristische Form der sprachlichen Erfindung. Während sie von der Dichtung als einer »Schöpfung« reden, behandeln sie diese daher je nachdem als Bericht, Ausruf und rein phonetische Arabeske. Eine natürliche Folge der Verwechslung von Diskurs und Schöpfung ist die entsprechende Verwechslung von realen und virtuellen Erfahrungen. Die Frage von »Kunst und Leben«, die für die anderen Künste nur von ungeordneter Bedeutung ist, wird zu einem Hauptthema der literarischen Kritik. Sie beunruhigte Platon und sie beunruhigt Thomas Mann, und wenn sie in die Hände weniger tiefgründiger Theoretiker fällt, ist zu erwarten, dass die ganze Philosophie der Kunst in ein Durcheinander von Moral, Politik, Religion und moderner Psychiatrie gerät. Bevor wir daher von der Dichtung zu Literatur überge-

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hen, deren Tatsachenbezug noch irreführender ist, sollten wir zuerst die Funktionen der Sprache betrachten und versuchen, die Beziehung von Tatsache und Fiktion und damit auch die Verbindungen zwischen Literatur und Leben klar und deutlich zu verstehen.

14. Kapitel Das Leben und sein Bild Philosophen haben lange gebraucht, um zu erkennen, dass die Einbildungskraft von allgemeinen Regeln bestimmt wird, einmal abgesehen von dem Fall, wo ihre Abläufe diejenigen der diskursiven Vernunft beeinträchtigen. Hobbes, Bacon, Locke und Hume haben darauf hingewiesen, wo der Geist systematisch zu Irrtümern neigt: in der Tendenz, Vorstellungen miteinander in Verbindung zu bringen, bloß weil sie in der Erfahrung benachbart sind, zuvor abstrahierte Begriffe zu hypostasieren und wie neue konkrete Wesenheiten zu behandeln, bewegungslosen Objekten oder bloßen Worten Kräfte zuzuschreiben, und einigen anderen Launen der menschlichen Natur, die weg von der Wissenschaft zu einem Zustand kindischen Irrtums führen. Aber erst in jüngster Zeit ist die Frage aufgeworfen worden, warum solche phantastischen Irrtümer mit eintöniger Hartnäckigkeit auftreten. Wie so oft in der Geschichte des Denkens hat sich das Problem plötzlich einer Reihe von Denkern auf verschiedenen wissenschaftlichen Feldern gestellt. Die alle anderen überragende Antwort hat Ernst Cassirer in seinem großen Werk Die Philoso­ phie der symbolischen Formen gegeben. Im ersten der drei Bände beschäftigt sich Cassirer mit der Sprache und legt im Paradigma der symbolischen Formen die Ursprünge sowohl der Logik als auch ihres Hauptantagonisten, der schöpferischen Einbildungskraft, offen. In der Sprache stoßen wir nämlich auf zwei Funktionen, die sie aufgrund ihrer Natur jederzeit ausübt: die auffallendsten Gegebenheiten der Erfahrung als Entitäten festzuhalten, indem sie ihnen Namen gibt, und Beziehungsbegriffe zu abstrahieren, indem sie über die mit Namen belegten Seienden spricht. Der erste Vorgang ist im Grunde eine Hypostasierung, der zweite eine Abstraktion. Sobald ein Name unser Interesse auf einen bestimmten Punkt zentriert hat, gibt es ein Ding

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oder ein Seiendes (im primitiven Denken wird zwischen diesen beiden nicht unterschieden), um das der Rest der »Scheingegenwart« (specious present)261 sich anordnet. Dieses Sich-Anordnen wird nun aber von der Sprache selbst reflektiert; denn der zweite Vorgang, die Aussage, die die Gestalt* des Komplexes formuliert, der von einem benannten Seienden beherrscht wird, ist wesentlich syntaktisch; die Form, die der Erfahrung auf diese Weise durch die Sprache auferlegt wird, ist diskursiv. Das, was die Welt des primitiven Menschen bevölkerte, entstammte daher ebenso sehr einem mit Symbolen operierenden Geist und dessen großartigem Instrument, der Sprache, wie der äußeren Natur: Dinge, Tiere, Personen, sie alle besaßen diesen eigentümlich ideellen Charakter, weil Abstraktion sich mit Erfindung mischte. Der Vorgang der Benennung, durch emotionale Erregung in Gang gesetzt und angeleitet, hat Seiende nicht bloß für die Sinneswahrnehmung geschaffen, sondern auch für die Erinnerung, die Spekulation und den Traum. Hier liegt der Ursprung der mythischen Auffassung, in der die symbolische Macht von der physischen noch ununterschieden ist und das Symbol mit dem verschmilzt, was es symbolisiert. Wie die charakteristische Form oder »Logik« des mythischen Denkens beschaffen ist, damit beschäftigt sich Cassirer im zweiten Band. Seine Logik ist die der multiplen Bedeutungen anstelle von Allgemeinbegriffen, der repräsentativen Gestalten anstelle von Klassen, der Verstärkung von Ideen (durch Wiederholung, Abwandlung und andere Mittel) anstelle von Begründung. Das Werk ist so umfangreich, dass es zu viel Platz beanspruchen würde, hier auch nur die einschlägigsten Zitate anzuführen. So bleibt mir nur, den Leser an das Original zu verweisen. Zur selben Zeit, als der deutsche Philosoph seinen zweiten   Der Begriff des specious present stammt von E. R. Clay, wurde aber von William James als Bezeichnung für die nicht punktuelle, sondern sich über einen Zeitraum erstreckende Gegenwart der Erfahrung in die philosophische und psychologische Diskussion eingeführt (vgl. William James, The Principles of Psychology, Cambridge, Mass. u. London 1981, S. 573 ff.) [ A nm. d. Hg. ] 261



Kap.   14  ·  Das Leben und sein Bild

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Band verfasste, beschäftigte sich ein englischer Literaturprofessor mit genau dem gleichen Problem des nicht-diskursiven Symbolismus. Darauf gestoßen war er nicht durch sein Interesse an der Wissenschaft und den Launen des unwissenschaftlichen Denkens, sondern durch sein Studium der Dichtung. Dieser Literaturwissenschaftler, Owen Barfield, veröffentlichte 1924 ein kleines, aber sehr bedeutendes Buch mit dem Titel Poetic Diction. A Study in Meanings. Auf seine Generation von Literaturkritikern hat er damit anscheinend keinen großen Eindruck gemacht. Möglicherweise ist sein Text über die gängigen erkenntnistheoretischen Begriffe zu weit hinausgegangen, um ohne eine sehr viel ausdrücklichere und gründlichere Neuorientierung attraktiv zu erscheinen; vielleicht war auch das Gegenteil der Fall und seinen Lesern ist entgangen, wie tiefgreifend oder wie bedeutsam seine Schlussfolgerungen waren. Tatsache jedenfalls ist, dass diese rein literaturwissenschaftliche Studie dieselben Beziehungen zwischen Sprache und Vorstellung, Vorstellung und Einbildungskraft, Einbildungskraft und Mythos, Mythos und Dichtung enthüllt, auf die Cassirer infolge seiner Überlegungen zur Logik der Wissenschaft gestoßen ist.262 Die Parallele ist so erstaunlich, dass man nicht an einen reinen Zufall glauben will, und dennoch scheint es einer zu sein. Barfield verwirft wie Cassirer Max Müllers Theorie, dass der Mythos »eine Krankheit der Sprache« ist, lobt jedoch dessen Unterscheidung zwischen »radikaler« und »poetischer« Metapher; schließlich kritisiert er die grundlegende Annahme, die noch in der Theorie der »radikalen Metapher« enthalten ist, dass nämlich die Übertragung eines Wortes aus einem Sinnbereich in einen anderen oder von sinnlichen Bedeutungen auf nichtsinnliche überhaupt eine Metapher ist. Er schreibt: »Die vollen Bedeutungen von Worten sind funkelnde, leuchtende Gebilde wie Flammen, stets flackernde  Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist eine Weiterentwicklung seiner früheren Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff, a. a. O. 262

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Spuren des langsam sich unterhalb ihrer entwickelnden Bewusstseins. Für die Denkweise von Locke, Müller und France scheinen sie hingegen feste Blöcke mit bestimmten Grenzen und Beschränkungen zu sein, zu denen, wenn sich der Anlass bietet, andere Blöcke hinzugefügt werden können.«263 Im Folgenden hinterfragt er das angebliche Auftreten einer »metaphorischen Epoche« in der Menschheitsgeschichte, als Worte mit einer ganz und gar physischen Bedeutung metaphorischen Verwendungen zugeführt wurden. Denn, wie er sagt, »diese poetischen und offenbar metaphorischen Werte lagen von Anfang an in der Bedeutung verborgen. Mit anderen Worten, wer möchte, kann daraus mit Blair folgern,264 dass die ersten verwendeten Worte ›die Namen sinnlich materieller Objekte‹ waren und nichts mehr – nur ist in diesem Fall anzunehmen, dass sie nicht, wie es uns heute erscheint, vom Denken und Fühlen isoliert oder abgetrennt waren. Später in der Entwicklung von Sprache und Denken spalteten sich diese einzelnen Bedeutungen in Gegensatzpaare auf – das Abstrakte und Konkrete, das Besondere und Allgemeine, das Objektive und Subjektive. Und die Poesie, die unserem Gefühl nach der alten Sprache innewohnt, besteht eben darin, dass wir aus unserem späteren, analytischen, ›subjektiven‹ Bewusstsein heraus, einem Bewusstsein, das gemeinsam mit und zum Teil wegen dieser Aufspaltung der Bedeutung entstanden ist, zur Erfahrung der ursprünglichen Einheit zurückgeführt werden.«265   Verwiesen wird auf die Schriften von Locke, Max Müller und Anatole France (Owen Barfield, Poetic Diction. A Study in Meanings, London 1928, S. 57). 264  Hugh Blair, Lectures on Rhetoric and Belles Lettres, 3 Bde., London 1783). 265 Barfield, Poetic Diction, a. a. O., S. 70. Zur Subjekt-Objekt-Dichotomie vgl. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zur Urfunktion des Symbolismus: »Eben weil auf dieser Stufe noch kein selbständiges und selbstbewußtes, frei in seinen Produktionen lebendes Ich vorhanden ist, sondern weil wir hier erst an der Schwelle des geistigen Prozesses stehen, der dazu bestimmt ist, ›Ich‹ und ›Welt‹ gegeneinander abzugrenzen, muß die neue Welt des Zeichens dem Bewußtsein selbst 263



Kap.   14  ·  Das Leben und sein Bild

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»In der gesamten Entwicklung des Bewusstseins […] lässt sich das Wirken zweier entgegengesetzter Prinzipien oder Kräfte nachzeichnen. Zunächst ist da die Kraft, durch die […] Einzel­ bedeutungen dahin tendieren, in eine Reihe von getrennten und oft isolierten Begriffen aufgespalten zu werden. […] Das zweite Prinzip entdecken wir zunächst als eines, das uns als Natur der Sprache selbst bei ihrer Geburt geben ist. Es ist das Prinzip der lebendigen Einheit.«266 »[…] nicht eine leere ›Wurzel mit der Bedeutung leuchten‹, sondern dieselbe bestimmte spirituelle Wirklichkeit, die einerseits in dem gesehen wurde, was seitdem zum reinen menschlichen Denken geworden ist, und andererseits in dem, was seitdem zum physikalischen Licht geworden ist; […] keine Metapher, sondern eine lebendige Gestalt.«267 Diese Abschnitte könnten beinahe als eine Paraphrase von Cassirers Sprache und Mythos durchgehen oder als Fragmente aus der Philosophie der symbolischen Formen. Die bemerkenswerteste Parallele ergibt sich jedoch aus der Diskussion der mythischen Einbildungskraft, die folgendermaßen beginnt: »Möglicherweise ist für die ›Wurzeltheorie‹ der Sprache nichts so fatal wie das allgegenwärtige Phänomen des Mythos.« Im Anschluss legt Barfield kurz die Theorie der multiplen Bedeutungen und der Verschmelzung von Symbol und Sinn dar und schließt daraus: »Die Mythologie ist nur noch der Geist der konkreten Bedeutung. Verbindungen zwischen unterschiedlichen Phänomenen, Verbindungen, die jetzt als Metaphern aufgefasst werden, wurden einst als unmittelbare Wirklichkeiten begriffen. Der Dichter strebt aus eigener Kraft danach, sie wieder als solche zu sehen und sie andere sehen zu lassen.«268 In der Zwischenzeit ist auf einem gänzlich verschiedenen Wissensgebiet, nämlich dem der neu entstandenen Wissenals eine durchaus ›objektive‹ Wirklichkeit erscheinen.« (Cassirer, Phi­ losophie der symbolischen Formen, Bd. 2, a. a. O., S. 29) 266 Barfield, Poetic Diction, a. a. O., S. 73. 267  Ebd., S. 75. 268  Ebd., S. 78 f.

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schaft der Psychiatrie, ein anderer Mann auf das Vorliegen einer »irrationalen« Denkweise gestoßen – auf eine, die ihrem eigenen Symbolismus und ihrer eigenen »Logik« folgt – und er hat diesen Gedanken mit erstaunlichem Erfolg einer praktischen Anwendung zugeführt. Dieser Mann war Sigmund Freund. Als er um die Jahrhundertwende daran ging, seine Theorie der Neurosen und seine analytischen Untersuchungen der Träume zu veröffentlichen, war nicht sofort zu sehen, welche Bedeutung seine Entdeckung für die Ästhetik hat, da seine Kritiker viel zu sehr damit beschäftigt waren, ihre Gefahren für die traditionelle Ethik aufzudecken. Im Vorwort zur dritten Auflage der Traum­ deutung bemerkt aber schon Freud selbst, dass künftige Überarbeitungen, »einen engeren Anschluß an den reichen Stoff der Dichtung, des Mythus, des Sprachgebrauchs und der Folklore suchen«269 müssten. Warum haben Cassirer und Barfield Freuds Werk dann nicht zur Kenntnis genommen? Nun, als die beiden ihre jeweiligen Untersuchungen in Angriff nahmen, war sein Einfluss auf die Kunsttheorie, allem voran auf die Dichtung, aber auch auf die vergleichende Religionswissenschaft und Mythologie zwar verbreitet und tiefgreifend, hatte aber auch schon seine eigentümliche Schwäche offenbart, nämlich diejenige, dass es gute und schlechte Kunst auf eine Stufe zu stellen tendierte und damit die Kunst insgesamt darauf reduzierte, wie der Traum und das »Vortäuschen« eine Funktion des natürlichen Selbstausdrucks und kein hart errungener geistiger Fortschritt zu sein. Jeder, der wie Barfield künstlerische Maßstäbe anerkennt oder der wie Cassirer um die komplizierten Probleme der Erkenntnistheorie weiß, kann nur den Eindruck gewinnen, dass diese Exkursion in einer Sackgasse enden muss. Die sich auf Freuds Psychoanalyse stützende Literatur zur Ästhetik fällt hauptsächlich in die zwanziger Jahre des 20. Jahr-

  Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Gesammelte Werke, Bd. 2, London 1945, S. 11. 269



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hunderts. 270 In diesen Jahren veröffentlichte C. G. Jung seine aufgeweichte und ziemlich mystische Version der »dynamischen Psychologie« und hielt seine weitaus vernünftigeren Anschauungen über deren Einfluss auf die Kunstkritik fest. Nun bedeutet das Eingeständnis von »Beschränkungen« eines Verfahrens nicht, dass man seine Probleme damit los ist, falls es sich als grundlegend falsch herausstellen sollte. Freuds Untersuchungen zum nicht-diskursiven Symbolismus und Jungs sich daran anschließende Spekulationen über »Archetypen« ergaben sich aus dem Interesse, die Traumsymbole bis zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen. Diese sind Vorstellungen, die sich in Worte fassen lassen – die »Traumgedanken«, die der »manifeste Trauminhalt« darstellt. Das Gleiche kann man tatsächlich mit jedem Erzeugnis der Einbildungskraft tun, und die Analyse wird interessante psychologische Tatsachen zutage fördern. Jedes Gedicht, jeder Roman oder jedes Drama enthält ein reichhaltiges Traummaterial, das unausgesprochene Gedanken repräsentiert. Psychoanalyse ist jedoch kein Kunsturteil, und all die Bücher und Aufsätze, die über die symbolischen Funktionen von Malerei, Musik und Literatur geschrieben worden sind, tragen eigentlich nichts zu unserem Verständnis der »signifikanten Form« bei. Die Freudianische Kunstauffassung ist eine Theorie des »signifikanten Motivs«.271 Die nicht-diskursive Form übernimmt in der Kunst eine andere Aufgabe. Sie soll ein Wissen artikulieren, das sich diskursiv nicht wiedergeben lässt, weil es Erfahrungen betrifft, die einer   So Frederick Clarke Prescott, The Poetic Mind, New York 1922; ders., Poetry and Myth, New York 1927; John M. Thorburn, Art and the Unconscious. A Psychological Approach to a Problem of Philosophy, London 1925; DeWitt H. Parker, The Principles of Aesthetics, Boston u. a. 1920 und The Analysis of Art, a. a. O.; Sigmund Freud, Psychoanalytische Studien an Werken der Dichtung und Kunst, Wien 1924, um nur einige Beispiele zu nennen. 271  Motive mögen beim künstlerischen Ausdruck eine Rolle spielen, wie ich weiter unten zeigen werde. Ihre künstlerische Funktion liegt aber weder in der Enthüllung von »Traumgedanken« noch in emotionaler Katharsis. 270

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diskursiven Projektion formal nicht zugänglich sind. Bei derartigen Erfahrungen handelt es sich um Lebensrhythmen, um organische ebenso wie um emotionale und mentale (der Rhythmus der Aufmerksamkeit verbindet sie alle auf interessante Weise), die nicht einfach periodisch, sondern unendlich vielschichtig sind und empfänglich für alle möglichen Arten von Einflüssen. Zusammengenommen bilden sie das dynamische Muster des Fühlens. Dieses Muster ist es, das allein von nicht-diskursiven symbolischen Formen präsentierbar ist, und darin besteht Sinn und Zweck der künstlerischen Konstruktion. Die Kombinationsregeln oder die »Logik« rein ästhetischer Formen – seien es nun solche des sichtbaren Raums, der hörbaren Zeit, der lebendigen Kräfte oder der Erfahrung selbst – sind die grundlegenden Regeln der Einbildungskraft. Dichter haben sie schon vor langer Zeit erkannt und als die Weisheit des Herzens gepriesen (die um einiges höher steht als die des Kopfes), und die Mystiker meinten, sie seien die Gesetze der »Wirklichkeit«. Sie sind aber, wie die Regeln der wörtlichen Sprache, lediglich Prinzipien der Symbolisierung, und Freud war der erste, der sie systematisch studiert hat. Da sein Interesse an einer solchen erkenntnistheoretischen Untersuchung nur ein Nebenprodukt seines Anliegens war, die verborgenen Motive von Phantasien aufzudecken, sind seine Darlegungen dieser Prinzipien über die vielen hundert Seiten seiner Traumanalyse verstreut. Fasst man sie kurz zusammen, stellt sich heraus, dass es sich um eben die »Regeln« handelt, die Cassirer für das »mythische Bewusstsein« postuliert hat, die von Émile Durkheim als Wirkmächte in der Entwicklung des Totemismus entdeckt worden sind 272 und die Barfield in der »poetischen Bedeutung« oder der »echten Metapher« beobachtet hat. Das entscheidende Prinzip der imaginativen Übertragung bezeichnet Freud als Darstellbarkeit. Jedes Erzeugnis der Einbildungskraft – sei es das durchdacht geordnete Werk eines   Vgl. Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Le­ bens (1912), Frankfurt a. M. 1981. 272



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Künstlers oder die spontane Erfindung eines Träumers – erscheint dem Rezipienten als eine Erfahrung, als eine qualitative unmittelbare Gegebenheit. Und jegliche dadurch vermittelte gefühlsmäßige Bedeutsamkeit wird ebenso unmittelbar wahrgenommen, weshalb der dichterischen Darstellung oft nachgesagt wird, sie habe eine »Gefühlsqualität«.273 Auch wenn viele Ästhetiker es annehmen, sind assoziierte Bedeutungen nicht Teil der Bedeutsamkeit der Dichtung; ihr Zweck ist es, das Symbol zu erweitern, und dies ist ein technischer Kunstgriff auf der Ebene der Symbolherstellung, nicht auf derjenigen der künstlerischen Einsicht. Wo es zu keinerlei Bedeutungsassoziationen kommt, wird das Symbol nicht erweitert. Ist sein dichterischer Gebrauch jedoch auf eine derartige stillschweigende Erweiterung angewiesen, mag es sein, dass es sein Ziel verfehlt. (Manchmal setzt T. S. Eliot auf Assoziationen, die normalerweise nicht eintreten, so dass sein dichtes Geflecht indirekter historischer Bezüge nicht dazu führt, dass die Phantasie des Lesers bereichert wird. Diese Kritik an Eliot entspricht derjenigen, die ich einmal aus dem Munde eines Musikers gegenüber dem Pro Arte Quartet gehört habe, dessen vollkommenes Pianissimo jenseits der Bühne unhörbar war: »Was ist der Sinn eines wundervollen Pianissimo, wenn man es nicht hört?« Die Mitglieder des Quartetts hätten, ganz im Geiste von Eliot, darauf entgegnen können, das Publikum möge doch bitte der Partitur folgen.) Freud nennt dieses erste logisch verwirrende Merkmal nicht-diskursiver Ausdrucksformen »Überdeterminiertheit«. Dieselbe Form kann mehr als eine Bedeutsamkeit aufweisen, und während die Zuweisung einer Bedeutung an ein etabliertes Symbol (beispielsweise einer wörtlichen oder hyperbolischen Bedeutung an ein Wort) andere Möglichkeiten in einem gegebenen Kontext ausgeschlossen werden, wird der Bedeutungsgehalt einer rein wahrnehmbaren Form durch nichts anderes begrenzt als die formale Struktur selbst. Infolgedessen liegen   Vgl. die im zweiten Kapitel (S. 90 ff) zitierte Passage aus Baenschs »Kunst und Gefühl«. 273

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Bezüge, in denen der Verstand nur Alternativen sehen kann, als »die Bedeutsamkeit« in der Kunst gleichzeitig vor. Dadurch wird es sogar möglich, zwei einander widersprechende Affekte in einem Ausdruck zu verschmelzen. Die »grundlegend melancholische Freude«, von der Tillyard spricht, ist genau ein solcher Inhalt, der in keinem der Logik des Diskurses verpflichteten Symbolismus zu vermitteln ist. Einem poetischen Geist aber ist ein solcher Inhalt völlig vertraut. Freud bezeichnet dies als das Prinzip der Mehrdeutigkeit. Diese Fähigkeit künstlerischer Formen, emotional mehrdeutig zu sein, gründet meines Erachtens in der Tatsache, dass emotionale Gegensätze – Freude und Leid, Begehren und Furcht usw. – häufig eine sehr ähnliche dynamische Struktur aufweisen und aneinander erinnern. Kleine Ausdrucksverschiebungen rücken sie einander näher und legen ihre innigen Beziehungen zueinander offen, wohingegen wörtliche Beschreibungen nur ihre Getrenntheit unterstreichen. Dort, wo Gegensätze nicht ausgeschlossen sind, gibt es streng genommen auch keine Negation. Dass dies auf nicht-sprachliche Künste zutrifft, versteht sich von selbst; Weglassungen sind unter Umständen bedeutsam, aber niemals als Negationen. Die Wörter »kein«, »nicht«, »niemals« usw. kommen in der Literatur reichlich vor; doch was sie verneinen, wird eben dadurch geschaffen. In der Dichtung gibt es keine Verneinung, sondern nur Kontraste. Nehmen wir beispielsweise die letzte Strophe von Swinburnes »Der Garten der Proserpina«, in der beinahe jede Zeile eine Verneinung bildet: Then star nor sun shall waken, Nor any change of light: Nor sounds of waters shaken, Nor any sound or sight: Nor wintry leaves nor vernal; Nor days nor things diurnal; Only the sleep eternal In an eternal night.274 274

  Algernon Charles Swinburne, The Garden of Proserpine, in:



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(Nicht Stern noch Sonne scheinen, Kein Blick im Licht entfacht, Kein Wassermund wird weinen, Kein Laut der Liebe wacht, Kein Blühn und kein Erkalten, Nicht Tag noch Tags Gestalten, Nur ewigen Schlafes Walten In einer ewigen Nacht.)275

Sonne und Stern, Licht, Wasserrauschen, Blätter und Tage: Sie alle nehmen Gestalt an, auch wenn sie verneint werden. Sie bilden den Hintergrund für die abschließende Gewissheit: Only the sleep eternal In an eternal night.

Der anhaltende Vorgang der Verneinung hat in der Zwischenzeit für das monotone »nor – nor – nor« gesorgt, das die ganze Strophe fast auch ohne die Schlusszeilen in den Schlaf fallen lässt; das verneinende Wort übt auf diese Weise eine schöpferische Funktion aus. Da sein wörtlicher Sinn die auf kommenden Vorstellungen stets verwirft, bleiben diese blass und formelhaft, erscheinen sie im Gegensatz zu der einen positiven Realität, dem Schlaf, farblos und »vergangen«. Wie ich bereits gesagt habe, kennt die Dichtung kein wirklich logisches Argument, und auch dieser Umstand findet eine Parallele im trügerischen Schein von Gedankengängen im Traum.276 Der Dichter will keine »Überzeugungen festhalten«, sein Zweck ist es, die virtuelle Erfahrung einer Überzeugung oder ihrer Erlangung zu schaffen. Seine »Argumentation« ist ders., The Collected Poetical Works, Bd. 1, London 1904, S. 169–172, hier 172. 275  Rolf Schilling, Der Garten der Proserpina, in: ders., Ein verlasse­ ner Garten. Deutsche Gedichte nach Algernon Charles Swinburne, München 1990, S. 83–86, hier 86. 276  Vgl. Freud, Die Traumdeutung, a. a. O., Kap. VI: »Die Traum­ arbeit«, S. 428 ff.

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der Schein des Gedankenprozesses, und die Anspannung, das Zögern, die Enttäuschung, die rasche Subtilität geistiger Bewegungen oder der plötzliche Gedankenblitz sind darin weitaus wichtiger als die Schlussfolgerung. Manchmal reicht eine bloße Wiederholung, um einer Überzeugung hinreichend Geltung zu verschaffen. (Wie sagt doch gleich Lewis Carrolls Ausrufer: »Was ich dreimal sage, ist wahr.«) Eines der mächtigsten Prinzipien, die die Verwendung »na­ tür­licher Symbole« regeln, ist das Prinzip der Verdichtung. Auch dieses wurde von Freud im Laufe seiner Traumanalyse entdeckt. 277 Dass es mit der Überdeterminiertheit verwandt ist, versteht sich von selbst; vermutlich hängen alle Prinzipien der nicht-diskursiven Übertragung untereinander zusammen, so wie ja auch diejenigen der diskursiven Logik – Identität, Komplementarität, das ausgeschlossene Dritte usw. – alle zusammengehören. Die Verdichtung von Symbolen ist freilich nicht dasselbe wie ihre Überdeterminiertheit. Im Wesentlichen ist sie eine Verschmelzung der Formen selbst, ausgelöst durch Überschneidungen, Gegensätze, Auslassungen, Unterdrückungen und eine Reihe anderer Mittel. Für gewöhnlich ist die Wirkung die, dass das geschaffene Bild an Intensität zunimmt, die »Gefühlsqualität« erhöht wird; oft sollen wir uns so der Vielschichtigkeit von Gefühlen bewusst werden. (Ich glaube, genau diesen Zweck verfolgt James Joyce, wenn er die Verdichtung so weit treibt, dass seine Sprache sich in eine verzerrte Traumsprache wandelt.) Shakespeare aber ist der echte Meister der Verdichtung: And pity, like a naked new-born babe, Striding the blast, or heaven’s cherubin horsed Upon the sightless couriers of the air, Shall blow the horrid deed in every eye, That tears shall drown the wind.

277

  Ebd., S. 285 ff.



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(Und Mitleid, wie ein nacktes, neugebornes Kind, Auf Sturmwind reitend, oder Himmelscherubim, Zu Roß auf unsichtbaren, luft’gen Rennern, Blasen und Schreckenstat in jedes Auge, Bis Tränenflut den Wind ertränkt. –)278 

Ein Schüler von Richards könnte die letzte Zeile vermutlich dahingehend paraphrasieren, dass »der Klagelaut vernehmbarer sein wird als der Wind«; doch die Paraphrase klingt unwahrscheinlich und die Zeile selbst gewaltig, und außerdem hat Shakespeare »Tears shall drown the wind« geschrieben, also wird er vermutlich nichts anderes beabsichtigt haben. Und welche Paraphrase könnte schon den Sinn eines neugeborenen Kindes und eines Cherubinwächter zu Pferd, die eine Tat in die Augen der Menschen blasen, zusammenfassen? Den wörtlichen Sinn dieser Prophezeiungen kann man vernachlässigen, den der Worte nicht. Der poetische Sinn dieser ganzen verdichteten, spannungsreichen Redefigur ist vollkommen klar. In Shakespeares Dichtung findet sich eine Fülle solcher Ausdrucksweisen. Der imaginative Ausdruck zeichnet sich noch durch weitere Charakteristika aus, doch die hier angeführten müssen uns genügen, um den grundlegenden Unterschied zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Formen von Denken und Darstellung festzuhalten. Es scheint, als würden diese Prinzipien die Herausbildung von Träumen, mythischen Einbildungen und die virtuellen Konstruktionen der Kunst gleichermaßen bestimmen. Was aber trennt dann die Dichtung vom Traum und der Neurose? Das Trennende ist in erster Linie ihr Zweck, der darin besteht, etwas zu vermitteln, das der Künstler weiß und das er durch die einzige symbolische Form darlegen will, die es auszu William Shakespeare, Macbeth, 1. Akt, 7. Szene (The Arden Shakespeare, London 2005, S. 165 f.); Übersetzung: Macbeth, übers. von August Wilhelm Schlegel, in: Shakespeare, Sämtliche Dramen, Bd. III: Tragödien, München 1988, S. 532. 278

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drücken vermag. Ein Gedicht steht anders als der Traum nicht stellvertretend für Ideen, die Wünsche und Gefühle vor uns selbst und anderen verbergen sollen; sein Gefühlsgehalt sollte stets durchsichtig sein. Wie jeder bewusste Ausdruck folgt es einem allgemeinen Qualitätsmaßstab.279 Wir sagen weder von einem Schläfer, er träume holprig, noch von einem Neurotiker, seine Symptome seien nachlässig miteinander verbunden. Einem Dichter kann aber sicherlich Ungeschicklichkeit und Nachlässigkeit vorgeworfen werden. So wie ein Gedicht organisiert ist, handelt es sich nicht um eine spontane Verknüpfung von Bildern, Worten, Situationen und Gefühlen, die so erstaunlich und so mühelos miteinander verwoben sind, wie es die unbewusste Tätigkeit der von Freud so genannten »Traumarbeit« zustande bringt. Eine literarische Komposition, mag sie noch so »inspiriert« sein, kommt nicht ohne Erfindung, Urteil und nicht selten ohne Probieren und Verwerfen und langes Nachdenken aus. Der Anschein einer ungekünstelten, spontanen Äußerung verdankt sich in der Regel derselben Akribie wie alle anderen Qualitäten der Dichtung auch. Unabhängig davon, welche tatsächlichen Ereignisse ihm als Vorbild dienten oder welche Vorgaben sein Gerüst bilden, ist ein gelungenes literarisches Werk stets etwas von Anfang bis Ende Geschaffenes. Es ist die Illusion einer Erfahrung. Es schafft immer den Schein eines geistigen Vorgangs – d. h. eines lebendigen Gedankens, eines Bewusstseins von Ereignissen, Handlungen, Erinnerungen, Reflektionen usw. Dennoch braucht es in der virtuellen »Welt« niemanden zu geben, die wahrnimmt und berichtet. Der Schein von Leben ist einfach der Modus, in dem virtuelle Ereignisse hervorgebracht werden. Eine denkbar unpersönliche Darlegung von »Tatsachen« ist fähig, ihnen den qualitativen Stempel aufzudrücken, der sie zu »Erfahrungen«   Wie dieser Maßstab anzulegen ist, ist eine andere Sache; an dieser Stelle möchte ich nur darauf hinweisen, dass es zwar nicht immer möglich ist zu sagen, wie der Dichter dem Maßstab gerecht geworden ist, dass wir aber immer die Gründe angeben können, aus denen es ihm nicht gelungen ist. 279



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macht, die in alle möglichen Arten von Kontexten eingehen und so mit Sinn angereichert werden. Das heißt also, dass Literatur nicht in dem Sinne »subjektiv« sein muss, dass die Eindrücke oder Gefühle einer bestimmten Person wiedergegeben werden, und trotzdem hat alles, was sich im Rahmen ihrer Illusion bewegt, den Schein eines gelebten Ereignisses. Damit existiert ein virtuelles Ereignis nur insofern, als es geformt und beschrieben ist, und seine Beziehungen sind ausschließlich von der Art, wie sie in der virtuellen Welt des Werks offenbar werden. Jedes vom Dichter geschriebene Wort verfolgt den Zweck, die primäre poetische Illusion zu schaffen, den Leser zu bannen und das Bild der Wirklichkeit so zu entwickeln, dass es einen emotionalen Bedeutungsgehalt gewinnt, der die in dem Bild selbst vorkommenden Gefühle übersteigt. Er kann dazu Selbsterlebtes oder den Inhalt seiner Träume verwenden, genauso wie ein Maler seinen Schlafzimmerstuhl, seinen Atelierofen, die Kamine vor seinem Dachfenster oder die apokalyptischen Bilder vor seinem geistigen Auge malen kann. Ein Dichter mag Lehrmeinungen oder Moralmaximen zum Thema machen und sie in erhabenen Verspaaren, fünfhebigen Jamben oder in Gruppen freier Verse preisen. Er könnte Bezüge auf öffentliche Ereignisse einflechten und die Namen realer Personen verwenden, so wie Maler oft originalgetreue Porträts malen oder den Betenden in sakralen Bildern die Züge von deren Stiftern verleihen. Wenn derartiges Material künstlerischen Zwecken unterworfen wird, muss es keineswegs das Werk stören, und dieses ist dadurch nicht weniger »reine Kunst«, als es sonst wäre. Erfüllt sein muss nur die Bedingung, dass das Material, aus welcher Quelle auch immer es stammt, vollständig künstlerisch umgesetzt wird, vollkommen verwandelt, so dass es nicht vom Werk wegführt, sondern ihm stattdessen den Anschein verleiht, »Wirklichkeit« zu sein. Es gibt zahllose Kunstgriffe, um die Welt eines Gedichts zu erschaffen und die Elemente seines virtuellen Lebens zu artikulieren, und fast jeder Kritiker entdeckt einige dieser Mittel und bestaunt voller Bewunderung ihren »Zauber«. Mitunter

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verliebt sich ein Dichter auch selbst in ein poetisches Mittel, so etwa Swinburne in die Alliteration und Browning in den Konversationston, und bedient sich seiner so großzügig und offensichtlich, dass man die Technik selbst heraushört, statt allein die virtuellen Ereignisse wahrzunehmen, die von ihr geschaffen werden sollen. Wie der von Staunen erfüllte Kritiker (ein Kritiker, der nicht von Staunen erfüllt wird, ist seiner Materie nicht gewachsen) wird auch der Dichter zum Theoretiker und ist versucht, ein Rezept für die dichterische Arbeit zu liefern. Beeindruckt er mit diesem Rezept andere Schriftsteller, so entsteht eine »Schule«, und möglicherweise verfassen sie ein Manifest, in dem sie sich über das Wesen der Dichtung auslassen und in einem Folgesatz die grundlegende Bedeutung ihrer Technik für die Realisierung eben dieses Wesens hervorheben. Frühere Dichtung, vor allem aber die der jüngsten Vergangenheit, 280 wird dann, insoweit sie dieses Wesen zumeist nicht zu ihrem Maßstab macht, als »unrein« getadelt. (Verfehlt sie den Maßstab, gilt sie lediglich als misslungen statt als unrein; doch sich ein anderes Ziel zu setzen wird als verderbliches Hineintragen nicht-dichterischer Faktoren ins Gedicht betrachtet.) Seit nun schon drei Jahrzehnten ist die Frage der »reinen Dichtung« von Literaturkritikern – einige davon selbst Dichter – in England und vor allem in Frankreich traktiert worden, während sie in anderen Ländern weniger prominent war. Eine prägnante Formulierung und völlig nutzlose Beantwortung der Frage hat der Abbé Henri Bremond in seiner berühmten Vorlesung La poésie pure 281 vorlegt. Sie schließt mit einer Beschreibung des dichterischen Wesens, wobei sich »Wesen« nur als »Zauber« interpretieren lässt. Nun wird vermutlich jeder begeisterte Leser von Lyrik zustimmen, dass etwas an ihr ist, was wir »dichterischen Zauber« nennen könnten. Doch dass diese   F. A. Pottle äußert sich in The Idiom of Poetry zu dieser Reaktion auf die unmittelbar vorangegangene Epoche und erklärt sie im Weiteren. Vgl. S. 28. 281  Vgl. Henri Bremond, La poésie pure, Paris 1926. [ A nm. d. Hg. ] 280



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Eigenschaft nichts mit Klang oder Bilderwelt, mit Bedeutung oder Gefühl zu tun hat, sondern an etwas anderem hängt, das dem Gedicht innewohnt, etwas für sich Bestehendem und Mys­ tischem, ist keine aufschlussreiche Annahme. Wie alle mystischen Überzeugungen ist sie unwiderlegbar, theoretisch aber von keinerlei Wert. Der Wert der Vorlesung lag darin, dass sie eine Kontroverse auslöste, in deren Verlauf es einige ernsthafte Denker für nötig hielten, die »magische« Eigenschaft zu klären und ein Kriterium für »reine Dichtung« aufzustellen, das an Gedichte nicht das Maß einer Dichtung jenseits der Sprache, über alle Worte hinaus, das Maß einer »Poesie der Stille« anlegen sollte. Viele Kritiker folgten Bremond prinzipiell darin, »reine Dichtung« als gereinigt zu betrachten, befreit von allen nicht-dichterischen Bestandteilen oder nicht-dichterischen Funktionen, und in dieser Hinsicht trugen sie und er den Gedanken von Poe, Shelley, Coleridge und Swinburne weiter, die allesamt nach dem »dichterischen Wesen« als einem der Elemente im poetischen Diskurs gesucht hatten und für ein zunehmendes Gewicht dieses Elements, was immer es auch sein mag, und die möglichst vollständige Tilgung anderer Elemente eintraten. Shelley wollte alle belehrenden Aussagen eliminieren, was nicht allzu schwierig war, und die meisten Literaturästhetiker pflichteten ihm bei. Selbst Liebhaber von Lehrdichtungen stimmten in der Regel zu, dass das, was sie schätzten, nicht »reine Dichtung« sei. Poe ging noch weiter und betrachtete alle »expliziten« Aussagen als unpoetisch. Ob jedoch das Gegenteil von »explizit« »implizit«, »metaphorisch« oder »vage« ist, hat er nicht wirklich deutlich gemacht. Zumindest in einem Fall legt er den Schluss nahe, dass er »vage« dafür hielt, denn er lobt die Musik als die vagste aller Kommunikationsformen. Doch auch der metaphorische Ausdruck stellte ihn zufrieden. Wie die meisten Schriftsteller, die keine philosophische Ausbildung haben – viele Dichter-Kritiker lesen zwar philosophische Texte, sind aber keine disziplinierten Denker –, belegte er das herabsetzende Wort »explizit« abwechselnd mit »ausdrücklich«, »präzise«, »buchstäblich«,

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»objektiv«, »naturalistisch« und anderen anstößigen Bedeutungen. Er wollte damit »unverwandelte« Vorstellungen, einzelne Worte oder Aussagen ausschließen, die den Leser an Dinge der wirklichen Welt denken lassen, anstatt ihn in die virtuelle Welt des Gedichts zu bannen. Sein Fehler ist ziemlich verbreitet: Er versuchte, angeblich unpassendes Material zu beseitigen, wo er eigentlich ein konsistentes künstlerisches Vorgehen hätte fordern sollen. Seine modernen Nachfolger sind subtiler. T. S. Eliot ist philosophisch nicht ungeschult. Auch er versucht, die Dichtung zu reinigen, indem er so viele explizite Aussagen wie möglich auslässt, und das Gegenteil von »explizit« ist für ihn, wie es sein sollte, das Wort »implizit«. Das Fragwürdige seiner Theorie zeigt sich freilich in ihrer Anwendung: Kann das, was rein implizit in einer Aussage enthalten ist, immer wirksam werden? Wie lassen sich abgelegene Implikationen der Anschauung des Lesers vermitteln? Er antwortet darauf, dass der Leser dazu erzogen werden müsse, reine Dichtung zu lesen: Er müsse so umfangreiche Assoziationen mit den Worten verbinden, dass selbst eine Assonanz mit einer berühmten literarischen Zeile, ob nun in der englischen oder einer fremden Sprache, in ihm einen Widerhall jener Zeile auslöst und ein versteckter Hinweis auf einen unbekannten mittelalterlichen Mönch sogleich die Geschichte oder Legende dieser Persönlichkeit herauf beschwört. Eliots berühmte Fußnoten mögen eher ein dichterisches Mittel darstellen, um ein Gefühl des Abstrusen zu erwecken, als echte Anmerkungen sein, die dieses Gefühl zerstreuen. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass seine freimütig bekannte kulturelle Voraussetzung phantastisch ist und von einer schmerzlichen Sehnsucht nach einer verschwundenen Kultur zeugt, nach einer, die kleiner, selbstgewisser und systematisch kompakter ist. Große Dichter vertreten oft merkwürdige Theorien, was sie nicht daran hindert, gute Gedichte zu verfassen. Eliot ist ein Beweis dafür. Dennoch besteht immer die Gefahr, dass eine derart aufgeputzte Dichtung nicht als solche gelesen, sondern als esoterisches Spiel zwischen Dichter und Leser ge-



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nommen wird, das denjenigen, der es spielen kann, eher intellektuell als poetisch erregt. Bremonds und Eliots Theorien weisen insofern eine interessante Parallele auf, als beide das diskursive Material des Gedichts oder des Gedichts auf dem Papier reduzieren wollen, um das wirkliche »dichterische« Element zu verstärken, das in einer durch den sprachlichen Reiz geschaffenen Erfahrung besteht. Die stillschweigende Prämisse ist dabei, dass die Erfahrung umso intensiver ist, je mehr der Reiz reduziert worden ist. So wie eine »Poesie der Stille« für Bremond der Grenzfall seines Ideals ist, so sollte es für Eliot das eine alles implizierende Wort sein. Das einzige, was ihn von der Bejahung dieses Ideals abhält, ist meiner Ansicht nach der gesunde dichterische Verstand (als Mystiker verfügt der Abbé Bremond nicht über einen so ein­ fachen Schutzmechanismus, braucht ihn aber auch nicht). Der Poet ist besser als seine Poetik. Das Ideal der reinen Dichtung ist selbstverständlich eng mit der Frage verbunden, was Dichtung überhaupt ist, also mit der Definition von Dichtung. Wenn wir wissen, was wir unter »Dichtung« verstehen, können wir in unserem Urteil von ihren reinen Beispielen ausgehen und sollten dann imstande sein anzugeben, aus welchen Gründen Gedichte unrein sind, die diesen Makel aufweisen. Die überwiegende Mehrheit der Autoren, die die Frage »Was ist Dichtung?« aufwerfen, beantwortet sie in keiner Weise, sondern lässt sie sich darüber aus, was dichterisch ist, oder definiert die »dichterische Erfahrung«. Tatsächlich bezeichnen einige die dichterische Erfahrung als das eigentliche Gedicht und das »Gedicht auf dem Papier« nur als sein Symbol. Prescott beispielsweise legt diese Auffassung klar und deutlich in Poetry and Myth dar: »Dichtung im eigentlichen Sinn lässt sich offenbar nicht auf einer Druckseite festhalten und zu Büchern binden. Sie besteht vielmehr aus einer Reihe von Gedanken und Gefühlen, die, ausgelöst von den gedruckten Symbolen, einander im Geist des Lesers ablösen.« Aber diese Dichtung soll nun unter Umständen überhaupt nicht poetisch sein! Denn unmittelbar

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darauf schreibt er: »Die Reaktion auf diese Symbole mag in keiner Weise poetisch; es könnte sich um eine ganz rationale Konstruktion anstelle der Reihe von Bildern handeln, die unwillkürlich von den passenden Gedanken und Gefühlen begleitet wird, die der Dichter beabsichtigt hat und für die ihm die Symbole bestenfalls als ein sehr unvollkommenes Kommunikationsmittel gedient haben.«282 Hier haben wir zwei Gedichte, das des Dichters und das des Lesers, die durch ein sehr unvollkommenes Medium, nämlich Worte, miteinander verbunden sind. Eines dieser Gedichte ist möglicherweise gar nicht poetisch. Es könnte sich um eine »ganz rationale Konstruktion« handeln. Folgerichtig lesen wir ein paar Seiten später: »Das wesentliche Element in der Dichtung ist kein vernunftgemäßes. Doch gerade dieses Element erzeugt die echte poetische Schönheit, die etwas von einem Traum hat, die sich nicht ständig oder aufmerksam betrachten lässt, sondern nur aufschimmert und von der man nur sagen kann, sie besitze den Charme oder den Zauber, der das Kennzeichen ihrer Präsenz ist, die daher unerklärlich ist.«283 Hier kommt alles zusammen: die von Poe behauptete Irratio­ nalität, die »Präsenz« von etwas jenseits der Worte oder Gedanken, der Zauber, die beinahe entbehrlichen, vermittelnden Worte, die »poetische Erfahrung«, die »dichterische Absicht«. Und selbstverständlich darf die Kreativität nicht fehlen: Das charakteristische Kennzeichen der Dichtung liegt, wie auch immer ihre äußere Form beschaffen ist, darin, dass sie etwas Geschaffenes ist. Diese fiktionale Schöpfung […] drückt den Wunsch oder das Ziel des Dichters aus und wird durch sie veranlasst.« 284 Es mag seltsam erscheinen, dass eine Reihe von Gedanken und Gefühlen im Kopf des Lesers als ihr charakteristisches Kennzeichen die Symptome des dynamischen Drucks einer anderen Person haben sollten; indem er jedoch behauptet, die durch  Prescott, Poetry and Myth, a. a. O., S. 1.   Ebd., S. 7. 284  Ebd., S. 4. 282 283



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Worte nur unvollkommen vermittelte Vision eines Dichters sei eine Illusion, »eine Übertragung äußerer Eindrücke in ein bloß geistiges Phantasma«, erklärt er, dass der Leser sie borgen und ausführen kann, um sie seinen eigenen Bedürfnissen anzupassen. »Selbst die kleinste Skizze wird, sobald sie die Phantasie in Gang gesetzt hat, ausgeschmückt werden, und dieses ganze Ausschmücken, das den größten Teil eines jeden Kunstwerks ausmacht, ist ein bloßer Traum und eine Illusion.«285 Wenn der Künstler seinen Tagtraum mitteilt, dann ist sein eigentlicher Zweck der, den Leser zum Tagträumen zu veranlassen, und gleichgültig welcher Traum dabei herauskommt, er ist – der ersten oben zitierten Behauptung zufolge – das Gedicht (auch wenn es nicht poetisch ist). Ich habe dieser offensichtlich ungereimten Theorie der Poetik so viel Platz eingeräumt, weil sie nahezu alle Ungereimtheiten enthält, unter der die gegenwärtige Theorie leidet, und weil sie schnell in den hilflosen Zustand verfällt, der von ihnen ausgelöst wird – dass nämlich keines ihrer Prinzipien wirklich frei und ausnahmslos in allen Fällen greift. Dichtung sei im Wesentlichen dasselbe wie Mythos, aber, so Prescott: »Bevor ich darangehe, das mythische Element in der Dichtung herauszustellen, sollte ich sagen, dass es natürlich nicht immer in unserer tatsächlichen Dichtung anzutreffen ist.« Das liege daran, dass die Dichtung zwar die Sprache der Einbildungskraft ist, aber diese »in vielen Versen und selbst in vielem, was wir zu Recht Dichtung nennen, nicht direkt oder beständig am Werk ist.« Dichtung – damit ist hier wohl das »Gedicht auf dem Papier« gemeint, löst eine Vision aus und gibt einen Rhythmus vor (Form, Metrum, Musik). »Dichtung kann man daher als eine Sache des Sehens und Singens bezeichnen. Gleichwohl ist sie nicht wirklich immer beides.«286 Und so geht es weiter: Idealerweise sollten Gedichte mythische Schöpfungen sein, phantasievolle, visionäre, musikalische, doch kein Gedicht, sei es nun 285

  Ebd., S. 40.  Ebd.

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das, was jemand vor seinem geistigen Auge hat oder das, was sich auf dem Papier befindet, erfüllt tatsächlich den Maßstab. Damit sind wir wieder beim Problem der reinen Dichtung angelangt. Es gibt zwei Möglichkeiten, »reine« Dichtung zu schaffen: Entweder wird alles weggelassen, was als nicht-dichterisch abzulehnen ist – wie Shelley, Poe, Valéry und Moore es fordern –, so dass die Dichtung so rein wie möglich bleibt, oder man hält sich strikt an einen erklärten Grundsatz, wie daran, dass das ganze Gedicht aus der Schilderung eines Gefühls, aus reinem Klang oder Metaphorik bestehe müsse, denn nur so sei es lupenrein und folglich eine kleine, seltene Kostbarkeit. Das ist der Weg, den die Imagisten, die Impressionisten und die Symbolisten eingeschlagen haben. Angesichts all dieser Anstrengungen hat F. A. Pottle die naive, aber wichtige Frage aufgeworfen: Sollte die Dichtung absolut oder vollkommen rein sein oder auch nur so rein wie möglich? Seine wohlüberlegte Antwort lautet: »Dichtung sollte nicht reiner sein, als der jeweilige Zweck es verlangt.«287 Schon an früherer Stelle hat er erörtert, was der Zweck des Dichters ist, und gelangt so zu dem allgemeinen Prinzip: »Die dichterische Sprache drückt die Eigenschaften der Erfahrung aus, im Unterschied zu einer Sprache, die deren Verwendungen an­ gibt. Da jede Sprache so verstanden in gewissem Maße expressiv ist, ist jede menschliche Rede genau genommen Dichtung, wenn auch in unterschiedlicher Konzentration. Im gewöhnlichen oder populären Sinn des Wortes ist Dichtung die Sprache, bei der wir das Gefühl haben, sie drücke vor allem die Eigenschaften der Erfahrung aus und rücke Aussagen über ihre Verwendungen weit in den Hintergrund.«288 »Dichtung« und »dichterische Sprache« werden hier syno­ nym gebraucht. Dichtung ist daher eine Art der Sprache und mehr noch eine solche, die allmählich in eine andere übergeht, die an der äußersten Grenze ihr Gegenteil ist. Der Einsatz der 287

  Frederick Albert Pottle, The Idiom of Poetry, Ithaca 1946, S. 99.   Ebd., S. 70.

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dichterischen Sprache bezweckt, dem Leser die Eigenschaften von Erfahrung bewusst zu machen.289 Welche Art von »Erfahrung« hier gemeint ist, das wird uns nicht gesagt, aber vermutlich geht es um die reale menschliche Erfahrung im Allgemeinen. Diese Auffassung vom Auftrag der Dichtung ist in der Poetik das Gegenstück zu Roger Frys Ansicht, die Bildkunst habe die Aufgabe, uns bewusst zu machen, »wie die Dinge wirklich aussehen«290 . Dichtung »im gewöhnlichen oder populären Sinn des Wortes« ist, so verstehe ich es, eine Sprache, die eher wegen ihrer qualitativen als ihrer praktischen Bezugnahme ausgewählt worden ist und die in Diskursen über die Erfahrungen des Autors verdichtet wird, auch bekannt als »Gedichte«. Ein Gedicht ist eine Aussage in genau demselben Sinn wie jede praktische Aussage, allerdings mithilfe von Worten, die eine hohe Dichte an »qualitativer Expressivität« erzielen. Pottle hingegen meint, es bestehe keine Notwendigkeit, im Ganzen des Diskurses an einem Kern von Expressivität festzuhalten. Ein Gedicht könne sehr wohl ein Gutteil an »Prosa« oder informativer Sprache enthalten, bilde diese doch einen Hintergrund für eine zu große Wahrnehmungsintensität und neige dazu, die besonderen Momente von »Erfahrung«, wenn sie auftreten, besser ins Licht zu rücken.291 Aus Pottles Behandlung der Forderung nach »Reinheit« spricht ein gutes künstlerisches Urteil. Philosophisch gesehen aber ist sie eine Notlösung, die uns beim Problem der dichterischen Sprache im Gegensatz zur unpoetischen, des »Ausdrucks der Qualität« im Gegensatz zum »Ausdruck der Tatsachen«, nicht weiterbringt, da sie die verwirrende Annahme nicht berührt, der diese Probleme entspringen. Bei dieser unglücklichen Annahme handelt es sich um seinen eigenen Grundsatz, »Was verstehe ich unter einer ›expressiven‹ Sprache? Es handelt sich dabei um eine Sprache, die uns Erfahrung als Erfahrung schärfer zu Bewusstsein bringt […].« (Ebd., S. 66) 290  Roger Fry, Vision and Design, London 1925, S. 25. 291 Pottle, The Idiom of Poetry, a. a. O., Kap. V, S. 93 ff. 289

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dass es zur Funktion der Sprache gehört, dichterisch zu sein, so dass »jede menschliche Rede genau genommen Dichtung ist, wenn auch in unterschiedlicher Konzentration«. Dadurch wird Dichtung zu einer Art Diskurs und weist, wie jeder Diskurs es tut, auf die Merkmale der Erfahrung hin, allerdings beschäftigt sie sich mit ihrer qualitativen statt ihrer praktischen Seite. Weil Erfahrung selbstverständlich beide Seiten aufweist, wird der Unterschied zwischen dichterischem und wörtlichem Diskurs nicht als ein radikaler, sondern als ein bloß gradueller aufgefasst. Ich bin aber nun der Auffassung, dass der Unterschied ein radikaler ist, dass Dichtung überhaupt kein echter Diskurs ist und sie stattdessen mithilfe der diskursiven Sprache eine illusorische »Erfahrung« oder ein Stück virtueller Geschichte erschafft und dass die »dichterische Sprache« für diesen Zweck besonders nützlich ist. Welche Worte uns als dichterische erscheinen werden, das hängt vom Hauptgedanken des betreffenden Gedichts ab. Beispielsweise gilt die Sprache des Rechts normalerweise nicht als poetisch. An Wörtern wie »Freibrief«, »Urkunde«, »Geschenk«,»Pacht«, »Rechte«, »Wert«, »Bewilligung« ist nichts »qualitativ«, aber welch einen Gebrauch macht Shakespeare von ihnen: Farewell! thou art too dear for my possessing, And like enough thou know’st thy estimate, The charter of thy worth gives thee releasing; My bonds in thee are all determinate. For how do I hold thee but by thy granting? And for that riches where is my deserving? The cause of this fair gift in me is wanting, And so my patent back again is swerving. Thy self thou gavest, thy own worth then not knowing, Or me to whom thou gav’st it else mistaking; So thy great gift, upon misprision growing, Comes home again, on better judgement making. Thus have I had thee, as a dream doth flatter, In sleep a king, but waking no such matter.



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(Lebt wohl! Dich halt’ ich nicht; bist mir zu teuer; Und, fürcht’ ich, deines Wertes wohl gedenk. Der Freibrief deines Selbst wird dein Befreier, Mein Recht an dich ist allzu eng beschränkt. Denn wie besäß ich dich als durch dein Geben? Welch ein Verdienst erwürb mir solche Güter? Der Grund so holder Gunst fehlt meinem Leben: Und so kehrt mein Geschenk zum Eigner wieder. Fremd war dein Wert dir selbst, als du dich brachtest; Ich, der Beschenkte, wohl zu hoch gemessen; So fällt die Gabe, die im Wahn du machtest, Dir wieder heim nach reiferem Ermessen. So hab’ ich dich gehabt nur wie im Fieber, Im Traum ein König! wachend ist’s vorüber.)

Die harten, technischen Wörter verfolgen einen Zweck, für den Shakespeare sie, nebenbei gesagt, häufig einspannt: Sie erzeugen den Schein einer unausweichlichen Tatsache. Das unpersönliche, souveräne Wesen des Rechts fließt in eine sehr persönliche Situation ein, und daraus ergibt sich der Eindruck einer absoluten Endgültigkeit. Erreicht wird dieser Eindruck durch die kühne Metapher eines Rechtsdiskurses; der Anwaltsjargon wird hier zur echten »poetischen Redeweise«. Es gibt keine gelungene Dichtung, die nicht auch reine Dichtung ist. Die ganze Frage der »Reinheit« ist ein Scheinproblem, das sich einer irrigen Auffassung darüber verdankt, was Dich­ tung ist, sowie dem Umstand, dass gewisse mächtige, nahezu allgegenwärtige Mittel fälschlicherweise für das Grundprinzip der Dichtung gehalten werden und allein das, was diese Mittel bewirken, als »reine Dichtung« bezeichnet wird. Beim Sinn­ lichen, Qualitativen zu verweilen ist solch ein bedeutendes Mittel, um das Bild von Erfahrung zu schaffen, ein anderes ist die Ironie, denn schon die Struktur menschlichen Fühlens ist ja ironisch; Mehrdeutigkeit, Metapher, Personifizierung, »hypnotische« Rhythmen – sie alle sind wesentliche Faktoren in der Erzeugung von Dichtung. Das Erschaffen einer virtuellen Ge-

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schichte ist freilich das Prinzip, das die gesamte Literatur durchzieht: das Prinzip der Poesis. Wenn Dichtung niemals eine Aussage über die Wirklichkeit ist, hat sie dann, abgesehen von der letztendlichen Bezugnahme ihrer komponierten Formen auf die Lebendigkeit selbst, das heißt durch ihre künstlerische Funktion, die Morphologie des realen menschlichen Fühlens auszudrücken, überhaupt etwas mit dem Leben zu tun? Ist nichts von der eigenen Biographie des Künstlers, es sei denn zufällig, als Schlacke eher denn als Gold in die Illusion eingegangen? In jedem guten Kunstwerk steckt meines Erachtens etwas, das wir der Welt zuschreiben können und das etwas über die eigene Einstellung des Künstlers zum Leben aussagt. Dies steht im Einklang mit der geistigen und sogar auch der biologischen Bedeutung der Kunst: Es drängt uns, unsere Gefühle zu symbolisieren und zu artikulieren, wenn wir sie verstehen müssen, um nicht unsere Orientierung in der Gesellschaft und der Natur zu verlieren. Die ersten emotionalen Phänomene, die jemand formulieren möchte, sind daher seine eigenen, ihn verwirrenden Leidenschaften. Es ist dann ganz natürlich, nach expressivem Material unter den Ereignissen oder Objekten zu suchen, die diese Leidenschaften ausgelöst haben, das heißt mit ihnen assoziierte Bilder zu verwenden, und unter dem Druck der realen Emotion neigen die wahrgenommenen Ereignisse und Objekte dazu, in einer Gestalt* zu erscheinen, die mit der von ihnen ausgelösten Emotion übereinstimmt. Die Wirklichkeit liefert daher im Normalfall die Bilder, doch diese sind dann nicht mehr etwas in der Realität, sie sind Formen für den Gebrauch einer angeregten Einbildungskraft. (Tatsächlich könnten sie auch in »freudscher« Manier metaphorisch sein, symptomatische Phantasien, in denen sich das Gefühl konzentriert.) Und dann beginnt die gestalterische Arbeit, das Ringen um vollständige Expressivität, um jenes Verständnis der Form, das schließlich aus der emotionalen Verwirrung einen Sinn herausholt. Das Motiv, das häufig tieferen Quellen der Einbildungskraft als die Kunst selbst entspringt, und das Gefühl, das der Künst-



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ler ihm entgegenbringt, liefern dem Werk die ersten Formelemente, seine Dimensionen und seine Intensität, seinen Umfang und seine Stimmung. Manchmal, wenn wie in Thomas Wolfes »Death in the City« das Thema gewaltig ist, tritt die Technik in den Hintergrund, so dass die ganze Behandlung einen Anstrich von Untertreibung bekommt, der Teil der grundlegenden künstlerischen Konzeption ist. Würde sich der Künstler hingegen als sein Motiv ein Bild oder ein Ereignis wählen, das allein für ihn, das heißt als ein persönliches Symbol, anregend ist, dann würde dessen Verwendung keine Spannung im Werk, sondern nur in seinem Kopf auf bauen, und das beabsichtigte Mittel würde seinen Zweck verfehlen. Um den Eindruck der Untertreibung zu vermitteln, konnte er nicht das Thema als solches verwenden, er musste stattdessen ein Element schaffen, das diese Qualität der Anregung transportiert, um so ein Gegengewicht zu seiner unterkühlten Behandlung zu liefern. Eine Kunst, deren Strukturelemente aus rein persönlichen Symbolen bestehen, ist unrein, und diese Art der Unreinheit ist verhängnisvoll. Wenn seine konzeptuellen Fähigkeiten wachsen, ist ein Künst­ ler normalerweise eher imstande, sein Material woanders als in seiner eigenen Situation zu suchen, denn sein Blick weitet sich, und er sieht sowohl Möglichkeiten als auch Wirklichkeiten, die bereits im Sinne seiner eigenen Kunst zur Hälfte zu expressiven Formen verarbeitet worden sind. Einem Dichter gehen die meiste Zeit Dichtungen durch den Kopf, und er ist in der Lage, Erfahrung – nicht nur seine eigene – von der Gefühlsseite aufzufassen, denn er kennt sich aus mit Gefühlen. Einige Dichter, etwa Wordsworth, gehen für gewöhnlich von einer persönlichen Erfahrung aus, so wie einige Maler immer im Atelier oder in der »freien Natur« malen. Bei den von ihnen verwendeten Erfahrungen handelt es sich jedoch nicht um subjektive Krisen, sie stellen objektiv interessante Ereignisse dar. Andere Autoren, wie zum Beispiel Coleridge, setzen ihre dichterischen Visionen aus Andeutungen zusammen, die aus Büchern, alten Erinnerungen, Träumen, Gerüchten und gelegentlich aus bemerkenswerten Erfahrungen stammen. Wo ein Thema seinen

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Ursprung hat, ist nicht von Belang, wichtig ist die Anregung, die es auslöst, die Bedeutung, die es für den Dichter hat. Die Einbildungskraft muss von der Welt genährt werden – durch neue Eindrücke, neue Klänge, Handlungen und Ereignisse –, und das Interesse des Künstlers an den Arten menschlichen Fühlens muss durch reales Leben und Fühlen aufrechterhalten werden, das heißt, der Künstler muss sein Material lieben, an seinen Auftrag und seine Begabung glauben, anderenfalls wird die Kunst frivol, verkommt zu Luxus und Mode. So gewiss wie die Kunst durch irgendeine Erfahrung des realen Lebens inspiriert sein muss, so gewiss muss diese im Werk selbst gänzlich transformiert werden. Selbst die mit »ich« bezeichnete Persönlichkeit in einer Autobiographie muss ein Geschöpf der Geschichte sein und nicht das Modell selbst. »Meine« Geschichte ist das, was im Buch geschieht, keine Kette von Anlässen in der Welt. Ich denke, es liegt daran, dass er diese Unterscheidung nicht trifft, dass George Moore jede »subjektive Dichtung« als unrein verwirft.292 Die subjektiven Abschnitte in einem guten Gedicht sind von der Wirklichkeit ebenso weit entfernt wie die Naturbeschreibungen oder die präraffaelitischen Erzählungen von mittelalterlichen Frauen, die er als reine Dichtung gutheißt. Zweifellos ist ein großer Teil der Dichtung unseres literarischen Erbes durch die einfallslose Wiedergabe von Emotionen entstellt. Es liegt freilich weder an der moralischen Idee noch an der Erwähnung von Gefühlen, dass solche Abschnitte schlecht sind; schuld daran ist ein Versagen der Kreativität, die Unfähigkeit, die Illusion einer moralischen Erleuchtung oder einer leidenschaftlichen Erfahrung zu schaffen, das Abgleiten in einen bloßen Diskurs über derartige Fragen; kurz, der Fehler, das Gedicht als bloßes Vehikel einer Behauptung zu machen, die der Dichter seinen Lesern gerne mitteilen möch »[…] Kunst um der Kunst willen ist reine Kunst, das heißt eine Vorstellung, die von der Persönlichkeit des Dichters geradezu getrennt ist.« (George Moore, An Anthology of Pure Poetry, New York 1924, S. 19) Und auf Seite 34 bezeichnet er »reine Dichtung« als »etwas, das der Dichter außerhalb seiner eigenen Persönlichkeit schafft«. 292



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te.293 Um gute von schlechter Dichtung zu unterscheiden, beruft Moore sich jedoch nicht auf einen Maßstab für Kreativität. Er verwirft alle Abschnitte, die mit Materialien arbeiten, über die er ein Tabu verhängt hat. Haltungen gegenüber was auch immer, Überzeugungen, Prinzipien und sämtliche allgemeinen Kommentare sind Unreinheiten. Tatsächlich ist es manchmal so, dass das Gedicht nicht einmal didaktisch klingt, doch wenn der Kritiker aus anderen Werken des Dichters oder auch nur aus biographischen Angaben weiß, dass ein moralisches Interesse die Gestaltung veranlasst hat, es ihm kein Vergnügen mehr bereitet. Moore berichtet von solch einer Entdeckung, und welchen Gesinnungswandel sie in ihm hervorgerufen hat: »Mein Vater pflegte das Sonett über die Westminster Bridge zu bewundern, 294 und auch ich habe es bewundert, bis ich mich nicht mehr des Verdachts erwehren konnte, dass es nicht das wunderbare Bild einer Stadt war, die sich im Morgengrauen über einem Fluss erhebt, das den Dichter gefangen nahm, sondern die Hoffnung, doch einmal eine Seele in der Natur zu finden. […] Nachdem ich das Sonett noch einmal gelesen und seinen allgemeinen Ton betrachtet hatte, machte ich darin eine sorgfältige verborgene Moral aus. […] Würde er ihrer nur habhaft werden, so würde er die Seele der Natur christianisieren, sagte ich mir, und deshalb fällt das Gedicht unter die Rubrik Bekehrungseifer in der Dichtung.«295 Das Maß »reiner Dichtung«, das Moore zugleich zum Maßstab guter Dichtung erhebt, stuft den größten Teil des großen lyrischen Welterbes auf einen niederen Rang herab.296 Was ihm   Das schlimmste Beispiel, das mir einfällt – abgesehen von Amateurdichtung in Provinzblättern –, ist Longfellows »A Psalm of Life«. 294  Wordsworths Sonett, das mit der Zeile »Earth has not anything to show more fair« (»Die Erde hat nichts Schöneres zu zeigen«) beginnt. [William Wordsworth, Composed on Westminster Bridge, September 3, 1802, in: ders., The Major Works, a. a. O., S. 285; Anm. d. Hg.] 295 Moore, An Anthology of Pure Poetry, a. a. O., S. 19 f. 296  In seiner Einleitung lässt er De la Mare bemerken: »Viele der sehr schönen Gedichte in der Sprache müssten ausgeschlossen wer293

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dann bleibt, ist eine kleine Zahl von Meisterwerken, ganz wie er es vorhergesagt hat, und obwohl die Mehrzahl der in seine Anthologie als Beispiele für höchste Kunst aufgenommenen Gedichte schön ist, ist keines von ihnen wirklich hervorragend und bewegend. Tatsächlich kann man ihrer Schönheit ein wenig überdrüssig werden; die trippelnden Reime und gleitenden Rhythmen sind zu verspielt und selbstverliebt, und die gelegentlichen Wehklagen und wehmütigen, märchenhaften Tragödien haben nicht genug Kraft, um die Monotonie zu durchbrechen. Wollte man den Dichtern verbieten, sich mit ernsthaften Gedanken auseinanderzusetzen, würde ein ganzer Bereich dichterischer Schöpfung abgeschnitten, nämlich die Darstellung tiefer und tragischer Gefühle. Jeder Schmerz, der heftiger ist als der sanfte melancholische Gesang »Willow, willow, willow«, verlangt nach einem Themenrahmen, der stärker als alles ist, was Moore zulassen würde.297 Eine Bemerkung in der Einleitung – sie hat die Form eines Gesprächs zwischen ihm und seinen Freunden John Freeman und Walter de la Mare –, der zufolge ein Buch der »Reinen Dichtung« fast sämtliche von Blakes Songs of Innocence, aber nicht einen der Songs of Experience aufnehmen könnte, macht deutlich, welch begrenzenden und einengenden Einfluss sein ästhetischer Maßstab ausübt. Selbst ein so begnadeter Dichter wie Blake muss auf der Hut sein, nicht die falschen Dinge zu erwähnen. »The Tyger« ist vermutlich kein reines Gedicht, weil es die Gegensätze in der Schöpfung betrachtet (»Schuf er, der auch das Lamm schuf, dich?«), und weil es von »Gott« (Blakes eigenem Gott) spricht, statt von obsoleten »Göttern«. »The Sick Rose« ist kein reines Gedicht wegen den.« Er selbst sagt jedoch von seiner (hier noch geplanten) Sammlung: »Der Wert der Anthologie (wenn wir sie denn zusammenstellen) würde darin liegen, dass sie einen neuen Maßstab schafft.« (Ebd. S. 34) 297  »Eine Dichtung, die das Forschen der Vernunft und die Antriebe des moralischen Bewusstseins ausschließt, büßt so viel von ihrer Leidenschaftlichkeit, ihrer Vielfalt und Menschlichkeit ein, ist umso viel weniger ein Produkt des ganzen Menschen auf der Höhe seiner Einbildungskraft.« (Day Lewis, The Poetic Image, a. a. O., S. 133)



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der offensichtliche Bedeutung, dass in jeder Freude ein Keim des Leids enthalten ist, in jedem Leben der Tod, oder welchen »Großen Gemeinplatz« man auch immer anführen mag, um das implizite Thema zu benennen. »The Echoing Green« ist jedoch in die Anthologie aufgenommen worden, und hat Tillyard nicht auch darin einen »Großen Gemeinplatz« aufgespürt – vergleichbar der »beseelten Natur«, die das Gedicht »Westminster Bridge« verdorben hat? Ideen und Gefühle sind gefährliche Gegenstände der Dichtung, jene, weil ein schlechterer Dichter sich verleiten lassen könnte, über sein Sujet zu diskutieren, diese, weil er sich zur unmittelbaren Äußerung, zum Ausruf und zur Katharsis seiner eigenen Gefühle verführen lassen könnte. Ein guter Dichter freilich kann und wird sicherlich auch mit dem tückischsten Material zurechtkommen. Die einzige für ihn – ja für alle Dichter – verbindliche Regel ist die, dass jede Einzelheit des Themas um der künstlerischen Wirkung willen verwendet wird. Alles muss virtuelle Erfahrung sein. Die Dichtung pflegt keinen Umgang mit der Wirklichkeit, gleichgültig wie sehr der Schöpfer des Scheins sich seine eigenen Gefühle, seine tiefsten Überzeugungen, seine Erinnerungen und heimlichen Wünsche zunutze gemacht hat. Moralische Themen in der Dichtung können aus dem gleichen Grund einen nicht belehrenden Ton anschlagen, aus dem Goethe meinte, Dichtung über unmoralische Themen sei nicht verderblich:298 Sie drückt keine Behauptung aus, und darum vertritt sie weder etwas, noch bekennt sie sich zu etwas. Ebenso ist subjektive Dichtung keine wirkliche Zurschaustellung von Subjektivität, denn es handelt sich ja um Fiktion. Gerade die Intensität des persönlichen Bewusstseins in ihr ist   »Die Kunst an und für sich selbst ist edel, deshalb fürchtet sich der Künstler nicht vor dem Gemeinen. Ja indem er es aufnimmt ist es schon geadelt, und so sehen wir die größten Künstler mit Kühnheit ihr Majestätsrecht ausüben.« (Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe Tagebücher und Gespräche, I. Abt. Sämtliche Werke, Bd. 13: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, hg. v. Harald Fricke, Frankfurt a.M. 1993, S. 333). 298

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mithilfe von Formulierung, Kadenz, Vollständigkeit oder Unvollständigkeit von Aussagen und all den anderen Kunstgriffen geschaffen worden, die wir aus der Literatur kennen. Das beste Beispiel für virtuelle Subjektivität, das mir einfällt, ist zwar in Prosa und nicht in Versen geschrieben, aber es ist durchaus einschlägig, da es den Stoff dichterisch vollkommen umgestaltet: Gemeint ist James Joyces Porträt des Künstlers als junger Mann. Die Erzählweise schafft den Schauplatz, das Leben, die Persönlichkeit – nicht eine Zeile ist in »rein informativer Sprache« verfasst, alles ist Fiktion, auch wenn ein Porträt entworfen wird. Literarische Ereignisse werden geschaffen, nicht berichtet, so wie Porträts gemalt werden, nicht geboren und aufgezogen. Unter Dichtern und Kritikern ist es eine verbreitete Gepflogenheit, Poesie und Prosa nicht als verschiedene Kunstformen zu betrachten und sie als solche einander gegenüberstellen, sondern die eine als Kunst und die andere nicht als Kunst aufzufassen – das heißt, sie setzen die Prosa mit der diskursiven Sprache des praktischen Denkens gleich. Wenn neben vielen anderen Coleridge, Poe und in unseren Tagen Pottle von »Prosa« sprechen, dann verstehen sie darunter das Unpoetische. Tatsächlich aber ist Prosa ein literarischer Gebrauch der Sprache und daher in einem weiten, nichtsdestoweniger völlig legitimen Sinn (man denke an die Bedeutung von »Poesis«) eine poetische Form.299 Sie stammt aus der Dichtung im engeren Sinn und nicht aus der Konversation; ihre Aufgabe ist eine kreative. Das gilt nicht   Die Meinung, Prosa sei dasselbe wie die Konversationssprache, ist allgemein so verbreitet, dass jeder bereit ist, in aller Unschuld über den Edelmann zu lachen, den die Entdeckung, er habe schon sein ganzes Leben lang Prosa gesprochen, in Erstaunen versetzt. Meiner Ansicht nach hat Monsieur Jourdain allen Grund, étonné zu sein; sein literarischer Instinkt sagt ihm, dass Konversation etwas anderes als Prosa ist, und nur seine philosophische Unkenntnis zwang ihn, den beliebten Irrtum zu akzeptieren. [Anspielung auf Molière: Vgl. Le Bour­ geois gentilhomme/Der Bürger als Edelmann, frz.-deutsch, Stuttgart 1993; Anm. d. Hg.] 299



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nur für Erzählliteratur (prose fiction: schon das Wort »Fiktion« zeugt von ihrem künstlerischem Wesen), sondern sogar für den Essay und echte Geschichtsschreibung. Aber das ist ein anderes Thema.

15. Kapitel Virtuelle Erinnerung La réalité ne se forme que dans la mémoire. Proust 300

Alles Reale muss von der Einbildungskraft in etwas rein Erleb­ bares umgewandelt werden: Das ist der Grundsatz der Poesie. Das übliche Mittel, die poetische Transformation zu vollziehen, ist die Sprache; wie über ein Ereignis berichtet wird, lässt es als beiläufig oder bedeutsam, banal oder groß, gut oder schlecht, sogar vertraut oder neu erscheinen. Eine Aussage ist immer die Formulierung eines Gedankens, und bekannte Tatsachen, Hypo­ thesen oder Phantasien beziehen ihren Gefühlswert vor allem aus der Art und Weise, wie sie dargestellt und behandelt wird. Die Macht der Worte ist wirklich erstaunlich. Schon allein ihr Klang kann unser Gefühl dafür beeinflussen, was sie bedeuten sollen. Die Beziehung zwischen der Länge rhythmischer Sätze und der Länge der Gedankenkette erleichtert oder erschwert das Denken und lässt die darin enthaltenen Ideen mehr oder weniger tiefgründig erscheinen. Die stimmlichen Betonungen, die einigen Sprachen einen besonderen Rhythmus verleihen, die Länge der Vokale in anderen Sprachen oder die verschiedenen Tonhöhen im Chinesischen und einigen weniger bekannten Sprachen sind eine Möglichkeit, eine Formulierung einer Aussage fröhlicher oder trauriger als eine andere erscheinen zu lassen. Dieser Rhythmus der Sprache ist ein geheimnisvoller Zug, der vermutlich von biologischen Einheiten des Denkens und   Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Ausgabe in drei Bänden, Bd. 1, Paris 1954, S. 184, dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1: Auf dem Weg zu Swann, Stuttgart 2013, S. 396. [ A nm. d. Hg. ] 300



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Fühlens zeugt und bis heute noch ganz und gar im Dunklen liegt. Klang und Rhythmus, Assonanz und sinnliche Assoziationen werden nirgends so sehr ausgeschöpft wie in der Lyrik. Aus diesem Grunde habe ich diese Art der literarischen Komposition zuerst betrachtet, und nicht etwa, weil sie, wie einige meinen, anderen Arten auf irgendeine Weise überlegen ist oder weil sie die älteste, reinste oder vollkommenste Spezies der Dichtung ist. Ich glaube nicht, dass sie künstlerisch von höherem Wert ist als die erzählende Dichtung oder die Prosa. Sie ist nur die literarische Form, die am unmittelbarsten von rein sprachlichen Hilfsmitteln abhängt: vom Klang und der bewegende Kraft der Worte, vom Metrum, der Alliteration, dem Reim und anderen rhythmischen Mitteln, von begleitenden Bildern, Wiederholungen, Archaismen und ungewöhnlichen grammatischen Wendungen. Lyrik ist diejenige Schöpfung, die am deutlichsten auf der sprachlichen Ebene stattfindet, und somit das klarste Beispiel von Poesis. Dass die lyrische Dichtung sich so stark auf den Klang und den emotionalen Charakter der Sprache stützt, findet seinen Grund darin, dass sie nur über ein spärliches Arbeitsmaterial verfügt. Das Motiv (der sogenannte »Inhalt«) eines Gedichts ist normalerweise nicht mehr als ein Gedanke, ein Anblick, eine Stimmung oder ein ergreifendes Gefühl, und das reicht nicht als robuster Rahmen für die Erschaffung einer virtuellen Geschichte. So wie die Komponisten des Cantus planus neben den Rhythmen und Akzenten ihrer lateinischen Texte alle Register der menschlichen Stimme ausschöpfen mussten (die Pflege des Kastratenchores entspringt diesem musikalischen Bedürfnis), weil ihnen kein Metrum, keine Polyphonie, kein Grundton, keine Modulation und keine Instrumentalunterstützung zur Verfügung standen, so bedient sich der Lyriker jeder Eigenschaft der Sprache, weil er weder auf eine Handlung noch auf fiktive Charaktere, noch, im Regelfall, auf ein gedankliches Argument zurückgreifen kann, um sein Gedicht zusammenzuhalten. Der Reiz der sprachlichen Vorbereitung und Durchführung muss nahezu alles leisten.

