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German Pages 199 [200] Year 2016
Marc Grimm | Martin Niederauer (Hrsg.) Ästhetische Aufklärung
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Gesellschaftsforschung und Kritik Herausgegeben von Albert Scherr | Stefan Müller
Die Reihe „Gesellschaftsforschung und Kritik“ bietet einen Ort für theoretische und empirische Analysen, die auf die Weiterentwicklung kritischer Gesellschaftsforschung zielen. Als grundlegendes Kennzeichen kritischer Gesellschaftsforschung gilt dabei das Interesse an der Frage, wie soziale Problematiken mit der Grundstruktur der Gegenwartsgesellschaft zusammenhängen. Die Reihe ist für Beiträge aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Theorietraditionen offen und steht für eine multiperspektivische Programmatik der Kritik.
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Marc Grimm | Martin Niederauer (Hrsg.)
Ästhetische Aufklärung Kunst und Kritik in der Theorie Theodor W. Adornos
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© 2016 Beltz Juventa · Weinheim und Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim www.beltz.de · www.juventa.de Herstellung und Satz: Ulrike Poppel ISBN 978-3-7799-
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Inhalt Kunst, Ästhetik und Aufklärung in der Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos Martin Niederauer und Marc Grimm
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Kritisieren statt klassifizieren. Adornos Kaleidoskop Ruth Sonderegger
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Urteilsformen. Zum Verhältnis der Sprache zur Sprache der Kunst Philip Hogh
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Adorno, Kafka und die Psychoanalyse. Das verstümmelte Subjekt durch das Prisma von Adornos Aufzeichnungen zu Kafka Shierry Weber Nicholsen
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Form und Inhalt in kritischer Konstellation. Zum Verhältnis von Material, Fortschritt und thematischen Inhalten in der (Gegenwarts-)Kunst Ines Kleesattel
70
Widerspiegelung – Vor-Schein – Ausdruck. Modelle ästhetischer Erkenntnis bei Lukács, Bloch und Adorno Johannes Rhein
89
Utopie oder Ursprung? Zur Wahrheit in Kunst und Sprache bei Theodor W. Adorno und Martin Heidegger Marc Grimm
108
Reflexivität als Gegenstand und Kritik. Strukturmerkmale negativer Dialektik in einer ästhetischen Logik Stefan Müller
129
Über die Bedingungen gehaltvollen Komponierens Claus-Steffen Mahnkopf
146
Die Idee der wahren Aufführung – Adornos Entwurf einer Theorie der musikalischen Reproduktion Johannes Veerhoff
159 5
Gehörte Dialektik – Über den Zusammenhang von Musik, Rezeption und Gesellschaft bei Adorno Martin Niederauer
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Autorinnen und Autoren
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Kunst, Ästhetik und Aufklärung in der Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos Martin Niederauer und Marc Grimm
Wer einem Sammelband den Titel „Ästhetische Aufklärung“ gibt und eine solche mit Theodor W. Adorno in Verbindung bringt, provoziert zwei Assoziationen. Erstens, das liegt auf der Hand, verweist der Titel auf Adornos posthum veröffentlichte Ästhetische Theorie. Dass diese letzte Monografie nicht abgeschlossen wurde und Fragment geblieben ist, lädt zu Interpretationen ein. Schließlich legt dies nahe, die Ästhetische Theorie auch inhaltlich als ein unfertiges Buch zu rezipieren, an dem der Autor wohl noch zahlreiche Änderungen vorgenommen hätte. Ein Blick in das editorische Nachwort zeigt jedoch, dass Adorno zwar noch Überarbeitungen beabsichtigte, diese aber eher als organisatorisch und weniger als inhaltlich einschätzte (vgl. Adorno 1970: 537–544). Der durchgehende, lediglich durch Spatien gegliederte Text ist nicht nur auf den unabgeschlossenen Charakter des Buches zurückzuführen, sondern illustriert auch ein Denken in Konstellationen, durch das Adorno versuchte, seinem Gegenstand gerecht zu werden. Adorno hatte in einer früheren Fassung den Text bereits in Kapitel unterteilt und dies wieder aufgegeben, da sich beim Schreiben Schwierigkeiten im Verhältnis „von Darstellung und Dargestelltem“ (Tiedemann et al. in Adorno 1970: 541) ergaben: „Interessant ist, daß sich mir bei der Arbeit aus dem Inhalt der Gedanken gewisse Konsequenzen für die Form aufdrängen, die ich längst erwartete, aber die mich nun doch überraschen. Es handelt sich ganz einfach darum, daß aus meinem Theorem, daß es philosophisch nichts ,Erstes‘ gibt, nun auch folgt, daß man nicht einen argumentativen Zusammenhang in der üblichen Stufenfolge aufbauen kann, sondern daß man das Ganze aus einer Reihe von Teilkomplexen montieren muß, die gleichsam gleichgewichtig sind und konzentrisch angeordnet, auf gleicher Stufe; deren Konstellation, nicht die Folge, muß die Idee ergeben.“ (Adorno 1970: 541; Hervorh. i. Orig.)
Zudem liegt die Versuchung nahe, die Ästhetische Theorie als Spitze einer linearen theoretischen Entwicklung zu interpretieren, an deren Ende eine „Flucht in die Ästhetik“ stehe (vgl. hierzu Lindner/Lüdke 1980: 12). Rüdiger Bubner folgend habe Adornos Denken erst in der Ästhetischen Theorie seine 7
„definitive Fassung“ erhalten. Das Buch sei „das eigentliche philosophische Vermächtnis des Autors“, in dem eine „Aufhebung von Theorie in Ästhetik“ stattfinde (Bubner 1989: 71). Auch Jürgen Habermas begreift Adornos Spätwerk als Abschied von der Gesellschaftstheorie und diagnostiziert, dass dessen Theorie zunehmend kontemplativ werde. Die Ästhetische Theorie besiegle dann schließlich „die Abtretung der Erkenntnis-Kompetenzen an die Kunst“ (Habermas 1981/1995: 514). Allerdings, so bringt Jürgen Ritsert auf den Punkt, sind es gerade solche Rezeptionen, die zur Unterstellung verlocken, „in Adornos Spätwerk verliere sich die Strenge des Begriffs in die Empfindsamkeiten der nicht identifizierenden Mimesis“, wodurch er seinen KritikerInnen nur allzu leicht „als Apokalyptiker“ oder „Praxisflüchtling in die Kunst“ (Ritsert 1996: 22) vorkommen müsse. Wir stimmen Jürgen Ritsert zu und vertreten die Ansicht, dass die Ästhetische Theorie weder das eigentliche Vermächtnis Adornos noch den Endpunkt eines schleichenden Abschieds von der Gesellschaftstheorie darstellt. Hingegen scheint es uns angebrachter zu sein, Adornos Ästhetik als eine Konstante seines akademisch-intellektuellen Schaffens zu interpretieren, die ihren Ausdruck primär in seinen Schriften zu Musik, Kunst und Literatur findet, diese jedoch zugleich immer in direkter Korrespondenz zu seinem Gesamtwerk stehen (vgl. Müller-Doohm 2003: 716). Adornos Aufsätze zur Musik beispielsweise, die er ab den 1920er-Jahren verfasste, kommen nicht ohne eine (zumindest implizit vorhandene) ästhetische Theorie aus. Seine Konzentration auf eine strenge Werkästhetik, die Einforderung einer inneren Stimmigkeit des Werkes und die dadurch provozierte Notwendigkeit einer immanenten Analyse als fester Bestandteil einer adäquaten Rezeption zeichnen sich bereits in Reaktion und Fortschritt (vgl. Adorno 1930: 134) ab und werden in späteren musikalischen Schriften fortgesetzt (vgl. bspw. Adorno 1963). Rolf Wiggershaus (1988: 715) interpretiert die Ästhetische Theorie nicht umsonst als eine Summe vorangegangener Arbeiten über die Potenziale und Brüche neuer Musik. Auch der Begriff des „Wahrheitsgehalts“ wird nicht erst in der Ästhetischen Theorie entwickelt, sondern findet sich in frühen Arbeiten zur Philosophie wie auch zur Musik wieder. Etwa wenn es in Die Aktualität der Philosophie zum „Ding an sichProblem“ heißt, dass „der Wahrheitsgehalt eines Problems […] von den historischen und psychologischen Bedingungen, aus welchen es erwächst, prinzipiell verschieden“ sei (Adorno 1931: 337). Oder wenn er in Bach gegen seine Liebhaber verteidigt über das Verhältnis von Aufführungspraxis, musikalischer Interpretation und Objektivität des Werkes schreibt: „Das Bewußtsein der Künstler von sich selbst […] vermag zwar zur Erkenntnis manches beizutragen, gibt aber nicht deren Kanon ab. Die authentischen Werke entfalten ihren Wahrheitsgehalt, der den individuellen Bewußtseinskreis überschreitet, kraft der Objektivität ihres eigenen Formgesetzes in der Zeit.“ (Adorno 8
1951b: 148; vgl. Adorno 1959: 109) Und auch über den gesamten Zeitraum seiner Tätigkeit an der Universität Frankfurt hat Adorno immer wieder Lehrveranstaltungen zu Ästhetik und benachbarten Themen angeboten (vgl. Müller-Doohm 2003: 944–950; vgl. bspw. Adorno 1958/59). Die zweite Assoziation, die der Titel „Ästhetische Aufklärung“ hervorruft, wird unzweifelhaft auf eine Verbindung der Ästhetischen Theorie mit der Dialektik der Aufklärung und damit auf die Rolle der Kunst in der wechselseitigen Vermittlung von Herrschaft und Befreiung gehen. Und es scheint nicht übertrieben zu sein, Aufklärung und die damit verbundene Verhältnisbestimmung von Herrschaft und Befreiung als eine zweite Konstante in Adornos akademisch-intellektuellem Schaffen zu bezeichnen. Aufklärung wird bei Adorno bekanntlich nicht auf die Bezeichnung einer historischen Epoche reduziert. Vielmehr kann sie als eine kontinuierliche Anstrengung zur Herausbildung mündiger Subjekte verstanden werden, in der Kunst eine prominente Rolle einnimmt. Dass Adorno sich Kunst diesbezüglich nicht als politisches Instrumentarium einer kämpfenden Klasse vorstellte, ist bekannt. „Mit Gesinnung“, so macht er deutlich, sei schließlich „wenig getan“ (Adorno 1970: 344). Das bedeutet wiederum nicht, dass Adorno beim Verfassen der Ästhetischen Theorie nicht punktuell an die damaligen politischen Auseinandersetzungen dachte. In Anlehnung an Wiggershaus lässt sich fragen, ob die Ästhetische Theorie nicht auch als eine Reaktion auf (oder auch gegen) propagandistisch vorgehende VertreterInnen der Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre interpretiert werden kann, also als „ein Korrektiv gegen die kurzschlüssigen kulturrevolutionären Bestrebungen der Protestbewegung“ (Wiggershaus 1988: 715). Adornos Reflexionen über die damaligen Möglichkeiten von Kunst legen es nahe, dass er auf die vermeintlich revolutionären Ausbrüche von StudentInnen anspielt, wenn er schreibt: „Avantgardistische Störungen ästhetisch avantgardistischer Veranstaltungen sind so illusionär wie der Glaube, sie seien revolutionär und gar Revolution eine Gestalt des Schönen: Amusie ist nicht über sondern unter der Kultur, Engagement vielfach nichts als Mangel an Talent oder an Anspannung, Nachlassen der Kraft. Mit ihrem jüngsten, freilich schon im Faschismus praktizierten Trick funktioniert Ichschwäche, die Unfähigkeit zur Sublimierung, sich ins Höhere um, belohnt die Linie des geringsten Widerstands mit einer moralischen Prämie. Die Zeit der Kunst sei vorüber, es käme darauf an, ihren Wahrheitsgehalt, der mit dem gesellschaftlichen umstandslos identifiziert wird, zu verwirklichen: das Verdikt ist totalitär.“ (Adorno 1970: 372 f.)
Adornos Ästhetik sperrt sich einer unmittelbaren politischen Inanspruchnahme. Stattdessen drängt es sich auf, die Verhältnisbestimmung von Ästhetik und Aufklärung in der wechselseitigen Ergänzung von Kunst und Philosophie zu verorten. Dies bedarf keiner mühsamen Theorierekonstruktion, 9
vergegenwärtigt man sich, dass Adorno ein nahezu programmatisches Zitat von Friedrich Schlegel der Ästhetischen Theorie als Motto voranstellen wollte: „In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst.“ (Schlegel in Adorno 1970: 544) Dieses Motto lässt sich als ein selbst auferlegter Imperativ interpretieren, dem Adorno gerecht zu werden versuchte. Beispielsweise wenn man die beiden Exkurse der Dialektik der Aufklärung („Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ und „Juliette oder Aufklärung und Moral“) als einen Versuch der Erkenntnisgenerierung durch Werkinterpretationen liest, oder wenn Adorno seine Philosophie der neuen Musik als einen „ausgeführte[n] Exkurs zur ,Dialektik der Aufklärung‘“ (Adorno 1949: 11) verstanden wissen will. Albrecht Wellmer erachtet die Dialektik der Aufklärung als Schlüsseltext zum Verständnis der adornoschen Ästhetik. Darin sei „die Dialektik von Subjektivierung und Verdinglichung entfaltet, die Dialektik des ästhetischen Scheins zumindest angedeutet. Die wechselseitige Durchdringung dieser beiden Dialektiken ist das Bewegungsprinzip der Ästhetischen Theorie.“ (Wellmer 1985: 10; Hervorh. i. Orig.) Mit Bezug auf die Negative Dialektik argumentiert Wellmer zudem, dass sowohl in den Erkenntnisformen der Kunst wie auch in der philosophischen Erkenntnis der „versöhnte Zusammenhang des Lebendigen vorgebildet“ sei: „Kunst und Philosophie bezeichnen somit die beiden Sphären des Geistes, in denen dieser durch die Verschränkung des rationalen mit einem mimetischen Moment die Kruste der Verdinglichung durchbricht.“ (Wellmer 1985: 12; Hervorh. i. Orig.) Und wie oben bereits angedeutet, lässt sich eine weitere Parallele zwischen Kunst und Philosophie durch den Bezug zur Wahrheit ziehen. Das authentische Kunstwerk konstituiert sich bei Adorno durch Wahrheit, die jedoch nicht einfach Teil der ästhetischen Erfahrung ist. Vielmehr blitzt Wahrheit für Momente auf, ist aber nicht als Entität zu fassen. Sie bleibt flüchtig, manifestiert sich nicht vollends in der ästhetischen Erfahrung und ist auf philosophische Reflexion angewiesen (vgl. Adorno 1970: 197). Philosophie wiederum kann nur mit den Mitteln der Sprache operieren und bleibt auf das Sinnliche, Unmittelbare wie auch Unaussprechliche des Kunstwerks und der ästhetischen Erfahrung an diesem angewiesen. Kunst und Philosophie stehen auf einer epistemischen Ebene folglich in einem Interdependenzverhältnis zueinander: „So wie der Unmittelbarkeit der ästhetischen Anschauung ein Moment der Blindheit, so haftet der Vermittlung des philosophischen Gedankens ein Moment der Leerheit an; nur gemeinsam können sie eine Wahrheit umkreisen, die sie beide nicht aussprechen können.“ (Wellmer 1985: 14; vgl. Scheible 2012: 254) Dieses Verständnis von Kunstwerken und einer reflektierten, sich an Philosophie orientierenden Rezeption stellt für Adorno eine Möglichkeit zur Erkenntnis über den Zustand von Gesellschaft dar wie zugleich auch über deren Chancen auf Veränderung (vgl. Adorno 1962a: 328). In der Rezeption der 10
Kunstwerke kann sich Denken anstrengen, ohne von Verdinglichung in seine Schranken verwiesen zu werden, kann sich dadurch diszipliniert auf die Sache selbst konzentrieren, ohne sich ein spekulatives Moment nehmen zu lassen. Kunstwerke fordern zur Reflexion statt zur Klassifizierung heraus und führen dabei mitunter auf Umwege, die der instrumentellen Vernunft als unzweckmäßig erscheinen, der ästhetischen Erfahrung aber wesentlich sind. „[M]it eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können“ (Horkheimer/Adorno 1944/47: 54), könnte die Herausforderung der Kunstwerke an ihre Gegenüber lauten. Kunstwerke besitzen ein utopisches Moment, zeigen die gesellschaftlichen Zurichtungen auf und können zugleich Anstoß für eine Idee des Besseren sein, ohne jedoch in Hochmut zu verfallen und zu behaupten, wie dieses Bessere gestaltet sein müsste. Ihr Potenzial liegt gerade in der Verweigerung des Konkreten und der Absage an die Dienlichkeit für eine übergeordnete Ideologie.1 Erst dadurch können Kunstwerke letztendlich teil an Aufklärung haben und an das erinnern, was sein könnte und was zugleich erst zu entwerfen wie zu entwickeln wäre: „Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschheit Zugerichteten. […] Eine befreite Gesellschaft wäre jenseits der Irrationalität ihrer faux frais und jenseits der Zweck-Mittel-Rationalität des Nutzens. Das chiffriert sich in der Kunst und ist ihr gesellschaftlicher Sprengkopf.“ (Adorno 1970: 337 f.; vgl. 202 f.)
Können Kunstwerke eine Ahnung von einer besseren Zukunft geben, setzt dies ebenso voraus, dass sie das Gewordensein der Gegenwart erinnern. Wenn es der Anspruch von Kunst ist, Gesellschaft zu objektivieren, dann bedeutet dies auch, dass sie menschliches Leiden erfahrbar machen können. Gelungene Kunstwerke speichern und erinnern das Leiden der Individuen, sodass dieses nicht dem Vergessen anheimfällt. Zugleich wiederum verweisen die Kunstwerke dadurch, dass sie die Beschädigungen der Menschen erfahrbar machen, auf einen Zustand, „in dem solches Leiden abgeschafft ist“ (Adorno 1950: 462). Die Konfrontation mit Leid im rezipierten Objekt verweist das rezipierende Subjekt auf eigenes Leid. Dadurch aber eröffnet dessen künstlerische Verarbeitung ein Spannungsverhältnis: Kunstwerke müssen Leid speichern, um wahre Objektivation von Gesellschaft zu sein und laufen unter kulturindustriellen Produktionsbedingungen zugleich Gefahr, dieses
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Diese Form von Gesellschaftskritik ist nahezu deckungsgleich mit Max Horkheimers (1970/ 1981: 168) Verständnis von Kritischer Theorie: „[W]ir können die Übel bezeichnen, aber nicht das absolut Richtige. Menschen, die in diesem Bewußtsein leben, sind mit der Kritischen Theorie verwandt.“
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dem Amüsement preiszugegeben (vgl. Adorno 1962b: 423). Holocaust-Verfilmungen dürften hierfür ein einleuchtendes Beispiel sein. Der Exotismus in Rezeptionen der Kunst von unterdrückten Minderheiten verläuft in ähnlichen Bahnen. Beispielsweise wenn die (tatsächlich) leidvollen Biografien von KünstlerInnen oder ProtagonistInnen das Produkt mit Attraktivität versorgen sollen und zum Garant für Abweichung innerhalb des standardisierten Kulturbetriebs stilisiert werden. Bei aller legitimen Kritik an Adornos Jazztheorie: Seine Frage, ob es nicht gerade entwürdigend für AfroamerikanerInnen sei, ihre Erfahrungen mit rassistischer Unterdrückung und systematischer Repression als Exklusivitätsmerkmal des Jazz zu rezipieren sowie seine Anmerkung, dass der Jazz schlecht sei, „weil er die Spuren dessen genießt, was man den Negern angetan hat“ (Adorno 1953: 809), kann angesichts des Exotismus im Jazz nicht ignoriert werden (vgl. Niederauer 2014: 45–140; 2015: 155–158). Trotz der Potenziale der Kunst ist nicht zu unterschlagen, dass auch sie Teil der Welt war, aus der Leiden und letztendlich auch die Shoah hervorgegangen ist. Aufklärung durch Kunst, Philosophie und Wissenschaft haben die Menschen schließlich nicht geradlinig zum mündigen Leben, sondern in die Barbarei geführt. Folglich kann davon auch das Denken über Kunst und damit verbunden die Entwicklung einer Ästhetik nicht unberührt bleiben (vgl. Adorno 1966: 359). Einmal reagierte Adorno mit seinem Diktum, dass es barbarisch sei, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“ (Adorno 1951a: 30), auf die rege Beschäftigung mit Kultur und Kunst im Nachkriegsdeutschland, die „etwas von dem gefährlichen und zweideutigen Trost der Geborgenheit im Provinziellen“ hat (Adorno 1950: 456). Die essenziellen Fragen, was den Nationalsozialismus und die Vernichtung des europäischen Judentums möglich gemacht hat und wie eine menschenwürdige Einrichtung der Welt aussehen könnte, seien jedoch gemieden worden. Adornos Einspruch gegen die einseitige Fokussierung auf die vom Nationalsozialismus vermeintlich unberührte Kultur war ein Affront, weil doch gerade die althergebrachte Kultur im Nachkriegsdeutschland die Möglichkeit von Kontinuität und Gemeinschaftsstiftung zu bieten schien. Aber „[d]en traditionellen ästhetischen Formen“, so Adorno, „der traditionellen Sprache, dem überlieferten Material der Musik, ja selbst der philosophischen Begriffswelt aus der Zeit zwischen den beiden Kriegen, wohnt keine rechte Kraft mehr inne. Sie alle werden Lügen gestraft von der Katastrophe jener Gesellschaft, aus der sie hervorgingen.“ (Adorno 1950: 459) Zieht man die genannten Überlegungen zur Verbindung von Ästhetik und Aufklärung zusammen, besteht Anlass zur Bescheidenheit hinsichtlich des möglichen Beitrags der Kunst zur Einrichtung einer besseren Gesellschaft. Kunst kann ein refugiales Moment inmitten der verwalteten Welt besitzen, wenn dabei präsent bleibt, dass sie nicht außerhalb dieser steht (vgl. 12
Grimm 2009: 71 f.). Schreibt man Kunst also Chancen zu, Leiden mimetisch erfahrbar sowie das noch unbestimmte Bessere denkbar zu machen, empfiehlt es sich, sie nicht zum Rettungsanker der Kritik zu verdinglichen oder zu verabsolutieren. Kunstwerke sind der Erkenntnis um die Befreiung von Herrschaft zugeneigt und eröffnen Möglichkeiten von Erfahrung, um welche die Menschen in der verwalteten Welt systematisch betrogen werden. Dabei sind sie nicht vor der Vereinnahmung derjenigen Gesellschaft gefeit, an der sie sich abarbeiten und an deren mögliche Überwindung sie erinnern. Haben Kunstwerke Teil an Aufklärung, bleiben sie von deren Dialektik nicht verschont. Somit bietet es sich an, Adornos Ästhetik als die Praktizierung dialektischen Denkens am konkreten Gegenstand zu interpretieren und seine Arbeiten über Kunst gesellschaftstheoretisch zu lesen. Kunstwerke fungieren als scharf eingestelltes Objektiv, durch das Adorno Gesellschaft beobachtet, beschreibt und kritisiert. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen nicht weniger, als den Zusammenhang von Ästhetik und Aufklärung aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und damit den beiden hier umrissenen Konstanten Ausdruck zu verleihen. Ruth Sonderegger rekonstruiert in Kritisieren statt klassifizieren Adornos Denk-Eingriffe als Kaleidoskop unterschiedlicher Formen der Kritik in Essayistik, Philosophie und Kunst. Darin weist sie Kunst als essenzielles Korrektiv für die Philosophie und insbesondere die philosophische Ästhetik aus. Adornos Kritik ziele wesentlich auf die Klassifikationen und den Ausschluss von emphatisch Neuem und Fremdem zugunsten des Bekannten und Normalisierten. Diese Normalisierungstendenz berühre auch das Werk Adornos, weshalb Sonderegger die zu Floskeln geronnene Adornorezeption zum Tanzen bringt. Sie diskutiert Adornos Verständnis von Kunstautonomie sowie die von ihm proklamierte Funktion der Funktionslosigkeit der Kunstwerke und argumentiert, dass seine Kunsttheorie als Kritik gelesen werden sollte, die eine bessere Gesellschaft nicht nur denkbar macht, sondern deren Einrichtung durch die Öffnung zum Nicht-Klassifizierten praktisch betreibt. Philip Hogh expliziert am Beispiel sprachlicher Kunst verschiedene Urteilsformen bei Adorno. In der Frage, in welchem Verhältnis alltägliche Sprache und die Sprache der Kunst zueinander stehen, konturiert Hogh Adornos Verständnis eines „urteilslosen Urteilens“, das eine Erkenntnis über Gesellschaft ermöglicht, die identifizierendem, aber auch konstellativem Denken nicht zugänglich ist. Ohne in soziale oder politische Sachverhalte einzugreifen, führe sprachliche Kunst durch die Suspension der Vereindeutigung vor, dass die herrschende sprachliche Praxis nicht die einzig mögliche sei. Dadurch eröffne sprachliche Kunst die Chance, die Grenzen alltäglicher Wahrnehmung inklusive deren herrschaftlicher Zurichtung aufzuzeigen und zu verschieben. 13
Shierry Weber Nicholsen ist im englischsprachigen Raum seit längerer Zeit als Übersetzerin von Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Herbert Marcuse sowie mit ihren Abhandlungen über Adornos Ästhetik bekannt. Mit Adorno, Kafka und die Psychoanalyse erscheint hier nun erstmals einer ihrer eigenen Texte auf Deutsch. Darin expliziert Nicholsen, wie die freudsche Psychoanalyse, Kafka und Adorno die gesellschaftliche Beschädigung der Subjekte auf je unterschiedliche und dennoch ähnliche Weise zu Bewusstsein bringen. Nicholsen demonstriert, dass sich dies nicht in einer expliziten Kenntlichmachung von Herrschaftsverhältnissen erschöpft. Das Potenzial von Kafka und Adorno sei vielmehr ihrer Sprache sowie der „konfigurativen Form“ ihrer Texte immanent. Erst diese Textform ermögliche es, die gesellschaftlichen Zumutungen nicht einfach offenzulegen, sondern sie einer reflektierten Rezeption zur Erkenntnis bereitzuhalten. Ines Kleesattel beschäftigt sich in ihrem Beitrag Form und Inhalt in kritischer Konstellation mit dem Verhältnis von Material, Fortschritt und thematischen Inhalten in der (Gegenwarts-)Kunst. Obwohl Adorno die Autonomie der Kunst gegen die engagierte und politische Kunst hochhalte, bestätige sich die Aktualität seiner Ästhetik gerade darin, dass sie ebenso Kriterien für die Beurteilung von Kunst mit explizit gesellschaftspolitischen Inhalten biete. Ausgehend von einer Neuausrichtung des Theorems des Materialfortschritts, die dadurch besticht, dass Inhalt als Teil des Materials begriffen wird, zeigt Kleesattel am Beispiel von Mareike Berniens und Kerstin Schroedingers Videoarbeit Rainbow’s Gravity, wie politische Kunst mit thematischem Inhalt auch im Sinne Adornos kritisch sein kann. Johannes Rhein fokussiert die (hegel-)marxistische Kontroverse um die Begründung materialistischer Autonomie-Ästhetik, die er als Ausgangspunkt für eine Annäherung an die Ästhetische Theorie vorschlägt und erarbeitet die unterschiedlichen Modelle ästhetischer Erkenntnis bei Lukács, Bloch und Adorno. Dafür werden einleitend mit Lukács’ Vorstellung einer realistischen Widerspiegelung und Blochs Modell des Vor-Scheins die Schlüsselbegriffe ihrer Ästhetiken dargestellt. Dabei treten die Differenzen in den Konzepten von Autonomie, Form, Werk und Schein deutlich zutage. Adorno wird zunächst eine Position zwischen Lukács und Bloch zugewiesen. Um das Profil von Adornos Fassung einer materialistischen Autonomie-Ästhetik zu schärfen, diskutiert Rhein abschließend, inwiefern hier mit dem Begriff des Ausdrucks ein Erkenntnismodell vorliegt, das über den Gegensatz von Lukács und Bloch hinausgeht. Marc Grimm untersucht in seinem Beitrag Utopie oder Ursprung? Zur Wahrheit in Kunst und Sprache bei Theodor W. Adorno und Martin Heidegger die oftmals diagnostizierten vermeintlichen Gemeinsamkeiten der beiden Autoren. Wie Grimm demonstriert, kann eine Nähe der beiden Autoren allenfalls auf der allgemeinsten Ebene attestiert werden, nämlich dass beide 14
Theoretiker sich mit gleichen Gegenständen beschäftigen. Denn wie ein genauer Blick auf die Wahrheitskonzeptionen in den Sprachtheorien und Ästhetiken von Heidegger und Adorno zeige, divergieren diese sowohl hinsichtlich von Begründungszusammenhängen und Problemdiagnosen als auch hinsichtlich wesentlicher Verhältnisbestimmungen wie der von Individuum und Gesellschaft und vor allem der von Autonomie und Heteronomie. Stefan Müller zeichnet in seinem Aufsatz die Strukturmerkmale negativer Dialektik nach. Er diskutiert das von Adorno in Anspruch genommene Begründungsmuster, das die herkömmlichen Probleme dialektischer Theorie, insbesondere den Zwang zur Synthese überwindet. Eine negative Dialektik, die auch der ästhetischen Logik Adornos zugrunde liegt, gründe sich weder im Intuitionismus noch in irrationalen, mystifizierenden Annahmen, sondern nehme eine vermittlungslogische Argumentation in Anspruch, in der die Analyse gesellschaftlicher Bestimmungen sowie deren Kritik und Reflexion fester Bestandteil dialektischen Denkens werden. Im Rahmen der Kritischen Theorie Adornos taucht Reflexivität doppelt auf: als Gegenstand und als Kritik. Müller diskutiert damit die Zentralität negativ-dialektischen Denkens für die adornosche Ästhetik und gibt zugleich Hinweise, inwiefern die Ästhetische Theorie als Fortsetzung und Anreicherung der Negativen Dialektik gelesen werden kann. Der Beitrag von Claus-Steffen Mahnkopf illustriert, wie Adornos Ästhetik nicht nur für theoretische Diskussionen, sondern darüber hinaus für die künstlerische Praxis fruchtbar gemacht werden kann. Als Komponist und einer der führenden Vertreter des Komplexismus reflektiert Mahnkopf an seinen eigenen Werken, wie sich in Anschluss an Adorno ein gehaltvolles Komponieren gestalten kann und sich Musik zugleich als Möglichkeit der Erkenntnis über gesellschaftliche Verhältnisse bestimmen lässt. Johannes Veerhoff identifiziert zentrale Aspekte von Adornos Idee der wahren Aufführung. Adorno stelle sich mit der Idee einer adäquaten Werkinterpretation gegen die Reduktion von Kunst auf bloß subjektives Gefallen. Von den MusikerInnen werde dabei nicht nur die eingehende Analyse des Notentexts verlangt. Zudem bedürfe eine wahre Interpretation einer transitorischen Erfahrung der MusikerInnen am Werk, die zugleich als Korrektiv zum bloß identifizierenden Denken fungieren könne. Indem die InterpretInnen das Stück dechiffrieren und daraufhin befragen, ob ihre Interpretation des Werks adäquat ist, bestehe die Möglichkeit, subjektives Engagement und objektive Werkgestalt in ein produktives Spannungsverhältnis zueinander zu setzen. Wie sich eine solche Werkbetrachtung gestalten könnte, veranschaulicht Veerhoff an Franz Schuberts Lied Wasserflut. Martin Niederauer widmet sich in Gehörte Dialektik schließlich der Rezeption von Musik. Könne man die Dialektik von Herrschaft und Befreiung als gemeinsamen thematischen Nenner von Adornos Schriften betrachten, 15
würden seine musiksoziologischen Texte davon keineswegs abweichen. In der Gegenüberstellung von atomistisch-regressivem und strukturellem Hören werde deutlich, dass sich Adornos Hörtheorie weniger an der Frage nach Adäquanz ausrichte. Vielmehr fokussiere er, inwiefern im musikalischen Verhalten der HörerInnen gesellschaftliche Herrschaft eine praktische Durchsetzung erfährt oder Möglichkeiten erarbeitet werden können, gesellschaftliche Herrschaft zu reflektieren. Literatur Adorno, Theodor W. (1930): Reaktion und Fortschritt, in: Gesammelte Schriften Band 17. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 133–139. Adorno, Theodor W. (1931): Die Aktualität der Philosophie, in: Gesammelte Schriften Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 325–344. Adorno, Theodor W. (1949): Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften Band 12. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor. W. (1950): Die auferstandene Kultur, in: Gesammelte Schriften Band 20.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 453–464. Adorno, Theodor W. (1951a): Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften Band 10.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 11–30. Adorno, Theodor W. (1951b): Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, in: Gesammelte Schriften Band 10.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 138–151. Adorno, Theodor W. (1953) Replik zu einer Kritik der ‚Zeitlosen Mode‘, in: Gesammelte Schriften Band 10.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 805–809. Adorno, Theodor W. ([1958/59]2009): Ästhetik, in: Nachgelassene Schriften, IV/3. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1959): Theorie der Halbbildung, in: Gesammelte Schriften Band 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 93–121. Adorno, Theodor W. (1962a): Titel. Paraphrasen zu Lessing, in: Gesammelte Schriften Band 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 325–334. Adorno, Theodor. W. (1962b): Engagement, in: Gesammelte Schriften Band 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 409–430. Adorno, Theodor W. (1963): Der getreue Korrepetitor, in: Gesammelte Schriften Band 15. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 157–402. Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften Band 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–408. Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften Band 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1981/1995): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W. (1944/47): Dialektik der Aufklärung, in: Gesammelte Schriften Band 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Horkheimer, Max (1970/1981) Kritische Theorie gestern und heute, in: Werner Brede (Hg.), Max Horkheimer. Gesellschaft im Übergang. Aufsätze, Reden und Vorträge 1942-1970. Frankfurt am Main: Fischer, 162–175. Lindner, Burkhardt/Lüdke, W. Martin (1980): Kritische Theorie und ästhetisches Interesse: Notwendige Hinweise zur Adorno-Diskussion, in: Burkhardt Lindner und W. Martin Lüdke (Hg.), Materialien zur ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos – Konstruktion der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–37 Grimm, Marc (2009): Ware, Kunst, Autonomie. Ästhetik und Kulturindustrie bei Theodor W. Adorno, in: Stefan Müller (Hg.), Probleme der Dialektik heute. Wiesbaden: VS Verlag, 63– 84. Müller-Doohm, Stefan (2003): Adorno. Eine Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Niederauer, Martin (2014): Die Widerständigkeiten des Jazz. Sozialgeschichte und Improvisation unter den Imperativen der Kulturindustrie. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang. Niederauer, Martin (2015): Intime Kenner, exotische Rebellen und sensible Rivalen. Männlichkeit(en) im Jazz, in: Rosa Reitsamer und Katharina Liebsch (Hg.), Musik. Gender. Differenz. Intersektionale Perspektiven auf musikkulturelle Felder und Aktivitäten. Münster: Westfälisches Dampfboot, 150–164. Jürgen Ritsert (1996): Ästhetische Theorie als Gesellschaftskritik. Umrisse der Dialektik in Adornos Spätwerk. Frankfurt am Main. Scheible, Hartmut (2012): Kritische Ästhetik. Von Kant bis Adorno. Würzburg: Königshausen & Neumann. Wellmer, Albrecht (1985): Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 9–47. Wiggershaus, Rolf (1988): Die Frankfurter Schule. München: dtv.
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Kritisieren statt klassifizieren. Adornos Kaleidoskop Ruth Sonderegger
Wenn für Adorno in Sachen Kunst überhaupt etwas fest steht, dann ist es ihr Gesellschaftsbezug: Die Kunst – im bezeichnenden Kollektivsingular, den es erst seit dem 18. Jahrhundert in Europa gibt – ist ein Produkt der funktionalen Ausdifferenzierung von Gesellschaften, ein Resultat der Arbeitsteilung. Darüber hinaus arbeiten Kunstwerke mit Materialien, Techniken und Themen, die der general intellect hergestellt oder zumindest bearbeitet hat. Im Übrigen gehorcht das Leben der Kunstwerke auf vielfache Weise der kapitalistischen Verwertungslogik, die allem einen Tauschwert zuordnet, es somit den sprichwörtlichen Äpfeln und Birnen ebenso vergleichbar macht wie den Immobilien. Vom Spekulationswert insbesondere der bildenden Kunst seit den 1990er-Jahren einmal ganz zu schweigen. Vor dem Hintergrund des offensichtlichen Gesellschaftsbezugs der Kunst gilt Adornos Leidenschaft mehr als allem Anderen der Frage, wie viel Abstand, kritischen Abstand, ein Werk von der Gesellschaft finden kann – der Autonomiefrage also. Mit der Autonomiefrage jedoch stellt Adorno stets sofort eine weitere: Wie kann das Kunstwerk nicht zu einem bestenfalls harmlosen, schlimmstenfalls kompensatorisch behübschenden „Naturschutzpark“ (Adorno 1958/59: 83) in einer Gesellschaft werden, die in diesem Park alles erlaubt, solange seine Grenzen undurchlässig sind? Denn das Kunstwerk – bei Adorno ein normativer Begriff: ein Lob, eine Freude und ein Staunen darüber, dass es so etwas überhaupt gibt – soll seinen stets von der totalen Einhegung bedrohten Freiraum zur Veränderung der Gesellschaft nutzen. Es soll ihn zumindest dahingehend nutzen, dass die Denkmöglichkeit einer Differenz zwischen der bestehenden und einer besseren Gesellschaft eröffnet, wach gehalten oder intensiviert wird. Unmittelbare Veränderungen hingegen sind Adorno suspekt, weil sie meist lediglich kosmetischer Art sind und vorgaukeln, die bestehenden Verhältnisse könnten mir nichts dir nichts verändert werden. Wie diejenigen, die fordern, Kunst aufgrund ihrer Unfähigkeit zur substanziellen Veränderung der Gesellschaft abzuschaffen, hegen auch die Vertreter_innen unmittelbar eingreifender Kunst nach Adorno „die Illusion, die entscheidende Veränderung sei nicht versperrt“ (Adorno 1970: 373). 18
Zwei Dimensionen der Kunst-Autonomie Wie komplex Adorno die Autonomie-Frage stellt, machen zwei aufeinander verweisende Bemerkungen aus der Ästhetischen Theorie deutlich, wenn man sie von der Floskelhaftigkeit befreit, in welche die Adorno-Diskussion sie verbannt hat. Einerseits die Rede vom Doppelcharakter „autonom und fait social“ und andererseits die von der Funktion der Funktionslosigkeit. An Ort und Stelle heißt es: „Der Doppelcharakter von Kunst: der von Autonomie und fait social äußert stets wieder sich in handfesten Abhängigkeiten und Konflikten der beiden Sphären.“ (Adorno 1970: 340, vgl. 374 f.) Und: „Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren läßt, ist es ihre Funktionslosigkeit. Sie verkörpern durch ihre Differenz von der verhexten Wirklichkeit negativ einen Stand, in dem, was ist, an die rechte Stelle käme, an seine eigene. Ihr Zauber ist Entzauberung. Ihr gesellschaftliches Wesen bedarf der Doppelreflexion auf ihr Fürsichsein und auf ihre Relationen zur Gesellschaft. Ihr Doppelcharakter ist manifest in all ihren Erscheinungen; sie changieren und widersprechen sich selbst.“ (Adorno 1970: 336 f.)
An dem, was in diesen Zitaten als Autonomie der Kunst bezeichnet wird, sind zwei Dimensionen zu unterscheiden. Auf der einen Seite geht es um die relative Eigenständigkeit von Sphären in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften, die sich im Lauf der Geschichte durchaus gegeneinander verschieben, einander verdrängen und Platz für neue gesellschaftliche Teilbereiche machen können. In ausschließlich diesem Sinn spricht beispielsweise Bourdieu von der Autonomie des Kunstfelds, das sich – auch wenn es einmal etabliert und institutionalisiert ist – immer wieder neu gegen die Felder der Ökonomie, der Politik, der Wissenschaft etc. auf dem übergreifenden Feld der Macht behaupten muss. Mit der Autonomie in diesem feldspezifischen Sinn sind im Bereich der Kunst Logiken des Wahrnehmens, Urteilens und Schreibens über Kunst ebenso gemeint wie die Strukturen der Kunstausbildung sowie die Maßstäbe des Erfolgs – sei es als Künstler_in oder als Kunstinstitution – oder die Regeln des Kunstmarkts. Im Unterschied zur Logik des Immobilienmarkts ist der Preis von bildender Kunst beispielsweise nach wie vor an Konsekrationsinstanzen wie Kunstkritik, Kunstgeschichte und öffentliche Museen gebunden und richtet sich nicht nur oder gar ausschließlich nach den Spekulationen der Sammler_innen und Käufer_innen (vgl. Munder/Wuggenig 2012). Konsequenterweise ist bei Bourdieu das Feld der Kunst genauso mehr oder weniger autonom – Bourdieu spricht von relativer Autonomie – wie beispielsweise das der Wissenschaft oder das der Ökonomie (vgl. Bourdieu: 1992/1999). Aus dieser Perspektive müsste man – in Abwandlung der bekannten Formulierung Adornos – zum Beispiel auch sagen, dass die Wissenschaft (relativ) autonom und fait social ist. 19
Die zweite Dimension der Autonomie betrifft die kritische Kraft des je einzelnen Kunstwerks; seine Kraft, den herrschenden Regeln des Kunstfelds ebenso wie denen anderer gesellschaftlicher Teilbereiche zu opponieren oder sich ihnen zumindest zu entziehen. Solche Opposition und solcher Entzug richten sich gegen die Tendenz zur Reduktion aufs immer Gleiche; eine Tendenz, die Adorno zufolge in der Sprache und in Wahrnehmungsschemata angelegt ist und in den Kontrollmechanismen der Wissenschaft und des Kapitalismus zu einer überwältigenden und gewaltvollen Blüte kommt. Auch die selektiven Weltbilder des Antisemitismus, Rassismus, Sexismus oder Klassismus sind gewissermaßen nur Fortsetzungen beziehungsweise spezifische Ausprägungen der Kontrollmechanismen, die dem Denken und Wahrnehmen eingeschrieben sind, wenn sich Praktiken des Denkens und Wahrnehmens nicht unablässig selbstkritisch ihrer pervers natürlichen Neigung widersetzen. Bei diesem Kontrollwahn geht es nicht nur um den Ausschluss von emphatisch Neuem und Fremdem zugunsten des Bekannten, das heißt Normalisierten. Auch alle Elemente des bereits Bekannten werden so beschnitten, bis sie quantifizierbar und miteinander verrechenbar sind.1 Diese Diagnose will Adorno nicht auf das Leben im (Post-)Faschismus oder im (Post-)Stalinismus beschränkt sehen. Den oft vorgebrachten Einwand gegen seine These von der gesellschaftlichen Tendenz einer Reduktion aufs immer Gleiche, es verändere sich doch ständig eine Menge geradezu rasend schnell, ließe Adorno wohl nicht gelten. Er würde vielmehr darauf verweisen, dass das, was sich verändert, sich hinter unserem Rücken transformiert, ohne dass wir darauf viel Einfluss hätten und bewusste substanzielle Eingriffe hingegen kaum möglich seien. Bestimmte Veränderungen auch nur zu denken, fällt heute in der Tat mindestens ebenso schwer wie in Adornos Tagen. Mit der Perpetuierung des Status quo beweisen wir jeden Tag aufs
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Jacques Rancière, dessen Denken Adorno in vielen Dimensionen nahe kommt, spricht von der Tendenz zum immer Gleichen als einer zum Konsens. Zum gesellschaftlichen Konsens gehört bei Rancière nicht nur eine weitgehende Übereinstimmung in Fragen der Wahrnehmung, des Urteilens und des Handelns, sondern auch die Hypostasierung, dass der jeweils bestehende Konsens alternativlos ist und alle innerhalb eines konsensuellen Gemeinwesens auftretenden Konflikte einer Lösung zugeführt werden können. Aufgebrochen werden derartige Konsense nur selten – und zwar in Akten einer „Neuaufteilung des Sinnlichen“, die Rancière Akte des Dissenses und der politischen Subjektivierung nennt. Die Politik der Kunst zielt nicht weniger auf einen solchen Dissens als das im engeren Sinn politisch-emanzipatorische Handeln. (Vgl. Rancière 1995/2002) Bei Adorno sind die Möglichkeiten, den herrschaftlichen Konsens mit Dissens zu konfrontieren genau so rar wie bei Rancière. Im Unterschied zu Rancière misstraut Adorno jedoch den politischen Eingriffen. Er hält sie für unterkomplex, halbherzig und im Bund mit dem Status quo. Adorno artikuliert und perhorresziert darüber hinaus immer wieder einen Zustand, in dem das, was Rancière Konsens nennt, nicht mehr als Konsens wahrgenommen oder gar artikuliert werden kann, weil jeglicher Dissens verschwunden ist.
Neue, dass wir uns nicht vorstellen können, was eine Welt ohne (Profit-) Wachstum wäre, dass Umverteilung und Entschuldung möglich sind, dass man etwas gegen die allgegenwärtige Überwachung tun könnte, dass Zeit im Überfluss da ist. An der zweiten, widersetzlichen Autonomie des einzelnen Werks ist Adorno letztlich viel mehr interessiert als an der feldspezifischen Eigengesetzlichkeit der Kunst. Wo Adorno über die Autonomie des Kunstfelds spricht, kommt sie fast durchweg aus der Perspektive und mit dem Interesse an der kritischen Kraft des einzelnen Werks in den Blick. Gegenüber der Autonomie des einzelnen Werks ist die Feldautonomie – verstanden als die Summe jener Logiken, die einen etablierten gesellschaftlichen Bereich stabilisieren, normalisieren, reproduzieren und auch ausweiten – das glatte Gegenteil jener Freiheit, die das Kunstwerk aus nichts als Bestandteilen des Normalisierten und Kontrollierten zu entwerfen beansprucht. Die Spaltung der Autonomie drückt sich nicht zuletzt in zwei Wissensund Schreibformen aus, die sich zunehmend gegeneinander verfestigt haben. Die Kunstsoziologie untersucht vor allem die Mechanismen der Stabilisierung der Feldautonomie. Die widersetzliche Kraft des einzelnen Werks hingegen, der es ja gerade um eine Alternative zur Reproduktion des Normalisierten geht, kann eine Soziologie bestehender Strukturen nicht erfassen. Das ist dem kunstkritischen Schreiben vorenthalten, das sich auf eine Dynamik einlässt, die alle Normalität und Wahrscheinlichkeit Lügen straft. Gerade Adorno hat die Begrenztheit des soziologischen Zugangs zur Kunst, seine „administrativen und kommerziellen Bedürfnisse“ (Adorno 1959: 101) reflektiert und artikuliert. Gleichwohl hat Adorno die Soziologie nie verworfen, sie sich aber viel spekulativer gewünscht (vgl. Adorno 1970: 371 f.). Das muss man wohl so verstehen, dass Adorno zufolge die eine Seite der Autonomie nicht ohne eine Reflexion auf die jeweils andere begriffen werden kann.2
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Bezeichnender Weise kommt auch Bourdieu in seinen späten Schriften zum Schluss, dass die widerständige Autonomie einzelner Werke gerade in der Gegenwart nicht auf eine bürgerliche Distinktionsideologie reduziert werden darf. Vielmehr kann diese Autonomie – in und aufgrund ihrer Bedrohtheit angesichts der neoliberalen Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Felder – zum Paradigma des kritischen Einspruchs werden. Beispielhaft für dieses veränderte Verständnis von Autonomie sind das „Postskriptum“ zu den Regeln der Kunst (Bourdieu 1992/1999: 521-535) sowie Bourdieus Auseinandersetzung mit Hans Haacke. Im Gespräch mit Hans Haacke geht Bourdieu so weit zu behaupten, dass künstlerische Interventionen wie jene von Haacke oder Andrea Fraser den kritischen Intellektuellen und Gewerkschaften weit voraus sind. Letztere hätten „einen Rückstand von drei oder vier symbolischen Kriegen”. Sich von der Philosophie nicht weniger distanzierend als von der Soziologie meint Bourdieu im Gespräch mit Hans Haacke weiter: „Ich vermute, daß Ihre Arbeit wegweisend für das ist, was die Intellektuellen tun könnten. Und daß sie als kritische Analyse dessen dienen kann, was heute in der Forschungsarbeit das Moment der Wissensvermittlung ist, im
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Vorläufig zusammenfassend könnte man sagen: Während die erste Kunst-Autonomie eine gegenüber den anderen gesellschaftlichen Feldern relativ autonome, jedoch zu jeder Zeit umkämpfte Eigengesetzlichkeit im Sinn einer spezifischen Funktion meint, verweist die zweite auf eine prinzipielle Widersetzlichkeit: auf die Kritik normalisierter Funktionen. Die erste Autonomie ist nichts anderes als ein fait social (das Kunstfeld) neben anderen faits sociaux (die Felder der Ökonomie, der Wissenschaft, der Politik etc.). Erst die zweite Autonomie macht die Spannung auf, um die es Adorno geht: Das singuläre Kunstwerk ist zwar Teil eines normierenden und klassifizierenden Kunstfelds, das seinerseits Teil einer Gesellschaft ist, die normalisiert (und sei es dahingehend, dass das Neue, die Ausnahme, das Ungehorsame der Kunst im Modus des Imperativs normalisiert werden). Gleichzeitig widersetzt sich das Kunstwerk aber auch durch seine Funktionslosigkeit. Damit komme ich auf das zweite zur Adornofloskel gewordene Zitat zu sprechen. Die von Adorno geltend gemachte Funktion der Funktionslosigkeit ist merkwürdig: nämlich letztlich eine Funktionslosigkeit mit gesellschaftlicher Funktion. Es handelt sich also gerade um keine absolute, sondern eine bestimmte Funktionslosigkeit. Ich möchte vorschlagen, das so zu verstehen: Beim Kunstwerk handelt es sich um etwas, das (nur) aus der Perspektive der gesellschaftlich akzeptierten (und äußerst beschränkten) Funktionen als Funktionslosigkeit erscheinen muss. Zweitens, und umgekehrt, hat das, was aus gesellschaftlicher Perspektive nur als Funktionslosigkeit erscheinen kann, eben eine Funktion: die Funktion, jene im gesellschaftlichen Konsens der Aufteilung in verschiedene Sphären implizit behauptete Alternativlosigkeit praktisch zu widerlegen und damit eine andere Gesellschaft denk- und wünschbar zu machen. Es ist die Funktion der (Gesellschafts-)Kritik. Die Kantische Formel von der Zwecklosigkeit ohne Zweck mag zwar in Adornos Funktion der Funktionslosigkeit nachklingen. Dazwischen liegt jedoch eine Differenz ums Ganze. Während die Zwecklosigkeit bei Kant auf ein prinzipielles Als-ob verweist – jedes Kunstwerk erweckt den Eindruck einer Zweckhaftigkeit, der sich bei genauerem Hinsehen verflüchtigen muss, wenn ein Artefakt tatsächlich ein Kunstwerk ist3 –, meint Adornos Funktionslosig-
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Vergleich zum Moment des Konzipierens, des Erkundens. Es ist offensichtlich, daß die Intellektuellen sich nicht um das Moment der Performanz kümmern, daß sie es nicht zu einem Forschungsgegenstand machen. Und sie sind wohl genau deshalb so wenig wirksam.“ (Bourdieu/Haacke: 1994/1995: 26 f., 112) Vgl. insbesondere das dritte der vier kantischen „Momente“ (d. h. Bestimmungen des Schönen), das er folgendermaßen zusammenfasst: „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“ (Kant: 1790/1974: 155)
keit das, was vor dem Hintergrund einer historisch und geopolitisch konkreten Einrichtung der Gesellschaft keinen funktionalen Sinn macht. Oder anders gesagt: Während Kants Bestimmung des Kunstwerks universell und ahistorisch ist, zielt diejenige von Adorno auf Objekte, die ihre kritische Kraft (nur) zu einer bestimmten Zeit und in Bezug auf mehr oder weniger funktionalistisch zugerichtete Gesellschaften entfalten. Wie alle Wahrheit hat auch diejenige des Kunstwerks Adorno zufolge einen Zeitkern. Damit ist nur noch einmal betont, wie sehr das einzelne Kunstwerk bei Adorno nicht unabhängig von seinem gesellschaftlichen Kontext verstanden werden kann, wie durch und durch sie miteinander verbandelt sind: Als Gesellschaftskritik hängt die Verfasstheit des singulären Kunstwerks vom Zustand der Gesellschaft nicht nur ab, weil es auf die Materialien, Institutionen und sozialen Beziehungen innerhalb dieser Gesellschaft angewiesen ist; womit sollte ein Kunstwerk auch sonst arbeiten. Auch die jeweils erst zu erfindende Verwandlung der vorgefundenen Materialien ist insofern auf Gesellschaft bezogen, als sie die jeweilige Gesellschaft in ihren normalisierten Funktionen treffen muss. Deshalb sollte man das Zitat von der Funktion der Funktionslosigkeit nicht als zeitlose Wesensbestimmung der Kunst verstehen, sondern als einen zunächst einmal ziemlich leeren Hinweis, der nur mit Bezug auf die jeweilige Gesellschaft eine genauere und unabdingbar inhaltliche Bestimmung erhält. Die Funktionslosigkeit eines Kunstwerks besteht also darin, genau diejenigen Funktionen zu artikulieren und damit auch ihre Alternativlosigkeit zu transzendieren, die einer spezifischen Gesellschaft als normal, ja unhintergehbar gelten. Wo Gesellschaft totalitäre Durchfunktionalisierung in Bezug auf feststehende Zwecke und Reduktion auf das Quantifizierbare aller Lebensbereiche bedeutet – und so sieht Adorno sein gesellschaftliches Umfeld –, wird das Kunstwerk in die äußerste Ecke der Hermetik, der Vergeistigung, des l’art pour l’art getrieben, und zwar um Willen der Gesellschaft, aus Leidenschaft für die Gesellschaft; oder besser: aus Leidenschaft für eine andere Gesellschaft. Dass radikal hermetische und vergeistigte Kunst jedoch nicht die einzig vorstellbare oder wünschbare Weise ist, das Gebot der Funktion der Funktionslosigkeit zu erfüllen, machen Adornos Bemerkungen zum Falschen der vergeistigten Hermetik mehr als deutlich: Die Entsagung gegenüber den durchaus legitimen Funktionen des Genusses, des Amüsements, der Leichtigkeit, der zerstreuten Rezeption etc. ist nur in gesellschaftlich extremen Situationen in Kauf zu nehmen, aber nicht zu verklären. Je totalitärer die gesellschaftlichen Bedingungen im Sinn der Funktionalisierung sind, desto mehr ist l’art pour l’art zwar das Gebot der Stunde, aber auch in dieser Situation nicht nur Kunst um Willen der Kunst, sondern Kunst um Willen einer anderen Gesellschaft. 23
Dass es zu jeder Zeit genau eine richtige Weise der Kritik gibt, wie Adorno oft vorgeworfen wurde, scheint mir dabei nicht Adornos These zu sein.4 Das Ringen der Kunstwerke um eine Differenz zwischen Sein und Anderssein kann unter ein und denselben Bedingungen extremer Funktionalisierung durch sinnliche Schönheit, die eine Sehnsucht nach mehr erzeugt, ebenso gewonnen werden wie durch maximale Angleichung an den Status quo, wenn dieser Angleichung eine Bewusstwerdung der scheinbar alternativlosen und daher geschlossenen Anstalt des Normalen gelingt.
Die Dialektik des Schönen Während in der Ästhetischen Theorie die ästhetische Praxis der Überidentifikation mit dem unerträglichen Status quo – etwa in den Bemerkungen zu Kafkas Schreibweise als einer „Mimesis an die Verdinglichung“ (Adorno 1970: 342), an das gänzlich Verabscheuungswürdige – im Vordergrund steht, legt Adorno in der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 (zumindest in den Vorlesungen 9, 10 und 11) den Akzent auf die kritische Kraft der Schönheit und beschäftigt sich in diesem Zusammenhang ausgiebig mit Platos „Lehre von der Liebe“ (Adorno 1958/59: 141). In Adornos Lektüre des Phaidros und des Symposiums werden Platos Ausführungen zur Idee des Schönen und zu dieser Idee als etwas selbst Schönem zu einer gänzlich un-idealistischen Bewegung so negativer wie positiver dialektischer Erkenntniserfahrung. Denn „Schönheit“ bezeichne bei Plato keine Eigenschaft oder ein Objekt, sondern „ein Spannungsverhältnis zwischen Bedingtheit und Unbedingtheit, nämlich […] jene Bewegung, die die bedingten Wesen im Angesicht des Unbedingten ergreift und sie nun über den Umkreis der Bedingtheit selber […] eben hinaushebt“ (Adorno 1958/59: 147). Dieses Hinausgehobenwerden und im wörtlichsten Sinn Außer-sichSein, das Plato und Adorno nicht umsonst einen Wahnsinn nennen, ist aber keine ausschließlich positive Erfahrung, sondern auch eine des Schmerzes. Der Grund des Schmerzes sei eben der, „daß im Angesicht des Schönen, nämlich in der Erfahrung der Möglichkeit eines Unbedingten, die Menschen der eigenen Bedingtheit, der eigenen Fehlbarkeit innewerden. Der Schmerz, das Leiden, ist gewissermaßen die einzige Gestalt, in der wir im Angesicht des Schönen überhaupt als bedingte Wesen die Utopie denken, fühlen, erfahren können.“ (Adorno 1958/59: 147)
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Vgl. auch den Beitrag von Ines Kleesattel in diesem Band.
Außergewöhnlich an dieser Plato-Interpretation ist zunächst einmal, dass schön und begehrenswert nicht nur konkrete Objekte sind – bei Plato bekanntlich insbesondere Männerkörper –, die zur Suche nach dem absolut Schönen, nach der abstrakten Idee des Schönen, stimulieren. Vielmehr wird der unbedingten Idee des Schönen selbst ein sinnliches Element zugeschrieben. Zustimmend zitiert Adorno deshalb Platos Bemerkung: „‚Tatsächlich ist es allein die [Idee der, RS] Schönheit, der das beschieden ward, zugleich in höchstem Grade sinnfällig und liebenswürdig zu sein.‘“ (Adorno 1958/59: 156) Dabei ist die Dynamik, die sich zwischen diesen aufeinander verweisenden Polen entfaltet, keine Einbahnstraße vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, sondern eine wechselseitige. Entfaltet wird dieser Prozess im begehrenden Erkennen, in der Praxis der Philosophie, die die Liebe in ihrer Wortwurzel hat. Adorno geht so weit zu behaupten, dass dieser Erkenntnisprozess „das Leben der Sache selbst“ ist (Adorno 1958/59: 150). In Adornos Lektüre ist Plato nicht länger ein gänzlich statischer Denker, dem es um Begriffsdefinitionen geht.5 Und die in seinen Dialogen verhandelte Liebe ist alles andere als eine „platonische“ im umgangssprachlichen Sinn des Wortes. Aber auch in Bezug auf gängige, nicht zuletzt von Adorno selbst immer wieder aufgerufene Vorstellungen von negativer Dialektik, ist Adornos Auseinandersetzung und Identifikation mit Plato ein schöner Wahnsinn. Der mit Plato rekonstruierte Erkenntnisprozess ist nämlich durchaus mehr als ein fortlaufender Aufschub des Unbedingten, zu dem man sich dem üblichen Verständnis von negativer Dialektik zufolge immer nur strebend bemühen und das man sich noch nicht einmal ausmalen kann. Diesem Verständnis zufolge wird alles Richtige und Schöne (für negative Dialektiker_innen) auf das Ende der Geschichte verlagert oder (für konventionelle Platoniker_innen) in einen unerreichbaren Ideenhimmel. Die Gefahr, die dem negativ dialektischen Bilderverbot eingeschrieben ist, hat Adorno bei aller Neigung es zu fordern, selbst klar gesehen. In einer Diskussion mit Ernst Bloch beschreibt er es folgendermaßen: „Denn dadurch, daß es uns verboten ist, das Bild zu machen, passiert auch etwas sehr Schlimmes. Nämlich daß zunächst einmal man sich dann unter dem, was da sein soll, je mehr es nur als negatives gesagt werden kann, umso weniger mehr vorstellen kann. Dann aber, und das ist wahrscheinlich noch viel beängstigender,
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Wolfram Ette zeigt, dass sowohl Plato als auch Adorno ihre Texte so konstruieren, dass man sich der Erkenntnisdynamik zwischen dem sehnendem Schmerz nach mehr von dem Unbedingten, das jedes konkrete Schöne verheißt, einerseits und der glückender Erkenntnis andererseits nur schwerlich entziehen kann. Die meisten Texte, auch die philosophischen, sind hingegen so verfasst, dass sie diese Dynamik negieren, indem sie beanspruchen, Fertiges mitzuteilen – indem sie belehren (vgl. Ette 2013).
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tendiert dieses Verbot über der konkreten Aussage über die Utopie dazu, das utopische Bewusstsein selber zu diffamieren und das zu verschlucken, worauf es eigentlich ankäme, nämlich diesen Willen, daß es anders ist.“ (Adorno/Bloch 1978: 363)6
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, aber umso wichtiger, was Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Plato über das Schöne als etwas Unbedingtes und Überschüssiges sagt: nämlich, dass es im Prozess der Erkenntnis nicht nur unausgemalte Utopie ist, sondern „zugleich die Utopie und die Distanz von der Utopie verkörpert“ (Adorno 1958/59: 162).7 Vor allem das Wort „verkörpert“ hebt dabei die konkrete Aktualität hervor. Diese Erkenntnisdynamik sieht Adorno nicht nur im Verhältnis zwischen den schönen Erscheinungen und der unbedingten Idee des Schönen am Werk, wie Plato sie im Symposium und im Phaidros erläutert und auch in Bewegung setzt. In der weiteren Auseinandersetzung mit Plato spürt Adorno eine ähnliche Dynamik im Kunstwerk auf, wodurch dieses in ein besonders intimes Verhältnis zur philosophischen Erkenntnis gerückt wird. In beiden Prozessen geht es um die „Organisation“ und „Einheit“ des Sinns. An dieser Einheit – oder anders gesagt: Nicht-Beliebigkeit, Objektivität, ja Unbedingtheit – hält die Frage nach dem Wesen des Schönen genauso fest wie das Fragen nach dem Sinnzusammenhang der einzelnen Elemente des Kunstwerks, den Adorno als „Wahrheitsgehalt“ bezeichnet. Insbesondere den Momenten des Zusammenschießens zur Einheit wohnt dabei Adorno zufolge etwas von realisiertem Erkenntnisglück und konkreter, sinnlicher Schönheit inne. Aber das heißt nicht, dass Adorno Schönheit für die – wie er gerne sagt: blitzhafte – Erkenntnis des Wahrheitsgehalts reserviert. Vielmehr spricht er auch der sinnlichen Schönheit einzelner Elemente – er spricht bewusst und affirmativ von „schönen Stellen“ (Adorno 1965, Adorno 1958/59: 182) – eine Erkenntnis-motivierende Kraft zu. Ganz so, wie Sokrates die Schönheit von Männern als sehr geeignet, ja nötig für das Lieben und Sehnen als Erkenntnisprozessen gepriesen und ausgekostet hat. Damit ist dem einzelnen sinnlichen Moment der Schönheit nicht nur die Kraft zugesprochen, die Suche
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Auf dieses Zitat wurde ich durch Bini Adamczaks Auseinandersetzung mit der kommunistischen Utopie aufmerksam gemacht. Vgl. insbesondere den Abschnitt „Und nun? ‚Ich hätte von dem Negativ gerne einen Abzug‘. Von Standpunkten und Parkplätzen“, in: Adamczak 2010, 74-79. Dass Platos Ideenlehre von einer Überschüssigkeit handelt, die alles Richtige und Wahre genau nicht auf das Ende der Geschichte oder in ein unerreichbares Ideenreich verlagert, betont auch Sandra Lehmann (vgl. Lehmann 2014). Was ich an anderer Stelle als Spannung zwischen negativer Dialektik und konstellativem Denken bei Adorno bezeichnet habe, zeigt sich in seiner Plato-Lektüre eher als das Verhältnis eines fruchtbaren Ineinander. Vgl. Sonderegger 2011. Vgl. auch Ette 2013, insbesondere Fn. 47.
nach mehr zu motivieren. Es trägt damit auch etwas vom Unbedingten in sich. Auf die Logik des Kunstwerks übertragen rehabilitiert das auch jene „vulgäre Kunst oder Massenkultur – oder wie immer Sie das nennen mögen“ (Adorno 1958/59: 181), die nicht so durchgebildet ist, dass man von Anfang an im Erkenntnisprozess, der die einzelnen Elemente miteinander vermittelt, aufgehoben wäre. Nachdem Adorno das Auseinanderfallen in sinnliche Einzelmomente zunächst der vulgären Kunst zugeschlagen hatte, behauptet er im weiteren Verlauf der Vorlesung dann aber: „Ich möchte sagen, daß dieses Moment des Auseinanderbrechens in sogenannte schöne Stellen oder einzelne sensuelle Reize eigentlich die Kunst immer wieder begleitet hat“ (Adorno 1958/59: 182). Er fügt zwar hinzu, dass das für die Kunstwerke „ein Gefahrenmoment“ sei, lässt die Debatte über hoch und niedrig dann aber wieder weniger streng mit der Bemerkung abbrechen: „Lassen Sie mich dem nur noch hinzufügen, daß jenes Moment des sensuellen, kulinarischen Einzelnen, das die Einheit des Kunstwerks zu sprengen droht, offenbar dort noch am ehesten legitim ist, wo es unvermittelt sich selbst bekennt, ohne sich als ein Höheres zu maskieren. Also etwa in bestimmten Revuen oder Filmrevuen, in denen die Präsentation eines Sinnzusammenhanges schon fast gar nicht mehr erhoben wird, sondern wo das Kunstwerk ganz vorbehaltlos diesen sensuellen Momente sich ausliefert, kann gerade aus diesen der Fessel ledigen sensuellen Elementen etwas wie ein zweiter geistiger Zusammenhang sich komponieren, während dort – sagen wir in der Musik von Tschaikowskij oder anderen großen schlechten Komponisten –, wo der Anspruch des Kunstwerks erhoben wird, aber man gleichwohl merkt, daß es in Wirklichkeit nur darauf ankommt, Themen miteinander zu verbinden, die die Herrschaften, wenn sie nach Hause gehen, gut behalten können […].“ (Adorno 1958/59: 183 f.)
Gerade die in ihre einzelnen schönen Stellen zerfallenden (vulgären) Werke beziehungsweise die Momente des Zerfalls (der weniger vulgären) machen in ihrer Sinnlichkeit offenbar, was Adorno von jeder Erkenntnis mitzudenken fordert: die Differenz zwischen Begriff und Sache, den Spalt zwischen der richtigen Einsicht und ihrer sinnlichen und politischen Verwirklichung. Gerade die in ihre schönen Stellen zerfallenden Werke sind „Utopie und […] Distanz von der Utopie“ (Adorno 1958/59: 162).
