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German Pages 314 [319] Year 2022
Ricarda Biemüller Das hinzutretende Dritte
Pädagogik
Ricarda Biemüller (Dr. phil.), geb. 1987, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Theorie und Geschichte von Bildung und Erziehung der Goethe-Universität Frankfurt und promovierte an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kritische Bildungstheorie sowie idealistische Bildungsphilosophie und die Analyse ihrer Krise.
Ricarda Biemüller
Das hinzutretende Dritte Über das Somatische in der Bildungstheorie Theodor W. Adornos
Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer von der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal angenommenen Dissertation. 1. Gutachterin: Prof. Dr. Rita Casale 2. Gutachter: Prof. Dr. Norbert Ricken
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Inhalt
Danksagung .................................................................................... 7 Einleitung ..................................................................................... 9 1 1.1 1.2
1.3
1.4
Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff ............... 33 Philosophie als Deutung ................................................................. 33 Dialektik von Natur und Geschichte ...................................................... 46 1.2.1 Über die Idee der Naturgeschichte ................................................ 46 1.2.2 Allegorie ......................................................................... 54 Vermittlung: Begriff und Nichtidentität .................................................. 65 1.3.1 Ausgangspunkt philosophischer Selbstkritik ...................................... 65 1.3.2 Begriff: Von der Identität zur negativen Dialektik .................................. 72 Sprache, Komposition, Essay............................................................. 84 1.4.1 Spekulativer Begriff und somatischer Ausdruck ................................... 86 1.4.2 Komposition und Essay als Form ................................................. 103
2 2.1
Bildungstheorie und Naturgeschichte................................................... 113 Bildung, Entfremdung und Universalgeschichte........................................... 114 2.1.1 Allegorie von Bildung: Das melancholische Bewusstsein ........................... 116 2.1.2 Geschichtsphilosophie der Nichtidentität ......................................... 127 2.2 Entfremdete Bildung: Naturgeschichte und Gesellschaftskritik des Fortschritts........... 138 2.2.1 Der Prozess fortschreitender Naturbeherrschung................................. 138 2.2.2 Gesellschaftskritik geistiger Entfremdung ........................................145 2.2.3 Kulturindustrie als zweite Natur................................................... 151
Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran .. 157 Dialektik der Form ...................................................................... 157 3.1.1 Form und Erfahrung ............................................................. 158 3.1.2 Form und Vorrang des Objekts .................................................... 173 3.2 Vernunft, Spontaneität und Soma ........................................................ 179 3.2.1 Von der Affizierung zur Dialektik der Vernunft .................................... 180
3 3.1
3.2.2 Vernunft, Wille und Psyche ....................................................... 187 3.2.3 Das Somatische als Hinzutretendes ............................................... 199 3.3 Spontaneität und Form ................................................................. 206 3.3.1 Ästhetische Erfahrung ............................................................ 210 3.3.2 Im Schatten des Begriffs ........................................................ 220 4 4.1
Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung................. 227 Lebendige Erfahrung und Universität.................................................... 227 4.1.1 Bildungstheorie als Ideologiekritik der modernen Universität ..................... 227 4.1.2 Verdinglichtes Bewusstsein im Horizont der Trennung von Wissenschaft und Bildung ..................................................................... 232 4.2 Bildung als geistige Erfahrung .......................................................... 238 4.2.1 Kritik am beschädigten Bewusstsein der Bildung ................................. 238 4.2.2 Familie und Erziehung in der Krise ............................................... 255 4.2.3 Dialektik von Autonomie und Autorität ........................................... 264 4.3 Bildung als ästhetische Erfahrung ...................................................... 269 4.3.1 Bildung und Naturbewahrung .................................................... 269 4.3.2 Ästhetische Bildung in der Moderne .............................................. 275 4.3.3 Bildung als Verobjektivierung .................................................... 283
Verzeichnisse ............................................................................... 289 Siglen zu Adornos Schriften .................................................................. 289 Abkürzungen................................................................................. 290 Literatur ..................................................................................... 290
Danksagung Im Blick zurück entstehen die Dinge, die unsere Liebe an uns binden und uns zu jenen Orten bringen, wo die Gestirne sich verschlingen. Im Blick zurück entstehen die Dinge, im Blick nach vorn entsteht das Glück. In höchsten Höhen, wo wir schwindeln, in tiefste Tiefen und zurück. Im Blick zurück entstehen die Dinge, die dazu führen, dass wir uns finden, Dass unsere Träume uns gelingen, bevor sie sanft ins All verschwinden. – Tocotronic –
Bevor ich die Arbeit an diesem Projekt begann, hatte ich noch nie nur einen Satz von Adorno gelesen. Seine ›Bonmots‹ – das mit dem Richtigen und dem Falschen, dass man wohl keine Gedicht mehr schreiben dürfe und was sich nicht wiederholen solle – waren mir bekannt. Mehr aber auch nicht. Meine theoretische Sozialwerdung als Studentin an der Universität Bielefeld war eher geprägt von geschlechtlichem Unbehagen, Dekonstruktion und dieser, mir im Nachhinein manchmal wunderlich erscheinenden, Verwandlung des ganzen Lebens in Sprache. Die damalige Faszination für Iteration, Anrufung und Diskurs war auch eine Befreiung von der materialistischen Verkettungen, die bestimmte Biographien so mit sich bringen, und die man – endlich an der Universität angekommen – eher im Verborgenen halten wollte. Wenige Jahre später, fand ich mich eines Morgens im Büro von Rita Casale wieder, die mir einen Text in die Hand drückte mit dem Titel Soma und Sensorium und dem Hinweis, dass das für mich wohl – wie sie immer so schön sagt – ›interessant‹ sein könnte. Was ich zunächst nur als einfachen Leseauftrag verstand, stellte sich im Nachhinein als das heraus, was man in Zeiten von Tinder-Romantik als ein match bezeichnen würde. Rita Casale, der mein tiefster Dank gilt, war für die vorliegende Arbeit jedoch mehr als nur eine Kupplerin. Sie ist ihr hinzutretendes Drittes und die Verobjektivierung unserer Konstellation ist dieses Buch. Bildung als Vermittlung bezeichnet nicht nur ein sachliches Verhältnis oder eine individuelle, somatische Erfahrung. Die Terminologie beschreibt auch die-
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se besonderen intellektuellen Erfahrungen, die entstehen können, wenn man an einer Sache gemeinsam arbeitet und zugleich füreinander offen ist. Ebenfalls möchte ich Norbert Ricken für die Zweitbegutachtung und die regelmäßigen Einladungen in sein Bochumer Kolloquium danken. Die gemeinsamen Lektüren und fordernden Diskussionen mit den Mitgliedern des Kolloquiums waren für die Entwicklung eines bestimmten Denkhorizonts sehr wichtig. Der weitere Dank gilt den Mitgliedern des Wuppertaler Forschungskolloquiums für Bildungsphilosophie und Bildungsgeschichte, die die Arbeit und mich von Anfang an begleitet und durch ihre kritische und intensive Auseinandersetzung die Entstehung des Textes maßgeblich geprägt haben. Namentlich handelt es sich hierbei um Catrin Dingler, Eliza Grezicki, Marie Frühauf, Anna Hartmann, Martina Lütke-Harmann, Selma Haupt, Pia Rohjan, Julia Siemoneit, Ann-Cathrin Schwombeck, Dorotea Sotgiu, Elena Tertel, Anna Wehling und Jeannette Windheuser. Danken möchte ich auch all denjenigen Kolleg*innen und Freund*innen aus Wuppertal und über Wuppertal hinaus, die mich auf dem langen Weg durch ihre Gedanken und ihre Taten immer wieder inspiriert, motiviert und unterstützt haben. Dazu gehören: Hannah Dehm, Katarina Froebus, Ole Hilbrich, Martin Karcher, Käte MeyerDrawe, Astrid Messerschmidt, Norina Müller, Madeleine Scherer, Sabrina Schröder und Michael Städtler. Mein besonderer Dank gebührt hier Arzu Çiçek, Stephan Dorf, Martina Schürhoff und Jeannette Windheuser. Dass die Arbeit in sprachlicher und äußerlicher Hinsicht eine Form bekommen hat, verdanke ich vor allem Simon Biemüller, Astrid Biemüller, Elena Tertel und Sabrina Schröder. Ihr umsichtiges Lektorat und unermüdliches Engagement in Sachen Formatierung waren eine unschätzbare Hilfe. Für das Soziale ist das Schreiben der Dissertation nicht selten auch eine Zumutung. Es macht einen schon manchmal ziemlich unerträglich für seine Umwelt. Gleichzeitig ist es die Phase, in der man nichts mehr brauchen kann als gute Freund*innen, die einen trösten, bestärken, umarmen, einen Drink einschenken, aufheitern, motivieren. Ich habe das Glück solche Menschen in meinem Leben zu haben, die mich durch diese Phase meines Lebens getragen haben: Pia Lüken, Norina Müller, Lina Niebling, Maren van Norden, Florian Ollesch, Louise Rippmann, Julia Siemoneit und Anja Stielbruch. Danke für eure Freundschaft! Und ohne die Unterstützung von Frau E. hätte ich es wohl nicht geschafft. Danken möchte ich zuletzt auch meiner Familie: Meiner Mama Astrid – diese Arbeit ist auch ein Teil unserer Geschichte – meinen Geschwistern Simon und Nadine, a.k.a. Die Euromäuse und meinem Neffen Ian Felix. Danken möchte ich auch meinem Opa Vagharchak, einem sehr klugen Menschen, dem ich zwar noch begegnet bin, den ich aber nicht mehr kennenlernen durfte.
Einleitung
Spätestens seit dem Jahr 1959, als Theodor W. Adorno auf dem Deutschen Soziologentag den Text über die Theorie der Halbbildung vortrug und angesichts einer nur zögerlichen und vereinzelten Aufarbeitung der Vergangenheit in einer Radiosendung zur Bedeutung einer demokratischen Pädagogik referierte, war eines klar: Adorno will sich in die Diskussion um theoretische und praktische Fragen zu Bildung und Erziehung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft einmischen1 . Seine ernsthafte Beschäftigung mit pädagogischen Fragen begann jedoch weitaus früher und auf einem ganz anderen Feld – der ästhetischen Bildung. Die ersten Auseinandersetzungen mit ästhetischer Bildung fallen in die Zeit seiner dreijährigen Mitarbeit am Princeton Radio Research Project in New York City, dem er sich 1938 anschließt. Das Radio ist in Amerika gerade zur zentralen Kulturinstitution aufgestiegen, nicht zuletzt, weil es in der Bevölkerung über die Klassengrenzen hinweg einen großen Wunsch nach Bildung gibt – eine Nachfrage, die die klassischen Institutionen des Bildungssystems nicht bedienen können, zumal der Zugang zu höherer Bildung nur einem kleinen Teil der Bevölkerung möglich ist. In den 1920er und 1930er Jahren wird eine Vielzahl neuer Rundfunkanstalten gegründet, deren Hauptaugenmerk der Übertragung klassischer Musik gilt. Mit dem rasanten gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs steigt nicht nur das Interesse der Wissenschaft an dem Medium, sondern auch das Interesse des Mediums an der (Musik-)Wissenschaft. 1939 wird Adorno vom Radiosender WNYC engagiert, eine Vorlesungsreihe zur Einführung in die moderne Musik zu entwickeln, die sonntagnachmittags auf dem Radiosender der Stadt New York ausgestrahlt
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Seit den 1950er Jahren griff Adorno gemeinsam mit Horkheimer und anderen Mitgliedern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in die bundesrepublikanische Diskussion über Bildungsund Erziehungsfragen ein. Starke Beachtung finden vor allem seine Rundfunkbeiträge und Vorträge, die sich zu den programmatischen Formeln Erziehung nach Ausschwitz und Erziehung zur Mündigkeit entwickelt haben (vgl. Paffrath et al. 1987; Kelle 1992a, 1992b; Albrecht et al. 1999; Meseth 2001). Grundlage der verschiedenen Anstrengungen ist die gemeinsam geteilte Überzeugung, dass der »Förderung politisch-kultureller, mithin auch mentaler, Wandlungen durch Erziehung und Bildung sowie eine darauf bezogene empirische Schul-, Erziehungs- und Bildungsforschung« (Behrmann 2015: 223) entscheidende Bedeutung bei der Entbarbarisierung und Demokratisierung der Nachkriegsgesellschaft zukommt.
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werden soll. So verwandelt sich das Radio für Adorno von einem bloßen Gegenstand soziologischer »Hörerforschung« (GS 10.2: 718) in ein radio- und musikpädagogisches Engagement. Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber der Möglichkeit musikalischer Radiobildung entwickelt Adorno im Jahr 1940 ein Bildungsprogramm zum Thema Was eine Music Appreciation Hour sein sollte2 . Die Vorlesungsreihe hat den Charakter eines Propädeutikums und soll als solches für die ästhetische Erfahrung fortgeschrittener Musik vorbereiten. Der Entwurf des musikpädagogischen Rundfunkkurses weist dementsprechend als primäre Ziele aus, den Teilnehmenden eine Anleitung zum richtigen Hören moderner Musik zu geben und sie zur lebendigen Erfahrung von Musik zu befähigen (vgl. NaS I, 3: 321). Schon hier ist für Adorno in Bildungsfragen die Prämisse des Primats des Objekts richtungsweisend, aus der sich die ausschließliche Orientierung der musikalischen Bildung an der Sache ableitet. Richtiges Hören meint nicht das Hören des Richtigen, und lebendige Erfahrung nicht das subjektive Erleben und Genießen, gar Konsumieren von Musik. Statt Kanon und Bedürfnisbefriedigung besteht der normative Horizont musikalischer Bildung in der Realisierung einer Form ästhetischer Reflexion, die in der Fähigkeit bestehe, die innere Geschichte des Stücks unmittelbar und spontan mitvollziehen und die Musik virtuell im Hören selber komponieren zu können (vgl. ebd.: 321f.)3 . Adornos Auffassung musikalisch vermittelter Bildung als Verstehen der musikalischen Konstruktion fußt hier noch auf der Vorstellung einer innerästhetisch verlaufenden Entwicklung ihrer Techniken und Ma-terialien. Erst in der Philosophie der neuen Musik (1949) erfährt die vormals kunstimmanent erfolgte geschichtsphilosophische Einbettung des musikalischen Mediums – und mit ihm die Auffassung ästhetischer Bildung – eine Verschiebung in die gesellschaftlichen und geschichtlichen Prozesse der vollendeten Moderne. Anfang der 1930er Jahre erläutert Adorno die Moderne zunächst ausgehend vom geschichtlichen Scheitern der Einheit von Geschichte und Sinn sowie der Einheit von Geschichte und Vernunft als eine Epoche, in der Zerrissenheit, »Brüchigkeit« (AP: 334) und individuelle und gesellschaftliche Entfremdung die Form des Unausweichlichen annehmen. Im phänomenalen Blickfeld der Diagnose steht der Verlust der bürgerlichen Kultur des langen 19. Jahrhunderts, der als Konsequenz der auf die Produktion und Erfahrung darstellender Kunst, Literatur und Musik ausgreifenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der damit einhergehenden sukzessiven Reduktion der Kultur auf die Form einer Ware, betrachtet wird. Die Gesellschaftsanalyse der Entfremdung 2
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Die Kritik richtete sich in erster Linie auf die Vorstellung einer Demokratisierung der Gesellschaft durch die Versorgung der Masse mit Kultur, in diesem Fall mit klassischer europäischer Musik. In diesem Zusammenhang avanciert das Radio in den 1920er und 1930er Jahren zum zentralen Vehikel, wenn es darum gehen soll, einer breiten Bevölkerungsschicht den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Adorno, so stellt Iris Dankemeyer (2020) fest, »konnte dieser Präsentationsform ebensowenig abgewinnen wie das Ziel, die (arrivierte) europäische Kultur zu universalisieren, ernst nehmen. Ihm zufolge erhöhte die Ausstrahlung von Symphonien weder den Bildungsgrad noch die Liberalität, sondern ruinierte die Ohren ebenso wie die Musik.« (Ebd.: 88) Getragen ist diese Bestimmung musikalischer Bildung von der grundlegenden Prämisse ästhetischer Theorie, dass dem ästhetischen Objekt eine geistige Notwendigkeit innewohnt, die sich aus dem konstruktiven Umgang der Künstler mit dem geschichtlich vorgegebenen Material ergibt.
Einleitung
der Kunst im Spezifischen und der Kultur im Allgemeinen setzt Adorno seit den 1940er Jahren als Kritik an der Kulturindustrie und an der Auffassung des Zivilisationsprozesses als Fortschrittsgeschichte fort. Den bewussten und unbewussten Antriebsgrund und den Horizont, in den die kritische Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Kultur und Bildung eingebettet ist, bildet die historische Erfahrung der systematischen Verfolgung und millionenfachen Vernichtung jüdischen Lebens während der Zeit des Nationalsozialismus, für die in Adornos Arbeiten häufig die Chiffre ›Auschwitz‹ steht. Für den kritischen Theoretiker »hat Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen. Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern. In jenen Sparten selber, im emphatischen Anspruch ihrer Autarkie, haust die Unwarheit.« (ND: 359) Adornos fundamentale Kulturkritik sieht Philosophie, Kunst, Wissenschaft nicht nur vor einer historischen Zäsur, sondern stellt auch ein Existentialurteil über die Möglichkeit von Bildung in einer Epoche absoluter Entfremdung dar: »Die somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen ist Schauplatz des Leidens, das in den Lagern alles Beschwichtigende des Geistes und seiner Objektivation, der Kultur, ohne Trost verbrannte.« (Ebd.: 358) Geist und Kultur finden sich in der Situation wieder, dass die Ausmerzung dessen, was sie selbst in idealistischen Systemen und abstrakten Formen zu überwinden versuchten, als Grund ihres Scheiterns angesehen wird. Die Vernichtung des Somatischen und die selbstständige Desavouierung von Bildung hängen unmittelbar zusammen. Für die Bildungstheorie nach Auschwitz ist die Erfahrung der körperlichen Vernichtung also ein Grund dafür, vom Bildungsbegriff und seinem Versprechen von Freiheit und Humanität Abstand, gar Abschied zu nehmen. Jedoch ist es Adorno selbst, der der Unversöhnlichkeit seines Urteils entgegengewirkt. Nicht nur zeugt sein Aufstieg zum öffentlichen Intellektuellen und »einflussreichsten philosophischen Lehrer der zweiten deutschen Republik« (Schneider 2019: 550) von seiner Absicht, pädagogisch sowie in den Debatten um die politische, gesellschaftliche, kulturelle und ästhetische Moderne zu wirken. Es sind vor allem seine im Exil und nach 1945 entstandenen Schriften, die aus der Auseinandersetzung mit der gescheiterten Bildungstradition schöpfen. Diese zu führen, so stellt Christian Schneider (2019) fest, »hieß für Adorno ›unbeirrtes‹ Eingedenken der Judenvernichtung und die ›Rettung‹ jener Tradition, das Undenkbare an Auschwitz zu denken und doch das kulturelle Erbe nicht preiszugeben: der Liebe zu Wagner, Beethoven, Hegel und Nietzsche nicht zu entsagen – der Geschichte zum Trotz, die sie entstellt, missbraucht und schuldig gemacht hatte.« (Ebd.: 552) An der Frage, wie nah Rettung und Kritik der Tradition angesichts der historischen Erfahrung der Shoah – der somatischen Erfahrung absoluter Negativität – liegen können, gar müssen, ist einer der Ausgangspunkte dieser Arbeit. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine bildungstheoretische Deutung des Werks Theodor W. Adornos am Leitfaden des Somatischen. Adornos theo-
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retische Arbeiten im Hinblick auf Bildung im Allgemeinen und somatische Bildung im Speziellen zu befragen, bedeutet nicht, dass dies die Grundfrage ist, welche die Theorie im Ganzen antreibt und begreifbar macht. Dennoch macht die Untersuchung es sich zur Aufgabe, nachzuvollziehen, inwiefern es sich bei Adornos kritischer Erörterung der Ambivalenzen und Widersprüche des idealistischen Modells von Geschichte und Erkenntnis um eine implizite Aktualisierung der neuzeitlich-idealistischen Bildungstheorie unter Bezugnahme auf das Somatische handelt. Eingeholt werden soll dabei die These, dass Adornos erkenntnis- und gesellschaftstheoretische Kritik am idealistischen Bildungsbegriff, das ausführt, was Rita Casale beschreibt als »verschiebende Verortung der Moderne […] in Bezug auf den Bildungsbegriff« (Casale 2020a: 14). Diese Absicht erklärt den spezifischen Zugriff auf Adornos Bildungsbegriff insbesondere über Hegels Auffassung von Bildung. Die verschiebende Verortung, die hier vorgenommen wird, vollzieht sich ausgehend vom Topos des Somatischen in erkenntnistheoretische und ästhetische Richtungen. Die erste Richtung beleuchtet Adornos ›materialistische‹ Erörterung des Zentralbegriffs der modernen Erkenntnistheorie, die Einheit des Bewusstseins nach der Krise seiner transzendentalen Begründung. Dass es sich hierbei um eine materialistische Revision der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis handelt, wird nicht nur von seinem gesellschaftlichen Ende her zugänglich gemacht. Erkenntnistheorie kann auch noch auf ganz andere Weise als Produkt und Bedingung der materiellen Existenz bestimmt werden, nämlich ausgehend von seinen körperlichen und psychischen – kurz: somatischen – Vermittlungsverhältnissen. Der Begriff des somatisch Hinzutretenden führt auf die blinde Stelle der Rationalität: Ihr erscheint die Praxis der Freiheit im Zeichen der Vernunft. Zur Bewahrung dieser Einheit von Freiheit und Vernunft schließt sie erkenntnistheoretisch all das aus, was sie gefährden könnte: Triebe, Affekte, Neigungen, Imaginationen. Das somatisch Hinzutretende ist Adornos kritischer Einwand gegen die Freiheitsillusion der Vernunft und zugleich die Antwort auf die Frage nach dem praktischen und ursprünglichen Freiheitsmoment in der Erkenntnis. Es hat die Form von somatischen Impulsen und ist der rationalen Kontrolle des Individuums im Augenblick seines Hinzutretens entzogen. Die zweite Richtung geht auf Adornos Bestimmungsversuche der Möglichkeitsbedingungen ästhetischer Erfahrung ein. In Auseinandersetzung mit Kunstwerken der neuen Moderne wird das Spannungsverhältnis zwischen der Subjektivität des Kunstwerks und der Objektivität der Rezeption auf verschiedenen Ebenen erörtert. Besondere Aufmerksamkeit erhält in diesem Zusammenhang der Modus des somatischen Moments in der ästhetischen Erfahrung. Die Bedeutung der Körperlichkeit der ästhetischen Erfahrung erschließt sich für Adorno jedoch nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung und den Empfindungen der Rezipient*innen, denn sie fällt nicht mit der subjektiven Wirkung von Kunstwerken zusammen. Was die körperliche Erfahrung zur Bedingung der Möglichkeit einer ästhetischen Erfahrung macht, ist das Moment der somatischen Affizierung, die als Erschütterung wahrnehmbar wird. Beide, das somatische Moment in der Erkenntnis und das somatische Moment in der ästhetischen Erfahrung, sind Teil dessen, was ich in dieser Arbeit als eine spezifische Weise des Vollzugs von geistigen Erfahrungen, nämlich Bildung, herausarbeiten möchte.
Einleitung
Die aktualisierende Verschiebung des Bildungsbegriffs im Modus der immanenten Kritik ist mit zwei Fragen konfrontiert, deren paradoxe Einheit die Vollzugsform der Verortung ausmacht: Zum einen geht es um die Frage, aus welchen Gründen bzw. ausgehend von welchen Bedingungen, sich der Anspruch von Bildung auf allgemeine Freiheit und Vernunft gesellschaftlich, institutionell und individuell nicht verwirklichen kann. Zum anderen geht es um die Frage, wie sich Bildung, wenn es nicht mehr hinreichend ist, die Moderne und den modernen Bildungsbegriff über die geschichtsphilosophische Bestimmung der Geschichte als Fortschrittsprozess der menschlichen Gattungsvernunft und die transzendentale Begründung menschlicher Erkenntnis zu rechtfertigen, dennoch verwirklichen könnte. Dass diese Fragen nach der individuellen und sozialen Möglichkeit und Unmöglichkeit von Bildung nur scheinbare paradox sind, soll der Begriff der Bildung als zweite Natur entschlüsseln. Bildung als zweite Natur beschreibt zunächst nichts anderes als den Umstand, dass Bildung geschichtlich und gesellschaftlich bedingt ist. In Bezug auf die Einzelnen vermittelt Bildung die ambivalente Erfahrung eines Individuums, nicht nur geschichtlich in vielfältiger Weise bedingt zu sein, sondern diese Bedingungen auch zum Gegenstand einer begrifflichen Auseinandersetzung machen zu können. Erst in der und durch die Bedingtheit eröffnet sich die Möglichkeit, sich zu den Bedingungen, die die Vermittlungen hervorbringen, nicht nur verhalten, sondern sie auch begrifflich nachvollziehen zu können. Ein Bildungsdenken, das die zweite Natur entschlüsselt, widmet sich insofern der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Vermittlungsverhältnissen von Individuum und Geschichte, die das Bildungsverhältnis konstituieren und in denen sich Bildungsprozesse auf spezifische Weise und zu einem bestimmten Zweck realisieren4 . 4
Gegenwärtig lässt sich ein wieder stärker werdendes Interesse daran verzeichnen, sich bildungstheoretisch mit der Denkfigur der Vermittlung zu befassen. Gemeinsamer Ausgangspunkt der unterschiedlichen bildungstheoretischen Beanspruchungsformen des Vermittlungsbegriffs ist die erkenntnistheoretische und politische Krise des bürgerlichen Systems der Repräsentation, »das das moderne Verständnis von Institutionen und die neuzeitliche transzendentale Wissensbegründung prägte. […] Der Niedergang der bürgerlichen Kultur besteht in der Unmöglichkeit der Vermittlung dieser unterschiedlichen bzw. im Gegensatz zueinander stehenden Elemente, die als Mannigfaltigkeit, als Differenzen gedacht werden und die nicht mehr von einer dritten Instanz repräsentiert werden können.« (Casale 2020a: 15) Die Positionen unterscheiden sich darin, welche Konsequenzen sie in bildungstheoretischer Hinsicht aus der Krise ziehen. Die postrepräsentationale Perspektive auf Bildung als Vermittlung ist insofern radikal, als für sie Hegels bürgerliches Bildungsverständnis weiterhin als Bezugspunkt dient, aber von der hegelianischen Auffassung von Vermittlung als bestimmter Negation in grundsätzlicher Weise Abstand nehmen. Stattdessen wird die Vermittlungsfigur u.a. antagonismustheoretisch oder differenztheoretisch und praxeologisch gefasst. Für eine solche Erörterung der Vermittlungsfigur im Bewusstsein von Antagonismus und Differenz stehen etwa die jüngst erschienen Überlegungen Andreas Gelhards (2018, 2020) und Alfred Schäfers (2021). Der Grundgedanke in Gelhards (2020) Lesart von Hegels Bildungsbegriff besteht in der Auffassung von Dialektik als offene und reversible Dynamik der Entzweiung, die sich zunächst »als agonales Geschehen zwischen Individuen verstehen [ließe], das durch Sieg und Niederlage entschieden wird« (ebd.: 149). Jedoch genüge es nicht wie in der liberalistischen Konzeption Vermittlung als Bedingung und Resultat von Konkurrenz zu interpretieren, vielmehr weist diese zurück auf ein tieferliegendes Gefüge des Konflikts (vgl. ebd.). Gelhard schlägt vor, jenes Gefüge politisch »als eine antagonistische Totalität« (ebd.: 150; Herv. i.O.) zu verstehen. Bildung wird im Horizont antagonistischer Totalität bestimmt als Befreiungsprozess durch
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Diese Formulierungen legen eine bestimmte geschichtliche These nahe. Sie betrifft die Frage, wie sich individuelles Bedingt-Sein und Bedingt-Werden und die Bestimmungen des subjektiven und objektiven Gehalts jener Bedingungen zueinander verhalten und unter welchen Voraussetzungen der Prozess, der sich aus diesem Verhältnis entwickeln kann, als Bildung bezeichnet werden kann. Bildung als Prozess zur Bestimmung der Voraussetzungen – so lautet meine dialektische These – kann nur von ihrem konkreten Bedingtsein – als ihrem Bedingt-Gewordensein und ihrem Bedingtwerden – her gedacht werden. Zu verstehen, wie, warum und wozu sich Bildungsprozesse vollziehen, heißt – so wiederum die Absicht dieser Arbeit – eine Auseinandersetzung mit der Frage zu führen, wie und wodurch sich zwischen der individuellen Erfahrung objektiver Bedingungen und der nachträglichen Einholung jener Bedingungen ein Erkenntnisprozess vollzieht.