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Mit der virtuellen Geschichte, die von einem lyrischen Gedicht geschaffen wird, tritt ein lebendiger Gedanke, der Verlauf eines Gefühls oder das intensive Erleben einer Stimmung in Erscheinung. Das Gedicht liefert uns damit ein echtes Stück subjektiver Geschichte, auch wenn es sich für gewöhnlich nur um eine Einzelepisode handelt. Es unterscheidet sich nicht radikal von anderen literarischen Produkten, und keines der für die Komposition eines lyrischen Gedichtes charakteristischen Mittel ließe sich nicht auch in anderen Formen einsetzen. Was die lyrische Dichtung zu einem besonderen Fall macht, ist nicht der exklusive Gebrauch bestimmter Verfahren, sondern ihre Häufigkeit und Bedeutung. Die Rede in der ersten Person findet sich beispielsweise ebenso gut in Balladen, Romanen und Essays. Nur stellt sie dort eine Abweichung vom normalen Muster dar, während sie in der Lyrik gängig ist. Die direkte Ansprache an den Leser kennen wir aus höfischen Dichtungen, Balladen und Romanen, doch in der Lyrik scheinen Zeilen wie diese: Hast thou named all the birds without a gun?301 (Hast du all den Vögeln einen Namen gegeben, ohne ein Gewehr zu benutzen?) oder: Never seek to tell thy love Love that never can be told 302 (Sprich von deiner Liebe nie Wo Liebe sich nicht sagen lässt) oder: Tell me where is Fancy bred (Sagt, woher stammt Liebeslust)303   Aus »Forbearance« von Ralph Waldo Emerson, in: The collected Works of Ralph Waldo Emerson, Vol. IX: Poems, hg. v. Albert J. von Frank u. Thomas Wortham, Cambridge, Mass. 2011, S. 163. [ A nm. d. Hg. ] 302  Tatsächlich lautet die zweite Zeile »Love that never told can be«, aus: »Love’s Secret« von William Blake, in: ders., The complete Poems, hg. v. W. H. Stevenson, London u. New York ²1989, S. 144. [ A nm. d. Hg. ] 303  Aus: William Shakespeare, The Merchant of Venice, 3. Akt, 2. Szene (The Arden Shakespeare, London 2006, S. 80); Übersetzung: 301



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niemanden persönlich anzusprechen; die Anrede ist eher formal als auffordernd. Wenn wir im Lichte anderer literarischer Werke über die lyrische Ausdrucksweise nachdenken, dann sehen wir in diesem Fall, dass weder der Sprecher noch der Angesprochene ein reales menschliches Wesen ist, also Autor oder Leser. Vielmehr wird mithilfe der rhetorischen Form eine unpersönliche Subjektivität geschaffen, die eigentümliche Erfahrungsillusion einer Gattung, die weder Charaktere noch öffentliche Ereignisse schafft. Was der Dichter zu erschaffen sich vornimmt und nicht was er fühlt oder uns sagen möchte, bestimmt sein gesamtes Vorgehen und führt zur Entstehung literarischer Formen wie Lyrik, höfische Dichtung, Kurzgeschichte und Roman. Ein Kritiker, der dieses universelle Ziel jeder Kunst und jedes Kunstwerks nicht erkennt, lässt sich leicht von Sprachverwendungen irreführen, deren Bedeutungen innerhalb der Kunst von ihren Bedeutungen innerhalb eines tatsächlichen Diskurses völlig verschieden sind. Ein solcher Kritiker nimmt dann an, ein Dichter, der »du« sagt, ohne das Wort in den Mund eines Charakters zu legen, der einen anderen adressiert, müsse zum Leser sprechen, und das augenfälligste Kennzeichen lyrischer Dichtung – die Verwendung des Präsens – bedeute, dass der Dichter seine gegenwärtigen Gefühle und Gedanke äußert. Die Untersuchung des Tempus und seines literarischen Gebrauchs kann uns in der Tat manch einen erhellenden Aufschluss über das Problem der dichterischen Schöpfung geben, und die englische Sprache bietet sich für eine solche Untersuchung ganz besonders an, weil sie über einige Feinheiten der Verbbildung verfügt, die es in anderen Sprachen nicht gibt, insbesondere die »Verlaufsformen« »I am doing«, »I was doing«, »I have been doing« usw. im Unterschied zur formalen Konjugation »I do«, »I did« und den mit dem Partizip Perfekt gebilDer Kaufmann von Venedig, übers. von August Wilhelm Schlegel, in: Shakespeare, Sämtliche Dramen, Bd. I: Komödien, Düsseldorf u. Zürich ⁸1996, S. 634. [ A nm. d. Hg. ]

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deten Zeiten.304 In der Verwendung von Verbformen entdecken wir sprachliche Mittel, die uns den wirklichen Charakter der literarischen Dimension offenbaren, in der das Bild des Lebens geschaffen wird. Es zeigt sich, dass das Präsens ein weitaus subtileres Werkzeug ist, als Grammatiker und Rhetoriker allgemein annehmen, und dass es zu ganz anderen Verwendungen taugt als zur Charakterisierung gegenwärtiger Handlungen und Tatsachen. Sobald wir von der intensiven, kleinen Form der Lyrik zu umfangreicheren Werken übergehen, begegnen wir einem neuen vorherrschenden Element – der Erzählung. Es ist in lyrischen Versen nicht unbekannt, aber es bleibt in ihnen nebensächlich. She dwelt among the untrodden ways305 oder: A sunny shaft did I behold From sky to earth it slanted 306

sind zwar narrative Zeilen, doch dienen sie nur dazu, eine Situation, ein Bild oder einen Gegenstand der Reflektion und des Gefühls einzuführen. Wenn jedoch die Erzählung als Haupt­motiv einer Komposition behandelt wird, dann kommt damit eine neue Größe ins Spiel, nämlich das Interesse an der Geschichte. Dadurch verändert sich die ganze Form des Gedankens, der das Werk bestimmt. Ein Ablauf unpersönlicher Geschehnisse bietet einen starken Rahmen für das Erschaffen einer poetischen Illusion; er tendiert dazu, den Grundplan, den »Plot« des ganzen Stücks   Andererseits fehlt es ihr an eigenständigen Formen, die dem französischen »Imperfekt« und den »vollendeten« Vergangenheitszeiten entsprächen. Das englische »Perfekt« entspricht der französischen »unvollendeten Vergangenheit«, aber zwischen »j’étais« und »je fus« können wir nur mit Umschreibungen unterscheiden. 305  Incipit eines Gedichts von William Wordsworth, in: William Wordsworth, hg. v. Stephen Gill, Oxford 1984, S. 147. [ A nm. d. Hg. ] 306  Aus: »Glycine’s Song« von Samuel Taylor Coleridge, in: The coll­ ected Works of Samuel Taylor Coleridge. Poetical Works I. Poems (Reading Text), Teil 2, hg. v. J. C. C. Mays, Princeton 2001, S. 923. [ A nm. d. Hg. ] 304



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abzugeben und jedes andere Mittel der literarischen Schöpfung zu beeinflussen und zu beherrschen. Die persönliche Ansprache beispielsweise, die für gewöhnlich als rhetorisches Mittel in der Lyrik eine Rolle spielt, wird, wenn eine fiktive Person sich an eine andere wendet, in der Erzählung selbst zu einer Handlung. Die Metaphorik, die oft die wesentliche Substanz eines lyrischen Gedichts ist und als Produkt freier Assoziation erscheinen mag, in der ein Bild das nächste hervorruft, ist für die erzählende Dichtung nicht mehr das Entscheidende und auch nicht mehr frei, da sie sich den Bedürfnissen der Handlung anpassen muss. Misslingt ihr das, verliert das Werk den organischen Charakter, der eine Dichtung auch dann noch wie ein Stück Natur wirken lässt, wenn alles in ihr Vorkommende physisch unmöglich ist. Die Erzählung ist ein wesentliches Organisationsprinzip. Für die Literatur ist sie nicht weniger wichtig als die Darstellung für Malerei und Bildhauerei; sie ist also nicht der Wesenskren der Literatur, denn sie ist – ebenso wie die Darstellung in der bildenden Kunst – nicht unverzichtbar, liefert aber die strukturelle Grundlage, von der aus die meisten Werke gestaltet werden. Sie liegt der »großen Tradition« der Dichtkunst in unserer Kultur zugrunde, ebenso wie die Darstellung der »großen Tradition« in der bildenden Kunst zugrunde liegt. Wie sehr die Erzählung jedes literarische Werk beeinflusst, in das sie eingeht, zeigt sich am eindringlichsten im Wechsel des Tempus vom Präsens, das im lyrischen Ausdruck überwiegt, zur Vergangenheit, der charakteristischen Zeit der Erzählung. Da der größte Teil der Literatur erzählend ist, steht das Verb in aller Regel in Vergangenheitsformen. Dies erscheint so selbstverständlich, dass es anscheinend keiner weiteren Erklärung bedarf, jedenfalls so lange nicht, wie wir nicht über die Tatsache nachdenken, dass der Tagtraum – der häufig als die Quelle aller literarischen Phantasie betrachtet wird – für gewöhnlich im Präsens formuliert ist. Im Tagtraum wird so getan, als ob, d. h. es wird etwas »vorgegeben« ähnlich wie in den Phantasiespielen von Kindern; die Geschichte wird sowohl von ihrem Verfasser

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als auch von den Zuhörern in der Erzählung »gelebt«. Wenn der Zweck der Literatur, wie Tolstoi meint 307, der ist, den Leser zu verführen, in der Geschichte zu leben, mit ihren Charakteren zu fühlen und stellvertretend ihre Abenteuer zu erleben, warum ist das Präsens dann nicht wie in der freien Einbildungskraft ihr natürliches Tempus? Nun, weil Literatur, sei sie noch so phantastisch, emotional oder traumähnlich, nie eine aktuelle Phantasie ist, die von bloßen Gedanken an Taten und emotionale Situationen genährt wird, sei es willkürlich wie im Spiel oder unwillkürlich wie im Traum. Virtuelles Leben, wie es von der Literatur präsentiert wird, ist stets eine in sich geschlossene Form, eine Erfahrungseinheit, in der jedes Element organisch mit jedem anderen verbunden ist, unabhängig davon, wie wechselhaft oder lückenhaft die Gegenstände erscheinen sollen. Eben diese Wechselhaftigkeit oder Lückenhaftigkeit ist eine Gesamtwirkung, die uns abverlangt, die ganze Geschichte als ein Gefüge mitwirkender Ereignisse wahrzunehmen.308   Vgl. Leo N. Tolstoi, Was ist Kunst?, München 1993. 308  In diesem Zusammenhang zitiert F. W. Bateson einen interessanten Abschnitt aus Geoffrey Scotts The Architecture of Humanism: »Im Barockstil ist das Detail grob. […] Es ist schwungvoll und ungenau. Der Zweck aber war genau, wenngleich er um seiner Vervollkommnung willen nach einer ›ungenauen‹ Architektur verlangte. Sie [die Barockarchitekten] wollten durch ihre Architektur ein Gefühl von triumphierender Spannkraft und überbordender Stärke vermitteln, […] einen riesigen Organismus, der den Eindruck erweckt, von Strömen ununterbrochener Vitalität durchzogen zu sein. Eine mangelhafte Schärfe und Deutlichkeit in den Einzelteilen […] war daher keine tadelnswerte Vernachlässigung, sondern ein unbedingtes Gebot. Ihre ›Ungenauigkeit‹ war eine notwendige Erfindung.« Bateson fährt fort: »Der Barockstil ist schwungvoll und ungenau: Er ist schwungvoll, weil er ungenau ist. Und so verhält es sich auch mit der dichterischen Wortwahl. Dichter wie Thomson, Young, Gray und Collins pflegen einen schwungvollen Stil; in ihrer Wortwahl aber sind sie konventionell. Und ihre Wortwahl ist konventionell, weil der Stil schwungvoll ist. Eine genauere und konkretere Wortwahl würde den Eindruck des Schwungvollen zerstören, den der Stil vermittelt. Nur weil die einzelnen Worte so wenig Aufmerk307



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Unser reales Erleben weist keine derart geschlossene Form auf. Es ist in der Regel zerrissen, so dass Verärgerung denselben Eindruck hinterlässt wie Aufopferung, Amüsement auf derselben Stufe mit höchster Erfüllung steht und flüchtige menschliche Begegnungen wichtiger scheinen als die hinter ihnen stehenden Personen. Allerdings gibt es eine normale und vertraute Bedingung, die unserer Erfahrung eine distinkte Erscheinungsform verleiht, durch die es uns möglich wird, sie zu begreifen und zu bewerten: die Erinnerung. Eine vergangene Erfahrung gewinnt, wenn wir uns an sie erinnern, Form und Charakter. Anstelle vager Anwesender und deren Äußerungen stellt sie uns Personen vor Augen und verändert unsere Eindrücke durch Wissen von dem, was später geschah und unsere spontane Bewertung noch einmal verändert. Die Erinnerung ist der große Organisator des Bewusstseins. Sie vereinfacht unsere Wahrnehmungen und stellt sie zu Einheiten persönlichen Wissens zusammen. Sie ist der eigentliche Erzeuger von Geschichte, nicht der aufgezeichneten Geschichte, aber des Geschichtssinns selber, der Anerkennung der Vergangenheit als ein vollständig ausgeführtes (wenngleich nicht vollständig bekanntes) Gefüge von Ereignissen, die Raum und Zeit kontinuierlich erfüllen und überall kausal verbunden sind.309 Whitehead hat die eigentüm­ liche Distanziertheit der Vergangenheit von unseren Wünschen und Bestrebungen als etwas Geformtes und Festgelegtes besamkeit auf sich ziehen, gelingt es der Dichtung, dieses unerhörte, fast überstürzte Gefühl von Bewegung hervorzurufen.« (Bateson, English Poetry and the English Language, a. a. O., S. 77) 309  »Die rätselhaften Tiefen der Erinnerung sind noch von keinem Menschen erforscht und durchdrungen worden. […] Jede Erlebnisepoche gliedert sich zu einem besonderen Zusammenhang, den wir aufsuchen und in dem wir verweilen können, […]. Diese Erlebnis- und Erinnerungswelten sind uns ein bleibender Besitz. […] Sie haben den Vorzug des abgeschlossenen Gutes, […]. Ihnen eignet ein Charakter der Vollendung, den die Gegenwart nicht kennt.« (Georg Mehlis, Das ästhetische Problem der Ferne, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur VI, 1916/17, S. 173–184, hier 180 f.)

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zeichnet, während die Gegenwart noch formlos, ungebraucht und ungestaltet ist.310 Sich an ein Ereignis zu erinnern heißt, es noch einmal zu erleben, allerdings in anderer Weise als beim ersten Mal. Erinnerung ist eine besondere Art der Erfahrung, da sie sich aus ausgewählten Eindrücken zusammengesetzt. Die reale Erfahrung besteht demgegenüber aus einer Flut von Bildern, Tönen, Gefühlen, körperlichen Anspannungen, Erwartungen und kleinsten, unentwickelten Reaktionen. Die Erinnerung siebt das Material und stellt es in der Form unterscheidbarer Ereignisse dar. Mitunter sind die Ereignisse logisch untereinander verbunden, so dass die schiere Erinnerung sie in Bezug aufeinander datieren kann. In einer lebhaften Erinnerung, etwa daran, einen Hügel hinunterzugehen, ist also der Eindruck, hoch oben zu stehen und trockenen Schotter unter den Füßen zu spüren, mit dem Eindruck einer beschleunigten Bewegung, eines sich überall hebenden Horizonts, von Orten am Fuße des Weges verschmolzen, und die Erinnerung kann all diese Veränderungen festhalten. Irgendein besonderes Erlebnis auf dem Weg wird dann in den zeitlichen Rahmen der Erinnerung selbst eingeordnet. Die meisten Ereignisse werden jedoch als getrennte Vorkommnisse im Gedächtnis bewahrt, und datieren lassen sie sich nur, wenn sie als Teil einer Kausalordnung betrachtet werden, in der sie nur zu bestimmten Zeiten »möglich« gewesen sind. Die anderen Bestandteile der Kausalordnung bilden die verschiedenen anderen Erinnerungen, die Ordnung selbst aber verdankt sich einem geistigen System. Kleine Kinder haben keinen historischen Sinn. Die Vergangenheit ist einfach das, was »vorher« war. »Wo wir gestern waren« und »wo wir vor drei Tagen waren« sind keine bedeutungsvollen Ausdrücke, solange die beiden Orte nicht anhand dieser relativen Daten identifiziert und mit ihnen verbunden worden sind. Bevor wir die Namen der Wochentage, der Monate, der Tageszeiten nicht kennen, wei  Vgl. Alfred North Whitehead, Kulturelle Symbolisierung, Frankfurt a. M. 2000, insbes. S. 116 ff. 310



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sen nicht einmal die jüngeren Erinnerungen eine Ordnung auf. Die Erfahrungen der Kinder gehören entweder zur erweiterten Gegenwart – wie die noch immer schmerzende Beule – oder sie sind Erinnerungen geworden und gehören einer wesentlich zeitlosen Vergangenheit an. Selbst unsere persönliche Geschichte, so wie wir sie begrei­ fen, ist dann eine Konstruktion, die aus unseren eigenen Erinne­ rungen, den Erinnerungsberichten anderer und den Kausalannahmen zwischen den so bereitgestellten Stücken geschaffenen worden ist. Sie ist keineswegs ganz und gar Erinnerung. Wir sind uns nicht wirklich unserer Existenz als einer kontinuier­ lichen bewusst. Manchmal passen Erinnerungen an verschiedene Orte und Aktivitäten, an und in denen wir uns selbst befunden haben, so wenig zusammen, dass wir uns an eine Reihe dazwischen liegender Ereignisse erinnern und diese ordnen müssen, bevor wir uns wirklich davon überzeugt haben, dass so unterschiedliche Situationen sich in ein und demselben Leben abgespielt haben. Vor allem eine sehr lebhafte Erinnerung steht nicht in einem Kontinuum. Ein Vorkommnis, das einen tiefen Eindruck hinterlassen hat, scheint sich wie ein Solitär aus der Vergangenheit zu erheben, und manchmal geschieht dies in einer solchen Detailfülle, dass es uns vorkommt, als sei es eben erst vergangen, als hätte das Vergessen noch kaum etwas verändert; dann scheint es uns, »als sei es erst gestern gewesen«, obwohl das erinnerte Ereignis schon lange zurückliegt. Andererseits mögen jüngere Erinnerungen uns wie eine bloße Vergegenwärtigung von Tatsachen erscheinen, ohne dass sie eine emotionale Färbung aufweisen oder detailliert sind, und sie können sogar mit imaginierten Ereignissen verwechselt werden, so dass wir aufrichtig sagen können: »Ich erinnere mich daran, dass es geschehen ist, aber wie genau, das weiß ich nicht mehr.« Die primäre Illusion der Poesie zielt auf die Schaffung einer gänzlich »erlebten« Geschichte ab, und in der eigentlichen Lite­ratur (im Unterschied zum Schauspiel, Film oder einer Bildergeschichte) ist diese virtuelle Geschichte in einem Modus

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präsentiert, wie er von der Erinnerung verkörpert wird. Ihre Form weist die Geschlossenheit und Vollständigkeit auf, die in der Wirklichkeit nur von Erinnerungen besessen werden. Literatur muss nicht aus den Erinnerungen des Verfassers bestehen – auch wenn dies der Fall sein kann –, doch der Modus, in dem die Ereignisse erscheinen, ist der Modus der vollständigen Erfahrung, das heißt der Vergangenheit. So erklärt sich, warum das gewöhnliche Tempus einer literarischen Erzählung die Vergangenheitsform ist. Indem sie eine virtuelle Vergangenheit schafft, bewirkt die Verbform – eine rein sprachliche Größe – die »literarische Projektion«. Diese von der Literatur erzeugte Vergangenheit zeichnet sich jedoch durch eine Einheit aus, über die eine reale persönliche Geschichte nicht verfügt, denn was wir als Vergangenheit anerkennen, beruht nicht völlig auf Erfahrung. Wie unsere Auffassungen von Raum und Zeit und den uns bestimmenden Kräften leitet sich unser Vergangenheitssinn von Erinnerungen ab, die mit äußeren Elementen, Annahmen und Vermutungen durchsetzt sind, wodurch das Leben eher als eine Kette von Ereignissen denn als ein einziger fortschreitender Gang vorgestellt wird. In der Fiktion hingegen gibt es nur die virtuelle Erinnerung; die Illusion von Leben muss durch und durch auf Erlebtem beruhen. Die dichterisch erschaffene Welt hat ihre Grenze nicht in den Eindrücken eines Individuums, sondern in Eindrücken überhaupt. Alle ihre Verbindungen sind gelebte Verbindungen, das heißt Motivationen, alle Ursachen und Wirkungen haben ihre Funktion allein darin, die Motive für Erwartung, Erfüllung, Enttäuschung und Überraschung zu stellen. Natürliche Ereignisse liefern nur die Gussform, in die menschliches Erleben gegossen wird; ihr Auftreten muss in der Geschichte, einer vollständigen Handlung, selbst angelegt sein. Betrachten wir zum Beispiel den vollkommen natürlichen Sturm in der Ballade von Sir Patrick Spens: Es ist ein psychologisch begründeter »nächster Schritt«, nachdem Spens trotzig mit seinem Segelschiff von Norwegen aufgebrochen ist, weil ihn die ungastlichen Norweger verspottet haben. Auch bricht der Sturm



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nicht zufällig aus, denn einer seiner Männer hat ihn voraus­gesagt: I saw the new moon late yestreen Wi’ the auld moon in her arm; And if we gang to sea, master, I fear we’ll come to harm. Gestern Abend sah ich den neuen Mond, ein Hof war um ihn her. Ich fürcht’, ich fürcht’, mein lieber Herr, Ein Sturm uns wartet schwer.311

Im wirklichen Leben treffen wir oft plausible Vorhersagen dieser Art, und sollte das Ereignis dann doch nicht eintreten, vergessen wir die Vorhersage schnell. In der Dichtung freilich wird nichts vergessen, es sei denn von den Protagonisten in der Erzählung. Vergisst der Leser etwas, wird er daran erinnert werden (vorausgesetzt die Geschichte ist gut erzählt), denn die Konzeption des Dichters nimmt nichts auf, was in der Erzählung, der Substanz seiner Schöpfung, keine Funktion hat. Überlegungen, Beschreibungen und polierte Zeilen, ja sogar die Charaktere sind nur Teile der Geschichte oder dessen, was erzählt wird. Die Erzählung führt daher immer, und zwar reiner als die reale Geschichte, den Schein der Erinnerung bei sich, reiner sogar als die persönliche Geschichte, die wir als unsere Erinnerung betrachten; denn Dichtung ist etwas Geschaffenes, und selbst wenn ihre Ereignisse aus der Erinnerung des Künstlers geborgt sind, muss er jeden nicht erfahrungsbasierten Baustein durch Elemente rein erfahrungsbasierten Charakters ersetzen, wie auch ein Maler rein visuelle Erscheinungen an die Stelle der nicht-visuellen Bausteine in der gewöhnlichen Raumwahr  In: Arthur Quiller-Couch, The Oxford Book of Ballads, London 1910, S. 328–331, hier 329; Nachdichtung von Johann Gottfried Herder unter dem Titel »Der Schiffer«, in: ders., Werke, Bd. 3: Volkslieder Übertragungen Dichtungen, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1990, S. 110–112. [ A nm. d. Hg. ] 311

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nehmung setzen muss. Der Dichter erzeugt einen Schein von Ereignissen, der erfahrungsartig, aber allgemein zugänglich ist; er schafft eine objektivierte, entpersönlichte »Erinnerung«, die völlig homogen ist, unabhängig davon, wie viel explizit ist und wie viel implizit bleibt. Der Gegensatz zwischen dem chaotischen Fortschreiten der realen Gegenwart und der überschaubaren Form des erinnerten Lebens ist von mehreren Künstlerphilosophen angesprochen worden, insbesondere von Marcel Proust, der glaubte, dass das, was wir »Wirklichkeit« nennen, ein Produkt der Erinnerung ist, weniger ein Objekt der direkten Begegnung; »real« ist die Gegenwart nur, weil sie den Stoff späterer Erinnerungen liefert. Das Besondere des Proust’schen Genies bestand darin, dass er stets mit einem poetischen Kern gearbeitet hat, der eine spontane und vollkommene Formulierung einer realen Erinnerung war. Diese intensive, gefühlsgeladene Erinnerung, die in jeder Einzelheit vollständig artikuliert und doch so plötzlich und unmittelbar wie ein gegenwärtiges Erlebnis ist, war der Auslöser, der seine Einbildungskraft in Gang gesetzt, aber auch sein Ideal der dichterischen Illusion gebildet hat, erfüllbar durch eine höchst bewusste und subtile Art des Geschichtenerzählens. Literatur im engeren Sinne schafft die Illusion von Leben im Modus einer virtuellen Vergangenheit. »Poesis« ist ein weiter gefasster Begriff als Literatur, da es andere Modi der poetischen Einbildungskraft gibt als die Präsentation von Leben allein mit Hilfe der Sprache. Das Schauspiel und seine Spielarten (Panto­ mime, Puppentheater) sowie das bewegte Bild sind im Wesentlichen poetische Künste, die sich anderer Modi bedienen und die ich in einem späteren Kapitel diskutieren werde; sie setzen Worte in besonderer Weise ein und kommen manchmal auch ganz ohne sie aus. Die von ihnen geschaffene Illusion ist virtuelles Leben, eine erfahrene Geschichte, doch keine erinnerungsgemäße Projektion, keine virtuelle Vergangenheit. Dieser Modus ist der Literatur im engeren Sinn der Sprachkunst eigen – Werken der Einbildungskraft, die gehört oder gelesen werden wollen.



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Die Vergangenheitsform ist das natürliche Instrument, um die Illusion vollendeter Tatsachen zu erzeugen und durchzuhalten. Kopfzerbrechen bereitet dem Theoretiker eher der gelegentliche Gebrauch des Präsens in einer Erzählung, vor allem dessen landläufige Verwendung in der lyrischen Dichtung. Erklärungsbedürftig sind das Präsens und das Perfekt (present per­ fect, die »vollendete Gegenwart«). Die Funktion dieser Formen in der Erschaffung einer virtuellen Geschichte wirft ein interessantes Licht auf das Wesen der Erinnerung, denn sie weist einige Aspekte auf, auf die Psychologen nicht gestoßen sind, deren sich aber der Dichter, der ihr Bild konstruiert, bewusst ist. Ein Dichter ist freilich kein Psychologe. Was er weiß, legt er nicht explizit dar, es geht nur implizit in die Konzeption des Bildes ein. Da er analysiert, wie das »Erinnern« der virtuellen Vergangenheit zustande kommt, ist der Kritiker in der Position, anhand der künstlerischen Mittel, die ihren Schein erschaffen, die Feinheiten der realen Erinnerung zu entdecken. Gewisse gewöhnliche, nicht-literarische Verwendungen des Präsens weisen auf dessen Möglichkeiten zu kreativen Zwecken hin. Sein offizieller Gebrauch ist natürlich der, eine Handlung zu benennen, die zum Zeitpunkt der Äußerung stattfindet. Grammatiker führen für gewöhnlich als erstes den Indikativ Präsens eines Verbs an, und wenn wir eine Sprache unterrichten, beginnen wir mit ihm, so als sei er die notwendigste, die nützlichste Form. Tatsächlich kommt er im Englischen nicht sehr häufig vor; wir sagen selten »I go«, »I wait« usw., denn wir benutzen stattdessen die »Verlaufsform«. Der Grund dafür ist, dass das reine Präsens sich auf eine momentane Ausführung bezieht, das Partizip verbunden mit »I am« auf einen anhaltenden Zustand des Tätigseins. Eine gerade unmittelbar stattfindende Handlung ist in der Regel für jeden sichtbar und muss nicht eigens erwähnt werden.312 Wenn wir daher über gegenwär  Eine Ausnahme bildet die häufige Äußerung von »I think …«, »I don’t believe …«, »I feel …«. Als subjektive Akte sind sie nicht an sich ersichtlich. 312

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tige Akte reden, dann tun wir dies normalerweise, um unser unmittelbares Verhalten als Teil einer andauernden Handlung zu erklären, und darum verwenden wir die »Verlaufsform«: »I am going home«, »I am waiting for a bus«. Die wichtigste Verwendung des reinen Präsens begegnet uns in der Feststellung allgemeiner Tatsachen, beispielsweise von Naturgesetzen oder den Relationen abstrakter Begriffe, wie etwa bei Aussagen in einem Buch über Algebra. Wissenschaft, Philosophie und Kritik bedienen sich normalerweise des reinen Präsens: »2 + 2 = 4 « lesen wir als »zwei plus zwei ist gleich vier«. Weder das Imperfekt noch die Verlaufsform oder gar das Futur würden hier verwendet werden. In einem derartigen Kontext ist das Präsens das Tempus der Zeitlosigkeit.313 Es wird dort gebraucht, wo Zeit irrelevant ist, wo abstrakte Entitäten zueinander in Beziehung stehen, allgemeine Wahrheiten ausgesprochen oder bloße Vorstellungen unabhängig von einer realen Situation miteinander verbunden werden, zum Beispiel in Träumereien. Möglicherweise erklärt dieser »zeitlose« Charakter des reinen Präsens, warum Grammatiker es von allen Tempora als erstes anführen. Es ist gleichsam ein Grundmaß der Verbkonjugation – eine Form irgendwo zwischen dem Infinitiv, der eine Handlung bloß benennt, ohne etwas über ihr Vorkommen auszusagen, und den Zeiten, die sie nicht nur anzeigen, sondern auch datieren. In der Literatur kann das reine Präsens den Eindruck eines Aktes erwecken, aber in der Schwebe lassen, zu welcher Zeit er geschieht. Das erklärt seine normale Verwendung in der lyrischen Dichtung. Da sie davon ausgehen, dass das Präsens auf den gegenwärtigen Augenblick verweisen müsse, haben viele Kritiker sich von diesem angeblichen grammatischen Beleg dazu verleiten lassen, die lyrische Dichtung immer als Äußerung der persönlichen Überzeugungen und gegenwärtigen Ge  In der Literatur zur Erkenntnistheorie hat C. I. Lewis in Analysis of Knowledge and Valuation (La Salle 1946) auf diesen »zeitlosen« Gebrauch des Präsens aufmerksam gemacht (vgl. S. 51). 313



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fühle des Dichters aufzufassen.314 Ich behaupte demgegenüber, dass die Abfassung eines Gedichts Kunst ist und daher kreativ und dass die Verwendung seines charakteristischen Tempus im Dienst der Schöpfung zu stehen hat, die dieser Art von Dichtung eigen ist. Wie schon früher in diesem Kapitel gesagt wurde, erschafft die Lyrik sehr oft den Schein eines eher beschränkten Ereignisses, ein konzentriertes Stück Geschichte – das Denken eines emotionalen Gedankens, ein Gefühl gegenüber jemandem oder etwas. Gedankliche Einfälle und nicht äußere Geschehnisse bilden den Rahmen. Die Substanz der Lyrik ist die Betrachtung. Sie motiviert und enthält sogar das vorgestellte Gefühl. Das natürliche Tempus der Betrachtung ist das Präsens. Ideen sind zeitlos; in einem lyrischen Gedicht wird nicht gesagt, sie seien aufgetreten, sondern sie treten virtuell auf, und die sie zusammenhaltenden Beziehungen sind ebenfalls zeitlos. Im lyrischen Gedicht geht es im Ganzen darum, auf schöpferische Weise eine subjektive Erfahrung bewusst zu machen, und das »zeitlose Prä­ sens« ist das Tempus der Subjektivität. Diese Art von Dichtung weist den »geschlossenen« Charakter des Erinnerungs­modus auf, allerdings ohne die historische Unveränderlichkeit, die äußere Ereignisse den realen Erinnerungen verleihen; sie fällt in die »historische Projektion«, wenngleich ohne eine Chronologie. Lyrik ist in einer besonderen Technik abgefasst, die einen Eindruck oder eine Idee als etwas Erfahrenes konstruiert, gleich  Siehe zum Beispiel D. G. Brintons Aufsatz »The Epilogues of Browning: Their Artistic Significance«, der folgende Schlussfolgerungen auflistet: »(1) dass Browning den Epilog durchgängig als ein Element der lyrischen Dichtung, nicht der dramatischen betrachtet; (2) dass er in seiner Hand die Form des Selbstgesprächs annimmt, dazu gedacht, eine unmittelbare und persönliche Beziehung zwischen ihm und dem Leser zu knüpfen; (3) dass seine Epiloge die einzige Teile seiner Schriften sind, in denen er erklärtermaßen den dramatischen Hang seines Genies zurückstellt und seine eigenen Empfindungen als Mensch zum Ausdruck bringt.« (Poet Lore 4, 2 (1892), S. 57–64, hier 64) 314

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sam als eine Art ewiger Gegenwart. Statt abstrakte Aussagen zu liefern, in denen Zeit und Verursachung keinen Platz finden, erschafft der lyrische Dichter ein Gefühl von konkreter Wirklichkeit, aus der das Zeitelement ausgeschlossen worden ist, so dass ein platonischer Sinn von »Ewigkeit« zurückbleibt. Diese Zeitlosigkeit ist in der Tat einer der erstaunlichen Züge vieler Erinnerungen. Die Erinnerung an Stimmungen und Haltungen, etwa an Frühlingsgefühle oder Nachdenklichkeit, bezieht sich normalerweise nicht auf bestimmte Vorkommnisse, und doch ist uns eine solche Erfahrung ein für alle Mal vertraut, und in der Erinnerung steigt sie mit der Lebhaftigkeit von etwas jüngst Geschehenem auf. Selbst weit zurückliegende Kindheitsstimmungen kommen oft plötzlich mit einer Frische zurück, die aus der Zeit herausfällt, und dennoch begegnen sie uns nicht als etwas Neues wie die reale Gegenwart, sie erscheinen uns vielmehr als etwas, das uns seit langem angehört. Unsere Erinnerung an Menschen, mit denen wir zusammengelebt haben, werden für gewöhnlich von dieser Zeitlosigkeit begleitet. Wenn wir uns von der Lyrik und ihrem zeitlosen, persönlichen Charakter nun hin zur erzählenden Dichtung wenden, steht zu erwarten, dass das Perfekt und Plusquamperfekt eingesetzt werden, um den Rahmen für unpersönliche, physische Ereignisse zu schaffen. In einfachen diskursiven Aussagen über historische Tatsachen verwenden wir üblicherweise die Zeiten der Vergangenheit. Die dichterische Aussage verfolgt ein anderes Ziel, ihr Zweck besteht nicht darin, Menschen davon in Kenntnis zu setzen, wann was geschehen ist. Sie möchte die Illusion vergangener Dinge schaffen, den Schein einst gelebter und gefühlter Ereignisse, als sei sie eine abstrahierte und abgeschlossene Erinnerung. Dichter machen sich daher die grammatikalischen Verbformen zunutze, um alle möglichen Schattierungen von Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit, Fortdauer und Endgültigkeit einzufangen, das heißt, sie gebrauchen sie wegen ihrer Fähigkeit, virtuelle Erfahrung zu gestalten, und nicht wegen ihrer buchstäblichen Funktion, Handlungen zu benennen und zu datieren. Wir stoßen also selbst hier auf das



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Präsens in seiner »zeitlosen« Eigenschaft, aber auch in einigen anderen Funktionen. Eine davon ist das bekannte »historische Präsens«, das die Lebhaftigkeit einer Handlung steigert, indem sie diese so erzählt, »als geschehe sie jetzt«. Das kann ein sehr wirkungsvolles Hilfsmittel sein, doch ist es von Journalisten und literarischen Anfängern so offensichtlich eingesetzt worden, dass es zu einem leicht durchschaubaren Trick geworden ist. Es ist interessant festzustellen, dass das Präsens, wenn ein wirklicher Meister es handhabt, seine Rechtfertigung nicht in der Hervorhebung einer Handlung findet. Im »Rime of the Ancient Mariner« finden wir ein echtes »historisches Präsens«: Swiftly, swiftly flew the ship, Yet she sailed softly too: Sweetly, sweetly blew the breeze – On me alone it blew. Oh! dream of joy! is this indeed The light-house top I see? Is this the hill? is this the kirk? Is this mine own countree? (Schnell wohl, schnell wohl flog das Schiff, Und doch so sanft, so leicht! Leise, leise blies der Wind – Nur mich sein Wehn erreicht. O Freudentraum! ist dies fürwahr Des Leuchtturms graue Wand? Ist dies die Kirch’, ist dies der Berg? Ist dies mein Heimatland?)315

Das Präsens erhöht tatsächlich die plötzliche Freude des Seemanns, als er seinen Heimathafen erkennt. Es leistet aber noch   Samuel Taylor Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner, in: The collected Works of Samuel Coleridge, Bd. 16, Poetical Works I.1, hg. v. J. C. C. Mays, Princeton 2001, S. 407; (Übersetzung von Ferdinand Freiligrath, Der alte Matrose, München 1925) [ A nm. d. Hg. ] 315

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mehr: Es beendet die Reise, so wie das »Jetzt« immer die eigene subjektive Geschichte beendet. Die Geschichte gipfelt in der Rückkehr des Seemanns, so wie die Vergangenheit in der Gegenwart gipfelt. Man beachte, wie die (im Vergangenheitstempus beschriebene) Landung eine Kadenz bildet, die mit einem weiteren »historischen Präsens« endet und zur Verstärkung der Wirkung sogar ins Futur übergeht: I saw a third – I heard his voice: It is the Hermit good! He singeth loud his godly hymns That he makes in the wood. He’ll shrieve my soul, he’ll wash away The Albatross’s blood. (Ein dritter noch: der Siedler ist’s! Horch, seine Stimme schallt! Laut singt er seinen Lobgesang, Den er gemacht im Wald. Des Vogels rotes Blut wäscht er Von meinen Händen bald.)316

Der bemerkenswerteste Gebrauch des Präsens in Erzählungen, die eigentlich in der Vergangenheit spielen, ist jedoch, soweit ich weiß, noch nie als eine besondere Technik erkannt worden. Mag sein, dass sie Literaturkritikern entgangen ist, weil sie ohne­hin der Annahme zuneigen, ein Gedicht sei etwas, das der Dichter sagt, statt etwas, das er erschafft, und das, was er sagt, profitiert nicht von diesem subtilen Spiel der Zeiten. Ich denke hier an die Vermischung von Konstruktionen in der Vergangenheit und im Präsens, wie wir sie normalerweise in Balladen finden, insbesondere in den Anfangs- und Schlussstrophen. Grammatisch gesehen ist ein solches Verfahren inkonsistent, da es aber sehr weit verbreitet ist, wird es wohl einen künstlerischen Zweck verfolgen. Weder macht es den Eindruck eines sprach­ 316

  A. a. O., S. 411.



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lichen Fehlers, noch verwirrt es den Leser hinsichtlich der Zeit der Handlung. Für gewöhnlich bemerkt man es nicht einmal. In der älteren Balladentradition wird häufig ein Umgangston angeschlagen, so dass man die Ungenauigkeit im Tempus einer alltagssprachlichen Nachlässigkeit zuschreiben könnte. Nur wird man das kaum aus diesem Grund über die ausgezeichneten Balladen neuzeitlicher Dichter sagen wollen – über »The Rime of the Ancient Mariner«, »The Lady of Shalott« oder Goethes »Erlkönig«, in denen allesamt Tempusvermischungen vorkommen, ohne dass es in der Regel bemerkt würde. Dieser Kunstgriff gehört nun mal zum Repertoire des Balladendichters und ist von Dichtern in jüngerer und alter Zeit gleichermaßen als etwas ganz Natürliches verwendet worden, wenn der Geist der Ballade über sie kam. Um nur einige Beispiele aus dem Schatz anonymer englischer Dichtung anzuführen: In »The Queen’s Marie« 317 mischen die ersten drei Strophen das Tempus der Gegenwart mit dem der Vergangenheit. Die Strophen vier und fünf stehen im Vergangenheitstempus, Strophe sechs mischt dann wieder, während sieben und acht zum Präsens zurückkehren. Danach beginnt die zusammenhängende Handlung: Marie erhebt sich vom Kindbett, um mit der Königin zu reiten, kommt nach Edinburgh, wird angeklagt und verurteilt. Diese geschlossene, sich an einem Tag abspielende Handlung wird bis zum Ende der Geschichte im Vergangenheitstempus erzählt. In »Sir Patrick Spens« steht die erste Strophe im Präsens, die zweite in der Vergangenheit, die dritte beginnt im Perfekt und endet mit der Verlaufsform im Imperfekt (»was walking«). Das Abenteuer beginnt mit dem Erhalt des Briefs, und die Erzählung ist bis zum Ende der Katastrophe im Vergangenheitstempus verfasst, während die letzten drei Strophen, das Nachspiel, erneut im Präsens stehen.   Von solchen alten Balladen gibt es meistens, wenn nicht immer mehrere Versionen. Ich beziehe mich hier auf die in The Oxford Book of Ballads (a. a. O., S. 369–373) aufgenommene. 317

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Wenn wir uns jetzt wieder »The Rime of the Ancient Mariner« zuwenden, entdecken wir die gleiche Tempusvermischung. Die erste Strophe verwendet das reine Präsens, die zweite zählt nicht, da sie die direkte Rede wiedergibt, die dritte, vierte und fünfte Strophe sind gemischt. Dann beginnt die eigentliche Geschichte in der direkten Rede und wird – mit der Ausnahme zweier, ein echtes »historisches Präsens« verwendender Strophen – in der Vergangenheitsform erzählt, bis schließlich alles erzählt worden ist und der Seemann von der Gegenwart spricht. Erst ganz am Schluss wird die unpersönliche Erzählung wieder aufgenommen, und in diesen beiden Schlussstrophen tauchen dann wieder verschiedene Zeiten auf: The Mariner, whose eye is bright, Whose beard with age is hoar, Is gone: and now the Wedding-Guest Turned from the bridegroom’s door. He went like one that hath been stunned, And is of sense forlorn: A sadder and a wiser man, He rose the morrow morn. (Der Seemann mit dem grauen Bart Und mit dem hellen Blick, Er geht; und auch der Hochzeitsgast Kehrt ernst nach Haus zurück. Er ging, wie ein Betäubter geht, Als drückten schwer ihn Sorgen, Ein ernst’rer Mann, ein weis’rer Mann Erhob er sich am Morgen.)318

Selbst die Verwendung von »hath« und »is« in dem Vergleich ist, wenngleich formal korrekt, eher ungewöhnlich, da das Tem Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner, a. a. O., S. 419. [ A nm. d. Hg. ] 318



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pus in solch einem Relativsatz in der Regel dem des Hauptsatzes entspricht. Die grundsätzlich richtige Form ist hier im grundsätzlich richtigen Sinn, nämlich dem zeitlosen, verwendet worden, denn es liegt ja keine Bezugnahme auf einen bestimmten »einen« vor, der betäubt worden ist. Und genau diesen Anflug von Zeitlosigkeit hat sich der Dichter gewünscht. In Tennysons berühmter Ballade »The Lady of Shalott« sind die ersten sieben Strophen, die vom Ort, der Lady, ihrem Leben und ihrem Gesang, dem Fluch, dem Spiegel und dem Webtuch künden, im Präsens gehalten. In der achten Strophe, der letzten des zweiten Teils, wird nahezu unmerklich das Imperfekt eingeführt. Ausgehend von einer bestimmten Situation (Lancelot reitet vorbei) entfaltet sich dann die Handlung bis zum Schluss des Gedichts, und dieser Teil ist durchgehend im Tempus der Vergangenheit erzählt. Der Gedanke hinter dieser Verwendungsweise scheint der zu sein, dass alles, was nötig ist, um den Kontext der Geschichte zu schaffen, als eine nicht mit einem Zeitindex versehene Bedingung präsentiert wird. Das entspricht dem Wesen der Erinnerung. All unser einschlägiges Wissen ist in der Erinnerung eines vergangenen Ereignisses enthalten, aber es selbst wird zu dieser Zeit nicht »erinnert«. Es gehört zur wirkungsvollen his­ torischen Umgebung, nicht aber zur Geschichte selbst, und in der Dichtung, wo der Schein gelebter Geschichte geschaffen und ebenso auch der Rahmen des impliziten Wissens durch das explizite Erzählen hergestellt wird, gewinnen wir das Gefühl für den Unterschied zwischen den Ereignissen und den sie aus­lösenden Umständen häufig durch das Spiel der Zeiten. Es sorgt dafür, dass das Zeitgefühl bei allem, was nicht die Handlung selbst ist, unbestimmt bleibt. Das ist freilich keine Regel, sondern ein Kunstmittel, das angewendet werden kann oder auch nicht. Es gibt Balladen, in denen das Präsens nie vorkommt (zum Beispiel »Clerk Saunders«), und einige, wo es mitten in der Erzählung eingesetzt wird, um einen Sprung in der Handlung anzuzeigen. In »Binnorie« – ich wage zu behaupten, vom Thema her eine der ältes­

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ten Legenden in unserer aller Sagengut – wird die Geschichte bis zu der Stelle, wo die Prinzessin tot neben dem Wehr liegt und der Harfner vorbeikommt, im Tempus der Vergangenheit erzählt: And when he look’d that lady on, He sigh’d and made a heavy moan. He’s made a harp of her breast-bane, Whose sound wad melt a heart of stane. He’s ta’en three locks o’ her yellow hair, And wi’ them strung his harp sae rare. He went into her father’s hall, And there was the court assembled all.319

So fährt die Erzählung in der ihr natürlichen Form fort. In Goethes »Erlkönig« beobachten wir eine der ungewöhnlichsten und brillantesten Handhabungen des Tempus in der erzählenden Dichtung: Diese Ballade ist von Anfang bis Ende ein Meisterwerk des rhetorischen Auf baus, um die dichterische Wirkung zu erzielen.320 Bevor der Dialog ganz übernimmt, ge  In: Quiller-Couch, The Oxford Book of Ballads, a. a. O., S. 104–106, hier 106. [ A nm. d. Hg. ] 320  Auf allen Ebenen der Rede und des Erlebens bauen Fragen eine nahezu unglaubliche Spannung auf und steigern sie beständig. Den Anfang macht die unpersönliche Frage des Dichters: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Die knappe erzählerische Einleitung gibt darauf die Antwort. Dann möchte der Vater wissen: »Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?« darauf antwortet das Kind mit einer weiteren Frage: »Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?« Der Vater wirft einen kurzen, beruhigenden Satz ein: »Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.« Dann folgen die sanften Lockungen des Erlkönigs, und die inständigere Frage des Kindes: »Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht Was Erlenkönig mir leise verspricht?« Bald darauf spricht der Geist selbst im Fragemodus: 319



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hen vier Zeilen einer unpersönlichen Darlegung voraus und diese sind im Präsens geschrieben. Ähnlich endet das Gedicht mit einer vierzeiligen Erzählung, die, bis auf die letzte Zeile, ebenfalls im Präsens steht: Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind. Erreicht den Hof mit Müh und Not; In seinen Armen das Kind war tot.

Der plötzliche Einbruch des Vergangenheitstempus schließt hier das Geschehen und das Gedicht mit der Kraft einer vollen Kadenz – mit dem Imperfekt, der vollendeten Tatsache. Das Präsens erzielt hier zwei Wirkungen auf einmal – seine Eigenschaft, »aus der Zeit« zu sein, trägt zur Schaffung der unwirklichen Atmosphäre bei, in der sich all die Fragen und Gesichte ergeben, und seine Unmittelbarkeit – die Kraft des »historischen Präsens« – steigert die Handlung. Und selbstverständlich bereitet es zudem die Wirkung der Zeitverschiebung in der Schlusszeile vor. »Willst, feiner Knabe, du mit mir gehen?« Und wieder das Kind: »Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort?« Auf diese Weise wird der ganze Spuk aus Ungewissheiten geschaffen, und so erfolgt der abschließende Ausruf: »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!« mit einer entsetzlichen Wucht, die den Schrei auslöst: »Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!« und lässt die entscheidende Krise wie eine Lösung erscheinen, einzig weil es sich um eine Tatsache handelt und die Spannung der Fragerei gebrochen wird: »Erlkönig hat mir ein Leids getan!« Vom ersten bis zum letzten Wort ist dies eine Komposition höchsten Ranges. [Siehe Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte 1756– 1799, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 303 f. ]

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Normalerweise hat das Vergangenheitstempus die Funktion, die »historische Projektion« zu erschaffen, das heißt die Ereignisse im Erinnerungsmodus auftreten zu lassen, so als seien sie gelebte und erinnerte Realität. Diese Aufgabe des »Perfekts« wird stillschweigend anerkannt (man beachte, wie schon die technische Bezeichnung von dessen Formulierungs- und Bestimmungsvermögen zeugt), indem sie es meiden, wenn sie das bloße Handlungsschema eines literarischen Werkes wiedergeben. Wenn wir die Handlung einer Geschichte, eines Gedichts oder eines Films umreißen, benutzen wir ganz von selbst das Präsens, denn wir gestalten die Handlung nicht in einer künstlerischen Form. Die ungeschriebene Regel, dass derartige Para­ phrasierungen richtigerweise im Präsens zu berichten sind, entspringt einem echten poetischen Gefühl: Das Vergangenheitstempus würde dieser schmucklose Darlegung des Plots einen literarischen Rang anmaßen, aber als Literatur wäre sie haarsträubend schlecht. Daher setzen wir unsere Zusammenfassungen in das »zeitlose Präsens«, um damit deutlich zu machen, dass wir die Materialien der Kunst vorzeigen und nicht ihre Elemente darstellen. Legenden, Mythen und Märchen sind nicht an sich Literatur; sie sind in keiner Weise Kunst, sondern Phantasien; als solche sind sie aber ein natürliches Material der Kunst. Aufgrund ihres Wesens sind sie nicht an bestimmte Worte gebunden, nicht einmal an die Sprache, denn sie lassen sich erzählen oder malen, spielen oder tanzen, ohne dadurch entstellt oder herabgesetzt zu werden.321 Literatur im eigentlichen Sinn bezweckt, mit Hilfe der Sprache eine virtuelle Geschichte oder ein Leben im Erinnerungsmodus zu schaffen: den Schein von Erinnerung mittels einer entpersönlichten Erinnerung. Eine als Geschichte unterbreitete Legende ist eine ebenso neue Schöpfung wie jedes andere Werk, dessen Handlung gerade erfunden worden ist.   Auf diesen Umstand hat mich die Illustratorin Helen Sewell aufmerksam gemacht. Sie hat intensiv über das Verhältnis von Literatur und Malerei nachgedacht und darüber, dass beide das gleiche Recht haben, sich bei den Urquellen der Volkssagen zu bedienen. 321



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Abgesehen von der Erzählung ist die Handlung oder der »Plot« kein »Werk«, sie erschafft keine vollendete und geordnete Illusion von etwas Erlebtem, sondern verhält sich zur Literatur wie ein Skelett oder ein grob behauener Steinblock zur Bildhauerei – sie ist eine erste Gestalt, eine Quelle von Ideen. Der künstlerische Gebrauch des Tempus, das wird meine lange Erörterung deutlich gemacht haben, zeigt sich besonders deutlich in der Kunst der alten Balladenschreiber, von denen die modernen Dichter ihr Handwerk gelernt haben. Es überrascht, um nicht zu sagen: es befremdet daher, wenn wir entdecken, dass einige anerkannte Fachleute auf dem Gebiet der Volksballaden steif und fest behaupten, die Ballade sei überhaupt keine literarische Kunst, sie gehöre stattdessen zur primitiven Matrix der spontanen Phantasie. In seinem kleinen Buch The Ballad vertritt Frank Sidgwick diese Auffassung mit Nachdruck: »Von der literarischen Form ist eine Ballade so weit entfernt und sie ist es immer gewesen, dass sie in ihren wesentlichen Zügen weder literarisch ist noch […] eine einheitliche Form hat. Sie stellt eine Gattung dar, die nicht nur älter als die Epik, älter als die Tragödie, sondern auch älter als die Literatur, älter als das Alphabet ist. Sie ist Überlieferung und gehört den Leseunkundigen.«322 So weit, so gut; wenn »Literatur« ganz wörtlich verstanden wird, nämlich als eine Buchstabenkunst, dann ist die Dichtung schriftloser Gesellschaften selbstverständlich keine »Literatur«. Wenn Sidgwick jedoch sagt, die Ballade sei keine Dich­ tung, dann muss ich ihm widersprechen. Die Tatsache, dass es von jeder Ballade mehrere Versionen gibt und dass daher keine einheitliche Form vorliegt, bedeutet nicht, dass sie gar keine Form hat. »Mythen« sind »Überlieferungen«, sie kennen kein Metrum, keine charakteristischen Wendungen, und man findet sie ebenso häufig in der Vasenmalerei und auf Basreliefs dargestellt wie in Worte gefasst. Eine Ballade ist indessen eine Komposition; und mag sie auch vielgestaltig sein, nicht an eine 322

  Frank Sidgwick, The Ballad, New York 1914, S. 7 f.

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vollständig festgelegte Form gebunden, so ist sie doch im Wesentlichen dichterisch. Wie alle von Mensch zu Mensch überlieferten Werke – der Volksgesang, die Litanei und (selbst heute noch) der Tanz, verfügt die Ballade über eine offene Form. Sie kann sich durch viele Variationen hindurch erhalten, weil ihre Konzeption nicht vollständig verbalisiert ist, obwohl die wichtigen Entscheidungen in ihrer Entwicklung alle gefällt sind. Wie ein Generalbass wartet sie darauf, ausgearbeitet zu werden. Die wesentlich poetische Natur der volkstümlichen Ballade bezeugt ein Verfahren, das sich zeitlich mit der Niederschrift solcher volkstümlichen Kompositionen entwickelt hat: der Brauch, eine laufende Paraphrasierung mithilfe von Randglossen beizusteuern. Diese Paraphrase steht im Präsens und drückt die proto-poetische Phantasie aus, den reinen Plot, der ebenso von einem Schauspiel, einer Erzählung, einem Fries, eine Reihe von Wandteppichen oder einer Oper aufgegriffen werden könnte. Die Ballade hingegen verwendet in der Regel das Tempus der echten Erzählung; sie erschafft eine poetische Illusion im literarischen Modus, wenngleich ihre Verbalisierung selbst einer schriftlichen Niederlegung weit vorausgeht. Das Denkwürdige an ihr ist nicht die Handlung als solche, sondern das Gedicht, die geschaffene virtuelle Geschichte, und diese besitzt eine nicht-diskursive Ausdrucksform. Die oft wiederholte Behauptung – und Sidgwick besteht auf ihr –, dass eine Ballade keinen Verfasser hat, dass sie ein Gruppenerzeugnis ist, »ein in einer Gruppe kristallisiertes Gefühl«, scheint mir jeder Grundlage zu entbehren. Niemand hat je erlebt, dass eine Gruppe ein Lied erfunden hat, obwohl nacheinander auftretende Mitglieder es ohne Weiteres aus­arbeiten können, sei es indem sie Strophen hinzusetzen oder indem sie Parodien verfertigen, sobald sein poetisches Thema, sein Reimschema und seine Melodie vorliegen – das Metrum folgt normalerweise der Melodie. Die Idee dazu stammt jedoch von einer Person, und ein ernstzunehmendes Lied, etwa ein »Spiritual«, wird für gewöhnlich in einer vollständigen Form präsentiert, mag diese auch sehr einfach sein. Die Menge greift es auf, und wenn das



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Lied Gefallen findet und weitergegeben wird, verblasst die Autorschaft recht schnell, selbst wenn der Komponist in seiner engeren Umgebung im Ruf steht, oft gute Einfälle zu haben.323 Die Vorstellung, ein »Volk« sei eine vollkommene Demokratie der Talente, ist eine pseudo-ethnologische Fiktion, deren Ursprung ich in der Anonymität der Volkskunst vermute. Doch es ist, um noch einmal auf die Ballade zurückzukommen, höchst unwahrscheinlich, dass es nicht ein Einzelner war, der ein Gedicht wie »The Wife of Usher’s Well«324 erfunden hat. Gleichgültig, wie viele Versionen im Umlauf sind, irgendjemand hat die Erzählung ursprünglich in Metrum und Reim gesetzt und den »dichterischen Kern« all der Varianten geliefert, die sich unter seinem Titel versammelt haben. Gehört es zu den wesentlichen Charakteristika der echten Ballade, dass sie in diesem Sinn eine »offene Form« besitzt? Fasst man die »echte Ballade« als einen ethnologischen Begriff auf, dann lautet die Antwort »ja«, betrachtet man sie jedoch als eine dichterische Kategorie, dann lautet sie »nein«. Eine Ballade wird nicht damit zerstört, dass ihre Worte aufgeschrieben werden. Was sich damit allerdings verändert oder sogar zerstört wird, ist ihre gesellschaftliche Funktion. Theoretisch ließen sich alle ihre Versionen niederschreiben, keine würde, sobald sie alle jedem zugänglich sind, irgendeinen Vorrang genießen, außer durch ihren Beliebtheitsgrad in der Praxis. Tatsache ist   Elsa Mahler hat eine interessante Studie über die russische Totenklage als eine Gattung der Bauerndichtung verfasst. Die metrische Form, die Redewendungen und andere Bestandteile sind traditionell, doch wird von jeder Frau erwartet, dass sie imstande ist, die Totenklage für ihre Toten zu improvisieren (es ist dies eine Aufgabe der Frauen). Es versteht sich von selbst, dass Talent und Vorstellungskraft ungleich verteilt sind. Dennoch ist jede Totenklage, die sicherlich in das Fach der reinen »Volksdichtung« fällt, das Werk einer Dichterin. Da der Brauch für jede Gelegenheit ein neues Gedicht verlangt, gibt es keinen Grund, sie aufschreiben, nicht einmal die besten. Vgl. Elsa Mahler, Die russi­ sche Totenklage, ihre rituelle und dichterische Deutung, Leipzig 1935. 324  In: Quiller-Couch, The Oxford Book of Ballads, a. a. O., S. 136–137. [ A nm. d. Hg. ] 323

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allerdings, dass Herausgeber und Verleger eine Mittlerrolle zwischen dem Publikum und dem Werk einnehmen und die Versionen ihrer Wahl vereinheitlichen; die Auswirkungen der Schriftlichkeit auf die Volkskunst sind dabei unvermeidlich. Da sich jedes auswendig gewusste Gedicht aufschreiben lässt, war die Ballade, ist sie auch ursprünglich keine »Literatur« gewesen, dazu bestimmt, eine literarische Form zu wer­ den; und viele Versionen mündlich tradierter Balladen waren in künstlerischer Hinsicht interessant, ausgewogen, ja subtil. Sobald sie im Druck erschienen waren, stifteten sie der Welt der Schriftlichkeit und der Literatur eine sehr charakteristische Form. Diese neue Form eignet sich freilich nicht dazu, gesungen zu werden, sie ist sogar nicht einmal zum Rezitieren geeignet, sondern – wie der Großteil ausgereifter Literatur – dazu, gelesen zu werden. Sidgwicks unverzagtes Beharren darauf, dass die Ballade keine Dichtung ist, beruht wohl nicht auf einem Missverständnis bezüglich der Balladenform – für jemanden mit seinen Qualifikationen wäre das sehr unwahrscheinlich –, sondern nach meinem Dafürhalten auf einer zu engen Auffassung der dichterischen Kunst: Er setzt diese Kunst mit ihrer höchsten Entwicklungsform gleich, die im strikten Sinn »literarisch« ist, da sie vollständig festgelegte, unveränderliche sprachliche Strukturen hervorbringt – festgelegt dadurch, dass sie ab initio aufgeschrieben worden ist, und zwar von ihren Verfassern. Solche Gedichte verhalten sich zur Volksdichtung wie das sogenannte »Kunstlied« zum Volkslied. Aber das Volkslied, die schlichte Melodie mit einem veränderlichen Text und beliebiger oder gar keiner Begleitung, ist immer noch Musik und nichts als Musik; und die traditionelle Ballade mit ihren zahlreichen Versionen, wovon einige grobschlächtig, andere von formaler Schönheit sind, ist immer noch Dichtung im literarischen Modus der virtuellen Erinnerung. Vielleicht entspringt die strikte Auffassung von »Literatur« als etwas, das gelesen werden muss, einem uneingestandenen, aber durchaus gerechtfertigten Einspruch gegen eine gängige



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Theorie, der auch manch ein Ästhetiker anhängt, dass nämlich das gedruckte Wort ein Feind der poetischen Erfahrung ist, dass jegliche Dichtung und – wie einige sagen – sogar jegliche Prosa eigentlich laut gelesen werden müsste und dass stilles Lesen nur ein schwacher Ersatz für das Hören des gesprochenen Wortes ist. Vielleicht ist die Vorstellung, Literatur beginne erst mit der Schrift, auch einfach nur eine überzogene Gegenreaktion auf diese ziemlich weit verbreitete, aber oberflächliche Lehre. Die Buchdruckerkunst habe, folgen wir der »mündlichen« Theorie der Dichtung, uns eines Großteils des literarischen Vergnügens beraubt, da wir für unsere Fähigkeit, unzählige Werke vor der Vergessenheit zu bewahren, den Preis zahlten, sie nicht mehr wirklich zu erleben. Worte seien im Wesentlichen wie die Musik etwas für unsere Ohren.325 Wenn Sidgwick mit seinem Grundsatz, »Literatur« auf den Anbruch der Schriftlichkeit zu datieren, tatsächlich gegen eine solche Theorie revoltiert, dann bin ich im Geiste bei ihm, auch wenn ich seine eigene Definition der Dichtung kritisiere. Dichtung als physischen Klang ähnlich der Musik zu betrachten, geht meiner Ansicht nach auf ein krasses Missverständnis dessen zurück, was ein Autor erschafft und welche Rolle der Klang in dieser Schöpfung spielt. Die eine oder andere Dichtung gewinnt sicherlich durch ihren tatsächlichen Vortrag oder sie verlangt gar danach.326 (E. E. Cummings beispielsweise profitiert enorm davon, dass er laut gelesen wird. Wo Worte impressionistisch eingesetzt werden und nicht dazu gedacht sind, dass man bei ihnen verweilt und sie auf ihre wörtliche Bedeutung hin untersucht, ist die Rezitation von Vorteil, denn sie lässt keine Unterbrechung zu, sondern nötigt uns, über das problematische   Welchen Ausdruck diese Ansicht bei Calvin S. Brown Jr. in seinem Werk Music and Literature: A Comparison of the Arts (a. a. O.) gefunden hat, habe ich bereits im 9. Kapitel, S. 254, angeführt und erörtert. 326  Viele Menschen glauben, gerade die sehr klangvolle oder musikalische Dichtung büße ihre Schönheit ein, wenn sie nicht gesprochen wird. Tatsächlich aber lässt sich genau diese Dichtung am leichtesten innerlich »hören«. 325

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Wort hinwegzugleiten und so nur den Eindruck zu empfangen, den es erwecken sollte). Doch ein Großteil der Dichtung und nahezu sämtliche Prosastücke sollten eine Spur schneller gelesen werden, als es dem normalen Sprechtempo entspricht.327 Schnelles Sprechen erfüllt diese Forderung nicht, weil es überstürzt wirkt. Stilles Lesen ist in der Tat schneller, doch erscheint es uns nicht so, da es, im Gegensatz zur physischen Artikulation, bei einem höheren Tempo nicht gehetzt wird. Die Bilder wollen schneller vorbeiziehen als das gesprochene Wort. Hinzu kommt noch, dass sowohl in der Prosa als auch in vielen Gedichten die Stimme eines Sprechers dazu neigt, sich der geschaffenen Welt aufzudrängen und eine formale lyrische Anrede wie beispielsweise: I tell you, hopeless grief is passionless (Glaub mir, Gram ohne Hoffnung ermattet) 328

in echte Rede zu verkehren, die sich durch den Mund des Stellvertreters des Dichters – den Sprecher – an eine andere reale Person, den Hörer, wendet. 329 Ein Roman, dem es hauptsäch  Diese Ansicht wird von den Worten H. W. Boyntons bestätigt, der vor fast einem halben Jahrhundert schrieb: »Außerhalb der Dichtung gibt es wenige Literaturformen, die nicht genauso gut oder besser ohne die Zwischenschaltung der Stimme dastehen. Der Grund dafür scheint darin zu liegen, dass eine gedruckte Seite das Ohr mit der Fähigkeit zum schnellen Hören ausstattet. Das innere Ohr ist genauso in der Lage, einen Eindruck zu empfangen, wie das äußere Ohr, und das auch noch weitaus schneller. Gedruckte Worte repräsentieren für die meisten Menschen eher einen Klang als eine Form […].« (»Pace in Reading«, in: ders., Journalism and Literature, and other Essays, Boston 1904, S. 55–66, hier 62. 328  Aus »Grief« von Elizabeth Barrett Browning, in: Josie Billington u. Philip David (Hg.), Elizabeth Barrett Browning, Oxford 2014, S. 45. [ A nm. d. Hg. ] 329  Die Verwechslung wird sogar noch fataler, wo die direkte Anrede in den Mund einer Figur gelegt wird und einen Gesprächspartner voraussetzt, der in dem Gedicht nicht auftritt. Zum Beispiel: Nay, but you, who do not love her, Is she not pure gold, my mistress? 327



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lich um die Erschaffung virtueller Persönlichkeiten zu tun ist, nimmt, wird er laut vorgelesen, fast immer Schaden durch die periphere Anwesenheit des Vorlesers (Märchen, Abenteuergeschichten und höfische Romane des Mittelalters werden davon nicht beeinflusst). Das sicherste Anzeichen dafür, dass Schreiben und Lesen der poetischen Kunst nicht den Lebenssaft rauben, ist die historische Tatsache, dass die wahrhafte Entwicklung dieser Kunst – das Auftreten ihrer besonderen Formen sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa – erst in einer Schriftkultur stattfindet. Es ist der schriftkundige Dichter, der die vielen technischen Mittel ausschöpft, die seine Kunst zulässt, der neue Stilelemente erfindet und seine Gestaltungen so erweitert, dass er sich immer mehr Material anzueignen vermag. Erst durch die Schrift konnte die Prosa überhaupt zu einem künstlerischen Medium werden. Diese und andere Sonderformen sind meines Erachtens erst durch das Ausschöpfen alternativer Techniken gewachsen; jedes die dichterische Illusion erzeugende Mittel bringt seine eigene Art der Komposition hervor. Diese Entwicklung der (Sag du, der du sie nicht liebst, ist meine Geliebte nicht reinstes Gold?) oder: Let us go then, you and I, When the evening is spread out against the sky Like a patient etherised upon a table. (Lass uns gehen denn, du und ich wenn der Abend sich gegen den Himmel ausbreitet wie ein ätherisierter Kranker auf einem Tisch.) Ein Kritiker, Morris Weitz, hat jüngst als eine naheliegende Interpretation vorgeschlagen, dass Prufrock – eine fiktive Gestalt, ein Element im poetischen Ganzen – den Leser in sein Vertrauen zieht, dass wir uns selbst als denjenigen sehen sollten, der mit ihm die halb verlassenen Straßen hinuntergeht, und dass das Gedicht nicht »Prufrocks und unsere eigene Unentschlossenheit« erschaffe, sondern sie offenbare! (Vgl. Morris Weitz, Philosophy of the Arts, Cambridge, Mass. 1950, S. 96.) [Die ersten Zeilen stammen aus »Song« von Robert Browning, die zweiten aus »The Love Song of J. Alfred Prufrock« von T. S. Eliot, in: Gesammelte Gedichte 1909–1962, a. a. O., S. 6–15; Anm. d. Hg.]

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großen literarischen Formen nachzuzeichnen, eine jede nach der Intensität ihrer hervorstechenden Mittel zu betrachten, ist die probateste Möglichkeit, um zu zeigen, dass jedes »kreative Schreiben« Poesie ist und dass es, sofern es allein mit Worten arbeitet, die gleiche Illusion schafft: virtuelle Erinnerung oder Geschichte im Modus erlebter Vergangenheit.

16. Kapitel Die großen literarischen Formen Alle künstlerischen Konventionen sind Hilfsmittel zur Erschaffung von Formen, die eine Vorstellung von Vitalität oder Gefühl ausdrücken. Jedes Element in einem Kunstwerk kann zu der illusorischen Dimension beitragen, in der solche Formen präsentiert werden, aber auch zu ihrer Erscheinung, ihrer Harmonisierung, ihrer organischen Einheit und Klarheit; es kann überhaupt mehreren Zwecken dieser Art dienen. Daher ist alles, was zu einem Werk gehört, expressiv, und jeder Kunstgriff erfüllt eine Funktion. Zu meinen, ein guter Dichter bediene sich eines bestimmten Wortschatzes einzig und allein deshalb, weil dieser zu seiner Zeit als die für die Dichtung angemessene Sprache betrachtet worden ist, ist eine unhistorische Erklärung. Die wichtige Frage ist doch die, warum Dichter in ihrer Zeit diese Worte verwendet haben – welche Art von Schein sie hervorbringen und mit welchen Mitteln sie das erreichen wollten, das heißt, was diese Worte in der Literatur bewirken. Der dichterische Wortschatz eines Zeitalters besteht aus den Sprechweisen, die sich Dichter in jener Zeit zunutze gemacht haben. Angenommen, ein Einzelner führt eine neue Redewendung, ein neues Bild oder ein neues rhythmisches Mittel ein, und er tut dies beispielsweise, um eine Handlung auszuweiten, sie zu beschleunigen oder bei ihr zu verweilen, dann werden andere Dichter sich natürlich von seiner Technik angesprochen fühlen. Die Schwächeren unter ihnen werden sie kopieren, doch die ihm Ebenbürtigen werden nach vergleichbaren Lösungen für ihre eigenen Probleme suchen und andere Mittel entwi­ ckeln, die mit ihr harmonieren und sich mit ihr verbinden. So wissen wir zum Beispiel nicht, welcher Dichter als Erster darauf verfallen ist, eine Zeile mit nur einem oder zwei Hebungen zu verwenden, um damit den Fluss einer Strophe anzuhalten, die

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dann mit einer verlangsamten Kadenz fortfährt. Das Verfahren selbst aber ist in der elisabethanischen Dichtung gang und gäbe und erfüllt mehr als einen Zweck. Herrick benutzt es in seinem Gedicht »To Daffodils«, um ein Gefühl oder einen Gedanken zu vertiefen; Donne setzt es ein, um ein Gefühl von Steif heit und Kälte zu erzeugen: Though she were true, when you met her, And last till you write your letter, Yet she Will be False, ere I come, to two, or three.330 (Zwar war sie treu, als du sie trafst, und blieb es bis zu deinem Brief doch wird sie sein untreu, bevor ich setze Bein vor Bein.)

Für Fletcher ist die kurze Zeile eine Antwort, eine formelle ­Zustimmung, gleichsam eine Verbeugung: Cynthia, to thy power and thee We obey.331 (Cynthia, deinem Zauber und dir gehorchen wir.)

Alle Verwendungen dieses kleinen Werkzeugs werden eine nach der anderen ausgeschöpft – und das nicht nur, um einen Rhythmus zu verlangsamen, sondern auch, um ihn mit einem Ton von Endgültigkeit anzuhalten:

  John Donne, Song (Go and catch a falling star), in: ders., Hier lieg ich von der Lieb erschlagen. Songs and Sonnets/Lieder und Gedichte, übers. v. Wolfgang Breitweiser, Frankfurt a.M. 1994, S. 12 f. [ A nm. d. Hg. ] 331  John Fletcher, The Maid’s Tragedy, in: The Works of Beaumont and Fletcher, London 1840, S. 1–26, hier 4. [ A nm. d. Hg. ] 330



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Forebear therefore, And lull asleep Thy woes, and weep No more.332 (Dulde ruhig, was jetzt so schwer und singe, wiege in den Schlaf dein großes Weh, und wein’ nicht mehr.)