Der Zusammenhang von Kunst, Essayistik und Philosophie Wenn man Adornos Erwartung an die Kunst, ja ihre Verpflichtung auf das Öffnen und Offenhalten des Spalts zwischen Sein und Anderssein ernst nimmt und ihm darin folgen will, dann ist nicht nur die hierarchische Un27
terscheidung zwischen hoher und niedriger, vulgärer, populärer oder sogenannter angewandter Kunst zu überdenken. Auch die Wichtigkeit einer (klaren) Unterscheidung zwischen Kunst, Essayistik und Philosophie schwindet; um zumindest die wichtigsten Felder zu nennen, die Adorno immer wieder mit der Kunst kontrastiert und eben doch auch verbindet. Der Freiraum, welchen das nie zur Ruhe kommende, selbstkritische Denken, das Adorno mit „Philosophie“ meint, eröffnen soll, ist kein anderer als der, dem auch die Dynamik des emphatisch autonomen Kunstwerks gilt. Und nicht weniger als die Kunst ist das philosophische Denken durch seinen „Doppelcharakter“ bestimmt (Adorno 1977: 761). Auch in der Philosophie geht es darum, eine Differenz zur herrschenden Logik des immer Gleichen und miteinander Verrechenbaren mit Begriffen – aber wie man an den Texten Platos und Adornos sehen kann, nicht nur mit Begriffen, sondern auch mit Satz- und Erzählkonstruktionen, Bildern und Lauten, Parataxen und Übertreibungen – zu erringen. Schließlich kreist auch die Philosophie um die „unauslöschliche Farbe“: „Mythisch ist das Immergleiche, wie es schließlich zur formalen Denkgesetzlichkeit sich verdünnte. Erkenntnis, die den Inhalt will, will die Utopie. Diese, das Bewußtsein der Möglichkeit, haftet am Konkreten als dem Unentstellten. […] Die unauslöschliche Farbe kommt aus dem Nichtseienden. Ihm dient Denken, ein Stück Dasein, das, wie immer negativ, ans Nichtseiende heranreicht.“ (Adorno 1966: 66) Und wie Kunstwerken ihr Abstand zur Gesellschaft häufig in der Form von neutralisierenden Institutionen und Traditionen des Bildungsguts zum Verhängnis wird, so lässt sich auch Philosophie, die nicht freudig mitmacht, oft als sogenanntes Nischen- oder Orchideenfach kalt stellen – in die universitäre Themen- und Naturschutzparks sozusagen. Dem entsprechend teilen die autonome Philosophie und Kunst auch ihre Schwächen: „Wohl sind ihrer [der Kultur, R.S.] Autarkie die große spekulative Metaphysik und die mit ihr bis ins Innerste verwachsene große Musik zu danken. Zugleich aber ist in solcher Vergeistigung von Kultur deren Ohnmacht virtuell bereits bestätigt, das reale Leben der Menschen blind bestehenden, blind sich bewegenden Verhältnissen überantwortet.“ (Adorno 1959: 94)
Nicht anders verhält es sich mit Bezug auf den Essay, von dem Adorno sagt, er sei weder Philosophie noch Kunst, mit beiden aber wesensverwandt. „Durch sie [die Kraft, die Elemente des Gegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen, R.S.] ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbständigkeit, die leicht als der Kunst bloß entlehnt angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidet, und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins.“ (Adorno 1958: 11)
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Es mag irritierend sein, dass Adorno hier zunächst einmal nahe legt, dass der Essay wirklich Kunst sei und ihr also nicht „bloß entlehnt“, um dann zu behaupten, der Essay unterscheide sich von der Kunst grundsätzlich – nämlich durch seinen Wahrheitsanspruch. Die Irritation weicht, wenn man sich Adornos Denken als einer Art Kaleidoskop nähert, das – je nach dem, wie man es hält und hineinblickt – immer neue Gestalten der Gesellschaftskritik zeigt: manchmal die eines Kunstwerks, bisweilen des Essays, aber auch die der Philosophie in Gestalt des negativ dialektischen Denkens, ja sogar die Gestalt der emphatisch schönen Kunst (des Amüsements). Eben weil Adornos unbändig gesellschaftskritische Sehnsucht nur einem gilt: dem Entkommen aus dem mythologisch naturalisierten Wiederholungszwang unter dem Diktat der berechenbaren Funktion. Lässt man sich auf das Ineinandergleiten dieser verschiedener Genres als Praktiken der Kritik bei Adorno ein, so muss man es nicht länger anstößig finden, dass er seinen Leser_innen nicht sagt, wo genau die Grenzen zwischen Kunstwerk, Essay und negativ kritischem Denken verlaufen. Dann ist es auch nicht erstaunlich oder nachlässig, dass Adorno die oben schon zitierte Farbe der Philosophie (wo sie denn farbig und nicht eine vertrocknete Orchidee oder eine beliebige Karrieremöglichkeit ist, wie im Bologna-Land fast immer (vgl. Klaue 2013), mit den fast identischen Worten beschreibt wie die Farbe des Essays: „Die Befreiung vom Identitätszwang schenkt dem Essay zuweilen, was dem offiziellen Denken entgleitet, das Moment des Unauslöschlichen, der untilgbaren Farbe.“ (Adorno 1958: 26) Der Essay seinerseits verschreibt sich dem Glück und der Neugier als dem „Lustprinzip des Gedankens“ als wäre er jener niedrigen Kunst ganz nah, die sich ans Kulinarische und an das Amüsement heftet und darin nach Adorno gegen die hohe Kunst immer auch Recht behält. „,Leichte‘ Kunst als solche, Zerstreuung, ist keine Verfallsform. Wer sie als Verrat am Ideal reinen Ausdrucks beklagt, hegt Illusionen über die Gesellschaft. […] Ernste Kunst hat jenen sich verweigert, denen Not und Druck des Daseins den Ernst zum Hohn macht und die froh sein müssen, wenn sie die Zeit, die sie nicht am Triebrad stehen, dazu benutzen können, sich treiben zu lassen. Leichte Kunst hat die autonome als Schatten begleitet. Sie ist das gesellschaftlich schlechte Gewissen der ernsten. Was diese auf Grund ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen an Wahrheit verfehlen musste, gibt jener den Schein sachlichen Rechts.“ (Horkheimer/Adorno 1944: 143 f.)
Ganz ähnlich wie Adorno über die Unterhaltungskunst der Zerstreuung schreibt, sie sei das schlechte Gewissen der ernsten Kunst, weil die ernste das Glück der Zerstreuung preis gegeben hat, sagt er über den Essay im Verhältnis zum ernsten Denken: 29
„Spürbar ist die Glücksfeindschaft des offiziell kritischen Gedankens zumal in Kants transzendentaler Dialektik, welche die Grenze zwischen Verstand und Spekulation verewigen möchte und, nach der charakteristischen Metapher, das ‚Ausschweifen in intelligible Welten‘ verhindern. Während Vernunft, die sich selbst kritisiert, bei Kant mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht, sich selbst begründen soll, dichtet sie sich dem innersten Prinzip nach ab gegen jegliches Neue und gegen die auch von der Existentialontologie beschimpfte Neugier, das Lustprinzip des Gedankens.“ (Adorno 1958: 30)
Der Essay dagegen ist listig und spielerisch (vgl. Adorno 1958: 27) und dem „Glück[s] einer Freiheit dem Gegenstand gegenüber“ verpflichtet, „welche diesem mehr von dem seinen gibt, als wenn er unbarmherzig der Ordnung der Ideen eingegliedert wäre“ (Adorno 1958: 30). Wenn Adorno an einer Stelle schreibt, der Essay sei „die kritische Form par excellence; und zwar als immanente Kritik geistiger Gebilde, als Konfrontation dessen, was sie sind, mit ihrem Begriff, Ideologiekritik“ (Adorno 1958: 7), so verstehe ich das dementsprechend nicht als ranking. Der Essay macht nur besonders augenfällig, was Adorno von allen Formen der Kritik verlangt: dass sie nämlich an ihrer Darstellungsform genauso arbeiten wie an der Sache der Kritik. Adornos Superlative scheinen weniger das Resultat von Vergleichen als der Tatsache geschuldet zu sein, dass wo immer er sich mit einer spezifischen Form überzeugender Kritik befasst, sich gar nichts anderes vorstellen kann, als dass sie die gelungenste sei. In dem Moment, in dem Adorno ihn liest, ist Kafka der größte Schriftsteller; und zwar in einem solchen Sinn von groß, dass Kafkas Größe die Rückert Lieder so wenig klein macht wie The Wire oder Amitav Goshs Ibis Trilogy oder Anzalduas Borderlands/La Frontera. The New Mestiza. Eben weil es Adornos keineswegs unkritische Hingabe immer wieder gelingt, jegliches hierarchisierende Vergleichen zu unterlaufen. Damit will ich nicht sagen, dass es keine unterschiedlichen Vorgehensweisen zwischen Adornos Negativer Dialektik, Anzaldúas Borderlands/La Frontera. The New Mestiza und Kafkas Fabeln gibt. Sehr wohl aber möchte ich glaubhaft machen, dass aus Adornos Perspektive die Differenz zwischen diesen unterschiedlichen Formen der immer auch unbändig selbstkritischen Kritik, die gleichzeitig auch positive Entwürfe einer Differenz zum Bestehenden sind, nicht das Wichtigste ist. Die klassifikatorische Frage nach der Differenz zwischen verschiedenen Genres der Kritik ist gegenüber der Frage, ob und wie es je singulären Anstrengungen gelingt, die kritische Differenz zwischen Sein und Anderssein aufzumachen, sekundär. Wenn Adorno die Klassifikationsfrage zugunsten der Kritik zurückstellt, so ist das keineswegs mit Relativismus zu verwechseln, im Gegenteil. Nichts anderes als das Festhalten am Unbedingten führt Adorno auf das je Singuläre 30
einer kritischen Praxis. Nur durch Erkenntnis, im Prozess des unbedingten Wissenwollens, was etwas ist und wie es, wenn es denn Kritik ist, das Vorgefundene tanzen lässt, zergehen die Klassifikationen. Auch der Einwand, dass ein so verstandener Adorno zumindest mit Plato, dem Vater der Wesensfragen nicht unter einen Hut zu bringen sei, verfängt kaum. Adorno, der sich diesen Einwand selbst machte, reagiert darauf mit der Bemerkung: „ […] obwohl ich mir auch hier vielleicht den allgemeinphilosophischen Hinweis erlauben darf, daß, wenn man sich die Platonischen Dialoge – auch die seiner früheren Zeit –, die auf Definitionen hinauszulaufen schienen, ansieht, man immer darauf stoßen wird, daß sie eigentlich am Ende die Definition versagen, sondern mit einem non liquet, mit einem Moment des Offenen schließen. Es ist also offenbar das Vertrauen Platons in die Definition nicht entfernt so groß gewesen, wie die von ihm gewählte definitorische Methode es erschienen läßt.“ (Adorno 1958/59: 148)8
Das Kaleidoskop der Kritik Adorno lotet nicht nur die Schwächen selbst der überzeugendsten Formen von Kritik aus. Er stellt auch Überlegungen dazu an, wie sie einander zu Hilfe kommen können. Am explizitesten hat er das zweifelsohne in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kunstwerken, die aufgrund ihrer Begriffsferne der Philosophie bedürfen, und der Philosophie, die wegen ihrer Befangenheit im Begriff schwer zu den Sachen kommt, getan. Er schließt noch nicht einmal aus, dass es Texte geben könnte, in denen Literatur und Philosophie sich so nahekommen, dass man dazwischen nicht mehr stringent unterscheiden kann; allem voran Platos Phaidros (vgl. Adorno 1958/59: 142 f.). Ähnlich deutet Adorno immer wieder an, dass die ernste Kunst der sogenannten leichten bedarf, um sich ihres Verrats am Amüsement und an der Zerstreuung bewusst zu bleiben. Weniger offensichtlich – und insbesondere in der Rezeption arg vernachlässigt – ist der Zusammenhang zwischen den bislang erwähnten Genres der Gesellschaftskritik mit Adornos kritischer Praxis als Hochschul- und insbesondere Radio-Lehrer. Noch mehr als seine bildungstheoretischen Schriften und seine Vorlesungstätigkeit bezeugt Adornos Vortragspraxis im Radio sein Ringen um eine verständliche, aber nicht vereinfa-
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Mit dieser Einschätzung kommt Adorno Foucault sehr nahe, der in seinem letzten Vorlesungszyklus minutiös rekonstruiert, inwiefern bei Plato die abendländische Wesensmetaphysik ebenso angelegt ist wie eine Praxis der parrhesiastischen Kritik. (Vgl. Foucault 2009, Foucault 2010. Zur Nähe zwischen Foucault und der kritischen Theorie vgl. Sonderegger 2012).
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chende Sprache. Diese Praxis lässt sich als Einwand gegen das oft elitäre Selbstverständnis philosophischer und künstlerischer Kritik verstehen, solange diese Kritikgenres nicht selbst auch einen Beitrag zur Öffnung des Zugangs zu ihnen leisten (können). Zurecht spricht der Herausgeber der aus dem Nachlass veröffentlichten adornoschen Radiotheorie von Adorno als einem „musikpädagogischen Rundfunkerzieher“ (Hullot-Kentor 2006: 60). Adorno entfaltet in seinem öffentlichen Reden und Schreiben ein äußerst bewegliches Geflecht unterschiedlicher Kritikformen. Und er entfaltet es so, dass offenkundig wird, wie sehr sie wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Deshalb sollte man dieses Geflecht m.E. nicht als Vorschein von etwas sehen, das einmal alle vereinzelten Genres der Kritik zu einem Gesamtkunstwerk vereinigen kann – auch wenn es kritische Formate, wie etwa manche Dialoge Platos gibt, die gewissermaßen mehreres zugleich sind. Wenn sie nur selbstkritisch, das heißt, beweglich genug sind, Korrekturen und Öffnungen immer wieder zuzulassen, reichen die einzelnen, einander kritisierenden Genres vielmehr aus. Stärker noch: Sie sind genau das, was eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft braucht und ausmachen würde. Kein versöhnter Zustand, in dem alles zur Ruhe gekommen wäre; aber einer, wo es im Unterschied zur dialektischen Logik der Aufklärung, die auf Andersheit nur mit Spiralen der Gewalt antworten kann, keine unabsehbaren Gewaltexzesse mehr erzeugt, wenn beispielsweise der Unterschied zwischen Begriff und Sache, zwischen der anderen und mir nie verschwindet. Mein Versuch, die gesellschaftskritische Funktion der Kunst, wie sie von Adorno konzipiert wurde, in den Zusammenhang unterschiedlicher, füreinander offener und einander bedürfender Genres der Kritik zu stellen, hat mehrere Motive. Zunächst einmal glaube ich, dass man dem Zusammenhang von Adornos (mündlichen und schriftlichen) Texten auf diese Weise am ehesten Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Gelten sie doch allesamt dem Versuch, trotz „objektiver Bedingungen der Unfreiheit“ (Adorno 1959: 107) an der Kritik gesellschaftlicher Unfreiheit, ja äußerster Ohnmacht festzuhalten. Rekonstruiert man Adornos Denk-Eingriffe als Kaleidoskop unterschiedlichster Formen der Kritik, so wird seine ästhetische Theorie darüber hinaus zu einem wichtigen Korrektiv für die Philosophie im Allgemeinen, ganz besonders aber für die gegenwärtige philosophische Ästhetik. An die zentrale Stelle der sterilen und letztlich identitären Debatten, was Kunst wesenhaft sei, ob Kunst durch Autonomie definiert ist (oder gerade nicht) – Benjamin hat schon am Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Unfruchtbarkeit dieser Debatte hingewiesen –,9 rückt Adornos ästhetische Theorie dann nämlich die Aufgabe
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Am Beginn seines nie gehaltenen Vortrags „Der Autor als Produzent“ schreibt Walter Benjamin: „Sie [die Debatte über Tendenz in der Dichtung, R.S.] ist Ihnen vertraut, darum wissen
der Kritik. In ihrem Rahmen lassen sich die Fragen der relativen Feldautonomie (in Bourdieus Sinn) ebenso diskutieren wie die Momente der Autonomie des einzelnen Werks. Letztere verteidigt Adorno, wie ich nachzuzeichnen versucht habe, bis hin zum l’art pour l’art als mögliche Form der Kritik bestimmter gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, aber nicht grundsätzlich oder als der Kunst wesenhaft. Das ist eine Absage an die meisten Spielarten philosophischer Ästhetik, die mit der sogenannten ästhetischen Differenz die Klassifikationsfrage an den Anfang stellen, über den sie – Benjamins Unfruchtbarkeitsvermutung bestätigend – auch nicht mehr hinaus kommen. Es ist die Frage, was Kunstwerke von anderen Entitäten beziehungsweise ästhetische Erfahrungen von anderen unterscheidet, auf die dann ontologische, erfahrungslogische oder andere klassifikatorische Antworten gegeben werden.10 Bei Adorno hingegen hat nicht die Klassifikation, sondern die Kritik das größte Gewicht. Hinzu kommt, aber das muss an dieser Stelle eine schale Behauptung bleiben,11 dass Adornos Kaleidoskop der Kritik Kategorien zur Verfügung stellt, die einen Zugang zu gegenwärtigen ästhetischen Praktiken etwa künstlerischer Forschung, aktivistischer oder anderweitig scheinbar nur angewandter Kunst eröffnen, die man verfehlen, ja übersehen muss, wenn man ausschließlich oder in erster Instanz die Frage stellt: Kunst oder Nichtkunst?12 Schließlich und gewissermaßen ganz nebenbei öffnet sich Adornos Denken gegenüber jenem von Benjamin, wenn man Adornos Kunsttheorie vom Kaleidoskop der Kritik her versteht, statt von der Alternative Autonomie oder Funktion. Und auch das halte ich für einen Vorteil. Denn damit gewinnen beide einen entscheidenden Verbündeten, wenn es darum geht, die andere Gesellschaft nicht auf eine unabsehbare Zukunft zu verschieben und trotzdem mit nichts sich zufrieden zu geben, was einmal erreicht wurde.13
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Sie auch, wie unfruchtbar sie verlaufen ist. Sie ist nämlich nicht von dem langweiligen Einerseits-Andererseits losgekommen […] Ich ging aus von der unfruchtbaren Debatte, in welchem Verhältnis Tendenz und Qualität der Dichtung stehen. Ich hätte von einer noch älteren aber nicht weniger unfruchtbaren Debatte ausgehen können: in welchem Verhältnis stehen Form und Inhalt und zwar insbesondere der politischen Dichtung.“ (Benjamin 1966/1980: 684 f.) An Adorno richten derartige Ansätze den Vorwurf, er könne bzw. wolle zwischen Kunst, Philosophie und Propaganda nicht unterscheiden. Paradigmatisch hierfür ist Bubner 1973. Ich habe an anderer Stelle eine zeitgenössische ästhetische Praxis erläutert, die sich der Frage „Kunst oder Nichtkunst?“ sperrt (siehe Sonderegger 2014; vgl. ähnlich z. B. auch SchmidtLinsenhoff 2014). Kunst und ästhetische Theorie für die Gesellschaftskritik fruchtbar zu machen – und zwar gegen jene dominante Tendenz in der gegenwärtigen philosophischen Ästhetik, die alles von der Klassifikationsfrage im Gewand der ästhetischen Differenz abhängig macht –, ist auch das Anliegen eines von Marcus Quent und Eckardt Lindner jüngst herausgegebenen Buchs zu Adornos ästhetischer Theorie. (Vgl. Quent/Lindner 2014: 13 f.) Zur Notwendigkeit, Adorno in Richtung Benjamin zu öffnen, vgl. auch Hirsch 2014.
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Urteilsformen Zum Verhältnis der Sprache zur Sprache der Kunst Philip Hogh
Adornos Philosophie ist schon in vielerlei Weise verstanden und interpretiert worden, jedoch selten hinsichtlich ihrer sprachphilosophischen Gehalte und Bezüge. Wenn dies passiert ist, dann meistens bezüglich seiner Überlegungen zur Sprache in der Kunst. Was aber auch dabei häufig nicht thematisiert wurde, ist das Verhältnis seiner Theorie der begrifflichen Sprache zur Theorie der Sprache der Kunst. Erst wenn gezeigt werden kann, inwiefern das, was die Sprache der Kunst vermag, nicht in einem abstrakten Gegensatz zur begrifflichen Rationalität steht, sondern vielmehr ein Moment von Rationalität mobilisiert, das in der gewöhnlichen sprachlichen Alltagspraxis so sehr untergeht, wie es in der Sprache der Wissenschaft ausgeschlossen werden muss, lässt sich auch verstehen, warum die Kunst auch dazu in der Lage ist, Urteile zu fällen, und welcher Art diese Urteile sind. Auf welche Weise sie das tut und was in der Sprache der Kunst mit der Urteilspraxis der gewöhnlichen Alltagssprache geschieht, ist das Thema der folgenden Überlegungen.1 Ohne den Gebrauch von Begriffen in der Sprache verfügten Menschen über keine bestimmten Erkenntnisse, die sie festhalten und zugleich variieren können. Jedoch kann der Gebrauch von Begriffen selbst variieren. Mit Kant lassen sich zwei Gebrauchsweisen von Begriffen, das heißt zwei Weisen des Urteilens unterscheiden. Urteilen ist Kant zufolge ein Akt, in dem ich ein Besonderes „als enthalten unter dem Allgemeinen“ (Kant 1793: B XXV – B XXVI) denke. An dieser allgemeinen Bestimmung des Urteilens lassen sich zwei Differenzierungen vornehmen, die sich auf den Status des Allgemeinen im Urteil beziehen: das bestimmende und das reflektierende Urteilen. 1. Urteile sind bestimmend beziehungsweise die Urteilskraft als das Vermögen, Urteile zu fällen, verfährt bestimmend, wenn „das Allgemeine (die Re-
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Eine genauere Untersuchung dieses Verhältnisses habe ich in meiner Dissertation unternommen (Hogh 2015), für die die dazu angestellten Überlegungen von Jay Bernstein (Bernstein 2001 und 2004) von großer Bedeutung waren.
gel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben“ (Kant 1793: B XXVI) ist. Bestimmend verfahre ich beim Urteilen also dann, wenn ich über einen Begriff verfüge, von dem ich weiß, wie ich ihn verwenden muss, und den ich dann dementsprechend auf ein Besonderes anwende. Wenn ich also über den schon etwas abgenutzten Schreibtisch, an dem ich gerade sitze, sage: „Dies ist ein Tisch“, so verfahre ich bestimmend, indem ich ein Besonderes unter ein Allgemeines, über das ich schon verfüge, subsumiere. Darin besteht nach Kant die Tätigkeit des Verstandes: Er schreibt Regeln vor beziehungsweise stellt Begriffe zur Verfügung, mit denen Erscheinungen als etwas bestimmt werden können. 2. Nun liefert der Verstand nach Kant aber nicht für jede Erscheinung der Welt ein Allgemeines, mit der sie als ein Besonderes eines Allgemeinen bestimmt werden kann. Verfüge ich also angesichts eines Besonderen nicht über ein passendes Allgemeines, so muss ich nach Kant ein Allgemeines für dieses Besondere finden. Die Art des Urteilens, mit der ich das tue, nennt Kant reflektierend (vgl. Kant 1793: B XXVI). Da Urteilen nur dann Urteilen ist, wenn ich Allgemeines und Besonderes identifizieren kann, muss ich, wenn ich über kein Allgemeines für ein vorliegendes Besonderes verfüge, ein Allgemeines finden, sodass ich die notwendige Identifikation doch noch vornehmen kann. Wird kein Allgemeines für das gegebene Besondere gefunden, so kann auch nicht geurteilt werden.
Sowohl das bestimmende als auch das reflektierende Urteilen zielt also auf die Identität von Besonderem und Allgemeinem ab, nur dass ich im ersten Fall dem gegebenen Allgemeinen ein Besonderes unterordnen kann, wohingegen ich im zweiten Fall für ein gegebenes Besonderes ein Allgemeines finden muss. Adornos Denken kreist nun genau darum, wie mit der bereits von Kant beschriebenen Unentrinnbarkeit des Identifizierens umzugehen ist, der zufolge es ohne Identifikation von Allgemeinem und Besonderen keine bestimmte Erkenntnis geben kann. Versteht man Adornos vielzitiertes Diktum „Denken heißt identifizieren“ (Adorno 1966: 17) vor dem Hintergrund von Kants Unterscheidung, so lässt es sich nicht allein als Ausdruck davon verstehen, dass das Denken durch Identifikation das Besondere notwendig um seine Besonderheit bringen muss. Für Adorno wie für Kant gibt es keine gelingende Erkenntnis ohne die Identifikation von Besonderem und Allgemeinen, jedoch gibt es für Adorno ebenso unterschiedliche Weisen, wie diese Identifikation durchgeführt werden kann: 1. Was Kant bestimmendes Urteilen nennt, ist für Adorno ein bloß identifizierendes Denken, das das Besondere als bloßes Exemplar des Allgemeinen behandelt, wodurch nur das an ihm bestimmt wird, was es mit dem Allge-
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meinen identisch sein lässt (vgl. Adorno 1966: 19). Alle weiteren Bestimmungen des Besonderen, das, was bei Kant als „mannigfaltige Formen der Natur“ (Kant 1793: B XXVI) bezeichnet wird, müssen dabei notwendig außen vor bleiben. Bekanntlich verbindet Adorno diese erkenntnistheoretischen Fragen mit sozial- und geschichtsphilosophischen Überlegungen. Beschränken Menschen sich in ihrem sozialen Gebrauch von Begriffen auf das bloß identifizierende Denken, so können sie von der Welt immer nur das erfahren, was sie bereits von ihr wissen, denn wenn ein Besonderes nur als Exemplar des Allgemeinen verstanden wird, so dient es in erster Linie der Bestätigung des Allgemeinen, das schon gegeben ist. 2. Ein Denken, das zwar auch identifizieren muss, weil es sonst zu keiner Erkenntnis gelangen könnte, das sich aber auf das Besondere nicht allein als Exemplar des Allgemeinen richten will, muss nach Adorno gerade bei der Differenz des Besonderen von seiner Identität mit dem Allgemeinen ansetzen. „Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, daß gerade sie, mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist. Identitätsdenken entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes umso weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leib rückt. Durch ihre Kritik verschwindet Identität nicht; sie verändert sich qualitativ.“ (Adorno 1966: 152)
Ein solches Denken nennt Adorno konstellatives Denken beziehungsweise Denken in Konstellationen. Dieses Denken kann als eine Art Korrektiv zum eben genannten identifizierenden Denken verstanden werden. Weil es auch nur allgemeine Begriffe zur Verfügung hat, kann auch das konstellative Denken nicht unmittelbar das Besondere als Besonderes zum Ausdruck bringen. Gemessen an seinem eigenen Anspruch, zu sagen, was etwas ist, ist das identifizierende Denken selbst fehlerhaft, da es nur denjenigen Aspekt des Besonderen zum Ausdruck bringt, in dem dieses mit dem Allgemeinen identisch ist. Diesen Fehler gilt es zu korrigieren, indem die Differenz von Besonderem und Allgemeinem durch die Verwendung anderer Begriffe zu bestimmen versucht wird. Die begrifflichen Konstellationen, die daraus entstehen, richten sich also am Besonderen aus und versuchen es, möglichst differenziert zu fassen. Nun lässt sich Adornos Differenzierung von identifizierendem und konstellativem Denken mit Kants Unterscheidung von bestimmendem und reflektierendem Urteilen im eben beschriebenen Sinne parallelisieren. Bei Adorno findet sich jedoch noch eine weitere Urteilsform, die er paradox als „urteilslos“ (Adorno 1970: 187, 363) bezeichnet und die er, bei allen Paralle38
len, die sich bei ihm zwischen den „Verhaltensweisen“ (Adorno 1966: 26) von Philosophie und Kunst ziehen lassen,2 der Kunst allein vorbehält. Urteilslosigkeit als Bestimmung der Art und Weise, wie Kunstwerke selbst urteilen, wird von Adorno streng von etwaigen Urteilen, die KünstlerInnen mit ihren Kunstwerken fällen oder zu fällen meinen, unterschieden. Ebenso wenig meint diese Urteilslosigkeit die Unfähigkeit der RezipientInnen, über ein Werk etwas Bestimmtes zu sagen (vgl. Adorno 2009: 20). Sie lässt sich nicht ohne Bezug auf die hier differenzierten Urteilsformen erläutern. Die Urteilslosigkeit wird dabei nicht so verstanden, dass sie Urteile auflöst, sondern so, dass sie eine spezifische Qualität von Urteilen bezeichnet. Um im Folgenden die Spezifik des urteilslosen Urteils, das die Kunst vollziehen soll, darlegen zu können, muss darum in einem ersten Schritt die hier eingangs bereits skizzierte Differenzierung der Urteilsformen bei Adorno weiter ausgeführt werden, was ich hinsichtlich der Begriffe des Bestimmens und der Bestimmtheit tun werde (1). In einem zweiten Schritt werde ich das urteilslose Urteil mittels des Begriffs der bestimmten Unbestimmtheit (vgl. Adorno 1970: 112-114) verständlich machen. Auch hier gilt, dass die Unbestimmtheit von Urteilen wie ihre Urteilslosigkeit nicht so verstanden wird, dass sich dadurch die Urteile als Urteile auflösen. Unbestimmtheit und Urteilslosigkeit sind selbst Bestimmungen des Urteils (2). Daran schließen sich einige Überlegungen zu den gesellschaftskritischen und politischen Implikationen an, die in der Form urteilsloser Urteile der Kunst zu finden sind (3).
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Bestimmte und unbestimmte Urteile
Adorno lässt keinen Zweifel: „[J]ede Bestimmung ist Identifikation“ (Adorno 1966: 152). Ein Urteil ist entsprechend nur dann bestimmt, wenn es wenigstens zwei Begriffe identifiziert und so ihre Rollen als Subjekt und Prädikat im Urteil festlegt. Allerdings wird Adorno ebenfalls nicht müde zu betonen, dass Subjekt und Prädikat niemals vollkommen identisch sind beziehungsweise werden können, noch nicht mal in analytischen Urteilen. Jede durch Identifikation vorgenommene Bestimmung muss somit, damit sie
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Darauf hat Lydia Goehr bezüglich des Verhältnisses von Philosophie und Musik hingewiesen: „Adorno verwendet den Begriff der Affinität, um das Verhältnis zwischen Musik und Philosophie zu erklären. Affinität ist eine lebendige und komplexe Beziehung, die ihre Glieder in Bewegung hält. Eben dies, die Dinge in Bewegung zu halten, ist der Sinn seiner negativen Dialektik. Philosophie und Musik teilen nicht so sehr eine Form oder einen Gestaltungsprozess, sagt Adorno, als vielmehr eine besondere ‚Verhaltensweise‘, die einem Bewegungsverlust (nach Möglichkeit) entgegensteht.“ (Goehr 2005: 302)
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überhaupt vollzogen werden kann, hinsichtlich bestimmter Momente der verwendeten Begriffe durchgeführt werden, wodurch notwendig andere Momente außen vor und unbestimmt bleiben. In keinem identifizierenden Urteil kann der gesamte Gehalt auch nur eines der darin verwendeten Begriffe präsent werden. Da Begriffe verwenden immer heißt: Begriffe in bestimmten Hinsichten verwenden (und in bestimmten anderen nicht), ruft eine einzelne Verwendung eines Begriffs nur einen bestimmten Aspekt des Gehalts des Begriffs auf und nicht das Ganze seines Gehalts. Hegel hatte bereits darauf aufmerksam gemacht, dass im Urteil Momente der Begriffe zwar ungenannt bleiben, die aber nichtsdestotrotz zum Urteil dazugehören: „Das Urteil ist eine identische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat; es wird dabei davon abstrahiert, daß das Subjekt noch mehrere Bestimmtheiten hat als die des Prädikats, sowie davon, daß das Prädikat weiter ist als das Subjekt.“ (Hegel 1986: 93) Nun können aus Adornos Perspektive die Identifikationen von Begriffen hinsichtlich bestimmter Momente der Begriffe in Urteilen nur dann stattfinden, wenn die Begriffe, ganz in Hegels Sinne, extensional größer sind als das, was sie im Urteil jeweils bedeuten. Ein Urteil fügt also nicht bereits vor ihrer Identifikation fixierte Bedeutungseinheiten äußerlich zusammen, genauso wenig wird aber die Bedeutung von Begriffen erst durch dasjenige Urteil geschaffen, in dem sie aktuell jeweils verwendet werden. Adorno versteht Begriffe stattdessen als „geronnene Synthesen“ (Adorno 1966: 160), das heißt als Resultate einer wiederholten Anwendung in Urteilen, die durch die Geschichte hindurch erst dazu führt, dass Begriffe einen in sich differenzierten Gehalt bekommen, der es ermöglicht, sie auf verschiedene Weisen zu gebrauchen. Darauf zielt auch seine Feststellung: „kein Begriff ist ohne Urteil“ (Adorno 1966: 111). Jedem Urteil ist somit die Bedeutungsgeschichte3 – die die
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Günter Figal hat den Begriff der Bedeutungsgeschichte im Zusammenhang mit Adornos Urteilstheorie ins Spiel gebracht, wobei Figals Überlegungen die soziale Einbettung – und damit zusammenhängend den jeweiligen geschichtlichen Stand der Gesellschaft – der sprachlichen Bedeutung unberücksichtigt lassen. Man kann Adornos Begriffstheorie wie Figal als eine „Genealogie der Bedeutung“ (Figal 2004: 20) lesen, aber Adornos Genealogie versteht die Geschichte der Bedeutung eben nicht allein sprachimmanent, sondern als Moment der sie umgreifenden sozialen Geschichte. „Wir können zwar von nichts anders als durch die Sprache hindurch, vermittelt durch die Sprache reden, aber deshalb fällt die Sprache ihrerseits ja auch wieder als ein Phänomen unter anderen in die gesamte Wirklichkeit hinein, ist selber ein Moment der Wirklichkeit und darf dieser gegenüber nicht hypostasiert werden.“ (Adorno 2006: 107) Dass die Sprache zur menschlichen Lebenswirklichkeit gehört, wird von Figal nicht bestritten (vgl. Figal 2006: 225-299), nur ist das, was er als „Bruch in der Bedeutungsgeschichte“ (Figal 2004: 19) versteht, im Unterschied zu Adornos sozialgeschichtlicher Auffassung solcher Brüche, als das zu verstehen, was in der Sprache als Sprache eben geschieht, ohne dass dazu auf konkrete sozialgeschichtliche Formationen zu reflektieren wäre.
Geschichte des sozialen Gebrauchs von Begriffen ist – jedes in ihm verwendeten Begriffs vorausgesetzt, sodass es selbst nur dadurch Bestimmungen vornehmen kann, weil es ein Moment einer umgreifenden sozialgeschichtlichen, sprachlichen Praxis ist. Der geschichtliche Gebrauch von Begriffen ist demnach keine bloße Wiedergabe eines bereits unabhängig von seinem Gebrauch fixierten Gehalts, sondern erst der Gebrauch verschafft den Begriffen ihren Gehalt. Geschichte ist dem Begriff nicht äußerlich, sondern der geschichtliche Gebrauch von Begriffen in Urteilen ist das, worin der Begriff überhaupt erst Begriff ist.4 Gegenüber dem, was ein Urteil an Bestimmungen vornimmt, bleiben zwar notwendig Momente der verwendeten Begriffe unbestimmt, allerdings sind sie deswegen gerade nicht irrelevant für die Bestimmtheit des Urteils. Sie stellen vielmehr die materialen Bedingungen dafür dar, dass überhaupt geurteilt werden kann und die Bestimmtheit des Urteils besteht nur im Verhältnis zu dem, was es notwendig unbestimmt lassen muss. Die Gesamtheit dessen, was ein Begriff bedeuten kann, lässt sich aus Adornos Perspektive nicht überblicken. Die „Gegenwart des Gehalts“ (Adorno 1966: 28) ist vielmehr ein Schein, den jedes Urteil durch die notwendige Abgeschlossenheit seiner Form erzeugt. Dieser Schein kann jedoch erst dann als Schein erkannt werden, wenn durch den Rekurs auf die Bedeutungsgeschichte der im Urteil verwendeten Begriffe gezeigt werden kann, dass das Urteil nur einen Ausschnitt aus der Bedeutungsgeschichte aufruft. Dass dieser Ausschnitt dann als das Ganze erscheint, ist für Adorno wiederum Ausdruck einer sozialgeschichtlichen Situation, in der eine bestimmte Verwendung von Begriffen zur dominierenden geworden ist, wodurch sich die aktuelle Verwendung von Begriffen gemäß ihrer jeweils dominierenden Verwendung gerade gegenüber den Subjekten und den Objekten, auf die die Begriffe sich beziehen, verselbständigt.5 Die „Logik des Zerfalls“ (Adorno 1966: 148), die Adornos Analyse des Begriffs in Gang setzen will, strebt darum auch nicht den Zerfall des Be-
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Jay M. Bernstein hat dies treffend zusammengefasst: „But to urge that concept acquisition, formation, and application to new instances (concept extension) belong to the concept itself is equally to claim that concepts are in themselves historical, that the history of a concept belongs to the life of the concept; concepts emerge, change, solidify, congeal, wither, and die.“ (Bernstein 2001: 308) Dies markiert die Differenz von Adornos Theorie zu anderen Theorien, die Begriffe und Sprache aus der sozialen Praxis her zu verstehen suchen, worauf Jay Bernstein aufmerksam gemacht hat: „For Hegel or Heidegger or Wittgenstein, it is the situated practical character of language, the weaving of language into our social practices and the social practice of language itself, that is the primary bulwark against formalism and abstraction. However valid this is, and however much the framework of social practice is presupposed by Adorno as a condition for metacritique, the sheer normativity of social practices cannot be central for him since our social practices themselves have become instances of formal reason.“ (Bernstein 2001: 266)
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griffs als solchen und damit des Urteilens und Identifizierens überhaupt an, sondern nur „der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar sich gegenüber hat“ (Adorno 1966: 148). Es geht also nicht darum, die Bestimmtheit von Urteilen beziehungsweise das bestimmende Urteilen aufzulösen, sondern darum, in der Bestimmtheit die Unbestimmtheit sichtbar zu machen. Es gibt für Adorno somit nicht auf der einen Seite bestimmte Urteile, die gar nicht unbestimmt sind, und auf der anderen Seite unbestimmte Urteile, die nicht bestimmt sind. Bestimmte Urteile verwandeln sich vielmehr selbst in unbestimmte Urteile: Sie kehren ihre unbestimmte Seite nach außen, wenn sie auf eine ungewöhnliche beziehungsweise dem dominierenden gewöhnlichen Gebrauch nicht entsprechende Weise verwendet werden. Eben dafür gibt es nach Adorno zwei Schauplätze: Philosophie und Kunst. Durch sein konstellatives Verfahren versucht Adorno in der Philosophie der Bedeutungsgeschichte der Begriffe gerecht zu werden. Er nutzt die in der gewöhnlichen und bloß identifizierenden sprachlichen Praxis stumm bleibenden Momente für eine den jeweiligen Gegenständen philosophischer Erkenntnis angemessene sprachliche Darstellungsform. Die begrifflichen Konstellationen, die die Philosophie aus Urteilen konstruiert, richten sich an der Spezifik des jeweiligen Gegenstands aus, den die Philosophie darstellen möchte. Sie versucht dadurch, die gemessen an der gewöhnlichen sprachlichen Praxis unbestimmten Momente der Bedeutungsgeschichte der Begriffe für eine größere Bestimmtheit der Erkenntnis und Darstellung der Gegenstände zu verwenden. Die Unbestimmtheit der Begriffe und Urteile tritt in den Konstellationen in den Dienst einer Bestimmtheit, die sich durch einzelne Urteile alleine nicht erreichen ließe.6 Weil für die Gegenstände, mit denen sich die Philosophie beschäftigt, ein für ihre Darstellung ausreichendes Allgemeines nicht gegeben ist, muss sie Konstellationen konstruieren. Im Gegensatz dazu geht es der Kunst aus Adornos Perspektive gerade nicht darum, einen von ihr verschiedenen Gegenstand zur Darstellung zu bringen. Sie richtet sich nicht als ein Abbild einer von ihr verschiedenen – psychischen, natürlichen oder gesellschaftlichen – Realität an dieser aus, sondern nimmt Momente aus dieser Realität auf und verwandelt sie durch die spezifisch künstlerische Form (vgl. Adorno 1970: 15). Das hat Auswirkungen auf die Urteile, die Kunst fällen kann.
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Darauf weist auch Ute Guzzoni hin, wenn sie von „bildhaften Begriffen“ spricht: „Insofern kommt es, wenn die Bedeutung des Bildhaften in der Philosophie neu eingeschätzt werden soll, nicht unbedingt darauf an, die Begriffe überhaupt zu verlassen, sondern es kann vielmehr darum gehen, sie derart zu verändern, daß ihre Bildkraft neu entbunden wird, sie zu beweglichen, bildhaften Begriffen werden.“ (Guzzoni 2014: 128)
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Urteilslose Urteile
Sofern „Kunstwerke Leben sui generis“ (Adorno 1970: 14) haben, ihre eigene Form also nicht nach der Form des ihnen Äußeren ausgerichtet ist und auch nicht allein durch dieses verständlich gemacht werden kann, beziehen sie sich nicht wie – zumindest manche – sprachlichen Urteile auf einen bestimmten identifizierbaren äußeren Gegenstand. In diesem Sinne verfügen Kunstwerke nicht wie sprachliche Urteile über eine Referenz in dem Sinne, in dem sich für jedes einfache sprachliche Urteil eine Referenz angeben lässt. Das, worauf sie in der nichtkünstlerischen Realität verweisen beziehungsweise das, was sie von dieser ausdrücken, ist kein Dieses, kein Einzelding, auf das gezeigt werden kann. Gleichwohl sind sie, und das betont Adorno ebenfalls, auf diese nichtkünstlerische Realität bezogen, nur dass dieser Bezug in der Bewegung, die in einem Werk stattfindet, selbst gesucht werden muss, und nicht durch einen Verweis auf etwas dem Werk Äußerliches nachgewiesen werden kann. „Der Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social teilt ohne Unterlaß der Zone ihrer Autonomie sich mit.“ (Adorno 1970: 16) Werden Kunstwerke als autonom verstanden, so kann ihnen das Gesetz, dem sie folgen, nicht vorausgesetzt sein. Die Urteile, die sie fällen, können dann keine bestimmenden beziehungsweise bloß identifizierenden Urteile sein, denn für diese muss es ein unabhängig vom jeweiligen Urteilsvollzug bereits bestehendes Allgemeines geben, dem gemäß dann geurteilt wird. Um verstehen zu können, wie die Urteile, die die Kunst fällt, aussehen und warum sie durch Urteilslosigkeit bestimmt sein sollen, muss zunächst geklärt werden, was mit gewöhnlichen Urteilen in der Kunst passiert. Dies werde ich im Folgenden am Beispiel sprachlicher Kunst darstellen. Sprachliche Kunst hat als ihr Ausgangsmaterial die Sprache in ihrer sozialgeschichtlichen Gewordenheit. Adorno zufolge muss sich die sprachliche Kunst Elementen der außerkünstlerischen Realität bedienen und diese so verwandeln, dass dabei eine „künstlerische Autonomie“ (Adorno 1974b: 434) entsteht. Dadurch unterscheidet sich ein sprachliches Kunstwerk von all dem, was es nicht selber ist – und damit eben auch von der gewöhnlichen Sprache. Im Unterschied zu dieser beansprucht die zeitgenössische sprachliche Kunst, auf die Adorno sich bezogen hat, keine unmittelbare Verständlichkeit ihrer Gebilde. Die Sprache wird darum in der Kunst nicht so verwendet wie in der außerkünstlerischen Realität: als Zeichen zur Mitteilung bereits feststehender Inhalte. „Der Begriff selber, die Merkmaleinheit alles jeweils unter ihm Befaßten, das der Empirie angehört und nicht in den Bann des Werkes fällt, hat vor aller Erzählung von der Welt etwas Kunstfeindliches.“ (Adorno 1974b: 435) Entsprechend muss die sprachliche Kunst sich darum bemühen, ihre Begrifflichkeit beziehungsweise ihren Zeichencharakter abzustoßen. Dies kann, wenn es sich bei den einzelnen Teilen eines sprachlichen 43
Kunstwerks noch um Worte handeln soll, nur durch den Zusammenhang geschehen, in den die außerhalb des Werks mit gewöhnlichen Bedeutungen identifizierten Worte im Werk selbst gesetzt werden. Es ist nun möglich, diesen ästhetischen Zusammenhang so zu gestalten wie Adorno es im Expressionismus vorfindet. Dort werden „die Worte rein als Ausdrucksvaleurs wie Farben oder Tonrelationen in Malerei und Musik“ (Adorno 1974b: 434) verwendet. Entscheidend für ihre Verwendung ist dann nicht mehr allein, ob sie sich gemäß ihrer Bedeutung, sondern ob sie sich gemäß ihrer sinnlichen Präsenz und der sich daran entzündenden Assoziationen mit anderen Worten kombinieren lassen. Doch auch dann, wenn die sinnliche Präsenz des sprachlichen Ausdrucks beziehungsweise seine Gestalt einen Primat bekommt, verschwinden die Bedeutungen, die die Worte außerhalb der Kunst haben, nicht einfach. Auch wenn der sprachliche Zusammenhang die Verwendungsweise der Worte nicht von ihrer Bedeutung und ihrem Verweisen auf Nichtsprachliches abhängig machen möchte, hören die Worte nicht auf, eine Bedeutung zu haben. Zwar geht eine Interpretation, die ein sprachliches Kunstwerk so verstehen möchte „wie eine fremde Sprache, oder wie Begriffe, Urteile und Schlüsse der eigenen“ (Adorno 1974b: 432) an ihm vorbei; darum gibt sich aber kein Verstehen sprachlicher Kunst mit ihrer bloßen sinnlichen Präsenz zufrieden, selbst dann nicht, wenn diese sinnliche Präsenz schockierend ist. Der sprachliche Zusammenhang, den das Kunstwerk herstellt, soll ja keine zufällige Aneinanderreihung von Worten sein, sondern ein Ganzes, das sich durch das Verhältnis seiner Teile zueinander selbst trägt. Nur als ein solcher Zusammenhang hat das Werk Sinn. Nur wenn der Zusammenhang so gestaltet ist, dass er zugleich über seine sinnliche Präsenz hinausweist und sich von der gewöhnlichen Sprache absetzt, kann er als künstlerischer Zusammenhang auch sinnvoll sein. Gemessen am Sinn gewöhnlicher sprachlicher Aussagen mögen sprachliche Kunstwerke wie Becketts „Endspiel“ oder Joyces „Finnegan’s Wake“ als sinnlos erscheinen, denn es geht ihnen nicht primär darum, einen bestimmten Inhalt verständlich mitzuteilen. Das sich Absetzen des Werks von der Verständlichkeit der gewöhnlichen Sprache kann als solches aber überhaupt nur verstanden werden, wenn die gewöhnlichen Bedeutungen und die gewöhnliche Weise sinnvollen Sprechens noch mitgedacht werden. Der spezifische Sinn sprachlicher Kunst wird somit erst in der Spannung zur gewöhnlichen Sprache und ihren Bedeutungen zugänglich. Die vollkommene Streichung der Bedeutungsebene beziehungsweise des Zeichencharakters der Sprache ist somit auch für eine sprachliche Kunst, die vom Ausdruckscharakter der Sprache lebt, nicht möglich. Entsprechend „trägt alles Sprachliche, selbst bei äußerster Reduktion auf den Ausdruckswert, die Spur des Begrifflichen“ (Adorno 1974b: 434/35). In der Kunst kann sich der sprachliche Ausdruck somit nicht dadurch 44
entfalten, dass die Sprache auf ihre sinnliche Präsenz reduziert und ihr begriffliches Moment getilgt wird. Eben das wäre eine „Erniedrigung des ästhetischen zum bloß sinnlichen Vergnügen“ (Menke 1991: 27). Durch ihre künstlerische Verwendung sollen die Worte stattdessen mehr und etwas anderes sagen als sie es in gewöhnlichen Aussagen können. Die Differenz, die aus Adornos Perspektive zwischen dem Zeichen- und dem Ausdruckscharakter der Sprache bestehen soll, ist nicht gleichbedeutend mit der Differenz von Bedeutung und sinnlichem Bedeutungsträger. Die Differenz zwischen Zeichen und Ausdruck besteht vielmehr darin, wie die Differenz von Bedeutung und sinnlichem Bedeutungsträger gestaltet wird: als Vereindeutigung der Bedeutung oder als Dynamik zwischen Einheit und Vielheit der Bedeutung. Dieser „Riß im Gefüge der signifikativen Sprache“ (Adorno 1974b: 436) sorgt schließlich dafür, dass es in sprachlichen Kunstwerken Momente gibt, die wie Aussagen der gewöhnlichen Sprache verständlich sind, denen solche Momente entgegenstehen, die nach diesem Maßstab gerade unverständlich sind. Diesem Riss kann die Kunst weder durch Reduktion ihrer Sprache auf entweder verständliche Zeichen oder unverständlichen Ausdruck noch durch eine äußerliche Verbindung dieser beiden Momente gerecht werden. Er kann nach Adorno nur von jedem einzelnen Werk ausgetragen werden. Die bestimmenden Urteile der gewöhnlichen Sprache bringen im Unterschied zur sprachlichen Kunst die geschichtliche Dynamik von Einheit und Vielheit der Bedeutung zu einem jeweils temporären Stillstand. Sie vereinheitlichen die Bedeutungen, die dann von der sprachlichen Kunst durch den Zusammenhang, in den sie gesetzt werden, wieder in Bewegung gesetzt werden. Gemessen an der Bestimmtheit der Bedeutung in den bestimmenden Urteilen der gewöhnlichen Sprache, sind die künstlerisch rekonfigurierten Urteile oder Sätze, die in der sprachlichen Kunst verwendet werden, unbestimmt; allerdings sind sie nicht an sich unbestimmt. Die sprachliche Kunst vollzieht mit der gewöhnlichen Sprache genau das, was Menke „Ästhetisierung“ nennt: „Der Prozeß der Ästhetisierung richtet sich auf die soziale Praxis des Bestimmens von Gegenständen; der Prozeß der Ästhetisierung unterläuft die soziale Praxis des Bestimmens.“ (Menke 2008: 83) Sprechen und begriffliches Bestimmen sind darauf angelegt, Eindeutigkeiten und Festlegungen zu produzieren. Ohne solche Festlegungen könnten Menschen sich nicht in der Welt orientieren. „Ohne Einheit wäre in der Sprache nichts als diffuse Natur,“ (Adorno 1974a: 477) wie Adorno betont. Für die sprachliche Kunst bietet sich dann, wenn sie denn Kunst sein und nicht bloße Natur werden möchte, nur die Möglichkeit, innerhalb der Grenzen, die die Urteilsform als solche setzt, die außerkünstlerischen und gewöhnlichen Festlegungen aufzulösen. In diesem Sinne sind die Urteile der sprachlichen Kunst urteilslos oder – was dasselbe meint – die sprachliche Kunst sorgt für 45
eine „begriffslose Synthesis“ (Adorno 1974a: 471) ihrer Elemente. Bezüglich der Lyrik Hölderlins hat Adorno dies folgendermaßen formuliert: „Visiert ist Synthesis von anderem Typus, deren sprachkritische Selbstreflexion, während die Sprache Synthesis doch festhält. Deren Einheit zu brechen, wäre dieselbe Gewalttat, welche die Einheit verübt; aber die Gestalt der Einheit wird von Hölderlin so abgewandelt, daß nicht bloß das Mannigfaltige in ihr widerscheint – das ist in der herkömmlichen synthetischen Sprache ebenfalls möglich –, sondern daß die Einheit selber anzeigt, sie wisse sich als nicht abschlußhaft.“ (Adorno 1974a: 476/77)
Die bedeutungsgeschichtliche Dynamik wird somit in der sprachlichen Kunst wieder entfesselt, aber nicht so, dass jede Form der Einheit aufgelöst wird. Die nicht subsumtionslogisch hergestellte Einheit der Elemente zeigt im Unterschied zum Schein des Abschlusshaften, den jedes bestimmende Urteil erzeugt, gerade ihren temporären und damit ebenso geschichtlichen wie offenen Charakter. So produziert die sprachliche Kunst immer noch Urteile, das heißt, sie sagt etwas, aber das, was sie sagt, ist gemessen an den eindeutigen Bedeutungen, die ihren Elementen außerhalb der Kunst zukommt, unbestimmt. In diesem Sinne produziert die sprachliche Kunst urteilslose Urteile. Produzierte sie bloße Urteilslosigkeit, so wäre sie nicht mehr Kunst, sondern bloße Natur. Sie muss also Urteile produzieren, das heißt, ihre Elemente in einen nicht zufälligen Zusammenhang setzen, in dem sich die Elemente wechselseitig bestimmen. Solche Urteile sind dann keine bestimmenden Urteile, weil hier zwischen den Elementen kein Verhältnis der Subsumtion besteht. Im Unterschied zu den reflektierenden oder konstellativen Urteilen der Philosophie richten sich jedoch die Urteile der sprachlichen Kunstwerke nicht an außerkünstlerischen Gegenständen aus. Zwar lassen sich für einzelne Urteile in sprachlichen Kunstwerken eindeutige Referenzen in der außerkünstlerischen Realität finden, nur verstünde man ein solches Urteil dann unabhängig von seiner Rolle, die es im jeweiligen Werk spielt. Für das Urteil, das ein sprachliches Kunstwerk als ein Ganzes über die Realität fällt, lässt sich wiederum keine dinghafte Referenz angeben. Da das Kunstwerk die Ästhetisierung der gewöhnlichen Sprache betreibt, unterläuft es die Referenzen, die einzelnen Urteilen isoliert von ihrem Zusammenhang im Werk zukämen. Da das, was ein sprachliches Kunstwerk ausdrückt, nicht Nichts, aber eben auch nichts in Begriffe Übersetz- und durch sie Kommunizierbares ist, können die gewöhnlichen Bedeutungsmomente der Worte das für den durch die Form des Werks ermöglichten Ausdruck Entscheidende nicht bereitstellen. Sie sind im Werk präsent, sind jedoch nicht dasjenige an den Worten, was für das Werk entscheidend ist. 46
„Nicht daß sie ohne Bedeutungen wären, unterscheidet sie von der signifikativen Sprache, sondern daß jene, durch Absorption verändert, zum Akzidentellen herabsinken. Die Bewegungen, durch die das geschieht, sind konkret von einem jeglichen ästhetischen Gebilde vorgezeichnet.“ (Adorno 1970: 188)
Gemessen an der Bestimmtheit begrifflicher Zusammenhänge ist ein sprachliches Kunstwerk unbestimmt, eben weil es die gewöhnlichen Bedeutungen der einzelnen Worte durch seine Form dynamisiert, sodass die Bedeutungen, die die Worte im Werk annehmen, nicht mehr wie in der gewöhnlichen Sprache identifiziert werden können. Das bloße Zeigen von Vieldeutigkeit, von sprachlicher Rhythmik und Klang ohne synthetische Verbindung der Momente ist jedoch noch nicht Kunst. Es bedarf in der Kunst einer Einheit, jedoch nicht einer solchen, die die Bedeutungen der gewöhnlichen Sprache nur reproduziert oder ungewöhnliche Bedeutungsmomente nur nebeneinanderstellt. Bestimmtheit erhält der sprachliche Zusammenhang eines Kunstwerks erst dadurch, dass die Vieldeutigkeiten, die sprachliche Rhythmik und der Klang, die durch den Zusammenhang freigesetzt werden, sich zu einer Einheit fügen, in der die einzelnen Momente einander brauchen und keines ohne die anderen sein kann. Obgleich der so hergestellte Zusammenhang der Momente keiner ist, in dem eines aus dem anderen gefolgert werden kann, er also in diesem Sinne gerade keiner begrifflichen Logik gehorcht, folgt er einer Logik. Diese Logik stellt der Zusammenhang des Werks jedoch selbst her, sie ist ihm nicht vorausgesetzt. Daraus folgt dann, dass die Frage, ob der Zusammenhang zwischen einzelnen Momenten eines sprachlichen Kunstwerks richtig oder falsch ist, nicht durch Rekurs auf eine dem jeweiligen Werk immer schon vorausgesetzte Logik beantwortet werden kann, sondern nur durch den Nachvollzug der eigenen Logik des Werks. Das Urteil, das ein Werk fällt, ist kein bestimmendes oder identifizierendes Urteil, sondern ein in seiner Unbestimmtheit bestimmtes. Eben darin liegt ein Aspekt der Autonomie von Kunstwerken. Ihre Bestimmtheit wird von ihnen selbst hergestellt und zwar nicht gemäß außerkünstlerischen Kriterien. „Der Zweck des Kunstwerks ist die Bestimmtheit des Unbestimmten.“ (Adorno 1970: 188) Ist die Bestimmtheit, für die herkömmliche identifizierende Urteile sorgen, nur durch die Vereindeutigung der Bedeutung zu haben, so entsteht die Bestimmtheit von Kunstwerken gerade dadurch, dass sie diesen Vereindeutigungsprozess suspendieren. Die an begrifflicher Bestimmtheit gemessene Unbestimmtheit sprachlicher Kunst lässt sich von keiner Interpretation voll und ganz in begriffliche Bestimmtheit übersetzen. Allerdings ist der Versuch einer solchen begrifflichen Übersetzung gerade notwendig, um die bestimmte Unbestimmtheit des Werks allererst in den Blick zu bekommen. 47
Diese Unbestimmtheit ist nun nichts, das der begrifflichen Bestimmtheit eines Werks äußerlich wäre oder wie ein davon abzulösendes Moment zu verstehen wäre. Die bestimmte Unbestimmtheit oder nichtbegriffliche Bestimmtheit des sprachlichen Kunstwerks besteht eben in dem Verhältnis, in das die begrifflichen Momente gesetzt werden. Dieses Verhältnis, die Form des Werks, setzt an den Begriffen ihre eigene Unbestimmtheit frei, die in der gewöhnlichen sprachlichen Praxis beziehungsweise in Urteilen zugunsten der Eindeutigkeit mitzuteilender Informationen unbemerkt bleibt. Die an dieser Eindeutigkeit gemessene Unbestimmtheit der Begriffe ist jedoch nichts, was den Begriffen erst angeschafft werden muss. Die Unbestimmtheit der Begriffe gehört zu demjenigen Aspekt der Begrifflichkeit der Sprache, der dem Funktionieren der gewöhnlichen sprachlichen Praxis vorausgesetzt ist, in dieser jedoch nicht sichtbar wird. Ohne dass jeder Begriff immer schon mehr bedeutete als das, was er in einem Urteil bedeutet, könnte jedoch gar nicht geurteilt werden, denn dann wäre mit einem Begriff immer nur dieses eine Urteil möglich. Da es jedoch zu Begriffen als solchen dazugehört, dass sie Eines sind, das für Vieles gilt, wäre ein Begriff, der ausschließlich in einem einzigen Urteil verwendet werden könnte, kein Begriff mehr. Ohne den jedem Urteil bereits vorausgesetzten Überschuss des Begriffs könnte gar keine Festlegung auf ein bestimmtes Moment der Bedeutung im Urteil erfolgen. Dieser Überschuss besteht nun einerseits im Verhältnis der Begriffe zueinander in der Sprache. In dieser Hinsicht ist der Überschuss des Begriffs selbst ein semantischer Überschuss. Er weist über das hinaus, was der Begriff an Ort und Stelle bedeutet. Andererseits schließen sich an die Begriffe gerade Assoziationen an, die sich zwar an der Bedeutung eines Begriffs entzünden können, jedoch ebenso an seinem Klang und seiner sinnlichen Gestalt. Dieser Aspekt des Überschusses des Begriffs ist gerade nicht als ein semantischer, sondern als ein rhetorisch-ästhetischer Überschuss zu verstehen. „Die fixierten Bedeutungen sind herausgebrochen aus dem Leben der Sprache. Dessen Rudimente aber sind die in den begrifflichen Bedeutungen nicht aufgehenden, gleichwohl mit zarter Notwendigkeit an die Worte sich anschließenden Assoziationen. Gelingt es der Dichtung, in ihren Begriffen die Assoziationen zu erwecken und mit ihnen das signifikative Moment zu korrigieren, so beginnen die Begriffe, jener Konzeption zufolge, sich zu bewegen. Ihre Bewegung soll zur immanenten des Kunstwerks werden.“ (Adorno 1974b: 437)
Von dem, was von einem Begriff an Unbestimmtheit in einem Werk freigesetzt werden kann, wird ebenfalls nur ein bestimmter Aspekt freigesetzt und welcher das ist, darüber entscheidet die Form des Werks. Diese kann nicht das Ganze eines oder aller verwendeten Begriffe vorführen, sondern muss für ihre selbst begriffslose Synthesis von allen verwendeten Begriffen auch etwas unberück48
sichtigt lassen. Nur dann kann sie an den Begriffen ein bestimmtes Moment von deren eigener nichtbegrifflicher Bestimmtheit hervorheben. Ihre synthetische Funktion erhält die Form durch den begrifflichen Charakter der Sprache, sodass dieser in der sprachlichen Kunst dafür eingesetzt wird, um das Unbegriffliche am Begriff freizusetzen, um dem zum Ausdruck zu verhelfen, was die gewöhnliche begriffliche Sprache nicht auszudrücken vermag.
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Zur kritischen Funktion urteilsloser Urteile
Aus Adornos Überlegungen zur Urteilslosigkeit der Urteile sprachlicher Kunst lassen sich somit Einsichten über das Funktionieren von Sprache überhaupt gewinnen, die geeignet sind, Verengungen, die es innerhalb der sprachlichen Praxis gibt, sichtbar zu machen. Wenn bestimmende Urteile oder – was hier dasselbe meint – simple prädikative Sätze Eindeutigkeiten sprachlicher Bedeutung herstellen, deren Voraussetzung geschichtlich differenzierte und mehrdeutige Bedeutungen sind, so führt die Ästhetisierung der bestimmenden Urteile, die in der sprachlichen Kunst vorgenommen wird, zu zweierlei: einerseits erscheint die Eindeutigkeit der Bedeutung als temporäres Resultat einer Geschichte und andererseits können die bestehenden Festlegungen in der gewöhnlichen sprachlichen Praxis sowohl als Ausdruck einer spezifischen sozialgeschichtlichen Situation als auch als veränderbar verstanden werden. „Sprache ist der eigenen objektiven Substanz nach gesellschaftlicher Ausdruck, auch wo sie als individueller schroff von der Gesellschaft sich sonderte.“ (Adorno 1951: 250) Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik stellt sich aus Adornos Perspektive darum auch auf dieser Ebene und nicht auf der eines politischen Stoffes, der in einem Kunstwerk behandelt wird. Ohne dass die sprachliche Kunst darauf abzielt, in konkrete soziale oder politische Sachverhalte einzugreifen, führt sie durch die Suspension der Vereindeutigung sprachlicher Bedeutung doch gerade vor, dass die bestehende sprachliche Praxis, in der sich als gesellschaftlichem Ausdruck doch soziale Herrschaft signiert hat, nicht die einzig mögliche ist. Zwar kommt sprachliche Praxis ohne Vereindeutigung nicht aus, sodass es auch nicht diese selbst ist, die zur Kritik steht, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Zwecke, zu deren Erreichung die Vereindeutigungen inhaltlich vorgenommen werden. Insofern die sprachliche Kunst also auf die Unbestimmtheit der Sprache als solcher hinweist, legt sie den naturhaften Schein offen, den die spezifischen inhaltlichen Festlegungen und Vereindeutigungen der gewöhnlichen sprachlichen Praxis gegenwärtig produzieren müssen. Was damit in den Blick kommt, ist die Möglichkeit des Streits um dasjenige, worauf eine Gesellschaft sich in ihrer Sprache festlegen möchte, der letztlich ein Streit darum ist, wie zu leben sei. 49
Wie dieser Streit zu führen ist, wird nicht von der Kunst festgelegt, genauso wenig wie sie für Adorno in einem solchen Streit in dem Sinne eine Position beziehen soll, dass sie konkrete inhaltliche Vorschläge macht, wie zu leben sei. Natürlich ist die Kunst auch für Adorno ein Ort, an dem so etwas wie die Selbstverständigung der Subjekte über die Welt, in der sie leben, stattfindet. In diesem Sinne ist auch sie Teil der sozialen Welt, von der sie sich absetzt. Aus Adornos Perspektive muss dieses sich Absetzen der Kunst – ihre Autonomisierung durch die Ästhetisierung des Gewöhnlichen7 – gerade deswegen stattfinden, weil eine Selbstverständigung, die ganz und gar von den Bestimmungen der gegenwärtigen sozialen Welt beherrscht würde, von vorneherein auch den Zwecken folgte, denen diese soziale Welt sich verschrieben hat. Die „gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft“ (Adorno 1970: 19), als die Adorno die Kunst versteht, zielt selbst auf ein Anderes ab, das gerade gesellschaftlich realisiert werden müsste. Wie diese Realisierung und wie eine andere Gesellschaft aussehen sollte, das ist nicht das, wofür Kunstwerke inhaltliche Vorschläge liefern können. Sie können stattdessen nur innerhalb dieser Welt eine Distanz zu ihr herstellen, die es möglich macht, sich auf die Welt anders zu beziehen, als dies in den Formen der Alltagspraxis und ihrer Sprache möglich ist. Darauf zielt auch Adornos Kritik der Nivellierung der Differenz kulturindustrieller und künstlerischer Produkte ab, die ich gerade nicht als Ausdruck eines Elitarismus verstehe: „Die von der Kulturindustrie Überlisteten und nach ihren Waren Dürstenden befinden sich diesseits der Kunst: darum nehmen sie ihre Inadäquanz an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebensprozeß – nicht dessen eigene Unwahrheit – unverschleierter wahr als die, welche noch daran sich erinnern, was einmal ein Kunstwerk war. Sie drängen auf Entkunstung der Kunst. Die Leidenschaft zum Antasten, dazu, kein Werk sein zu lassen, was es ist, ein jegliches herzurichten, seine Distanz vom Betrachter zu verkleinern, ist unmißverständliches Symptom jener Tendenz. Die beschämende Differenz zwischen der Kunst und dem Leben, das sie leben und in dem sie nicht gestört werden wollen, weil sie den Ekel sonst nicht ertrügen, soll verschwinden; das ist die subjektive Basis für die Einreihung der Kunst unter die Konsumgüter durch die vested interests.“ (Adorno 1970: 32)
Die Distanz vom Alltagsleben, die die Kunst herstellen kann, wird von Adorno hier als etwas verstanden, das als schmerzhaft erfahren wird und deswegen von den Subjekten abgewehrt werden muss. Sie kann von den Subjekten aber nur als schmerzhaft erfahren werden, weil die Kunst als ein Teil die-
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An dieser Stelle wäre es reizvoll einen Vergleich Adornos mit Arthur Dantos Theorie der Kunst als einer Verklärung des Gewöhnlichen vorzunehmen, den ich hier aus Platzgründen jedoch leider nicht anbieten kann. Überlegungen dazu finden sich bei Goehr 2007.
ser Welt mit dieser Welt bricht, oder anders formuliert: Weil die Praktiken, mit denen sich die Subjekte ihre Welt normalerweise und auch im Falle kulturindustrieller Produkte erschließen, auf Kunstwerke nicht angewendet werden können beziehungsweise an ihnen scheitern, werden Kunstwerke als unverständlich oder störend erfahren. Damit dieser Schmerz, der auf die Grenzen der sozialen Lebenswirklichkeit der Menschen verweist, ertragen werden kann, muss das urteilslose Urteil der Kunst in der Rezeption in ein bestimmendes Urteil verwandelt werden. Sobald das, was ein Kunstwerk sagt, aber in die gewöhnliche Alltagssprache übersetzt und auf eine solche Aussage reduziert wird, ist das Werk – wie Adorno es mit einem Neologismus ausdrückt – entkunstet.8 Von den Urteilen der Kunst zu sprechen beziehungsweise Kunst in der Urteilstheorie zu behandeln und ihr selbst eine spezifische Weise des Urteilens zuzusprechen, ist darum keine ästhetizistische Übertreibung. Vielmehr werden von der Urteilslosigkeit künstlerischer Urteile her sowohl die Grenzen bestimmender Urteile als auch die Kosten einer sozialen Praxis, in der primär bestimmende Urteile handlungsleitend sind, erkennbar. Darum ist der politische oder gesellschaftliche Gehalt von Kunstwerken bereits in der Form zu finden, wie sie urteilen, sodass die Rede von politischer Kunst letztlich ein Pleonasmus ist, der meistens dann auftaucht, wenn Kunstwerke als sinnliche Träger politischer Botschaften verwendet werden. Diese aus Adornos Perspektive als Entpolitisierung und Entkunstung zugleich zu verstehende Verwendung von Kunst, in der der politische Inhalt der künstlerischen Form vorausgesetzt wird, sodass die Form dem Inhalt untergeordnet wird, verschenkt darum gerade die politischen Möglichkeiten, die sie einlösen möchte. Adornos Rede von den urteilslosen Urteilen der Kunst ermöglicht es dagegen gerade, das Spannungsverhältnis zwischen der gewöhnlichen Urteilspraxis und den mit ihr zusammenhängenden alltäglichen Handlungen einerseits und der Unverständlichkeit künstlerischer Sprache aufrechtzuerhalten, sodass die Kunst weder zum Alltagsgegenstand oder politischen Propagandainstrument entkunstet noch einer Sphäre, die sich vollkommen außerhalb des politischen und sozialen Lebens bewegt, zugeordnet wird – nicht mehr und nicht weniger. Literatur Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders., Gesammelte Schriften (GS) Bd. 4, hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
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Zum Begriff der Entkunstung vgl. Düttmann 2000.