Die Geschichtlichkeit von Bildung und die Frage der Vermittlung Der erste Schritt zur Präzisierung des Anliegens fällt zusammen mit der Beantwortung, wie und wodurch sich jene Verschiebung des modernen Bildungsbegriffs vollzieht und besteht in der Skizzierung des theoriegeschichtlichen Kontextes, innerhalb dessen sich Adornos Reflexionen über die theoretische und soziale Gegenwart von Bildung formieren. In der Bildungstheorie nach 1945 kommt es zu verschiedenen Versuchen einer Erörterung der Bedingungen, die zur Krise des bürgerlichen Bildungsbegriffs geführt haben5 . Einen der möglichen Zugänge bildet die Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff im Medium kritischer Gesellschaftstheorie. Diskursiver Berührungspunkt und Leitfaden der Analyse ist die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Gründen dafür, dass sich Bildung als Möglichkeit von Erkenntnisprozessen subjektiv und institutionell nicht verwirklichen kann. Paradigmatisch stehen hierfür neben den Schriften Adornos die Arbeiten Heinz-Joachim Heydorns. Beide führen eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von Bildung als Befreiung unter spätkapitalistischen Bedin-
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die Hervorbringung von Konflikten zwischen sozialen Welten. »Prozesse der Bildung«, so die politische Ausbuchstabierung Gelhards, »eröffnen eine andere Welt in der bestehenden, sie vollziehen sich als Akte der dissensuellen Desidentifizierung« (ebd.: 151; Herv. i. O). Schäfers Studie zur Vermittlung als Entzweiung (2021) betrachtet Vermittlung vor dem Hintergrund der modernen Erfahrung von Kontingenz und Entzweiung. In Auseinandersetzung mit dem Werk Gerhard Gamms entwickelt Schäfer den Begriff der vermittelten Entzweiung als eine spezifische Auffassung von Negativität, die ohne Überschreitung und Versöhnung bleibt. Diese wird methodologisch und erkenntnistheoretisch als eine Form negativer Dialektik ausbuchstabiert, »die das (dekonstruktiv analysierbare) Spiel der Verweisungen, der reflexiven Verflüssigung kontextvariabler Bedeutungen durch eine Figur der bestimmten Unbestimmtheit, durch den Verweis auf den entzweienden Charakter der Vermittlung zu unterbrechen vermag« (ebd.: 19). Die Entwicklung dieser Gedanken nimmt ihren Ausgangspunkt in ganz wesentlicher Weise bei den Interpretationen Rita Casales zum neuzeitlichen Bildungsbegriff sowie der Analysen von dessen epistemologischer und geschichtlicher Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Von besonderer Bedeutung sind hier die Arbeiten Der begriffsgeschichtliche Unterschied von Bildung und Differenz (2016a), Über die Aktualität der Bildungsphilosophie (2011a), Bildung nach der Krise der bürgerlichen Philosophie (2020a) und Bildung als Vermittlung (2020b).
Einleitung
gungen6 . Im Zuge ihrer Gegenüberstellung soll eine erste Vorstellung davon gewonnen werden, worin die eigenständige Herangehensweise in Adornos materialistischem Zugang zum Bildungsbegriff besteht. Für Heydorn ist die geschichtliche Rekonstruktion des bürgerlichen Bildungsbegriffs gleichbedeutend mit der Analyse der historisch vermittelten Entwicklung der ökonomischen, kulturellen und individuellen Produktivkräfte seit der industriellen Revolution (vgl. Heydorn 1970). Heydorns Auseinandersetzung mit der spätkapitalistischen Formation von Bildung spitzt den Widerspruch von Bildung und Herrschaft auf die Umwertung des Bildungsprozesses in einen ökonomischen Zweck zu. Abgeleitet wird die Auflösung von Bildung in eine Logik der Verwertung aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen der naturwissenschaftlichen Engführung von Wissenschaft auf eine technische Form von Rationalität und der Auffassung von Bildung als Berufsbildung: »Das Verhältnis ist funktional, nicht perspektivisch. […] Es bleibt alles in die Immanenz der Verwertungsprozesse eingebunden, ohne verändernde Kraft.« (Heydorn 1972: 96) Die Erkenntnis dieses geschichtlichen Zusammenhangs ermöglicht es, den Begriff der Bildung aus seiner gesellschaftlichen Verstrickung zu befreien. Bedingung der Befreiung ist Bildung selbst; genauer gesagt: Bildung in ihrem Verhältnis zur menschlichen Natur und Geschichte: »Die Natur des Menschen ist jedoch seine Geschichte, es ist kein Rückgriff auf eine andere Natur möglich; innerhalb dieser Geschichte kann er sich als Vernunft auf sich selbst beziehen.« (Heydorn 1970: 269) Bildung als verändernde ›Kraft‹ speist sich aus dem selbstkritischen Gebrauch der Vernunft. Die Möglichkeit einer anderen, nicht in den gesellschaftlichen Vermittlungsverhältnissen aufgehenden Geschichte von Bildung wird verbunden mit der anthropologisch begründeten Fähigkeit, durch den kritischen Gebrauch der Vernunft, die gesellschaftlich herrschende, d.h. die durch die Anforderungen des Produktionsprozess bestimmte Form der Rationalität infrage zu stellen und zu überschreiten. Einer der zentralen Kulminationspunkte der bildungstheoretischen Vernunftkritik ist also die Auseinandersetzung mit der Frage, ob Bildung als eine individuelle und soziale Konstellation zu denken ist, in der sich Praxis im Sinne einer Arbeit des Bewusstseins realisieren kann als ein »freies, erlöstes, versöhntes Schaffen […] [durch] einen Menschen, der von seiner Geschichte unbedroht ist« (Heydorn 1980 [1974]: 298). Heydorn verbindet die Möglichkeit befreiter Bildung mit der Idee individueller und kollektiver Mündigkeit. Die Idee der Mündigkeit versteht den Prozess der Befreiung als Realisierung vernünftiger kollektiver Praxis und »rational vermittelter Spontaneität« (Heydorn 1970: 22). Sie geht hervor aus der Überwindung der gesellschaftlichen Trennung zwischen Theorie und Praxis, zwischen geistiger und materieller Arbeit, zwischen Handlungen aus Herrschaft und Handlungen aus Freiheit. Bildung kann dann als frei bestimmt werden, wenn sie nicht partikularen gesellschaftlichen Zwecken unterworfen ist, sondern sich in ihr eine Praxis vollzieht, die »Natur und Geist […] miteinander versöhnt« (ebd.: 293). Auch Adorno nimmt die Bildungskrise zum Ausgangspunkt einer gesellschaftskritischen Reflexion des Bildungsbegriffs und seiner individuellen und sozialen Bedin6
Zur Analyse und Interpretation dieser Auseinandersetzung liegt eine Vielzahl von Schriften vor. Siehe hierzu exemplarisch: Pongratz (1986, 2012); Sünker (1996, 2019, 2020); Euler/Pongratz (1995); Bünger et al. (2009); Hünig (2016); Sesink (2016); Bünger/Pongratz (2020).
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gungen (vgl. Kubsda 2004). Er reflektiert, wie Heydorn, die gesellschaftlichen und rationalen Zwänge, die sich durch die Institutionalisierung von Bildung verselbstständigt haben. Der hierbei von Adorno gesellschaftstheoretisch ausformulierte Begriff der Halbbildung rekonstruiert die Transformation von Bildung im Zusammenhang mit ihrer Bestimmung als Werkzeug und als Ware. In beiden Fällen handelt es sich um spezifische Manifestationsweisen dessen, was innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse unter dem Begriff von Bildung realisiert wird. Die Bestimmung von Bildung als Werkzeug weist zurück auf die Analyse der gesellschaftlich produzierten und individuell reproduzierten Form des verdinglichten und verdinglichenden Bewusstseins, das zur Grundlage von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen wird. Als solches wird es nunmehr »auf seine Wirkung fixiert« (Casale/Oswald 2019: 78), wodurch die Realisierung der beabsichtigten Zwecke durch die souveräne Einwirkung auf das Material effektiv und zweckdienlich gestaltet werden kann. Dass die Zwecke beabsichtigt sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie auch bewusst sind. Im Gegenteil: Als bewusste Ausführung unbewusster Zwecke bleibt ihre Realisierung von dem besonderen Bedürfnis und von der besonderen Erfahrung des Individuums genauso unberührt, wie von der Fremdheit des Gegenstandes. Mit Bezug auf Marx’ Bestimmung der Ware reflektiert der Begriff der Halbbildung die intellektuellen und sozialen Konsequenzen des Anpassungsprozesses der Kultur an gesellschaftliche Voraussetzungen. Dass die Vermittlungsprozesse – also die über das kapitalistische Tauschverhältnis regulierte Produktion und Rezeption – kultureller Gegenstände durch deren Warenform reguliert werden, wiegt für das Bedingungsgefüge von Bildung insbesondere deshalb schwer, weil jene kulturellen Anpassungsprozesse nicht allein soziale, wissenschaftliche und technologische Ordnungen und Dynamiken, die der Selbsterhaltung der Gesellschaft als solcher dienen, betreffen, sondern in substantieller Weise übergreifen auf die ästhetische Gestaltung des Materials und die ästhetische Erfahrung des Gegenstandes. Dieser Übergriff verwandelt Kunst in Ware, indem er sie einpasst in das Schema von Tausch-, Mehrwert-, Verbrauchs- und Besitzlogiken. Die Aufhebung des autonomen Moments der Kunst und die gesellschaftlich und individuell ausgeprägte Konstellation der Halbbildung bilden insofern ein Bedingungsverhältnis, als sie in Warenform und Warenfetischismus vermittelt sind. Halbbildung, verstanden als Prozess der auf Konsumtion und Besitz kultureller Gebilde zielt, setzt ästhetische und kulturelle Inhalte voraus, die sich im Ausgang der Unterordnung unter kunstfremde Zwecke widerstandslos verbrauchen und aneignen lassen (vgl. Niederauer/Schweppenhäuser 2018). Umgekehrt ist die Anpassung künstlerischer Gebilde an die Forderungen von Tausch und Konsumtion das Resultat einer gesellschaftlich hervorgebrachten und psychisch sedimentierten Bedürfniskonstellation. Bildung als intellektuelles Bedürfnis nach Verstehen wird gesellschaftlich ersetzt durch das Bedürfnis nach Kultiviertheit und Bescheidwissen, das die Verdinglichung von Bewusstsein und die Erfahrung verdinglichter Kunst auf individueller Ebene konstituiert. Der »vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist« (THB: 108) ist darum nicht nur eine Beschreibung der gesellschaftlichen Realität von Kultur im Allgemeinen, sondern auch die Beschreibung des individuellen psychischen Zustandes unter der Bedingung von Halbbildung und Kulturindustrie im Spezifischen.
Einleitung
Entscheidend ist zu sehen, dass Adorno in der Vergegenwärtigung der sozialen Praxis von Bildung zwei Gedankenzüge in einem macht. Zum einen geht es darum, die epistemischen Vollzüge als Wirkungen der zur zweiten Natur gewordenen gesellschaftlichen bzw. ökonomischen Prozesse und Strukturen zu erläutern. Arbeit, Tausch und Mehrwert finden sich in modifizierter Weise wieder in den logischen Operationen der Subsumption, Abstraktion und Identifikation. Gleichzeitig geht es darum, durch die Beschreibung moderner Subjektivität als zweiter Natur nachzuvollziehen, dass sich das Verständnis der Praxis des Bewusstseins nicht in dessen Rückführung auf gesellschaftliches Sein erschöpft, sondern in einem psychischen Sinn ›tiefer‹ geht: In Adornos Perspektive sind die Individuen von Bildungsprozessen in bewusstseins-, gesellschaftssowie subjekttheoretischer Hinsicht Manifestationen zweiter Natur. Die gesellschaftlichen Prozesse werden subjektiv, d.h. im Modus der inneren Naturbeherrschung angeeignet. Unter subjektiver Aneignung als innerer Naturbeherrschung kann hier im psychoanalytischen Sinn der Vollzug einer unbewussten Vermittlung von Individuum und Gesellschaft verstanden werden, in der sich die gesellschaftlichen Zwänge und Widersprüche in veränderter – weil verdrängter und darum unbewusster – Weise in der Psyche und dem somatischen Körper der Einzelnen niederschlagen, wo sie zugleich als Ausdruck eines gesellschaftlichen Allgemeinen dechiffrierbar werden. Das subjektive Verhältnis zwischen der psychischen Verdrängung von Gesellschaft und ihrer jeweiligen psychischen Repräsentanz erzeugt im Individuum ein Spannungsverhältnis. Es fächert sich auf zwischen dem äußeren Druck, der auf die Verdrängung und Versagung der somatischen Natur zielt, und der Hervorbringung einer subjektiven Bedürfnisstruktur, die nicht nur nach gesellschaftlichen, dem Individuum äußerlichen Zwecken geformt ist, sondern deren Befriedigungsmöglichkeiten ebenso gesellschaftlich reguliert sind (vgl. Schmid Noerr 1991). Die psychische Erfahrung gesellschaftlicher Herrschaft setzt der intellektuellen Freisetzung des Menschen und damit dem Bildungsprozess Grenzen; auch dann noch, wenn die zuvor unbewussten Prozesse zum Gegenstand eines Bewusstwerdungsprozesses geworden sind. Die Individuen können sich durch Selbstreflexion der kulturellen und kulturindustriellen Voraussetzungen ihres gesellschaftlichen Formierungsprozesses durch Halbbildung zwar bewusst werden, aber sie können sich nicht daraus befreien. Während Heydorn aus der anthropologischen Begründung menschlicher Vernunft die Fähigkeit des Menschen ableitet, durch Bildung über sich selbst zu verfügen, hat Adorno weder eine positive Fassung der menschlichen Natur noch des Erkenntnissubjekts. Stattdessen werden beide von ihren geschichtlichen Zurichtungen her gedacht (vgl. Grüny 2019). Im Blick auf die zugerichteten Einzelnen drückt sich, Casale (2020c) zufolge, Adornos »Verschiebung der Dialektik von Natur und Kultur von einem anthropologischen zu einem psychischen Verhältnis aus« (ebd.: 11). Die Psyche des Subjekts ist komplexer, als dass die Befreiung des Bewusstseins oder die Überwindung der gesellschaftlichen Antagonismen »das Problem der Vermittelbarkeit von Natur und Freiheit« (Städtler 2010: 260) lösen könnte. Die Subjekte von Bildungsprozessen sind, in Adornos Sinn, unhintergehbar zweite Natur. Der Natur entkommt man nicht: Nicht nur weil sie als zweite Natur zur Unmittelbarkeit des individuellen Daseins, der notwendige Grund seiner gesellschaftlichen Selbsterhaltung geworden ist, sondern auch und gerade weil sie im Zweck der Herrschaft, der Naturbeherrschung,
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nicht aufgeht. Das ist, so Christoph Menke (2018a), »die Erfahrung der Natur, die dem Geist, der Kultur und Gesellschaft immanent ist. Die geistigen Formationen des Menschen operieren anders als die natürlichen; sie operieren nach Begriffen, Normen und Ideen […]. Aber in allem geistigen Operieren ist zugleich eine Erfahrung des Nichtgeistigen, des Natürlichen enthalten.« (ebd.: 32) Dieser Moment einer anderen Natur in der zweiten Natur ist für Adorno somatisch vermittelt.
Bildung und Soma Adorno gebraucht den Begriff des Somatischen nicht als naturwissenschaftliche Positivität oder medizinisches Objekt7 . Es lässt sich mit ihm also mehr herausstellen als »der griechische Begriff ›soma‹ […] meint, mit dem in der Medizin und in der Psychologie 7
Von Adorno selbst liegt keine Schrift vor, in der das Somatische als eigenständiger Gegenstand begrifflicher Arbeit sichtbar wird. Dennoch finden sich in seinen Schriften eine Vielzahl von Motiven, Anmerkungen und Überlegungen, die den Zusammenhang von Körperlichkeit und Philosophie zum Ausdruck bringen (z.B. das »Leibliche«, das »Leibhafte«, das »immanent Somatische«, das »Körpergefühl«). Adorno hat das Somatische in vielen Einzelanalysen zu Erkenntnistheorie, Moralphilosophie, Ästhetik, Metaphysik und Gesellschaftstheorie als deren immanenten Widerspruch, ihr Nichtbegriffliches, ihr Nichtidentisches freigelegt. Man kann sie aus seinen Texten herausarbeiten und – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – bildungstheoretisch auf den Prüfstand stellen. Alfred Schmidt (1983) betrachtet die körperliche Dimension als eine der zentralen »Problemschichten« (ebd.: 15) des Materialismusbegriffs Adornos. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf die »Frage nach dem Verhältnis des Materialismus des physisch-leiblichen Seins zu dem des gesellschaftlichen Seins« (ebd.: 16) sowie hinsichtlich des Verhältnisses von Materialismus und Metaphysik (vgl.: 27ff.). Grüny (2019) vertritt die These, Materialismus umfasse im Sinne Adornos »nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, eine kritische Gesellschaftstheorie im Gefolge von Marx, sondern vormarxistische Motive wie Individualität, Objektivität und Materie. […] Man kann sagen, dass der Körper einer der Angelpunkte ist, der all das zusammenhält.« (ebd.: 437) Weiter weist Grüny darauf hin, dass das Motiv des Körpers in der Sekundärliteratur eher en passant erwähnt würde (vgl. ebd.). Trotz der eher randständigen Thematisierung ist jener Sachverhalt dennoch von unterschiedlichen AutorInnen und Schriften aufgegriffen und in die Analysen und Gedankengänge eingewoben worden. An quantitativ erster Stelle hinsichtlich der Veröffentlichungen steht der moralphilosophische Gehalt der somatischen Vermittlung. Einschlägig sind hier Schweppenhäusers Arbeit über eine Ethik nach Auschwitz (2016 [1993]) sowie Arbeiten von Kohlmann (1997), Schmid Noerr (2007), Wischke (2003, 1996), Menke (1997, 2004, 2006), Freyenhagen (2016). Die unterschiedlichen Beiträge zum Verhältnis von Soma und Moral kreisen insbesondere und in erster Linie um den Zusammenhang zwischen körperlichem Schmerz, somatischem Impuls und moralischem Urteil. Kritisch dazu: Ellmers (2020). An der Schnittstelle von Moralphilosophie, Erkenntnistheorie und Naturgeschichte argumentiert Habermas (2005), der die Grenze der Freiheit des begrifflichen und des moralischen Urteils an der gesellschaftlichen und der somatischen Natur der Individuen verortet. Zum Zusammenhang von Erkenntnis und zweiter Natur siehe auch: Hogh/König (2011). Erkenntnistheoretisch erfolgt der Zugang zum Somatischen insbesondere über die Topoi des Leidens und der Negativität. Zu nennen sind hier insbesondere die Texte von Theunissen (1983), Angehrn (2003, 2014), Geuss (2003), Grüny (2012, 2014), Lo (2002), Benini (2014) und Scheit (2016). Eine Wendung ins Politische erhalten die Topoi hingegen in der Studie Hans (2016). Festzustellen ist auch, dass die moralphilosophisch und erkenntnistheoretisch geführten Auseinandersetzungen an der Schnittstelle von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse argumentieren (vgl. König 2016; Lo 2020), während die ästhetische Bedeutung des Körpers bei Adorno auch aus phänomenologischer Richtung gedeutet wird (vgl. Grüny 2019, 2014). In einem weiteren Strang findet sich die somatische Dimension rückgebunden an die Naturgeschichte
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weiterhin lediglich der organische Körper (physis) bezeichnet wird, der abgetrennt von der Psyche existiert« (Zirfas/Lohwasser 2020: 130). Im Gegenteil: Für Adorno bildet es den interpretatorischen Knotenpunkt dessen, was man als naturgeschichtliches Verhältnis bezeichnen könnte: einen durch zweite Natur hervorgebrachten, zweite Natur reproduzierenden und sich als zweite Natur erfahrenden und artikulierenden Körper. Das Soma ist in zweite Natur sublimierte und damit nicht mehr ungeformte, aber auch noch nicht von zweiter Natur völlig überformte körperliche Natur. Als solche noch nicht vollständig überformte Natur bleibt das Somatische ein den Formen zweiter Natur immer auch Fremdes, Formloses und Unordentliches – kurz: Nichtidentisches. Ausgehend vom Begriff des Nichtidentischen als somatischer Natur soll in dieser Arbeit der Begriff der Bildung – die Gedankenfigur Christiane Thompsons (2009) aufgreifend – an die ›Grenzen der Erfahrung‹ geführt und mit der Frage verbunden werden, ob und wenn ja, wie sich dadurch Erfahrungsweisen entdecken ließen, die die Herrschaft der zweiten Natur unterbrechen können. An einigen Aspekten soll nachvollziehbar gemacht werden, worin das Spezifische des Somatischen in der zweiten Natur besteht und warum es hier als entscheidender Schlüssel für die bildungstheoretische Interpretation von Adornos Werk dienen wird. Die einfache Tatsache, dass es keine Bildung ohne Körpererfahrungen gibt, jedoch eine Vielzahl von Körpererfahrungen, die nicht auf Bildungsprozesse hindeuten, wirft die Frage auf, worin das Spezifische »verkörperter Bildung« (Casale/Rieger-Ladich/ Thompson 2020) besteht. Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend damit zusammen, wie der Körper der Bildung gedacht und wie Bildung als Erfahrung bestimmt wird8 . Obgleich Adorno weder ein ausgearbeitetes theoretisches Modell des Somati-
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des Menschen als Tier, dessen Kreatürlichkeit im Horizont der verschiedenen Manifestations- und Ausdrucksweisen der Mensch-Tier-Relation reflektiert wird (vgl. Hoffmann 2003, 2019). Christiane Thompson hat die Bedeutung des Erfahrungsbegriffs für die Bildungstheorie Adornos in der Studie Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Philosophie (2009) grundlegend bearbeitet. Mit Thompsons Studie teilen die hier vorgelegten Überlegungen nicht nur den Anfangsverdacht, dass »Adornos ›Phänomenologie‹ von Bildung und Halbbildung mehr als nur eine kulturkritische Zeitanalyse darstellt« (ebd.: 81), sondern auch die Konsequenz daraus, den Begriff der Erfahrung, mit dem Adorno versucht, eine »objektgeleitete« (ebd.: 118; Herv. i.O.) und »offene Erfahrung geltend zu machen, d.i. eine Erfahrung, die über die Bestimmung durch das Subjekt hinausgeht« (ebd.: 105; Herv. i.O.) als dessen bildungstheoretischen Schlüsselbegriff zu erörtern (siehe hierzu auch: Kappner 1984; Thompson 2006). Die Frage, wie Bildung als eine erkennende Erfahrung gedacht werden kann, die nicht bloß auf dem Weg des Bewusstseins gemacht wird, lässt sich – Käte Meyer-Drawes (1990) Interpretation Adornos folgend – als eine nach der ›Erweiterung der Vernunft‹ verstehen (vgl. ebd.: 51). Ihre Studie über die Illusionen der Autonomie (1990) erklärt in diesem Sinne das Somatische zum »Einfallstor konkreter historischer Realität« (ebd.: 53) und überführt es in das dynamische Geschehen von Bildungsprozessen. Aus den vernunftkritischen Potentialen Adornos und Merleau-Pontys entwirft Meyer-Drawe eine Konstellation des denkenden und des sich bildenden Subjekts, das die »Signatur unserer leiblichen Existenz und damit die Spuren einer Erfahrungsgeschichte [bewahrt], deren Materialität sich im Denken nicht ohne gravierende Folgen bestreiten läßt« (ebd.: 64f.). Dabei fügen sich verschiedene Logiken ineinander, die dem »Abbau von Leibfeindlichkeit« (ebd.: 48) gewidmet sind. Etwa solche, die zum einen die Animalität und zum anderen die Leiblichkeit des Welt- und Objektbezugs betonen. Weitere Schriften, die den Zusammenhang von Bildung und Soma bei Adorno aus pädagogischer Perspektive bearbeiten: Wulf/Wagner (1987), Schäfer (2012), Huhtala (2016), Burghardt (2019).
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schen vorgelegt, noch eine Bildungstheorie am Leitfaden des Somatischen formuliert hat, wird mit psychoanalytischen und ästhetischen Mitteln zu zeigen sein, dass er eine konkrete Vorstellung davon hat, dass die Möglichkeit von Bildung in konstitutiver und unaufhebbarer Weise somatisch vermittelt ist. Wie bei Nietzsche und Freud wird der Körper in Verbindung mit einem Triebgrund und in seiner psychischen Vermittlung bestimmt. Soma ist bei Adorno ein Vermittlungsbegriff, der den Körper als geschichtliches Verhältnis kennzeichnet. Als solches »grenzt [es] an physischen Schmerz und an Organlust; ein Stück Natur, das nicht auf Subjektivität sich reduzieren läßt.« (PT II: 160) Den Zugang zu einer solchen Auffassung des Körpers als zweiter Natur und als Triebgrund liefert zunächst die psychoanalytische Interpretation individuellen Leidens, die sich in Form von Symptomen manifestiert. Symptome sind Verdrängungsphänomene, die infolge der psychischen Regulierung von Affekten, Trieben und Impulsen und der dabei entstehenden Konflikte hervorgebracht werden. Dass dies nicht nur ein psychischer sondern immer auch ein geschichtlicher Prozess ist, begründet das Erkenntnisinteresse an Symptomen als Gegenstand einer kritischen Theorie des Individuums. Über den psychischen Immanenzzusammenhang hinausgehend, treten in Symptomen das gesellschaftliche, soziale und kulturelle Gewordensein der Natur der Einzelnen in Erscheinung. Aus diesem Grund ist »mit Soma ein Körper bezeichnet, dessen Psyche zur Bühne der Dialektik von Natur und Kultur wird« (Casale 2020c: 12). Das Spezifische dieser psychischen Erscheinungsweise des Körpers besteht darin, dass die psychische Regulierung des Verhältnisses zur eigenen Natur in einem doppelten Sinne vergesellschaftet ist. Nicht nur strukturieren soziale, d.h. normative Ordnungen individuelle Handlungsspielräume – gleichzeitig ist auch das Verhältnis, das das Individuum zu diesen Ordnungen einnehmen kann, gesellschaftlich vermittelt: in Form der Verdrängung. Dadurch werde man, so Adorno, gezwungen, »nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse [zu] verdrängen, sondern auch noch alle die Symptome, die in bürgerlichen Zeiten aus der Verdrängung folgten« (MM: 96f.). Als Manifestationen einer doppelten Verdrängung werden Symptome zu Zeichen gesellschaftlich hervorgebrachter Leidenserfahrungen, aus denen die Reflexionen aus dem beschädigten Leben einen bedeutsamen Teil ihres stofflichen Gehalts erhalten9 . Für Adorno ist das Somatische ein historisches Phänomen nicht nur im psychischen sondern auch im affektiven Sinn. Das Leiden als Affektion ist ein Modus des körperlichen Empfindens, der sich in der Erfahrung von Schmerzen bemerkbar macht. Die notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung dieser Erfahrung besteht darin, dass »der Schmerz durch übermäßiges Affizieren […] sich in Richtung Unerträglichkeit bewegt« (Grüny 2009: 14). Was die Affektion zum Leiden macht, ist nicht
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Für Shierry Weber Nicholsen (2018) lesen sich die Aphorismen der Minima Moralia »als ob Hegels Phänomenologie dazu gezwungen worden wäre, die Kulturindustrie in Betracht zu ziehen und so zur Minima Moralia wurde« (ebd.: 66). Zu dieser Analyse fügt sie in dem Text eine weitere hinzu: »Die Minima Moralia ergründen somit den Kampf des reflektierenden Individuums um den Erhalt des eigenen Denk- und Erfahrungsvermögens inmitten der Konstellation von Herrschaft, Individuum und Gesellschaft, in der schon der bloße Gedanke an ein gutes Leben nicht mehr als ein verglühender Funke ist« (ebd.).