Es fungiert als eine Pause, als eine Betonung, als ein Widerhall, als ein Schlussakkord, und eine kleine Nachforschung würde zweifellos noch verschiedene andere Funktionen entdecken. Die Zeile mit nur zwei Hebungen ist eine elisabethanische Konvention. Selbst die Drucker haben ihren Wert erkannt und eine geeignete Weise entwickelt, um sie einzurücken und durch einen Akzent für das Auge dem inneren Ohr eine Hilfestellung zu geben.333 Die bequeme Annahme, die Dichter verwendeten sie als reines Handwerkszeug, damit ihre Gedichte der gängigen Mode entsprechen, ist schon in dem Moment widerlegt, in dem man sich anschaut, was für eine Bandbreite von Zielen sie damit erreichten. Für den Wissenschaftler, der literarische Werke klassifizieren möchte, mag es sich bloß um das Merkmal eines bestimmten Stils in der Dichtung handeln; in der Hand der Dichter, die diesen Stil durchsetzen, ist es jedoch jedes Mal, wenn es vorkommt, ein expressives Element. Zu einer »Mode« ist die Zeile wegen ihrer Vielseitigkeit und ihrer Fähigkeit geworden, genau das zu erreichen, was diese speziellen Dichter beabsichtigten. Auf bau, Wortwahl, Bildwelt, der Gebrauch von Namen, Anspielungen: Sie alle sind schöpferische Mittel, auf die jemandes   Robert Herrick, Comfort to a Youth That Had Lost His Love, in: The complete Poetry of Robert Herrick, hg. v. Tom Cain u. Ruth Connolly, Bd. I, Oxford 2013, 299. [ A nm. d. Hg. ] 333  In einer Literatur, die für das stille Lesen bestimmt ist, wird die Aufgabe des Setzers zu einer künstlerischen, die eng mit der Aufführung eines Werkes verwandt ist. 332

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Einbildungskraft verfallen ist, um das Bild des Lebens hervorzubringen, das seine »Idee« ausdrücken sollte. Eine Epoche, in der Dichtung lebendig und fortschrittlich ist, zeichnet sich durch ein gemeinsames Interesse aus, das viele Autoren dazu bewegt, die gleichen vorherrschenden Gefühle auszuloten. So kommt es zu einer gewissen Solidarität des Stils, der jedoch bei jedem einzelnen durch und durch authentisch ist. Die Kunstmittel gehen dann zwar in eine Tradition ein, aber sie dienen gleichwohl vielen unterschiedlichen dichterischen Zwecken. Es handelt sich bei ihnen um technische Möglichkeiten, nicht um nachahmende Verfahren. Gute Dichter verwenden sie so lange, bis alle ihre Möglichkeiten ausgeschöpft sind oder bis sie durch eine neue Erfindung unwirksam, überflüssig und folglich banal geworden sind. Die Einwirkung künstlerischer Elemente aufeinander und daher auch jedes einzelnen kreativen Mittels auf einige oder alle andere ist oft beobachtet worden, aber soweit ich weiß, ist man dieser Beobachtung nie ernsthaft nachgegangen. Dennoch ist es das Prinzip künstlerischer Konstruktion, das zur Entwicklung einzelner Formen innerhalb eines großen allgemeinen Feldes der Kunst führt: zu Formen, die so spezifisch sind wie die Ballade, die höfische Dichtung, der Roman, der literarische Essay, die Kurzgeschichte, der Katechismus, der Dialog. Manch ein Kritiker, vor allem Rhetorik- und Poetiklehrer, beurteilen die Vortrefflichkeit eines Werkes nach der Zahl der bekannten Qualitäten, die sie darin finden – in etwa so wie Hunde auf einer Ausstellung nach »Punkten« beurteilt werden: Wortmusik, Bilderreichtum, Sinnlichkeit, emotionale Intensität, Sparsamkeit, interessante Geschichte, »Mittelbarkeit«, Ironie, Gedankentiefe, Realismus, dramatische Beschreibung und was sonst noch für gewöhnlich als literarisch wertvoll gepriesen und empfohlen wird.334 Was aber nun von oberstem Wert ist, darüber   Ein hervorragendes Beispiel für dieses Verfahren findet sich in Stephen Peppers The Basis of Criticism in the Arts, Cambridge, Mass. 1945, Kapitel VI, S. 115–120, als »mechanische« Bewertung. An keiner Stelle deutet Pepper an, dass er es kritikwürdig findet. 334



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gehen Meinungen auseinander: Bilderwelt oder Musikalität in der Lyrik, Charaktere oder Handlung in Romanen, Realismus oder »Tiefe« in der Kurzgeschichte, Ironie oder Intensität des Gefühls oder Sparsamkeit oder dergleichen mehr in einfach allem. Doch welche Eigenschaft auch als das sine qua non der Literatur oder der betreffenden Gattung betrachtet wird, die Grundüberzeugung ist jedenfalls die, dass ein Werk stets durch das Vorliegen weiterer Pluspunkte bereichert wird, und das völlige Fehlen jeglicher wichtiger Qualität gilt als »Beschränktheit«.335 Ein Gedicht mit einer Fülle sinnlicher Bilder wird daher im Prinzip für besser gehalten als eines ohne, eine sparsame Aussage stets für besser als eine wortreiche Umschreibung usw. Was diese Kritiker – einigen von ihnen sind ernstzunehmende Theoretiker – übersehen, ist, dass solche »Werte« überhaupt nicht der Stoff sind, aus dem die Literatur gemacht ist. Sie sind bloß die Hilfsmittel, um jene echten Elemente herzustellen, die die dichterische Illusion bilden. Ihre Verwendung ist zu Recht relativ zum kreativen Zweck: Er mag viele von ihnen verwenden oder nur einige wenige, sie bis zum Äußersten ausschöpfen oder zwanglos von einem zum anderen wechseln; so wie einige Handwerker ein Lieblingswerkzeug haben, mit dem sie beinahe alles verrichten, während andere für jede besondere Aufgabe ein anderes Gerät wählen. Das entscheidende Prinzip lautet, dass jedes Kunstmittel für einen poetischen Zweck zu verwenden ist, nicht weil sein Gebrauch Spaß macht, die Mode trifft oder ein neues Experiment angestellt werden soll.336 Folg  Dieses Verfahren ist nicht auf die Literaturkritik beschränkt: Ein deutscher Musikkritiker hält Mozarts Genie für »beschränkt«, weil Mozart keine besondere Zuneigung zur freien Natur hatte. 336  Wirklich neue Verfahren oder Mittel, wie große Künstler sie manchmal einführen und die sie vielleicht voller Enthusiasmus hervorheben, sind keine »Experimente«, denn der Künstler verwendet sie nicht bloß, um zu sehen, was geschieht. Er beginnt mit einer neuen Konzeption, die ihm eine Aufgabe stellt, für die sie, wie er weiß, tauglich sind, und er zeigt dann nur, wie sie sein Problem auf äußerst passende Weise lösen. Vgl. Picassos oben zitierte Aussage (S. 238). 335

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lich kann eine nützliche Technik eine andere oder auch viele andere unnötig machen, und weiterhin gilt, dass, wenn zwei Verfahren im selben Werk wertvoll sein könnten und doch miteinander unvereinbar sind, eines der beiden geopfert werden muss. Verliert man nicht aus dem Auge, dass es dem Dichter bei allem, was er schreibt, um die Erschaffung eines Stücks virtueller Geschichte geht, dann lässt sich die Entwicklung sämtlicher literarischer Gattungen als die Erschließung eines bedeutenden technischen Prinzips und seines Einflusses – sei er positiv oder negativ – auf den dichterischen Wert aller anderen verfügbaren Verfahren und Materialien verstehen. Da der Einsatz des Narrativen dafür sorgt, dass einfacher Versbau und schlichte Wortwahl hinreichend und daher künstlerisch überzeugend sind, besitzt die von einer Geschichte beherrschte Volksballade nichts von der Intensität des Gedankens und Gefühls, wie sie im lyrischen Volkslied zu finden ist.337 Statt auf Konzentration setzt sie auf Ausdehnung; ihr üblicher Auf bau, bestehend aus einer Reihe von Ereignissen, die als Glieder derselben Kausalkette aufeinanderfolgen, lässt das Gedicht durch viele Strophen vorwärts eilen, und um die Klarheit Geschichte nicht zu beeinträchtigen, sind die Strophen üblicherweise in sich regelmäßig abwechselnden Verslängen und Rhythmen verfasst. Alles ist dazu gedacht, die Geschichte vorwärts zu treiben. Dadurch fallen viele beliebte dichterische Mittel aus: Beschreibungen, Vergleiche, Gefühlsbeteuerungen und in eins damit die Wendungen und metrischen Variationen, die eine eher kontemplative Dichtung bereichern. Eine Erzählung lässt sich allerdings auch anders entfalten als durch eine einfache fortschreitende Handlung. Mit ausgebildeter und wachsender Fertigkeit legten die Geschichten­ erzähler ihre Geschichten umfangreicher an, so dass sie einen   In Deutschland, Skandinavien und Russland ist diese dichterische Form verbreiteter als in England oder in den romanischen, eine gute Geschichte schätzenden Ländern. 337



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größeren Schauplatz, verwickelte Ereignisse, ja sogar getrennt verlaufende, gelegentlich sich kreuzende Abenteuer mit mehr als einem Personenkreis einschließen. Daraus entsprang dann die Form der »höfischen Dichtung«. Ihre umfassendere Anlage macht stärke Mittel nötig, um die Illusion der Ereignisse durchzuhalten und die Deutlichkeit ihrer Formen zu wahren, als der einfache gereimte Vierzeiler und die prägnante Aussage der Ballade zu liefern imstande sind. Damit fiel der bekannten, aber in der Regel beiläufigen Kunst der Beschreibung eine neue, herausragende Aufgabe zu. Er ist oft behauptet worden, die Troubadoure – und ihre Nachahmer – hätten ihre detaillierten Schilderungen von Waffen und Gewändern, von Turnieren, Banketten und Begräbnissen aus schierem Vergnügen an der sinnlichen Einbildungskraft eingeführt. Wie bezaubernd diese Zutaten auch sein mögen, sie können so wenig um ihrer selbst willen in ein Gedicht eingeflossen sein, wie wir genussvoll ein zusätzliches Pfund Zucker in den Kuchenteig geben würden, nur weil Zucker so etwas Feines ist. In Wahrheit bilden sie starke Formelemente. Sie zögern die Handlung hinaus und eilen nicht wie die Abenteuer von Sir Patrick Spens oder Thomas the Rhymer338 auf einen Schluss zu. Wenn das Publikum des Troubadours in dessen Schilderungen schwelgte und ihn bat, sie weiter auszuspinnen, dann verlangte sein künstlerischer Sinn nach anderen literarischen Elementen, die fähig wären, einen Sturm von Bildern zu motivieren und zu unterstützen. Die Geschichte, deren Verlangsamung mithilfe von Bildern und detaillierten Beschreibungen das Ineinandergreifen ihrer verwickelten Handlungen ermöglichen sollte, hat einen neuen strukturellen Faktor hervorgebracht: die fortwährenden Beziehungen der Figuren zueinander. In der Volksdichtung treten die Handelnden auf und auch wieder ab, je nachdem ob sie benötigt werden oder nicht. Der König hält sich in der Stadt Dunfermline auf, doch nachdem er seinen »braid letter« geschrieben hat, verschwindet er   Thomas the Rhymer, in: Quiller-Couch, The Oxford Book of Bal­ lads, a. a. O., S. 1–4. [ A nm. d. Hg. ] 338

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von der Bühne. Wenn die Katastrophe eingetreten ist, bleibt ihm keine Geste der Lobpreisung oder der Trauer für den Helden.339 In den mittelalterlichen Romanzen verharrt das Personal, wenn es nicht benötigt wird, im Hintergrund, weil es überhaupt einen solchen gibt. Anstelle der impliziten Naturkulisse von Meer, Moor, Feenreich oder Friedhofsweiden baut die höfische Dichtung eine explizit gesellschaftliche Kulisse auf: den Königshof, das Heerlager, die Halle. In dieser menschlichen Umgebung ist es möglich, dass die Handlungen sich ganz natürlich überschneiden und Geschichten miteinander verwoben werden. Der König, der in Dunfermline residiert, mag abtreten, wenn Sir Patrick in See sticht, doch der König, der in Camelot residiert, bleibt dort, bis ihm eine neue Aufgabe zufällt. Gleichwohl hören wir nicht mehr über ihn, als für den Fortgang der Geschichte und die Erschaffung ihres anhaltenden menschlichen Hintergrunds nötig ist. Die Charaktere eines höfischen Romans sind, wie man weiß, streng genommen Typen und nicht Persönlichkeiten. Bedeutend sind sie aufgrund ihres Standes. In Lehrbüchern der Literaturgeschichte wird in der Regel behauptet, die Troubadoure und Minnesänger hätten noch nicht gelernt, individuelle Charaktere zu zeichnen. Wahrscheinlicher scheint jedoch, dass sie gar nicht den Wunsch hatten, ihre Figuren als Männer und Frauen »leben« zu lassen, denn was tatsächlich »leben« sollte, war die soziale Welt, die von spektakulären Taten beherrschte Welt des Gedichts. Eine stärkere Individualisierung der Figuren hätte diesem romantischen Leben in keiner Weise aufgeholfen. Typen waren genau das, was hier gebraucht wurde: Könige, Geistliche, Ritter, die immer in Rüstungen steckten, und Damen, die immer schön waren. Sie sind nicht die Produkte eines Wunschdenkens oder der Naivität – sie bilden die menschlichen Elemente, nach denen eine besondere Art von poetischen Werken verlangt. Das wirklich Neue und die Kraft dieser Gattung liegen in der Schilderung dessen, wie etwas ausgeführt wird, und die339

  Sir Patrick Spens, a. a. O. [ A nm. d. Hg. ]



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ses lange Verweilen bei jeder Handlung verleiht den meisten vertrauten Ereignissen – Reisen, Liebeswerbungen, Sterben – eine neue Form. Es ist so, als würde plötzlich in drei statt in zwei Dimensionen gemalt. Durch die Beschreibungstechnik wird die Bewegung der einen Geschichte angehalten, während eine andere weiterfließt. Dadurch wird die ganze virtuelle Erfahrung auf eine subtile Weise verformt, und es entsteht der Eindruck von Existenzen und Ereignissen, die im Hintergrund bleiben, von Ereignissen, die nicht »verfolgt« werden, die aber jederzeit wieder ins Scheinwerferlicht rücken könnten.340 Der Umstand, dass ein solches Anhalten der Handlung nicht immer »lebensnah« ist, also nicht immer dort geschieht, wo eine Handlung von sich aus innehält, hat manch einen glauben lassen, die ausladenden, farbenfrohen Einzelheiten seien hinzugefügtes Schmuckwerk, und lachen lassen über die resultierenden »unrealistischen« Momente der Verzögerung im Fortgang der Geschichte. Diese ausladenden Beschreibungen sind freilich das Salz, das dem echten höfischen Roman Vitalität verleiht. Diesem besonderen Gebrauch von sinnlichen Bildern und den detaillierten Vorgängen und nicht der Tatsache, dass es echte zeitgenössische Handlungsabläufe gibt, verdankt sich gerade die Wirkung, nicht nur einen historischen Faden, sondern ein ganzes historisches Gewebe vor sich zu haben. Da die beschreibende Behandlung von Ereignissen hier das entscheidende dichterische Kunstmittel bildet, muss sogar das erzählerische Element in Schach gehalten werden. Nicht bloß die Charaktere, sondern auch die Abenteuer neigen dazu, typisch zu sein: die Suche, der Auftrag, der Wettstreit, die Errettung, das eingelöste Versprechen. Turniere, der Empfang von Fremden, königliche Sterbeszenen oder Hochzeiten erfüllen die ritterliche Welt. Drachenkämpfe, Kreuzzüge und Liebesprüfungen verleihen ihrem Leben Dramatik; seiner Essenz nach aber ist es ein Spektakel.   Man vergleiche dazu die Analyse von inkommensurablen Spannungen im Bewusstsein auf S. 224 f. 340

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Die mittelalterliche Dichtung schöpft aus einem großen Vorrat an dichterischen Mitteln. Der erzählerische Rahmen ist von der Art, dass nahezu überall neue Bausteine der Geschichte entwickelt werden können. Darum ist die Suche – sei es nach dem Gral, den dunklen Türmen, eingekerkerten Damen oder einem weißen Einhorn – ein beliebtes Motiv. Es erlaubt, untergeordnete Abenteuer aufzunehmen. Neben der Erzählstruktur gibt es Personen aller Stände; es gibt die Kirche mit ihren Legenden; es gibt Erscheinungen, Warnungen, Versprechungen. Vor allem aber steht dem mittelalterlichen Dichter das Liebesthema zur Verfügung, um nahezu jedem Gesang Feuer und Glanz zu verleihen. Dank dieses Reichtums an technischen Mitteln war das Gedicht nicht wirklich auf die hypnotische Kraft der rhythmischen Rede angewiesen, um sein Publikum in Bann zu schlagen. Es verfügte über eine Vielzahl anderer Kunstgriffe, um die dichterische Illusion aufrechtzuerhalten und ihre expressive Form zu entwickeln. Das Setzen in Verse wurde daher zu einer erkennbaren Konvention; vor allem nachdem das Buch den Sänger als Präsentationsmittel abgelöst hat, war es eine Sache der Tradition, nicht der Notwendigkeit, die alten Versformen lebendig zu erhalten. So sieht dann das Greisenalter einer Tradition aus, in dem sie dann auch stirbt. Metrum und Reim verschwanden aus der höfischen Dichtung, da ihre lebendigen – und daher unbemerkten – Konventionen hinreichend reichhaltig und selbstbewusst geworden waren, um auf rein für das Ohr gedachte Hilfsmittel verzichten zu können. Die Belletristik entstand, als ihre dichterischen Erfordernisse erfüllt waren. Doch die Unterschiede zwischen ihr und der »Dichtung« im strikten Sinn sind in der Hauptsache technischer Art.341 David Daiches hat dazu in einem jüngst erschienen Buch geschrieben: »In der Belletristik trägt die Anlage der   Zu der unterschiedlichen Funktion, die technische Mittel, beispielsweise poetische Bilder, in der Entwicklung neuer Formen einnehmen können, vgl. C. Day Lewis, The Poetic Image, a. a. O., S. 86 f. 341



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Handlung das größere Gewicht, während in der Dichtung die Hauptlast von der Verwendung der sprachlichen Mittel in ihrem Verhältnis zueinander geschultert wird. Beide verfolgen dasselbe Ziel.«342 Belletristik ist die bevorzugte Literaturform unserer Tage. Die Kurzgeschichte, die deutsche Novelle*, die (satirische oder prophetische) Phantasie, vor allem aber der Roman sind unsere gängige dichterische Kost. Der moderne Roman spielt in unserem Geistesleben dieselbe Rolle, die die höfische Dichtung für das Mittelalter gespielt hat: Sie stellt die zeitgenössische Szene dar. Die Rezitation des Troubadours, die mit ihrem pittoresken Konzept dazu einlud, Standesvertreter und Institutionen auftreten zu lassen, war den tatsächlichen Gegebenheiten nachgebildet und hob die unmittelbarsten Interessen eines Zeit­ alters hervor, in dem die Entstehung einer sozialen Ordnung aus dem Chaos der Machtansprüche einzelner Geschlechter und der Fremdherrschaft eine noch junge Errungenschaft war. Auf ähnliche Weise ist der Roman besonders dazu geeignet, das moderne Leben zu erfassen, indem er unser eindringlichstes Interesse thematisiert: die Einschätzung und die Gefahren der Persönlichkeit. Dieses zentrale Thema schließt für gewöhnlich eine Betrachtung der sozialen Welt vom Standpunkt des individuellen Lebens ein. Daher führt die Erschaffung von »Charakteren« oder wirklichen Personen von sich aus zur Darstellung unserer gegenwärtigen Welt, so wie die Standespersonen einer älteren Literatur das Weltbild jener Zeit haben entstehen lassen. Was unsere Welt auszeichnet und ihre Probleme als relativ neu erscheinen lässt, ist unser Interesse an der Persönlichkeit. Der Ursprung dieses veränderten Interesses ist natürlich historisch: ökonomisch, religiös und politisch in einem. Was immer es auch hervorgerufen hat, die neue, daraus entstehende Sicht der Realität ist noch nicht geschärft genug und daher emotional verwirrend. Unvertraute Gefühle flößen uns Furcht vor uns selber und voreinander ein. Ihre schwer fassbare Präsenz sucht 342

  A Study of Literature, a. a. O., S. 139.

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unser Denken heim und fordert die künstlerische Einbildungskraft auf, sie in wahrnehmbaren Formen zu verwirklichen. Eine Antwort auf diese Herausforderung ist der Roman. Er schafft eine virtuelle Erfahrung recht großen Umfangs; seine Form ist elastisch und lässt praktisch grenzenlose Verwicklungen oder Vereinfachungen zu, denn ihm stehen äußerst verschiedenartige und reiche Strukturmittel zur Verfügung. Er kann zu einer zügigen Tatsachenerzählung greifen oder zu sehr indirekten Halbaussagen, zu glänzenden oder gar keinen Beschreibungen, er kann die Geschichte einer Menschenseele darstellen, eine muntere Schar von Freibeutern, eine ganze Gesellschaft oder sogar eine Versammlung der Lebenden und der Toten – wie in Sartres Les jeux sont faits. Er ist eine junge Gattung, die sich immer noch entwickelt, sich immer noch auf alles stürzt, was für den »modernen« Schauplatz charakteristisch ist, um daraus sein thematisches Material zu schöpfen, seine Illusion von Leben zu motivieren und zu entfalten. Dennoch ist der Roman Fiktion, Poesie, und sein Gehalt ist das ausformulierte Gefühl, nicht eine soziologische oder psychologische Theorie. Sein Ziel ist, wie Daiches erklärt, schlicht das Ziel aller Literatur und im Übrigen aller Künste. Will man ihn kritisch bewerten, so muss in jeder Hinsicht ein literarisches Urteil gefällt werden. Da der Rahmen seiner Geschichte in der Regel jedoch ein Bild von Zeit und Ort des Lesers bietet, geschieht es nur allzu leicht, dass dieser in den Darstellungen des Verfassers völlig aufgeht, sie als zutreffend oder falsch beurteilt und das Buch als Stellungnahme des Verfassers zu aktuellen Problemen und als Bekundung seiner Gefühle liest. Heutzutage neigen die meisten Literaturkritiker dazu, einen zeitgenössischen Roman als Dokument zu loben oder zu tadeln, anstatt in ihm ein fiktives Werk zu sehen, das ein poetisches Ziel verwirklichen möchte. Sein fiktiver Charakter wird für eine rhetorische Finte gehalten, damit der Leser der ganzen Aussage zuhört, die er wohl unterbrechen und anfechten würde, man sie ihm schlicht diskursiv vorführte. Häufig wird ein Roman



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als Beispiel aus dem Leben eines Einzelnen betrachtet, mit dem Zweck, einen allgemeinen sozialen Zustand zu illustrieren, und er wird vollständig daran gemessen, wie relevant er für aktuelle Probleme ist, seien sie politisch, psychologisch oder moralisch. Dass Koestlers Sonnenfinsternis und Manns Doktor Faustus vom gebildeten Publikum so begeistert aufgenommen worden sind, ist hauptsächlich, wenn nicht gänzlich, dem Umstand geschuldet, dass beide ihre gegenwärtige Kultur schildern und bewerten. In der Flut von Diskussionen, die Kaf ka und Sartre ausgelöst haben, hört man kaum ein Wort über ihre literarischen Stärken, man hört nur etwas über ihre angeblich persönlichen Gefühle und moralischen Einstellungen, darüber, was sie für ihre gegenwärtige Welt hoffen oder fürchten, welch kritischen Blick sie auf das Leben werfen. Doch ein Großteil dieser »Kritik« ist keine künstlerische Veranschaulichung des Lebens selbst, wie wir sie bei Joyce, Proust, Turgenjew, Thackeray und Goethe finden, es handelt sich vielmehr um durchdachte Meinungen, die mehr oder weniger in eine fiktive Form gekleidet sind, und als solche werden sie dann aufgefasst – als des Autors sei es kluge, giftige oder verzweifelte Stellungnahme zu unserer Nachkriegszivilisation. Es besteht kein Grund dafür, dass es derartige Kommentare nicht in der Fiktion geben sollte, vom künstlerischen Standpunkt aus wird lediglich gefordert, dass sie, sollten sie vorkommen, für das Werk notwendig sein müssen. Das Thema in Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch ist die Herzlosigkeit der »feinen« Gesellschaft und die Leere ihres Gefühlslebens. Die Geschichte selbst führt uns freilich nicht einfach diese Gesellschaft mit den Bemerkungen des Verfassers vor, stattdessen benutzt sie diese als Hintergrund für Iwans intensive menschliche Erfahrung, seine Sehnsucht nach Leben und Liebe, die in ihm wächst, während seine Krankheit ihn langsam aus der Scheinwelt herauslöst, ihm seine Macht als Gesellschaftsmensch nimmt und ihm nichts anderes mehr lässt als die Bedürfnisse, die er als Mensch hat, bis er schließlich mit einem erst im Tod verstummenden Schrei dagegen auf begehrt.

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Was es vielen Menschen so schwer macht, Belletristik im Hinblick auf ihren fiktionalen Charakter zu beurteilen, hat hauptsächlich mit ihrem Medium zu tun – der diskursiven, nicht einmal durch Metrum und Reim formalisierten Sprache –, derselben diskursiven Sprache, deren wir uns im Gespräch bedienen. Es fällt schwer, sich nicht zu der Annahme verleiten zu lassen, der Autor beabsichtige mit seinem Gebrauch der Worte genau das, was wir mit dem unsrigen beabsichtigen, nämlich etwas mitzuteilen, zu kommentieren, zu erfragen, zu bekennen, kurz: ein Gespräch zu führen.343 Ein Romancier möchte jedoch eine virtuelle Erfahrung erschaffen, eine vollständig durchgestaltete und eine, die etwas Grundlegenderes zum Ausdruck bringt, als irgendein »modernes« Problem es sein könnte: menschliches Fühlen, das Wesen des mensch­ lichen Lebens selbst. Obwohl keine unserer gegenwärtigen literarischen Produktionen so fruchtbar, charakteristisch und beliebt ist wie der Roman, ist er ein vergleichsweise junges Phänomen, und seine künstlerische Form reift immer noch weiter, verblüfft die Kritiker noch immer mit beispiellosen Wirkungen, vollkommen neuen Konzeptionen hinsichtlich des Auf baus und der eingesetzten Techniken.344 Vielleicht ist es daher nur natürlich, dass   Vgl. die Ansichten, die A. C. Ward in seinem Werk Foundations of English Prose dargelegt hat: »An den Roman im 20. Jahrhundert ergeht die Forderung, in der Literatur das Leben in größtmöglicher Fülle abzubilden. Er soll uns über wichtige Gegenstände informieren und er soll uns zu mehr Wissen und Einsicht verhelfen.« (London 1931, S. 28) So auch Winfield Rogers: »Der Künstler versucht, uns in der Summe zu vermitteln, wie das Leben in einem bestimmten Moment oder einer bestimmten Periode zusammengesetzt ist, und diese Summe kann in der Zukunft selbstverständlich einer anderen weichen. […] Alle technischen Aspekte sind Mittel, anhand deren der Romancier versucht, seine Haltung oder Philosophie mitzuteilen, und sie sind der natürliche Ausdruck der Philosophie.« (Form in the Art-Novel, in: Helicon, Bd. II, 1939, S. 1–17, hier 3) 344  Edith Wharton eröffnet ihr Buch The Writing of Fiction (New York 1925) mit den Worten: »Wer das Verfahren des Romans abhan343



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sie immer noch geneigt sind, sich in erster Linie mit dem Dargestellten zu beschäftigen: den Verweisen auf reale Ereignisse, dem Porträt von Personen aus dem privaten oder öffentlichen Umkreis des Autors, den Bemerkungen zum Schauplatz, den Enthüllungen über seine eigene Persönlichkeit, die an einer fiktiven Figur oder auch einer Gruppe von personae sichtbar werden, in denen man Symbole der getrennten, manchmal widerstreitenden »Selbste« in seinem eigenen Selbst zu erblicken meint. Zumindest lassen sich solche Merkmale immer finden und diskutieren, selbst wenn dem Kritiker verborgen bleibt, wie sie in der dichterischen Schöpfung eingesetzt werden. Eine kenntnisreichere Art der Kritik zeichnet sich aber schon längst ab, und stellt man die wahrhaft literarischen Bemerkungen zum Roman und zum Romanschreiben zusammen, die seit der Zeit gemacht worden sind, in der Flaubert und Henry James dieser neuen Gattung zur Anerkennung als einer echten Kunstform verholfen haben, dann werden ihre künstlerischen Ziele ersichtlich und auch die Probleme, die damit verbunden sind, eine vollständig virtuelle, vitale – das heißt organische –, mit dem Fortschreiten dieser Kunst selbst erst sich ent­w ickelnde Form zu verwirklichen. Noch De Quincey hält allein die Dichtung für wahre »Literatur«, stellt aber überrascht fest, dass selbst »der gewöhnlichste Roman, sofern er im Bunde mit menschlichen Ängsten und Hoffnungen steht«, auf irgendeine Weise zur »Literatur der Macht« zählt – zu einer Literatur, die unmittelbar menschliche Ziele und Gefühle darlegt, und das nicht für den diskursiven Verstand, sondern für das »Herz, dieses großartige intuitive [oder nicht-diskursive] Organ«345. Vierzig Jahre später erklärte Henry James den Roman ausdrücklich zum Kunstwerk und mehr noch zu einer Art von His­ torie, obgleich sich ihm das Verhältnis dieser »Historie« zur deln möchte, muss sich mit der jüngsten, veränderlichsten und am wenigsten ausformulierten Kunst befassen.« 345  Thomas De Quincey, Alexander Pope, zuerst in: North British Review 9 (1848), S. 299–333, jetzt in: ders., Literary Criticism, London 1909, S. 90–143, hier 96 f.

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wirklichen Historie, der Erinnerung oder Wiederherstellung realer Ereignisse, entzogen hat. Daher nahm er zur schlichten Verneinung irgendeines Unterschieds seine Zuflucht und bemerkte zugleich, dass die fiktionale Historie auf eigenen Prämissen beruhe. »Der einzige Grund für die Existenz des Romans ist, dass er versucht, das Leben darzustellen. […] [U]nd die Analogie zwischen der Kunst des Malers und der Kunst des Romanschriftstellers ist, soweit ich sehen kann, vollkommen. Ihre Inspiration ist dieselbe, ihr Schaffensprozeß (die unterschiedliche Qualität ihrer Ausdrucksmittel berücksichtigend) ist der derselbe, ihr Gelingen ist dasselbe. […] [D]as Bild [ist] Realität wie der Roman Historie. Das ist die einzige allgemeine Beschreibung (die ihm Gerechtigkeit widerfahren lässt), die wir dem Roman geben können.«346 James hatte den Eindruck, diese »Historie« sei irgendwie objektiv und verpflichte den Romancier dazu, sie getreu zu verfolgen. Es ist ihm entgangen, dass der Vergleich der schriftstellerischen Arbeit mit der des Malers zugleich die Rechtfertigung für seinen Anspruch und dessen Begrenztheit enthielt: Der Roman ist Historie, so wie das Bild Realität ist. Er hat nicht verstanden, in welchem Sinn das Bild Realität ist, und so konnte er nur seine Überzeugung festhalten, dass der Roman exakt genauso zu behandeln sei wie die Historie. Anlässlich von Anthony Trollope schreibt er: »In einer Abschweifung, einer Parenthese oder Nebenbemerkung macht er dem Leser das Zugeständnis, daß er und sein vertrauensvoller Freund nur ›fingiert‹ sind. Er bekennt, daß die von ihm berichteten Ereignisse nicht wirklich geschehen sind und daß er seiner Erzählung jede beliebige Wendung geben kann, wie sie dem Leser am besten behagt. Solch ein Verrat an einem heiligen Amt erscheint mir, gestehe ich, als ein schreckliches Verbrechen, […] und es erschüttert mich   Henry James, Die Kunst des Romans, in: ders., Die Kunst des Ro­ mans. Ausgewählte Essays zur Literatur, Leipzig u. Weimar 1984, S. 5–33, hier 8. 346



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bis ins Mark bei Trollope ebenso, wie es mich bei Gibbon oder Macaulay erschüttert haben würde. Es impliziert, daß der Romanschriftsteller weniger als der Historiker damit beschäftigt ist, nach der Wahrheit zu suchen (der Wahrheit meine ich natürlich, wie er sie versteht – diese Prämisse gestehen wir ihm zu, was auch immer sie sein möge). Und indem er das tut, zieht er ihm mit einem Schlage den Boden unter den Füßen weg. Die Vergangenheit, die Handlungen von Menschen wiederzugeben und zu illustrieren, ist die Aufgabe jedes Schreibenden[…].347 Ganz recht, doch gibt es einen tiefgehenden Unterschied, denn der Romancier erkundet eine virtuelle Vergangenheit, eine von ihm selbst erschaffene Vergangenheit und die »Wahrheit, die er unterstellt«, hat ihre Wurzeln in dieser geschaffenen Geschichte. Das Beunruhigende an Trollopes Geständnissen (insofern sie uns beunruhigen) ist, dass sie die poetische Illusion vernichten, dass sie seine Geschichten unwahr erscheinen lassen. Anstatt uns eine virtuelle Vergangenheit vorzuführen, lädt er uns ein, seine eigene reale Erfahrung des Schwelgens in folgenlosen Phantastereien zu teilen. Es ist kein Wunder, dass der Künstler James, der den Roman als Kunstwerk anerkennt, über eine so ruinöse Auffassung von der Tätigkeit des Schriftstellers entsetzt war. Wie jeder andere Dichter so erzeugt auch der Prosaschriftsteller die Illusion eines vollkommen gelebten und gefühlten Lebens, und er präsentiert es in der »literarischen« Perspektive, die ich als »mnemonischen Modus« bezeichnet habe – nämlich als Erinnerung, bloß dass diese entpersönlicht und objektiviert ist. Seine erste Aufgabe besteht dann darin, diese Illusion überzeugend zu gestalten, das heißt sie als real erscheinen zu lassen, wie weit auch immer sie von der Wirklichkeit entfernt ist. Trotz seiner unausgegorenen Überlegung zum Roman als Historie wusste James, dass sein wahrer Maßstab der ist, als Historie zu erscheinen, und so schreibt er in demselben Essay, der sein Entsetzen über Trollopes Haltung festgehalten hat, einige Seiten 347

  Ebd., S. 8 f.

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später: »[U]nd daher wage ich zu sagen, daß das Air von Realität (die Solidität der Einzelheiten) mir die höchste Tugend des Romans zu sein scheint – das Verdienst, von dem all seine anderen Verdienste (die bewußte moralische Absicht, von der Mr. Besant spricht, eingeschlossen) hilflos und willfährig abhängen. Wenn jenes nicht da ist, sind diese alle nichts, und wenn diese da sind, schulden sie ihre Wirkung dem Erfolg, mit dem der Autor die Illusion von Leben erzeugt hat.«348 Um diese Illusion von Leben hervorzubringen, haben Schriftsteller zu vielen unterschiedlichen Mitteln gegriffen, angefangen bei dem offensichtlichen Kunstgriff, das Geschriebene als tatsächliche Memoiren oder tatsächliche Geschichte auszugeben. Wenn man Menschen dazu bewegen kann, eine Fiktion als Tatsache zu sehen, dann scheint es, dass »das Air von Realität« erreicht worden sein muss. Seltsamerweise fehlt Zeitungs­ berichten, die – ihren Herausgebern zufolge – üblicherweise ein »Fundament in der Wirklichkeit« haben, recht oft dieser Anschein einer unmittelbaren und gewichtigen Realität, den Augusto Centeno »Lebendigkeit« (livingness) nennt – den Ein­ druck von Leben statt seiner vertrauten Inhalte.349 Der Anspruch, sich an die historische Wahrheit zu halten – wie Defoe ihn für The Journal of the Plague Year erhoben hat – oder das Werk eines anderen Verfassers vorzulegen (Sonnets from the Portuguese oder die Gedichte Ossians) ist kein integraler Bestandteil des Werkes, der eine echt literarische Illusion erzeugen könnte, er ist eine Vorspiegelung, dazu gedacht, das nicht-literarische Interesse des Lesers zu erwecken, das heißt, es geht darum, ihm das Werk zu »verkaufen« oder den Verfasser von der Verantwortung für dessen Mängel zu entlasten, oder vielleicht auch darum, eine   Ebd., S. 17.   Vgl. dazu seine Einleitung zu The Intent of the Artist: »Lebendigkeit […] ist ein tiefgehender, intensiver Eindruck von Leben, der aus einer geistigen Verwandtschaft entsteht und nur von der Anschauung erfassbar ist. Man könnte sagen, was der Rhythmus für die Zeit ist, ist die Beziehung, in der die Lebendigkeit zum Leben steht.« (A. a. O., S. 11) 348 349



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viktorianische Dichterin vor dem Verdacht zu schützen, sie enthülle unschicklicherweise ihre eigenen Empfindungen. Die »Lebendigkeit« einer Geschichte ist tatsächlich viel eher gegeben und oft auch größer als die der realen Erfahrung. Das Leben selbst kann bisweilen recht mechanisch ablaufen und von denjenigen, die es führen, unbemerkt bleiben; die Wahrnehmung eines Lesers darf aber nie in einen Schlummerzustand fallen. Die Personen in einem Buch können langweilig und öde sein, das Buch selbst darf es nicht sein. Virtuelle Ereignisse, wie unauffällig sie auch sein mögen, besitzen Charakter und Würze, eine ausgeprägte Erscheinung und eine Gefühlsfarbe, oder es gibt sie nicht. Mitunter loben wir an einem Roman, dass er so lebhaft ist wie reale Ereignisse; für gewöhnlich übertrifft er sie aber an Lebhaftigkeit. Verglichen mit den durch Worte erschaffenen Erlebnissen des virtuellen Lebens wirkt eine sklavische Abschrift des realen Lebens blass, so wie eine unmittelbar vom lebenden Subjekt abgenommene Gipsmaske verglichen mit einer noch so »konservativen« Porträtbüste eine leblose Nachahmung ist. 350 In der Besprechung einer autobiographischen Geschichte – Carlton Browns Brainstorm – beschreibt der Rezensent das Buch als »nicht wirklich ein Roman, obgleich einiges darin, vor allem die in einem Hospital für Geisteskranke geschriebenen Zeilen, die Intensität und die Teilnahme von Fiktion aufweist«351. Was aber ist diese »Teilnahme«, die ein Merkmal der Fiktion ist und manchmal auch in der Wirklichkeit vorkommt? Die Eigenschaft, etwas vollkommen Empfundenes zu sein – »Lebendigkeit« – wie Centeno sagt – oder, mit Henry James zu reden, »gefühltes Leben«. Wo das Herstellen der primären Illusion einen Schein des soge­nannten »wirklichen Lebens« einschließt, muss man sich   Siehe dazu den Vergleich zwischen einer »realistischen« Skulptur und einer dem lebenden Subjekt abgenommenen Maske (W. R. Valentiner, Origins of Modern Sculpture, New York 1946, S. 34, Tafel 20, 21, 22). 351  Lorine Pruette in der New York Herold Tribune vom 31. Dezember 1944. 350

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natürlich ständig gegen die Möglichkeit wappnen, dass das Werk mit seinem Vorbild verwechselt wird, dass die Hauptfigur mit einem selbst identifiziert wird und folglich die Ereignisse im Roman für eigene Erlebnisse gehalten werden, ob sie es nun zufällig wirklich sind oder bloß als solche phantasiert werden. DeWitt Parker meint, das Geschäft des Dichters sei es, »uns einen interessanten Traum träumen zu lassen«352; ich behaupte, das Geschäft des Dichters besteht darin, uns daran zu hindern, unsere Träume hineinzutragen, damit wir seine poetischen Abstraktionen – die wesentlichen Formen der Geschichte – erkennen, die zu transparenten Symbolen des Fühlens selbst gestaltet worden sind. Das zweite große Anliegen der Literatur, das mit der Aufgabe einhergeht, einem Werk den »Anschein von Realität« zu verleihen, betrifft daher das Problem, es als Fiktion aufrechtzuerhal­ ten. Viele durchschauen die Mittel, mit denen ein Schriftsteller Lebensechtheit erzielt; aber nur wenige erkennen die Mittel, mit denen er den Unterschied zwischen Kunst und Leben bewahrt – die Vereinfachung und Verarbeitung des Bilds vom Leben, wodurch dieses wesentlich verschieden von seinem Urbild ausfällt. Der Stil ist weitgehend dadurch bestimmt, wie der Verfasser mit diesen beiden grundlegenden Erfordernissen umgeht. In einem geschwätzigen, doch ansonsten gedankenvollen Buch mit dem Titel A Writer’s Notes on his Trade äußert sich C. E. Montague zu dem merkwürdigen Phänomen, dass vergangene Geschehnisse in der Fiktion durch ihre Wiedergabe zweiter oder gar dritter Hand an Echtheit zu gewinnen scheinen – wenn sie von einer Figur erzählt werden, die möglicherweise behauptet, sie habe die Geschichte von einem Dritten gehört: »Ich erzähl dir bloß, was er mir erzählt hat.«353 Im wirklichen Leben ist Hörensagen sicherlich keine Garantie für Wahrheit. Warum sollte es dann den Wert virtueller Ereignisse steigern?  Parker, The Analysis of Art, a. a. O., S. 70.   Vgl. C. E. Montague, A Writer’s Notes on his Trade, Garden City 1930, S. 39 ff. 352 353



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Nun, weil es sie zugleich in den Erlebnismodus projiziert und ihre wesentlich literarische Form gewährleistet. Wer ein Ereignis erzählt, verleiht ihm unwillkürlich eine »Tendenz«, denn er muss sich dafür interessieren, um einen Grund zu haben, davon zu sprechen. Durch ihr bloßes Berichtetwerden gewinnt eine Geschichte allerdings nicht an Echtheit, sie erfährt vielmehr eine poetische Verwandlung. Erinnerung und Hören­ sagen verwandeln eine Tatsache in Fiktion (weswegen eine Geschichte im wirklichen Leben an Glaubwürdigkeit verliert, je häufiger sie wiedererzählt wird). Vergangene Ereignisse durch die direkte Rede einer der Figuren darzulegen, ist eine einfache Technik, die im Roman nahezu immer wirkt. Sie ermöglicht es, eine lange, verstreute Geschichte zusammenzubringen und kurz abzuhandeln, ohne sie zu einer reinen Vorbereitung auf die eigentliche Handlung zu machen, denn sie wird so selbst zu einem Teil der Handlung. Dass diese Methode erfolgreich für eine gewisse Orientierung in der virtuellen »Welt« der Geschichte sorgt, hat meines Erachtens die Konvention – denn um nichts anderes handelt es sich dabei – begründet, die Ereignisse auf die Eindrücke und Einschätzungen einer Figur zu beschränken: auf den »einheitlichen Gesichtspunkt«, der vom Blickwinkel oder der Erfahrung einer der Personen in der Geschichte geliefert wird. Der betreffende Charakter erzählt nicht eine Geschichte, sondern erlebt die Ereignisse, so dass sie alle in dem Lichte erscheinen, in dem sie dieser Person haben erscheinen müssen. Werden sämtliche Ereignisse durch den Blick eines Individuums gefiltert, dann ist damit sichergestellt, dass sie bezogen auf persönliche Gefühle und Begegnungen aufgefasst werden, und das ganze Werk – Handlung, Szenerie, Sprache und all das übrige – eine natürliche Einheit der Perspektive erhält. Für Edith Wharton ist diese Methode nichts weniger als ein Grundsatz bei der Verfassung von Fiktion. In The Writing of Fiction schreibt sie: »Der von einer Landschaft, einer Straße oder einem Haus ausgehende Eindruck sollte für den Romanschriftsteller immer ein Ereignis in der

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Geschichte einer Seele sein, und die Verwendung der ›beschreibenden Passage‹ und ihres Stils sollte durch die Tatsache bestimmt sein, dass sie allein das zu schildern hat, was der betreffende Verstand bemerkt haben würde, und stets nur in den Worten, die zum Register dieses Verstandes passten.«354 »Auf den Roman bezogen mag dies schwierig klingen, denn der größere Zeitraum und die größere Fülle von Handlungssträngen setzen seitens der Romanfigur, die all das in ­Bilder fasst, eine Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit voraus, die den Sinn des Lesers für das Wahrscheinliche vermutlich er­schüt­ tert.«355 Es ist allgemein üblich, dieser Methode eine andere entgegenzuhalten: Der Standpunkt, von dem aus die Geschichte sich entfaltet, soll seinen Ursprung jenseits sämtlicher Romanfiguren haben. In seiner Aesthetics of the Novel – einem Buch, das zu viele die Ästhetik belastende Missverständnisse fortsetzt, angefangen von Kunst als Tagtraum bis Kunst als Sozialethik – schreibt Van Meter Ames über diese Möglichkeit: »Das gewöhnliche Vorgehen sah so aus, dass der allwissende Autor ständig in die Geschichte eingreift, um dem Leser mitzuteilen, was er wissen muss. Die Künstlichkeit dieses Verfahrens tendiert dazu, die Illusion der Geschichte zu zerstören, und sofern der Autor in seiner eigenen Person nicht höchst interessant ist, sind seine Eingriffe unwillkommen.«356 Mir scheint, ein sehr interessanter Autor wäre noch störender als ein langweiliger, da er unsere Konzentration auf die Geschichte wirkungsvoller unterbrechen würde. Tatsächlich aber ist die Frage müßig, denn sie ergibt sich aus einem Missverständnis, nämlich dass der Autor überhaupt als Person mit der Geschichte verbunden ist. Ames kritisiert Conrads Perspektivenwechsel in Almayers Wahn, wo, wie er schreibt, »Conrad der allwissende Autor ist. Solange die Geschichte aus Almayers Blickwinkel erzählt wird, vermittelt  Wharton, The Writing of Fiction, a. a. O., S. 85.   Ebd., S. 87. Ein paar Seiten später bemerkt sie jedoch, dass alle Anwendungen dieses Grundsatzes nichts als Konventionen sind. 356  Van Meter Ames, Aesthetic of the Novel, Chicago 1928, S. 179. 354 355



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sich dem Leser ein konsistenter Eindruck, und es scheint, als hätte Conrad die Geschichte irgendwie von Almayer erfahren. Wenn aber der Blickpunkt ohne Not zu den Gedanken von Almayers malaiischer Frau und anderen Charakteren wandert, geht die einheitliche Wirkung verloren, die Illusion von Wirklichkeit wird getrübt. Der Leser beginnt sich zu fragen, ob alle diese Menschen Conrad ihre Geheimnisse anvertraut haben.«357 Nun gibt es in der Geschichte keinen Herrn Conrad, dem irgendjemand etwas hätte erzählen können. Die Schwierigkeit liegt nicht darin, dass der Autor als allwissend ausgegeben wird, sondern dass ein eigenwilliger Leser über die Geschichte hi­ naus­gehen und so tun möchte, als habe sie sich wirklich ereignet, als hätte »Conrad die Geschichte irgendwie von Almayer erfahren« oder von sonst irgendeiner Figur im Buch. Doch Conrad, der nicht Teil der Geschichte ist, muss und konnte sie überhaupt nicht »erfahren« haben, und ich finde nicht einen einzigen Abschnitt, in dem seine Persönlichkeit sich plötzlich in die virtuelle Welt einmischt. So zu tun, als beruhe die Fiktion auf einer realen Erinnerung oder auf Hörensagen, gehört zu den Anfängen der Romankunst, als Geschichten zuvor immer erzählt und nicht aufgeschrieben wurden und eine überlegt gestaltete Prosaerzählung noch den Schein der Erzählerkulisse zu verlangen schien.358 Die Wende schuf eine Übergangsform, bei der die neue Art der Gestaltung noch die alte nachahmte, so wie die frühesten griechischen Steinsäulen Baumstämme nachahmten und unsere ersten elektrischen Lampen noch Kerzen oder Kerosinlampen so ähnlich wie möglich sehen sollten. Dieser Übergang vom Geschichtenerzählen zum Geschichtenschreiben ist zweifellos auch die Quelle für den altmo Ebd.   Dieses Erbe erklärt meiner Meinung nach die Tatsache, zu der Daiches sich mit einem gewissen Erstaunen äußert: »In der Frühzeit des englischen Romans griffen die Schriftsteller zu allen möglichen Mitteln, um den Leser davon zu überzeugen, dass das von ihnen Erzählte sich wirklich ereignet hat.« (Daiches, A Study of Literature, a. a. O., S. 91). 357

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dischen Kunstgriff gewesen, solche Ausdrücke wie »Meine Heldin«, »Lieber Leser«, »Bevor ich mit meiner Geschichte beginne …« zu verwenden, was ein wirkliches Eindringen des Autors in die virtuelle Welt seiner Charaktere darstellt. Dickens, dessen Realismus revolutionär war, mag manchmal auf diesen Trick zurückgegriffen haben, um jene extreme Realitätsnähe aufzuwiegen und sicherzustellen, dass sein Werk Fiktion ist; doch selbst wenn dies das Ziel ist, bleibt es ein unglückliches Mittel, denn die eine Hand reißt ein, was die andere gebaut hat. Der schemenhafte Erzähler und der hypothetische Zuhörer sind zu wenig greif bar, um nicht mit dem realen, am Schreibtisch sitzenden Autor und dem realen, im Sessel sitzenden Leser identifiziert zu werden. Der Realismus der Geschichte büßt seine überschüssige Kraft ein, wenn man sich an eine Technik gewöhnt, die einst gewaltsam erschien, aber die direkte Anrede hört nie auf, mit der Wirklichkeit zu flirten, und recht bald erzeugt sie, statt die erzählten Ereignisse im Reich der Fiktion nur festzuhalten, den Eindruck, den Trollope auf James gemacht hat – dass die Geschichte nicht ernst gemeint ist, sondern bloß eine Phantasie, mit der der Autor sich und seine Gesellschaft unterhält. Die Ereignisse in einem Roman sind rein virtuelle Ereignisse, die nur ebenso virtuellen Menschen »bekannt« sind; der »allwissende Autor« ist ebenso eine Chimäre wie der Autor, der mit den Augen seines Helden sieht oder urteilt.359 Selbst eine in der ersten Person erzählte Geschichte ist, wenn sie Literatur sein   Der Fehlschluss, Autor und Leser als mit der Geschichte gegeben zu betrachten, scheint mir auch Edith Whartons moralistischer Einstellung zugrunde zu liegen, die sie in ihrem im Allgemeinen bewundernswerten Buch The Writing of Fiction ausdrückt: »In der einen oder anderen Form muss es eine Art von rationaler Antwort auf die unbewusste, aber beharrliche innere Frage des Lesers geben: ›Warum wird mir diese Geschichte erzählt? Welches Urteil über das Leben enthält sie für mich?‹« (A. a. O., S. 27) Eine Geschichte, die »lebensecht« zu sein scheint, mag beim Leser eine solches Urteil hervorrufen, aber nur für das Personal in ihrer Welt kann sie eines enthalten. 359



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soll, durch die dichterische Einbildungskraft so vollständig verwandelt, dass die »ich« genannte Person nicht mehr als ein so benannter Charakter ist. Jedes Ereignis mag sein Vorbild im tatsächlichen Gedächtnis des Autors haben, und jeder Charakter mag ein Porträt sein, dennoch ist ein Porträt nicht das Modell – nicht einmal ein Selbstporträt. In derselben Weise sind beobachtete Ereignisse, seien sie auch in Tagebüchern oder Briefen festgehalten, keine literarischen Elemente, sondern literarisches Material. »Beobachtung ist«, wie David Daiches schreibt, »ein Werkzeug der Einbildungskraft, und Einbildungskraft ist das, was einen potentiellen Bedeutungsgehalt in noch so beiläufig erscheinenden Ereignissen erkennen kann.«360 Die Einbildungskraft ist jedoch immer schöpferisch, niemals protokolliert sie. An späterer Stelle erläutert Daiches seinen Grundsatz anhand von Joyces Porträt des Künstlers als junger Mann: »Es handelt sich in dem Sinn um Fiktion, dass Auswahl und Anordnung der Geschehnisse ein künstlerisch gegliedertes Werk bilden, eine Totalität, in der nichts überflüssig ist, in der jedes Detail sowohl künstlerisch als auch biographisch bedeutsam ist. Tatsächlich hat uns Joyce eines der wenigen Beispiele in der englischen Literatur geschenkt, in dem eine Autobiographie gelungen als eine Form der Fiktion verwendet worden ist.«361 Die Seltenheit solcher Beispiele unterstreicht Edith Whartons Meinung, dass »das biographische Talent keine enge Verwandtschaft zur Begabung für Belletristik aufweist«.362 Der Grund dafür liegt meiner Ansicht nach darin, dass viele eine gewisse literarische Begabung haben, und wo das Gerüst einer Geschichte ihnen fertig präsentiert und die Perspektive unwillkürlich mitgeliefert wird, wie es bei ihrer eigenen Lebensgeschichte der Fall ist, sind sie imstande, sie mit einigem Erfolg poetisch umzusetzen. Allerdings sind dies Menschen, »die nur ein einziges Buch in sich tragen«. Sie verfügen über die autobiographische  Daiches, The Novel and the Modern World, a. a. O., S. 85.   Ebd., S. 101. 362  Wharton, The Writing of Fiction, a. a. O., S. 77. 360 361

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Gabe, nicht jedoch über die fruchtbare Einbildungskraft des echten Romanciers, für den das eigene Leben nur ein Thema unter vielen ist. Die nur schwach fiktionalisierte eigene Lebensgeschichte trägt die Spuren ihres Ursprungs: Die Geschehnisse sind nicht konsistent in den Erinnerungsmodus projiziert worden. Sie sind ganz unterschiedlich durch ihn gefärbt, je nachdem ob sie der realen Erinnerung, verfügbaren Aufzeichnungen oder Erfindungen entsprungen sind, die die Erinnerungs­lücken ausfüllen. Für den wahren Romanschriftsteller hingegen ist seine eigene Geschichte ganz und gar Rohmaterial und das Endergebnis ganz und gar Fiktion. Edith Wharton macht in ihren Bemerkungen zu Tolstois Kreuzersonate darauf aufmerksam: »Zwischen diesem Buch und dem ›Adolphe‹ klafft ein Abgrund. Tolstois Erzählung ist, trotz seines halben Bekenntnisses, sie sei eine Studie seiner eigenen gequälten Seele, so objektiv wie Othello. Die magische Verwandlung ist vollzogen worden. Beim Lesen der Geschichte haben wir nicht den Eindruck, uns in einer wiederbelebten realen Welt zu befinden – in einer Art von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett mit his­ torischen Kostümen –, sondern in jener anderen Welt, die das im Kopf des Künstlers umgesetzte Bild des Lebens ist, in jener Welt, in der der schöpferische Atem alles neu gemacht hat.«363 Die Moral dieser ausführlichen Kritik lautet: Die Belletristik steht, was Rang und Reinheit ihrer Schöpfung betrifft, weder der lyrischen Dichtung noch dem Drama – dem Gegenstand des nächsten Kapitels – im mindesten nach, und auch wenn ihr Material die diskursive Sprache ist, die nicht durch die Konventionen der Dichtung modifiziert und so von der gewöhn­ lichen Rede abgesetzt ist, ist das von ihr Hervorgebrachte kein Diskurs, wohl aber die Illusion unmittelbar gelebten Lebens, einer Welt, in der Denkakte und Gespräche vorkommen können. Um diese virtuelle Geschichte zu erschaffen, wählt der­ jenige, der Prosa schreibt, seine Worte ebenso sorgfältig wie der, der Verse schreibt. Mit einem Namen, einer Redewendung lässt 363

  Ebd., S. 79.



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sich in einer Geschichte auf einen Streich eine Umgebung oder eine Situation erschaffen. Nehmen wir beispielsweise die ganz eigene Romantik in Kiplings Dschungelbuch, vor allem in den Erzählungen von »Mowgli«, von denen nicht nur kleine Kinder bezaubert sind, die Geschichten mit sprechenden Tieren in der Regel besonders gern haben, sondern auch Jugendliche, ja sogar Erwachsene. Die phantastische »Realität« wird hauptsächlich durch die Sprache erzielt: Die Tiere sprechen ein archaisches Englisch, reden einander mit »thou« an, verwenden den Konjunktiv (»for we be lonely in the Jungle without thee, Little Brother«) und das reine Präsens anstelle der üblichen Verlaufsform (»I go now« statt »I am going«), daher haben ihre Reden das Flair einer Übersetzung, so dass sie auf subtile Weise wie aus der Tiersprache »übersetzt« erscheinen. Das Einstreuen von Hindiwörtern trägt seinerseits dazu bei, sie zu einer Dschungelsprache zu machen. Die Charaktere tragen zudem Hindinamen, was sie als Angehörige eines fremden Landes ausweist, und die Fremdheit wird durch ein rein dichterisches Mittel gesteigert: durch eine mit wenigen Worten überzeichnete Beschreibung einer ohnehin schon exotischen Welt. Dennoch verleihen diese Namen dem Schauplatz einen glaubwürdigen geographischen Ort; mögen sie ihn auch zu einem außergewöhnlichen machen, sie retten sie ihn gleichwohl davor, ein »Märchenland« zu sein, und geben den Geschichten den Schein der Naturnähe – näher an der Natur, als das wirkliche Leben der meisten Menschen zu sein scheint. Diese Jugendgeschichten sind höchst kunstvolle poetische Schöpfungen. Angeführt habe ich sie, weil ihr Zauber leicht zu analysieren ist und weil die Analyse zeigt, was tatsächlich in jeder gut erzählten Geschichte zu finden sein wird – dass nämlich das ganze Gefüge der illusorischen Ereignisse seine Erscheinung und seinen Gefühlswert allein daraus bezieht, wie die Äußerungen, aus denen die Geschichte aufgebaut ist, in Worte gefasst sind, wie die Sätze fließen, anhalten, sich wiederholen, für sich stehen usw., wie die Aussage sich verdichtet und erweitert, wie die Worte aufgeladen oder entblößt werden. Die Art und

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Weise des Erzählens gestaltet den Ort, die Handlung und die Charaktere in der Fiktion, und nichts kann meiner Ansicht nach so hoffnungslos falsch sein wie die von F. W. Bateson getroffene Unterscheidung zwischen Dichtung und Prosa: »Die Struktur der Prosa ist im weitesten Sinne des Wortes logisch, ihre Aussagen lassen sich letztlich immer auf eine syllogistische Form zurückführen. Ein Prosaabschnitt, jeder Abschnitt, nicht einmal die so genannte ›poetische‹ Prosa ausgeschlossen, löst sich unter dem analytischen Blick in eine Reihe von Erklärungen, Definitionen, Schlussfolgerungen auf. Dank dieser Mittel entwickelt sich das Buch. Sie bilden den Rahmen, in den sich der Inhalt der Prosa – ihr Thema – irgendwie einfügen muss […].« »Die Struktur der Dichtung auf der anderen Seite wird letztlich durch ihre Technik bestimmt […].«364 »Die Worte in einem Prosatext sind unscheinbar, weil sie Teil einer logischen Struktur sind. Es sind Spielsteine […]. Und daher hat ein Wort in einem Prosatext keinen Eigenwert […]. Die Worte in der Lyrik sind auffälliger, substanzieller, weil sie Teil einer Struktur sind, die sie selbst erschaffen.«365 Hätte Bateson nicht seine Bemerkung über die »sogenannte ›poetische‹ Prosa« eingeworfen, könnte man meinen, er weise auf den unterschiedlichen Gebrauch von Sprache im Diskurs und in der Kunst hin. Offensichtlich glaubt er jedoch, dass Verse an und für sich schöpferisch sind – selbst »Hänschen klein« – und dass Prosa an und für sich Erklärungen, Definition und Schlussfolgerungen anbietet – selbst »als die Morgensterne miteinander jubelten«366 . Der Unterschied zwischen Dichtung und Belletristik ist ausschließlich einer der Mittel und ihrer Wirkungen. Beide lite Bateson, English Poetry and the English Language, a. a. O., S. 20.   Ebd., S. 23. Ganz ähnlich setzen A. C. Ward in Foundations of English Prose (a. a. O., siehe vor allem S. 20 ff.) und Samuel Alexander in »Poetry and Prose in the Arts« (in: ders., Beauty and Other Forms of Value, Bristol 2000, S. 84–125) Prosa mit diskursiver Aussage gleich, auch wenn keiner dieser beiden es so uneingeschränkt tut wie Bateson. 366  Hiob 38, 7 [ A nm. d. Hg. ] 364 365



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rarischen Formen erzeugen die poetische Illusion, das heißt, sie erschaffen eine virtuelle Geschichte, in der sämtliche Ereignisse Erlebnisse sind – Sehnsüchte und Erregungen, Überlegungen, Gelöbnisse, Heiraten, Morde. Ins Werk gesetzt wird die Illusion durch die Verwendung von Worten, ob durch die gewundenen Zeilen einer horazischen Ode gewoben werben oder die raschen, bisweilen sogar umgangssprachlichen Sätze einer Prosaerzählung – »jene sorgfältige Kunstfertigkeit, in der der wahre Leichtsinn der Kunst liegt«.367 Literatur ist eine geschmeidige, flexible Kunst, die ihre Motive aus allen Winkeln der Welt und allen Aspekten des Lebens schöpft. Sie erschafft Orte und Geschehnisse, Gedanken, Handlungen, Personen. Der Roman kreist um die Entwicklung von Individuen, und das in einem Maße, dass das Publikum oft alle seine anderen Elemente aus dem Blick verliert und jedes Werk, das eine interessante Persönlichkeit präsentiert, als große Kunst lobt.368 Aber um lebendig zu sein, kann ein Roman sich nicht mit einer Charakterstudie begnügen; er muss die Illusion einer Welt gestalten, einer wahrgenommenen und empfundenen Geschichte – oder wie Zola sagt »eine Ecke der Schöpfung, gesehen durch ein Temperament«369. Indem er aus seiner gewohnten Rolle als rein visueller Ästhet hinaustrat, hat Clive Bell einmal ein kleines Buch über Marcel Proust geschrieben, in dem er sich nicht mit seinem eigenen ästhe­tischen Gefühl beschäftigte, sondern mit dem Geheimnis einer literarischen Schöpfung. Da er auf diesem Feld von jeglicher Verantwortung für jenes komplexe Gefühl entlastet

 Wharton, The Writing of Fiction, a. a. O., S. 48. 368  »Das Fundament einer guten Fiktion ist nichts anderes als das Erschaffen eines Charakters.« (Arnold Bennett, Is the Novel decaying?, in: ders., Things that have interested Me, Third Series, London 1926, S. 191–195, hier 193) 369  »Une œuvre d’art est un coin de la création vu à travers un tempérament.« (Émile Zola, Proudhon et Courbet, in: ders., Mes haines. Cau­ series littéraire et artistique, Paris 1893, S. 21–40, hier 25) [ A nm. d. Hg. ] 367

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war, warf er einen tiefen Blick in das Werk selbst, um zu erkennen, was es so eigenartig und doch so mächtig erscheinen ließ; und seine langjährige Vertrautheit mit anderen Künsten als der Dichtung ermöglichte es ihm, deren künstlerische Elemente wahrzunehmen, ohne dass diese von allzu vielen Prinzipien der Literaturkritik verdunkelt wurden. Vor allem aber beurteilt er Belletristik ohne Abstriche als Kunst. Über Proust sagt er: »Seine Psychologie kann kaum hoch genug geschätzt werden, allerdings ist es auch ein Leichtes, die Psychologie zu hoch zu schätzen. Das Wichtigste an der Literatur oder jeder anderen Kunst ist nicht die Psychologie. Im Gegenteil: Die höchsten Meisterwerke beziehen ihren Glanz, ihre übernatürliche Kraft nicht aus Gedankenblitzen und auch nicht aus der Charakterisierung oder dem Einblick in das mensch­ liche Herz, sondern aus der Form – und ich verwende hier das Wort in seinem reichsten Sinn, ich meine dasjenige, was die Künstler erschaffen, ihren Ausdruck. Ob man es nun »signifikante Form« nennt oder sonst irgendwie bezeichnet, die höchste Qualität der Kunst ist formal. Sie hat mit Ordnung, Aufeinanderfolge, Bewegung und Gestalt zu tun […].«370 Indem Bell über jene Form nachdenkt, wirft er ein Licht auf den Ursprung sowohl ihrer Eigenartigkeit als auch ihres Vermögens, eine neue Art von Wahrheit zu enthüllen. »Proust strapaziert unsere Geduld so lange, wie wir von seiner Geschichte erwarten, dass sie sich endlich vorwärtsbewegt: Nur ist das gar nicht die Richtung, die sie einschlagen soll. […] Ihm geht es um Zustände, nicht um Handlung. Die Bewegung ist die einer sich entfaltenden Blume oder eines sich entfaltenden Insekts. […] Wir beklagen, dass Proust überhaupt nicht vom Fleck kommt. Warum sollte er? Gibt es keine andere Entwicklungslinie im Universum?«371 Der auffälligste Zug an Proust ist sein Gefühl für die Zeit; Zeit ist nicht etwas, über das er spricht, sondern etwas, das er 370 371

  Clive Bell, Proust, London 1928, S. 67.   Ebd., S. 16.



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für unsere eigene direkte Wahrnehmung erschafft. Sie fungiert in seinen Schriften als sekundäre Illusion, so wie der Raum es in der Musik tut, und so wie die sorgfältigsten Beschreibungen des »musikalischen Raums« unbewusst ein Widerhall der Prinzipien plastischer Raumauffassung sind, so stützt sich Bells Darlegung der dichterischen Zeit-Illusion bei Proust auf einen musikalischen Vergleich und stellt Zeit als eine Gesamtheit dar, in der Gestalten und Bewegungen existieren. »Zeit ist der Stoff, aus dem À la recherche du temps perdu komponiert ist: Die Charaktere leben in der Zeit, und abstrahierte man den Zeitsinn, würden sie auf hören zu existieren. Sie entwickeln sich in der Zeit, ihre Beziehungen, ihre Farbe, ihre Ausbreitung sind allesamt zeitlich. Auf diese Weise wachsen sie; die Situationen entfalten sich wie von selbst, nicht wie Blumen, sondern wie Melodien […].« »Proust behandelt die Zeit so, wie moderne Maler den Raum behandeln. Der Maler wird nicht zulassen, dass auf dem Wege der Wissenschaft erlangte Raumverhältnisse und Gesetze der Perspektive seine Einbildungskraft einschränken.« 372 »À la recherche du temps perdu ist eine Gestalt in der Zeit, sie ist keine Arabeske über die Zeit. Sie ist dreidimensional konstruiert […].« An anderer Stelle spricht der geistreiche Kritiker von Prousts Umgang mit Tatsachen, die ja dem Dichter die »Modelle« liefern, die der Maler oder Bildhauer in Gegenständen finden; und ohne darüber nachzudenken, bezeichnet er sie als »Gegenstände«, und sein Kommentar zu Prousts Methode gleicht verblüffend der Art und Weise, in der Cézanne sich zu seinem eigenen Wert geäußert hat. »Es war die Betrachtung, die Umsetzung von Tatsachen, die den Dichter in ihm gereizt hat. Er ließ sein Auge, ganz wie die großen Impressionisten es getan haben, auf dem Gegenstand ruhen, beobachtete ihn, analysierte ihn und gab ihn wieder. Doch was er da sah, war nicht das, was die Schriftsteller seiner 372

  Ebd., S. 55 f.

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Generation gesehen haben, er sah stattdessen den Gegenstand, die Tatsache, in seiner emotionalen Bedeutung.«373 Nachdem er all diese Verfahren und Wirkungen aufgedeckt hat, die subtil jene der anderen Künste berühren, zollt Bell Prousts Erschaffen der poetischen Illusion selbst Anerkennung: »Sein Sinn für diese erfundene Welt ist so fein und zugleich so kritisch, seine Art sie wiederzugeben so lebhaft und historisch, dass man beim Lesen seines Romans den Eindruck gewinnt, man lese Memoiren.«374 Belletristik ist ein so weites Feld, dass man die Analyse ihrer Techniken und Leistungen weiter und weiter treiben könnte, doch in einem Buch, das sich mit allen Künsten beschäftigt, muss man irgendwo haltmachen. Es gibt schlicht nicht genug Platz, um den historischen Roman, die symbolische Phantasie (wie Kaf ka sie in Romanform schreibt), die fiktive Biographie (z. B. Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag), den Tendenz­ roman und die Satire zu erörtern. Eine große literarische Klasse ist allerdings noch zu betrachten: die Sachliteratur. In diese Kategorie fällt der kritische Essay, das dazu dient, die Ansichten des Verfassers vorzutragen und seine Haltung zu bestimmen; Philosophie, die Analyse von Ideen; Geschichtsschreibung, das Darlegen ermittelbarer Tatsachen einer realen Vergangenheit in ihrer kausalen Einheit; Biographie oder die persönliche Geschichte; Berichte und alle möglichen Arten von Darlegungen. Allen diesen Darstellungsarten ist die Beziehung zur Wirklichkeit gemeinsam. Der Verfasser verwendet gegebene Ereignisse, Bedingungen, Vorschläge und Theorie nicht bloß als Motive, um eine Fiktion zu entwickeln. Er erschafft nicht Personen und Geschehnisse, weil er sie für einen bestimmten Zweck braucht, vielmehr zeichnet er jeden Gegenstand, sogar bis ins winzigste Detail, nach dem Leben. Solche Schriften sind ihrem Wesen nach keine Dichtung (alle Dichtung ist fiktiv; das »Nicht  Ebd., S. 26.   Ebd., S. 79.

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Fiktive« ist »nicht-dichterisch«). Sind sie aber gut durchgeführt, erfüllen sie einen Maßstab, der wesentlich literarisch ist, das heißt einen künstlerischen Maßstab. Diskursive Texte – das ist die passende Bezeichnung für diese ganze Kategorie – ist eine höchst wichtige Form der sogenannten »angewandten Kunst«. Bei dieser Rubrik denken wir in erster Linie an Textilien, Keramik, Möbel und Reklameschilder, doch tatsächlich ist der diskursive Text das reinste Beispiel dafür. Es legt seine Beziehungen, die positiven wie die negativen, zu den freien Künsten deutlicher offen als jedes andere Beispiel. Der praktischen Regel folgend, ein Problem, das mehreren Küns­ten eigen ist, in Verbindung mit derjenigen Kunst zu behandeln, an der man es am vollkommensten sehen kann, habe ich mir die theoretische Erörterung der »angewandten Kunst« für diesen passenden, wenngleich etwas unerwarteten Kontext aufgespart. Als der »Schein« zum ersten Mal thematisiert worden ist, habe ich darauf hingewiesen, dass Schein nicht notwendig als Täuschung verstanden werden muss. Nur wenn eine vollkommen gewöhnliche Erscheinung – beispielsweise die visuelle Erscheinung eines Kruges – auf so bemerkenswerte Weise offenbar wird, dass sich das Interesse am Gegenstand allein auf seine visuelle Seite konzentriert, erscheint der Gegenstand selbst wie ein rein Sichtbares. Der Betrachter wird sich seiner Form so bewusst, wie es der Fall wäre, wenn er nichts als reine Form, also eine Illusion wäre. Buchstäbliches, logisches Denken hat eine charakteristische Form, die wir als »diskursiv« kennen, weil es die Form eines Diskurses ist. Sprache ist das wesentliche Werkzeug des Denkens, und das Produkt trägt den Stempel des Werkzeugs, mit dem es hergestellt wurde. Ein Schriftsteller, der über literarische Vorstellungskraft verfügt, nimmt selbst diese vertraute Form als Träger eines Gefühls wahr – des Gefühls, das von Natur aus dem neugierigen Denken innewohnt, die zunehmende Intensität eines Problems, während es immer komplexer und gleichzeitig bestimmter und »denkbarer« wird, bis schließlich das Verlangen nach einer Antwort dringlich wird und uns mit Ungeduld er-

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füllt; das Zurückhalten der Zustimmung, während sich die Erklärung vorbereitet; dann wie ein Schlussakkord das Gefühl der Lösung und die Erweiterung des Bewusstseins in dem neu gewonnenen Wissen. Wenn alle diese Phasen in einer ausgestalteten Passage verschmelzen, dann ist der Gedanke, wie schwierig er auch sein mag, etwas Natürliches, und der Gipfel des diskursiven Stils ist erreicht, wenn ein derartiges Gefühlsmuster, das Wort für Wort dem Fortschreiten des Arguments angepasst ist, sich darin wiederfindet. Das Argument ist das Motiv des Schriftstellers, und absolut nichts anderes sollte darin Eingang finden. Sobald er das Gefühl vom motivierenden Gedanken weglenkt, beispielsweise hin auf eine mystische oder moralische Reaktion, fördert er nicht mehr den Prozess des Verstehens. Eine subtiles Wegführen von der buchstäblichen Aussage in einem Diskurs ist die Basis dessen, was man gemeinhin »Rhetorik« nennt. In rhetorischen Schriften ist der Diskurs ein mehr oder weniger frei verwendetes Motiv. Der Autor beabsichtigt das von ihm vorgelegte Argument zustimmungsfähig erscheinen zu lassen; daran, es völlig durchsichtig zu machen, ist ihm weniger gelegen. Ein guter Diskurs strebt vor allem danach, transparent zu sein, doch nicht als Symbol des Gefühls, sondern als Träger des Sinns. Die künstlerische Funktion ist strikt an die buchstäbliche Funktion gebunden. Darum sind dergleichen Schriften auch keine Dichtung. Es steht dem Verfasser nicht frei, den Schein eines intellektuellen oder einfallsreichen Erlebnisses zu schaffen, das von seinem Motiv, einem diskursiven Gedanken, in die Reichweite seiner Einbildungskraft gerückt wird; er ist vielmehr dazu verpflichtet, ein lebendiges Erlebnis – eben das intellektuelle Erlebnis, diesem Diskurs zu folgen – ins Auge zu fassen. Das präsentierte Gefühl muss tatsächlich der dargestellten Materie, dem »Modell«, entsprechen, und ob ein darstellender Stil wirklich gut ist, hängt von zwei Faktoren statt von einem ab – von der Einheit und der Lebhaftigkeit des präsentierten Gefühls (dem einzigen Kriterium der »freien« Kunst) und der durchgehaltenen Beziehung dieses Gefühls zum tatsächlichen Fortschreiten des dargestellten Diskurses.



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Nicht viele »angewandte« Künste sind so eng an die Wirklichkeit gebunden wie das diskursive Schreiben. Daneben fällt einem noch die wissenschaftliche Zeichnung ein. In einigen alten Botanikbüchern stößt man auf kolorierte Zeichnungen von Pflanzen und die vergrößerte Detailansicht ihrer winzigen Teile, welche an Schönheit hinter Dürers Blumen und Tieren nicht zurückstehen und dabei doch akribisch einem wissenschaftlichen Ideal treu bleiben. Die Schönheit dieser Illustration liegt in der räumlichen Anordnung der Gegenstände, im Verhältnis des Feldes zu den Abbildungen, in der harmonischen Kolorierung, der stets zarten, dezenten, aber gleichwohl abwechslungsreichen Farbwahl des Hintergrunds. Die Einfachheit und Klarheit der gezeigten Formen, die botanisch genau und ausgearbeitet sein müssen, werden eher zu einer künstlerischen Konvention als zu einer künstlerischen Grenze. Derartige Zeichnungen sind Kunst, auch wenn sie der Wissenschaft dienen; wie ja auch religiöse Architektur oder Bildhauerei Kunst sind, obgleich sie im Dienste des Glaubens und der Erbauung stehen. »Angewandte Kunst« für etwas zu halten, das gewöhnlichen, banalen Objekten künstlerische Einfälle hinzufügt, ist ein fataler Irrtum. Unglücklicherweise ist genau das die Vorstellung, die im sogenannten »Kunstgewerbe« vorherrscht. Die besten Designschulen befreien sich allmählich von ihr, doch selbst ihre Mitglieder sind sich nicht immer über die genaue Beziehung zwischen Kunst und Artefakt im Klaren, die darin besteht, dass das Artefakt als das wesentliche Motiv für das Kunstwerk he­ rangezogen wird. Die geschaffene Erscheinung ist eine »echte« Erscheinung (»echt« im gewöhnlichen Sinn des Wortes, d. h. »tatsächlich«) der Gegenstand bietet sich dem Auge als das dar, was er ist, und unseren Blick hält er durch seinen Schein der organischen Einheit fest, so wie es ein dekoratives Muster tut. In der Architektur kennen wir diesen Grundsatz unter der Bezeichnung »Funktionalismus«. Mitunter ist er als oberster Grundsatz der Baukunst betrachtet worden. Ich halte das für falsch: Architektur ist wesentlich eine schöpferische Kunst. Gleichwohl gehört ein großer Teil der »angewandten Künste«

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zu ihr. Das »sozio-kulturelle Gebiet« ist in der Tat so eng mit spezifischen Funktionen verwandt, dass allein die Architektur imstande ist, die für unsere Wahrnehmung nötige Abstraktion von ihm zu leisten, und der Übergang von der frei schöpferischen Kunst zur angewandten Kunst sollte in diesem Bereich nahezu unsichtbar sein. Ähnliches gilt für den Übergang von der Fiktion, in der der thematische Stoff vollständig verwandelt und in keiner Weise als eine Wirklichkeit »gegeben« ist, zu einer echten Darlegung, in der der diskursive Gebrauch der Sprache so hervorgehoben wird, dass der tatsächliche Diskurs offensichtlich wird: Auch er ist mitunter fließend. Platons Dialoge sind eine solche »didaktische Fiktion« und viele Utopien, Allegorien und prophetische Phantasien ebenso. Formal komponierte Gebete, Glaubens­ bekenntnisse und Manifeste sind allesamt dichterisch behandelte echte Diskurse. Tatsächlich können sich alle Literaturgattungen überschneiden, denn die Trennlinien zwischen ihnen sind niemals völlig undurchlässig. Die Gattungen verdanken sich der Kraft unterschiedlicher Mittel. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich die Analyse der literarischen Formen mit der Untersuchung der Lyrik begonnen, da die lyrische Dichtung das wenigste Material verwendet, um seine poetischen Elemente zu schaffen, und daher ihr Material bis zum Äußersten ausschöpft. Logisch betrachtet mögen die größeren Entwürfe nach und nach durch das Hinzufügen mächtigerer schöpferischer Mittel aufgebaut worden sein – durch das erzählerische Moment, durch Handlungen, sogar solche der jeweiligen Zeitgeschichte, ausladende Beschreibungen, Charaktere, realistische Kulissen, Gespräche und was es sonst noch so gibt. Historisch aber hat die Herausbildung der verschiedenen Literaturtypen nicht diesen Verlauf genommen. Die älteste Form ist vermutlich die­ jenige, in der all die getrennten Entwicklungen angelegt waren: das Epos. Das Epos ist wie die echte Ballade eigentlich eine vorliterarische Dichtung, und es ist die große Matrix aller dichterischen



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Gattungen. Alle Mittel der Kunst kommen früher oder später darin vor, allerdings nie alle auf einmal. Wir finden dort lyrische Verse, die romantische Suche, Beschreibungen des Alltags­ lebens, abgeschlossene Geschehnisse, die sich wie eine Ballade lesen. In den griechischen Epen stoßen wir auf politische Konflikte, persönliche Geschichten, Charaktere, die mit ihren Taten wachsen, in der Edda gibt es Rätsel und Sprichwörter, im Kalevala kosmologische Vorstellungen, und in allen Epen Anrufungen und Lobpreisungen der Götter. Das Epos ist ein Sammel­surium literarischer Schöpfungen, das von einer Geschichte – der allumfassenden Geschichte der Welt – diffus und doch erhaben überspannt wird. Vermutlich geht die Entstehung der einzelnen literarischen Formen auf die Entdeckung zurück, dass unterschiedliche dichterische Verfahren unterschiedliche Wirkungen zeitigen, die in den aufeinanderfolgenden Teilen des Epos unterschied­liche Stimmungen und Bewegungen hervorrufen. Jedes einzelne Mittel der dichterischen Schöpfung war verwertbar und brachte eine Gattung hervor, die zwar weniger umfangreich war, dafür aber formal durchgestalteter. Zugleich könnten weniger bedeutende Ursprünge im Lied, beispielsweise in Totenklagen und Lobgesängen, magischen Äußerungen, Zaubersprüchen und mystischen Rezitationen liegen. Von den literarischen Anfängen ist uns sehr wenig bekannt. Wir wissen jedoch, dass die große dichterische Tradition in allen Sprachen erst mit der Erfindung der Schrift entstanden ist, ja erst mit der freien Verwendung von Buchstaben. Die Kunst der Worte ist keine Redekunst, die nur unzureichend durch sichtbare Symbole aufgezeichnet wird und dabei einen gewissen Schaden nimmt, sondern wird mit Fug und Recht als »Literatur« bezeichnet.

17. Kapitel Die dramatische Illusion Die meisten theoretischen Abhandlungen über Literatur beziehen ihren Stoff und ihre Belege zu gleichen Teilen aus Drama, Lyrik und erzählender Prosa. Dass in einer seriösen Untersuchung zur literarischen Kunst Shakespeare nur gelegentlich gestreift wird, mag vielen Lesern als merkwürdige Neuerung erschienen sein. Der Grund dafür ist recht einfach, und er wurde weiter oben auch schon angedeutet: Shakespeare ist in erster Linie ein Dramatiker, und das Drama ist streng genommen nicht »Literatur«. Gleichwohl zählt es zu den dichterischen Künsten, denn es erschafft die primäre Illusion aller Dichtung, nämlich virtuelle Geschichte. Seine Substanz ist ein Bild des menschlichen Lebens – seiner Ziele und Mittel, seines Gewinns und Verlusts, seiner Erfüllung, seinem Niedergang und Tod. Es ist ein Gewebe illusorischer Erfahrung, und eben das ist das wesentliche Erzeugnis der Poesis. Aber das Drama ist nicht nur eine eigene literarische Form, es ist ein besonderer dichterischer Modus, der sich von der echten Literatur genauso unterscheidet wie die Skulptur von der Malerei und diese beiden von der Architektur unterscheiden. Das bedeutet, dass das Drama seine eigene grundlegende Abstraktion vollzieht und dadurch eine eigene Möglichkeit erhält, den Schein von Geschichte herzustellen. Die Literatur projiziert das Bild des Lebens im Modus der virtuellen Erinnerung, ihr Hauptmaterial ist dabei die Sprache; der Klang und die Bedeutung von Worten, ihre gewöhnliche oder ungewöhnliche Verwendung und Ordnung, selbst ihre Darstellung auf der Druckseite erschaffen die Illusion von Leben als einem Reich von Ereignissen – vollständig, gelebt eben so, wie sie in Worte gefasst sind –, Ereignisse, die eine Vergangenheit entwerfen. Das Drama präsentiert die dichterische Illusion in



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einem anderen Licht: Sein Schein des Lebens besteht nicht aus abgeschlossenen Wirklichkeiten oder »Ereignissen«, sondern aus unmittelbaren, sichtbaren Reaktionen von Menschen. Seine grundlegende Abstraktion ist die Handlung, der in der Vergangenheit wurzelt, aber auf die Zukunft gerichtet ist und stets mit dem Kommenden schwanger geht. Wenn man Alltagsworte wie »Ereignis« oder »Akt« als analytische Termini verwendet, läuft man Gefahr, eine ganze Reihe weniger allgemeiner Begriffe ins Spiel zu bringen, die für unseren Zweck allesamt untauglich sind. In den vorangegangenen Kapiteln ist »Ereignis« in dem Sinn gebraucht worden, den Whitehead dem Wort verliehen hat, um damit alle raum-zeitlichen Vorkommnisse zu bezeichnen, darunter auch die Beständigkeit von Gegenständen, die sich wiederholenden Lebensrhythmen, das Auftreten eines Gedankens ebenso wie das eines Erdbebens. Ähnlich verstehe ich unter »Akt« jede Art von menschlicher Reaktion, sei sie physisch oder geistig. Gewöhnlich wird das Wort natürlich in spezielleren Bedeutungen verwandt. Es kann die Haupteinteilungen eines Schauspiels bedeuten: 1. Akt, 2. Akt etc.; es kann sich auf tatsächliches Verhalten beziehen, etwa überstürzte Bewegung, Hand an jemanden Legen, einen Gegenstand Nehmen oder Loslassen etc.; oder es kann eine Form der Täuschung bezeichnen, wenn beispielsweise von jemandem gesagt wird, er fühle das eine, agiere (acts) aber anders. In dem hier verwendeten allgemeinen Sinn sind jedoch alle Reaktionen Akte, sichtbare ebenso wie unsichtbare. Im Drama wird daher jede Illusion einer physischen oder geistigen Aktivität ein »Akt« genannt und die Gesamtstruktur der Akte ist eine virtuelle Geschichte im Modus des dramatischen Handelns. Ein Akt, ob er nun instinktiv oder überlegt erfolgt, ist normalerweise zukunftsgerichtet. Obwohl das Drama vergangene Handlungen einschließt (die »Situation«), bewegt es sich nicht auf die Gegenwart zu, wie dies in der Erzählung der Fall ist, sondern geht darüber hinaus und beschäftigt sich hauptsächlich mit Verpflichtungen und Konsequenzen. Auch die Personen im Drama sind reine Handelnde – und, ob bewusst oder

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blindlings, Gestalter der Zukunft. Diese vor unseren Augen entstehende Zukunft verleiht besonders den Ansätzen der dramatischen Akte ihre Bedeutung, das heißt den Motiven, aus denen die Akte entspringen, und den Situationen, in denen sie sich entwickeln. Das Prinzip, das den Zusammenhang der Bühnenhandlung vereinheitlich und organisiert, ist eben diese Gestaltung der Zukunft. Es ist wiederholt erklärt worden, das Theater schaffe einen anhaltenden Gegenwartsaugenblick, 375 allerdings ist nur eine von ihrer eigenen Zukunft erfüllte Gegenwart wirklich dramatisch. Für die schiere Unmittelbarkeit, die vergängliche direkte Erfahrung ohne die ahnungsvolle, vorwärts drängende Bewegung eines folgenreichen Handelns, gilt dies nicht. So wie der literarische Modus der Modus der Erinnerung ist, ist der dramatische der Modus des Schicksals. Die Zukunft ist, wie die Vergangenheit, ein begriffliches Gebilde, und noch offensichtlicher als die Erinnerung ist die Erwartung ein Produkt der Einbildungskraft.376 Das von der dichterischen Komposition geschaffene »Jetzt« steht immer unter der Leitung irgendeiner es übersteigenden historischen Sicht, und seine Schärfe gewinnt es nicht durch einen Vergleich mit der Wirklichkeit, sondern durch die Tatsache, dass die beiden großen Bereiche der Vorstellung (envisagement) – Vergangen  So schreibt etwa Robert Edmond Jones: »Sich des Jetzt bewusst zu werden – das ist Drama, das ist Theater.« (The Dramatic Imagination. Reflections and Speculations on the Art of the Theatre, New York 1941, S. 40) Und Thornton Wilder führt in Some Thoughts on Playwriting als eine der »vier grundlegenden Bedingungen des Dramas« an, dass »seine Handlung in einer anhaltenden Gegenwart stattfindet.« – »Auf der Bühne ist es immer jetzt.« (in: Centeno, The Intent of the Artist, a. a. O., S. 83–98, hier 93) 376  Vgl. dazu die Beobachtungen von Georg Mehlis, zitiert auf S. 439, Fn. 309. Mehlis hat das Wesen der »entfernenden« Wirkung von Erinnerung und Erwartung missverstanden, da er angenommen hat, es beruhe auf der Neigung des Menschen, das Unangenehme auszulassen und die Tatsachen auf diese Weise »ästhetisch zu verbessern«. Trotz dieses Irrtums hat er die Transformationskraft beider Projektionen ganz richtig festgehalten. 375



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heit und Zukunft – sich in der Gegenwart überschneiden, die daher nicht die rein imaginative Form der Erinnerung oder der Vorhersage aufweist, sondern über eine ihr eigentümliche Erscheinungsweise verfügt, die wir als »Unmittelbarkeit« oder als »Jetzt« bezeichnen. Im realen Leben wird die bevorstehende Zukunft nur vage empfunden. Jeder einzelne Akt ist zukunftsbezogen – wir setzen den Wasserkessel auf und erwarten, dass er kocht, wir reichen jemandem einen Geldschein und erwarten, Kleingeld zurückzubekommen, wir steigen mit dem beiläufigen Vertrauen in einen Bus, dass wir an dem gewünschten Ort wieder aussteigen werden, oder wir steigen mit der etwas größeren Sorge in ein Flugzeug, es am Ende der Reise wieder verlassen zu können. Doch für gewöhnlich haben wir keine Vorstellung der Zukunft als Gesamterfahrung, die aufgrund unserer vergangenen und gegenwärtigen Akte auf uns zukommt; ein solches Bewusstsein des Schicksals stellt sich nur in den ungewöhnlichen Augenblicken ein, in denen wir einem besonderen emotionalen Druck ausgesetzt sind. Für das Drama ist dieses Schicksalsbewusstsein jedoch unerlässlich. Erst dadurch erscheint die gegenwärtige Handlung als innerer Bestandteil der Zukunft, obgleich sich diese noch nicht entfaltet hat. Der Grund dafür ist, dass jeder im Gespräch geäußerte Gedanke, jedes Gefühl, das sich in der Stimme oder den Blicken verrät, auf der Bühne durch die Gesamthandlung bestimmt wird, deren Teil es bildet – vielleicht noch unausgereift, die bloße Andeutung eines Motivs, das bald an Kraft gewinnen wird. Bevor wir überhaupt eine Vorstellung vom kommenden Konflikt haben (also noch bevor die »Exposition« gegeben worden ist), spüren wir die sich aufbauende Spannung. Dieser Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, dem theatralischen »Gegenwartsmoment«, verdanken die Akte, Situationen und selbst Einzelelemente wie Gesten, Haltungen und Tonfall jene besondere Intensität, die wir als »dramatische Qualität« kennen. In einem wenig bekannten Band mit dem bescheidenen, unpersönlichen Titel Essays by Divers Hands (einem Band der

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»Transactions« der Royal Society of Literature in England) findet sich der sehr gedankenreiche philosophische Essay von Charles Morgan »The Nature of Dramatic Illusion«. Wie mir scheint, hat er darin die Frage sowohl formuliert als auch beantwortet, was eigentlich in dem vollständig entwickelten Werk der Dramenkunst, dem aufgeführten Stück, geschaffen wird.377 Es heißt dort: »Mit jeder Entwicklung der Dramentechnik und jeder Abweichung vom klassischen Auf bau wächst das Bedürfnis, eine neue Diskussion anzustoßen, die […] für die Bühne nicht bloß eine formale Regel festlegen, sondern eine ästhetische Disziplin aufstellen soll, die für sie hinreichend flexibel, durchdacht und unter modernen Bedingungen akzeptierbar ist.« »Ich habe mir daher das Ziel gesetzt, das Prinzip zu entde­ cken, aus dem sich eine solche Disziplin ergeben könnte. Dieses Prinzip nenne ich das Prinzip der Illusion.«378 »Illusion, so wie ich sie verstehe, ist eine in Spannung gehaltene Form. […] Die Form ist in einem Schauspiel kein Wert an sich; allein die Spannung der Form ist von Wert. Die Form in einem Stück ist und kann nicht an sich wertvoll sein, denn solange das Stück noch nicht zu Ende ist, existiert die Form nicht. […] Die Aufführung eines Stücks dauert zwei oder drei Stunden. Bis zum Schluss ist seine Form verborgen. […] »Diese in Spannung gehaltene Form, worunter die Unvollendetheit einer bekannten Vollendung zu verstehen ist, muss deutlich von der gewöhnlichen Spannung – der Spannung des Plots –, der Ungewissheit des Ausgangs, unterschieden werden, […] denn die Spannung des Plots ist ein strukturelles Akzidenz, während die in Spannung gehaltene Form, so wie ich sie begreife, für die dramatische Form wesentlich ist. […]   Charles Morgan, The Nature of Dramatic Illusion, in: R. W. Macan (Hg.), Essays by Divers Hands. Transactions of the Royal Society of Literature, New Series, Bd. 12, London 1933, S. 61–77. 378  Ebd., S. 61. 377



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Für welche Form man sich entscheidet […] ist nicht so wichtig, worauf es ankommt ist, dass eine Form im Verlauf des Dramas erfüllt wird.«379 »Erfüllt« ist das Schlüsselwort für die Idee der dramatischen Form. Selbstverständlich hat alles irgendeine Art von Form: Die berühmte Million Affen, die eine Million Jahre auf einer Million Schreibmaschinen herumtippen und zufällige Buchstabenkombinationen erzeugen, würde zahllose phonetische Formen hervorbringen (obwohl die meisten von ihnen eine Aussprache nicht eben nahelegen würden); ebenso würden die meisten ziellosen Anhäufungen von Ereignissen, Akten, Äußerungen oder was auch immer zusammengenommen eine Form produzieren. Doch solange solche Sammlungen nicht abgeschlossen sind (was einfach dann der Fall wäre, wenn man aus irgendeinem Grund aufhörte, weiter zu sammeln), wäre niemand imstande, sich ihre Form vorzustellen. Es muss ein Gespür für das Ganze geben, irgendeine Antizipation dessen, was noch folgen könnte oder sogar folgen müsste, wenn das Hervorbringen neuer Elemente den Eindruck erwecken soll, dass »eine Form erfüllt wird«. Die dramatische Handlung ist der Schein des Handelns, der so konstruiert ist, dass ein ganzes, unteilbares Stück virtueller Geschichte als noch nicht verwirklichte Form bereits implizit in ihr enthalten ist, lange bevor die Vorstellung abgeschlossen ist. Diese andauernde Illusion einer bevorstehenden Zukunft, diese lebhafte Erscheinung einer sich zuspitzenden Situation, noch bevor irgendetwas Erschreckendes geschehen ist, ist »die in Spannung gehaltene Form«. Was sich vor unseren Augen abspielt, ist ein menschliches Schicksal, dessen Einheit mit den ersten Äußerungen oder sogar einer stummen Handlung offenkundig wird, denn auf der Bühne sehen wir Akte in ihrer Gesamtheit, was uns in der realen Welt nur in der Rückschau, das heißt durch eine gedankliche Rekonstruktion, vergönnt ist. Im Theater ereignen sich die Akte mitsamt ihren ersichtlichen Motiven, Richtungen und Zwecken in einer vereinfachten, ab379

  Ebd., S. 70 ff.