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Ders. (1966): Negative Dialektik, GS 6. Ders. (1970): Ästhetische Theorie, GS 7. Ders. (1974a): Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins, GS 11, 447-491. Ders. (1974b): Voraussetzungen. Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms, GS 11, 431–446. Ders. (2006): Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Ders. (2009): Ästhetik (1958/59), hrsg. von Eberhard Ortland. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bernstein, Jay M. (2001): Adorno. Disenchantment and Ethics. Cambridge: Cambridge University Press. Bernstein, Jay M. (2004): Mimetic Rationality and Material Inference: Adorno and Brandom, in: Revue Internationale de Philosophie, 63 (2004) 1, 7–23. Düttmann, Alexander García (2000): Entkunstung, in: ders., Kunstende. Drei ästhetische Studien. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 14–128. Figal, Günter (2004): Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos, in: Wolfram Ette, Günter Figal, Richard Klein und Günter Peters (Hg.), Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 13–23. Figal, Günter (2006): Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie. Tübingen: Mohr Siebeck. Goehr, Lydia (2005): Doppelbewegung. Die musikalische Bewegung der Philosophie und die philosophische Bewegung der Musik, in: Axel Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 279–317. Goehr, Lydia (2007): For the Birds/Against the Birds. The Modernist Narratives of Danto and Adorno (and Cage), in: Daniel Herwitz und Michael Kelly (Hg.), Action, Art, History. Engagements with Arthur C. Danto. New York: Columbia University Press, 43–72. Guzzoni, Ute (2014): Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze. Freiburg/München: Verlag Karl Alber. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Wissenschaft der Logik I. Erster Teil: Die objektive Logik. Erstes Buch: Das Sein, in: ders., Werke Bd. 5, neu hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Hogh, Philip (2015): Kommunikation und Ausdruck. Sprachphilosophie nach Adorno. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Kant, Immanuel (1793/2003): Kritik der Urteilskraft. Hamburg: Felix Meiner. Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Menke, Christoph (2008): Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp.
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Adorno, Kafka und die Psychoanalyse Das verstümmelte Subjekt durch das Prisma von Adornos Aufzeichnungen zu Kafka1 Shierry Weber Nicholsen
I In den Aufzeichnungen zu Kafka, dem letzten Essay in Prismen, beschäftigt sich Adorno mit dem Wortwörtlichen in Kafkas Texten. Ohne auf eine Sprachtheorie Bezug zu nehmen, stellt Adorno dieses Wortwörtliche einer Dimension von Sprache entgegen, die zur Vermittlung von Bezeichnungen, Bedeutungen und Symbolen dient. Adorno merkt zwar an, dass Kafka die inzwischen geläufige Interpretation seiner Werke hinsichtlich Symbolik, abstrakter Philosophie oder Theologie selbst vorgeschlagen hatte, betont jedoch zugleich, dass Kafkas starke Wirkung auf die LeserInnen gerade in der eindringlichen Gegenwart des Wortwörtlichen und der Ablehnung einer wie auch immer gearteten symbolischen oder philosophischen Lesart begründet ist. „Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Beides ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, sondern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischen blendet der grelle Strahl der Faszination.“ (Adorno 1953: 255) Obwohl die Aufzeichnungen zu Kafka einerseits eine gegenläufige Interpretation zur gängigen Lesart von Kafkas Werken darstellen, sind sie vielmehr auch ein Essay zur Kulturkritik sowie zur Textform, die eine solche voraussetzt. Wie Adorno in Zusammenhang mit dem Titel Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft bemerkt: „[D]urch jeden Text, jeden Autor hindurch soll etwas von der Gesellschaft schärfer erkannt werden; die behandelten Werke sind Prismen, durch die man auf Wirkliches hindurchblickt“ (Adorno 1962: 328). Analog dazu benutze ich Adornos Aufzeichnungen zu Kafka, seine Darstellung von Kafkas Werk sowie dessen Affinität zur Psychoanalyse als Prisma, um einen zentralen Gegenstand von Adornos eigenem Denken
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Dieser Aufsatz erschien zuerst auf Holländisch in Johan Hartle und Thijs Lijster (2015) (Hg.): De kunst van kritiek / druk 1: Adorno in context. Amsterdam: Octavo. Die vorliegende Übersetzung des englischen Originaltextes erfolgte durch Lisa Schultz.
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zu explizieren. Dabei werde ich zudem erläutern, wie sich dieses in textlicher Form zeigt, um einen Schwerpunkt von Adornos eigenen Gedanken und der Notwendigkeit ihrer textlichen Form zu untersuchen. Denn im Mittelpunkt von Adornos Denken steht die Dialektik von Identischem und Nichtidentischem sowie deren Verhältnis zu subjektiver Erfahrung. Zugleich ist das Verhältnis zwischen Sprache und Begrifflichem beziehungsweise Nicht-Begrifflichem, das Adorno in Kafkas Werk hervorhebt, wiederum ein zentraler Bestandteil dieser Dialektik. Und des Weiteren sind beide Verhältnisbestimmungen sowohl ein wesentlicher Aspekt des „Wirklichen“, auf dessen Aufklärung Adornos Kulturkritik abzielt, sowie von dem, was zwangsläufig in der Textform seiner Schriften verankert ist. In ihrer paradigmatischen Form bewegen sich Adornos Schriften an den Grenzen zwischen Philosophie, Kritik sowie Kunst oder Literatur. Seine Texte sind Essays und, wie er in seinem wegweisenden Aufsatz Der Essay als Form (Adorno 1958) ausführt, auf eine Art und Weise aufgebaut, die ich als konfigurative Form bezeichne (vgl. Nicholsen 1997). Auch der vorliegende Artikel wurde in dieser Essayform verfasst und verfolgt das Ziel, diese konfigurative Form von Adornos Schriften sowie ihre Bedeutung zu erläutern. Aus diesem Grund werde ich mich weniger mit der Interpretation von Kafkas Werken noch mit den grundlegenden Eigenschaften der Psychoanalyse beschäftigen, sondern vielmehr mit der Konstellation, die diese in Adornos Kommentaren bilden. Ich beginne mit Kafkas Prisma und mache dann einen Exkurs zum Prisma der Psychoanalyse. Abschließend diskutiere ich Adornos Textform und gehe darauf ein, wie sein Verständnis von Natur sowie von subjektiver Erfahrung in der modernen Welt durch diese Textform vermittelt wird. Um wieder auf die Aufzeichnungen zu Kafka zurückzukommen: Adorno verortet Kafkas Schriften schnell in dem, was er unter modernistischer Ästhetik versteht. In dieser schleudert das Werk die LeserInnen mit Gewalt in einen Zustand der Verwirrung, der wiederum dazu führt, dass die geistesverstümmelnden Auswirkungen einer totalisierenden Gesellschaft erschüttert werden. Adorno benutzt das Wort „Faszination“, um die Wirkung von Kafkas Texten auf die LeserInnen zu beschreiben. Geht man von einer konventionellen, bedachten Haltung der LeserInnen als potenziell Interpretierende aus, kann man sagen, dass sie in einen Zustand der Verstörung versetzt, „in die Irre geführt“ werden (Adorno 1953: 255). In seinen Werken, so Adorno, ziehe Kafka „die ästhetische Distanz ein“ (Adorno 1953: 256). Die LeserInnen werden dazu aufgefordert, gar dazu angetrieben, zu deuten, sind jedoch nicht in der Lage, ein kontemplatives Verhältnis zum Text aufrechtzuerhalten, in dem eine solche Deutung möglich wäre. Anstelle eines abstrakten logischen Gedankens wird bei den LeserInnen eine Unruhe geweckt: „Seine [Kafkas, S.W.N.] Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten 54
muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik.“ (Adorno 1953: 256) Im Schock erkennen die LeserInnen, dass die Texte ihnen einen intimen Kontakt aufzwingen, und gelangen zu der plötzlichen Erkenntnis, dass es um die Frage von „Leben oder Tod“ geht (Adorno 1953: 256).2 Aber was ist diese wortwörtliche, nicht-(be)deutende Dimension in Kafkas Schriften, die in ihrer nicht-begrifflichen Präsenz so wirksam ist und die LeserInnen anspringt? Es ist genau das, was Kafka mit solch großer Sorgfalt und Präzision geschrieben hat und was Adorno zufolge, Wort für Wort gelesen und aufgefasst werden muss. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um den Text selbst, aber ebenso um das, was er nicht zur Interpretation preisgibt. Denn bei einer wörtlichen Auffassung des Textes stoßen wir auf das Konkrete, das Gestische, das Detail. Nur dadurch kann man der Wahrheit nahekommen, auf die Kafka sich beruft, und somit auch der Wahrheit in Kafkas Werk. Für Adorno stellen Gesten bei Kafka beispielsweise das Gegenbild zu Wörtern dar. Sie sind „Spuren der Erfahrungen, die vom Bedeuten zugedeckt werden. Der jüngste Stand einer Sprache”, so Adorno weiter, „[…] nötigt ihn [Kafka, S.W.N.] dazu, das geschichtliche Verhältnis von Begriff und Gestus spiegelbildlich umzukehren. Der Gestus ist das ,So ist es‘; die Sprache, deren Konfiguration die Wahrheit sein soll, als zerbrochene die Unwahrheit.“ (Adorno 1953: 259) Somit müssen die LeserInnen „auf den inkommensurablen, undurchsichtigen Details, den blinden Stellen beharren“ (Adorno 1953: 258). Adorno erläutert eingehend die Facetten, die diese undurchsichtigen Details vermitteln: eine erfahrungsbasierte Dimension, in der Leben und Tod auf dem Spiel stehen, in der der Kampf jedoch gleichzeitig schon verloren scheint; eine Landschaft, die sich aus dem Maroden und Obsoleten zusammenfügt; Wesen wie der Jäger Gracchus, der nicht wirklich lebendig ist, es aber auch nicht vermag, tatsächlich zu sterben; „Halbwesen“, die so undifferenziert sind, dass sie immer in Paaren auftreten, wie beispielsweise die Gehilfen; Ereignisse, die traumähnlich erscheinen, jedoch keine Träume sind; und schließlich eine Landschaft, die mehr archaisch und prähistorisch ist, denn Teil von Geschichte. Verknüpfungen solch undurchsichtiger Details, die nicht aufeinander reduzierbar sind und die das Gefühl eines Déjà-vu vermitteln, das sich nicht abschütteln lässt, machen einen Text von Kafka zu einem Rebus, zu einem Puzzle, von dem eine ominöse und rätselhafte Faszination ausgeht. „Der aber solche Rebusse aufzulösen vermöchte“, schreibt Adorno, „wüßte mehr von Kafka, als wer in ihm die Ontologie illustriert findet.“ (Adorno 1953: 260)
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Für eine ausführliche Diskussion von Adornos Verständnis der gewaltsamen Wirkung auf den/die LeserIn vgl. Nicholsen 2010a.
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Wortwörtlich aufgefasst rufen Kafkas Texte ein zutiefst verstörendes Gefühl des Unheimlichen hervor. Das liegt nicht unmittelbar darin begründet, dass es in Kafkas Erzählungen um besonders verstörende oder schreckliche Ereignisse geht – obwohl dies teilweise auch der Fall ist. Das Grauen liegt vielmehr in der wortwörtlichen Dimension des Textes selbst, die sich außerhalb von Geschichte verortet. Wenn dem Prähistorischen, Archaischen und dem Mystischen mehr Wahrheit innewohnt als dem augenscheinlich Symbolischen, Rationalen und Philosophischen, liegt das daran, dass das Prähistorische, Archaische und Mystische die ewige Wiederholung des gleichen Grauens als selbstverständlich und durchdringend darstellen. Ähnlich wie in einer Passage aus Der Prozeß, in der Josef K. die Tür zu einem Raum öffnet, in dem die Wächter am Tag zuvor geprügelt wurden – nur um genau dieselbe Szene erneut zu beobachten, als wäre es eine Selbstverständlichkeit (vgl. Adorno 1953: 264). „Nicht das Ungeheuerliche schockiert“, so Adorno, „sondern dessen Selbstverständlichkeit.“ (Adorno 1953: 258) Für Adorno liegt genau darin die Krux. Kafkas Landschaften sind nicht nur von menschenunwürdigem Leben und einem unerreichbaren Tod durchsetzt, sondern es stehen gleichzeitig auch Leben und Tod des/der LeserIn auf dem Spiel. Wie die geprügelten Wächter, die jedes Mal aufs Neue – und wahrscheinlich immer und immer wieder ad infinitum – eine Wirkung bei Josef K. hinterlassen, so ruft auch die Selbstverständlichkeit des Ungeheuerlichen die LeserInnen zu (Selbst-)Erkenntnis auf. Wenn es in Kafkas Werken keine wiedererkennbaren, „gewöhnlichen“ menschlichen Charaktere gibt, mit denen sich die LeserInnen identifizieren können, so ist stattdessen das verstümmelte Subjekt der Bedrohung ausgesetzt, seinen eigenen Zustand der Verstümmelung und Obsoleszenz in den deformierten Wesen und Landschaften von Kafkas Schriften wiederzuerkennen. Beim erneuten Anblick derselben Szene schlägt Josef K. die Tür zu und haut mit den Fäusten dagegen, „als sei sie dann fester verschlossen“ (Kafka in Adorno 1953: 264). Für Adorno ist die Anziehungskraft von gewöhnlichen, konventionellen Interpretationsschemata – in Kafkas Fall die der negativen Theologie – mit dem Versuch gleichzusetzen, die Tür der Erkenntnis zuzuschlagen. Er steht in keiner Art von Dialog mit anderen InterpretInnen von Kafkas Werk (weder nennt er andere InterpretInnen, noch sieht er eine Notwendigkeit darin, andere zu erwähnen). Hingegen ist es das Anliegen Adornos, mithilfe seiner Beschreibung von Kafka diese Tür aufzustoßen, um sichtbar zu machen, was zuvor unterdrückt wurde: „Den in den Gesten sedimentierten Erfahrungen wird einmal die Deutung folgen, in ihrer Mimesis ein vom gesunden Menschenverstand verdrängtes Allgemeines wiedererkennen müssen.“ (Adorno 1953: 259) Das Allgemeine, was nach Adornos Vorstellung in Kafkas Werken die Krux darstellt, charakterisiert sich dadurch, dass das Subjekt selbst von Vernichtung bedroht ist, die von der gesellschaftlichen Totalität ausgeht, in welcher der Be56
griff des Individuums gerade seinen Ursprung hat. Im Zusammenhang mit dieser Bedrohung schreibt Adorno: „So schwer ist den Menschen die Individuation geworden, und so schwankend blieb sie bis zum heutigen Tag, daß sie tödlich erschrecken, wenn ihr Schleier um ein weniges sich hebt.“ (Adorno 1953: 264) In Kafkas Landschaft des Déjà-vu ist Individualität obsolet geworden, und diese Erkenntnis ist zugleich erschreckend wie auch schockierend. Diesen Schock gilt es jedoch auszuhalten, wenn die Tür nicht geschlossen bleiben soll, und ein Teil der Aufgabe von Kafkas wie auch Adornos Schriften liegt genau darin, diesen Schock herzustellen. Die Affinität von Freud und Kafka macht Adorno daran fest, dass beide die prekäre Situation eines bereits stark verstümmelten Subjekts als Bedrohung benennen – und gerade darin begründet sich Adornos eigene Affinität zur Psychoanalyse. Ähnlich wie er Kafka in anderen zeitgenössischen modernistischen Bewegungen und dem Surrealismus oder Expressionismus verortet, so verortet er ihn auch in Freuds Psychoanalyse. Adorno zufolge sieht Freud, ebenso wie Kafka, die unwiderstehliche Kraft von Machtverhältnissen sowie die Subtilitäten, mit denen diese wahrgenommen werden, als selbstverständlich an (vgl. Totem und Tabu). Wie Kafka bewegt er sich an den Abgründen der menschlichen Psyche (vgl. Zur Psychopathologie des Alltagslebens) und beschäftigt sich mit den obskuren Details, wie er es beispielsweise mit dem Bild vom „Nabel des Traums“ tut; sprich, wenn der Traum in eine Sphäre des Unerkannten gelangt und eine Deutung desselben folglich verwehrt bleibt (vgl. Die Traumdeutung). In Verbindung mit den undurchsichtigen Details, die Kafkas Texte in eine Landschaft von Déjà-vus verwandeln und die Sprache auf den Kopf stellen, um ihre Kehrseite zu präsentieren, kommen Kafkas Texte per se mit ihrer scharfen und beruhigenden Trennung zur wachen Realität nicht Träumen gleich, sondern bewegen sich genau an der Grenze, an der der Traum nicht mehr von seinem Nabel unterschieden werden kann. Wenn Kafka aber keine negative Theologie symbolisiert, dann lässt sich seine Affinität zu Freud auch nicht mit dem „bloßen Ausdruck“ seiner persönlichen Psychopathologie begründen. Die rein persönliche Psychopathologie ist nicht die Art von subjektiver Verstümmelung, um die es bei Adorno und Kafka geht. Adorno zufolge greift Kafka ebenso wie Freud auf die Neurose zurück, um zu einem Verständnis einer grundlegenden Wahrheit zu gelangen: „[D]ie Wunden, welche die Gesellschaft dem Einzelnen einbrennt, werden von diesem als Chiffren der gesellschaftlichen Unwahrheit, als Negativ der Wahrheit gelesen“ (Adorno 1953: 262). Sowohl Kafka als auch Freud geht es nicht um unvoreingenommene Objektivität, und ebenso wenig um eine abgekoppelte und von Desinteresse geprägte Distanz zum Gegenstand. Vielmehr geht es um die Erforschung der irrationalen Subjektivität, aus der letztlich objektive Erkenntnis hervorgehen kann. Dies rechtfertigt jedoch keinesfalls eine oberflächliche Universalisierung des Irrationalen. Die 57
„Anstrengung der tödlichen Verschlossenheit“ (Adorno 1953: 263), die nach Adorno die hermetische Beschaffenheit von Kafkas Texten hervorruft, darf keinesfalls umgangen werden. Im psychoanalytischen Sinne ist es der Skeptizismus gegenüber der Stärke und Kohärenz des Ichs und dessen Beherrschung der Realität, den Adorno als Verbindungspunkt zwischen Freud und Kafka hervorhebt. Letztendlich begründet sich demnach Kafkas Affinität zu Freud in seinem Bewusstsein über die illusorische Stabilität und Autonomie des Ichs. Adorno beschreibt diese Affinität zwischen Kafka und Freud wie folgt: „Er [Kafka, S.W.N.] unterscheidet von dem viel Älteren, naturwissenschaftlich Gesinnten [Freud, S.W.N.] sich nicht durch zartere Spiritualität, sondern indem er ihn in der Skepsis gegen das Ich womöglich noch überbietet. […] [E]r sprengt sie [die Psychoanalyse, S.W.N.], indem er sie genauer beim Wort faßt als sie sich selber“ (Adorno 1953: 262). Was Adorno bei Kafka als das Wortwörtliche bezeichnet, ist ein Zeichen dieses Skeptizismus. Bei Kafka wird die Person „aus einem Substantiellen zum bloßen Organisationsprinzip somatischer Impulse. […] Im Abbau“, so folgert Adorno über Kafka, „hält er nicht, wie die Psychologie, beim Subjekt inne, sondern dringt auf das Stoffliche, bloß Daseiende durch, das im ungeminderten Sturz des nachgebenden, aller Selbstbehauptung sich entäußernden Bewußtseins auf dem subjektiven Grund sich darbietet“ (Adorno 1953: 262).
II In Adornos Beschreibung der Bedeutung von Kafkas Schriften zeigt sich sein Bemühen, der Wahrheit hinter dem Zusammenbruch des Ichs auf die Spur zu kommen, der gleichsam das Kraftfeld hervorruft, in dem sich die LeserInnen von Kafkas Texten verlieren. Das zeigt sich implizit in dem blendenden Licht, das Josef K. trifft, als er die Tür öffnet. Darin geht Kafkas Affinität zu Freud sogar über die Beschreibungen von Adorno hinaus. Denn die Psychoanalyse hat sich genau dahingehend entwickelt, dieses Phänomen zu verstehen, bei dem das Kraftfeld eine Interpretation dessen ermöglicht, was sich der Symbolisierung entzieht. Bedeutet Psychoanalyse für Adorno in der Regel ‚nur‘ Freud und Freuds Denken3, könnte man dennoch sagen, dass sich einige Schulen in der psychoanalytischen Theorie (hauptsächlich, jedoch nicht ausschließlich in Frankreich) in den letzten siebzig Jahren nach der Fer-
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Adorno bezieht sich nur selten auf andere analytische TheoretikerInnen oder auf die Methode und den Prozess der Psychoanalyse, stellt jedoch in der Minima Moralia fest, dass die nordamerikanische „Ich“-Psychologie einer Anti-Psychoanalyse gleichkommt; vgl. Nicholsen 2010b.
tigstellung der Aufzeichnungen zu Kafka in eine Richtung entwickelt haben, die Adorno in diesem Essay anhand seiner Beschreibung von Kafkas Werk sowie dessen Auswirkungen und Folgen bereits angedeutet hat. Mithilfe einer Betrachtung aktuellerer psychoanalytischer Untersuchungen lässt sich aufzeigen, was Adorno durch das Prisma von Kafka zu vermitteln versuchte, sowohl hinsichtlich der Fragilität des Individuums als auch seiner Bemühungen, das Undarstellbare darzustellen. Beispielsweise ist der von Joyce McDougall (1978) beschriebene „anti-analysand“, den Christopher Bollas (1987) mit dem treffenden Ausdruck „normotic“ bezeichnet, so vollständig von der herrschenden Kultur assimiliert, dass er für die Psychoanalyse nicht zugänglich beziehungsweise undurchdringlich ist. Aus der Gegenrichtung ist hier auch die Arbeit der Pariser Psychosomatischen Schule zu psychosomatischen Erkrankungen zu erwähnen, die nicht symbolisch für emotionale Konflikte stehen und von „operativem Denken“ (pensée opératoire) begleitet werden (vgl. Marty/De M’Uzan, 1963/1978; Marty/De M’Uzan/David 1963). Dieses operative Denken bleibt dem absolut Praktischen und Konkreten verhaftet, wodurch sich eine Art Abgrund zwischen dem erkrankten Körper und dem Geist eröffnet. Der Begriff des psychischen Traumas, welches das Ich überwältigt, wurde in sämtlichen psychoanalytischen Theorien eingehend behandelt. Michel de M’Uzan (2007) und Dominique Scarfone (2006) verbinden Freuds Unterscheidung zwischen der Psychoneurose und der Aktualneurose – die Auswirkung eines Traumas – mit seinem Begriff des Wiederholungszwangs. Dabei gehen sie umfassend auf den zeitlichen Aspekt einer Aktualneurose ein. Bei dieser wird ein statisches, in der jüngsten Vergangenheit liegendes Erlebnis fortwährend und in identischer Form wiederholt und durch diese repetitive Elaboration seiner Bedeutung von seiner geschichtlichen Dimension abgeschnitten. Der zeitliche Aspekt des Gegenwärtigen führt dabei nicht zu einer persönlichen Geschichte, sondern laut Scarfone zu einer andauernden „unpast“, die sich bei Kafka auch in der Unmöglichkeit des Sterbens findet. Eng damit verbunden und ausgehend von der freudschen Unterscheidung zwischen „Wortvorstellungen“ und „Sachvorstellungen“ befassen sich PsychoanalytikerInnen mit dem, was sich dieser Vorstellung entzieht oder der Vorstellung in der Psyche gar vorausgeht. In diesen letztgenannten Entwicklungen wird die Frage nach dem, was der mentalen Vorstellung vorausgeht und folgt, mit der Untersuchung des unbewussten Felds verknüpft, das zwischen AnalytikerIn und PatientIn liegt und in dem die analytische Sitzung stattfindet – mit anderen Worten: ein Kraftfeld, das dem in Kafkas Werken nicht unähnlich ist. In Anlehnung an Freuds Untersuchung des Unheimlichen und dessen Phänomenen des Déjàvu und der Depersonalisation beschreibt beispielsweise Michel de M’Uzan (2010), wie die Grenzen des Ichs des/der AnalytikerIn derart verschwimmen können, dass das, was sich in der Psyche des/der PatientIn der Vorstellung 59
entzieht, zu einer Art Vorstellung in der Psyche des/der AnalytikerIn führen kann – ein Moment der Depersonalisation, der nicht pathologisch ist, sondern den Prozess hin zu einer Verbalisierung und Interpretation unterstützt. César und Sára Botella (2005) beschreiben einen ähnlichen Prozess, den sie als „working as a double“ bezeichnen. In diesen unterschiedlichen Entwicklungen psychoanalytischen Denkens, die letztendlich alle auf Freud zurückgehen, von denen jedoch keine von Freud ausgearbeitet wurde, lässt sich eindeutig eine Analogie zu den Elementen herstellen, die Adorno bei Kafka hervorhebt. Auch hier rufen das Nichtsymbolische und das Wortwörtliche Erlebnisse des Déjà-vu, der Depersonalisation sowie eine Doppelung in dem Kraftfeld hervor, das zwei TeilnehmerInnen in einem gemeinsamen Prozess mit scheinbar unterschiedlichen Rollen miteinander verbindet. Anhand einer klinischen „Vignette“ (vgl. Botella/Botella 2005: 71-75), wie diese in psychoanalytischen Schriften bezeichnet wird, lässt sich veranschaulichen, wie stark diese Affinität ausgeprägt ist. Ein Patient, der gewöhnlich in starrer Haltung auf der Couch liegt und mit seinem Blick bestimmte Gegenstände im Raum fixiert (einschließlich des Analytikers, sofern sich dieser in seinem Blickfeld befindet), erzählt von einem Traum, der selten und in unregelmäßigen Abständen auftritt: „We are together … you are going to have a shower … I don’t follow you“ (Botella/Botella 2005: 72). Der Analytiker hält sich zurück und spricht die bei ihm aufkommenden Interpretationen nicht aus, da er davon ausgeht, dass diese wahrscheinlich oberflächlich und voreilig sind. In der nächsten Sitzung berichtet der Patient, er habe den Analytiker auf dem Boulevard St. Michel gesehen (wo dieser sich an jenem Morgen tatsächlich zusammen mit seiner Frau aufhielt). Während er dem Analytiker erzählt, dass er ihn gesehen habe, wird der Patient zunehmend unsicherer: „I’m not sure anymore if I saw you … You were wearing dark glasses, weren’t you?“ (Botella/Botella 2005: 72) Mit der zunehmenden Unsicherheit des Patienten überkommt den Analytiker ein beklemmendes, albtraumhaftes Gefühl, ein Gefühl von Unheimlichkeit und Depersonalisation. Scheinbar spontan kommt ihm das Wort „hieratisch“ in den Sinn, gepaart mit Zweifel hinsichtlich der Formulierung „dark glasses“. Seine Assoziationen führen den Analytiker schließlich zum Bild eines lebendigen Toten, der zum Zeichen seiner Trauer eine Sonnenbrille trägt. Dieses Bild existiert parallel zu seiner eigenen Erfahrung, die er während seines angenehmen morgendlichen Spaziergangs gemacht hat, und unterscheidet sich zugleich doch grundlegend von dieser. Der Patient fährt fort: „I don’t know any more if I saw you“, und weiter, „I am looking for you in the image and I can’t find you any more.“(Botella/ Botella 2005: 73) Der Analytiker denkt an den Begriff „negative Halluzination”. Die Autoren des Artikels, in dem diese klinische Vignette beschrieben wird, und die den beim Analytiker ablaufenden Prozess als „the work of figurability“ bezeichnen – eine Denkarbeit, die in der Psyche des Pa60
tienten einem Erlebnis eine erste Ebene der Vorstellung zukommen lässt – kommentieren an dieser Stelle wie folgt: „Are there not grounds for thinking […] that there is a correspondence between the void of the analyst’s disappearance from the analysand’s ,image‘ and the fullness of the means of figuration employed by the analyst’s nightmare? […] And moreover that the analyst’s psyche served as a ,darkroom‘ revealing what could only be inscribed negatively in the analysand?“ (Botella/Botella 2005: 73 f.) Die Sitzung geht weiter. Der Analytiker hat noch immer nichts gesagt. Wahrscheinlich vom Schweigen des Analytikers irritiert, kommt der Patient, der in einem Krankenhaus arbeitet, auf seinen Traum zurück, den er am Tag zuvor angesprochen hatte. Er beschreibt, dass er auf seiner Arbeit am Tag zuvor drei Todesfälle hatte („had three deaths“) und bemerkt bezüglich einem dieser Fälle – ein alter Mann, der an Krebs gestorben war: „[I]t was perfectly obvious that she [the widow, S.W.N.] did not want to follow him [into death, S.W.N.]“ (Botella/Botella 2005: 74). Plötzlich überkommt den Analytiker, der bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nichts gesagt hatte, folgender Gedanke: „Ah! The point is that he didn’t want to follow me into the shower either … into death!“ (Botella/Botella 2005: 74) Er hört sich selbst sagen: „The shower is a gas chamber.“ (Botella/Botella 2005: 74) Der Patient bricht daraufhin in heftiges Schluchzen aus. Diese klinische Vignette, einschließlich des Zusammenspiels aus Gesten, Traum, Affekten, Bildern und Wörtern, die nicht symbolisch sind, lässt sich auch wie ein Text von Kafka aus der Sicht von Adorno lesen. Hier finden sich Bilder von Wesen, die sich zwischen Leben und Tod bewegen (der hieratische Tote, die Verbindung zur Gaskammer), und Paare, in denen keiner von beiden vollständig menschlich ist (der depersonalisierte Analytiker, der den starren und gewissermaßen verblendeten Patienten doppelt). Zudem trifft man auf die Unzugänglichkeit einer symbolischen Formulierung, die sich bis in die letzte Phase des Prozesses erstreckt. Was Kafka, Adorno zufolge, von seinen LeserInnen fordert, kommt dem sehr nahe, was das Unvorgestellte/Unvorstellbare in der Psyche dieses Patienten dem Analytiker abverlangt und in was dieser hineingezogen wird. Die albtraumhafte Kraft des Wortwörtlichen (die Fixierung des Mannes auf das Konkrete, seine negative Halluzination, seine Träume sowie seine Tode) verursacht auf Seiten des Analytikers unweigerlich eine bedrückende Erfahrung, in der er sein Selbstverständnis im Hinblick auf die Wörter, Bilder und Affekte verliert, die im Rahmen des Kraftfelds, das ihn mit dem Patienten verbindet, in seiner Psyche aufkommen.4
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Ebenso wie den AutorInnen ging es mir bei der Beschreibung dieser Vignette in erster Linie um den Prozess der Figurabilität. Darüber hinaus könnte man – wie es auch der Analytiker
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III In der Ähnlichkeit des Kraftfelds zwischen Kafkas Texten und seinen LeserInnen sowie des psychoanalytischen Kraftfelds zwischen dem/der AnalytikerIn und dem/der PatientIn liegt der Schlüssel zu Adornos Auffassung der Aktivitäten von KulturkritikerInnen. Adorno zitierte gerne einen Satz, der auf Leo Löwenthal zurückgeht: „Massenkultur ist Psychoanalyse verkehrt herum.“ (Löwenthal in Jay 1981: 209) Die übliche Lesart dieses Satzes ist, dass Kulturindustrie das zunichtemacht, was die Psychoanalyse zu erreichen versucht. Während sich die Psychoanalyse gewissermaßen damit beschäftigt, dem Individuum zu einem besseren Verständnis seines eigenen Bewusstseins sowie des zuvor Unbewussten zu verhelfen, arbeitet Kulturindustrie darauf hin, diese Unterscheidung – und damit letztendlich auch das Bewusstsein von sich selbst – aufzulösen. Sehr viel interessanter ist es jedoch, diesen Satz aus einer anderen Perspektive zu betrachten und zu interpretieren, dass das kulturelle Phänomen, also das Kunstwerk, die Umkehr oder vielleicht besser gesagt das Gegenstück zur Psychoanalyse sei. Denn hier werden die Verhältnisse zwischen den einzelnen Momenten in der Psychoanalyse derart neu geordnet, dass das Werk selbst gewissermaßen offensichtlich das beinhaltet, was die Psychoanalyse in der Arbeitsteilung zwischen PatientIn, AnalytikerIn, dem Prozess sowie der Theorie zu analysieren und aufzuklären versucht. Das Werk entspricht dabei gleichzeitig in gewisser Weise dem/der AnalytikerIn und der/die LeserIn entspricht dem/der PatientIn. Als Kulturkritiker versucht Adorno demzufolge, dieses Verhältnis zwischen Kultur und Psychoanalyse erneut umzukehren. Das gelingt ihm einerseits, indem er in seinen eigenen Texten die psychoanalytischen Rollen von PatientIn, AnalytikerIn, Prozess und TheoretikerIn miteinander verknüpft. Dies lässt sich beispielsweise aus einem Abschnitt herauslesen, der meiner Ansicht nach als paradigmatisch für Adornos Schriften angesehen werden kann. Das folgende Zitat stammt aus dem Essay Titel in Noten zur Literatur, und es ist kein Zufall, dass es auch hier um ein Werk von Kafka geht: „Für den Amerika-Roman wäre der Titel ,Der Verschollene‘, den Kafka im Tagebuch benutzte, besser gewesen als der, unter dem das Buch in die Geschichte einging. Schön ist auch dieser: weil das Werk soviel mit Amerika zu tun hat wie die
in diesem Fall getan hat – dazu übergehen, die Bedeutung dieses Prozesses hinsichtlich dessen Zerstörungskraft auf Seiten des Patienten zu verstehen, die möglicherweise teilweise auch durch die Stille des Analytikers hervorgerufen wurde und zudem von einer oberflächlicheren Ebene der homosexuellen Identifikation überdeckt wird. Man könnte diese Vignette selbstverständlich auch als Text diskutieren und die Beziehung zwischen den LeserInnen und diesem Text untersuchen. Dies würde hier jedoch zu weit führen.
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prähistorische Photographie ,Im Hafen von New York‘, die als loses Blatt in meiner Ausgabe des Heizer-Fragments von 1913 liegt. Der Roman spielt in einem verwackelten Amerika, demselben und doch nicht demselben wie das, an dem nach langer, öder Überfahrt das Auge des Emigranten Halt sucht. – Dazu aber paßte nichts besser als ,Der Verschollene‘, Leerstelle eines unauffindbaren Namens. Diesem participium perfecti passivi kam sein Verb abhanden wie dem Andenken der Familie der Ausgewanderte, der gestorben und verdorben ist. Der Ausdruck des Wortes verschollen, weit über seine Bedeutung hinaus, ist der des Romans selber.“ (Adorno 1962: 330)
Adornos Vorgehensweise verläuft hier analog zu der des/der PatientIn in der Psychoanalyse, dessen/deren „Aufgabe“ darin besteht, freie Assoziationen herzustellen. Der Abschnitt gleicht einer Assoziationskette rund um den leeren Raum, den Der Verschollene hinterlässt, sowohl im Hinblick auf den Titel als auch auf die darin angedeutete Person; also den Verschollenen. Gleichzeitig ähnelt die Vorgehensweise Adornos der eines Analytikers. Auch Adorno arbeitet quasi „as a double“ für Kafkas Text und lässt dabei die Entstehung von Bildern zu, die weder Kafka selbst zugeschrieben werden können noch rein persönlicher Natur sind. Eher lassen sie sich als willkürliche Assoziationen Adornos beschreiben. Obwohl diese Bilder in Adornos Geist entstehen, werden sie vielmehr durch das Kraftfeld verursacht, das einerseits den Titel und das Werk sowie andererseits LeserIn und KritikerIn umfasst. Es bleibt jedoch zu betonen, dass es sich im Fall von Kafka und Adorno um konstruierte Texte handelt und nicht um den Verlauf einer psychoanalytischen Sitzung. Die Sätze im zitierten Abschnitt folgen keinem logisch geordneten Aufbau. Es handelt sich hierbei weder um eine Narration noch eine Argumentation im klassischen Sinne. Die vielen unterschiedlichen Elemente in diesem Abschnitt – angefangen von den Fotografien und Verben, über den Emigranten und seine Familie, den Ozean und das Land bis hin zu einem abstrakten Begriff der ästhetischen Theorie (der Begriff „Ausdruck“) – all diese Elemente sind auf engem Raum miteinander verbunden. Zudem bilden sie eine Konfiguration beziehungsweise Konstellation aus undeutlich miteinander verknüpften Verweisen, ähnlich wie die Speichen eines Rades, dessen Loch in der Mitte für das Verschwinden und Vergessen des Protagonisten in Der Verschollene steht. Wie bereits erwähnt, bezeichne ich diese Struktur als konfigurative Form, in Anlehnung an Adornos Darlegungen in Der Essay als Form (vgl. Nicholsen 1997). Der Essay Titel, in dem dieser Abschnitt zu Der Verschollene enthalten ist, umfasst außerdem auch einen Kommentar zu Adornos Titel Prismen. Dieser Titel ist laut Adorno ein Kompromiss, ein Wort, dem man anhört, „wie rasch es veraltet“ (Adorno 1962: 328). Und tatsächlich: im 21. Jahrhundert klingt es für uns bereits nach einem Klischee, das sogar als solches bereits veraltet 63
ist – und dennoch eine gewisse Gültigkeit besitzt. Denn die in Prismen enthaltenen Essays sind keine konventionellen literaturkritischen Übungen, sondern gehen Adorno zufolge über die Werke, die sie behandeln, hinaus. Der zu Beginn dieses Artikels zitierte Satz ist auch an dieser Stelle von Relevanz: „[D]urch jeden Text, jeden Autor hindurch soll etwas von der Gesellschaft schärfer erkannt werden; die behandelten Werke sind Prismen, durch die man auf Wirkliches hindurchblickt“ (Adorno 1962: 328). Die zerbrochenen Elemente des Werks als Prisma nehmen in der Konfiguration von Adornos Essay ihren Platz ein. Aus dieser Perspektive betrachtet ist der Abschnitt zum Titel von Kafka eine Untersuchung der Auswirkung einer totalisierenden zeitgenössischen Gesellschaft auf die Möglichkeit eines Namens als Sinnbild des individuellen Wiedererkennungswerts. Ebenso wie es kein Zufall ist, dass es in der klinischen Vignette zur Vorgehensweise des „working as a double“ um einen hieratischen Toten und die Gaskammer geht, ist es gleichsam kein Zufall, dass im Mittelpunkt des Abschnitts von Adorno zu Kafkas Titel Der Verschollene das Vergessen steht. Genauso wie bei Kafkas Prometheus, der eins mit dem Felsen wird, an den er gekettet und an dem er vergessen wurde, ist alles, was von dem Emigranten zurückbleibt, ein Partizipium, dem sein Verb abhandenkam, ein Überbleibsel, das vielmehr eine Leere benennt als eine Person. Denn Kafkas Titel spiegelt den Untergang des Individuums wider, das am Ende eines sinnerfüllten Lebens nicht mehr stirbt, sondern vielmehr zerfressen und ausgelöscht wird. Obwohl der Name in gewissem Sinne der Name des Werks ist, beinhaltet er jedoch gleichsam auch ein individuelles Subjekt. Zu Lessing, der im 18. Jahrhundert Erstaunen erregte, indem er einer bourgeoisen Komödie den Namen ihrer Protagonistin als Titel gab, bemerkt Adorno: „Stoffe von der Dignität des Namens gibt es erst recht nicht mehr.“ (Adorno 1962: 326) Zu diesem Zeitpunkt vermochte es nur Becketts Titel Der Namenlose, das Paradoxon eines Kunstwerks, den „Schauplatz der Aporie von Dichtung selbst“ (Adorno 1962: 326) einzufangen. Gleiches trifft auch auf den Titel Der Verschollene zu, als „Leerstelle eines unauffindbaren Namens“ (Adorno 1962: 330). Ebenso wie bei Beckett benennt dieser Titel das Verschwinden des Individuums mit der „Dignität des Namens“ (Adorno 1962: 326), und die Konstellation um diesen Namen weist auf dieses Nichtvorhandensein hin. Hinsichtlich der Namenlosigkeit gegenwärtiger Literatur bemerkt Adorno: „Kein Wort mehr taugt darin, das nicht das Unsägliche sagte, daß es sich nicht sagen läßt.“ (Adorno 1962: 326) Das gilt gleichermaßen für KulturkritikerInnen. Adorno hat aufgezeigt, wie Kafka versucht, das Unsagbare über das wortwörtliche, undurchsichtige Detail auszusprechen. KulturkritikerInnen sehen sich mit demselben Dilemma konfrontiert, jedoch mit einer weiteren Wendung. Adorno formuliert dies hinsichtlich der KritikerInnen, 64
die sich mit Kafkas Werk auseinandersetzen, und betont, dass dabei vor allem deren Position zu berücksichtigen sei. Kafkas Drängen, sein eigenes Werk zu zerstören, sei verständlich: „Das Werk, das die Individuation zerrüttet, will um keinen Preis nachgeahmt werden“ (Adorno 1953: 265). Entsprechend fährt Adorno bezüglich der Position der KritikerInnen fort: „Solche Unnachahmbarkeit affiziert aber auch die Lage des Kritikers. Seine Position Kafka gegenüber ist nicht mehr zu beneiden als die des Nachfolgers: sie wäre vorweg Apologie der Welt.“ (Adorno 1953: 265) Wenn sich Adorno auf die Gefahr bezieht, dass Kafka von der Kulturindustrie vereinnahmt werden könnte, stellt er gleichsam die Frage, wie sich der/die KulturkritikerIn von Kafka – angesichts dessen eindringlicher Darlegung der Offensichtlichkeit des Grauens – unterscheiden könne, ohne hinter Kafka zurückzufallen und sich für die Welt zu entschuldigen. Wenn die Aufgabe von KulturkritikerInnen darin besteht zu deuten und dabei bestimmte Begriffe zu verwenden, wie sollen sie dies bewerkstelligen, ohne dabei der totalisierenden Rationalität des Begrifflichen zu unterliegen? Wenn „[n]och das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten“ (Adorno 1951b: 30), wie vermag es dann das Begriffliche, die LeserInnen in ein Kraftfeld hineinzuziehen, in dem sie angesichts des Bewusstseins ihres Dilemmas von Leben und Tod in eine Art Schock versetzt werden? Darin begründet sich gewiss auch Adornos eigenes Dilemma als Kulturkritiker. Zwischen Adorno und Kafka besteht eine enge Affinität. Man könnte sogar sagen, dass Adorno – ohne Kafka imitieren zu wollen – in einem „konzeptuell kafkaesken Stil“ schreibt. Wie Kafka mit der Koexistenz des Wortes und des undurchsichtigen Details, der Bedeutung und der Geste spielt, so spielt Adorno mit der Koexistenz des Begriffs und des Namenlosen. Sein Bemühen besteht darin, das Begriffliche in Richtung des Bestimmten und Undurchsichtigen zu bewegen, und er weist dabei auf das Negative hin, das dem Begriff immanent ist. In diesem kurzen Abschnitt zu Kafkas Titel greift Adorno auf keinerlei Stilmittel zurück, die man in einem Sachbuch oder in erklärender Prosa erwarten würde: er argumentiert nicht explizit entlang von Annahmen und Schlussfolgerungen und diskutiert seine Thesen nicht explizit in all ihren Einzelheiten. Zudem liefert er keine festgelegten Definitionen der Begriffe, deren Bedeutung er im Anschluss untersucht, und führt nur in wenigen Fällen wissenschaftliche Verweise an. Wenn er in den Aufzeichnungen zu Kafka hin und wieder Beispiele anführt, erklärt er nicht, wie das von ihm Gesagte durch diese Beispiele veranschaulicht wird. Natürlich argumentiert, diskutiert und definiert er, jedoch findet all dies auf einer kontextuellen Ebene statt, in einem Netz von Aussagen, die in einer konfigurativen Form einen Text bilden. Die Beziehungen zwischen diesen Aussagen sind dabei eher indirekt als von explizit logischer Natur im Sinne von Deduktion und Induktion. Auf diesem Weg versucht Adorno, die totalisierende Kraft des 65
Begriffs zu umgehen, der eng mit Logik verknüpft ist und dessen Reproduktion eine Rechtfertigung für die gegenwärtige Welt darstellen würde. Die Verwendung dieser konfigurativen Form ist Teil von Adornos Versuch, Begriffe auf eine Art zu nutzen, die an das Nicht-Begriffliche grenzt. Die Konstellation dreht sich um das, was nicht gesagt werden kann und bekräftigt durch Negation die Bedeutung des Namens. Auch die Elemente in dieser Konstellation werden in Richtung des Bestimmten und Unbestimmten gerückt. Wenn wir also in Adornos kulturkritischen Schriften auf etwas treffen, was sich als Begriff auffassen ließe, wird es nicht mit einer festgelegten Definition erläutert, sondern zieht seine Bedeutungskraft vielmehr aus dem Kontext. Im letzten Satz des Abschnitts zu Der Verschollene findet sich, wie bereits erwähnt, beispielsweise der ästhetische Begriff des Ausdrucks: „Der Ausdruck des Wortes verschollen, weit über seine Bedeutung hinaus, ist der des Romans selber.“ (Adorno 1962: 330) Dieser Begriff wird nicht definiert, sondern es wird lediglich impliziert, dass der „Ausdruck“ der Kontext des Ganzen sei, genauso wie Adorno das Wort „verschollen“ mit dessen Ausdruck fasst. Adornos Aussage, „[d]ie guten Titel sind so nahe an der Sache, daß sie deren Verborgenheit achten“ (Adorno 1962: 327), ließe sich in diesem Zusammenhang wie folgt umformulieren: Die guten Definitionen sind so nahe an ihrem Gegenstand, dass sie dessen Nicht-Begrifflichkeit achten. Adornos Abschnitt beschäftigt sich nicht nur mit dem Ausdruck des Wortes „verschollen“, sondern zeigt zugleich die Bedeutung des Begriffs „Ausdruck“ auf. Die Welt nicht zu rechtfertigen, bedeutet notwendigerweise auch, mit den LeserInnen kein abgekartetes Bündnis einzugehen, das auf als selbstverständlich angesehenen Entschuldigungen für die bestehenden Verhältnisse beruht. Mit anderen Worten: Wie auch Kafkas Werke muss Kulturkritik schockieren, wenn sie nicht ein solches Bündnis mit den LeserInnen eingehen will. Adornos Kulturkritik schockiert durch einen Aspekt, der ähnlich wie Kafkas Wortwörtlichkeit funktioniert. Ebenso wie Kafka bestrebt ist, sich prägnant und deutlich, jedoch im Detail undurchschaubar auszudrücken, so versucht Adorno, jeden Satz mit Bestimmtheit zu formulieren, während er gleichzeitig Definitionen vermeidet. In diesem Zusammenhang ist ebenso zu beachten, dass jeder Satz von Adorno eine Aussage ist, die gleichzeitig auch als Aphorismus verstanden werden kann. Jeder Satz zeichnet sich neben seiner Bestimmtheit zugleich durch Paradoxie und Übertreibung aus.5 Jeder Satz spricht gegenüber den LeserInnen eine Warnung aus, die gleichzeitig eine Drohung darstellt. Und die Tatsache, dass mit jedem Satz eine Drohung aus-
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Vgl. hierzu Adornos Diktum: „An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen.“ (Adorno 1951a: 54)
gesprochen wird, zeugt zugleich von der schrecklichen Selbstverständlichkeit dieser Drohung. In Kulturkritik und Gesellschaft, dem Titelessay in Prismen, schreibt Adorno beispielsweise: „Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. […] Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.“ (Adorno 1951b: 30)
Hier werden weder Verdinglichung noch Geist definiert und Adorno erläutert zudem nicht, wie er zu diesen Aussagen kommt. Das Gefühl des gejagten Geistes ist jedoch greifbar. Da diese Sätze nicht Teil einer logischen Argumentation im konventionellen Sinne sind, kann man sich mit ihnen auch nicht auf konventionelle Art und Weise auseinandersetzen – genauso wenig wie die LeserInnen die Motivationen der Kreaturen in Kafkas Texten diskutieren können. Ähnlich wie Kafka versucht uns zu schockieren, indem er zeigt, dass alles ganz einfach so ist, wie es ist, wiederholen Adornos provokante Aussagen: so ist es, genau so findet es statt. Ebenso wie Kafkas LeserInnen werden die LeserInnen von Adornos Kulturkritik, die selbstverständlich Teil dieser kritisierten Kultur sind, angegriffen und zugleich verantwortlich gemacht für Leben und Tod – ihres eigenen Geistes.
IV In Kafkas Werken, so schreibt Adorno, finden wir ein Moment dessen, was hätte sein können. Das, von dem man hoffte, dass es Teil der Geschichte wird, wurde stattdessen zu Urgeschichte oder Mythos. Ein Gefühl der Stagnation, Starre und des Eingefrorenseins in der Zeit bleibt zurück. „Die verewigte Vergängnis ereilt ein Fluch.“ (Adorno 1953: 263) Aus diesem Grund bleibt Kafkas Figuren der Tod versagt und wird zum Symbol einer unerreichbaren menschlichen Würde. Kann eine solche Erzählung ein Ende finden, ohne auch nur den kleinsten Funken Hoffnung zu enthalten? Und wenn der kulturkritische Essay nicht dem Ablauf einer Argumentation folgt, wie kann dieser Essay, der aus Verknüpfungen von Elementen eines vielseitigen Negativs besteht, zu einem Ende kommen? Kommt auch dieser Essay zu einem Ende, ohne auch nur den kleinsten Funken Hoffnung zu enthalten? Vielmehr noch als Kafkas Geschichten enden Adornos Essays mit einer dekorativen Verzierung, es blitzt etwas auf, das es lohnenswert macht, durchzuhalten. Etwas, an dem sich der Autor angesichts der Kraft des Negativen mühevoll festhält. Ein 67
solches Ende stellt weder eine Schlussfolgerung noch eine Zusammenfassung dar, sondern vielmehr eine Erinnerung – ein minimales Überbleibsel dessen, was verloren gegangen und noch immer verloren ist. Der Schauplatz von Kafkas Roman Amerika ist nicht die Alte Welt, sondern Amerika – jedoch ein Amerika, dass dasselbe und doch nicht dasselbe ist wie das, an dem, in Adornos Worten, „nach langer, öder Überfahrt das Auge des Emigranten Halt sucht“ (Adorno 1962: 330). Und für einen kurzen Moment ist es vielleicht tatsächlich das Amerika, nach dem sich der Emigrant so lange gesehnt hatte. Vielleicht erinnert sich die Familie genau in diesem Moment vage an den Emigranten, den sie gewissermaßen verloren hat, oder dieser Moment findet genau zu dem Zeitpunkt statt, in dem der Emigrant „gestorben und verdorben ist“ (Adorno 1962: 330). Der grelle und schockierende Strahl, der die LeserInnen durch die Lücke zwischen Wort und Sache hindurch blendet, das Begriffliche und der Name, die Bedeutung und das undurchsichtige Detail – all dies sind schnell vergängliche Funken von etwas, das Hoffnung gleichkommen könnte. Hoffnung auf Würde, Freiheit, erotisches Glück. Adorno erinnert an einen Moment in Das Schloß, als Frieda dem Landvermesser „,ihren kleinen Fuß auf die Brust setzt‘ und dann sich zu ihm hinabneigt und ihn ,flüchtig küßt‘.“ Adorno interpretiert dies als „die Geste, auf welche die Sehnsucht eines Menschenlebens vergebens warten mag“ (Adorno 1953: 277) – ähnlich wie bei dem Emigranten, der nach der langen und öden Überfahrt sehnsüchtig darauf wartet, einen Blick auf das neue Amerika zu werfen. Die Aufzeichnungen zu Kafka stellen letztendlich eine Reflexion über Tod und Schicksal des Subjekts unter den Bedingungen einer totalisierenden Herrschaft dar. Die ProtagonistInnen sind diejenigen, die nicht sterben können, die weder Mensch noch Ding sind, die sich zwischen Leben und Tod befinden, auf dem Weg vergessen zu werden. Der Jäger Gracchus steht als Symbol für die Unmöglichkeit eines natürlichen Todes nach einem erfüllten Leben. Unter diesen Umständen nähert sich Kafka nicht irgendeiner Art von Theologie an, sondern vielmehr dem Tod als einer Form des Widerstands. Adorno schließt seinen eigenen Essay ab, indem er den Traum von K. zitiert, an dessen Ende dieser in sein Grab hinabgezogen wird und dabei über sich seinen reichlich verzierten Namen erblickt. „Der Name allein, der offenbar wird durch den natürlichen Tod“, so Adorno, „nicht die lebendige Seele steht ein fürs unsterbliche Teil.“ (Adorno 1953: 287) Literatur Adorno, Theodor W. (1951a): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesammelte Schriften Band 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1951b): Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften Band 10.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 11-30.
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Adorno, Theodor W. (1953): Aufzeichnungen zu Kafka, in: Gesammelte Schriften Band 10.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 254-287. Adorno, Theodor W. (1958): Der Essay als Form, in: Gesammelte Schriften Band 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 9-33. Adorno, Theodor W. (1962): Titel. Paraphrasen zu Lessing, in: Gesammelte Schriften Band 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 325-334. Bollas, Christopher (1987): The Shadow of the Object. New York: Columbia. Botella, César/ Botella, Sára (2005): The Work of Psychic Figurability. New York: BrunnerRoutledge. De M'Uzan, Michel (2007): The Same and the Identical, in: Psychoanalytic Quarterly 76, 4, 1205-1220. De M'Uzan, Michel (2010): The Uncanny, or ‘I am not who you think I am’, in: Dana BirkstedBreen, Sara Flanders, Alain Gibeault (Hg.), Reading French Psychoanalysis. New York: Routledge, 201-209. Jay, Martin (1981): Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Frankfurt am Main: Fischer. Marty, Pierre/ De M'Uzan, Michel/ David, Christian (1963): L'investigation psychosomatique. Paris: Presses Universitaires de France. Marty, Pierre/ De M’Uzan, Michel (1963/1978): Das operative Denken („Pensée opératoire“), in: Psyche 32, 10, 974-984. McDougall, Joyce (1978): Plea for a Measure of Abnormality. New York: Brunner/Mazel. Nicholsen, Shierry Weber (1997): Exact Imagination, Late Work: On Adorno’s Aesthetics. Cambridge: MIT Press. Nicholsen, Shierry Weber (2010a): The Mutilated Subject Extinguished in the Arena of Aesthetic Experience: Adorno and Aesthetic Violence, in: Zeitschrift für kritische Theorie 30/31, 9-25. Nicholsen, Shierry Weber (2010b): Adorno’s Minima Moralia: On Passion, Psychoanalysis, and the Postemotional Dilemma, in: Fabio Akcelrud Durão (Hg.), Culture Industry Today. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 113-132. Scarfone, Dominique (2006): A Matter of Time: Actual Time and the Production of the Past, in: Psychoanalytic Quarterly 75, 3, 807-834.
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Form und Inhalt in kritischer Konstellation Zum Verhältnis von Material, Fortschritt und thematischen Inhalten in der (Gegenwarts-)Kunst Ines Kleesattel
Politisch engagierte Kunstpraktiken und inhaltlich-thematische Realismen lehnt Adorno entschieden ab, stattdessen besteht er auf den autonomen formimmanenten Wahrheitsgehalt der Kunstwerke. Bei der Lektüre seiner ästhetischen Schriften wird dies rasch offenbar. Nichtsdestotrotz will ich die Aktualität von Adornos Ästhetik gerade darin begründen, dass sie einen fruchtbaren Prüfstein abgeben kann für die in den letzten zwei Jahrzehnten vielbeschworene Politische Kunst. Die verstärkte Präsenz dezidiert gesellschaftspolitischer Inhalte im Kunstfeld setzte 1997 mit der documenta X ein und hat sich in der Folge international zu einem regelrechten Hype entwickelt.1 Angesichts der allgegenwärtigen Ansprüche an eine Criticality der Gegenwartskunst einerseits und der Diagnose, Kritik selbst sei zur neoliberal inkorporierten Profitstrategie geworden (vgl. Boltanski/Chiapello 2003), andererseits, läge es nahe sich auf Adorno zu berufen um explizite Realitätsbezüge und inhaltliche Thematiken per se zurückzuweisen. Meines Erachtens lässt sich aber gerade mit Adorno – und gegen formalistische Lesarten seiner Ästhetik – eine Kunst verteidigen, die Gesellschaftspolitisches so verhandelt, dass sie sich weder in Ästhetizismus flüchtet noch in Form naiver Dokumentarismen hinter Adornos rationalitätskritische Einsichten zurückfällt. Ich werde zunächst Adornos Einspruch gegen engagierten Realismus sowie sein Konzept des formimmanenten Gehalts in Erinnerung rufen und seine asymmetrische Dialektik von Form und Inhalt erörtern. Ausgehend davon schlage ich eine Revision des Materialfortschritts vor. Gegenüber einer gattungslogischen Auffassung dieses Theorems und seiner postmodernen Verabschiedung werde ich erstens thematische Inhalte als Teil des Materials begreifen, zweitens die Notwendigkeit eines Fortschrittsbegriffs herausstellen und Materialfortschritt drittens als konstellative Versetzung fassen. Da sich solcher 1
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Vgl. z. B. die Manifesta 8 und 9 oder die Biennalen in Berlin 2010 und 2012, Istanbul 2009 und 2013 und Sao Paolo 2010. Spätestens mit den Galerienprojekt curated by_vienna: kunst oder leben. ästhetik und biopolitik (2012) ist der politische Gestus auch im Galerienwesen auf eine breite Basis gestellt.
Fortschritt nur spezifisch zeigen, nicht aber abstrakt bestimmen lässt, werde ich schließlich anhand von Mareike Berniens und Kerstin Schroedingers Videoarbeit Rainbow’s Gravity konkretisieren, inwiefern dezidiert inhaltliche Kunst durchaus im Sinne Adornos kritisch sein kann.
Wortlose Kritik, Welt in den Werken In seinen Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft polemisiert Adorno wiederholt gegen Georg Lukács und Bertolt Brecht. Während Lukács’ Widerspiegelungstheorie die aristotelische Nachahmungslehre aufgreift und Kunst an eine kathartische Wirklichkeitserkenntnis bindet, bestimmt Adorno Mimesis als sich dem Nichtidentischen anschmiegendes, offenes Verhalten. Das mimetische Moment drückt für ihn aus, dass „das, was ist, nicht alles“ ist (Adorno 1966: 391). Lukács verpflichtet Kunstwerke auf eine agitatorische Funktion, um derentwillen sie kommunikativ sein müssen. Diese Ausrichtung auf konkrete, realitätsbezogene Wirkung im Sinne eines revolutionären Engagements teilt er mit Brecht, der zwar nicht mit Lukács abstraktionsfeindlicher Realismusauffassung übereinstimmt, aber das Theater ebenfalls mit dem didaktischen Auftrag versieht, politisch „richtiges Verhalten zu lehren“ (Brecht 1930: 96). Dagegen begehrt Adorno auf:2 Ein thematisches Engagement der Werke, das sich durch informierend-entlarvende Abbildung oder taktisch-appellative Aussagen äußert, bindet das singuläre Kunstwerk an die Prinzipien von Verwertung und Identifikation und verunstaltet es zum „Vehikel dessen, was der Autor sagen will“ (Adorno 1962a: 414). Solche Instrumentalisierung von Kunst sabotiere ihren „Einspruch gegen Instrumentalisierung“ und widerspreche ihrer kritisch-emanzipatorischen Funktionslosigkeit, die der „gänzlich funktionalen Welt“ entgegensteht (Adorno 1970: 475). Adorno beharrt auf der antikommunikativen Selbstidentität der Werke. Als singuläre und zweckfreie Besonderheiten sind sie jenseits administrativer Nützlichkeit und kategorisierender Rationalität völlig für sich und üben „wortlos Kritik“ am identifizierenden Denken, an Zweck-Mittel-Logiken und an einer Gesellschaft, in der „alles nur für anderes“ ist (Adorno 1970:335). Die didaktische Übermittlung explizit gesellschaftspolitischer Inhalte bedeutet für Adorno eine fundamentale Verkürzung des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft. Dieses Verhältnis zeichnet sich für ihn weit weniger durch strukturell zwecklogische Kommunikation aus als durch immanente Vermittlung. Nicht in einer etwaigen Wir-
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Zur Kritik von Adornos (polemisch verkürzender) Lukács Interpretation vgl. den Beitrag von Johannes Rhein in diesem Band.
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kung der Werke auf die Realität besteht der zentrale Realitätsbezug der Kunst, sondern darin, dass Realität in den Werken selbst dialektisch vermittelt anwesend ist. Darauf bezieht sich auch Adornos Bestimmung der künstlerischen Form als sedimentiertem, gesellschaftlichem Inhalt. Weil das Material und die Verfahrensweisen, mit denen Künstler_innen zu Werke gehen, aus der Realität entstammen, ist die bestehende Wirklichkeit mitsamt ihrer Widersprüche den Gebilden der Kunst unwillkürlich immanent. Solcher formimmanenter Inhalt, der „grundverschieden [ist] von Inhalt als Ablösbarem, der Fabel eines Stückes oder dem Sujet eines Gemäldes“ (Adorno 1970: 529) begründet das, was Adorno unter dem eigentlichen, objektiven Gehalt der Werke versteht.
Dialektik von Form und Inhalt Seine Ablehnung gesellschaftlich engagierter Themen sowie sein Insistieren auf die generelle, wortlose Kritik autonomer Kunst legt die Interpretation nahe, Adorno bestimme das kritisch emanzipatorische Potenzial der Kunst „eben nur formal […], nicht aber inhaltlich“ (Bürger 1974: 127). In der Tat, er vernachlässigt inhaltliche Momente,3 klammert Handlungs- und Motivanalysen aus und führt die Dialektik von Form und Inhalt hinsichtlich des nicht formimmanenten Inhalts inkonsequent durch (vgl. Kaiser 1974: 164; Scholze 2000: 101). Adorno rechtfertigt dieses Ungleichgewicht selbst explizit: „In der Dialektik von Form und Inhalt neigt, wider Hegel, die Schale auch darum sich auf die Seite der Form, weil der Inhalt, dessen Rettung seine Ästhetik nicht zum letzten sich angelegen sein läßt, unterdessen zum Abguß jener Verdinglichung verkam, gegen die der Hegelschen Lehre zufolge Kunst Einspruch erhebt, zur positivistischen Gegebenheit.“ (Adorno 1970: 218)
Überzeugend ist diese Einschränkung allerdings wenig. Käme es nicht darauf an, thematische Inhalte genauso gegen positivistische Verdinglichung zu verteidigen, wie die gestaltete Form gegen die lauernde Gefahr des harmlosen Tapetenmusters (vgl. Adorno 1970: 51)? Wieso sollte eine dem herrschenden Realitätszwang widerstehende Konstellation nicht auch thematische Aspekte
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Gleichzeitig übersetzt Adorno formale Momente zuweilen mit konkretistischen Zuschreibungen, z. B. wenn er eine „Kriegsdrohung“ in den Pauken und Trompeten von Beethovens Missa Solemnis (Adorno 1959: 156) hört oder wenn er über Eichendorffs bedeutungsferne Sprache schreibt, sie ahme entfremdungskritisch „Rauschen und einsame Natur nach“ (Adorno 1958b: 83).
einbeziehen können? Weshalb sollte sich eine mimetisch-konstruktive Stimmigkeit im Kunstwerk nur mit formalem, nicht aber mit inhaltlich-thematischem Material herstellen lassen? Wenn „[g]egen die banausische Teilung der Kunst in Form und Inhalt […] auf ihre Einheit zu bestehen“ ist (Adorno 1970: 221), muss sich Inhalt nicht nur als formimmanent, sondern Form ebenso als inhaltsimmanent denken lassen. Nicht jedes Thematisieren von Inhalten muss zwangsläufig eine bloß „rohe Beziehung auf Gegenstände“ sein (Adorno 1970: 224; Hervorhebung I.K.). In Bezug auf den Essay – den Adorno zwar als kunstnah beschreibt, aufgrund seiner Begriffsgebundenheit aber doch von der Kunst unterscheidet – führt er aus, wie ein „methodisch unmethodischer“ Umgang (Adorno 1958a: 21) mit thematischen Gegenständen dem Nichtidentischen Rechnung tragen kann. In offener (jedoch keinesfalls beliebiger) Form argumentiert der Essay nicht in subordinatorischer Logik, sondern verflicht seine Elemente teppichhaft konstellativ. Innerhalb der Spannung von Darstellung und Dargestelltem trifft er womöglich, „was dem offiziellen Denken entgleitet, das Moment des Unauslöschlichen, der untilgbaren Farbe“ (Adorno 1958a: 26). Derartige forminhaltsdialektische Spannung ist nicht notwendig auf essayistisches Schreiben beschränkt. Aus Adornos ästhetischer Theorie ergibt sich keineswegs zwangsläufig, „daß der Realismus nicht kritisch sein kann“ (Scholze 2000: 101). Im Gegenteil:ein konsequentes Weiterdenken von Adornos Ästhetik ermöglicht entscheidende Differenzierungen für die Diskussion künstlerischer Realitäts- und Gegenwartsbezüge, ohne diese generell zu verwerfen (was sich insofern bereits abzeichnet, als der Hype um Politische Kunst institutionalisiert und vielerorts wieder am Abklingen ist). Stattdessen kann Adorno ästhetisch-kritische Kriterien an die Hand geben, um künstlerische Ansprüche auf Wirklichkeitsbezug, Zeitgenossenschaft und Criticality zu überprüfen und zu reklamieren. Adorno in diese Richtung aktualisieren zu können, basiert auf zwei Voraussetzungen: Erstens ist ernst zu nehmen (ernster als Adorno selbst es tut), dass auch thematische Inhalte zu dem zählen, was er das Material der Kunst nennt. Zweitens bedarf es einer Revision seiner umstrittenen These des Materialfortschritts.