Einleitung
rein die Steigerung des Schmerzes ins Unerträgliche, sondern ihr Verhältnis zur Geschichte. In dem Moment, wo sich die Affektion nicht nur in einem historischen und sozialen Kontext zuträgt, sondern durch eben jenen historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang hervorgebracht wird, verwandelt sich auch der körperliche Schmerz von einem physiologisch-medizinischen in ein geschichtliches Phänomen. Die Erfahrung von Auschwitz stellt hier den entscheidenden Bezugspunkt dar, von dem aus die »Negation des physischen Leidens« (ND: 203) und die »Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz […], dem die Individuen ausgesetzt sind« (ebd.: 358), als geschichtliches Phänomen reflektiert wird (vgl. Schweppenhäuser 2016 [1993]; Scheit 2016). In der geschichtlich fundierten Bestimmung des »quälbaren Körpers« (M: 182) zeigt sich der Abstand zum phänomenologischen Zugang und dessen Auffassung von verletzbarer und affizierbarer Leiblichkeit (vgl. Waldenfels 2005; Meyer-Drawe 1990, 2020). Die phänomenologische und die psychoanalytische Reflexion körperlichen Leidens unterscheiden im Hinblick auf die Bestimmung der Erfahrung von Körperlichkeit in grundsätzlicher Weise. Während es der phänomenologischen Entschlüsselung des Leibes und »Beschreibung sinnlicher Erfahrungen […] dank ihres ausklammernden (dekonstruktiven) Verfahrens gelingt, die transzendentale Nacktheit des Leibes zur Sprache zu bringen« (Casale 2020c: 12), erfasst Adorno den quälbaren Körper, ausgehend von der Erfahrung seiner Verdrängung10 . Für Adorno ist der Körper immer ein konkretes Etwas, dessen Bedeutung sich weder unmittelbar noch durch Sinnzuschreibungen, sondern nur ausgehend von den geschichtlichen Bedingungen und Prozessen seines Gewordenseins und Daseins sowie den somatischen Zeichen, also Impulsen und Körperempfindungen erschließt. Und aus diesem Grund kann bei Adorno sinnvoll nur von Soma und nicht von Leib gesprochen werden11 . 10
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Entscheidend ist nicht, warum der Körper gequält werden kann, sondern warum der Körper gequält wird. Statt von Verletzlichkeit als grundlegende, den Verletzungen vorausgehende Möglichkeitsbedingung auszugehen, beschreibt Adorno die Erfahrung körperlicher Schmerzen als soziale Praxis, die »sich einer verheerenden Formel von (missverstandener) Reziprozität [verdanke]« (König 2019: 322): »Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen musste.« (EnA: 682) Den äußersten Ausdruck von körperlichem Leiden und Geschichte stellen die von den Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern verübten Demütigungs- und Vernichtungskonzepte dar. Sie verwandelten den Körper der Inhaftierten in Objekte der blinden »Zerstörungslust« (Beland 2004: 192). Die Ausschließlichkeit der historischen Erfahrung von Auschwitz besteht Adorno zufolge in besonderer Weise darin, dass in ihr Geschichte und körperliche Qual unmittelbar zusammenfallen. Zwischen der Erfahrung der geschichtlichen Wirklichkeit und der Erfahrung körperlicher Schmerzen gibt es kein Drittes und darum kann jene Erfahrung nachträglich weder in einen Sinnzusammenhang integriert, noch zum Material kultureller Lernprozesse gemacht werden. Insofern ist die bildungstheoretische Auseinandersetzung mit diesem zentralen Aspekt der Shoah durch eine Ambivalenz gekennzeichnet: Auf der einen Seite geht es um die Einsicht, dass Bildung und Kultur, deren normative Implikationen im Gegensatz zum nationalsozialistischen Zivilisationsbruch stehen, als gescheitert gelten müssen. Auf der anderen Seite steht die Einsicht, dass Bildung und Kultur nicht als gescheitert gelten dürfen, will man sich nicht von den Konzepten von Freiheit und Würde verabschieden. Für die Bildungstheorie nach Auschwitz ist die Erfahrung der körperlichen Vernichtung also beides: zum einen Ausweis ihres Scheiterns und guter Grund von dem Begriff Abschied zu nehmen und zum anderen notwendiger Ausgangspunkt um eine
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Das Somatische ist konstitutiver Bestandteil der erkenntniskritischen Einsicht, dass Bildung – anders als in der hegelianischen Bestimmung des Bildungsprozesses – als Aufhebung der Vermittlung nicht nur gesellschaftlich, sondern in fundamentalerer Weise nicht gelingen kann. Rita Casales (2020b) Überlegung Bildung als Vermittlung erörtert im Modus der immanenten Kritik die Bruchstelle der hegelianischen Aufhebungsfigur, von der aus sich in einem nächsten Schritt die somatische Verwobenheit in den ursächlichen Zusammenhang des synthetischen Scheiterns zeigt: »Mit Hegel wird in dem Prozess der Entfremdung die Bedingung der Entstehung von Bildung gesehen, d.h. in der Möglichkeit der Affektion durch das Unbekannte sowie durch das aus Gewohnheit oder alltäglicher Blindheit fremd gewordene Bekannte. Jenseits von Hegel wird Bildung nicht als Aufhebung der Entfremdung gedacht, sondern als die Erfahrung betrachtet, die aus der Entfremdung entsteht. Bildung ist in diesem Sinn in ihrer Entstehung, die Erfahrung der Spaltung des Subjekts, in der Form ihrer Verobjektivierung die Aufrechterhaltung, die Kultivierung, die Wahrung der Spaltung, in ihrer epistemischen und ästhetischen Form die Komposition des Getrennten, des Dissonanten.« (Casale 2020b: 122; Herv. i.O.) Bildung wird hier als Verhältnis unterschiedlicher Bedingungen erläutert. Die Erläuterung ist selbst kategorial vermittelt. Bedingung der Möglichkeit, um Bildung als Vermittlung zu denken, ist die Kategorie der Negativität, die hier in drei Richtungen ausformuliert wird: als Entzweiung, als Unbestimmtheit und als Leiden12 . Entscheidend an der kategorialen Vermittlung ist – entgegen ihrer transzendentalen Begründung – die Geschichtlichkeit der Kategorie.
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Wiederholung zu verhindern. Für Adorno scheint klar, dass nur durch die »Wendung aufs Subjekt« (Paffrath 1992) und durch die Bearbeitung dieser Paradoxie ausgehend von der historischen Erfahrung der Shoah – der somatischen Erfahrung absoluter Negativität –, ein Begriff moderner Subjektivität entfaltet werden kann, der über ihre Bestimmung als Zustand vollendeter Naturbeherrschung, in deren verdinglichter Zugriffsweise auf den Körper das mögliche Umschlagen in Barbarei bereits vorbereitet ist, hinausgeht. Die begrifflichen Konstellationen, die sich mit dem Topos Bildung und Negativität befassen, werden im bildungstheoretischen Gegenwartsdiskurs auf ganz unterschiedliche Weise herausgearbeitet und gedeutet. Dabei gibt es verschiedene – wenn auch mitunter lose – Fäden, die die Deutungsangebote durchziehen, miteinander verbinden und ineinander verknoten. Hinsichtlich der Frage nach dem Umgang mit den »modernen, bürgerlichen Rationalitätsformen« (Casale 2016a: 32) lassen sich grob zwei Stränge identifizieren, die sich zwischen Selbstreflexion und »Bruch« (ebd.: 35) mit der bürgerlichen Form des Wissens aufspannen. Getrennt voneinander verlaufen die Fäden, die zum einen Bildung und Negativität weiterhin aus einer dialektischen Tradition heraus als Spannungsverhältnis von Entäußerung, Entfremdung und Vermittlung begreifen (vgl. Heydorn 2004 [1973]; Buck 1984, 1989; Kappner 1984, 1977; Pongratz 1987; Gruschka 1988; Koch 1995; Euler 2003; Koneffke 2006; Casale 2016a, 2018, 2020b; Casale/Oswald 2019) oder zum anderen eine differenz-, widerstreits- und alteritätstheoretische Perspektive einnehmen (vgl. Ruhloff 1991; Meyer-Drawe 1991, 1996; Schäfer 1996, 1999, 2007, 2012; Ricken 2005, 2006, 2002; Koller 1999; Benner 2005; Wimmer 1996, 2006; Thompson 2004, 2009). Es liegen auch Versuche vor, diese beiden Stränge historisch (Casale 2016) und systematisch (Gelhard 2018; Thompson 2006; Schäfer/ Thompson 2010) zu verknüpfen. Festzustellen ist hierbei, dass Adornos sich für Unmittelbarkeit, Differenz, Nichtidentität öffnende Dialektik als Anstoß oder Schauplatz jener Verknüpfung gedacht werden kann (vgl. Thompson 2009).
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Bildung durch Negativität und Bildung als Negativität Die Geltung der Negativitätskategorie ist gekoppelt an eine Ambiguität in Adornos Bestimmung des Leidensbegriffs. Dass dieser nicht nur eine gesellschaftskritische sondern auch eine epistemologische Dimension besitzt, fasst der Begriff des »Leidens an der Nichtidentität« (Lo 2020: 76) als psychisch erfahrbare, »kognitive Dissonanz« (ebd.: 85)13 . Sie stellt sich ein, wenn zwischen dem subjektiven Wissen des Gegebenen und dem, was man darüber hinausgehend, wissen könnte, eine Lücke des Nichtwissens und der Unbestimmtheit klafft. Adorno deutet die Lücke zunächst in der Argumentationslinie Hegels als ein Erleben der »Nichtidentität der Menschen mit ihrer eigenen Welt, die eben doch noch gar nicht ihre eigene Welt ist, die ist eben der Grund jener Zerrissenheit, jenes Leidens, und jener Negativität, die […] nur durch Arbeit, Geduld, Ernst und Anstrengungen des Begriffs überwunden werden kann« (ED: 70). Jedoch ist das Hegel’sche Motiv der Selbstüberwindung des geistigen Leidens nicht der einzige Zugang, die kognitive Dissonanz zu bestimmen. Stattdessen geht es darum, ihre immanente Dialektik zu verstehen, die »kündet vom Leiden an der Unerfülltheit ebenso wie von der Lust, die in der Spannung, dem Unerfüllten selber liegt« (GS 13: 64; Herv. rb). Die Herkunft der Dissonanz aus der Musik gibt der kognitiven Leidenserfahrung eine ästhetische Wendung. In der Musik Wagners findet, Adorno zufolge, eine Verschiebung im bis dato tradierten Schema statt, das unterscheidet zwischen der Konsonanz, die für Positivität und Erfüllung steht und der Dissonanz, die Negativität und Leiden repräsentiert. In Wagners Musik könne man stattdessen entdecken, dass der Dissonanzakkord als musikalische Ausdrucksform des Leidens nicht zu trennen ist vom Moment des »erotischen Dranges und damit das Agens schlechthin repräsentiert […]: er ist süß und Not. […] Daß 13
In ihrer Studie Jenseits des Leidens. Adornos Beitrag zu einer ›Denkpsychologie‹ verfolgt Ming-Chen Lo (2020) das Anliegen einer begrifflichen Schärfung des Leidensbegriffs Adornos in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Los interpretatorischer Schwerpunkt liegt auf Adornos »Projekt, zwischen Psychoanalyse und Erkenntnistheorie zu vermitteln, [das er] stets weiterentwickelt hat« (Lo 2020: 111). Einsatzpunkt der Argumentation ist die Feststellung, dass »[i]n Adornos Schriften der Leidensbegriff stets in einer schillernden Zweideutigkeit zu lesen [sei]: Ob das Leiden ein ›suffering‹ ist oder aber ein unbewusstes Geschehen bedeutet, bleibt offen.« (ebd.: 158) Leiden ist also nicht nur ein affektives und psychisches Phänomen, das auf subjektiver Seite Auskunft darüber gibt, dass die Anforderungen und Zumutungen der Realität nicht bewältigt werden können. Lo plädiert daneben für eine ›denkpsychologische‹ Einholung von »Leiden als unbewusste (Un-)Lust (ebd.: 29), die sich als Kritik an der »unglücklichen inhaltlichen Verkürzung« (ebd.: 88) von Psyche und Intellekt versteht. In Differenz dazu, den »Leidensbegriff ausschließlich im Sinne des negativen psychischen sowie des physiologischen Zustands« (ebd.: 71) zu erläutern, vollzieht die Autorin eine transzendentale Erläuterung der Triebstruktur des Denkens. Sie kommt hierbei zu dem Schluss, Adornos Bestimmungen des psychoanalytischen Begriffs des Es stünden »in klarem Unterschied zu Freud […]. Alle Menschen teilen das ›Es‹, das in uns denkt und verantwortlich ist für unsere Tendenz zum Konstruieren. Der Freud’sche Trieb zur Selbsterhaltung wird bei Adorno mit einem kritischen Bezug auf Kant somit zur Voraussetzung der Erkenntnis.« (ebd.: 112) Damit konstruiert Lo jedoch ein interpretatorisches Szenario, in dem sich zwei konkurrierende erkenntnistheoretische Lesarten unvermittelt gegenüber stehen: Der »unbewusste Drang zur Objektkonstruktion« (ebd.) ist primär epistemisch zu verstehen, im Gegensatz zur psychoanalytischen Auffassung von der Genese und Praxis des Denkens. Ein solcher Dualismus steht in einem gewissen Gegensatz zu Adornos Anliegen, die Vollzugsweise von Erkenntnisprozessen und die psychische Bedingtheit des Individuums, das denkt, in ihrer immanenten Dialektik zu erörtern.
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Leiden süß sein kann, daß die Gegensätze von Lust und Unlust nicht starr einander gegenüber stehen, sondern vermittelt sind, […] hat es dann der Dissonanz ermöglicht, über die gesamte Musiksprache hinaus sich auszubreiten.« (Ebd.) – bis hinein in die Erkenntnistheorie des Bildungsbegriffs14 . Der Begriff der kognitiven Dissonanz meint also mehr als die oben suggerierte Alternative zwischen Wissen als zu erreichende Lustund Nichtwissen als zu überwindende Leidenserfahrung15 . Dieses Mehr ist vergegenwärtigt in einer Dialektik zwischen ästhetischer Dissonanz, die Lust und Schmerz im Motiv des »Genu[sses] der Qual« (ebd.) zusammendenkt, und kognitiver Dissonanz, die dem »Genuss des Nichtwissens« (Seel 2014: 95) einen erkenntnistheoretisch konstitutiven Platz einräumt. Psychoanalytisch gesprochen geht es darum, die Erfahrung des Nichtwissens nicht als Bedrohung wahrzunehmen, die es abzuwehren und zu kontrollieren gilt, sondern den Zustand der Unbestimmtheit selbst zu bejahen. Nicht nur würde die Verdrängung des Nichtwissens »bedeuten[,] nach einem intellektuellen und emotionalen Leben zu streben, das auf sicheren Bahnen dahin gleitet – und somit nach einem Leben, […] das […] gar nicht lebt« (ebd.: 101). Ohne das Moment der Unbestimmtheit ist der Vollzug der Bestimmung, also Bildung, nicht zu denken; genausowenig, wie ohne das Moment der Entzweiung (vgl. Schäfer 2021, 2012b). Während der bloße Genuss des Leidens im immanenten Zusammenhang des Subjekts verbleibt, heißt eine ästhetische oder eine bildende Erfahrung zu machen, sich von sich zu entzweien, über die Involviertheit mit sich selbst hinauszugehen. Adorno spricht in diesem Fall von der »Hingabe an die Sache ohne Zwischenschaltung prästabiliserter Formen« (GS 16: 617). Wenn sich auf eine Sache erkennend zu beziehen heißt, die Sache lebendig, d.h. spontan und unmittelbar zu erfahren, indem man sie nicht kategorial und begrifflich überformt, dann beschreibt das einen Erkenntnisprozess, in dem die Erfahrung der
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Iris Dankemeyers (2020) Studie Erotik des Ohrs befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen der somatischen Erfahrung von Kunstwerken und ihrer geistigen Vermittlung als akustisch bedingtes Ineinander von »Eros und Erkenntnis« (ÄT: 490). Die Autorin greift darin Adornos Beschreibung geistiger Erfahrung als Denkbewegung, in der »mit den Ohren gedacht« (GS 10.1: 11) wird, auf und erschließt sie in ihrem Zusammenhang mit verschiedenen somatischen Erfahrungsweisen des erotischen Geistes. Dabei entwickelt dieser zwar einen Zug in Richtung Transzendentalität, wird aber stets wieder von seinen irdischen Begierden auf das weltliche Dasein verwiesen (vgl. Dankemeyer 2020: 23). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Gunnar Hindrichs (2020) Arbeit Auferstehung des Fleisches. Adornos kritischer Materialismus. Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie die beiden Denkformen negativer Dialektik und kritischer Theorie vermittelt werden können, stößt Hindrichs auf das Leiblich-Materielle als metalogisches Moment, das in der geschichtlichen Immanenz zur Darstellung drängt: »Das Leiblich-Materielle transzendiert nicht nur das Begriffliche. Es bildet auch in sich Transzendenz. Denn der Ort seiner Transzendenz ist durch Negativität gekennzeichnet. Im Leibhaft-Materiellen aber vollzieht sich Negativität nicht in logischen Verneinungen. Sie vollzieht sich als physisches Leiden. […] Der Drang des Leibhaft-Materiellen zur Darstellung ist zugleich der Drang zur Aufhebung des Leidens. […] Entsprechend fordert die Transzendenz des Materiellen über den Begriff zugleich die Transzendenz über die Wirklichkeit des Leidens. Ebendiese Transzendenz hat kritische Theorie im Sinn, Folglich umfaßt die Sehnsucht des LeibhaftMateriellen nach Darstellung sowohl die Grundoperation der negativen Dialektik als auch die Idee der kritischen Theorie.« (ebd.: 208)
Einleitung
Freiheit auf ganz andere Weise zum Ausdruck kommt als im Begriff der Selbstbestimmung als Negation der Negation. Mit Adornos Hinwendung zu einer anderen Auffassung der Freiheit als bildende Erfahrung im Zeichen des Nichtidentischen lässt sich eine erkenntnistheoretische Verschiebung im Bildungsbegriff nachvollziehen, die den Zwang des begrifflichen Schematismus und der reglementierten Erfahrung transzendiert. Die Verschiebung ist mehr als bloße Selbstkritik des Begriffs und Selbstkritik der Vernunft, ihr »kritische[r] Einschlag wandelt den Bildungsgedanken von einem Begriff identifizierender Selbstbestimmung zu einem subversiven Begriff, der Unsicherheit in unser Verhältnis zur Welt und uns selbst bringt« (Thompson 2009: 143). Bildung als Vermittlung geht nicht abstrakt, sondern an einem spezifischen Punkt über den idealistischen Begriff der Bildung hinaus. Die Transzendierung erfolgt an dem Punkt, wo dessen Grundgedanke und Antriebskraft – die Mitsichselbstgleichheit – die Kontingenz der eigenen Position und die Freiheit in der Unbestimmtheit und Formlosigkeit des Somatischen genauso wenig aushalten kann, wie die »Widerständigkeit des Gegenstandes, sein[en] Rätselcharakter, der sich einer identifizierenden Verfügung entzieht« (Schäfer 2018: 119). Bildung durch bzw. Bildung als Negativität – und das ist der entscheidende Punkt der negativ-dialektischen Auffassung von Bildung – bezeichnet zwei Dinge, die zueinander im Widerspruch stehen und zugleich durcheinander bedingt sind: Zum einen bezeichnet Negativität als Fähigkeit zur Bestimmung und zum Urteil durch Negation und Identifikation die Erfahrung epistemischer Macht. Weil jedoch Bestimmung und Urteil keine in sich selbstbestimmten Vollzüge sind – man denke an die Kontingenz ihrer Form und die Entzogenheit des Gegenstandes –, bezeichnet Negativität zum anderen – und in unabdingbarer Weise – die Erfahrung epistemischer Ohnmacht. So sieht etwa Christoph Menke die Differenz zwischen Adorno und Hegel gerade darin, dass sie Freiheit und Negation auf unterschiedliche Weise zusammendenken. Beide setzen Freiheit voraus, verstehen darunter jedoch Unterschiedliches. Während der Begriff der Selbstbestimmung bei Hegel besagt, dass sich in einem bestimmenden Urteil die Freiheit des Denkens als Voraussetzung und als Zweck realisiert, verhalte es sich mit dem Verhältnis von Freiheit und Bestimmung bei Adorno gerade umgekehrt: Die »Kraft der befreienden Negation« (Menke 2018b: 206) bestehe nicht in dem Akt, der die Differenz zwischen Subjekt und Objekt durch Bestimmungen aufhebt, sondern ist befreiend, – so würde ich Menke Umkehrung verstehen – weil es eben kein intellektueller Akt, sondern eine Wirkung ist, die von etwas Unbestimmten ausgeht, aber in Form von Affekten und somatischen Impulsen spürbar wird. Zu der inneren Dialektik dieser Gedankenfigur schreibt Adorno: »Unfrei sind [Subjekte] als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen – nichts anderes ist die Nichtidentität des Subjekts mit sich –, auch des Zwangscharakters der Identität ledig werden. […] Die Aporie hat den Grund, daß Wahrheit jenseits des Identitätszwanges nicht dessen Anderes wäre, sondern durch ihn vermittelt.« (ND: 294) Das Zitat beschreibt die Logik des Bildungsprozesses als Bewegung, die sich in der Vermittlung zwischen den somatischen Impulsen, die zunächst formlos und unbestimmt sind und dem Nachdenken darüber vollzieht, worin die überwältigende Qualität, die
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Affizierung oder die Erschütterung, besteht. Es gibt hier etwas in der Erfahrung, das Moment des Nichtidentischen, das nicht reflexiv konstituiert ist und als Erfahrung in einer grundlegenden Differenz zum Begriff steht und doch auch konstitutiv für die Erkenntnis ist und von dieser eingeholt werden muss. Ein solcher Begriff von Erkenntnis wäre gleichbedeuten mit einer Form des Urteilens, welche das Moment des Ausdrucks nicht unmittelbar mit dem identifizierenden Akt des Begriffs kurzschließt, sondern versucht diese zu vermitteln. Dies setzt einen Zugang zum Gegenstand voraus, den Adorno in dem mimetischen Moment der Erkenntnis verortet und in der Vorlesung über Negative Dialektik beschreibt als »das Moment des unmittelbaren Sichgleichmachens der Lebewesen und des Bewußtseins an das, was anders ist als sie; jene Reaktionsform, die dann im Laufe der Jahrtausende nicht nur durch die begriffliche Erkenntnis ersetzt, sondern mit einem schweren Verbot belegt worden ist. Und man kann, um eine neue Quadratur des Zirkels vor ihnen zu demonstrieren, sagen, daß es die Aufgabe der Philosophie sei, eben jene Momente der Identifikation mit der Sache – anstelle der Identifikation der Sache – die begriffslos in der mimetischen Verhaltensweise gelegen sind und die von der Kunst ererbt worden sind, nun eben doch noch dem Begriff zuzueignen.« (VND: 135; Herv. i.O.) Die Wendung von Hegels Begriff der Bildung als Selbstbestimmung zu Adornos Auffassung von Bildung als subjektive Zueignung – nicht Aneignung – ist also ästhetisch vermittelt. Das ästhetische Moment in der Bildung verweist auf eine Erfahrung, die den Gegenstand nicht sich gleichmachen muss, sondern umgekehrt sich dem Gegenstand angleichen, sich ihmanschmiegen kann. Die Erfahrung, die der Begriff der Zueignung einfängt, erschließt Bildung aus dem Moment von Unbestimmtheit und Kontingenz, der die zur zweiten Natur gewordenen geschichtlichen Vermittlungen durchbricht und die Erkenntnis öffnet für ein Anderes. Gemeinsam ist allen drei Manifestationen der Negativität – Entzweiung, Unbestimmtheit, Leiden –, dass sie somatisch und psychisch vermittelt sind und dass sich diese Vermittlung durch Denken nicht aufheben lässt. Man kann sich jene Voraussetzungen zwar bewusst machen, sich aber nicht von ihnen befreien16 . Die in den vorliegenden Überlegungen zu leistende Arbeit an der Bewusstwerdung über die Vorausset16
In Skeptische Bildung. Prüfungsprozesse als philosophisches Problem legt Andreas Gelhard (2018) an der Schnittstelle von Hegels negativistischem Konzept der Bildung und Rancières politischer Theorie des Dissenses eine Lesart des Bildungsbegriff vor, der Bildung als »Praxis der permanenten Befreiung« (ebd.: 22) bestimmt. Bildung nimmt darin die Form einer negativen Dialektik an, die die Dynamik von Entzweiungsprozessen in Form »dissensueller Desidentifizierung« (ebd.: 402) betont. Bildung als Befreiung wird als Prozess der negativen Bewährung bestimmt und mit dem Zweck politischer Befreiung verbunden. Adornos Auffassung von Bildung als Dialektik von Natur und Geist wird darin als »einfacher Dualismus, der immer wieder die dialektische Darstellungsweise von Adornos Philosophie aussetzen lässt« (ebd.: 398), gelesen. Der Dualismus besteht in dem Gegenüber von »Fixierung auf Naturbeherrschung« (ebd.: 318) einerseits und der Vorstellung, Freiheit sei aus einer somatischen Quelle zu schöpfen, andererseits. Ersteres verwandelt Bildung in bloße Kontrolle, zweiteres in bloße Unwillkürlichkeit (vgl. ebd.: 398). Gelhard kommt zu dem Schluss: »Dieser Dualismus zwischen einer Unwillkürlichkeit, die das zu rettende Moment des Natürlichen wäre, und einer gesellschaftlichen Kontrolle, die Naturbeherrschung auf dem Feld der Kultur fortsetzt, verhindert jede fruchtbare Reflexion über Prüfungsprozesse.« (ebd: 400) Damit
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zungen von Bildung konzentriert sich hierbei im Wesentlichen auf drei Aspekte: Die naturgeschichtliche Rekonstruktion der Konstitutionsgeschichte des Bewusstseins; die ästhetische Bestimmung der somatischen Affektion durch einen Gegenstand und die somatische Erörterung des ästhetischen, begriffslosen Urteilsgeschehens; und die Ausführung des Gedankens, dass Erkenntnisprozesse durchdrungen sind von unbewussten Prozessen – psychoanalytisch verstanden als Phantasien, Ängste, Wünsche, Affekte, Konflikte. Bildung als Prozess der Bewusstwerdung der eigenen, notwendigen und unaufhebbaren »Voraussetzungsabhängigkeit« (Menke 2018b: 115) zu bestimmen, wird hier verstanden als Erkenntnisprozess, der die Erfahrung(en) des Nichtidentischen herauszuarbeiten versucht, um damit das zu leisten, was Adorno als Aufgabe der Philosophie versteht: die »Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu verhelfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert« (DSH: 336). Es gibt etwas in der Erfahrung, das nicht begrifflich erfasst werden kann und dennoch konstitutiv ist für das, was mit Adorno als Bildung gedacht werden kann (vgl. Thompson 2009). Die Herausforderung dieser Arbeit wird insofern darin bestehen, die begrifflich eigentlich nicht fassbaren somatischen und psychischen Erfahrungen einzuholen und dabei zugleich zu erörtern, wo die Möglichkeit begrifflicher Erkenntnis an die Grenzen der Erfahrung des Nichtidentischen stößt. Die Vermittlung zwischen Begriff und Nichtidentischem ist eine zutiefst somatische Angelegenheit, die sich in der Praxis der Mimesis verdichtet. Die mimetische Verhaltensweise vollzieht sich an der Schwelle zwischen der Erfahrung einer Sache und ihrer begrifflichen Zueignung. Die Verschiebung von Aneignung zu Zueignung ist das Resultat einer Historisierung der Erkenntnistheorie am Leitfaden des Somatischen. Während Aneignung eine denkende Aktivität bezeichnet, bei der der Zugriff auf eine Sache den Zweck ihrer Inbesitznahme verfolgt, meint Zueignung »eine körperliche Verhaltensweise, die aber nicht unbedingt vom Körper ausgeführt wird« (Grüny 2019: 441). Die Fähigkeit der Zueignung weist zum einen über den körperlichen Vollzug hinaus, denn sie ist eine geistig vermittelte Tätigkeit, und zum anderen auf den körperlichen Vollzug zurück, dessen Sensorium den sinnlichen und kategorialen Momenten der Sache nachspürt.
Vorgehen und Aufbau der Arbeit Die Auseinandersetzung mit Adorno soll zeigen, dass unter Bildung eine »bildende Erfahrung« (Thompson 2009: 46) verstanden werden kann, die nicht von der Möglichkeit der Versöhnung mit sich und der Geschichte abhängt, sondern die Erfahrung der Vermittlung in somatischer Hinsicht als Bedingung und die Erkenntnis der Vermittlung in ästhetischer und begrifflicher Weise als Ziel von Bildung erörtert. Zu diesem Zweck gilt es, mit den Schriften Adornos das zu tun, was dieser selbst als Zweck der philosophischen Interpretation von Kunstwerken und der Praxis des Essays begreift: die Verobjektivierung des Phänomens durch die Konstruktion einer Form. Bei dem Phänomen handelt es sich um Adornos kritische Auseinandersetzung bleibt Gelhard in gewisser Weise dem idealistischen Paradigma treu, sich dem Nichtidentischen der Bildung und seiner somatischen und psychischen Gestalt vorerst zu entziehen.