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geschlossenen Form. Da die Bühnenhandlung im Gegensatz zu einer wirklichen Handlung nicht von einer Unzahl belangloser Taten und widerstreitender Interessen umgeben ist und die Bühnencharaktere keine unbekannten Seiten besitzen (wie vielschichtig sie auch sein mögen), können wir sehen, wie sich die Gefühle einer Person zu Leidenschaften steigern und diese Leidenschaften sich in Worten und Taten ausdrückt. Tatsächlich wissen wir zu Beginn eines Stückes so wenig über die Persönlichkeiten vor uns, dass jeder Schritt, jedes Wort, selbst ihre Kleidung und ihr Gang von uns als etwas Distinktes wahrgenommen werden. Da wir zu ihnen nicht wie zu realen Menschen in Beziehung stehen, können wir jeden kleinen Akt in seinem Zusammenhang sehen, ihn als Symptom des Charakters und der Umstände erkennen. Wir müssen nicht herausfinden, was bedeutungsvoll ist. Diese Auswahl ist bereits getroffen worden – was immer auf der Bühne geschieht, ist bedeutungsvoll, und es nicht so viel, als dass wir es nicht in toto überblicken könnten. Vor uns steht eine Person als stimmiges Ganzes. Und was für die Personen gilt, gilt auch für die Situationen: Beides wird auf der Bühne in einer Weise sichtbar, transparent und vollständig, wie es auf ihre Pendants in der realen Welt nicht zutrifft.380   Der Kritiker Peter Richard Rohden meint, darin, dass unsere Erkenntnis über illusionäre und reale Personen so verschieden ist, liege ein Paradox. »Was unterscheidet die Bühnenfigur vom ›wirklichen‹ Menschen? Offenbar die Tatsache, daß sie als vollgestaltete Totalität vor uns steht. Unsere Mitmenschen nehmen wir immer nur bruchstückweise wahr, und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist meist durch Eitelkeit und Begehrlichkeit so herabgemindert, daß sie gleich Null ist. Was wir ›dramatische Illusion‹ nennen, ist also das paradoxe Phänomen, daß wir um Vorgänge in der Seele eines Hamlet besser Bescheid wissen als um die Regungen unseres eigenen Innern. Denn der Dichter-Schauspieler Shakespeare zeigt nicht nur die Tat, sondern auch die Motive, und zwar so vollständig, wie wir sie im wirklichen Leben niemals beisammen sehen.« (Peter Richard Rohden, Das schauspielerische Erlebnis, in: Ewald Geißler (Hg.) Der Schauspieler, Berlin 1926, S. 36–40, hier 36.) 380



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Was aber wirklich die von Morgan als »in Spannung gehaltene Form« bezeichnete künstlerische Einheit garantiert, ist die im Drama dargestellte Illusion von Schicksal selbst, die vor allem durch die Art zustande kommt, wie der Dramatiker die dargestellten Verhältnisse behandelt. Noch bevor das Stück weit fortgeschritten ist, ist man sich nicht nur vager Lebensbedingungen im Allgemeinen bewusst, sondern erkennt eine besondere Situation. Wie die Verteilung der Figuren auf einem Schachbrett, so ergibt die Zusammenstellung der Charaktere ein strategisches Muster. Im realen Leben erkennen wir eine bestimmte Situation normalerweise erst dann, wenn es zu einer Krise kommt oder sie sich abzeichnet. Im Theater hingegen sehen wir die gesamte Konstellation der menschlichen Beziehungen und der einander widerstreitenden Interessen, lange bevor etwas Ungewöhnliches geschieht, das sie im wirklichen Leben ins Scheinwerferlicht gerückt hätte. Wo wir in der wirklichen Welt Zeuge eines außergewöhnlichen Akts geworden wären und erst allmählich verstanden hätten, welche Umstände ihm zugrunde gelegen haben, nehmen wir im Theater eine unheilvolle Situation wahr und erkennen, dass sich daraus eine weitreichende Handlung ergeben muss. So kommt es zu der eigentümlichen Spannung zwischen der präsentierten Gegenwart und ihrer noch nicht verwirklichten Folge, zur »in Spannung gehaltenen Form«, der entscheidenden dramatischen Illusion. Diese Illusion einer sichtbaren Zukunft wird in jedem Schauspiel geschaffen, nicht bloß in sehr guten Stücken, sondern in allen, die wir als solche und nicht etwa als Tanz, Festumzug oder eine andere nicht-dramatische »Theaterkunst« erkennen.381 Es handelt sich dabei um die primäre Illusion der Dichtung oder   Es könnte sein, dass Morgan mir in diesem Punkt nicht beipflichtet. Nachdem er behauptet hat, »die in Spannung gehaltene Form« sei die dramatische Illusion selbst und der Spannungszustand der Form etwas, »ohne das es kein Drama gibt«, sagt er an anderer Stelle, die dramatische Illusion sei ein sehr seltenes Erlebnis, »die höchste Belohnung des Theaterbesuchs«. Ich weiß nicht, ob er hier zwei verschiedene Begriffe verwendet oder doch nur einen, der von meinem abweicht. 381

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um virtuelle Geschichte in dem für das Drama eigentümlichen Modus. Die Zukunft erscheint bereits als eine Einheit, als keimhaft in der Gegenwart angelegt. Das ist Schicksal. Schicksal ist selbstredend immer ein virtuelles Phänomen, als nüchterne Tatsache gibt es nichts dergleichen. Es ist reiner Schein. Aber wem er »ähnelt« – oder, um es mit Aristoteles zu sagen, dessen Terminologie in jüngster Zeit wieder aufgegriffen worden ist, was er »nachahmt« – ist dennoch eine Dimension der realen Erfahrung und zwar eine grundlegende, durch die sich menschliches Leben von tierischem Dasein unterscheidet: das Bewusstsein, dass Vergangenheit und Zukunft Teile eines Kontinuums sind und das Leben daher eine einzige Wirklichkeit bildet. Dieses starke Bewusstsein, das wir unserer spezifisch menschlichen Fähigkeit verdanken, etwas symbolisch auszudrücken, wurzelt jedoch in den elementaren Rhythmen, die wir mit allen Organismen teilen, und das von der dramatischen Kunst geschaffene Schicksal trägt den Stempel des organischen Prozesses – vorausbestimmte Funktion, Tendenz, Wachstum und Vollendung. Bereits im 4. Kapitel ist im Zusammenhang mit primitiven Gestaltungen die Abstraktion dieser vitalen Formen mithilfe der Kunst betrachtet worden. Eine jede Kunst erreicht dies auf ihre eigene Weise, aber meines Erachtens mit vergleichbarer Subtilität – nicht etwa durch Verweis auf natürliche Vorkommnisse dieser Form, sondern indem sie in nicht-lebendigen oder gar nicht-physischen Strukturen reflektiert und so wirklich abstrahierend behandelt wird. »Organischer Prozess« ist wörtlich genommen ein Begriff aus der Biologie. »Leben«, Wachstum«, »Entwicklung«, »Verfall« und »Tod« – all dies sind rein biologische Begriffe. Anwenden lassen sie sich nur auf Organismen. In der Kunst werden sie aus ihrem wörtlichen Kontext herausgelöst, und was wir dann erhalten, sind keine organischen Prozesse mehr, sondern dynamische Formen: Statt Stoffwechsel beobachten wir rhythmisches Fortschreiten, statt Reiz und Reaktion Vollendung, statt Reifung Erfüllung, statt Fortpflanzung die Wiederholung des Ganzen in den Teilen – das, was



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Henry James »Spiegelung« (reflection) in den Teilen,382 Heinrich Schenker »Diminution«383 und Francis Fergusson »Analogie«384 nennt. Und anstelle eines Entwicklungsgesetzes, wie es die Biologie formuliert, haben wir in der Kunst Schicksal, die implizite Zukunft. Vitale Formen von ihren natürlichen Exemplifikationen zu abstrahieren verfolgt selbstverständlich den Zweck, sie der un­ gehinderten Verwendung durch die Künste zuzuführen. Die Illusion von Wachstum beispielsweise lässt sich in jedem Medium und auf zahllose Weise erreichen: durch langge­zogene oder fließende Linien, die überhaupt keine lebendigen Geschöpfe darstellen, durch rhythmisch ansteigende Schritte, wenn sie sich auch aufteilen oder kleiner werden, durch zunehmende Komplexität musikalischer Akkorde oder eindringliche Wiederholungen, durch einen mit der Fliehkraft spielenden Tanz, durch poetische Zeilen, die nach und nach einen tieferen Ernst annehmen; es ist nicht nötig, etwas wirklich Lebendiges »nachzuahmen«, um die Erscheinung von Leben zu vermitteln. Vitale Formen können sich in jedem Element eines Werkes spiegeln, ob sie nun Lebewesen darstellen oder auch nicht. Die Situation im Drama besitzt ihren eigenen »organischen« Charakter, das heißt sie entwickelt sich oder wächst im Fortgang des Stückes. Der Grund dafür ist, dass alle Geschehnisse, um dramatisch zu sein, in Form von Akten aufzufassen sind, und Akte gehören nur dem Leben an. Sie haben Motive und nicht Ursachen, und sie motivieren ihrerseits immer weitere Akte, die dann einheitliche Handlungen bilden. Eine Situation ist ein Komplex bevorstehender Akte. Sie verändert sich von Augenblick zu Augenblick oder besser von Schritt zu Schritt, und zwar in dem Maße, in dem die unmittelbar anstehenden Akte vollzogen werden und die jenseits ihrer liegende Zukunft deutlicher erkennbar und erfüllt von Spannung wird. Dergestalt   Henry James, Die Kunst des Romans, a. a. O., S. 19.   Vgl. Kapitel 8, S. 248. 384  Francis Fergusson, The Idea of a Theater, Princeton 1949, S. 104. 382 383

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unterscheidet sich die Situation, in der Charaktere agieren, von deren »Umwelt« – ein Begriff, mit dem sie manchmal aufgrund des Einflusses der Sozialwissenschaften verwechselt wird, der sich in der vorangegangenen Generation des Theaters bemächtigt und eine unübersichtliche, aber kurzlebige Schar soziologischer Stücke gezeugt hat, unter denen sich auch ein paar echte Dramen finden. Die Umwelt, in der die Charaktere sich entwickelt haben und die sie gehemmt oder abgehärtet, kultiviert oder nur oberflächlich geformt hat, ist fast immer implizit ( fast immer, das heißt ausgenommen dort, wo sie für jemanden im Stück bewusst interessant wird). Die Situation ist demgegenüber immer explizit. Sogar in einer unbestimmt romantischen Welt wie in der von Pelléas und Mélisande, die von jeder realen Historie entfernt und so frei von jeder Geographie ist, dass die Umgebung bloß aus Schlossmauern und einem unbewohnten Wald besteht – der Chor der Frauen in der Todesszene taucht aus dem Nichts auf, es gab davor keine Bewohner im Hintergrund, wie es sie in Shakespeares Schlössern gibt –, ist die Situation, die die Handlung auslöst, vollkommen deutlich. Tatsächlich ist die Situation ein Teil der Handlung. Sie wird vollständig vom Dramatiker konzipiert und den Schauspielern übergeben, die sie verstehen und ausführen sollen, so wie er ihnen auch die zu sprechenden Worte vorgibt. Die Situation ist ein geschaffenes Element im Stück; sie wächst, bis sie ihren Höhepunkt erreicht, und im Laufe ihrer Entwicklung verzweigt sie sich oft weit ins Einzelne, bis sie sich am Ende in der Schluss­ handlung löst. Wenn »Umwelt« überhaupt Zutritt im Drama auftaucht, dann als eine Vorstellung in den Köpfen der Personen im Stück, beispielsweise der Besucher von Elendsvierteln oder der Reformer in einem »radikalen« Problemstück. Sie selbst erscheinen allerdings nicht in einer Umwelt, denn diese soziologische Abstraktion hat im Theater keine Bedeutung. Sie erscheinen in einer Kulisse. »Umwelt« ist eine unsichtbare Konstante, »Kulisse« ist hingegen etwas Unmittelbares, etwas sinnlich oder poetisch Präsentes. Der Dramatiker kann eine Kulisse so einsetzen, wie



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Strindberg es in seinen frühen Stücken getan hat, um ein Gefühl des Alltagslebens zu erwecken, oder er kann sie für den gegenläufigen Zweck nutzen, nämlich um alles aus der Szene zu entfernen, was vertraute Assoziationen weckt, wie Wagner es mit seinen ausgefallenen Bühnenanweisungen versucht hat. Die Kulisse ist etwas stark Veränderbares, und die Dichter früherer Zeitalter pflegten sie denen zu überlassen, die ihre Stücke aufführten. Diese Praxis birgt gewisse Gefahren, sie zeugt aber auch von einem gesunden Vertrauen in die Kraft des Skripts, die theatralische Einbildungskraft anzuleiten, die es ausführen soll. In der schlichten Angabe »Theben« steckt eine große Freiheit. Mehr als jede andere Kunst oder jeder andere Modus ist das Drama veränderbar, toleranter gegenüber den Entscheidungen der ausführenden Künstler. Die vom Dramatiker festgelegte »Leitform« muss daher klar und stark sein. Sie muss das Gewirr der vielen beteiligten Einbildungskräfte ordnen und alle Beteiligten – den Regisseur, die Schauspieler, die Bühnen- und Kos­ tümbildner und die Lichtregie – auf eine wesentliche Idee, einen unmissverständlichen »poetischen Kern« verpflichten. Der Dichter muss seinen Interpreten aber auch Raum lassen, denn das Drama ist letztlich ein aufgeführtes Gedicht, und wenn die schauspielerische Leistung sich darin erschöpft, allein das zu verdoppeln, was der Text bereits erreicht, wird es zu ungewollter Redundanz kommen und zu einem Gewirr überflüssiger Elemente, die die Gesamtform verunreinigen und verdunkeln (ein solches Fehlen einer klaren Idee, nicht die Verwendung von Material, das anderen Künsten »angehört«, und auch nicht gewagte sekundären Illusionen, ist die Quelle von Unreinheit in einem Werk; wenn die Leitform organisch ist und ökonomisch umgesetzt wird, lässt sich auch ungewöhnliches Material größtenteils assimilieren, und die stärksten Wirkungen der Abstraktionen von Raum, Zeit oder Macht werden Teil des rein dramatischen Werks sein). Wenn das Drama nicht aus Worten besteht wie ein literarisches Werk, wie können wir dann vom Dichter, der nur den Text verfasst, sagen, er erschaffe die Leitform? Der Text in einem

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Stück ist bloß der Stoff für die Rede, und Rede ist nur ein Teil der Akte, die ein Drama ausmachen. Allerdings sind es Akte einer besonderen Art. Im menschlichen Leben stellt das Sprechen eine hochspezialisierte Aktivität dar, und daher wird sein Bild in allen Modi der Dichtung auf eigentümliche und eindrucksvolle Weise eingesetzt. Die sprachliche Äußerung ist der öffentliche Seite einer größeren emotionalen, geistigen und körperlichen Reaktion, und aus den gesprochenen Worten ist ersichtlich, wie sie sich im Gefühl und im Bewusstsein oder in der steigenden Intensität des Gedankens vorbereitet haben. Die Rede ist gleichsam eine Quintessenz der Handlung. In welcher Beziehung sie zu unseren übrigen Aktivitäten steht, hat Edith Wharton trefflich in ihren Ausführungen darüber formuliert, wie sie sie in ihrem eigenen dichterischen Medium, der Belletristik, verwendet: »Der Gebrauch des Dialogs in der Fiktion […] sollte den kulminierenden Augenblicken vorbehalten sein, so als sei er die Gischt, die der Beobachter an der Küste wahrnimmt, wenn die große Woge der Erzählung sich bricht.«385 Whartons Metapher der Woge ist passender als das, was sie direkt sagt, denn bei »kulminierenden Augenblicken« denkt man spontan an seltene Augenblicke, an die Höhepunkte der Geschichte, während Denken und Fühlen fortwährend in der Rede kulminieren, so wie in einer stetigen Brandung jede Welle schließlich bricht. Wenn wir der Metapher noch etwas tiefer auf den Grund gehen, weist sie uns noch auf eine weitere Beziehung hin, in der die direkte Rede zu den sie umgebenden dichterischen Elementen steht: Sie ist immer von der gleichen Art ist wie diese und in der Art ihrer Verwendung derselben grundlegenden Abstraktion unterworfen. Im erzählerischen Werk ist sie ein Ereignis wie all die anderen Ereignisse auch, die die virtuelle Vergangenheit erzeugen – die inneren Ereignisse, die in der »direkten Rede« kulminieren, die öffentlichen Ereignisse, die sich im 385

 Wharton, The Writing of Fiction, a. a. O., S. 73.



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Erleben des Sprechers kreuzen, und jene, die von der Rede als neues Ereignis hervorgebracht werden. Im Drama ist die Rede ein Akt, eine Äußerung, die von anderen, sichtbaren und unsichtbaren Akten motiviert ist, und wie diese gestaltet sie die nahende Zukunft. Ein Dramatiker, der nur den in einem Stück gesprochenen Text schreibt, kennzeichnet im Fluss der Handlung eine lange Reihe herausgehobener Augenblicke. Natürlich weist er auch auf die entscheidenden nicht-sprachlichen Akte, doch dies kann mit denkbar wenigen Worten geschehen: Auftritt So-und-so, Abgang So-und so oder mit so lakonischen Anweisungen wie: stirbt, sie kämpfen, Geschrei und Kampflärm. Moderne Dramatiker schreiben manchmal seitenlange Anweisungen für die Schauspieler, ja sie beschreiben sogar Gesicht und Gestalt der Heldin oder die Bewegungen und Haltungen einiger Figuren (Strindberg fordert vom Hauptdarsteller in Fräulein Julie, er solle wie ein Halbgebildeter aussehen!). Derartige Bühnenanweisungen sind eigentlich literarische Behandlungen der Geschichte – das, was Clayton Hamilton »als die Sorte von Bühnenanweisungen« bezeichnet hat, »die für den Leser zwar interessant, für den Schauspieler aber nutzlos sind«386 , weil sie nicht an der dramatischen Form teilhaben. Ibsen stellt seinen ersten Szenen minutiöse Beschreibungen der Personen und der Bühnengestaltung voran; seine größten Interpreten sind jedoch immer sehr frei mit ihnen umgegangen. Der Dialogtext eines Stückes ist die einzige Anleitung, die ein guter Regisseur oder Schauspieler benötigt. Zum Werk seines Verfassers wird ein Stück dadurch, dass der Text wirkliche Höhepunkte einer ständigen, fortschreitenden Handlung verkörpert und festlegen, was mit dem Stück auf der Bühne gemacht werden kann und was nicht. Da jede Äußerung am Ende eines Prozesses steht, der im Körperinneren des Sprechers begonnen hat, ist eine Äußerung   Clayton Hamilton, The Theory of the Theatre, and Other Principle of Dramatic Criticism, New York 1910, S. 307. Ein paar Absätze später bemerkt er zu Granville-Barkers Stücken: »Barkers gedruckte Bühnenanweisungen sind kleine Romane für sich.« 386

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auf der Bühne Teil eines virtuellen Akts, der scheinbar in eben jenem Augenblick dem Denken und Fühlen entspringt. Daher muss der Schauspieler, will er mit seinen Worten eine dramatische und keine rhetorische Wirkung erzielen, die Illusion einer inneren Tätigkeit schaffen, die in eine spontane Rede mündet. Wie es ein sehr interessanter Autor, Ferdinand Gregori, einmal ausgedrückt hat: »Die Gebärde ist älter als das Wort, sie ist auch im schauspielerischen Schaffen sein Ankündiger. Ob man sie vom Publikum aus sieht oder nicht, sie muß Schrittmacher sein. Wer zum Wort erst die Gebärde sucht und sie ihm folgen läßt, lügt der Kunst und der Natur gleichmäßig ins Gesicht.« 387 Die Notwendigkeit, jede Äußerung durch irgendwelche Elemente des Ausdrucks oder des Verhaltens vorzubereiten, in denen sie bereits zu ahnen ist, hat viele Theoretiker und nahe alle naiven Zuschauer zu der Annahme verleitet, ein Schauspieler müsse tatsächlich die von ihm dargestellten Gefühle erleben, er müsse seine Rolle »leben« und seine Reden und Gesten müss­ ten aus echter Leidenschaft heraus erfolgen. Selbstverständlich gibt das Bühnengeschehen nicht sein eigenes Leben wieder, doch muss er (dieser Auffassung zufolge) so tun, als sei er das von ihm dargestellte Individuum, bis er schließlich tatsächlich das empfindet, was er zeigen soll. Seltsamerweise stellen diejenigen, die diese Ansicht vertreten, sich nicht die Frage, ob der Schauspieler auch tatsächlich die Motive und Wünsche seines alter ego haben muss – das heißt, ob er wirklich beabsichtigen oder es sich zumindest wünschen muss, seinen Widersacher zu töten oder ein Geheimnis zu enthüllen. Dem Schauspieler auf der Bühne authentische Empfindungen und Gefühle zu unterstellen, wäre nicht mehr als ein landläufiger, getrost zu vernachlässigender Irrtum, wäre er nicht ein wesentlicher Bestandteil eines weiterreichenden Fehlschlusses: der Verwechslung einer Darstellung im Theater mit »Vortäuschung« oder Vorspiegelung. Durch sie sind sowohl Regisseure   Ferdinand Gregori, Die Vorbildung des Schauspielers, in: Der Schauspieler, hg. v. Ewald Geißler, Berlin 1926, S. 43–50, hier 46. 387



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als auch Dramatiker dazu verleitet worden, die Beziehung des Publikums zum Stück falsch aufzufassen, mit der Folge, dass sie sich das überflüssige und alberne Problem der Gutgläubigkeit ihrer Zuschauer aufgeladen haben. Diese Bedenken haben sich an klassischer Stelle in den Mahnungen niedergeschlagen, die Castelvetro in seiner 1570 veröffentlichten Poetik ausgesprochen hat: »Die Zeit der Darstellung und die vorgestellte Handlung müssen genau zusammenfallen. Man wird die Zuschauer nicht glauben machen können, dass viele Tage und Nächte vergangen sind, wo sie doch sicher wissen, dass tatsächlich erst ein paar Stunden verstrichen sind; sie lehnen es ab, sich derart täuschen zu lassen.«388 Eine Generation später billigte Corneille noch immer diesen Grundsatz, auch wenn er die strikte Beschränkung der dramatischen Handlung auf einen Raum und die Zeitspanne eines Theaterbesuchs beklagte. Es sei oft »so schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, dass durchaus ein Weg gefunden werden muss, den Ort, ebenso wie die Zeit, auszuweiten«389. Ein Grundsatz der Kunst, der nicht vollständig und rückhaltlos anwendbar ist und stattdessen Kompromisse und Umwege erfordert, sollte unmittelbar misstrauisch machen. Dennoch ist der Grundsatz, man müsse die Zuschauer glauben machen, sie seien Zeugen realer Ereignisse, bis in unsere Tage vertreten worden,390 und obgleich eine Reihe von Theoretikern den Irrtum   Lodovico Castelvetro, From Poetics (1570), in: J. H. Smith und E. W. Parks (Hg.), The Great Critics. An Anthology of Literary Criticism, S. 809 [Langer zitiert aus einer Anthologie, die nur wenige Sätze des Aristoteleskommentars von Castelvetro enthält. Eine deutsche Ausgabe liegt nicht vor. Anm. d. Hg.] 389  Pierre Corneille, Trois discours sur le poème dramatique, in: Frank-Rutger Hausmann, Elisabeth Gräfin Mandelsloh u. Hans Staub (Hg.), Französische Poetiken I, Stuttgart 1975, S. 132–168, hier 165. 390  Strindberg beispielsweise war davon überzeugt, dass sich das Theaterpublikum selbst irreführen lässt, dass es sich dazu bringen lässt, zu glauben oder es sich glauben macht, dass das Gesehene das reale, sich vor ihren Augen abspielende Leben ist, und er machte sich ernsthafte Sorgen darüber, was die Volkserziehung und die allgemeine 388

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erkannt haben, taucht er immer noch in zeitgenössischen Kritiken auf, und – schlimmer noch – in der Praxis des Theaters. Wir haben uns mittlerweile recht gut von der naturalistischen Epidemie erholt, von einer Bühnenkunst, die versucht hat, alles Kunstvolle zu verbannen, und sich daher lebendiges Material aus der realen Welt ausgeliehen hat – »Drogerieangestellte, dazu engagiert, sich selbst in realen Drogerien darzustellen, die physisch auf die Bühne gebracht worden sind«391, wie Robert Edmond Jones diese Art von Dramaturgie beschreibt. Nun ist es zwar richtig, dass wirkliche Kunst auch durch solche Mittel entstehen kann; kein Mittel ist an sich tabu, auch nicht Bettler auf der Bühne in von echten Bettlern erbettelte Kleider zu stecken (in seiner Autobiographie erinnert sich Edward Sothern, wie er einen solchen wenig verlockenden Schatz bekommen hat). Aber es ist eine ganz andere Sache, dass die Theorie, ein Stück sei ein vom Dichter entworfenes Spiel der »Verstellung« (make-believe), fortgeführt von den Schauspielern und unterstützt von einem Publikum, das willens ist, die Geschichte auf der Bühne für real zu halten, sich immer noch behauptet, und Hand in Hand damit ihr Gegenstück, der Grundsatz der Publikumstäuschung, die Annahme, zur öffentlichen »Verstellung« dadurch beizutragen, dass man das Stück so real wie möglich erscheinen lässt. Die ganze Vorstellung des Theaters als Täuschung hängt eng mit dem Glauben zusammen, dass das Publikum dazu bewegt Auf klärung, die man sich davon versprach, für die Gutgläubigkeit der Leute bedeutete. In dem berühmten Vorwort zu Fräulein Julie bemerkt er: »Das Theater war daher immer eine Volksschule für die Jugend, die Halbgebildeten und die Frauen, für all jene also, die noch die niedere Fähigkeit besitzen, sich Illusionen hinzugeben und den Suggestionen des Autors auszuliefern. In unserer Zeit, in der das rudimentäre, unvollständige Denken, welches die Phantasie leistet, sich mehr und mehr zu Reflexion, Analyse und Experiment entwickelt, scheint mir daher das Theater, wie auch die Religion, im Begriff zu sein, zu einer aussterbenden Kunstform zu werden, zu deren Genuß uns die nötigen Voraussetzungen fehlen; […]« (August Strindberg, Fräulein Julie/Gläu­ biger, Nördlingen 1988, S. 7). 391 Jones, The Dramatic Imagination, a. a. O., S. 44 [ A nm. d. Hg. ]



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werden soll, die Gefühle der Protagonisten zu teilen. Am leichtesten lässt sich dies bewirken, indem die Bühnenhandlung in den spannungsvollsten Augenblicken über die Bühne hinaus­ getragen wird, so dass die Zuschauer den Eindruck haben, als Zeugen des Geschehens anwesend zu sein. Künstlerisch ist das Ergebnis freilich desaströs, denn jeder Zuschauer wird sich nicht nur seiner eigenen Gegenwart bewusst, sondern auch der aller anderen sowie des Hauses, der Bühne und der darauf stattfindenden Aufführung. In ihrer Besprechung der OrsonWelles-Inszenierung von Native Son392 berichtet Rosamond Gilder von einem solchen Erlebnis. Über die Szene, in der Bigger Thomas von seinen Verfolgern gestellt wird, schreibt sie: »Hier Scheinwerfer, Pistolen, Geschrei und Schüsse gleichzeitig auf der Bühne, dem Balkon und aus den Logen. Anstatt dadurch gesteigert zu werden, zerbricht die theatralische Illusion, und die Szene verkommt zu einer Version von Elizas Flucht über das Eis von 1941.«393 Bis auf den heutigen Tag erinnere auch ich mich lebhaft an den entsetzlichen Schock, den ein solcher Einbruch der Wirklichkeit in mir auslöste: Als Kind sah ich Maude Adams in Peter Pan. Auf dem Höhepunkt der Handlung (Tinkerbell hatte Peters vergiftete Medizin getrunken, damit dieser sie nicht selber trinkt, und lag im Sterben) wandte Peter sich an die Zuschauer und forderte sie auf, ihren Glauben an Feen zu bekunden. Mit einem Schlag war die Illusion verschwunden. Hunderte von in Reihen sitzenden Kindern klatschten und riefen sogar etwas, während Miss Adams im Kostüm von Peter Pan zu uns wie eine Lehrerin sprach, die uns in ein Stück einführte, in dem sie selbst die Titelrolle spielte. Natürlich habe ich nicht verstanden, was da geschehen war, doch der Rest der Szene ging in einem   Richard Wright u. Paul Green, Native Son, New York 1941, im selben Jahr von Orson Welles in New York uraufgeführt. [ A nm. d. Hg. ] 393  Rosamond Gilder, Glamour and Purpose: Broadway in Review, in Theatre Arts 25 (1941), S. 327–335. [Eliza, eine Figur aus Onkel Toms Hütte, flieht mit ihrem Kind über das brechende Eis des Ohio vor den Häschern des Sklavenhändlers. Anm. d. Hg.] 392

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großen Jammer unter, der erst verschwand, als der Vorhang sich vor einem neuen Bühnenbild hob. Der entscheidende Fehlschluss einer solchen Bühnenproduktion und der Vorstellung vom Drama, die ihr zugrunde liegt, liegt in der völligen Missachtung dessen, was Edward Bullough in einem zu Recht berühmt gewordenen Aufsatz die »psychische Distanz« genannt hat.394 Jede Wertschätzung der Kunst – ob Malerei, Architektur, Musik, Tanz oder was auch immer – bedarf einer gewissen Distanzierung, die unter verschiedenen Bezeichnungen firmiert: »kontemplative Haltung«, »ästhetische Haltung« oder »Objektivität« des Betrachters. Wie ich bereits in einem früheren Kapitel bemerkt habe, gehört es zur Aufgabe des Künstlers, diese Haltung mit seinem Werk hervorzurufen und nicht vom Rezipienten zu erwarten, dass er mit einer idealen Gemütsverfassung an es herantritt. 395 Was der Künstler durch die Wahl seiner stilistischen Mittel etabliert, ist nicht die Haltung des Rezipienten – diese ist eine Begleiterscheinung –, sondern das Verhältnis zwischen dem Werk und seinem Publikum (ihn selbst eingeschlossen). Diese Beziehung bezeichnet Bullough als Distanz, und er weist ganz richtig darauf hin, das »Objektivität«, »Losgelöstheit« und »Haltungen« entweder vollständig oder unvollständig, das heißt vollkommen oder unvollkommen sind, aber kein mehr oder weniger zulassen. »Distanz hingegen ist von sich aus etwas Graduelles, und sie unterscheidet sich nicht nur bezogen auf das Wesen des Gegenstandes, der einen größeren oder kleineren Grad an Distanz verlangt, sie variiert auch aufgrund der indi­ viduellen Fähigkeit, einen größeren oder kleineren Grad einzuhalten.«396 Er beschreibt seinen Begriff (statt ihn zu definieren), wobei er durchaus ins Metaphorische verfällt, ohne ihn jedoch so un  Edward Bullough, ›Psychical Distance‹ as a Factor in Art and an Aesthetic Principle, in: British Journal of Psychology 5, 2 (1912), S. 87– 118. 395  Siehe Kapitel 4. 396  Bullough, ›Psychical Distance‹, a. a. O., S. 94. 394



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deutlich werden zu lassen, dass sein philosophischer Wert damit verloren geht: »Distanz […] wird dadurch gewonnen, dass der Gegenstand und sein Reiz vom eigenen Selbst getrennt, dass er aus dem Zusammenhang mit praktischen Bedürfnissen und Zwecken herausgelöst wird. […] Das heißt nun aber nicht, dass die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Gegenstand so weit aufgebrochen ist, dass sie »unpersönlich« wird. […] Im Gegenteil, sie bezeichnet eine persönliche, häufig sehr emotional gefärbte Beziehung, allerdings eine von besonderem Charakter. Ihre Besonderheit gründet darin, dass der persönliche Charakter der Beziehung sozusagen gefiltert worden ist. Sie ist von der praktischen, konkreten Natur ihres Reizes gereinigt worden. […] Eines der bekanntesten Beispiele dafür findet sich in unserer Haltung zu den Ereignissen und Personen des Dramas […].«397 Diese Beziehung »von besonderem Charakter« ist meines Erachtens unsere natürliche Beziehung zu einem Symbol, das eine Idee verkörpert und sie unserer Betrachtung präsentiert, aber nicht zu praktischen Zwecken, da sie ja »von der praktischen, konkreten Natur ihres Reizes gereinigt worden ist«. Aufgrund dieser Ablösung befasst sich die Kunst ganz und gar mit Illusionen, die, da es ihnen an einer »praktischen, konkreten Natur« fehlt, als symbolische Formen leicht in eine Distanz zu rücken sind. Doch Täuschung – selbst die der »Verstellung« zielt auf die entgegengesetzte Wirkung, die größtmögliche Nähe. Nach Täuschung, Glauben und »Teilnahme des Publikums« im Theater zu streben bedeutet, dem Drama den Kunstcharakter abzusprechen. Einige tun eben dies. Es gibt sehr ernstzunehmende Kritiker, die seinen wesentlichen Wert für die Gesellschaft nicht in jener Art von Offenbarung sehen, die der Kunst eigentümlich ist, sondern in seiner Funktion als ritueller Form. Francis Fergusson und T. S. Eliot haben sich dahingehend über das Drama   Ebd., S. 91. Selbstverständlich bezieht er sich hier auf die berühmte »ästhetische Einstellung« und betrachtet sie als einen Hinweis auf den richtigen Grad an Distanz. 397

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geäußert, 398 und einige deutsche Kritiker sahen in dem Brauch des Applaudierens einen letzten Überrest der Teilnahme des Publikums, die eigentlich dessen verlorenes Geburtsrecht ist.399 Andere betrachten das Theater nicht als Tempel, sondern als Unterhaltungsstätte und verlangen vom Drama zu amüsieren, uns für eine Weile zu täuschen, uns nebenbei moralisch zu belehren und unsere »Menschenkenntnis« zu erweitern. Brander Matthews hat die Forderung nach Amüsement – nach Amüsement jeglicher Art – auf alle Künste ausgedehnt. Da sein Ruf aber ausschließlich auf seiner Eigenschaft als Theaterkritiker und -wissenschaftler beruht, ist seine Auffassung von Kunst eigentlich dem Theater abgenommen und beiläufig auf alle anderen Bereiche erweitert worden. Er schreibt: »Der primäre Zweck aller Künste ist es zu unterhalten, auch wenn jede Kunst ihr eigenes sekundäres Ziel erreichen muss. Manches an dieser Unterhaltung richten sich an den Intellekt, anderes an die Gefühle und einiges nur an die Nerven, an unser Vergnügen an schierer Erregung und nackter Sensation; aber eine jede will uns auf ihre eigene Weise vor allem unterhalten. Jede einzelne von ihnen muss zur Unterhaltungsindustrie gezählt werden.« 400 Wie begegnen hier zweifellos zwei Extremen der Dramentheorie, und die von mir vertretene Theorie – dass das Drama Kunst ist, eine dichterische Kunst in einem besonderen Modus, mit einer eigenen Spielart der poetischen Illusion, die jedes Detail des aufgeführten Stückes bestimmt – diese Theorie liegt nicht irgendwo zwischen diesen Extremen. Das Drama ist weder   Vgl. Fergusson, The Idea of a Theater, a. a. O. – ein Buch so voller Ideen, Gelehrsamkeit und gesundem Urteil, dass ich es trotz meiner eigenen Einwände jedem Leser empfehlen würde. In A Dialogue on Dramatic Poetry lässt T. S. Eliot »E.« sagen: »Das einzige, in dem ich heute dramatische Befriedigung finde, ist ein gut ausgeführtes Hochamt.« (In: ders., Selected Essays, 1917–1932, New York 1932, S. 31–45, hier 35) 399  Zum Beispiel Theodor W. Adorno, »Applaus«, in: Die Musik 23, 1 (1930–31), S. 467; und auch Albrecht Erich Günther, »Der Schauspieler und wir«, in: Geißler, Der Schauspieler, a. a. O., S. 141–147, hier 144. 400  Brander Matthews, A Book About the Theater, New York 1916, S. 6. 398



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ein Ritual noch Showgeschäft, obwohl es sowohl im Rahmen des einen wie des anderen vorkommen kann; es ist Dichtung, was weder eine Art Zirkus noch eine Art Kirche ist. Die vielleicht größte Falle, in die wir im Verlauf unserer Überlegungen zum Theater zu geraten drohen, liegt in dessen freiem Umgang mit den üblichen Materialien aller anderen Künste. Wir sind so daran gewöhnt, jede Kunst anhand ihres charakteristischen Mediums zu definieren, dass wir Farbe, wenn sie im Theater verwendet wird, als das Ergebnis der »Malkunst« klassifizieren, und weil das Bühnenbild aufgebaut werden muss, halten wir dessen Gestalter für einen Architekten. Infolgedessen ist das Drama so oft als eine Synthese mehrerer oder sogar aller Künste beschrieben worden, dass seine Eigenständigkeit, sein Rang als besonderer Modus einer einzigen großen Kunst, stets in Gefahr ist. Es ist als eine Art Tanz betrachtet worden, indem es mit Pantomimen mit dramatischer Handlung verwechselt wurde; es ist als Tableau und als Festspiel begriffen worden, verstärkt durch Rede und Handlung (Gordon Craig sah im Gestalter seiner visuellen Aspekte den eigentlichen Schöpfer des Dramas), und einigen gilt es als eine von Gesten, manchmal auch von Tanzgesten begleitete poetische Rezitation. Diese zuletzt genannte Ansicht ist in Indien, wo sie durch die offensichtlich epischen Ursprünge des hinduistischen Schauspiel unterstützt wird, die traditionelle (wie üblich wird angenommen, die Entdeckung des Ursprungs eines Phänomens enthülle zugleich seine »wahre« Natur). Hinduistische Ästhetiker betrachten das Drama daher als Literatur und beurteilen es nach literarischen Maßstäben.401 Nietzsche machte seinen Ursprung im »Geist der   Siehe Sylvain Lévi, Le theâtre indien, Paris 1890, S. 257: »Sie [die indischen Theoretiker] pflegen das Drama als Nebeneinander zweier Künste zu betrachten, die gleichzeitig ihre jeweiligen Ziele verfolgen, nämlich Dichtung und mimetischer Tanz. […] Tanz und Maskerade, Bühnengestaltung und Kulisse verbinden sich, um die Illusion und das Vergnügen zu steigern, indem sie mehrere Sinne ansprechen. Die Darstellung überflügelt die Lektüre daher durch einen quantitativen Gefühlsunterschied, einen qualitativen Unterschied zwischen ihnen 401

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Musik« aus und hielt daher sein wahres Wesen für musikalisch. Thornton Wilder beschreibt das Drama als eine gehobene Form der Erzählung: »Das Theater treibt die Kunst der Erzählung zu höherer Kraft als der Roman oder das epische Gedicht. […] Der Dramatiker muss seinem Trieb nach ein Geschichtenerzähler sein.« 402 Geschichten zu erzählen, Erzählungen zu schreiben ist jedoch etwas ganz anderes, als eine Geschichte im Theater zu inszenieren. Viele erstklassige Geschichtenerzähler sind unfähig, ein Stück zu verfassen, und die höchste Entwicklung der Erzählung wie der moderne Roman und die Kurzgeschichte bedienen sich eigener Mittel, die für die Bühne bedeutungslos sind. Sie projizieren eine Geschichte aus dem Rückblick, während das Drama kommende Geschichte ist. Selbst als aufgeführte Künste unterscheiden Erzählung und Dramatisierung sich klar voneinander. Der antike Rhapsode war trotz all seiner Gestikulation und Stimmmodulation kein Schauspieler, und auch heute haben diejenigen, die für ihren guten Vortrag von Dichtung oder Prosa berühmt sind, deshalb noch lange kein Talent für das Theater. Die Vorstellung vom Drama als einer Literatur, die zugleich mit Reizen für den Gesichtssinn ausgestattet ist, wird am überzeugendsten in eben der Gesellschaft widerlegt, in der sie sich traditionell großer Popularität erfreut. Die Tatsache, dass das klassische Drama in Indien noch Jahrhunderte, nachdem das Sanskrit und die diversen Prakrits, aus denen es gebildet ist, zu toten, nur von Gelehrten beherrschte Sprachen geworden sind, als Volkskunst überlebt hat, beweist gerade, dass die Bühnenhandlung keine bloße Begleitung war, sondern von den Schauspielern instinktiv bis zur Unabhängigkeit entwickelt worden ist, wodurch die genauen Wortbedeutungen der Rede nebengibt es nicht.« Vgl. auch A. Berriedale Keith, The Sanskrit Drama in its Origin, Development, Theory and Practice, Oxford 1924, S. 294 f. 402  Thornton Wilder, Some Thoughts on Playwriting, in: ders., Col­ lected Plays and Writings on Theater, hg. v. J. D. McClatchy, New York 2007.



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sächlich wurden; es beweist, dass diese Form des Dramas tatsächlich »eine Dichtung des Theaters« und »eine Dichtung im Theater« ist, wie Cocteau es genannt hat. Was nun den Tanz betrifft, so ist er nicht der Ursprung des Dramas – nicht einmal derjenige der echten Pantomime –, auch wenn er vermutlich schon vor dem Drama auf die Bühne gebracht worden ist und auf seine eigene Weise dramatische Handlungen verwendet hat. Die Tatsache, dass das griechische Drama inmitten ritueller Tänze entstanden ist, hat viele Historiker der Künste dazu verleitet, in ihm eine Fortsetzung des Tanzes zu sehen; in Wahrheit bildete der Tanz lediglich den idealen Rahmen für die Entwicklung einer vollkommen neuen Kunst. In dem Augenblick, in dem die zwei Antagonisten aus dem Chor heraustraten, nicht um sich an eine Gottheit zu wenden und auch nicht an die Versammlung, sondern um sich gegenseitig anzureden, schufen sie eine poetische Illusion, und das Drama wurde inmitten des religiösen Ritus geboren. Der chorische Tanz ist seinerseits an die Welt der von ihnen dargestellten virtuellen Geschichte angepasst worden. Sobald wir anerkennen, dass das Drama weder Tanz noch Literatur und auch kein gleichberechtigtes Miteinander verschiedener Künste ist, sondern Dichtung im Modus der Handlung, treten die Beziehungen all seiner Elemente untereinander und zum ganzen Werk deutlich zutage: Der Vorrang des Texts, der die Leitform vorgibt, die Verwendung der Bühne, um die »Welt«, in der sich die virtuelle Handlung abspielt, einzugrenzen, sei es nun mit Hilfe einer realistischen Szenerie oder nicht, die Notwendigkeit, die Szene zu einem »Ort« zu machen, so dass der Bühnenbildner eine plastische Illusion herstellt, die hier sekundär ist, in der Kunst der Architektur aber primär;403   Vgl. Jones, a. a. O., S. 75: »Die Energie eines bestimmten Stückes, sein Gefühlsgehalt, gewissermaßen seine Aura, hat ihre eigenen physischen Dimensionen. Sie nimmt nur einen bestimmten Raum ein und reicht nicht weiter. Die Wände der Kulissen müssen sich genau an diesem Punkt befinden.« In einem kleinen Aufsatz mit dem Titel »Opera for the Eye« (Theatre Arts, Januar 1953, S. 59) äußert sich George 403

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der Einsatz von Musik und manchmal auch Tanz, um die fiktive Historie von der Wirklichkeit fernzuhalten und ihre künstlerische Abstraktion zu sichern;404 das Wesen der dramatischen Zeit, die eher eine »musikalische« als eine praktische Zeit ist und manchmal auf bemerkenswerte Weise sichtbar wird – eine weitere sekundäre Illusion in der Dichtung ist sie, aber die primäre in der Musik. Die Verwendung so vieler vorübergehend geborgter Illusionen lässt sich von dem Grundsatz leiten, dass eine Erscheinung hergestellt werden muss, und zwar nicht unter normalen Bedingungen, etwa eine Täuschung oder eine gesellschaftliche Konvention, sondern unter den Bedingungen des Dramas. Sein emotionaler Gesamtton ist der »Palette« eines Bildes vergleichbar und bestimmt über die Intensität von Farbe und Licht, den nüchternen oder phantastischen Charakter der Ausstattungen, das Bedürfnis nach einer Ouvertüre, einem Zwischenspiel etc. Vor allem aber orientiert sich der Stil der Schauspieler am Gefühlston. Die Schauspieler sind die Hauptinterpreten – und zwar im Normalfall die einzigen, die unverzichtbar sind – der unvollständigen, aber alles bestimmenden Kreation des Dichters. Ein Schauspieler drückt nicht seine Gefühle aus, sondern die einer erfundenen Person. Dabei durchlebt und enthüllt er nicht die Gefühle, er durchdringt sie gedanklich bis in die kleinste Einzelheit und setzt sie in Szene. Einige hinduistische Kritiker stellen die dramatische Kunst zwar hinter die in ihr enthaltenen literarischen Elemente zurück oder begegnen ihr gar mit Geringschätzung, aber dennoch verstehen sie weit besser als ihre westlichen Kollegen, was es mit den verschiedenen Aspekten des Gefühls im Theater auf sich hat, die unsere Schriftsteller so großzügig und fatal durcheinBeiswanger ganz ähnlich: »Jede Oper besitzt ihre eigenen idealen Dimensionen, und ihre Illusion muss unabhängig davon, ob die aktuelle Bühne groß oder klein ist, geschaffen werden.« 404  In seinem berühmten Vorwort zu Die Braut von Messina bezeichnet Schiller den von ihm in diesem Drama wiederbelebten griechischen Chor als »lebendige Mauer«, um die Distanz des Werks zu wahren.



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anderwerfen: die vom Schauspieler erlebten Gefühle, die von den Zuschauern erlebten, jene, die den Figuren im Stück zugeschriebenen Gefühle und schließlich das Gefühl, das durch das Stück selbst hindurchscheint – das entscheidende, vitale Gefühl, das es selbst verkörpert. Dieses letztere nennen die Hindus rasa; es ist ein Zustand emotionalen Wissens, den nur diejenigen erlangen, die sich lange mit Dichtung beschäftigt haben. Es soll übernatürlichen Ursprungs sein, denn es gleicht nicht weltlichen Empfindungen und Gefühlen, sondern ist dis­ tanziert, mehr nach Art des Geistes als der des Bauches, rein und erhebend.405 Rasa ist nun jenes Verstehen des unmittelbar erlebten oder »inneren« Lebens, das jede Kunst vermittelt. Der Status des Übernatürlichen, der ihrer Wahrnehmung zugesprochen wird, zeugt von der Verwunderung, von der die alten Theoretiker erfasst wurden, wenn sie vor der Kraft eines Symbols standen, das sie als solches nicht erkannt haben. Ein Publikum, das auf die Hilfestellungen verzichten kann, mit der die Guckkastenbühne, realistische Kulissen und Kostüme all die anderen Requisiten unserer poetischen Einbildungskraft unter die Arme greifen, haben vermutlich ein besseres Verständnis vom Drama als Kunst als wir, die wir ein derartiges Sammelsurium von Hilfsmitteln brauchen. Im indischen, chinesischen und japanischen Drama – am konsequentesten im fernöstlichen – werden nicht nur Ereignisse und Gefühle, sondern selbst Dinge aufgeführt. Zwar kennt man auch in diesen Ländern Bühnenrequisiten, aber diese werden eher symbolisch als naturalistisch eingesetzt. Selbst die Nachahmung von Gefühlen kann unter Umständen wegfallen, um den formalen Wert, die emotionale Wirkung des Stücks im Ganzen zu verstärken. Gegenstände, die in der Handlung eine Rolle spielen, werden einfach durch Gesten angedeutet.406 In Indien werden einige Requisiten eingesetzt – Wagen,  Lévi, Le thêatre indien, a. a. O., S. 295.   Vgl. Jack Chen, The Chinese Theater, London 1949; A. E. Zucker, The Chinese Theater, Boston 1925; Noël Peri, Cinq nô: Drames lyriques 405

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Drachen, selbst Elefanten – die kunstvoll aus Papier, Bambus, Lack usw. hergestellt werden, während andere der Einbildungskraft überlassen bleiben. Entscheidend scheint hier zu sein, ob sich die Handlung dem Nichtmenschlichen zuwendet. Ein König, der ganz nebenbei einen Streitwagen besteigt, deutet dessen Anwesenheit durch einen Akt an, aber in The Little Clay Cart wird der Wagen tatsächlich auf die Bühne gerollt. Europäische Zuschauer chinesischer Theaterstücke sind immer wieder überrascht und nehmen Anstoß daran, dass bisweilen das Bühnenpersonal in Alltagskleidung die Bühne betritt. Für das eingeweihte Publikum scheint es indessen zu genügen, dass die untheatralische Kleidung der Bühnenarbeiter ihre Anwesenheit als unmaßgeblich signalisiert, wie es ja auch bei uns der Fall ist, wenn ein Platzanweiser, der Besucher zu ihrem Sitz führt, in unser Blickfeld gerät. Auf Japans Bühnen ist es möglich, dass ein Schauspieler mit einem Handzeichen aus seiner Rolle heraustritt und zum Pub­ likum spricht, um dann mit einem anderen formalen Zeichen wieder in sie hineinzuschlüpfen. Ein Publikum, das ein so reines Schauspiel genießt, überlässt sich der dramatischen Illusion, ohne irgendein Bedürfnis nach sinnlicher Täuschung zu verspüren. Dennoch verlangt es nach einer Befriedigung seiner Sinne: nach prachtvollen Gewändern und Vorhängen, nach einem reichen Farbenspiel und stets nach Musik (von einer Art, die für westliche Ohren nicht zur Qualität beiträgt). Diese Elemente sorgen dafür, dass das Stück dramatisch gerade dadurch überzeugt, dass alles Wirkliche von ihm ferngehalten wird. Sie gewährleisten die »psychische Distanz« des Zuschauers, anstatt ihn aufzufordern, in der Handlung ein Stück natürliches Verhalten zu sehen. Denn im Theater, wo sich eine virtuelle Zukunft vor uns entfaltet, wird die Bedeutsamkeit jedes kleinen Aktes gesteigert, weil noch der winzigste Akt auf die Zukunft ausgerichtet ist. Was wir daher sehen, ist nicht japonais, Paris 1921. Bei Letzterem findet sich die detailreichste Darstellung dieser Technik.



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Verhalten, sondern die Selbstverwirklichung von Menschen in Tun und Leiden; und da jeder Akt von übersteigerter Bedeutung ist, werden die Gefühlsreaktionen der Personen im Stück intensiviert. Selbst Gleichgültigkeit ist eine konzentrierte und bedeutungsvolle Haltung. Da jeder Akt und jede Äußerung, die im Text des Dichters festgelegt ist, dazu dient, ein wahrnehmbares Schicksal zu schaffen, hat jedes plastische, choreographische oder musikalische Element, das dem Stück im Theater hinzugefügt wird, diese Schöpfung zu unterstützen und zu bereichern. Die dramatische Illusion ist eine dichterische, und dort, wo sie primär ist – also dort, wo wir es mit einem Drama zu tun haben –, verwandelt sie sämtliche Anleihen bei anderen Künsten in dichterische Elemente. Wie Jones es in The Dramatic Imagination formuliert: »Letztendlich ist die Bühnengestaltung nicht das Problem des Architekten, des Malers oder des Bildhauers und auch nicht das des Musikers, sondern des Dichters.«407 Erst der zum Dichter gewordene Maler (oder Architekt oder Bildhauer) versteht, welche Leitform der Autor mit dem Niederschreiben des Stücks komponiert hat, und er versetzt diese Form in den Zustand der Sichtbarkeit, und dem Schauspieler-Dichter obliegt es, das ganze Werk – die Worte, die Bühnengestaltung, die Geschehnisse und alles andere – durch die Schlussphase seiner Schöpfung zu führen, in der die Worte zu Äußerungen werden und die sichtbare Szene sich zum Vollzug virtuellen Lebens zusammenfügt. Der Dramatiker, die Hauptbesetzungen, die Darsteller auch der kleinsten Rollen, sofern sie echte Schauspieler sind, die Bühnen- und Lichtregie, die Kostümbildner, die Beleuchter, der Komponist oder Kompilator der Begleitmusik, der Ballettmeis­ ter und der Regisseur, der das Ganze zu seiner Zufriedenheit oder Unzufriedenheit begutachtet, sie alle müssen über dieselbe grundlegende Gabe verfügen: theatralische Einbildungskraft. Das Werk, zu dessen Erfolg sie betragen wollen, ist eine Einheit – eine Erscheinung des Schicksals. 407

 Jones, The Dramatic Imagination, a. a. O., S. 77.

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»Von den Griechen bis zu Ibsen hat der Schauspieler durch Vortragskunst und Gestik menschliche Charaktere und menschliches Schicksal dargestellt. […] Wenn das Drama den abstrakten Charakter der Musik oder des reinen Tanzes annimmt, hört es auf, Drama zu sein […]. Der Dramatiker ist […] ein Schriftsteller, ein Dichter, noch bevor er ein Musiker oder ein Choreograph ist. Wagner hat uns natürlich bewiesen, dass in die Orchestermusik viele dramatische Elemente einfließen können; Stummfilme haben demonstriert, wie viel sich allein mit dem visuellen Element erreichen lässt; doch selbst wenn wir Wagner und Eisenstein addieren und mit zehn multiplizieren, bekommen wir immer noch keinen Shakespeare oder Ibsen. Das besagt nicht, dass das Drama besser ist als Musik, Tanz oder die visuellen Künste. Es ist etwas anderes. […] Die Verteidiger der Künste des Theaters müssen sich vom Überschuss an Dingen im Theater haben anstecken lassen, wenn sie imstande sind zu vergessen, dass sämtliche ›Theaterkünste‹ Mittel zu einem Zweck sind: der richtigen Darstellung eines Gedichts.« 408

  Aus Eric Russell Bentley, The Drama at Ebb, in: Kenyon Review 7 2 (1945), S. 169–184, hier 176 ff. 408

18. Kapitel Die großen dramatischen Formen: der Rhythmus des Komischen Die Belletristik und das Drama sind von allen Künsten diejenigen, die am stärksten einer nicht-künstlerischen Deutung und Kritik ausgesetzt sind. So wie der Roman darunter gelitten hat, als psycho-biographisches Dokument betrachtet zu werden, hat das Drama unter dem Moralismus gelitten. Die meisten Menschen – vor allem die kompetentesten Zuschauer – haben im Theater den Eindruck, dass die Essenz des Werks, die sich vor ihren Augen entfaltet, in der sichtbaren Darstellung des Schicksals liegt. Im kritischen Rückblick vergessen sie, dass diese sichtbar wachsende Zukunft, dieses Schicksal, an das die Personen im Stück gebunden sind, die künstlerische Form ist, die der Dichter hervorbringen wollte, und dass der Wert des Stückes in dieser Gestaltung zu suchen ist. Als Kritiker behandeln sie die Form, als sei sie ein Mittel, um einen gesellschaftlichen oder moralischen Inhalt zu vermitteln; fast alle Analysen und Kommentare des Dramas beschäftigen sich mit der in der Handlung enthaltenen moralischen Auseinandersetzung, mit der Gerechtigkeit des Ausgangs, dem »Fall«, den die Gesellschaft gegen den tragischen Helden oder den komischen Schurken anstrengt, und mit der moralischen Bedeutung der verschiedenen Charaktere. Es ist richtig, dass die Tragödie in der Regel – vielleicht sogar immer – einen moralischen Kampf zeigt und dass die Komödie vielfach unsere Schwächen und Laster geißelt. Doch weder ein großes moralisches Problem noch Torheiten, die uns peinlich berühren oder zum Lachen reizen, taugen für sich genommen als künstlerisches Prinzip; weder die Moral noch der gesunde Menschenverstand können ein Bild organischer Form hervorbringen. Das Drama weist aber stets eine solche Form auf, und

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zwar indem es den Schein einer Geschichte erschafft und deren Elemente zu einer rhythmischen, einheitlichen Struktur zusammenführt. Der moralische Inhalt liefert das thematische Material, das ebenso wie alles andere, das in ein Kunstwerk einfließt, dazu dienen muss, die primäre Illusion herzustellen und die vom Künstler beabsichtigte Struktur »gefühlten Lebens« zu artikulieren. »Tragische Themen« und »komische Themen« – Schuld und Sühne, Eitelkeit und Entlarvung – bilden nicht die Essenz des Dramas, auch nicht als Bestimmungsgrößen seiner Hauptformen, Tragödie und Komödie; sie sind Mittel der dramatischen Konstruktion und also solche natürlich nicht unverzichtbar, wie weit verbreitet sie auch sein mögen. Für das europäische Drama sind sie jedoch das, was die Darstellung von Gegenständen für die Malerei ist: Quellen der großen Tradition. Moral, die Vorstellung von Tat und Buße oder davon, »was den Täter erwartet«, ist für die Kunst der virtuellen Zukunft ebenso offensichtlich ein Thema, wie es die Abbildung von Gegenständen für die Kunst des virtuellen Raums ist. Warum es diese beiden Hauptthemen gibt und warum sie ihre jeweils besonderen Inhalte haben, wird uns in dem Moment deutlich werden, wo wir das Wesen der zwei großen Formen, des komischen und des tragischen Dramas, betrachten. Üblicherweise wird angenommen, dass Komödie und Tragödie dieselbe grundlegende Form aufweisen und sich nur durch den Blickwinkel unterscheiden – durch die Haltung, die der Dichter und seine Interpreten gegenüber der Handlung einnehmen und die den Zuschauern nahegelegt wird. 409 Tatsächlich aber liegt der Unterschied tiefer als in einer unterschiedlichen   Vgl. zum Beispiel die Briefe von Athene Seyler und Stephen Haggard, die unter dem Titel The Craft of Comedy erschienen sind. Seyler schreibt dort: »[D]ie Komödie nichts als eine Perspektive. Mit einem Blick von außen kommentiert sie das Leben, beobachtet sie die menschliche Natur. […] Die Komödie scheint außerhalb einer Person oder einer Situation zu stehen und mit Lust einige ihrer Aspekte herauszustellen. Aus diesem Grund ist sie angewiesen auf die Kooperation […] des Pub­ 409



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Behandlung der Oberfläche (d. h. relative Leichtigkeit oder Pathos). Er ist strukturell und radikal. Das Drama abstrahiert die grundlegenden Formen des Bewusstseins aus der Wirklichkeit: die erste Reflexion natürlicher Tätigkeit im Empfinden, Erkennen und Erwarten, die allen höheren Lebewesen eigen ist und daher als reiner Lebenssinn (the pure sense of life) bezeichnet werden könnte, und darüber hinaus die Reflexion einer Tätigkeit, die zugleich komplexer und integrierter ist, die einen Anfang, eine Blütezeit und ein Ende kennt – der persönliche Lebenssinn oder die Selbstverwirklichung. Über das zweite verfügen vermutlich nur Menschen, und das in unterschiedlichem Maße. Der reine Lebenssinn ist das der Komödie zugrundeliegende Gefühl, das auf unzählige Weisen entwickelt ist. Einem allgemeinen Phänomen eine Bezeichnung zu verleihen bedeutet nicht, alle seine Manifestationen zu einer einzigen Sache zu machen, sondern sie unter einen Oberbegriff zu bringen. Die Kunst generalisiert weder, noch klassifiziert sie, sie führt vielmehr die Individualität von Formen aus, die vom Diskurs als wesentlich allgemeiner unterdrückt werden müssen. Der Lebenssinn ist stets neu, unendlich vielschichtig und daher, was seinen möglichen Ausdruck betrifft, unendlich wandelbar. Dieser Sinn oder dieser »Genuss« (enjoyment), wie Alexander sagen würde,410 realisiert in einem unmittelbaren Gefühl, was die organische Natur von der unorganischen unterscheidet: Selbsterhaltung, Selbstwiederherstellung, funktionale Gerichtetheit, Zweck. Das Leben ist teleologisch verfasst, die übrige Natur offensichtlich mechanisch; die zeitliche Struktur des Lebendigen in einem leblosen Universum aufrechtzuerhalten ist das elementarste, triebhafte Ziel. Ein Organismus ist danach bestrebt, unter dem Beschuss der ihn bedrängenden ziellosen Kräfte sein Gleichgewicht zu wahren, es, wenn es gestört ist, wiederherzustellen und die Folge seiner Handlungen so zu organisieren, dass der Notlikums, und im Grunde ist sie dasselbe wie das Erzählen einer guten Geschichte beim Essen.« (New York 1946, S. 9) 410  Samuel Alexander, Space, Time and Deity. The Gifford Lectures at Glasgow, 1916–1918, New York 1920, Bd. 1, S. 12.

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wendigkeit genüge getan wird, alle seine wechselseitig voneinander abhängigen Teile beständig zu erneuern und ihre Struktur intakt zu halten. Einzig Organismen haben Bedürfnisse; leblose Objekte wirbeln, fallen oder stürzen herum, sie werden zerschlagen und verstreut, zusammengeballt und aufgehäuft, ohne dass sie dem Trieb folgten, wieder zu einem Zustand oder einer Funktion zurückzukehren, die in irgend­einer Weise ausgezeichnet ist. Lebendige Dinge hingegen streben danach, sich in einem bestimmten chemischen Gleichgewicht zu erhalten, eine konstante Temperatur zu erzeugen, bestimmte Funktionen zu wiederholen und sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln, so dass sie auf eine Weise wachsen können, die in ihrer frühesten, rudimentären, protoplasmatischen Struktur angelegt ist. Das grundlegende biologische Muster, das allem Lebendi­gen eigen ist, ist der Kreislauf bedingter und bedingender orga­ni­ scher Prozesse, die den Lebensrhythmus hervorbringen. Wird dieser Rhythmus gestört, werden alle Aktivitäten im Gesamtkomplex von diesem Zusammenbruch affiziert; der Organis­ mus als ein Ganzes gerät aus den Fugen. Innerhalb einer beachtlichen Bandbreite von Bedingungen kämpft er darum, durch Überwindung und Beseitigung des Hindernisses seine ursprüngliche dynamische Form zurückzugewinnen, oder er entwickelt, wo dies nicht möglich ist, eine geringfügige Variation seiner typischen Form und Aktivität, um in einem neuen Gleichgewicht der Funktionen das Leben weiterzuführen – anders gesagt, er passt sich an die Situation an. Ein Baum beispielsweise, der des notwendigen Sonnenlichts durch die Ausbreitung anderer Bäume beraubt ist, neigt dazu, lang und dünn aufzuschießen, bis er seine eigenen Äste im Licht ausbreiten kann. Ein Fisch, dessen Schwanz zu einem großen Teil abgebissen worden ist, überwindet die Störung seines Fortbewegungsmusters, teils indem er neues Gewebe bildet, das einen Teil des Schwanzes ersetzt, teils indem er sich an seine neue Bedingung dadurch anpasst, dass er den normalen Gebrauch seiner Flossen abwandelt. Auf diese Weise schwimmt er schließlich, ohne die



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Schlagseite seines ganzen Körpers im Wasser korrigieren zu wollen, wie er es ursprünglich getan hat. Der Überlebenstrieb erschöpft sich indes nicht allein in Verteidigung und Anpassung, er zeigt sich auch in dem unterschiedlichen Vermögen der Organismen, sich bietende Möglichkeiten zu ergreifen. Betrachten wir beispielsweise, wie der Schornsteinsegler, der in Felsspalten zu nisten pflegte, sich die Resultate menschlicher Baukunst zunutze gemacht hat, und wie Mäuse unfehlbar den Weg zur Wärme und den anderen Genüssen unserer Küchen finden. Alle Lebewesen behaupten sich in einer von Katastrophen geprägten Welt dadurch, dass sie jede Gelegenheit nutzen. So sieht ganz allgemein gefasst das biologische Muster aus. Und mehr noch: Dieses Muster entwickelt sich nicht vereinzelt inmitten mechanischer Systeme. Wann und wo es auf der Erde begonnen hat, wissen wir nicht, aber alles, was wir derzeit über die Beschaffenheit der Erde wissen, spricht dafür, dass es keine »Spontanzeugung« gibt. Nur Leben bringt Leben hervor. Daher ist jeder Organismus entstehungsgeschichtlich mit anderen Organismen verbunden. Eine einzelne Zelle kann sterben oder sich teilen und ihre Identität verlieren, wenn sie ihre Protoplasmahülle neuorganisiert, die zuvor zwei Kerne statt einen enthalten hat,. Ihre Existenz als heranreifende Zelle ist eine Phase in einem kontinuierlichen biologischen Prozess, der seinen Rhythmus an bestimmten Wachstumspunkten verändert, indem er mit vervielfältigten Exemplaren der unreifen Zelle von vorne beginnt. Jedes Individuum, das bei diesem Fortschreiten stirbt (das heißt einer Katastrophe begegnet), anstatt sich zu teilen, ist ein Ableger des kontinuierlichen Prozesses, ein Zweck und kein Bruch in der gemeinschaftlichen Biographie. Es gibt elementare Lebensformen, die sich in der Luft oder im Wasser verbreiten, und einige, die sichtbare Kolonien bilden, vor allem aber gibt es genetisch verwandte organische Strukturen, die miteinander interagieren, sich gegenseitig modifizieren, sich in besonderer Weise voneinander unterscheiden und zusammen – oft zu Hunderten, Tausenden, Millionen – einen

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einzigen höheren Organismus hervorbringen. Fortpflanzung findet in solchen höheren Organismen nicht mehr durch Teilung statt, und infolgedessen ist das Individuum nicht eine vo­ rübergehende Phase in einem endlosen Stoffwechselprozess. Der Tod, bei Amöben ein Unfall, wird zum Los eines jeden Individuums, er ist kein Unfall, sondern eine Phase im Muster des Lebens selbst. In solch einem komplexen Organismus ist nur eine Klasse von Zellen »unsterblich«, nämlich diejenige, die in seiner Lebenszeit neue Individuen bildet. Bei verhältnismäßig niederen Formen individualisierten Lebens, beispielsweise den Kryptogamen, können neue Exemplare von nur einem Elternteil abstammen, so dass die Vorfahren eines Organismus eine einzige Linie bilden. Die Evolution hat jedoch hauptsächlich den Weg zu einer komplexeren Form der Vererbung beschritten: zwei komplementär aufgebaute, von verschiedenen Individuen stammende Zellen verschmelzen und wachsen zu einem gemeinsamen Abkömmling heran. Dieser komplizierte Prozess setzt voraus, dass die Gattung in zwei Geschlechter zerfällt, was sich tiefgreifend auf die Bedürfnisse und Triebe ihrer Mitglieder auswirkt. Die Qualle hat einzig das Verlangen, sich zu erhalten, sie sucht nach Nahrung und meidet, was sie zerstören könnte. Ihr Rhythmus ist durch den endlosen Stoffwechselkreis des zellulären Wachstums bestimmt, ihre einzigen Akzente bestehen aus Zellteilungen und Neuordnungen, ansonsten ist sie, abgesehen von den Phasen der einzelnen vorübergehenden Individuation, alterslos und im Prinzip auch todlos. Die höheren Organismen hingegen, die nicht durch Teilung in neue Lebenseinheiten übergehen, sind alle zum Sterben verurteilt. Einer Lebensform, die eine vollständige Individualisierung erreicht, wohnt der Tod inne. Vom endlosen protoplasmischen Leben, das von Organismus zu Organismus weitergereicht wird, hat sie allein noch die Produktion der unsterblichen Zellen, Eizelle oder Spermium, beibehalten; diese winzigen Teile des Ganzen genießen noch das lange Leben des Stamms. Der Sexualtrieb, der vermutlich nur zweigeschlechtlichen Lebewesen eigen ist – welche Äquivalente es auch immer in



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anderen Zeugungsprozessen geben mag –, ist eng mit dem Lebenstrieb verflochten; in einem reifen Organismus ist er Bestandteil des gesamten Lebensantriebs. Gleichwohl ist er ein spezialisierter Teil, denn das Leben des Individuums wird durch verschiedene Aktivitäten aufrechterhalten, die sich an viele Bedingungen anpassen können, die Fortpflanzung ist jedoch auf bestimmte Handlungen angewiesen. Diese Spezialisierung spiegelt sich im Gefühlsleben aller höher entwickelten Tiere; sexuelle Erregung ist die intensivste und zugleich die komplexeste Erfahrung. Sie weist ihren eigenen Rhythmus auf, der das ganze Geschöpf, seinen Aufstieg, seine Krise, seine Kadenz, in sehr viel höherem Maße ergreift als jede andere Gefühlsreaktion. Es ist daher nur folgerichtig, wenn die ganze Entwicklung von Fühlen, Empfindungsvermögen und Temperament für gewöhnlich aus dieser Quelle vitalen Bewusstseins hervorgeht, aus sexueller Handlung und Leidenschaft. Auch die Menschheit besitzt den Rhythmus des tierischen Daseins – die Anstrengung, inmitten der äußerlichen, blinden Kontingenzen der Welt ein vitales Gleichgewicht zu behaupten, eine Aufgabe, die durch unsere leidenschaftlichen Begierden kompliziert und erschwert wird. Der reine Lebenssinn entspringt diesem grundlegenden Rhythmus und deckt die Bandbreite vom ruhigen Wohlbefinden des Schlafs bis hin zur Intensität des Spasmus, der Wut oder der Ekstase ab. Für den Menschen ist der Lebensprozess unvergleichlich vielschichtiger als selbst für die höchsten Tiergattungen. Die menschliche Welt ist vor allem eins: verwickelt und verwirrend. Sprache und Einbildungskraft trennen sie radikal von der Welt anderer Lebewesen. Das Individuum in einer menschlichen Gesellschaft gleicht nicht dem Glied einer Herde oder eines Bienenstocks, das bloß den anderen ausgesetzt ist, die es sichtbar oder greif bar umgeben, es ist auch jenen verbunden, die im Augenblick abwesend, womöglich gar weit entfernt sind. Selbst die Toten können noch eine Rolle in seinem Leben spielen. Seine Kenntnis von Ereignissen übersteigt bei weitem den Umfang seiner physischen Wahrnehmungen. Möglich geworden ist diese große,

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von zahlreichen Bindungen durchzogene Welt durch symbolische Deutung: Und die wichtigste Fähigkeit, sie zu erforschen, ist die geistige Gewandtheit des Menschen. Das Muster seines vitalen Gefühls spiegelt daher seine tiefe Gefühlsbindung an diese seine Wirklichkeit bildenden symbolischen Strukturen, und es spiegelt auch sein Triebleben, das fast in jeder erdenklichen Weise vom Denken verändert ist – ein intelligenter Opportunismus angesichts einer wesentlichen bedrohlichen Welt. Das Wesen der Komödie ist dieses menschliche Lebensgefühl. Sie ist zugleich religiös und derb, voll Wissen und Trotz, sozial und hemmungslos individuell. Die vom Komödiendichter erschaffene Illusion von Leben ist die heraufziehende Zukunft, erfüllt von Gefahren und Gelegenheiten, das heißt von physischen oder gesellschaftlichen Zufallsereignissen, die jene Fügungen herbeiführen, mit denen die Individuen umgehen, so gut sie können. Diese unausweichliche Zukunft – unausweichlich, weil ihre zahllosen Faktoren sich dem Wissen und der Kontrolle entziehen – nennen wir Glück (Fortune). Schicksal in Gestalt des Glücks ist der Stoff der Komödie. Es entfaltet sich in der komische Handlung, der Erschütterung und Wiedererlangung des Gleichgewichts ihres Protagonisten, in seinem Ringen mit der Welt und in seinem mit Witz, Glück, persönlicher Kraft oder auch durch humorvolle, ironische oder philosophische Bejahung des Missgeschicks errungenen Sieg. Welches auch immer das Thema ist – ob ernst und lyrisch wie in Der Sturm, derb und slapstickhaft wie in den Schwänken von Hans Sachs oder geschickt und höflich wie in einer Gesellschaftssatire –, das der Komödie zugrundeliegende Gefühl ist der unmittelbare Lebenssinn, der ihr ihre rhythmisch strukturierte Einheit, das heißt ihre organische Form vorschreibt. Die Komödie ist eine Kunstform, die sich wie von selbst einstellt, wann immer Menschen sich versammeln, um das Leben zu feiern, bei Frühlingsfesten, Siegesfeiern, Geburtstagen, Heiraten oder Initiationsriten. Sie drückt nämlich die elementaren Spannungen und Spannungsauflösungen der beseelten Natur aus, die animalischen Triebe, die auch noch in der mensch­



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lichen Natur fortdauern, das Vergnügen des Menschen an seinen besonderen Geistesgaben, die ihn zum Herrn der Schöpfung machen; sie ist ein Bild der menschlichen Vitalität, die sich inmitten der Überraschungen ungeplanter Zufälle in der Welt behauptet. Die handgreiflichsten Gelegenheiten für die Aufführung von Komödien bieten Dank und Herausforderung an die Adresse des Glücks. Was den Begriff »Komödie« begründet, ist nicht die Tatsache, dass diese große Kunstform auf den Komos zurückgeht, auf den antiken rituellen Umzug zu Ehren des gleichnamigen Gottes – denn die Komödie ist in vielen Weltteilen entstanden, in denen der griechische Gott mit seiner besonderen Verehrung nicht bekannt war –, ihren Grund hat sie vielmehr darin, dass der Komos ein Fruchtbarkeitsritus war und die darin verehrte Gottheit ein Fruchtbarkeitsgott, ein Symbol für die ewige Wiedergeburt, das ewige Leben. Das grundlegende Gefühl der Tragödie ist ein anderes, und daher ist auch ihre Form eine andere. Aus diesem Grund ist auch ihr thematisches Material von dem der Komödie verschieden, und darum bestehen ihre Handlungen normalerweise aus der Entwicklung eines Charakters, großen moralischen Konflikten und Akten der Aufopferung. Das ist auch der Grund, wa­ rum die Tragödie traurig ist, während der Rhythmus der schieren Vitalität die Komödie fröhlich erscheinen lässt. Wenn wir diesen grundlegenden Unterschied verstehen wollen, müssen wir noch einmal die oben skizzierten biologischen Überlegungen aufgreifen und weiter ausführen. In den höheren Lebensformen spaltet ein Organismus sich nicht in andere Organismen auf, um so seine Existenz als Individuum ohne Tod und Zerfall angemessen zu beenden; jeder einzelne Körper treibt auf höheren Entwicklungsstufen, nachdem sein Wachstum abgeschlossen ist und er sich fortgepflanzt hat, dem Verfall und schließlich dem Tod entgegen. Sein Leben hat einen bestimmten Anfang, einen Aufstieg, einen Wendepunkt, einen Abstieg und ein Ende (abgesehen von der zufälligen Zerstörung von Leben, die aber auch Einzellern widerfahren kann); am Ende steht unvermeidlich der Tod. Tiere –

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sogar hoch entwickelte – versuchen instinktiv dem Tod zu entgehen, wenn sie plötzlich von ihm bedroht werden, erkennen aber scheinbar nicht sein Nahen, wenn sie eines natürlichen Todes sterben. Der Mensch hingegen ist sich aufgrund seines semantisch erweiterten Horizonts der Tatsache bewusst, dass die persönliche Geschichte ein Übergang von der Geburt zum Tode ist. Menschliches Leben folgt daher einem anderen subjektiven Muster als die tierische Existenz, als »gefühltes Leben« (um noch einmal Henry James’ Ausdruck zu borgen) hat es eine andere Dimension. Jugend, Reife und Alter sind ihm nicht bloß Stadien, in denen sich ein Lebewesen gerade befindet, es sind Stadien, durch die Personen hindurchgehen müssen. Leben ist eine Reise und am Ende wartet der Tod. Das Vermögen, das Leben als eine einzige Spanne zu begreifen, befähigt uns auch, seinen Gang als ein einziges Unterfangen zu denken und eine Person als ein einheitliches und entwickeltes Wesen, eine Persönlichkeit, zu betrachten. Jugend ist daher reine Möglichkeit, nicht nur was das körperliche Wachstum und die Fortpflanzung betrifft, sondern auch in Bezug auf das geistige und moralische Wachstum. Die körperliche Entwicklung vollzieht sich weitgehend unbewusst und unwillkürlich, und die sie unterstützenden Triebe sind darauf gerichtet, die vitalen Rhythmen von Augenblick zu Augenblick zu erhalten, auf die Zerstörung zu verhindern und den Organismus in seiner hoch spezialisierten Weise wachsen zu lassen. Seine Reifung, der Fortpflanzungstrieb und dann eine recht lange Periode des »Standhaltens« ohne weiteren Zuwachs und schließlich der allmähliche Verlust von Schwungkraft und Elastizität: alle diese Prozesse bilden eine organische Evolution und Auflösung. Die außergewöhnliche Aktivität des menschlichen Gehirns verläuft nicht automatisch parallel zu diesem biologischen Werdegang. Sie überholt die Ordnung der tierischen Interessen, manchmal verwirrt sie die Triebe des Menschen, manchmal steigert sie diese (so etwa wie die einfache sexuelle Leidenschaft durch die Einbildungskraft zu einer romantischen Leidenschaft und lebenslanger Treue erhöht wird) und verleiht seinem Le-



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ben ein neues Muster, das beherrscht wird von seinem Wissen um den Tod. Statt die natürlichen Stadien seiner individualisierten Existenz bloß zu durchlaufen, sinnt der Mensch über ihre Einzigartigkeit, Kürze und Beschränkungen nach, über die Lebensantriebe, die sie ausmachen, und über die Tatsache, dass die organische Einheit am Ende zerbricht, dass das Selbst sich auflösen und auf hören wird zu existieren. Es gibt viele Möglichkeiten, den Tod hinzunehmen: Die gewöhnlichste leugnet seine Endgültigkeit und stellt sich eine Fortdauer der Existenz jenseits des Todes vor – durch Auferstehung, Seelenwanderung oder die Loslösung der Seele vom Körper – und für gewöhnlich auch von der vertrauten Welt –, wonach sie als unsterblich im Hades, im Nirwana, im Himmel oder der Hölle fortexistiert. Doch was die Menschen sich auch einfallen lassen mögen, um sich mit ihrer Sterblichkeit auszusöhnen, ihre Lebensauffassung wird von ihr geprägt: Da das instinktive Streben, immer weiter zu leben, am Ende kapitulieren muss, möchten sie zwischen Geburt und Tod so viel Leben wie möglich erfahren – sie suchen nach Abenteuern, Abwechslung und Intensität im Erleben, nach dem Gefühl von Wachstum, das ein Mehr an Persönlichkeit und gesellschaftlichem Status uns verleihen kann, noch lange nachdem das körperliche Wachstum beendet ist. Die bekannte Endlichkeit des Lebens gibt diesem eine Form und lässt es nicht wie einen Prozess erscheinen, sondern wie eine Lauf bahn. Diese Lauf bahn des Individuums wird unterschiedlich aufgefasst, mal als »Berufung«, als Erreichen eines Ziels, mal als Pilgerreise der Seele, als »irdisches Jammertal« oder als Selbstverwirklichung. Die letzte dieser Bezeichnungen ist im gegenwärtigen Kontext vielleicht die aussagekräftigste, denn sie enthält die Vorstellung einer Persönlichkeit, die mit einem beschränkten Potential geboren worden ist, welches im Laufe der Gesamtaktivität des Subjekts »verwirklicht« oder systematisch entwickelt wird. Daher erscheint seine Lauf bahn wie etwas, das bereits im Subjekt angelegt ist, und seine aufeinanderfolgenden Unternehmungen in der Welt sind nichts als Herausforderungen, sein individuelles Schicksal zu erfüllen.