Material Als Material bezeichnet Adorno all jenes, „womit die Künstler schalten“ (Adorno 1970: 222); es umfasst neben Rohstoffen, Produktionstechniken, Formprinzipien und Stilelementen auch die je historisch aktuellen Bedingungen in Alltagsleben und Gesellschaft, in Technik, Wissenschaft und Theorie. Intentionen und Vorstellungen der Künstler_innen sowie ins Werk ein73
geflossene Gedanken und thematische Motive schlägt Adorno ebenfalls dem Bereich des Materials zu. Allerdings verwendet er dabei abwertende Formulierungen, bezeichnet sie als „eigentlich etwas bloß Stoffliches“ (Adorno 1958/59: 217, Hervorhebung I.K.), um den wesentlicheren formimmanenten Gehalt der Werke abzuheben von überbewerteten „bloßen Sachgehalten“ (Adorno 1958/59: 218). Dies sollte jedoch nicht hinwegtäuschen über den zentralen Stellenwert, den der Materialbegriff in der Ästhetik Adornos einnimmt. Im künstlerisch bearbeiteten Material sind gesellschaftshistorische Sedimente mit der kunsteigenen, rationalitätskritischen Rationalität verschaltet. Für die Werke ist das der Welt entstammende Material der eigentliche Dreh- und Angelpunkt, denn sie verkörpern eine dialektische Bewegung zwischen mimetischen und konstruktiven Impulsen4, die sich beide unerlässlich am Material vollziehen. Bedenkt man zudem Adornos Zugeständnis, dass Sachgehalte und Sujets „[n]icht aus dem Materialbegriff apodiktisch zu entfernen“ sind (Adorno l970: 223), wird deutlich, dass eine völlige Disqualifizierung jeder thematisch-gegenständlichen Inhaltlichkeit nicht angezeigt ist. Vielmehr ist entscheidend, dass Inhalte und thematische Gegenstände, wie alle Materialien, mimetisch-konstruktiv stimmig durchformt sind, dass sie in konsequenten Wechselbeziehungen stehen zu den anderen werkimmanenten materialen Elementen sowie zum Gehalt des Werkganzen. In seiner bislang unveröffentlichten Ästhetik-Vorlesung von 1961 erklärt Adorno, „daß sehr viele gerade der obersten Kunstwerke, der Kunstwerke, denen die höchste Dignität zuzusprechen ist, gar nicht die sogenannten reinen Kunstwerke sind, sondern Kunstwerke, in denen alle möglichen Kräfte dieses heterogenen, nicht künstlerischen Kontinuums sich niedergeschlagen haben, aber in eine besonders tiefe Konstellation mit den spezifisch ästhetischen Momenten getreten sind, während die Werke, in denen die Konstitution der ästhetischen Sphäre am reinsten sich vollzogen hat, gerade durch diese Reinheit unter Umständen in eine etwas leere Fahrt geraten.“ (Adorno 1961: Vo6401)
Mit dieser Absetzung der besonders tiefen Konstellation aller Momente gegen die leere Fahrt einer gesteigerten Reinheit gelange ich zu Adornos Forderung nach einem Fortschritt des Materials. Das materiell-physikalische wie
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Mimesis meint bei Adorno ein gewaltlos offen bleibendes, liebessähnliches Verhalten, das der sonst zugerichteten Natur zu Stimme und Recht verhilft. Erst durch Konstruktion, die auf Vergegenständlichung hinführt, gelangt der mimetische Ausdruck – an sich unmittelbar und ephemer – jedoch zu objektivierter Artikulation. Nur in der dialektischen Wechselseitigkeit von Mimesis und Konstruktion (dem Prozess, der im Kunstwerk als einem „Kraftfeld“ still gestellt ist) kann das Mannigfaltige und Besondere in seiner Irreduzibilität bewahrt und erkannt werden. Zur Dialektik von Mimesis und Konstruktion vgl. Sonderegger 2011: 416 ff.
geistig-ideelle Material ist stets historisch präformiert und in seiner Verwendung gesellschaftlich bedingt (obgleich nicht determiniert!). Es ist nicht ursprüngliche Materie, kein Naturmaterial, vielmehr immer schon von Gesellschaft durchdrungen, „geschichtlich durch und durch“ (Adorno 1970: 223). Deswegen schlägt sich durchs Material Objektivität in den Werken nieder – Objektivität im umfassenden Sinne des hegemonial Bestehenden mitsamt seinen identitären Ausschlüssen und nichtidentischen Widersprüchen. Wo die mit dem Material mimetisch-konstruktiv verfahrende Kunst (im geglückten Fall – dem einzigen, den Adorno interessiert) solche ungestutzte Objektivität als Wahrheitsgehalt ins Werk setzt, gilt: „Nichts in der Kunst, auch nicht in der sublimiertesten, was nicht aus der Welt stammte; nichts davon unverwandelt. Alle ästhetische Kategorien sind ebenso in ihrer Beziehung auf die Welt wie in der Lossage von ihr zu bestimmen.“ (Adorno 1970: 209) Entsprechend ergehen aus dem Material verbindliche „Forderungen“ (Adorno 1949: 39) an die Künstler_innen: Künstlerische Gestaltung muss die Antagonismen und Ausschlüsse des Bestehenden konstruktiv artikulieren und die umfassende nichtidentische Objektivität des Materials mimetisch zum Ausdruck bringen. Gelungene Materialartikulation hat so einem sozio-historisch bestimmten „strengen Anspruch der Richtigkeit“ (Adorno 1949: 42) zu genügen. Als werkimmanente Stimmigkeit zeigt sie sich, wenn „das Material auf der fortgeschrittensten Stufe seiner geschichtlichen Dialektik“ ergriffen wird (Adorno 1930: 133). Fortgeschritten muss die stimmig-richtige Materialergreifung sein, um erstens jene Fragestellungen nicht zu verfehlen, die zur spezifischen ‚geschichtlichen Stunde‘ dringlich auf ihre Behandlung warten (vgl. Adorno 1970: 312) und, um sich zweitens vom positivistisch verzweckten Dasein unterm Identitätszwang abzuheben.
Revision des Fortschritts Prominenter und vielzitierter Kritiker von Adornos Überlegungen zum Fortschritt der Materialartikulation ist Peter Bürger. Bürger erkennt an, dass Adornos Materialbegriff die Form-Inhalts-Dichotomie überwindet, verwirft aber die Konzeption eines kunstimmanenten Fortschritts. Dieser basiere auf einer einsträngig deterministischen Entwicklungslogik, die sich in der pluralistischen Postmoderne offensichtlich als falsch erwiesen habe.5 Er erklärt,
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Entgegen der Prominenz seiner Kritik ist Bürger nicht der Erste, der die Linearität des Materialfortschritts angesichts einer faktisch vorhanden Vielfalt von (hier: musikalischen) Artikulationen infrage stellt. Erich Doflein hat dies bereits in den 1950ern getan (vgl. dazu Hindrichs 2011: 56).
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„daß Adornos Annahme der Einsträngigkeit der Entwicklung des künstlerischen Materials in der bürgerlichen Gesellschaft für die Gegenwart keine Gültigkeit mehr beanspruchen kann. […] Das Nebeneinander von ‚realistischer‘ und ‚avantgardistischer‘ Kunst ist heute ein Faktum, gegen das legitimerweise Einspruch zu erheben nicht mehr möglich ist.“ (Bürger 1980: 180; vgl. Bürger 1974: 86, 122)
Gegen Bürger ist einzuwenden, dass Adorno mit dem Fortschritt des Materials zum einen keine unidirektionale Kunstgeschichte entwirft, und, dass er zum anderen über den Tellerrand eines sich in gattungslogischem Purismus zuspitzenden Modernismus durchaus hinausblickt. Adorno gesteht ein, dass modernistische Abstraktion und radikale Empirie-Ferne schließlich zu harmlosen Gesten gerinnen und dass angesichts dessen die „Verfransung der Kunstgattungen“ und sogar der „Griff der Gebilde nach der außerästhetischen Realität“ nötig werden können (Adorno 1967: 450, vgl. Adorno 1958/ 59: 82). Indem Adorno in seinen späteren Schriften künstlerische Grenzüberschreitung und Pluralisierung reflektiert, verlässt er eine strikt modernistische Theorie mit engen Gattungsgrenzen und geschlossenem Werkbegriff in Richtung eines erweiterten, nachmodernen Kunstbegriffs (vgl. Eichel 1993). Darüber hinaus greift die Modernismus-Postmodernismus-Debatte hinsichtlich Adornos Materialfortschrittsbegriff ohnehin zu kurz, weil dieser nicht auf eine historisch-temporale Entwicklung aufeinanderfolgender Kunstwerke abzielt. „Fraglos schreiten die geschichtlichen Materialien und ihre Beherrschung: Technik fort; Erfindungen wie die der Perspektive in der Malerei, der Mehrstimmigkeit in der Musik sind dafür die gröbsten Exempel. […] Solcher unverkennbare Fortschritt jedoch ist nicht ohne weiteres einer der Qualität.“ (Adorno 1970: 313)
Es geht Adorno keineswegs darum, die kunstgeschichtlich jüngeren Werke als die avancierteren von den älteren als die eines überholten Materialstandes abzuheben. Fortschrittliche Materialergreifung geschieht nicht als kontinuierliche Linearität in der Geschichte, sondern innerhalb der Form des je einzelnen Kunstwerks. Fortschrittlichkeit bezieht sich auf die Gestalt des Werkes an seinem konkreten geschichtlichen Ort, darauf, wie zeitgemäß sich die Materialbehandlung zum herrschenden Dasein verhält. Solche Zeitgemäßheit ist gekennzeichnet von Autonomie – das heißt von Selbstgesetzgebung, nicht von Beziehungslosigkeit – und von der stringenten Entfaltung der im Material sedimentierten Objektivität. „Bloß in seiner immanenten Stimmigkeit nämlich weist ein Werk als fortgeschritten sich aus.“ (Adorno 1930: 134) Demgegenüber begründet Adorno die „mindere Qualität“ von Werken, denen es an Stimmigkeit und objektiver Wahrheit fehlt, mit einer „Inkonsequenz an der Neuerung“ (Adorno 1961: Vo6452). Konsequente 76
Neuerung meint dabei nicht „Neuigkeit um jeden Preis“ (Adorno 1961: Vo6373). Vielmehr bezeichnet sie eine tiefe Ausformung des Materials, sodass die Kunstwerke keine „Bereiche, Komplexe, Teile, Strukturen enthalten, die in irgendeiner Dimension selber nicht durchgebildet sind und die hinter den dem von solchen Produkten geforderten und tolerierten Materialstand zurückbleiben“ (Adorno 1961:Vo6542). Kunst soll in der singulären „Konfiguration des einzelnen Werkes“ ein irreduzibles An-Sich verobjektivieren und damit etwas fortschrittlich Neues erreichen (vgl. Adorno 1961:Vo63766377). Bürgers Kritik, die faktische „Gleichzeitigkeit des radikal Verschiedenen“ (Bürger 1974: 86) erkläre Adornos Ansprüche auf ästhetische Normativität und Avanciertheit für obsolet, verfehlt dessen Position grundsätzlich. Ästhetische Normen kann und will Adorno nicht formulieren, weil es doch gerade das Nichtidentische und Leidende, also das von Definitionen und Kategorisierungen verdrängte Besondere ist, auf das seine gesellschaftskritische Normativität abzielt. Er verteidigt die radikale Individualität der einzelnen Kunstwerke, ohne in postmodernen Relativismus zu verfallen. Kunstautonomie bildet sich an einem Material, das fundamental auf die historische Welt bezogen bleibt, und diese Welt ist derart verfasst, dass sich Gleichgültigkeit als Haltung ihr gegenüber nicht legitimieren lässt. Adorno ist überzeugt, „daß wenn man einmal in einer Sache richtig drin ist, […] daß einem dann der Relativismus schon vergeht“ (Adorno 1961: Vo6473) – in diesem Sinne normativ urteilt er: „Wertfreie Ästhetik ist Nonsens“ (Adorno 1970: 391). Dagegen ist Bürgers Behauptung, gegen das „Faktum“ relativistischer Pluralität könne kein Einspruch geltend gemacht werden, höchst problematisch. Aus identitätskritischer wie emanzipatorischer Perspektive ist Einspruch exakt dann angebracht, wenn sich Faktizität allzu sehr behauptet. Das dialektische Aufeinandertreffen von deskriptiver und normativer Ebene bildet einen Grundpfeiler der Kritischen Theorie, die den Fokus von der Tatsächlichkeit der Welt auf deren Veränderbarkeit verschiebt. Ihr normativer Anspruch folgt aus der schonungslosen Deskription des schlechten Bestehenden; umgekehrt motiviert sich ihre Beschreibung von Gesellschaft erst aus dem „Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ (Horkheimer 1937: 56). Entsprechend ambivalent zeigt sich Adornos Fortschrittsbegriff. Angesichts der rationalistisch pervertierten Naturbeherrschung und den Katastrophen des 20. Jahrhunderts kritisiert er hegelianischgeschichtsphilosophisches wie technizistisch-empiristisches Fortschrittsdenken, während er nichtsdestotrotz festhält an der regulativen Idee des Fortschritts (gen Freiheit, Gleichheit und Solidarität). Wo der „utilitaristisch verkrüppelte Fortschritt“ (Adorno 1970: 102) Natur und Nichtidentisches vergewaltigt, will Adorno auch „unter Fortschritt denken: daß es besser wird, daß keine Angst mehr ist, daß am Horizont keine drohende Katastrophe 77
mehr ist“ (Adorno 1964/65: 202). Damit orientiert sich die Frage nach dem Fortschritt weniger an dessen Möglichkeit als vielmehr an dessen Notwendigkeit. Gegen einen postmodernen Relativismus, der angesichts des Nebeneinanders von unterschiedslos Diversem annimmt, jeder Materialfortschritt sei an sein Ende gelangt, verteidigen Reinhard Schulz und Reinhard Kager den Fortschritt als unerlässliches Differenzierungskriterium. Ihrer Ansicht nach lohnt sich diese Verteidigung insbesondere dort, wo der faktische Pluralismus alle normativen Ansprüche an Avanciertheit dispensiert. Erstens wäre es politisch fatal, den Fortschrittsbegriff aufgrund seiner Undirektionalität und rationalistischen Verabsolutierung mitsamt seiner aufklärerischen Implikationen zu verabschieden – was angesichts der anhaltenden Krisendiagnosen und zunehmenden Akzeptanz gegenüber einer schrittweisen Abschaffung der Sozialstaaten auch gegenwärtig, zwei bis drei Dekaden nach der Postmoderne-Diskussion, deutlich im Raum zu stehen scheint. „Die Aufgabe des Fortschrittsbegriffs – bei aller berechtigten Erschütterung an ihm – heißt letztlich nichts weniger als ein Stillhalteabkommen mit dem Status quo […].“ (Schulz 1993: 164) Zweitens ist Adornos Materialbegriff, wie ich oben dargestellt habe, „kein rein stofflicher, sondern auch ein gesellschaftlicher“ (Schulz 1993: 170). Damit zielen Postulate wie Verabschiedungen einer gattungsmäßigen Reinheitsprogression per se an ihm vorbei. Denn die Eigengesetzlichkeit des Materials ist nicht formalistisch und gattungsästhetisch verfasst, sondern stets mit Bezug auf das „geschichtlich Fällige“6 (Adorno 1960: 299). Entsprechend kommt es nicht auf eine behauptete Vorrangstellung dieses oder jenes in sich geschlossenen Materialstandes (vgl. Bürger 1974: 86), sondern „letztlich darauf an, wie und in welchem Kontext“ (Kager 1998: 111 f., Hervorh. i. Orig.) er zum Einsatz und ins Werk kommt. Angesichts des basalen Gesellschafts- und Geschichtsbezugs des Materials kann dessen Artikulation gar nicht an einen Punkt gelangen, an dem alles erreicht und alles weitere nur Rückschritt wäre. Seine „infinite Unausgereiztheit“ (Schulz 1993: 171) bedeutet dabei keine gleichgültige Legitimität des Beliebigen, sondern fordert beständig, das Material zu jedem Zeitpunkt immer wieder konsequent auf seine aktuelle Problematik zu befragen.
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Um Adornos blinde Flecken hinsichtlich rassistischer und (post-)kolonialer Strukturen nicht fortzuschreiben, wäre hier zu korrigieren: das „geo-sozio-historisch Fällige“.
Qualitativer Sprung, neue Konstellation, konkreter Fortschritt Materialfortschritt mit Schulz und Kager im Sinne ästhetischer Differenzierung als die permanent zu aktualisierende Vertiefung in ein nie abschließend erfasstes Material zu begreifen erscheint schlüssig. Aus kritisch-emanzipatorischer Sicht ist dabei jedoch entscheidend, die Differenzierung und Vertiefung des Materials an den Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts zu knüpfen und nicht lediglich an das noch Unbekannte oder Andere – welches der herrschenden Realität als Erweiterung des „Anything goes“ begegnet, aber den qualitativen Maßstab, „daß es besser wird“ (Adorno 1964/65: 202) entbehrt.7 Adornos Materialfortschritt, der sich herrschaftskritisch dem Nichtidentischen und historisch Fälligen verpflichtet, zielt nicht auf generelle Ausweitung und Vertiefung im Sinne des Umfangreicheren ab. Entsprechend ist gegenüber Schulz und Kager zu betonen, dass die „Verfeinerung der Verfahrensweisen“ (Kager 1998: 112) und die „Verantwortung gegenüber Differenzierung, Vertiefung und Sensibilisierung“ (Schulz 1993: 172) nicht mit Annäherung an Perfektion oder Hinarbeiten auf Vollständigkeit zu verwechseln sind. Eine schlicht umfassendere, sorgfältigere Erschließung des Materials entspräche fortschreitender Rationalität und totalitärer Vergeistigung. Präzision kann das Nichtidentische nicht erreichen, da es exakt jener Rest ist, der jedem Anspruch auf Lückenlosigkeit als dessen zugerichtete Kehrseite immer noch entwischt. Dasjenige Neue, das der Materialfortschritt im gelungenen Kunstwerk zur Erscheinung bringt, ereignet sich durch einen qualitativen Sprung. Jenseits von Ableitungs- und Entwicklungslogiken erweist es sich innerhalb der mimetisch-konstruktiven Komplexion des Werks als treffend zur rechten Zeit am rechten Ort. Um die Implikation einer gründlich identifizierten Erschließung des Materials zu vermeiden, ist der Materialfortschritt auch als glückende Konstellation zu fassen, statt bloß als Grad der Differenzierung und Verfeinerung. Unter dem stark von Benjamin beeinflussten Begriff der Konstellation fasst Adorno eine (Versuchs-)Anordnung versprengter Elemente der Wirklichkeit, die „zur Figur zusammenschießen“ (Adorno 1931: 335; vgl. Adorno 1970: 125). Diese Figur vermag so „blitzhaft“ wie flüchtig den Blick freizugeben auf die „untilgbare Farbe“ des Nichtidentischen und jene „blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind“ (Adorno 1951: 172). Solche Konstellationen sind nicht zu entdecken oder aufzusuchen, sondern müssen aktiv
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Bei Schulz bleibt die Reformulierung des Materialfortschritts als Materialdifferenzierung deutlich an eine gesellschaftliche Fortschrittsperspektive gebunden, bei Kager verschwindet diese weitestgehend.
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hergestellt werden. Dabei stellt sich ihre „schlagende Evidenz“ (Adorno 1931: 341) jedoch unvermittelt ein; sie kann eher auf den riskanten Impuls als auf gewissenhafte Deduktion bauen. Hinsichtlich der essayistischen Behandlung thematischer Gegenstände erklärt Adorno, sie sträube sich „gegen die engherzige Methode, die nur ja nichts auslassen will“ und bedürfe der „Spontaneität subjektiver Phantasie“ (Adorno 1958a: 24, 10). Für das konstellativ glückende Kunstwerk kann nichts anderes gelten. Die nicht reduktionistische Wahrnehmung des Materials darf nicht systematisch verfahren, sondern bleibt an ein kairologisches Moment gebunden, das heißt an das unverhoffte Eintreten und wache Ergreifen des richtigen Augenblicks. Entscheidend ist dabei, dass die Konstellation der Kunstwerke nicht als extraterrestrischer „Zauberschlag“ erscheint. Vielmehr ergreifen die Werke das nicht-identisch Nichtseiende durch die „Bruchstücke des Seienden, die sie zur apparition versammeln“ (Adorno 1970: 129). „Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müssten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle zu finden.“ (Adorno 1970: 199) Nicht nur sind die Werke Konstellationen, sie stehen mit dem Bestehenden, demgegenüber sie als messianisch-utopische Versetzung in Erscheinung treten, auch in Konstellation. Und da die Wirklichkeit, das Identifizierte und Nichtidentische geschichtlich sind, kann eine im Kunstwerk objektivierte Konstellation zu einer Zeit glückend das Fällige treffen und es zu anderer Zeit verfehlen. Über die Fortschrittlichkeit einer Materialartikulation als konstellative Versetzung von Wirklichkeitsfragmenten ist ständig neu und innerhalb der je spezifischen Gesamtkonstellation zu entscheiden – „nicht ein für allemal, sondern stets wieder konkret“ (Adorno 1970: 15). Verkürzend wäre allerdings, mit der Notwendigkeit solchen Entscheidens Fortschritt rein erfahrungsästhetisch zu verstehen. Christoph Menke und Juliane Rebentisch etwa verteidigen Fortschritt ausschließlich als Kategorie des kritischen Urteilens in der Kunsterfahrung und weisen jeden wahrheitsästhetischen Anspruch zurück (vgl. Menke/Rebentisch 2006). Demgegenüber ist Adornos Fortschrittsbegriff rezeptions- und produktionsästhetisch verfasst; er betrifft sowohl das Urteilen über Kunst als auch das Urteil, das als materiale Versetzung in den Werken selber steckt. Gerade das macht ihn für die kritische Überprüfung künstlerischer Criticality-Behauptungen fruchtbar. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang zudem: Das fortschrittlich Neue ist zwar prekär, insofern es sich stets als momentane Singularität zeigt und nicht definitorisch „festnageln“ oder vorwegnehmend „auspinseln“ lässt (Adorno 1961: Vo6456), diese prinzipielle Offenheit des Neuen bedeutet aber keineswegs, dass es sich nicht benennen ließe. Wie Sylvia Zirden aus der Prekarität des Neuen zu schließen, eine beispielhafte Analyse des Neuen sei wertlos (vgl. Zirden 2005: 21) und es tauge aufgrund seiner nicht präzisierbaren Formalität in konkreten Fällen ohnehin „nicht als Wertungskriterium“ 80
(Zirden 2005: 281), nimmt ihm seine gesellschaftskritische Stoßkraft. Denn das künstlerisch Neue ist nicht nur als das Nichtauszumalende fortschrittlich „im Sinne des Berührens von Schichten, die in dieser Weise eben noch nicht berührt, noch nicht in den Immanenzmechanismus des Betriebs hineingezogen worden sind“ (Adorno 1961: Vo6456). Zugleich versteht Adorno es „auf der andern Seite eben dann doch als das, was aufgrund der konkreten Entwicklungstendenzen […] gefordert ist im Sinn der Forderung des Tages“ (Adorno 1961: Vo6456). Trotz seiner Varianz und Offenheit ist das Neue kein abstraktes Kriterium, sondern eine konkret situierte Qualität. Nachvollziehen und auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen lässt sich der qualitative Sprung des Neuen nur am bestimmten Gegenstand und in seiner konstellativen Besonderheit. Einzig in der konkreten, schonungslosen Konfrontation mit dem, was ist, zeigt sich, ob eine behauptete Neuheit tatsächlich an blinden Stellen rührt oder bloß die Logik von Profit und Mode weitertreibt. Bürgers Einschätzung von Adornos Überlegungen zum Neuen als „zwar nicht falsch, aber zu allgemein und unspezifisch“ und als „Verdopplung dessen, was die Warengesellschaft beherrscht“ (Bürger 1974: 85, 84), verfehlt es ebenso wie Zirdens Beharren auf dessen prinzipielle Unpräzisierbarkeit. Beide vernachlässigen den unhintergehbaren Bezug des Neuen auf historisch-situative Konkretion, wo doch gilt: „Was man zu dieser Stunde, jetzt und hier, unter Fortschritt sich zu denken hat, weiß man vag, aber genau: deshalb kann man den Begriff gar nicht grob genug verwenden.“ (Adorno 1962b: 617; vgl. Adorno 1964/65: 198) Während Zirden ihre Überlegungen zum Neuen auf das „vag“ bezieht, will ich an das „genau“ anschließen. Analog dazu, wie Moralphilosophie für Adorno gegenständliche Gesellschaftskritik werden muss um nicht gewaltförmig zu sein, kann auch Ästhetik nur als Kunstkritik zu gültigen Aussagen kommen – Aussagen freilich, die nur zeit- und ortsgebundene Gültigkeit beanspruchen und mit ihren unvermeidlich groben Begriffen eher Diskussionsanstoß als Wahrheitsverkündung sind. Abstrakte Prinzipien dessen, wann, wie und wo das Neue stattfindet, lassen sich nicht geben, aber ein hier und jetzt erscheinendes Neues lässt sich durchaus bezeichnen und verhandeln. Was die Dialektik von Form und Inhalt anbelangt, so ist nicht einzusehen, weshalb fortschrittliche Konstellationen nicht auch in Werken möglich sein sollten, die thematische Inhalte zu ihrem Material zählen. Ob und inwiefern dies der Fall ist, muss am Einzelfall differenziert diskutiert werden. Wo brennende Themen und dringliche Inhalte fraglos Teil der Wirklichkeit sind, kann es nicht darum gehen sie als Material der Kunst auszuschließen. Die Frage ist nur, wie Kunst mit solchem Material verfährt.
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Konkretion: Rainbow’s Gravity8 Um nicht in Adornos Polemik gegen thematisch-inhaltliche Gegenstände einzustimmen, werde ich im Folgenden nicht aufzeigen, wie und wo zeitgenössische Kunst einen fortschrittlichen Umgang mit thematischem Material versäumt. Stattdessen möchte ich eine Videoarbeit diskutieren, die ich hier und jetzt für eine geglückt kritische Konstellation dringlicher Wirklichkeitsfragmente halte. Anstelle naiv didaktischer Dokumentarismen und universalistischer Medienreflexionen, wie sie in der gegenwartskünstlerischen Verhandlung von (Zeit-)Geschichte häufig sind, zeigt sich diese enorm selbstreflexiv und lässt sich als Essayfilm bezeichnen – allerdings nicht im Sinne jener filmwissenschaftlichen Kategorisierung, die das Charakteristikum des Essayfilms darin ausmacht, dass Fragen nach dem Inhalt (dem „Was“) hinter formalen Fragen (nach dem „Wie“) zurücktreten (vgl. Heinze 2013: 27 ff. u. Seeßlen 2013: 99 ff.). Zum Einsatz kommt hier vielmehr ein adornosches essayistisches Verfahren, das konkrete Form und spezifischen Inhalt, Darstellung und Dargestelltes in eine produktive Dynamik versetzt. Die beiden jungen deutschen Videokünstlerinnen Mareike Bernien und Kerstin Schroedinger bearbeiten in ihrem 30-minütigen Video Rainbow’s Gravity (2014) vielschichtige und komplex verknüpfte Materialien. Gegenwärtig Fälliges treffend verschränken sie thematische Auseinandersetzungen mit einer spannungsvollen Ästhetik, womit sie formalistische wie inhaltistische Verkürzungen hinter sich lassen. Das künstlerisch-dokumentarische Video verhandelt den Einsatz und die Produktion von Farbfilm ab 1935 in Deutschland und verzahnt die Geschichte der chemischen Industrie und materiellen Produktionsbedingungen von „Agfacolor Neu“ mit einer Untersuchung von Farb- und Erinnerungspolitik. Dabei umspannt das Material dieser gleichermaßen inhaltlichen wie formalen Auseinandersetzung stoffliche, körperliche, technische, historische, narrative und repräsentationsreflexive Aspekte. In der ehemaligen Filmfabrik Wolfen zeichnen die Künstlerinnen mit der Kamera auf, wie sie Farbfilmmaterial aus den 1930er- und 1940er-Jahren auf Rohre, Walzen, Tanks und gekachelte Wände projizieren. Dabei werden die Bilder fragmentiert, verzerrt oder von Schatten unterbrochen. Oft sind sie undeutlich, gelegentlich reduziert auf vorbeiziehende Lichtreflexe, dann wieder sind blonde Mädchen beim Tanz zu erkennen, eine Fliegerformation vor blauem Himmel oder die im Badeanzug einen Schimmel reitende Kristina Söderbaum in Veit Harlans Opfergang. Die Kamera blickt ins Licht des Projektors, zeigt Performer_innen im abgedunkelten Fabrikraum; alles Licht
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Auszüge des Folgenden sind zuerst erschienen in: Kleesattel 2014.
strahlt grün (später rot, dann blau). Bei Außenaufnahmen wird der Farbfilter gelegentlich beiseite geschoben, eine Performerin steht auf der Wiese vor den alten Gebäuden der Fabrik, hält den grünen Filter mit ausgestreckten Armen, blickt hindurch. Im dunklen Inneren der Fabrik bewegen die Akteur_innen den Projektor und kleine Projektionsflächen durch den Raum, den sie in anderen Szenen mit Bewegungen, Gesten und Haltungen erkunden. Teile ihrer Gesichter verschwinden im Schatten; die eine flüstert der andern ins Ohr: „My memory is black-white, although color footage existed back then. Blackwhite distances me from the images. It freezes the pictures. Black-white is real, but color is truer. Colorfast is truer than true.“ (Bernien/Schroedinger 2014: 00:03:22) In den Köpfen heutiger Enkel_innen, zu deren Generation ich genauso gehöre wie die beiden Künstlerinnen und die Akteur_innen im Video, sind Bilder der NS-Zeit fast durchweg schwarzweiß. – Schwarzweiß wie das Archivmaterial in Fernsehdokumentationen und in Resnais’ Film Nacht und Nebel, der für Cineast_innen (neben Lanzmanns Shoah) nach wie vor die Referenz in Sachen KZ-Geschichtsschreibung ist, oder wie Spielbergs Schindler’s List, derin den 1990ern für viele Schulklassen Pflichtveranstaltung war. Während die letzten Täter_innen und Überlebenden verschwinden, suchen Bernien und Schroedinger nach einer Erinnerungspolitik, welche die Verstrickung von Gegenwärtigem und Vergangenem präsent hält, statt Geschichte in ein distanzierendes Schwarzweiß zu bannen. Dabei behauptet ihr Rückgriff auf Farbfilm keine lückenlosere, realitätsnähere Vergangenheitsrekonstruktion, sondern reflektiert die materielle und symbolische Farbpolitik, die „Agfacolor Neu“ zum Einsatz brachte, im Bezug auf die Gegenwart. Die Schwierigkeit, problematischem (Propaganda-)Bildmaterial im Zitieren erneut eine Plattform zu geben und die Vertracktheit, sich auch solchem Material mimetisch zu nähern, bewältigt die formgebende Konstruktion durch produktiv eingesetzte Gewalt: Dynamisiert und fragmentiert werden die in verwinkelte Räume und auf performende Körper projizierten Bilder in antinazistischer Ästhetik unterbrochen und gestört. Knisternde Fetzen von Filmmusik und ein Industrial-Sound aus vor Ort aufgenommenen Geräuschen wechseln sich mit gesprochenem Text ab. Der Text ist mehrstimmig und mehrsprachig, wird teilweise wiederholt und übersetzt. Sagen, Zuhören und Wiederholen wechseln sich beständig ab; Akzente verweisen auf Migrationen. Nicht entweder deutsch oder nicht-deutsch ist diese Geschichte, sondern beides; vielleicht überkreuzen sich in den erinnernden Enkel_innen sogar Familiengeschichten von sowohl Opfern als auch Täter_innen. Mit dieser Möglichkeit kommt eine widersprüchliche Situation zum Ausdruck: Während es einerseits entscheidend ist, den Reinheits- und Linearitätsfantasien von Abstammungsideologien wie denen der Nazis abzusagen und multirelationale Beziehungen und deren Problemlagen 83
in den Blick zu nehmen, bleibt die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen den Angehörigen der nazi-deutschen „Volksgenoss_innen“ und den Angehörigen von Verfolgten oder Ermordeten doch dringlich, um etwa spezifischen, transgenerationalen Traumata Rechnung tragen zu können. Dieser formimmanente Inhalt von Mehrsprachigkeit und Akzenten verschränkt sich mit der inhaltsimmanenten Form sachlicher Information. In die Kamera blickend oder aus dem Off erläutern die Sprecher_innen den chemischen Prozess der Farbfilmproduktion, die Relevanz des Chemieunternehmens IG Farben für den Krieg der Deutschen, die Zwangsarbeit in Farb- und Chemieindustrie. Sie beschreiben die projizierten Filmbilder aus Wochenschau und Propagandakino oder ein Farbtestbild mit Hakenkreuzflagge. So lassen sich einige Aussagen und Erläuterungen auf der Bildebene nachvollziehen, zum Beispiel wie das Standardrot vom Umfeld des Hakenkreuzes auf die kommunistische Flagge überging, als die Sowjetunion das Agfa-Filmmaterial als Reparationszahlung erhielt. Benannt wird aber auch, „was diese Bilder nicht zeigen: Die Arbeit hinterließ Spuren auf den Körpern der Arbeiter und Arbeiterinnen. Asthma, Ausschläge, Schwellungen, Verätzungen“ (Bernien/ Schroedinger 2014: 00:23:29).Wo heute in Wolfen ein Baumarkt steht, befand sich damals ein Außenlager für Zwangsarbeiterinnen. Grund und Boden um die Fabrik sind auf Jahrhunderte verseucht. Die Farben der Wahrheit, denen sich Bernien und Schroedinger mimetisch-konstruktiv nähern, manifestieren sich nicht nur im symbolischen Raum von Repräsentation und Geschichte, sondern auch chemisch und körperlich in Gegenwart und Zukunft. Deutlich wird nicht nur, wie wenig bekannt viele Aspekte des ganzen Materialkomplexes sind, zudem wird im Geflacker von Lichtreflexen, Geflüster, Projektionen und involvierten Körpern spürbar, wie künstlich und hindernisreich deren Bergung ist. Rainbow’s Gravity hält den Widerspruch aus zwischen dem mimetisch-affirmativen Einsatz um das vom Vergessen Bedrohte (oder nie Gehörte) einerseits und dem medienreflexiven Wissen um die prinzipiell gewaltförmige Konstruiertheit von Geschichte und Narration anderseits. Dabei löst sich die Frage nach dem Erinnern keineswegs in einem radikalen Konstruktivismus, der jeden Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch negiert. Der konstruierte Charakter von Geschichte motiviert bei Bernien und Schroedinger Recherchen nach der Gegenwart des Vergangenen und mündet in die Dinglichkeit einer eigenen Positionierung. Dass Geschichte unabdingbar Konstruktion ist, bedeutet nicht, dass historische Wahrheit null und nichtig wäre, sondern dass sie Gegenstand eines streitbaren, parteiischen Engagements ist, welches das Vergangene dem Verschwinden und dem Relativismus entreißt. Aktuell treffende Konstellationen müssen im Umgang mit den Elementen der Realität aktiv hergestellt werden. Anders aber als Konstruktivismen, die alle Wahrheit für Fiktion erklären (und so nicht zuletzt 84
Holocaust-Leugner_innen in die Hände spielen), beharrt das Video dabei auf materiellen Tatsächlichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart. Die Zwangsarbeit bei Agfa und der chemieverseuchte Erdgrund sind nicht bloß Geschichten. –Dass erinnert werden muss, steht nicht infrage, fraglich ist das Wie. Offensichtlich verbindet sich hier der Umstand, „daß wenn man einmal in einer Sache richtig drin ist, […] daß einem dann der Relativismus schon vergeht“ (Adorno 1961: Vo6473) mit der Notwenigkeit, im Konstellativen den sicheren Boden zu verlassen. Die Künstlerinnengehen das Wagnis ein und beziehen Position. Auf diese Weise gehen sie über eine rein dekonstruktive Analyse von Bild und Ort hinaus. Sie geben die Neutralität des Zerlegens und Diskursivierens ebenso auf wie dokumentarische Objektivitätsbehauptungen und machen sich angreifbar in parteiischen Forderungen: „Veit Harlan wird nicht nur angeklagt, sondern verurteilt.“ (Bernien/Schroedinger: 00:20:34) Obwohl und gerade weil Repräsentation, Narration, Bilder und Farben ideologisch dienstbar gemacht werden können, räumen Bernien und Schroedinger nicht resigniert das Feld. Stattdessen werden Bilder und Farben als Ermächtigungsmomente gegen das Vergessen verteidigt: „Farbe lügt, Farbe entzieht sich. Erinnerungsbilder färben sich ein, schreiben sich um. Aber mein Blick will sich nicht versöhnlich färben und auch nicht farblos bleiben. Ich will unversöhnliche Farben. […] Es soll stechen in den Augen.“ (Bernien/ Schroedinger 2014: 00:28:14) Rainbow’s Gravity ist offenkundig eine subjektive Konstruktion im Einsatz für die Stimme von objektiv Unterdrücktem. Das Video engagiert sich für konkretes Leid, thematisiert einen spezifischen Gegenstand und bringt formal wie inhaltlich etwas zum Ausdruck, das in gängigen Bildern und Geschichten keinen Ort hat. Dabei gehen die Berichte über I.G. Farben, das Problematisieren von Geschichts- und Erinnerungspolitik und die Forderung, dass es besser werde, weder in didaktisch übermittelnder Belehrung auf, noch in agitatorisch verkürzenden Identifizierungen. An die Stelle identifizierender und deduzierender Argumentation tritt eine essayistisch-konstellative Anordnung, die ihre teils widersprüchlichen Momente innerhalb der Spannung von Darstellung und Dargestelltem alle „gleich nah zum Zentrum“ (Adorno 1958a: 28) arrangiert. Das Material des Videos erscheint enorm divers und multirelational verstrickt zwischen historischen Filmaufnahmen und aktueller Videotechnik, chemischen Rückständen und performativen Erkundungen, Ideologiekritik und Wahrheitsanspruch, Erinnerungspolitik und Farbpolitik damals und heute. Damit lässt sich der Gehalt von Rainbow’s Gravity nicht auf eine zu verschlagwortende Thematik reduzieren, sondern verschränkt seine Bedeutungsebenen zwischen vielschichtigen Formen und Inhalten.
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Nachbemerkung: Kunstspezifik? Bernien und Schroedinger zeigen, dass die konstellative Materialartikulation von realitäts- und gegenwartsrelevanten Inhalten nicht zwingend eine positivistisch „rohe Beziehung auf Gegenstände“ (Adorno 1970: 224) sein muss. Welchen Stellenwert nimmt aber die kunstspezifische Autonomie ein, wenn Materialfortschritt nicht nur werkimmanent zu fassen ist, sondern stets auf die konkrete geo-sozio-historische Situation bezogen bleibt? Nicht bloß angesichts des Definitionsnotstandes von Kunst, sondern vor allem angesichts neoliberaler und profitorientierter Verstrickungen des Kunstfeldes halte ich es für sinnvoll, Adornos Rede von „der Kunst“ als Chiffre zu begreifen für die mimetisch-konstruktiv stimmige Artikulation umfassender Objektivität. Adornos Interesse gilt den autonomen Kunstwerken als verobjektivierte, fortschrittliche Konstellationen innerhalb einer gänzlich heteronom verfassten Welt, die scheinbar keine Alternativen offen lässt. Seine Auseinandersetzung mit den singulären Werken, welche er nicht auf eine Wesenheit von Kunst festlegt, motiviert sich fundamental von Rationalitäts- und Gesellschaftskritik her.9 Unterdessen weiß er sehr genau, dass die Institution Kunst keinesfalls autonom und interesselos ist. Eine Realisierung ästhetischer Autonomie – verstanden als in sich schlüssige, selbstgesetzgebende Konstellation, die sich hegemonialen Rationalitäten und Ordnungen entzieht –, mag nichtsdestotrotz im Kunstfeld eher anzutreffen sein als anderswo. Auch wenn (und sehr wahrscheinlich: gerade weil) die Gefahr eines separatistischen, harmlosen „Naturschutzparks“ der Kunst (vgl. Adorno 1970: 499) ungebrochen bleibt und verwertungslogische Interessen allgegenwärtig sind, stellen die Institutionen der Kunst distributive, finanzielle und rechtliche Ermöglichungsräume dar. Ein „Dokumentarfilm“ wie Rainbow’s Gravity fände außerhalb des Kunstfeldes schwerlich Fördermittel und Distributionskanäle; jenseits des künstlerischen Zitatrechtes geriete er zudem in bildrechtliche Schwierigkeiten. Damit sei nicht gesagt, dass konstellativer Fortschritt andernorts unmöglich oder fehl am Platz wäre. Im Gegenteil, kritisch-emanzipatorische Materialartikulationen sind nicht nur im Kunstfeld aufzuspüren und von Pseudo-Criticality zu unterscheiden. Auch pädagogische, geschichtsschreibende, (real-)politische, journalistische, wissenschaftliche und alltagskulturelle Bereiche sind hinsichtlich fortschrittlicher Materialbehandlung und konstellativer Versetzung kritisch zu befragen und emanzipatorisch zu nutzen.
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Vgl. den Beitrag von Ruth Sonderegger in diesem Band.
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Widerspiegelung – Vor-Schein – Ausdruck Modelle ästhetischer Erkenntnis bei Lukács, Bloch und Adorno Johannes Rhein
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Standpunkt und Spielraum
Es hat mitunter etwas Altmodisches, auf der Bedeutung von Georg Lukács und Ernst Bloch für die Schriften Theodor W. Adornos zu beharren. Angesichts der Probleme, vor die man bei einer Annäherung an die Begriffe der Ästhetischen Theorie gestellt ist, erscheint eine Erinnerung an die Diskussionen des Hegelmarxismus dennoch sinnvoll. Bei der Lektüre Adornos lassen sich zwar relativ schnell einige zentrale Positionen bestimmen, die die Umrisse materialistischer Autonomie-Ästhetik beschreiben: Er insistiert auf der Autonomie der Kunst, der eine unbegriffliche, genuin ästhetische Art der Erkenntnis zugesprochen wird; im Mittelpunkt steht dabei das Werk, das erst durch sein spezifisches Formgesetz realisiert wird; das Kunstwerk bezieht sich zwar auf Gesellschaft, aber nicht indem es dokumentieren oder eingreifen würde, sondern durch eine Differenz zur außerästhetischen Wirklichkeit und damit immer auch dem Schein, mehr zu sein als fait social. Der Versuch, Adornos Denken so oder ähnlich zusammenzufassen, ist ein fraglos notwendiger und ebenso fraglos bloß vorläufiger Lektüreschritt. Nun fällt aber auf, dass Adorno auf dem so umrissenen Standpunkt keineswegs alleine ist. Vielmehr ließen sich dorthin ebenso gut Georg Lukács oder Ernst Bloch rücken. Allerdings sind alle drei über die nähere Bestimmung materialistischer Autonomie-Ästhetik in Streit geraten und vor allem Lukács und Bloch mit ihren unterschiedlichen Einschätzungen der ästhetischen Moderne in heftigen Gegensatz zueinander getreten. Für eine Annäherung an die Begriffe der Ästhetische Theorie sind Lukács und Bloch nicht nur als ideengeschichtliche Vorläufer, sondern gerade wegen ihrer Differenzen interessant, weil sich anhand dieser auch der Spielraum materialistischer Autonomie-Ästhetik auffächern lässt (vgl. Lindner 1978). Das ist mit Hinblick auf Adornos angestrebten Umgang mit Theorie nicht unwichtig: Sein Anspruch, das Thema der Ästhetischen Theorie „weder von oben noch von unten“ (Adorno 1970: 510) zu entwickeln, hält einerseits daran fest, dass eine allgemein-begriffliche Perspektive „von oben“ zwingend 89
ist, wenn die Kunst im Singular Gegenstand von Ästhetik ist, und zielt andererseits darauf ab, die Begriffe so anzulegen, dass sie ihre Systematik sprengen und beweglich bleiben. Insofern ist für das Verständnis dieser Begriffe nicht nur ihr Zusammenhang, sondern auch ein Gespür für ihren Spielraum entscheidend, dessen Grenzen womöglich auch mit den Positionen von Lukács und Bloch aufgezeigt werden können. Dazu wird im Folgenden kurz die Kontroverse zwischen Bloch und Lukács skizziert, wobei die Darstellung sich auf allgemein-begriffliche Zusammenhänge konzentriert und der politische Hintergrund wie auch die Eigenart der jeweils als Orientierung dienenden Künste bewusst ausgelassen werden. Im Mittelpunkt stehen mit „Widerspiegelung“ und „Vor-Schein“ die jeweiligen Modelle ästhetischer Erkenntnis, wobei deutlich werden soll, wie unterschiedlich dabei im Rahmen materialistischer Geschichtsphilosophie auf Konzepte wie Autonomie, Form, Werk und Schein zurückgegriffen wird. Im Anschluss wird eine Passage der Ästhetischen Theorie diskutiert, die sich als Kommentar zu dieser Debatte verstehen lässt, mit dem sich Adorno zwischen Bloch und Lukács positioniert. Diese Stellung bleibt im Einzelnen jedoch erklärungsbedürftig. Genauer stellt sich die Frage nach einem Erkenntnismodell, mit dem sich Adornos Abgrenzung von den Konzepten „Widerspiegelung“ und „Vor-Schein“ präzisieren lässt. Abschließend soll deshalb Adornos Begriff des „Ausdrucks“ in Hinblick darauf rekonstruiert werden, ob und wie damit die Probleme der Kontroverse zwischen Lukács und Bloch gelöst werden.
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Georg Lukács: Widerspiegelung vermittelter Wirklichkeit
Die zwischen den 1930ern und 1950ern verfassten literaturtheoretischen Essays von Georg Lukács sind als Verteidigung realistischen Erzählens angelegt. Er beharrt darauf, dass es in der Kunst um eine „besondere Form der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit“ (Lukács 1938: 198) geht, deren Erkenntnispotenzial er vor subjektivistischen Verzerrungen bewahren will. Dabei verteidigt Lukács zunächst die Kunstautonomie gegen politische Vereinnahmung. Kunstwerke sollen zwar parteilich sein, aber nicht, indem die AutorInnen ihre politischen Forderungen verkleiden, sondern durch ihre „Objektivität in der Wiedergabe und Gestaltung der Wirklichkeit“ (Lukács 1932: 32). Weil ästhetische Erkenntnis jenseits der politischen Couleur von KünstlerInnen wahr sein soll, kann sich ihre Fähigkeit zur Kritik nicht in der Darstellung sozialer Tatsachen im Lichte individueller Meinungen erschöpfen, sondern muss als Vermögen verstanden werden, die „objektive Wirklichkeit mit ihren wirklichen treibenden Kräften, mit ihren wirklichen Ent90
wicklungstendenzen“ (Lukács 1932: 31) zu erkennen. Diese Argumentation richtet sich nicht nur gegen die Aufwertung von „Tendenzliteratur“, sondern auch gegen die Avantgarden: Noch wo sie sich anti-bürgerlich oder gar sozialistisch geben, so argumentiert Lukács, bleiben sie auf einem „verworrenen anarchistisch-bohèmehaften Standpunkt“ (Lukács 1934: 120) stehen. Dagegen macht er die kritischen Potenziale nicht so sehr des sozialistischen, sondern vor allem des bürgerlichen Realismus geltend – also von politisch nicht gerade dem Marxismus entsprechenden Autoren wie Honoré de Balzac, Leo Tolstoi oder Thomas Mann. Es wäre falsch, diese klare Parteinahme für den Realismus nur mit der Abneigung gegen gegenstandsferne Kunst zu erklären und die geforderte Objektivität als platte Abbildung zu verstehen. Bloße Abbildung wirft Lukács vielmehr den Avantgarden vor, deren „immer energischere Liquidierung des Realismus“ (Lukács 1938: 193; Hervorh. i. Orig.) er vom Naturalismus her versteht. Wurde im Naturalismus als einer der ersten Avantgarden die detaillierte und direkte Übersetzung des Vorgefundenen zum zentralen künstlerischen Prinzip, so versteht Lukács noch die späteren Avantgarden als Verlängerung dieses Prinzips auf individuelle Befindlichkeiten. Der gegenüber der Erzählung eigenständigen Beschreibung bei Émile Zola entspräche so etwa der assoziative Bewusstseinsstrom bei James Joyce. Die direkte Verdopplung äußerer Tatsachen oder inneren Erlebens sind für Lukács gleichermaßen subjektivistische Verzerrungen, weil sie nur wiedergeben „was und wie es unmittelbar erscheint“ (Lukács 1938: 198; Hervorh. i. Orig.). Diese Künstler bleiben bei ihrer je individuellen Erfahrung stehen und tendieren somit zum Solipsismus. Lukács wirft der ästhetischen Moderne also nicht unbedingt Gegenstandsferne vor, sondern eher zu sehr an der individuell-unmittelbaren Erfahrung der Wirklichkeit zu haften und so „das gesellschaftlich-geschichtliche Geschehen in eine Art von Zuständlichkeit“ (Lukács 1958: 35) zu verwandeln und erstarren zu lassen. Dagegen soll der Realismus die lebendige Wirklichkeit als in sich bewegte, geschichtlich vermittelte Totalität darstellen können. Es geht bei Lukács’ Realismus-Konzeption aber keineswegs nur um Inhalt, sondern durchaus um Form. Für Lukács gehen die Avantgarden – von Naturalismus über Expressionismus bis Surrealismus – alle so vor, dass sie nur Bruchstücke der Wirklichkeit aufzählen, assoziativ aneinanderreihen oder zusammenhangslos montieren. Er gesteht ihnen zwar zu, dass sie einzelne künstlerische Techniken entwickeln, kritisiert aber, dass diese hypostasiert, stilistisch überhöht und mit ästhetischer Form verwechselt werden (vgl. Lukács 1958: 34, 53). Gelungene ästhetische Form soll dagegen erst durch die realistische Gestaltung erreicht werden. Diese hängt weniger von einzelnen Stilmerkmalen ab, die in ihrer Breite durchaus einbezogen werden können, sondern von der Form des Werks als Ganzem. 91
Das Niveau des Werkganzen wird aber erst erreicht, wenn alle Elemente ihren spezifischen Sinn durch ihre Beziehung zum Ganzen erhalten und die Werke so in sich eine Totalität ausbilden. Erst dann bildet das Werk einen Zusammenhang, der erlaubt, über die Unmittelbarkeit individuellen Erlebens hinauszugehen, weil so ein vom Künstler abgelöster Maßstab möglich wird, der „die konkrete Wichtigkeit oder Unwichtigkeit aller Momente der Darstellung von den entscheidenden Situationen und Gestalten bis zu den kleinsten Details“ (Lukács 1958: 60) bestimmt. Das Werkganze wird zur Simulation der gesellschaftlichen Totalität und ermöglicht so, „ein notwendiges Phänomen unserer Zeit an jene Stelle im Zusammenhang des Ganzen zu stellen, die ihm seinem objektiven Wesen nach gebührt“ (Lukács 1958: 54). Wenn das den Vorzug realistischen Erzählens begründen soll, werden aber sowohl der Begriff des Werks als auch der der Totalität drastisch eingeschränkt. Denn ein Kunstwerk wird als geschlossener Zusammenhang ja gerade dort bewusst, wo zwei scheinbar beziehungslose Elemente aufeinander bezogen werden, weil sie Teile eines Kunstwerks sind. Was sich nicht sinnvoll zu einem Ganzen fügt, bleibt für Lukács aber bloße Anhäufung isolierter Eindrücke. Soll die Überwindung solcher Unmittelbarkeit darin bestehen, dass die Elemente in einen erzählerischen Zusammenhang einbezogen werden, wird andererseits das Konzept der Vermittlung auf Beziehungen kausaler oder jedenfalls irgendwie kontinuierlicher Art reduziert, die durch handelnde Figuren wiedergegeben werden können. Die im Begriff der Totalität implizierte Dynamik wird so nicht mehr als Spannung von Gegensätzen oder Widersprüchen verstanden, sondern auf eine „konkrete Bewegtheit, die eine konkrete und bestimmte Richtung hat“ (Lukács 1958: 59) reduziert. Totalität wird unbefangen als Ort privilegierter Erkenntnis entworfen, von dem aus sich das Chaos der mannigfaltigen Erscheinungen sinnvoll ordnen lassen soll. Diese Übertragung des Totalitätskonzepts auf die Werkform gipfelt darin, dass es innerhalb des Kunstwerks gelingen soll, Wesen und Erscheinung tendenziell zur Deckung zu bringen. Denn setzt die realistische Gestaltung all das, was sie der unmittelbaren Erlebniswelt entlehnt, in eine Beziehung zum Werkganzen, dann entsteht nach Lukács „eine neue, gestaltet vermittelte Unmittelbarkeit, eine gestaltete Oberfläche des Lebens, die, obwohl sie in jedem Moment das Wesen klar durchscheinen läßt […] doch als Unmittelbarkeit, als Oberfläche des Lebens erscheint“ (Lukács 1938: 205; Hervorh. i. Orig.). Damit kommt schließlich auch dem Schein als einer Differenz zwischen ästhetischer und empirischer Wirklichkeit zentrale Bedeutung zu. Denn die Widerspiegelung reflektiert die Wirklichkeit gerade nicht unmittelbar, sondern gestaltet sie durch die Form der Werktotalität. Der kritische Gehalt des Realismus lässt sich an zwei Punkten festmachen: Erstens ist er zwar als Widerspiegelung der Wirklichkeit nachvollziehbar, reflektiert diese aber nicht erstarrt, sondern als in sich dynamischen Zusammen92
hang. Der Realismus überwindet die Sinnlosigkeit der isolierten Erscheinungen des kapitalistischen Alltags, indem die einzelnen Elemente in eine schlüssige Beziehung zu einer Entwicklung gesetzt werden, die das gesamte Werk durchzieht. Weil die Welt im realistischen Werk dadurch grundsätzlich als im Ganzen nachvollziehbar und verständlich erscheint, entspricht diese Form zweitens in unbegrifflicher Manier und ohne direkte politische Absicht der Idee, dass die Welt als Ganze auch einmal vernünftig, durch bewusste menschliche Handlung eingerichtet werden könnte. Lukács handelt sich hier allerdings ein erhebliches Problem ein. Denn die Welt als Ganze ist ja deshalb nicht vernünftig und durch bewusste menschliche Handlung eingerichtet, weil sich die gesellschaftliche Totalität gegenüber ihren Subjekten verselbständigt hat. Die geschichtlich vermittelten Erscheinungen sind ihnen zur Unmittelbarkeit „zweiter Natur“ geronnen und erstarrt. Das erklärt den von Lukács kritisierten Subjektivismus: Die Ohnmacht gegenüber den verdinglichten Verhältnissen, die sich in Angst, Verzweiflung und Einsamkeit niederschlägt, ist notwendiges Phänomen des Kapitalismus und bildet die gesellschaftliche Grundlage für den verschlossenen Solipsismus der Avantgardisten. Lukács’ Vorwurf an die Avantgarden ist deshalb auch nicht, „die Wirklichkeit einfach subjektivistisch zu vergewaltigen, sondern umgekehrt: dieser Stil wächst aus der imperialistischen Periode heraus“ (Lukács 1958: 51). Das ist kein ästhetischer Rang, gibt den „schreckhaft erstarrten Zügen des Unbegreifbaren“ (Lukács 1958: 39) in den Werken der Avantgarden jedoch eine objektive Grundlage. Die RealistInnen sollen diese Situation überwinden können. Wie aber sollen sie als isolierte Individuen mit dem Werk eine Totalitätsperspektive entwickeln können? Hier landet Lukács beim Subjektivismus schlechthin: „Ausschlaggebend ist die menschliche Entscheidung. […] zur Angst hin oder weg von ihr? Soll die Angst verewigt oder überwunden werden?“ (Lukács 1958: 90) Damit wird aber die Objektivität des Realismus grundsätzlich infrage gestellt, weil die Fähigkeit der Realisten, das Chaos der Erscheinungen in der Werkform zu ordnen, nur noch mit ihrer heroischen Standhaftigkeit, dem bloßen „Glauben an eine letzthinnige immanente Vernünftigkeit, Sinnhaftigkeit der Welt, ihre Aufgeschlossenheit, Begreifbarkeit für den Menschen“ (Lukács 1958: 44) begründet werden kann. Auch wenn die Lösung, die Lukács mit seinem Realismuskonzept anbietet, nicht überzeugend ist, interessiert hier vor allem die von ihm aufgeworfene Problemstellung. Denn die Übertragung erkenntnistheoretischer Probleme auf die Ästhetik bleibt bei Bloch und Adorno verpflichtend: Soll Kunst eine Form der Erkenntnis sein, dann stellt sich aus der Perspektive materialistischer Dialektik die Frage, wie eine künstlerische Überwindung fetischistischer Unmittelbarkeit und eine genuin ästhetische, unbegriffliche Methode der Darstellung von Vermittlungsbeziehungen zu bestimmen ist. 93
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Ernst Bloch: Vor-Schein der Utopie
Ernst Bloch entwickelt ein Modell ästhetischer Erkenntnis, mit dem er die Avantgarden verteidigt und sogar als die besseren RealistInnen versteht. Er kritisiert, dass Lukács die avantgardistischen „Subjektausbrüche“ (Bloch 1938: 184) abtut, wo doch gerade aus materialistischer Perspektive in diesen „ein revolutionär Produktives“ (Bloch 1938: 184) wahrnehmbar sei. Bloch erkennt in Lukács’ „objektivistisch-geschlossenen Realitätsbegriff“ (Bloch 1938: 186) einen idealistischen Rückfall, gegen den er eine Nicht-Identität von Begriff und Wirklichkeit geltend macht. Lukács will die Unmittelbarkeit überwunden sehen, sobald das Einzelne in Beziehung zum Ganzen gesetzt wird. Das ist materialistisch intendiert, weil so dem Vorrang historisch-gesellschaftlicher Totalität Rechnung getragen werden soll. Aus der geteilten Prämisse, dass das Wirkliche wesentlich geschichtlicher Prozess sei – und das ist ja, worauf das materialistische Totalitätskonzept zielt –, zieht Bloch aber ganz andere Schlüsse: Dass das Wirkliche kein Ganzes bildet, sondern notwendig unterbrochen und unabgeschlossen ist. Blochs Konzept einer „mehrschichtigen Dialektik“ (Bloch 1934: 122), soll nicht nur eindimensionale Beziehungen von Wesen und Erscheinung, sondern „die weitverzweigten Vermittlungen zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft“ umgreifen (Bloch 1959: 225). Die unmittelbaren Erscheinungen sind demnach nicht nur Momente einer zwar in sich prozessierenden aber schon geschlossen als Ganzes zu begreifenden Totalität, sondern: was sich historisch als das „isolierte Ganze eines jeweiligen Prozeßabschnitts“ (Bloch 1959: 257) darstellt, ist selbst erst Moment des noch offenen Geschichtsprozesses. Deshalb ist die Erlebniswelt auch durchzogen von Momenten, die in ihrer Beziehung zum „epochal Ganzen“ (Bloch 1959: 257) nicht aufgehen. Prototypisch dafür sind Wünsche und Tagträume, die gegenüber nach außen gewendeten Kategorien wie Wille oder Bedürfnis gerade in ihrer Isolation und Abkehr einen Eigensinn behalten, der mehr und anderes will, als sich schon realisieren lässt. Diese Erscheinungen gehen in der gesellschaftlichen Totalität nicht sauber auf, sondern sind Momente einer Sehnsucht nach Vollkommenheit, die erst noch herzustellen wäre: „Wünsche tun nichts, aber sie malen und behalten besonders treu, was getan werden müßte.“ (Bloch 1959: 51 f.) Solches „Gären und Brausen“ (Bloch 1959: 225) als Teil des Wirklichen aufzugreifen, darin erkennt Bloch das Potenzial der avantgardistischen Subjektausbrüche. Ästhetischer Schein wird so zum eigentlichen Lebensnerv eines Realismus, der die reale Scheinhaftigkeit dieser flüchtigen Momente festzuhalten vermag. Das bestimmt, wie künstlerisch die Dinge der außerästhetischen Wirklichkeit aufgenommen werden: „Ästhetisch dargestellt, das bedeutet: immanent-gelungener, ausgestalteter, wesenhafter als im unmittel94
bar-sinnlichen oder unmittelbar-historischen Vorkommen dieses Gegenstands.“ (Bloch 1959: 247) Dabei kann die Überwindung des „unmittelbarhistorischen Vorkommens“ als Spitze gegen Lukács verstanden werden, bei dem die Vermittlung in der Beziehung zum historisch Ganzen steckenbleibt. Die KünstlerInnen aber verwenden „kostbare Worte, die das durch sie so treffend Bezeichnete doch ebenso über seinen gegebenen Stand hinaus übertreiben“ (Bloch 1959: 246). Dabei nehmen solche Übertreibungen aber nur auf, was an den Gegenständen selbst schon aufscheint. Denn das „im Kunstbild Erscheinende ist zu einer Entschiedenheit hin geschärft oder verdichtet, die die Erlebniswirklichkeit zwar nur selten zeigt, die aber durchaus in den Sujets angelegt ist. […] Schönheit, gar Erhabenheit sind derart stellvertretend für ein noch nicht gewordenes Dasein der Gegenstände, für durchformte Welt ohne äußerlichen Zufall, ohne Unwesentlichkeit, Unausgetragenheit.“ (Bloch 1959: 247 f.)
Die Formulierung „durchformte Welt“ kündigt an, dass es nicht nur um die mögliche Vollkommenheit der einzelnen Gegenstände geht; vielmehr wird der Überschuss, der sich den einzelnen Erscheinungen abgewinnen lässt, auch von Bloch wieder auf ein Allgemeines bezogen – die Utopie. Mit der Utopie führt Bloch einen perspektivischen, gar projektiven Begriff von Totalität ein, „das eigentliche Totum“ (Bloch 1959: 257), das letzthin doch ein Ganzes bilden würde und in seiner mehrschichtigen Dialektik als eine Art Letztinstanz fungiert. Insofern bezieht sich das immanent-gelungene, ausgestaltete und wesenhafte der ästhetischen Darstellung nicht allein auf einzelne Gegenstände, sondern verwendet diese bloß, um ein Höheres erscheinen zu lassen: Wahr sind die Kunstwerke erst als „sichtbarer Vor-Schein“ (Bloch 1959: 242) der Utopie. Das ist die Grundlage für ein weiteres Argument gegen Lukács, dass nämlich die avantgardistische Produktion das Niveau durchgebildeter Werke durchaus erreicht. Dabei besteht zunächst kein Unterschied im Werkbegriff: Auch Bloch versteht das Werk als in sich durchgebildete Totalität, deren einzelne Elemente nur als Momente des Ganzen zu verstehen sind. Allerdings kann das Kunstwerk gerade aufgrund solcher in sich stimmigen Durchformung keine Simulation des noch partikularen und zerrissenen „epochal Ganzen“ sein, sondern muss sich als Totalität nach dem Vorbild der Utopie ausgestalten. Nun fehlt aber in diesem Konzept, das soweit als Forderung der Idyllenmalerei wirken kann, die entscheidende Pointe. Denn unter „VorSchein“ stellt Bloch sich eben nicht ausgepinselte Wunschbilder vor, sondern er will damit die Avantgarden rehabilitieren. Deren Werke wären aber doch 95
als Kritik und Demontage klassisch-idealistischer Konzepte von Erhabenheit oder Schönheit zu verstehen. Bloch geht nun davon aus, dass das Gelingen von Kunst immer schon am Eingeständnis hing, dass was sie zeigt, noch nicht erfüllt ist. Deswegen „zeigt alle große Kunst das Wohlgefällige und Homogene ihres werkhaften Zusammenhangs überall dort gebrochen, aufgebrochen, vom eigenen Bildersturm aufgeblättert, wo die Immanenz nicht bis zur formal-inhaltlichen Geschlossenheit getrieben ist, wo sie sich selber noch fragmenthaft gibt.“ (Bloch 1959: 252; Hervorh. i. Orig.)
Das ist aber gerade kein Widerspruch zur Durchbildung der Werkform. Weil Kunst dem „Vor-Schein“ der vollkommen gelungenen Utopie verpflichtet ist, trägt die Form des gelungenen Werks selbst notwendig eine „Potenz zum Fragment“ (Bloch 1959: 255) in sich, solange die Utopie nicht erreicht ist: Im Gegensatz zu bloßen Wunschbildern malen Kunstwerke nicht nur aus, was sein sollte, sondern halten auch fest, dass es noch nicht ist. Die fragmentarischen, abstrakten und brüchigen Formen sind insofern nicht als Scheitern, sondern als letzte Konsequenz der Werkform zu begreifen. Nur deshalb ist Kunst „auch als Vor-Schein Schein, aber sie bleibt nicht Illusion“ (Bloch 1959: 247). Vor-Schein ist also kein bloßes Auspinseln der Utopie, sondern Erkenntnis des Empirischen aus einer Perspektive jenseits des Empirischen. Blochs entscheidender Schritt ist eine Verschärfung des Autonomie-Konzepts. Lukács identifiziert die ästhetische Autonomie mit einer Objektivität der Widerspiegelung, die gegen politische und subjektivistische Verzerrung verteidigt werden muss. Dagegen bezieht Bloch Autonomie auf die Objektivität des Werks selbst – es kommt unabhängig von der Darstellung vor allem auf dessen in sich stimmige Gestaltung an. Damit geht eine andere Lösung für das Problem der Überwindung von Unmittelbarkeit einher. Bloch übernimmt zwar diese Problemstellung, unterscheidet aber ein ästhetisches Verfahren der Vermittlung von der begrifflichen Analyse dadurch, dass er es auf Utopie bezieht. Im Werk wird das Unmittelbare überwunden, indem es nicht zur historisch durch das Kapitalverhältnis konstituierten Totalität, sondern zum unrealisiert-perspektivischen Ganzen der Utopie ins Verhältnis gesetzt wird.
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Adornos Stellung zwischen Bloch und Lukács
Am Ende der Ästhetischen Theorie findet sich eine Passage, die sich als Kommentar zu der hier nachgezeichneten Kontroverse interpretieren lässt. Es handelt sich freilich nicht um die einzige und auch kaum um die sorgfältigste 96
Auseinandersetzung Adornos mit Lukács oder Bloch. Diese Stelle hebt aber heraus, dass Adorno hier – ohne Lukács oder Bloch zu nennen – die Positionen beider gegenüberstellt und dadurch eine Stellung zwischen der Widerspiegelungs-Kritik von Bloch und der Avantgarde-Kritik von Lukács einnimmt. Von Lukács distanziert Adorno sich zunächst mit der lapidaren Feststellung: „der Schluß von philosophischem Materialismus auf ästhetischen Realismus ist falsch“ (Adorno 1970: 383). Für eine materialistische Ästhetik betont er dagegen die Differenz zwischen Begriff und Kunstwerk. Der Vorrang des Objekts beziehe sich in der Kunst nicht auf gegenständliche Wirklichkeit, sondern auf das Werk selbst: „Objekt in ihr und in der empirischen Realität ist ein durchaus verschiedenes. Das der Kunst ist das von ihr hervorgebrachte Gebilde“ (Adorno 1970: 384). Das ist als Abgrenzung von Lukács plausibel, insofern im Konzept der Widerspiegelung der zentrale Gegenstand die Wirklichkeit bleibt, für deren Darstellung das Werkganze nur ein Mittel ist. Schon Bloch hat dieses Verhältnis umgekehrt und die Darstellungsebene auf ein Moment der ästhetischen Durchbildung reduziert, dessen Akzent bei ihm klar auf der geschlossenen Form des Werks liegt. Adorno nähert sich zunächst auffallend dieser Position: Wie Bloch sich von der Widerspiegelung distanziert, indem er den ästhetischen Wahrheitsgehalt als „Vor-Schein“ fasst, meint auch Adorno, dass „der Erkenntnischarakter der Kunst […] die Erkenntnis der Realität als des Seienden transzendiert“ (Adorno 1970: 383 f.). So wie Bloch mit der Aufmerksamkeit für die aufscheinenden Potenziale und Überschüsse begründet, dass sich Kunst vom Aussehen der empirischen Dinge löst, so bedarf sie auch für Adorno der „Freiheit von den Objekten“ (Adorno 1970: 384), damit sich in ihr durch die „Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleicht Möglichen“ die „potentielle Freiheit dessen was ist von der Herrschaft“ (Adorno 1970: 384) manifestieren kann. Das Werk, „das die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt, auflöst, nach seinem eigenen Gesetz rekonstruiert“, soll erst „durch solche Transformation […] der Realität das Ihre“ (Adorno 1970: 384) geben. Wenn bei Bloch erst die an der Utopie orientierte Struktur des Werks ermöglicht, ein noch scheinhaftes, aber doch wesentliches Potenzial der Dinge auszugestalten, so bringt nach Adorno das Kunstwerk das Wesen erst durch die eigene „Komplexion zum Erscheinen wider die Erscheinung“ (Adorno 1970: 384). Schließlich erinnert es an die merkwürdige Dopplung, mit der Bloch das Werk sowohl mit seiner Durchbildung als auch dem daraus folgenden Fragmentcharakter auf die utopische Totalität bezieht, wenn sich das Kunstwerk auch nach Adorno doppelt auf die empirische Realität bezieht: Durch die „Epiphanie ihres verborgenen Wesens und den verdienten Schauer vor ihm als dem Unwesen“ (Adorno 1970: 384). Auch wenn Adorno hier auf Distanz zu Blochs eigensinniger Begriff97
lichkeit bleibt, so sind die Motive doch sehr ähnlich. Adorno kritisiert das Konzept der Widerspiegelung also, indem er auf zentrale Argumente von Bloch zurückgreift: Es gehe in der Kunst nicht primär um das Dargestellte, sondern um das autonome Gebilde des Werks; Kunst als Erkenntnis sei nicht Wiedergabe dessen, was ist, sondern die Transzendenz solcher Erkenntnis. Dabei spielt eine entscheidende Rolle, was in der Wirklichkeit verdrängt wird. Folglich bildet die Eigengesetzlichkeit des Werks einen Rahmen, in dem entwickelt werden kann, was außerästhetisch unrealisiert bleiben muss. Mit einer Formulierung, die deutlich darauf hinweist, dass Adorno von der Kontroverse zwischen Lukács und Bloch ausgeht, kommt er nun aber auf ein plausibles „Argument des Diamat“ (Adorno 1970: 384) zurück und meint damit ausgerechnet die Avantgarde-Kritik von Lukács: „Der Standpunkt der radikalen Moderne sei der des Solipsismus, einer Monade, die der Intersubjektivität borniert sich versperre. […] Der Solipsismus selbst indessen sei […] illusionär, die Verblendung der Unmittelbarkeit des Für Sich, das ideologisch die eigenen Vermittlungen nicht Wort haben wolle.“ (Adorno 1970: 384)
Adorno gesteht Lukács’ Kritik am Subjektivismus also zu, dass die ästhetische Moderne die Erfahrung vereinzelter Individuen zunächst hinnimmt, ohne weiter auf ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmen zu reflektieren. Nun wendet Adorno diese Figur aber gegen Lukács: Wenn die Unmittelbarkeit individueller Erfahrung nach theoretischer Einsicht in die „universale gesellschaftliche Vermittlung“ (Adorno 1970: 384) auch als Illusion entlarvt sei, so bleibe „Kunst, die zum Bewußtsein ihrer selbst getriebene Mimesis, […] doch an die Regung, die Unmittelbarkeit von Erfahrung gebunden“ (Adorno 1970: 384 f.). Wenn Kunst also irgendwie an Unmittelbarkeit gebunden sein soll, meint Adorno hier jedoch nicht, dass künstlerische Sensibilität über eine vermeintlich unverstellte Erfahrungsquelle verfügen würde. Im Gegenteil betont er die Vermitteltheit des Unmittelbaren. Der Solipsismus sei nicht erst das Resultat einer ideologischen Ausblendung der Vermittlung, sondern die Hypostasierung des je Einzelnen selbst ein Moment gesellschaftlicher Vermittlung, das worin sich die Totalität mitteilt: „Weil Individuation, samt dem Leiden, das sie involviert, gesellschaftliches Gesetz ist, wird einzig individuell Gesellschaft erfahrbar“ (Adorno 1970: 385). Vergesellschaftung vollzieht sich also durch Vereinzelung. Insofern ist die Abschließung des Einzelnen, seine Individuation, „in sich gesellschaftlich vermittelt“ (Adorno 1970: 386) und kann nicht unmaterialistisch durchs „bloße Bewußtsein“ (Adorno 1970: 385) überwunden werden. Kunst müsse deshalb, um den Solipsismus zu überwinden, „in sich hineingehen, um über sich hinauszugehen“ (Adorno 1970: 386). Adorno stimmt also zu, dass der Subjektivismus der Avantgarden zunächst 98
Folge gesellschaftlicher Vereinzelung ist, hält ihn aber gerade deshalb als Möglichkeit fest, Gesellschaft zu erkennen: Erkenntnis muss aus diesem heraus möglich sein, weil ein vermeintlich nicht vereinzelter Erfahrungshorizont irrtümlich eine Außenperspektive auf Gesellschaft herbeireden würde. Damit grenzt sich Adorno allerdings auch von Blochs Konzept des utopischen Vor-Scheins ab: Die Abkapselung des einzelnen Subjekts wird hier nicht als Eigensinn gefasst, von dem auf eine utopische Sehnsucht geschlossen werden könnte, sondern ist Konsequenz des „gesellschaftlichen Gesetzes“. Somit verweigert sich Adorno dem Kunstgriff, die Utopie als das jenseitige und schlechthin Andere zum zentralen ästhetischen Bezugspunkt zu machen. Zwar muss Adorno wie Bloch irgendwie von einer zu bewahrenden Nicht-Identität von Unmittelbarkeit und gesellschaftlichem Vermittlungszusammenhang ausgehen, denn einige Formulierungen deuten darauf hin, dass die Einzelnen in ihrer Vergesellschaftung nicht völlig aufgehen: So werden ihnen Regungen zugesprochen und ein in die Individuation involviertes Leiden betont. Schließlich soll Kunst die „zum Bewußtsein ihrer selbst getriebene Mimesis“ (Adorno 1970: 384) sein, wobei Mimesis bei Adorno auf diffus-leibliche, Bewusstsein und Selbstbeherrschung zuwiderlaufende Reaktionsweisen verweist. In der Dialektik der Aufklärung wurde argumentiert, dass zivilisationsgeschichtlich „anstelle der organischen Anschmiegung ans andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, […] die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt“ wurde (Horkheimer/Adorno 1947: 189). In der Verhärtung gegen mimetische Verlockungen sei „das Ich geschmiedet worden“ (Horkheimer/Adorno 1947: 190). Sollen solche mimetischen Regungen auch im Zuge zunehmender Vergesellschaftung nicht gänzlich abgeschüttelt worden sein, dann sind auch diese freilich an die unmittelbar, gar biologisch Einzelnen gebunden. Sie sind aber wohl kaum geeignet, ohne weiteres schon als Sehnsucht nach der Utopie interpretiert zu werden. Hier stellt sich allerdings die Frage, welches Modell Adorno nun der getreuen realistischen Widerspiegelung beziehungsweise dem durch Subjektausbrüche auskristallisierten utopischen Vor-Schein entgegenstellen kann. Bis auf wenige Andeutungen bleibt an dieser Stelle unklar, wie ästhetische Erkenntnis genauer bestimmt werden soll: Kunst als Geschichtsschreibung besäße „das Gedächtnis des akkumulierten Leidens“ und erinnere das Leid, „das ihr Ausdruck ist und an dem Form ihre Substanz hat“ (Adorno 1970: 387).