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mit der geschichtsphilosophischen Bestimmung der Geschichte als Fortschrittsprozess der menschlichen Gattungsvernunft und der transzendentalen Begründung von Erkenntnis. Sie bilden zusammengenommen die zentralen Möglichkeitsbedingungen der begrifflichen Fassung des modernen Bildungsbegriffs. Um Adornos Erörterung der Ambivalenzen und Widersprüche des idealistischen Modells von Geschichte und Erkenntnis als Mitvollzug der Verschiebung des Bildungsbegriffs zu verstehen, genügt es nicht, seine Kritik an der Philosophie des Idealismus bloß in ihrem Grundgehalt zu rekonstruieren. Vielmehr fällt die Rekonstruktion jener Denkbewegungen zusammen mit der Rechtfertigung ihres immanenten bildungstheoretischen Gehalts17 . Wenn hier also, wie zu Beginn, die Rede ist von einer verschiebenden Verortung des modernen Bildungsbegriffs, dann kommt darin eine methodologische Zweiteilung zum Tragen: Zum einen soll werkimmanent der Nachweis geführt werden, dass es sich bei Adornos Philosophiekritik in ihrem Gesamtzusammenhang um eine implizite Theorie der Bildung handelt18 . Zum anderen geht es darum, mit Adorno einen Begriff zu entwickeln, der 17 18
Dies so zu tun, liegt nicht zuletzt aus dem Grund nahe, dass es sich bei den Gegenständen der Kritik um die zentralen Elemente des idealistischen Bildungsbegriffs handelt (vgl. Casale 2016a). Aus diesem Grund ist die Arbeit auch kein im genuinen Sinn rezeptionsgeschichtlicher Beitrag. Es soll hier keine Geschichtsschreibung der Rezeption adornitischer Theoreme in der Erziehungswissenschaft geleistet werden. Die Übermenge und die damit einhergehende Unübersichtlichkeit der Arbeiten, die sich, geleitet von einem pädagogischen Erkenntnisinteresse, mit dem Werk von Adorno auseinandersetzen und dieses für die Erläuterung pädagogischer Zusammenhänge fruchtbar zu machen versuchen, untermauern eher das Urteil, dass eine Auseinandersetzung mit der Rezeption – auch nur der wichtigsten Studien – gar nicht umhinkäme, reduktionistisch zu verfahren. Von der hier zu vollziehenden Reduktion betroffen sind in erster Linie die von der Kritischen Erziehungswissenschaft seit Mitte der 1960er Jahre rezipierten Beiträge über Erziehung zur Mündigkeit – damit verbunden sind vor allem die Arbeiten Klaus Mollenhauers (1968), Wolfgang Klafkis (1976) und Herwig Blankertzs (1979) – sowie diejenigen Arbeiten, die sich (kritisch) mit Adornos Wirkungen im Kontext des pädagogischen Diskurses über die Aufarbeitung der Vergangenheit befassen (vgl. exemplarisch: Peukert 1990; Gruschka 1995, 1994; Meseth 2001; Thompson 2017a; Alheim/Heyl 2017; Cremer-Schäfer 2019; König 2019; Andresen et al. 2019). Dass die Rezeption der sogenannten Kritischen Theorie in der Erziehungswissenschaft nicht unumstritten war, zeigen etwa die differenten Einschätzungen zur Rezeption in der Zeitschrift für Pädagogik (1983). Ruhloff (1983) argumentiert in seinem Beitrag, dass es sich dabei allenfalls um eine negative Rezeptionsgeschichte handeln könne. Zuvor kam Mollenhauer – als einer der zentralen Akteure der Rezeption zur selbstkritischen Einschätzung über eine »falsche Rezeption der Kritischen Theorie« (Mollenhauer 1982: 256). In seiner rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktion der Kritischen Theorie in der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren stellt Markus Rieger-Ladich (2014) eine Verschiebung heraus, die auch das gegenwärtig nicht abreißende Interesse der Bildungsphilosophie an Adornos Werk erklären könnte: Während sich die erste Phase der Rezeption in erster Linie um die Entwicklung eines emanzipatorischen Begriffs pädagogischer Praxis bemühte, verschob sich – inspiriert durch die Lektüre der Autoren einer Vernunft und Machtkritik (Jaques Derrida, Michel Foucault) – das Interesse seit Anfang der 1990er Jahre auf die mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung sowie das Spätwerk Adornos (vgl. ebd.: 74). In diesem Zeitraum entspann sich eine diskurs- und disziplingeschichtlich prägende Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten (spät-)moderner und postmoderner Perspektiven auf Erziehung, Bildung und Pädagogik. Eine Verdichtung erfuhren die diskursiven Prozesse in den von Wilfried Marotzki und Heinz Sünker herausgegeben Sammelbänden Kritische Erziehungswissenschaft I – Moderne – Postmoderne (1992) und Kritische Erziehungswissenschaft II – Moderne – Postmoderne (1993). Spannungsreiche Differenzen sowie Schnittstellen markierten die Auseinandersetzung um die Auffassungen von Subjekt
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eine neue, d.h. die Vermittlungserfahrungen der Moderne nicht nur aufnehmende, sondern weiterdenkende Konstellation von Bildung hervorbringen kann. Der begriffliche Ort dieser Wendung ist Adornos Auseinandersetzung mit dem subjektiven und objektiven Erfahrungshorizont von Bildung als zweiter Natur und der in ihr zum Tragen kommenden Bedeutung der historisch und gesellschaftlich vermittelten Körperlichkeit. Man könnte sagen, mit Adorno sollen hier zwei ineinandergreifende Fragen herausgearbeitet werden: Wie viel zweite Natur steckt in Bildung und wie viel Bildung steckt in zweiter Natur? Die Erörterung dieses Zusammenhangs verstehe ich als Versuch, eine naturgeschichtliche Bildungstheorie zu schreiben. Mit Naturgeschichte ist eine Untersuchungsperspektive gemeint, die das Phänomen – hier: die Genesis und Geltung von Bildung als vielfach bedingte Erfahrung – aus und in einem geschichtlichen Bedingungsgefüge erörtert, das durch den Begriff der zweiten Natur vermittelt ist19 . Die Vermittlungsfigur der zweiten Natur soll hier für den Bildungsbegriff methodologisch das leisten, was Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung als »Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt« (DdA: 66) bezeichnen20 : Die immanente Kritik richtetet sich auf die vielfältigen Prozesse, die aus dem »Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen«
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und Subjektivität, die Bedeutung von kritischer Gesellschaftstheorie für die Pädagogik sowie das Ringen um verschiedene Deutungstopoi wie etwa Sprache, Geschichte, Erzählung und Erfahrung. Der Zugang der Naturgeschichte zielt auf die Vergegenwärtigung der Manifestationsweisen von Natur in der Geschichte und die Möglichkeiten von Geschichte in der Natur. Natur kann hier in vierfachem Sinn verstanden werden: als Gegenstand menschlicher Praxis, als Verhältnis von Anpassung und Erhaltung, als das unbewusst bleibende, statische Moment geschichtlicher Dynamik und als zweite Natur, worunter die in einen Naturzustand verselbstständigte Geschichte verstanden wird. Das Spezifische dieses reflexiven Zugangs ist, dass sie Natur nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Kategorie geschichtlicher Reflexion betrachtet. Ihr Grundgedanke basiert darauf, zwei unterschiedliche Modelle von Geschichte – Geschichte als zyklische Struktur (Modell des Mythos) und Geschichte als progressive Struktur (Modell des Fortschritts) – als dialektische Einheit zu betrachten (vgl. Menke 2018). Einer durch die Kategorie der Natur vermittelten Untersuchung geschichtlicher Prozesse geht es darum, zu analysieren, ob geschichtliche Prozesse naturhaft verfasst sind, d.h. ob sie den bereits bestehenden Zustand, die zweite Natur, in sich bloß reproduzieren oder ob sich in ihnen bzw. durch sie hindurch, Wandel vollziehen kann, in dem tatsächliches etwas Neues hervorgebracht wird. Die Hervorbringung von Wandel wird jedoch nicht zurückgeführt auf eine schöpferische Hervorbringung, sondern aus der Naturgeschichte selbst erläutert. Zu dieser gehört es, dass sie nicht nur das Beharrende, sondern auch das Vergängliche und damit die Möglichkeit geschichtlicher Veränderung umfasst. Gleichsam wie die zweite Natur in stetigen, sich selbst unbewussten Prozessen der praktischen Wiederholung immer wieder aufs Neue hervorgebracht wird, beschreibt Vergänglichkeit den Prozess, in dem das vormals bewusstlos Wiederholte nicht mehr wiederholt wird. Zur methodologischen Begründung des Zugangs: siehe Kap. 1. In der Studie Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zu Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses fasst Gunzelin Schmid Noerr (1990) den geschichtlichen Zugang des Eingedenkens als Vergegenwärtigung und Sichtbarmachung der geschichtlichen Herrschaftsverhältnisse, die vermittelt durch die Prozesse und Verhältnisse von Kultur und Gesellschaft, die Geschichte der Subjektwerdung formieren: »Das Innewerden des Geistes als Gewalt, als mit sich entzweiter Natur, trägt den Namen des ,Eingedenkens der Natur im Subjekt‹« (ebd.: 21). Die Reflexion zielt ab auf die Rekonstruktion und Kritik des historischen Prozesses, in dem der Mensch dadurch zum Subjekt wird, weil er seine somatische Natur verdrängt.
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(Horkheimer 1991 [1946): 176; Herv. rb) zwar entstanden, geschichtlich jedoch so weit fortgeschrittenen sind, dass ihre soziale und subjektive Realität – Gesellschaft und Individuum – als Naturverhältnisse erscheinen. Zu jenen Produkten der Verwandlung von Natur und Geschichte sowie zur Reproduktion dieser Transformation zählen Prozesse und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft, die Psyche des Menschen als Resultat der Verdrängung der somatischen Natur, und die Einsetzung der Vernunft als Instrument der Beherrschung der menschlichen und außermenschlichen Natur. Das erste Kapitel, Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff, expliziert die methodologischen und naturgeschichtlichen Bedingungen von Erkenntnisprozessen. Es gilt der Entwicklung des methodologischen Zugangs der vorliegenden Arbeit. Die bildungstheoretische Erörterung des adornitischen Denkens unterliegt ein im nachdrücklichen Sinn immanentes Erkenntnisinteresse, das darin zum Tragen kommt, dass der Zugang und die formativen Bedingungen der Bearbeitung und der Darstellung in den Arbeiten des Autors selbst erschlossenwerden. Der kritische Zug dieses Unterfangens besteht darin, übergangene oder in ihrer Tragweite herabgestufte Referenzen und Einflüsse auszuleuchten. Das Kapitel setzt an bei Adornos Begründung der Philosophie als Deutung. Dabei werden die hierfür zentralen Begriffe – exakte Phantasie, Konstellation und Konstruktion geschichtlicher Figuren – rekonstruiert, um aus ihnen einen Zugang zu konstruieren, welcher in der Lage ist, die Auseinandersetzung mit dem Körper und seinen verschiedenen Erscheinungs- und Ausdrucksweisen in Form einer – mit Axel Honneth gesprochen – »Physiognomie der sozialen Wirklichkeit« (Honneth 2007: 72) zu erschließen. Der zweite Schritt vermittelt Adornos Programm philosophischer Deutung mit der Ausführung der oben beschriebenen Vermittlungsfigur der Naturgeschichte. In diesem Zusammenhang erweist sich die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Allegorie als Möglichkeit, den Blick von der geschichtlichen Erkenntnis hin zum Besonderen erfahrener Geschichte zu lenken. Der dritte Schritt wendet sich Adornos immanenter Kritik der Hegelschen Dialektik zu. Der kritische Bezug der Dialektik auf sich selbst verhandelt im Kern die Frage, ob und wie dialektisches Denken ohne System möglich ist. Die Verschiebung der dialektischen Denkform hin zur negativ-dialektischen Erfahrung unter der Bedingung der Negativität von Begriff und Sache setzt die Konstellation sowohl als sprachliches Medium, als auch als Bedingung dialektischen Denkens voraus. Konstellationen schlagen Brücken über die immanente Spaltung des Begriffs zwischen Erkenntnisprozess und Erkenntnisdarstellung. Die Möglichkeit zur sprachlichen Durchformung hängt nicht nur von der Konstruktion begrifflicher Konstellationen ab, sondern auch von den somatischen und ästhetischen Möglichkeiten der Sprache und der Fähigkeit dazu, das begriffliche Urteil und den sprachlichen Ausdruck zu komponieren. Adorno erläutert die Verobjektivierung der subjektiven Erfahrung aus dem Spannungsfeld zwischen der Deutung des geschichtlich Gegebenen und der Darstellung des Gedeuteten. Das Denken in Vermittlung und die essayistische Form werden hier programmatisch. Im zweiten Kapitel, Bildungstheorie und Naturgeschichte, wird die Erschließung von Bildung als zweiter Natur mit der Beantwortung der Frage nach einer Geschichtsphilosophie ohne Idealismus verbunden. Die Beantwortung vollzieht sich im Modus einer negativen Geschichtsphilosophie, also einer Konstruktion von Geschichte, die zwei zentrale Motive geschichtlicher Reflexion kritisch wendet, deren Gemeinsamkeit darin
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besteht, Geschichte als Prozess des Allgemeinen zu betrachten: Geschichte als Einheit von Sinn und Geschichte als Fortschritt von Freiheit und Vernunft. Adorno erläutert die geschichtliche Entwicklung des modernen Bildungsbegriffs als Naturgeschichte durch zwei geschichtsphilosophische Sachverhalte. Der erste Sachverhalt führt eine Auseinandersetzung mit der Vorstellung von Geschichte als Universalgeschichte des Fortschritts ausgehend von der geschichtsphilosophischen Begründung von Bildung als allgemeinem Fortschrittsprozess. Nachvollzogen wird dabei auch Adornos Versuch, einen negativ-dialektischen Begriff von Geschichte zu denken, der die Impulse der Universalgeschichte aufnimmt und ins Negative wendet. Der zweite Sachverhalt konfrontiert die bildungsphilosophisch konstitutive Vorstellung einer allgemeinen, gattungsgeschichtlichen Vernunft mit der partikularen Realität rationaler Naturbeherrschung, der in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden Ideologie von Arbeit und Tausch sowie der kulturindustriell vermittelten Transformation der Kultur in eine Ware. Sie bilden die zentralen Elemente von Adornos Erörterung der Krise des Bildungsbegriffs. Das dritte Kapitel widmet sich der Wendung auf das Subjekt, deren Gegenstand die Analyse der transzendentalen Begründung des Subjekts als Instanz begrifflicher Synthesis im Horizont von Naturgeschichte bildet. Der begriffliche Schwerpunkt liegt auf der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Spontaneität und seiner Kantischen Bestimmung als selbsttätiges und unbedingtes Vermögen der Konstitution und Synthese von Erkenntnis. Die Auseinandersetzung wird im ersten Schritt geführt als dialektische Vernunftkritik, als Zurückführung des scheinbar Unbedingten auf seine geschichtlichen Bedingungen. Die geschichtliche Ausleuchtung von Spontaneität entspricht einer Reflexion im Inneren des Begriffs. Die nicht-kategorialen, von der kategorialen Struktur verdrängten Momente, um die es hier in erster Linie geht, betreffen die gesellschaftlichen, sachlichen und somatischen Voraussetzungen der Wahrnehmung, Vorstellung und Erkenntnis sowie die Frage, welche Bedeutung sie für die Hervorbringung von Erkenntnissen haben. Als ausschlaggebende Bedingungen der Erkenntnismöglichkeit werden Einfall, Affizierung, Anschauung und Assoziation herausgearbeitet. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf die geschichtlich notwendig gewordene Zuwendung der Erkenntnistheorie zum somatischen Moment. Wenn sich Adorno in der Negativen Dialektik »dem Übergang zum Materialismus« (ND: 193) zuwendet und damit den Einbruch des somatischen Moments in die Erkenntnis meint und wenn er in der Ästhetischen Theorie die leibhafte Erschütterung als »Durchbruch von Objektivität« (ÄT: 363; Herv. rb) bestimmt und zum Schlüsselmoment ästhetischer Erfahrung macht, dann zeichnet sich darin die Position des Somatischen als Hinzutretenden bereits sprachlich ab. Anhand einer dialektischen Kritik der Begriffe Willensfreiheit und Spontaneität wird sich zeigen, dass dasjenige, was der Freiheit der begrifflichen Urteilsbildung als gegenläufig erscheint, für diese konstitutive Bedeutung besitzt. Die Rede ist hierbei von den somatischen, nicht-ichlichen Impulsen, deren Freilegung an den Grenzen von Naturgeschichte und psychoanalytischem Wissen operiert. Die Kritik an der Verfügungsmacht der Vernunft führt zu einer Vorstellung begrifflichen Urteilens, das dadurch auf Herrschaft verzichten kann, weil es Freiheit in die Erfahrung somatischer Impulse verlegt. Von der Bestimmung der immanenten Dialektik von begrifflichem Urteil und nichtbegrifflicher Erfahrung geht die Analyse über zu Adornos Begriff der ästheti-
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schen Erfahrung mit der Absicht, dessen produktions- und rezeptionsästhetische Momente weiterzuentwickeln, zu einer Erkenntnistheorie nichtbegrifflicher Erfahrung. Im Anschluss an die Erörterung der Voraussetzungsfrage geistiger und ästhetischer Erfahrung wird im letzten Kapitel, Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Erfahrung, die Bildungskrise anhand von drei verschiedenen Themenkomplexen, in denen sich die Krise als Problem verhinderter Vermittlung und Erfahrung manifestiert, entschlüsselt. Die Analyse ermöglicht es, die institutionellen, erkenntnistheoretischen, pädagogischen und ästhetischen Voraussetzungen von Bildung als somatischer und geistiger Erfahrung präzise zu bestimmen. Im ersten Schritt geht es um die Rekonstruktion der Bildungskrise als Krise der Universität. Dabei werden die zur Krise führenden Widersprüche aus zwei Richtungen in den Blick genommen: Zum einen als Analyse der historischen und sozialen Konstellation, die die immanente Widersprüchlichkeit der Idee der modernen Universität hervorbringt und zum anderen als kritische Beschreibung der erkenntnistheoretischen, forschungspraktischen und pädagogischen Bedingungen der universitären Situation der 1950er und 1960er Jahre. Mit dem Begriff des sublimen Bewusstseins durchleuchtet Adorno ein Gegenmodell zur institutionellen und epistemologischen Matrix der akademischen Bildung und der in ihr herrschenden Bewusstseinsform des verdinglichten Bewusstseins. Den begrifflichen Knotenpunkt des sublimen Bewusstseins, das die Bedingung von Bildung als lebendige Erfahrung darstellt, bilden die Begriffe der Zueignung und Spontaneität in intellektueller und ästhetischer Hinsicht. In ihrer Bestimmung wird sich zeigen, dass sich Bildung als lebendige Erfahrung nicht realisieren kann, ohne die Freisetzung der triebhaften und affektiv-sensorischen Dimensionen des Somatischen und ihrer geistigen Vermittlung. In diesem Sinn geht es im zweiten Schritt darum, ausgehend von einer Kritik an der Bewusstseinsform der Halbbildung, die Erfahrungen von somatischen Impulsen, von Melancholie und von Liebe als notwendige Bedingungen von Bildung auszuweisen sowie die pädagogischen und gesellschaftlichen Gründe zu rekonstruieren, die ihre Hervorbringung verhindern. Der letzte Schritt widmet sich Adornos Neubestimmung ästhetischer Bildung, die versucht, Schillers Idee ästhetischer Bildung, der er die Dialektik von Naturbeherrschung und Naturbewahrung entnimmt, zusammenzudenken mit einer Ästhetik der fortgeschrittenen Moderne. Adornos Versuch der Rettung des Bildungsbegriffs nimmt hierbei die zentralen Aspekte ästhetischer Erfahrung, somatischer Erschütterung und nicht-begrifflicher Erkenntnis im Medium der Kunst systematisch auf und läuft auf eine Auffassung von Bildung als Befreiungsprozess hinaus, welcher sich im Spannungsverhältnis zwischen der Bebilderung der Erfahrung und ihrer begrifflichen Zueignung im Schreiben entfaltet.
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Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
Dass Adorno kein im engeren Sinn methodologisches Programm entwickelt hat, heißt nicht, dass nicht eine spezifische Weise des Zugangs am Werk ist, die die begriffliche Ausleuchtung des Gegebenen strukturiert. Um Adornos Werk bildungstheoretisch zugänglich machen zu können, ist es zunächst notwendig, diesem Zugang eine Form zu geben. Die These lautet: Es lässt sich nicht verstehen, warum Adorno dem Prozess der Bildung die Form der vermittelten Erfahrung gibt, ohne vorher verstanden zu haben, wie er dies tut. Aus diesem Grund, ist es das Ziel des folgenden Kapitels, zu erörtern, worin die Struktur des Zugangs besteht und wie sie gerechtfertigt werden kann. Das Spezifische dieser Absicht besteht darin, die Erläuterung und die Rechtfertigung des Zugangs nicht getrennt voneinander zu behandeln, sondern die Beantwortung der Frage, auf welche Weise und mit welcher Zielsetzung die geschichtlich gegebene Wirklichkeit entschlüsselt wird, zu verstehen als einen Prozess, der die Geltung des Zugangs dadurch rechtfertigt, dass er diesen hervorbringt, dass er ihn konstruiert. Dieses Vorgehen ist gleichbedeutend mit der Bestimmung des Verfahrens, das Bildung als Prozess der vermittelten Erfahrung erschließen wird. Die Erörterung des Zugangs agiert an der Schwelle zwischen der Rekonstruktion dessen, was Adorno methodologisch ausgeführt hat und der Konstruktion einer Verfahrensweise, die das geschichtlich Gegebene der begrifflichen Erkenntnis zugänglich machen soll.
1.1
Philosophie als Deutung Ein Zeichen sind wir, deutungslos, Schmerzlos sind wir und haben Fast Die Sprache in der Fremde Verloren – Friedrich Hölderlin –
In der Antrittsrede zur Aktualität der Philosophie aus dem Jahr 1931 entfaltet Adorno eine Konzeption philosophischer Erkenntnis als Deutung1 . Darin legt er den ›Grundstein‹ 1
Siehe hierzu auch: Bonß (1983); von Wussow (2007); Kramer (2009); Eberlein-Braun (2011).
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für ein methodologisches Programm, »von dem er dann nicht mehr abgelassen hat« (Tiedemann 1984: 187)2 . Die philosophiegeschichtlichen Ausgangspunkte des Vortrags sind das Ende der Einheit von Wirklichkeit und Sinn, das Adorno hier als Einheit von Geschichte und Vernunft begreift, sowie der Zerfall des emphatischen Symbolbegriffs der klassischen Ästhetik. Mit der Trennung der Geschichte vom Prinzip der Vernunft wird ihre Materialität und Naturverfallenheit sichtbar, mit der Trennung des Zeichens von der Idee zerfällt das Symbol »zum bloßen Zeichen« (Benjamin 1977 [1916]: 153; Herv. i.O.), das von der Notwendigkeit befreit ist, unmittelbar eine Idee oder ein Prinzip zu repräsentieren3 . Mit dem Ende des Vertretungsanspruchs des idealistischen Systems, eine nachkosmologische Metaphysik in der Vernunft zu begründen, ist Philosophie vor eine Alternative gestellt: Entweder weiter an der Einheit zu arbeiten und damit die geschichtliche Ortlosigkeit des Denkens in Kauf zu nehmen oder eine Perspektive zu entwickeln, die die Probleme idealistischen Denkens in sich reflektiert. Adorno wählt den Weg der Weiterentwicklung und beginnt diesen mit einer immanenten Kritik der zum Zeitpunkt des Vortrages bedeutsamen philosophischen Denkrichtungen. Hierzu zählen die Positionen des Neukantianismus, der Phänomenologie, der Existentialontologie, der Lebensphilosophie und des logischen Positivismus. Im Verlauf des Vortrages vollzieht Adorno eine doppelte, ineinandergreifende Wendung, die die Absicht verfolgt, einen von der hermeneutischen Tradition unterschiedenen Begriff von Philosophie als Deutung zu entwickeln. Im Zentrum der Neubestimmung des Deutungsbegriffs stehen die Verschiebung des Erkenntnisinteresses von der Begründung von Geschichte zur Frage nach dem Wie ihrer Deutung sowie die Neuvermessung des Verhältnisses von Wissenschaft und Philosophie. Vollzogen wird diese Wendung in kritischer Auseinandersetzung mit der Position Wilhelm Diltheys. Gegenstand der immanenten Kritik ist die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften,
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Albrecht Wellmer (1985) stellt in Adorno. Anwalt des Nichtidentischen eine Kontinuität zwischen den frühen philosophischen und musiksoziologischen Arbeiten bis hin zu den Spätwerken Negative Dialektik und Ästhetische Theorie heraus. Den Zusammenhang stifte unter anderem Adornos Frankfurter Antrittsvorlesung, in der dieser »bereits als ›fertiger Philosoph‹ in dem Sinne [erscheine], daß alle entscheidenden Motive seines Denkens, gleichsam dessen Grundkonstellationen sich schon herausgebildet haben. Seine spätere und erstaunlich reiche Produktion ist die Entfaltung dieser Grundkonstellation.« (Ebd.: 139). Susan Buck Morss (1977) vertritt die Auffassung, dass Adornos bereits zu Beginn der dreißiger Jahre gehaltener Vortrag »containded in embryonic form the theoretical position of his 1966 philosophical testament, Negative Dialektik« (ebd.: 212, Anm. 1). Anders hingegen die Einschätzung Grünys (2014), der die Ausführung als vor allem abstrakt und als durch den Benjaminischen Einfluss einen starken Zug zur Mystifikation einnehmend bewertet (vgl. ebd.: 87). Die Kritik an Idealismus und Systemphilosophie bezieht sich hier noch primär auf den klassischen Symbolbegriff. Adornos Symbolkritik liegt die Symbolauffassung der Klassik Goethes zugrunde. Britta Scholze (2000) vermutet, dass Adorno durch die Lektüre von Benjamins Trauerspielbuch darauf aufmerksam geworden sei (vgl. ebd.: 228). Erst später befasst sich Adorno vornehmlich mit dem Absolutheitsanspruch des idealistischen Begriffs. Insofern beide davon ausgehen, dass die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderen durch und in ihnen möglich ist bzw. sie diese repräsentieren – entweder als Vertretung des Absoluten in der Welt oder als Präsenz in dieser – können die in der Antrittsvorlesung präsentierten Einsichten auch als Schauplatz einer begriffskritischen Philosophie gedeutet werden.