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Schicksal, das dergestalt als eine im Wesentlichen bereits festgelegte Zukunft betrachtet wird, für die zufällige Geschehnisse nur eine untergeordnete Rolle spielen, ist Fatum ( fate), und die in der Tragödie geschaffene »virtuelle Zukunft« ist genau dieses Fatum. Der »tragische Rhythmus der Handlung«, wie Fergusson es nennt, ist der Rhythmus eines Menschenlebens auf dem Höhepunkt seiner Kräfte, eingespannt in die Grenzen seiner einzigartigen, todesverfallenen Lauf bahn. Die Tragödie ist das Bild des Fatums, so wie die Komödie das Bild des Glücks ist. Unterscheiden tun sich die beiden in ihren grundlegenden Strukturen. Die Komödie ist ihrem Wesen nach zufallsbestimmt, episodisch und volkstümlich, sie drückt das anhaltende Gleichgewicht der reinen Vitalität aus, die der Gesellschaft gehört und sich in jedem Individuum kurzeitig exem­plifiziert findet. Die Tragödie ist dagegen Erfüllung und ihre Form daher geschlossen, endgültig und leidenschaftlich. Sie ist eine reife Kunstform, die sich nicht in allen Weltgegenden entwickelt hat, nicht einmal in allen großen Zivilisationen. Ihre Konzeption gründet notwendig auf einem Bewusstsein von Individualität, das einige Religion und Kulturen – darunter sogar Hochkulturen – nicht hervorgebracht haben. Darauf werden wir jedoch in einer späteren Diskussion zurückkommen, wenn es um das tragische Theater schlechthin geht. Im Moment möchte ich nur darauf hinweisen, wie radikal sich die beiden Dramentypen, Komödie und Tragödie, unterscheiden; allerdings handelt es sich dabei nicht um einen Gegensatz – die beiden Formen lassen sich problemlos auf unterschiedliche Weise verbinden, die eine vermag Elemente der jeweils anderen aufzunehmen. Die Matrix des Werks ist dabei stets entweder tragisch oder komisch, aber innerhalb seines Rahmens spielen die beiden oft zusammen. Dort, wo die Tragödie allgemein bekannt und anerkannt ist, erreicht die Komödie in der Regel nicht ihren Höhepunkt. Die ernste Stimmung bleibt dem tragischen Bühnenstück vorbehalten. Die Komödie kann aber durchaus ernst sein: Es gibt das Heldendrama, das Liebesdrama, das politische Drama, die alle­



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samt komödienhaft sind und gleichwohl ganz und gar ernst, und die »Historie« ist für gewöhnlich gehobene Komödie. Sie führt einen Zwischenfall im unsterblichen Leben einer Gesellschaft auf, die bei zahllosen Gelegenheiten von Glück und Unglück heimgesucht wird, aber niemals in ihrem Streben zu einem Ende kommt. Nach der Geschichte geht das Leben weiter, die Welt und der Gattungszusammenhang bereiten neues Schicksal vor. Halten wir uns an die Geschichte, so »leben« die Protagonisten, »wenn sie nicht gestorben sind, glücklich bis heute«, ob auf der Erde oder im Himmel. Diese Märchenformel darf man sich getrost am Ende der Komödie denken. Sie ist implizit in der episodischen Struktur angelegt. Dante nannte sein großartiges Gedicht eine Komödie, obwohl es darin durch und durch ernst, phantastisch, religiös und manchmal fürchterlich zugeht. Der Titel Divina Commedia, den spätere Generationen dem Werk gegeben haben, passt zu ihm, wenn auch nicht im wörtlichen Sinne, denn tatsächlich handelt es sich ja nicht, wie der Titel suggeriert. um ein Drama.411 Etwas, das dem Komödienmuster analog ist, bringt zusammen mit dem Ton hoher Ernsthaftigkeit, den europäische Dichter generell nur in Tragödien angeschlagen haben, ein Werk hervor, das zu diesem paradoxen Titel einlädt. Paradox allerdings nur für unsere Ohren, denn unser religiö­ ses Gefühl ist im Wesentlichen tragisch, beseelt von der Betrachtung des Todes. In Asien würde die Bezeichnung »Gött­ liche Komödie« auf eine Unzahl von Theaterstücken zutreffen.   Sowohl Fergusson als auch T. S. Eliot betrachten Die göttliche Ko­ mödie als Beispiel für ein echtes Drama. Der Erstgenannte spricht sogar vom »Drama Sophokles’ und Shakespeares, von Dantes Divina Comme­ dia – in denen die Idee des Theaters kurz verwirklicht worden ist« (The Idea of a Theater, a. a. O., S. 227). Doch zwischen dem Drama und der dramatischen Erzählung klaffen Welten. Wenn alles, was diese beiden herausragenden Kritiker über das große Drama sagen, auch für Dantes Gedicht gilt, dann bedeutet dies nicht, dass das Gedicht ein Drama ist, sondern dass sie zu einer Verallgemeinerung gekommen sind, die nicht allein auf das Drama zutrifft. 411

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Vor allem in Indien sind siegreiche Götter, göttliche Liebende, die nach vielen Prüfungen endlich vereint werden – wie in der ungebrochen populären Liebesgeschichte von Rama und Sita – die Lieblingsthemen eines Theaters, das keinen »tragischen Rhythmus« kennt. Das klassische Sanskritdrama ist eine Heldenkomödie – hohe Dichtung, erhabene Handlung, nahezu immer mythische Themen –, ein religiös aufgefasstes Drama, und findet doch im »komischen« Muster statt, das keine vollständige organische Entwicklung darstellt, die zu einem vorherbestimmten, unvermeidlichen Schluss gelangt, sondern episodisch bleibt, verlorengegangenes Gleichgewicht wieder herstellt und eine neue Zukunft in sich trägt. 412 Der Grund für dieses durchweg »komische« Bild des Lebens, wie es in Indien vorherrscht, liegt ziemlich auf der Hand: Sowohl Hindus als auch Buddhisten betrachten das Leben als eine Episode in der sehr viel längeren Lauf bahn der Seele, die durch viele Inkarnationen hindurchgehen muss, bevor sie ihr Ziel, das Nirwana, erreicht. Die Kämpfe, die sie in der Welt zu bestehen hat, erschöpfen sie nicht; tatsächlich sind sie es kaum wert, aufgezeichnet zu werden, es sei denn im Unterhaltungstheater, der »Komödie« in unserem Sinn – in der Satire, der Farce, dem Dialog. Einzig die Geschicke der ewigen Götter sind von ernsthaftem Interesse, und diese kennen keinen Tod, keine Grenzen ihrer Möglichkeiten und folglich auch kein zu erfüllendes Los. Es gibt nur das Gleichgewicht des Rhythmus von Empfindung und Gefühl, das sich inmitten des Wandels der materiellen Natur behauptet. Die Personen im Nataka (dem heroischen Sanskritdrama) durchlaufen keinerlei Charakterentwicklung; sie sind vom ersten bis zum letzten Akt gut oder böse. Das ist ein Wesenszug der Komödie. Da der komische Rhythmus derjenige des vitalen Fortbestands ist, verändern sich die Protagonisten nicht im Laufe des Stücks, wie sie es normalerweise in der Tragödie tun.   »Die Heldenkomödie (nataka) ist der vollendete Typus des indischen Dramas; sämtliche dramatischen Elemente finden darin ihren Platz.« (Lévi, Le thêatre indien, a. a. O., S. 32) 412



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Diese zeigt eine Entwicklung, jene Entwicklungen. Der komische Held ringt mit Hindernissen, die ihm entweder von der Natur – dazu gehören ebenso mythische Ungeheuer wie etwa Drachen, aber auch »Mächte«, personifizierte wie die »Königin der Nacht« und unpersönliche wie etwa Fluten, Feuer und Seuchen – oder von der Gesellschaft in den Weg gelegt werden, das heißt, er kämpft gegen Hindernisse und Feinde, die er dank seiner Stärke, seiner Klugheit, seiner Tugend, oder was er sonst noch in die Waagschale zu werfen hat, überwindet.413 Es ist ein Kampf mit der feindseligen Welt, um selbst Herr seiner Geschicke zu sein. Wo das grundlegende Gefühl der dramatischen Kunst immer den komischen Rhythmus aufweist, erreicht die Komödie ganz andere Höhen als dort, wo die Tragödie die höchs­ten Ehren für sich in Anspruch nimmt. In den großen Kulturen Asiens bemächtigt sie sich aller Stimmungen, von den leichtesten bis hin zu den feierlichsten, und aller Formen – des satirischen Einakters, der Farce, der Sittenkomödie und sogar des Dramas von Wagner’schem Ausmaß. In der europäischen Tradition ist der Heldenkomödie nur ein sporadischer Auftritt vergönnt gewesen. Die spanische Comedia stellt vielleicht ihre einzige populäre und verfeinerte Entwicklung dar.414 Wo sie den erhabenen Charakter des Nataka erreicht, ist unsere Komödie generell als Tragödie aufgefasst worden, und das aufgrund ihrer Würde oder »Erhabenheit«, Eigenschaften, die wir nur mit der Tragödie in Verbindung bringen. Corneille und Racine betrachteten ihre Dramen als Tragödien, doch den Rhythmus der Tragödie – das Heranreifen und die vollständige Verwirklichung einer Persönlichkeit – findet man in ih  Im chinesischen Drama besiegen selbst erhabene Helden ihre Feinde eher durch List als durch Tapferkeit. Vgl. Zucker, The Chinese Theater, a. a. O., insbesondere S. 82. 414  Brander Matthews beschreibt die Comedia so: Sie ist »oft überhaupt nicht das, was wir in der englischen Welt unter ›Komödie‹ verstehen würden, sondern eher ein mit heißblütigen Helden bevölkertes Intrigenstück […].« (Einführung, in Lope de Vega, The New Art of Writ­ ing Plays, New York 1914, S. 1–20, hier 2 f.) 413

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nen nicht; das von ihren Protagonisten erlittene Fatum ist in Wirklichkeit ein Unglücksfall, dem sie aber heldenhaft entgegentreten. Dass das klassische französische Drama seinem Wesen nach zwar traurig, aber nicht tragisch ist, ist einer Reihe von Kritikern nicht entgangen. So schreibt etwa C. V. Deane in seinem Buch Dramatic Theory and the Rhymed Heroic Play über Corneille: »In seinen Tragödien sind die Geschehnisse so angelegt, dass der Konflikt zwischen einem überwältigenden Willen und den Schicksalsmächten in aller Schärfe hervortritt, doch das Interesse richtet sich dabei auf die unerschrockene Standhaftigkeit des Individuums, und es wird kaum versucht, das allgemeine moralische Problem, das dem Wesen der Tragödie innewohnt, in den Blick zu nehmen oder zu benennen; auch halten seine Hauptcharaktere sich nicht an die gängige Moral. Jeder ist sich, aufgrund seiner besonderen Art von Heldentum, selbst das Gesetz.« 415 An einer früheren Stelle hat er bereits die Tatsache konstatiert, dass diese Dramatiker nicht die Absicht hatten, menschliche Persönlichkeiten zu erschaffen;416 und in einer Bemerkung zu Otways Übersetzung der Bérénice deckt er – möglicherweise ohne sich dessen bewusst zu sein – das wahre Wesen ihrer Tragödien auf, denn er sagt dort, es sei Otway gelungen, »den Geist des Originals wiederzugeben«, obgleich er sich nicht skrupulös an den französischen Text gehalten habe. »Selbst Otway legt eher eine Bearbeitung als eine Übersetzung vor, und dass er in seiner Version zu einem glücklichen Ende neigt, verrät eine stillschweigende Billigung der typischen poetischen Gerechtigkeit, wie englische Dramatiker (spürbar unter dem Einfluss von Corneille) sie als untrennbar vom Zusammenspiel von Heldentum und Ehre betrachteten.«417   Cecil V. Deane, Dramatic Theory and the Rhymed Heroic Play, Oxford u. London 1931, S. 33. 416  »Es trifft zwar zu, dass es dem heroischen Theaterstück im Laufe seiner Geschichte selten gelungen ist, Charaktere zu schaffen, die als Menschen glaubwürdig gewesen wären, aber das hätte auch gar nicht seinem Zweck entsprochen.« (Ebd., S. 14) 417  Ebd., S. 19. 415



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Wie kann ein Übersetzer und Herausgeber ein tragisches Schauspiel mit einem glücklichen Ende versehen und dennoch »den Geist des Originals wiedergeben«? Das ist nur möglich, weil das Stück in seinem Auf bau nicht tragisch ist, sondern einen grundlegend komödienhaften Verlauf nimmt. Diese würdevollen gallischen Klassiker sind in Wahrheit Helden­komödien. Als Tragödien gelten sie wegen ihres erhabenen Tons, den unsere europäische Tradition mit tragischer Handlung verbindet,418 tatsächlich aber – und darauf hat Sylvain Lévi hingewiesen419 – sind sie ihrem Geist und ihrer Form nach dem Nataka ähnlich. Corneilles und Racines Heldencharaktere sind in ihrer Rationalität gottgleich; so wie die göttlichen Gestalten von Kalidas und Bhavabhuti erleiden sie kein wirkliches Agon, keinen großen moralischen Kampf oder Konflikt der Leidenschaften. Ihre Moral – mag sie auch außergewöhnlich sein – ist makellos, ihre Grundsätze klar und verständlich, und die Handlung ergibt sich aus den Schicksalsschlägen, die sie erleiden. Der Zufall kann ihnen traurige oder glückliche Gelegenheiten eröffnen, und   Diese Verbindung ist so stark ausgeprägt, dass einige Kritiker »Erhabenheit« tatsächlich als eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Tragödie betrachten. Racine selbst schreibt: »Es genügt, wenn ihre Handlung Größe zeigt, ihre Schauspieler Helden sind, die Leidenschaften in ihr erregt werden und das Ganze den Eindruck majestätischer Traurigkeit vermittelt, denn darauf beruht das ganze Vergnügen an der Tragödie.« (Zitiert bei Fergusson, The Idea of a Thea­ ter, a. a. O., S. 43.) 419 Die gleichen Kriterien werden offenbar auch von Zucker angewendet, wenn er schreibt: »Im chinesischen Drama findet sich keine Tragödie. Traurige Situationen kennt das chinesische Drama in Hülle und Fülle, doch keine von der Art, dass sie wegen ihres Adels oder ihrer Erhabenheit die Bezeichnung ›tragisch‹ verdiente« (The Chinese Theater, a. a. O., S. 37). Jack Chen hingegen sagt, dass während der QingDynastie »die historische Tragödie groß in Mode war. The Bloodstained Fan, der von den letzten Tagen der Ming handelt, und The Palace of Eternal Life […] sind auch heute noch ungebrochen populär« (The Chi­ nese Theater, a. a. O., S. 20). Das letztgenannte Stück, das den Tod der Dame Yang schildert, ist zweifellos eine echte Tragödie. Vgl. Lévi, Le théâtre indien, a. a. O., S. 425. 418

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ein anderer Verlauf der Ereignisse muss nicht gegen »den Geist des Originals« verstoßen. Es steht jedoch außer Frage, wie die Helden auf die Umstände reagieren werden; sie werden ihnen rational entgegentreten; die Vernunft, die höchste Tugend der menschlichen Seele, wird den Sieg davontragen. Die Vernunft wächst nicht an den inneren Kämpfen gegen die hinderlichen Leidenschaften, sie ist nicht zunächst ein Funke, der dann zu einer hellen Flamme wird, wie »der tragische Rhythmus der Handlung« es fordern würde, sie ist vielmehr von Anfang an vollkommen.420 Das romantische Drama, beispielsweise Schillers Wilhelm Tell, veranschaulicht dasselbe Prinzip. Es ist eine andere Gattung der ernsten Heldenkomödie. Tell tritt zu Beginn des Stü­ ckes als eine vorbildliche Person auf, als Bürger, Ehemann, Vater, Freund und Patriot. Als sich die politische und soziale Krise zuspitzt, zeigt er sich der Lage gewachsen, besiegt den Feind, befreit sein Land und kehrt zum Frieden, zur Würde und zum harmonischen Glück seines heimischen Herdes zurück. Das Gleichgewicht des Lebens ist wiederhergestellt worden. Als Person ist er beeindruckend, als Persönlichkeit sehr schlicht. Unter offensichtlichen Umständen zeigt er die normalen Gefühls­ reaktionen: rechtschaffene Empörung, Vaterliebe, patriotische Glut, Stolz, Furcht. Der Gang der Handlung verlangt von ihm an keiner Stelle mehr, als ein Mann von großem Mut, von Freiheitsliebe und all den anderen Tugenden zu sein, deren sich die Schweizer Bergbewohner rühmen, um der Überheblichkeit und   Vgl. Fergussons Analyse der Bérénice: »Die Dialogszenen entsprechen den Agonien, doch der höfliche Austausch zwischen Arsace und Antiochus im ersten Akt ist weit entfernt von dem schrecklichen Konflikt zwischen Ödipus und Teiresias, in dem es um die Moralität der Antagonisten geht. […] [In der Bérénice] steht die Moralität nie in Frage, und solange das Leben auf der Bühne fortgeht, kann sie auch unmöglich verloren gehen. […] [D]ie Möglichkeit, miteinander zu verkehren, hängt selbst von der Macht der Vernunft ab, die dafür sorgt, dass die Moralität unter allen Umständen erhalten bleibt. […] Wenn aber die Moralität ex hypothesi gesichert ist, […] kann es überhaupt kein Pathos im Sophokleischen Sinn geben.« (The Idea of a Theater, a. a. O., S. 52) 420



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der Eitelkeit der fremden Unterdrücker entgegenzutreten. Dieses Ideal eines Mannes war er schon vom ersten Augenblick an, und der Vorfall mit Gessler bietet ihm nur die Gelegenheit, seine Unbeugsamkeit und seinen Wagemut unter Beweis zu stellen. Von dieser Art sind die ernsten Erzeugnisse der komischen Kunst; es sind auch ihre selteneren Beispiele. Die natürliche Atmosphäre der Komödie ist humorvoll – und das so sehr, dass »komisch« zum Synonym von »lustig« geworden ist. In der Komödie finden sich alle möglichen Grade von Humor, von der schlagfertigen Antwort, die uns durch ihre Pfiffigkeit ein Lächeln entlockt, ohne dass sie an sich lustig wäre, bis hin zur Absurdität, die Jung und Alt, die schlichten oder die gebildeten Gemüter laut auflachen lässt. Humor hat seinen Platz in allen Künsten, im komischen Drama aber ist er zu Hause. Die Komödie mag frivol, possenhaft, zotig, lächerlich in allen Schattierungen sein und dennoch echte Kunst. Das Gelächter entzündet sich an ihrem Auf bau. Zwischen dem Humor und dem »Lebenssinn« besteht eine enge Beziehung, und man hat immer wieder versucht, ihn zu analysieren, um das Fundament dieser charakteristisch menschlichen Tätigkeit, des Lachens, zu finden. Alle diese Versuche haben meines Erachtens hauptsächlich daran gekrankt, dass sie alle von folgender Frage ausgegangen sind: Welche Art von Dingen löst Gelächter aus? Zweifellos wird Lachen oft von Vorstellungen, Erkenntnissen, Phantasien ausgelöst; es begleitet bestimmte Gefühle wie beispielsweise Geringschätzung und manchmal Gefühle von Lust. Wir lachen allerdings auch, wenn man uns kitzelt (was überhaupt nicht vergnüglich sein muss), und aus Hysterie. Solche überwiegend physiologischen Ursachen stehen in keiner direkten Beziehung zum Humor; auch manche Arten der Lust haben nichts mit ihm zu tun. Humor ist eine der Ursachen des Lachens. Marcel Pagnol, der seine Theorie des Lachens in einem schmalen Bändchen mit dem Titel Notes sur le rire veröffentlicht hat, bemerkt, dass alle seine Vorgänger – erwähnt werden vor allem Bergson, Fabre, Mélinand – die Quelle des Lachens

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in lustigen Dingen oder Situation gesucht haben, das heißt in der Natur, während sie doch eigentlich in dem Subjekt zu suchen sei, das da lacht. Lachen zeugt ausnahmslos immer von einem plötzlichen Gefühl von Überlegenheit. »Lachen ist ein Triumphlied«, sagt er. »Es drückt die plötzliche Entdeckung des Lachenden aus, dass er der Person, über die er lacht, im Augenblick überlegen ist.« Das, behauptet er, »erklärt alle Ausbrüche von Gelächter zu allen Zeiten und in allen Ländern«, und daher seien wir von der Aufgabe entbunden, das Lachen hinsichtlich seiner verschiedenen Arten oder Ursachen zu klassifizieren: »Die Radien eines Kreises lassen sich ja auch nicht nach Kategorien einteilen oder ordnen.« 421 Kaum hat er das gesagt, unterteilt er das Lachen in »positive« und »negative« Arten, je nachdem ob es einem sozialen oder antisozialen Impuls folgt. Das deutet darauf hin, dass wir uns immer noch mit lächerlichen Situationen beschäftigen, obwohl diese Situationen immer die Person einschließen, der sie lächerlich vorkommen. Wir können daher sagen: »Die Quelle des Komischen liegt im Lachen.«422 Zudem muss das Subjekt die entsprechende Situation erst entdecken, Lachen erfordert also immer eine Vorstellungskomponente. Darin ist sich Pagnol mit Bergson, Mélinand und Fabre einig. Ob wir, Bergsons viel diskutierter Auffassung zufolge, Lebewesen sehen, die den Gesetzen der Mechanik folgen, oder, wie Mélinand meint, Widersinniges inmitten von Plausiblem ausmachen oder, wie Fabre denkt, Verwirrung stiften, nur um sie plötzlich wieder aufzu­lösen, in jedem Fall empfinden wir unsere eigene Über­legenheit, wenn wir das Element des Irrationalen entdecken, oder, um es genauer zu sagen, wie fühlen uns denjenigen überlegen, die mechanische Handlungen vollziehen, Widersinniges einbringen oder Verwirrungen auslösen. Pagnol behauptet daher, seine Definition des   Marcel Pagnol, Notes sur le rire, Paris 1947, S. 41. Seine Argumentation bleibt leider weit hinter seinen Ideen zurück und führt ihn am Schluss dazu, den Gesang der Nachtigall und den Schrei des Hahns ebenfalls als Formen von Lachen zu behandeln. 422  Ebd., S. 17. 421



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Lachhaften treffe auf alle diese angeblich typischen Situationen zu. Möglicherweise verhält es sich so, dennoch ist die Definition noch immer zu eng. Das Lächerliche erklärt so wenig das Wesen des Lachens wie das Rationale das Wesen der Vernunft. Die letztendliche Quelle des Lachens ist physiologisch, und die verschiedenen Situationen, in denen es sich einstellt, sind einfach ihre normalen oder abnormalen Stimuli. Lachen oder die Neigung zu lachen (die Reaktion kann ja auch vor der tatsächlichen Verkrampfung der Atmung haltmachen und lediglich die Gesichtsmuskulatur affizieren oder sogar ganz unterdrückt werden) scheint sich aus der Aufwallung des vitalen Gefühls zu ergeben. Die Aufwallung mag ziemlich gering sein, gerade einmal plötzlich genug, um deutlich spürbar zu sein. Sie kann auch groß und nicht besonders rasch sein und eine ausgeprägte Klimax erreichen, so dass wir an diesem Punkt in ein freudiges Gelächter oder Lächeln ausbrechen. Lachen ist, anders als das einzelne Wort suggeriert, kein einfacher offener Akt; es ist das eindrucksvolle Ende eines komplexen Prozesses. Wie eine geistige Aktivität in der Rede kulminiert, so kulminiert ein Gefühl im Lachen – es ist gleichsam der Wellenkamm gefühlter Vitalität. Ein plötzliches Überlegenheitsgefühl schließt einen solchen »Aufschwung« des vitalen Gefühls ein. Der »Aufschwung« kann freilich auch stattfinden, ohne dass wir uns selbst schmeicheln; wir brauchen uns nicht über irgendjemanden lustig zu machen. Ein Kleinkind lacht über das ganze Gesicht, wenn plötzlich, wieder und wieder, über dem Rand seiner Wiege oder hinter einem Stuhl hervor ein Spielzeug auftaucht. Man müsste schon eine sehr kunstvolle Interpretation liefern, um zu zeigen, dass diese Erfüllung seiner gespannten Erwartung ein Über­legenheitsgefühl in ihm auslöst. Wem gegenüber über­ legen? Der Puppe? Ein acht oder neun Monate altes Kind ist noch nicht so weit sozialisiert, dass es denke könnte »Ich wusste doch, dass du auftauchen würdest!«, und meinen, die Puppe könne es nicht hereinlegen. Es bedarf der Sprache und der nöti-

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gen Erfahrung, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, um sich auf diese Weise selbst applaudieren zu können. Das Kind lacht, weil sein Wunsch erfüllt worden ist; nicht weil es glaubt, die Puppe gehorchte seinen Wünschen, sondern einfach weil die Spannung sich auflöst und seine Energien freigesetzt werden. Das plötzliche Vergnügen steigert seinen allgemeinen Gefühls­ ton und darum lacht es. Beim sogenannten »Galgenhumor« – dem herben Lachen in Notlagen – besteht der »Aufschwung« des vitalen Gefühls einfach in einem Aufzucken der Selbstbehauptung. Etwas Ähnliches ist vermutlich auch der Grund für das freudlose hysterische Lachen: In der konfusen Reaktion einer hysterischen Person bricht sich das Vitalitätsgefühl krampfartig durch die Angst und Niedergeschlagenheit Bahn, so dass es ein schallendes, sich manchmal mit Schluchzen und Tränen abwechselndes Lachen auslöst. Lachen ist in der Tat etwas viel Elementares als Humor. Häufig lachen wird, ohne dass wir eine Person, ein Objekt oder eine Situation lustig finden. Menschen lachen aus Freude, wenn sie Sport treiben, Tanzen oder Freunde begrüßen, und wenn wir zurücklächeln, dann erkennen wir damit an, dass wir den anderen schätzen; weder stellen wir damit unsere eigene Über­ legenheit zur Schau noch finden wir ihn lustig. Alle diese Ursachen des Lachens oder seiner gedämpften Form, des Lächelns, die unmittelbar auf uns einwirken, gehören dem realen Leben an. In der Komödie hat das Lachen des Zuschauers nur eine legitime Quelle: die Anerkennung des Humors im Stück. Er lacht nicht mit den Charakteren und auch nicht über sie, er lacht über ihre Akte – über ihre Lage, ihr Tun, ihren Ausdruck, oft über ihre Bestürzung. Pagnol behauptet, wir lachten unmittelbar über die Charaktere, und sieht darin eine Bestätigung seiner Theorie: Unser Vergnügen am komischen Theater liegt in der Betrachtung von Menschen, denen wir uns überlegen fühlen.423   Ebd., S. 92. Am Ende dieses Kapitels wird dieses Problem weiter erörtert. 423



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Diese Auffassung leidet jedoch unter einem schwerwiegenden Fehler. Sie setzt nämlich voraus, dass der Zuschauer sich seiner selbst als eines Wesens bewusst ist, das zur selben »Welt« wie die Charaktere gehört. Um sich, sei es nur unterbewusst, mit ihnen zu vergleichen, muss er seine psychische Distanz aufgeben und sich als unter ihnen anwesend empfinden, in etwa so, als läse man in der Zeitungsrubrik »Vermischtes« etwas, das sich außerhalb des eigenen Lebens abspielt und doch in der realen Welt und das einen ausrufen lässt: »Wie konnte sie nur so etwas tun. Man muss sich das mal vorstellen, so was Verrücktes!« Wenn man eine derartige Reaktion im Theater erlebt, dann hat dies mit der Wahrnehmung des Stücks als einer dichterischen Erfindung nichts zu tun. Man hat für diesen Augenblick seine Distanz verloren und empfindet sich selbst als Teil des Bildes. Humor wäre dann bloß ein Nebenprodukt der Komödie, keines ihrer Strukturelemente. Und würde das Lachen auf diese Weise ausgelöst, sollte es für die Qualität des Stücks keinen Unterschied machen, an welcher Stelle gelacht wird. Eine Bühnenpanne, ein schlechter Schauspieler, der jedem Amateurschauspieler im Publikum ein Gefühl von Überlegenheit einflößt, könnte dann die Zuschauer ebenso gut amüsieren wie eine gewitzte Äußerung oder eine lustige Situation im Stück. Tatsächlich lachen wir über solche Missgeschicke, aber wir loben nicht die Komödie wegen dieser Art der Unterhaltung. In einem guten Stück sind die »Lacher« dichterische Elemente. Sein Humor gehört ebenso wie sein Pathos dem virtuellen Leben an, und das Vergnügen, das wir daran finden, ist eines, das für unsere Wahrnehmungen geschaffen worden ist; es stellt keinen direkten Reiz für unsere Gefühle dar. Es ist zwar wahr, dass die komischen Gestalten oft Possenreißer, Einfaltspinsel oder Clowns sind, doch solche Charaktere sind uns durchweg sympathisch, und obwohl sie herumgeschubst und beschimpft werden, sind sie unverwüstlich, immer von sich selbst überzeugt und gutgelaunt. Der Possenreißer ist in der Tat eine wichtige komische Figur, vor allem im Volkstheater. Er ist wesentlich ein Volkscharakter,

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der sich in den anspruchsvolleren und literarischen Entwicklungen der Komödie als Harlekin, Pierrot, als Karaguez in Persien, als elisabethanischer Hofnarr oder als Vidusaka im Sanskritdrama behauptet hat. In den niederen Theaterformen, die vor der Erfindung des Films zur Unterhaltung der Armen und bäuerlichen Schichten überall anzutreffen waren, führte der Possenreißer jedoch eine deftigere Existenz, etwa als Hanswurst, als Kasperl im Puppenspiel, als Clown in der Pantomime oder als türkischer Karagöz (ursprünglich aus der persischen Tradition), der ausschließlich im Schattenspiel vorkommt.424 Diese von alters her beliebten Figuren machen deutlich, was der Possenreißer eigentlich ist: das unbeugsame, lebendige Geschöpf, das sich durchzusetzen versteht, das von einer Situation in eine andere stolpert und schlittert – wie es der Clown physisch veranschaulicht –, dabei immer wieder in Schwierigkeiten gerät, aus denen er mit oder ohne Abreibung stets wieder herauskommt. Er ist der verkörperte élan vital, seine Geschicke und Missgeschicke, die keine große Handlung haben, wohl aber häufig von bizarren Verwicklungen begleitet werden, seine unsinnigen Erwartungen und Enttäuschungen, ja seine ganze improvisierte Existenz folgen dem Rhythmus des primitiven, wilden, wenn nicht gar des animalischen Lebens, er setzt sich mit einer Welt auseinander, die stets neue unberechenbare Wendungen nimmt, die frustrierend, aber auch aufregend ist. Als Mensch ist er weder gut noch schlecht, sondern schlicht amoralisch – mal siegestrunken, mal geschlagen und reuevoll, aber lus­tig selbst in seiner Reumütigkeit und Bestürzung, denn seine Energie ist ungebrochen und jede Niederlage bereitet die Situation für einen neuen phantastischen Schritt vor. 425 Der exemplarischste dieser Kindsköpfe ist der englische Punch, der sich von jedem Impuls mitreißen lässt, ihn augenblicklich und mit Gewalt umsetzt – er züchtigt seine Ehefrau, wirft sein Kind zum Fenster   Siehe Nicholas N. Martinovitch, The Turkish Theater, New York 1933, passim. 425  Falstaff ist ein perfektes Beispiel für den Possenreißer, der in der Komödie zu einem menschlichen »Charakter« erhoben worden ist. 424



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hinaus, verprügelt den Polizisten, spießt schließlich den Teufel auf und stellt ihn triumphierend auf seiner Mistgabel zur Schau. Punch ist eigentlich kein Possenreißer, dafür ist er zu erfolgreich. Sein Reiz ist vermutlich ein subjektiver, gemünzt auf diejenigen, die ihre allgemeinen Rachegelüste, ihren Wunsch nach Revolte und ihre Zerstörungswut unterdrücken. Psychologisch mag Punch interessant sein, doch eigentlich ist er eine degenerierte und stereotype Figur, und als solche ist er künstlerisch von geringerem Wert, denn er hat keine weiteren poetischen Abkömmlinge. Ich weiß nicht, was der Grund für seine Langlebigkeit in dieser einseitigen, reichlich vulgären und nicht besonders witzigen Rolle ist, und hier ist auch nicht der Ort, das zu untersuchen; doch bei seinem ersten Auftreten in England als der aus dem italienischen Marionettentheater geborgte Punchinello war er noch der rein komische Protagonist. R. M. Wheeler, den wir wohl als Autorität anerkennen dürfen, schreibt in der Encyclopaedia Britannica: »Der ältere Punchinello war in seinen Handlungen und Umständen weit weniger beschränkt als sein jüngerer Nachfolger. Er kämpfte mit allegorischen Figuren, die für Not und Überdruss standen, ebenso wie mit seiner Frau und der Polizei, er stand mit den Patriarchen und den sieben Vorkämpfern der Christenheit auf vertrautem Fuß, er saß auf dem Schoß der Königin von Saba, zählte Könige und Herzöge zu seinen Begleitern und schlug sowohl der Inquisition als auch dem einfachen Henker ein Schnippchen.« 426 Der hohe Umgang, den dieser ursprüngliche Punch pflegt, passt zu den würdigen Schauplätzen, in denen er auftritt. Demselben Artikel entnehmen wir, dass Punch in England zum ersten Mal in einem Puppenspiel über die Erschaffung der Welt erwähnt wird sowie in einem anderen, das von der Sintflut handelt. Dem ernsten religiösen Gemüt der Neuzeit wird es wohl seltsam erscheinen, dass ein so weltlicher Charakter in den Geschichten der heiligen Schrift auftaucht, und möglicherweise   R. Mortimer Wheeler, Punch (puppet), in: Encyclopedia Britan­ nica, 11. Aufl., Cambridge 1911, Bd. 22, S. 48–49, hier 649. 426

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geht es auf diese scheinbare Unstimmigkeit zurück, dass der Clown in der modernen Komödie nach allgemeiner Auffassung für einen Nachkommen des Teufels aus den mittelalterlichen Mirakelspielen gehalten wird.427 Der Teufel ist ohne Frage im Bezirk des Heiligen zuhause. Es ist denkbar, dass diese Beziehung zwischen dem Teufel und dem Narren (in seinen verschiedenen Gestalten als Clown, Hofnarr, Missgeburt) tatsächlich besteht. Wenn dem aber so ist, dann nur aufgrund eines historischen Zufalls, der mit der spezifisch christlichen Auffassung zusammenhängt, der Teufel stehe für die sündige Fleischeslust. Diese Auffassung bringt den Geist des Lebens und den Ursprung allen Übels, zwei normalerweise weit voneinander entfernte Pole, eng zusammen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass der Narr ein ganzer Kerl ist; er steht tatsächlich der animalischen Welt nahe. In der französischen Tradition trägt er einen Hahnenkamm auf seiner Kappe, und Punchinellos Nase könnte das Überbleibsel eines Schnabels sein. Er ist stets unternehmungslustig, folgt seinen Launen und Trieben, kurz: Er ist die »Libido« selbst. Doch vermutlich ist er älter als der christliche Teufel und gar nicht auf diese edle Verbindung angewiesen, um in heilige Bezirke eingelassen zu werden. Er stand den Göttern von jeher nahe. Wenn wir in ihm den Vertreter der Menschheit in ihrem Ringen mit der Welt sehen, wird deutlich, warum seine Possen und Dreistigkeiten häufig ein innerer Bestandteil religiöser Riten sind und warum beispielsweise der Bund der Clowns in der Pueblo-Kultur in hohen Ehren stand:428 Der Clown ist Leben, er ist der Wille, er ist der Verstand und ebenso der Narr der Natur. Aus den überschäumenden Religionen, die Fruchtbarkeit und Wachstum feiern, geht er allmählich in die asketischen Kulte über, um in aller Unschuld vor der Jungfrau seine Kapriolen zu machen.  Siehe dazu den ohne Verfasserangabe abgedruckten Artikel »Clown« in der Encyclopaedia Britannica, a. a. O., Bd. 6, S. 564. 428  Zu den geheimen Gesellschaften der Spaßmacher siehe Frank Hamilton Cushing, Outlines of Zuñi Creation Myths, Washington 1894, über den Bund der »Kâ’yemäshi« (»Tonköpfe«). 427



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Die zum Grundrepertoire gehörende Gestalt des Possenreißers ist in der Komödie ein offensichtliches Mittel, um den komischen Rhythmus, das heißt das Bild des Glücks, zu gestalten. Mit der Weiterentwicklung der Kunst verliert er jedoch die zentrale Stellung, die er im Volkstheater eingenommen hat. Der Schwung und das Gleichgewicht des Lebens, wie der Possenreißer sie repräsentiert, werden, sind sie erst einmal richtig erfasst, von subtileren dichterischen Erfindungen aufgegriffen, in denen plausible Charaktere und, wie die Franzosen es nennen, eine intrigue für eine insgesamt stimmige dramatische Handlung sorgen. Manchmal tritt er weiterhin als Narr, Diener oder als eine andere Nebenfigur auf, deren einfältige, gewitzte oder scharfsinnige Kommentare das grundsätzlich komische Muster der Handlung unterstreichen, wenn die Realitätsnähe und Vielschichtigkeit des Bühnengeschehens dessen Grundform zu verdunkeln droht. Diese Akzente bestehen normalerweise in »Lachern«, und das führt uns zum ästhetischen Problem des Witzes in der Komödie zurück. Da die Komödie die Bewegung und den Rhythmus des Lebens abstrahiert und für unsere Wahrnehmung in Fleisch und Blut übersetzt, steigert sie unser vitales Gefühl ebenso sehr, wie die Darstellung des Raums in der Malerei unser Bewusstsein des visuellen Raums steigert. Das virtuelle Leben auf der Bühne ist nicht so diffus und nur halb gefühlt, wie das reale Leben es normalerweise ist: Virtuelles Leben, das stets sichtbar auf eine Zukunft zuläuft, ist intensiver, beschleunigter, übertriebener; die Darstellung der Vitalität erreicht einen Wendepunkt, bricht aus in Freude und Lachen. Im Theater lachen wir über kleine Zwischenfälle und Drolligkeiten, die uns abseits der Bühne selten auch nur ein Schmunzeln wert wären. Das ist nicht psychologisch begründet, etwa darin, dass wir ins Theater gehen, um uns zu amüsieren, oder dass die Gebote der Höflichkeit von uns verlangen, unsere Heiterkeit zu unterdrücken; tatsächlich sind diese Kleinigkeiten, die uns zum Lachen bringen, dort, wo sie vorkommen, lustiger, als sie es woanders wären. Sie werden im Stück gezielt eingesetzt und geschehen nicht bloß nebenbei. Sie

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treten dort auf, wo die Spannung des Dialogs oder einer anderen Handlung einen Höhepunkt erreicht. So wie das Denken in Rede ausbricht – wie die Welle in Gischt bricht –, so bricht die Vitalität in Humor aus. Der Glanz des Dramas liegt in seinem Humor, in der plötz­ lichen Steigerung des vitalen Rhythmus. Daher bahnt eine gute Komödie jedes Lachen an; eine Aufführung, in der, sei es wegen der Unbedachtheit des Komödianten oder seines Stückeschreibers, ein Witz den anderen ablöst, mag eine lange Reihe von Lachern ernten und dennoch beim Zuschauer keinen klaren Eindruck eines sehr witzigen Stücks hinterlassen. Außerdem werden die Lacher einander wahrscheinlich alle sehr ähnlich sein, fast oberflächlich, nicht mehr als die formale Anerkennung eines fristgerechten »Gags«. Der amoralische Charakter des komischen Protagonisten fin­ det sich in der ganzen Bandbreite dessen, was man die Komö­die des Lachens nennen könnte. Selbst die kultiviertesten Erzeugnisse dieser Kunst – Stücke, denen George Meredith den ehrenvollen Namen »Komödie« verleihen würde, weil sie »nachdenkliches Lachen« auslösen – präsentieren uns keine moralischen Unterscheidungen oder Fragen, sie führen uns nur die Wege der Klugheit und der Narrheit vor. Aristophanes, Menander und Molière – praktisch die einzigen Dramatiker, die dieser anspruchsvollste aller Kritiker als wahrhaft komische Dichter akzeptiert – sind keine Moralisten, aber sie stellen die Moral weder heraus noch werten sie diese ab; sie haben buchstäblich »keine Verwendung« für moralische Prinzipien, das heißt, sie verwenden sie erst gar nicht. Meredith stand, wie fast alle seine Zeitgenossen, im Bann der Überzeugung, dass die Dichtung die Gesellschaft belehren müsse und der Wert der Komödie in dem liege, was sie über die Gesellschaftsordnung enthüllt. 429   Seine recht bekannte kleine Arbeit trägt den Titel An Essay on Co­ medy and the Uses of the Comic Spirit (3. Aufl., Westminster 1903). Dergleichen Verwendungen sind vollkommen unkünstlerisch. Zum Lob der Vorzüge der »Verständigkeit« (die alles das ist, was in den Augen der Gesellschaft zum Überleben beiträgt), schreibt er: »Die Franzosen 429



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Er bemühte sich nach Kräften, an ihre Entlarvung von Schwächen und ihre Verteidigung des gesunden Menschenverstands einen moralischen Maßstab anzulegen, doch gerade durch seine Anstrengung, ihr amoralisches Personal zu rechtfertigen, räumt er dessen amoralische Natur und schlichten Lebensgenuss ein, wenn er etwa schreibt: »Die Heldinnen der Komödie gleichen den Frauen von Welt, die nicht notwendig kaltherzig sind, weil sie das Spiel durchschauen […]. Die Komödie führt uns ihren Kampf gegen die Männer und den der Männer gegen sie vor […].« 430 Hier haben wir es in aller Kürze: Es geht um den Kampf der Geschlechter, um den universellsten aller Kämpfe, der zwar humanisiert und tatsächlich zivilisiert abläuft, aber gleichwohl die urtümlich freudige Herausforderung ist, jene Selbsterhaltung und Selbstbehauptung, deren Fortschreiten den komischen Rhythmus bereitstellt. Dieser Rhythmus lässt sich auf unterschiedlichste Weise darstellen. Darum steigt die Kunst der Komödie von ihren beiläufigen Anfängen – Pantomime, Clownerei, manchmal erotischem Tanz – zu einer besonderen und distinkten dramatischen Kunst, mitunter auch zu verschiedensten Formen dieser Kunst innerhalb einer Kultur auf, ohne dass sie je ihre Werke zu wiederholen scheint. Unter Umständen bringt sie eine Tradition des besitzen eine imposante Komödienschule, auf die sie, sollten sie von ihr abgefallen sein, zurückgreifen können, um sie zu erneuern. Das Bestehen einer solchen Schule ist der entscheidende Grund, der John Stuart Mill sagen ließ, sie kennten die Männer und Frauen gründlicher, als wir es tun.« (S. 20) Und einige Seiten später: »Die Femmes Savantes sind ein vorzügliches Beispiel dafür, wie die Komödie sich nutzen lässt, um der Welt zu einem Verständnis ihrer Gebrechen zu verhelfen. Die Franzosen haben die Bürde dieses neuen Unfugs gespürt [die Mode der akademischen Bildung, welche die Mode, sich übertrieben vornehm und korrekt auszudrücken, abgelöst hat, wie sie die Precieuses befallen hatte], aber sie mussten sich die Komödie mehrmals anschauen, bevor sie Trost und Erleichterung darin fanden, dass sie seinen Grund angeprangert sahen.« (S. 25) 430  Ebd., S. 29.

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würdevollen Dramas hervor, entsteht sie aus feier­lichen, sogar traurigen Riten, wobei ihre emotionale Bewegung zu getragen ist, um an irgendeinem Punkt in Humor zu gipfeln. Dann müssen andere Mittel gefunden werden, um ihr Glanz und Intensität zu verleihen. Die reinste Heldenkomödie wird vermutlich überhaupt keine humorvollen Einschübe enthalten, und wenn der Narr gleichsam als schmückendes Beiwerk eingesetzt wird, dann erinnert dies eher an die Tragödie, und tatsächlich verwendet die Heldenkomödie viele Techniken der Tragödie. Sie ist sogar in der Lage, das amoralische, komische Muster zu übersteigen, indem sie uns tugendhafte Helden und Heldinnen vorstellt. Ihre Tugend bleibt jedoch rein formal, ist nicht mehr als ein sozialer Vorzug. Wie Deane bereits über die klassischen französischen Helden angemerkt hat, 431 unterwerfen sie sich nicht der gewöhnlichen Moral, ihre Moral liegt in ihrem »Heroismus«, der im wesentlichen Stärke, Wille und Standhaftigkeit im Angesicht der Welt ist. Auch die Gottheiten des orientalischen Dramas zeichnen sich nicht durch eine »gewöhnliche Moral« aus; ob sie nun vernichten oder schonen, ihre vollkommene Tugend wird davon nicht berührt, ihr Gutsein ist Ehre, ihr Wille Gesetz. Sie sind der Übermensch, der Heros, und das grundlegende Muster ihres Sieges über die Feinde, deren Bosheit nur in ihrem Widerstand besteht, ist das amoralische Lebensmuster des Kampfes mit dem Teufel – des Menschen gegen den Tod. Humor ist daher nicht die Essenz der Komödie, sondern lediglich eines ihrer nützlichsten und natürlichsten Elemente. Er ist allerdings auch ihr problematischstes Element, da er dem Zuschauer eine, wie es scheint, unmittelbare Gefühlsreaktion auf die Schauspieler entlockt, die sich in keiner Weise von der auf reale Menschen unterscheidet: Spaß, Lachen. Das Phänomen des Lachens im Theater wirft ein scharfes Licht auf die ganze Frage, wie sich das symbolisch präsentierte Gefühl von einem unmittelbar stimulierten Gefühl unterscheidet; es ist in der Tat ein pons asinorum der Theorie, dass diese 431

  Siehe oben S. 546.



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Unterscheidung eine radikale ist, denn diese bildet vermutlich ihr schwierigstes Beispiel. Das Lachen des Publikums über ein gutes Theaterstück ist fraglos selbstexpressiv und zeugt vom »Aufschwung« des vitalen Gefühls in jedem Lachenden. Gleichwohl hat es einen anderen Charakter als das Lachen in einem Gespräch, auf der Straße, wenn der Wind einen Hut vom Kopf bläst und die Frisur gleich mit zerzaust, oder im »Lachhaus« eines Vergnügungsparks, in dem die willigen Opfer sich mit Zerrspiegeln und Dingen konfrontiert sehen, die »Buh!« machen. Diese alltäglichen Lacher sind allesamt unmittelbare Reaktionen auf gesonderte Reize. Sie können so vereinzelt sein wie die in einer lebhaften Gesellschaft erzählten Witze oder absichtlich aneinander gereiht wie die erwarteten und dennoch unvorhergesehenen Ereignisse in einem »Lachhaus«, aber es bleiben jeweils persönliche Begegnungen, die nur dem lustig erscheinen, der sich in der entsprechenden Stimmung befindet. Manchmal lassen Witzeleien uns kalt, und die Streiche und Clownerien langweilen uns. Im Theater liegen die Dinge anders: Das Stück nimmt uns gefangen und bricht unsere Stimmung auf. Nicht dass es sie veränderte, es hebt sie einfach auf. Selbst wenn wir eine heitere Stimmung mitbringen, wird unsere Würdigung des Humors im Stück nicht merklich gesteigert, da der Humor in einer guten Komödie uns nicht unmittelbar gefangen nimmt. Was uns unmittelbar gefangen nimmt, ist die dramatische Illusion, die sich entfaltende Bühnenhandlung, und wie lustig ein Witz ist, hängt weniger von unserer persönlichen Reaktion ab als von seinem Auftreten in der Gesamthandlung. Ein sehr schwacher Witz an genau der richtigen Stelle kann ein lautes Gelächter auslösen. Die Handlung gipfelt in einer geistreichen Bemerkung, einer Absurdität, einer Überraschung, und die Zuschauer lachen. Nach diesem Ausdruck folgt jedoch nicht die Ernüchterung, die uns nach einem gewöhnlichen Lachen erfasst, da das Stück weitergeht und uns nicht die Atempause verschafft, die wir unserem Denken und Fühlen normalerweise nach einem Witz gönnen. Die Handlung schreitet von einem Lachen zum

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nächsten fort, ohne dass diese direkt aufeinander folgen müss­ ten; die Leute lachen über das Stück, nicht über ein Feuerwerk an Witzen. Der Humor in der Komödie (wie im Übrigen in jeder humo­ ris­tischen Kunst) gehört dem Werk an, nicht unserer realen Um­gebung; mag er auch der realen Welt entlehnt sein, so ist doch das, was ihn tatsächlich lustig macht, sein Erscheinen im Werk. Politische oder zeitgeschichtliche Anspielungen in einem Stück belustigen, weil sie verwendet werden, nicht weil sie sich auf etwas an sich sehr Komisches beziehen. Dieser Kunstgriff, mit Dingen aus dem realen Leben zu spielen, erntet so zuverlässig ein Lachen, dass durchschnittliche Komödienautoren und Stegreif komödianten es bis zum künstlerischen Ruin übertreiben; daher die nicht abreißende Flut von »Shows«, die sehr popu­lär sind, doch ohne jeden dramatischen Kern, weshalb sie auch kaum den Zeitpunkt der Aktualität ihrer Anspielungen überdauern. Die wahre Komödie erzeugt im Publikum ein Gefühl allgemeiner Heiterkeit, weil sie das Bild der »Lebendigkeit« präsentiert und dessen Wahrnehmung aufregend ist. Wie immer die Geschichte beschaffen sein mag, sie nimmt auf jeden Fall die Form des zeitweiligen Sieges über die Umwelt an, der zu einer verwickelten Folge von Zufällen gestreckt und verkompliziert wird. Die Illusion von Leben, das Bühnenleben, folgt einem Gefühlsrhythmus, der sich uns nicht über getrennte, aufeinanderfolgende Reize vermittelt. Wir nehmen ihn vielmehr in seiner gesamten Gestalt* wahr, als eine geschlossene, auf ihre Zukunft zulaufende Welt. Die »Lebendigkeit« der menschlichen Welt ist abstrahiert, komponiert und uns präsentiert worden, und gemeinsam mit ihr die durch den Humor ins Licht gerückten Höhepunkte der Komposition. Sie sind Teil des von uns wahrgenommenen Lebens, und unser Lachen ist Teil der theatralischen Erheiterung, die allgemein menschlich und unpersönlich ist. 432   Der Leser sei auf die in Kapitel 17, S. 526 f. erwähnte hindu­ istische Auffassung verwiesen. 432



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Nicht das, was der Witz uns zufällig bedeutet, ist das Maß unseres Lachens, wohl aber das, was der Witz im Stück bewirkt. Aus diesem Grund neigen wir dazu, im Theater über Dinge zu lachen, die wir in der Wirklichkeit vielleicht gar nicht witzig finden. Die Technik der Komödie muss häufig den Weg für ihren Humor bahnen, indem sie einem Rückfall in die »Welt der ängstlichen Interessen und der eigensüchtigen Besorgtheit« zuvorkommt. Dazu stehen ihr verschiedene Mittel zur Verfügung – absurde Zwischenfälle, stereotype Gefühlsausdrücke (wie das bestürzte Jammern des Spaßmachers), ein beschleunigtes Handlungstempo und andere unrealistische Effekte, die geeignet sind, die Struktur der Komik zu unterstreichen. Wenn wir, so Fergusson, »eine komische Konvention verstehen, betrachten wir das Stück mit einer gottgleichen Allwissenheit. […] Wenn Scaramouche Prügel bezieht, fühlen wir nicht die Schläge, sondern in dem Augenblick erscheint uns die Idee der Prügel lustig. Sind die Prügel zu realistisch, heben sie den leichten Rhythmus des Denkens auf, dann verfliegt der Spaß und die Komödie ist zerstört.« 433 Jener »leichte Rhythmus des Denkens« ist der Rhythmus des Lebens, und leicht ist er deshalb, weil alle Geschöpfe das Leben lieben, und die Symbolisierung seines Elans und Flusses uns dies erfahrbar werden lässt. Der Konflikt mit der Welt, in dem ein lebendiges Wesen seine eigene komplexe organische Einheit bewahrt, ist ein wunderbares Schauspiel; die Welt ist so verheißungsvoll und verlockend, wie sie gefährlich und widerstrebend ist. Das Gefühl der Komödie ist ein Gefühl gesteigerter Vitalität, angestachelten Witzes und Willens, der Verwicklung in das große Spiel mit dem Zufall. Der wirkliche Widersacher ist dabei die Welt. Da der persönliche Gegenspieler im Theaterstück eigentlich jener große Herausforderer ist, ist er selten durch und durch ein Schurke, er ist interessant, unterhaltsam, wir applaudieren vergnügt seiner Niederlage, nicht aber seiner Vernichtung. Außerhalb der Tragödie gibt es auf Dauer weder 433

 Fergusson, The Idea of a Theater, a. a. O., S. 178 f.

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Niederlage noch menschlichen Triumph, denn wenn das Leben weitergeht, muss auch die Natur weitergehen, und die Welt, die alle möglichen Hindernisse bereithält, gibt dem Leben seine Würze. Daher gibt es in der Komödie eine allgemeine Trivialisierung des menschlichen Kampfes. Seine Gefahren sind keine handfesten Katastrophen, sondern Peinlichkeit und Gesichtsverlust. Im Vergleich zur Tragödie, die ganz im Gegenteil dazu neigt, Probleme und Persönlichkeiten zu überhöhen, ist die Komödie daher »leicht« zu nennen. Derselbe Impuls, der die Menschen bereits in vorhistorischen Zeiten dazu trieb, Fruchtbarkeitsriten abzuhalten und alle Phasen ihrer biologischen Existenz zu feiern, hält auch das Interesse an der Komödie dauerhaft wach. Es liegt in der Natur der Komödie, erotisch, schlüpfrig und sinnenfreudig oder gar wollüstig, pietätlos und selbst von offener Boshaftigkeit zu sein. Damit sichert sie sich ein spontanes emotionales Interesse, wenngleich ein gefährliches: Es ist nämlich leicht und verführerisch, das Pub­likum durch die unmittelbare Reizung von Gefühl und Phantasie statt durch künstlerische Kraft zu bannen. Wo aber eine wirkliche Formulierung des Fühlens gelingt, spiegelt es womöglich die ganze Entwicklung der Menschheit und ihrer Welt, denn Fühlen ist das eingravierte Bild der Wirklichkeit. Der Eindruck der Gefährdung, der typischen Spannung der leichten Komödie, hat sich zweifellos aus dem ewigen Kampf gegen die Kontingenz entwickelt, den jeder Bauer nur zu gut kennt – gegen Wetter, Mehltau, Raubtiere, Vögel und Käfer. Die Peinlichkeiten, die Ratlosigkeit und die aufsteigende Panik, die die beliebte Gattung der Sittenkomödie kennzeichnen, spiegeln möglicherweise noch immer die Mühen des Ritus und der Tabus, die dem Höhlenbewohner das Leben schwer gemacht haben. Selbst die Aggressivität in der komischen Handlung trägt dazu bei, einen Grundzug des komischen Rhythmus zu entfalten – seine tiefe Grausamkeit, da jegliches Leben sich von Leben ernährt. Es gibt keine biologische Wahrheit, die sich nicht im Fühlen spiegelt und die eine gute Komödie nicht ans Tageslicht rücken wird.



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Die Tatsache, dass der Rhythmus der Komödie der grundlegende Rhythmus des Lebens ist, besagt jedoch nicht, dass die biologische Existenz die »tiefere Bedeutung« all ihrer Themen ist und dass wir das Stück dann verstehen, wenn wir seine sämtlichen Charaktere als Symbole und die Geschichte als eine Parabel deuten, als einen getarnten Frühlings- und Fruchtbarkeitszauber, der vierhundertfünfzig Mal am Broadway läuft. Die Standardcharaktere sind vermutlich sowohl hinsichtlich ihres Ursprungs als auch hinsichtlich ihres Reizes symbolischer Natur. Derartige unabhängige symbolische Bestandteile oder doch deren Überbleibsel finden sich in allen Künsten, 434 ihr Wert für die Kunst liegt freilich darin, in welchem Maße ihr Bedeutungsgehalt von dem einen Symbol, dem Kunstwerk, »geschluckt« werden kann. Nicht die Herkunft der Personen und Situationen, sondern der Rhythmus des »gefühlten Lebens«, den der Dichter ihnen verleiht, scheint mir von künstlerischer Bedeutung zu sein: das grundlegende komische Gefühl, die Empfindung der organischen Einheit, des Wachstums und der Selbsterhaltung.

  Zum Beispiel die Symbolisierung des Tierkreises in einigen Sakralbauten, unserer körperlichen Orientierung in der Bildebene oder des Schritttempos, also eines primitiven Maßes der realen Zeit, in der Musik. Eine Untersuchung solcher nicht-künstlerischen Symbolfunktionen bedürfte eines weiteren Buches. 434

19. Kapitel Die großen dramatischen Formen: der tragische Rhythmus So wie die Komödie den vitalen Rhythmus der Selbsterhaltung darstellt, zeigt die Tragödie den der Selbstvollendung. Das unbekümmerte Fortschreiten des ewigen Lebensprozesses, unendlich aufrechterhalten oder zeitweilig verlorengegangen und wiederhergestellt, ist das große, allgemeine vitale Muster, das wir von Tag zu Tag exemplifizieren. Aber für Lebewesen, die dazu verurteilt sind, früher oder später zu sterben – also alle Individuen, die nicht lebendig in einer neuen Generation aufgehen wie Quallen und Algen –, ist das Gleichgewicht des Lebens eine prekäre Angelegenheit, weil sie sich im Rahmen einer ganz anderen Gesamtbewegung finden: der Bewegung von der Geburt zum Tod. Im Unterschied zu einfachen Stoffwechselprozessen zeichnet sich der auf den Tod ausgerichtete Fortgang ihres individuellen Lebens durch eine Reihe nicht wiederholbarer Phasen aus: Wachstum, Reife, Niedergang. Das ist der tragische Rhythmus. Die Tragödie weist eine kadenzartige Form auf. Ihre Krise ist immer die Wende zu einem absoluten Schluss. Diese Form spiegelt die Grundstruktur des persönlichen Lebens und damit des Gefühls, das sich bei der Betrachtung des Lebens als Ganzes einstellt. Es ist diese Haltung, die Unamuno das »tragische Lebensgefühl« nennt, das in der Tragödie objektiviert und uns vor Augen gestellt wird. Im Drama wird es freilich nicht so dargestellt, wie Unamuno dies tut, nämlich durch die verstandesmäßige Erkenntnis des bevorstehenden Todes, den wir unserer Verfasstheit nach nicht akzeptieren können und auf den wir daher mit einem irrationalen Glauben an unsere persönliche Unsterblichkeit, an »unsterblich machende« Riten und an übernatürliche Gnade reagie-



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ren.435 Der Irrationalismus ist nicht Einsicht, sondern Verzweiflung, eine unmittelbare Anerkennung der Triebe, Bedürfnisse und damit der eigenen geistigen Ohnmacht. Ein »Glaube«, der sich über intellektuelle Überzeugungen hinwegsetzt, ist eine krampf haft verteidigte Lüge. Diese Verteidigung könnte ein großes tragisches Thema bilden, ist jedoch an sich kein poetischer Ausdruck des »tragischen Lebensgefühls«, sie ist ein realer, mitleiderregender Ausdruck, der einem emotionalen Konflikt entspringt. Die Tragödie dramatisiert menschliches Leben als Potentialität und Erfüllung. Die virtuelle Zukunft oder das Schicksal in der Tragödie unterscheidet sich daher erheblich von dem in der Komödie geschaffenen. Das komische Schicksal ist Glück – das, was die Welt mit sich bringen wird und was der Mensch ergreifen oder versäumen wird, es ist Konfrontation oder Flucht; das tragische Schicksal ist das, was der Mensch mit sich bringt und was die Welt von ihm fordern wird. Das ist sein Fatum. Was er mit sich bringt, ist seine Potentialität: seine geistigen, moralischen und auch körperlichen Kräfte, seine Kraft zu handeln und zu leiden. Die tragische Handlung ist die Verwirklichung aller seiner Möglichkeiten, die er im Laufe des Dramas entfaltet und ausschöpft. Seine menschliche Natur ist sein Fatum. Schicksal im Gewand des Fatums ist daher nicht launisch wie das Glück, sondern vorherbestimmt. Äußere Ereignisse liefern nur die Anlässe für seine Verwirklichung.   Vgl. Miguel de Unamuno y Yugo, The Tragic Sense of Life in Men and in Peoples, London 1921, passim. Unamunos Gefühle sind stark und natürlich, seine Aphorismen oft poetisch und denkwürdig. Gegen seine philosophischen Behauptungen Einwände vorzubringen ist jedoch müßig, denn er rühmt sich selbst, widersprüchlich zu sein, da das Leben schließlich »irrational« sei, »die Wahrheit nicht logisch« usw. In der Widerspruchsfreiheit von Aussagen sieht er ein Kennzeichnen ihrer Falschheit. Wie einige ärgerliche Damen, die meinen, es sei »das Recht der Frauen, widersprüchlich zu sein«, lässt er sich daher nicht argumentativ widerlegen, und man kann ihn so wenig ernst nehmen wie diese. 435

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»Seine menschliche Natur« bezieht sich jedoch nicht auf seinen allgemeinen menschlichen Charakter. Es liegt mir fern zu sagen, dass im tragischen Helden in erster Linie ein Symbol der Menschheit zu sehen ist. Was der Dichter erschafft, ist eine Persönlichkeit, und je individueller und kraftvoller sie ist, umso außergewöhnlicher und fesselnder wird die Handlung sein. Da der Protagonist der Hauptakteur ist, ist seine Beziehung zur Handlung offensichtlich, und da der Handlungsverlauf die »Fabel« oder der »Plot« des Stücks ist, ist es genauso offensichtlich, dass das Erschaffen der Charaktere nicht getrennt vom Auf bau der Handlung verläuft, sondern einer ihrer Bestandteile ist. Die Handelnden sind die wesentlichen Elemente der Handlung. Die Handlung aber ist das Stück selbst, und künstlerische Elemente sind immer zum Nutzen des Ganzen da. Ich glaube, genau das veranlasste Aristoteles zu der Feststellung: »[D]ie Tragödie ist nicht die Nachahmung436 von Menschen, sondern von Handlung und Lebenswirklichkeit. (Auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit. Die Menschen haben wegen ihres Charakters eine bestimmte Beschaffenheit, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder nicht.) Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem.« 437 Dieses Ziel ist das Werk als solches. Der Protagonist und alle ihn unterstützenden Charaktere werden eingeführt, damit wir die Erfüllung seines Fatums erleben, das nichts anderes ist als die vollständige Verwirklichung seiner individuellen »menschlichen Natur«. Die Vorstellung eines persönlichen Fatums ist im Mythos erfasst worden, lange bevor die Beziehung der Lebensgeschichte   Aristoteles verwendet den Ausdruck »Nachahmung« weitgehend in eben dem Sinn, in dem ich »Schein« verwende. Ich habe dieses Wort vermieden, weil es die Ähnlichkeit zur Wirklichkeit statt die Abstraktion von der Wirklichkeit unterstreicht. 437 Aristoteles, Poetik, 1450a (Stuttgart 1982, S. 21). 436



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zum Charakter diskursiv verstanden worden ist. In der mythischen Tradition Griechenlands wurde das Geschick ihrer »Heroen« – der Persönlichkeiten, die aus bestimmten großen, hochgradig individualisierten Familien stammten – als eine geheimnisvolle, eher der Welt als dem Menschen und seinen Vorfahren innewohnende Macht begriffen. Es wurde als ein persönlicher Dämon betrachtet, den eine rachsüchtige Gottheit ihm bei der Geburt hat zuteilwerden lassen oder den er gar einem von Menschen verhängten Fluch zu verdanken hat. Manchmal erfahren wir auch überhaupt nicht, warum ihn dieses besondere Schicksal getroffen hat; dann sagt das Orakel voraus, welchen Taten er nicht entrinnen kann. Es ist interessant, dass diese Auffassung von Fatum sich in der Regel um die geheimnisvolle Vorhersagbarkeit von Akten dreht, die jemand vollziehen muss. Die Anlässe der Akte werden nicht vorhergesagt; die Welt wird sie bereitstellen. Für die Entwicklung der Tragödie lieferte diese Determiniertheit der offenkundigen Akte, die nicht auf Umstände und Motive zurückgeht, einen idealen Ausgangspunkt, denn so waren die Dichter genötigt, Charaktere zu erfinden, deren Handlungen von sich aus zu den geforderten schicksalhaften Taten führten. Die Prophezeiung des Orakels wurde so zu einem verstärkenden Symbol der Notwendigkeit, die eigentlich durch die Persönlichkeit des Handelnden vorgegeben war. Die »Fabel« steht nur für eine der vielen Möglichkeiten, die die Welt hat, um den Helden zu veranlassen, sich, bis an die Grenzen seiner Kräfte gehend, in seinem Streben, seinem Irrtum und seiner Entdeckung, seiner Leidenschaft und seiner Strafe vollständig selbst zu verwirklichen. Das ausgezeichnetste Beispiel für diesen Übergang von der mythischen Vorstellung des Fatums zur dramatischen Schöpfung des Fatums als eines natürlichen, persönlichen Schicksals des Protagonisten ist natürlich Oedipus Tyrannos von Sophokles. Dieses gewaltige Stück von Überheblichkeit, Selbstprophezeiung und Selbstzerstörung war die Geburtsstunde der »große Tradition« der Tragödie in Europa.

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Wir kennen noch eine andere mythische Auffassung des Fatums, die kein Vorläufer der Tragödie ist, aber möglicherweise einiger Komödienarten: die Vorstellung des Fatums als Willensbekundung übernatürlicher Kräfte, vielleicht schon von Beginn an verhängt, vielleicht auch spontan und willkürlich. Das ist das »Fatum« des echten Fatalisten, der sich nicht weiter um sein Leben kümmert, weil er sich vollkommen in der Hand Allahs (oder eines anderen Gottes) glaubt, eines Gottes, der, unabhängig davon, was man selbst tut, nach eigenem Gutdünken vernichtet oder verschont. Die Vorstellung unterscheidet sich strikt von der des »Orakelfatums« in der griechischen Mythologie. Der Wille eines Gottes, der aus Gründen, die nur ihm bekannt sind, schenkt oder nimmt, niederwirft oder erhöht, ist Kismet und das ist eigentlich ein Mythos des Glücks.438 Kismet ist das, was einer Person zustößt, nicht das, was sie ist. Beide Auffassungen bestehen häufig nebeneinander. Der Schotte, der sein Schicksal akzeptieren muss (»dree his weird«), glaubt dennoch, dass die Wechselfälle seines Lebens in jedem einzelnen Augenblick in der Hand der Vorsehung liegen. Ein christliches Publikum nahm an den drei unheimlichen Schwestern in Mac­ beth keinerlei Anstoß. Selbst in der alten Überlieferung unserer Märchen war Dornröschen dazu bestimmt, sich zu stechen, das heißt, sie hatte ein persönliches Schicksal. In der griechischen Tradition, wo die Vorstellung des »Orakelfatums« so allgemein gehegt worden ist, dass das Orakel eine öffentliche Institution war, wurde hingegen das Fatum als das aus dem Augenblick geborene Urteil einer herrschenden Macht vom Mythos der Nornen439 repräsentiert, die den Lebensfaden spinnen und ihn ab  »Nach islamischer Lehre hat der Mensch nahezu keinen Einfluss auf den Gang seines eigenen Geschicks. Allah ist der Herr, er handelt, wie er will, und ist niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig. Und der Schirm des haial [des komischen Schattentheaters] ist die Dramatisierung dieser spekulativen Weltvorstellung.« (Martinovitch, The Tur­ kish Theatre, a. a. O., S. 36) 439  Tatsächlich entstammen die Nornen der nordischen Mythologie. Ihr griechisches Äquivalent sind die Moiren. [ A nm. d. Hg. ] 438



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schneiden, wie es ihnen beliebt. Die drei Schicksalsgöttinnen sind nicht weniger despotisch und willkürlich als Allah, und daher ist das, was sie spinnen, eigentlich Kismet. Die Tragödie kann nur dort entstehen und zur Blüte gelangen, wo Menschen sich ihres individuellen Lebens als Zweck an sich und als Maß aller Dinge bewusst sind. In Stammeskulturen, in denen der Einzelne so sehr Teil seiner Familie ist, dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch er selbst seine Existenz als ein gemeinschaftliches Gut betrachtet, das jederzeit zum Wohl der Gemeinschaft geopfert werden kann, wird die Entwicklung von Persönlichkeit als Struktur des Lebens nicht bewusst gewürdigt. Ähnlich verhält es sich dort, wo der Mensch glaubt, dass das Karma oder das Buch ihrer Taten zur Sühne oder zur Belohnung auf das nächste Leben übertragen wird; auch dort wird man seine gegenwärtige Inkarnation nicht als ein abgeschlossenes Ganzes betrachten können, in dem er all seine Möglichkeiten zu verwirklichen hat. Die echte Tragödie, das »den tragischen Rhythmus der Handlung« aufweisende Drama, wie Fergusson es nennt, 440 ist daher eine besondere Kunstform mit den ihr eigenen Problemen und Mitteln. Das Wort »Rhythmus«, von dem ich so freizügig in Bezug auf das Drama Gebrauch gemacht habe, mag zu voraussetzungsvoll erscheinen, etwas zu unbedacht aus dem Bereich der Physiologie – wo die grundlegenden Lebensfunktionen tatsächlich generell rhythmisch verlaufen – auf den Bereich der bewussten Akte übertragen worden zu sein, die sich größtenteils nicht – und sicherlich nicht, was ihre interessanteste Seite betrifft – wiederholen. Dennoch ist es genau der Rhythmus der dramatischen Handlung, der das Drama zu »einer Dichtung des Theaters« macht und nicht zu einer Nachahmung – im gewöhnlichen, nicht im aristotelischen Sinn – oder zu einer Vortäuschung des praktischen Lebens. Hebbel schreibt dazu: »Aber das Werdende soll an der Hand des Dichters von Gestalt zu Gestalt über­gehen, 440

  Vgl. Fergusson, The Idea of a Theater, a. a. O., vor allem S. 18.