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Adorno: Ausdruck von Leiden
Adornos Hinweise beziehen sich also einerseits auf individuelle Regungen, die in der Kunst in eine Bewusstwerdung der schlechthin bewusstlosen Mimesis münden sollen, und andererseits auf den Ausdruck von erinnertem 99
Leiden. Der Begriff der Mimesis ist gemeinsam mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung eingeführt worden und wird schon dort nicht nur mit der Kunst, sondern auch mit dem Ausdruck von Leiden in Verbindung gebracht. Dies geschieht in einer nicht anders als drastisch zu nennenden Spekulation zum Verhalten von Gequälten: „Gespielt wirkt die Grimasse, weil sie, anstatt ernsthaft Arbeit zu tun, lieber die Unlust darstellt. Sie scheint sich dem Ernst des Daseins zu entziehen, indem sie ihn fessellos eingesteht: so ist sie unecht. Aber Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, die laut wird in der Klage. Er ist stets übertrieben, wie aufrichtig er auch sei, denn, wie in jedem Werk der Kunst, scheint in jedem Klagelaut die ganze Welt zu liegen. Angemessen ist nur die Leistung. Sie und nicht die Mimesis vermag dem Leiden Abbruch zu tun. […] In den […] konvulsivischen Gesten von Gemarterten stellt sich dar, was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz beherrschen läßt: der mimetische Impuls. Im Todeskampf der Kreatur, am äußersten Gegenpol der Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung der Materie durch.“ (Horkheimer/Adorno 1947: 191 f.)
Die Grimasse des Gequälten ähnelt dem Unechten und Scheinhaften des Spiels, weil sie wie dieses nicht mehr praktisch eingreift. Die Klage verleiht dem partikularen Leiden ein Gewicht und eine Dringlichkeit, in dem alles andere zu verschwinden scheint, was gemessen an rationaler Identifikation von Ursache und Wirkung übertrieben ist. Erst durch diese Unwahrheit soll aber eine allgemeine Bestimmung eingeklagt werden: die der Freiheit von Leiden. Die Reflexe, auf die der Gefolterte reduziert wird, werden dabei als „mimetischer Impuls“ zu einer Form von Erkenntnis stilisiert, denn Grimasse, Klage und Gesten tun doch mehr, als den Schmerz nur wahrzunehmen. Jenseits von begrifflicher Bestimmung und sprachlicher Kommunikation halten sie etwas fest und teilen mit: Sie sind Darstellung, Eingeständnis und Ausdruck. Das Verhalten unter Qualen wird also nicht nur nebenbei auf das Kunstwerk bezogen, sondern mit einer ganzen Reihe von Konzepten umschrieben, die in der Ästhetischen Theorie zentral bleiben: Schein, Ausdruck, mimetischer Impuls und schließlich unbegriffliche Erkenntnis. Irritiert an dieser Stelle, dass der Ausdruck des Leidens unecht wirken soll, so kehrt dieses Verhältnis in der Ästhetischen Theorie wieder. Auch als ästhetische Kategorie „[l]äßt Ausdruck kaum anders sich vorstellen als der von Leiden“ (Adorno 1970: 168 f.): „Ausdruck von Kunst verhält sich mimetisch, so wie der Ausdruck von Lebendigen der des Schmerzes ist“ (Adorno 1970: 169). Zugleich soll er „Urbild alles Fiktiven an der Kunst“ (Adorno 1970: 169) sein. Dabei hat sich die Perspektive offenbar umgekehrt: Sollen Grimasse und Klage an den Schein erinnern, weil sie wie dieser auf Praxis verzichten müssen, so sträubt man sich dagegen, weil das Leiden das Aller100
realste ist. Der Ausdruck bildet insofern „Demarkationslinien gegen den Schein“ (Adorno 1970: 169). Doch gerade darum ist plausibel, dass der Ausdruck der Werke an den körperlichen Schmerzes nur scheinhaft erinnert, weil ihnen ja kaum Leidensfähigkeit zugesprochen werden kann. Der Ausdruck der Werke und der des Schmerzes sind durch dieses komplementäre Verhältnis in eine Nähe gerückt worden, die schlüssig ist, wenn Adorno davon ausgeht, dass Kunst „das Gedächtnis des akkumulierten Leidens“ (Adorno 1970: 387) besitzt. Fraglich wird diese Nähe aber durch einige Bemerkungen, in denen Adorno eine grundsätzliche Differenz zwischen beiden andeutet. Das tut er etwa in der Kritik an Sartre: Dieser verstehe das Kunstwerk nicht als eigengesetzliches Gebilde, sondern als bloße „Kundgabe des Subjekts“ (Adorno 1962: 413). Wenn das „Urbild“ solcher Kundgabe bei Sartre „der Schrei des Gefolterten“ sei, werde dadurch die „Dialektik von Gebilde und Ausdruck“ ignoriert (Adorno 1962: 414). Adorno weist also zurück, was er Sartre vorwirft: Der Ausdruck von Gefolterten ist nicht das Vorbild des Ästhetischen. Sollen Kunstwerke an das Leiden erinnern können, so ist damit nicht gemeint, den Ausdruck der Gequälten nachzuahmen und zu verdoppeln. Damit wäre kaum den Gequälten geholfen, denn nur Praxis „vermag dem Leiden Abbruch zu tun“ (Horkheimer/Adorno 1947: 191). Zugleich würde sich das Scheinhafte des Ausdrucks von gemachten Dingen zur Lüge zuspitzen. Nun widerspricht unmittelbares Leiden, gar das unter Folter, dem wohl wichtigsten Prinzip der Kunst: Der Autonomie der Werke. Auch Adorno begreift das Werk als in sich stimmiges Ganzes. Seine Autonomie verdankt sich im Wortsinn einem selbstgegebenen Gesetz, dem der Form. Seine Einheit hängt von der künstlerischen Konstruktion ab, die Adorno als „rückhaltlose Unterwerfung nicht bloß alles von außen ihr Zukommenden, sondern aller immanenten Teilmomente“ bestimmt (Adorno 1970: 91). Es ist hier zentral, auch den mit dem aus der Mathematik stammenden Begriff der Konstruktion (vgl. Adorno 1970: 330) einhergehenden Akzent auf das „einheitsstiftende, organisierende Moment“ (Adorno 1970: 88) von Rationalität zu bemerken. Zugleich problematisiert Adorno aber die Form der geschlossenen Konstruktion, denn insofern sie alle Momente der Rationalität unterwirft, „ist sie die verlängerte subjektive Herrschaft“ (Adorno 1970: 91). Das für die Werkautonomie konstitutive Konstruktionsprinzip ist somit dem Sich-Verlieren der Mimesis exakt entgegengesetzt. Soll Kunst eine „Zuflucht mimetischen Verhaltens“ (Adorno 1970: 86) sein, so sind Werke doch kaum unmittelbar Mimesis, sondern mit rationalen Mitteln hergestellt worden. Das bedeutet einen enormen Unterschied zwischen dem Ausdruck der Werke und dem des Leidens: Wenn sich im Verhalten der Gefolterten der mimetische Impuls unwillkürlich als das, „was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz be101
herrschen läßt“ darstellen soll (Horkheimer/ Adorno 1947: 192), dann geschieht dies unter gewaltsamer Auslöschung von Subjektivität. Das in die Kunst geflüchtete mimetische Verhalten hat dagegen alle Privilegien von Subjektivität zur Verfügung, deren es sich auch bedienen muss, um als Kunst zu gelingen. Bündig formuliert Adorno: „Kunst ist mimetisches Verhalten, das zu seiner Objektivation über die fortgeschrittenste Rationalität – als Beherrschung von Material und Verfahrungsweisen – verfügt“ (Adorno 1970: 429). Einen Hinweis darauf, wie der aber doch bestehende Gegensatz zwischen Rationalität und Mimesis in den Kunstwerken überbrückt werden könnte, gibt eine in der Ästhetischen Theorie nicht eigens erörterte Nuancierung. Beharrt Adorno, dass sich im Ausdruck der Werke Mimetisches darstellen soll, so schreibt er im Zusammenhang mit Konstruktion vorrangig von den „idiosynkratischen Zwängen, denen die Künstler zu gehorchen haben“ (Adorno 1970: 69). Dabei bilden die Idiosynkrasien aber einen prekären Bezugspunkt: Sie sind in den Elementen des Antisemitismus als Differenzierung der Mimesis eingeführt worden und stehen zum im Leidensausdruck gegenwärtigen mimetischen Impuls in krassem Widerspruch. Gemäß der Dialektik der Aufklärung hat Rationalität sich zivilisationsgeschichtlich ausgebildet, indem mimetische Verhaltensweisen überwunden wurden, die unmittelbaren Empfindungen nachgeben und sich an sie verlieren. Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist das logische Subjekt, das „nach der methodischen Ausmerzung aller natürlichen Spuren […] weder Körper noch Blut noch Seele und sogar natürliches Ich mehr sein sollte“ (Horkheimer/ Adorno 1947: 36). Nun bleibt aber auch jenes gereinigte Subjekt empirisch noch an Individuen aus Fleisch und Blut gebunden und gerade die Zivilisierten bleiben bei aller Fähigkeit zu begrifflicher Distanzierung doch überaus reizbar und empfindlich: „[D]er schrille Laut des Griffels auf Schiefer, der durch und durch geht, der haut goût, der an Dreck und Verwesung gemahnt, der Schweiß, der auf der Stirn des Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht ganz mitgekommen ist oder die Verbote verletzt, […] wirkt penetrant und fordert zwangshaften Abscheu heraus.“ (Horkheimer/Adorno 1947: 189)
An den disziplinierten Körpern der schreibenden, kultivierten und arbeitenden Subjekte tritt stets noch unbeherrschte Leiblichkeit hervor, die unwillkürlich Ekel provoziert. Entziehen sich aber auch in solchem Ekel „einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts“ (Horkheimer/Adorno 1947: 189), so setzen sich darin zugleich eigene mimetische Regungen fort, die im Ekelhaften jäh wiedererkannt werden: Das Ich verliert die Kontrolle, wenn es vor dem zurückschreckt, was es sich verbieten muss, um die Kontrolle zu be102
halten. Solche Empfindlichkeiten bilden als verdrängte und rationalisierte Mimesis die Idiosynkrasien, in denen „der Fortschritt der Jahrhunderte sich sedimentiert“ hat (Horkheimer/Adorno 1947: 189). Mit den Idiosynkrasien sind also Überempfindlichkeiten gemeint, deren hochgezüchtete Sensibilität an einen bestimmten zivilisationsgeschichtlich erreichten Stand von Subjektivität gebunden ist, dabei aber deren bewusster Kontrolle zuwiderlaufen. Hier ist bemerkenswert, dass das Konzept der Idiosynkrasie zuerst für die Deutung des Antisemitismus verwendet wurde.1 Das strapaziert die Analogie zwischen dem Ausdruck der Werke und dem des Leidens erheblich: Denn als quasi-idiosynkratische Reflexe auf das den Selbstbeherrschten unerträgliche Eingeständnis von Ohnmacht in der Grimasse werden „Mordgier“ und „blinde Wut“ (Horkheimer/Adorno 1947: 120) der Folterer bezeichnet. Deshalb bilden die Idiosynkrasien das „Schema der antisemtischen Reaktionsweise“ (Horkheimer/Adorno 1947: 193) und liefern die „seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt“ (Horkheimer/Adorno 1947: 192). Horkheimer und Adorno verstehen den nationalsozialistischen Antisemitismus als Strategie, mimetischen Verlockungen organisiert nachzugehen, indem ein Opfer bereitgestellt wird, auf das tabuierte Züge projiziert werden können, um sie dann nach dem Schema der Idiosynkrasie an ihnen auszuagieren: „Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt.“ (Horkheimer/Adorno 1947: 193) Ist der Ausdruck der Werke als scheinbare Ähnlichkeit zu den Gepeinigten eingeführt worden, so sind die KünstlerInnen plötzlich in die Nähe der PeinigerInnen gerückt; jedenfalls sind ihre Idiosynkrasien so weniger als sensible Fühler vorzustellen, die vor Zurichtung bewahrt werden konnten, sondern eher als deren argwöhnisch erinnerte Beschädigungen, die sich zum Ressentiment verhärten können. Zwar unterhalten die Idiosynkrasien eine Verbindung zur Mimesis, sind aber deren verdrängte und rationalisierte Form – als solche bilden sie Spuren des in Individuation involvierten Leidens, gestehen es aber gerade nicht ein, sondern wenden es für gewöhnlich projektiv nach außen.
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Es ist kein Zufall, dass der Versuch, Adornos Ästhetik von der Lukács’ und der Blochs abzugrenzen, zum Rückgriff auf Konzepte führt, die in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entwickelt wurden. Vielmehr ist schon die Kontroverse von Bloch und Lukács eindeutig von ihrer antifaschistischen Perspektive und ihrem unterschiedlichen Verständnis des Nationalsozialismus geprägt. Es liegt nahe und würde lohnen, die antifaschistische Problemstellung der Ästhetik von Lukács und Bloch auch heranzuziehen, um eine theoretische Reflexion des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen in Adornos Ästhetischer Theorie zu rekonstruieren.
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Werden KünstlerInnen als Subjekte rationaler Konstruktion verstanden, dann ist ihnen allerdings nicht nur unmittelbar mimetisches Verhalten versperrt, sondern genauso auch das blinde Ausagieren ihrer Idiosynkrasien verboten; dass diese „nicht zur Regression treiben, darüber wacht die kritische Reflexion des […] Subjekts“ (Adorno 1970: 69). Bilden die Idiosynkrasien das einzige, worüber Mimetisches in die Werke Eingang finden kann, so dürfen sie in den Werken doch nicht unmittelbar als „einzelmenschliche Regungen, vollends nicht die ihrer Autoren“ (Adorno 1970: 169) erscheinen, sondern müssen im Zuge der Konstruktion durch rationale Reflexion überwunden werden. Stellt sich das Mimetische in den Werken also nicht unmittelbar dar, sondern wird durch Konstruktion vermittelt, so sind letztlich die „Ausdrucksvaleurs der Kunstwerke […] nicht länger unmittelbar die von Lebendigem“ (Adorno 1970: 169). Das deutet aber auf einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem unmittelbaren Leiden, das sich in der Grimasse des Gequälten ausdrückt, und dem „akkumulierten Leiden“, an das Kunst erinnern soll. Im Gegensatz zu dem vom Einzelnen hier und jetzt empfundenen Schmerz, für den je eine eindeutige, gewaltsame Ursache isoliert und benannt werden kann, sind die Idiosynkrasien zwar ebenfalls an das je einzelne Subjekt gebunden, bilden aber Rückstände eines insofern „allgemeinen“ Leidens, als es das am gesellschaftlichen Zwang zur Subjektivierung ist: „Wohl ist das der Kunst unabdingbare mimetische Moment seiner Substanz nach ein Allgemeines, nicht anders zu erlangen jedoch als durchs unauflöslich Idiosynkratische der Einzelsubjekte hindurch“ (Adorno 1970: 68). Damit dieses Allgemeine sich im begriffslosen Ausdruck darstellen kann, bedarf es sowohl voller Rationalität, die in die Konstruktion eingeht, als auch der idiosynkratischen Zwänge, die jeweils nur durchs Einzelsubjekt des Künstlers hindurch zu gewinnen sind. Deshalb „bedarf gerade die Objektivation des Ausdrucks, die mit Kunst koinzidiert, des Subjekts, das sie herstellt und seine eigenen mimetischen Regungen, bürgerlich gesprochen, verwertet. Ausdrucksvoll ist Kunst, wo aus ihr, subjektiv vermittelt, ein Objektives spricht: Trauer, Energie, Sehnsucht. Ausdruck ist das klagende Gesicht der Werke.“ (Adorno 1970: 170)
Das Bild im letzten Satz offenbart die Paradoxie von Adornos Ausdrucksbegriff: Denn während in der Grimasse, der ja zugemutet wird, als Reflex auf den unmittelbaren und partikularen Schmerz eine allgemeine Bestimmung festzuhalten, der Gequälte seine individuierenden Gesichtszüge verliert, wird nun den Werken metaphorisch ein Gesicht angedichtet, in dem sich die Klage über ein historisch-vermitteltes, über-individuelles, gar die Gattungsgeschichte umgreifendes Leiden ausdrückt. Keine schlechte Fiktion. 104
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Schluss
Lässt sich nun die Zwischenstellung Adornos und sein Verhältnis zu den Argumenten von Lukács und Bloch genauer bestimmen? Einerseits übernimmt Adorno die Problemstellung, dass Kunst, soll sie Erkenntnis sein, als eine Überwindung bloßer Unmittelbarkeit gedacht werden muss. Nicht nur das einfache Abbilden von Gegenständen, sondern auch der direkte Ausdruck individuellen Empfindens werden deshalb ausgeschlossen. Dabei fällt aber auf, dass Adorno ein Vermittlungsmodell verwendet, das sich von Lukács’ und Blochs deutlich unterscheidet. Denn unabhängig davon, ob unter Totalität ein idealistisch-geschlossener Geschichtsbegriff oder eine idealistisch-jenseitige Utopie verstanden wird, geht Lukács mit seinem Konzept der Widerspiegelung genau wie Bloch mit seinem Konzept des Vor-Scheins davon aus, dass die Unmittelbarkeit überwunden werden kann, indem die Einzelheit zu einem Ganzen ins Verhältnis gesetzt wird. Adornos Vermittlungsmodell zeichnet sich dagegen durch die Spannung und das Austragen von Gegensätzen aus: Die idiosynkratischen Regungen sind nicht Einzelnes, das zur Werktotalität in Beziehung gesetzt wird, sondern das Werk entsteht als Totalität durch die Spannung von rationaler, einheitsstiftender Konstruktion und ausdrucksfähigem, mimetischem Impuls. Ausdrucksvoll wird es, wenn „im Einen das Andere sich realisiert, nicht dazwischen“ (Adorno 1970: 72). Der Unterschied ästhetischer gegenüber begrifflicher Erkenntnis besteht demnach nicht in einem weniger an Rationalität, sondern im Verzicht auf Identifikation: Auch im ästhetischen Ausdruck ist die unmittelbare mimetische Regung durch rational-konstruktive Reflexion überwunden, dabei aber als eine nicht-begriffliche, nicht-identifizierende Form der Entäußerung von Erfahrung auch bewahrt. Es lässt sich jetzt auch genauer bestimmen, inwiefern Adorno bestimmte Motive von Bloch übernehmen kann. Die Aufmerksamkeit für das Unterlegene gilt hier nicht den Wünschen, sondern den verdrängten mimetischen Regungen. Dabei gewährt das Kunstwerk, in das Mimesis und Rationalität trotz ihres Gegensatzes auf vollem Niveau eingehen, einen Ausblick auf potenzielle Freiheit und Versöhnung. Der Ausdruck der Werke hält aber eben dadurch als der von Leiden einen Schauer über den unversöhnten Zustand fest. Es wird ebenfalls deutlicher, inwiefern Adorno Lukács’ Subjektivismuskritik wendet, wenn er die solipsistisch verschlossenen Monaden als den einzig möglichen Ort gesellschaftlicher Erfahrung versteht. Vollzieht Vergesellschaftung sich durch Vereinzelung, impliziert dies sowohl die Verhärtung des identischen Selbst als auch individuell entbundene Rationalität. Geht mit den Avantgarden die Bindung an die kanonische Tradition zunehmend verloren und sind die KünstlerInnen somit in der Konstruktion zunehmend auf 105
sich selbst verwiesen, bedeutet das einen Fortschritt individueller Rationalität. Dadurch wächst zwar der Einfluss unmittelbarer, individueller Regungen erheblich, diese sind aber nicht geschichtslos, sondern in ihnen meldet sich, was im Zuge von Vergesellschaftung überwunden und verdrängt werden musste. Weil im ästhetischen Produktionsprozess die Rationalität des als mit sich identisch hypostasierten Subjekts und seine idiosynkratischen Zwänge, die sich seiner Geschichte erinnern, zusammenkommen, sind die avantgardistischen Werke gerade durch ihren Solipsismus zu gesellschaftlicher Erkenntnis fähig. Dennoch bleiben Zweifel am Erkenntnischarakter der Kunst angebracht. Adorno bestimmt den Wahrheitsgehalt des ästhetischen Ausdrucks damit, dass die unmittelbaren Regungen Einzelner zugunsten eines ihnen inhärenten Allgemeinen überwunden werden. Der Ausdruck körperlicher Qualen, die nicht auf allgemein-gesellschaftlich vermittelten Zwang, sondern auf nur hier und jetzt ausgeübte Gewalt zurückgehen, ist damit von ästhetischer Darstellung ausgeschlossen. Man kann das als eine Begründung der Inkommensurabilität und damit einer Grenze der Darstellbarkeit von unmittelbarem, physischem Leiden verstehen und akzeptieren. Zugleich stößt man aber hier auch auf das Barbarische im Wahrheitsanspruch von Kunst. Am Wahrheitsgehalt von Kunst festzuhalten, heißt soviel, wie sie mit vollem philosophischem Ernst als Erkenntnis zu verstehen. Der Ernst von Kunst (wie von Ästhetik) verdankt sich dem „Pathos der Objektivität, die dem kontingenten Individuum vor Augen stellt, was mehr und anders ist als es in seiner geschichtlich notwendigen Unzulänglichkeit“ (Adorno 1970: 64). Soll Kunst es aber zugleich auch deshalb ernst meinen, weil sie sich des Leidens annimmt, so gerät man damit in einen nicht zu akzeptierenden Widerspruch dieser zwei Ansprüche auf Ernsthaftigkeit. Denn daraus resultiert die Konstruktion einer dem kontingenten Einzelnen übergeordneten Objektivität über-individuellen Leidens. Leiden lässt sich aber nur als das von individuellen Subjekten denken. Die Idee eines „allgemeinen“ oder „objektiven Leidens“ ist eine contradictio in adiecto. Man tut notwendig so, als sei das reale, partikulare Leiden hinfällig, wenn man den Ausdruck dieser Idee zum ästhetischen Wahrheitsgehalt erklärt. Nun hat aber Adorno dieses Problem selbst erkannt. „Jener Ernst aber wird relativiert dadurch, daß ästhetische Autonomie außerhalb jenes Leidens verharrt, dessen Bild sie ist und von dem sie den Ernst empfängt. Nicht nur ist sie Echo des Leidens sondern verkleinert es; Form, Organon ihres Ernstes, ist auch das von Neutralisierung des Leidens. Damit gerät sie in eine unschlichtbare Verlegenheit.“ (Adorno 1970: 64)
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Adorno gesteht also ein, dass der Ernst der Objektivität und der Ernst des Leidens einander widersprechen. Der Ausdruck des „objektiven Leidens“ kann den des real subjektiven bloß im ästhetischen Als-ob imitieren; die durch rationale Konstruktion erreichte Verallgemeinerung des unmittelbar Idiosynkratischen ist als maßlose Übertreibung zugleich auch die Veralberung des Partikularen. Der Ernst von ästhetischer Erkenntnis ist mit anderen Worten nur gespielt, er bleibt Schein. Darauf haben sowohl Ästhetik als auch Kunstwerke zu reflektieren, um den ästhetischen Wahrheitsgehalt doch noch halten zu können: „Als Spiel sucht Kunst ihren Schein zu entsühnen.“ (Adorno 1970: 64) Am Ende steht also das Problem, den Begriff ästhetischer Erkenntnis erneut aufsprengen zu müssen. Der Spielraum, den die Begriffe der Ästhetischen Theorie beanspruchen, bewegt sich also nicht nur zwischen extremen Positionen, sondern ist auch von der Sache verlangt: Weil Kunst, anders als Philosophie, erst als Spiel wirklich Erkenntnis ist. Literatur Adorno, Theodor W. (1970/2003): Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1962/1981): Engagement, in: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 409430. Bloch, Ernst (1934/1973): Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1938/1973): Diskussionen über Expressionismus, in: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.), Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 180-191. Ders. (1959/1974): Das Prinzip Hoffnung. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947/1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer. Lindner, Burkhardt (1978): Der Begriff der Verdinglichung und der Spielraum der RealismusKontroverse, in: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.), Der Streit mit Georg Lukács. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 91-123. Lukács, Georg (1932/1971): Tendenz oder Parteilichkeit?, in: Essays über Realismus. Werke Band 4. Neuwied und Berlin: Luchterhand, 23-34. Ders. (1934/1971): „Größe und Verfall“ des Expressionismus, in: Ders: Essays über Realismus. Werke Band 4. Neuwied und Berlin: Luchterhand, 109-149. Ders. (1938/1973): Es geht um den Realismus, in: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.), Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 192-230. Ders. (1958): Wider den mißverstandenen Realismus. Hamburg: Claasen.
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Utopie oder Ursprung? Zur Wahrheit in Kunst und Sprache bei Theodor W. Adorno und Martin Heidegger Marc Grimm
Bei Theodor W. Adorno und Martin Heidegger bietet sich eine offensichtliche Unterscheidung an. Adorno wurde 1934 ins Exil gezwungen und rückte die Aufklärung über Antisemitismus und Auschwitz ins Zentrum seiner Arbeit. Heidegger engagierte sich im Nationalsozialismus und hatte nach Kriegsende zu Krieg und Shoa nur wenig zu sagen. Abgesehen von dieser fundamentalen Unterscheidung auf der politisch-biografischen Ebene finden sich jedoch Gemeinsamkeiten auf der inhaltlichen Ebene, die erklären, warum die Werke von Adorno und Heidegger oft zueinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. Düttmann 1991; Müller 1994; Baur 1996; Jahraus 2004; Jay 2006; Foster 2007). Rolf Wiggershaus bemerkt, dass beide „eine ganze Reihe zentraler Motive gemeinsam [haben], so z.B. die Kritik am Positivismus und Idealismus, […] an der Vorstellung einer autonomen Philosophie, an der Verabsolutierung der Selbsterhaltung und der Vormacht des Subjekts“ (Wiggershaus 1988: 603). Diese Gemeinsamkeiten provozieren wiederum die Frage, wie die vermeintliche philosophische Nähe und Adornos vehemente Kritik an Heidegger zusammengedacht werden können. Hermann Mörchen konstatiert eine „Kommunikationsverweigerung“, in der Adorno sich Heidegger mit Spott, Ironie, Verachtung und Diffamierung genähert habe und resümiert: „Gerade die Nähe provozierte Distanzhaltung“ (Mörchen 1981: 205; vgl. auch Bubner 1980: 111). Ähnlich argumentiert Rüdiger Safranski, dass die „Nähe zu Heidegger […] Adornos Narzißmus der kleinen Differenz“ reizte (Safranski 1994: 476) und Adorno „Heidegger gegenüber mit dem Hammer philosophier[te] und einen Abstand herstell[te], der in der Sache des Denkens so groß nicht war“ (Safranski 1994: 478). Jürgen Habermas schließlich sieht die Nähe von Adorno und Heidegger „in ihrer Stellung zum theoretischen Anspruch des objektivierenden Denkens und der Reflexion: das Eingedenken der Natur gerät in schockierende Nähe zum Andenken des Seins“ (Habermas 1981: 516). Entgegen dieser Diagnosen will ich in diesem Beitrag zeigen, dass zwischen beiden Theoretikern unvereinbare Differenzen vorliegen, die sich exemplarisch an den unterschiedlichen Begriffen von Wahrheit und damit 108
verbunden an den divergierenden Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft sowie von Autonomie und Heteronomie ausweisen lassen. Als Analysegrundlage bieten sich drei Themenbereiche an, die Adorno und Heidegger miteinander teilen. Erstens kommt sowohl bei Heidegger als auch bei Adorno (vgl. Hogh 2014; Hogh 2015) der Sprache eine besondere Stellung zu. Für beide ist sie Untersuchungsgegenstand und zugleich formgebend für die Theorie. Zweitens stellt die Ästhetik einen relevanten Themenbereich dar. Selbst wenn Heideggers Schriften zur Ästhetik nur einen geringen Teil seiner Arbeit ausmachen, nimmt sein Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes von 1935, der einem breiteren Publikum erst 1949 durch den Sammelband Holzwege bekannt wurde (vgl. Tillmann 1994: 87), eine zentrale Stellung in seinem Gesamtwerk ein (vgl. Baur 1996; Keiling 2011; Reitz 2013). Darin weist Heidegger seine Ausführungen zu Wahrheit erstmals exemplarisch an einem konkreten Gegenstand, nämlich an Vincent van Goghs Gemälde Ein Paar Schuhe (1886) aus. Dass bei Adorno die kunsttheoretischen Schriften eine besondere Stellung einnehmen, braucht hingegen nicht belegt zu werden. Bekanntermaßen hat sich Adorno Zeit seines Lebens mit Kunst und insbesondere mit Musik vielfältig auseinandergesetzt und umfassend dazu publiziert. Drittens werde ich auf das Verhältnis von Kunst und Natur bei Adorno und Heidegger eingehen. Daran lassen sich wesentliche Aspekte der beiden Kunstbegriffe nochmals erhellen und die Differenzen veranschaulichen.
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Sprache als Ort von Wahrheit
Der kleinste gemeinsame sprachtheoretische Nenner, auf den Adorno und Heidegger zu bringen sind, ist die Kritik an der Verdinglichung von Begriffen, deren kategorisierender und instrumenteller Charakter dem je besonderen Bezeichneten nicht gerecht wird (vgl. Gandesha 2006; Foster 2007). Heideggers Modell, das dem Bezeichneten zum Ausdruck verhelfen will, ist das der reinen Grammatik. Der zentrale Gedanke in Heideggers Sprachtheorie ist, dass das je Besondere vor der Sprache gerettet werden muss, indem das Gesellschaftliche der Sprache, ihre Zwecke, Formen, Inhalte, kurz: ihre Genesis, von dem als vorgängig begriffenem Sinn getrennt wird. Durch die Abstraktion von allem Konkretem und Geschichtlichem zeigt sich Sprache rein in apriorischen Formen. Diese Formen sind rein, als sie nichts konkret-geschichtlich Empirisches bezeichnen und für alle Sprachen Geltung beanspruchen (vgl. Schweppenhäuser 1958: 14 ff.). In diesem Modell sind Wort-Sinn und Bezeichnung aufeinander verwiesen. Der Sinn aber, wenn er der reinen Grammatik entsprechend keine immanente Verbindung zum Begriff hat, muss der Bezeichnung vorgängig sein, das heißt, er existiert auch ohne Artikulation. Der Laut ist demnach beliebig und bloß sekundäre Bezeichnung des vorgängigen Sinns (vgl. Schwep109
penhäuser 1958: 29 f.). Von diesem Modell ausgehend, begibt sich Heidegger auf die Suche nach einer reinen, ursprünglichen Sprache, die von der Bedeutungsvielfalt historisch gewordener Sprachen noch unberührt ist. Als solche identifiziert er das Altgriechische. Im Griechischen, so Heidegger, fallen Affekt, Erfahrung und Benennung ohne Überschuss zusammen. Es sei „keine bloße Sprache […] wie die uns bekannten europäischen Sprachen“, da „das in ihr Gesagte […] zugleich das ist, was das Gesagte nennt. […] Wir sind durch das griechisch gehörte Wort unmittelbar bei der vorliegenden Sache selbst, nicht zunächst bei einer bloßen Wortbedeutung.“ (Heidegger 1955: 12) Sache und Wortbedeutung fallen hier demnach zusammen. Die vom Griechischen abgegrenzten europäischen Sprachen sind für Heidegger hingegen dadurch gekennzeichnet, dass Sache und Wortbedeutung auseinanderfallen. Heidegger geht so weit, die Übersetzung des Griechischen als Sündenfall abendländischer Zivilisation zu identifizieren: „Diese Benennungen [im Griechischen, M.G.] sind keine beliebigen Namen. In ihnen spricht […] die griechische Urerfahrung des Seins des Seienden überhaupt. Durch diese Bestimmung aber wird die fortan maßgebende Auslegung der Dingheit des Dinges begründet und die abendländische Auslegung des Seins des Seienden festgelegt. […] Freilich ist diese Übersetzung der griechischen Namen in die lateinische Sprache keineswegs der harmlose Vorgang, für den er noch heutigentags gehalten wird. Vielmehr verbirgt sich hinter der anscheinend wörtlichen und damit bewahrenden Übersetzung ein Übersetzen des Griechischen in eine andere Denkungsart. Das römische Denken übernimmt die griechischen Wörter ohne die entsprechende gleichursprüngliche Erfahrung dessen, was sie sagen, ohne das griechische Wort. Die Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens beginnt mit diesem Übersetzen.“ (Heidegger 1935/36: 12 f.; kursiv i. Orig.)
Erst durch die Übersetzung ins Lateinische erhalten Wörter demnach ihren kategorisierenden Charakter, da ihnen die Verbindung zu ihrem konkreten Gegenstand abgeschnitten wird und sie nicht mehr Ausdruck von unmittelbarer Erfahrung sind. Der Sinn – der im Griechischen unvermittelt zum Ausdruck komme – werde nun mit Kategorien bezeichnet, die der Sache selbst nicht eigen sind. Es ist „das Unübertragbare […] jeder echten Sprache“ (Heidegger 1960: 92), die ursprüngliche Erfahrung und ihr präziser sprachlicher Ausdruck, das Heidegger gegen kategoriales Denken und Sprechen verteidigt. Er benennt zwei Fluchtpunkte der Sprache. Zum einen den Rekurs auf die Antike. Dieser, so Heidegger, dürfe nicht missverstanden werden als Aufforderung, „zur Antike zurückkehren und sie zum starren Maßstab alles Daseins [zu] erklären“. Sondern der Rekurs ist nötig, weil dieser „die tiefste Notwendigkeit unseres deutschen Daseins [ist] […]. Es gilt zu begreifen, dass unser Dasein, bei allen Fortschritten und Errungenschaften, am Anfang gemessen zurückgeblieben ist und auf Seitenwegen sich verlaufen und verloren 110
hat.“ (Heidegger 1933/34: 89; kursiv i. Orig.) Folglich gilt es für Heidegger, die Sprache ihres gesellschaftlichen Korsetts zu entkleiden und sie auf ihre reine Grammatik zu reduzieren. Erst dann sei Sprache identisch mit dem Sein und kein bloß Sekundäres mehr. Entsprechend ist in diesem Urverhältnis die Beziehung von Sache, Wort und Subjekt fixiert und gegen Veränderung abgedichtet. In dieser Identität gibt es dann auch keine überschießenden Momente. Damit das Griechische als erfahrungsgesättigte und eindeutige Sprache verhandelt werden kann, muss Heidegger die Mehrdeutigkeit griechischer Begriffe ignorieren. Erst dies erlaubt ihm, den vermeintlichen Verlust der Identifikation von Wort und Sache als Ursprung der Fehlentwicklung abendländischer Zivilisation zu interpretieren. Der zweite Fluchtpunkt, den Heidegger benennt, ist das Sprachspiel. Hier lässt sich zum einen ein genetisches Moment identifizieren. Heidegger klopft Begriffe hinsichtlich ihrer Etymologie ab und setzt ursprüngliche und aktuelle Bedeutung zueinander ins Verhältnis. Zum anderen nimmt er die Wörter wörtlich, was ihm zu befürchten erlaubt, „daß ein ,ausgelesenes‘ Buch nichts mehr enthalte, weil alles ,herausgelesen‘ sei“ (Schweppenhäuser 1958: 78; kursiv i. Orig.). Durch das wörtliche Verständnis der Wörter, mit dem Heidegger versucht die Sprache selbst sprechen zu lassen, erhalten diese einen neuen Sinn, der sich neben ihren gesellschaftlich dominanten stellt. In beiden Fällen wird die Sprache irritiert, motiviert durch die Absicht, dass die Worte darüber ins Schwimmen geraten und ihren identifizierenden Charakter verlieren. Deutlicher wird Heideggers Verständnis, wenn wir seine Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und SprecherIn in die Betrachtung einbeziehen.
Heideggers Man und das Gerede In Sein und Zeit (1927) weist Heidegger die gesellschaftliche Präformation des Menschen in der modernen Gesellschaft am Man und dessen Gerede aus. Das Man bezeichnet den modernen Massenmenschen, dessen Denken, Handeln und Sprechen standardisiert sind und der so behütet wie unselbstständig in einer ihm vorgängigen Welt lebt, in der zentrale Entscheidungen über die Einrichtung des Lebens vorgegeben sind (vgl. Heidegger 1927: 128). „Diese entfremdete Entlastung bzw. entlastende Entfremdung ist sozusagen die Erbsünde des Daseins.“ (Lenk/Meuter/Otten 1997: 113; kursiv i. Orig.) Der Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit des Man entspricht sein Gerede: Es „wird verstanden, das Worüber nur ungefähr, obenhin; man meint dasselbe, weil man das Gesagte gemeinsam in derselben Durchschnittlichkeit versteht“ (Heidegger 1927: 168; kursiv i. Orig.). Das Sein des Gemeinten bleibt verborgen. Stattdessen wird das Gerede als solches für wahrgenom111
men. „Und weil das Reden den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden verloren bzw. nie gewonnen hat, teilt es sich […] mit […] auf dem Wege des Weiter- und Nachredens. Das Geredete […] übernimmt autoritativen Charakter. Die Sache ist so, weil man es sagt.“ (Heidegger 1927: 168; kursiv i. Orig.) Heidegger kritisiert hier die Verdinglichung der Sprache, die sich den Individuen gegenüber verselbständigt und zu Phrasen gerinnt. Eine Erfahrung der Gegenstände hingegen sei auch im sprachlichen Ausdruck auf Sensibilität und Offenheit angewiesen. Vor dem Hintergrund dieser (frühen) Diagnose in Sein und Zeit ist von besonderem Interesse, welche Möglichkeiten von Befreiung Heidegger den Individuen aufzeigt. Daran lässt sich eine Parallele zwischen Heideggers Konzeption der Sprache und seinem Verständnis der Stellung der SprecherInnen aufzeigen. So wie Heidegger den Rückgang von den empirischen Sprachen auf das Griechische macht, weil ihm dieses als unvermittelt und eindeutig gilt, werden die SprecherInnen in den Sog des Ursprünglichen gezogen. Deren Position hierin ist jedoch widersprüchlich: Einmal soll vom Individuum die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt abhängen. Zugleich aber wird es entmündigt. Heidegger macht die Erschließung von Wahrheit vom Mut und damit von der Einstellung des Individuums abhängig: „[w]eil der Mut ausgerichtet nach vorn bewegt; er löst sich vom Bisherigen, er wagt das Ungewohnte und besorgt das Unabwendbare“ (Heidegger 1933/34: 87). Das Wesen der Wahrheit erschließe sich im Handeln, indem wir beweisen würden, „wieviel Wahrheit wir ertragen und aushalten“ (Heidegger 1933/34: 88). Das Wesen der Wahrheit grenzt Heidegger gegen kategorisierende Zugriffe wie Definitionen und Aufzählungen ab. Das Individuum soll sich frei machen von gesellschaftlichen Prägungen, von identifizierendem und klassifizierendem Denken. Nicht durch die Reflexion der Gesellschaftlichkeit, sondern indem wir „nach vorne gerichtet zurückhorchen“ (Heidegger 1933/34: 89), um die „Urgesetze unseres germanischen Menschenstammes […] zu vernehmen […] und uns zur Prüfung und Bewährung zu stellen“ (Heidegger 1933/34: 89). Der Mut zur Erfahrung des noch Unausgelegten und Unvermittelten führe in den Kampf, in dem das Individuum sich von seinem nivellierten Dasein im Man frei macht, denn „[a]llein in der Angst liegt die Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzelt. Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar.“ (Heidegger 1927: 191) Im Kampf und durch die Angst kann das Individuum sich vom eisernen Gehäuse des Man befreien. „Frei für die eigensten, vom Ende her bestimmten […] Möglichkeiten, bannt das Dasein die Gefahr, aus seinem endlichen Existenzverhältnis her die es überholenden Existenzmöglichkeiten der Anderen zu verkennen oder aber sie missdeutend auf die eigene zurückzuzwingen.“ (Heidegger 1927: 264; kursiv i. Orig.) Das Wesen der Wahrheit und das Sein 112
erschließen sich demnach durch eine Haltung zur Welt, die ihre gesellschaftliche Prägung abwirft. Dies korrespondiert mit der sprachtheoretischen Diagnose, dass Wahrheit sich in der griechischen Sprache offenbart, die noch nicht von Bedeutungsvielfalt, Berechnung und Planung entstellt ist. Wie sich im Vorlaufen zum Tode das Subjekt vereinzelt und befreit und sich darin die eigentliche Existenz auftut, so müssen die SprecherInnen sowohl die Sprache als auch sich selbst von der verdinglichten Sprache befreien. Tobias Keiling bemerkt, dass sich bei Heidegger zwei Zugänge zur Wahrheit identifizieren lassen. Einerseits sei Heideggers Ansatz philosophiegeschichtlich, als die Möglichkeiten der Beschreibung von Wahrheit je spezifisch sind und Heidegger entsprechend den Verlust antiker ursprünglicher Ausdrucksmöglichkeiten beklagt. Anderseits, so Keiling, transzendiere Heideggers Analytik diese Beschränkung durch die Aneignung griechischer Philosophie (vgl. Keiling 2011: 68). Diese Bestimmung kann weiter differenziert werden. Nicht allein die griechische Philosophie ebnet den Weg zur Wahrheit, sondern diese erschließt sich nur vermittels der griechischen Sprache. Die Wahrheitserfahrung ist demnach primär an die Kenntnis des Griechischen gebunden, sekundär an die Kenntnis der beispielsweise deutschen Übersetzung griechischer Philosophie. Konsequent führt Heidegger zwei Elemente zusammen: Die Reduzierung der Sprache auf apriorische, reine Form und auf deren subjektlose Vermittlung, die aber wiederum keine Vermittlung sein soll. Das Gesellschaftliche wäre damit sowohl an der empirischen Form der Sprache (z. B. der Grammatik) als auch deren Vermittlung getilgt. Zugleich aber spricht Heidegger dem Individuum die Möglichkeit zu, das Sein der Sprache zu erfahren: In der Konfrontation mit dem Griechischen, die bewusst gesucht werden muss, weil sie den Mut erfordert, die bekannte kategorisierende Sprache hinter sich zu lassen und darüber Existenzmöglichkeiten des Seins zu öffnen, die unbekannt waren. Historische Gebundenheit von Wahrheit heißt für Heidegger: Authentische Wahrheitserfahrung ist nur im Denk-Medium des Griechischen möglich, weshalb die Annäherung an die Möglichkeit von Wahrheit erfordert, die identifizierende Sprache durch den Rückgang auf die griechische Sprache als auch die Erfindung neuer Begriffe und das naive Verständnis bestehender Begriffe zu transzendieren. Dies lässt Raum für zwei Interpretationen. (1) Auf der Seite des Individuums fordert Heidegger den Mut zur Konfrontation mit der Angst, die das Verlassen der identifizierenden Sprache mit sich bringt. Die Sprache eröffnet dem Individuum die Möglichkeit der Einsicht in Wahrheit. Diese Interpretation identifiziert die subjektiven Anteile als die für den Erkenntnisprozess maßgeblichen, da die Sprache nur vermittels des Individuums überhaupt zur Geltung kommt. Damit ist Sprache das fixe, vorgängige und somit auch hypostasierte Moment. Sie ist das Reine und Ur-
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sprüngliche, das sich das Individuum aneignen muss. Zugleich wird mit dieser die Möglichkeit zur Erfahrung von Wahrheit angeeignet. Die Einsicht in Wahrheit setzt also sowohl das Griechische als auch dessen bewusste Aneignung voraus. (2) Die Wahrheit offenbart sich vermittlungslos. Da die Sache selbst sich durch Seiendes zu Wort meldet, so wie beispielsweise die Angst sich ängstet (vgl. Heidegger 1927: 266), meldet sich im Tun des Menschen dessen Sein und in der Sprache diese selbst: „Die Sprache spricht.“ (Heidegger 1950: 12; vgl. auch: Heidegger 1951: 194) In dieser Lesart wird die Wahrheit nur an der Sprache als subjektloser Instanz festgemacht. Individuum und Gesellschaft hingegen kommt keine Rolle in der Konstitution oder der Einsicht in Wahrheit zu.
Diese beiden Zugänge finden sich bei Heidegger in unterschiedlichen Zusammenhängen wieder und werden unter anderem auch als Flucht vor der identifizierenden Sprache und damit als alternatives Erkenntnismodell verhandelt. Darin werden die Kategorien von Subjekt und Objekt letztendlich verflüssigt, wenn nicht sogar überflüssig gemacht. Die Hypostasierung von Individuum und Sprache aber, die disparate, sowohl historisch relativierende als zugleich auch unhistorische Bestimmung des Wahrheitszugangs weisen Heideggers Ansatz als erkenntnistheoretisch inkonsistent und undurchsichtig aus. Ausgehend von diesem Befund, werde ich im nächsten Schritt zuerst Adornos Sprachtheorie umreißen, um diese anschließend mit der heideggerschen zu kontrastieren.
Adornos geschichtliche Begriffe Adornos Sprachkritik zielt im Wesentlichen auf die Reflexion der Gewalt ab, welche die Kategorisierung unter Allgemeinbegriffe bedeutet. Entsprechend formuliert er mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert“ und damit allgemein verfügbar macht (Horkheimer/Adorno 1944/1947: 13). Adorno aber verwirft die identifizierende Sprache nicht und sucht ebenso wenig nach deren reiner, ursprünglicher Form, sondern begreift Sprache als notwendig gesellschaftlich bestimmt (vgl. Adorno 1966: 17). Wort und Sache sind aufeinander verwiesen: „Durch Sprache gewinnt Geschichte Anteil an Wahrheit, und die Worte sind nie bloß Zeichen des unter ihnen Gedachten, sondern in die Worte bricht Geschichte ein, bildet deren Wahrheitscharaktere, der Anteil von Geschichte am Wort bestimmt die Wahl jeden Wortes schlechthin, 114
weil Geschichte und Wahrheit im Worte zusammentreten.“ (Adorno 1973: 366) Worte sind also nicht beliebige Abbilder eines vorgängigen und auch ohne Artikulation existenten Sinns, sondern der Sinn kann nur in Form der Sprache gedacht und artikuliert werden. Sprache ist ihren Gegenständen also nicht äußerlich wie in Heideggers Verständnis. Die Sprache drückt keinen Sinn aus, der vorher schon vorhanden war und nur noch der Bezeichnung bedarf. Zugleich ist die wechselseitige Abhängigkeit von Wort und Sache für Adorno aufs engste mit der menschlichen Phylogenese verbunden und also selbst Resultat historischer Entwicklung: „Sprache ist da, um den Dingen, wenn sie benannt werden, ihren Schrecken, ihre Macht zu nehmen.“ (Adorno, in: Horkheimer 1939: 501, vgl. auch 505) Sprache ermöglicht den Menschen die Emanzipation von ihrer inneren und äußeren Natur. Zugleich verdinglicht Sprache und damit wird sie zum Mittel der Herrschaft von Menschen über Menschen. Aber wie fasst Adorno nun das Verhältnis von Wort und Sache? Die Einbeziehung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt und deren Vermittlung kann Aspekte erhellen, die auch für die Beziehung von Wort und Sache wesentlich sind. In Abgrenzung zu starren These-Antithese-Synthese-Modellen und positivistischen Erkenntnismodellen vertritt Adorno ein offen-dynamisches Vermittlungsmodell (vgl. Müller 2011; Mende 2013). Das Subjekt ist immer nur Subjekt in Bezug auf etwas. Adornos Formulierung des Vorrangs des Objekts meint, dass „Subjekt in einem qualitativ anderen, radikaleren Sinn seinerseits Objekt sei als Objekt, weil es nun einmal anders nicht denn durch Bewusstsein gewusst werden kann“ (Adorno 1969: 746). Das Subjekt ist demnach nicht hypostasiert, sondern vielfach in Abhängigkeit durch den Objektbezug bestimmt. Zugleich hat das Objekt subjektive Anteile, als es selbst erst über die Vermittlung durch das Subjekt Objektivität erlangt. Auf Seite des Subjekts ist Erkenntnis also sowohl durch das passive Moment bestimmt, das bei Hegel als Zusehen benannt ist (vgl. Müller 2011: 63 ff.). Darüber hinaus ist Erkenntnis auf das aktive Moment „der Zutat von Denken und Anschauung“ verwiesen (Adorno 1969: 747). Während das Zusehen die Objektseite stärkt und dieser zum Ausdruck verhelfen soll, betont die Zutat das subjektive Moment der Erkenntnis. Werte und Normen des Subjekts werden so reflexiv in den Erkenntnisprozess integriert. Diese sind jedoch nicht bloß subjektiv, sondern in ihrer Subjektivität immer bereits gesellschaftlich vermittelt und werden vom erkennenden Subjekt eben auch als gesellschaftlich vermittelt erkannt (vgl. Mende 2013: 167). Der gesellschaftliche Charakter der Erkenntnis ist damit also nicht nur am Subjekt und dessen Normen und Werten festzumachen, sondern er ist immer auch am Objekt bestimmt. Kurz: Subjekt und Objekt sind weder identisch, noch stehen sie einander als unversöhnliche Widersprüche gegenüber, sondern sie sind miteinander vermittelt und enthalten sich gegenseitig als Konstituenten. 115
Von hier aus lässt sich der oberflächliche Widerspruch auflösen, dass Adorno einerseits das Identitätsdenken kritisiert, andererseits aber an diesem festhält. Entsprechend wendet Adorno sich gegen sprachphilosophische Ansätze, die Worte als bloße Bezeichnung von Dingen und diese damit als beliebig austauschbar fassen. Dem Entsprechungsproblem von Wort und Sache sei nicht dadurch beizukommen, dass Sprache bewusstlos verwandt oder neu erfunden werde (Adorno 1973: 367), sondern das Problem sei in der Reflexion einzuholen. Worte müssten sowohl danach befragt werden, ob sie dem Gegenstand entsprechen, als auch, ob sie die „ihnen zugemuteten Intentionen […] tragen, wieweit ihre Kraft geschichtlich erloschen ist, wie weit sie etwa konfigurativ bewahrt werden mag“ (Adorno 1973: 369). Von Bedeutung sind demnach das intersubjektive Verständnis der Sache und dessen Ausdruck im Wort. Es gibt überschießende Momente der Sache, die im Wort nicht aufgehen. Andererseits geht das Wort nicht in der Sache auf, sondern kann über dieses hinausgehen, weiter oder spezifischer sein, oder in die Zukunft greifen. Wenn nun aber „Geschichte und Wahrheit im Worte zusammentreten“ (Adorno 1973: 366), dann ist damit auch gesagt, dass vom konkreten Gebrauch der notwendig identifizierenden Sprache nicht abstrahiert werden kann.
Divergente Sprachtheorien Wie eingangs formuliert, finden wir bei Adorno und Heidegger eine Kritik am identifizierenden Charakter von Sprache. Nun zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die Kritik an Sprache bei beiden Autoren sehr unterschiedlichen Begründungszusammenhängen entspringt und disparaten erkenntnistheoretischen Modellen folgt. Auch ist Wahrheit bei beiden historisch bestimmt, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Während Heidegger die Einsicht in Wahrheit an der Abstraktion von der Gesellschaftlichkeit von Sprache und SprecherInnen festmacht, ist bei Adorno die Wahrheit gerade an der Reflexion der Gesellschaftlichkeit von Sprache bestimmt. Während bei Heidegger die griechische Sprache als Urgrund der Erkenntnis hypostasiert wird, ist Sprache bei Adorno im vermittlungslogischen Verhältnis von Wort und Sache als offen-dynamisches Modell konzipiert. Eine Wahrheit, die ohne Berücksichtigung dieser Vermittlungen auskommt, gibt es bei Adorno nicht. Heidegger will durch die Sprache zum Urgrund der Erkenntnis zurück und durch die Schaffung neuer Begriffe über diese hinaus. Er will der Identifikation also einerseits durch den Rückgriff auf die vorgängige erfahrungsgesättigte griechische Sprache und andererseits durch den Vorgriff auf neue Wörter entkommen. Adorno hingegen hält an der identifizierenden Sprache fest, um die Identifikation und deren negative Momente (sowohl 116
hinsichtlich der Subjekt- als auch der Objektseite) in der Reflexion als Teile des Begriffs auszuweisen und diese damit transparent zu machen.
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Kunst als Ort der Wahrheit
Die ästhetischen Theorien von Heidegger und Adorno weisen zwei Parallelen auf: (1) Beide vertreten Kunsttheorien, die das Werk in den Mittelpunkt rücken. (2) Bei beiden hat Kunst an Wahrheit teil. Die Frage ist nun abermals, wie Werkästhetik und Wahrheitskonzeption konkret gedacht werden. Heidegger entwickelt seine Überlegungen zur Ästhetik in Zum Ursprung des Kunstwerks in Abgrenzung zur Identitätslogik abendländischen Denkens.1 Da wir „das Ding als den Träger von Merkmalen, als die Einheit einer Empfindungsmannigfaltigkeit, als den geformten Stoff“ (Heidegger 1935/36: 20) begreifen, werde dieses nur noch durch ein Denken bestimmt, das die Empfindung für das Besondere verloren hat. „Diese längst geläufig gewordene Denkweise greift allem unmittelbaren Erfahren des Seienden vor.“ (Heidegger 1935/36: 20) Heidegger grenzt das Ding – den reinen Gegenstand, der keinen Zwecken dient – von den für Zwecke bestimmten Dingen ab, die er Zeug nennt (vgl. Gadamer 1999: 114). Um das Ding vor „Vor- und Übergriffe[n] jener Denkweise“ (Heidegger 1935/36: 20), also dem Identitätsdenken, zu schützen, sei es nötig, dieses „in seinem Dingsein auf sich beruhen [zu] lassen“ (Heidegger 1935/36: 20). Heidegger skizziert die Alternative zum Identitätsdenken folgendermaßen: „Doch welcher Weg führt zum Zeughaften des Zeug? Wie sollen wir erfahren, was das Zeug in Wahrheit ist? Das jetzt nötige Vorgehen muss sich offenbar von jenen Versuchen fernhalten, die sogleich wieder die Übergriffe der gewohnten Auslegungen mit sich führen. Davor sind wir am ehesten gesichert, wenn wir ein Zeug ohne eine philosophische Theorie einfach beschreiben.“ (Heidegger 1935/36: 21 f.)
Heidegger lässt offen, inwiefern die einfache Beschreibung dem identifizierenden Denken entkommt. Offenbar sind es nicht so sehr die Sprache und deren Begriffe, sondern es ist die bewusste und theoriegeleitete Beschreibung, die identifiziert. Interessanterweise aber geht Heidegger nun nicht zur Be-
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Keiling formuliert, dass Heidegger mit dem Kunstwerkaufsatz verdeutlicht, dass „Unverborgenheit […] nicht als eine vergangene, sondern als eine stets gegenwärtige Möglichkeit zu verstehen“ ist (Keiling 2011: 70). Dagegen muss eingewendet werden, dass Heidegger schon in Sein und Zeit die Konfrontation mit der Vergänglichkeit als Möglichkeit des Einblicks in Wahrheit umrissen hatte. Die Besonderheit besteht also darin, dass Heidegger im Kunstwerkaufsatz einen weiteren Ort ausweist, der die Einsicht in Wahrheit erlaubt.
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schreibung des Zeug über, um sein alternatives Erkenntnismodell praktisch auszuweisen. Stattdessen wählt er als Gegenstand die künstlerische Darstellung des Zeug: „Wir wählen als Beispiel ein gewöhnliches Zeug: ein Paar Bauernschuhe. Zu deren Beschreibung bedarf es nicht einmal der Vorlage wirklicher Stücke dieser Art von Gebrauchszeug. Jedermann kennt sie. Aber da es doch auf eine unmittelbare Beschreibung ankommt, mag es gut sein, die Veranschaulichung zu erleichtern. Für diese Nachhilfe genügt eine bildliche Darstellung. Wir wählen dafür ein bekanntes Gemälde von van Gogh“ (Heidegger 1935/36: 22).
Heidegger kommt auf das Kunstwerk zu sprechen, weil er ein Ding beschreiben möchte, das jeder kennt. Da die Beschreibung unmittelbar, also nicht theoriegeleitet sein soll, reicht es aber nicht, diesen Alltagsgegenstand aus der Erinnerung zu beschreiben. Der Zusammenhang, den Heidegger hier zwischen der Absicht der unmittelbaren Beschreibung und der Notwendigkeit der Veranschaulichung des Dings herstellt, bleibt unklar. Unklar ist auch, weshalb für die bildliche Darstellung kein Foto gewählt wurde, wenn es bloß um die Veranschaulichung des Gegenstandes geht. Heidegger hat hier das Problem, den Zusammenhang seiner voraussetzungslosen Dingbeschreibung und der daran anschließenden Beschreibung des künstlerisch verarbeiteten Dings zu begründen. Heideggers Argument stellt zudem die Interpretation infrage, dass in der Kunst die Wahrheit anwesend ist. Denn er reduziert das Bild zur Erinnerungsstütze, um den beschriebenen Gegenstand ins Gedächtnis zu rufen. Es lässt sich folgern, dass es nicht das Kunstwerk ist, das den Weg zur Wahrheit weist, sondern das voraussetzungslose Beschreiben, also die Haltung des Individuums zum Werk. Wenige Seiten später betont Heidegger die Wirkung des Werkes auf das Individuum. Die Zeughaftigkeit des Zeug habe sich gerade dadurch offenbart, dass nicht der reale Gegenstand betrachtet werde, sondern das Kunstwerk. „In der Nähe des Werkes sind wir jäh anders gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen. Das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit ist.“ (Heidegger 1935/36: 24) Heidegger bestimmt die Kunst mit wechselnden Formulierungen als Ort, an dem Wahrheit sich offenbart: „Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.“ (Heidegger 1935/36: 24) Die Wahrheit bestimmt sich am Kunstwerk, da dieses eine eigene Welt eröffnet, welche die unmittelbare und unvoreingenommene Erfahrung des Dings jenseits der ausgelaufenen Pfade identifizierender Sprache ermöglicht (vgl. Heidegger 1967: 138 f.). Zudem betont er, dass durch das Werk selbst sich Wahrheit offenbart, die er als „Eröffnung des Seienden“ bezeichnet (Heidegger 1935/36: 57). Hier findet sich eine Parallele zur Stellung des Individuums zur Sprache. Auch hier hängt die Wahrheit in vermittelter Form vom Indivi118
duum ab. Das Kunstwerk eröffnet den Blick auf die Wahrheit, weil mit diesem Neues in die Welt kommt, das im Bestehenden nicht aufgeht (vgl. Gadamer 1999: 119). Wie offenbart sich diese Wahrheit nun in der Rezeption des Werkes? Dies hängt wiederum von der Stellung des Individuums zum Werk ab. Die Stellung des Individuums und dessen Möglichkeit der Einsicht in Wahrheit lassen sich demnach in einem ersten Schritt wie folgt bestimmen. Einerseits ist die Kunsterfahrung unmittelbar, da das Kunstwerk dem Ding zum Ausdruck verhilft. Wahrheit eröffnet sich also ausschließlich durch das Kunstwerk. Dem Verhältnis von Sein und Seiendem entsprechend, begreift Heidegger Wahrheit als unvermittelten Ausdruck des Dings. Dem Individuum kommt demnach keine Rolle bei der Einsicht oder Konstitution von Wahrheit zu. Es sieht nur zu, und das ohne Intention, Absicht, Norm, Ziel oder Theorie – also ohne jede Zutat, die das Individuum überhaupt erst als gesellschaftliches bestimmt. Abermals ist das Individuum in der Bestimmung der Wahrheit einerseits zentral, als von seiner Haltung zum Werk die Möglichkeit alternativer Erkenntnis abhängen soll. Anderseits trägt Wahrheit doch zugleich keine subjektiven Züge. Es lässt sich damit nicht von subjektiven und objektiven Anteilen an Wahrheit sprechen. Vielmehr stehen diese Momente unvermittelt neben- und gegeneinander. Das Verhältnis von Wahrheit und Rezeption veranschaulicht Heidegger mit einer Beschreibung von van Goghs Ein Paar Schuhe (1886). Die von van Gogh gemalten Schuhe identifiziert Heidegger als die einer Bäuerin (vgl. Heidegger 1935/36: 22). In diesem Gemälde zeige sich, was „das Zeug, das Paar Bauernschuhe in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit des Seins heraus“ (Heidegger 1935/36: 25, vgl. auch: 44). Wahr ist folglich nicht das je konkrete Kunstwerk, sondern die Kunstwerke „lassen Unverborgenheit als solche im Bezug auf das Seiende im Ganzen geschehen“ (Heidegger 1935/36: 44). Um die Wahrheit des Kunstwerkes auszuweisen, geht Heidegger nicht auf die ästhetische Gestaltung ein, sondern ausschließlich auf die Verwendung der im Gemälde künstlerisch verarbeiteten Bauernschuhe. Heideggers Rezeption des Gemäldes ist eine Meditation über den dargestellten Gegenstand und dessen alltägliche Verwendung. Die Wahrheit, die Heidegger hier umreißt, ist die Wahrheit der Schuhe, nicht des Gemäldes. Das Gemälde eröffne der Wahrheit einen Möglichkeitsraum. Die Wahrheit der Schuhe aber sei deren Verwendung in dem für sie angemessenen und bestimmten Kontext. Aus den Schuhen, so Heidegger, spreche die Natur und die Auseinandersetzung der Bäuerin mit dieser. Die Wahrheit des Zeugs, also der Schuhe, sei die Erfahrung dessen, was diese alltäglich umgibt und ausmacht. „Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten
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und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen. Aber all dieses sehen wir vielleicht nur dem Schuhzeug im Bilde an. Die Bäuerin dagegen trägt einfach die Schuhe. Wenn dieses einfache Tragen so einfach wäre. Sooft die Bäuerin am späten Abend in einer harten, aber gesunden Müdigkeit die Schuhe wegstellt und im noch dunklen Morgendämmern schon wieder nach ihnen greift, oder am Feiertag an ihnen vorbeikommt, dann weiß sie ohne Beobachten und Betrachten all jenes.“ (Heidegger 1935/36: 22 f.)