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die auf der Unterscheidung zwischen dem historischen und dem physikalischen Gegenstand gründet, sowie die methodische Differenzierung zwischen der Hermeneutik als Verstehen des im Leben tradierten Sinns und dem naturwissenschaftlichen Erklärungsanspruch der Wirklichkeit. Im nachhegelianischen Denken von Geschichte nimmt Diltheys Bemühen um die Begründung eines historischen Bewusstseins ohne metaphysisches Fundament eine entscheidende Rolle ein. Geschichte wird philosophisch reflektiert, »ohne ein bestimmtes, metaphysisches Geschichtsbild zu unterstellen« (Angehrn 2014: 18). Mit der Abkehr von der metaphysischen Begründung von Geschichte und der Zuwendung zur Geschichte als Medium der Tradition verschiebt sich die Idee historischen Bewusstseins vom Begreifen ihrer geschichtlichen Objektivierungsformen hin zum hermeneutischen Verstehen historischen Sinns und hin zur Selbsterschließung in der Aneignung von Geschichte. Hermeneutische Deutung erhält Zugang zur Geschichte durch das Verstehen des Lebens4 . Sie vollzieht sich in Bezug auf den geschichtlichen Zusammenhang, welcher als »Konstitutionsmedium« (Angehrn 1991: 148) die Möglichkeitsbedingungen seiner Erschließungen im Leben begründet5 . Der Deutungsbegriff gewinnt seinen Sinngehalt einerseits in Abgrenzung zur Metaphysik der Geschichte, andererseits in Abgrenzung zur naturwissenschaftlichen Konzeption von Geschichte als evolutionäres Geschehen. Während das Verstehen des geschichtlichen Lebenszusammenhangs das Ziel der Geisteswissenschaften bildet, ist es die Aufgabe der Naturwissenschaft, den Zusammenhang der Naturkausalität zu erklären6 . Anders als die Naturwissenschaften haben die
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Das Leben bezeichnet Dilthey (1958 [1926]) »als die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muss. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden. Geschichtlich ist das Leben, sofern es in seinem Fortrücken in der Zeit und dem so entstehenden Wirkungszusammenhang aufgefasst wird.« (Ebd.: 261). Charakteristika des Lebensbegriffs sind Zeitlichkeit, Wechselwirkung zwischen Individuen und Geschichte als Konstitutionsbedingung von Leben. Die Zeitlichkeit des Lebens formuliert die Einsicht, dass das Leben »zur Erfüllung der Zeit in einem nächsten Verhältnis [stehe] […] und dass es doch zugleich einen Zusammenhang bildet und darin eine Einheit hat (das Selbst), ist durch die Zeit bestimmt. – In der Zeit ist Leben in dem Verhältnis von Teilen zu einem Zusammenhang derselben da.« (Ebd.: 229) Zeit ermöglicht zugleich die Einheit des Einzelnen, die Wechselwirkung dieser Einheit zu anderen Einheiten und zu einem Allgemeinen sowie die Geschichte, als Ort der Bewahrung von Sinn. Zum Verhältnis von Leben und geschichtlichem Leben äußert sich Dilthey folgend: »Geschichtliches Leben ist ein Teil des Lebens überhaupt. […] Leben in diesem Sinne erstreckt sich sonach auf den ganzen Umfang des objektiven Geistes, sofern er durch das Erleben zugänglich ist.« (Ebd.: 261) Damit, so Emil Angehrn (1991), »steht der historische Gegenstand in einem spezifischen, kommunikativen Bezug zum verstehenden Subjekt. Jedes Geschichtliche ist Teil des umfassenden Lebenszusammenhangs, dem das Verstehende selber angehört: wie das Subjekt das Geschichtliche als seinesgleichen erfaßt, versteht es sich nur aus der Geschichte; Geschichte ist ihm nicht nur in besonderer Weise erschlossen, sondern Mittel seiner Selbsterschließung.« (Ebd.: 149) In seiner Einführung in das Werk Diltheys weist Matthias Jung (2014) darauf hin, dass die klare Unterscheidung lediglich eine methodische, nicht jedoch eine ontologische Bedeutung besitze (vgl. ebd.: 53). Denn »Natur und Subjektivität bezeichnen keine Seinsbereiche, sondern Hinsichten, nach denen eine umfassende Wirklichkeit erschlossen werden kann, die uns eben nicht an sich, sondern immer schon als geistige Tatsache gegeben ist. Beide Theoriebereiche konstituieren sich daher nicht nur durch die Wahl der entsprechenden Methode – Kausalerklärung/geschichtliches
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Geisteswissenschaften einen emphatischen Begriff von Geschichte. Sie wird als kultureller Raum verstanden, in dem »Sinnbildung und Sinnsedimentierung« (Angehrn 2014: 18) in einem Wechselverhältnis stehen. Im Begriff »historischer Erbschaft« verschränkt sich der hermeneutisch zentrale Zusammenhang von Leben, Geschichte und Verstehen7 . Der hermeneutische Modus der Deutung ist also konstitutiv an Geschichte als Äußerungsform des Lebens zurückgebunden. In dieser Rückbindung ist sie Gegenstand des Verstehens sowie Möglichkeitsraum des »Anschließens und Sicheinfügens des Denkens in einen geschichtlichen Zusammenhang« (ebd.: 19). In der Antrittsvorlesung vollzieht Adorno nun eine implizite Abgrenzung von der hermeneutischen Tradition des Deutungsbegriffs: »Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist […]; eine Aufgabe, an die Philosophie stets gebunden bleibt, weil anders als an jenen Fragen ihre Leuchtkraft sich nicht zu entzünden vermag. […] Deutung des Intentionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung kraft solcher Deutung: das ist das Programm einer echten materialistischen Erkenntnis.« (AP: 336f.)8
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Verstehen – sondern ebenso sehr durch Abstraktion von der anderen Perspektive.« (Ebd.: 53; Herv. i.O.) Menschliches Leben verstehen heißt Tradierung und »Besinnung auf die Geschichte« (Anghern 2014: 17) im Modus der Interpretation von Texten und Traditionen, in denen es sich ausgedrückt hat und weiterhin ausdrückt. Zugehörig zu diesem »Interpretationsgeschehen, […] das parallel zur thematischen Arbeit immer auch eine Verständigung über sich selber betreibt, sind die Selbstsituierung in der Geschichte und die verwandelnde Aneignung des Vergangenen gleichermaßen unhintergehbar« (ebd.). Interessant ist unter anderem an dieser Stelle, dass die Bestimmung der Form mit ihrem Vollzug zusammenfällt. Das Formende bringt zugleich die Form hervor, denn nicht nur bedeutet Deutung an sich die Konstruktion von Bildern, Figuren und Konstellationen, sondern sie kann auch selbst als durch Bilder hervorgebracht bestimmt werden. Das Sprachbild des »Entflammens« und »Entzündens« wird von Adorno in einer Vielzahl von Fällen bemüht, um den Ausgangspunkt und die Vollzugsweise von Erkenntnisprozessen zu beschreiben. In einer Diskussion mit Horkheimer spitzt Adorno es folgendermaßen zu: »Die Erkenntnis liegt genau in dem Akt der Zündung.« (Horkheimer 1985: 518) Im Gebrauch verschiedener Lichtmetaphern, die das Spiel von Licht und Dunkelheit bezeichnen – ›Leuchtkraft‹, ›entzünden‹, ›Erhellung‹ – vollzieht sich die Deutung nicht nur, sondern bringt sich darin vermittels Bilder selbst hervor: »Das Licht, das in den fragmentarischen, zerfallenden, abgespaltenen Phänomenen aufgeht, ist die einzige Hoffnung, die die Philosophie überhaupt noch entzünden kann.« (LGF: 186) In Der Essay als Form spricht Adorno etwa von dem sich an dem von Anderen gemachten zu entflammen (NL: 10), in der Ästhetischen Theorie wird es zum Movens der ästhetischen Erfahrung. Bereits Hegel greift zur Plausibilisierung der Dialektik von Subjekt und Objekt auf das Bild des »Anzündens« zurück. Im dritten Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften heißt es dazu: »An der Betrachtung desselben [des Gegenstandes; rb] zündet sich das Selbstbewußtsein an, denn in dem Lebendigen schlägt das Objekt in das Subjektive um, – da entdeckt das Bewußtsein sich selber als das Wesentliche des Gegenstandes, reflektiert sich aus dem Gegenstande in sich selbst, wird sich selber gegenständlich.« (W 10: 207)
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Zum Ausdruck gebracht wird hier die Auffassung, dass Deutung nicht allein Sache der Geisteswissenschaften, sondern der Zugang zu den geschichtlichen Phänomenen schlechthin ist. Statt sich auf hermeneutischem Weg mit der Geschichte zu verbinden und sie als Sinnhorizont des sich vollziehenden Lebens zu betrachten, zielt die Deutung in Adornos Lesart auf die Hervorbringung von Figurationen, die Erkenntnisse über die Zusammenhänge, Strukturen und Bedingungen der geschichtlich gegebenen, intensionslosen Wirklichkeit ermöglichen. Die Bestimmung der Deutung als Verfahren einer ›echten materialistischen Erkenntnis‹, die sich von der Hermeneutik in grundsätzlicher Weise unterscheidet, basiert auf dem negativen Bezug der Deutung auf Geschichte, auf der Vermittlung von Philosophie und Wissenschaft sowie auf der Verknüpfung des deutenden Verfahrens mit der Logik der Konstruktion9 . Den negativen Bezug der Deutung auf Geschichte kennzeichnet ein konstitutives Spannungsverhältnis: Der deutende Zugang zum Gegebenen leitet sich nicht aus der Philosophie selbst ab. Es ist also nicht die Suche nach dem Sinnhorizont des Lebens, die das Erkenntnisinteresse motiviert. Gerechtfertigt wird der philosophische Zugang dadurch, dass er die Sinnlosigkeit des geschichtlich Gegebenen in seiner Komplexität und Negativität erschließen kann. Ohne in dem Vortrag schon explizit darauf zu verweisen, vollzieht Adorno hier bereits einen entscheidenden Schritt von der Philosophie als Begründungsinstanz von Erkenntnis zu einem Verständnis der Philosophie als Gesellschaftstheorie, als Theorie einer Gesellschaft, die das Irrationale in ihren Strukturen und Bewegungsgesetzen rationalisiert und institutionalisiert hat. Ein bedeutsamer Schritt auf dem Weg zur Deutung als Gesellschaftskritik ist die Umkehrung und dialektische Figurierung des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft. Angestoßen wird dieser Bedeutungswandel durch die Distanzierung gegenüber der Auffassung, Natur- und Geisteswissenschaften können trennscharf unterschieden werden. Gegenüber der Vorstellung der Geisteswissenschaft auf eine eigenständige, von den Naturund positivistischen Sozialwissenschaften erkenntnislogisch getrennte Position wird hier das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft sowohl in seiner Differenz als auch in seiner Bedingtheit in den Blick genommen10 . 9
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Gunzelin Schmid Noerr (2014) zufolge vertritt die These, dass sich Adorno in seiner Antrittsvorlesung »tatsächlich auf das psychoanalytische Modell der Deutung bezieht und nicht auf eines aus der Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik« (ebd.: 19). Der zentrale Punkt, an dem der Autor dies festmacht, ist die in der Vorlesung formulierte Sinnkritik. Richard Klein (2007) stellt einen Anschluss an die Deutungsform psychoanalytischer Therapiearbeit fest: »Adorno, der dem Therapeuten aus dem Weg geht, wo er nur kann, praktiziert selbst eine soziokulturelle Diagnostik, die methodisch auf ›Assoziationen‹ und das ›Durcharbeiten‹ von ›Verdrängtem‹ setzt.« (ebd.: 78). Dies bedeutet nicht, deren erkenntnistheoretische und methodologische Differenz zu übergehen, sondern die Hypostasierung der Differenz zu kritisieren. In der Verknüpfung von Philosophie und Wissenschaft schließen Adornos Überlegungen programmatisch bereits in ihren Anfängen an das sich zum Zeitpunkt der Antrittsvorlesung gerade um Horkheimer und das Frankfurter Institut für Sozialforschung formierende Denkkollektiv und Forschungsprogramm einer Kritischen Theorie der Gesellschaft an. Max Horkheimer legte in dem Vortrag Gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgabe eines Instituts für Sozialforschung, welchen er aus Anlass der Übernahme des Direktorats des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gehalten hat, den theoretischen, methodologischen und erkenntnispolitischen Anspruch einer kritischen Theorie der Gesellschaft dar. Ihre Aufgabe sei es »auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen
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»Die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung. Dabei bleibt das große, vielleicht das immerwährende Paradoxon: daß Philosophie stets und stets und mit dem Anspruch auf Wahrheit deutend verfahren muß, ohne jemals einen gewissen Schlüssel der Deutung zu besitzen.« (Ebd.: 334) Die unterschiedliche Logik, Rollen und Zwecke der Zugänge innerhalb des Erkenntnisprozesses bringt ein Verhältnis der gegenseitigen Korrektur der Ansprüche hervor11 .
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zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen« (Horkheimer 1988 [1931]: 29). In dem im Exil verfassten und 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie arbeitet Horkheimer die methodologischen Prämissen und Bedingungen jener kritischen Theorie heraus. Im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung der traditionellen Theorie erläutert Horkheimer ex negativo jene wissenschaftliche Tätigkeit, die nicht nur »die Gesellschaft selbst zum Gegenstand hat« (Horkheimer 1987 [1937]: 261), sondern auch selbst wiederum Produkt spezifischer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse ist. Traditioneller Theorie liegt eine spezifische Bestimmung der Relation von Realität und wissenschaftlicher Theorie zugrunde, die sich dadurch auszeichnet, dass sie zunächst ausgehend von der unbeteiligten Wahrnehmung Aussagesysteme über Wirklichkeit aufstellt. Sie formuliert Hypothesen, deren Wahrheit sie durch die Subsumption empirischer Sachverhalte unter diese beweist. Ziel ist es, durch die Beschreibung und Erklärung von Vorgängen und Strukturen in der Wirklichkeit nicht nur kontinuierlich Erkenntnisse über diese zu gewinnen, sondern reale Verhältnisse dadurch auch kontrollier- und steuerbar zu machen. Horkheimer betrachtet dies als Teil jener gesellschaftlichenHerrschaftsgeschichte, in welchem sich die menschliche Gattung durch die zunehmende Kontrolle der Natur aus deren Übermacht befreit und sich in die Lage versetzt hat, diese zu beherrschen und sich nutzbar zu machen. Horkheimer kritisiert, dass die traditionelle Theorie diesem Konstitutionszusammenhang und ihrer Einbettung in gesellschaftliche Reproduktionsprozesse gegenüber blind sei. Wissenschaft sei nicht autonom und unabhängig, sondern gesellschaftlich und politisch präformiert (vgl. ebd.). Entgegen des Selbstverständnisses traditioneller Theorie besteht ihre Funktion nicht in der Gewinnung objektiver Erkenntnisse über die Wirklichkeit, sondern in der Produktion von Wissen, das dem Zweck der Beherrschung der physischen Natur, der Steuerung ökonomischer und sozialer Strukturen sowie dem Erhalt gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse dient. Einzug in den Artikel findet auch Adornos Idee der Theorie als ›exakte Phantasie‹ (vgl. AP: 341). Adorno will damit, wie gesehen, die missverständliche Dichotomie zwischen philosophischem Phantasiegeist und präziser Beschreibung der geschichtlichen Wirklichkeit dynamisieren. Dies hat scheinbar auch Horkheimer im Sinn, wenn er sowohl die Bedeutung des »Eigensinn[s] der Phantasie« (Horkheimer 1988 [1937]: 188) als auch die realen Verhältnisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als konstitutiv für Theorie erachtet. Adorno betont in diesem Zusammenhang, dass die Differenz zwischen empirischer Forschung und Wissenschaft nicht im profanen Unterschied von abstrakter Philosophie einerseits und konkreter Empirie andererseits besteht, sondern dass die »Differenz […] vielmehr zentral darin [liege]: daß die Einzelwissenschaft ihre Befunde als unauflöslich und in sich ruhend hinnimmt, während Philosophie den ersten Befund bereits, der ihr begegnet als Zeichen auffaßt, das zu enträtseln ihr obliegt.« (AP: 334) Während es die empirische Wissenschaft gegenständlich mit abstrakten, d.h. aus einfachen Prädikatsurteilen bestehenden und darin beschlossen seienden Fakten zu tun hat, betrachtet Philosophie diese als scheinhafte Abstraktheit des Gegenstandes, deren Überwindung Ausgangspunkt ihrer reflexiven Arbeit ist. Soll sagen: Die Unterscheidung ist auf der einen Seite notwendig, insofern als Philosophie eben nicht bedeutet, Phänomene als bloße Gegebenheit zu erfassen, sondern deren immanente Geschichtlichkeit zu begreifen. Auf der anderen Seite jedoch verkennt die starre Trennung die Bedeutung der Wissenschaft für die Philosophie.
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Der korrektive Bezug empirischer Sozialforschung auf die Deutung bezieht sich darauf, dass »sie blinde Konstruktionen von oben her verhindert« (GS 8: 214), in dem sie deren Anspruch auf allgemeingültige Wahrheiten stetig konfrontiert mit jenen geschichtlichen Erfahrungen, die die Geltung infrage stellen. Der wirklichkeitserschließende Anspruch der philosophischen Deutung ist angewiesen auf die wissenschaftliche Erfassung gesellschaftlicher und individueller Erfahrungen durch die empirische Sozialforschung – etwa Ökonomie, Soziologie und Psychoanalyse. Mit der Bindung philosophischer Erkenntnis an die Einsichten der Wissenschaft gewinnt der deutende Zugang einen anderen Sinn als im hermeneutischen Modell. Während letzteres bestimmt wird als Auslegung der Sinnstruktur erlebter Geschichte durch Verstehen schriftlicher Dokumentationen menschlicher Lebensäußerungen, geht es dem materialistisch bestimmten Zugang darum, aus den wissenschaftlich gewonnenen Einsichten einen Zugang zur Erörterung der geschichtlich gegebenen Wirklichkeit überhaupt erst einmal hervorzubringen. Den Zugang zu konstruieren heißt nichts anderes als die Idee vom Vorrang des Objekts geltend zu machen. Die Geltung des Vorrangs des Objekts, der seiner Idee nach »auf Sachbeziehungen und nicht auf isolierte Stimmigkeit bei sich selber ausgeht« (AP: 342), ist gleichbedeutend mit dem Zweck, über die abstrakte Einzelheit des wissenschaftlich gegebenen Materials hinauszugehen. Was den Prozess des Hinausgehens ausmacht, ist seine spezifische Verfahrensweise der Konstruktion. Der Begriff der Konstruktion beschreibt das Verstehen des geschichtlich Gegebenen als einen Prozess der Verdichtung von einzelnen Erfahrungen, die, so Adorno in einem Gespräch mit Max Horkheimer, »man herstellt, um die Totalität der Gegebenheiten verstehen zu können, ohne daß damit über irgendwelche Fundierungsverhältnisse zwischen den einzelnen [Erfahrungen] notwendig etwas ausgemacht wäre« (Horkheimer 1985: 536). Die Hervorbringung von Erkenntnissen über die ›Totalität der Gegebenheiten‹ durch Verdichtung ist in einem dreifachen Sinne materialistisch: Zum einen hat es die Konstruktion nicht mit Erfahrungen im Sinn von bloßen Gegebenheiten zu tun. Erfahrungen in Form von Tatsachen können als unmittelbare Gegebenheiten erscheinen, solange außer Acht gelassen wird, dass dieses (positivistische) Verständnis von Erfahrung selbst eine theoretische Konstruktion ist. Dem setzt Adorno ein materialistisches Verständnis von Erfahrung entgegen, das den erfahrungskonstitutiven Stellenwert geschichtlicher Prozesse und Bedingungen betont. ›Materialistische Erkenntnis‹ zielt auf die Erforschung jener Prozesse und Bedingungen vermittelter Erfahrungen ab. Während das konkrete Bedingungsgefüge von Gesellschaft, Kultur, Psyche und Soma, das Bildung als Erfahrung im Spannungsfeld von Vermittlung und Unmittelbarkeit hervorbringt, erst in den folgenden Kapiteln der Arbeit erörtert wird, soll es hier zunächst darum gehen, was unter dem Begriff der Konstruktion in methodologischer Hinsicht verstanden werden kann. Adornos Verständnis der Konstruktion wird anhand von drei Gegenständen – die Vermittlung der Vernunft, der Status des Symbols sowie das Verhältnis von Konstruktion und Form – nachvollzogen. Der Vortrag über die Aktualität der Philosophie beginnt mit einer ›Zeitdiagnose‹ des philosophischen Zentralbegriffs der Vernunft: »Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt; allein pole-
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misch bietet sie dem Erkennenden als ganze Wirklichkeit sich dar, während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten. […] Die Krise des Idealismus kommt einer Krise des philosophischen Totalitätsanspruches gleich. Die autonome ratio – das war die Thesis aller idealistischen Systeme – sollte fähig sein, den Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit selber aus sich heraus zu entwickeln. Diese Thesis hat sich aufgelöst.« (AP: 325f.) Die Zeitdiagnose enthält die These, dass der normative Anspruch der Vernunft ohne eine vollumfängliche Repräsentation in der Wirklichkeit bleibt. Im Gegenteil: Die Wirklichkeit entzieht sich dem synthetisierenden Zugriff der Vernunft. Erkennbar übt sie ihren Zweck im Gegebenen in kaum wirksamer Weise aus. Adornos Lesart versteht die Wirklichkeit der Vernunft in grundlegender Differenz zu ihrer einheitskonstituierenden Absicht als ›Spuren‹ und ›Trümmerstücke‹. Dadurch entsteht nicht nur ein Gegensatz zwischen der wirklichkeitskonstitutiven Intention der Vernunft und der nur bedingt vernünftigen Wirklichkeitsordnung, sondern wirft auch die grundsätzliche Frage auf, wie sich nach der Krise der synthetisierenden Form der Vernunft ein philosophischer Zugang zur Wirklichkeit vollziehen kann. Mit der Auflösung der Normativität des Idealismus scheint festzustehen, dass »der Bescheid nicht im geschlossenen Raum von Erkenntnis verbleibt, sondern dass ihn Praxis erteilt« (ebd.: 338). Aus der Einsicht, dass die Frage nicht auf der Ebene der Geltung beantwortet werden kann, erwächst der erkenntnistheoretisch und methodologisch bedeutsame Schritt, Philosophie in konstitutivem Bezug auf Praxis und als Praxis zu begreifen: »Die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit und ihre Aufhebung sind aufeinander bezogen. Nicht zwar wird im Begriff die Wirklichkeit aufgehoben; aber aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen folgt allemal prompt die Forderung nach ihrer realen Veränderung. […] Einzig dialektisch scheint mir philosophische Deutung möglich. Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert.« (Ebd.: 338f.; Herv. rb) Die praxistheoretische Legitimation der Deutung erfolgt aus zwei Richtungen: aus der Praxis sozialer Handlungszusammenhänge und aus der philosophischen Praxis selbst. Beide eint, dass ihr Vollzug auf Veränderung bezogen ist. Im Fall der ›philosophischen Theorie‹ spezifiziert die dialektische Wendung die Deutung als Verwirklichung eines kritischen und produktiven Prozesses. Die Formbestimmung der Deutung als dialektische Praxis entspricht ihrer Hinwendung zur Konstruktion geschichtlicher Figuren. Jedoch vollzieht Adorno diesen Schritt von der Kritik reinen Denkens zur Praxis der Konstruktion nicht unmittelbar gesellschaftstheoretisch, sondern über eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Deutung und Figur. Diese nimmt ihren Ausgang in der Bestimmung der Repräsentationskrise als Krise des Symbols: »Denn längst hat Deutung von aller Frage nach dem Sinn sich geschieden oder, was das gleiche besagt: die Symbole der Philosophie sind zerfallen. Wenn Philosophie lernen muß, auf die Totalitätsfrage zu verzichten, dann heißt das vorab, daß sie lernen muß,
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ohne die symbolische Funktion auszukommen, in welcher bislang, wenigstens im Idealismus, das Besondere das Allgemeine zu repräsentieren schien; die großen Probleme preiszugeben, deren Größe vordem die Totalität verbürgen wollte, während heute zwischen den weiten Maschen der großen Probleme die Deutung zerrinnt. Wenn wahrhafte Deutung allein durch Zusammenstellung des Kleinsten gerät, dann hat sie an den großen Problemen im herkömmlichen Sinn keinen Anteil mehr oder allein in der Weise, daß sie in einem konkreten Befund die totale Frage niederschlägt, die er vordem symbolisch zu repräsentieren schien.« (Ebd.: 336) Deutung und geschichtliche Wirklichkeit werden hier gelesen durch die Brille der Ästhetik, vermittelt durch die Kritik am Symbolbegriff. Das Symbol hat in seiner idealistischen Auffassung die Funktion, die geschichtlich scheinbar isolierten Einzelelemente in einer Ganzheit zu synthetisieren, deren Manifestation als Ausweis der immanenten Repräsentation eines Absoluten aufgefasst wird. Adorno konfrontiert den symbolischen Anspruch der idealistischen Ästhetik hinsichtlich der Verwirklichung einer inneren Einheit von übersinnlicher Totalität und sinnlicher Erscheinung mit der »Brüchigkeit« (ebd.: 334) der geschichtlich-materiellen Wirklichkeit, die er zunächst noch unkonkret mit der »Übermacht der Ökonomie« (ebd.: 336) assoziiert. Die Konfrontation ist Bestandteil einer methodologischen Verschiebungsbewegung. Die philosophische Praxis verändert ihr Medium vom Symbol zum Zeichen sowie den Zweck ihres Vollzugs vom Modus der symbolischen Repräsentation zum Zeichen- und Bildcharakter der Konstruktion12 . Der ›post-symbolischen‹ Philosophie obliegt es, die Zeichen der »intentionslose[n] Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Frage aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist (vgl. Walter Benjamin, Ur-
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Dieser Bruch ist nicht absolut, sondern geschichtlich. Dies bedeutet, dass sich die Kritik nicht auf das Symbol und dessen Ideal der Einheit an sich richtet, sondern auf die Vertretung der Annahme, irgendetwas in der geschichtlichen Wirklichkeit könne dieser Idee entsprechen. Zur Symbolkritik bei Adorno siehe: Scholze (2004: 204-234). Die Wendung vom Symbol zum Zeichen kann als Konsequenz der Einsicht verstanden werden, dass »jede wie auch immer geartete Konstruktion eines Sinnes […] verboten ist, daß aber auf der anderen Seite die Aufgabe der Philosophie eben doch die ist zu begreifen und nicht einfach widerzuspiegeln das, was da nun einmal ist.« (M: 178; Herv. i.O.) Während der geschichtliche Zwang gegen den Sinn in der Antrittsvorlesung noch weitgehend als philosophie- und wissenschaftsimmanentes Problem behandelt wird, erhält der Austritt aus der metaphysischen und transzendentalphilosophischen Sackgasse knapp fünfzehn Jahre später mit dem »Zeichen […] – das Wort Symbol wäre für das, worum es sich handelt, ganz schmählich, weil es sich um das Allerunsymbolischste handelt – Auschwitz« (ebd.: 160; Herv. i.O.) eine andere erkenntnistheoretische Dringlichkeit. Das Spannungsverhältnis zwischen dem philosophischen Tabu der Sinnkonstruktion und der philosophischen Notwendigkeit das Gegebene zu begreifen und nicht nur abzubilden, ist nun unauflöslich mit der historischen Erfahrung von Auschwitz verbunden. Es geht nun jedoch nicht darum, der Krise des Sinnes die Wahrheit des Begriffs alternativlos gegenüber zu stellen, sondern der Frage nachzugehen, wie nach Auschwitz noch geschichtlich und begrifflich, d.h. geschichtsphilosophisch zu denken ist.
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sprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928, S. 9-44, besonders S. 21 und S. 33).« (Ebd.: 335)13 Mit dem Begriff der Konstruktion kommt in Adornos Programmatik ein Formelement zum Tragen, das sowohl für den wissenschaftlichen als auch für den künstlerischen Vollzug relevant ist. Der wissenschaftliche Konstruktionsgedanke spiegelt sich im modus operandi von Versuchsanordnung und empirischer Bedingtheit wider; mit dem ästhetischen Konstruktionsgedanke ist das Anliegen der geistigen Hervorbringung von Bildern und Figuren verbunden. Zunächst zum wissenschaftlichen Konstruktionsgedanken und damit noch einmal zum Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie: Wie bereits ausgeführt wurde, speist sich die Legitimität philosophischer Erkenntnis unter anderem aus ihrer Anbindung an die Wissenschaft. Mit der Anbindung an die Wissenschaft ist ein doppeltes Anliegen verbunden: Zum einen kann sie als Versuch gelesen werden, die Problematisierung der Trennung von Forschung und Philosophie auf dem Weg ihrer Vermittlung zu beantworten: »Nur in strengster dialektischer Kommunikation […] vermag eine wirkliche Veränderung des philosophischen Bewusstseins sich durchsetzen. Diese Kommunikation wird ihr einzelwissenschaftliches Material vorwiegend der Soziologie zu entnehmen haben, die kleine intentionslose und dennoch mit dem philosophischen Material verbundene Elemente auskristallisiert, wie die deutende Gruppierung sie nötig hat.« (Ebd.: 340) Indem Adorno das philosophische Bewusstsein in seiner Vermittlung – oder wie er es nennt ›dialektischen Kommunikation‹ – versteht, erweitert er dessen Erfahrungs- und Gestaltungsraum durch die Integration der wissenschaftlichen Perspektive. In dieser Konstellation habe Deutung die Aufgabe, 13
Der Verweis auf das Werk Benjamins bezieht sich auch auf die Bedeutung der Wissenschaft und der Kunst für die Philosophie. Entsprechend der doppelten Aufgabe der Philosophie – Rettung der Phänomene und Darstellung der Ideen – verortet Benjamin die philosophierende Person in der »erhobene[n] Mitte zwischen dem Forscher und dem Künstler (Benjamin 1974 [1928]: 212). Mit Ersterer habe er gemeinsam, die empirische Welt in Begriffe aufzuteilen und so deren bloße Empirie zum Verlöschen zu bringen, mit der künstlerischen Person teile er das Interesse, etwas zur Darstellung zu bringen (ebd.: 212). Benjamin beschreibt die personale Union ausgehend von der Aufgabe der Philosophie: »Ist Übung im beschreibenden Entwurfe der Ideenwelt, dergestalt, dass die empirische von selber in sie eingeht und in ihr sich löst, die Aufgabe des Philosophen, so gewinnt er die erhobene Mitte zwischen dem Forscher und dem Künstler. Der letztere entwirft ein Bildchen der Ideenwelt und eben darum, weil er es als Gleichnis entwirft, in jeder Gegenwart ein endgültiges. Der Forscher disponiert die Welt zu der Zerstreuung im Bereiche der Idee, indem er sie von innen im Begriffe aufteilt. Ihn verbindet mit dem Philosophen Interesse am Verlöschen bloßer Empirie, den Künstler die Aufgabe der Darstellung. Allzu nahe hat eine landläufige Anschauung den Philosophen dem Forscher, und dem oft in der minderen Erscheinung, zugeordnet. Nirgends schien in der Aufgabe des Philosophen für Rücksicht auf die Darstellung ein Ort.« (Ebd.: 212) Adorno schließt an Benjamins Idee eines wissenschaftlichen und ästhetischen Zusammenhangs der Philosophie an, demnach letzteres ohne Bezug auf Wissenschaft und Kunst überhaupt nicht zu denken ist. Nicht nur sind Philosophie, Ästhetik und Wissenschaft in der deutenden Praxis vermittelt, sondern ihre Vermittlung bringt die Möglichkeit der Wirklichkeitsdeutung überhaupt erst hervor.