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es soll niemals als formloser weicher Ton vor unserm Auge ins Chaotische und Wirre verschwimmen, es soll in gewissem Sinne immer zugleich ein Fertiges sein.« 441 Die Analyse und Definition der rhythmischen Struktur, wie sie im 8. Kapitel mit Bezug auf die musikalischen Formen vorgelegt worden ist, 442 lässt sich auf die Anordnung der Elemente in jedem Stück, dem es gelingt, eine »lebendige« Form zu erzeugen, anwenden, ohne dass diese dadurch verzerrt oder überlastet würde. Ein dramatischer Akt geht eine Verpflichtung ein. Er schafft eine Situation, in der der Handelnde oder die Handelnden notwendig einen weiteren Schritt unternehmen müssen, motiviert also einen nachfolgenden Akt (oder Akte). Die Situation, also die Vollendung eines bestimmten Akts, ist bereits der Anstoß für einen anderen – so wie uns beim Laufen der Schritt, der unser Gewicht am Ende eines Sprunges auffängt, bereits vorwärts schickt, zum Auftreten mit dem anderen Fuß. Die Sprünge müssen nicht gleichförmig sein, wohl aber proportional, das heißt der Antrieb für einen besonders großen Sprung muss irgendwo vorbereitet und gesammelt worden sein, und jede plötzliche Verkürzung des Schritts muss durch eine Bewegung ausgeglichen werden, die die Triebkraft auffängt. Dramatische Akte sind auf analoge Weise so miteinander verbunden, dass ein jeder unmittelbar oder mittelbar das motiviert, was auf ihn folgt. 443 Dergestalt wird ein echter Handlungsrhythmus erzeugt, der nicht bloß einem physisch-repetitiven Prozess (beispielsweise Laufen oder Atmen) gleicht, sondern oft kompliziert, ja irreführend ist und natürlich nicht primär an einen bestimmten Sinn gerichtet, sondern sich vielmehr vermittels all der Sinne, mit denen   Friedrich Hebbel, Tagebücher, ausgewählt und zusammengestellt von Bernhard Münz, in: Hebbel als Denker, München 1913, S. 182. 442  Siehe S. 243 ff. 443  Von einem Akt kann man sagen, er motiviere indirekt weitere Akte, wenn dies durch eine Gesamtsituation geschieht, zu deren Entstehung er beigetragen hat. Die kleinen Akte von psychologischer Bedeutsamkeit, die eine Persönlichkeit bloß erschaffen, sind von dieser Art. 441



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wir die Handlung wahrnehmen und bewerten, an die Einbildungskraft richtet. In einem Theaterstück erscheint derselbe allgemeine Handlungsrhythmus, ob wir es nun lesen oder uns vorlesen lassen, es selbst aufführen oder bei seiner Aufführung zuschauen. Dieser Rhythmus ist die »Leitform« des Stückes, sie hängt davon ab, wie der Dichter die »Fabel« ursprünglich konzipiert hat, und sie legt die Hauptgliederung des Werks fest, den leichten oder schweren Stil seiner Darstellung, die Intensität seines stärksten Gefühls und gewalttätigsten Aktes, die große oder kleine Zahl der Figuren und das Ausmaß ihrer Entwicklung. Die Gesamthandlung hat eine kumulative Form, und weil ihr Auf bau durch eine rhythmische Behandlung ihrer Elemente bedingt ist, scheint sie von Anfang an zu wachsen. Das ist die vom Dramatiker geschaffene »organische Form«. Der tragische Rhythmus, das Muster eines Lebens, das wächst, blüht und verfällt, wird dadurch abstrahiert, dass er von jener natürlichen Aktivität auf die Sphäre einer spezifisch menschlichen Handlung übertragen und dort vom geistigen und emotionalen Wachstum, vom Heranreifen und der abschließenden Preisgabe der Kraft veranschaulicht wird. In dieser Preisgabe liegt der wahre »Heroismus« des Helden – die Vision eines vollendeten Lebens, d. h. des Lebens als Ganzem, das Gefühl der Erfüllung, das ihn über seine Niederlage hinaushebt. Diese Idee der Tragödie findet einen bemerkenswerten Ausdruck in dem Buch, dem ich einige Absätze weiter oben die Wendung »der tragische Handlungsrhythmus« entlehnt habe. Mit Bezug auf Hamlet bemerkt Fergusson: »Im fünften Akt […] spürt er, dass, abgesehen von der allerletzten Episode, seine Rolle ausgespielt ist. […] Er ist nun zufrieden damit, das schicksalhafte Ende auf sich zukommen zu lassen. […] Man könnte sagen, er spürt die poetische Richtigkeit seines eigenen Todes […].« »Wie immer man es deuten mag, wenn sein Tod kommt, ›fühlt es sich richtig an‹, anders hätte das Stück nicht enden können. […] Zweifellos sollen wir den Eindruck haben, dass Hamlet, gleichgültig wie dunkel und zögerlich er vorgegangen ist, am Ende erkannt hat, wie er seinen tiefsten Werten treu

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bleiben kann, und damit für sich und für Dänemark eine Art Sühne geleistet hat.« 444 Und weiter bemerkt der Kritiker: »Das Duell zwischen Hamlet und Laertes in der zweiten Szene des fünften Akts zeigt die Auflösungen all der Intrigen im Stück. […] Doch diese Ereignisse, die buchstäblich die Geschichten im Stück beenden und Claudius’ Herrschaft ein Ende setzen, sagen uns nichts Neues, sie verdeutlichen nur die Tatsache, dass das Urteil, das schon lange zuvor vom Schicksal oder der Vorsehung verhängt worden ist, nur vollstreckt wurde. Es ist das Gepränge, der feierliche Mummenschanz, kurz der virtuelle Charakter dieser letzten Szene, die uns den Eindruck vermitteln, sie sei die letzte Offenbarung […].« 445 Das tragische Drama ist so gestaltet, dass der Protagonist aufgrund des Drucks der von ihm selbst angestoßenen Handlung geistig, emotional oder moralisch an Größe gewinnt, bis dahin, dass er seine Kräfte völlig erschöpft, an die Grenze seiner möglichen Entwicklung geht. Im Laufe der einen dramatischen Handlung verausgabt er sich völlig. Damit verkürzt er natürlich sein Leben enorm; anstatt den körperlichen und seelischen, den vielseitigen und langen Prozess einer realen Biographie zu durchlaufen, lebt und reift der tragische Held in einer bestimmten Hinsicht; sein ganzes Sein konzentriert sich in einem Ziel, einer Leidenschaft, einem Konflikt und in der letztendlichen Niederlage. Aus diesem Grund ist die Hauptperson der Tragödie heroisch. Ihr Charakter, die sich entfaltende Situation, der Schauplatz, mag er auch scheinbar vertraut und bescheiden sein: all das ist übertrieben, gefühlsgeladener, als eine vergleichbare Wirklichkeit es wäre. 446 Ohne diese Steige Fergusson, The Idea of a Theater, a. a. O., S. 132 f. »Seinen tiefsten Werten treu zu sein« bedeutet nichts anderes, als sein persönliches Potential zu verwirklichen, sein wahres Schicksal zu erfüllen. 445  Ebd., S. 138. 446  Wie Robert Edmond Jones es formuliert: »Das große Drama handelt nicht von vorsichtigen Menschen. Seine Helden sind Tyrannen, Ausgestoßene, Wanderer. Seit Prometheus, ihrem Urvater, dem Dieb, 444



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rung wäre es unmöglich, die »in Spannung gehaltene Form« zu erreichen und zu wahren, die für das tragische Drama noch wichtiger ist als für das komische, denn die komische Auflösung, die nicht einen absoluten Schlusspunkt setzt, braucht nur das Gleichgewicht wiederherzustellen, während das tragische Ende die ganze Handlung rekapitulieren muss, damit die Erfüllung eines Schicksals sichtbar wird, das schon zu Beginn angelegt war. Dieser Kunstgriff, den man in Anlehnung an die »epische Übertreibung« als »dramatische Übertreibung« bezeichnen könnte, ist möglicherweise eher unbewusst zusammen mit den epischen Themen der antiken Tragödie übernommen worden. Das heißt nun aber nicht, dass es sich um einen zufallsbedingten Faktor handelt, um das rein historische Erbe einer älteren poetischen Tradition; überkommene Traditionen behaupten sich in keiner Kunst sehr lange, sofern sie nicht deren eigenen Zwecken dienen. Sie können in neuen Kunstformen ihre alte raison d’être behalten oder ganz neue Funktionen übernehmen, doch als reines Schmuckwerk – als traditionelle Vorgabe – würden sie vom ersten Genie, das nichts mit ihnen anzufangen weiß, ausrangiert werden. Das Drama ist keine Psychologie und (selbst wenn die kritische Literatur es gern so erscheinen lässt) auch keine Moralphilosophie. Es liefert keinen Diskurs über die natürlichen Gaben des Helden oder der Heldin, damit wir in jeder Phase der Handlung einschätzen können, wann sich ihre Kräfte erschöpft haben werden. Die Handlung selbst muss offenbaren, wann der Protagonist an seine Grenze stößt, und das Ende seiner Selbstverwirklichung anzeigen. Und das tut sie denn auch: Der Wendepunkt des Stücks tritt mit der Situation ein, die er nicht zu lösen vermag, in der er seinen »tragischen Irrtum« begeht oder seine »tragische Schwäche« enthüllt. Von seiner eigenen Handlung und den Folgen, die sie in der Welt zeitigt, wird er dazu geder das himmlische Feuer stahl, sind alle diese Protagonisten leidenschaftlich, maßlos, gewalttätig und schrecklich. ›Schicksalsbesessen‹ nennt sie die isländische Saga.« (Jones, The Dramatic Imagination, a. a. O., S. 42)

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drängt, gegen die ständig wachsende Herausforderung immer größere Findigkeit, immer größeren Wagemut ins Feld zu führen. Auf diese Weise »wächst« sein Charakter, das heißt je mehr die Lage sich verschärft, umso mehr bietet er seinen Willen, sein Wissen und seine Leidenschaft auf. Seine Lebensbahn ist nicht durch eine Persönlichkeitsveränderung gekennzeichnet, sondern durch Reifung. Wenn er die Grenze seiner geistigen und emotionalen Entwicklung erreicht hat, kommt es zur Krise und dann zur Niederlage, entweder durch den Tod oder, wie in vielen modernen Tragödien, eine Hoffnungslosigkeit, die dem Sterben gleichkommt, ein »Tod der Seele«, der seine Lebensbahn beendet. Dass der Held der Tragödie ein starker Mann mit nur einer Schwäche, ein guter Mann mit nur einem Fehler ist, ist so oft wiederholt worden, dass um die Bedeutung dieses einen Makels eine ganze Ethik der Tragödie entstanden ist. Kapitel über Kapitel – sogar ganze Bücher – sind darüber geschrieben worden, dass sein Charakter Gutes wie Böses enthalten muss, damit er unser Mitleid erregt und sein Untergang dennoch nicht unseren »moralischen Sinn« beleidigt. Kritiker und Philosophen, von Aristoteles bis Croce, haben sich darüber geäußert, dass der Zuschauer das Geschick des Helden billigt, weil dadurch die moralische Ordnung, der er sich widersetzt oder die er ignoriert hat, anerkannt würde, und dass der Held selbst am Ende in seiner »Versöhnung« und »Offenbarung« den Sieg der Gerechtigkeit anerkennen muss. Die Wiederherstellung der großen moralischen Ordnung durch Leiden wurde als das Fatum betrachtet, das er erfüllen muss. Um das moralische Gesetz zu übertreten, muss er unvollkommen sein, doch um durch seine Aufopferung, seine Abkehr und seinen Tod moralisch erlöst zu werden, muss er im Grunde auch gut sein, das heißt nach Vollkommenheit streben. Diese ganze Beschäftigung mit der philosophischen und ethischen Bedeutung des vom Helden erfahrenen Leidens führt aber von der künstlerischen Bedeutung des Stücks weg und hin zu diskursiven Gedanken über das Leben, den Charakter und



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die Welt. Sogleich stehen wir vor dem üblichen Dilemma des Kritikers, der das Theaterstück als Repräsentation des realen Lebens betrachtet und eine Kunstform als eine Weltanschauung*: Nicht von jedem Werk der Gattung lässt sich tatsächlich behaupten, es bringe die Weltanschauung* zum Ausdruck, die für sie bezeichnend sein soll, und ebenso wenig wird man sagen können, es liefere uns das gleiche allgemeine Bild der Welt, etwa die »moralische Ordnung«, in welcher der Gerechtigkeit unweigerlich genüge getan ist, oder die amoralische »kosmische Ordnung«, in welcher der Mensch der Spielball von Mächten jenseits seiner Kontrolle ist. Vielleicht gelangt der Kritiker dann zu dem resignierten Schluss, dass die Gattung sich einer Definition entziehe und eigentlich nur ein Name sei, dessen wesentliche Bedeutung sich von Epoche zu Epoche ändert. Kein geringerer als Ashley Thorndike befand, dass die Tragödie tatsächlich undefinierbar ist. Zwar lasse sich die historische Entwicklung jeder einzelnen Konzeption nachzeichnen, nicht aber das ihnen allen gemeinsame Merkmal, das sie definiert und zu Recht unter einem Namen versammelt. Die einzigen Eigenschaften, die er in allen Tragödien anzutreffen meinte, sind die Darstellung »leidvoller und zerstörerischen Handlungen« und die »Kritik des Lebens«. 447 Es muss wohl nicht eigens gesagt werden, dass beides auch in anderen Kunstformen vorkommen   »Jede präzise und genaue Definition wird mit Sicherheit den Fehler haben, nicht umfassend genug und nicht stichhaltig zu sein. […] Anscheinend sind wir genötigt, die Möglichkeit einer genauen Eingrenzung der dramatischen Gattungen zu verwerfen, um als Tragödien alle Stücke einschließen zu können, die leidvolle und zerstörerische Handlungen darstellen, und damit die entscheidenden Elemente einer auf die Griechen zurückgehenden literarischen Tradition zuzulassen, die angibt, was das Gemeinsame solcher Stücke in der Vergangenheit gewesen ist, und dennoch einzuräumen, dass diese Tradition zwar immer noch aussagekräftig ist, aber gleichwohl variabel, unsicher und nicht maßgeblich.« (Ashley H. Thorndike, Tragedy, Boston 1908, S. 12) Am Schluss seines Buches gibt er als den einzigen gemeinsamen Maßstab an: »eine selbstlose, soziale und moralische Auslotung des Lebens« (ebd., S. 376). 447

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kann. In seinem hervorragenden Buch Shakespearean Tragedy weist A. C. Bradley darauf hin, dass Shakespeare anders als die griechischen Tragödien keine übermenschliche Macht annimmt, die die Handlungen und Unglücksfälle der Menschen bestimmt, und auch keine besondere Nemesis, die durch frühere Verbrechen, seien es persönliche oder solche bestimmter Familien, herauf beschworen wird. Tatsächlich behauptet er, bei Shakespeare keinerlei Repräsentation des Fatums zu finden. 448 Nicht einmal Gerechtigkeit fänden wir dort, da die Katastrophen, die die Menschen über sich selbst bringen, in keinem Verhältnis zu ihren Sünden stehen; wohl aber zeige sich etwas, das man eine »moralische Ordnung« nennen könnte, eine Ordnung nicht des Richtigen und Falschen, doch zumindest des Guten und Bösen. Der Zufall spiele eine Rolle, größtenteils brächten die Handelnden sich jedoch selbst um Kopf und Kragen.449 Edgar Stoll behauptet ganz im Gegenteil, die Handlung in Shakespeares Tragödien »entwickelt sich im Grunde nicht aus dem Charakter« 450 . Man könnte unzählige solcher Beispiele anführen, in denen den verschiedenen Maßstäben der tragischen Handlung entweder widersprochen oder für sie eine Ausnahme reklamiert wird, allen voran der fatalistische Maßstab.   Er schreibt: »Ich habe den Rückgriff auf die Vorstellung vom Schicksal nicht kritisiert, weil sie in Gesprächen und in Büchern über Shakespeare so oft auftaucht, dass ich annehmen muss, sie sei für viele Leser selbstverständlich. Dennoch bezweifle ich, dass es sich so verhalten würde, wenn die griechischen Tragödien nie geschrieben worden wären, und ich muss freimütig bekennen, dass sie mir, wenn ich eine Shakespeare’sche Tragödie lese oder gerade gelesen haben, nicht oft in den Sinn kommt.« (A. C. Bradley, Shakespearean Tragedy. Lectures on Hamlet, Othello, King Lear, and Macbeth, London 1932, S. 30, Fn.) 449  Die Ausführungen zur Gerechtigkeit (ebd., Lecture I, »The Substance of Tragedy«, S. 5) sind besonders deshalb bemerkenswert, weil dort klar gesagt wird, dass dieser Begriff irrelevant für die dramatische Kunst ist. 450  Edgar Stoll, Shakespeare and Other Masters, Cambridge, Mass. 1940, S. 31. 448



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Der Fehlschluss, der zu diesem Hin und Her der Interpretationen und Meinungen führt, ist uns schon vertraut: Er beruht auf der Verwechslung dessen, was der Dichter erschafft, mit dem, was er darstellt. Der Fehlschluss betrachtet nicht die künstlerische Funktion des von ihm Darstellten und die Art und Weise der Darstellung, sondern etwas, das diese Darstellungen angeblich veranschaulichen oder andeuten – etwas, das Teil des Lebens, nicht des Stücks ist. Wird daher von der Tragödie gesagt, sie sei ein Bild des Fatums, so wird erwartet, dass sie die Wege des Fatums veranschaulicht. Das ist aber nicht nötig, sie könnte genauso eine Illustration der Wege der Schurkerei, der Neurose, des Glaubens, der sozialen Gerechtigkeit oder was auch immer sonst sein, das der Dichter für brauchbar erachtet, um eine großangelegte, geschlossene Handlung zu motivieren. Der in griechischen Tragödien häufig verwendete Mythos des Fatums ist ein ebenso offensichtliches Motiv wie in späteren Theaterstücken die romantische, alle Widrigkeiten überwindende Liebe oder die unübersehbaren Folgen einer Verfehlung. Man sollte allerdings nicht erwarten, dass eine bedeutende Kunstform an ein einziges Motiv gebunden ist, gleichgültig in wie vielen Variationen oder Maskierungen es auftritt. Die vielen Themen, die sich von Aischylos bis O’Neill in der Tragödie finden lassen, auf »die Wege des Fatums« zu reduzieren und die vielen Weltanschauungen*, die man aus ihr heraus (oder in sie hinein) lesen kann, auf ebenso viele Anerkennungen einer übernatürlichen, moralischen oder rein kausalen Ordnung, verleitet nur dazu, endlos tieferen Bedeutungen, symbolischen Stellvertretungen und weitreichenden Implikationen nachzuspüren, auf die ein Theaterbesucher niemals kommen würde, weshalb sie für das Theater unbrauchbar wären. Das Fatum in der Tragödie ist die geschaffene Form, die virtuelle Zukunft eines vollendeten Ganzen. Sie ist überhaupt kein Ausdruck einer Überzeugung. Macbeths Geschick ist der Auf bau seiner Tragödie, nicht ein Beispiel dafür, wie es in der Welt zugeht. Jene virtuelle Zukunft hat die Form eines vollkommen individualisierten und daher sterblichen Lebens, eines zu-

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gemessenen Lebens, das sich in einer kurzen Zeitspanne erschöpft. Wachstum, Blüte und Erschöpfung – das Urbild des Fatums – sind nicht der Gegenstand des Stücks; es beschreibt nur den Gang der Handlung. Das Stück handelt von jemandes Begierden, von seinen Akten, seinem Konflikt und seinem Untergang. Wodurch auch immer seine Akte motiviert sind, wie auch immer seine Taten ihn vernichten, die Gesamthandlung ist sein dramatisches Geschick. Die tragische Handlung folgt dem Rhythmus des natürlichen Lebens und Todes, aber sie bezieht sich weder auf diese noch veranschaulicht sie sie; sie abstrahiert ihre dynamische Form und drückt sie in einer anderen Zeitspanne gänzlich anderen Materialien auf – die ganze Selbstverwirklichung vollzieht sich in Tagen oder Stunden statt in den Jahrzehnten des biologischen Vollzugs. Auf diese Weise bleibt der »tragische Rhythmus« von jedem natürlichen Anlass unberührt und wird zu einer wahrnehmbaren Form. Die Sorte Kunsttheorie, die den Wert des Dramas daran misst, wie es das Leben darstellt oder welche Ansichten über das Leben der Dichter in es hat einfließen lassen, führt die Kritik nicht nur von der Dichtung weg und hin zu Philosophie, Religion oder Gesellschaftstheorie, sie veranlasst auch dazu, im Protagonisten einen gewöhnlichen Mitmenschen zu sehen, der gutgeheißen oder verurteilt und in jedem Fall bemitleidet werden soll. Aus dieser Haltung heraus, die sich zweifellos – ob nun zu Recht oder zu Unrecht – von Aristoteles herleitet, sind noch eine Reihe anderer moralischer Forderungen an den Charakter des Helden gestellt worden: Er muss bewundernswert, doch nicht vollkommen sein, das Mitgefühl der Zuschauer selbst dann erregen, wenn sie ihn tadeln, sie müssen sein Geschick als das ihre betrachten usw.451   Thorndike betrachtet die Tragödie als die höchste Kunstform, weil sie, wie er es formuliert, »uns die Bilder unserer eigenen Sorgen vor Augen stellt und die Seele dadurch läutert, dass wir unser Mitgefühl, selbst unser Entsetzen und unsere Trostlosigkeit, für und über das Unglück unserer Mitmenschen verströmen« (Tragedy, a. a. O., S. 19). Kurz zuvor hat er eingeräumt, dass sie uns – neben anderen Vergnü451



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Tatsächlich, so meine ich, sollte uns der Tragödienheld jederzeit interessieren, allerdings nicht, weil er jemand aus unserem Bekanntenkreis sein könnte. Sein tragischer Irrtum, sein Verbrechen oder irgendein anderer Makel werden nicht aus moralischen Gründen eingeführt, sondern aus strukturellen Gründen: Sie stecken die Grenzen seiner Kraft ab. Seine Möglichkeiten erscheinen auf der Bühne nur im Gewand erfolgreicher Akte. Sobald seine erklärten oder auf sonst eine Weise sichtbaren Absichten scheitern oder seine Akte auf ihn zurückfallen und ihm Leid verursachen, hat seine Kraft ihren Höhepunkt erreicht, seine Lauf bahn geht zu Ende. Darin unterscheidet sich das Drama natürlich vollkommen vom Leben. Das moralische Versagen im Drama ist kein normaler Vorfall, der sich aussitzen ließe, und vermutlich ist es weder das erste noch das letzte Vergehen des Täters; der Akt, der den tragischen Irrtum oder die Schuld des Protagonisten bildet, markiert den Höhepunkt seines Lebens, danach geht es bergab. Seine »Unvollkommenheit« ist ein künstlerisches Element: darum genügt ein einziger Makel. Alle langlebigen Verfahren in der Kunst haben eine schöpferische Funktion. Sie können mehreren Zwecken dienen, der wichtigste von allen ist jedoch der, das Werk zu gestalten. Das gilt nicht nur für die Charakterzüge, die eine Figur glaubwürdig oder sympathisch erscheinen lassen, sondern auch für ein anderes viel diskutiertes Stilmittel des Dramas – die sogenannte »befreiende Komik«, die Einführung trivialer oder humoristischer Einlagen inmitten der ernsten, unheilvollen, tragischen Handlung. Der Terminus »befreiende Komik« verweist auf den angeblichen Zweck dieses Verfahrens: Das Publikum soll eine Erholungspause von der allzu großen emotionalen Spannung einlegen dürfen, es soll sowohl unterhalten werden als auch »Furcht und Mitleid« empfinden. Auch bei diesem Punkt vertraut die traditionelle Kritik meines Erachtens zu sehr den arigungen – auch die »ästhetische Freude an einem Meisterwerk« bereitet (ebd., S. 17).

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stotelischen Beobachtungen, die schließlich keine Einsichten eines Dramatikers darstellen, sondern die Überlegungen eines wissenschaftlich denkenden Mannes mit einem Interesse an Psychologie. Aristoteles hat im komischen Zwischenspiel ein Zugeständnis an die menschliche Schwäche gesehen, und seitdem ist »befreiende Komik« ein Name dafür. Die humoristischen Einlagen in der Tragödie sind bloß Augenblicke, in denen der Geist der Komik sich bis zur Heiterkeit steigert. Solche Augenblicke können sich aus allerlei poetischen Erfordernissen ergeben; der berühmte betrunkene Pförtner in Macbeth bildet einen makabren Gegensatz zu der Situation hinter der Tür, an die er schlägt, und offensichtlich ist es seine Rolle, das spannungsvolle Heimlichkeit des Mordes eher zu steigern als zu lindern. Die bemerkenswerteste Tatsache über diese berühmten Anklänge von »befreiender Komik« ist jedoch, dass sie immer in Stücken auftreten, die durchweg einen Hang zur Komödie haben, wenn auch meistens unterhalb der Schwelle, die zum Lachen reizt. Dieser Hang lässt sich um bestimmter Wirkungen, selbst um einer ganzen Szene willen anzapfen, um so die Handlung durch groteske Reflexion zu verlangsamen und zu dämpfen oder zu steigern. In jenen heroischen Tragödien, die durch das Eindringen der Farce geschwächt und von ihrem Wegfall strukturell nicht berührt werden, gibt es keine der Sache eigene, implizite Komödie – kein Alltagsleben – in der »Welt« des Stücks, zu der die Albereien ganz natürlich gehörten und aus der sie sich ohne Brüche für das Ganze ableiten ließen. 452 Im Macbeth (tatsächlich in allen Shakespearestücken) begegnen wir einem ausgedehnten gesellschaftlichen Alltagsleben von Soldaten, Stallknechten, Klatschmäulern, Hofleuten und   Thorndike macht darauf aufmerksam, dass Tamburlaine in diese Gattung fällt: »Ursprünglich enthielt das Stück einige komische Szenen, die aber in der gedruckten Fassung ausgelassen worden sind und die für seinen Auf bau oder seine Konzeption offenbar wertlos waren« (Tragedy, a. a. O., S. 90). Vgl. dazu auch John B. Moore, The Comic and the Realistic in English Drama, Chicago 1925. 452



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Bürgern, die einen seinem Wesen nach komischen Unterbau für die heroische Handlung bereitstellen. Diese untere Schicht bleibt größtenteils im Hintergrund und erweckt den Eindruck von Realismus, ohne eine offensichtliche Nebenhandlung zu bilden, aber dieser Realismus trägt den grundlegenden komischen Rhythmus, aus dem sich die grotesken Zwischenspiele mit makelloser dramatischer Logik entwickeln können. Die Tatsache, dass die beiden großen Rhythmen, der komische und der tragische, radikal verschieden sind, bedeutet nicht, dass sie einander entgegengesetzte oder gar unvereinbare Formen darstellen. Die Tragödie kann fest auf einem komischen Unterbau ruhen und dennoch eine reine Tragödie sein.453 Das ist nur natürlich, denn das Leben – dem alle gefühlten Rhythmen entspringen – enthält in jedem sterblichen Organismus beides. In ihren Mitgliedern dauert die Gesellschaft fort, diese aber – und seien sie noch so stark und schön – leben ihr Leben zu Ende und sterben, und obwohl jedes Individuum das tragische Muster erfüllt, hat es auch teil an der komischen Kontinuität. 454 Die Aufgabe des Dichters besteht selbstverständlich nicht darin, das Leben zu kopieren, sondern ein Symbol für das »Lebensgefühl« zu gestalten und zu artikulieren; in diesem Symbol wird die dynamische Form immer von einem einzigen Rhythmus   Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist J. M. Barries kleine, im Ersten Weltkrieg entstandene Tragödie The Old Lady Shows her Medals (in: ders., Echoes of the War, New York 1920, S. 1–63). Trotz der durchgehend komischen Behandlung des Stoffs erwartet man die unvermeid­ liche (und wortlose) letzte Szene. 454  Es gibt zudem eine als »Tragikomödie« bezeichnete Gattung (um sie von Lustspiel* und vom Trauerspiel* zu unterscheiden, spricht man in Deutschland vom Schauspiel*), deren komisches Muster mit dem Tragischen spielt; ihr Handlungsauf bau ist der einer abgewendeten Tra­ gödie, sie entringt dem Gefühl des Schicksals, das für gewöhnlich einen tragischen Ausdruck mit sich bringt, wenig oder gar keinen Überschwang (Humor) und verfällt oft ins Melodrama. Eine Untersuchung der wenigen künstlerisch gelungenen Stücke dieser Gattung und ihrer genauen Beziehungen zur reinen Komödie und reinen Tragödie könnte interessante Fragen aufwerfen. 453

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bestimmt, auch wenn ein anderer das Stück in kontrapunktischer Manier durchziehen kann. Shakespeare ist ein Meister dieses Verfahrens. Schließt das gänzlich individuelle Fatum der reinsten griechischen Tragödie das komische Gefühl des ewig satten und wogenden Lebensflusses durch sein unerbittliches Zulaufen auf den Tod aus? Oder haben Aischylos und Sophokles jene Fülle, den der tragikomische Kontrapunkt in anderen dichterischen Traditionen erschafft, durch den Tanz des Chores erzielt, der das Stück einrahmte und ausschmückte? Das Satyrspiel am Ende der langen tragischen Aufführung mag sehr wohl notwendig gewesen sein, um sicherzustellen, dass sie der Struktur subjektiver Wirklichkeit durch eine überschwängliche Feier des Lebens treu bleibt. Es gibt noch einen weiteren Umstand im Drama, der gemeinhin, und ich glaube zu Unrecht, als Zugeständnis an den Pub­ li­k umsgeschmack betrachtet worden ist: die Verwendung des Spektakels, des Prunks, der brillanten Show. Viele Kritiker sind anscheinend der Meinung, ein Dramatiker setze ganz unabhängig von seinem dichterischen Urteil und seiner dichterischen Absicht einfach deshalb auf spektakuläre Wirkungen, um das Publikum ins Theater zu locken. Tatsächlich behauptet Thorndike, die Verwendung des Spektakels zeuge von dem »doppelten Zweck, der vom Drama kaum abzutrennen und vor allem bei den Elisabethanischen Dramatikern deutlich ist, nämlich von dem zweifachen Wunsch, ihrem Publikum zu gefallen und Literatur zu erschaffen«.455 Brander Matthews sagt frei heraus, dass nicht allein das Theater, sondern jede Kunst »Unterhaltungs­ geschäft« ist, was immer sie sonst noch sein mag. 456 Kunst, und insbesondere die dramatische Kunst, ist voller Kompromisse, denn jede einzelne mögliche Wirkung geht in der Regel zulasten einer anderen; und nicht alle Ideen und Stil Thorndike, Tragedy, a. a. O., S. 98.   Brander Matthews, A Book About the Theater, a. a. O., S. 8 f. Vgl. oben, S. 522. 455

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mittel, die einem Dichter einfallen, können nebeneinander bestehen. Jede Entscheidung verwirft etwas anderes. Und mehr noch: Die Bühne, die verfügbare Ausstattung, die Fähigkeiten der Schauspieler, all das muss bedacht sein. Kein Künstler kann jedoch Zugeständnisse an das machen, was er für schlechten Geschmack hält, ohne damit sein Werk zu ruinieren. Er ist schlicht außerstande, wie ein Künstler zu denken und gleichzeitig Formen ohne Ausdruck gelten zu lassen oder ein Element zuzulassen, das keine organische Funktion für das Ganze erfüllt. Wenn er daher spektakuläre Szenen aufführen möchte, muss er von einer Idee ausgehen, die nach einer spektakulären Aufführung verlangt. Jedes Stück zielt auf ein bestimmtes Publikum ab, und das wichtigste Mitglied dieses Publikums ist der Verfasser selbst. Ist das Stück beispielsweise für ein Elisabethanisches Publikum gedacht, wird dieses Ehrenmitglied ein Elisabethanischer Theatergänger sein, den besten Elisabethanischen Geschmack teilen und ihn manchmal selbst prägen. Unsere Theaterkritiker schreiben so, als wären die früheren Dichter allesamt Menschen unserer Zeit, die Zugeständnisse an längst abgenutzte Interessen machten. Doch die Dichter, die Bühnenspektakel in Szene setzten, hatten spektakuläre Ideen und arbeiteten so lange mit ihnen, bis ihre Ausdrucksmöglichkeiten erschöpft waren. Das Element der reinen Show erfüllt in der dramatischen Kunst eine wichtige Aufgabe, denn es ist dazu geeignet, das Gefühl zu steigern, welches auch immer dies sein mag. Selbst im Alltagsleben ist das so: Ein prächtiger Saal, eine geschmückte Tafel, eine Gesellschaft in Abendkleidung lassen ein Fest großartiger und die Versammlung glänzender erscheinen als ein schmuckloser Tisch in einer Kantine, einer Mensa oder einer Sporthalle, an dem die Gäste Alltagskleidung tragen. Ein prunkvolles Begräbnis mit einer von singenden Priestern angeführten Prozession ist feierlicher als ein tristes, obwohl vermutlich niemand in dem spektakulären Trauerzug größere Trauer empfindet als in dem farblosen. Das Showelement im Theater trägt zur

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Steigerung der Atmosphäre bei, ob sie nun durch Fröhlichkeit, Entsetzen oder Leid geprägt ist; es ist daher in erster Linie ein probates Hilfsmittel. Auch in der Tragödie hat es seine Funktion, allerdings eine speziellere und essentiellere. Die Tragödie, die das Bewusstsein von Leben und Tod ausdrückt, muss das Leben als wertvoll, reich und schön erscheinen lassen, um dem Tod nicht seinen Schre­cken zu nehmen. Die glänzenden Übertreibungen auf der Bühne dienen dem tragischen Gefühl, indem sie die Welt verlockender erscheinen lassen. Die Schönheit der Welt wird ebenso wie der Gefühlstonfall der Handlung durch das Element des Spektakels vergrößert – durch Beleuchtung und Farbe, Bühnenbild und Arrangement, Musik und Tanz, »Lärm und Getümmel«. Einige Dramatiker machen großzügig Gebrauch von diesen Hilfsmitteln, andere verzichten fast ganz auf sie (aber niemals vollständig, denn das Theater ist jederzeit spektakulär), weil sie über andere poetische Mittel verfügen, um dem virtuellen Leben jenen Glanz zu verleihen, den der Tod ihm nimmt oder den die Hoffnungslosigkeit – der »Tod der Seele« – stumpf macht. Das Spektakel wird in mehreren Künsten als kräftige Zutat verwendet. Was bewirken Wasserspiele nicht alles für einen Innenhof oder einen Platz, und wie sichtbar lebendig wird das Innere einer Kathedrale durch eine feierliche Prozession! Ein zufälliges Spektakel vermag einen Architekturentwurf auf wunderbare Weise zu verändern. Die Galatabrücke, die mitten in Istanbul das Goldene Horn überspannt, sieht mit den Tausenden von Menschen und Fahrzeugen, die sie auf beiden Seiten von steilen Hängen kommend überqueren, aus, als hinge sie zwischen den beiden von Moscheen gekrönten Hügeln; ohne das prachtvolle Schauspiel des kosmopolitischen Verkehrsgewimmels schrumpft sie zu einer flachen Verbindungsstraße zwischen ihren wirklichen Brückenköpfen. Eine Uferpromenade wäre ohne die Bewegung des Wassers unter ihr wenig beeindruckend, doch wenn sie im Mondschein daliegt und das Licht auf die Wasseroberfläche fällt oder sie unerschütterlich der



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hochschlagenden Brandung standhält, kann sie zum wahren Traum eines Architekten werden. Eine reine Show, die nicht künstlerisch verarbeitet worden ist, bildet jedoch kein »Werk«. Akrobatik, das Tennisspiel, manche schön anzusehende Arbeitsrhythmen wie das Auswerfen von Netzen, das Schwingen eines Hammers oder Bootsmanöver bei einem Rennen sind faszinierend und ästhetisch so mitreißend, dass sie den Betrachter in eine freudige Trance versetzen; Kunst sind sie freilich nicht. Für ein Kunstwerk ist diese Trance nur eine Voraussetzung. Ein Spektakel, und sei es noch so schön, ist immer nur ein Element in der Kunst. Es ist gut möglich, dass es ein wesentliches Element ist, so zum Beispiel in Noverres Balletten und in den höfischen Maskenbällen, doch selbst diese weitgehend spektakulären Erzeugnisse gelten als »Werke«, weil in ihnen noch etwas anderes steckt, was ihre Aufführung veranlasste: eine Phantasie, eine »Leitform«. Ein Zirkus könnte ein Kunstwerk sein, wenn er denn ein zentrales Gefühl und eine primäre, unfehlbare Illusion hätte. So wie die Dinge liegen, findet man im Zirkus nur manchmal kleine »Werke« – eine Reitnummer, die eigentlich ein Tanz zu Pferde ist, eine Clownsnummer, die sich zu einer echten Komödie aufschwingt. Im Ganzen aber ist der Zirkus eine »Show«, kein Kunstwerk, auch wenn er das Werk von Können, Planung und Stimmigkeit ist und mitunter vor den gleichen Problemen steht, die sich auch in den Künsten stellen. Was ihm abgeht, ist jedoch die erste Voraussetzung der Kunst – es fehlt ihm ein Begriff des Fühlens, etwas, was er ausdrücken will. Da ein dramatisches Werk einen solchen Kern hat, ist alles in ihm Poesis. Es ist daher weder ein aus unterschiedlichen Interessen zusammengestücktes Mischprodukt noch eine Synthese aller anderen Künste – auch nicht von »einigen«, um bescheidener zu sein. Es könnte eine Verwendung für Farbe, Gips, Holz und Ziegel haben, nicht aber für Malerei, Skulptur oder Architektur; es hat eine Verwendung für Musik, aber nicht einmal für einen Ausschnitt aus einem Konzertprogramm; mag nach Tanz verlangen, doch ein solcher Tanz wäre nicht selbstgenügsam –

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er verstärkt eine Szene, abstrahiert oft die Quintessenz ihres Gefühls, ist das Bild reiner Mächte, das sich als eine sekundäre Illusion inmitten der virtuellen Geschichte entwickelt. Das Drama ist eine große Form, die nicht nur den Ausdruck elementaren menschlichen Fühlens ermöglicht, sondern auch einen hohen Grad an Artikulation zulässt, Komplexität, Details innerhalb von Details, kurz gesagt: eine organische Entwicklung, die kleinere poetische Formen nur um den Preis der Sprengung ihrer Ordnung zulassen. Die Behauptung, derartige Werke drückten »eine Vorstellung des Fühlens« (a conception of feeling) aus, ist so lange irreführend, wie wir uns nicht klarmachen, dass es das ganze Gefühlsleben ist – man nenne es »gefühltes Leben«, »Subjektivität«, »unmittelbare Erfahrung« oder was immer man will –, das seinen artikulierten Ausdruck in der Kunst und, wie ich glaube, nur in der Kunst findet. Eine so große und voll entwickelte Form wie (etwa) eine Shakespeare’sche Tragödie kann den charakteristischen Modus von Wahrnehmung und Reaktion, Empfindungsvermögen und Emotion sowie ihre sympathetischen Obertöne formulieren, der eine gesamte Persönlichkeit ausmacht. Hier haben wir den Vorgang des künstlerischen Ausdrucks »in Großbuchstaben«, wie Platon sagen würde, denn das kleinste Werk bewirkt in seinem Maßstab dasselbe wie das größte: Es legt die Muster möglicher Empfindung, Vitalität und Geistigkeit offen, indem es unser subjektives Sein – die »Wirklichkeit«, die uns am vertrautesten ist – objektiviert. Diese Aufgabe und nicht das Aufzeichnen von Zeitgeschehen, Politik oder moralischen Haltungen verbindet die Kunst mit dem Leben; und das große Entfalten des Fühlens im organischen, persönlichen Muster eines menschlichen Lebens, Entstehen, Wachsen, Erfüllen des Schicksals und Untergang – das ist die Tragödie.

TEIL III Die Macht des Symbols

20. Kapitel Expressivität Ein Kunstwerk stellt ein einziges, unteilbares Symbol dar, wenngleich ein hoch artikuliertes; anders als ein Diskurs (den man ebenfalls als eine einzige symbolische Form betrachten kann) ist es nicht zusammengesetzt und in elementarere Symbole analysierbar – in Sätze, Nebensätze, Phrasen, Wörter und sogar in je für sich bedeutungsvolle Wortteile: Wurzeln, Präfixe, Suffixe usw., nach den allgemein bekannten »Gesetzen der Sprache« ausgewählt, angeordnet und rekombinierbar. Denn die geschriebene oder gesprochene Sprache ist ein Symbolismus, ein System von Symbolen; ein Kunstwerk ist immer ein primäres Symbol. Zwar ist es analysierbar, insofern seine Artikulation nachvollziehbar ist und sich darin verschiedene Elemente unterscheiden lassen, aber niemals lässt es sich durch eine Synthese von Elementen konstruieren, denn außerhalb seiner gibt es keine solchen Elemente. Sie treten nur in der Gesamtform auf, so wie man von einer Muschel sagen kann, dass sie durch die konvexen und konkaven Oberflächen bestimmt wird, ohne dass die Muschel aus dem »Konvexen« und dem »Konkaven« synthetisierbar ist. Es gibt diese Faktoren nicht, ehe es die Muschel gibt. Bislang habe ich mich systematisch mit dem Erstellen von Kunstsymbolen auseinandergesetzt, von denen jedes einzelne ein »Werk« ist. Da die Prinzipien ihrer Erschaffung und Artikulation mit Blick auf jede der traditionellen großen Gattungen erörtert worden sind: bildende Kunst, Musik, Tanz, Dichtung (selbstverständlich mag es noch andere, sogar andere »primäre Illusionen« geben, und sicherlich gibt es andere als die genannten Modi), ist es jetzt an der Zeit, sich mit einigen der wichtigen philosophischen Probleme zu beschäftigen, die von dieser Kunsttheorie aufgeworfen werden. Im ersten Teil des Bu-

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ches war dies noch nicht möglich, denn allgemeine Aussagen können nicht vollständig geklärt werden, solange ihre Verwendungen nicht deutlich sind. Am Schluss aber müssen wir uns der erkenntnistheoretischen Herausforderung stellen. Auch eine Reihe psychologischer Fragen werden sich unweigerlich ergeben, und einige führen uns möglicherweise geradewegs ins Herz der Ethnologie und sogar der Biologie. Dergleichen Fragen werde ich einem späteren Buch vorbehalten. Aber auch wenn dieses Buch keine Psychologie der Kunst vorlegt, berührt es sehr wohl psychologische Fragen, denn einige charakteristische Reaktionen des Künstlers auf Themen und Materien oder auch eines Rezipienten auf das Werk weisen auf das Wesen der Kunst; derartige Fragen zu meiden, bloß weil sie der Psychologie angehören (so wie Clive Bell sich geweigert hat, der Ursache seines »ästhetischen Gefühls« nachzugehen), bedeutet, den Fortschritt des systematischen Denkens durch die künstlichen Hindernisse pseudowissenschaftlichen Schubladendenkens zu blockieren. Ein Problem gehört zu der Disziplin, in der es sich logisch stellt und für die seine Lösung von Bedeutung ist. Die entscheidenden Fragen sind jedoch logisch und erkenntnistheoretisch: – Wie kann ein Werk, das keine zeitliche Abfolge enthält – ein Bild, eine Skulptur, ein Haus – irgendeinen Aspekt vitaler Erfahrung ausdrücken, wo diese doch immer zeitlich fortschreitend ist? Welche Gemeinsamkeit der logischen Form kann es zwischen solch einem Symbol und der Morphologie des Gefühls geben? – Wie können andere als der Künstler ist die Bedeutsamkeit eines Werks kennen? – Was ist der Maßstab guter Kunst? Und folglich: Was ist »guter Geschmack« in der Kunst? – Was ist Schönheit und wie verhält sie sich zur Kunst? – Worin besteht die öffentliche Bedeutung der Kunst? Ich werde versuchen, diese Fragen der Reihe nach zu beantworten.



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Die bildende Kunst weist, wie alle anderen Künste auch, ein Zusammenspiel dessen auf, was Künstler in jedem Bereich als »Spannungen« bezeichnen. Die Verhältnisse der Volumina, die Verteilung der Akzente, die Richtung der Linien, ja alle Kompositionselemente bilden Raumspannungen im primären virtuellen Raum. Jede Entscheidung, die der Künstler trifft – die Intensität der Farbe, die Technik, sei sie glatt oder schroff, zart andeutend wie in japanischen Zeichnungen, satt und leuchtend wie in der Glasmalerei, im Chiaroscuro-Stil und dergleichen mehr –, wird durch die Gesamtorganisation des Bildes gelenkt, das er hervorbringen möchte. Es besteht nicht aus dem Nebeneinander von Teilen, sondern dem Zusammenwirken von Elementen. Ihr ständiger Kontrast bringt Raumspannungen mit sich; was sie aber zusammenhält – die Einheitlichkeit der Qualität, die jedes gute Werk durchzieht –, ist die Raumlösung. Gleichgewicht und Rhythmus, das Zurücktreten und Verschmelzen unterstützender Elemente, die so natürlich und vollkommen eintreten, dass man nicht einmal weiß, was zwischen Zeichnung und Hintergrund unterscheidet, also jedes künstlerische Mittel, das den Blick vereinheitlicht und vereinfacht, erzeugt das Gegenstück zur Raumspannung, die Raumlösung. Wäre dieses Gegenstück nicht gleichbleibend sichtbar, würde das ganze System der Spannungen nicht wahrgenommen, existierte also nicht, denn »Raumspannung« ist eine Eigenschaft, die allein dem virtuellen Raum zukommt, in dem esse est percipi. Im realen, gewöhnlichen Raum gibt es nichts dergleichen. 457 Empfindungsfähige Wesen reagieren auf ihre Welt, indem sie beständig ihren eigenen Gesamtzustand verändern. Wenn die Aufmerksamkeit eines Geschöpfs sich von einem Punkt des Interesses auf einen anderen verlagert, dann werden davon nicht   Man könnte natürlich behaupten, der reale Raum existiere nur dank physikalischer Spannungen, der Ausdifferenzierung des elektro­ magnetischen Felds in Gegenstände und physikalische Ereignisse. Spannungen dieser Art werden freilich nicht als solche erfahren; auf der »molaren« Ebene, auf der ein Vergleich zwischen realer und virtueller Erfahrung angesiedelt ist, ist der reale Raum homogen und statisch. 457

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nur die unmittelbar betroffenen Organe (die beiden Augen, die einen neuen Gegenstand sehen, die beiden Ohren, die einen neuen Ton hören und »lokalisieren«, usw.) berührt, sondern Hunderte von Fasern des Körpers. Jede noch so kleine Wahrnehmungsverschiebung verlangt nach einer Neuanpassung, und unter gewöhnlichen Umständen greifen solche Neuregelungen problemlos ineinander. Unterhalb dieses veränderlichen Vorgangs, den man als »Wachleben« bezeichnen könnte und der ununterbrochen von Dingen außerhalb der Haut des Geschöpfs beeinflusst wird, gibt es eine andere, rhythmisch einfachere Veränderungsfolge: das System der vitalen Funktionen. Ob diese Folge kontinuierlich die Funktionen der äußeren Wahrnehmung spiegelt, kann ich nicht sagen; gewiss ist allerdings, dass größere Erregungen das gesamte System – willkürliche und unwillkürliche Muskeln, Herz, Haut und Drüsen sowie Augen und Gliedmaßen – in ungewöhnliche Tätigkeit versetzen. Dasselbe kann, zumindest beim Menschen, auch ohne äußere Ursachen, sondern aufgrund von Krisen im fortwährenden (wenn nicht unauf hörlichen) Vorgang der Ideenbildung stattfinden. Über das geistige Leben der Tiere wissen wir recht wenig, was uns zum Glück hier nicht kümmern muss, doch im menschlichen Leben haben die Funktionen des Intellekts und der Phantasie ihren Anteil daran, einen bestimmenden Einfluss auf die wache Aktivität auszuüben. Im Schlaf verfügen sie vermutlich nahezu über ein Monopol (das wenigstens bei Erwachsenen nicht vollständig ist, denn wir lernen, nicht aus dem Bett zu fallen – also uns von der Kante der Matratze fernzuhalten – und unsere inneren Organe selbst im Schlaf zu kontrollieren). Diese geistige Tätigkeit und Empfänglichkeit ist entscheidend dafür, wie jemand der ihn umgebenden Welt begegnet. Reine Empfindung – bald Schmerz, bald Lust – wiese keine Einheit auf und würde die Aufnahmefähigkeit des Körpers für künftige Schmerzen und Lüste nur rudimentär verändern. Im Leben eines Menschen zählt die Empfindung, an die er sich erinnert, die er erwartet, fürchtet, sucht, oder auch die, die er sich vor-



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stellt und meidet. Die äußere Welt, wie wir sie kennen, wird uns von der durch die Einbildungskraft geformten Wahrnehmung gegeben. Und es ist die Kontinuität des Denkens, die unsere emotionalen Reaktionen zu Haltungen mit charakteristischen Gefühlsfärbungen systematisiert und den Leidenschaften eines Individuums einen bestimmten Spielraum verleiht. Mit anderen Worten: Dank unseres Denkens und unserer Einbildungskraft haben wir nicht nur Gefühle, sondern ein Gefühlsleben. Dieses Gefühlsleben bildet einen Strom von Spannungen und Auflösungen. Vermutlich ist jede Emotion, jede Gefühlsfärbung, jede Stimmung und sogar jedes persönliche »Lebensgefühl« oder »Identitätsgefühl« ein besonderes und komplexes, aber eindeutiges Zusammenspiel von Spannungen –gegenwärtigen, nervösen und muskulären Spannungen, die in einem menschlichen Organismus stattfinden. Dieses Konzept eines zu Recht so genannten »Innenlebens« ist bereits in Kapitel 8 erörtert worden; sein Bild ist im »Fluss« komponierter Klänge ohne große Anstrengung zu finden. Die Tatsache, dass Musik ein zeitliches, fortschreitendes Phänomen ist, verführt uns jedoch leicht dazu, ihr Vergehen als eine Verdoppelung psychophysischer Ereignisse zu denken, als eine Kette von Ereignissen, die dem Verlauf des Gefühlslebens parallel ist, statt sie als eine symbolische Projektion zu betrachten, die nicht denselben Bedingungen wie das von ihr Symbolisierte gehorchen, also ihre Bedeutung nicht in einer zeitlichen Ordnung präsentierten muss, weil diese Bedeutung etwas Zeitliches ist. Die symbolische Kraft der Musik gründet in der Tatsache, dass sie ein Muster von Spannungen und Auflösungen erschafft. Da ihre Substanz – ihre primäre Illusion – eine virtuelle (wissenschaftlich recht unrealistische) Zeit ist, ist das Gefüge musikalischer Spannungen ein zeitliches. Auf die gleiche Art Muster stoßen wir in den bildenden Künsten, wenngleich in einer nicht-zeit­ lichen Projektion. Die durch das Symbol bewirkte Abstraktion ist dort vermutlich nicht größer, sie ist nur augenfälliger. Malerei, Bildhauerei, Architektur und alle verwandten Künste tun auch nichts anderes als die Musik.

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In einem Buch, aus dem zu zitieren ich schon mehrfach die Gelegenheit hatte – Francis Fergussons The Idea of a Theater –, findet sich ein Absatz, der zeigt, wie bereitwillig das künstlerische Verständnis auf eine zeitliche Präsentation verzichten und sich mit dem zeitlosen Bild arrangieren kann. Mit Blick auf den Auf bau von Wagners Tristan und Isolde schreibt Fergusson: »Wagner hat die Geschehnisse der Geschichte so angeordnet, dass auf der Bühne stets leidenschaftliche Augenblicke gezeigt werden. Diese aufeinanderfolgenden Momente bilden eine Sequenz, einen Gefühlsrhythmus oder auch (denkt man sie sich zusammengefasst und nicht in der zeitlichen Abfolge, in der sie uns vorgeführt werden) ein von absoluter Leidenschaft hervorgebrachtes Spektrum von Emotionen […].« 458 Dieses Spektrum von Emotionen ist in den nicht-zeitlichen Künsten die alles organisierende »Idee«. Das Gefühlsleben wird in zeitloser Projektion vorgeführt. Nur eine Kunst, die ihre Elemente erschafft, statt sie der Welt zu entnehmen, ist durch die Illusion der »Raumspannungen« und der »Raumlösungen« imstande, zugleich Spannung und Auflösung zu zeigen. Obwohl ein Kunstwerk vom zeitlichen Charakter der Erfahrung abstrahieren mag, muss das, was es in seiner eigenen logischen Projektion wiedergibt, dennoch seiner Anlage nach der Struktur der Erfahrung entsprechen. Aus diesem Grund erscheint die Kunst wesentlich organisch, sind doch alle vitalen Spannungsmuster organische Muster. Selbstverständlich darf man nicht vergessen, dass ein Kunstwerk nicht ein realer Organismus ist, sondern nur die Erscheinung von Leben, Wachstum und funktionaler Einheit darstellt. Seiner materiellen Beschaffenheit nach ist es entweder anorganisch wie Stein, tote organische Materie wie Holz oder Papier oder überhaupt kein »Ding«. Musik ist eine Bewegung der Luft. Für die Dichtung gilt das Gleiche, außer sie ist ein Pfad aus Tinte. Doch gerade weil einzig die geschaffene Erscheinung eine organische Struktur besitzt, zeigt uns ein Kunstwerk die Erscheinung von Leben; und der 458

 Fergusson, The Idea of a Theater, a. a. O., S. 79.



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Schein funktionaler Einheit ist unverzichtbar, wenn das illusionäre Spannungsmuster gefühlte Spannungen, also menschliche Erfahrung konnotieren soll. Für die Technik bedeutet dies, dass jedes Element zugleich als distinkt, das heißt als es selbst, erscheinen und zugleich in Kontinuität mit einer größeren, in sich geschlossenen Form stehen muss (vgl. Hildebrands Analyse des Bildraums in Kapitel 5). Diese ganzheitliche Beziehung bringt meines Erachtens die oft bemerkte Qualität der »Lebendigkeit« in allen gelungenen Werken hervor. Und weil Kunst eine symbolische Präsentation und keine Kopie von Gefühlen ist, lässt sich in die zeitlos artikulierte Form eines Gemäldes, eines Buntglasfensters oder eines subtil proportionierten griechischen Tempels genauso viel Wissen über Gefühle projizieren wie in die fließenden Formen von Musik, Tanz oder Rezitation. Wenn Gefühl und Leidenschaft eigentlich Spannungskomplexe sind, dann sollte jede affektive Erfahrung ein eindeutig bestimmter Vorgang dieser Art sein, und jedes Kunstwerk sollte, da es das Bild eines derartigen Komplexes ist, ein bestimmtes Gefühl unzweideutig ausdrücken. Statt jenes »unvollendete Symbol« zu sein, das in Philosophie in neuer Tonart postuliert wurde, könnte es in der Tat eine einzige Referenz haben. Ich vermutet, dass dies wirklich der Fall ist und dass die verschiedenen Gefühlswerte, die einem Kunstwerk zugeschrieben werden, auf einer intellektuelleren Ebene liegen als seine vitale Bedeutung: Denn was ein Kunstwerk darlegt – den Verlauf von Empfindung, Fühlen, Emotion und dem élan vital selbst –, hat keine Entsprechung in irgendeinem Vokabular. Diskursiv sind uns seine Elemente nur dadurch bekannt, dass sie in typischen Situationen und Handlungen vorkommen; wir benennen sie nach ihren Begleitumständen. Der gleiche Erregungsverlauf kann jedoch auch in völlig anderen Umständen auftreten, in Situationen, die auf eine Katastrophe zulaufen, und in anderen, die sich ohne praktische Folgen auflösen. Dasselbe Gefühl mag ein Bestandteil der Trauer und der Freuden der Liebe sein. Ein Kunstwerk, das einen zu vieldeutigen Begleitaffekt ausdrückt, wird von dem einen Interpreten als »heiter« und von einem an-

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deren als »wehmütig« oder sogar »traurig« bezeichnet werden. Was es tatsächlich vermittelt, ist nur ein namenloser Abschnitt des »gefühlten Lebens«, von dem der Betrachter durch seine Verkörperung in dem Kunstsymbol weiß, selbst wenn er ihn nie am eigenen Leib erfahren hat. Selbst der Künstler muss nicht jedes Gefühl in seinem wirklichen Leben erfahren haben, das er ausdrücken kann. Möglicherweise entdeckt er durch die Bearbeitung der von ihm geschaffenen Elemente neue Möglichkeiten von Gefühlen, seltsame Stimmungen, vielleicht größere Konzentrationen von Leidenschaft, als sein eigenes Temperament sie hervorbringen könnte oder als seine Geschicke ihm bislang beschert haben. Denn obgleich das Kunstwerk den Charakter der Subjektivität zeigt, ist es selbst objektiv; sein Zweck ist es, das Gefühlsleben zu objektivieren. Als abstrakte Form kann es recht unabhängig von seinen Quellen behandelt werden und dynamische Muster liefern, die selbst den Künstler erstaunen. Alle fremden Einflüsse auf sein Werk tragen auf diese Weise etwas zu seinem Wissen vom Menschen bei. (Ich sage nicht »psychologisches« Wissen, weil die Psychologie eine Wissenschaft ist, und zu ihr kann nur diskursives Wissen gehören.) Die byzantinische Kunst, die Kunst der Afrikaner, Hindus, Chinesen oder Polynesier werden für unser eigenes künstlerisches Leben allein insofern bedeutsam, als unsere Künstler die Gefühle dieser exotischen Werke erfassen. Das führt uns zur zweiten wichtigen Frage, die erkenntnistheoretischer Natur ist: Wie kann die Bedeutsamkeit eines Kunstsymbols (das heißt eines Kunstwerks) von anderen als seinem Schöpfer gekannt werden? Vermittels des elementarsten geistigen Vorgangs – sofern wir bei der Kategorie »geistig« von jenem Erkennen von Dingen als Gebilden der Praxis absehen, das Coleridge »primäre Imagination« genannt hat und das wir vermutlich mit den höheren Lebewesen teilen – des grundlegenden geistigen Akts der Anschauung. Im Kontext der philosophischen Kunsttheorie lässt uns das Wort »Anschauung« sofort an zwei große Namen denken: Berg-



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son und Croce. Wenn wir Anschauung jedoch in der von ihnen eingeführten Weise auffassen, dann klingt es widersinnig, von »geistiger Anschauung« (intellectual intuition) zu sprechen, denn was immer ihre Theorien voneinander unterscheidet, in einem sind sie sich einig: Die Anschauung ist ihrem Wesen nach kein intellektuelles Vermögen. Croce erklärt ausdrücklich, er habe »die intuitive Erkenntnis von jeder Unterwerfung unter den Intellekt« befreit.459 Bergsons Gegenüberstellung von Intuition, dem unmittelbaren Erfassen der Wirklichkeit, und dem Intellekt, der Falsifizierung der Wirklichkeit zu praktischen Zwecken, ist so bekannt, dass sich hier jede weitere Darlegung erübrigt.460 Intuition, so wie Bergson sie begreift, steht jedoch der mystischen Erfahrung so nahe, dass sie sich jeder philo­ sophischen Untersuchung entzieht: Sie ist einfach eine plötzliche Erleuchtung, unfehlbares Wissen, höchst selten und mit dem übrigen geistigen Leben unvereinbar. Croces Begriff ist da brauchbarer, denn für ihn ist Anschauung ein unmittelbares Gewahrsein, das sich immer auf ein Einzelding, ein Ereignis, ein Bild, ein Gefühl richtet, ohne dass damit ein Urteil über deren metaphysischen Status verbunden wäre, das heißt da­r über, ob es sich um eine Tatsache oder eine bloße Vorstellung handelt.461 Der Akt der Anschauung ist hier keine blinde »Inbesitznahme« oder gefühlsgeleitete Erfahrung der »Wirklichkeit«, wie Bergson es sich dachte; er ist für Croce ein Akt der Wahrnehmung, durch   Benedetto Croce, Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und all­ gemeine Sprachwissenschaft, Leipzig 1905, S. 5. 460  Der Leser, dem sie nicht vertraut ist, wird ihre einschlägige Formulierung in Bergsons kleiner Schrift »Einführung in die Metaphysik« finden (in: ders., Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 180–225). 461  »Die Anschauung schließt die Wahrnehmung des Wirklichen und die einfache Vorstellung des Möglichen undifferenziert in sich. In der Anschauung setzen wir uns nicht als empirische Wesen der äußeren Realität gegenüber, sondern wir objektivieren einfach unsere Eindrücke, welcher Natur sie immer sein mögen.« (Croce, Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 4) 459

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den der Inhalt geformt, und das heißt für ihn in eine Form ver­ wandelt wird. 462 Dieser Begriff ist nicht unproblematisch, auch wenn er sich verteidigen lässt; da uns das aber zu weit auf das Feld von Croces Metaphysik führen würde, möchte ich ihn hier weder vertiefen noch kritisieren. Im Wesentlichen unterscheidet sich Croces Begriff nicht vom kantischen Begriff der Erfahrungsinhalte, die bereits durch die Tätigkeit der Wahrnehmung eine Form erhalten haben, also wahrnehmbar gemacht worden sind und als solche die niedrigste Form des Versteh­baren haben. Croces mangelnde Genauigkeit bei der Verwendung solcher Worte wie »Tatsache«, »Tätigkeit«, »Materie« lässt seine Ästhe­ tik kryptischer und zweifelhafter erscheinen als nötig, zumindest bezogen auf die Kunsttheorie. Eine so wenig präzise Sprache verführt meines Erachtens zu einigen logisch unzulässigen Schritten, die zu seiner Metaphysik des »Geistes« führen, und verdeckt sie zugleich; in der Ästhetik zeitigt sie nur eine folgenschwere Verwirrung: die Gleichsetzung von Anschauung und Ausdruck, 463 die letztlich für die These verantwortlich ist, dass ein Kunstwerk in erster Linie im Kopf des Künstlers existiert und seine Verdopplung in materieller Form eine bloße Nebensache ist. Diese unglückselige Schlussfolgerung ist von Bernard Bosanquet, L. A. Reid und anderen hinreichend analysiert und kritisiert worden. 464 Tatsächlich hätte Croce nie diesen Fehler begehen dürfen und hätte ihn wohl auch nicht begangen, wenn nicht jener grundlegende Irrtum gewesen wäre, der den meisten Theoretikern gemeinsam ist, die sich mit der Anschauung be  »Beim ästhetischen Schaffen tritt die ausdruckgebende Tätigkeit nicht einfach zu den vorhandenen Eindrücken hinzu, sondern diese werden von ihr bearbeitet und gestaltet. […] Der ästhetische Vorgang liegt daher in der Form und ist nichts als Form.« (Ebd., S. 16) 463  Ein weiteres Beispiel für den weitverbreiteten Fehlschluss, zwei Termini, die in einer konstanten und engen Beziehung zueinander stehen, einfach gleichzusetzen. 464  Siehe vor allem Bernard Bosanquet, Three Lectures on Aesthetics, New York 1915; Louis Arnaud Reid, »The Problem of Artistic Production«, in: Journal of Philosophical Studies V (1930), S. 533–544. 462



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schäftigen: eine falsche Auffassung des Verhältnisses von Anschauung und Symbolismus. Was Croce unter »intellektuell« versteht, ist, liest man seine Texte genau, schlicht »diskursiv«. Die »ausdruckgebende Tätig­ keit«, durch die Eindrücke »bearbeitet und gestaltet« und der Anschauung zugänglich gemacht werden, ist meiner Meinung nach der Vorgang der elementaren Symbolherstellung, denn die grundlegenden Symbole des menschlichen Denkens sind Bilder, die jene vergangenen Eindrücke »bedeuten«, durch die sie erzeugt worden sind, sowie all die zukünftigen, mit denen sie dieselbe Form teilen. Dies ist zwar eine sehr niedrige Ebene der Symbolisierung, aber gerade auf dieser Ebene fängt bezeichnenderweise das geistige Leben des Menschen an. Ein Eindruck, den ein Mensch empfängt, ist nie bloß ein Anzeichen aus der Außenwelt, er ist immer auch ein Bild, in dem mögliche Eindrücke formuliert sind, das heißt, er ist ein Symbol für die Konzeption einer derartigen Erfahrung. Der Begriff »derartig« lässt eine elementare Abstraktion oder ein Gewahrsein der Form erkennen. Das ist es, was Croce meines Erachtens mit der »Anschauung« meint, die vom »Ausdruck« ununterscheidbar ist, wenn er am Ende seines ersten Kapitel schreibt: »Die intuitive Erkenntnis ist die ausdruckgebende Erkenntnis. […] [D]ie Intuition oder Vorstellung unterscheidet sich von dem, was man empfindet und leidet, von der Woge oder Flut des Sensoriums, von der psychischen Materie als Form: und diese Form, diese Besitzergreifung ist Ausdruck. Intuitiv (anschaulich) erkannt haben heißt Ausdruck geben und nichts anderes; nicht mehr, aber auch nicht weniger als Ausdruck geben.« 465 Formulieren, vorstellen, abstrahieren: Das sind die charakteristischen Funktionen von Symbolen. Als solche sind sie aber vor allem in Verbindung mit diskursiven Symbolen untersucht worden, und darum verhält es sich so, wie Croce es ausgedrückt  Croce, Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 12. 465

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hat: »Wir besitzen eine wohlbekannte uralte Wissenschaft von der verstandesmäßigen Erkenntnis: die Logik; aber eine Wissenschaft der intuitiven Erkenntnis wird nur von ganz wenigen und auch von diesen nur mit schüchternem Vorbehalt für möglich gehalten.« 466 Solange die Anschauung als etwas behandelt wird, das kein objektives Korrelat hat, sind weder ihre Varianten noch ihre Beziehungen zur Vernunft, zur Vorstellungskraft oder irgendeinem anderen geistigen Vermögen, über das Tiere nicht verfügen, einer Untersuchung zugänglich. Logiker mögen sich an die komplexen und oft trügerischen Funktionen der Sprache wenden (sei es der »natürlichen« oder der »künstlichen«, das heißt der technischen), um ihre kognitiven Erfahrungen festzuhalten – Begriffsbildung, Begriffsverknüpfungen, Schlüsse, Urteile – und irgendein Muster geistiger Tätigkeit in dem sprachlichen Muster reflektiert zu finden, das sie vermittelt. Werden Anschauungen jedoch als unmittelbare Erfahrungen betrachtet, die nicht vermittelt und nicht öffentlich zugänglich sind, dann ist es unmöglich, sie aufzuzeichnen oder systematisch zu behandeln, ganz zu schweigen davon, eine »Wissenschaft« der intuitiven Erkenntnis aufzustellen, die »das vollkommene Analogon der Logik« sein soll.467 Der Vorgang der Formulierung, wie Croce ihn darstellt, ist transzendental: Eine Anschauung – ein rein subjektiver Akt – findet spontan, ohne irgendein Medium im Kopf statt. Verschiedene Arten der Anschauung gibt es nicht. Folglich – nach der gegenwärtigen Annahme, dass Anschauung und Ausdruck dasselbe sind – kann es keine verschiedenen Arten des Ausdrucks geben, obgleich es verschiedene Inhalte gibt. Für die Kunsttheorie hat das weitreichende Folgen, nämlich dass es keine Gattungen der Kunst gibt, keine Modi, keine Stile – keine Unterschiede zwischen Musik und Malerei und Dichtung und Tanz, sondern nur die intuitive Erkenntnis einer einzigartigen Erfahrung.468   Ebd., S. 1.   Ebd., S. 15. 468  Ebd., Kap. 4, passim. 466 467



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Wenn Croce schreibt: »Jede wahre Anschauung oder Vorstellung ist zugleich Ausdruck«, dann weist er tatsächlich den Weg hin zu einer möglichen Untersuchung der Anschauung, denn unter Ausdruck versteht er das, was ich »logischen Ausdruck« genannt habe, auch wenn er noch so sehr gegen das Wort »logisch« protestiert. Er hat keine Gefühlssymptome im Augen, sondern Formulierung. Es gibt aber, wie ich glaube, keine Formulierung ohne symbolische Projektion; was er von seiner »Wissenschaft« der nicht-verstandesmäßigen Erkenntnis erwartet, das ist eine Anerkennung von nicht-diskursiver Symbolisierung. Er selbst bemerkt, dass »man mit dem ›Ausdruck‹ gewöhnlich einen viel zu engen Begriff verbindet, weil man dabei bloß an den Ausdruck in Worten denkt. Aber es gibt eine Menge Ausdrucksformen, deren Mittel nicht Worte sind, wie etwa die in Linien, Farben, Tönen; und auf diese alle erstreckt sich unsere Behauptung. […] Ob er nun malerisch, sprachlich oder musikalisch sei oder wie immer man ihn nennen möge, der Ausdruck kann in keiner Anschauung fehlen, da er ein integrierender Bestandteil ihres Wesens ist.« 469 Es war Cassirer, der in seiner großen Philosophie der sym­ bolischen Formen die Propädeutik für eine Untersuchung der Anschauung geliefert hat, und wenn man die Funktionen von Symbolen verschiedenster Art auf verschiedensten Ebenen untersucht, sieht man, dass sie nicht nur eine einzige Art der Anschauung vollbringen, nämlich die Veranschaulichung von Erfahrungen als individuellen, intelligiblen Formen, als dieses Ding, dieses Ereignis usw. (was Croce im Blick hat), sondern auch andere Arten. Jede Erkenntnis von Form ist intuitiv; jegliche Bezogenheit – Unterscheidbarkeit, Kongruenz, Übereinstimmung von Formen, Kontrast und Synthese zu einer ganzen Gestalt* – lässt sich nur durch unmittelbare Einsicht erkennen, was nichts anderes als Anschauung ist. Und nicht nur die Form, sondern   Ebd., S. 8. Dieser Absatz verdeutlicht zugleich, dass es unmöglich ist, nicht verschiedene Arten oder verschiedene Formen des Ausdrucks (der Anschauung) zuzulassen. 469

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auch der formale Sinngehalt bzw. die Bedeutsamkeit wird intuitiv gesehen (weshalb manchmal auch von ihr gesagt wird, sie werde »gefühlt«) oder überhaupt nicht; hierbei handelt es sich um den grundlegenden symbolischen Wert, der der sprachlichen Bedeutung vermutlich vorausliegt und sie vorbereitet. 470 Das Verstehen der Form selbst, vermöge ihrer Exemplifikation in geformten Wahrnehmungen oder »Anschauungen«, ist eine spontane und natürliche Abstraktion; die Erkenntnis des metaphorischen Werts einiger Anschauungen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Formen ergibt, ist demgegenüber eine spontane und natürliche Interpretation. Sowohl Abstraktion als auch Interpretation sind intuitiv und können sich auf nicht-diskursive Formen richten. Sie bilden das Fundament jeder geistigen Tätigkeit des Menschen und sind die Wurzeln, aus denen sich sowohl Sprache als auch Kunst entwickeln. 471 Die Philosophen, die den intuitiven Charakter der Rezeption von Kunst anerkennen, scheinen nahezu alle ein starkes Vorurteil gegen die wissenschaftliche Weltsicht und logische Beweisführungen zu hegen. Anscheinend halten sie es für notwendig, die Logik herabzusetzen, um Wert und Würde der Anschauung hochzuhalten, und in der Regel machen sie viel Wesens um den Gegensatz zwischen den beiden »Erkenntnismethoden«. In Wahrheit gibt es einen solchen Gegensatz gar nicht – und sei es nur, weil Anschauung überhaupt keine »Methode« ist, sondern ein Ereignis. Zudem ist sie der Anfang und das Ende der Logik. Ohne sie würden alle diskursiven Argumentationen ins Leere laufen. Die einfache Verknüpfung von Aussagen, die wir als »Syllogismus« kennen, ist bloß ein Mittel, um jemanden von einer Anschauung zu einer anderen zu leiten. Wer von   Näher erörtert wird der »Sinn für Bedeutsamkeit« und das Wesen der Sprache in Neue Tonart, Kap. 5, passim. 471  Die doppelte Natur der Sprache, die einerseits die mythische Weltsicht wiedergibt und andererseits auch der Ursprung von Verallgemeinerung und wissenschaftlicher Weltsicht ist, wird ausführlich in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und kurz in mehreren Essays, vor allem in Sprache und Mythos, erörtert. 470



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der Sterblichkeit aller Menschen überzeugt ist und auch zugibt, dass Sokrates ein Mensch ist, aber gleichwohl nicht anerkennt, dass Sokrates daher sterblich ist, dem fehlt es an jedem logischen Verständnis, denn er reagiert nicht an jedem einzelnen Schritt des Diskurses mit der normalen Intuition. Selbst auf einer niederen Stufe würde Rationalität scheitern, wenn die Anschauung ihre Aufgabe nicht richtig erfüllt: Wenn dieses bemerkenswert unbegabte Individuum die Bedeutung all der Worte kennt: »Sokrates«, »Mensch«, »ist«, »ein«, aber die Bedeutung von »Sokrates ist ein Mensch« nicht versteht, weil die Ordnung der Wörter deren Sinn nicht zu einer einzigen Vorstellung über Sokrates verschmolzen hat, dann kommt es gar nicht erst so weit, über das »daher« zu stolpern. Selbst Menschen mit normaler Intelligenz machen die Erfahrung, dass sie bei flektierenden Sprachen, etwa dem Lateinischen oder dem Deutschen, auf Wörter starren, die sich nicht zu einer Aussage verbinden wollen; werden die syntaktischen Zeichen (die Flexionen, die Verbformen) ebenso gut verstanden wie die Denotationen der einzelnen Wörter, tritt die Satzbedeutung plötzlich in einer Klarheit hervor. Dieses Hervortreten der Bedeutung ist stets eine logische Anschauung oder Einsicht. Alle Diskurse haben zu ihrem Ziel, kumulativ zunehmend komplexere logische Anschauungen aufzubauen. Die Bedeutsamkeit eines Kunstsymbols lässt sich nicht wie die Bedeutung eines Diskurses auf bauen, sondern muss zunächst in toto erfasst werden; das »Verstehen« eines Kunstwerks geht daher von der Anschauung des ganzen dargestellten Gefühls aus. Erst eine eingehende Betrachtung enthüllt dann Schritt für Schritt die Komplexität des Werks und seiner Bedeutsamkeit. Im Diskurs wird die Bedeutung synthetisch durch eine Abfolge von Anschauungen konstruiert, in der Kunst hingegen muss das komplexe Ganze gesehen oder antizipiert werden.472   Vgl. dazu meinen Aufsatz Abstraction in Science and Abstraction in Art, in: Paul Henle, Horace M. Kallen u. Susanne K. Langer (Hg.), Structure, Method, and Meaning: Essays in Honor of Henry M. Sheffer, New York 1951, S. 171–182. In einer Besprechung dieses Aufsatzes (Jour­ 472

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Erkenntnistheoretisch geraten wir so in eine Sackgasse: Im Gegensatz zur sprachlichen Bedeutung lässt sich die künstlerische Bedeutsamkeit nur zeigen; wem das Kunstsymbol nicht klar und deutlich ist, dem wird man es nicht demonstrieren können. Da es keine semantischen Einheiten mit zugewiesenen Bedeutungen gibt, die anhand einer Paraphrase oder Übersetzung durch gleichbedeutende Symbole vermittelbar sind, so wie wir Wörter definieren oder übersetzen können, bietet sich uns keine Möglichkeit, die Bedeutsamkeit eines Werks weiter zu identifizieren. Es steht uns nur ein Weg offen: Um den Gefühlsinhalt eines Musters, einer Melodie, eines Gedichts oder eines anderen Kunstsymbols öffentlich zu machen, muss die expressive Form so abstrakt und zwingend dargestellt werden, dass jeder mit einer normalen Empfänglichkeit für die betreffende Kunst diese Form und ihre »Gefühlsqualität« sehen wird.473 Von einem Symbol, das von seinem Sinn nicht zu trennen ist, kann man nicht wirklich sagen, es beziehe sich auf etwas außerhalb seiner selbst. Für die ihm eigentümliche Funktion ist »Referenz« nicht das richtige Wort. Und wo das Symbol keine anerkannte Bezugnahme hat, ist sein Gebrauch im eigentlichen Sinn keine »Kommunikation«. Dennoch ist seine Funktion Ausdruck im logischen, nicht im biologischen Sinn (weinen, wüten, mit dem Schwanz wedeln); und in guter Kunst ist der Ausdruck wahr, in schlechter falsch und in misslungener erfolglos. Wo nal of Aesthetics and Art Criticism 10, 3 (1952), S. 279–280) hat Eliseo Vivas mir die These unterstellt, dass »die Abstraktion im einen Fall vom Teil zum Ganzen verläuft und im anderen Fall vom Ganzen zum Teil«. Das ist selbstverständlich Unsinn; die Abstraktion hat nichts mit Ganzen und Teilen zu tun; es ist die Wahrnehmung, auf welcher Ebene der Abstraktion sie sich auch bewegt, die auf diese unterschiedlichen Weisen vorgeht. In der Wissenschaft kommt die Abstraktion durch sukzessive Verallgemeinerungen zustande, und in der Kunst geschieht es ohne solche verstandesmäßigen Schritte. Vivas hat die Verallgemeinerung übersehen oder zu erwähnen vergessen, die nun gerade das Differenzierungsmerkmal zwischen den beiden Abstraktionsmodi ist. 473  Vgl. Kap. 2, vor allem S. 90 ff.: Baensch zum Gefühl als Qualität im Kunstwerk.



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keinerlei Absicht oder kein Drang vorliegt, etwas auszudrü­cken, ist das Ergebnis – sei es auch von menschlicher Gestalt, wie etwa eine Schneiderpuppe oder eine andere Puppe – nicht Kunst. Eine Schneiderpuppe könnte aber sehr wohl Kunst sein und Puppen können es sein und sind es manchmal. Was die Frage der künstlerischen Wahrheit oder Falschheit betrifft, stimme ich mindestens mit einem herausragenden Ästhetiker überein: mit R. G. Collingwood. Für mich, und, wie ich hoffe, auch für ihn, ist dies umso erfreulicher, als ich seine Principles of Art erst gelesen habe, nachdem meine eigenen Gedanken vollständig entwickelt waren, so dass die Ähnlichkeit unserer Schlussfolgerungen eine wechselseitige Bekräftigung ist. Seine Erkenntnistheorie leuchtet mir jedoch nicht ganz ein. Wie er das Selbstbewusstsein ins Spiel bringt und den künstlerischen Ausdruck strikt auf die reale Erfahrung beschränkt, scheint mir missverständlich zu sein. Doch dazu später mehr, wenn auch von unseren übrigen Differenzen die Rede sein wird. Im Moment geht es um das Problem der Wahrheit. Kunst ist die Veranschaulichung von Gefühl, und dazu gehören dessen Formulierung und Ausdruck in dem, was ich ein Symbol und Collingwood »Sprache« nennt. (Dass Worte von verschiedenen Autoren so unterschiedlich verwendet werden, ist natürlich bedauerlich – Collingwood verwendet »Symbol« nur als Bezeichnung für das, was heutige Semantiker eine »künstliche Sprache« nennen würden, etwa mathematische Symbolik oder die von Carnap untersuchten konstruierten Sprachen –, wenn wir aber seine Worte so nehmen, wie er sie offensichtlich meint, dann scheinen seine Aussagen über Ausdruck und Veranschaulichung wahr zu sein.) Diese Veranschaulichung kann jedoch von Emotionen gestört werden, die noch nicht geformt und erkannt worden sind, aber die Imagination anderer subjektiver Erfahrungen beeinflussen. Kunst, die auf diese Weise durch den Mangel an Aufrichtigkeit entstellt ist, ist schlechte Kunst, und sie ist schlecht, weil sie sich nicht wahrhaft zu dem verhält, was aufrichtige Veranschaulichung gewesen wäre. Aufrichtigkeit ist der Goldstandard: »seeing straight«, würde man um-

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gangssprachlich sagen. Wie Collingwood schreibt, können wir, wo die Veranschaulichung falsch ist, nicht eigentlich von Irrtum oder Lüge reden, denn ein Irrtum stellt sich nur auf der höheren Ebene des »Intellekts« ein (des diskursiven Denkens) und eine Lüge setzt voraus, dass man es »besser weiß«. Ein Mangel an aufrichtigem Blick wirkt sich auf einer tieferen Ebene der Einbildungskraft aus. Er nennt diese Art von Falschheit daher »Korruption des Bewusstseins« 474 . Schlechte Kunst ist verdorbene Kunst (corrupt art). Falsch ist sie auf die denkbar übelste Weise, denn ihre Falschheit lässt sich nicht im Nachhinein richtigstellen, so wie eine Lüge entlarvt und zurückgezogen werden mag und ein Irrtum aufgespürt und korrigiert. Verdorbene Kunst könnte nur verworfen und vernichtet werden. »Ein schlechtes Kunstwerk ist eine Tätigkeit, in der der Handelnde versucht, ein bestimmtes Gefühl auszudrücken, aber daran scheitert. Darin liegt der Unterschied zwischen schlechter Kunst und einer Kunst, die fälschlicherweise so genannt wird. […] In der fälschlicherweise so genannten Kunst liegt kein Scheitern des Ausdrucks vor, weil es überhaupt keinen Versuch des Ausdrucks gibt, sondern nur den (gelungenen oder nicht gelungenen) Versuch, irgendetwas anderes zu tun.« 475 Diesen Unterscheidungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst einerseits, guter und schlechter Kunst andererseits möchte ich noch eine weitere hinzufügen, auch wenn sie innerhalb des Bereichs der eigentlich guten Kunst weniger grundlegend ist, nämlich die Unterscheidung zwischen freier Kunst und gegängelter oder dürftiger Kunst. Diese Unterscheidung ergibt sich auf einer Ebene der Tätigkeit der Einbildungskraft, die der »intellektuellen« Ebene der Geistestätigkeit entspricht, nämlich auf der Ebene der künstleri  R. G. Collingwood, The Principles of Art, Oxford 1938, S. 129.   Ebd., S. 282. Für unsere Zwecke ist der ganze Abschnitt (Kap. XII »Art as Language«, § 3, »Good Art and Bad Art«) relevant, aber selbstverständlich zu lang, um hier zitiert zu werden. Dem Leser sei daher dringend empfohlen, ihn als Quellentext zu lesen, und am besten gleich das ganze Buch. 474

475



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schen Arbeit. Collingwood spricht dem Handwerk des Künstlers eine solche höhere Entwicklung ab, weil er behauptet, Kunst könne nicht Handwerk sein, Kunst habe nichts mit Technik zu tun. 476 An dieser Stelle kann ich ihm nicht folgen. Unsere Meinungsverschiedenheit mag »sprachlicher« Natur sein, doch selbst dann ist sie von Bedeutung, denn schließlich ist es nicht willkürlich, wie man Worte verwendet. Darin zeigen sich die grundlegenden Auffassungen, die jemand hegt, und deshalb ist meine nun folgende Kritik an seiner Terminologie tatsächlich eine Kritik an seiner meines Erachtens unzureichenden Begrifflichkeit. Diese besteht in der Hauptsache in seinen Vorstellungen vom Werk, von Mitteln und Zielen, dem Kunstmedium und den Beziehungen der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten zueinander. In der Kritik neigt er zu etwas, das man »einfache Verwerfung«: Bei eingehender Betrachtung der angeblichen Beziehung zwischen zwei Termini, zum Beispiel »Darstellung« und »künstlerischer Ausdruck«, findet er heraus, dass sie unhaltbar ist, und behauptet in der Folge, dass die Termini in über­ haupt keiner Beziehung zueinander stünden. 477 Diese Neigung verhindert, dass er den Vorgang des künstlerischen Schaffens demselben detaillierten und fruchtbaren Studium unterwirft   »Ausdruck ist eine Tätigkeit, für die es keine Technik geben kann.« (Ebd., S. 111) 477  Etwa: »Darüber zu befinden, welche psychologische Reaktion ein Kunstwerk hervorruft (etwa wenn man sich fragt, »welches Gefühl« ein bestimmtes Gedicht in einem »erzeugt«), hat in keiner Weise mit der Entscheidung zu tun, ob es sich um ein echtes Kunstwerk handelt oder nicht.« (Ebd., S. 32) In einem gewissen Sinn ist das Gefühl der sicherste Leitfaden für gute Kunst. Das Gefühl der Erregung, das ein Werk auslöst, zeugt davon, dass es als Kunst und nicht als etwas anderes bedeutsam ist. Oder auch: »Der Ursprung der Perspektive […] ist mit der Verwendung der Malerei als Ergänzung zur Architektur verbunden. […] Bei beweglichen Bildern ist die Perspektive reine Pedanterie.« (Ebd., S. 253 ff.) Bei Tafelbildern ist ihr Zweck sicherlich nicht, eine Wandfläche hervorzuheben; doch lässt sich deshalb so leicht sagen, sie hätte keinen anderen Zweck? 476

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wie den Vorgang der imaginativen Veranschaulichung, und das bringt ihn letztlich dazu, die Gefühlsphantasie des Künstlers (und mehr hat er eigentlich nicht untersucht) für das Kunstwerk selbst zu halten. An einer Stelle schreibt er, dass »ein Kunstwerk vollkommen geschaffen sein kann, wenn es als etwas geschaffen ist, dessen einziger Ort im Kopf des Künstlers ist«, und ein weniger später heißt es: »Die Musik, das Kunstwerk, ist keine Ansammlung von Geräuschen, sie ist die Melodie im Kopf des Komponisten.« 478 . Ähnliche Behauptungen sind über den ganzen ersten Teil des Buches verstreut. Hier sehen wir die Gleichsetzung von Ausdruck und Anschauung, wie wir sie von Croce kennen (obgleich Collingwood »Erkenntnis« verwendet – »Anschauung« kommt nicht einmal im Index vor), und ihre weitere Gleichsetzung mit der Kunst: die vollständig in der Einbildungskraft gesehene Statue, das ungemalte Bild. Seine fragwürdigste These ist allerdings, dass ein Künstler nicht wissen kann, was für eine Art von Werk er im Begriff ist zu erschaffen – nicht einmal in den Grundzügen, etwa ob es eine Komödie oder eine Tragödie wird. Denn: »Wenn der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie im Unterschied zwischen den von ihnen ausgedrückten Gefühlen liegt, dann kann es sich nicht um einen Unterschied handeln, der dem Künstler vor Augen steht, wenn er mit seinem Werk beginnt; wäre dem so, dann wüsste er, welches Gefühl er ausdrücken wollte, noch bevor er es ausgedrückt hat. Kein Künstler kann daher […] daran gehen, eine Komödie, eine Tragödie, eine Elegie oder dergleichen zu schreiben. Sofern er ein wirklicher Künstler ist, ist es genauso wahrscheinlich, dass er eher das eine als das andere verfasst […].« 479 Im dritten Teil des Buches scheint Collingwood viele seiner überspannten Aussagen zurückzunehmen. Er räumt ein, dass   Ebd., S. 130, 139.   Ebd., S. 116. Der Kontext dieses Abschnitts ist die radikalste Betrachtung der Kunst als »schöner Wahnsinn«, der keinem Plan, keinem Kontext folgt, die mir je begegnet ist. [Das Zitat bezieht sich auf Shakespeares Sommernachtstraum, 5. Akt, 1. Szene (übers. v. August Wilhelm Schlegel); Anm. d. Hg.] 478 479



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ein Künstler malt, um das, was er sieht, festzuhalten und das, was er fühlt, auszudrücken, und dass das Malen Teil des schöpferischen Sehens ist im Unterschied dazu »einen Gegenstand zu betrachten, ohne ihn zu malen« 480 , wie auch die Musiker »auf die Aufführung hin komponieren« und die Ausführenden »die Einzelheiten nicht nur ausfüllen dürfen, sondern müssen« 481. Bei allem guten Willen, seinen Kehrtwendungen zu folgen, ist es nicht immer möglich, solche Zugeständnisse mit dem Vorangegangenen zu vereinbaren. Wie können die Ausführenden, das Publikum oder auch andere Künstler an einem Stück »mitwirken«, das »eine Melodie im Kopf des Komponisten« ist, oder an irgendeinem anderen (möglicherweise plastischen) Werk, das »vollkommen geschaffen im Kopf des Künstlers« vorliegt? Möglicherweise lassen sich die Probleme seines kritischen Teils (des ersten) überwinden, wenn wir fragen, warum er so ängstlich bemüht ist, dem Handwerk jede Funktion für die Kunst abzusprechen und folglich den Begriff der Technik zu verwerfen, und warum er das Ideal des wörtlichen Ausdrucks in Wissenschaft und Philosophie ablehnen und Sprache im Wesentlichen als Gefühlsausdruck behandeln muss, wobei ihr begrifflicher Inhalt nur nebenher vermittelt wird. In dieser erkenntnistheoretischen Struktur fehlt etwas. Seine schlechten Argumente gegen »die Theorie der Technik« und die Auffassung der »Kunst als Handwerk« und gegen alle möglichen Theorien der sprachlichen Formen und der wörtlichen Bedeutung zeugen von der Furcht vor unannehmbaren Schlussfolgerungen: und das ist nichts anderes als ein Mangel an philosophischer Aufrichtigkeit – »Korruption des Bewusstseins« –, eine Schwäche, die in der Philosophie nicht weniger als in der Kunst natürlich und verbreitet ist. Er selbst hat diesen Umstand benannt: »Korruption des Bewusstseins ist keine obskure Sünde, die nur ein paar Unglückliche und Verfluchte heimsucht; jeder Künstler begegnet ihr ständig in seinem Leben, und sein Leben   Ebd., S. 308.   Ebd., S. 320 f.