Wie gezeigt, lehnt Heidegger eine theoriegeleitete Bestimmung von Wahrheit im Kunstwerk ab. Sein Wahrheitsbegriff bestimmt sich an der Eröffnung einer Welt, also an der theorielosen Beschreibung alltäglichen Daseins. Auffällig ist hier, dass Heidegger diese Intention mit seiner Rezeption von Ein Paar Schuhe unterläuft, beginnend mit der Vermutung, dass es sich um die Schuhe einer Bäuerin handelt. Selbst wenn man sich auf seine Forderung nach unvoreingenommener Anschauung einlässt, ist seine Rezeption des Werkes von Wertungen und Setzungen durchzogen und damit keineswegs theorielose Beschreibung. Heidegger verhandelt die Gewalt der Natur und deren Gefahren, nimmt diesen aber die Gefährlichkeit. Das Landleben erscheint als hartes aber gerechtes Idyll, wenn die Bäuerin beispielsweise in einer „harten, aber gesunden Müdigkeit“ (Heidegger 1935/36: 23) ihre Schuhe abstellt. Diese Rezeption ist nicht theorielos und unvoreingenommen, sondern von einer romantischen Sicht auf das bäuerliche Leben geleitet, an dem die entbehrungsvollen und groben Momente ästhetisiert und idealisiert werden. Die Bäuerin ist das Gegenteil des vermassten Man: ihr Bangen ist klaglos, ihre Freude wortlos. Konfrontiert mit Entbehrung, Leid und Not, akzeptiert sie ihr Los und macht sich keine Hoffnungen ihrem Dasein zu entkommen. Das ist, Heidegger folgend, was aus den gemalten Schuhen spricht und in der Betrachtung des Werkes erfahren werden kann. Heideggers Ästhetik ist als alternatives Erkenntnismodell konzipiert. Neben Sprache ist die Kunst der Ort, an dem Wahrheit sich offenbart (vgl. Eagleton 1994: 313). Heideggers Begriff der Wahrheit in der Kunst weist das Werk als den Ort aus, an dem Neues sich offenbart, weil das Gemälde mehr zeigt als das Abgebildete. Dieses auratische Moment ermöglicht eine Erfahrung an Wahrheit. 120
Kunst, die Leid erinnert Auch Adornos Ästhetik fokussiert das Kunstwerk. Allerdings ist Adornos Werk- und Kunstbegriff im Gegensatz zu Heideggers geschichtlich. Adorno begreift Kunst sowohl als gesellschaftlich als auch autonom. Kunst geht weder in gesellschaftlichen Einflüssen noch in Absichten und Ansichten des Künstlers auf, sondern sie schafft eine eigene Realität (vgl. Adorno 1965/66: 125). Gelungene Kunst, so Adorno, löse diese Spannung von Heteronomie und Autonomie nicht einseitig auf. Wenn die Heteronomie der Kunst hypostasiert wird, gibt Kunst ihre Autonomie und Zweckfreiheit auf und damit gerade jenes Moment, das über die Tausch- und Identitätslogik bürgerlicher Gesellschaft hinausweist. Das Spannungsverhältnis lässt sich aber auch nicht zur Seite der Autonomie hin auflösen. Im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft ist die Autonomie immer relativ und nur vermittels des Warentausches. Historisch betrachtet befreit die Etablierung des Kunstmarktes die Kunst zunächst aus ihrem Dasein als Auftragskunst und ermöglicht der Kunst damit ein höheres Maß an Autonomie als zuvor. Diese zeigt sich darin, dass der Künstler nicht mehr für unmittelbares Interesse produzieren muss, sondern spekulativ für den Markt produzieren kann, dem zugleich aber die Tendenz zur Aufgabe dieser Autonomie und zur Produktion für den möglichst reibungslosen Verkauf der Ware Kunst innewohnt (vgl. Grimm 2009: 65 f.). Von besonderer Bedeutung ist nun, dass Adorno alle wesentlichen Elemente der Ästhetik an der Verhältnisbestimmung der heteronomen und autonomen Momente der Kunst festmacht. Auch der Begriff der Wahrheit der Kunst bestimmt sich hieran. Wahr ist Kunst, wenn sie die Erfahrung von Gesellschaft ermöglicht: Einerseits in der Erinnerung und der Objektivierung von gesellschaftlich produziertem Leid. Andererseits in dem, was den Menschen vorenthalten wird, aber doch möglich wäre (vgl. Ritsert: 1996: 51). Adornos Ästhetik ist damit eng an gesellschaftstheoretische Überlegungen gebunden. Sie ist historisch bestimmt und hat als solche ein utopisches Moment, das unter anderem am Begriff des Leids bestimmt werden kann (vgl. Grimm 2015: 94 f.). Die Entbehrungen und Zumutungen, unter denen Menschen leiden, können danach unterschieden werden, ob sie am Stand der Produktivkräfte gemessen notwendig sind. Denn auch in einer versöhnten Gesellschaft werden Menschen zur Triebunterdrückung und -sublimierung gezwungen sein und sie werden Tätigkeiten zu verrichten haben, die sie als Zumutung erfahren. Das Leid in der bürgerlichen Gesellschaft hingegen ist durch entsprechende gesellschaftliche Veränderungen in großem Ausmaß vermeidbar. Entsprechend ist ein Kunstwerk dann wahr, wenn es erfahrbar macht, was den Menschen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse angetan wird und darüber die Reflexion auf das Verhältnis von notwendiger und überflüssiger Herrschaft ermöglicht: „Im emphatischen Begriff der Wahrheit 121
ist die richtige Einrichtung der Gesellschaft mitgedacht, so wenig sie auch als Zukunftsbild auszupinseln ist.“ (Adorno 1972: 565) Dabei ist aber auch immer der Zeitkern von Wahrheit mitzudenken. Kunstwerke, die einmal wahre Objektivation von Gesellschaft waren, können veralten. Die Wahrheitsbestimmung selbst ist also historisch (vgl. Adorno 1970: 236).
Die Wahrheit der Kunst bei Adorno und Heidegger Es zeigt sich, dass die Wahrheitsbegriffe von Adorno und Heidegger bezüglich der Kunst divergieren. Adornos Begriff ist hinsichtlich Inhalt, Form und Material historisch bestimmt und an subjektiv und objektiv vermittelten Normen orientiert. Heideggers Wahrheitsbegriff ist nur insofern historisch, als die Wahrheit sich aus einem entrückten und ursprünglichen, aber zeitlich unbestimmten Ort im Kunstwerk offenbart. Die Stellung des Individuums ist bei Heidegger widersprüchlich bestimmt. Einerseits hängt von seiner Haltung die Möglichkeit der Anwesenheit von Wahrheit ab, was bedeuten würde, dass diese subjektiv vermittelt ist. So weist Heidegger seine Rezeption von Ein Paar Schuhe als gelungene Offenbarung der Wahrheit aus. Damit wird dem Individuum eine tragende Rolle zugesprochen, weil ohne dieses die Wahrheit nicht eröffnet werden kann. Zugleich wird dadurch die Wahrheit hypostasiert, da sie zwar des Individuums bedarf, selbst aber vorgängig ist. Wie gezeigt, kann Heidegger hier aber auch anders gelesen werden: Die Offenbarung der Wahrheit ist eine Selbstoffenbarung, die keiner subjektiven Zutat oder Vermittlung bedarf. Der Unterschied zwischen dem agrarromantischen Ideal Heideggers, der die Entbehrung und das Leid der Bäuerin als ehrliche und einfache Alternative zum großstädtischen Man verhandelt, und Adornos Verständnis des Zusammenhangs von Kunst und Leid, könnte kaum größer sein. Mit Adorno wäre zu fragen, ob das Leid der Bäuerin gesellschaftlich notwendig ist. Zudem ließe sich mit Adorno argumentieren, dass Kunst die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu idealisieren, sondern zu bestimmen hat: als Verhältnisse, die überflüssiges Leid produzieren und verändert werden können und müssen. Bezeichnend ist, dass Heidegger van Goghs Werk nicht historisch bestimmt. Dessen Alter und die materielle und formelle Durchbildung spielen für die Rezeption keine nennenswerte Rolle, was für Heidegger wiederum konsequent ist. Schließlich bestimmt sich Wahrheit nicht historisch, sondern der abgebildete Gegenstand offenbart sich selbst in der Rezeption. Da sowohl Heidegger als auch Adorno die Kunst sowohl in der Auseinandersetzung mit dem Identitätsdenken als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft bestimmen, lohnt es, diese Verhältnisbestimmungen mit in die Analyse einzubeziehen. 122
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Zum Verhältnis von Kunst und Natur
Die Aufgabe der Kunst ist es, so Adorno, die gesellschaftlichen Identitätszwänge durchsichtig und der Reflexion zugänglich zu machen. Es mag daher zuerst überraschen, dass Adorno den Begriff der Natur in der Ästhetik hochhält. Wie Hartmut Scheible formuliert, verweigert Adorno „gemäß seiner Lehre von dem Vorrang des Objekts die umstandslose Unterwerfung von Natur unter die quantifizierende Gewalt des Subjekts“ (Scheible 1983: 102). Als Inbegriff des Nichtidentischen, des noch nicht voll Erfassten und Unkategorisierten und zugleich als Komplement zu Gesellschaft, hält Adorno am Begriff der Natur fest. Kunstwerk und Natur sind „[a]ls pure Antithesen aber […] beide aufeinander verwiesen: Natur auf die Erfahrung einer vermittelten, vergegenständlichten Welt, das Kunstwerk auf Natur, den vermittelten Statthalter von Unmittelbarkeit. Darum ist die Besinnung auf das Naturschöne der Kunsttheorie unabdingbar.“ (Adorno 1970: 98) Wie die Natur das andere der Gesellschaft ist und als solches doch immer auf diese bezogen, so ist das Kunstwerk das andere der Gesellschaft. Adorno erkennt in gelungenen Kunstwerken eine Identität, die nicht voll im Begriff aufgeht (vgl. Scheible 1983: 102). In beiden stellt Adorno den Begriff der Mimesis dem klassifizierenden und identifizierenden Denken gegenüber. In der Mimesis sind die vernunftförmigen und die affektiven Anteile von Erkenntnis verbunden. Die Mimesis soll die gedankliche Fixierung aufbrechen und das Subjekt zum Objekt hin öffnen. Entgegen der Subsumption des Objekts unter Allgemeinbegriffe steht die Mimesis für die Öffnung des Subjekts gegenüber dem Objekt und dessen unerschöpflichen Möglichkeiten der Bestimmung (vgl. Ritsert 1996: 35). Mimesis ist so verstanden ein Gegenbegriff zur Ratio, aber mit dieser vermittelt: Während die Ratio identifiziert und damit die begriffliche Einheit herstellt, ist die Mimesis das für die Vielheit und Besonderheit des Gegenstandes empfindliche Moment (vgl. Ritsert 1996: 47). Mit dem Begriff der Mimesis will Adorno die abgespaltenen Momente der Naturhaftigkeit des Menschen zur Reflexion bringen, da „mit der Verleugnung der Natur im Menschen […] nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig“ wird (Horkheimer/ Adorno 1944/47: 61). Der Mensch entstammt der Natur, er wird durch Zivilisierung zum bürgerlichen Subjekt, und er kann seine Herkunft aus der Natur und den schmerzhaften Prozess der Zivilisierung reflektieren. Odo Marquard zufolge riskiere Adorno mit der Orientierung an Natur, dass seine Ästhetik sich an einer „außersoziale[n] und außergeschichtliche[n] Wirklichkeit“ rechtfertigen muss. „Wo die Ästhetik ihre Bindung an die Geschichtsphilosophie löst, gerät sie zwangsläufig in die Bindung an die Naturphilosophie. Diese Bereitschaft schlummert, solange Ästhetik als Instrument […], als Ersatz des geschichtlichen Denkens gesucht und gemeint 123
wird.“ (Marquard in Scheible 1983: 104) Und Scheible kritisiert, dass Adorno alle Hoffnung in die Natur lege und „die Stringenz der Ausführungen über das Naturschöne […] durch die endgültige Preisgabe der geschichtsphilosophischen Perspektive“ erkaufe (Scheible 1983: 104). Adorno aber bezeichnet mit Natur nicht das unvermittelte Gegenteil von Gesellschaft. Vielmehr bestimmt er sowohl die äußere als auch die innere Natur geschichtlich und in ihrem Verhältnis zu Gesellschaft. Der Naturbegriff ist somit nicht Adornos hypostasierter Anker, mit dem er seine Ästhetik legitimiert. Sondern Adorno zielt auf die Dialektik von Natur und Naturbeherrschung: Der Begriff der Natur verweist auf die Genese der Zivilisation und deren Schrecken sowie zugleich auf die Bändigung der Natur als Voraussetzung von Zivilisation. Indem die Menschen sich von den Zwängen der Natur befreien und sich damit über sie erheben, sind sie zugleich auf Natur verwiesen. Auch hier zeigen sich zentrale Unterschiede der ästhetischen Theorien von Heidegger und Adorno. Das einfache Landleben ist bei Heidegger ursprünglicher als das Leben in der modernen Gesellschaft. Wenn Heidegger auf Natur rekurriert, dann ist diese kein Komplementärbegriff zu Gesellschaft, sondern dieser sowohl vorgängig als zugleich auch deren unvermittelte Opposition. Diese Naturvorstellung bestimmt Heidegger in Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens (1967). Der Begriff φύση (Natur) wird dort zur Kennzeichnung des Bereiches eingeführt, welcher der Sage nach von Athene erhellt wird, um den BewohnerInnen von Rhodos zu zeigen, woran sie ihre Werke zu bilden haben. „Athenes Blick ruht vor allem schon auf Jenem, was die Dinge, die nicht erst menschlicher Herstellung bedürfen, von sich her in das Gepräge ihrer Anwesenheit aufgehen lässt.“ (Heidegger 1967: 138) Der römische Begriff der natura und der deutsche Begriff der Natur würden φύση nicht gerecht, da dieser ursprünglich meint: „das von sich her in seine jeweilige Grenze Aufgehende und darin Verweilende“ (Heidegger 1967: 138). Von hier kommt Heidegger auf das Verhältnis von Kunst und Natur zu sprechen. „Die Kunst entspricht der φύση und ist gleichwohl kein Nach- und Abbild des schon Anwesenden.“ Sie gehören „auf geheimnisvolle Weise zusammen“ (Heidegger 1967: 139). Jedoch bleibe das Moment verborgen, das ihre Zusammengehörigkeit ausmacht (vgl. Heidegger 1967: 139). Natur sei damit vom Menschengemachten durch eine Grenze notwendig abgetrennt, denn erst durch diese Grenze könne sie aus sich heraus erscheinen. Dieses Moment kennzeichnet auch die Kunst. Zugleich bestimmt Heidegger die Kunst dadurch, dass sie nicht in der Reproduktion des Bestehenden aufgeht. Gleichwohl also die ästhetischen Theorien von Adorno und Heidegger ähnliche argumentative Muster aufweisen, sind diese in sehr unterschiedliche Begründungszusammenhänge und Problemdiagnosen eingebettet. Während Adornos Begriff der Natur auf die menschliche Phylogenese rekurriert 124
und die Reflexion des Menschen darüber befördern will, dass dieser der Natur entspringt, aber zugleich nicht in dieser aufgeht, ist Natur bei Heidegger abermals ein der Reflexion entrückter, vorgängiger Ort. Natur ist durch ihre Grenze bestimmt, erscheint aber nur aus sich heraus. Das subjektive Moment, die Naturbestimmung, ist damit abermals durchgestrichen. Entsprechend unklar bleibt die Verhältnisbestimmung von Kunst und Natur. Denn wenn die Kunst der Natur entspricht (vgl. Heidegger 1967: 139), dann stellt sich die Frage, was das heißen soll. Eine Antwort gibt Heidegger am Ende von Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens: „Wir wissen es nicht.“ (Heidegger 1967: 149) Auf diese Kapitulation vor der Bestimmung von Wahrheit folgt die Bestimmung der griechischen Unverborgenheit, die „älter ist und anfänglicher und darum bleibender als jedes vom Menschen ersonnene und von Menschhand erwirkte Werk oder Gebild“ (Heidegger 1967: 149). Somit wird auch die Wahrheit der Kunst in der Antike gesucht und gefunden.
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Grundlegende Differenzen
Es zeigt sich, dass die Unterschiede zwischen Adornos vermittlungslogischem und Heideggers ontologischem Modell grundsätzlich sind. Adorno betont die subjektiven Anteile der Erkenntnis, deren notwendig reflexiven Charakter und deren historische Gebundenheit. Heideggers Erkenntnismodell hingegen stellt die Selbstoffenbarung des Objekts aus einem entrückten Ort ins Zentrum und erklärt Wahrheit damit zur historischen Invarianz. Während Adorno Wahrheit maßgeblich am gesellschaftlich Möglichen bestimmt, ist Heidegger bei deren Bestimmung immer wieder auf die Antike verwiesen. In der Untersuchung der Sprachtheorien, der ästhetischen Theorien und dem Verhältnis von Kunst und Natur lassen sich Analogien nachzeichnen. Heidegger weist die gesellschaftliche Präformation des Individuums als Problem aus. Sein Ausweg lautet: Rückgang zur noch reinen, da nicht-übersetzten griechischen Sprache, in der Ausdruck und Sache zusammenfallen. Die Aneignung des Griechischen – so das Argument – erlaube ursprüngliche Erfahrung. Strukturgleich versteht Heidegger die Kunst: Diese erlaubt die Erfahrung des nicht Erfassten. Auch hinsichtlich der Stellung des Individuums lässt sich bei Heidegger eine Analogie zwischen Sprach- und Kunsttheorie aufzeigen. In beiden Fällen ist die Einsicht in Wahrheit vom Willen und Mut des Individuums abhängig. In beiden Fällen aber ist das Individuum zugleich von der Wahrheitserkenntnis abgeschnitten, weil die Wahrheit sich selbst und ohne Zutun des Individuums offenbart. Heidegger weist zwar Heteronomie als Problem der Moderne aus. Im Resultat aber ist Autonomie aus125
schließlich auf die Anerkennung der Notwendigkeit beschränkt, sich der griechischen Sprache und Kunst zu konfrontieren. Adornos Antwort auf Heteronomie hingegen fällt gänzlich anders aus und zielt auf die Reflexion heteronomer Momente wie auf gesellschaftliche Veränderung. Nicht der Rückgang oder der Vorgriff auf reine oder irritierende Sprache, sondern die Reflexion herrschaftlicher und verdinglichter Momente der Sprache selbst ist angezeigt. Hinsichtlich der Kunst sieht auch Adorno diese als Möglichkeit der Erfahrung des nicht Erfassten. Allerdings stehen Individuum und Kunstwerk in einem anderen Verhältnis als bei Heidegger. Das Individuum muss sich selbst zurücknehmen und vermag darüber die Erfahrung des Kunstwerkes zu machen. Die beiden Autoren weisen demnach dem Kunstwerk sehr unterschiedliche Positionen zu. Adorno bestimmt den Wahrheitsgehalt ganz wesentlich geschichtlich und misst das Werk an der Möglichkeit, Gesellschaft am Werk zu erfahren. Heidegger misst die Wahrheit gerade nicht an der Präsenz gesellschaftlicher Präformation und der Möglichkeit, diese zu reflektieren. Vielmehr misst er diese an der Möglichkeit, vom abgebildeten Gegenstand mehr zu erfahren, als die BetrachterIn von diesem vorab weiß. Diese Betrachtung ist dem heideggerschen Verständnis nach theorielos. Wie aber gezeigt wurde, romantisiert sie das entbehrungsvolle Landleben und ist als Gegenpol zur negativ konnotierten bürgerlichen Gesellschaft konzipiert. Vor dem Hintergrund der hier ausgeführten Unterschiede kann von einer Annäherung der beiden Autoren hinsichtlich „ihrer Stellung zum theoretischen Anspruch des objektivierenden Denkens und der Reflexion“ (Habermas 1981: 516) nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung die Rede sein – oder aber wenn ein ausgeprägtes Interesse an dieser Annäherung besteht. Literatur Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. ([1969]1977): Zu Subjekt und Objekt, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 741–758. Adorno, Theodor W. ([1970]1998): Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1972): Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 547–565. Adorno, Theodor W. (1973): Thesen über die Sprache des Philosophen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 366–371. Adorno, Theodor W. ([1965/66]2007): Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Baur, Michael (1996): Adorno and Heidegger on art in the modern world. In: Philosophy Today 40, 3, 357–366.
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Reflexivität als Gegenstand und Kritik Strukturmerkmale negativer Dialektik in einer ästhetischen Logik Stefan Müller
„,Dialektisches Denken ist doch das beste‘ – das ist ein Slogan, aber ist nicht die Wahrheit.“ (Adorno 1958/2010: 224)
Theodor W. Adornos Hinweise zur Konzeption einer negativen Dialektik sind in einprägsamen Bezeichnungen wie dem ‚Denken in Konstellationen‘ oder dem ‚Vexierbild‘ zusammengezogen. Damit sind zwar unmittelbare Formulierungen Adornos benannt, die aber für die Begründung einer Kritischen Theorie erläuterungsbedürftig sind. Im Folgenden geht es um eine Einführung in ausgewählte Voraussetzungen und Begründungen einer negativen Dialektik, die Adorno zuweilen stillschweigend, aber häufig auch explizit skizziert. Damit werden Strukturmerkmale der negativen Dialektik diskutiert, die im Rahmen einer ästhetischen Logik das zentrale Begründungsmuster der Kritischen Theorie Adornos darstellen. In der Ästhetischen Theorie skizziert Adorno eine Denkfigur der ‚zweiten Reflexion‘ (Adorno 1970: 36) und entwickelt darüber das Verfahren der negativen Dialektik zugleich weiter. Die ästhetische Theorie bietet in dieser Hinsicht eine Fortführung und Weiterentwicklung einer negativ-dialektischen Argumentationsfigur, welche die Standardprobleme dialektischer Verfahrensweisen bearbeitbar macht. Diese Strukturmerkmale einer negativen Dialektik im Anschluss an die ästhetische Theorie werde ich im Folgenden in vier Schritten einführend nachzeichnen. Die Probleme dialektischer Modelle lassen sich insbesondere am Zwang zur Synthese und am Problem der Identität aufzeigen. Daran anknüpfend wird eine für die Kritische Theorie entscheidende Voraussetzung sichtbar: der Übergang von einem dialektischen zu einem negativ-dialektischen Begründungszusammenhang (1). Es wird gezeigt, auf welche Widerspruchskonzeption sich die negative Dialektik maßgeblich stützt: auf ein Begründungsmuster, das jenseits binär-dichotomer und/oder additiver Logik angeordnet ist (2). An der Subjekt-Objekt-Dialektik werde ich die Problematik einer abschlusshaften, identitären Dialektikkonzeption diskutieren und 129
dieser die reflexive Struktur des negativ-dialektischen Widerspruchsbegriffs gegenüberstellen. Damit werden idealtypisch zwei unterschiedliche Dialektikkonzeptionen sichtbar: zum einen eine geschlossene Argumentationsweise, die aus dem Zwang zur Synthese resultiert, und zum anderen die negative Dialektik, die strukturell offen, das heißt nicht-identisch konzeptualisiert ist und zudem gesellschaftlich induzierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse kritisieren sowie die Momente von Autonomie und Befreiung in die Perspektive von Denk- und Handlungsmöglichkeiten rücken kann (3). Die Weiterentwicklung dieser Strukturmerkmale der negativen Dialektik im Rahmen einer ästhetischen Logik wird abschließend in den Blick genommen. Deutlich wird, dass eine ästhetische Logik im Anschluss an Adorno weder im Intuitionismus noch in irrationalen, mystifizierenden Annahmen gründet, sondern eine rationale Argumentation in Anspruch nimmt, die die methodischen Vorgehensweisen in deduktiven, abduktiven oder induktiven Verfahren in bestimmten Aspekten kritisiert: Die ästhetische Logik strebt an, gesellschaftliche Bestimmungen, (Herrschafts-)Kritik und Reflexion in das Verfahren selbst zu übernehmen (4).
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Von der Dialektik zur negativen Dialektik. Die Lösung des Zwangs zur Synthese
Dialektische Begründungsmuster sind bis heute dem Verdacht und dem Problem ausgesetzt, ungleichnamige und widersprüchliche Bestimmungen unterschiedslos in eins zu setzen.1 These und Antithese werden in dieser Vorstellung zusammengezogen und in einer Synthese vereinigt. Adorno selbst scheint an einigen Stellen auf eine solche missverständliche Spur zu führen, wenn er auf diese Bezeichnungen zurückgreift. So charakterisiert er beispielsweise eine dem Kunstwerk gegenüber einzunehmende Haltung als eine, in der „man fähig ist, von sich aus jene Synthesis, jene Vereinigung der auseinanderweisenden und doch miteinander verbundenen Momente des Kunstwerks vorzunehmen, die im Kunstwerk ebenfalls vollzogen wird“ (Adorno 1958/1959: 295). Auf welche Argumentationsweise greift Adorno zurück, wenn er auf die Vereinigung von These und Antithese, sowohl im Kunstwerk (Objekt) als
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Eine Kritik des Identitätsdenkens nimmt in den Sozialwissenschaften eine prominente Bedeutung ein – beispielsweise in der differenzierungstheoretischen Systemtheorie: „Zur Dialektik gelangt man, wenn man sich […] für die zu Grunde liegende Einheit interessiert (also letztlich auf die Identität von Identität und Differenz abstellt und nicht auf die Differenz von Identität und Differenz).“ (Luhmann 1984: 607)
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auch auf der Seite der Betrachter/in (Subjekt) verweist? Daran anschließend lässt sich eines der zentralen Probleme jeder Dialektikkonzeption bis heute diskutieren. Die herkömmliche Denkfigur von Thesis, Antithesis und Synthesis ist oftmals verbunden mit einer binären, dichotomen Logik. Eine binäre Logik kennt ausschließlich zwei Möglichkeiten: Entweder weisen die Momente auseinander oder sie sind miteinander verbunden. Eine vermittlungslogische Argumentation greift demgegenüber auf ein anderes Begründungsmuster zurück. Eine binäre Logik wird hier in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang analysiert und kritisiert, indem sowohl ein inneres als auch ein äußeres Widerspruchsverhältnis einbezogen wird und die repressiven (autonomieeinschränkenden) sowie die emanzipatorischen (autonomieförderlichen) Momente offengelegt werden (vgl. Müller 2013). Für die Begründung reflexiver, vermittlungslogischer Argumentationsfiguren nimmt Adorno unterschiedliche Widerspruchs- und Vermittlungskonstellationen in Anspruch, die von zweipoligen, konträren Verhältnisbestimmungen bis hin zu strikt antinomischen Momenten bestimmt sein können (vgl. Müller 2011: 93 f.). Ihnen gemeinsam ist eine sozialwissenschaftliche Logik, die die inneren und äußeren Vermittlungsbeziehungen mit und durch gesellschaftliche Momente – Momente der Autonomie und Heteronomie, von Befreiung und Herrschaft – in den Mittelpunkt rückt. Eine solche Logik ist auf Unterscheidungs- und Denkmöglichkeiten angewiesen, die die gesellschaftliche Konstitution und Konstruktion von Gegebenem2 zu diskutieren erlauben. Notwendig dafür ist ein Verfahren, das die repressiven Effekte von statischen, deterministischen, scheinbar ungesellschaftlichen Momenten als Verdinglichungen und Vergegenständlichungen gesellschaftlicher (Re-)Produktionsverhältnisse problematisieren kann. In diesem
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Wie die konstituierenden, d. i. die den Subjekten vorausgehenden Bedingungen, und wie die konstruktiven Eigenleistungen der Subjekte zur (Re-)Produktion gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse angemessen konzeptualisiert werden können, bildet in den unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Theorietraditionen ein gemeinsam geteiltes Bezugsproblem. Adornos Antwort auf dieses Bezugsproblem greift auf eine vermittlungslogische SubjektObjekt-Konstellation unter Bedingungen der Warenförmigkeit zurück. Die Kritische Theorie Adornos kann so auch als Kritik an verabsolutiert konstruktivistischen und an deterministisch ableitungslogischen Positionen rekonstruiert werden. Beide Positionen werden ihrer Einseitigkeit überführt, indem die gesellschaftlichen Bestimmungen als Konstitutions- und Konstruktionsbedingungen skizziert werden. Aus einer solchen Perspektive ergeben sich dann auch Gemeinsamkeiten (trotz nach wie vor bestehender Unterschiede) mit gänzlich anderen theoretischen Traditionslinien (vgl. für die gesellschaftskritische Lesart Foucaults Sonderegger 2012, für die Lesart Derridas vgl. Menke 1991, 2004 und für die differenzierungstheoretische Systemtheorie Luhmanns Scherr 2015). Bei allen Unterschieden wird das Movens der Kritik in und durch das jeweilige Gegen- und Miteinander von gesellschaftlichen Konstitutions- und Konstruktionsbedingungen erhalten.
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Sinne entwickelt Adorno die Kritik an abgeschlossenen Dialektikkonzeptionen, die oftmals mit einer deterministischen Geschichtsphilosophie verbunden sind, zum Projekt „einer offenen, einer durchbrochenen Dialektik“ (Adorno 1958/2010: 140, vgl. auch 313). Diese soll die Kritik und Überwindung des bis heute wirkmächtigen Problems eines These-Antithese-Synthese-Modells gewährleisten. „Ich möchte niemanden von Ihnen zu nahe treten, aber ich glaube doch, daß die meisten von Ihnen […] bei Dialektik automatisch zunächst ein wenig die Reaktion haben: Dialektik, das ist Thesis, Antithesis und Synthesis. Ich will nicht sagen, dass an diesen Begriffen überhaupt nichts dran sei und daß sie für die Dialektik schlechterdings uncharakteristisch seien, aber es gilt für diese Begriffe doch das, was in der dialektischen Theorie selber ausgeführt ist, nämlich daß derartige Sätze in abstracto wie etwa ‚Die Wahrheit besteht in Thesis, Antithesis und Synthesis‘ wofern sie nicht ausgeführt sind, tatsächlich nichts Wahres sind [und] eigentlich in das Gegenteil dessen sich verwandeln, was Hegel selbst gemeint hat.“ (Adorno 1958/2010: 74)
Das Versprechen des dialektischen Stufenmodells von These, Antithese und Synthese, nämlich die Aufhebung von These und Antithese in einer Synthese, bildet nicht nur eine verlockende Möglichkeit im Sinne eines anderen, weil höheren und/oder tieferen Denkens. Vor allem ist an dieser Stelle der Weg in den Irrationalismus, in die Mystifizierung und Mythologisierung dialektischen Denkens gebahnt. Das Versprechen der Synthese lautet: Zwei unvereinbare Momente werden zusammengezogen und ihre Vereinbarkeit bewiesen. Selbst der Rückgriff auf die hegelsche dreifache Bedeutung der ‚Aufhebung‘ (Aufbewahrung der als für die Synthese bedeutsam erachteten Momente, Aufheben auf eine – gemessen an der Ausgangsbestimmung – ‚höhere‘ Stufe, Zurückdrängung (Negation) der als für die Synthese problematisch erachteten Momente) kann die Verschleierung des immer auch repressiven Zwangs zur Synthese nicht lösen. Der Zwang zur Synthese nivelliert bestehende Unterschiede und blendet sie mitunter sogar aus. Demgegenüber setzt eine negative Dialektik den Schwerpunkt auf die Eigenständigkeit aller Momente und Verhältnisse im Sinne einer herrschaftskritischen Theorie der Kontingenz des Sozialen. Adornos Konzeption einer offenen Dialektik löst nicht nur den Zwang zur Synthese, in dem zwei unvereinbare Momente zusammengebracht werden müssen, sondern erlaubt darüber hinaus eine erweiterte Konzeption von (Gesellschafts-)Kritik. „[D]er wahre Gehalt dieser Bewegung der Hegelschen Philosophie ist ja eben in einem eminenten Maß die Kritik.“ (Adorno 1958/ 1959: 38) Adorno kritisiert die Vorstellung einer subsumtionslogischen, teleologisch-deterministischen Synthese und löst den Zwang zur Synthese, indem er nicht auf eine abschlusshafte Identität, sondern auf eine offene, nicht-identische, negative 132
Denkfigur abhebt. Der Identitätszwang der Trias von These, Antithese und Synthese wird überwunden, indem die zugrundeliegende Argumentationsfigur ihrer unzulänglichen Verkürzung überführt wird: „Ohne Identitätsthese ist Dialektik nicht das Ganze; dann aber auch keine Kardinalsünde, sie in einem dialektischen Schritt zu verlassen. Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, daß sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung.“ (Adorno 1966: 398) Ein Missverständnis wäre die Schlussfolgerung, dass die negative Dialektik lediglich den Schritt einer problematisch-abschlusshaften Dialektik, nämlich den Übergang zur Synthese nicht vollzieht und rechtzeitig stoppt, um die Eigengesetzlichkeiten, die Kontingenz des Sozialen von These und Antithese angemessen zu berücksichtigen. Der äußere Widerspruch von These und Antithese bildet nur ein Element innerhalb einer negativ-dialektischen Argumentationsfigur. Ebenso konstitutiv ist – und hier weisen die Wege vom These-Antithese-Synthese-Modell endgültig in eine andere Richtung – neben dem äußeren Widerspruch ein inneres Widerspruchsverhältnis. Prägnant zeigt sich eine solche negativ-dialektische Kritik an dichotomen Argumentationsweisen am Verhältnis von Identität und Nicht-Identität. „Identitätsdenken, Deckbild der herrschenden Dichotomie“ (Adorno 1969: 750), ist für Adorno dadurch gekennzeichnet, dass eine binäre Logik zugrunde liegt: entweder positiv oder negativ, entweder Herrschaft oder Befreiung, entweder schwarz oder weiß. Bestimmungen, in denen gesellschaftliche Verhältnisse dichotom eingeteilt werden, bilden für Adorno keine ernsthafte Alternative sozialwissenschaftlicher Theorie und Analyse. Er kritisiert diese Form des Identitätsdenkens, indem der Prozess, der historisch zur Herrschaft der ‚zweiten Natur‘3 führt, und dessen Effekte für die Verwaltung und (bessere) Organisation von Herrschaft offengelegt werden. Eine zentrale Ebene des Nicht-Identischen besteht darin, innerhalb scheinbar statischer, abgeschlossener Bestimmungen die prozesshaften Momente einzubeziehen. In sozialwissenschaftlicher Hinsicht wird durch dieses Verfahren der gesellschaftliche Gehalt von Bestimmungen theoretisch ausgewiesen und einbezogen. Damit kommt der Kategorie des Nicht-Identischen auch eine genuin herrschaftskritische Funktion zu, indem die Entstehung und der Prozess der als identisch erscheinenden Momente innerhalb von Begründungsmustern und Herrschaftslegitimationen gezeigt werden kann. Zugleich ist ‚das Nicht-Identische‘ aber nicht als Hort reiner Aufklärung und Herrschaftskritik zu verstehen. Ebenso wie Aspekte von Identität wer-
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Zur Kategorie der zweiten Natur im Horizont der Kritischen Theorie: „Der Begriff der zweiten Natur scheint uns für den Versuch hilfreich zu sein, die menschliche Natur als soziale zu begreifen, sie aber dennoch nicht vollkommen zu entnaturalisieren.“ (Hogh/König 2011: 421)
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den Aspekte von Nicht-Identität unter der Prämisse einer reflexiven Herrschaftskritik diskutiert. Identität und Nicht-Identität sind vermittelt und erst die Reflexion darauf ermöglicht die Identifizierung von Herrschaft und Kritik (vgl. Mende 2015: 100; Grimm 2009: 71). Nicht im Konstatieren eines ‚Nicht-Identischen‘ besteht ein zentrales Strukturmerkmal negativer Dialektik, sondern in der Reflexion auf herrschaftsstabilisierende und herrschaftskritische Momente innerhalb einer offen konzeptualisierten Argumentationsfigur, die Identität und Nicht-Identität gleichermaßen einbezieht. Das Verfahren der Dialektik wird zu einer „Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht“ (Adorno 1966: 398). Adornos negative Dialektik ermöglicht so, die Trias These-AntitheseSynthese als Dialektikmodell ebenso zurückzuweisen wie den damit einhergehenden Zwang zur Synthese, der ein geschlossenes, hermetisches Denken nahelegt. Dagegen muss negative „Dialektik, in eines Abdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen Kritik, in einer letzten Bewegung sich noch gegen sich selbst kehren“ (Adorno 1966: 397). Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass der von Adorno in Anspruch genommene negativ-dialektische Widerspruchsbegriff, der eine solche Bewegung ausweisen und aushalten kann, einer genaueren Betrachtung bedarf, weil er eine konstitutive Funktion für die Begründung einer Kritischen Theorie einnimmt.
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Die negativ-dialektische Widerspruchsstruktur: eine strikt antinomische Konstellation
Die Lösung des Zwangs zur Synthese durch eine nicht-identische, offene Konzeption führt von einer hermetischen zu einer negativen Dialektik. Ein dialektischer Widerspruchsbegriff wird dadurch in eine negativ-dialektische Widerspruchsfigur überführt. In dieser ist ein Ausgangsmoment genau dadurch charakterisiert, dass es sich in Abgrenzung vom entgegenstehenden Moment bestimmt. Gleichzeitig sind Aspekte dieses entgegenstehenden Moments im Ausgangsmoment selbst enthalten, und zwar als konstitutive Bestimmung. Eine solche Widerspruchskonzeption ermöglicht es letztlich auch, die Standardprobleme und die Standardkritik eines dialektischen Verfahrens nicht nur zu umgehen, sondern zugleich eine Neujustierung dialektischer Begründungsmuster vorzunehmen, die innere und äußere Widerspruchs- und Vermittlungsverhältnisse unter Bedingungen von Warenförmigkeit ausweisen kann. Negativ dialektische Vermittlungen finden somit nicht in der Synthese, ‚in der Mitte‘ statt, sondern ‚in den Extremen‘ (Adorno), innerhalb der These und der Antithese, die sich nach wie vor antithetisch gegenüberstehen. 134
„Seit Platon ist es eine von den Selbsttäuschungen bürgerlichen Bewußtseins, daß man objektive Antinomien durch ein Mittleres zwischen den Extremen meistern könne, während dies Mittlere über die Antinomie betrügt und von dieser zerrissen wird. […] Der qualitative Sprung, mit dem Kunst der Grenze ihres Verstummens sich nähert, ist der Vollzug ihrer Antinomik.“ (Adorno 1970: 442)
Ein solcher Widerspruchstypus kann als strikt antinomisch bestimmt werden.4 Eine strikte Antinomie ist dadurch gekennzeichnet, dass sich (mindestens) zwei entgegenstehende Momente dadurch bestimmen, dass sie sich jeweils gegenseitig ausschließen und dieser Ausschluss genau dadurch vorgenommen wird, dass das jeweils entgegenstehende Moment in sich eingeschlossen wird. Diese Widerspruchskonfiguration einer strikten Antinomie wird von Adorno oftmals implizit verwendet. Er setzt die Kritik an einer abschlusshaft gedachten Dialektikkonzeption als bekannt voraus. Die negativ-dialektische Widerspruchskonzeption argumentiert vor dem Hintergrund, den äußeren Widerspruch von These und Antithese aufrechtzuerhalten und den jeweiligen Gegensatz als inneres Vermittlungsverhältnis einzubeziehen. Ermöglicht wird dadurch, in scheinbaren Unmittelbarkeiten die gesellschaftlichen Vermittlungen als herrschaftliche Präformation aufzuzeigen und im Blick auf autonomieeinschränkende Momente zu kritisieren.
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Vorrang des Objekts und Vermögen des Subjekts als strikt antinomische Konstellation
Die Grundstruktur einer strikten Antinomie als Form negativ-dialektischer Argumentation zeigt sich ebenso einprägsam am Verhältnis von Subjekt und Objekt, das sowohl für die negative Dialektik als auch für die ästhetische Theorie eine hervorgehobene Rolle einnimmt. Subjekt und Objekt stehen sich gegenüber, sind innerlich miteinander vermittelt und dennoch in einem äußeren Gegensatz. Zudem ist dieses Verhältnis durch eine besondere Asymmetrie gekennzeichnet: Das Objekt ist anders auf das Subjekt verwiesen als das Subjekt auf das Objekt. Das Objekt geht dem Subjekt voraus, auch wenn sich das Subjekt erst durch diese Vorgängigkeit konstituiert. Damit diese Konstellation nicht eindimensional verkürzt oder binär auf eine der beiden Seiten aufgelöst und der innere Zusammenhang bei aufrechterhaltenem äu-
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Zur Diskussion der strikten Antinomie als Kern einer rationalen Dialektik im Anschluss an Hegel vgl. Kesselring 1984, 1992, 2013; Wandschneider 1997; Knoll/Ritsert 2006; Müller 2011; Ritsert 2008; 2011, 2014 und Collmer 2011, 2013.
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ßeren Gegensatz angemessen einbezogen werden kann, ist eine Argumentationsfigur jenseits einer Dichotomie notwendig. Die grundlegende Argumentationsfigur zielt auf den reflexiven Einbezug der gesellschaftlich vorgängigen Momente ab. In dieser reflexiven Verankerung im Primat des Objekts werden alle Momente und Verhältnisse ihrer bereits bestehenden und vorgängigen gesellschaftlichen Vermittlung überführt und im Blick auf ihre jeweiligen Bedingungen diskutiert. Nicht eine bloße Ableitung und eine hin- und herschwankende Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt bildet das entscheidende Strukturmerkmal, sondern die reflexive Konstellation eines aufrechterhaltenen (äußeren) Gegensatzes bei gleichzeitig vorfindlichen inneren Vermittlungsverhältnissen. Diese Bewegung charakterisiert die reflexive Verankerung der Subjekt-Objekt-Konstellation, die den Vorrang des Objekts als äußeren asymmetrischen Gegensatz ebenso ausweisen kann wie als inneres Vermittlungsverhältnis im Subjekt; nicht als quantitative Wechselwirkung, sondern als qualitatives Konstitutions- und Konstruktionsverhältnis. „Vorrang des Objekts bedeutet die fortschreitende qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend.“ (Adorno 1966: 185; eigene Hervorh.) Genau diese Vermittlungsbeziehung, die nicht äußerlich verbleibt, sondern ‚in sich‘ als widersprüchliches Verhältnis ebenso nachgezeichnet werden kann wie als äußerliches widersprüchliches Verhältnis, bildet die Grundstruktur der Trennung und des Zusammenhangs von Subjekt und Objekt, wie sie Adorno vornimmt: „Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein.“ (Adorno 1966: 742) Eine binäre Logik kennt zwei Bestimmungen: entweder real oder Schein; beides zusammen geht nicht. Eine negativ-dialektische Vermittlung verweist hingegen auf eine reale Trennung sowohl als unmittelbar Erfahrene als auch als objektiv Entzogene, sodass das Subjekt den inneren und äußeren objektiven Momenten entgegensteht. Schein ist die Trennung von Subjekt und Objekt insofern, dass beide nicht ausschließlich als getrennte diskutiert werden können. Obwohl sie getrennt sind, sind auch wesentliche Ebenen nachzuzeichnen, in denen innere Verbindungslinien auszumachen sind. Die objektiven Momente, die dem Subjekt entgegenstehen und diesem entzogen sind, sind ebenfalls im Inneren des Subjekts aufzufinden. Das Unbewusste steht dem Subjekt zwar entgegen, aber konstituiert es erst als solches. Nicht nur intrasubjektiv, auch intersubjektiv ist die Doppelläufigkeit von realer und scheinbarer Trennung nachzuzeichnen. Real erfahren sich Subjekte intersubjektiv als getrennte und zugleich bildet dies den Schein, der die einheitlichen, verbindenden Momente in den Hintergrund rücken lässt. Auch objektiv (gesellschaftlich) findet sich die Doppelläufigkeit wieder. Real sind die objektiven Verhältnisse getrennt von den Subjekten, aber auch darin liegt ein Moment des Scheins: die Subjekte sind von den ihnen entgegenstehenden objektiven Verhältnis136
sen nicht nur getrennt, sondern die Subjekte (re-)produzieren die objektiven Verhältnisse und bringen diese erst hervor. Das Subjekt bestimmt sich als solches in (äußerer) Abgrenzung vom Objekt, aber die objektiven Momente finden sich als gesellschaftliche Bestimmungen im Subjekt wieder, sodass das Subjekt grundlegende Aspekte des eigenen Gegensatzes in sich enthält und dadurch erst Subjekt wird. Wenn auf jeweils beiden Seiten – These und Antithese, Subjekt und Objekt – sowohl ein äußerer Widerspruch als auch eine innere Vermittlung des jeweils entgegengesetzten Verhältnisses nachgezeichnet werden kann, gerät der dichotome Standpunkt ins Wanken. Sobald ein Moment des negativ-dialektischen Vermittlungsverhältnisses herausgegriffen wird, ist damit auch auf das (eigene) Gegenteil verwiesen. Eine sozialwissenschaftliche Diskussion über Subjekt ist im Anschluss an Adorno stets mit der inneren und äußeren gegenläufigen Konstitution von Subjekt durch Objekt verbunden. Ebenso umgekehrt: Für Adorno ist die Konstitution und Konstruktion objektiver Momente untrennbar mit einer subjektiven (Re-)Produktion verbunden. Die Gleichzeitigkeit innerer gegenläufiger Momente kennzeichnet dabei die von Adorno gewählte Vermittlungslogik: „Objekt ist, wenngleich abgeschwächt, auch nicht ohne Subjekt. Fehlte Subjekt als Moment an Objekt selber, so würde dessen Objektivität zum Nonsens.“ (Adorno 1969/1977: 756) Objekt ist für Adorno damit immer auch durch Momente subjektiver (Re)Produktion konstituiert, sodass auch auf dieser Seite keine eindimensionale, unvermittelte, abschlusshafte Bestimmung in Anspruch genommen werden kann. Die reflexiven Möglichkeiten dieser zugrundeliegenden Argumentationsfigur werden im Blick auf die gesamte Konstellation sichtbar. Der Vorrang des Objekts (Heteronomie) ebenso wie das Vermögen des Subjekts (Autonomie) zeichnen sich vor dem Hintergrund einer strikt antinomischen Konstellation ab. Kennzeichnend für die Kritische Theorie Adornos ist der Einbezug gesellschaftlich induzierter Herrschaft im Vorrang des Objekts. Damit zielt er auf die vorfindlichen Momente all der Chancen und der Beschädigungen von Denk- und Handlungsmöglichkeiten ab. Der Vorrang des Objekts findet sich demnach auch im Einbezug von Autonomie und Befreiung unter Bedingungen gesellschaftlicher Herrschaft. Bei allen Hinweisen Adornos auf die Momente einschränkender Vergesellschaftung sind die objektiven heteronomen Momente, die das Subjekt konstituieren, nicht eindimensional auf repressive Effekte verkürzt. Die Heteronomie konstituiert erst Autonomie – sowohl in autonomieeinschränkender als auch in autonomieförderlicher Hinsicht.5 Autonomie als Vermögen des Subjekts, obwohl durch die
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Die Herkunft dieser Denkbewegung verweist nicht nur auf die Kant-, Hegel- und Marx-
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Heteronomie konstituiert, bildet so erst in und durch gesellschaftliche Vermittlung die reflexiven Möglichkeiten: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf: die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum NichtMitmachen.“ (Adorno 1966/1971: 93) Eine wesentliche Ebene von Reflexion zielt auf die Unterstützung autonomer, allerdings nicht ungesellschaftlicher oder unvergesellschafteter Denk- und Handlungsmöglichkeiten der Subjekte ab. Macht- und Herrschaftsbeziehungen sind dabei nicht personifiziert konzipiert, sondern als strukturelles Verhältnis in der Vermittlung moderner Vergesellschaftung. Dieser gesellschaftlichen Vermittlung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen kann sich weder ‚von oben‘ oder im Gegenmodell ‚von unten‘ entledigt werden. Im Mittelpunkt der Kritik stehen die gesellschaftlichen Mechanismen, Funktionen und Effekte, die eine Eigengesetzlichkeit gegenüber ihren Urheber/innen annehmen und die mit einschränkenden und repressiven Momenten einhergehen. Reduziert man die zugrundeliegende Gesamtkonstellation nicht auf einen einfachen Zirkelschluss oder einen performativen Selbstwiderspruch, dann ist eine sozialwissenschaftlich reflexive Denkbewegung bestimmbar, die die Kritik gesellschaftlich induzierter Repressionen ermöglicht. Dieser Ort der Kritik ist in der Kritischen Theorie Adornos wiederum weder allein immanent noch absolut transzendent (vgl. Ritsert 2009; Mende 2013). Adorno überschreitet ein bloßes Standpunktdenken nicht nur durch den Einbezug des eigenen Standpunkts in die Kritik. Obwohl Reflexion die Kritik repressiven Denkens und Handelns, repressiver Strukturen und Prozesse verspricht, ist die in Anspruch genommene Reflexion nicht außerhalb der zur Kritik stehenden Repression zu verorten. In der Kritischen Theorie ist damit auch ein Blick darauf eröffnet, wie die Kritik bestehender Repression neue Herrschaftsformen vorwegnehmen kann.6
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interpretation, die Adorno für seine autonomiestützende Begründung Kritischer Theorie heranzieht, sondern bezieht auch zentrale Überlegungen der Subjektkonstitution im Anschluss an die freudsche Theorie ein. Auch die Psychoanalyse argumentiert mit einer inneren Vermittlung bei aufrechterhaltenem äußerem Gegensatz, die zudem einen Maßstab subjektgerechter Einrichtung gesellschaftlicher Verhältnisse kennt und die autonomieunterstützenden von autonomieeinschränkenden Dimensionen unterscheiden kann, um die autonomieeinschränkenden, die repressiven Momente zurückzudrängen (ausführlich Müller 2011). Dass die Kritik von Herrschaft zu neuer Herrschaft führen kann, demnach auch Reflexion als Verfahren und Kritik nicht außerhalb von Machtbeziehungen steht, bedeutet für Adorno nicht, dass er keine herrschaftsfreie Vergesellschaftung kennt. Dafür steht die allzu oft allein theologisch interpretierte Kategorie der Versöhnung.
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Zweite Reflexion und ästhetische Logik
Die Grundfigur der strikten Antinomie, die eine innere Vermittlung der Gegensätze in sich bei gleichzeitigem Hinweis auf äußere Widerspruchsverhältnisse sowie die Einbettung in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu diskutieren erlaubt, wird von Adorno im Rahmen einer ästhetischen Logik verwendet, erweitert und ausgebaut. Kunstwerke lassen sich verstehen als gesellschaftlich präformierte, denen Autonomie nur unter Bedingungen von Heteronomie zukommt und diese auch nur unter heteronomen Bedingungen aufrechterhalten kann. „Je freier von auswendigen Zwecken sie [die Kunstwerke, SM] sich machten, desto vollständiger bestimmten sie sich als ihrerseits herrschaftlich organisierte.“ (Adorno 1970: 34) Die Steigerung von Heteronomie als Bedingung des Scheins von Autonomie verweist auf eine Argumentationsfigur, die ein sowohl gegensätzliches als auch intrinsisches Vermittlungsverhältnis von Heteronomie und Autonomie prozesshaft unter Bedingungen gesellschaftlicher Herrschaft zu diskutieren und zu kritisieren ermöglicht. Diese offene, strikt nicht-identische Argumentationsfigur nimmt Adorno in der Ästhetischen Theorie in Anspruch, um eine prozesshafte Logik in den Mittelpunkt zu rücken. „Lassen Sie mich gleich sagen, daß die Logik oder Stringenz des Kunstwerks, von der ich Ihnen vorher gesprochen habe im Namen der ‚Stimmigkeit‘, natürlich nichts zu tun hat mit der üblichen Logik, der üblichen Umfangslogik des Begriffs, und daß sie auch nicht etwa als eine kausal-mechanische Logik zu verstehen ist, sondern daß es eine Logik eigener Art, die Logik eines in sich motivierten Sinnzusammenhangs ist, und daß man, wenn man von ästhetischer Logik überhaupt spricht, auf dieses spezifische Wesen der ästhetischen Logik eingehen muß.“ (Adorno 1958/1959: 21; eigene Hervorh.)
Charakterisiert ist der Anspruch an eine ästhetische Logik damit als prozesshaft, der zudem den gesellschaftlichen Sinnzusammenhang einbeziehen und kritisieren kann. Das Verfahren einer negativen Dialektik zielt auf den Sinnzusammenhang innerhalb gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse ab; kann aber nicht ausschließlich als Perspektive von außen angelegt werden. Der reflexive Anspruch bezieht sich damit sowohl auf den Gegenstand als auch auf das Verfahren der Kritik. „Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invarianten. Sie bestimmt sich im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist. […] Sie ist nur im Verhältnis zu ihrem Anderen, ist der Prozeß damit.“ (Adorno 1970: 12) Adorno beansprucht im Rahmen einer ästhetischen Logik eine prozesshafte, dynamische Argumentationsfigur. Der damit verbundene Einbezug des ‚Anderen‘ ist kein Alleinstellungsmerkmal 139
einer Kritischen Theorie, sondern kann im Rückgriff auf unterschiedliche Theorietraditionen, seien es poststrukturalistische, dekonstruktivistische, postkoloniale oder systemtheoretische Ansätze, rekonstruiert werden. Damit bleibt der Einbezug der Differenz, des Nicht-Identischen, des Ausgeschlossenen, des ‚Anderen‘ als konstitutives Merkmal von Bestimmungen und Momenten nicht allein der Kritischen Theorie vorbehalten. Die genuin ästhetische Logik der Kritischen Theorie Adornos zeigt sich vielmehr in der spezifischen Vermittlungslogik einer negativen Dialektik, die innere und äußere Widerspruchsrelationen unterscheiden und unter Aspekten gesellschaftlicher Herrschaft prozesshaft denken und einbeziehen kann. Grundlegend bleibt dabei die Orientierung an einer offenen Argumentationsfigur, die nicht dem Zwang der Synthesis erliegt. Das durch innere und äußere Widerspruchs- und Vermittlungsrelationen charakterisierte Subjekt-Objekt-Verhältnis wird (a) vorausgesetzt und ebenso (b) einbezogen wie auch durch den Anspruch einer (c) „zweiten Reflexion“ (Adorno 1970: 36, 47, 105, 518) offengehalten, um nicht innerhalb der in Anspruch genommenen Argumentation Herrschaftsverhältnisse und -legitimationen zu reifizieren. Diese reflexive Verortung der Subjekt-Objekt-Konstellation entwickelt Adorno im Rahmen einer ästhetischen Logik weiter und grenzt sie von einer subjektiven, intuitionistischen ästhetischen Reflexion ab: „Da aber jedes Kunstwerk in sich eine merkwürdige Einheit objektiver und subjektiver Momente […] ist, so ist allein dadurch schon eine solche psychologische Reduktion und damit die auf bloße Begabung ausgeschlossen.“ (Adorno 1958/1959: 27; eigene Hervorh.) Damit strebt eine ästhetische Logik an, nicht nur äußerlich verbleibende Relationsbeziehungen zwischen Werk und Rezipient/in innerhalb gesellschaftlich präformierter Herrschaft zu diskutieren. Vielmehr zeichnet sich die herrschaftskritische Reflexion Adornos dadurch aus, dass ebenso die inneren Relationsbeziehungen einbezogen werden, die so zugespitzt sein können, dass der äußere Gegensatz innerhalb der jeweiligen Momente (Werk und Rezipient/in) diskutiert wird. Das Werk kann dadurch hinsichtlich seiner Eigenständigkeit und hinsichtlich seiner Aspekte für die Rezipient/in ebenso diskutiert werden wie die Rezipient/in hinsichtlich ihres Vorwissens und der Reflexionsmöglichkeiten, die das Werk für die Rezipient/in bietet. Die Verhältnisbestimmung von Werk und Rezipient/in ist als Einheit konzipiert, die sowohl einen äußeren Gegensatz als auch einen inneren Gegensatz in sich beinhaltet. Der Vorrang des Objekts und das Vermögen des Subjekts stehen damit auch in der ästhetischen Theorie in einer strikt antinomischen Konstellation. Ästhetische Erfahrung „geht auf die Sache, ist das Gefühl von ihr, kein Reflex des Betrachters. Strikt zu unterscheiden bleibt die betrachtende Subjektivität vom subjektiven Moment im Objekt, seinem Ausdruck sowohl wie seiner sub140
jektiv vermittelten Form.“ (Adorno 1970: 246; eigene Hervorh.) Subjekt und Objekt sind und bleiben getrennt, auch wenn subjektive Momente im Objekt diskutiert werden. Damit tritt Subjektivität doppelt auf: zum einen in der Betrachtung und zum anderen als selbständiges Moment im Objekt. Beide Formen von Subjektivität bleiben unterschieden, auch wenn beide gleichermaßen auf Subjektivität zurückgeführt werden können. Diskutierbar werden in dieser Ausdifferenzierung die unterschiedlichen Ebenen und Bezugnahmen, die Subjektivität jeweils einnimmt. Aus der Perspektive der Betrachter/in und aus der Perspektive des Werks können so jeweils die subjektiven Anteile, Momente und Bestimmungen einbezogen werden. „An Subjekt läßt eigentlich alles dem Objekt sich zurechnen“ (Adorno 1969/1977: 755). Anhand solcher Hinweise lassen sich die eindimensionalen und die vermittlungslogischen Anschlüsse an die Kritische Theorie Adornos prägnant diskutieren: Ist das Subjekt ausschließlich und in allen Hinsichten objektiv konstituiert (vgl. Müller 2013)? Folgt man einer reflexiven Vermittlungslogik, dann geht es in der Kritischen Theorie gerade nicht darum, Subjekt in allen Hinsichten als ausschließlich objektiv konstituiert zu verstehen. Vielmehr gibt es keine Momente am Subjekt, die nicht auch durch gesellschaftlich-objektive Momente konstituiert sind. Das ist eine theoriestrategisch entscheidende Bestimmung für die Begründung einer differenzreflexiven sozialwissenschaftlichen Logik. Innerhalb der Kritischen Theorie Adornos ist dieses vermittlungslogische Begründungsmuster im direkten Anschluss an Hegel aufgehoben und nicht eindimensional postuliert. Eine solche vermittlungslogische Interpretation ermöglicht zudem eine Kritik der Einschränkungen von Denk- und Handlungsmöglichkeiten sowie der Repressionen in intrasubjektiver, intersubjektiver und objektiver Hinsicht.7 Die Konstellationen von Werk und Rezipient/in unter Bedingungen gesellschaftlicher Herrschaft sind eingebettet in einen Vermittlungszusammenhang, der den Vorrang des Objekts sowie das Vermögen des Subjekts gleichermaßen einbezieht. „Erkenntnis von Kunst heißt, den vergegenständlichten Geist, durchs Medium der Reflexion hindurch, abermals in seinen flüssigen Aggregatzustand zu versetzen. […] Das in der Kunst Vermittelte, das, wodurch die Gebilde ein Anderes sind als ihr bloßes Diesda, muss von der Reflexion ein zweites Mal vermittelt werden: durchs Medium des Begriffs.“ (Adorno 1970: 531; eigene Hervorh.)
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„Es geht darum, die autonomiefördernden Momente zu finden und gleichzeitig in ihrer Vermittlung mit den repressiven zu denken, die Implikationen zu identifizieren, die in den Chancen auf deren potentielle Verkehrungen verweisen, und auch umgekehrt.“ (Niederauer 2014: 288)
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An dieser Stelle greift Adorno auf eine erläuterungsbedürftige Kategorie zurück: auf den hegelschen Begriff des ‚Begriffs‘. Jürgen Ritsert verdeutlicht, dass der hegelsche Begriff des ‚Begriffs‘ eine substanzielle Erweiterung der dialektischen Basisfigur einer strikten Antinomie darstellt (Ritsert 2011, 2013a, 2013b) und „zweifellos entgegen Hegels vorherrschender Intention nicht identitätsphilosophisch zu deuten wäre, also nicht in den nichts Anderes als sich selbst begreifenden Begriff des absoluten Idealismus ausmünden dürfte“ (Ritsert 2013a: 67: Hervorh. im Orig.). Eine nicht-identitäre, reflexive Dialektik, die eine zweite Reflexion anstrebt, vermittelt „durchs Medium des Begriffs“, gerät dann zu einer Verhältnisbestimmung, die die inneren und äußeren Widerspruchsrelationen einer strikten Antinomie anreichert. Eine zweite Reflexion zielt damit weniger auf eine Überbietung subjektiver Denkanstrengungen ab; vielmehr handelt es sich um eine Ausdifferenzierung der negativ-dialektischen Widerspruchskonzeption einer strikten Antinomie, in der zudem in kritisch-theoretischer Absicht der gesellschaftliche Vorrang des Objekts und die reflexiven Vermögen der Subjekte einbezogen sind. Kritisierbar werden damit herrschaftliche und autonomieförderliche Momente, die dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang nicht unmittelbar entnommen werden können, sondern sich jeweils am Maßstab der Freiheit und der Unfreiheit der je Einzelnen zeigen. Damit besteht die Anreicherung der dialektischen Minimalfigur einer strikten Antinomie in der Offenlegung gesellschaftlicher Vermittlungsverhältnisse, die Reflexivität als Gegenstand und als Kritik in Anspruch nimmt. Ein solches Verfahren der Reflexion gewährleistet, die herrschaftlich präformierten Kategorien und Begriffe offenzulegen und zugleich zu kritisieren, da auch das Verfahren der Reflexion nicht jenseits herrschaftlicher Momente angemessen bestimmt werden kann. Reflexion als Gegenstand und Kritik ist auf eine zweite Reflexion angewiesen, die die skizzierte strikt antinomische Konstellation als Strukturanalogie einer negativ-dialektischen Widerspruchskonzeption umfasst. Adorno benennt die Schwierigkeiten und Anforderungen an ein solches Begründungsmuster in aller Deutlichkeit: „[W]obei ich ausdrücklich offenlasse und hier nicht weiter verfolgen kann, wie nun im einzelnen dieses […] logische Verhältnis zum Kunstwerk von der gewöhnlichen Logik sich unterscheidet. […] Es ist so, wie wenn die logischen Kategorien alle am Werke sind, aber in einer Weise, die nicht vergegenständlichend ist, durch die also nicht eine Art von gegenständlicher Objektivität, eine innerweltliche Objektivität sich vollzieht, wozu auch die Abstraktion ja bekanntlich wesentlich dazugehört, sondern es konstituiert sich dabei ein Objekt von einer vollkommen anderen Art; welcher Weise das ist, das hoffe ich einmal sehr genau darstellen zu können. Ich halte das eigentlich überhaupt für das Thema einer wirklichen Ästhetik, zu zeigen, von welcher Art die Logik des Kunstwerks im Ver-
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gleich zu der Logik und Erkenntnis der gegenständlichen Welt ist – diese höchst merkwürdige Logik, in der alles übrigbleibt, aber die Beziehung auf ein Prädiziertes, auf ein behauptetes, auf ein Ist wegfällt, eine Logik gewissermaßen ohne Kopula“ (Adorno 1958/1959: 302 f.).
Eine ästhetische Logik kann mit dichotomen ‚entweder-oder‘-Annahmen nicht ausreichend bestimmt werden. Die Strukturmerkmale einer ästhetischen Logik, die Adorno benennt, schließen an die Konzeption einer negativen Dialektik an und reichern diese im Blick auf eine stets gesellschaftlich präformierte, autonomieförderliche und -einschränkende Reflexivität an. Bedeutsam für eine solche Konzeption von Reflexivität ist, dass es keinen Determinismus jedweder Art und keine gesellschaftlich unvermittelten Momente gibt; die erste und die zweite Natur werden unter Bedingungen gesellschaftlich induzierter Herrschaft einbezogen. Damit führen die negativdialektischen Denkfiguren in der Ästhetischen Theorie weiter in die hegelsche Vermittlungslogik hinein (vgl. Sommer 2011). Adornos Rückgriff auf die hegelsche Vermittlungslogik in der Ästhetischen Theorie ermöglicht ihm einen Ausbau der grundlegenden Argumentationsfigur einer strikten Antinomie als zweite Reflexion (vgl. Adorno 1970: 216). Für die Begründung einer solchen Konzeption einer reflexiven Kritik sind eine ganze Reihe von Voraussetzungen und Annahmen nötig (vgl. Müller 2015: 156-161). Sie beginnen mit dem Bruch mit einer abschlusshaft gedachten Dialektikkonzeption, die letztlich in einer Synthese gipfelt und endet. Demgegenüber kann in einer negativen Dialektik Reflexion als affirmative (repressive) und als emanzipatorische Kritik diskutiert werden. In Anspruch genommen ist damit ein vermittlungslogisches Begründungsmuster, das innere und äußere Widerspruchsrelationen denken und aushalten kann – unter Bedingungen von Warenförmigkeit, der Präponderanz des Objekts, den Momenten von Herrschaft und Befreiung, ohne die autonomen und heteronomen Momente einseitig dichotom auf die Seite von Subjekt oder Objekt zuordnen zu müssen. Ein solches Verfahren der Kritik reflektiert auf den Reflex in und durch Reflexion. Eine zweite Reflexion grenzt sich sowohl vom Reflex als auch von der Reflektion ab.8 Reflexivität wird dadurch sowohl methodisch in Anspruch genommen als auch im Blick auf ihre herrschaftslegitimierenden Effekte und Implikationen ihrerseits kritisiert und zurückgewiesen. Ein solches Verfahren bezieht die Bedingungen ihrer Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen als Kritik ein; zumal die zur Verfügung stehenden Reflexionsmöglichkeiten auch immer den bestehenden Maßstäben ent-
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Zum Unterschied und den inneren Verbindungslinien von Reflex, Reflektion und Reflexion siehe Müller 2011: 84.
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nommen sind, aber diesen nicht eindimensional verhaftet bleiben müssen. Subjektive und objektive, autonome und heteronome Momente werden in der Kritischen Theorie Adornos im Rahmen einer nicht-identischen, offenen, negativen Dialektik sichtbar gemacht und reflexiv im Blick auf ihre immanenten Herrschaftslegitimationen kritisiert. Literatur Adorno, Theodor W. (1958/2010): Einführung in die Dialektik. Nachgelassene Schriften. Berlin: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1958/1959): Ästhetik. Nachgelassene Schriften. Berlin: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1966/1971): Erziehung nach Auschwitz, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 88-104. Adorno, Theodor W. (1969/1977): Zu Subjekt und Objekt, in: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 741-758. Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Collmer, Thomas (2011): Negativität bei Hegel und Schopenhauer. Hamburg: Stadtlichter Presse. Collmer, Thomas (2013): Bruchstücke zu einer offenen Dialektik. Hamburg: Stadtlichter Presse. Grimm, Marc (2009): Ware, Kunst, Autonomie. Ästhetik und Kulturindustrie bei Theodor W. Adorno, in: Stefan Müller (Hg.), Probleme der Dialektik heute. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 63-84. Hogh, Philip/König, Julia (2011): Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Schwerpunkt Kritische Neurowissenschaft, Heft 3, 419-438. Kesselring, Thomas (1984): Die Produktivität der Antinomie. Hegels Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kesselring, Thomas (1992): Rationale Rekonstruktion der Dialektik im Sinne Hegels, in: Emil Angehrn (Hg.), Dialektischer Negativismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kesselring, Thomas (2013): Formallogischer Widerspruch, dialektischer Widerspruch, Antinomie. Reflexionen über den Widerspruch, in: Stefan Müller (Hg.), Jenseits der Dichotomie. Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs. Wiesbaden: Springer VS, 15-38. Knoll, Heiko/Ritsert, Jürgen (2006): Das Prinzip der Dialektik. Studien über strikte Antinomie und kritische Theorie. Münster: Westfälisches Dampfboot. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mende, Janne (2013): Der Doppelcharakter von Kritik. Zur Konstellation immanenter und transzendenter Kritik, in: Stefan Müller (Hg.), Jenseits der Dichotomie. Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs. Wiesbaden: Springer VS, 157-179. Mende, Janne (2015): Kultur als Menschenrecht? Ambivalenzen kollektiver Rechtsforderungen. Frankfurt am Main, New York: Campus.
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Über die Bedingungen gehaltvollen Komponierens Claus-Steffen Mahnkopf
Dieser Text ist eine Mischform. Ich werde auf einer theoretischen Ebene Bedingungen eines sich seiner selbst bewussten, gehaltvollen, qualitativen, wahrheitsverpflichteten Komponierens, das sich auch als Erkenntnisinstrument gesellschaftlicher Verhältnisse bestimmen lässt, diskutieren, und zwar im Anschluss an Adorno, auf den im Wesentlichen die aufzuwerfenden Fragen zurückgehen. Weil das Verhältnis von Musik und Gesellschaft nicht nur im „Adorno-Diskurs“ vielen als abstrakt erscheint, erlaube ich mir, auf einer künstlerischen Ebene dieses Verhältnis anhand der eigenen Musik zu exemplifizieren.