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»ihre Elemente, die sie von der Wissenschaft empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen, oder, um es mit einem minder astrologischen und wissenschaftlich aktuelleren Ausdruck zu sagen: in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet.« (Ebd.: 335)14 Mit dem Begriff der Versuchsanordnung ist einmal mehr angezeigt, dass der Weg der Aktualisierung der Philosophie für Adorno über die Wissenschaft verläuft. Die Analogie von Deutung und Experiment manifestiert sich zum einen in der Ähnlichkeit, die der Deutungsprozess zur empirisch-experimentellen Praxis besitzt. Zum anderen verbindet sie die Auffassung, dass die Wahrheit einer Sache weder unmittelbar, etwa durch Beobachtung oder Empfindung, erfassbar ist, noch durch bloße Leistung des Verstandes hervorgebracht wird. Zugleich unterscheiden sich Deutung und Experiment in drei grundsätzlichen Hinsichten: ihrem Vollzug, ihrem Medium und ihrem Zweck. Im Gegensatz zum experimentellen Charakter operiert die Deutung im Modus der »Handhabung des Begriffsmaterials durch Philosophie« (ebd.: 341). Die sprachliche Anleihe an das Handwerk lässt erkennen, dass es sich bei der Deutung um eine Tätigkeit handelt, die einer spezifischen Logik, der Logik der Herstellung, und einem spezifischen Zweck, dem Zweck der Vergegenständlichung unterliegt. Übertragen auf die philosophische Tätigkeit realisiert sich die Logik der Herstellung in der Konstruktion als Anordnung und Verknüpfung des begrifflichen Materials. Man könnte auch sagen: sie verwirklicht sich als Vergegenständlichung von begrifflichen Zusammenhängen in Form von Figuren. Zusammengenommen bilden die wissenschaftliche und die philosophische Tätigkeit zwei der konstitutiven Elemente ›materialistischer Erkenntnis‹, die sich darüber hinaus im dritten Schritt in ästhetischer Hinsicht ausformulieren lässt. Wenn Adorno davon spricht, dass die »Auskonstruktion kleiner und intentionsloser Elemente […] zu den gründenden Voraussetzungen« (ebd.: 336) gehöre, dann, und dies deutet sich bereits an im figurativen Zweck der Konstruktion, ist darin auch die ästhetisch begründete Absicht hinterlegt, aus dem sinnlich Gegebenen etwas Geformtes zu machen: »Der ästhetische Konstruktionsbegriff […] stammt aus dem Sichtbaren. […] Er hat aber auch sein unsinnliches Modell in der Philosophie, […] wo er mit dem ästhetischen insofern übereinstimmt, als er fordert ein heterogenes Material […] in sich, dem eigenen
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Die erkenntnistheoretische und methodologische Überschreitung der bloßen empirischen Beobachtung in der Konstruktion von Figuren geht von der Annahme aus, dass die Wahrheit von Figuren nicht identisch ist mit ihrer Erscheinung. Logisch und inhaltlich ist die hervorgebrachte Figur immer schon ein Mehr als die ihr vorausgegangene Wirklichkeit und ihrer soziologischen Erhebung. Aus diesem Grund könne die Philosophie die Soziologie nicht uneingeschränkt anerkennen. Adorno wählt zur Erläuterung des Unterschieds von Philosophie und empirischer Forschung das Bild vom Schlüssel und dem Schlüsselloch: »Es kommt der deutenden Philosophie darauf an, Schlüssel zu konstruieren, vor denen die Wirklichkeit aufspringt. Um das Maß der Schlüsselkategorien ist es nun sonderbar bestellt. Der alte Idealismus wählte sie zu groß; so drangen sie gar nicht ins Schlüsselloch. Der pure philosophische Soziologismus wählt sie zu klein; der Schlüssel dringt zwar ein, aber die Tür öffnet sich nicht.« (AP: 340)
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Wesen nach zu konstruieren. […] In Technik wie in Philosophie ist der Konstruktionsbegriff von der Mathematik entlehnt. Er will rationale Ordnung im Material herstellen, aber mit dem geheimen Einverständnis darüber, daß die Bedingungen solcher Möglichkeiten, wenn nicht die Prinzipien der Konstruktion selber, auch im Material präformiert sind.« (GS 16: 641) Der philosophische Konstruktionsbegriff wird erläutert in Bezug auf Kunst und Mathematik. Was Mathematik und Philosophie als Konstruktionspraxis verbindet, ist derselbe Aspekt, der sich auch für den erläuterten experimentellen Charakter teilweise eignet: Ihr logischer Zugriff auf das Gegebene zielt darauf, es mit rationalen Mitteln bzw. durch begriffliche Analyse und Synthese in einen Zusammenhang zu bringen, die ihm eine Form gibt und dadurch lesbar werden lässt. Dass für die Hervorbringung einer Form die Mittel der Rationalität alleine nicht ausreichen, liegt in der materialistischen Auffassung von Erkenntnis begründet. Dabei ist grundsätzlich von einem erweiterten Materialismusbegriff auszugehen, der nicht nur soziologische sondern auch subjektiv vermittelte Aspekte umfasst. Dabei spielen auf der subjektiv-materiellen Ebene insbesondere zwei Aspekte eine zentrale Rolle: die somatischen und ästhetischen Bedingungen der Konstruktion. Ihre Integration treibt die philosophische Deutung methodisch über die rationale Praxis hinaus in Richtung einer neuen materialistischen Methodologie. Die somatischen Erfahrungen spezifizieren den Erkenntnisprozess als Realisierung einer subjektiven Materialität, die zunächst unmittelbar spürbar wird in Form von Ängsten, Impulsen, Intuitionen, Idiosynkrasien. Angesichts ihrer nur spürbaren Unmittelbarkeit bedarf es eines subjektiven und methodischen Zugangs, der die somatischen Erfahrungen für eine Deutung greifbar macht. Adorno versteht diesen Zugang als »Spontaneität subjektiver Phantasie« (EF: 11). Unter Phantasie kann eine spezifische Weise der sinnlichen Wahrnehmung durch das »Organ des Empfangens« (MM: 247) verstanden werden. Die empfangende Wahrnehmungsweise lässt sich insofern als Ausdruck von Spontaneität charakterisieren, als die Fähigkeit, etwas sinnlich empfangen zu können, gleichbedeutend ist mit der Fähigkeit, sinnlich affiziert zu werden. »Durch seine sinnliche Affektion«, so Menkes Bestimmung, »ist das Subjekt dem Reiz und damit der Situation ausgesetzt. Die sinnliche Affektion ist im Subjekt selbsttätig, aber das Subjekt ist in ihr nicht selbst tätig: Das Subjekt erleidet seine eigene sinnliche Affektion« (Menke 2015: 383). Die Spontaneität subjektiver Phantasie bleibt aber nicht bei der erlittenen Affektion stehen, sondern versucht die primären Reaktionsweisen und Affekte durch ihre Verwandlung in lesbare Zeichen der Dechiffrierung zugänglich zu machen. Phantasie verknüpft die subjektive Voraussetzung »zeichenkundige[r] Empfindlichkeit« (Bovenschen 2000: 140) mit der Fähigkeit, der Wortlosigkeit von Affektion und somatischer Erfahrung eine Sprache zu geben, um so das Spürbare durch seine Verwandlung in Zeichen ›dingfest‹ zu machen (vgl. Meyer-Drawe 1999/2000). Über die Vermittlung der Phantasie eröffnet sich zwischen Körper und Sprache ein Zwischenraum, der die somatische Wortlosigkeit durchbricht, ohne sie vollständig in der begrifflichen Sprache aufgehen zu lassen. Auch als sprachliche Zeichen drücken somatische Erfahrungen Erkenntnis aus, ihre »expressive Zeichenhaftigkeit, [die] Morsezeichen aus den Reservoirs des Nicht-Rationalen« (Eichel 1993: 144) unterscheiden sich in
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
ihrer Erkenntnisfähigkeit jedoch von derjenigen des Begriffs. Statt nun jedoch aus dem Unterschied zwischen Zeichen und Begriff eine Hierarchie der Erkenntnisformen abzuleiten, gilt es die sinnlich-ästhetische und die begriffliche Qualität des Erkennens in ein dialektisches Verhältnis zu setzen. Herauskommt dabei jenes, das Adorno als »exakte Phantasie« (AP: 342) bezeichnet. Im Modus der exakten Phantasie wird die Fähigkeit zur geistigen Organisation des Materials vermittelt mit der »Phantasie, die streng in dem Material verbleibt, das die Wissenschaften ihr darbieten, und allein in den kleinsten Zügen ihrer Anordnung über sie hinausgreift: Zügen freilich die sie ursprünglich und von sich aus geben muß. […] [D]ie Idee philosophischer Deutung […] läßt sich aussprechen als Forderung, je und je, den Fragen einer vorgefundenen Wirklichkeit Bescheid zu tun durch eine Phantasie, die die Elemente der Frage umgruppiert, ohne über den Umfang der Elemente hinauszugehen, und deren Exaktheit kontrollierbar wird am Verschwinden der Frage.« (Ebd.: 342) Exakte Phantasie erörtert einen philosophischen Modus, der die Möglichkeiten der Verstandestätigkeit – analysieren, kombinieren, verbinden, differenzieren, schlussfolgern – und die Spontaneität der Einbildungskraft zusammendenkt. Wichtig ist hier zu sehen, dass es weder darum geht, im Begriff der exakten Phantasie die Differenz zwischen der Phantasie als ästhetischem und der Rationalität als logischem Zugang aufzulösen; noch ist damit der Versuch bezeichnet, Rationalität ästhetisch zu überspinnen15 . Phantasie wird gefasst als Bedingung und Medium eines Erkenntnisprozesses, der gerichtet ist auf die Konstruktion von in sich logischen und stringenten Zusammenhängen, die in der Lage sind Deutungen über die Wirklichkeit zu liefern16 . Diese Ausrichtung der Phantasie realisiert sich als figurierender Transformationsprozess. Gleichsam die in der Passage verwendeten Begriffe ›Anordnung‹, ›Umgruppieren‹, ›Kontrollierbarkeit‹ ein technisch-rationalisiertes Verständnis der Phantasie formulieren, erinnert der ebenfalls ausgewiesene Begriff des ›Hinausgreifens‹ an das produktive Moment in der Konstruktion, an die Fähigkeit über das Gegebene hinauszugreifen. Mit der Phantasie der künstlerischen Produktion teilt sie eine Lust am Umgang mit dem Material. Wenn sie über das Gegebene hinausgreift und durch die Verwandlung des gegebenen Materials in Denkfiguren neue Erkenntnisse hervorbringt, kommt darin immer auch die Lust, etwas zu formen, die lustvolle Hingabe an die Form zum Zug. Dass dieser ästhetische Zug jedoch nicht gleichzusetzen ist mit der Produktivität künstlerischer Schaffensprozesse, hat in erster Linie damit zu tun, dass exakte Phantasie nicht freischwebend sondern
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Würde »solcher schlechterdings wissenschaftlichen Philosophie […] als Ergänzung und Anhang […] ein Begriff von philosophischer Dichtung [zugeordnet], dessen Unverbindlichkeit vor der Wahrheit allein noch von seiner Kunstfremdheit und ästhetischen Inferiorität übertroffen […]; man sollte schon lieber die Philosophie bündig liquidieren und in Einzelwissenschaften auflösen, als mit einem Dichtungsideal ihr zu Hilfe zu kommen, das nichts anderes als eine schlechte ornamentale Verkleidung falscher Gedanken bedeutet.« (AP: 332) Britta Scholze (2000) bezeichnet exakte Phantasie auch als bewusst eingesetzte Einbildungskraft zur Erzeugung geschichtlicher Bilder (vgl. ebd.: 225). Eichel beurteilt Adornos »metaästhetisches Programm einer sich mimetisch anschmiegenden, intentionslosen Deutung […] – polemisch gesagt – als Bebilderung von Philosophie« (ebd.: 195).
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nur objektiv vermittelt agieren kann. Sie kennt »nicht etwas absolut Neues« (Horkheimer 1985: 465), sie kennt das Neue nur in Form des dialektischen Umschlagens, der sich konfigurativ, durch die Konstruktion geschichtlicher Figuren Bahn bricht17 . Der Umschlagsmoment stellt sich in der Konstruktion dann ein, wenn in den geschichtlichen Figuren »in schlagender Evidenz die Wirklichkeit um sie zusammenschießt« (AP: 341), ohne dass Wirklichkeit und Figur dabei auf eine identische Sinnkurve gebracht werden können. Worum es bei der geschichtlichen Figur stattdessen geht, ist die Vermittlung. Als Vermittlungsfigur stellt sie die Möglichkeit dar, »in jene versteckteste, im allgemeinen unzugänglichste Oberflächenwelt einzudringen« (GS 11: 603). Eine der zentralen Vermittlungsfiguren, die der Aufdeckung des geschichtlichen Erfahrungsgehalts der Wirklichkeit dient, ist die Naturgeschichte.
1.2
Dialektik von Natur und Geschichte
1.2.1
Über die Idee der Naturgeschichte
Um die konstitutive Bedeutung der Naturgeschichte »für geschichtsphilosophische Zeichendeuterei oder überhaupt für Philosophie als Deutung konstitutiv« (LGF: 179) zu erfassen, muss zunächst eine Vorstellung davon gewonnen werden, worin das Spezifische der Naturgeschichte als Vermittlungsfigur besteht. Dafür werden die, in dem Vortrag Die Idee der Naturgeschichte exponierten, Elemente und Argumente rekonstruiert und solcherweise in einen Zusammenhang gebracht, dass sich in diesem die rekonstruierten Elemente zu einem spezifischen Zugang verdichten. Dessen Zweck besteht in der Ermöglichung eines Verhältnisses zu den Dingen, das durch ein Erkenntnisinteresse an deren Genese und Gewordenheit strukturiert ist (vgl. Grenz 1973)18 . Ziel des Vortrags ist es, das Scheitern der idealistischen Geschichtskonzeption und ihrer Idee eines auf die vernünftige Einrichtung eines Ganzen gerichteten Gesamtsubjekts zu analysieren. Die Analyse vollzieht sich vor dem Hintergrund der These einer Entfremdung von Natur und Geschichte und der damit zusammenhängenden Auffassung von Geschichte als Naturverhältnis. Der Begriff der Naturgeschichte reflektiert das »Auseinanderfallen der Welt in Natur- und Geistsein oder Natur- und Geschichtesein« (IN: 355) als geschichtsphilosophische Problemstellung in zwei kritischen Denkbewegungen: Zum einen durch die Abgrenzung von Geschichtskonzeptionen, die entweder Natur und Geschichte als unmittelbares Verhältnis bzw. als systematische Einheit denken; für ersteres steht das Geschichtsbild des Epos, für zweiteres steht Hegels Sys-
17 18
Zur Funktion der Einbildungskraft in der Theorieform der kritischen Theorie siehe: Städler (2017). Die Bedeutung des naturgeschichtlichen Zugangs für die Entschlüsselung der Phänomene stellt Adorno in der im Wintersemester 1964/65 gehaltenen Vorlesung zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit noch einmal explizit heraus. In der Sitzung vom 7. Januar 1965 erörtert Adorno seine Perspektive der Naturgeschichte als philosophisches Programm und liest in diesem Zusammenhang eine Passage aus dem 1932 gehaltenen Vortrag vor. Dazu sagt er, dass jene »ihrer Absicht nach für mich verbindlich geblieben ist« (LGF: 179).
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nur objektiv vermittelt agieren kann. Sie kennt »nicht etwas absolut Neues« (Horkheimer 1985: 465), sie kennt das Neue nur in Form des dialektischen Umschlagens, der sich konfigurativ, durch die Konstruktion geschichtlicher Figuren Bahn bricht17 . Der Umschlagsmoment stellt sich in der Konstruktion dann ein, wenn in den geschichtlichen Figuren »in schlagender Evidenz die Wirklichkeit um sie zusammenschießt« (AP: 341), ohne dass Wirklichkeit und Figur dabei auf eine identische Sinnkurve gebracht werden können. Worum es bei der geschichtlichen Figur stattdessen geht, ist die Vermittlung. Als Vermittlungsfigur stellt sie die Möglichkeit dar, »in jene versteckteste, im allgemeinen unzugänglichste Oberflächenwelt einzudringen« (GS 11: 603). Eine der zentralen Vermittlungsfiguren, die der Aufdeckung des geschichtlichen Erfahrungsgehalts der Wirklichkeit dient, ist die Naturgeschichte.
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Dialektik von Natur und Geschichte
1.2.1
Über die Idee der Naturgeschichte
Um die konstitutive Bedeutung der Naturgeschichte »für geschichtsphilosophische Zeichendeuterei oder überhaupt für Philosophie als Deutung konstitutiv« (LGF: 179) zu erfassen, muss zunächst eine Vorstellung davon gewonnen werden, worin das Spezifische der Naturgeschichte als Vermittlungsfigur besteht. Dafür werden die, in dem Vortrag Die Idee der Naturgeschichte exponierten, Elemente und Argumente rekonstruiert und solcherweise in einen Zusammenhang gebracht, dass sich in diesem die rekonstruierten Elemente zu einem spezifischen Zugang verdichten. Dessen Zweck besteht in der Ermöglichung eines Verhältnisses zu den Dingen, das durch ein Erkenntnisinteresse an deren Genese und Gewordenheit strukturiert ist (vgl. Grenz 1973)18 . Ziel des Vortrags ist es, das Scheitern der idealistischen Geschichtskonzeption und ihrer Idee eines auf die vernünftige Einrichtung eines Ganzen gerichteten Gesamtsubjekts zu analysieren. Die Analyse vollzieht sich vor dem Hintergrund der These einer Entfremdung von Natur und Geschichte und der damit zusammenhängenden Auffassung von Geschichte als Naturverhältnis. Der Begriff der Naturgeschichte reflektiert das »Auseinanderfallen der Welt in Natur- und Geistsein oder Natur- und Geschichtesein« (IN: 355) als geschichtsphilosophische Problemstellung in zwei kritischen Denkbewegungen: Zum einen durch die Abgrenzung von Geschichtskonzeptionen, die entweder Natur und Geschichte als unmittelbares Verhältnis bzw. als systematische Einheit denken; für ersteres steht das Geschichtsbild des Epos, für zweiteres steht Hegels Sys-
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Zur Funktion der Einbildungskraft in der Theorieform der kritischen Theorie siehe: Städler (2017). Die Bedeutung des naturgeschichtlichen Zugangs für die Entschlüsselung der Phänomene stellt Adorno in der im Wintersemester 1964/65 gehaltenen Vorlesung zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit noch einmal explizit heraus. In der Sitzung vom 7. Januar 1965 erörtert Adorno seine Perspektive der Naturgeschichte als philosophisches Programm und liest in diesem Zusammenhang eine Passage aus dem 1932 gehaltenen Vortrag vor. Dazu sagt er, dass jene »ihrer Absicht nach für mich verbindlich geblieben ist« (LGF: 179).
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
temphilosophie der Geschichte19 . Zum anderen geht es darum, im Begriff der Naturgeschichte »die übliche Antithesis von Natur und Geschichte aufzuheben« (ebd.: 345), d.h. Natur und Geschichte zu vermitteln. Adorno beschreibt die Bedingung dieser geschichtsphilosophischen Vermittlung folgendermaßen: »Wenn die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte ernsthaft gestellt werden soll, bietet sie nur dann Aussicht auf Beantwortung, wenn es gelingt, das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen, oder […] die Natur, da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein.« (Ebd.: 354f.; Herv. i.O.) Die Idee der Naturgeschichte entwirft einen Zugang geschichtlicher Erkenntnis, dessen formale Struktur auf zwei Prämissen basiert. Die erste Prämisse besagt, dass Natur nur erkannt werden kann in ihrem Verhältnis zur Geschichte und Geschichte nur erkannt werden kann in ihrem Verhältnis zur Natur. Die zweite Prämisse präzisiert die formale Struktur dahingehend, dass es sich bei diesem Verhältnis um ein »unaufhebbare[s] Ineinander der Elemente von Natur und Geschichte« (ebd.: 354; Herv. rb) handelt. Die begriffliche Analyse der Elemente von Natur und Geschichte kann Aufschluss darüber geben, was es heißt sich, vermittelt über die historische Figur der Naturgeschichte, auf die Wirklichkeit zu beziehen. Im Zentrum des Wirklichkeitsbezugs der naturgeschichtlichen Vermittlungsfigur steht der Begriff der Natur. Der auf Geschichte bezogene Naturbegriff wird verstanden als das, »was von je da ist, was als schicksalhaft gefügtes, vorgegebenes Sein, die menschliche Geschichte trägt, in ihr erscheint, was substantiell in ihr ist« (ebd.: 346). Die Auffassungsweise von Geschichte als Natur basiert auf den Dimensionen des Schicksals und des Scheins. Geschichte als Natur, d.h. im Kontext von Schicksal und Schein zu betrachten, bedeutet zunächst einmal nichts anderes als Geschichte zu verstehen als Disposition der gegebenen Wirklichkeit, welche die Form der Wiederholung angenommen hat. Geschichte in der Wiederholungsform »ist Veränderung als Unveränderliches, der ausweglosen Naturreligion nachgeahmt« (ND: 352)20 . Sie ist als ein Prozess des Werdens zu verstehen, der eine zeitliche aber
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In dem Vortrag erschließt Adorno die geschichtsphilosophische Problematik, die »zur Ausbildung des Begriffes von Naturgeschichte tatsächlich bereits geführt hat« (IN: 355) anhand der Arbeiten von Lukács und Benjamin, die den Ausweis der Notwendigkeit des Begriffs am ästhetischen Material führen. Werksgeschichtlich findet die Auseinandersetzung mit der idealistischen Geschichtsphilosophie erst zu einem späteren Zeitpunkt statt. Im antiken Begriff der Natur wird diese vorgestellt als eine permanente Übergangsbewegung von Entstehen und Vergehen, in dem ein Etwas durch den Prozess der Veränderung zu einem anderen Etwas wird, ohne sich dabei aber wirklich zu verändern. Hegel zeigt, dass der Begriff der Natur in sich das Moment der Endlichkeit und der Unendlichkeit vermittelt. Natur ist einerseits lebendig, weil sie sich in einem unaufhaltsamen Prozess der Veränderung befindet. Andererseits zeigt sie einen Prozess ohne Veränderung an: »So ist das Andere, allein als solches gefasst, nicht das Andere von Etwas, sondern das Andere an ihm selbst, d.i. das Andere seiner selbst.« (W 5: 127) Wenn Natur, weil es zu ihrem Begriff gehört sich zu verändern, zum Anderen wird, wird sie nicht wahrhaft zu einem Anderen, sondern bleibt identisch mit sich selbst.
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keine geschichtliche Struktur besitzt und darum als Geschichte lediglich erscheint 21 . Als Schicksal wirkt Geschichte wie eine die Einzelnen überwältigende Instanz, der man sich nicht entziehen kann; als Schein wirkt Geschichte wie etwas, das dem auf Veränderung ausgerichteten Zugriff entzogen ist. Diese naturhaften Wirkungsweisen von Geschichte nicht nur anzunehmen, sondern »als ontologisches, d.h. als ein Natur-Sein aufzufassen« (IN: 355; Herv. rb), kann zeigen, dass die Unveränder- und Unverfügbarkeit nicht nur erfahrbar, sondern auch analysierbar ist. Die Möglichkeit von Naturgeschichte bleibt nicht stehen bei der Feststellung der Fundierung von Geschichte in einer als naturhaft aufgefassten Wirklichkeit. Der Auffassung von Naturgeschichte als schicksalhafte Erscheinung gegenübergestellt ist ein Begriff von Geschichte, der die Möglichkeit impliziert, dass »in ihr qualitativ Neues erscheint, daß sie eine Bewegung ist, die sich nicht abspielt in purer Identität, purer Reproduktion von solchem, was schon immer da war, sondern in der Neues vorkommt und die ihren wahren Charakter durch das in ihr als Neues Erscheinende gewinnt« (ebd.; Herv. rb). Dieser Bestimmung geschichtlicher Bewegung liegt die These zugrunde, dass man nicht dabei stehen bleiben muss, sich dem geschichtlichen Schema von Werden und Wiederholen zu fügen. Stattdessen kann es als Intention von Naturgeschichte betrachtet werden, die Frage nach der Möglichkeit des Neuen in der Geschichte zu stellen. Der Weg zur naturgeschichtlichen Auslegung des Neuen verläuft nicht über die Idee des Ereignisses, verstanden als Freischwebendes, das geschichtlich unmittelbar, in Form eines Einbruchs geschieht, sondern über das, was Adorno bezeichnet als »Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur« (ebd.: 355). Das Neue ist das, was möglich ist, wenn sich ein dialektischer Umschlag in der Geschichte vollzieht. Dessen Vollzug entspricht in diesem Fall der Deutung der vorgegebenen Wirklichkeit als schicksalhaftes Sein. Es kommt zu einer Überschreitung der als Schein gedeuteten Wirklichkeit durch die Entfaltung der »Dialektik von Natürlich-Naturgesetzlichem und Geschichtlich-Neuem« (Breitenstein 2019: 213). Die Rückverwandlung naturhaft erscheinender Geschichte in ein dialektisches Verhältnis, das die Bedingtheit von Wiederholung und Veränderung reflektiert, kann als Teil jenes Zugangs verstanden werden, den Adorno unter dem Begriff »geschichtsphilosophischer Interpretation« (ND: 353) zusammenfasst22 . Adornos naturgeschichtliche Revision der Geschichtsphilosophie geht von der These aus, dass sich geschichtliche Prozesse nicht durch »generelle Strukturen« (IN: 359) oder Kategorien begreifen lassen, sondern dass die Perspektive selbst durch eine »Konstellation von Ideen« gebildet werde, deren Zusammenhang sich stets von Neuem durch die »Deutung der konkreten Geschichte« (ebd.) ergebe. Um deren Vollzugsform verstehen zu können, bedarf es
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Dieses sachliche Verhältnis wird von Hans-Georg Gadamer (1975 [1960]) präzise bestimmt: »Seiendes, das nur ist, indem es stets ein anderes ist, ist in einem radikaleren Sinne zeitlich, als alles, was der Geschichte angehört. Es hat nur im Werden und im Wiederkehren sein Sein.« (ebd.: 117) Im Modus der immanenten Kritik greift der Vortrag Lukacs’ Begriff der zweiten Natur, dem die Diagnose der kapitalistischen Gesellschaft als sinnentleerter Welt zugrunde liegt und zweitens Benjamins Begriff der Allegorie auf, welcher die Naturverfallenheit der Menschheit ausgehend vom Schicksal der Erbsünde geschichtsphilosophisch herausarbeitet. Siehe hierzu auch: Breitenstein (2019): 206-214.
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
hier der Erläuterung jener »andere[n] logische[n] Struktur« (ebd.) der geschichtlichen Reflexion, die in der Lage ist, jenes dialektische Verhältnis zu exponieren. Geschichtsphilosophische Orientierung findet Adorno in der Lektüre von Lukács’ Theorie des Romans (2000 [1920]). Die Schrift versucht anhand einer Gegenüberstellung zwischen der Welt des Epos zum einen, die die auf Ganzheitlichkeit gerichtete Erfahrung einer als Einheit gedachten Welt zum Gegenstand hat und der Welt des Romans zum anderen, in der sich die Moderne als Zustand von Welt- und Substanzlosigkeit in den Erfahrungen vereinzelter, d.h. in der und durch die zweite Natur entfremdeter Individuen ausdrückt. Adorno erkennt in Lukács’ Rekonstruktion des Romans nicht nur eine Analyse der literarischen Form, in der die Erfahrung von Zerrissenheit und Entfremdung zum Ausdruck gebracht wird, sie wird auch gelesen als eine »der ersten objektiv gerichteten Entwürfe einer Geschichtsphilosophie, anstelle bloß subjektiver geschichtsphilosophischer Methodik« (LGF: 173). Die Lektüre ist demnach motiviert von der Einsicht darin, den Zugang zu den Erscheinungen der Welt nicht allein als eine Frage des Verfahrens zu betrachten, sondern mit der oben genannten Aufgabe zu verbinden, eine Idee von der Seinsweise des Gegebenen zu entwickeln. Konkreter formuliert: Die Möglichkeit, durch Deutung der historischen Entstehungsbedingungen und Vollzugsweisen die sozialen Konstellationen aufschließen zu können und die Rechtfertigung der Plausibilität, mit der die Seinsweise von Geschichte als naturhaft aufgefasst werden kann, hängen konstitutiv zusammen. Der Vortrag Adornos stellt nun die Forderung nach einer geschichtsphilosophisch gerechtfertigten Perspektive in den Horizont der Frage, »wie es möglich ist, diese entfremdete, dinghafte, gestorbene Welt zu erkennen, zu deuten« (IN: 356). Den für die Deutung der Geschichte konstitutiven Zusammenhang von Wirklichkeitsdeutung und Plausibilisierung geschichtlicher Naturverhältnisse findet Adorno wieder in Lukács’ Begriff der zweiten Natur. In dem Begriff verdichten sich der Entwurf des geschichtlichen Status der Wirklichkeit als »Epopӧe der gottverlassenen Welt« (Lukács 2000 [1920]: 84) zum einen und die Bestimmung eines Weges ihrer geschichtlichen Deutung zum anderen23 . Zweite Natur als objektive Bestimmung des Gegebenen bezeichnet den von der unmittelbaren seelischen und äußerlichen Natur entfremdeten Zustand des Menschen in der sinnentleerten Welt der Konventionen und der Ware. Die Unterscheidung ist jedoch nicht so zu verstehen, dass die erste Natur für eine sinnerfüllte und die zweite Natur für eine sinnentleerte Welt stünde. Vielmehr gehören die Weltdeutungen jeweils unterschiedlichen historischen Horizonten an. In der sinnerfüllten Welt des Zeitalters des Epos sind das seelische Leben und die erfahrene Welt noch nicht getrennt. In der kosmischen Seinsordnung, der gemeinsame Grund von Seele und Welt, hängt alles mit allem zusammen. Während die positive 23
Die Vermittlung von Gesellschaftskritik und Formanalyse auf dem Boden der Gattung des Romans machen die Herausgeber des Sammelbandes Hundert Jahre »transzendentale Obdachlosigkeit«. Georg Lukács’ Theorie des Romans neu gelesen (2018) als eines der Kernanliegen der Schrift aus: »Es schickt sich hier ein Denken an, aus exemplarischen Romanlektüren jene kulturellen Formen herauszustellen, welche die strukturelle Kontingenz der kapitalistischen Vergesellschaftung zu konkreter Erfahrung werden lässt. Lukacs findet dafür inmitten des Ersten Weltkriegs die emphatische Formulierung einer ›gottverlassenen Welt‹, die ›aus den Fugen geraten ist‹.« (Dannermann/ Meyzaud/Weber 2018: 8)
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Seinsordnung des Kosmos keine Differenz zwischen Natur und Kultur kennt, weil sie noch keinen Begriff von Subjektivität gewonnen hat und den Ursprung der Form in der Natur verortet, erkennt sich das moderne Subjekt als Formprinzip der natürlichen Ordnung und Urheber der geschichtlichen Ordnung. Durch diese Wendung »ist dem metaphysischen Gedanken seine traditionelle Vereinbarkeit zerschlagen worden« (M: 165). Natur wird als Kultur hervorgebracht und darin zweite Natur als geschichtliche Konsequenz der Moderne instituiert24 . Zweite Natur fungiert so gesehen als begriffliche Verdichtung eines Zustandes der vollkommenen Abhängigkeit der lebendigen Natur von der auswendigen Form und der Verinnerlichung einer Ordnung, die die Naturwüchsigkeit und Sinnerfülltheit auf vollständige Weise verkehrt25 . Diese Verkehrung findet ihren geschichtsphilosophischen Niederschlag in Lukács’ Bestimmung des geschichtlichen Umschlags von der Antike zur Moderne. Von Interesse für Adornos 24
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Durch die forcierte Kritik am vermeintlich eschatologischen Horizont des Textes, die ihn eine weitere Auseinandersetzung abbrechen lassen, entgeht Adorno Lukács’ Analyse des dialektischen Zusammenhangs von erkenntnistheoretischer Form und gesellschaftlicher Struktur. Philipp Weber (2018) macht dies in seiner Lektüre von Lukács deutlich, in dem er aufzeigt, dass die Bedeutung des modernen Subjekts für die Form des Romans durch eine konstitutive Negativität gekennzeichnet ist. Den historischen Grund der Entzweiung verortet er im »Bruch [des Subjekts] mit der positiven Seinsordnung des Kosmos« (ebd.: 62) und den systematischen Grund in der »Fähigkeit zur negativen Selbstbezüglichkeit, was eine Beziehung des Negativen auf sich selbst meint. Das Subjekt fügt sich nicht nahtlos in den Prozess des Lebens ein, sondern negiert jene Formwerdung in Bezug auf eine Urform und setzt sich dagegen als individuelle Form.« (Ebd.) Entfremdung ist nicht nur monokausal auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen, sondern sie besitzt auch einen subjektiven Grund: Das moderne, sich selbstsetzende Subjekt hat die Beziehung zum Leben intellektualisiert und in sich einen ›Abgrund‹ zwischen dem apriorischen Subjekt und der Natur des endlichen Lebens der Einzelnen erzeugt. Lukács analysiert den Austritt aus dem unmittelbaren Naturverhältnis als Verlust der metaphysischen Heimat: »Der Kreis, in dem die Griechen metaphysisch leben, ist kleiner als der unsrige: darum können wir uns niemals in ihn lebendig hineinversetzen; besser gesagt: der Kreis, dessen Geschlossenheit die transzendentale Wesensart ihres Lebens ausmacht, ist für uns gesprengt; […]. Wir haben die Produktivität des Geistes erfunden: darum haben die Urbilder für uns ihre gegenständliche Selbstverständlichkeit unwiederbringlich verloren und unser Denken geht einen unendlichen Weg der niemals voll geleisteten Annäherung. […] Wir haben in uns die allein wahre Substanz gefunden: darum mussten wir zwischen Erkennen und Tun, zwischen Seele und Gebilde, zwischen Ich und Welt unüberbrückbare Abgründe legen und jede Substantialität jenseits des Abgrunds in Reflexivität zerflattern lassen.« (Lukács 2000 [1920]: 25; Herv. rb) Bei Lukács wird die Schädelstätte zum Sinnbild dieses entfremdeten Zustands. Adorno zitiert zur Entfaltung des sinnbildlich dargestellten Grundgedankens folgende Stelle aus der Theorie des Romans: »Die zweite Natur der Menschengebilde hat keine lyrische Substantialität: ihre Formen sind zu starr, um sich dem symbolschaffenden Augenblick anzuschmiegen; der inhaltliche Niederschlag ihrer Gesetze ist zu bestimmt, um die Elemente, die in der Lyrik zu essayistischen Veranlassungen werden müssen, je verlassen zu können; diese Elemente aber leben so ausschließlich von der Gnade der Gesetzlichkeiten, haben so gar keine von ihnen unabhängige sinnliche Valenz des Daseins, dass sie ohne sie in Nichts zerfallen müssen. Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die erste: sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeit und wäre deshalb – wenn dies möglich wäre nur durch den Akt einer Wiedererweckung des Seelischen […] erweckbar, nie aber von einer anderen Innerlichkeit erlebbar.« (Lukács 1920 zit.n. Adorno IN: 356f.).