480 481

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ist ein ständiger, im Großen und Ganzen erfolgreicher Kampf dagegen […]. Ein wahrhaftiges Bewusstsein verleiht dem Intellekt ein fes­ tes Fundament, auf dem sich bauen lässt; ein korruptes Bewusstsein zwingt den Intellekt, auf Treibsand zu bauen.« 482 Suchen wir nach Belegen für den Sündenfall. Im ersten Teil finden wir sie in den Entstellungen jener Vorstellungen, die er verwerfen möchte, etwa in der Reduktion von »Handwerk« insgesamt auf »die Art und Weise, Menschen in bestimmte geistige Zustände zu versetzen«, was offensichtlich ein Sophismus ist, nur dazu gedacht, jegliche Anerkennung von Handwerk in der Kunst mit einer Auffassung von Kunst als Handwerk gleichzusetzen und dieses dann seinerseits mit Kunst als Gefühlsstimulus zu identifizieren – also mit dem Gedanken, den er eigentlich und zu Recht bekämpfen möchte. Irgendetwas hat alle diese Begriffe zu einer vagen Masse verschmolzen. Zweitens: Auf Seite 108 stellt er die kategorische Behauptung auf: »Das Element, das die technische Theorie als den Zweck (d. h. das Ziel der Kunst) bezeichnet, ist dadurch definiert, dass es ein Gefühl erweckt.« Einen Verteidiger von etwas, das man »die technische Theorie« nennen könnte, der sich in dem Sinne äußert, dass der Zweck der Technik die Erregung von Gefühl ist, hat er freilich nicht angeführt, ganz zu schweigen von einem Beweis dafür, dass alle ihre Vertreter dem zustimmen würde. Die Lehrsätze der »technischen Theorie« sind nur das, was er selbst unter dieser Bezeichnung zusammengewürfelt hat, und wiederum ist es eigentlich die Kunst als Gefühlsstimulation, wogegen er angeht, und »Technik« wird auf vage Weise mit dieser falschen Theorie zusammengebracht. Wie schwach solche unwahren Argumente sind, zeigt sich deutlich daran, dass die Definitionen der Begriffe, die ihm zufolge nicht zur Kunst, sondern in andere Bereiche gehören, so rigide und karg sind, dass sie in ihrem angeblichen Stammbereich nicht brauchbarer wären als in der Kunst. Seine Definition 482

  Ebd., S. 284.



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von »Symbol« beispielsweise ist so eng, dass es synonym ist mit »künstlicher Sprache«; da aber von der Linguistik und der Logik behauptet wird, sie beruhten auf der Verwendung von Symbolen, sorgt die enge Definition dafür, dass diese Disziplinen wie triviale Künstlichkeiten wirken. Das ist ein philosophischer Kunstfehler. Den gleichen Fehler begehen Positivisten, wenn sie sämtliche Probleme der Kunst, von denen sie keine Ahnung haben, unter »emotionale Reaktion« subsumieren und diese dann an die »Wissenschaft der Psychologie« verweisen, von der sie auch nichts verstehen. Schließlich behauptet Collingwood, die Sprache sei nicht die semantische Struktur, die sie angeblich sein soll, sie habe weder ein Vokabular noch eine Syntax, sie sei reiner, vom »Bewusstsein« geschaffener Ausdruck; sie sei Kunst und verfüge nicht über eine Technik, habe keine »Verwendung« (weder eine richtige noch eine falsche) und keine symbolische Funktion – so wie Tanz, Malerei oder Musik sei sie Gefühlsausdruck. Rede sei immer Dichtung. Grammatik und Syntax und sogar die das Erkennen von Wörtern seien rein willkürliche Erfindungen, um zu unterteilen (vergleichbar etwa, so könnte man meinen, den Einteilungen in »Verse«, die mittelalterliche Gelehrte vornahmen, um die Abschnitte der heiligen Schrift schnell identifizieren zu können). Doch an dieser Stelle, an der ein starkes Argument unbedingt notwendig wäre, um eine so radikale Lehre zu untermauern, bricht seine Beweiskraft ganz und gar zusammen. Er begnügt sich damit zu zeigen, dass Sprache immer etwas mit Gefühl zu tun hat, dass sie nur dort auftreten kann, wo die Einbildungskraft bereits ein »seelisches Fühlen« erfasst und gestaltet hat, und dass, da diese Einbildungskraft die Wurzel der Kunst ist, jede Sprache Kunst und jede Kunst Sprache ist. Und das beweist er, indem er über die Grammatiker herfällt (»Ein Grammatiker ist kein Wissenschaftler […], er ist eine Art Metzger« 483) und I. A. Richards verspottet (er spricht von seinem

483

  Ebd., S. 257.

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»verwöhnten Cambridge-Mundwerk« usw.).484 Hier steht er auf intellektuellem Treibsand; hier haben wir die vehemente Zurückweisung eines Konzepts, dem man nicht anhängen soll, die Furcht vor irgendeinem ästhetischen Schreckgespenst. Das Schreckgespenst, vor dem sich die meisten Ästhetiker fürchten, die eine Theorie der Kunst als Ausdruck vertreten, ist der Begriff des Kunstsymbols. Die uneingestandene Tat­sache, die sie heimsucht, ist die, dass eine expressive Form letztlich eine symbolische Form ist. Sobald wir uns diese Tatsache vor Augen halten, lösen sich sämtliche großen Paradoxien und Ano­malien auf – »signifikante Form«, die nichts bezeichnet,485 Dichtung und Musik, über die sich, »wenn man so will, sagen lässt, sie seien beide expressiv«, bei denen man aber, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen »darauf bestehen sollte, dass sie nichts, überhaupt nichts ›ausdrücken‹« 486 , Croces Theorie des künstlerischen Ausdrucks, der ohne ein Medium auskommt, und Collingwoods ähnlich gelagerte Vorstellung, dass der »Ausdrucksakt«, der sich nur im Kopf des Künstlers vollzieht, das Kunstwerk selbst ist. Solange man versucht, der symbolischen Form zu entgehen, die den »Ausdruck der Idee vermittelt«, lässt sich weder der Vorgang jener Ausdrucksgebung untersuchen noch genau aufzeigen, wie er sich von anderen Tätigkeiten unterscheidet. Sobald man aber einräumt, dass die »expressive Form« eine besondere Art der symbolischen Form ist, können einige interessante Probleme gelöst werden, und einige ständig drohende Gefahren einer Mesalliance zwischen Ästhetik und Ethik oder Naturwissenschaft werden sicher umschifft. Die Gefahr einer »fatalen Unterwerfung unter den Intellekt« besteht nicht mehr, sobald der Unterschied zwischen einem Kunstsymbol und einem wissenschaftlichen Symbol – oder besser dem wissenschaftlichen Symbolismus – verstanden worden ist:   Ebd., S. 264.   Hier wird natürlich auf Clive Bells Formulierung Bezug genommen. 486  O. K. Bouwsma, »The Expression Theory of Art«, in: Max Black (Hg.), Philosophical Analysis, Englewood Cliffs 1994, S. 74–96, hier 92. 484 485



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Sie sind so verschieden, wie die Kunst von der Wissenschaft verschieden ist. Tatsächlich sorgt der radikale Unterschied zwischen ihren jeweiligen symbolischen Formen dafür, dass Kunst und Diskurs (Logik, Wissenschaft, Tatsachen) grundlegend verschiedenen Bereichen angehören, und damit schwindet die Hoffnung (oder auch die Furcht) einiger Philosophen, dass die Kunst in einem »Zeitalter der Wissenschaft« nach der Würde wissenschaftlichen Denkens streben und sie schließlich erlangen wird.487  In Reason in Art spricht Santayana von »jener halbmythischen Welt, welche die Dichter, weil es ihnen an einer Erziehung zur Vernunft fehlt, bis heute durchstreifen«, und hofft auf eine Annäherung von Dichtung und Wissenschaft: »Die Vision eines von Vernunft geleiteten Dichters würde die gleiche moralische Aufgabe erfüllen, die der Mythos erfüllen sollte und oft so trügerisch erfüllt hat; sie würde die gleichen idealen Vermögen verwenden, die der Mythos auf verworrene und übereilte Weise ausgedrückt hat. Es würden mehr Einzelheiten hinzugefügt und eine größere Vielfalt von Deutungen. […] Eine solche Dichtung würde tiefer in der menschlichen Erfahrung wurzeln und daher für das Gemüt reizvoller sein.« (George Santayana, Reason in Art, New York 1905, S. 111) »Wäre die breite Masse gebildeter, würden die schönen Künste sich dementsprechend veranlasst sehen, die Wirklichkeit auszudrücken. […] Es gäbe dann keine Trennung mehr zwischen nützlicher und schöner Kunst.« (Ebd., S. 214) Die gleiche Hoffnung, dass die Kunst sich von der mythischen Phantasie abwendet und wissenschaftlich wird, äußert Eugène Véron in L’Esthetique (Paris 1878). Strindberg meinte, die gleiche Entwicklung voraussehen zu können, fürchtete allerdings, dass die allgemeine Auf klärung das Ende des Dramas wäre, das auf ein leichtgläubiges Publikum nicht verzichten kann (Vorwort zu Fräulein Julie, a. a. O.). Wie unterwürfig eine ganze Generation von Künstlern und Kritikern sich der Wissenschaft gegenüber verhalten hat, schlägt sich in extremer Weise in einem schmalen, 1913 veröffentlichten Buch nieder. Die beiden Verfasser wurden zu ihrer Zeit der Avantgarde zugerechnet. In der kleinen Schrift lesen wir: »Die Kunst ist weitgehend von der Wissenschaft beeinflusst und möglicherweise ganz in ihr aufgegangen, sofern sie nämlich ein wissenschaftliches Phänomen ausdrückt, das nur durch die Form ausdrückbar ist. […] Sie versucht, die Form zu 487

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Das erste entscheidende Problem, für das sich eine Lösung findet, ist dasjenige, wie es möglich ist, dass eine reine Schöpfung der Einbildungskraft, die in sich von einem Artefakt unterschieden ist – ja, eigentlich gar kein physisches »Ding« ist –, zugleich nicht nur »real«, sondern objektiv sein kann. Die Vorstellung von einem geschaffenen Ding als nicht-real, das heißt als illusionär, und doch als etwas, das der Einbildungskraft und sogar den Sinnen gegeben ist, das als Symbol, nicht jedoch als physische Gegebenheit fungiert, beantwortet nicht nur die unmittelbare Frage, sie beantwortet sie zudem auf eine Weise, die eine Antwort auf ihr Folgeproblem, das der Technik, vorschlägt. Die Behauptung, Kunst kenne keine Technik, kein enges Verhältnis zum Handwerk, ist ein echtes Kunststück, und in über das Buch verteilten kleinen Abschnitten versucht der Autor dieser Lehre sie abzumildern, indem er schreibt, dass zwar »das gemalte Bild […] kein Kunstwerk im eigentlichen Sinn des Wortes« ist, dass aber »seine Herstellung auf […] irgendeine Weise notwendig mit der ästhetischen Tätigkeit verbunden [ist], das heißt mit der Schöpfung der imaginativen Erfahrung, die das Kunstwerk ist« 488 . Er schlägt vor, die Notwendigkeit dieser Verbindung zu erweisen; die Beweisführung bleibt allerdings immer prekär und ausweichend. Betrachten wir hingegen das Bild als das Kunstsymbol, das die imaginative Erfahrung, also des Künstlers Veranschaulichung des Fühlens durch den Künstler, zum Ausdruck bringt, dann ist das gemalte Bild das Kunstwerk »im eigentlichen Sinn des Wortes«, und wir müssen uns nicht um das Problem kümmern, warum der »eigentliche« Sinn einer ist, die niemals verwendet worden ist; denn selbst gute Künstler und jene, die über einem Träger für Psychologie und Metaphysik zu machen.« (Marius de Zayas und Paul B. Haviland, A Study in the Modern Evolution of Plastic Expression, New York 1913, S. 19) In einem früheren Abschnitt hatten sie allerdings etwas betrübt eingeräumt: »Wir glauben nicht, dass die Kunst bereits eine Stufe erreicht hat, auf der sie als ein rein wissenschaftlicher Ausdruck des Menschen zu betrachten ist […].« (S. 13) 488 Collingwood, The Principles of Art, a. a. O., S. 305.



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Kunsttheorie nachdenken, nennen Leonardos Das letzte Abend­ mahl ein Kunstwerk und sprechen nicht davon, dass sie selbst eines »haben«, wenn sie das Bild sehen oder an es denken. Das Bild ist in der Tat nicht die Farbe auf der Wand, sondern die Illu­sion, die Leonardo mit Hilfe von Farbe auf feuchtem Putz geschaffen hat. Die Farbe ist bedauerlicherweise fast verschwunden, aber es ist immer noch genug vorhanden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, und daher ist das Bild noch da. Wenn die Zeit die letzte blasse Pigmentierung ausgelöscht haben wird, wird auch das Kunstwerk verschwunden sein, egal wie gut jemand seine vitale Bedeutsamkeit – die Harmonien des Fühlens, die es gezeigt hat – kennen und sich an sie erinnern mag. Die Arbeit des Künstlers besteht darin, das Gefühlssymbol zu erschaffen. Dazu benötigt er unterschiedliche Grade handwerklichen Könnens oder Technik. Über die Anfangsgründe hinaus, die jedermann lernt – wie man überhaupt einen Stift benutzt, wie man eine Sprache verwendet, wie man einen Stock schnitzt, einen Stein behaut, eine Melodie singt –, erlernt er sein Handwerk, wie er es für seinen Zweck braucht, der im Erschaffen eines virtuellen Gegenstandes besteht, das eine expressive Form werden soll. Handwerk oder Technik ist freilich nicht dasselbe wie das von Collingwood beschriebene Verfahren der mechanischen, routinierten Befolgung von Vorgaben. Jeder Künstler erfindet seine Technik und entwickelt, indem er dies tut, seine Einbildungskraft. Darum sind Malen und Sehen, wenn jemand ein Bild schafft, aus einem Guss, 489 und ebenso sind Hören und Komponieren oder, in einem späteren Stadium des musikalischen Werks, Hören und Spielen oder Singen voneinander untrennbare Akte. Da jeder Künstler sein Handwerk auf seine eigene Weise beherrschen muss, im Dienste seines eigenen Ziels der Symbolisierung von Vorstellungen subjektiver Wirklichkeit, kann es dürftige Kunst geben, die jedoch nicht verdorben ist. Dürftige Kunst scheitert daran, das auszudrücken, was der Künstler in ei489

  Vgl. ebd., S. 303.

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ner zu flüchtigen Anschauung erkannt hat. Eine Veranschaulichung festzuhalten, ohne über ein mehr oder weniger dauerhaftes Symbol zu verfügen, ist schwierig, und mit einem falschen Symbol konfrontiert zu sein, mag eine innere Vision zunichte machen. Ein unvertrautes Werkzeug, ein unpassendes Musikinstrument, aber auch eine physisch nicht zu beherrschende Hand können der Einbildungskraft zuwiderlaufen und sie in den frühesten Augenblicken einer erst erscheinenden Idee unbarmherzig zunichte machen. Das Ergebnis ist ein kärgliches, hilfloses Produkt, das aufrichtig gemeint sein mag, aber durch die Widerspenstigkeit des Mediums oder den schieren Mangel an technischer Freiheit verworren und enttäuschend ist. Ich sehe nicht ein, warum man »Technik« so definieren muss, dass sie »Fertigung« bedeutet, es sei denn, man will sich gegen die Betrachtung von Kunstwerken als »Waren« wehren und dagegen, Kunstliebhaber als »Konsumenten« zu bezeichnen. Dieser Einspruch ist zweifellos richtig und gerechtfertigt, nur ist es dabei nicht notwendig, alle Beziehungen der Kunst zu den Tätigkeiten aufzulösen, von denen sie normalerweise lebt: Handwerkliches Können und das globale Interesse an reiner Unterhaltung. Wie Brander Matthews spricht auch Collingwood immer nur von »Amüsement«, ein Wort, bei dem Genusssucht, Banalität und Oberflächlichkeit mitschwingen und das leicht in die Kategorie der Nicht-Kunst verwiesen werden kann;490 Unterhaltung ist aber etwas ganz anderes. Mozarts Hochzeit des Figaro, Shakespeares Sturm und Jane Austens Stolz und Vorurteil sind sehr unterhaltsam und auch sehr gute Kunst. Die Möglichkeit eines Zusammenfalls von Handwerkskunst oder Unterhaltung und künstlerischem Ausdruck einzuräumen, reicht   Matthew verfolgt mit dem Gebrauch des Wortes den entgegengesetzten Zweck – er möchte zeigen, dass jegliche Kunst »von Buffalo Bills Wildwestshow bis zu Sophokles’ Ödipus« nichts anderes ist als Amüsement, also eine Ware, und folglich so ehrbar wie Golf und dem Herzen der Amerikaner so nahe wie Popcorn und Eiscreme (vgl. A Book About the Theater, a. a. O., Kap. 1). 490



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nicht aus, 491 da sie offenbar in einer engen Beziehung zueinander stehen. Und diese Verbindung ist tatsächlich offensichtlich: Das Handwerk (das literarische und theatralische eingeschlossen) liefert die Materialien und Techniken für die künstlerische Schöpfung. Wer seiner Intuition nach ein Künstler ist, wird keinen Krug formen, kein Lied für eine festliche Gelegenheit verfassen können, ohne die künstlerischen Möglichkeiten des Unterfangens zu fühlen. Wenn der Krug hässlich oder das Lied banal ist, dann nicht deshalb, weil ein Künstler den Krug für einen Ramschladen gemacht hat oder das Lied zu »magischen« Zwecken geschrieben hat. Der Grund dafür ist vielmehr, dass der Hersteller kein Künstler war, sondern ein geschmackloser Mensch, der den hässlichen Krug für »schön« oder das banale Lied für »bedeutend« gehalten hat; oder vielleicht hat er überhaupt nicht darüber nachgedankt, wie sie wahrgenommen werden, solange sein Krug einen halben Liter fasst oder sein Lied vom Festkomitee angenommen wird. Kurz gesagt: Die Handwerke schaffen Möglichkeiten, Kunstwerke herzustellen. Sie waren tatsächlich die Schule des Fühlens (nur durch Symbole konnte das Fühlen klar und bewusst werden), da sie die Artikulation angeregt und als erste ein abstrahierendes Sehen formuliert haben. Ob die Kunst im Dienst der Religion oder der Unterhaltung, im Haushalt von Töpferinnen und Weberinnen oder voller Leidenschaft in tristen Dachkammern mit zugigen Dachfenstern ausgeübt wird, macht für ihre eigenen Ziele, ihre Reinheit oder ihre Würde und Bedeutung keinen Unterschied. Ein weiteres Problem künstlerischen Schaffens, dessen sich Collingwood auf eine Weise entledigt hat, die entweder die Begriffe uneigentlich verwendet oder höchst dubios ist, ist die Frage nach dem, was er »Arten« von Werken nennt – Tragödie, Komödie, Elegie, Sonett, und in anderen Künsten Still­ leben, Landschaftsmalerei, Lieder oder Streichquartett usw. Auch Croce behauptet, es gebe keine »Arten« von Werken; sein 491

 Collingwood, The Principles of Art, a. a. O., S. 277.

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Einspruch läuft jedoch darauf hinaus, dass es keine getrennten Maßstäbe gibt, um die verschiedenen »Gattungen« von Malerei, Dichtung usw. zu beurteilen, und daher auch jede Klassifizierung philosophisch trivial sei. 492 Das ist wahr, doch die Nutz­ losigkeit einer Kennzeichnung der Werke nach ihren Themen, Materialien, ihrer Größe oder was auch immer ist etwas ganz anderes als die Unfähigkeit des Künstlers, von Anfang an zu wissen, welchen Umfang und allgemeinen Charakter das Werk haben wird.493 Mit der Erschaffung eines Gefühlssymbols oder Kunstwerks formuliert dessen Schöpfer eine vitale Bedeutsamkeit, die er sich losgelöst von ihrem Ausdruck nicht hat vorstellen können und daher auch nicht kennen kann, bevor er sie ausgedrückt hat. Aber der Akt der Konzeption, der seine Arbeit vorantreibt, ob er ihn nun plötzlich wie eine Eingebung überfällt oder sich erst nach freudlosem, mühsamem Herumprobieren einstellt, ist die Veranschaulichung der »Leitform«, des grundlegenden Gefühl, das es zu erforschen und auszudrücken gilt. Das ist »das Kunstwerk im Kopf des Künstlers«. Sobald er die Matrix des zukünftigen Werks erfasst hat, weiß er, wie dessen allgemeiner Auf bau, seine Proportionen, sein Grad an Ausarbeitung aussehen muss. Eine Tragödie hebt mit der Andeutung ihres besonderen »tragischen Rhythmus« an, der ihre Schwere, ihren Sprachstil, ihre gesamte Ökonomie bestimmt; ein Gedicht entspringt einem durch und durch lyrischen Gefühl, es ist keine Reihe kleiner Gefühlseindrücke, die sich zu einem Stück oder einem Roman verketten können, ohne dass der Künstler dies genauer wüsste. Tatsächlich wird ein wahrer Künstler kaum von dem Entschluss »Ich möchte ein Gedicht schreiben« ausgehen, sondern vielmehr von der Entdeckung »Ich habe eine Idee für ein Gedicht«. Doch selbst solche angeblichen Kennzeichen des »wahren Künstlers« sind mit Vorsicht zu genießen. Ein guter  Croce, Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 35 ff. 493  Vgl. Kap. 8. 492



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Maler, der einen Auftrag für ein Porträt, ein Wandgemälde oder eine andere »Art« von Werk annimmt, vertraut einfach darauf, dass er, indem er sich in die Möglichkeiten des Mediums versenkt, plötzlich Einblick in ein Gefühl gewinnt, das es ausdrü­ cken kann; und bei seiner Arbeit daran wird er dieses Gefühl vertiefen, kennenlernen und darstellen. Vermutlich wird er jedoch sagen, dass er, wenn er lange genug über das Thema des Auftrags nachgedacht hat, wissen wird, »wie er die Sache angehen muss«. Fraglos muss jeder Architekt bei jedem Bauwerk, das er entwirft, das passende Gefühl finden, das es ausdrücken soll. Er kann nicht sein inneres Bedürfnis darüber entscheiden lassen, ob er ein Landhaus oder eine Kathedrale baut. Wenn die gesamte Bedeutsamkeit eines Werks in einem realen, von seinem Urheber erlebten Gefühl bestehen müsste, wäre es absurd, dass er solche Gelegenheiten ergreifen und den Auftrag erfüllen kann. Auch hier bewahrt die Voraussetzung, dass das Werk ein freies Symbol und weder Emotion ist – mag sie noch so »gefiltert« oder, wie Collingwood sagt, »denaturiert« sein – noch eine Bekundung von Emotionen, den Begriff der expressiven Form davor, in einen »Ästhetizismus« abzugleiten, der prinzipiell einige echte Kunstwerke – auch Meisterwerke – ausschließen würde, weil sich theoretisch zeigen ließe, dass sie »unreine« oder »nicht-künstlerische« Motive haben.494 Symbole verfügen gerade daher über einen großen Erkenntniswert, weil sie Ideen vorstellig machen, die über die vergangene Erfahrung des sie Interpretierenden hinausgehen. Der Erste, der die vitale Bedeutsamkeit einer künstlerischen Form erkennt, der die gefühlsbezogenen Möglichkeiten eines Elements, den Ausdruckswert einer Änderung an der Komposition (vielleicht durch ein kleines Detail) wahrnimmt, ist der Künstler selbst. Er ist der erste, der beständigste und gewöhnlich kompetenteste Rezipient seines Werkes. Was ihn zum Künstler macht, sind nicht so sehr seine eigenen Gefühle, sondern seine Fähigkeit, Formen, die als Symbole für Gefühle taugen, intuitiv zu erkennen, wie auch 494

  Vgl. die Erörterung »unreiner Dichtung« in Kap. 14, S. 414 ff.

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seine Neigung, gefühlsbezogenes Wissen in solche objektiven Formen zu projizieren. Im Umgang mit dem, was er erschaffen hat, in der Erstellung eines Symbols für menschliches Fühlen, lernt er von der wahrnehmbaren Wirklichkeit, die vor ihm liegt, Möglichkeiten subjektiver Erfahrung kennen, die sich ihm in seinem persönlichen Leben bis dahin nicht erschlossen haben. Sein geistiger Horizont und das Wachstum seiner Persönlichkeit hängen daher zutiefst mit seiner Kunst zusammen. Allerdings wäre es unsinnig zu behaupten, er gebe nicht seine eigenen Gefühle wieder. Jede Erkenntnis geht auf Erfahrung zurück; etwas, das in keinerlei Beziehung zu unserer Erfahrung steht, können wir nicht wissen. Nur mag diese Beziehung sehr viel komplexer sein, als die Theorie des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks annimmt. Einen hervorragenden Künstler, der zudem ein beredter Philosoph war, hörte ich einmal sagen: »Als ich ein kleines Kind war – ich glaube, ich ging damals noch nicht zur Schule –, wuss­te ich bereits, wie mein Leben sein würde. Natürlich konnte ich nicht ahnen, was der Zufall für mich bereithalten, in welcher wirtschaftlichen Lage ich mich befinden und in welche politischen Ereignisse ich geraten würde. Doch seit den Anfängen meines Selbstbewusstseins wusste ich, wie alles, das mir gesche­ hen konnte, sein müsste.« Alles, was ein Künstler veranschaulichen kann, ist »wie« seine eigene Subjektivität oder ist doch zumindest mit seiner Weise zu fühlen verbunden. In der Regel kommt er zu solchen Verbindungen dadurch, dass er sein Wissen über die Kunst anderer erweitert, das heißt durch symbolische Offenbarung. Neue Kunst zu würdigen trägt zur Entwicklung der eigenen Gefühlsmöglichkeiten bei, und dabei geht es natürlich um eine Erweiterung der eigenen Fähigkeiten und nicht um ein intellektuelles Akzeptieren des Neuen im Geiste der Toleranz. Toleranz ist etwas ganz anderes, und sie ist gerade dann angebracht, wenn wir nicht verstehen, was andere zum Ausdruck bringen, weil es neu, ausgefallen oder sehr individuell ist. Die Vorurteilslosigkeit eines Künstlers wächst gemeinsam mit seinem künstlerischen



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Denken, seiner Freiheit, Formen abzuwandeln, zu erstellen und zu entwickeln, und mit der fortschreitenden Entdeckung von Bedeutung vermöge seiner eigenen gestärkten Einbildungskraft. Selbst seine eigenen Werke – die seinem inneren Erleben entspringen – können über den Kreis seines persönlichen Lebens hinauswachsen und tun dies glücklicherweise auch, und sie zeigen ihm in einer sehr viel größeren Vision, wie alles sein muss, das der Menschheit geschehen kann. Die Kenntnis seiner eigenen Subjektivität wird zu einem Teil dieser größeren Vision, obgleich sie weiterhin das Zentrum bildet. Seine Kenntnis des Lebens reicht so weit, wie seine Kunst ausgreifen kann. So viel zum Künstler und seinem Werk, zur Idee und ihrer Form, zu Konzeption und Ausdruck. Das Werk, das die Obhut seines Urhebers verlässt, tritt damit in das Leben anderer Menschen ein, und dieser Umstand wirft weitere Fragen auf: Nach welchen Maßstäben sollen sie es beurteilen? Was bedeutet es ihnen? Worin besteht seine öffentliche Bedeutung? Dies sind die letzten Fragen einer Philosophie der Kunst, denn sie setzen die Kenntnis des Kunstsymbols selbst voraus – seines Wesens, seiner Bedeutsamkeit und seines Wahrheitswerts. Sie können daher erst am Ende einer systematischen Untersuchung mit Gewinn aufgeworfen werden und lassen eine gut begründete Antwort erwarten.

21. Kapitel Das Werk und seine Öffentlichkeit Bisher haben wir die Kunst ausschließlich von einer Position aus betrachtet, die man »Atelierperspektive« nennen könnte. Aus diesem Blickwinkel haben wir das Kunstwerk als einen Ausdruck der »Idee« seines Urhebers betrachtet, das heißt als etwas, das Gestalt annimmt, wenn er eine Veranschaulichung von Wirklichkeiten artikuliert, die sich der diskursiven Sprache entziehen. Was der Künstler erschafft, ist ein Symbol – ein Symbol, das in erster Linie dazu dient, einzufangen und festzuhalten, wie sich gestaltetes Fühlen, Lebensrhythmen und Gefühlsformen in seiner Vorstellungskraft darstellen. In einem gewissen Sinn dürfen wir daher sagen, er schaffe jedes einzelne Werk für sich selbst, zu seiner eigenen Befriedigung. In einem anderen Sinn schafft er es für andere Menschen, und das ist einer der Unterschiede zwischen Kunst und Träumereien. Ein Kunstwerk hat eine Öffentlichkeit – zumindest eine hypothetische (wenn beispielsweise ein verfolgter Exilant ein Gedicht in seiner Muttersprache verfasst, ohne zu wissen, ob es jemals auf ein verstehendes Ohr trifft); und seine soziale Absicht, auf die es nicht verzichten kann, liefert den Maßstab für seinen Sinngehalt. Sogar jemand, der ein Werk schafft, das so unvertraut, schwierig und originell ist, dass er nicht da­ rauf hoffen darf, von seinen Mitmenschen intuitiv verstanden zu werden, arbeitet mit der Überzeugung daran, dass die Bedeutsamkeit der Sache sich ihnen erschließt, wenn sie sich nur lange genug mit ihm auseinandersetzen. Darüber hinaus hat er noch einen weiteren Glaubenssatz, ohne den er vermutlich gar nicht arbeiten könnte: Selbst wenn die Öffentlichkeit unter dem Schock seiner verwirrenden und befremdlichen Darstellung zurückschreckt, wird der eine oder andere sofort die leitende orga­nische Form des Werks im Ganzen erkennen und die



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große Gefühlsvision ahnen, die sofort deutlich wäre, wenn die unerhörte Neuheit ihrer Projektion das Publikum nicht schwindeln machte; und darum werden die ernsthaftesten und kompetentesten Kritiker sich ihm lange genug widmen, um über seinen »schockierenden« Charakter hinauszugehen und es einleuchtend zu finden. Die öffentliche Funktion des Kunstsymbols erlegt ihm den Maßstab vollständiger Objektivität auf. Es muss vollständig gegeben sein; was der Einbildungskraft überlassen bleibt, muss impliziert sein und nicht einfach fehlen. Allerdings kann es bei einer subtilen Andeutung bleiben. Zu meinen, ein Künstler müsse stets das spezielle Publikum vor Augen haben, das die Galerie, den Konzertsaal oder die Buchhandlung besucht, in denen sein Werk zum ersten Mal in Erscheinung tritt, ist grundfalsch.495 Er arbeitet für ein ideales Publikum. Selbst wenn er ein Wandgemälde schafft und sehr wohl weiß, welches Publikum das Gebäude aufsucht, das sein Werk beherbergt, malt er für seine Idealvorstellung dieses Publikums, oder aber er malt schlecht. Ein ad hominem gerichtetes Werk ist ebenso fadenscheinig und unwürdig wie ein Argument ad hominem in der Philosophie. Es ist jener psychologische Kompromiss, den Collingwood dem »Handwerk« zuschreibt und den er als einen Versuch betrachtet, unmittelbare Gefühle zu erregen (was er nicht sein muss, denn tatsächlich ist das Ergebnis für einen solchen Grad an Rationalität in der Regel viel zu verworren, selbst im Bereich der Nicht-Kunst). Der ideale Betrachter ist das Maß für die Objektivität des Werks, und es können viele Jahre vergehen, bis er dem Werk tatsächlich erwächst. Als Rezipienten, die versuchen, dem Künstler auf halber Strecke entgegenzukommen, betrachten wir sein Werk nicht aus der »Atelierperspektive«, sondern aus der des Kunstlieb­   In diesen Irrtum verfällt meines Erachtens Brander Matthews Theorie, dass jedes Stück für ein bestimmtes Publikum in einem bestimmten Theater geschrieben werden muss und dass die Schwächen des Stücks für gewöhnlich darauf zurückgehen, dass es dieser Umgebung entfremdet wird. Siehe A Book About the Theater, a. a. O., Kap. 1. 495

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habers, der »Publikumsperspektive«, und dabei bringen wir unsere eigenen Probleme mit. Wie können wir wissen, dass wir die Botschaft seines Schöpfers verstanden haben? Wie können wir den Wert dieses einzelnen Werks beurteilen und es richtig einordnen, sowohl im Hinblick auf die Werke dieses Künstlers als auch die anderer? Wenn es uns nicht gefällt, liegt es dann an uns oder an ihm? Sollten wir es akzeptieren, selbst wenn wir es nicht schön finden? Auf die meisten dieser Fragen gibt es keine direkte Antwort, da es sich ja auch nicht um direkte Fragen handelt. Sie beruhen auf Missverständnissen, wie sich an den verwendeten Begriffen zeigt. Ist eine Frage richtig gestellt worden, begegnen wir selten irgendwelchen Schwierigkeiten, oder aber die Lösung liegt auf der Hand. Beginnen wir mit der ersten Frage: Wie wissen wir, dass wir die Botschaft des Künstlers verstanden haben? Da das Kunstsymbol kein Diskurs ist, führt das Wort »Botschaft« in die Irre. Eine Botschaft ist etwas, das mitgeteilt wird. Wie ich aber im vorangegangenen Kapitel bemerkt habe, lässt sich von einem Kunstwerk in einem semantisch strikten Sinne nicht sagen, es löse eine Kommunikation zwischen seinem Schöpfer und dessen Mitmenschen aus. Obwohl seine semantische Funktion viel mit Sprache gemein hat (weshalb Croce die Kunst der »Sprachwissenschaft« subsumiert und Collingwood erklärt, die Kunst, nicht der Diskurs, verdiene es, »eigentlich«, Sprache genannt zu werden), wendet sie sich unmittelbarer an die Anschauung, als diskursive Symbole es tun. Die Untersuchung des nicht-diskursiven Ausdrucks ist durch ein missliches »Arbeitsmodell« behindert worden und hat sich in gewisser Weise darin verheddert: gemeint ist der Kommentar. Die Arbeit mit diesem Modell hat das eigentümlichste Kennzeichen der Kunst verdunkelt, dass nämlich deren Bedeutsamkeit von der Form (dem Bild, dem Gedicht, dem Tanz usw.) nicht getrennt werden kann, die sie ausdrückt. Allgemein wird davon ausgegangen, dass ein Kunstwerk, wenn es etwas in symbolischer und nicht symptomatischer Weise ausdrückt, der Kommentar seines Urhebers zu etwas sein müsse. Ein Kommentar lenkt



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jemandes Interesse stets auf etwas von den Worten, den Gesten oder anderen ihn mitteilenden Zeichen Verschiedenes hin; sie sind bloße Zeichen, verweisen auf einen betrachteten Gegenstand und teilen eine Meinung darüber mit. Für die Kunstkritik ergibt sich dann die Frage: Was kommentiert der Künstler, was sagt er und wie sagt er es? Ich halte das für Scheinfragen. Der Künstler sagt nicht irgendetwas, nicht einmal etwas über das Wesen des Fühlens: Er zeigt etwas. Er zeigt uns in einer wahrnehmbaren symbolischen Projektion die Erscheinung des Fühlens, aber er verweist nicht auf ein öffentliches Objekt, wie beispielsweise eine allgemein bekannte »Art« von Gefühl, das außerhalb seines Werkes anzutreffen ist. Nur insofern als sein Werk objektiv ist, wird das von ihm gezeigte Gefühl öffentlich, und es bleibt stets an sein Symbol gebunden. Diese Symbolisierung bietet dem Betrachter die Möglichkeit, ein Gefühl zu begreifen, und das ist viel elementarer, als ein Urteil über es zu fällen. Der Kunstliebhaber, der ein Werk aus der »Publikumsperspektive« sieht, hört oder liest, tritt damit in eine direkte Beziehung nicht zum Künstler, sondern zum Werk. Er reagiert auf es so, wie er auf ein »natürliches« Symbol regieren würde,496 indem er nach seinem Bedeutungsgehalt sucht, und vermutlich wird er das »darin enthaltene Gefühl« dafür halten. Dieses Gefühl – das von einem flüchtigen, kleinen Erlebnis bis zum subjektiven Muster eines ganzen Menschenlebens reichen kann – wird nicht »mitgeteilt«, sondern offenbart. Die geschaffene Form »hat« es, so dass die Wahrnehmung des virtuellen Objekts – zum Beispiel des berühmten Parthenonfrieses – zugleich die Wahrnehmung des ihm eigenen erstaunlich ganzheitlichen und intensiven Gefühls ist. Die Frage zu stellen, ob der Bildhauer dieses besondere Gefühl vermitteln wollte, bedeutet danach zu fragen, ob er das geschaffen hat, was er schaffen wollte.  Das Thema der »natürlichen Symbole« ist oben in Kap. 14, S. 399 ff. erörtert worden und ausführlicher im 5. Kap. von Neue Ton­ art; ursprünglich von Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II, a. a. O. 496

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Bei einem so unverkennbar gelungenen Werk ist diese Frage reichlich einfältig. Sobald wir uns keine Gedanken mehr darüber machen, ob wir den Bildhauer verstehen, und uns rein in das Werk versenken, scheint es uns überhaupt nicht so, als hätten wir ein Symbol vor uns, sondern einen Gegenstand mit einem besonderen Gefühlswert. Durch seine Betrachtung entsteht ein reales Gefühl in uns, das sich von »dem Gefühl in ihm« deutlich unterscheidet. Dieses reale Gefühl, das »das ästhetische Gefühl« genannt worden ist, ist nicht in dem Werk ausgedrückt, es gehört vielmehr zum Rezipienten; es ist eine psychologische Wirkung seiner künstlerischen Tätigkeit, die im Wesentlichen dieselbe ist, ob das Objekt, das seine Aufmerksamkeit fesselt nun ein fragiles Stück Dichtung ist, ein Werk von ungeheuerlicher Wucht und quälenden Dissonanzen wie der Ulysses von Joyce oder der heitere Parthenonfries. Das »ästhetische Gefühl« ist eigentlich ein alles durchdringendes Gefühl von Rausch, das unmittelbar von der Wahrnehmung guter Kunst erweckt wird. Es ist die »Lust«, die die Kunst uns angeblich schenkt. »Lust« ist ein undifferenziertes Wort; seine Verwendung hat zu end­losen Verwirrungen geführt, weshalb man es besser vermeiden sollte. Doch so viele Künstler und gute Kritiker haben es seit der Antike über Goethe, Coleridge und Keats bis hin zu Santayana und Herbert Read verwendet, 497 so dass es die Mühe lohnt, seine genaue Bedeutung in Bezug auf die Kunst festzuhalten; schließlich es ist nicht wahrscheinlich, dass sie alle sich mit den Irr­t ümern herumgeschlagen haben (oder herumschlagen), die seine Alltagsbedeutung nahelegen. Was mich betrifft, so halte ich es jedoch für das Beste, weder von »Lust« noch vom »ästhetischen Gefühl« zu sprechen. Tatsächlich lässt sich über das fragliche Gefühl nicht viel sagen, außer dass es ein Hinweis auf gute Kunst ist.   Siehe vor allem George Santayana, The Sense of Beauty (New York 1896), in dem Schönheit als »objektivierte Lust« definiert wird, und Herbert Read, The Meaning of Art: »[D]ie einfachste und am meisten gebräuchliche Definition der Kunst bestimmt diese als den Versuch, ansprechende (pleasing) Formen zu schaffen.« (London 1931, S. 18) 497



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Andere Dinge als Kunst sind dann und nur dann in der Lage, es zu erregen, wenn sie die gleiche intuitive Tätigkeit auslösen, die von der Kunst ausgelöst wird. Gefühlsgeladene Formen nehmen wir möglicherweise unmittelbar wahr, wenn wir die Natur mit dem »Auge eines Malers« betrachten, reale Erlebnisse poetisch auffassen, ein Tanzmotiv in den Flugformationen von Vögeln ausmachen usw. – das heißt, wenn uns etwas als schön erscheint. Ein so wahrgenommener Gegenstand nimmt dieselbe Erscheinung von Illusion an, die ein Tempel oder ein Stoff aufweisen, die physisch so real wie Vögel und Berge sind. Aus diesem Grund können Künstler der Natur unerschöpflich Thema um Thema entnehmen. Expressiv werden natürliche Gegenstände freilich nur für die künstlerische Einbildungskraft, die ihre Formen offenlegt. Ein Kunstwerk ist in sich expressiv, es ist so gestaltet, dass es Formen abstrahiert und der Wahrnehmung präsentiert – Formen von Leben, Fühlen, Tätigkeit, Leiden, Selbstsein –, wodurch wir ihre Wirklichkeit wahrnehmen, die wir anderenfalls nur blind hinnehmen können. Jedes gute Kunstwerk ist schön; sobald wir es als solches sehen, haben wir seine Expressivität erkannt, und solange wir das nicht tun, haben wir es nicht als gute Kunst gesehen, auch wenn wir intellektuell viele Gründe haben, es dafür zu halten. Schöne Werke können Elemente enthalten, die für sich genommen abscheulich sind. Die Obszönitäten, die Ezra Pound in Cantos XIV und XV aufeinander häuft, sind abstoßend, in dem Gedicht erfüllen sie jedoch die Aufgabe, brutale Missklänge hervorzubringen. So entsteht die Hölle, ohne dass sie beim Namen genannt wird (der nur im Rückblick auftaucht, in Canto XVI, und das nur einmal) und ohne dass nur ein einziges Mal von Folter, Strafe, Feuer oder irgendeinem anderen traditionellen Bild für die Hölle die Rede ist. Der Abschnitt, der auf »Andiamo!« folgt, ruft, obwohl er an sich alles andere als bezaubernd ist, ein Gefühl von Befreiung hervor, noch bevor der Albtraum tatsächlich loslässt; die Worte haben losgelassen. Dergleichen Elemente machen die Stärke des Werks aus, das groß sein muss, um sie

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zu aufzunehmen und zu verklären. Die entstehende Form, das Ganze, ist lebendig und daher schön, so schön, wie Grauenhaftes sein kann – so wie Wasserspeier, furchteinflößende afrikanische Masken, griechische Tragödien von Inzest und Mord schön sind. Schönheit ist nicht dasselbe wie das Normale, und sicherlich hat sie nichts mit Charme und sinnlichen Reizen zu tun, obwohl alle diese Eigenschaften zu ihrer Schöpfung beitragen können. Schönheit ist expressive Form. Um Kunst zu verstehen, muss man nur eine Fähigkeit mitbringen: Empfänglichkeit. Sie ist primär eine natürliche Gabe, nicht dasselbe wie kreative Begabung, und dennoch mit ihr verwandt. Wie für jede Begabung gilt auch für sie, dass sie durch Erfahrung gesteigert oder durch negative Einflüsse verringert werden kann, wenn sie überhaupt in irgendeiner Weise vorliegt. Da sie intuitiv ist, lässt sie sich nicht lehren, doch häufig hängt die freie Ausübung der künstlerischen Anschauung davon ab, dass wir unseren Verstand von intellektuellen Vorurteilen und falschen Auffassungen befreien, die unsere natürliche Empfänglichkeit behindern. Wenn beispielsweise der Leser eines Gedichts meint, er »verstehe« es erst dann, wenn er es in Prosasprache paraphrasieren kann, und die Güte eines Gedichts bestehe in den wahren oder falschen Meinungen des Dichters, dann wird er das Gedicht wie einen Diskurs lesen und dadurch vermutlich weder seine poetische Form noch sein poetisches Gefühl wahrnehmen. Von Natur aus mag er durchaus einen Sinn für Literatur haben und für sie empfänglich sein, doch alles, was er als »Dichtung« ausmacht, wird ihm unverständlich scheinen und ansonsten abwegig. Seine von einer theoretischen Überzeugung genährte intellektuelle Haltung steht seiner Empfänglichkeit im Wege. Ähnlich liegt der Fall, wenn unsere akademische Ausbildung uns veranlasst, Gemälde in der Hauptsache als Beispiele für bestimmte Schulen, Epochen oder die von Croce beklagten Klassen (»Landschaften«, »Porträts«, »Interieure« usw.) zu betrachten: Wir sind dann geneigt, über das Gemälde zu reflektieren, schnell alle verfügbaren Informationen zusammenzutragen, um zu einem intellektuellen Urteil



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zu kommen, und darüber verstellen wir uns jeden Zugang zu einer intuitiven Reaktion. Die Erregung einer unmittelbaren ästhetischen Erfahrung498 sagt uns etwas darüber, wie tief diese Erfahrung den mensch­ lichen Geist erfasst. Über ein Kunstwerk oder etwas anderes, das uns so wie Kunst berührt, lässt sich zutreffend sagen, »es mache etwas mit uns«, wenngleich nicht in dem gewöhnlichen Sinn, den Ästhetiker zu Recht bestreiten – dass es nämliche Gefühle und Stimmungen in uns auslöst. Was es mit uns anstellt, besteht darin, dass es unsere Vorstellungen von Gefühlen und unsere Vorstellungen der visuellen, faktischen und hör­baren Realität in einem formuliert. Es beschert uns voneinander untrennbare Formen der Einbildungskraft und Formen des Fühlens, und das heißt, es klärt und organisiert die Anschauung selbst. Darum hat ein Kunstwerk die Kraft einer Offenbarung und erfüllt uns mit einem Gefühl tiefer intellektueller Befriedigung, obwohl es keine bewusste Verstandestätigkeit auslöst. Die ästhetische Anschauung erfasst sofort die höchste Form und damit die entscheidende Bedeutsamkeit. Es ist nicht notwendig, ohne Blick für das Ganze zunächst einfachere Ideen und Implikationsreihen durchzuarbeiten, wie wir es in diskursiven Argumentationen tun, in denen die vollständige Anschauung des Zusammenhangs, gewissermaßen als Preis, erst mit der Schlussfolgerung erlangt wird. In der Kunst ist es die Wirkung des Ganzen, die unmittelbare Offenbarung der vitalen Bedeutsamkeit, die uns psychologisch dazu verlockt, uns auf eine lange Betrachtung einzulassen.  In Kunst als Erfahrung unterscheidet John Dewey die »künstlerische« Haltung und Erfahrung von der »ästhetischen«. Seine Unterscheidung entspricht, wie ich meine, dem, was ich als »Atelierperspektive« und als »Publikumsperspektive« bezeichnet habe – der kreativen Einbildungskraft und der Empfänglichkeit. In Wirklichkeit bewegen wir uns ungehindert zwischen den beiden Haltungen hin und her. Jedes empfängliche Individuum verfügt über ein Quantum kreativer Einbildungskraft, und jeder Künstler muss Kunst wahrnehmen und genießen, und sei es nur, um sein erstes Publikum zu sein. 498

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Bei einem Werk, das wir erst nach einer längeren Zeitspanne physisch vollständig wahrgenommen haben, etwa einem Roman, einem Musikstück oder einem Schauspiel, fällt dem Urheber als erstes die Aufgabe zu, von Anfang an die Reichweite und die vitale Bedeutsamkeit des Ganzen anzulegen. Wenn ihm das Stück in der Einbildungskraft deutlich fassbar ist, kommt er dieser Aufgabe in der Regel unbewusst nach, und der »Anreiz des Fühlens« 499 – um einen Ausdruck von Whitehead zu borgen – ist nahezu sofort gegeben. Es ist zwar richtig, dass wir ein Werk in seiner Gesamtheit lesen oder verfolgen müssen, bevor wir zu einem Urteil kommen, aber uns daran erfreuen können wir schon vorher. Ein hervorragendes Beispiel für das, was man »intuitive Antizipation« nennen könnte, ist die Erregung, die einen echten Theaterliebhaber ergreift, wenn der Vorhang sich hebt (oder manchmal sogar schon davor). Diese Erregung ist so häufig bemerkt worden, dass einige dafür eine Erklärung jenseits der eigentlichen Kunsterfahrung gesucht haben und meinten, darin ein Überbleibsel des religiösen Gefühls zu beobachten, das angeblich mit den Dramenaufführungen früherer Zeitalter verbunden war.500 Doch dem Theaterliebhaber scheint die bevorstehende poetische Erfahrung zu genügen, um seine Antizipation ohne einen atavistischen Bezug auf primitive Religionen oder andere Stammesgepflogenheiten zu begründen. Charles Morgan, dem sie offenbar sehr vertraut ist, entdeckt ihren Ursprung allein in der künstlerischen Funktion des Dramas. In einem bereits oben (S. 506) angeführten Aufsatz schreibt er: »Jeder Theaterbesucher erlebt dann und wann im Theater eine höchste Einheit, eine geheimnisvolle Macht, eine transzendente und eindringliche Illusion, die sozusagen über dem Bühnengeschehen und dem Zuschauer schwebt, […] ihm eine   »Lure of feeling« (Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York 1929, S. 85); in der deutschen Fassung heißt es »Anreiz für das Empfinden« (ders., Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 1979, S. 170). [ A nm. d. Hg. ] 500  Vgl. Kap. 17, S. 521 f. 499



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Vision schenkt, das geradezu ekstatische Gefühl, dass eine Veränderung mit ihm vorgeht, in der er sich nicht wieder­erkennt. Diese Erregung ist eben die Erwartung dieser Illusion und ihr Erleben die höchste Belohnung des Theaterbesuchs. […] Wieder und wieder werden wir enttäuscht. […] Doch dann und wann geht die Hoffnung des hartnäckigen Theaterbesuchs ganz oder zum Teil in Erfüllung. Der Ablauf dieses Erlebnisses ist immer derselbe – eine Erschütterung und nach der Erschütterung eine innere Stille, und aus dieser Stille erwächst ein Einfluss, der ihn verwandelt. Ihn  – nicht seine Meinungen – verwandelt. Diese großartige Wirkung geht weder auf eine Überzeugung des Verstands noch auf eine Verzauberung der Sinne zurück. […] Das Drama insgesamt bewegt die menschliche Seele und hüllt sie ein. Wir geben uns dem hin und sind verändert.«501 Weiter unten erklärt er meines Erachtens nach ganz richtig, was einem Kunstwerk, das uns im ästhetischen, nicht im gewöhnlichen Sinn bewegt, diesen außergewöhnlichen Wert verleiht: »Der dramatischen Kunst fällt eine zweifache Aufgabe zu: Zuerst soll sie den beschäftigten Geist beruhigen, ihn von Trivialitäten befreien, damit er empfänglich und meditativ wird, und ihn dann befruchten. Bewirkt wird diese Befruchtung durch die Illusion. Sie ist die spirituelle Kraft in der dramatischen Kunst, von der die Stille des Zuschauers befruchtet wird [er bezieht sich hier auf Wordsworths »long barren silence« am Kamin, SKL], und die ihn in die Lage versetzt, sich etwas vorzustellen, etwas wahrzunehmen, sogar etwas zu werden, was er von sich aus nicht hätte werden, wahrnehmen oder sich hätte vorstellen können.« 502   Morgan, The Nature of Dramatic Illusion, a. a. O., S. 63 f.   Ebd., S. 70. Eine sehr ähnliche Beobachtung stellt C. E. Montague in seinem informellen, aber nützlichen Bändchen A Writer’s Notes on his Trade an: »Auf dem Höhepunkt einer Tragödie scheint es, als könne der Durchschnittsmann oder die Durchschnittfrau nahezu alles begreifen – sogar Dinge, die ihnen am nächsten Tag, wenn sie nachzuvollzie501

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Was Morgan über das Drama sagt, lässt sich über jedes Werk sagen, das uns mit einer bedeutenden ästhetischen Erfahrung konfrontiert: Es offenbart unser Innenleben. Es tut aber noch mehr als das – es formt unser Vorstellungsvermögen der äußeren Wirklichkeit so, dass es den rhythmischen Formen von Leben und Empfinden entspricht und die Welt mit ästhetischem Wert erfüllt. Wie Kant in der Kritik der Urteilskraft anmerkt, besteht das Naturschöne in seiner Übereinstimmung mit unserem Verstand, und diese Übereinstimmung ist ihm ursprünglich von der Anschauung auferlegt worden.503 Das Leben, so wie wir es sehen, behandeln und fühlen, ist ebenso sehr ein Produkt der uns bekannten Kunst wie der Sprache – oder der Sprachen –, die unser Denken in der Kindheit geformt hat. In einer kleinen Monographie über den Kubismus (deren erster Teil weitgehend durch den unbedachten Gebrauch entlehnter Begriffe wie »die vierte Dimension«, »Unendlichkeit« usw. verdorben ist) beobachtet Guillaume Apolli­naire diehen versuchen, wie sie diese begriffen haben, wieder unverständlich geworden sind.« (A. a. O., S. 237) Weiterhin bemerkt er, die Erregung beim Lesen oder Sehen einer großen Tragödie liege zum Teil in dem triumphalen Gefühl, »angesichts unseres merkwürdig geschärften Vermögens bewegt zu werden, ohne betäubt zu sein, und, so scheint es, mit einer Klarheit und Ruhe geradewegs ins glühende Herz des Lebens zu blicken, wie es uns in kaum einer anderen Stimmung möglich ist.« (Ebd.) Nur ist es meiner Meinung nach nicht die Stimmung, die uns eine solche Einsicht erlangen lässt, sondern es sind die Mittel. Kein anderes Symbol würde uns dazu befähigen. Darüber hinaus ist ihm nicht entgangen, dass die ästhetische Erfahrung eine Steigerung des Bewusstseins, eine völlige Klarsichtigkeit, auslöst: »Wenn eine vollkommene Tragödie unseren Geist in Besitz nimmt, dann scheint es uns für einen Augenblick, als seien wir ganz nah daran, diesen Bereich des Rätselhaften zu entschlüsseln. Der Schlüssel entgleitet uns zwar wieder, doch in jenen Augenblicken, die uns nahezu in Trance versetzen, steht uns alles ganz deutlich vor Augen, und wenn die Erfahrung vorüber ist, sind wir uns ganz sicher, eine Vision gehabt zu haben und keinem Trugbild erlegen zu sein.« (Ebd., S. 238) 503  Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2006, B VIII.



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sen Umstand hinsichtlich der Wirkung, die bestimmte große Maler auf allgemeine Konzeptionen des Sehens ausgeübt haben. »Ohne die Dichter, ohne die Maler […] würde die Ordnung, die in der Natur zum Vorschein kommt und die nur eine Wirkung der Kunst ist, sich alsbald verflüchtigen.« Und weiter: »Der Kunst fällt es zu, es ist ihre soziale Aufgabe, jene Illusion 504: den Typ hervorzubringen. Wie sehr hat man sich über die Bilder Manets, Renoirs lustig gemacht! Nun, man braucht nur einen Blick auf die Fotografien jener Epoche zu werfen, um der Übereinstimmung der Menschen und der Dinge mit den Bildern dieser großen Maler gewahr zu werden. Diese Illusion scheint mir ganz natürlich zu sein, da die Kunstwerke das Kraftvollste sind, was eine Epoche an Formelementen erzeugt. Die Kraft einer Kunst drängt sich den Menschen auf und wird für sie zum Maßstab der Formbildung ihrer Epoche. 505 […] Alle Kunstwerke einer Epoche ähneln letztlich den Werken der kraftvollsten, der ausdrucksvollsten, der typischsten Kunst. Die Puppen sind ein Produkt der Volkskunst; sie scheinen stets von den großen Kunstwerken der gleichen Epoche inspiriert zu sein.«506 Wie die Malerei die visuelle Einbildungskraft beeinflusst, so beeinflusst die Dichtung – im weiten Sinn verstanden, Verse, Prosa, Belletristik und Drama eingeschlossen – unsere Auffassung von Ereignissen. In D. H. Lawrence Sons and Lovers gibt es eine Passage, in der mit großer Glaubwürdigkeit von einer Person berichtet wird, die furchtbare Ereignisse gestalten muss, damit sie Bestimmtheit, emotionale Bedeutung erlangen, erst dann kann sie praktisch und moralisch mit ihnen umgehen. Die Situation, die den Kontext für diese Passage bildet, hat sich allmählich entwickelt: Morel, ein Bergmann, der zu einem unverbesserlichen Trunkenbold wird, hat seine energische und   »Illusion« bedeutet hier Täuschung – Grund für Irrtum – nicht geschaffene Erscheinung. 505  In der deutschen Übersetzung fehlt dieser Satz. [Anm. d. Übers.] 506  Guillaume Apollinaire, Die Maler des Kubismus, Frankfurt a. M. 1989, S. 19 f. 504

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schwangere Frau von Tag zu Tag übler behandelt, bis er sie schließlich zum ersten Mal schlägt und aus dem Haus wirft. In der Erzählung heißt es: »Eine Zeitlang hatte sie noch keine Macht über ihr Bewußtsein; ganz gedankenlos ließ sie den letzten Vorgang noch einmal an sich vorüberziehen und dann noch einmal, und immer aufs neue brannten sich gewisse Redens­ arten, gewisse Einzelheiten wie ein Mal in ihre Seele; und jedesmal, wenn sie sich die verflossene Stunde so vorführte, loderte der Brand bei denselben Stellen wieder empor, bis das Mal eingebrannt und der Schmerz ausgebrannt war und sie schließlich wieder zu sich kam.«507 Das Leben ist so lange zusammenhanglos, bis wir ihm eine Form geben. Der Vorgang, unsere eigene Situation und Biographie auf den Punkt zu bringen, läuft in der Regel nicht so bewusst ab, wie Frau Morels Anstrengung, den Akt der Gewalt zu begreifen, dem sie ausgeliefert war. Er folgt jedoch demselben Muster – wir »fassen ihn in Worte«, breiten ihn vor uns aus, gestalten ihn anhand von »Szenen«, damit wir in unserer Vorstellung all seine entscheidenden Momente noch einmal erleben können. Die Grundlage dieser tätigen Einbildungskraft ist die dichterische Kunst, die uns zuerst in Form von Kinderreimen begegnet ist und später dann als tiefschürfende oder anspruchsvolle oder atemberaubende Dramen und Romane.508 Was Apollinaire über den Einfluss von Renoir und Monet auf die Sehweise der Menschen beobachtet hat, lässt sich auch über Wordsworths Einfluss auf ihren Wortschatz und Balzacs Einfluss auf ihren Sinn für Ironie sagen. Vor allem aber dringt die Kunst tief in das persönliche Leben ein, sie artikuliert die menschliche Natur: Sensibilität,   D. H. Lawrence, Söhne und Liebhaber, Leipzig 1925, S. 41.   Ein etwas frühreifes Kind von Freunden erzählte einmal am Frühstückstisch einen Traum, den es in der Nacht geträumt hatte – offensichtlich ein besonders lebendiger und idyllischer Traum –, und es schloss mit der verzückten Bemerkung: »Es war so wunderschön – das Gras unter den Bäumen – und so viele, viele kleine Hunde im Gras – und das alles in Technicolor!« 507

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Tatkraft, Leidenschaft und Sterblichkeit. Nichts in der Erfahrung formt unser eigenes Gefühlsleben so stark wie die Künste. Dieser kreative Einfluss stiftet eine sehr viel wichtigere Beziehung zwischen der Kunst und dem gegenwärtigen Leben als der Umstand, dass ihre Motive aus der Umwelt des Künstlers stammen.509 Es ist klar, dass die Kunst in der Erfahrung gründet; doch die Intuitionen wichtiger Künstler spielen ihrerseits eine wichtige Rolle dabei, wie die Erfahrung in der Erinnerung aufgebaut und in der Einbildungskraft vorgeformt wird. Häufig sind diese Künstler schon lange tot (es braucht seine Zeit, bis ein Einfluss die tiefsten Schichten der Geistigkeit erreicht hat, und was wir in der Kindheit lernen, um es nie wieder zu verlieren, stammt immer aus einem früheren Zeitalter), seltener sind sie Propheten unserer eigenen Generation.510 Künstlerische Ausbildung leistet daher für die Erziehung des Gefühls dasselbe, was unser normaler Schulunterricht in Sachkunde und logischen Fähigkeiten wie mathematischem »Berechnen« oder einfachem Argumentieren (dessen Grundsätze kaum je erklärt werden) für die Erziehung unseres Denkens leistet. Nur wenige machen sich klar, dass die wirkliche Erziehung des Gefühls nicht in einer durch soziale Billigung oder Missbilligung bewirkten »Konditionierung« besteht, sondern in der stillen, persönlichen, erhellenden Begegnung mit Symbolen des Fühlens. Entsprechend wird die Kunsterziehung vernachlässigt, dem Zufall überlassen oder als kultureller Zuckerguss  Mit Blick auf die Skulpturen an der Kathedrale von Reims schreibt André Malraux: »Der Mensch des dreizehnten Jahrhunderts fand seine innere Ordnung und deren Paradigma in der äußeren Welt.« 510  Vgl. Owen Barfields Bemerkung: »Oscar Wildes Bonmot – dass Menschen von Büchern gemacht werden und nicht Bücher von Menschen – ist sicherlich kein reiner Unsinn; in einem sehr realen Sinne, mag es auch demütigend für uns sein, ist das, was wir allgemein unsere Gefühle nennen, eigentlich die ›Bedeutung‹, die Shakespeare ihnen gegeben hat.« (Poetic Diction, a. a. O., S. 143) Ähnlich Irwin Edman: »Für viele ist es eher die Literatur als das Leben, wodurch sie ihre ureigenen Gefühle kennenlernen.« (Arts and the Man. A Short Introduction to Ae­ sthetics, New York 1949, S. 29) 509

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betrachtet. Die gleichen Menschen, die so um die wissenschaftliche Auf klärung ihrer Kinder besorgt sind, dass sie Grimms Märchen aus der Bibliothek und den Weihnachtsmann aus dem Schornstein verbannen, lassen es zu, dass der Geist der Kinder von Anfang an tagein, tagaus mit der banalsten Kunst, dem scheußlichsten Gesang und den abstoßendsten sentimentalen Geschichten von traktiert wird. Wenn die breite Masse der Jugendlichen in emotionaler Feigheit und Verwirrung aufwächst, wenden sich die Soziologen den wirtschaftlichen Bedingungen oder den Familienverhältnissen zu, um die Ursachen für diese beklagenswerte »menschliche Schwäche« zu ergründen, nicht jedoch dem allgegenwärtigen Einfluss verdorbener Kunst, der den Durchschnittsverstand in seichte Sentimentalität taucht und so jeden Keim des echten Fühlens erstickt, das sich hätte entwickeln können. Nur selten fallen diese Verwüstungen dem einen oder anderen Kunstliebhaber auf, so etwa Percy Buck, der vor etwa dreißig Jahren bemerkt hat: »Zumindest in England scheint eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Frage zu herrschen […], ob die Gefühlsseite eines Menschen in irgendeiner Weise entwickelt ist. Die einzige Überzeugung, die ein Engländer über Gefühle hegt, ist die, dass wir lernen sollten, sie so früh wie möglich vollkommen zu unterdrücken. […] [W]as der Sport für unseren Körper, die Religion für unsere Moral und der Unterricht für unseren Verstand ist, kann die Kunst, und nur die Kunst, für unsere Seite des Gefühls sein.«511 Und schließlich: »Jedes und Planen und Entwerfen, mithin jede Struktur, ist eine Darstellung des Fühlens mit den Mitteln des Verstandes.«512 Kunst berührt weniger die Lebensfähigkeit als vielmehr die Lebensqualität, diese berührt sie freilich zutiefst. Darin ist sie der Religion verwandt, die, zumindest in ihrer ursprünglichen, kraftvollen, spontanen Phase, ebenfalls menschliches Fühlen 511

  Percy C. Buck, The Scope of Music, Oxford 1924, S. 52.   Ebd., S. 76.

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bestimmt und entfaltet hat. Wenn die religiöse Einbildungskraft die vorherrschende gesellschaftliche Kraft darstellt, so ist die Kunst von ihr untrennbar, denn der religiösen Erfahrung wohnt ein großer Reichtum realer Gefühle inne, und unverbildete, nicht abgestumpfte Geister mühen sich mit Freude ab, dem einen objektiven Ausdruck zu verleihen, und sehen sich über den Anlass ihrer Anstrengungen hinausgetrieben, um die äußersten Möglichkeiten des Ausdrucks zu erkunden, den sie gefunden haben. Was immer den Menschen heilig ist, beflügelt die künstlerische Konzeption. Wenn die Künste sich von der Religion »befreien«, wie es so schön heißt, dann haben sie das religiöse Bewusstsein schlicht ausgeschöpft und bedienen sich anderer Quellen. Sie waren nie an Rituale, Moral oder heilige Mythen gebunden, doch solange der menschliche Geist sich darin konzentrierte, gediehen die Künste frei im Bereich des Heiligen. Sobald die Religion prosaisch und oberflächlich wird, tritt die Kunst woanders in Erscheinung. Die Kirche von heute toleriert grauenhaft schlechte Gemälde und Skulpturen und nichtssagende Musik, weil sie glaubt, süßliche Marienbilder und Kauf hausmusik seien »den Menschen näher« als die »entrückten«, visionären Madonnen, für die große Künstler ihre Seele und ihr ganzes Können gaben (und immer noch geben). Und das sind sie dann auch, diese sentimentalen Erinnerungen an fromme Gedanken: Sie sind ihnen so nah wie das Porzellankätzchen und die langbeinige Puppe, und alles, was sie von solchen weltlichen Objekten unterscheidet, ist ihre buchstäbliche Bedeutung. Sie verderben das religiöse Bewusstsein, das in ihrem Bild entwickelt wird, und selbst wenn sie die Lehren der Kirche veranschaulichen, würdigen sie diese Lehren zugleich auf das Niveau weltlicher Gefühle herab. Schlechte Musik, schlechte Skulpturen und Bilder sind irreligiös, weil alles Korrupte irreligiös ist. Gleichgültigkeit gegenüber der Kunst ist das sicherste Zeichen für den Verfall einer Institution; nichts zeugt beredter von ihrem Greisenalter, als dass die Kunst unter ihrer Schirmherrschaft buchstäblich wird und sich selbst nachahmt.

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Die beeindruckendste, lebendigste Kunst verlässt dann den religiösen Kontext und schöpft anderenorts aus unbehindertem Fühlen. Etwas anderes bleibt ihr nicht übrig, aber sie verliert damit ihre traditionelle Einflusssphäre, die feierliche, festliche Menge und läuft Gefahr, nie aus dem Atelier herauszukommen, in dem sie geschaffen worden ist. Dann sprechen Künstler heroisch von »Kunst um der Kunst willen«, als hätte Kunst je andere als künstlerische Ziele haben können. Das Missliche ist nur, dass ihre Arbeiten keinen natürlichen Ausstellungsort finden, an dem die normale Bevölkerung sie zu sehen bekommt. Ein paar Reiche können sich Bilder und Statuen leisten, aber groß­ artige, wichtige Kunst hat immer eine Öffentlichkeit gehabt, und so sollte es auch sein. Daher entsteht das Museum. Das Ausstellen von Kunst in Museen steht vor vielen Problemen, und die Wirkmächtigkeit eines Werks wird oft dadurch beeinträchtigt, dass es von anderen Werken umgeben ist. In Das imaginäre Museum hat André Malraux auf diese Gefahr hingewiesen und die stets besser werdende Reproduktionstechnik als hoffnungsvolles Heilmittel gepriesen, da sie den Kunstliebhabern ermögliche, ein Album zu erstellen, eine private Sammlung von Meisterwerken. Dieses Verfahren hat beträchtliche Nachteile, doch der wirkliche Verlust, unter dem die Kunst seit ihrer Säkularisierung leidet, wird weder durch das reale Museum noch durch »das imaginäre Museum« der Kunstdrucke wettgemacht: Die Menschen begegnen Kunstwerken nicht mehr auf natürliche und beständige Weise. Der Besuch eines Museums ist anders als der Gang in die Kirche oder den Tempel im normalen Leben kein selbstverständliches, regelmäßiges Geschehen. Das Album steht in einem Regal, aus dem es gelegentlich herausgezogen und betrachtet wird; seine Schätze ragen nicht in ihrer ganzen Größe vor uns auf, wie Altartafeln, herrliche Fenster und Statuen es tun. Die bildenden Künste sind ihrer Öffentlichkeit entfremdet worden. Oder vielmehr: alle bis auf eine, die heute vielleicht in Amerika ihre größte Blüte erlebt – die Architektur. Jedermann sieht großartige Gebäude, Brücken, Viadukte, Getreidesilos, Schorn-



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steine, Schiffe und fühlt bewusst oder unbewusst, welche Wirkung sie auf sein Gefühlsleben und seine Weltanschauung* ausüben. Das ist Erziehung des »inneren Auges«, der kreativen Einbildungskraft, die unsere Wahrnehmung anleitet. Musik, Tanz und Drama sind mittlerweile in einem Bereich zuhause, der auf den ersten Blick das genaue Gegenteil des heiligen Bezirks ist, in dem sie entstanden sind; sie sind als Unterhaltung akzeptiert worden. Wie ich aber schon sagte: Unterhaltung ist nicht notwendig etwas Frivoles, wie bloßes Amüse­ment. Dieses ist ein zeitweiliger Stimulus, ein »Auftrieb« des vitalen Gefühls, der normalerweise in Gelächter mündet. Es ist allgemein wohltuend und wird mitunter zu Unrecht als Heilmittel gegen Depressionen empfohlen. Unterhaltung ist demgegenüber jede Tätigkeit, die kein praktisches Ziel verfolgt, etwas, dem Menschen beiwohnen, einfach weil es sie interessiert. Interesse, nicht Amüsement und auch nicht Lust, ist hier das Losungswort. Gesellschaftliche Konversation, Tischgespräche sind Unterhaltung. Es kann sich dabei um den groben Humor im Raucherzimmer, das Geplauder auf einer Cocktailparty, das berühmte Frühstücksgespräch von Oliver Wendell Holmes oder die noch berühmteren Tischgespräche Mohammeds handeln. Unterhaltung ist nicht an sich eine Wertkategorie. Sie schließt Mußestunden ebenso ein wie die Befriedigung gebieterischer geistiger Bedürfnisse, doch ob nun trivial oder ernsthaft, stets ist sie eine Arbeit des Geistes. Whitehead hat sie als das definiert, was »Menschen mit ihrer Freiheit anfangen«513. Die Kultiviertheit von Individuen lässt sich möglicherweise daran ermessen, was ihnen Freude macht (George Meredith meinte, die Deutschen seien zu grob, um Freude an einer Komödie zu haben); ihre geistige Energie und emotionale Stärke zeigt   »Freiheit« ist ein besseres Wort als der üblichere Ausdruck »Freizeit«, denn »Freizeit« lässt Entspannung assoziieren, wohingegen eine freie Tätigkeit unserem Geist oft eine denkbar große Elastizität abverlangt. 513

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sich hingegen in dem, was sie interessiert – in der Ernsthaftigkeit und der Schwierigkeit, die ihre Unterhaltung annehmen kann, ohne damit »Arbeit« zu werden (wie die Weltliteratur, die man in der Schule liest, oder die Konzerte und Theaterstücke, die man aus Gründen der Bildung besucht haben »muss«). Shakespeares Tragödien sind für ein Unterhaltungstheater geschrieben worden, in dem die Leute sich nicht amüsieren wollten, sondern in dem sie den Rausch künstlerischer Erfahrung, das überwältigende Drama suchten. Kunst hat ihren angestammten Ort ebenso in der Unterhaltung wie in der Religion. Man braucht Hamlet nicht als einen modernen Ödipus zu interpretieren oder die elisabethanische Bühne im Lichte des chorischen Theaters in Athen zu betrachten, um die Kraft der säkularen Tragödie zu verstehen. Die Ähnlichkeit zu antiken Ritualen, von denen Francis Fergusson und einige andere Gelehrte 514 erklären, sie fänden sie in Shakespeare’schen Tragödien und sogar in denen Ibsens, weist meines Erachtens auf den gemeinsamen künstlerischen Zweck all dieser Werke hin – die Veranschaulichung der individuellen Existenz als eines Ganzen und ihrer vollständigen Entfaltung bis an die Grenzen von Handlung und Leidenschaft. Diese Veranschaulichung, die uns zunächst in der sakralen Kunst präsentiert wird, ist für Menschen, die ein reifes Selbstbewusstsein ausgebildet haben, eine Notwendigkeit; sobald das tragische Gefühl in uns erwacht ist, sucht es uns heim, und wir verlangen danach, dass es uns klar und gestaltet vor Augen gestellt wird. Nur wenige wissen, warum die Tragödie eine Quelle tiefer Befriedigung ist; sie erfinden alle Arten psychologischer Erklärung, angefangen bei der Katharsis der Gefühle bis hin zu einem Gefühl von Überlegenheit, weil die Unglücksfälle des Helden nicht die unsrigen sind. Die wahre Quelle ist jedoch die Freude an der Offenbarung, die Sicht auf eine ganz und gar bedeutsame Welt, auf ein sich selbst verzehrendes Leben und den Tod als Signatur seiner Vollendung. Sie ist einfach die Freude an 514

  Vgl. Kap. 19, S. 521 f.