Erster Teil Das Problem beginnt mit Adorno. Er, wie niemand zuvor, hat den gesellschaftlichen Charakter der Musik auf eine derart komplizierte Weise postuliert (vgl. Paddison 1993; Klein/Mahnkopf 1998; Klein/Kreuzer/Müller-Doohm 2011). Denn erstens ist dieser dialektisch – die Musik ist, wie alle Kunst, fait social und autonom zugleich –, und zweitens reicht die Gesellschaft bis in die tiefsten technischen Aspekte des Komponierens hinein. Während der erste Gedanke noch halbwegs verstanden wurde, bereitet vor allem der zweite nach wie vor bei allen, die Adorno lesen, große Schwierigkeiten. Allein, so schwierig ist es mit dem zweiten nicht. Zwei Beispiele: Max Weber hat in seiner Musiksoziologie darauf aufmerksam gemacht, dass es kein Zufall ist, dass Kontrapunkt, also Polyphonie mit systematischem Regelwerk, und eine gleichschwebende Stimmung von zwölf Tönen pro Oktave genau in Europa entstanden sind, an einem Ort und zu einer Zeit, da der okzidentale Rationalismus die Gesellschaft zur Gänze erfasste (vgl. Weber 1904/05; Weber 1912/13). Die gleichschwebende Stimmung ist etwas zutiefst Musikimmanentes, mithin ein System von Intervallen mit komplizierten mathematischen Verhältnissen (alle benachbarten Töne stehen im Verhältnis der zwölften Wurzel aus 2). Diese Stimmung aber zu konstruieren, bedarf eines wissenschaftlichen Umfelds, das außerhalb der Musik liegt, genauer gesagt: einer entsprechenden Mathematik und eines geistiges Milieus, das diese 146
Konstruktion begünstigt. Ist diese Stimmung einmal gegeben, ergeben sich sofort neue musikalische Möglichkeiten, nämlich das Modulieren durch den gesamten Quintenzirkel, von einem beliebigen Punkt zu einem anderen beliebigen Punkt in kurzer Zeit. Sie erlaubt eine harmonische Sprache, die sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts voll entfaltete, vor allem mit Wagners Tristan und Isolde. Damit waren fürderhin Ausdrucksmuster und emotionale Gehalte möglich, die vorher in dieser Form unmöglich waren und daher erst jetzt von den Hörern erlebt werden konnten. Insofern wirkte sich der von der Gesellschaft induzierte Rationalisierungsschub in der Eigenlogik der Musik wiederum auf Kultur und Gesellschaft aus. Ein anderes, handgreiflicheres Beispiel sind die Auswirkungen der Datenverarbeitung, die als „Digitale Revolution“ seit Jahrzehnten die Gesellschaft evolutionär verändert. In kaum einer anderen Kunstsparte als der Musik kann diese neue Technologie umfassend genutzt werden: als Instrument der Erzeugung künstlicher Klänge und vor allem in Form extrem komplizierter Anordnungen dieser Klänge zu Gebilden, die nicht nur geschichtlich zuvor unmöglich waren, sondern vor allem niemals von Menschen real musiziert werden könnten. Diese Form der Musik findet sich in der zeitgenössischen Kunstmusik genauso wie im Bereich der Techno-Musik, der inzwischen so mächtig ist, dass er Millionen von Menschen emotional und motorisch prägt, ja ein Lebensgefühl erzeugt. Diese beiden Beispiele machen deutlich, dass es einer bestimmten Methodik bedarf, soll das Verhältnis von Musik und Gesellschaft gedacht werden. Wobei es unterschiedliche Zugänge gibt: die Musiksoziologie, die bald eher soziologisch, bald eher musikologisch operiert, aber immer beides zusammen betrachten sollte; die musikalische Praxis, soweit sie sich ihres gesellschaftlichen Charakters bewusst ist; die musikalische Rezeption, die natürlich auch ein gesellschaftlicher Vorgang ist; die musikalische Reflexion als Teil eines kulturellen Diskurses. Wo immer gearbeitet wird, jene Methode bedeutet ein dreifaches Geschäft: Sowohl Musik als auch die Gesellschaft müssen gänzlich eigenlogisch, mithin disziplinimmanent, also auf der Höhe der eigenen Wissenschaft behandelt werden, und beides muss intern vermittelt werden. Vor allem das Letztere, etwas zutiefst Interdisziplinäres, ist die eigentliche Crux. Ob Adorno dieser Methodik selbst genügte, ist eine zweitrangige Frage. Entscheidend ist, dass wir hinter die Einsicht ihrer Notwendigkeit nicht zurückfallen können. Das bedeutet zweierlei: einmal für die Rezeptionsseite, das andere Mal für die Produktionsseite. Auf der Seite der Rezeption könnte diese Methode bedeuten, dass man Musik hört beziehungsweise musiziert mit einem gesteigerten gesellschaftlichen Bewusstsein. Man wäre sich somit des gesellschaftlichen Charakters dessen, was gehört wird, bewusst. Da ein rein kontemplatives, sozusagen bloß ästhetisches Hören eher selten ist und 147
statt dessen ein gedankliches Verstehen, eine immer auch sprachlich vermittelte Beschäftigung dieses Hören begleitet, wäre ein solcher Zugang zu Musik im Vergleich zu einem „immanentistischen“ oder poetischen Hören nichts, was dem Kunstcharakter prinzipiell widerspräche. Ein gesellschaftliches Bewusstsein heißt im Übrigen nicht automatisch ein gesellschaftskritisches oder gar ein politisches – davon abgesehen, dass zumeist nicht klar ist, was Gesellschaftskritik und eine politische Perspektive überhaupt in concreto heißen sollen (meist sind es willkürliche Variablen, die nur dann verbindlich würden, wenn ein spezifischer Gesellschaftsbegriff Anwendung fände, was eine Gesellschaftstheorie voraussetzte). Der zweite Aspekt bei der Rezeption ist, wie die Wissenschaft mit dem gesellschaftlichen Charakter von Musik umgeht. Das ist Aufgabe einer kritischen Musiksoziologie, die jener Methode verpflichtet ist, mithin alle Aspekte des Verhältnisses von Gegenstand und Gesellschaft zu reflektieren.1 Die nächste Frage richtet sich auf die Seite der Produktion. Ist oder wieweit ist der Komponist sich des Gesellschaftscharakters dessen, was er tut, und dessen, was er erfindet, bewusst? Die Pointe ist, dass er sich dessen nicht in einer theoretischen Einstellung bewusst zu sein braucht. Bach musste wissen, wie er mit einer gleichschwebenden Stimmung umgeht, der mathematischen und physikalischen Theorie dazu bedurfte er nicht. Für die Poetik seiner Musik musste er theologisch gebildet und protestantisch gläubig sein, ob oder inwiefern diese Religiosität mit der Gesellschaft vermittelt ist, musste er nicht explizit wissen. Heute können wir, mit Adorno, mit guten Gründen Beziehungen zwischen Beethovens motivisch-thematischer Arbeit und Hegels Systemdenken herausarbeiten, für Beethoven war dies kaum zugänglich. Gleichwohl war er ein hochpolitischer Mensch, der die Veränderungen von einer vor- zu einer hoch- und dann nachrevolutionären Epoche genauestens registrierte und darauf reagierte. Mit Beethoven setzt ein fortschreitender Prozess musikalischer Reflexion ein. Die Musik wird reflexiv, aber auch das Komponieren, somit die Tätigkeit des Komponisten, somit auch der Komponist. Rechnet man das auf unsere Zeit hoch, stellt sich die Frage aller Fragen: Wie weit muss heute ein Komponist reflektiert – gebildet, „informiert“ – sein, wie weit muss seine Reflektiertheit in die künstlerische Arbeit fließen, wie weit ist seine Musik reflektiert und Ausdruck dieser Reflektiertheit, und was heißt es, wenn seine Werke diese Reflektiertheit auch wirklich ausdrücken, für die Rezeption, für die Erkenntnis dieser Werke? Unstrittig ist, dass der kulturelle – mithin der philosophische, wissen-
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Vgl. meinen Aufsatz Voraussetzungen und Potentiale einer Kritischen Theorie der Musik, vorgesehen für das Handbuch Kritische Theorie, Bd. 2 (in Vorb.).
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schaftliche und künstlerische – Diskurs, das, was bei Hegel Geist heißt, immer elaborierter und, dank der Emanzipation von Kommunikationsmedien, immer weiter verbreitet ist. Wenn aber der Diskurs derart an Gewicht zunimmt – bezeichnenderweise hat sich längst selbst im Alltagsdenken durchgesetzt, dass alles irgendwie gesellschaftlich vermittelt ist –, dann kann kein Künstler dem entfliehen. Er kann sich bewusst dagegen entscheiden, er kann sich zurückziehen, etwa in Niemandsbuchten à la Peter Handke, das sind jedoch Abwehrreaktionen. Legt man, wie Adorno, die Messlatte hoch, muss der Künstler von heute viel mehr leisten als früher: Er muss diese Diskurse kennen und sich darin positionieren, er muss bewusst und nicht einfach wie selbstverständlich künstlerische Wahrheitsansprüche formulieren (vgl. Mahnkopf 2011), er muss über ein historisches Bewusstsein verfügen, er muss, zumindest für die eigene Arbeit, eine Art ästhetischer Theorie ausarbeiten und sich Qualitätsstandards stellen (vgl. Mahnkopf 2016). So kann gehaltvolle Kunst und Musik entstehen – gehaltvoll nicht nur im allgemeinen Sinne kultureller Relevanz, sondern in dem spezifischen, dass bestimmte Gehalte thematisiert werden. Man kann den Künstler von heute bedauern. Es wird ihm viel zugemutet. Es fragt sich, ob er, der kein Wissenschaftler, kein Philosoph, vielleicht auch kein Intellektueller ist, das alles leisten kann. Wir müssen an dieser Stelle diese Frage nicht beantworten, die nur Einzelfälle klären können. Es reicht, darauf hinzuweisen, in welchem Horizont wir uns heute bewegen, wenn wir von Kunst und Gesellschaft sprechen. Und das gilt für die Musik nicht minder.
Zweiter Teil Vorab eine Klarstellung. Künstler sind, fast muss man es nicht betonen, eigensinnige Köpfe, die selten Theorieprogramme umsetzen. Sie sind keine Anwender von Philosophien oder kulturellen Programmen. Sie sind viel zu spontan, und vor allem programmieren sie sich selbst. Außerdem müssen sie andauernd auf die Kontingenzen des eigenen Lebens reagieren. Das bedeutet ganz einfach: Ich setze nicht Adorno um. Selbst wenn ich den Ehrgeiz besäße, ich sähe darin keinen Sinn. Philosophie ist Philosophie, und die seine ist die seine, Musik ist Musik, und meine Musik ist meine Musik. Freilich kann ich zugeben, dass Adorno mein Philosoph ist und deswegen auch seine Musikphilosophie mir nahesteht, ohne dass sie die meine wäre. Trotz meines Soziologiestudiums und der Tatsache, dass ich 1986, inmitten des Kompositionsstudiums, in dem der Prozess des Reflexivwerdens besonders intensiv ist, Luhmanns Soziale Systeme las, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, bestimmte Theorien oder Theorieteile musikalisch umzusetzen. Vielmehr ist es umgekehrt: Das, was die künstlerische Inspira149
tion an Ideen, Absichten, Konzepten emergieren lässt, erweist sich bei einer nachgeschalteten Reflexion als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse oder sogar einer Kompatibilität mit Theorien. (Wenn das erkannt wird, beeinflusst das wiederum die künstlerische Ausarbeitung.) Dafür möchte ich vier Beispiele anführen. a) Komplexität. Unsere fortgeschrittene, sich ausdifferenzierende Gesellschaft erhöht Komplexität, mithin nicht einfach Informationsfülle, sondern die mehrdimensionale Gleichzeitigkeit von eigensinnigen Semantiken/Diskursen/Lebensmodellen/Traditionen etc. So wie man darauf mit „Neuer Einfachheit“ reagieren kann, ist auch das Gegenteil möglich: Man lässt sich auf die Komplexität ein. Das heißt musikalisch, dass die Polyphonie gesteigert wird, ist doch die Polyphonie die differenzgeleitete Ausdifferenzierung von Vielem (vgl. Mahnkopf 2002a). Wobei die Musik die einzige Kunst ist, die gleichzeitig Verschiedenes präsentieren kann, ohne Bedeutungskonfusion zu hinterlassen. Ich gehöre einer der Hauptströmungen des zeitgenössischen Komponierens an, für die der Name Komplexismus sich durchgesetzt hat, mithin einer Richtung, welche die Polyphonie mit den heutigen Möglichkeiten der musikalischen Grammatik und Morphologie zu steigern sucht (vgl. Mahnkopf 2002b; Hindrichs 2014: 180 ff.). b) Ausdifferenzierung ist ein Phänomen, das eng mit Komplexität zusammenhängt, sofern diese nicht einfach quantitativ, sondern qualitativ betrachtet wird. Sie bedeutet das Gegeneinander-sich-Abschotten von Teilsystemen. Angewandt auf die Polyphonie heißt dies die Emanzipation von Stimmen oder Schichten zu eigenständigen formalen Gebilden, die zu guter Letzt eigenständige, mithin exkorporierbare Sub-Werke werden können. Genau das habe ich in meinem Kammerzyklus (1995/96) versucht, einem Kammerkonzert für Klavier und ein Ensemble aus einem Trio basso und einem Bläsertrio. Konsequent können die Teile der Bläser und Streicher – mit Modifikationen – abgetrennt werden und ergeben zwei selbständige Stücke. Der Klavierpart zerfällt in die Kadenz als kurze Miniatur und den „Rest“ als eigenständiges Klavierwerk. Der Zyklus umfasst somit fünf Werke: das Gesamtwerk und die vier abgeleiteten Stücke (vgl. Hoban 2004). c) Was heißt Autonomie für die Kunst? Mit Weber, Adorno und auch Luhmann bedeutet die Autonomie der Kunst ihre Eigenlogik in Absetzung von theoretischen und praktischen Zwecken. Aber nur Adorno hat versucht, Autonomie auch auf der Musikseite zu denken (indem er für radikale neue Musik plädierte) und nicht nur auf der des Gesellschaftssystems (Luhmann macht dies mit den Konzepten von Selbstprogrammierung und Autopoiesis über Stilkontinuitäten). Autonomie wäre in der Musik nicht nur die Befol-
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gung strenger Kompositionsstrategien, sondern auch Eigensinn bei der Wahl des Themas. 2012/13 komponierte ich die Hommage à Brian Ferneyhough für einen Tubisten, mithin für das Instrument Tuba und performative Anteile bei einem Ausführenden, der zugleich zwei Fußpeitschen, einiges Schlagzeug spielen und James Joyce rezitieren muss. Der Eigensinn ist gegenüber dem Instrument und seiner Tradition, und der Eigensinn ist gegenüber dem Widmungsträger. Ferneyhough war immerhin mein Lehrer, er ist der historische Inaugurator des Komplexismus, und da stellt sich die Frage, ob „man“ ein burleskes, humoristisches Stück mit Anleihen an Slapstick überhaupt in dieser Konstellation schreiben dürfe. Nimmt man freilich die Autonomie ernst, darf man es (vgl. Mahnkopf 2014). d) Antagonismen. Ambivalenzen in der Kunst Ausdruck zu verleihen, ist ein Topos und daher nichts Außergewöhnliches. Antagonismen sind Gegensatzpaare, die Koexistenz von Unvereinbarem, gar Gegnerschaften. In meinem Oboenkonzert Medusa (1990-92) (das wie der Kammerzyklus ein Poly-Werk darstellt) habe ich programmatisch Schönheit und Hässlichkeit, Attraktion und Zerstörung, Faszination und Ekel in ein Spannungsfeld gesetzt. Ich habe das Werk zur Zeit seiner Entstehung bewusst als eines am Ende eines Jahrhunderts, eines Jahrtausends betrachtet (vgl. Mahnkopf 2002c).
Wenn ich mich nun zu einem Werkzyklus – dem void-Zyklus – äußere, der die Shoah thematisiert, dann bedeutet das weder, dass meine gesamte Produktion eine Beschäftigung mit dem Holocaust wäre, noch dass ich dies täte, weil es Adorno in gewisser Weise einforderte. Freilich betreibe ich – auf einer zweiten Ebene – Theoriearbeit. Das mag einem zweiten Interesse und einer zweiten Begabung geschuldet sein und hat zur Konsequenz, dass sich beide Ebenen befruchten und unterstützen, wie zwei kommunizierende Röhren. Das Schicksal des Judentums ist eine meiner Lebensfragen, nicht zuletzt, weil meine verstorbene Frau Jüdin war (Mahnkopf 2013; Albertini 2014). Das englische Wort „void“ heißt Leere, aber auch Lücke. Diese Idee beschäftigt mich seit dem Jahr 2000, als ich das damals noch leere Jüdische Museum in Berlin, gebaut von Daniel Libeskind, kennenlernte, dessen Architektur mich sofort in den Bann zog und mich bis heute immer wieder beschäftigt. Libeskind durchzog den Bau mit vertikalen Räumen, die einfach leer und daher unbenutzbar sind, für einen Funktionsbau strengen Sinnes dysfunktional. Sie symbolisieren ein Abwesendes, die europäischen Juden, die nicht zuletzt bis zur Naziherrschaft das Berliner Leben bereicherten. Libeskind ist ein Meister für Abwesenheiten, für Verluste, wie jüngst sein 9/11Memorial in New York beweist. Ihm, dem Architekten, widmete ich meine einstündige Komposition Hommage à Daniel Libeskind für sechs Spieler (2002-12). 151
Wenn ich nun das kulturelle Konzept des Verlustes aufgreife, dann nicht mit der weitverbreiteten musikalischen Ästhetik der Stille und des Schweigens, sondern gehaltsästhetisch (Mahnkopf 2012a). Ich beziehe mich auf bestimmte Sujets, die ich musikalisch verarbeite. Dabei geht es mir nicht um die Vergangenheit als solche, sondern um die Auswirkungen ihrer Zerstörungen für unsere Gegenwart. Die Zäsur im 20. Jahrhundert ist zweifelsohne der Komplex aus Naziherrschaft, Zweitem Weltkrieg und Holocaust – ein Kulturbruch, der zugleich ein Zivilisationsbruch ist, der die gesamte Welt umkrempelte (Vernichtung der europäischen jüdischen Kultur, Vorherrschaft der USA, Teilung Europas, Nah-Ost-Konflikt etc.) und noch lange im 21. Jahrhundert nachwirken wird. Vor allem die ethischen, kulturellen, wissenschaftlichen und philosophischen Auswirkungen sind umfassend. An diesem Themenkomplex arbeitet sich meine Musik in bestimmten Teilen ab, als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“ (Assmann). In diesem Zusammenhang steht mein void-Zyklus, der aus zehn Werken besteht, je zwei für Orchester, Elektronik, Kammermusik, Stimme und Geräusch. Er ist seit 2002 in Arbeit. Dieser work in progress mündet in ein Musiktheater (vgl. Hiller 2012), das auf alle diese Stücke zurückgreift, ohne sie jemals komplett zu präsentieren, und diese durch eine komplexe Durchmischung amalgamiert. Die (bisherigen) Werke sind in der Reihenfolge ihrer Entstehung: void – mal d'archive für 8-Kanal-Zuspielung (2002/03), humanized void für großes Orchester (2003-07), voiced void für 24 Solostimmen (2008), void – un delitto italiano. Un epitaffio für Vokalsextett (2009), void – kol ischa asirit für großes Orchester (2010-12), metalized void für einen Schlagzeuger (2015/16); der Zyklus wird fortgesetzt. Das Orchesterwerk humanized void bildet so etwas wie die Vergegenwärtigung der eigenen Vorgeschichte. Alban Berg versuchte sich vor gut hundert Jahren an einer atonalen Symphonie, deren nachgelassene Skizzen das Ausgangsmaterial dieser halbstündigen Komposition sind. Sie beschreibt eine imaginäre Brücke zwischen jener Zeit und der unseren, weniger im Sinne einer Zeitreise, eher in dem eines Traums verschiedener und verschieden präsenter Erinnerungsfetzen. Das zentrale Thema „void“ wird aufgegriffen, indem der musikalische Fluss immer wieder von Phasen „leerer“ Streicherakkorde, mithin ohne „motivisches“ Geschehen, unterbrochen wird. Die Musik wird dadurch deutlich gedehnt. Die symphonische Tradition steht für mich für die längst zerstörte bürgerliche Gefühlskultur, deren letzter großer Repräsentator Alban Berg war. Für dessen zutiefst menschliche Musik ist heutzutage kaum Anschluss möglich. Eine Ahnung von dem zu geben, was uns verloren gegangen ist, ist der poetische Ort dieser Komposition, die unsere eigene Vorgeschichte wie durch ein trübes Auge hindurch zu vergegenwärtigen sich bemüht (vgl. Mahnkopf 2012b; Ewert 2012). Wie ist eine Dezimierungsszene musikalisch darzustellen? Wenn jede 152
zehnte Person in einer Reihe für die Exekution herausgegriffen wird? Wie, wenn es sich um Frauen und Mädchen handelt? Wie – am Schlimmsten – wenn sich das historisch zugetragen hat, in Auschwitz? Wie vollends, wenn ein junges Mädchen, das an einer Zehnerposition stand, überlebt, nachdem die Frau neben ihr die Plätze vertauschte, weil sie sich retten wollte, sich aber verrechnete und anstelle des Mädchens exekutiert wurde? Ich kann mir kaum eine grausamere Situation vorstellen: Jemand überlebt, weil ein anderer ihn opfern wollte und sich dabei verkalkulierte. Die Reduktion des Menschen auf die nackte Zahl 10 – wie mag das in Musik übersetzt werden? Ich entwarf mit dem Orchesterstück void – kol ischa asirit mein abstraktestes und reduziertestes Stück: 10 Minuten, hundertmal die gleiche Gestalt, eine Folge von zehn Impulsen, mit einer einzigen Ausnahme, einer harten Orchesterwalze im Fortissimo-Tutti. Im Hintergrund erklingt aus zwei Lautsprechern eine vorab mit dem Orchester aufgenommene harmonische Fläche, von der sich die real gespielten Ereignisse absetzen (vgl. Mahnkopf 2014). Bei meinem ersten Besuch des Berliner Jüdischen Museums bemerkte ich eine spezifische Akustik, vor allem im sogenannten Holocaust-Turm. Im Dezember 2002 machte ich mich auf den Weg, um dort und in einem der Voids, wo die Installation Fallen Leaves von Menashe Kadishman untergebracht war, Tonaufnahmen zu machen, die ich im Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR in Freiburg zur Raum-Klang-Komposition void – mal d'archive verarbeitete. Das Werk ist mit der Ausnahme von wenigen Oboentönen eine Art musique concrète. Es ist für acht Lautsprecher und entwirft eine räumliche Landschaft, in der mit diesen Klängen eine Geschichte erzählt wird, deren Konkretion sich jeder Hörer selber ersinnen muss. „mal d'archive“ ist der Titel eines Buches von Jacques Derrida und bedeutet in diesem Zusammenhang, dass in eine Leerstelle der Erinnerung etwas eingeschrieben wird. 2008 komponierte ich das Chorwerk voiced void (24 solistische Stimmen). Ich vertonte in der Originalsprache einen Text von Moses Maimonides über die Figur des Messias in der jüdischen Tradition (vgl. Albertini 2009). In seiner Mischne Tora, Kapitel Hilchot Melachim, im elften und zwölften Abschnitt wird eine Interpretation des Messias geboten, wonach dieser keine religiöse Figur, sondern ein politischer Führer ist, der einer gerechten Regierung vorsteht und die messianischen Tage der Menschheit – ein Zustand ohne Krieg und Hunger, ohne Missgunst und Zwietracht – vorbereitet. Ich lasse die beiden Kapitel gleichzeitig darbieten, immer verteilt auf zwei Stimmgruppen. Dabei wird der konsonantische Anteil der Sprache eigens betont, etwa durch Isolierung, um dem Charakter der hebräischen Sprache beziehungsweise Schrift gerecht zu werden. Während die Doppelchörigkeit mit zwei gleichzeitigen Texten deren Verständlichkeit entgegensteht, habe ich umgekehrt Schlüsselwörter (z. B. „hammelech“ [„der König“], „hammashi153
ach“ [„der Gesalbte“], „jisrael“ etc.) homophon gesetzt, immer mit einer gleichen Akkordfolge, wie in einer Kadenzfloskel, wobei die Ultima gehalten wird. Die im Maimonidestext zitierten Bibelzitate lasse ich sprechen; ihm überlagert werden Sätze aus dem Talmud zum Messias (teilweise aramäisch), die, ähnlich einem Psalmodieren, dem übrigen Chorgeschehen überlagert werden. Im Intermezzo vor dem letzten Abschnitt singen die Soprane – in einem sechsstimmigen Krebskanon – fünf Sätze aus dem Buch Difficile liberté. Essais sur le judaïsme von Emmanuel Lévinas, worin der Philosoph seine Deutung des Messias vornimmt, der ich mich anschließe.2 Voiced void ist kein religiöses Werk, sondern eines des Glaubens im Sinne einer unverrückbaren Grundüberzeugung. Insofern haben die Texte für mich etwas von der Strenge eines Gesetzestextes; in gewisser Weise erhält damit diese Musik etwas Alttestamentarisches. Im Vorwort der Partitur steht entsprechend: „Die Ästhetik dieses Werkes ist nicht subjektorientiert. Die Klarheit des Textes steht im Mittelpunkt. Der Text soll mit dem Ernst eines ,heiligen‘, sozusagen alttestamentarischen Hintergrunds dargeboten werden.“3 Der Introitus flüstert die Worte „Die Geburtswehen des Messias“ („chevlo shel mashiach“), der Exodus „Wiederherstellung der Welt“ („tiqqun ha'olam“). Das Vokalsextett void – un delitto italiano. Un epitaffio bezieht sich auf Pier Paolo Pasolini. Sein Werk scheint grenzenlos: tief und weit zugleich. „Realismus“, mit dessen Titel man ihn in die Filmgeschichte einordnete, markiert nur die Oberfläche eines „intelletuale e poeta“, wie ihn die europäische Kultur im 20. Jahrhundert nicht noch einmal hervorgebracht hat. Erstens war er nicht einfach nur ein engagierter Künstler, sondern ebenso ein Poet der ersten Klasse; seine unzähligen Gedichte (und ebenso seine Romane) zeugen von einer sprachlichen und dichterischen Kraft, die nicht nur den großen Themen Mythos, Liebe, Tod, Opfer und Hingabe Ausdruck verlieh. Pasolini war zudem extrem vielseitig. Er vermochte Filme wie Uccellacci e uccellini genauso zu realisieren wie Salò o le 120 giornate di Sodoma oder Il vangelo secondo Matteo. (Wie kann ein Atheist so überzeugend Jesus „inszenieren“?) Drittens hatte Pasolini einen außergewöhnlichen Mut, der ihn dazu befähigte, sich mit den unterschiedlichsten kulturellen Gruppen anzulegen:
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„… ‘la venue du Messie’ peut se produire à tout instant. – Le Messianisme, ce n’est donc pas la certitude de la venue d'un homme qui arrête l'histoire. C'est mon pouvoir de supporter la souffrance de tous. – Toutes les personnes sont Messie. – Le Messie, c’est Moi, Être Moi, c’est être Messie. – Le Messianisme n’est que cet apogée dans l’être qu’est la centralisation, la concentration ou la torsion sur soi – du Moi. Et, concrètement, cela signifie que chacun doit agir comme s’il était le Messie.“ Derrida unterscheidet im Anschluss an Lévinas zwei Formen des Glaubens: das Religiöse und das Heilige im Sinne dessen, was einer Person heilig ist (vgl. Derrida 2001).
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Bourgeoisie, Kirche, Staat, aber auch die politische Linke. Er suchte die „provocazione“, ohne die die Heuchelei, nicht zuletzt in der italienischen Gestalt des „qualunquismo“ und „menefregismo“ („Wurschtigkeit“), nicht herausgefordert werden konnte. Er saugte die Widersprüche seiner Zeit auf. Der Schriftsteller, Dichter, Filmemacher und Publizist war dabei einem unbedingten Wahrheitswillen – ohne Konzessionen – verpflichtet. Daher seine Hinwendung an das „sottoproletario“ und dessen Sprache. Der Tod Pasolinis – genauer: seine bis heute nicht aufgeklärte Ermordung – im Jahre 1975 markiert für mich das jähe Abbrechen einer linken Utopie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im kulturellen Westen ausgebreitet hat und von dem Glauben ausging, dass die moderne kapitalistische Welt grundlegend geändert werden könnte, sowie dass die Künstler dabei eine eminent politische Rolle spielen müssten. 1975, Mitte der stürmischen 1970er-Jahre, zeichneten sich das Scheitern der linken Utopien und – besonders schlimm für Pasolini – der Siegeszug des modernen Konsumismus ab. Besonders Sensible spürten das früher und zogen daraus ihre Konsequenzen, nicht zuletzt Luigi Nono. Der Konsumismus, vor dem Pasolini so eindringlich warnte, hat uns längst eingeholt. Künstlerisch kam darauf jene Postmoderne, die das genaue Gegenteil von Pasolinis hohem Wahrheitsanspruch war. Ist heute ein Pasolini noch möglich? Wie wäre er beschaffen? Welcher Kunstmedien bediente er sich? Aus welchem Kulturkreis käme er? Seine Ermordung in der Nacht auf den 2. November 1975 ist für mich eine der großen Tragödien der Kulturgeschichte. Nicht nur wegen der bestialischen, geradezu atavistischen Tat allein, sondern vor allem weil Pasolini die vielleicht umstrittenste Persönlichkeit seiner Zeit war, die wie keine andere inmitten einer von Terrorismus und Gegenterrorismus aufgepeitschten Stimmung die Antagonismen der westlichen Gesellschaft, die sich gerade nicht durch Revolution verändern lässt, in seinem vielfältigen Werk thematisierte. Dieser Hinrichtung – so muss man den Mord nennen – wollte ich seit langem musikalisch antworten. Zunächst dachte ich an eine möglichst realistische, nämlich akustisch-stimmliche Präsentation der Ermordung selber, nahm aber dann von dieser eher planen Konzeption Abstand, indem ich die Sterbeszene mit der Vertonung zahlreicher Sentenzen aus seinen Gedichten gleichsam umkleidete. Mit diesen ganz unterschiedlichen Texten (von gesprochen bis gesungen) schaffe ich nicht nur eine poetische, streckenweise madrigaleske Gegenwelt, sondern zugleich ein Panorama des Pasolinischen Denkens. Insofern ist das Werk auch ein Stück weit Narration. Der Titel bezieht sich auf meinen void-Zyklus, der Untertitel „un delitto italiano“ zeigt an, dass Pasolini wie kaum ein anderer für die Kultur Italiens in der Nachkriegszeit steht und die Tatsache, dass dieser Mord nicht wirklich aufgeklärt wurde, typisch für Italien ist, für die „Wurstigkeit“ der Justiz und der Polizei oder für die Konspiration politischer Kreise, die nicht an der Auf155
klärung dieses Delikts interessiert waren. Ich nehme hierbei Bezug auf den Film Pasolini. Un delitto italiano von Marco Tullio Giordana aus dem Jahre 1995 sowie auf dessen gleichnamiges Buch. Das Werk ist Antonio Negri gewidmet, einem der wenigen, dabei großartigen Nachfolger Pasolinis.
Nachtrag zum Gehalt Gehalt in die Musik zu tragen, dafür gibt es nicht nur eine Strategie. Die Strategien bewegen sich zwischen den Polen der eindeutigen Bezugnahme auf etwas Nicht-Musikalisches (z. B. Text) einerseits und andererseits einer konsequenten Vermeidung einer solchen Referenz. Dazwischen liegt die Option, mit musikalisch Bekanntem (also anderen Werken und Genres) zu arbeiten. Das zweite, mithin die immanente Durchkonstruktion der Musik ohne Weltbezüge, stellt die größte Herausforderung an den Gehalt. Doch es gibt solche Werke, und es sind nicht wenige. Beethovens Große Fuge zum Beispiel. Bei diesem Extrem musikalischen Gehalt zu denken, ist nicht einfach. Ich kann an dieser Stelle die Theorie dazu (vgl. Mahnkopf 2012a) nicht referieren, aber dennoch den Kerngedanken anführen: Gehalt entsteht durch radikale Formindividuation. In meinem Pasolini-Epitaph ist der Gehalt am eindeutigsten, weil die Texte eine Geschichte erzählen. Im Chorstück gilt das schon weniger, weil der Text in einer weitgehend unbekannten Sprache dargeboten wird; entsprechend muss die musikalische Setzweise individueller sein, für sich sprechen. Das elektronische Stück ist scheinbar weltbezogen, weil es mit Klängen der realen Welt arbeitet, aber die präsentierte Narration ist geheimnisvoll und nicht-begrifflich. humanized void wiederum arbeitet mit musikalisch Bekanntem (der Musik Bergs); der Gehalt spannt sich auf in den Bezügen zwischen diesem Bekannten und der spezifisch eigenen Poetik des Werks. Außermusikalische Bezüge fehlen. Das 10-Minuten-Stück ist schließlich dasjenige, das in der Musik auf jede Referenz außerhalb der Musik verzichtet, aber durch eine konsequente Individuation des Materials und der Form genau das bewirkt, was Kant über alle Kunst sagt, es rege zum steten Nachdenken an (vgl. Kant 1793: 190). Fünf unterschiedliche Weise, Gehalte zu komponieren, fünf verschiedene „Geschichten“. Was ist daran nun „Gesellschaft“? Einerseits die „Geschichten“, die aus der Gesellschaft stammen, andererseits deren poetische, künstlerische Verarbeitung, die gegenüber „Realismus“ immer eine gewisse Eigensinnigkeit bewahren (so wie es auch bei Pasolini, dem Realisten, der Fall war). Zuletzt die gesellschaftliche Tiefenwirkung im musikalischen Material, in der musikalischen Technik, in der musikalischen Formgebung. Dieses letztere zu klären, wäre an eine ausgewachsene Musiksoziologie zu adressieren. 156
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Die Idee der wahren Aufführung Adornos Entwurf einer Theorie der musikalischen Reproduktion Johannes Veerhoff
„Wir verstehen nicht die Musik – sie versteht uns. Das gilt für den Musiker so gut wie für den Laien. Wenn wir sie uns am nächsten meinen, dann spricht sie uns an und wartet mit traurigen Augen, daß wir ihr antworten.“ (Adorno 1993: 15) In dieser Notiz Adornos drängen sich Motive zusammen, die auch für seine Ästhetische Theorie bestimmend sind: der sanfte Eigensinn des Gegenstandes Musik, der dem verfügenden Zugriff widersteht (vgl. Adorno 1970: 26 ff.); die Dialektik der Erkenntnis von Musik, die ohne subjektive Energie nicht an deren Objektivität teilhat (vgl. Adorno 1970: 261); der Rätselcharakter von Kunst, der auch dann bestehen bleibt, wenn die Interpretation eines Werks glückt (vgl. Adorno 1970: 185). Die stimmige Objektivation solcher Erfahrungen macht die Ästhetische Theorie zu einem Text, auf den die Interpretation von Musik sich produktiv beziehen kann. Die Fragmente einer Theorie der musikalischen Reproduktion (Adorno 2001), um die es hier hauptsächlich geht, verstehe ich als materialen Exkurs zur Ästhetischen Theorie. Zentrale Begriffe wie „apparition“ oder Mimesis werden dort in der Praxis der musikalischen Interpretation konkretisiert. Dabei bildet die Idee der „wahren Aufführung“ das gedankliche Zentrum des Werks. Im Folgenden werden zum einen Verbindungslinien zwischen der Ästhetischen Theorie und der Theorie der musikalischen Reproduktion aufgezeigt, zum anderen wird herausgearbeitet, welche Forderungen Adorno an die musikalische Interpretation stellt und wie diesen in der Praxis entsprochen werden kann. Besonders die praktischen Überlegungen orientieren sich an der Theorie der musikalischen Darstellung, die von Jürgen Uhde und Renate Wieland in mehreren Studien entfaltet wird und die sich ausdrücklich auf Adornos Theorie der musikalischen Reproduktion bezieht.
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Ästhetische Wahrheit
Der Begriff der „wahren Aufführung“, den Adorno als Titel für seine Theorie einer musikalischen Reproduktion wählt, hängt eng mit dem Begriff der äs159
thetischen Wahrheit zusammen, der in Adornos Rationalitätskritik eine bedeutende Rolle spielt. Dabei geht es Adorno nicht darum, eine dogmatische Vorstellung von wahrer oder richtiger Interpretation zu vertreten. Er setzt sich vielmehr polemisch von einer relativistischen Musikinterpretation ab, die meint, Interpretation sei allein Frage des Geschmacks und über diesen lasse sich bekanntlich nicht streiten. Über dieses letztlich unverbindliche Verständnis von Interpretation möchte Adorno hinausgehen. Kunst ist für Adorno insofern Medium von Wahrheit, als sie gegenüber der instrumentellen Vernunft die Möglichkeit einer anderen Welterfahrung aufbewahrt. Sie ist „Zuflucht des mimetischen Verhaltens“ (Adorno 1970: 86). Mimesis unterwirft sich den Gegenstand nicht, sondern verwandelt sich ihm an. Sie ist nicht Nachahmung, sondern meint eine transitorische Erfahrung, in der das Subjekt „im Objekt erlischt“ (Adorno 1969: 751). Insofern ist sie für Adorno notwendiges Korrektiv zur Vorherrschaft des identifizierenden Denkens. Die Dominanz der identifizierenden Ratio und die Marginalisierung der Mimesis ist nichts, das sich allein in wissenschaftlichen Theorien geltend macht, sondern bestimmt zutiefst das Leben der Menschen in der Moderne. Auf Schritt und Tritt kann man beobachten, was der Psychoanalytiker Wilhelm Reich mit dem Ausdruck des „Muskelpanzers“ beschrieben hat: der kalte Blick, die flache Atmung, die ruckhafte Gestik sind allesamt Ausdruck einer Selbstentfremdung, wie sie der/dem Einzelnen zum Zweck der Selbsterhaltung abverlangt wird. Mimesis überlebt in versprengten Erfahrungen, im „vor-ichlichen Impuls“ (Adorno 1966: 221), im Traum oder in Spielen von Kindern. Als die ältere Verhaltensweise ist sie ihrerseits ursprünglich – als Mimikry – eine Funktion der Selbsterhaltung. In Walter Benjamins Definition der Mimesis klingt dieser dunkle Aspekt an: „Die Gabe, Ähnlichkeiten zu sehen, die wir besitzen, ist nichts als nur ein schwaches Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten.“ (Benjamin 1972: 210) Mimesis ist also nicht das gegenüber der Ratio schlechthin Gute und doch ist sie unabdingbarer Bestandteil unreglementierter Erfahrung im Sinne einer „ästhetischen Rationalität“ (Ritsert 1996: 103). Sie ist, wie Adorno schreibt, „weder zu eliminieren noch blind zu akzeptieren“ (Adorno 1970: 424). Kunst als eine menschliche Verhaltensweise, die auf die Versöhnung von Ratio und Mimesis deutet, ist für Adorno „gestaltete Wahrheit“ (Horkheimer/Adorno 1944: 6). Darin klingt Hegels Verständnis der Kunst als dem sinnlichen Scheinen der Idee an. Zwar weist Adorno Hegels Konzeption der Idee als einem Substanziellen zurück, wie Hegel beharrt er aber darauf, dass das Schöne etwas „in der Sache selbst“ (Adorno 2009: 13) Liegendes ist, nicht aber in der Wirkung des Kunstwerks auf seinen Betrachter besteht. Bedingung einer solchen Erfahrung ist die Fähigkeit, sich dem Bewegungsgesetz des je einzelnen Kunstwerks zu überlassen. Darin ähnelt sie der philosophischen Erkenntnis, die stets nur für Augenblicke in begrifflichen Konstella160
tionen aufblitzt. Ästhetische Wahrheit ist also flüchtig und bestimmt zugleich, sie zeigt sich in jeder künstlerischen Elementarerfahrung, in dem „Gefühl des Überfallen-Werdens im Angesicht jedes bedeutenden Werks“ (Adorno 1970: 123). Die lebendige Erfahrung von Kunst liegt in solchen Momenten des plötzlichen Erwachens, wie sie die Zeile eines Gedichts von Stefan George notiert: „Ich fühle Luft von anderem Planeten“ (George 1907: 122). Bezogen auf Musik heißt das: eine musikalische Geste ist plötzlich ganz „da“, nicht allein sinnvoll und richtig artikuliert, sie spricht, ist beredt, ganz Ausdruck. Ihr spezifischer Elan jedoch entzieht sich der Definition. Der Paradoxie solch bestimmter Unbestimmtheit in der musikalischen Praxis geht Adorno in den Fragmenten zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion nach. Trotz seiner rationalitätskritischen Überlegungen zeigt er sich darin aber nicht als Irrationalist, der meint, Musik könne nur mit dem Gefühl verstanden werden. Eine der Hauptthesen der Theorie der musikalischen Reproduktion betrifft vielmehr die eingehende Analyse des Notentexts, die eine Bedingung für das Erscheinen der ästhetischen Wahrheit ist.
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Röntgenphotographie
Die erste Forderung, die Adorno an die Interpretation stellt, ist die Entfaltung des Sinnzusammenhangs: „Die wahre Reproduktion ist die Röntgenphotographie des Werks. Ihre Aufgabe ist es, alle Relationen, Momente des Zusammenhanges, Kontrasts, der Konstruktion, die unter der Oberfläche des sinnlichen Klanges verborgen liegen, sichtbar zu machen – und zwar vermöge der Artikulation eben der sinnlichen Erscheinung“ (Adorno 2001: 9). Das bedeutet: Notentexte sind Kraftfelder. Tritt man in sie ein, dann zeigt sich ein Netz von Bezügen. Da ist etwa der innere Zusammenhang der Themen durch Substanzgemeinschaft oder der harmonische Plan, der die Architektur der Musik im Großen disponiert. Auf einer noch allgemeineren Ebene ist es das Modell von Spannung und Auslösung, nach dem sich die tonale Musik bis weit in die Moderne hinein organisiert (vgl. Uhde/Wieland 1988: 111-227). Bereits im Kleinen verläuft sie in Wellen, die crescendierend vorwärts zu einem Höhepunkt drängen, um diminuierend zurückzuschwingen zu einem relativen Nullpunkt. Auf dieser untersten Ebene kann Interpretation einsetzen, indem sie fragt: Welche Töne bilden zusammen eine Gestalt? Wie ist in dieser Gestalt das Verhältnis von Spannung und Entspannung? Und wie schließt sie sich mit den anderen Gestalten zu größeren Komplexen zusammen?
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Dazu ein Beispiel aus dem Mikrokosmos von Béla Bartok1:
Die erste Phrase steigt aus dem c empor, kehrt aber nicht zu ihm zurück, sondern endet offen im Halbschluss d. Erst die zweite Phrase, die die erste im Ambitus übersteigt, gleicht die entstandene Spannung aus. So gleicht das kleine Stück einer Atemwelle, die ungestört ausschwingen kann. Dieser organologische Aufbau der Gestalten ist zwar ein Grundprinzip tonaler Musik, doch die Musik gehorcht diesem nicht blind, sondern sie setzt sich ebenso mit ihm auseinander, wie im folgenden Stück Erstarrung aus der Winterreise von Franz Schubert2:
Die Akzente über den Triolen stören immer wieder den organischen Fluss der Musik, und gerade daraus bezieht die Musik ihre spezifische Spannung, ihren Ton.
1 2
Bartók, Béla (1940/1987): Nr. 1, in: Mikrokosmos Band 1. London: Boosey & Hawkes. Die Haken in den Notenbeispielen markieren Anfang und Ende einer Gestalt, das Kreuz die Kulmination. Schubert, Franz (1828/1979): „Erstarrung“ D. 911/4, Takt 1-4, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IV, Band 4a. Kassel: Bärenreiter.
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Insbesondere Pausen sind darauf zu befragen, ob sie die organische Strömung weitertragen oder sie zerreißen. So schwingen die folgenden Gestalten im Allegretto D 915 von Schubert3 über die Pausen hinweg:
Diese Pausen, die in demselben Stück4 auftauchen, schneiden die Musik dagegen abrupt ab:
Eine solche Analyse des Zeitverlaufs liefert einen ersten Eindruck für das oft rasch wechselnde Mienenspiel von Musik. Sie ist aber nur eine Möglichkeit, wie Interpretation beginnen kann. Harmonische Analyse oder die Betrachtung der Gesamtarchitektur eines Stücks sind keineswegs zweitrangig. Vielmehr gilt, dass „jede Tür ins Zentrum führt, jedes Moment ins Gesetz“ (Adorno 2001: 73). Die weiter unten folgende Analyse des Lieds Wasserflut von Schubert wird entsprechend modellhaft illustrieren, wie sich eine Werkbetrachtung ganzer Stücke auch gestalten kann.
3
Verkapselte Gesten
Die strukturelle Analyse des Zeitverlaufs ist eine Mimesis ersten Grades an den Notentext. Sie belebt ihn, lässt ihn atmen, führt aber noch nicht in die Wirklichkeit der Musik hinein. Eine Interpretation ist erst dann sprechend, wenn jeder musikalische Atemzug als Geste begriffen wird. Adorno schreibt dazu:
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Schubert, Franz (1870/1984): Allegretto D. 915, Takt 31-38, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Band 5/II. Kassel: Bärenreiter. Schubert, Franz (1870/1984): Allegretto D. 915, Takt 15-22, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Band 5/II. Kassel: Bärenreiter.
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„Gerade was in Musik zu lesen, zu entziffern ist, sind ihre mimischen Innervationen. Eine pathetische oder verhaltene oder verlöschende Stelle bedeutet nicht Pathos, Verhaltenheit oder Verlöschen, sondern verhält sich nach jenen Ausdruckskategorien, bildet die ihnen eigentümlichen physiologischen und somatischen Gesten in musikalischen Konfigurationen ab, und wer sie richtig interpretieren will, muss eben jene in ihnen verkapselten Gesten finden, um sie nachzuahmen. Finden durch Lesen: die dechiffrierende Arbeit des Interpreten, das eigentlich begriffliche Element der musikalischen Interpretation allein ist der Weg ins Reich der mimischen Charaktere.“ (Adorno 2001: 244)
Die einzelne Gestalt ist also erneut zu befragen: Wie bewegt sie mich? Welche Geste löst sie in mir aus? Wie geschieht etwa im folgenden Stück Von fremden Ländern und Menschen von Robert Schumann5 der Aufschwung zum g, wie das Sinken zum d?
Eine Bewegung wäre zu realisieren, die sich empor tragen ließe zum höchsten Ton. Wie einer, der noch bewegt ist von der Erinnerung an fremde Länder und Menschen, müsste die Spielgeste jenen eigentümlichen passiven Charakter treffen, der über dem Beginn dieses Stückes liegt. Sicher, solche Interpretation, die sich auf die subjektiven Reaktionen der Musiker einlässt, riskiert, die Musik als bloße Projektionsfläche für eigene Affekte zu missbrauchen. Aber es wäre unsinnig, im Sinne vermeintlicher Objektivität das eigene Erleben zu neutralisieren, denn nur durch das subjektive Engagement hindurch gelangt der/die Spielende „ins Reich der mimischen Charaktere“ (Adorno 2001: 244). Dieses subjektive Engagement muss sich allerdings stets an der objektiven Werkgestalt messen. Sind die Gesten, die ich in mir finde dieser Werkgestalt auch adäquat? Falls nein: was fehlt womöglich noch? Was verstehe ich noch nicht? Durch solch ein (tendenziell nie endendes) Weiterfragen besteht die Chance, dass subjektives Engagement und objektive Werkgestalt in ein produktives Spannungsverhältnis zueinander treten. Adornos Forderung nach gestischer Analyse führt allerdings an einen zentralen Aspekt der ästhetischen Wahrheit heran, der in der musikalischen
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Schumann, Robert (1839/1977): Von fremden Ländern und Menschen, Takt 1-4, in: Kinderszenen. München: Henle.
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Praxis jedoch wiederum Probleme bereitet: eine Geste ändert sich permanent, sie ist nicht konservierbar. Versucht man sie dennoch zu konservieren, erstarrt sie zur Floskel. Heinrich von Kleist hat in seinem Essay Über das Marionettentheater diese Erfahrung notiert. Einem jungen Mann gelingt ganz unabsichtlich, die anmutige Haltung einer gewissen Statue nachzuahmen. Angespornt durch das Lob seiner Beobachter versucht er, diesen Moment zu wiederholen: „Doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! Er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? Die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, dass ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.“ (Kleist 1810: 15)
Der Interpret muss also immer wieder von neuem fragen: wie spricht eine Geste jetzt zu mir? Ob sie sich ihm mitteilt, steht dahin, oft genug antwortet sie auch nicht. Überhaupt stehen der gestischen Musikerfahrung vielerlei Schwierigkeiten entgegen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Friedrich Schillers Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Schiller führt dort den Begriff des ästhetischen Zustands ein, der in seiner eigentümlichen Passivität als Bedingung für die Möglichkeit, Gesten zu erfahren, gesehen werden kann: „Das Gemüth geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft z u g l e i c h thätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben, und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüth weder physisch noch moralisch genöthigt, und dort auf beide Art thätig ist, verdient vorzugsweise eine freye Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.“ (Schiller 1795: 81)
Solch innere „Bestimmbarkeit“ ist schwer lehrbar, sie bedarf der Fähigkeit, herauszutreten aus der eigenen unmittelbaren Existenz, sowohl aus dem System der gesellschaftlichen Zwänge als auch der Befangenheit im Interesse blinder 165
Selbsterhaltung. Nur in einer Haltung des Gewährenlassens, in der Sinnlichkeit und Vernunft kommunizieren und sich nicht als unvereinbare Antagonismen gegenüberstehen, ist demnach künstlerische Erfahrung möglich. Schiller beschreibt dies als die Gleichzeitigkeit von Leere und Fülle: „Wenn also die ästhetische Stimmung des Gemüths in einer Rücksicht als Null betrachtet werden muß, sobald man nehmlich sein Augenmerk auf einzelne und bestimmte Wirkungen richtet, so ist sie in anderer Rücksicht wieder als ein Zustand der höchsten Realität anzusehen, insofern man dabey auf die Abwesenheit aller Schranken, und auf die Summe der Kräfte achtet, die in derselben gemeinschaftlich thätig sind“ (Schiller 1795: 85, Hervorh. i.O.). Das richtige Musizieren, so kann man im Anschluss an Schiller folgern, muss solchem „Zustand Null“ entspringen. Es braucht aber als seinen Gegenhalt die Röntgenphotographie der Analyse, um sich nicht im Ungefähr privater Anmutungen zu verlieren. Einen weiteren Grund für die Schwierigkeiten, die der gestische Aspekt von Musik beim Interpretieren bereitet, sieht Adorno in der europäischen Notenschrift, die mehrdeutig ist. Ihre Ursprünge liegen in den Neumen, die als eine Art Bilderschrift zum Zweck der Fixierung von Dirigiergesten im 9. Jahrhundert n. Chr. aufkamen. Die geistliche Vokalmusik dieser Zeit, der sogenannte gregorianische Choral, wurde durch Handzeichen des Dirigenten – das griechische Wort neuma bedeutet „Wink“ – angeleitet. Die Neumen hielten aber noch nicht die Notendauer und -höhe fest. Dieses sogenannte mensurale Moment trat erst später hinzu und ermöglichte seinerseits die Entfaltung von Polyphonie und großen Formen. Die moderne Notenschrift, so Adorno, vereinigt diese beiden Aspekte, den gestischen und den mensuralen, auf paradoxe Art und Weise: sie ist die „Vergegenständlichung des schlechthin Ungegenständlichen selber“ (Adorno 2001: 249). Dieser Paradoxie sieht sich Interpretation gegenüber, wenn sie sich anschickt, einen Notentext lebendig werden zu lassen. Der eigentlich inspirierende Moment, dem eine Musik einmal entsprang, ist nicht wiederholbar. Trotzdem verweist ein Notentext stets auf ein in ihm verborgenes Urbild. Insofern kann Adorno sagen: „Die Idee der wahren Interpretation ist die Kopie eines nicht vorhandenen Originals“ (Adorno 2001: 243). Interpretation kann der Forderung nach Eindeutigkeit, wie sie die identifizierende Ratio stellt, nicht genügen und doch erreicht sie, wenn sie gelingt, eine Genauigkeit des Ausdrucks, die der identifizierenden Ratio verschlossen ist.
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Verfremdung
Das Festhalten am traditionellen Musikrepertoire angesichts der technischen Rationalität der Moderne hat etwas Rückständiges. Die Teilhabe an Tradition 166
gründet, wie Adorno in den „Thesen über Tradition“ darlegt, in sozialen Verhältnissen, in denen das Vergangene unreflektiert als Autorität gegenwärtig ist. Die Beseitigung solcher Verhältnisse im Namen von Aufklärung erschüttert den Bezug auf das Alte von Grund auf. Das moderne Prinzip des Äquivalententauschs, das einem jeden seinen relativen Wert zuweist, untergräbt stets aufs Neue die vermeintliche Sicherheit überkommener Autorität. Für Adorno gilt deshalb: „Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition strengen Sinnes unvereinbar.“ (Adorno 1955: 310) Die traditionelle Kunst steht also gewissermaßen quer zum gesellschaftlichen Betrieb, sie wird aber deswegen nicht einfach vergessen, vielmehr integriert. Gerade Musik fungiert häufig als eine Art Reservat der Unmittelbarkeit. Trotzdem hat der Konservatismus des Musiklebens neben dem ideologischen auch ein richtiges Moment: etwas an der Tradition berührt ganz unmittelbar und ist doch gleichzeitig von der heutigen Lebenswirklichkeit unendlich weit weg. Es ist nicht das traditionelle Idiom allein, auch die Gehalte der alten Musik sind fremd: Beethovens Pathos eines moralisch autonomen Menschen etwa ist fragwürdig angesichts der realen Fremdbestimmung in der Gesellschaft. Diese Ferne der traditionellen Musik zum Betrieb hat Adorno im Blick, wenn er schreibt: „Die Werke beginnen uninterpretierbar zu werden. Denn die Gehalte, die Interpretation zu erfassen trachtet, haben in der Realität vollständig sich verwandelt und damit auch zugleich in den Werken, die in Geschichte stehen und an der realen Geschichte teilhaben.“ (Adorno 1964: 52) Diese Erfahrung von Fremdheit darf die Interpretation nicht verdrängen. Das richtige Verhalten zur Tradition, so lässt sich im Anschluss an Adorno sagen, ist dialektisch: man muss sie verabschieden, um sich authentisch auf sie zu beziehen. Der Entfremdung von der Tradition setzt Adorno den Begriff der Verfremdung entgegen: „Gegenüber jeglicher Konvention hat die rekonstruierende Reproduktion zunächst einmal das zu vollbringen, was Brecht Verfremdung nennt; ohne dies Moment ist die Aufgabe der Interpretation noch nicht einmal erkannt. Aber die Verfremdung ebenso wie die Grundthese, daß die traditionelle nur von der neuen Musik her dargestellt werden kann, ist polemisch zu setzen gegen den Begriff des Modernistischen. Es kann sich nicht darum handeln, die traditionelle Musik wie streamline-Möbel neu aufzuputzen sondern die Verfremdung muß sich nach dem Kanon des musikalischen Zusammenhangs gegen die klangliche Oberfläche vollziehen. […] Von der neuen Musik her interpretieren heißt nicht Piscator oder Hamlet im Frack.“ (Adorno 2001: 128 f.)
Die modernistische Interpretation, gegen die Adorno sich wendet, hat insofern ihren Sinn, als sie der fraglosen Dignität der Vergangenheit misstraut. So polemisiert etwa das Mozartspiel Glenn Goulds gegen das Klischee des ewig heiteren Klassikers im Rokokokostüm. Gould nimmt Mozarts Musik 167
bewusst zu rasch oder zu langsam, spielt nicht selten das scheinbar Dürftige ihrer Einfälle heraus. Solche Polemik hilft dem Verständnis auf die Sprünge, sie demoliert stereotype Hörgewohnheiten, aber darüber beschädigt sie häufig auch das, was heute als kritischer Stachel am Vergangenen wahrgenommen werden könnte. „Keiner“, sagt Ernst Bloch, „hat Mozart, Beethoven, Bach so, wie sie wirklich rufen, nennen, lehren, schon gehört“ (Bloch 1959: 1257). Das bedeutet: etwas an den Gehalten der Tradition ist nicht abgegolten und gerade an deren Fremdheit kann einem aufgehen, was jetzt fehlt. Verfremdung, wie Adorno sie versteht, entspringt dagegen einer mikrologischen Analyse, die sich Zeit lässt für die Erfahrung der Details: „Man muß nur richtig interpretieren, und schon wird es verfremdet.“ (Adorno 2001: 141) Jenseits der scheinbaren Vertrautheit kann Interpretation verstehen, wie Musik mit Hörerwartungen spielt, wie sie sich Konventionen fügt, um doch gegen sie zu opponieren, wie etwa im Trio des Walzers D 146/9 von Schubert6:
Getragen von einem ostinaten Rhythmus in der linken Hand verläuft die Musik in regelmäßigen Zweitaktgruppen, die Harmonik beschränkt sich auf die Hauptstufen Tonika und Dominante, die Tonart C-Dur wird am Schluss der
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Schubert, Franz (1830/1990): Walzer D. 146/9, Takt 33-48, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie VII, Abteilung 2, Band 7a. Kassel: Bärenreiter.
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ersten acht Takte bekräftigt. Die Takte 9-12 kontrastieren das Vorangegangene: sie öffnen den harmonischen Raum hin zur Mollparallele und enden offen auf deren Dominante E. Takt 11 löst den regelmäßigen Viertelrhythmus der korrespondierenden Takte 3 beziehungsweise 7 in eine Achtelbewegung auf, die Melodie durchbricht in Takt 8 den bisher geltenden Ambitus nach unten. Schließlich wechselt die Dynamik vom bisherigen pp ins mf. Die Takte 13-16 ziehen aber aus all diesen musikalischen Ereignissen keine Konsequenzen (etwa indem sie die Harmonik anreichern oder die rhythmische Variante aus Takt 11 aufgreifen), sondern wiederholen identisch die Takte 58. Statt des zu erwartenden Spannungsausgleichs kommt der Rückfall nach C-Dur. So reflektiert die Musik in diesem befremdlichen Schluss gewissermaßen ihre eigene Gesetzmäßigkeit. Adornos Begriff von Verfremdung ist an der Erfahrung der Interpretation neuer Musik gebildet. Neue Musik, die unter Verzicht auf das tonale Idiom einen Sinnzusammenhang konstruiert, setzt dem Verständnis besondere Schwierigkeiten entgegen. Das Ohr muss der gewohnten Stütze durch die tonalen patterns entbehren. Das zwingt die Interpretation neuer Musik dazu, die Dialektik des Zusammenhangs auf das Deutlichste herauszubringen: jedes Detail muss prägnant für sich und gleichzeitig in Rücksicht auf seine Funktion im Ganzen artikuliert sein, damit der Sinn der Musik klar wird. Dadurch aber verändert sich auch die Interpretation traditioneller Musik. „Auch deren Aufführungen“, schreibt Adorno, „sind heute in den weitaus meisten Fällen sinnlos; gerade im Umgang mit der neuen Musik läßt sich das, rückwirkend gleichsam, erkennen […] Die Qualität des Bekannten, mehr vielleicht noch die ältere tonale Tonsprache, trägt über alle Brüche und Widersprüche bequem hinweg. Ihre mehr oder minder typischen, festgelegten Vokabeln stiften auch dort etwas wie Zusammenhang, wo der eigentliche, die Prägung des Einzelnen durch die Struktur des Ganzen, von der Aufführung noch gar nicht erreicht wird. Bei der neuen Musik jedoch, die das Innere nach außen kehrt, tendenziell die Struktur zum Phänomen macht und formelhafte Stützen des Verlaufs sich verwehrt, wird das Chaos sogleich offenbar, das in den üblichen Beethoven-Darstellungen dicht unter der glatten Oberfläche der Interpretation west. Wird in der neuen Musik der Zusammenhang […] zerstört, so entsteht unmittelbar jener Galimathias, den in Aufführungen traditioneller Musik bloß der bemerkt, der sie schon verstanden hat; man mag darum sogar die Aufführungen traditioneller Musik, und auch ihr Verständnis, schwieriger finden als die neuer; aber erst die neue hat dazu verholfen, daß man dessen innewird und der Idee der wahren Interpretation sich bewußt.“ (Adorno 1959: 45 f.)
Aber was heißt nun, die alte Musik von der neuen her zu verstehen? Zu denken wäre etwa an die Allergie gegen die Wiederholung, wie sie die zweite Wiener Schule auszeichnet. Es soll, so der Anspruch der Komponisten um Arnold 169
Schönberg, keine Note geschrieben werden, die lediglich durch ein äußerliches Formschema oktroyiert ist. Dies lässt nach dem Sinn von Wiederholungen in der tonalen Musik, etwa in Sonatenexpositionen oder Tänzen, fragen. Adorno erinnert an eine Grundbedingung von Musik als einer Zeitkunst: keine Passage kehrt in ihr identisch wieder, selbst wenn der Notentext dies suggeriert (vgl. Adorno: 1956: 144). Stets ist die Erfahrung des ersten Durchlaufs die Basis der zweiten Begegnung. In ihr intensiviert sich die Musik oder schwächt sich ab, altert gewissermaßen und die Interpretation muss dem Rechnung tragen, wenn sie den Sinn der Musik nicht verfehlen will. Plakatives Verdeutlichen ist nicht gemeint, oft reichen kleinste Veränderungen etwa der Agogik, um diese Veränderungen der Musik zu reflektieren. Mit dem Desiderat der Verfremdung formuliert Adorno keine Regel, aber er wirft produktive Fragen auf und lenkt den Blick auf die gesellschaftliche Dimension von Interpretation, die der herrschende Musikbetrieb ausblendet. Verfremdung ist für Adorno integraler Bestandteil der „wahren Aufführung“, die ihre Distanz zur Tradition nicht verleugnet, deren Gehalte aber trotzdem zu retten trachtet: „Sie nicht vergessen und ihr doch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was trägt und was nicht.“ (Adorno 1955 315) Ob solche, wie Adorno das nennt, „correspondance“ (Adorno 1955: 316) mit der Vergangenheit gelingt, ist offen. Gerade die notwendige Routine kann Interpretation von solch lebendiger Erfahrung der Tradition abhalten.
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Interpretation als apparition
Adornos Forderungen nach struktureller und gestischer Analyse zeigen Perspektiven auf. Beide sind notwendige Umwege, die an ein Stück heran-, aber nicht in es hineinführen. Interpretation sieht sich einem Rätsel gegenüber: „Sie muss minutiös feststellen, was im Stück der Fall ist, doch was der Fall ist, ist noch nicht das Stück“ (Wieland 2014). Diese Paradoxie begleitet die Interpretation auf jeder Stufe. Je mehr ein Stück scheinbar beherrscht wird, desto weiter kann es in die Ferne rücken. Wahre Interpretation ist dem verwandt, was Adorno als apparition bezeichnet. Grundsätzlich zielt der Begriff auf die sinnliche Erscheinung des Kunstwerks ab, meint aber noch mehr. Dieses „Mehr“ hängt eng mit dem Begriff des Geistes zusammen, wie ihn Adorno in Anlehnung an die idealistische Ästhetik einführt: „Was in den Kunstwerken erscheint, nicht abzuheben von der Erscheinung, aber auch nicht mit ihr identisch, das Nichtfaktische ihrer Faktizität, ist ihr Geist.“ (Adorno 1973: 134) Geist ist gerade nicht diese oder jene philosophische oder weltanschauliche Idee, die ein Kunstwerk vermeint170
lich ausdrückt. Er existiert nicht getrennt von der Struktur, sondern liegt in der Konfiguration, die die sinnlichen Einzelheiten durch ihren Zusammenschluss bilden. Dieses Verhältnis der sinnlichen Momente ist aber selbst nichts Sinnliches mehr, sondern etwas Geistiges. Apparition ist der Durchbruch dieses Geistigen durch die Oberfläche der sinnlichen Erscheinung. Musik als Medium von Geist – heißt das nicht, den Ausdruck von Musik intellektuell zu verdünnen? Liegt nicht die eigentümliche Wirkung von Musik gerade in den Gefühlen, die sie beim Hörer auslöst? Grundsätzlich ist zwischen zwei Aspekten von Musik zu unterscheiden: sie ist expressiv, ihre Hebungen und Senkungen ähneln denen der Sprache. Gleichzeitig ist sie aber auch hoch organisiert. Aufgrund solcher Zwieschlächtigkeit standen sich in der traditionellen Musikästhetik widersprechende Positionen gegenüber. Sah, wie Carl Dahlhaus ausführt, die Gefühlsästhetik Musik als Ausdruck menschlicher Affekte oder Naturstimmungen (vgl. Dahlhaus 1967), so begriff die Formalästhetik Musik als „tönend bewegte Formen“ (Hanslick 1854: 59), als ein „sich von innen heraus gestaltender Geist“ (Hanslick 1854: 63). Dabei wurde der jeweils anderen Sichtweise die ästhetische Kompetenz abgesprochen: „Ein Anhänger der […] Gefühlsästhetik mußte den Vorwurf ertragen, daß er seinen eigenen Zustand, die Stimmung, in die er durch Musik versetzt wird, genieße, statt den ästhetischen Gegenstand, das musikalische Werk und den Geist, den es ausspricht, zu erfassen. Umgekehrt wurde ein Formalist, der durch die Musik hervorgerufenen Gefühle wenn nicht leugnete, so doch verächtlich als außerästhetisch abtat, von seinen Gegnern weniger eines wissenschaftlichen Irrtums als eines moralischen Vergehens schuldig gesprochen: Nüchternheit, die darauf beharrte, das Musikalisch-Schöne sei nirgends anders als in den Tönen zu suchen, erschien als Verrat an dem Enthusiasmus, den – gleichgültig, was sein Inhalt sei – Musik bewirkt und bewirken soll.“ (Dahlhaus 1967: 83 f.)
Die theoretische Kontroverse spielt sich nicht über den Köpfen der darstellenden Musiker ab, sie bestimmt – häufig unbewusst – ihre Praxis. Immer wieder – so meine Erfahrung – lassen sich bei Interpreten Parteigänger/innen beider Lager beobachten: hier die/der sehr illustrierende und charakterisierende Musiker/in, die/der die Gefühlsästhetik repräsentiert, dort die/der reservierte, vor der Musik gewissermaßen zurücktretende Interpret/in, die/der der Formalästhetik folgt. Beide Haltungen treffen wesentliche Aspekte an Musik, beide sind aber auch in Gefahr, letztlich ausdruckslos zu bleiben. Einen entscheidenden Schritt in Richtung einer Verbindung des sprachähnlich-expressiven und des konstruktiven Elements in der Musik unternimmt Hegel. Er hat als Erster die Frage nach dem Zusammenschluss der musikalischen Sprachgesten und ihrer Beziehung untereinander gestellt. „So 171
machen“ schreibt er in der Ästhetik, „die Interjektionen wohl den Ausgangspunkt der Musik, doch sie selbst ist erst Kunst als die kadenzierte Interjektion“ (Hegel 1835-1838: 151). Bedeutungsvoll werden Interjektionen also erst durch die Kadenzierung, das heißt ihren Zusammenschluss zur Form. Ähnlich will Adorno mit der Idee eines intentionslosen Ausdrucks über den abstrakten Gegensatz von Gefühls- und Formalästhetik hinauskommen. „Musik“, so Adorno, „ist sprachähnlich. Ausdrücke wie musikalisches Idiom, musikalischer Tonfall, sind keine Metaphern. Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage. Wer Musik wörtlich als Sprache nimmt, den führt sie irre“ (Adorno 1963: 251). Die Ähnlichkeit reicht bis in Organisation der Musik hinein, man spricht vom „Satz“, „Halbsatz“ etc. Wie die philosophische Erkenntnisanstrengung umkreist Musik die Idee, das von ihr Gemeinte direkt zu treffen: „Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen.“ (Adorno 1963: 252) Was in Musik gesagt wird, ist nicht abzulösen von ihrer Struktur, die sich die expressiven Einzelmomente integriert: „Jedes musikalische Phänomen weist kraft dessen, woran es gemahnt, wovon es sich absetzt, wodurch es Erwartungen weckt, über sich hinaus. Der Begriff solcher Transzendenz des musikalisch Einzelnen ist der ,Inhalt‘: was in Musik geschieht.“ (Adorno 1963: 255 f.) Gelingt dieses Transzendieren, dann wird Interpretation sprechend und nähert sich dem, was Benjamin als auratisch bezeichnet. Seine Definition der Aura als einer „Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (Benjamin 1936: 15) bezeichnet genau den Charakter des Einmaligen, der sich auch in authentischer Interpretation zeigt. Ihr Ausdruck ist prägnant, hier und jetzt und doch ist er gleichzeitig unendlich weit weg. Er gründet in seinem Doppelcharakter auf der konsequenten analytischen, historischen und psychologischen Durchdringung des Notentextes, gleichzeitig erscheint er nur, wenn der Interpret die Musik unter seinen Händen auch wieder freigeben, sich von ihr überraschen lassen kann. Bloch hat im „Traum“ in der Philosophie der Musik eine solche Erfahrung beschrieben: „Aber wir gehen im Wald und fühlen, wir sind oder könnten sein, was der Wald träumt. Wir gehen zwischen den Pfeilern seiner Stämme, klein, seelenhaft und uns selber unsichtbar, als ihr Ton, als das, was nicht wieder Wald werden könnte oder äußerer Tag und Sichtbarkeit. Wir haben es nicht, das, was dies alles um uns an Moos, sonderbaren Blumen, Wurzeln, Stämmen und Lichtstreifen ist oder bedeutet, weil wir es selber sind und ihm zu nahe stehen, dem Gespenstischen und noch so Namenlosen des Bewusstseins oder Innerlichwerdens.“ (Bloch 1923: 49)
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Diese Sätze deuten die Richtung der wahren Interpretation an: sie ist eine Entäußerung, in der der/die Interpret/in letztlich in der Sache verschwindet. In solchen Augenblicken des Nicht-Machens – Adorno spricht von Intentionslosigkeit – schwächen sich die Affekte nicht ab, verschwimmen die Umrisse der Struktur nicht. Apparition entspringt nicht einem passiven SichTreiben-Lassen. Der Begriff der apparition sowie die Theorie der Sprachähnlichkeit bezeichnen genau die spezifischen Probleme einer Interpretation, der es um den sogenannten Gehalt von Musik zu tun ist. Die praktische Erfahrung, dass dem intentionalen Zugriff auf das Kunstwerk Grenzen gesetzt sind, findet in Adornos Überlegungen ihre adäquate theoretische Entsprechung.