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
Frage nach der Struktur der geschichtlichen Seins- und Vollzugsweise in der Moderne ist jedoch weniger die von Lukács argumentierte Wendung vom antiken Epos zum modernen Roman. Von Bedeutung ist vielmehr jener von Lukács als Charakteristikum der modernen Gesellschaft ausgemachte Prozess der Entfremdung als eine sich unausweichlich reproduzierende Verwandlung von Geschichte in Natur. Dem Prozess der »Verwandlung des Historischen als des Gewesenen in die Natur« (IN: 357) und seinem Produkt, »die erstarrte Geschichte ist Natur, oder das erstarrt Lebendige der Natur [als] bloße geschichtliche Gewordenheit« (ebd.), unterliegt einer geschichtsphilosophischen Konstitutionslogik, deren Vollzug Adorno wahlweise als »Verzauberung der Geschichte« (ebd.: 361; Herv. i.O.), als ›Überspinnung‹26 oder als ›Verhexung‹27 der Geschichte in Natur bezeichnet. Der Auffassung, dass es die Kritik des Naturhaftseins der Geschichte nicht ohne die Analyse des Naturhaftwerdens von Geschichte geben kann, korrespondiert die methodologische Forderung zur Freilegung des geschichtlichen Moments in der als Natur erscheinenden Wirklichkeit. Die Absicht des naturgeschichtlichen Zugangs besteht aber nicht allein darin, enthüllend zu verfahren. In diesem Fall wäre sie nichts anderes als ein methodischer, der Einsicht in die Naturgewordenheit des Gegebenen entsprungener Effekt. Dass der naturgeschichtliche Zugang mehr ist als eine methodische Wirkung, hängt in erster Linie damit zusammen, dass Naturgeschichte ihren Gegenstand nicht unmittelbar vorfindet, sondern sie diesen stets auch selbst hervorbringen muss. Der Hervorbringung des Gegenstandes entspricht ein Prozess, der die ›primäre Natur‹, also »die objektiven Momente, auf die das erfahrende Bewußtsein trifft, ohne daß diese Momente selbst ihm als ein von ihm bereits Vermitteltes bestimmt wären« (LGF: 175) überführt in ein Vermittlungsverhältnis: in zweite Natur. Das Spezifische der zweiten Natur als Vermittlungsverhältnis besteht darin, dass sie erkennend und produktiv zugleich ist. Sie ist erkennend, weil Naturgeschichte der Naturverfallenheit von Geschichte in ihrer Gewordenheit analysiert; sie ist produktiv, weil Naturgeschichte diese Bestimmung von Geschichte nicht einfach vorfindet, sondern durch die Verwandlung des Gegebenen in zweite Natur überhaupt erst hervorbringt. Dem Prozess der Verwandlung wohnt eine innere Ambivalenz inne, die sich auffächert zwischen dem Moment der Sichtbarmachung des »mythisch-archaischen, natürlichen Stoff[s] der Geschichte, des Gewesenen« (IN: 362) und der Erzeugung dessen, »was dialektisch neu in ihr auftaucht, neu im prägnanten Sinn« (ebd.). Der entscheidende Punkt dieses ambivalenten Verhältnisses besteht darin, dass Mythos und Neues auf der der einen Seite zwei unterschiedliche Erscheinungsformen von Geschichte darstellen, auf der anderen Seite aber dadurch miteinander verbunden sind, dass sie hervorgebracht werden durch ein und denselben Gedankengang, nämlich die Verwandlung
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»Je unerbittlicher Vergesellschaftung alle Momente menschlicher und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit überspinnt, desto unmöglicher wird es, ans Gewordensein des Gespinsts sich zu erinnern, desto unwiderstehlicher der Schein von Natur.« (LGF: 174) Was als Natur erscheint »ward von der Geschichte, die es aus sich entließ, die es setzte, in Physis, in Natur, in zweite Natur eben, verhext« (LGF: 178). Die damit unaufhebbare Transformation der Natur in zweite Natur, der »einmal gesetzte Unterschied läßt in der Reflexion zwar sich verflüssigen, aber nicht mehr überspringen« (ebd.).
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von Geschichte in zweite Natur. Darin kommt die Einsicht zum Ausdruck, dass die Verwandlung von Geschichte in Natur und die Rückverwandlung von Natur in Geschichte »zugleich ausgeführt werden« (Menke 2018b: 142)28 . Eine Konkretisierung erfährt die »Doppelbewegung« (ebd.) von Erschaffung von Geschichte als Schein und der Kritik von Geschichte als Erscheinung der Natur durch Adornos geschichtsphilosophische Wendung der psychoanalytischen Bestimmung des Verhältnisses von Mythos und Bewusstsein. Ausgestattet mit dem begrifflichen Werkzeug von Freuds Die Traumdeutung (2001 [1900]), welche die These eines konstitutiven Bedingungsverhältnisses zwischen menschlicher Psyche und mythischen Bildern vertritt, setzt die Verhältnisbestimmung von Mythos und Bewusstsein an bei der psychoanalytischen Unterscheidung zwischen »archaischen Symbole, an die sich keine Assoziationen anschließen, und innersubjektiven, dynamischen, innergeschichtlichen Symbole, die sich alle eliminieren lassen und die in psychische Aktualität, in gegenwärtiges Wissen umgesetzt werden können.« (IN: 362; Herv. i.O.) Der Differenz zwischen archaischen und innergeschichtlichen Symbolen korrespondieren zwei unterschiedliche Zugriffsweisen auf Vorstellungsinhalte: zum einen der Traum, zum anderen die Einbildungskraft. Im Traum, so Freud, wird »der Vorstellungsinhalt nicht gedacht, sondern in sinnliche Bilder verwandelt« (Freud 2001 [1900]: 511). Die Verwandlung vollzieht sie sich unbewusst, im erinnernden Rückgriff auf mythische, im kollektiven Unbewussten verankerte Bilder. Die Auseinandersetzung mit mythischen Bildern entspricht dem Vorgang durch »Analyse der Träume zur Kenntnis der archaischen Erbschaft des Menschen zu kommen« (ebd.: 524). Während der träumende Zugang nur aus der archaisch-unbewussten Erinnerungsfülle schöpfen kann, greift die innergeschichtliche Symbolbildung vermittels der Einbildungskraft, also der erinnerungsunabhängigen Hervorbringung von Bildern auf ganz andere Weise auf den Mythos zurück. Hinter diesem Gedanken verbirgt sich zum einen eine Kritik an der unmittelbaren Verknüpfung zwischen Unbewusstem und Mythos, die Freud dazu führte, archaische Symbole als Abbilder grundlegender und unveränderlicher psychischer Prozesse zu verstehen29 . Bei genauerer Betrachtung zeige sich jedoch, dass 28
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Für die Verdichtung dieses Zusammenhangs greife ich zurück auf Menkes (2018b) Interpretation der Grundstruktur von Hegels Begriff der zweiten Natur. Der Begriff versteht sich als Versuch die Dialektik von notwendiger Unfreiheit und möglicher Befreiung praxistheoretisch zu bestimmen. Die Dialektik gründet in der Bestimmung der zweiten Natur als »Sichmanifestieren des Geistes als Praxis der Freiheit« (ebd.: 141). Menke erörtert den Begriff der zweiten Natur als Manifestationsweise auf drei Ebenen: anthropologisch, sozial und erkenntnistheoretisch. Von Bedeutung ist hier die erkenntnistheoretische Ausführung der immanenten Dialektik der zweiten Natur als »gesetztes Sein« (ebd.: 143). Zurückgeführt wird die Manifestationsweise auf die in sich gespaltene Vollzugsform des Geistes, die zwischen Aneignung und Verselbstständigung changiert: »Die Selbstverwirklichung des Geistes hat eine Doppelstruktur: Sie ist ›Setzen (der Natur als) seiner Welt‹ und ›Voraussetzen (der Welt als) selbstständiger Natur‹. […] Der Begriff der zweiten Natur bezeichnet ebenso das selbstständige Sein (oder das Selbstständigsein) des durch den Geist Gesetzten wie das geistige Gesetztsein des selbstständig Seienden.« (ebd.: 142f.; Herv. i.O.) Nicht erst die Psychoanalyse verfällt dem falschen Bewusstsein des Mythos. In einem weiteren Argumentationsstrang des Vortrags rekonstruiert Adorno den philosophischen Ursprung die Stillstellung der geschichtlichen Dynamik in Platons idealistischer Trennung von Dingwelt und Ideen-
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
»dies angeblich substantiell beharrende Mythische gar nicht in einer solchen Weise statisch zugrunde liegt, sondern dass in allen großen Mythen, wohl auch in mythischen Bildern, die unser Bewußtsein noch hat, das Moment der geschichtlichen Dynamik bereits angelegt ist, und zwar in dialektischer Form, so, dass die mythischen Gegebenheiten in sich selbst widerspruchsvoll sind und sich widerspruchsvoll bewegen« (IN: 363). Die implizite Kritik an der psychoanalytischen Bestimmung des Mythos als Spiegelung der statischen Disposition des Unbewussten bringt den Gedankengang bis zu dem Punkt, an dem der Bedeutungswandel des Mythos zur Voraussetzung für die Erweiterung des naturgeschichtlichen Wirkungsfelds wird. Die geschichtsphilosophisch motivierte Erkundung des Mythos führt über dessen abstrakte Entgegensetzung zu Geschichte hinaus und in dessen immanente Dialektik hinein. Mit der Kritik am »Trug des statischen Charakters« (ebd.: 364) und der Hervorkehrung des dialektischen Umschlags im Mythos selbst ist die Absicht verbunden, die prozessuale und kategoriale Logik der Naturgeschichte, nämlich die Verwandlung von Geschichte in zweite Natur
welt und der damit zusammenhängenden »Entfremdung der menschlichen Erfahrungswelt von den Ideen« (IN: 364). Diese philosophiegeschichtliche Wegmarke ist naturgeschichtlich insofern relevant, als mit dieser nicht nur die Trennung von Wesen und Erscheinung, sondern auch die Etablierung der Vorstellung von Ideen und Prinzipien als der geschichtlichen Dynamik vollständig entzogene Instanzen verbunden ist. Adornos kurzer Umweg über Platon soll sowohl den epistemologischen Kontext konkretisieren, aus denen sich die geschichtsphilosophischen Überlegungen zur Idee von Naturgeschichte speisen, als auch deutlich machen, dass die Dialektik von Natur und Geschichte nicht abstrakt gesetzt sondern aus dem gegebenen, philosophischen Material kritisch entwickelt werde. Die Reflexion zielt darauf, sowohl nach der Notwendigkeit, die zur Trennung und Konzeptionierung von Dingwelt und Ideenwelt geführt hat, als auch nach den Herausforderungen und Möglichkeiten zu fragen, die daraus folgen. Als geschichtlichen Ausgangspunkt macht Adorno »einen Stand des Bewußtseins [aus], in dem das Bewußtsein seine natürliche Substanz als Unmittelbarkeit verloren hat« (ebd.; Herv. rb). Angesichts der historischen Situation, in welcher der »Geist […] aus der Welt verbannt und der Geschichte entfremdet« (ebd.) ist, sei es konsequent, dass »die Ideen zwangsläufig, um sich gegenüber dieser Dynamik überhaupt halten zu können, unter die Sterne versetzt[,] […] statisch: erstarrt« (ebd.: 363) würden. Die bereits mit der Entfremdungsdiagnose Lukács’ eingeführte Entfremdung von Form und Substanz wird hier in Zusammenhang mit der metaphysischen Rettung der innerweltlich verlorenen Substanz gebracht, die Adorno zufolge zur zweiten Natur bzw. zum Mythos der Geschichtsphilosophie überhaupt geworden ist. In der Vorlesung zur Metaphysik bestimmt Adorno die Dialektik von Unmittelbarkeit und zweiter Natur als »Urgestein des gesamten abendländischen Denkens […] und worin wir alle so erzogen sind, daß wir es zunächst einmal (bis uns die philosophische Reflexion uns davon befreit) für selbstverständlich nehmen: wahrhaft etwas wie zweite Natur des Geistes. Es ist nämlich substantiell nach dieser Lehre – als das, was keines anderen bedarf – das, was keines Mittels bedarf, durch das es ist oder durch das wir es erkennen können; mit anderen Worten also: das Unmittelbare.« (M: 48; Herv. i.O.). Verfolgt man die Argumentationslinie noch einen Schritt weiter, wird erkennbar, dass sich in der platonischen Aufhebung von Geschichte in »metaphysische Substanz und Urerfahrung« (ET: 193) die Erfahrung sedimentiert, dass philosophische Ideen und Begriffe von den historischen Dynamiken und Prozessen, in denen sie entstehen, unausweichlich bedingt sind. Insofern entsteht bereits der ›Ursprung‹ der Philosophie aus einem konstitutiven Bezug zur Geschichte und umgekehrt wird erst in der Analyse der Genese des philosophischen Gebäudes Statik und Dynamik als konstitutive Momente von Geschichte lesbar.
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in Zusammenhang mit der Umformung des Mythosbegriffs zu erörtern. Die Perspektive, die sich aus der Verknüpfung von Naturgeschichte und kritischer Mythostheorie ergibt, erlaubt es, die gegebene Wirklichkeit dadurch als Erscheinungsweise zweiter Natur zu rekonstruieren, dass sie deren immanente Prozesse der Stillstellung von Geschichte hervorkehrt, deren Produzent sie auch selbst ist: »Wie allen Mythen der Moment des Scheines inhäriert, […] so sind die geschichtlich Produzierten Schein-Gehalte allemal mythischer Art, und nicht nur so, dass sie auf Archaisch-Urgeschichtliches Zurückgreifen, […] sondern dass der Charakter des Mythischen selber in diesem geschichtlichen Phänomen des Scheines wiederkehrt.« (Ebd.). Bestimmung und Rekonstruktion des mythischen Charakters von zweiter Natur beziehen sich auf Geschichte in der Weise, dass sie jene immer zugleich in ihrer Notwendigkeit wie in ihrer Scheinhaftigkeit analysieren. Oder anders formuliert: Mithilfe des Mythos können in der Struktur geschichtlicher Prozesse all diejenigen Momente bestimmt werden, in denen sich Veränderungen nur scheinbar und die Reproduktion des Gegebenen als notwendig vollziehen. Die Erläuterung der Ambivalenz der zweiten Natur als Mythos leuchtet die Momente der Wirklichkeit und des Scheins von Veränderung in der Geschichte aus. Geschichte, die sich unablässig fortbewegt, erscheint dynamisch, erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als eine Wiederholung des Immergleichen. Für Naturgeschichte in Form von zweiter Natur gilt das, woran Adorno zufolge auch unzählige Kunstwerke leiden, nämlich »dass sie als ein in sich Werdendes, unablässig sich Änderndes, Fortschreitendes sich darstellen und [dennoch] die zeitlose Reihung von Immergleichem bleiben« (ÄT: 195)30 . Geschichte als Natur heißt dann nichts anderes als Fortschritt im Zeichen der Wiederholung.
1.2.2
Allegorie
Die Ausgangsthese der naturgeschichtlichen Form besagt, dass sie selbst eine geschichtliche Konstellation von Ideen ist. Sie bildet also einen Zusammenhang, der nicht auf vorausgesetzte Strukturen zurückgeführt werden kann, sondern in der Deutung von Geschichte hervorgebracht wird. Die einzelnen Elemente der Naturgeschichte »versammeln sich [dazu] um die konkrete Faktizität, die im Zusammenhang jener Momente in ihrer Einmaligkeit sich erschließt« (IN: 359; Herv. i.O.). Adorno erörtert diese Besonderheit der naturgeschichtlichen Denkform als Konstellation der Elemente Vergänglichkeit, Bedeuten, Natur, Geschichte und Mythos. Deren Erörterung beruht auf einer Auseinandersetzung mit Benjamins Untersuchung des barocken Trauerspiels, die jene 30
Mehr noch weist die geschichtliche Bedingtheit des Scheins auf die »Struktur des Urgeschichtlichen am Schein selber zurück, wo der Schein in seinem Sosein ein geschichtlich Produziertes sich erweist, […] wo Schein von der Subjekt-Objekt-Dialektik gezeitigt wird. Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste. Die geschichtliche Dialektik ist nicht bloße Wiederaufnahme umgedeuteter urgeschichtlicher Stoffe, sondern die geschichtlichen Stoffe selber verwandeln sich in Mystisches und Naturgeschichtliches.« (IN: 365; Herv. rb) Von einer Urgeschichte des Scheins kann also insofern gesprochen werden, als die Verwandlung von Geschichte in zweite Natur sich nicht kontingent ereignet, sondern etwas ist, das sich notwendig vollzieht.
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
Elemente in Zusammenhang mit dem Begriff der Allegorie entschlüsselt (vgl. Baumeister/Kulenkampf 1973)31 . Mit der Lektüre von Benjamins Werk bezieht sich Adorno nach Lukács ein weiteres Mal auf einen Autor, dessen Zugang zur Geschichte über die Literatur erfolgt. Wenngleich sich der differente, historische Entstehungskontext des modernen Romans und des barocken Trauerspiels thematisch und topologisch notwendig niederschlägt, enthalten beide Formen Motive, die über ihre gattungsgeschichtliche Einordnung hinausund in die geschichtsphilosophisch motivierten Ergründungen der Formen hineinragen. Beide, Roman und Trauerspiel, verbindet in Lukács’ und Benjamins Interpretation, dass sie die Folgen der zerfallenden Vorstellung einer kosmologisch-harmonischen Ordnung und einer Welt, in der sich Geschichte ohne eigenmächtiges Zutun der Einzelnen ereignet, verarbeiten. Die geschichtsphilosophische Erkundung der Literatur führt zu den Grundmotiven von Leere und Entfremdung. Zur Erinnerung: Lukács bestimmt die sinnentleerte Welt als Schauplatz des Romans und Entfremdung als einen für die moderne Gesellschaft charakteristischen Prozess der Verwandlung von Geschichte in Natur. Benjamin zufolge leuchtet bereits das barocke Trauerspiel verschiedene Entfremdungstopoi aus, die von der »Distanz von der Umwelt bis zur Entfremdung vom eigenen Körper« (Benjamin (1974 [1928]): 319) reichen. Sie bringen jene »leere Welt« (ebd.: 317) hervor, die auf der Bühne des barocken Trauerspiels zur Darstellung gebracht wird. Was diese Darstellungen auszeichnet ist, dass sie die Erfahrungen sozialer und körperlicher Entfremdung als Geschichte anschaulich und lesbar zugleich machen. »Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht ›Geschichte‹ in der Zeichenschrift der Vergängnis. Die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt wird, ist wirklich gegenwärtig als Ruine. Mit ihr hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen. Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus. Damit bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit. Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge.« (Ebd.: 353). Was das Trauerspiel nicht nur ästhetisch sondern auch philosophisch leistet, ist die Ermöglichung eines Erkenntniszugangs zur Geschichte. Die Besonderheit dieses Zugangs
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Benjamin wird hier als eine der entscheidenden Erfahrungen Adornos betrachtet. Zu einer ähnlichen, aber auch kritischen Auffassung der Beziehung gelangt Susan Buck-Morrs (1993). Ihr zufolge zeigen Adornos Ausführungen zur Idee der Naturgeschichte »den Einfluß der Gespräche, die Adorno 1929 in Königstein mit Benjamin geführt hatte, als dort der Entwurf der Passagenarbeit besprochen wurde, und er nimmt unmittelbar Bezug auf das Trauerspielbuch, aufgrund dessen Benjamin einige Jahre vorher von der Frankfurter Universität abgelehnt wurde. Adorno wendet sich gegen die philosophische Synthese von Natur und Geschichte […], indem er Natur und Geschichte als dialektisch entgegengesetzte Begriffe verwendet, die zur Kritik des jeweils anderen ebenso beitragen wie zur Kritik der Realität, die durch jeden von ihnen identifiziert werden soll. […] Der gleiche Gedanke wird von Benjamin in einer früheren Notiz zum Passagen-Werk artikuliert, in der das folgende Axiom zur Vermeidung des mythischen Denkens aufgestellt wird: ›Keine geschichtliche Kategorie ohne ihre naturale Substanz, keine naturale ohne ihre geschichtliche Filterung‹.« (Ebd.: 82f.)
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besteht darin, Anschaulichkeit – man könnte hier auch von Physiognomie sprechen32 – und Lesbarkeit über ein Drittes, nämlich über die Verschriftlichung von Geschichte in Allegorien zu vermitteln. Dabei bilden das Verständnis von Geschichte als Naturgeschichte und von Allegorien als chiffrierte Ausdrucksweisen von Vergänglichkeit die zwei Säulen, auf die sich dieser Zugang stützt. Geschichte, verstanden als Naturgeschichte, bezieht sich in zweifacher Weise auf Natur: als Negation des ›ewigen Lebens‹ und als endliche Natur. Benjamin verknüpft diese doppelte Bestimmung der Naturgeschichte mit den Begriffen des Schicksals und der Vergängnis, die die Wahrnehmung und Deutung des melancholischen Blicks figurieren. Unter dem melancholischen Blick im Barock verwandeln sich die irdischen Dinge in Zeugnisse irdischer Schicksalshaftigkeit und Vergänglichkeit33 . Der melancholische Blick ist also zum einen getragen von der Einsicht in die Schuld vor Gott und dem Schicksalsgesetz alles Weltlichen. Im Schicksal, das weder ein rein historisch noch ein rein natürliches Geschehen bezeichnet, sind Natur und Geschichte vermittelt. Es ist »die elementare Naturgewalt im historischen Geschehen, das selber nicht durchaus Natur ist« (ebd.: 308), insofern es nicht gleichbedeutend ist mit einem »unentrinnbare[n] Kausalzusammenhang« (ebd.). Wenn jedoch die Verknüpfung von Natur und 32
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Eichel (1993) zufolge habe die Physiognomik im Werk Adornos den Status einer spezifischen Form der Reflexion, die versuche, die verborgenen Impulsen der Musik und ihrem expressiven Sprachcharakter hervorzukehren, indem sie das Kunstwerk anthropomorph deute (vgl. ebd.: 187). Allgemein kann man sagen, dass Adorno in verschiedenen Zusammenhägen auf die Herangehensweise der Physiognomie zurückgreift, wenn es darum geht, das ›äußere Erscheinungsbild‹ von Phänomenen sichtbar- und greifbar zu machen (vgl. ebd.: 187-197). Dies lässt sich etwa feststellen im Fall der Beschreiung der Veränderung der »Physiognomik von toscanischen Städten: manchmal erscheinen mächtige Domplätze mit bezwingender Architektur plötzlich, unvermittelt, im Gewebe der Straßen, auch sehr triste münden darauf. Der Glanz, der ins Elend herniederfährt, vergegenwärtigt unmittelbar, vor aller Symbolik, Wunder und Gnade, die jene lehrt. (vgl. GS 10.1: 398; Herv. rb). Oder wenn es in Kulturkritik und Gesellschaft heißt, »Kulturkritik wird zur gesellschaftlichen Physiognomik« (GS 10.1: 24). Eine besondere Rolle spielt die physiognomische Herangehensweise in seinen musikphilosophischen Schriften, etwa in Studien zu einzelnen Komponisten und Kompositionen (Mahler. Eine musikalische Physiognomik oder Zur Physiognomik Kreneks) oder zur Deskription des kompositorischen Prozesses. Adorno beschreibt in seiner Berg-Monographie nicht nur detailreich die Physiognomie des Komponisten, sondern gelangt auf dem Weg der Versenkung und Analyse in die Physiognomie von Bergs künstlerischen Werken zur Beschreibung des kompositorischen Prozesses: »Tatsächlich erfährt jeder ernsthaft der Sache verpflichtete musikalische Interpret an sich, daß er keine andere Möglichkeit hat, Gewebe, Ökonomie, Schichtung, Zusammenhang authentisch darzustellen, als die vorgängige Analyse. […] In der Kunst kommt alles auf das Produkt an, dessen Organ der Künstler ist.« (GS 13: 368f.; Herv. rb) Und an späterer Stelle rechtfertigt Adorno auf diesem Weg die Notwendigkeit und Form der Analyse: »Die Expression Bergs, die eines organisch Lebendigen, das sich erhält, indem es sich vergeudet, die eines Lebens als Inbegriff von Tod, ist in der kompositorischen Komplexion zu identifizieren. […] Was zu einzelnen Werken gesagt wird, will nicht mehr bieten als Materialien dazu, vielfach schwankend zwischen Betrachtungen, die der älteren Form von Analyse noch verpflichtet sind, und physiognomischen Deskriptionen, die auf Entscheiden zielen.« (Ebd.: 374) Die Verbindung von Naturgeschichte und Schicksalsgedanke entsteht in der Auseinandersetzung mit der Figur des Königs im Trauerspiel. Seine »Typik« (Benjamin 1974 [1928]: 334) besteht unter anderem in der königlichen Melancholie über die Vergängnis und Vergeblichkeit der irdischen Existenz.