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großer Kunst, an der Wahrnehmung geschaffener Formen, die durch und durch expressiv sind, und das heißt schön. Die Tragödie, schwierige oder überwältigende Musik, der leidenschaftlich ernste Tanz einiger moderner Ballette haben ihren Platz in der »Unterhaltung«, weil wir uns spontan und bereitwillig auf ihre Betrachtung einlassen, ohne irgendeine andere Absicht damit zu verfolgen als die, zu sehen, zu hören und bezaubert zu sein. Aber wir lassen uns dabei von jenem Bedürfnis nach Kunst antreiben, das von heiligen Gegenständen und Offizien mit größerer Sicherheit und Häufigkeit befriedigt zu werden pflegte. Das gleiche Bedürfnis nach Kunst, und nicht der unterschiedslose Wunsch nach Amüsement, wird von der Komödie, heiterer Musik und humorvoller Choreographie erfüllt. Kunst muss nicht notwendig feierlich, ja nicht einmal groß sein, um expressiv zu sein. Das Kriterium für gute Kunst ist ihre Fähigkeit, uns zu bannen und ein Gefühl offenzulegen, das wir als wirklich erkennen, und zwar durch denselben Eindruck des sich Fügens, durch den Künstler eine Form als wahr erkennt. Alle Formen des Fühlens sind wichtig, und der Pulsschlag des Lebens muss ebenso sichtbar gemacht werden wie die kompliziertesten Leidenschaften, wenn wir ihn wertschätzen sollen. Eine der Standardfragen, die im Hörsaal und von denen, die in Büchern »etwas über Kunst erfahren wollen«, zu hören ist, lautet: »Was macht ein Kunstwerk besser als ein anderes?« Ich halte das für eine falsche Frage. Kunstwerke sind in der Regel nicht vergleichbar.515 Nur eine Preisjury muss sie im Hinblick auf gewisse Maßstäbe beurteilen, und diese sind zwangsläu  Ausnahmen von dieser Regel stellen beispielsweise die verschiedenen Werke ein und desselben Urhebers dar, wenn er in diesen denselben Hauptgedanken verarbeitet. Herricks Gedichte »To Daffodils« und »To Blossoms« unterscheiden sich im Wesentlichen kaum. Letzteres wäre möglicherweise berühmter, als es ist, wenn dieselbe poetische Idee nicht in ersterem gelungener durchgeführt worden wäre. Böcklin hat vier Versionen seiner »Toteninsel« gemalt, und diese vier Bilder lassen sich durchaus vergleichen. In Die schöpferische Gestaltung stellt 515

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fig willkürlich und häufig nicht anwendbar. Eine fachkundige Jury verzichtet sogar darauf, Maßstäbe aufzustellen. Falls sie aus Menschen besteht, die ihre Wahrnehmungsfähigkeit in gründlicher Auseinandersetzung mit der Kunstgattung (also Dichtung, Bildhauerei, Musik usw.) geschult haben, in der sie zu einem Urteil kommen sollen, werden sie sich von ihrer Anschauung leiten lassen. Dabei wird es zu Meinungsverschiedenheiten kommen, freilich nicht deshalb, weil gute sich nicht von schlechten Werken unterscheiden lassen, sondern weil es kein sicheres Auswahlprinzip hinsichtlich gelungener Werke gibt. Den Ausschlag geben dann normalerweise persönliche oder gesellschaftliche Gründe; »Ranglisten« sind trivial. Das heißt nun nicht, dass sich Kunstwerke nicht kritisieren lassen. Den Anfang macht die unmittelbare Einschätzung – sind wir beeindruckt oder lässt es uns kalt? Doch die Erkenntnis, wie die Illusion zustande gekommen und gestaltet worden ist und wie die Bedeutsamkeit bei einem starken Werk unmittelbar gegeben ist, auch wenn der Kritiker selbst von der Eigenartigkeit seines Gefühls verblüfft ist – diese Erkenntnis ist ein Ergebnis der Analyse, zu dem die diskursiven Überlegungen über das Werk und seine Wirkungen geführt haben. Solche Befunde sind jedoch keine Kriterien für die Qualität von Werken, sie liefern bloß Erklärungen dafür, warum es gut oder im Gegenteil misslungen ist. Sobald sie verallgemeinert und als Leis­ tungsmaßstäbe verwenden werden, sind sie verhängnisvoll. Im Fall eines Gedichtes zum Beispiel, das keinerlei Anschauung vermittelt, also schlecht ist, könnte eine kleine Untersuchung seinen Mangel an »Lebendigkeit« auf den Gebrauch vorgefertigter Phrasen zurückführen, wobei sie als bekannte Phrasen keinerlei künstlerischen Zweck erfüllen. Das Gedicht verweist auf andere Gedichte, bindet sie jedoch nicht ein, es ist synthetisch, es hat keinen eigenen Körper – keine eigene organische Struktur. Im Vorliegen entliehener Phrasen oder überhaupt ir­ Malraux einen sinnvollen Vergleich zwischen den vier Fassungen von El Grecos »Tempelreinigung« an.



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gendeines abgegriffenen Materials an sich ein Kriterium mangelnder Qualität zu sehen ist jedoch gefährlich.516 Materialien sind weder gut noch schlecht, weder stark noch schwach. Das Urteil muss sich daher an das virtuelle Ergebnis halten, an das Gelingen oder Misslingen des Künstlers, das in der Anschauung erkannt wird oder gar nicht. Keine Theorie kann Kriterien für Expressivität (also für Schönheitsmaßstäbe) festlegen. 517 Wäre sie dazu imstande, könnten wir lernen, anhand von Regeln Dichtung zu verfassen oder Bilder zu malen. Da aber jeder Künstler herausfinden muss, welche Mittel es ihm erlauben, seine »Idee« auszudrücken, kann keine Vorschrift, kein Beispiel ihm dabei helfen. Das kann allein die Kritik. Und wenn die Kritik seine Fähigkeiten entwickeln soll, muss sie sich auf seine Teilerfolge stützen können – das heißt, sie muss die Leitform im Werk des Lehrlings erkennen können, denn sie ist das Maß für alles, was am Werk gelungen oder misslungen ist. Wo keine Matrix eines vorgestellten und zu artikulierenden Gefühls existiert, gibt es kein technisches Problem. Begabung ist vor allem die angeborene Fähigkeit, mit den Ideen, die man hat, so umzugehen, dass die gewünschten Wir  Vgl. die Erörterung von Tillyards Kommentaren zum Stabat Mater in Kap. 13, S. 388 ff. 517  In seinem Buch Aesthetic Analysis weist David Prall auf allerhand philosophische Probleme einer Ästhetik hin, die intellektuelle Kriterien für die Beurteilung künstlerischer »Meisterwerke« liefern könnte. Die Forderung selbst hält er anscheinend nicht für unvernünftig (»Sollten wir nach einem sicheren Kriterium für Meisterwerke suchen, dürften wir ein solches nur von einer fundierten Ästhetik erwarten«; a. a. O., S. 26), er zweifelt lediglich an ihrer Umsetzbarkeit. Als hätte er eine plötzliche Eingebung gehabt, sagt er allerdings weiter unten: »Der Unterschied zwischen klarer Wahrnehmung und deutlichem Verstehen ist gar nicht so groß, wie man uns manchmal glauben machen will. Und die offensichtlichste Tatsache über das Erkennen von Kunstwerken ist die, dass das unmittelbare Begreifen letztlich zu dem angemessenen Wissen führt, das wir anstreben« (ebd., S. 39). Welches weitere Kriterium sollte »eine fundierte Ästhetik« uns dann noch liefern? 516

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kungen erzielt werden. Sie scheint eng mit Körpergefühl, Sensibilität, Muskelbeherrschung, einem Gedächtnis für Sprache oder Töne wie auch mit jener einen wichtigen geistigen Voraussetzung, der ästhetischen Empfänglichkeit, verbunden zu sein. Weil sie auf komplexe Weise mal mit dieser, mal mit jener Zufallsgröße im menschlichen Organismus eine Verbindung eingeht, ist die Begabung tendenziell spezialisiert und möglicherweise erblich, und sie tritt, wie man weiß, in allen möglichen Abstufungen auf. Der Durchschnittsmensch hat ein gewisses Maß an Begabung für das Singen oder das Spielen eines Instruments, für das Schreiben, Schauspielen und Tanzen, er kann ein wenig zeichnen und eine rudimentäre Skulptur schaffen (zumindest einen Schneemann) usw. Ein völliger Mangel an Begabung – beispielsweise die vollkommene Unfähigkeit, eine Melodie zu singen oder an einem Gruppentanz teilzunehmen – ist zu ungewöhnlich, als dass er ins Gewicht fällt. Und was als künstlerische »Durchschnittsbegabung« bezeichnet wird, lässt sich durch Übung und Ausbildung beträchtlich steigern. Vom Genie wird jedoch im Allgemeinen behauptet, es kenne keine Abstufungen, weil es als der höchste Grad an Begabung gilt. In den verschiedenen Systemen der Psychometrie, die entwickelt worden sind, um Fähigkeiten und Begabungen zu messen, gibt es (oder gab es) einen bestimmten Punkt auf der Skala der als »Genieniveau« bekannt ist. Einem »Genie« wird nachgesagt, es tue alles, wofür andere mühevolle Anstrengungen auf bieten müssen, mit Leichtigkeit. Aus diesem Grund wird Frühreife gemeinhin als ein Zeichen für Genie aufgefasst, und jedes Jahr wird irgendein tatsächlich erstaunliches Kind, das technische Schwierigkeiten so leicht überwindet wie ein Reh den Weidezaun, in den Konzerthallen, im Radio, im Fernsehen und manchmal in den Kunstgalerien bejubelt. Mitunter wächst das Kind heran, um die Kunstwelt zu revolutionieren – Mozart war da nicht der Einzige –, doch weitaus häufiger erweist es sich in seinem Erwachsenenleben als ein guter Künstler, der sein Handwerk beherrscht, ohne sich besonders auszuzeichnen.



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Genie ist tatsächlich überhaupt kein Grad an Begabung. Begabung ist die besondere Fähigkeit, das auszudrücken, was man sich vorstellen kann; doch Genie ist die Kraft, sich etwas vorzustellen. Auch wenn ein bestimmter Grad an Begabung nötig sein mag, wenn das Genie keine Totgeburt sein soll, haben große Künstler nicht immer außergewöhnliche technische Fähigkeiten gehabt; sie haben oft um Ausdruck gerungen, aber das Drängende ihrer Ideen ließ sie noch den kleinsten Ansatz von Begabung entwickeln, bis sie schließlich ihren Erfordernissen gewachsen waren. Calvocoressi berichtet von Mussorgski, er habe »unter Mühen, holprig und unvollkommen gearbeitet. Dass er unsterbliche Seiten hervorgebracht hat, ist einzig und allein der Kraft seines Genie geschuldet: Er tat dies immer dann, wenn seine Inspiration kraftvoll genug war, um sich selbst auf eigene Weise zu Papier zu bringen […].«518 Die Unterscheidung zwischen Genie und Begabung ist hier mit enthalten. In seiner großartigen Psychologie der Kunst bezieht Malraux sich ausdrücklich auf sie, wenn er über Caravaggio schreibt: »Dieser glaubt an die Realität, und was ergreifend an seinem besten Stil wirkt, ist, daß sein Genie diese Realität vernichten möchte, an die sein Talent sich doch klammert.«519 Begabung und Genie treten hier nicht nur als etwas Unterschiedenes in Erscheinung, sondern als etwas Gegensätzliches, obwohl sie ausgeglichener als bei Mussorgski zu sein scheinen. Der interessante Fall einer großen Begabung, der es an jedem erkennbaren Genie fehlt, spiegelt sich in Friedrich Ludwig Schröders Kritik an seinem berühmten Kollegen Iffland, dessen außergewöhnliche natürliche Gaben Goethe erstaunt hatten und Schiller zu der Prophezeiung veranlassten, in ihm würde Deutschland endlich einen wahrhaft großen Schauspieler finden. »Iffland«, so schreibt Schröder mit tieferer Einsicht als die Dichter, »ist nicht Schöpfer. Selbst zu seinen komischen Rollen sucht er eine Art   M. D. Calvocoressi, Musorgsky, the Russian Musical Nationalist, zitiert in: J. T. Howard, Inevitability as a Criterion of Art, in: Musical Quarterly 9, 3 (1923), S. 303–13, hier 305. 519  André Malraux, Stimmen der Stille, Baden-Baden 1956, S. 382. 518

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von Original, das er kopiert. Mein Grundsatz, den meine Erfahrung noch nie widerlegt hat, ist: Der große Schauspieler kann nicht kopieren.«520 Wird ein Genie jedoch zielstrebig von einer großen Begabung unterstützt, dann kann es sich, wie das von Mozart und Raffael, frei entfalten. Es ist allerdings ein Fehler zu meinen, ein Genie sei von Anfang an vollendet. Auf die Begabung trifft dies mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit zu, weshalb das Wunderkind ein so wohlbekanntes Phänomen ist. Tatsächlich kommt das Genie manchmal erst im Erwachsenenalter zum Vorschein, wie bei Van Gogh, dessen frühe Bilder recht mittelmäßig sind. Sein Genie wächst und vertieft sich mit jedem Werk, und das lange nachdem seine technische Meisterschaft ihren Höhepunkt erreicht hat. So war es bei Beethoven, Shakespeare und Cézanne. Da Genie nicht die allerhöchste Form der Begabung ist, sondern das Vermögen, unsichtbare Wirklichkeiten – Empfindung, Vitalität, Gefühl – in einer neuen symbolischen Projektion zu erfassen, die zum ersten Mal etwas über ihr Wesen offenbart, lässt es Abstufungen zu; und ein kleiner Schuss Genie ist keine seltene Gabe. Wie viel er davon auch mitbekommen hat, jedenfalls ist Genie das Kennzeichen des wahren Künstlers; und mag er von Hause aus Handwerker sein, erhebt es ihn im Reich der Kunst über den reinen Handwerker, den Kopisten und Plagiator. Kunst gehört der Öffentlichkeit, denn die Formulierung des »gefühlten Lebens« ist das Herzstück jeder Kultur und formt den Menschen die objektive Welt. Sie ist ihre Schule des Gefühls, ihr Bollwerk gegen äußere und innere Verwirrung. Erst wenn die Natur den Formen des Fühlens entsprechend in der Einbildungskraft gestaltet worden ist, sind wir imstande, sie zu verstehen, mithin ihre Vernünftigkeit zu erkennen (für Goethe sah so das Ideal der Wissenschaft aus und für Kant der Begriff der Schönheit). Dann Intellekt und Gefühl bilden keinen Gegen  Zitiert in: Manfred Barthel, Schauspielerbriefe aus zwei Jahrhun­ derten, München 1947, S. 87. 520



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satz, das Leben wird durch seine Situation symbolisiert, die Welt erscheint bedeutsam und schön und wird intuitiv »begriffen«. Wenn die Kunst tatsächlich in der Klärung des Gefühls­lebens besteht, warum gilt das »künstlerische Temperament« dann sprichwörtlich als aufgewühlt, unbändig, wenn nicht gar ein leicht wahnsinnig? Warum ist der Künstler nicht der Hauptnutznießer seines Genies? In gewisser Weise ist er dies natürlich; mit jedem gelungenen Werk ist es in erster Linie sein Problem, das er gelöst hat, sein Geist, den er aufgeklärt hat. Aber er bleibt nicht bei seinen Schöpfungen stehen, wie das Laienpublikum es tut. Seine Formulierungen und Offenbarungen sind für ihn ein Endprodukt. Sein Lohn besteht im Bild, nicht in dessen Gebrauch, denn während andere es betrachten, genießen und seine Sicht in ihr Leben integrieren, verfolgt er bereits das nächste.521 Er hat keine Zeit, sein eigenes Haus in Ordnung zu bringen. Und noch etwas: Kunst als kulturelles Erbe zu betrachten, führt uns zu einem Begriff zurück, den wir in einem früheren Zusammenhang zurückgestellt haben, nämlich zum Begriff der Kunst als einer Art »Kommunikation«. Aufgrund der Analogie zur Sprache liegt darin die Gefahr, dass wir ohne Weiteres annehmen, die »Kommunikation« finde zwischen dem Künstler und seinem Publikum statt, und das führt uns meiner Ansicht nach in die Irre. Es gibt aber etwas, das wir ohne die Gefahr allzu großer Buchstäblichkeit »Kommunikation durch Kunst« nennen könnten, nämlich das, was die Kunst uns von einem anderen Zeitalter oder einer anderen Nation berichtet. Kein historisches Zeugnis vermag uns auf tausend Seiten so viel über die Geistesverfassung der Ägypter mitzuteilen wie der Besuch einer repräsentativen Ausstellung ägyptischer Kunst. Was   Möglicherweise haben wir hier den Grund dafür, dass diejenigen, die, wie man sagt, »nur ein Buch in sich haben«, in der Regel angepasster sind als das unbegrenzt fruchtbare Genie. Sie verfassen das Bild ihres eigenen Lebens und klären in diesem Bild ihre eigenen Gefühle, und da sie damit einen geistigen Ruhepunkt erlangt haben, werden sie nicht von weiteren Visionen heimgesucht. 521

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wüssten die Europäer über die weit zurückreichende Kultur der Chinesen, wenn sich die Gefühlswelt der Chinesen nicht in Skulptur und Malerei artikuliert hätte? Was wüssten wir über Israel ohne sein großes literarisches Werk – das etwas ganz anderes ist als seine Aufzeichnungen? Was über unsere eigene Kultur, wäre da nicht die mittelalterliche Kunst? In diesem Sinn ist Kunst Kommunikation, wenngleich keine persönliche und auch keine, die darum besorgt ist, verstanden zu werden. Die Fragen, die von der Theorie des Kunstsymbols aufgeworfen werden und die in ihrem Lichte eine Lösung finden, scheinen unerschöpflich zu sein, doch Bücher müssen einmal an ein Ende kommen. So muss ich denn das Übrige der Zukunft überlassen,522 womöglich auch anderen Denkern. Die Theorie selbst, die ich hier ausgebreitet habe, ist nicht eigentlich das Werk einer einzigen Person. Sie ist ein Schritt – und ich denke ein wichtiger – in einer Kunstphilosophie, zu der viele Ästhetiker ihren Teil beigesteuert haben: die Theorie expressiver Formen. Trotz aller Schwächen, Irrwege oder Fehler, die sie in den Lehrsätzen der jeweils anderen sehen mögen, bin ich davon überzeugt, dass Bell, Fry, Bergson, Croce, Baensch, Collingwood, Cassirer und ich (nicht zu vergessen Literaturkritiker wie Barfield, Day Lewis und andere, die ich nicht genannt und vielleicht nicht einmal gelesen habe) an einem gemeinsamen philosophischen Projekt mitgewirkt haben und noch mitwirken. Obwohl er sich nie als Ästhetiker betrachtet hat, war es Cassirer, der in seiner großangelegten und unvoreingenommenen Untersuchung der symbolischen Formen den Schlussstein des Gebäudes vorbereitet hat. Mein Teil war es, diesen Stein an den richtigen Platz zu setzen, damit er das verbindet und zusammenhält, was wir bis jetzt errichtet haben.

  Das Wesen der künstlerischen Abstraktion, das hier nur kurz gestreift worden ist, und die Einheit aller Künste sind Fragen, die offensichtlich an die vorliegende Untersuchung anknüpfen, und ich hoffe, sie in einem anschließenden Buch behandeln zu können. 522

Anhang Eine Bemerkung zum Film Hier haben wir eine neue Kunst. Einige Jahrzehnte lang schien es, als sei der Film bloß ein neues technisches Mittel im Bereich des Dramas, eine neue Weise, Dramenaufführungen festzuhalten und zu verkaufen. Heute jedoch beweist seine Entwicklung, wie falsch diese Annahme war. Die Leinwand ist keine Bühne, und das, was mit der Konzeption und Realisierung eines Films geschaffen wird, ist kein Schauspiel. Noch ist es zu früh, um eine systematische Theorie dieser neuen Kunst vorzulegen, doch selbst ihr gegenwärtiges Anfangsstadium belegt – und zwar meines Erachtens ohne jeden Zweifel –, dass es sich dabei nicht nur um eine Technik handeln, sondern um einen neuen poetischen Modus. Ein Großteil des Materials, auf das sich die folgenden Über­ legungen beziehen, ist von vier meiner früheren Seminarstudenten am Columbia Teachers College zusammengetragen worden, und sie haben mir freundlicher Weise erlaubt, davon Gebrauch zu machen.523 Dank schulde ich zudem einem weiteren Teilnehmer jenes Seminars, nämlich Robert W. Sowers, aus dessen Beschäftigung mit der Fotografie zumindest ein wertvoller Gedanke hervorgegangen ist: Eine Fotografie muss, unabhängig davon, wie gestellt, geschnitten oder nachgebessert sie ist, faktisch oder, wie er es nennt, »authentisch« erscheinen. Auf diese These werde ich später noch zu sprechen kommen. Die für meine Zwecke entscheidenden Punkte, die von den vier Seminarteilnehmern aufgezeigt worden sind, lauten (1) dass der Auf bau eines Films nicht dem des Dramas folgt und dass   Joseph Pattison, Louis Forsdale, William Hoth und Virginia E. Allen. William Hoth lehrt heute Englisch am Cortland (New York) State Teachers College, die anderen drei sind Mitglieder des Lehrkörpers am Columbia Teachers College. 523

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er tatsächlich stärker mit der Erzählung als mit dem Drama verwandt ist, und (2) dass seine künstlerischen Möglichkeiten erst durch die Einführung der beweglichen Kamera sichtbar geworden sind. Die bewegliche Kamera hat die Scheidung zwischen Leinwand und Bühne vollzogen. Das direkte Ablichten des Bühnengeschehens, in dem früher die einzige künstlerische Möglichkeit des Films gesehen worden ist, erscheint seitdem als eine besondere Technik. Der Filmschauspieler muss sich weder nach der Bühne richten noch den Konventionen des Theaters folgen, er hat seinen eigenen Wirkungsbereich, seine eigenen Konventionen; unter Umständen gibt es überhaupt keinen »Schauspieler«. Der Dokumentarfilm ist eine bedeutsame Erfindung. Im Trickfilm kommen Personen, die sich bloß »verhalten«, überhaupt nicht mehr vor. Der Umstand, dass der Film sich in einem erheblichen Maße als eine Kunst entwickeln konnte, in der die Rede in kurzen, übersichtlichen Untertiteln konzentriert war, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass er nicht einfach eine Form des Dramas ist. Er bediente sich der Pantomime, und die ersten Filmästhetiker hielten die Pantomime für sein eigentliches Wesen. Der Film ist aber keine Pantomime; er hat sich diese alte Volkskunst ebenso einverleibt wie die Fotografie. Zu den bemerkenswertesten Eigenschaften dieser neuen Kunst gehört, dass sie alles Mögliche zu verdauen scheint, dass sie fähig ist, sich die unterschiedlichsten Materialien anzuverwandeln und sie zu ihren eigenen Elementen zu machen. Bei jeder neuen Erfindung – Montage, Tonspur, Technicolor – haben ihre Liebhaber einen Schreckensschrei ausgestoßen, nun sei es mit der »Kunst« des Films vorbei. Da jede derartige Neuheit natürlich umgehend ausgeschlachtet wird, mag sie technisch auch noch nicht ausgereift sein, und in der Flut bedeutungsloser Erzeugnisse, mit denen die Unterhaltungsindustrie uns unablässig versorgt, noch im Rohzustand als öffentliche Sensation zur Schau gestellt wird, wird jeder wichtige Fortschritt für



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gewöhnlich von einer Flutwelle besonders miserablen Schunds begleitet. Aber die Kunst geht weiter. Sie saugt alles in sich auf: Tanz, Eislauf, Drama, Panorama, Cartoons, Musik (ohne die kommt sie fast gar nicht aus). Dabei bleibt sie eine poetische Kunst. Doch sie ist keine der poetischen Künste, die wir bereits kennen; sie schafft ihre primäre Illusion – virtuelle Geschichte – in ihrem eigenen Modus. Dieser ist wesentlich der Traummodus. Ich meine damit nicht, dass sie den Traum imitiert oder uns in Tagträume versetzt. Das tut sie in keiner Weise, so wenig wie die Literatur die Erinnerung beschwört oder uns glauben macht, wir erinnerten uns. Ein Kunstmodus ist ein Modus der Erscheinung. Literatur ist in der Hinsicht »wie« die Erinnerung, dass sie durch ihre Projektion eine abgeschlossene Erlebnisform schafft, eine »Vergangenheit« – doch weder die des Lesers noch die des Schriftstellers, obwohl dieser sie für sich beanspruchen könnte (was, ebenso wie die Verwendung der tatsächlichen Erinnerung als Vorbild, ein literarischer Kunstgriff ist). Das Drama ist insofern »wie« Handlung, als es kausal ist, eine sich ankündigende Gesamterfahrung schafft, eine persönliche »Zukunft« oder ein Schicksal. »Wie« der Traum ist das Kino hinsichtlich seines Präsentationsmodus: Es erschafft eine virtuelle Gegenwart, eine Ordnung der unmittelbaren Erscheinung. Genauso ist der Modus des Traums beschaffen. Das beachtenswerteste formale Kennzeichen des Traums besteht darin, dass der Träumende immer in seinem Mittelpunkt steht. Orte wechseln, Personen handeln und sprechen, verändern sich oder verschwinden – Tatsachen tauchen auf, Situationen spitzen sich zu, Gegenstände von seltsamer Wichtigkeit geraten in den Blick, gewöhnliche Dinge von unermesslichem Wert oder Schrecken, und sie können von anderen abgelöst werden, die durch das Gefühl, nicht jedoch durch natürliche Verwandtschaft mit ihnen verbunden sind. Der Träumende ist jedoch immer »da«, er befindet sich sozusagen von allen Ereignissen gleich weit entfernt. Dinge mögen um ihn herum geschehen oder sich vor seinen Augen entrollen, er mag handeln

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oder zu handeln wünschen, leiden oder betrachten, in jedem Fall ist alles, was im Traum geschieht, für ihn von der gleichen Unmittelbarkeit. Diese ästhetische Besonderheit, diese Beziehung zu den wahrgenommenen Dingen ist für den Traummodus charakteristisch: Genau das übernimmt der Film und schafft dadurch eine virtuelle Gegenwart. In ihrer Beziehung zu den Bildern, den Handlungen, den Ereignissen, aus denen die Geschichte besteht, nimmt die Kamera den Platz des Träumers ein. Freilich ist die Kamera kein Träumer. In einem Traum sind wir in der Regel Handelnde. Die Kamera (und ihr Gegenstück: die Tonspur) ist nicht selbst im Bild. Sie ist das Auge des Geis­ tes und nichts weiter. Auch ist das Bild (sofern es Kunst ist) in seinem Auf bau wahrscheinlich nicht traumartig. Es ist eine poetische Komposition, kohärent, organisch, von einem klar erfassten Gefühl bestimmt und nicht von gegenwärtigen Gefühlszwängen diktiert. Die grundlegende Abstraktion, mit deren Hilfe die virtuelle Geschichte im Traummodus geschaffen wird, ist die Unmittelbarkeit des Erlebnisses, seine »Gegebenheit« oder, wie Sowers es nennt, seine »Authentizität«. Eben das abstrahiert die Kunst des Films von der Wirklichkeit, von unserem tatsächlichen Träumen. Der Zuschauer eines Films sieht mit der Kamera, sein Standort verändert sich mit ihr, sein Geist ist überall gegenwärtig. Die Kamera ist sein Auge (so wie das Mikrophon sein Ohr ist – und es gibt keinen Grund, warum Auge und Ohr des Geistes immer beieinander bleiben sollen). Der Zuschauer nimmt den Platz des Träumenden ein, dies aber in einem vollkommen objektivierten Traum – d. h. er befindet sich nicht selbst in der Geschichte. Das Werk erscheint wie ein Traum, wie eine vereinigte, kontinuierlich vorüberziehende, bedeutungsvolle Erscheinung (apparition). So gesehen ist ein guter Film nach allen Maßstäben, die auf die Kunst als solche anwendbar sind, ein Kunstwerk. Sergej Eisenstein spricht von guten und schlechten Filmen als »leben­



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dig« beziehungsweise »leblosen«, 524 betrachtet einzelne Filmeinstellungen als »Elemente«, 525 die sich zu »verallgemeinerten Bildern« verbinden und nicht »gegenständlich darstellbar« sind (ich würde sie poetische Eindrücke nennen), sondern größere, aus »Bildern« zusammengesetzte Elemente sind, ob durch Montage, symbolische Schauspielkunst oder andere Mittel. 526 Das Ganze wird von jenem »verallgemeinerten Bild, das dem Autor vorgeschwebt hat«, 527 bestimmt, von der Matrix, der Leitform, und es ist dies (wohlgemerkt nicht die Emotion des Künstlers), was im Kopf des Zuschauers hervorgerufen werden soll. Eisenstein glaubte jedoch, dass an die Einbildungskraft des Filmbetrachters eine besondere Forderung ergeht, damit er seine eigene Erfahrung der Geschichte hervorbringt.528 Meiner Ansicht nach ist dies ein Hinweis auf die mächtige Illusion, die der Film nicht in Bezug auf die Dinge, die sich ereignen, sondern hinsichtlich der Dimension, in der sie sich ereignen, erzeugt – eine virtuelle schöpferische Einbildungskraft. Die Illu­ sion scheint ja unsere eigene Schöpfung zu sein, ein unmittelbares Seherlebnis, eine »geträumte Wirklichkeit«. Wie die   Sergej Eisenstein, Montage 1938, in: ders., Gesammelte Aufsätze I, Zürich o. J., S. 229–280, hier 239. 525  Ebd., S. 230. 526  Ebd., S. 232. 527  Ebd., S. 250. 528  »Die Kraft dieser Methode beruht aber auch darauf, daß der Zuschauer in einen schöpferischen Akt einbezogen wird, in dem seine eigene Individualität von der Individualität des Autors nicht nur nicht unterdrückt wird, sondern sich völlig offenbart, indem sie mit der Absicht des Autors so verschmilzt, wie beispielsweise die Individualitäten eines großen Schauspielers und eines großen Dramatikers bei der Schaffung einer klassischen Bühnengestalt verschmelzen. Jeder Zuschauer prägt sich ja […] das verallgemeinerte Bild auf Grund der Abbilder, der Darstellungen, die ihm der Autor nach gewissenhafter Auswahl bietet und die ihn sicher und unablässig zum Verständnis und Erleben des Themas führen. Es ist das gleiche verallgemeinerte Bild, wie es der Autor beabsichtigt und gebildet hat, das vom Zuschauer gleichzeitig in einem selbständigen schöpferischen Akt geschaffen wird.« (Ebd., S. 252) 524

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meisten Künstler so betrachtet auch Eisenstein das virtuelle Erlebnis als höchst offensichtliche Tatsache.529 Der Umstand, dass der Film kein plastisches Werk ist, sondern eine poetische Darstellung, erklärt, warum er die unterschiedlichsten Materialien aufnehmen und in nicht-bildliche Elemente verwandeln kann. Wie der Traum verzaubert und vermischt der Film alle Sinne; seine grundlegende Abstraktion – die unmittelbare Erscheinung – kommt nicht allein durch visuelle Mittel zustande, wenngleich diese vorrangig sind, sondern auch durch Worte, die das Gesehene unterstreichen, und durch Musik, die die Einheit seiner sich wandelnden »Welt« gewährleistet. Der Film bedarf vieler, oft konvergierender Mittel, um die Kontinuität des Gefühls zu erschaffen, die das Ganze zusammenhält, während seine Traumbilder durch Raum und Zeit streifen. Dass Eisenstein das Material für seine Erörterung eher aus der epischen als der dramatischen Dichtung, eher von Puschkin als von Tschechow, eher von Milton als von Shakespeare bezieht, ist ein bemerkenswerter Umstand. Er führt uns zu der Erkenntnis zurück, die meine Seminarstudenten festgehalten haben, dass Romane sich sehr viel besser für die Leinwand eignen als Dramen. Ich denke, es ist so, dass eine erzählte Geschichte nicht so viel Bearbeitung braucht, um zu einer Leinwanderscheinung zu werden, da sie anders als das Bühnenstück nicht von einem vorgegebenen Raum gerahmt ist. Und zu den ästhetischen Besonderheiten des Traums, die vom Film übernommen werden, gehört das Wesen seines Raums. Traumereignisse sind räumlicher Art und setzen sich oft intensiv mit dem Raum auseinander – mit Zwischenräumen, endlosen Straßen, bodenlosen Schluchten, mit Dingen, die zu hoch, zu nah, zu weit entfernt sind –, aber sie sind nicht in einem geschlossenen Raum angeordnet. Dasselbe trifft auf den Film zu, und das unterscheidet   Vergleiche dazu Ernest Lindgrens Äußerung über die bewegliche Kamera: »Es ist der Geist des Zuschauers selbst, der sich bewegt.« (The Art of the Film, London 1948, S. 92) 529



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ihn trotz seines visuellen Charakters von der bildenden Kunst: Sein Raum kommt und geht. Er ist stets eine sekundäre Illusion. Auf die Tatsache, dass der Film in einer Verbindung zum Traum steht und tatsächlich in einem ähnlichen Modus verfasst ist, ist verschiedentlich hingewiesen worden, manchmal aus künstlerischen, manchmal aus nicht-künstlerischen Erwägungen. R. E. Jones bemerkt, dass der Film nicht nur keinen räumlichen Einschränkungen unterliegt, sondern auch keinen zeitlichen. Er schreibt: »Filme sind sichtbar und hörbar gemachte Gedanken. Sie ziehen genauso wie unsere Gedanken in einer schnellen Abfolge von Bildern an uns vorbei, und ihr Tempo mit seinen Rückblicken – ähnlich dem plötzlichen Auftauchen von Erinnerungen – und seinen abrupten Übergängen von einem Gegenstand zu einem anderen kommt dem Tempo unseres Denkens sehr nahe. Sie haben den Rhythmus des Gedankenstroms und die gleiche unheimliche Fähigkeit, sich im Raum oder in der Zeit vorwärts und rückwärts zu bewegen. […] Sie entwerfen reines Denken, reinen Traum, reines Innenleben.« 530 Die »geträumte Realität« auf der Leinwand kann sich vorwärts und rückwärts bewegen, weil sie in Wahrheit eine ewige, allgegenwärtige virtuelle Gegenwart ist. Die Dramenhandlung schreitet unauf haltsam vorwärts, weil sie eine Zukunft, ein Schicksal erschafft; der Traummodus hingegen ist ein end­loses Jetzt.

530

 Jones, The Dramatic Imagination, a. a. O., S. 17 f.

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PERSONENREGISTER

Adams, Maude 519 Adorno, Theodor W. 522 Adriani, Bruno 192 ff. Aischylos 579, 584 Alexander, Samuel 94, 158, 492, 533 Allen, Virginiia 651 Ames, Van Meter 486 Anders, Günther s. Günther Stern Apollinaire, Guillaume 635 f. Appelbaum, Kurt 65, 258 Aristophanes 558 Aristoteles 84, 510, 517, 568, 576, 580, 582 Armitage, Merle 313, 315, 324, 343 Austen, Jane 618 Bach, J. S. 275, 295 f., 298 Bacon, Francis 399 Baensch, Otto 90–95, 138, 144, 322, 606, 650 Balzac, Honoré de 636 Barfield, Owen 401–404, 406, 650 Barnes, Albert 149, 150 Barrie, J. M. 583 Barthel, Manfred 648 Bateson, F. W. 372, 438 f., 492 Beaumont, Cyril W. 466

Beda Venerabilis 204 Beethoven, Ludwig van 250 f., 272, 279, 284, 289 f., 648 Beiswanger, George 526 Bell, Clive 86, 98, 109 ff., 132, 367, 493 f., 496, 592, 650 Bennett, Arnold 493 Bentley, E. R. 530 Bergson, Henri 171, 225–231, 247, 323, 549 f., 599, 650 Bertrand, Paul 75, 285, 286 Besant, Sir Walter 482 Best-Maugard, Adolfo 152 Birkhoff, G. D. 150, 214 Black, Max 614 Blair, Hugh 402 Blake, William 366, 382, 384– 387, 391, 428, 434 Böcklin, Arnold 643 Borodin, George 303, 307, 315 Bosanquet, Bernard 135, 600 Bourguès, Lucien 217, 303 Bouwsma, Oets K. 614 Boynton, H. W. 462 Bradley, A. C. 578 Brahms, Johannes 249 Bremond, Henri 414 f., 417 Brentano, Bettina 279 Brinton, D. G. 447 Brown, Calvin S. 254, 461 Brown, Carlton 483

674 Personenregister

Browning, Elizabeth Barrett 462 Browning, Robert 463 Brynner, Witter 368 Buck, Percy C. 638 Büchner, Ludwig 60 Buermeyer, Laurence 113 f. Buffalo Bill 618 Bullough, Edward 520 Burns, Robert 281, 376 Buxtehude, Dietrich 298 Calder, Alexander 306 Calvocoressi, M. D. 647 Calzabigi, Raniero 274 Caravaggio, Michelangelo da 647 Carnap, Rudolf 607 Carroll, Lewis 410 Cassirer, Ernst 178, 326, 330 f., 399–404, 406, 603 f., 627, 650 Castelnuovo-Tedesco, Mario 284, 285 Castelvetro, Lodovico 517 Centeno, Augusto 157, 482 f., 504 Cézanne, Paul 109, 173 f., 179, 495, 648 Chagall, Marc 179 Chen, Jack 527, 547 Chopin, Frédéric 249, 262, 304 Cocteau, Jean 525 Coleridge, Samuel T. 137, 415, 425, 430, 436, 449, 452, 598, 628

Collingwood, R. G. 61 f., 607– 610, 613 f., 616–619, 621, 625 f., 650 Collins, William 438 Comte, Auguste 60 Conrad, Joseph 486 f. Corneille, Pierre 517, 545 ff. Cook, Albert 62 Courbet, Gustave 180, 493 Cozanet, Albert 303 Craig, Gordon 523 Croce, Benedetto 81, 171, 226, 228, 235, 323, 576, 599–603, 610, 614, 619 f., 626, 630, 650 Cummings, E. E. 461 Cushing, F. H. 556 Daiches, David 62, 474, 476, 487, 489 Dalcroze, Jacques 303 Danckert, Werner 232 Dante 543 Day Lewis, Cecil 61 ff., 428, 474, 650 Deane, C. V. 546, 560 Debussy, Achille Claude 283 Defoe, Daniel 482 Delacroix, F. V. E. 179 De la Mare, Walter 377, 427, 428 Denéréaz, Alexandre 217, 303 Denis, Maurice 180 De Quincey, Thomas 479 Dewey, John 113 ff., 316, 631 Donne, John 466



Personenregister

Ducasse, Curt 86 Dunbar, Alice 65 Dunbar, Ilse 65 Duncan, Isadora 304, 308 f., 313, 338 Dürer, Albrecht 90, 499 Durkheim, Émile 406 Edman, Irwin 637 Edward, Thorne N. 131 Eisenstein, Sergei 63, 530, 654 ff. Eliot, T. S. 370, 407, 416 f., 463, 521 f., 543 Fabre, Lucien 549, 550 Fauré-Fremiet, Philippe 269 Fergusson, Francis 511, 521 f., 542 f., 547 f., 563, 571, 573 f., 596, 642 Fischer, Katrina 65 Flaccus, L. W. 216 Flaubert, Gustave 98 f., 238, 479 Fletcher, John 466 Fokine, Michel 303 Forsdale, Louis 651 France, Anatole 402 Francesca, Piero della 109 Freeman, John 428 Freud, Sigmund 404–410, 412 Fry, Roger 98, 117, 136, 158, 421, 650 Gadol, Eugene T. 64 Gatti, Guido M. 267

675

Gehring, Jakob 232 Geißler, Ewald 508, 516, 522 Ghyka, Matila C. 215 Gibbon, Edward 481 Gilder, Rosamond 519 Giotto di Bondone 109, 180 f. Gluck, Christoph Willibald 274 f., 291–294 Goddard, Joseph 218, 249, 263 f., 267 Goethe, Johann Wolfgang von 250, 279, 281 f., 287, 429, 451, 454 f., 477, 628, 467 f. Gogh, Vincent van 177, 648 Goldsmith, Oliver 380, 382 f., 387, 391, 393 f. 396 Goldwater, Robert 175, 238 Gourmont, Rémy de 129 Granville-Barker, Harley 515 Gray, Thomas 438 Greco, El 644 Green, Paul 519 Gregori, Ferdinand 516 Günther, Albrecht Erich 522 Haeckel, Ernst 60 Haggard, Stephen 532 Hamilton, Clayton 515 Hanslick, Eduard 218 Hartley, Marsden 179 Hastings, Hanns 343 Haviland, Paul B. 616 Haydn, Joseph 272, 296, 351 H’Doubler, Margaret 113, 312 Hebbel, Friedrich 571 f. Heine, Heinrich 280 f.

676 Personenregister

Henderson, W. J. 285, 288 Herder, Johann Gottfried 443 Herrick, Robert 371 f., 466 f. Hildebrand, Adolf 166–170, 172, 174, 186 ff., 597 Hiller, Ferdinand 250 Hobbes, Thomas 399 Hölderlin, Friedrich 293 Holmes, Oliver Wendell 641 Homer 290 Hook, Sidney 113 Hoth, William 651 Howard, Francis E. 217 Howard, J. T. 647 Hume, David 399 Ibsen, Henrik 515, 530, 642 Iffland, August Wilhelm 647 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 175 James, D. G. 354 James, Henry 479 ff., 488, 511, 540 James, William 59, 400 Jaques-Dalcroze, Émile 303 Jeannert-Gris, C. E. siehe Le Corbusier Jones, Robert Edmond 504, 518, 525, 529, 574 f., 657 Joyce, James, 410, 430, 477, 489, 628 Jung, Carl Gustav 129, 405 Kaf ka, Franz 477, 496 Kandinsky, Wassily 176

Kant, Immanuel 634, 648 Keats, John 628 Keith, A. Barriedale 524 Kipling, Rudyard 57, 491 Klein, Joseph 281 Klopstock, Friedrich Gottlieb 290 Koechlin, Charles 224, 229 f. Koestler, Arthur 477 Köhler, Wolfgang 150, 316, 333 Konvitz, Milton R. 113 Kreisler, Fritz 262 Krummreich, Paul 216 Kschessinskaja, Mathilda-Marie Feliksovna 339 Kurth, Ernst 232 Laban, Rudolf von 309, 313 f., 322, 326 f. Lange, Konrad 264, 320, 322 Langfeld, Herbert S. 116 Lawrence, D. H. 635 f. Leavis, F. R. 241 Le Corbusier 197, 200 f., 205 Lee, Vernon (Violet Paget) 153 Léger, Fernand 176 Leibniz, Gottfried Wilhelm 238 Leitzmann, Albert 289 Lenzen 74 Leonardo da Vinci 163, 173 f., 181, 208, 617 Lévi, Sylvain 523, 527, 544, 547 Lewis, Clarence Irving 446 Li Ts’ao 367 ff. Liebermann, Max 175 Lindgren, Ernest 656



Personenregister

Linné, Carl von 74 Lipps, Theodor 153 Locke, John 399, 402 Longfellow, H. W. 427 Lussy, Mathis 249 Macan, Reginal Walter 506 Macaulay, Thomas Babington 481 Mahler, Elsa 459 Malraux, André 149, 185, 637, 640, 644, 647 Mann, Thomas 147, 397 Marcel, Gabriel 229, 231 Marpurg, Friedrich Wilhelm 249 Martinovitch, Nicholas N. 554, 570 Massine, Léonide 303 Matthews, Brander 522, 545, 584, 618, 625 Matisse, Henry 177, 179 f., 182 Medtner, Nikolai 283 Mehlis, Georg 439, 504 Mélinand, Camille 549 f. Menander 558 Mendelssohn- Bartholdy, Felix 249 f., 259, 287 ff., 304 Meredith, George 558, 641 Merlan, Philip 226 Michel, Arthur 324 Mill, John Stuart 559 Milton, John 656 Mohammed 641 Moholy-Nagy, László 196 f., 206

677

Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 430, 558 Mondrian, Piet 179 Monet, Claude 636 Montague, Charles Edwin 484, 633 Moore, George 420, 426 ff. Moore, Henry 191 Moore, John B. 582 Moore, Thomas 282 Morgan, Charles 506, 509, 632 ff. Mörike, Eduard 496 Morris, Charles W. 100 Mozart, Wolfgang Amadeus 249, 275, 289 f., 296 f., 313, 469, 496, 618, 646, 648 Müller, Max 401 f. Müller, Wilhelm 280 Münz, Bernhard 572 Mussorgsky, Modest 647 Nevin, Ethelbert 304 Newton, Isaak 76 f, 230 Nietzsche, Friedrich 87, 523 Nijinska, Bronislava 311 Noverre, Jean-Georges 306 f., 309, 587 O’Neill, Eugene 579 Orff, Carl 279 Ortega y Gasset, José 137 f. Ossian 482 Otway, Thomas 546 Paget, Violet s. Lee, Vernon

678 Personenregister

Pagnol, Marcel 549 f., 552 Parker, DeWitt 172, 380, 405, 484 Parks, E. W. 517 Pattison, Joseph 651 Pawlowa, Anna, 314, 339 Pearson, Ralph M. 113 Peirce, Charles 76 Pepper, Stephen 468 Peri, Noël 527 Picasso, Pablo 238 Platon 73, 84, 171, 374, 397, 448, 500, 588 Poe, Edgar Allen 415, 418, 420, 430 Poincaré, Henry 74, 193, 329 Poor, Henry Varnum 146 Pope, Alexander 387, 479 Porter, Evelyn 350 Pottle, Frederick Albert 414, 420 f., 430 Pound, Ezra 629 Poussin, Nicolas 109 Prall, David 116, 138–145, 158, 275 f., 360, 645 Prescott, Frederick Clarke 129, 405, 417 ff. Primus, Pearl 334, 340 Prokofjew, Sergej 275 Proust, Marcel 432, 444, 477, 493–496 Pruette, Lorine 483 Puschkin, Alexander 656 Pythagoras 213 Racine, Jean 545, 547

Rader, Melvin 82 Raffael da Urbino 181, 648 Read, Herbert 628 Redon, Odilon 177, 183 Reid, Louis Arnaud 600 Rembrandt van Rijn 176 Renoir, Pierre 635 f. Richards, Ivor A. 114, 118, 133, 358 f., 361, 411, 613 Riemann, Hugo 313 Riezler, Walter 240 f. Rilke, Rainer Maria 376 Rodin, Auguste 191 Rogers, Winfried 478 Rohden, Peter Richard 508 Rothwell, Fred 286 Rubens, Peter Paul 181 Russell, Bertrand 74 f. Sacharoff, Alexander 303 ff. Sacharoff, Chlotilde 303 Sachs, Curt 88, 242, 308, 313, 315 f., 332–337, 342, 345 f. Sachs, Hans 558 Santayana, George 90, 227 f., 615, 628 Sartre, Jean-Paul 476 f. Schenker, Heinrich 214 f., 240 ff., 248 f., 511 Schiller, Friedrich 130, 132, 235, 290, 526, 548, 647 Schilling, Rolf 409 Schillinger, Joseph 214 Schröder, Friedrich Ludwig 647 Schumann, Robert 259, 267, 280



Personenregister

Schweitzer, Albert 249, 296 Scott, Geoffrey 438 Selincourt, Basil de 221 f., 248 Sessions, Roger 157, 222, 239, 248 Sewell, Helen 456 Seyler, Athene 532 Shakespeare, William 280 f., 354, 396, 410 f., 422 f., 434 f., 502, 508, 512, 530, 543, 578, 582, 584, 588, 610, 618, 637, 642, 648, 656 Shelley, Percy Bysshe 395, 415, 420 Sickert, Walter 175 f. Sidgwick, Frank 457 f., 460 f. Sidney, Philip 396 Sisley, Alfred 176, 178 Smith, J. H. 517 Sollas, William J. 149 Sonner, Rudolf 303, 343 f. Sophokles 543, 548, 569, 584, 618 Sothern, Edward 518 Sowers, Robert W. 651, 654 Spencer, Herbert 60 Spens, Patrick 442, 451, 471 f. Staiger, Emil 291–294 Stephanie, Johann Gottlieb 289 Stern, Günther 267 Stewart, Virginia 304, 315, 324, 343 Stoll, Edgar 578 Strindberg, August 513, 515, 517 f., 615

679

Stumpf, Carl 216 Sullivan, Louis H. 195, 197, 199, 205, 354 Swinburne, Algernon Charles 408 f., 414 f. Tennyson, Alfred 453 Thackeray, William Makepeace 477 Thiess, Frank 305, 308 f., 337 Thomson, James 438 Thorburn, John M. 405 Thorndike, Ashley 577, 580, 582, 584 Tillyard, E.M.W. 136, 379, 380, 382–389, 391 f., 394, 408, 429, 645 Tolstoi, Leo N. 438, 477, 490 Tovey, Donald Francis 231, 249, 267, 277, 283, 296 Treves, Marco 175 Trollope, Anthony 480 f., 488 Tschechow, Anton Pawlowitsch 656 Turgenjew, Iwan 477 Tylor, Edward 345 Udine, Jean d’ (Albert Cozanet) 303 Unamuno y Yugo, Miguel de 566 f. Valentiner, Wilhelm R. 483 Valéry, Paul 420 Vega, Lope de 545 Verlaine, Paul 281

680 Personenregister

Véron, Eugène 146, 615 Vivas, Elisco 606 Wadsworth, Edward 176 Wagner, Richard 147, 280, 290 ff., 294, 513, 530, 545, 596 Ward, Alfred Charles 478, 492 Wei Ying-Wu 367 Weitz, Morris 134, 463 Welles, Orson 519 Weyl, Hermann 74 Wharton, Edith 478, 485 f., 489 f., 493, 514 Wheeler, R. Mortimer 555 Whistler, James McNeill 128 Whitehead, Alfred North 59, 74 f., 439 f., 503, 632, 641 Whitman, Walt 171

Wigman, Mary 309, 314, 324 f., 354 f. Wilde, Oscar 637 Wilder, Thornton 504, 524 Winckelmann, Johann Joachim 81 Wolfe, Thomas 425 Wolff, Ernst 250 Wordsworth, William 312, 373 ff., 387, 396, 425, 427, 436, 633, 636 Wright, Frank Lloyd 196, 205, 207 Wright, Richard 519 Zayas, Marius de 616 Zola, Émile 493 Zucker, Adolf Eduard 527, 545, 547

SACHREGISTER

Abstraktion, abstrakt 62, 72, 74 f., 78, 84, 92, 127 f., 133 f., 146, 158, 163 f., 192 ff., 198, 223, 226, 230, 265, 268, 302, 310, 322, 327, 336, 340, 343, 352 f., 370, 385, 399, 400, 500, 502 f., 510, 513 f., 526, 568, 595, 601, 604, 606, 650, 654, 656 Ambivalenz 386 Amüsement 323, 439, 522, 618, 641, 643 Andersheit 125, 126, 132, 135, 145 Anzeichen 69, 100, 101, 168, 172, 174, 463, 601 Architektur 63, 76, 120, 179, 187 f., 195 ff., 233, 344, 354, 438, 499 f., 520, 525, 586, 595, 609, 640 – Raum in der A. 195-212 Artikulation, artikulieren, artikuliert 102, 106 f., 119, 135, 139, 155, 158, 164 ff., 174 f., 205, 209, 238, 247, 264, 270, 276, 283, 287, 318, 320, 331, 337, 386, 405, 413, 424, 444, 462, 532, 583, 588, 591, 619, 624, 636, 650 Assimilation 158, 274-301 Ästhetik 81 f., 83, 85, 88, 95,

98, 110 f., 113, 118, 142, 153, 165, 167, 170, 218, 227, 320 f., 404, 486, 600, 614, 645, 664, 666, 669 Ästhetische Einstellung 116, 125, 184, 276, 521 Ästhetische Erfahrung 113, 115, 351, 634 Ästhetisches Gefühl 109 f. Ausdruck 59, 72, 78, 83, 89, 95, 98 ff., 102, 107, 120, 127, 144, 158, 179 f., 197, 200, 204 f., 212, 227, 248, 259, 262, 269, 271, 278, 309, 312, 317, 361, 369, 405, 408, 411 f., 421, 494, 552, 588, 600–623 – logischer A. 133, 179, 317 – im Tanz 79, 302, 306-328 – in der Musik 81, 98, 103, 107 f., 222, 234-250, 258, 264, 269 ff., 278, 284-318 – in der Malerei 179, 185, 188 Ausdrucksakt 614 Äußerung 89, 100, 261, 263– 269, 274, 278, 283, 285, 412, 429, 445, 446, 514 ff., 529, 553 Ballade 282, 442, 451, 453 f., 457–460, 468, 471, 500 f. Ballett 206, 211, 304–307, 311, 315, 328, 338 f., 347

682 Sachregister

Bedeutsamkeit 59, 97, 108 f., 135 f., 145, 150, 154, 171, 175, 179, 247, 263, 271, 320, 326, 336, 353, 364, 379, 383, 393, 407 f., 528, 572, 592, 598, 604 f., 621–626, 631, 644 – vitale 108, 135, 145, 185, 272, 278, 298, 300, 320, 387, 617, 620 f., 631 f. Bedeutung 74, 101 f., 104, 106 ff., 130–138, 145, 154, 176, 179 f., 183, 252, 261, 275, 310, 320, 322, 326, 330, 341, 358, 361, 365, 385, 402, 403 f., 406 f., 415, 605 f., 611, 623, 635, 637 Behaviorismus 112 Belletristik 70, 474 f., 478, 489 f., 492, 494, 496, 514, 531, 635 Bewusstsein 116, 120, 125, 185, 213, 222, 224, 226, 228, 240, 245, 255, 312, 324, 326, 349, 375, 402, 421, 473, 505, 510, 514, 542, 557, 586, 612 f. 639 – mythisches 326, 331 f., 348, 406, 639 – wissenschaftliches 331 Bild 63, 90, 117, 126–130, 145, 165 f., 173, 175 f., 183–186, 194 f., 200, 202 ff., 207, 210, 220 ff., 226, 228, 230, 233, 235, 306, 313, 321, 323, 336, 348, 356, 387, 410, 413, 425, 436 f., 444, 480, 592, 599, 601, 610, 616 f., 649, 654 f.

– poetisches 63, 129, 369 Choral 277, 305 Clown 553, 554, 556 Darstellung 58, 82 ff., 137, 158, 166, 168 ff., 173, 179, 183, 236, 243, 263, 295 f., 299, 328, 332, 337, 352, 367, 407, 411, 428, 437, 475, 502, 516 f., 523, 530 ff., 557, 573, 577, 579, 609, 624, 638, 656 Darstellbarkeit 406 Dauer in der Musik 218–231, 255 f., 258, 271 Dauerhaftigkeit, dauerhaft 70, 155 ff., 235, 245, 342, 564, 618 Dekoration 146–151, 163, 206 Design 147, 499 Dichtung – Beschreibung in der D. 369, 378, 414, 471 – Dialekt in der D. 362, 376, 378 – epische D. 523, 525, 575, 656 – lyrische D. 433 ff., 445 ff., 490, 500 – Musik und D. 142, 274, 279 f., 285–294, 301, 461 – narrative D. 436, 470 – reine D. 414–416, 420, 423, 426 ff. Diskurs, diskursiv 57, 63, 69, 78, 104 f., 108, 113, 132, 135, 155, 179 f., 212, 223, 225,



Sachregister

228, 233, 240, 270, 298, 310, 312, 326, 313, 357, 361, 373, 375, 383, 386 ff., 397, 399 ff., 405–411, 415, 417, 421 ff., 426, 430, 435, 448, 458, 476 ff., 490 ff., 497–500, 533, 569, 575 f., 591, 597 f., 601, 603 ff., 608, 615, 624, 626, 630 f., 644 Drama 59, 63, 287–294, 300 f., 405, 502–588, 615, 632–635, 641 f., 651–654 – Komödie 62, 294, 308, 323, 531–567, 571, 582 f., 587, 610, 619, 641, 643 – Tanz und D. 307 f., 335, 345 – Täuschung im D. 503, 518, 521, 526, 528 – Schicksal im D. 507, 509– 511, 529 f. – D. als Unterhaltung 522, 553 f., 618 f., 641 ff. – Film und D. 651–657 – Zukunft im D. 503 ff., 507, 509 ff., 515, 528 – orientalisches D. 560 – Pantomime und D. 335, 444, 523 – „psychische Distanz“ im D. 520, 528, 553 – Situation im D. 503–505, 507–509, 511 f., 532, 547, 550 f. 552 ff., 565, 572, 574 f. – Sprache im D. 502 – Tragödie 291, 293 f., 457, 531f., 539, 542, 544–547, 560,

683

564, 566–588, 610, 619 f., 633 f., 642 f. Dramatische Übertreibung 575 Durchsichtigkeit 135, 136, 138, 143 Einbildungskraft 72, 121, 137, 158, 235, 249, 258 f., 331, 374, 399, 401, 403, 405 f., 419, 424, 426, 428, 432, 438, 444, 468, 471, 476, 489 f., 495, 498, 504, 513, 527ff., 537, 540, 573, 595, 608, 610, 613, 616 ff., 623, 625 f., 635 ff., 639, 641, 648, 655 Eindruck 63, 83, 89, 95, 127, 176, 256, 482, 485, 487 f., 601, 643 Einheit (in) der Kunst 60, 64, 70 f., 78, 88, 97, 149, 208, 211 f., 215, 509, 596 f., 650 Einzigartigkeit 83, 541 Empfinden 183, 305, 327, 339, 533, 632, 634 Empfindung 95, 153 f., 157, 169, 181, 192, 216, 229, 264, 277, 544, 565, 588, 594, 597, 648 Empirismus 113 Enthüllung 88, 230, 405 Epos 500 f. Erfahrung 75, 87, 96, 103 ff., 105, 108, 111–119, 125, 130, 134, 136 f., 143, 145 f., 149, 164–168, 172, 184, 188, 216, 220, 226, 228, 232, 236, 239, 244–247, 254, 254–258, 270,

684 Sachregister

273, 278, 287, 310, 315, 329, 332, 351 ff., 358, 360–370, 375 f., 384, 388, 396 f., 399 f., 405–412, 417 f., 420–429, 435, 438–444, 448, 461, 473, 476 ff., 481, 483, 485, 502, 504, 510, 537, 588, 592–607, 615 f., 621 f., 630–642, 653, 655 Erinnerung 85, 94, 166, 180, 255, 258, 393, 400, 432, 433, 435, 437, 439, 440, 441, 442, 443, 444, 445, 447, 448, 449, 451, 453, 455, 456, 457, 459, 460, 461, 463, 464, 480, 481, 485, 487, 490, 502, 504, 505, 637, 653 Erkenntnistheorie, erkenntnistheoretisch 60, 75, 95, 233, 321, 401, 404, 406, 446, 592, 598, 606 f., 611 Erschaffen 120, 132, 146, 158, 207, 367, 423, 436, 493, 496, 568, 617 Erwartung 104, 220, 247, 257, 283, 310, 440, 442, 504, 551, 554, 633 Erzählung 126, 288, 365, 426, 436 ff., 442 f., 445, 451–459, 470, 476, 480, 487, 490 f., 493, 503, 514, 524, 543, 636, 652 Essenz 111, 132, 173, 196, 218, 302, 323, 342, 473, 531 f., 560 Ethos 88

Farbe 84 f., 90, 107, 109, 121, 126, 128, 131, 139 ff., 151 f., 156, 158, 162–167, 174 ff., 180, 181, 184 f., 210, 309, 351, 495, 523, 526, 586 f., 593, 603, 617 Film 441, 456, 530, 554, 651–657 – und Tanz 306 ff. Form – Kunstf. 162, 185, 208, 307 f., 315 f., 322, 332, 430, 479, 518, 538 f., 542, 571, 575, 577, 579 f., – und Inhalt 71, 93, 127, 133 ff. – logische F. 101, 104 f., 133, 135, 164, 178, 592 – diskursive F. 331, 411 – expressive F. 118, 120 f., 136, 138, 163, 171, 247, 269, 282, 295, 300, 314, 337, 425, 474, 606, 614, 617, 621, 630, 650 – der Wahrnehmung 138 f., 169 – signifikante F. 85, 96 f., 98, 107–110, 119, 132, 135, 175, 183, 614 Fremdheit 126, 135, 491 Fruchtbarkeit, Prinzip der 76 f., 239 Fühlen (siehe auch Emotion, Ausdruck) 103, 108, 120, 134 f., 138, 142, 144, 146, 151, 154, 156 ff., 164, 174, 179 f., 183, 191, 247, 298 f., 433, 597, 613, 631 f., 637 f., 640, 643, 648



Sachregister

– des Künstlers 270, 616 f., 619, 622, 624, 627, 629 – im Tanz 311, 335, 339, 345 – im Drama 514, 516, 537, 561, 564, 587 f. – in der Musik 243, 272, 345 – in der Malerei 402, 406, 423 f., 426 – in der Dichtung 386, 391, 478, 484 Funktion 82, 84, 95, 98, 103, 107 ff., 115, 127, 130, 132 f., 135 f., 145, 147, 151, 155, 159, 162, 183, 185, 189 ff., 195 f., 198, 204, 205, 207, 212, 247 f., 264 f., 267, 271, 283 f., 299, 305, 348, 365, 367, 386, 404 f., 409, 422, 424, 442 f., 445, 448, 456, 459, 465, 474, 498, 510, 521, 534, 579, 581, 585 f., 606, 611, 613, 625 f., 632 Funktionalismus 204, 499 Gefühlstheorie 82 f. Gegenstand 57 f., 60, 73, 75, 78 f., 81, 110, 116, 125–128, 130 f., 171, 180, 190, 215, 243, 333, 357 f., 393, 436, 490, 495 ff., 499, 503, 521, 580, 594, 611, 627 ff., 657 Genie 469, 575, 646–649 Genuss 65, 90, 94, 103, 115, 146 f., 300, 302, 533 Geschmack 58, 81–84, 103, 138, 171, 285, 304, 585, 592

685

Gestalt 79, 91, 94, 127, 142, 145 f., 150, 164 f., 167, 189 f., 192, 206, 218, 230, 237, 239, 244, 246, 325, 339, 356, 400, 403, 409, 424, 455, 457, 463, 494 f., 515, 538, 557, 562, 571, 603, 607, 624, 665 Geste 99, 144, 158, 180, 244, 472, 505, 513, 523, 527, 627 – im Tanz 309–319, 322. 324, 327, 335 ff., 339 ff, 343 f., 350, 352f., 362 – als symbolische Form 309– 311 Glück, in der Komödie 538 f., 542 f., 548, 557, 567 f., 570 Gregorianischer Choral 277, 305 Handwerk 60, 389, 457, 609, 611 f., 616 f., 619, 625, 646 Heiterkeit 557, 562, 582 Held 292, 361, 472, 488, 515, 569, 573, 575 f., 580, 642 – tragischer 531, 568, 574 – komischer 544–548, 559 f. Höfische Dichtung 435, 468, 472, 475 Humor 549, 552 f., 558, 560– 563, 583, 641 Hypnotische Kraft 474 Idee 63, 76, 78, 83, 87, 95, 98– 100, 107, 119, 127, 135, 144, 154 f., 158, 169, 175 f., 178 f., 186, 197, 200, 209, 235, 238,

686 Sachregister

240, 248, 250, 260, 263, 270, 273, 279, 299, 318, 326 f., 356, 374, 382 f., 395, 426, 447, 458, 468, 507, 513, 521, 543, 563, 573, 585, 596, 614, 618, 620, 623 f., 643, 645 Illusion 63, 82 f., 85, 125–132, 145, 152–159, 229, 320 f., 323 f., 424, 497, 532, 587 f., 591, 596, 635, 644 – in der Architektur 186, 188, 195, 197 ff., 202, 205 f., 208, 211 – im Tanz 302, 309 ff., 315, 327 f., 337, 340, 342 f. 345, 348, 352–355 – im Design 125, 128 – im Drama 502–529, 538, 561 f., 632 f. – im Film 653, 655, 657 – in der Musik 217, 219 f., 226, 231 ff., 241, 243, 254 f., 272 f., 275–278, 294, 298, 301, 595 – in der Malerei 164 f., 167 f., 174, 177, 180, 183–186, 419, 617, 629 – in der Dichtung 357, 361 f., 364 f., 369f., 376, 386 f., 396, 412 f., 419, 424, 426, 436, 441 f., 444 f., 448, 457 f., 463 f., 469, 471, 474, 476, 481 ff., 486 f., 490, 493, 495, 497 – in der Skulptur 169, 186, 188 f., 194, 208 Inhalt 71, 93, 127, 133 ff., 139, 144 f., 180, 243, 265, 269,

279, 309, 321, 362, 388, 393, 396, 408, 413, 433, 492, 531 f., 600, 611 Interesse 63, 65, 71, 81, 102 f., 112, 119, 132, 135, 163, 265, 276, 292, 294, 352, 357, 364, 369, 399, 401, 405 f., 426 f., 436, 468, 475, 482, 497, 544, 546, 564, 582, 618, 627, 641 Intuition 59, 156, 599, 601, 605, 619, 637 Klang 101, 103, 183, 207, 216, 218 f., 221, 242 f., 248, 263 ff., 267, 275, 362, 381, 390 f., 415, 420, 432 f., 461 f., 502 Komödie 62, 294, 308, 323, 531–549, 552–565, 567, 570, 582 f., 587, 610, 619, 641, 643 Komposition 89, 102, 107, 146, 159, 174 ff., 181, 214, 222, 234 f., 237, 240, 243, 248 f., 252, 257, 259 f., 262, 270, 272, 281, 287, 294, 296, 354, 375, 412, 433 f., 436, 455, 457, 463, 504, 562, 621, 654 Konzeption 58, 74, 78, 132, 134, 198, 206, 227 ff., 235 ff., 239, 262 f., 265, 269, 289, 291, 425, 443 f., 458, 469, 542, 577, 582, 601, 620, 623, 639, 651 Kunst – Kunstkritik 69, 77 f., 405, 627



Sachregister

– Definition der K. 120 f. – Funktion der K. 60 Kunstlied 283, 460 Lachen 269, 531, 549, 550–553, 557 f., 560 ff., 582 Leben – tatsächliches und virtuelles L. 175 f., 365, 370, 387, 412 f., 442 ff. – biologisches L. und L. in der Erfahrung 365 Legende 416, 454, 456, 474 Leitform 237 ff., 243, 247 ff., 251, 259 ff., 271 f., 288 f., 293, 513, 525, 529, 573, 587, 620, 645, 655 Licht 78, 91, 154, 158, 170, 174, 200, 218, 252, 254, 294, 326 f., 336, 344, 360 f., 403, 409, 421, 445, 494, 503, 526, 534, 560, 562, 586 Lied 275, 279, 281 ff., 288, 300, 376, 458, 459, 501, 619, 668 Logik 61, 70, 150, 214, 238, 243, 386, 399, 400f., 404, 406, 602604, 613, 615 – diskursive 105, 397, 410 – nichtdiskursive 212, 410 Lust 84, 86, 90, 95, 115, 217, 293, 532, 549, 594, 628, 641 Magie 292 – Tanz und M. 328 Malerei 63, 89, 115, 131, 137, 141 f., 146, 149, 158, 164, 167,

687

174, 179, 187 f., 191, 199, 209, 213, 237, 241, 291, 306, 308, 321, 323. 331. 338, 361, 405, 437, 456, 502, 520, 532, 557, 587, 595, 602, 609, 613, 635, 650 – Komposition in der M. 175 f., 181 – gegenständliche M. 241 – Raum in der M. 557 Maß 69, 71, 73, 75, 77, 79, 87, 114, 188, 193, 214, 220, 221, 289, 297, 346, 415, 427, 563, 571, 625, 645 f. Material 18, 58, 121, 140, 187, 199, 210, 215, 275, 278, 287, 289, 298, 308 f., 327, 338, 357, 362, 364, 380, 386, 413, 416 f., 424 ff., 429, 440, 456, 463, 476, 489 f., 500, 513, 518, 532, 539, 656 Medium 58, 60, 64, 102, 133, 135, 145, 158, 222, 269, 274, 307, 357, 418, 463, 478, 511, 514, 523, 602, 614, 618, 621 Metapher 22 f., 44, 88, 176 ff., 330 f., 401, 403, 406, 423, 514 Motiv 41, 83, 85, 159, 164, 243, 297, 308, 319, 323, 336, 348, 351, 389, 424 f., 433, 474, 498 f., 579 Museum 299, 306, 640 Musik – Choral 277, 305 – Komposition 71, 102, 107, 214, 222, 234 f., 237, 240 f.,

688 Sachregister

243, 248 f., 253, 257, 259 f., 262, 270 ff., 281, 287, 294, 296 – Tanz und M. 344 ff. – Trommelm. 242, 265, 279, 344 – Musikhören 301 – Programmm. 285, 294 ff., 298 – Wiederholung in der M. 239, 247 f., 250 – Rhythmus in der M. 238, 243 f., 246 ff., 250, 258, 264, 307, 344, 350, 353 – Musiktheorie, Theorie (in) der M. 97, 108 ff., 221, 253, 259, 286 f. – Äußerung in der M. 261, 263 ff., 267 f., 271, 274, 278, 283, 285, 290 – Gesang 257, 264–268, 272, 274, 276, , 278 f. Mythisches Bewusstsein 326, 331 f., 345, 348, 406 Mythos 61, 135, 178, 293, 308, 326, 329 f., 345, 380, 401, 403, 419, 568, 570, 579, 604, 615 Nachahmung, Imitation 63, 126 f., 131, 136, 164, 167, 171, 180, 201, 295, 337, 483, 527, 568, 571 Notwendigkeit 83, 110 f., 119 f., 126, 190, 202, 239, 343, 421, 474, 516, 525, 569, 616, 642

Oper 142, 234, 269, 274 f., 285, 290, 291, 293 f., 300, 305, 458, 525 f. Organismus, organisch 74, 156, 189 f., 194 ff., 198, 205, 237, 245, 249, 254, 267, 288, 296, 303, 335, 344, 352, 354, 365, 438, 513, 533–537, 539 f., 583, 595 f., 646, 654 Ort 71, 80, 98, 127, 140, 149, 154, 180, 198–201, 205 f., 208 f., 232, 239, 366, 368 f., 393, 453, 455, 476, 491 f., 505, 517, 525, 555, 610, 642 Pantomime 306–309, 328, 334 f., 337, 352, 444, 523, 525, 554, 559, 652 Paradox 78, 85 f., 88, 90, 96, 143 f., 322, 508, 543 Pathos 88, 264, 373, 533, 548, 553 Perspektive 80, 83 f., 112, 332, 481, 485, 489, 495, 532, 609 Phänomenologie 142, 267 Phantasie, s.a. Einbildungskraft 84, 98, 103, 121, 126, 137, 146, 150, 153, 158 f., 163 f., 170, 195, 235, 239, 249, 258 f., 298, 331, 370, 374, 399, 401, 403, 405 ff., 419, 424, 426, 428, 432, 437 f., 444, 457 f., 468, 471, 475 f., 488 ff., 495 f., 498, 504, 513, 518, 527 ff., 537, 540, 564, 573, 587, 594 f., 608, 610, 613, 615, 616 ff.,



Sachregister

623, 625, 629, 631 f., 635 ff., 639, 641, 648, 655 Philosophie – der Kunst 57, 60, 64, 71, 78, 82, 84, 94, 105, 142, 226, 229, 397, 623, 650 – der Natur 71, 74, 76 f. Photographie 651 f. Poesis 357– 397, 424, 430, 433, 444, 502, 587 Polarität 87 f., 325 Possenreißer 553–557 Pragmatismus 59, 86, 112, 360 Primitivismus 347 Programmmusik 285, 294 ff., 298 Prosa 59, 275, 305, 364 f., 421, 429 f., 433, 461 ff., 490, 492, 502, 524, 635 Psychoanalyse 404 f. Psychologie 79, 113, 143, 149, 293, 321, 405, 494, 575, 582, 592, 598, 613, 616, 647 Rasa 527 Raum 74, 85, 141, 143, 153 f., 156 f., 164–175, 177, 180 f., 183 ff., 186–213, 218–222, 225, 227, 229, 231 ff., 236, 249, 299, 306, 312, 324 f, 327, 342 f., 348, 351 ff., 362– 365, 370, 406, 439, 442 f., 495, 513, 517, 525, 532, 557, 593, 596, 656 f., Rede 100 f., 129, 135, 178, 225, 241, 261, 264 f., 276 f., 279,

689

283, 295, 310, 318, 322, 362, 368, 383, 393, 411, 420, 422 f., 434, 452, 454, 462, 474, 485, 490, 501, 514 ff., 523 f., 551, 558, 607, 613, 629, 652 Religion 75, 115, 203, 323, 328, 330, 397, 518, 542, 556, 580, 619, 632, 638 f., 642 – religiöser Tanz 308, 344, 347, 349 f. Rhetorik 380, 468, 498 Rhythmus 88, 141, 152, 176, 204, 238, 243–250, 258, 264, 279, 280, 293, 297, 303, 305, 307, 344, 349 f., 353, 360, 365, 373, 379, 406, 419, 432 f., 466, 482, 534–537, 539, 542, 544 f., 548, 554, 557 ff., 563–566, 571, 573, 580, 583, 593, 620, 657 Roman 126, 405, 435, 462, 468, 473, 475 f., 478–481, 483–486, 488, 493, 496, 524, 531, 620, 632 Rosette 159 Sachliteratur 364, 496 Schöpfung 59, 60, 121, 126, 128, 159, 164, 169, 171 ff., 177, 183 f., 193, 196 f., 209, 211, 241, 259, 261, 275, 289, 296, 325, 328, 353, 355 f., 360, 365, 379, 396 f., 418, 428, 433, 435, 437, 443, 447, 456, 461, 479, 490, 493, 501, 529, 539, 569, 616, 619, 630, 655

690 Sachregister

Schauspiel 142, 206, 236, 252, 274, 291, 293, 306 ff., 310, 320, 344 f., 347, 352, 441, 444, 458, 506, 509, 523, 528, 547, 563, 583, 586, 632, 651 Schein 85, 125 f., 129–133, 135, 146, 152, 154, 157 f., 169, 171, 174, 189–192, 194, 199, 200 f., 204, 205, 207, 209, 219 f., 231, 237, 243, 247, 268, 276, 309, 318 f., 327, 329, 340, 354, 363, 365, 370, 374 f., 397, 409 f., 412 f., 423, 443 ff., 447 f., 453, 456, 465, 483, 487, 491, 497 ff., 502 f., 507, 510, 532, 568, 597 Scheingefühle 320 f. Schicksal, in der Tragödie 504–511, 529, 567, 569 ff., 575, 587, 583, 588 Schönheit, schön 71 f., 81, 89 f., 117, 147, 149, 195 f., 200, 207, 213, 230, 250, 272, 280, 287, 293, 302, 308, 351, 384, 396, 418, 428, 460 f., 472, 499, 583, 586 f., 592, 619, 626, 628 ff., 639, 643, 648 f. Selbstgenügsamkeit 126, 145 Sich ereignende Künste 236 Signifikante Form 85, 96 ff., 107–110, 119, 132, 135, 175, 183, 614 Sinngehalt 20, 29, 45, 96 f., 99, 104, 108, 135, 204, 238, 326, 351, 373, 604, 624 Skulptur 33, 63, 109, 126, 141,

187–189, 190, 191, 193–196, 198 f., 208 f., 306, 331, 483, 502, 587, 592, 646, 650 Soziokulturelles Gebiet 206, 209 Soziologie 113 Spannung 33, 226, 262, 269, 276, 292, 294, 324, 327, 342, 425, 454 f., 505 ff., 509, 511, 552, 558, 564, 575, 581, 596 Spektakel 473, 586 f. Sprache 60 ff., 72, 100, 104 f., 107 f., 119, 135, 144, 151, 183, 240 ff., 264, 275, 286 f., 310, 318, 330 f., 340, 357 ff., 375 f., 378, 386, 398–403, 406, 410, 415–422, 430, 432 f., 435, 444 f., 456, 478, 485, 490 ff., 497, 500, 502, 537, 551, 591, 602, 604 f., 607, 611, 613, 617, 624, 626, 634, 649 Stimme 176, 183, 242, 256, 260, 263–268, 277, 283, 298, 310, 344, 433, 450, 462, 505 Subjektivität, subjektiv 88, 90, 224, 301, 310, 413, 429 f., 435, 447, 588, 598, 622 f. Symbol – Kunsts. 591, 598, 605 f., 614, 616, 623, 626 f., 650 – des Fühlens 97–121, 157, 247 – symbolische Funktion 95, 107f., 183, 212, 247, 317, 367, 405, 601, 613 – Bedeutung und S. 59, 61,



Sachregister

101 f., 104, 106 f., 108, 135, 154, 330, 361, 407, 595, 605 Szene 85, 115, 181, 186, 188 f., 191, 193, 195, 198 f., 209, 290, 320, 335, 382, 389 f., 411, 434, 475, 513, 519, 525 f., 529, 574, 582 f., 585, 588, 610 Talent 81, 250, 357, 459, 489, 524, 647 Tanz 60, 63, 79, 113, 141 f., 236, 302–328, 332–355, 361, 393 f., 458, 509, 511, 520, 523, 525 f., 530, 552, 559, 584, 586 f., 591, 597, 602, 613, 629, 641, 643, 646, 653 Technik 72, 78, 119 f., 234, 262 f., 265, 271, 292, 364, 414, 425, 447, 450, 465, 470, 485, 488, 492, 528, 563, 593, 597, 609, 611 ff., 616 ff., 651 f. Tempus 435, 437 f., 442, 446 f., 451, 453 f., 457 f. Tragödie 291, 293 f., 428, 457, 531 f., 539, 542–547, 560, 563 f., 566–588, 610, 619 f., 630, 633 f., 642 f. Traum 85, 98, 129 f., 135, 300, 348, 400, 404 ff., 409–412, 418 f., 438, 484, 636, 653 f., 656 f. Trommelmusik 242 Troubadour 471 f., 475 Überdeterminiertheit 407, 410

691

Unmittelbarkeit 82, 256, 448, 455, 504 f., 654 Unterhaltung 354, 522, 553 f., 618 f., 641 ff. Urlinie 215, 240 f., 243, 668 Verallgemeinerung 72, 75 ff., 98, 109, 543, 604, 606 Virtualität, virtuell 138, 184, 188, 232, 314, 326, 329, 385, 447 Volksdichtung 459 f., 471 Volkskunst 162, 167, 347, 459 f., 524, 635, 652 Volkslied 282, 460, 470 Volkstanz 338, 394 Volumen 189, 190 ff., 194, 198 f., 224 f., 230 Vorstellung, vorstellen 60, 75, 78, 83, 112, 142, 149, 153 f., 167, 169 f., 174, 176, 198, 206, 216, 236, 240, 243, 256, 258, 261 f., 266, 270, 276, 278 f., 314, 318, 320, 322, 329 f., 332, 335, 338, 349, 354, 383, 386, 387, 401, 426, 459, 461, 465, 499, 504 f., 507, 512, 518, 520, 524, 532, 541, 553, 568 ff., 578, 588, 599, 601, 603, 605, 614, 616, 620, 633, 636, 647 Wahrnehmung 83, 95, 107, 111, 128, 130, 135 f., 139, 149 f., 155, 164, 167 f., 172, 192, 195, 218, 225, 227, 231, 236, 246,

692 Sachregister

255 f., 272, 274, 295, 299, 353, 363 f., 483, 495, 500, 527, 553, 557, 562, 588, 594 f., 599 f., 604, 606, 627 f., 629, 641, 643, 645 Wiederholung 57, 101 f., 239, 247 f., 350, 400, 410, 510 Wirklichkeit 79, 82 f., 115, 125 f., 132, 135, 137, 145, 157, 163, 171, 174, 176, 179, 184, 192 f., 196 ff., 229, 252, 298, 312, 321, 323, 335, 344, 348, 352, 364, 370, 371, 385, 397, 403, 406, 413, 424, 426, 429, 442, 444, 448, 481 ff., 487 f., 496, 499 f., 504, 510, 519, 526, 533, 538, 546, 563 f., 568, 574, 584, 588, 599, 615, 617, 622, 629, 631, 634, 654, 655 Wissenschaft 57, 60, 76 f., 81, 87, 91, 93, 95, 105, 115 f.,

164 f., 213, 215 f., 331, 361, 367, 399, 401, 446, 495, 499, 598 f., 601 ff., 606, 611, 613, 615, 620, 648, 662 Witz 538, 558, 561, 563 Zeichen 61, 95, 100, 155, 162, 204, 272, 310, 311, 317 f., 347, 528, 605, 627, 639, 646 Zeichnung 128, 151 f., 164, 167, 175 ff., 181, 499, 593 Zeit 71, 74, 141, 180, 185, 192, 220–234, 236, 241 ff., 247, 249, 254, 258, 269, 272 f., 275 f., 278, 312, 327, 342 ff., 351 ff., 363, 370, 406, 437, 439, 442, 446, 482, 494 f., 517, 526, 565, 595 – Zeiterfahrung 220-225 Zeitlosigkeit 446, 448, 453