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Musik des Banns: Schubert, Wasserflut
Bisher ging es darum, die zentralen Aspekte einer adäquaten Werkinterpretation in Adornos Theorie der musikalischen Reproduktion herauszuarbeiten. Aber aktiviert die Theorie auch das eigene Hören, können ihre Thesen Schlüssel sein, die Wege ins Innere eines Stücks aufschließen? Um diese Frage zu beantworten, folgt abschließend – als Modell einer „Röntgenphotographie“ – eine Betrachtung eines Lieds aus der Winterreise von Schubert. Zu Schuberts wichtigsten musikalischen Vorbildern zählen sicherlich die Komponisten der Wiener Klassik, also Haydn, Mozart und Beethoven. Viele ihrer Kompositionen sind Modelle dafür, wie so etwas wie die Einheit in der Mannigfaltigkeit in einem zwar konflikthaften, aber letztlich sinnvollen Prozess musikalisch organisiert werden kann. Am Anspruch einer gelungenen Einheit hält Schubert in seinen späten Kompositionen noch fest, zugleich gibt er aber auch den Kräften Raum, die diese Einheit bedrohen. So ist, wie Wieland und Uhde zeigen, der Verlust des Ziels eines der Hauptmotive in seinem Spätwerk. Dieses innermusikalische Phänomen hat, so die AutorInnen, einen Bezug zu außermusikalischen, gesellschaftlichen Erfahrungen, konkret zum Misslingen der bürgerlichen Freiheitsbewegung nach 1789: „Schuberts Musik kommuniziert mit der kollektiven, geistesgeschichtlichen Erfahrung von Zielverfehlung, gibt ihr eine Stimme“ (Wieland/Uhde 2014: 12, kursiv i. O.). Auch Manfred Frank weist auf das Motiv des Zielverlusts hin und widerspricht einer Lesart, die das Werk auf das Sujet der unerwiderten Liebe reduziert: „In der Winterreise ist die Treulosigkeit unmotiviert und nimmt apokalyptische Dimensionen an; sie produziert Mahnbilder und Symptome einer Menschheitsdämmerung, die im Motiv der gebrochenen Treue nur ihren Anknüpfungspunkt finden“ (Frank 1979: 135). Die Krise des zielgerichteten musikalischen Denkens, die Schuberts späte Kompositionen bestimmt, eröffnet indes auch neue Erfahrungen: Stillstand, Kreisen oder Traum sind 173
solche Bereiche, die der Musik zuwachsen. Das Lied Wasserflut, das sechste aus der Winterreise, ist dafür ein Beispiel. Der Text beginnt in distanzierter Haltung: „Manche Trän’ aus meinem Auge ist gefallen in den Schnee.“ So spricht einer, der nicht mehr in seinem Körper wohnt, seine Gefühle nicht mehr ungebrochen ausdrückt, sondern sich dabei zusieht, wie es in ihm weint. Ludwig Stoffels Feststellung, die ersten Zeilen exponierten den Gegensatz von „Wärme und Kälte, Gefühl und Indifferenz“ (Stoffels 1991: 187) kann ich zustimmen, seinem Urteil über die zweite Strophe, sie störe „die Einheit der winterlichen Bilder im Zyklus wie durch eine unmotivierte Antizipation“ (Stoffels 1991: 187) soll hier aber eine alternative Lesart gegenüber gestellt werden: was Stoffels als Fauxpas sieht, verstehe ich als Gegenbild angesichts der Selbstentfremdung. Die Frühlingsbilder haben Entlastungsfunktion und sind ästhetisch stimmig. Die dritte und vierte Strophe intensivieren den Ton noch gegenüber der ersten. Ihr Text wird konkret, er führt in die Erinnerung der verlorenen Liebe hinein, damit aber auch zum Ort der Katastrophe zurück: „Wirst mit ihm die Stadt durchziehen, muntre Straßen ein und aus – fühlst du meine Tränen glühen, da ist meiner Liebsten Haus.“ Es ist, als habe das Erinnern des Glücks auch schutzlos gemacht gegen das Bewusstwerden des Leids. Zu Recht weist Stoffels (1991: 188) auf die Schlusskulmination hin, in der die Ströme des schmelzenden Schnees und der Tränen miteinander vereint sind. Im Unterschied zu Stoffels ist aber auch auf ein statisches Moment im Text hinzuweisen: an der äußeren Situation und ihrer Härte ändert sich nichts, die Frühlingswelt ist lediglich ein Wunschbild. Die Intensivierung, die sich beim Lesen des Texts mitteilt, kommt auch dadurch zustande, dass das Außen still steht, sodass die Worte sich an der Aussichtslosigkeit der Situation steigern. Schuberts Vertonung in zwei Doppelstrophen (1. + 2. Strophe = Doppelstrophe 1, 3. + 4. Strophe = Doppelstrophe 2) entspricht diesem statischen Charakter des Texts ebenso wie das ostinate Rhythmusmotiv der Klavierbegleitung und die regelmäßige Binnengliederung der Strophen in 4 + 4 + (4 + 2) Takte. Zwei Widersprüche prägen die Musik des Lieds: da ist zum einen der Impuls nach vorne, der immer wieder angehalten wird, zum anderen der unvermittelte Wechsel zwischen den Polen des ausdruckslosen Sprechens und des expressiven Ausbruchs, zwischen denen es kein Mittleres gibt. Bereits im ersten Takt fällt die triolische Figur der rechten Hand auf, die in ihrem Fluss auf der „Zwei“ des Takts abgebremst wird und in ein dis absackt. Die linke Hand tritt ebenfalls auf der Stelle. Die Stauung des punktierten Rhythmus bleibt in der Synkope auf der „Zwei“ des Takts stecken. In Takt 3 und 4 überwindet die Musik die Synkope zwar, endet aber ohne rechte Schlusskraft in der Quintlage von e-moll. Schließlich bannt der in den Mittelstimmen nicht
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weniger als dreizehnmal erklingende Ton h die Bewegung fest. Damit ist das Grundthema des Lieds7 – nicht vom Fleck zu kommen – exponiert.
Beim Einsatz der Singstimme nimmt Schubert die Dynamik ins pp zurück, ein Faktum, das Stoffels in seiner sonst so akribischen Analyse nicht behandelt. Wie ist dieses pianissimo zu deuten? In Anbetracht der distanzierten Haltung des Textes ist es plausibel, weniger ein Singen herauszulesen, schon gar nicht Larmoyanz, eher ein nüchternes Sprechen: so ist es. Oder auch: ein Singen wie in Absence, unfähig, die Katastrophe des Verlusts recht zu fassen. In dieses pianissimo non espressivo fährt das Klavier mit der dissonanten Note f hinein (Takt 12). Der Sänger reagiert auf diesen Stich mit dem Aufschrei der Terz f-d, der ebenso abrupt durch die Achtelpause abgeschnitten wird. Die Phrase, die sich daran anschließt, erklingt (obwohl siebenstimmig begleitet) gerade nicht im satten forte, sondern wieder pianissimo, so als ließe der vorangegangene Schock die volle Entspannung nicht zu. Schubert komponiert gerade keine Besänftigung des Schmerzes, sondern verstärkt mit der konventionellen diatonischen Sequenz noch die Trostlosigkeit des Ausdrucks. Zusätzlich irritiert die Reibung von triolischem Rhythmus im Gesang und punktiertem Rhythmus im Klavier, die als eine Art „rhythmische Dissonanz“ das Lied8 durchzieht.
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Schubert, Franz (1828/1979): „Wasserflut“ D. 911/6, Takt 1-4, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IV, Band 4a. Kassel: Bärenreiter. Schubert (1979), Takt 5-14.
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Im Zwischenspiel nimmt das Klavier seinen Anfangsgedanken wieder auf, diesmal aber entfärbt ins pp. Die Musik, so scheint es, ist im Kreis gegangen. Dann aber moduliert Schubert in Takt 17 überraschend nach G-Dur. Der Bann des e-moll scheint gebrochen und die Musik betritt die Region des Traums. Die Schönheit, die der Sänger im wiegenden Rhythmus beschwört, ist aber bedroht, wie der erneute Schock der Generalpause (Takt 22) anzeigt. „Wenn die Gräser sprossen wollen, weht daher ein lauer Wind …“9, meint der Sänger. „Ist das wirklich so?“, fragen die eingeblendeten verminderten Septakkorde im Klavier (Takt 19, 23, 25). Auch Moore (1975: 132) hört die große Spannung, die in diesem pianissimo liegt. Die Kadenz nach G-Dur (Takt 25 f.) klingt mit den banalen Dreiklangsbrechungen des Gesangs, denn auch uneigentlich und das Kippen nach e-moll zerstört vollends die Illusion 9
Schubert (1979), Takt 17-28.
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von Erfüllung; gleichzeitig – so lässt sich Schuberts Vortragsanweisung „Stark“ verstehen – ist dieser Ausbruch in Takt 27 ebenso Revolte gegen einen übermächtigen Zwang, ein Ausbruch allerdings, der ohne jede heroische Attitüde der Gewalt des Verlusts standzuhalten sucht.
Mit dem Klaviernachspiel, das sich pianissimo subito anschließt, endet das Stück so, wie es begann. Lediglich seine letzten beiden Takte sind eine Geste der Ergebung, die den Grundton E zwar erreicht, den Bann, der über der Musik liegt, aber nicht auflöst. Im Lichte dieser Überlegungen erscheint Stoffels abschließendes Urteil problematisch: „Das Gedicht zählt wohl zu den mattesten und spannungslosesten des Zyklus, und auch Schuberts Vertonung kann – womöglich auch deswegen – das kompromißlose Niveau der ,Winterreise‘-Lieder nicht ganz halten“ (Stoffels 1991: 192). Dieser Einschätzung kann ich mich nicht anschließen. Mattigkeit ist das Thema des Stücks! Sowohl das Gedicht als auch die Komposition setzen sich radikal der Erfahrung 177
des Verlusts aus, die sich allerdings erst mitteilt, wenn die Interpretation die „verkapselten Gesten“ des Stücks findet. Sowohl die strukturelle als auch die gestische Analyse helfen also, den Sinnzusammenhang des Stücks zu entfalten. Im Fall der Achsentöne, der expressiven Dynamik oder der Generalpause ermöglicht und inspiriert der strukturelle Blick erst eine gestische Erfahrung, die ihrerseits die zentrale Dimension des Sinnzusammenhangs – Stillstand, Entfremdung und Leere – erschließt. In einem Wechselspiel von analytischem Lesen, gestischer Erfahrung und erneutem Lesen kann Interpretation sich der „apparition“ des Stücks nähern und enthüllt, wenn sie glückt, für Augenblicke einen Aspekt seiner Wahrheit.
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Resümee
Mit seinem Konzept der „wahren Aufführung“ leistet Adorno eine konsequente Verdinglichungskritik, die für die musikalische Praxis fruchtbar werden kann. Zentral ist dabei die Durchdringung der erkenntnistheoretischen Perspektive mit der Erfahrung des Musikers. Auf der Basis der Ästhetischen Theorie kann aus den Fragmenten zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion eine schlüssige Theorie der Interpretation konstruiert werden: Interpretation zeigt sich als eine Praxis, die zwischen den Polen Ratio und Mimesis angesiedelt ist. Sie bedarf der Freiheit des Subjekts zu sich selbst, um des gestischen Aspekts von Musik inne zu werden und muss die Entfremdung von der musikalischen Tradition reflektieren, wenn sie nicht zum affirmativen Ritual erstarren will. Dabei kann sie sich von der Sprachähnlichkeit von Musik inspirieren lassen, ohne dabei die Verschiedenheit beider Medien zu übersehen. So kulminiert die „wahre Aufführung“ in der Erfahrung der „apparition“, die sich nicht auf Formeln bringen lässt. Interpretation ist ein offener Prozess, sie muss sich dem Rätsel des Werks immer wieder aufs Neue aussetzen. Literatur Adorno, Theodor W. (2009): Ästhetik (1958/1959). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1970/1992): Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1993/1994): Beethoven: Philosophie der Musik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1969/1977): Zu Subjekt und Objekt, in: Gesammelte Schriften Band 10.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 741-758. Adorno, Theodor W. (1966/2003): Negative Dialektik. Frankfurt: Suhrkamp.
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Gehörte Dialektik Über den Zusammenhang von Musik, Rezeption und Gesellschaft bei Adorno Martin Niederauer
Musik nimmt in der Theorie Theodor W. Adornos einen prominenten Stellenwert ein. Immerhin befassen sich acht von insgesamt 20 Bänden seiner Gesammelten Schriften ausschließlich mit Musik (GS 12–19). Dominant sind darin seine Untersuchungen von Kompositionen, geringer hingegen fällt seine Aufmerksamkeit für aufführende MusikerInnen aus. Der Rezeption von Musik schenkt Adorno wiederum große Beachtung und setzt sich in mehreren Texten unter verschiedenen Aspekten mit dem Hören als musikalische Praxis auseinander. Seine Abhandlung Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens (1938), die Typen musikalischen Verhaltens (1962: 178–198) wie auch Der getreue Korrepetitor (1963) lassen sich als Primärtexte einer Theorie des Hörens interpretieren. Versucht man diese Texte inhaltlich nach Gemeinsamkeiten zu ordnen, bietet sich in Anlehnung an Max Paddison (1993: 207–213) folgende Strukturierung an. Ausgehend von einer strengen Werkästhetik richtet Adorno sein Interesse primär auf die Frage, inwiefern sich die RezipientInnen im Hören adäquat zu den Anforderungen der Musik verhalten. Entsprechend lassen sich zwei Formen des Hörens bei Adorno unterscheiden. (1) Ein Hören, das den Anforderungen der Musik nicht gerecht wird, das Adorno als „atomistisches“ und „regressives Hören“ betitelt und das er primär mit populärer und leichter Musik wie auch mit Jazz in Verbindung bringt. (2) Ein Hören, das den Anforderungen der Musik gerecht wird, das er als „strukturelles Hören“ bezeichnet und primär mit neuer Musik in Verbindung bringt. Diese Einteilung, die als rein analytische zu verstehen ist und keine empirische Entsprechung beansprucht, möchte ich meinem Artikel zugrunde legen, darauf aufbauend jedoch meinen Schwerpunkt verlagern. Schließlich meint das Hören von Musik für Adorno mehr als nur deren konzentrierte Wahrnehmung. Sein Interesse geht deutlich über die Frage nach dem adäquaten Verhältnis der HörerInnen zur Musik hinaus und richtet sich auch darauf, was die musikalische Praxis des Hörens über die Hörenden und die gesellschaftlichen Verhältnisse aussagt. In den genannten Primärtexten fokussiert er entsprechend alternierend eine ästhetische, sozialpsychologische, soziologische wie 180
auch pädagogische Ebene des Hörens. Daran anknüpfend lässt sich eine Verbindung zwischen seiner Hörtheorie und seinem Gesamtwerk herstellen. Denn sucht man einen gemeinsamen Nenner, auf den man Adornos Schriften ungeachtet ihrer Thematik bringen kann, drängt sich eine immer wiederkehrende Verhältnisbestimmung auf: die Dialektik von Herrschaft und Befreiung. Hierzu weichen seine musiksoziologischen Schriften keineswegs ab. Im Gegenteil, auch diese können als Versuche interpretiert werden, „den dialektischen Umschlag der Aufklärung in die Verdinglichung des Subjekts im gegenwärtigen Musikleben“ herauszuarbeiten und gleichzeitig „nach Auswegen zur Rettung des Subjektiven in der Musik zu suchen“ (Meine 2006: 137). Davon ausgehend möchte ich eine Lesart von Adornos Hörtheorie entwickeln, die die Dialektik von Herrschaft und Befreiung zentriert und die darüber den Schwerpunkt von der Adäquanz auf den Zusammenhang von Musik, Rezeption und Gesellschaft verschiebt. Um mein Vorgehen zu strukturieren, werde ich mit der eben getroffenen Einteilung meinen Artikel in zwei Hauptkapitel gliedern und mich darin jeweils an drei Leitfragen orientieren. Zuerst stelle ich die Frage nach der Adäquanz und skizziere (ad 1) atomistisches beziehungsweise regressives und (ad 2) strukturelles Hören. Um dies zu vertiefen und um zu beantworten, warum das jeweilige Hören der Musik (nicht) gerecht werden kann, frage ich anschließend danach, durch welche Denkbewegung sich das jeweilige Hören charakterisiert. Dabei werde ich (ad 1) aufzeigen, dass atomistischem und regressivem Hören ein waren- und verwaltungsförmiges Denken zugrunde liegt und (ad 2) explizieren, dass strukturelles Hören dialektisches Denken voraussetzt. Dem folgend will ich auf eine dritte Leitfrage übergehen, die lautet: Wie ist es im Hören um das Verhältnis zu gesellschaftlicher Herrschaft und den Möglichkeiten ihrer Reflexion bestellt? Diesbezüglich stelle ich (ad 1) atomistisches und regressives Hören als eine praktische Durchsetzung gesellschaftlicher Herrschaft heraus und kontrastiere dies (ad 2) mit strukturellem Hören als Chance gesellschaftliche Herrschaft zu reflektieren. Drei Folgerungen zum strukturellen Hören werden den Artikel abschließen und nochmals den Kernpunkten der hier entwickelten Lesart Ausdruck verleihen.
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Regressives und atomistisches Hören: waren- und verwaltungsförmiges Denken als Durchsetzung gesellschaftlicher Herrschaft
Adornos Begriffe des atomistischen und regressiven Hörens sind unweigerlich miteinander verbunden. Dennoch lassen sie sich hinsichtlich unterschiedlicher Konnotationen in der Begriffsverwendung vorerst analytisch differenzieren. Der Begriff des atomistischen Hörens zielt eher auf musikali181
sche Aspekte ab. Atomistisches Hören meint, dass die RezipientInnen primär auf Wohlklingendes und Eingängiges fixiert sind und sich daraufhin unreflektiert im „Reiz des Augenblicks“ verlieren (Adorno 1965: 297). Die HörerInnen stellen affektiv auf unmittelbar Erfassbares ab, das ein schnelles Amüsement an der Musik verspricht. Die Musik wird dadurch auf leicht wiedererkennbare Stellen reduziert, die unvermittelt im Verhältnis zum Ganzen stehen (vgl. Adorno 1965: 299). Der Begriff des regressiven Hörens zielt hingegen stärker auf die gesellschaftliche Verfassung der HörerInnen ab. Denn Adorno bezeichnet damit ein Hören „Regredierter, auf infantiler Stufe Festgehaltener. Die hörenden Subjekte büßen mit der Freiheit der Wahl und der Verantwortung nicht bloß die Fähigkeit zur bewußten Erkenntnis von Musik ein, […] sondern trotzig negieren sie die Möglichkeit solcher Erkenntnis überhaupt.“ (Adorno 1938: 34) Für Adorno drückt sich im regressiven Hören ein gesellschaftlicher Zustand aus, in dem Menschen, ähnlich wie Kinder, fügsam sind. Ihr musikalisches Verhalten interpretiert er als infantil, da es vom Wunsch nach ständiger Wiederholung des Liebgewonnenen sowie damit verbunden zugleich von der Angst vor dem Unbekannten geprägt ist. Präsent ist somit einerseits der Wunsch nach Stabilität im Status quo. Darin wird andererseits aber auch danach Ausschau gehalten, wo Musik aufgrund koloristischer Effekte Individualität und Spannung verspricht (vgl. Jay 1981: 228). Atomistischem und regressivem Hören ist daraufhin in erster Linie gemein, dass sich beides nicht adäquat zur Musik verhält. Wobei hier aber auch auf ein Defizit in Adornos Musikverständnis hinzuweisen ist. Denn bezüglich der Musik, die Adorno mit atomistischem und regressivem Hören verbindet (Jazz, populäre oder leichte Musik), fehlt es ihm an differenzierter Betrachtung. Wolfgang Sandner zufolge zerfalle „Adornos Vorstellung von Popularmusik […] in eine bunte Vielfalt einzelner Teile, die als Unterhaltungsmusik, Schlager, Jazz, leichte Musik oder Trivialmusik […] in einer willkürlich anmutenden Austauschbarkeit verwendet werden“ (Sandner 1979: 125). Die Unterscheidung zwischen atomistischem und regressivem Hören lässt sich zudem aufheben, wenn man die Frage nach der Denkbewegung und dem Verhältnis zu gesellschaftlicher Herrschaft einbezieht. Diesbezüglich berücksichtigt Adorno, inwiefern die Auswirkungen kapitalistischer Warenproduktion auch am musikalischen Verhalten der RezipientInnen abzulesen sind beziehungsweise inwiefern das musikalische Verhalten selbst Ausdruck kapitalistischer Warenproduktion ist. In Anlehnung an Marx’ Bestimmung des Fetischcharakters der Ware geht er davon aus, dass die RezipientInnen hauptsächlich auf das fixiert sind, was der Musik durch die Warenproduktion angedichtet wird, aber ihr selbst nicht eigen ist. So bringt er das Beispiel, dass das Interesse von KonzertbesucherInnen weniger auf die Musik, als vielmehr auf den Erfolg des Konzerts abzielt, wobei es wiederum die KonzertbesucherInnen 182
sind, die diesen Erfolg erst durch den Kauf der Karte ermöglichen, diesen Aspekt aber zugleich nicht erkennen. Ähnlich lässt sich ein Vergleich zu SchallplattensammlerInnen ziehen, die eine Schallplatte vielleicht aufgrund ihrer Pressnummer als Rarität schätzen, die Musik darauf jedoch als zweitranging erachten. Entsprechend stellen die RezipientInnen keine Beziehung zur Musik her, sondern zu einem gesellschaftlich produzierten Tauschwert, der anstelle der Musik konsumiert wird. Der Tauschwert wird für die RezipientInnen so zum primär Relevanten und stiftet „den Schein des Unmittelbaren“ (Adorno 1938: 25), lenkt im Grunde jedoch von der Musik ab. Eng damit verbunden führt Adorno an anderer Stelle an, dass die RezipientInnen beim Hören von Musik ähnlich einer ökonomischen Bilanzierung nach Effizienzkriterien verfahren: sie wiegen individuelle Investition, wie beispielsweise Zeitaufwand, Aufmerksamkeit und Konzentration, gegen unmittelbaren Nutzen ab, wie beispielsweise Lustgewinn und Befriedigung. Darüber etablieren die HörerInnen eine Hierarchie, indem sie sich über die Musik stellen und gegebenenfalls eine Würdigung gemäß der Frage durchführen, inwiefern die Musik den eigenen Bedürfnissen, Erwartungen und Interessen entspricht. Solch eine Würdigung drückt für Adorno ein warenförmiges Verständnis von Musik aus und gibt damit zugleich Aufschluss über die HörerInnen: „Würdigung ist Warendenken, das Komplement zur Verdinglichung der zur Betrachtung aufgebahrten Kulturgüter ebenso wie des verdinglichten Bewußtseins derer, denen sie offeriert werden.“ (Adorno 1963: 164) Adornos Thesen mögen schnell als verkopfte Lustfeindlichkeit erscheinen, die eine asketische Konzentration auf die Musik präferiert und jede Leidenschaft unter dem Intellekt begräbt. Diese Haltung nimmt Adorno allerdings nicht ein. Schließlich stellt Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen für ihn auch einen Bereich dar, in dem einer emotionalen Regung nicht direkt das Korrektiv gesellschaftlicher Verhaltensregeln entgegenschlägt. Wenngleich sich darin auch die dialektische Kehrseite von Kunst als einem abgesonderten „Naturschutzpark“ zeige, erlaube sie dennoch, „überhaupt Leidenschaften zu empfinden, ohne sie verdrängen zu müssen, aber zugleich ohne daß diese Affekte dabei für ihr reales Verhalten eine Konsequenz hätten“ (Adorno 1958/59: 293). Aber selbst diese Möglichkeit sieht Adorno beispielsweise von der Unterhaltungsmusik zwar propagiert, aber nicht realisiert. Im Gegenteil, das musikalische Bewusstsein der Massen definiere sich eher durch eine „Genußfeindschaft im Genuß“ (Adorno 1938: 19), wie er mit folgendem Vergleich zu illustrieren versucht: „Aldous Huxley hat in einem Essay die Frage aufgeworfen, wer in einem Amüsierlokal sich eigentlich noch amüsiere. Mit gleichem Recht ließe sich fragen, wen die Unterhaltungsmusik noch unterhalte. Viel eher scheint sie dem Verstummen
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der Menschen, dem Absterben der Sprache als Ausdruck, der Unfähigkeit, sich überhaupt mitzuteilen, komplementär.“ (Adorno 1938: 15)
Unterhaltungsmusik wie auch deren Rezeption erlauben demnach keine Auszeit von Herrschaft, sondern dienen ihrer Verhärtung. Unterhaltungsmusik und deren atomistische oder regressive Rezeption ergänzen sich zu einem instrumentellen Verständnis der HörerInnen von sich selbst, von anderen und auch von Musik. Gleichzeitig leitet diese Musik aufgrund ihrer immer wiederkehrenden Schemata und ihres stereotypen Aufbaus jedoch nicht die Möglichkeit zur Reflexion dieses instrumentellen Verständnisses ein; eher gibt sie die Kategorien der Instrumentalisierung vor. Das Aufeinandertreffen von Musik und Rezeption ist von der Herstellung einer absoluten Identität zwischen beiden Instanzen beherrscht, die sich dadurch in ihrem Zustand gegenseitig bestärken. Darin verbirgt sich ein wesentlicher Punkt von Entsubjektivierung, wie sie unter Kulturindustrie stattfindet; oder anders ausgedrückt, ein wesentlicher Aspekt von Verdinglichung, wie sie im Kapitalismus stattfindet. Der Chance auf Herausbildung mündiger Subjekte läuft das Identitätsschema der kulturindustriellen Produktionen zuwider. Der Verwaltungsförmigkeit, die Heinz Steinert (2007: 128–133) neben der Warenförmigkeit als ein Bestimmungsstück von Kulturindustrie ausweist, fällt nicht nur die Musik zum Opfer, die an Maßstäben gemessen wird, die ihr selbst nicht eigen sind. Auch im Hören wird verwaltungsförmiges Denken immerfort trainiert. Eine Reflexion über Musik und das subjektive Verhalten zu ihr findet unter dem Druck des Konformismus und der Affirmation zum Vertrauten nicht statt. Hingegen dominiert ein Schutz vor der Irritation, die die Hörgewohnheiten ins Wanken bringen könnte. Was nicht mit den geltenden Rezeptionsschablonen erfasst und direkt nachvollzogen werden kann, fällt dem Argwohn und der Missachtung zum Opfer oder wird um sein Besonderes gebracht, indem es in eine verwaltbare Kategorie gepresst wird. In dieser Form des Hörens erfährt gesellschaftliche Herrschaft, Adorno zufolge, eine praktische Durchsetzung. Oder um mit seinen Worten zu sprechen: „Die Liquidierung des Individuums ist die eigentliche Signatur des neuen musikalischen Zustands.“ (Adorno 1938: 21) Aber ist es nicht übertrieben, die Durchsetzung gesellschaftlicher Herrschaft in bestimmten Formen des Hörens von Musik zu erkennen? Und stellt Adorno nicht in bildungsbürgerlicher Manier Imperative auf, welche Musik auf welche Weise zu hören sei? Im Vergleich zwischen Walter Benjamins wohlwollender Betrachtung der technisierten Massenkunst und Adornos Kulturindustriethesen merkt Albrecht Wellmer an, dass leichte Musik für Adorno „nur noch Ideologie, Kulturmüll, Produkt der Kulturindustrie“ sei (Wellmer 1985: 41). Adornos Kritik der Kulturindustrie erachtet er in Teilen als legitim, wenngleich sich darin „ein traditionalistisches Vorurteil“ zeige 184
(Wellmer 1985: 41). Anders als Benjamin begehe Adorno einen Kategorienfehler, da er unverhältnismäßige Standards an die Massenkunst lege. Aus theoretisch anderer Richtung führt Hans Joas an, Kritische Theorie habe die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft statt mit einer soziologischen Handlungstheorie durch eine Kulturtheorie erklären wollen. Die Hochkultur werde zur Hintergrundfolie der Analyse und ebenso finde eine Verlagerung auf das autonome Kunstwerk statt. Adorno habe „in allem nur die Verdammung der Rezipienten zu passiv-reflexionslosen ‚Lurchen‘ (Adorno) und den Vorschein des heraufziehenden Totalitarismus“ gesehen (Joas 1992: 109). Dass Kritik an Adornos Umgang mit populärer und leichter Musik angebracht ist, lässt auch Paddison nicht unerwähnt. Er historisiert jedoch die Entstehung der Kritischen Theorie, der Kulturindustriethesen sowie der relevanten Texte und unterstreicht, dass diese in Zeiten der faschistischen Diktaturen und des Nationalsozialismus verfasst worden seien. „Against this historical background it is not difficult to understand the extreme importance Adorno attached to the necessity for revealing the levels at which ideology operates within art. It is also within this context that hints can be found which go some way towards explaining Adorno’s dogmatic and inflexible attitude towards popular music.“ (Paddison 1982: 209) Zudem würden sich Missverständnisse in der Rezeption von Adornos Texten vor allem dann einstellen, wenn man nicht mit seinen übertriebenen Formulierungen sowie den aufgemachten Widersprüchen und Gegensätzen zurechtkomme, wobei genau darin der zentrale Aspekt seiner Vorgehensweise liege: „the revealing of a fundamental contradiction, and the formulation of its opposite poles by means of exaggeration“ (Paddison 1982: 203). Eine Adornorezeption, die seine Dialektik nicht mitvollzieht, die Gegensätze dichotom auffasst oder die Übertreibung der Unsachlichkeit beschuldigt, endet folglich in einer Irritation. Die angeführten Rezeptionslinien inklusive dem Vorwurf, Adorno würde bildungsbürgerlich argumentieren, sind jedoch wieder seinen Schriften gegenüberzustellen. Denn gerade diesbezüglich kann nicht ausgeblendet werden, dass Adorno eine auf Bildungsdemonstration basierende Rezeption von Musik zum Gegenstand seiner Kritik macht. So ist er der Überzeugung, dass literarisch angeeignetes Wissen über den musikalischen Aufbau von Werken, deren Geschichte oder biografische Details über das Leben von KomponistInnen weniger der Hörkompetenz als vielmehr der sozialen Positionierung der RezipientInnen helfe. Exemplarisch führt er dies am sogenannten „Bildungshörer“ (Adorno 1962: 184) aus, der eine Erkenntnis an Musik durch den kenntnisreichen Umgang mit Musik substituiere. Er erhebe Musik zum Kulturgut, versuche sich elitär von der Masse abzuheben und sei auf das kulturelle Gespräch aus, in dem man sich gegenseitig die angeeigneten Fakten präsentiere, sich also als eloquent hervortun kann. Was Adorno am „Bildungshörer“ illustriert, lässt sich als eine auf Halb185
bildung basierende Rezeption interpretieren, die durch eine doppelte Autoritätsgebundenheit charakterisiert ist. In solch einer Rezeption erfolgt erstens der Versuch einer Musealisierung von ausgewählten Werken oder KomponistInnen der vermeintlichen Hochkultur aufgrund ihrer angeblich unfragwürdigen Stellung in der Musikgeschichte. Dadurch erhalten diese Werke und KomponistInnen den Status einer Autorität, die man als kultivierte Person zu kennen und zu achten hat. Diese Achtung von ausgewählten Werken und KomponistInnen ist jedoch nicht das Ergebnis eines Musikverstehens, sondern die Folge einer zweiten Autoritätsgebundenheit: dem Glauben an die Weisheit und die Urteile von Kultureliten wie beispielsweise angesehene MusikkritikerInnen oder AutorInnen von (populär)wissenschaftlichen Büchern. Ihnen kommt der Status von AufklärerInnen zu, da sie aufgrund einer (unterstellten oder tatsächlichen) Expertise in einem Wissensgefälle über den RezipientInnen stehen und dadurch eine Deutungsmacht erhalten. Ihnen steht es zu, die Musik zu erläutern und zu bewerten, eine sozialhistorische oder politische Kontextualisierung zu liefern und Werke wie auch KomponistInnen als ‚ausgewählt‘ herauszustellen beziehungsweise als solche zu legitimieren. Damit leisten sie für Adorno aber keine Aufklärung über Musik. Solche Literatur verhindert für ihn eher die Chance, aufgrund eigenständiger geistiger Arbeit eine Erfahrung an Musik zu machen. Hingegen wird eine ableitungslogische Erklärung der Musik offeriert. Das heißt, Faktenwissen und fertige Werturteile, die von einer Kulturelite popularisiert werden, bilden fixe Ausgangspunkte einer deduktiv verfahrenden Rezeption, in der die Musik im Hören dem angepasst wird, was bereits über sie gewusst wird (vgl. Adorno 1959: 113 f.). Dennoch lehnt Adorno weder Massenmedien noch den Versuch einer Erklärung von Musik kategorisch ab. Im Gegenteil, er nimmt die falsche Nutzung von Medien in die Kritik und denkt weiter, wohin diese führt: „Vornehmtun gegen die Massenmedien ist läppisch; einzig indem man deren Funktion verändert, nicht durch den Rückzug in die gesellschaftliche Ohnmacht läßt sich das geistige Monopol der Kulturindustrie brechen.“ (Adorno 1957: 49) Folglich geht es ihm um eine Medienanwendung, die einer Erkenntnis an Musik dienlich ist, anstatt den HörerInnen bevormundend anzugeben, welche Musik ihrer sozialen Position entspricht und wie sie sich als gebildet hervortun können. Seinem Buch Der getreue Korrepetitor, in dem er an Notenauszügen (u. a. von Arnold Schönberg und Alban Berg) erklärt, wie eine adäquate Rezeption beschaffen sein könnte, wollte er eine Schallplatte mit Musikbeispielen beilegen lassen, da ein Hörverstehen „das lebendige Klangbild der Musik“ brauche (Adorno 1963: 160). Es scheiterte an urheberrechtlichen Bestimmungen. Auch das Radio erachtet er als geeignetes Medium, um eine Hörschulung allgemein zugänglich zu machen. Das lässt sich beispielhaft an seinen Überlegungen zum „running comment“ nachvollzie186
hen, worin die Absicht einer Demokratisierung eigenständiger ästhetisch-reflexiver Urteilsfähigkeit via medientechnische Didaktik durchklingt. Dem Verlauf der Musik, so Adorno, könnte ein simultaner Kommentar beigestellt werden, der eine analytische Einsicht in das Gehörte ermögliche: „das Publikum, auf den strukturellen Sinn des Phänomens im gleichen Augenblick aufmerksam gemacht, in dem es vorüberzieht, könnte der Struktur spontan sich versichern, anstatt ungeprüft jenen Expektorationen glauben zu müssen, die klingen, als wären sie auf Leute zugeschnitten, die lieber über Musik reden hören als diese selbst“ (Adorno 1963: 399). Dieser Vorschlag tut der adornoschen Werkästhetik sicher keinen Abbruch. Seine Auffassung von Musik bleibt kompositionszentriert. Dennoch meint das Verstehen von Musik für Adorno nicht nur, die gedruckte Partitur lesen und analysieren zu können (vgl. Steinert 2003: 120–124). Verstehen setzt die klangliche Realisierung der Musik und ein Hören voraus, das mehr als nur das bereits Gewusste und das von außen dem Werk Oktroyierte wahrnimmt. Im Mittelpunkt seiner Hörtheorie steht eine Erkenntnis an Musik durch strukturelles Hören; oder wie ich aufzeigen möchte, eine Möglichkeit zur Reflexion gesellschaftlicher Herrschaft durch dialektisches Denken.
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Strukturelles Hören: dialektisches Denken als Reflexion gesellschaftlicher Herrschaft
Wie einleitend bereits angedeutet, führt Adorno sein Verständnis einer adäquaten Rezeption am Begriff des strukturellen Hörens aus, den er im Zusammenhang mit neuer Musik entwickelt. In Abgrenzung zum atomistischen und regressiven Hören ist strukturelles Hören nicht auf eingängige Melodien, eine Würdigung oder ein kultiviertes Wiedererkennen von Stücken ausgerichtet. Strukturelles Hören ist darauf angelegt, die werkimmanente Logik zu erkennen, also eine Komposition „als sinnvolles Ganzes“ (Adorno 1965: 297) wahrzunehmen und darüber der Musik gerecht zu werden. Das verlangt einerseits das Identifizieren von distinkten Einzelmomenten wie zugleich deren gekonnte Differenzierung. Von den HörerInnen wird verlangt, die vertikalen Vorgänge im Werk zu fixieren und beispielsweise darauf zu achten, wie einzelne Töne im gleichzeitigen Erklingen zueinander im Verhältnis stehen, was Adorno das „Auseinanderhören des Simultanen“ nennt (Adorno 1963: 204). Andererseits setzt es zeitlich gesehen die Fähigkeit voraus, das Werden und Gewordene des Werkes spontan im Hören mitzuvollziehen und sich darüber seiner Struktur zu versichern. Aufgrund der Dichte neuer Musik, die sie im Vergleich zur alten durch „ein unendliches Maß an Kleinarbeit“ (Adorno 1963: 203) und Relationen diverser Dimensionen und Schichten erhalte, müsse man sich „eines akustischen Vergrößerungsglases, 187
um nicht zu sagen Mikroskops bedienen, um darüber nicht in Verwirrung zu geraten“ (Adorno 1963: 203). Mit diesen Anforderungen weist strukturelles Hören eine analytische Ebene auf, die absolute Konzentration auf die Musik verlangt. Auf dieser Ebene kann strukturelles Hören als eine Arbeit am Werk interpretiert werden, die eine Erkenntnis über die musikalischen Zusammenhänge zum Ziel hat. Idealtypisch illustriert Adorno dieses musikalische Verhalten am sogenannten „Experten“, „dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. Wer etwa, zum erstenmal mit einem aufgelösten und handfester architektonischer Stützen entratenden Stück wie dem zweiten Satz von Weberns Streichtrio konfrontiert, dessen Formteile zu nennen weiß, der würde, fürs erste, diesem Typus genügen.“ (Adorno 1962: 182)
Daran zeigt sich einerseits die enge Verknüpfung zwischen strukturellem Hören und neuer Musik. Andererseits deutet sich hier (sowie bei der Lektüre von Der getreue Korrepetitor) aber auch Adornos enges Verständnis von neuer Musik an, die sich für ihn nahezu nur durch die Kompositionen von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern bestimmt. Ebenso erweckt dieses Zitat den Eindruck, Adorno gehe es um eine vermeintliche Einseitigkeit in der Werk-Rezeption-Beziehung zu Gunsten des Werkes. Habe ich im regressiven und atomistischen Hören eine Hierarchisierung in der Werk-Rezeption-Beziehung ausgemacht, in der sich die HörerInnen würdigend über das Werk stellen, scheint es hier, als platziere Adorno das Werk als übergeordnete Instanz und drehe damit die Hierarchie um. Seine Formulierungen zum „Experten“ lassen auf den ersten Blick zudem ein elitäres Verständnis von adäquater Rezeption vermuten, der sicher nur die allerwenigsten HörerInnen nahekommen. Aber auch Adorno wurden musikanalytische Mängel nachgewiesen. Beispielsweise entdeckt Diether de la Motte Unschlüssigkeiten in Adornos Werkanalysen, schätzt jedoch seine Hörkultur, die es ihm ermöglicht habe, seine entscheidenden Funde „im Hören“ (de la Motte 1979: 62) zu machen und sein Vermögen, „die künstlerische Essenz von Musik beim Namen zu nennen“ (de la Motte 1979: 62). Paddison merkt den mitunter skizzenhaften Charakter und die Ungeduld gegenüber technisch-analytischen Zugängen in Adornos Musikanalysen an. Wenngleich Adorno oft den Sinn der Musik erfassen würde, hätten seine Analysen „a rather ad hoc and empirical character very much at odds with the general tenor of his work overall“ (Paddison 1993: 170; Hervorh. i. Orig.). Für Hellmut Federhofer werden Adornos Musikanalysen den selbst gesetzten Forderungen nicht gerecht. Adornos Bemühen, Musik und Philosophie zusammenzuführen, scheitere aufgrund „der kläglichen Ergebnisse seiner Analysen“ (Federhofer 2004: 312). Bei genauerer Be188
trachtung zeigt sich jedoch, dass die Kritiken von de la Motte, Paddison und Federhofer allesamt auf die Adäquanz bezogen sind. Berücksichtigt man jedoch die Frage nach der Denkbewegung, die eine adäquate Rezeption auszeichnet, lässt sich erkennen, dass es Adorno um mehr geht und die analytische Ebene des strukturellen Hörens eine grundlegende Erweiterung erfährt. Hierfür ist vorerst auf Adornos Ausgangspunkt für sein Verständnis von adäquatem Hören hinzuweisen. Grundlage ist die Annahme, dass jedes Werk seine eigenen Kategorien entwirft, von sich aus eine Singularität beansprucht und sich darüber jeder genreorientierten Vergleichbarkeit entzieht. Dem folgend verfährt die Rezeption nie losgelöst vom einzelnen Werk nach methodisch festgelegten Schritten, sondern mit einer immanenten Analyse (vgl. Adorno 1970: 268–270). Diese hat den Anspruch, „alles an Strukturbeziehungen“ und „Sinnesimplikaten“ (Adorno 1965/66: 125) aus dem Werk herauszuarbeiten, um sich darüber seiner Vielschichtigkeit und seiner immanenten Konstellationen zu versichern. Anstatt das Werk an externen Maßstäben zu messen, die ihm nicht eigen sind, oder ihm Kategorien zuzuordnen, die ihm äußerlich generiert wurden, werden diese aus dem Werk heraus entwickelt und wird es so auch auf seine inhaltliche Stimmigkeit überprüft; sprich, inwiefern es den selbst gesetzten Ansprüchen gerecht wird. Damit geht die Chance einher, selbstständig eine Erfahrung am Werk zu machen, anstatt auf der Grundlage prominenter Werturteile von Kultureliten deduktiv verfahren zu müssen. Gleichzeitig führt Adorno an, dass ein blinder Glaube an die konsequente Durchführbarkeit einer immanenten Analyse in die Verblendung übergehen kann. Selbst im Versuch, die Gehalte des Werkes nur aus diesem selbst herauszuarbeiten, muss man Wissen und externe Maßstäbe einfließen lassen und kann weder die eigenen Begriffe noch den Gedanken an das Allgemeine vollends ausblenden – ohne jedoch das Allgemeine als zwingend Übergeordnetes zu denken, von dem ausgehend das Werk ableitend erschlossen wird. So formuliert Adorno in der Ästhetischen Theorie: „Wohl fällt keiner Subsumtion der ästhetische Gehalt zu, aber ohne subsumierende Mittel wäre auch keiner zu denken“ (Adorno 1970: 269). Übertragen auf adäquates Hören lässt sich mit Adorno konkretisieren, dass musikalisch zu sein nicht heiße, „das Vernommene unter seinem Oberbegriff zu subsumieren; nicht bloß anzugeben vermögen, welchen Ort Details in dem logisch übergeordneten Schema haben, sondern die Entfaltung des Erklingenden in ihrer Notwendigkeit mit den Ohren denken. Das Ideal von Struktur wie von strukturellem Hören ist das der notwendigen Entfaltung von Musik aus dem Einzelnen zum Ganzen, das seinerseits erst das Einzelne bestimmt.“ (Adorno 1963: 184)
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Adäquate Rezeption orientiert sich somit am Ideal der immanenten Analyse und nimmt punktuell bewusst ein transzendentes Komplement hinzu (vgl. Mende 2013). Ähnlich schildert Adorno seinen Studierenden in einer Vorlesung über Ästhetik, wie sich eine adäquate Rezeption gestalten könnte und betont: „daß man jene Verpflichtung, die […] das Kunstwerk selber in jedem seiner Augenblicke auf sich nimmt, auch als Hörer auf sich nimmt […] und so konzentriert dem Werk gegenübersteht, daß man fähig ist, von sich aus jene Synthesis, jene Vereinigung der auseinanderweisenden und doch miteinander verbundenen Momente des Kunstwerks vorzunehmen, die im Kunstwerk selber ebenfalls vollzogen wird. Denn diese Synthesis […] ist ja eine geistige Synthesis. Die Momente bleiben als solche im Kunstwerk stets doch getrennt, und nur soviel können Sie von dem Kunstwerk als einer geistigen Einheit, als einem Sinnzusammenhang, als einer Struktur wahrnehmen, wie Sie Ihrerseits dem Kunstwerk gegenüber an synthetisierender Kraft mitbringen“ (Adorno 1958/59: 295; vgl. Adorno 1963: 200, 220, 242 f.).
Angesichts dieser Erklärung, dem Modell der immanenten Analyse und den Merkmalen strukturellen Hörens drängt sich die Interpretation auf, dass adäquate Rezeption dialektisches Denken voraussetzt. Dabei taucht jedoch zugleich eine Irritation auf. Schließlich stellt Adorno sowohl in der zitierten Vorlesung als auch in seiner Erklärung des strukturellen Hörens in Kleine Häresie (vgl. Adorno 1965: 297) wie auch in Der getreue Korrepetitor (vgl. Adorno 1963: 243, 245) auf den Begriff der „Synthesis“ ab, gegen den er sonst „die schwersten Vorbehalte“ (Adorno 1965/66: 49) hegt und auch die klappernde Mühle von These-Antithese-Synthese ablehnt (vgl. Adorno 1958/59: 38). Adornos Dialektik zeichnet sich Jürgen Ritsert (2014: 86 f.) zufolge in der Regel durch die logische Elementarfigur der strikten Antinomie aus: zwei Momente stehen sich via Negation in einem Ausschlussverhältnis gegenüber, enthalten sich gegenseitig als Konstituenten und sind darüber mutuell vermittelt; eine Vermittlung der Gegensätze in sich beziehungsweise eine Vermittlung durch die Extreme hindurch. Stefan Müller (2011: 93) ergänzt, dass es nicht die Konzeption von Dialektik bei Adorno gibt und sich bei ihm ebenso polare wie auch kontradiktorische Verhältnisbestimmungen als dialektisch erweisen. Dialektisches Denken, so zeigt sich daran, soll keine vorgegebene Struktur einhalten (vgl. Adorno 1958: 75 ff., 274 f.), sondern Erkenntnis am Gegenstand ermöglichen und ist damit auch pragmatisch motiviert: Die Bewegungen, die dialektisches Denken vollzieht, orientieren sich an den Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes und dem damit verbundenen Erkenntnisinteresse. Entsprechend wählt Adorno bezüglich der adäquaten Rezeption ein weites Verständnis von Dialektik und lokalisiert darin eine doppelte Synthese. 190
Einmal eine „objektiv[e] Synthesis“ (Adorno 1965: 297) im Werk, in der die auseinanderweisenden Momente sich ungeachtet ihrer distinkten Abgrenzung oder mitunter auch gegenseitigen Ausschließung zu einem logischen Ganzen fügen können. Diese Synthese ist aber nicht nur objektiv gedacht. Denn sie braucht eine subjektive Synthese auf Seiten der Hörenden; sprich: eine Denkbewegung, die die auseinanderweisenden Momente trotz ihrer Divergenzen als ein sinnvolles Ganzes begreift. Entsprechend ist diese Synthese wiederum nicht nur subjektiv, da sie ihre Anhaltspunkte im Werk findet, also eine Verankerung im rezipierten Objekt hat. Beide Synthesen glätten weder die Unterschiede in den auseinanderweisenden Momenten, noch schließen sie in einer vertikalen Figur den Denkprozess hierarchisch ab. Vielmehr vereinigen sie die auseinanderweisenden Momente, ohne ihre Nichtidentität unter dem Identitätszwang zu negieren und ihnen dadurch ihre Eigenständigkeit abzusprechen. Die Interpretation von adäquater Rezeption als dialektisches Denken findet auch eine Bestätigung, wenn man berücksichtigt, dass die Rezeption von Kunstwerken für Adorno auf „die immanente Erkenntnis der Sache selber“ abzielt (Adorno 1958/59: 301) und auch strukturelles Hören ohne illusionäres Beiwerk die Insistenz auf die „Sache“ voraussetzt (Adorno 1963: 203). Ritsert folgend stellt die „Sache selber“ bei Adorno ein Sinnbild dialektischer Denkbewegung dar und ist nicht mit einer unmittelbaren Wesensanschau eines mystisch in den Werken verborgenen Kerns zu verwechseln. Vielmehr ließe sich „die Sache selbst“ nur „durch ein Denken in Konstellationen erfassen“ (Ritsert 2011: 83), das sich für die nichtidentischen Momente sensibilisiere, sich dabei aber auch immer über die Grenzen seiner Urteile bewusst sei und kontinuierlich zu anderen möglichen Urteilen gelange, ohne unbedingt einen abschließenden Begriff anzustreben. Wie sich daran andeutet, steht Prozessualität im Mittelpunkt einer adäquaten Rezeption – und zwar ebenso in doppelter Form. Einerseits lässt sich mit Adorno eine objektive Prozessualität in den Werken ausmachen, da diese für ihn in sich prozessual verfasst sind. Sie können als Austragungsort von Antagonismen begriffen werden, die sich in einem dynamischen Verhältnis zueinander befinden. Formulierungen wie solche über die „Vereinigung der auseinanderweisenden und doch miteinander verbundenen Momente“ (Adorno 1958/59: 295), dass Kunstwerke unter konzentrierter Rezeption „lebendig werden“ (Adorno 1970: 262) oder dass Gesamtklang und Einzeltöne in Spannung zueinander stehen (vgl. Adorno 1963: 205), wecken Assoziationen zu einem nach außen abgeschlossenen Werk, dem permanente Bewegungen einzelner Momente immanent sind. Andererseits muss sich diese Prozessualität aber auch in der Rezeption wiederfinden, unter deren Konzentration sich die Werke schließlich erst verlebendigen. Die HörerInnen sollen also das bewegte Verhältnis zwischen den Einzelmomenten durch ein 191
Denken in Konstellationen aufgreifen und darüber die Dynamik des Werkes entbinden. Dem ist vorausgesetzt, dass sie sich sukzessive in die Musik hineinarbeiten und ihnen ein „In der Musik Sein“ glückt (Adorno 1963: 188). Ein Hören, das darauf fixiert ist, musterhaft Formteile zu identifizieren und der Musik daraufhin tendenziell äußerlich bleibt, indem es ihr Kategorien aufzwingt – so lässt sich im Umkehrschluss interpretieren – würde hingegen statisch operieren. Das deutet jedoch auch darauf hin, dass sich die HörerInnen nicht nur objektzentriert auf eine analytische Ebene beziehen können. Adäquate Rezeption benötigt auch ein potenzielles Korrektiv, das die eigene Position zum Werk eben nicht statisch werden lässt, sondern eine Perspektivenvielfalt offeriert und sich darüber der Musik öffnet. Um der Musik gerecht zu werden, können die HörerInnen folglich Möglichkeiten entwickeln, die eigenen blinden Flecken zu identifizieren, eingefahrene Denk- und Deutungsmuster zu unterlaufen und der Versuchung einer schnellen Deduktion auf Grundlage des bereits Gewussten zu widerstehen. Strukturelles Hören bedarf einer Erkenntnis über sich selbst mithilfe von Reflexivität. Und auch diesbezüglich ist ein Doppelaspekt zu bedenken, der das Subjekt-Objekt-Verhältnis ins Licht rückt. Denn auf den ersten Blick mag einleuchten, dass Reflexivität lediglich eine Angelegenheit der HörerInnen und damit eine rein geistige Leistung ist. Aber ähnlich wie bei der subjektiven Synthese, kann aufgrund der komplexen, neuen Musik, die Adorno mit strukturellem Hören verbindet, ebenso interpretiert werden, dass auch Reflexivität nicht nur Aufgabe des rezipierenden Subjekts ist. Reflexivität benötigt vielmehr ein materielles Substrat, das in der Komplexität der Musik, also in der Konstellation der auseinanderweisenden und doch miteinander verbundenen Momente liegt. Indem sie sich jeder vorschnellen, unmittelbaren Entschlüsselung verweigert, hält die Musik die HörerInnen zum Hinterfragen der eigenen Praxis und Haltungen an. Die Musik fordert die HörerInnen heraus und verlangt, dass sie auch Irritationen zulassen, auf einer sinnlichen Ebene überwältigt werden können, ohne sich jedoch gänzlich an den plötzlichen Reiz zu verlieren. Subjektive Reflexivität wird somit durch die Komplexität der Musik geradezu provoziert. Das beinhaltet für die HörerInnen zudem eine zweite Möglichkeit der Erkenntnis über sich selbst, auf die Adorno folgendermaßen hinweist: „Kunstwerke sind die einzigen Dinge an sich; sie stehen ein für die Versöhnung mit den verlorenen, mit Natur. Der Mitvollzug von Musik ist die gelungene Selbstentäußerung des Subjekts in einer Sache, die dadurch seine eigene wird: Vorwegnahme eines Zustands, in dem Entfremdung getilgt wäre.“ (Adorno 1963: 187) Sich der Musik zu überlassen und sich in ihr zu versenken, ist demnach keine Schwächung des Subjekts durch Selbstaufgabe, sondern dessen Stärkung. Im gelungenen Verhältnis zwischen Werk und Rezeption be192
steht die Möglichkeit zu erfahren, dass etwas ohne Angst vor Repression verschieden und dennoch miteinander verbunden sein kann, dass Identität und Nichtidentität zwischen zwei Instanzen funktionieren kann, ohne die eine über die andere zu erheben oder sie in ihren Autonomien zu gefährden. Strukturelles Hören beheimatet damit auch eine Ebene der Selbstbezüglichkeit. Es ist eine Arbeit mit dem Werk, in dem die HörerInnen eine reflektierte Interaktion mit der Musik eingehen und sich über das Vermittlungsverhältnis zwischen Subjekt (HörerIn) und Objekt (Werk) bewusst werden. Darin klingt bereits eine dritte Ebene von adäquater Rezeption an. Denn Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen erhalten bei Adorno ebenso die Möglichkeit einer Erkenntnis über Gesellschaft. Erstens weil für ihn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Kunst und Philosophie besteht, die beide für ihn „auf die Rettung des ‚Nichtidentischen‘“ gerichtet sind, auf das, „was von den Begriffen nicht erfaßt wird und deshalb der Nichtachtung verfällt“ (Scheible 2012: 254). Zudem zieht Adorno in einer Vorlesung explizit eine erkenntnistheoretische Parallele zwischen einer konzentrierten Arbeit an einem Kunstwerk und der philosophischen Arbeit über Gesellschaft, indem er davon ausgeht, dass das „Verfahren, das die Betrachtung der Kunstwerke uns vorzeichnet, in einem gewissen Sinn prototypisch sein muß für die Erkenntnis, für die philosophische Erkenntnis der Wirklichkeit“ (Adorno 1965/66: 126). Zweitens besitzt Musik für Adorno die Möglichkeit, Leid zu speichern, indem sie gesellschaftliche Verhältnisse mimetisch nachzeichnen kann und die repressiven Zurichtungen der Menschen konserviert zur Erkenntnis bereithält (vgl. Adorno 1949: 46 f.). Und zugleich kann sie ein utopisches Moment besitzen, da ihr – und sei es via Negation – eine Idee immanent sein kann, wie etwas Besseres beschaffen sein könnte; ohne darüber Auskunft zu geben, wie dieses Bessere aussehen muss (vgl. MüllerDoohm 2003: 597 ff.; Adorno 1966: 300 f.). Entsprechend beschreibt Adorno ein Potenzial von Kunstwerken allgemein: „Umzukehren wäre am Ende die Nachahmungslehre; in einem sublimierten Sinn soll die Realität die Kunstwerke nachahmen. Daß aber die Kunstwerke da sind, deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte. Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.“ (Adorno 1970: 199 f.) Das braucht für Adorno weder eine explizite politische Aussage des Werkes noch eine politisierte Rezeption. Die Spuren des Gesellschaftlichen in der Musik finden sich für ihn nicht mithilfe einer realitätsgetreuen oder ideologischen Abbildung im Werk wieder. Hingegen bedarf es einer reflektierten Interpretation, die die repressiven wie auch die utopischen Momente in der Musik dechiffriert. Adäquate Rezeption enthält damit auch eine Ebene der Aufklärung, auf der man sie als eine Arbeit durch das Werk hindurch interpretieren kann. Die HörerInnen sollen die Musik sowohl verstehen als zugleich auch durch diese erkennen, inwiefern sie das angeht, was Musik in sich verschlüsselt verbirgt. Ähnlich 193
wie Philosophie kann Musik darüber zum Verstehen gesellschaftlicher Herrschaft sowie zur Entwicklung einer Idee von Befreiung beitragen, soll dabei jedoch darauf erpicht sein, nicht in Ideologie umzuschlagen. Das setzt allerdings eine adäquate Rezeption der Musik voraus, verstanden als dialektisches Denken, das sich an Musik realisiert und seine Erkenntnisse reflexiv auf sich selbst wendet. Dadurch lässt sich adäquate Rezeption jedoch nicht als Rezept gegen Verdinglichung verstehen und Dialektik nicht als „klappernder Algorithmus, den man nur genau befolgen müßte, damit unten die ‚Wahrheit‘ herausfällt“ (Steinert 2002: 53). Alle drei Ebenen adäquater Rezeption – die analytische Ebene (Arbeit am Werk), die Ebene der Selbstbezüglichkeit (Arbeit mit dem Werk) sowie die Ebene der Aufklärung (Arbeit durch das Werk hindurch) – bleiben herrschaftlich vermittelt. Dialektik und Reflexivität bieten jedoch Chancen, sie herrschaftskritisch zu unterlaufen.
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Strukturelles Hören: (nicht) mehr als ein Ideal – drei Folgerungen
Auf Grundlage der hier entwickelten Lesart kann es als fraglich erachtet werden, ob strukturelles Hören primär mit neuer Musik in Verbindung zu bringen ist, wie es Adorno vorschlägt. Auch weil Adorno selbst den Versuch reflektiert, neue Musik zu erklären und breiter verständlich zu machen. Da „neue Musik gegen den Strich gebürstet“ sei (Adorno 1963: 247), „Schocks“ bereite (Adorno 1963: 248) und sich der schnellen Erschließung verweigere, problematisiere sich die Erklärung der Musik dahingehend, dass dadurch ihre Schocks sowie ihr Nonkonformismus tendenziell nivelliert würden. Damit gehe auch die Gefahr einher, aus der Musik ein Bildungsgut zu formen. In diesem Sinn widerspreche die Erklärung der neuen Musik deren eigentlichem Gehalt. Gleichzeitig sei die Erklärung der Musik auch legitim. Diese leiste dem qualitativen Nachleben der Musik Vorschub, indem es sie nicht nur auf ihre Unmittelbarkeit und ihre ephemeren Schocks reduziere. Schließlich bedürfe das Überdauern der Musik das Verstehen der HörerInnen (vgl. Adorno 1963: 247 f.). Zudem ist zu bedenken, dass Adorno die kompositorischen Entwicklungen hin zum Serialismus ab den 1950er-Jahren kritisierte (vgl. Mahnkopf 1998). Entsprechend, so argumentiere ich, muss strukturelles Hören auch nicht mit einer bestimmten Musik einhergehen. Ob Musik strukturelles Hören initiieren oder es an ihr gelingen kann, entscheidet sich eher daran, ob sie eine Vielschichtigkeit aufweist, sich aufgrund ihrer Struktur und Komplexität einer schematischen Erfassung widersetzt, dadurch dialektisches Denken anstrengt und so zu einem reflexiven Interaktionsverhältnis zwischen sich und den HörerInnen beitragen kann. Demzu194
folge lässt sich die Überlegung anstellen, ob sich strukturelles Hören inklusive der explizierten Ebenen nicht beispielsweise auch an einer Live-Jazzimprovisation entfachen und zu ähnlichen Erkenntnissen kommen kann. Schließlich würde auch eine solche aufgrund der improvisatorischen Interaktion zwischen den MusikerInnen den spontanen Mitvollzug der HörerInnen, das „Auseinanderhören des Simultanen“ (Adorno 1963: 204), ein „In der Musik Sein“ (Adorno 1963: 188) und eine doppelte Synthese beanspruchen, um verstanden zu werden. Und ebenso würde sich daran erfahren lassen, dass es eine Interaktionsform geben kann, die nicht unbedingt auf einem instrumentellen Verständnis von sich und anderen basiert, sondern eine Chance bereitstellt, dass sich Individuen in einem egalitär ausgerichteten Kollektiv punktuell als mündige Subjekte konstituieren können. Auch der Improvisation inhäriert ein utopisches Moment, an dem eine Erkenntnis über Gesellschaft und eine Arbeit an einer Idee von Befreiung möglich ist (vgl. Niederauer 2014: 222–226). Habe ich eingangs das Kriterium der Adäquanz als maßgeblich für Adornos Hörtheorie erachtet und entsprechend objektzentriert gefragt, ob und warum das Hören der Musik (nicht) gerecht wird, empfiehlt es sich im Anschluss an die hier entwickelte Lesart, diese Bestimmung von Adäquanz um die Subjektseite zu erweitern: Hören kann nur der Musik gerecht werden, wenn die Hörenden die Chance haben, sich dabei selbst gerecht zu werden, indem sie ihre eigene gesellschaftliche Zurichtung und die Durchsetzungsformen gesellschaftlicher Herrschaft reflektieren können. Entsprechend wäre auch bezüglich der Bestimmung von Adäquanz das Vermittlungsverhältnis von Subjekt und Objekt zu berücksichtigen. Dennoch lassen sich Adornos Ausführungen zum strukturellen Hören weniger als die Formulierung eines Imperativs verstehen. Auch weil es nahezu unmöglich scheint, den Ansprüchen zu genügen, die Adorno an eine adäquate Rezeption richtet. Mit der hier entwickelten Lesart bietet es sich eher an, strukturelles Hören als Ideal zu interpretieren. Die Aufstellung dieses Ideals ermöglicht es Adorno, über die Thematisierung von Musik und Rezeption die Durchsetzung gesellschaftlicher Herrschaft und die Möglichkeiten ihrer Reflexion zu verhandeln und darüber eine Korrespondenz zu seinem Gesamtwerk herzustellen – also zur Auseinandersetzung mit der Dialektik von Herrschaft und Befreiung. Demzufolge wäre es verkürzt, nur die Zurichtung der Subjekte zu sehen, ohne das Aufblitzen von Spuren eines besseren Lebens wahrzunehmen (vgl. Ritsert 2002: 177). Diese Spuren zu finden und an ihnen festzuhalten, ist ein zentraler Topos bei Adorno. Seine Schriften zur Musik und zur Musikrezeption weichen davon keineswegs ab.
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Autorinnen und Autoren Marc Grimm lehrt Politikwissenschaften an der Universität Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind ästhetische und Kritische Theorie, Epistemologie, Anti- und Philosemitismus sowie Rechtsextremismus. Aktuelle Veröffentlichungen: Von der Kritik der Totalität zum fragmentierten Bewusstsein. Begriffe der Ideologie bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas (zusammen mit Martin Proißl), in: Ludwig Gasteiger, Marc Grimm und Barbara Umrath (Hg.), Theorie und Kritik. Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen. Bielefeld: Transcript, 2015. Das Kunstspiel mit Peitsche und Folter. Adorno und Améry zur Darstellung von Leid im Film, in: Alex Körner, Julian Kuppe und Michael Schüßler (Hg.), Der Widerspruch der Kunst. Beiträge zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaftskritik. Berlin: Frank & Timme, 2015. Philip Hogh, Dr. phil., Jg. 1979, wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg. Wichtigste Publikationen: Kommunikation und Ausdruck. Sprachphilosophie nach Adorno, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015; Sprache und Kritische Theorie (hg. zusammen mit Stefan Deines), Frankfurt/Main und New York: Campus 2015; Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten (zusammen mit Julia König), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011) 3. Ines Kleesattel studierte Philosophie, Kunsterziehung und Bildende Kunst. An der Akademie
der bildenden Künste Wien promovierte sie 2015 mit der Arbeit „Politische Kunst-Kritik. Zwischen Jacques Rancière und Theodor W. Adorno“. Sie ist Dozentin in Wien und Zürich und schreibt als Kunstkritikerin u. a. für springerin und Texte zur Kunst. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind ästhetische und kritische Theorie, dokumentarische Fiktion, feministische Avantgarde, postkonzeptuelle Kunst, Kunstkritik und -vermittlung.
Claus-Steffen Mahnkopf, studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten Heidelberg, Freiburg und Frankfurt am Main, Komposition, Musiktheorie und Klavier an der Musikhochschule Freiburg. Philosophieexamen 1989 bei Jürgen Habermas. 1993 Promotion zum Dr. phil. Seit 2005 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Gründung und Herausgeber der Zeitschrift Musik & Ästhetik. Wichtige Bücher: Deutschland oder Jerusalem. Das kurze Leben der Francesa Albertini und Von der messianischen Freiheit. Weltgesellschaft – Kunst – Musik. Umfangreiches kompositorisches Werk, Aufführungen weltweit. Stefan Müller, Dr. phil., Gastprofessor für sozialwissenschaftliche Grundlagen von Bildung un-
ter besonderer Berücksichtigung von Migration, Ethnizität und sozialer Ungleichheit an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Veröffentlichungen: Soziologische Reflexivität, in: Albert Scherr (Hrsg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Perspektiven in Anschluss an Niklas Luhmann, Weinheim 2015; Diskriminierung in der beruflichen Bildung. Wie migrantische Jugendliche bei der Lehrstellenvergabe benachteiligt werden, Wiesbaden 2015 (mit Albert Scherr, Caroline Janz) Shierry Weber Nicholsen is a psychoanalyst in private practice in Seattle and serves on the
faculties of the Seattle Psychoanalytic Society and Institute and the Northwestern Psychoanalytic Society and Institute. She translated Adorno’s Noten zur Literatur and his Drei Studien zu
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Hegel into English, and is the author of Exact Imagination, Late Work: On Adorno's Aesthetics (1997). Her current work centers around the intersections of psychoanaytic process, aesthetics, and Adorno’s work on music. Martin Niederauer, Dr. phil., studierte Soziologie an der Universität Trier und der Goethe-
Universität Frankfurt am Main. Promotion an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main über „Die Widerständigkeiten des Jazz – Sozialgeschichte und Improvisation unter den Imperativen der Kulturindustrie“ (2014). Seit November 2013 ist er Mitarbeiter im Projekt „Tacit Knowing in Musical Composition Process“ am Institut für Musiksoziologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Johannes Rhein studierte bis 2013 Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Soziologie
in Frankfurt am Main und Brüssel. Er ist als wissenschaftliche Hilfskraft bei der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität beschäftigt und arbeitet derzeit an einer filmwissenschaftlichen Promotion zu Artur Brauners „Filmen gegen das Vergessen“, wofür er ein Stipendium vom ELES erhält.
Ruth Sonderegger ist Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie
der bildenden Künste Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ästhetik, Cultural Studies, kritische Theorien und Resistance Studies. Letzte Buchveröffentlichungen: Hg. (mit Karin de Boer), Conceptions of Critique in Modern and Contemporary Philosophy, Houndmills Basingstroke: Palgrave Macmillan 2012; Hg. (mit Eva Birkenstock, Max Jorge Hinderer Cruz und Jens Kastner), Art and the Critique of Ideology After 1989 | Kunst und Ideologiekritik nach 1989, Bregenz und Köln, 2013; Hg. (mit Jens Kastner), Pierre Bourdieu und Jacques Rancière. Emanzipatorische Praxis denken, Wien: Turia+Kant 2014; Hg. (mit Pascal Gielen, Thijs Lijster und Suzana Milevska), Spaces for Criticism (= Art in Society book series) Amsterdam: Valiz 2015.
Johannes Veerhoff, Studium der Musik (Klavier bei Steven Zehr, Bernhard Kontarsky und Re-
nate Wieland) sowie Erziehungswissenschaften (u. a. bei Joachim Schroeder und Micha Brumlik) in Frankfurt/Main, Abschlussarbeit über die Theorie des „Forschenden Übens“.
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