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
Geschichte im Schicksalsbegriff sich abgrenzt von der Vorstellung der Geschichte als Kette von naturgesetzlich zusammenhängenden Einzelmomenten, worin besteht dann die ›elementare Naturgewalt‹? Statt Natur bloß als Kausalzusammenhang zu betrachten, deutet Benjamin Natur als Schuldzusammenhang: »Kern des Schicksalsgedankens ist […] die Schuld, als welche in diesem Zusammenhang stets kreatürliche Schuld – christlich: die Erbsünde –, nicht die sittliche Verfehlung des Handelnden ist.« (Ebd.: 308) Schuld meint hier also nicht schlicht den Prozess des »Sich-etwas-zu-Schuldenkommen-Lassens«, sondern wird in einen Zusammenhang gestellt mit dem Verlust des ewigen Lebens durch den Sündenfall. Ausgangspunkt dieser Interpretation von Natur ist ein von der paradiesischen Ordnung her entwickeltes Verständnis von Geschichte. Wie bei Lukács, der die Geschichte in die Zeit des Epos und in die Zeit des Romans teilt, findet bei Benjamin eine Zweiteilung der Geschichte statt in »die ›Zeit‹ im Paradies und die Zeit danach« (Goebel 1996: 119)34 . Mit dem Sündenfall wird Geschichte unwiderruflich zu Naturgeschichte. Die Schuldform wird zur Natur von Geschichte und Vergänglichkeit zur geschichtlichen Charakteristik von Natur. Adornos geschichtsphilosophische Auslegung Benjamins setzt an bei der Einsicht, dass dieser das Moment der Vergängnis als Manifestation von Geschichte in der Natur »zentral erkannt« (ND: 353) habe. Der begrifflichen Anerkennung folgt die Kritik, deren Gegenstand die Rückbindung der Vergänglichkeit an ein theologisch-metaphysisches Verständnis von Schuld bildet. Nicht die christliche Antwort auf den menschlichen Übertritt des göttlichen Gebots sondern umgekehrt, die Loslösung des Komplexes von Natur und Schuld aus einem religiösen Bedeutungszusammenhang verwandelt Natur in eine der »säkularen Kategorie[n] schlechthin, der des Verfalls« (ebd.; Herv. rb). Die Säkularisierung der Kategorie des Verfalls, der Vergänglichkeit ermöglicht die Einsicht in die Verschränktheit von Natur und Geschichte: »Natur selbst ist vergänglich. So hat sie aber das Moment der Geschichte in sich. Wann immer Geschichtliches auftritt, weist das Geschichtliche zurück auf das Natürliche, das in ihm vergeht. Umgekehrt wann immer ›zweite Natur‹ erscheint, jene Welt der Konvention an uns herankommt, dechiffriert sie sich dadurch, dass als ihre Bedeutung klar wird eben ihre Vergänglichkeit.« (IN: 359) In der Vergänglichkeit selbst erkennt Adorno zum einen jenes Dritte, »in dem Natur und Geschichte kommensurabel werden« (ND: 353). Die Spannung zwischen Natur als Geschichte und Geschichte als Natur bildet, neben Gewordensein und Immergleichheit, die dritte Säule jenes kategorialen Schlüssels, mit dessen Hilfe ein Zugang zur Bedeutung von Geschichte in ihrer Form als zweite Natur gewonnen werden kann. Die Spezifik des naturgeschichtlichen Zugangs von Naturgeschichte besteht unter anderem darin, dass er sich vermittels einer kategorialen Konfiguration vollzieht.
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Im Paradies ruhen die Menschen zunächst in einer göttlichen und geschichtslosen Ordnung. Aus dieser werden sie durch den Sündenfall ausgeschlossen und finden sich wieder in einer geschichtlichen Ordnung des Schuldzusammenhangs und der Endlichkeit. Der Zusammenhang von Schicksal und Schuld manifestiert sich im Tod: »Schicksal rollt dem Tode zu. Er ist nicht Strafe sondern Sühne, ein Ausdruck der Verfallenheit des verschuldeten Lebens an das Gesetz des natürlichen.« (Benjamin 1974 [1928]: 310)
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Weder sind die Kategorien in sich abgeschlossene Einheiten noch besitzen sie ein fundamentum inconcussum. Sie sind in sich und durcheinander geschichtlich vermittelt und eben diese Bedingtheit der Bedingungen konstituiert ihre erkenntnisgenerierende Qualität. Anhand des Spannungsverhältnisses zwischen den Kategorien Gewordensein, Wiederholung und Vergänglichkeit lässt sich dieser Erkenntniszug verdeutlichen: In der Kategorie der Vergänglichkeit verdichtet sich die ambivalente Erfahrung, dass in und für Geschichte allein der Umstand als gesichert gelten kann, dass nichts von Dauer ist. Die Kategorie der Wiederholung hingegen fördert die Einsicht zutage, dass sich trotz des zeitlichen Fortschreitens von Geschichte keine Veränderung der zentralen Verhältnisse und Strukturen einzustellen vermag. Beides trifft einen Punkt, erfasst aber für sich allein genommen nicht den Knotenpunkt zweiter Natur, denn dieser ist paradoxal. Der paradoxale Charakter besteht darin, dass Geschichte als Vergänglichkeit und Geschichte als Immergleichheit wahr und unwahr zugleich ist und dass beide Urteile nur dann zu verstehen sind, wenn Geschichte in Gestalt von Wiederholung konfrontiert wird mit Geschichte in Gestalt von Vergänglichkeit. Geschichte als Wiederholung ist wahr, sofern die Strukturen und Verhältnisse, die das Gegebene prägen, sich in der Tat manifestieren als seien sie unveränderlich. Dieselben Strukturen und Verhältnisse weisen zugleich über ihren Zuschnitt auf das Prinzip der Wiederholung hinaus. »Ewigkeit« – so heißt es in der Negativen Dialektik in Bezug auf das Verhältnis von Metaphysik und Geschichte – »erscheint nicht als solche sondern gebrochen durchs Vergänglichste hindurch.« (ND: 353) Bezogen auf das kategoriale Spannungsverhältnis von Ewigkeit, als ›Wiederkunft des Gleichen‹ (Nietzsche) und Vergänglichkeit verweist Adorno hier auf deren notwendig immanente Vermittlung. Dies beginnt bei der Einsicht, dass Ewigkeit als Bestimmung unveränderlichen Seins, nicht unmittelbar erfasst sondern erst durch die Vermittlung mit ihrem Gegenteil erschlossen werden kann; und setzt sich fort in der Erkenntnis, dass das Andere der Vermittlung, kein einfaches Anderes sondern die Vergegenwärtigung der Erfahrung von Endlichkeit ist. Die Konfrontation von Ewigkeit und Vergänglichkeit bringt nicht bloß zum Ausdruck, dass die Kategorien für sich genommen Resultate ihrer gegenseitigen Hervorbringung und darum geschichtlich sind. In dem Bild von der Brechung des Immergleichen durch die Vergänglichkeit bahnt sich Naturgeschichte einen Fluchtweg aus der Wiederholung. Sie wirft ein Licht auf die Möglichkeit der Veränderung, die sich zuspitzt in der hoffenden Feststellung: »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.« (Ebd.: 391). Die Erkundung jener Fluchtwege aus der Wiederholung setzt ein Verständnis des Weges voraus, durch den sich der geschichtliche Charakter dessen, ›was ist‹, erhellt. Der Versuch, einen Zugang zur vergänglichen Dimension des Gegebenen zu finden, führt wiederum zu Benjamins Beschreibung der Allegorie, die Adorno in dem Vortrag über Naturgeschichte explizit zitiert: »Unter der entscheidenden Kategorie der Zeit, welche in dieses Gebiet der Semiotik getragen zu haben die große romantische Einsicht dieser Denker war, läßt das Verhältnis von Symbol und Allegorie eindringlich und formelhaft sich festlegen. Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica
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der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopfe aus. Und so wahr alle ›symbolische‹ Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt – es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines Einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt.« (Benjamin 1974 [1928]: 343; Herv. i.O.) Was in dieser Passage nach Adornos Lesart beschrieben wird, ist eine »Konstellation von Ideen, und zwar der Idee von Vergänglichkeit, des Bedeutens und der Idee der Natur und der Idee der Geschichte« (IN: 359). Die Ausführung dieser Konstellation fokussiert sich auf zwei Aspekte. Zum einen wiederholt Adorno die Beschreibung von Vergänglichkeit als Ineinandergreifen von Natur und Geschichte und deutet diese erneut als Antwort auf die doppelte ›Rätselfrage‹ nach dem Zusammenhang von Geschichte und nach dem Grund geschichtlicher Transformationsprozesse. Die Wiederholung dieses Arguments wird zum anderen verkoppelt mit dem Hinweis auf die Differenz zwischen Naturgeschichte und historischer Ontologie. Die naturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der »Grundbestimmung der Vergänglichkeit des Irdischen« (ebd.: 360) zielt nicht auf die Hervorkehrung einer fundamentalen Seinsweise von Geschichte, sondern auf ein Verständnis von Geschichte »im Zeichen von ›Bedeutung‹« (ebd.). In dieser Bestimmung verdichtet sich Adornos Auffassung geschichtlicher Deutung als ein Prozess, der Geschichte »transsubstantiiert« (ebd.). Der Rückgriff auf das christliche Ritual der ›Transsubstantiation‹ hat den Charakter einer Analogie. Wie in der heiligen Messe Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi verwandelt werden, erhält das historisch Konkrete durch seine Verschriftlichung die Gestalt eines Textes. Der Lesbarkeit von Geschichte geht demnach ihre Lesbarmachung voraus. An dieser Stelle kommt das oben bereits angedeutete Dritte, die Allegorie, ins Spiel. In einer ersten Annäherung kann die Allegorie als Medium charakterisiert werden, das die Lesbarkeit von Geschichte als Natur dadurch ermöglicht, dass sie jenen Verwandlungsprozess in seiner dialektischen Struktur vergegenwärtigt. Als dialektisches Vergegenwärtigungsmedium sorgt sie dafür, dass »die Momente der Natur und Geschichte nicht ineinander aufgehen, sondern […] zugleich auseinanderbrechen und sich so verschränken, daß Natürliches auftritt als Zeichen für Geschichte und Geschichte als Zeichen für Natur. Alles Sein oder wenigstens alles gewordene Sein, alles gewesene Sein verwandelt sich in Allegorie und damit hört Allegorie auf, eine bloß kunstgeschichtliche Kategorie zu sein. […] Diese allegorische Relation umschließt in sich bereits die Ahnung eines Verfahrens, dem es gelingen könnte, die konkrete Geschichte in ihren Zügen als Natur auszulegen und die Natur im Zeichen der Geschichte dialektisch zu machen.« (Ebd.)
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In dem Moment, wo die ästhetische Kategorie der Allegorie übersetzt wird in ein geschichtsphilosophisches Verfahren, verknüpft sich dessen Erkenntnisinteresse an den Momenten von Vergänglichkeit und Wiederholung geschichtlicher Prozesse mit der Frage nach der Darstellung ihrer objektiven Sachverhalte35 . Die allegorische Revision der Betrachtung von Geschichte nimmt hinsichtlich einer Konkretisierung der Allegorie zwei Fäden der oben zitierte Passage aus Benjamins Text wieder auf: Die Bestimmung der Allegorie in Abgrenzung zum Symbol sowie die Auffassung von Geschichte als Leidensgeschichte. Symbol und Allegorie sind konzeptionell mit der Frage der Repräsentation befasst, auf die sie unterschiedliche Antworten finden36 . Zunächst gehen beide davon aus, dass Erscheinung und Bedeutung einer Sache nicht kontingent sind. Sie sind von der Idee getragen, dass etwas für eine andere Sache stehen kann, unterscheiden sich jedoch darin, in welcher Weise dieses Vertretungsverhältnisses zu verstehen ist. Differentiae specificae sind das Verhältnis von Zeit und Geschichte sowie von Sinnlichkeit und Metaphysik bzw. sinnlicher Erscheinung und Idee. Im Symbol realisiert sich die Repräsentation als unmittelbare Einheit von Idee und Phänomen. Die Unmittelbarkeit der Einheit verweist darauf, dass sie geschichtlich präsent, jedoch nicht geschichtlich begründet ist. Die Geltung des Symbols speist sich folglich nicht aus dem Bezug auf eine andere Instanz, sondern ist durch seine Präsenz in sich selbst sinnfällig und bedeutsam. Durch bloßes Dasein Sinn zu haben, setzt »einen metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem voraus« (Gadamer 1974 [1960]: 69). Anders als das Symbol, welches auf der Idee gründet, dass in den symbolischen Phänomenen Idee und Erscheinung unmittelbar und notwendig zusammenfallen, sind das allegorisch Erscheinende und dessen Bedeutung nicht durch die »metaphysische These von der Sinnhaftigkeit der Welt« (M: 189) verbunden. Stattdessen bilden sie ein geschichtliches Verhältnis, dessen Bedeutung sich erst durch die Deutung erschließt37 . Von der symbolischen Repräsentation als Zusammenfallen von Idee und Erscheinung
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Man kann in Adornos naturgeschichtlicher Neubewertung geschichtlichen Denkens bereits den Vorgriff auf die Auseinandersetzung mit der idealistischen und historisch-materialistischen Logik des Fortschritts erkennen. Erst in späteren Texten und Vorträgen, beispielsweise in der Dialektik der Aufklärung (1947) oder im Rahmen der Vorlesung Zur Lehre von der Freiheit und von der Geschichte (1964/65) wird Adorno die philosophischen und materialistischen Erörterungen der Geschichte als Prozess des Fortschritts zum Gegenstand der kritischen Erörterung machen. Die folgende Darstellung geht insbesondere aus der Lektüre des Kapitels Zur Rehabilitierung der Allegorie aus Hans-Georg Gadamers Schrift Wahrheit und Methode (1974 [1960]) hervor. Trotz der grundlegenden ideengeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Differenzen teilen Gadamer und Adorno sowohl eine spezifische Skepsis gegenüber der Metaphysik des Symbols und das Anliegen, sich »den in der Ästhetik mittlerweile verketzerten Begriff der Allegorie« (LGF: 188) zuzueignen, als auch den »traditionalen Moment«, der »in einer jeden Erkenntnis enthalten ist« (M: 217) vor der Dominanz des positivistischen Denkens zu ›retten‹ (vgl. hierzu auch Klein (2006): 100). Dass die Abwertung der Allegorie als eines der zentralen Anliegen der deutschen Klassik betrachtet werden kann, hängt auch mit ihrem Verhältnis zu Rationalismus und Mythos zusammen. Ging es dem Symbolbegriff darum, die Freiheit der Kunst sowie die Harmonie von Bild und Bedeutung universell zu begründen, steht die Allegorie für das unfreie, mythische Bewusstsein und die NichtÜbereinstimmung von Idee und Erscheinung (vgl. Gadamer 1974 [1960): 75)
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unterscheidet sich die Allegorie also durch ihren konstruktiven und interpretatorischen Bezug auf Geschichte38 . Wie Gadamer geht Adorno davon aus, dass »die Allegorie kein Verhältnis von bloß sekundären Zufälligkeiten ist; das Allegorische ist nicht ein zufälliges Zeichen für einen darunter befaßten Inhalt; sondern zwischen Allegorie und allegorisch Gemeintem besteht eine Sachbeziehung […]. Allegorie heißt gewöhnlich sinnliche Darstellung eines Begriffes, und darum nennt man sie abstrakt und zufällig. Die Beziehung des allegorisch Erscheinenden und des Bedeuteten aber ist keine zufällige zeichenhafte, sondern ein Besonderes spielt sich ab […] und was sich in ihrem Raum abspielt, was sich ausdrückt, ist nichts anderes als ein geschichtliches Verhältnis. Das Thema des Allegorischen ist schlechterdings Geschichte.« (IN: 358; Herv. rb)39 Allegorien werden charakterisiert als sinnlich erfahrbare Darstellungsweisen geschichtlicher Verhältnisse. Geschichte selbst fungiert als Brückenbauer zwischen dem Konkreten und dem spezifischen Bedeutungsgehalt, der im ›Raum‹ der Allegorie zum Ausdruck kommt40 . Die allegorische Deutung beginnt insofern mit dem Besonderen und 38
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Zunächst sind Allegorien nichts anderes als bildhafte Darstellungen abstrakter Begriffe. Insofern sie jedoch weder natürlich gegeben, noch metaphysisch begründet sind, setzt ihr Dasein ihre Hervorbringung voraus. Die Verbindung von Bild und Begriff im allegorischen Objekt beruht auf einem Prozess der Bedeutungsproduktion. Das allegorische Objekt ist dann nicht mehr nur ein Ding in seinem ›natürlichen Zusammenhang‹, sondern es wird ihm eine spezifische Zeichenhaftigkeit zugewiesen, welcher seine ursprüngliche Bedeutung übersteigt. Zugleich ist die Zuweisung eines zeichenhaften Gehalts zu einem Gegenstand nicht zufällig. Allegorien besitzen zwar keine überzeitliche Gültigkeit, sind aber auch nicht unmittelbar frei von historisch tradierten Zuordnungen und Zeichensetzungen. Allegorien bewegen sich zwischen Tradition und Vergänglichkeit. Der Ausdruck der zwischen dem allegorisch Erscheinenden und dem allegorisch Gemeinten liegt, ist kein zufälliges Zeichen, sondern »[s]tatt des eigentlich Gemeinten wird ein anderes, ein Handgreiflicheres gesagt, aber so, daß dieses dennoch jenes andere verstehen lässt« (Gadamer 1974 [1960); Herv. rb). In diesem Zusammenhang ist die um das Jahr 1800 aufgekommene Unterscheidung zwischen lebendigem Symbol und unlebendiger Allegorie zu verstehen. Mit dem Aufziehen der Moderne verschwindet nicht nur das theologische Modell der Erklärung geschichtlicher Prozesse, auch das allegorische Zeichen wird vom Symbol verdrängt. Gadamer bezeichnet die Abwertung der Allegorie als beherrschendes Anliegen der deutschen Klassik. Die Abwertung stehe in Zusammenhang mit »der Befreiung der Kunst aus den Fesseln des Rationalismus und der Auszeichnung des Geniebegriffes […]. [I]n dem Augenblick, wo sich das Wesen der Kunst von aller dogmatischen Bindung löste und die unbewußte Produktion des Genies definiert werden konnte, musste die Allegorie ästhetisch fragwürdig werden. So sehen wir von Goethes kunsttheoretischen Bemühungen einen starken Einfluss dahin ausgehen, das Symbolische zum positiven, das Allegorische zum negativ-künstlerischen Begriff zu stempeln.« (Ebd.: 75) Die Verzeitlichung des Daseins steht in einem konstitutiven Verhältnis zum Bedeutungsgewinn des Raumes. Insofern die Allegorie Räume schafft, in denen sich die Bewegung von Geschichte überhaupt erst vollziehen kann, fungiert sie gleichermaßen als Zeit- wie auch als Raumgeberin. Zur Bedeutung, welche die Raumkategorie in der Allegorie gewinnt, schreibt Jean Starobinski (2005 [1963]): »Jede Allegorie impliziert sowohl eine Definition als auch eine Qualifikation des Raums: Indem sie die Leidenschaften personalisiert, sie veräußerlicht und ihnen die Fähigkeit zur unabhängigen Bewegung zuschreibt, muss die Allegorie ihnen zwangsläufig auch ein Territorium bieten, in dem sich ihre Bewegungen vollziehen: einen Kampfplatz, Wiesen, Einfriedungen, Donjons. […] Zwischen den Bildern der Reise (oder der Fahrt), des Wartens vor verschlossener Tür
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zielt darauf, das Naturhafte, die zweite Natur im Besonderen als geschichtliches Verhältnis zu entschlüsseln, ohne dass dabei Natur und Geschichte kurzgeschlossen werden. In der allegorischen Deutung des Besonderen erschließt sich dessen geschichtliche Verfasstheit gegenüber seiner naturhaften Erscheinung. Diese noch recht formale Bestimmung der Funktion und Struktur von Allegorien konkretisiert sich, wenn die bisher gesponnenen Fäden, mittels derer Adorno die Vermittlungsfigur der Naturgeschichte ausbuchstabiert hat, aufgenommen und unter dem Gesichtspunkt der Dissonanz verknüpft werden. In der Rekonstruktion von Lukács’ und Benjamins Interpretation ästhetischer Phänomene verbindet sich Adornos Interesse daran, ein Verständnis der konkreten Erfahrungen in der Moderne zu gewinnen, mit seinem Anliegen, einen Zugang zur Analyse der Bedingungen und Strukturen geschichtlicher Verhältnisse zu finden. Dieses doppelte Ansinnen führte zunächst zu Lukács Deutung des Romans als Medium, das nicht nur Entfremdung und Zerrissenheit als Erfahrung der Moderne literarisch verarbeitet, sondern darüber hinaus geschichtsphilosophisch zu reflektierende Anhaltspunkte über die Beschaffenheit von Geschichte als zweiter Natur enthält. Im zweiten Schritt konzentrierte sich die Rekonstruktion auf Benjamins Analyse des barocken Trauerspiels als Bühne, auf der Geschichte als Vergänglichkeit thematisch wird. Adornos Auseinandersetzung mit den Schriften zeugt dabei eher wenig von einem konkreten Interesse an deren spezifischem Material (Roman oder barockes Trauerspiel). Stattdessen lässt sich die Lektüre eher als Aneignung charakterisieren, welche auf die Herstellung eines Deutungsrahmens zielt, der es ermöglicht, die zweite Natur der Phänomene zu entschlüsseln. Das Desinteresse am Material der rezipierten Werke bezieht sich jedoch nicht auf ästhetische Phänomene schlechthin. Auf der Suche nach einem solchen ästhetischen Phänomen, in dem die Erfahrung von Entfremdung und Vergänglichkeit nicht nur ästhetisch verarbeitet, sondern durch seine Allegorisierung auch naturgeschichtlich erschließbar wird, lässt Adorno die Dissonanz als »Signum der Moderne« (ÄT: 29) lesbar werden. Die Erörterung der Dissonanz als Geschichtszeichen der Moderne ist in diesem Fall gleichbedeutend mit der Allegorisierung des musikalischen Zusammenhangs, genauer gesagt mit den Kompositionen der neuen Musik. In der Schrift Philosophie der neuen Musik formuliert Adorno mit Blick auf den dissonanten Todesakkord der Lulu in der gleichnamigen Oper, dass sich darin »[Alban] Bergs allegorischer Genius in einer historischen Perspektive [bewähre], die schwindeln macht: wie Lulu in der Welt des vollkommenen Scheins nichts herbeisehnt als ihren Mörder und ihn endlich findet in jenem Klang, so sehnt alle Harmonik des verweigerten Glücks – die Zwölftonmusik ist von der Dissonanz nicht zu trennen – ihren tödlichen Akkord herbei als Chiffre der Erfüllung.« (GS 12: 81) Der Zweck, der durch die allegorische Komposition der komponierten Dissonanz realisiert werden soll, besteht darin, die im musikalischen Material verarbeiteten und
und der entscheidenden Prüfung spielt sich ein komplettes Schicksal ab, bei dem sich die Einheit des Selbst in eine Vielzahl von Akteuren aufzulösen scheint, die ihr Spiel getrennt spielen. Das allegorisierte Bewusstsein ist ein Bewusstsein, das seiner wahren Freiheit beraubt ist; es ist kaum mehr als ein Theater, auf dem Figuren agieren, die ihren eigenen Kampf oder ihre eigene Suche betreiben.« (Ebd.: 26)
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
kompositionell verschriftlichten Voraussetzungen lesbar zu machen. Die Allegorie komponiert die Dissonanz noch einmal: »Die Dissonanz ist der wesentlichste Ausdrucksträger, Symbol für Schmerz und Leid. Sie hat zugleich eine rein musikalische Bedeutung, nämlich die, der Herrschaft der musikalischen Formel, des tonalen Dreiklangsystems so weit wie möglich sich zu entziehen und die Einmaligkeit des musikalischen Augenblicks durch ein einmaliges, konkretes, nicht clichéhaftes Mittel zu realisieren. Diese beiden Tendenzen der Dissonanz sind schließlich in der neuen Musik ganz frei gesetzt worden.« (GS 18: 73) Adorno unterscheidet hier zwischen der Bedeutung der Dissonanz in geschichtlicher und musikalischer Hinsicht. Gemeinsam ist den Bedeutungsachsen ihre Emanzipation in den Werken der neuen Musik. Die Beschreibung der Dissonanz als ›einmaliger Augenblick‹ weist zurück auf die Befreiung des musikalischen Materials aus ihrem scheinhaften ›Naturzwang‹ zu Tonalität und Harmonik. Durch die Überwindung der Gesetze der tonalen Harmonik und ihrem Zwang zur Auflösung von Spannungen verwandelt sich die Erscheinungsweise und Funktion dissonanter Akkorde. Nicht mehr der Kadenzfunktion unterworfen kann die Dissonanz in doppelter Weise expressiv fungieren: als klangliche Artikulation des Besonderen und als Zeichen negativer Erfahrung. Beide Aspekte fallen in den Werken der neuen Musik zusammen, über die Adorno festhält: »Musik zum Augenblick geschrumpft, ist wahr als Ausschlag negativer Erfahrung: sie gilt dem realen Leiden« (GS 12: 43). Die musikalische Entwicklung hin zur Emanzipation der Dissonanz wird zusammengebunden mit der Revision des Ausdrucks von Affekten in der Musik. Bis in die Romantik herrschte die Vorstellung vor, man könne Gefühle und Leidenschaften komponieren. In den Kompositionen der neuen Musik entsteht mit der Dominanz des atonalen Denkens auch eine andere Weise, affektive Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Ausgehend von einer Kritik an der Konstruktion von Gefühlen als »Schein von Passionen« (ebd.: 44) gehen die Werke dazu über, »im Medium der Musik unverstellt leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata« (ebd.) zu registrieren. Die Verschiebung von der Konstruktion von Leidenschaften zur Aufzeichnungen von Affekten geht einher und ist bedingt durch eine veränderte Bedeutung kompositorischer Subjektivität. Dass jene somatisch vermittelten Erfahrungen des Unbewussten in den Kompositionen zum Ausdruck kommen, ist davon abhängig, dass sie den kompositorischen Konstruktionswillen zwar übersteigen, aber dennoch in eine musikalische Sprache übersetzt werden können. Dieses Paradox zwischen ›unverstellt leibhafter Regung‹ und musikalischer Formgebung beschreibt die Herausforderung der Dissonanz. Aus diesem Grund fungiert sie als eine der zentralen Vermittlungsinstanzen, durch die die somatischen Erfahrungen der Negativität einen adäquaten klanglichen Ausdruck erhalten und zugleich in ihrer Gestalt »als Boten des Es gegen den kompositorischen Willen« (ebd.: 44) und gegen den Zwang zur tonalen Harmonik durch Auflösung fortbestehen können. In dieser Doppelfunktion ist die Dissonanz »Protokoll und Konstruktion in einem« (ebd.: 46). Dass die Dissonanz in der neuen Musik ohne Auflösung bleibt, ist nicht nur Resultat eines innermusikalischen Entwicklungs- und Emanzipationsprozesses, sondern auch eine ästhetisch vermittelte Weise der Chiffrierung von Geschichte. Die geschichtsphilosophische Aufwertung des musikalischen Materials basiert auf der produktionsästhetischen Einsicht, dass das musikalische Werk nicht dar-
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auf abzielt, Gefühle zu illustrieren. Mit der »Emanzipation der Dissonanz« (Holtmeier/ Linke 2019: 151) als freistehende Form entsteht eine Möglichkeit, körperliche, in Form von Schmerzen wahrnehmbare Erfahrungen durch den Gebrauch von dissonanten Akkorden klanglich zu artikulieren und ästhetisch zu verobjektivieren. Adorno spricht an anderer Stelle auch von der Dissonanz als transfiguriertem Schmerz (vgl. ÄT: 29). In der klanglichen Artikulation ist der »Affekt verwandelnd aufgehoben« (Dankemeyer 2019: 145). Die Verobjektivierung verknüpft die Produktion mit der Rezeption: Die sinnliche Erfassung des ›Auseinanderklingenden‹, dessen Wahrnehmung das Gewohnte, die Erwartung der Auflösung von Dissonanz in Konsonanz durchbricht und bis zu dem Punkt reicht, an dem die Perzeption die Gestalt von Unerträglichkeit annimmt. Das rezeptive Moment gleicht »einem Aufstörenden und selber Verstörtem« (GS 14: 143) und besitzt darum eine aufrüttelnde Qualität: »Die Dissonanzen, die sie schrecken, reden von ihrem eigenen Zustand: einzig darum sind sie ihnen unerträglich.« (GS 12: 18) Von der »›Entdeckung‹ verdrängter Seelenzustände« (Eichel 1993: 153) erwartet Adorno keine therapeutisch-kathartischen Effekte, sondern verknüpft »das oft schockierende Zutagefördern von Bewusstseinsschichten, die ja nicht nur individuelle Zufälligkeit, sondern auch gesellschaftliches Symptom sind« (ebd.), mit ihrer Lesbarmachung als Chiffren für eine spezifische geschichtliche Realität. Dem Erkenntnisinteresse an der produktiven wie rezeptiven Seite dieser Musikerfahrung stellen sich diese Symptome nicht als zufällige, bloß individuelle vernehmbare Erfahrungen dar, vielmehr macht das Erleben von Dissonanzen einen Wandlungsprozess durch, wenn es als Zeichen für Sachverhalte, die über ihr einmaliges Erscheinen, ihre bloße Faktizität und ihre rein subjektive Bedeutsamkeit hinausweisen, verstanden werden soll. Die Allegorisierung der Dissonanz bildet den Übergang, der den vom dissonanten Akkord evozierten Schock und das darauf folgende Gefühl von ›Unerträglichkeit‹ in ein geschichtliches Licht setzt. Gerechtfertigt werden die geschichtsphilosophische Berücksichtigung des musikalischen Materials und der Drang zur signifizierenden Verobjektivierung seiner ästhetischen Erfahrung durch die Annahme einer konstitutiven Affinität der Musik zur Erkenntnis von Geschichte. Die erkenntnisstiftende Konvergenz von Musik und Geschichte impliziert eine in den »Formkonstituenten« (GS 14: 405) verborgenen »Beziehung auf das nicht geradewegs der diskursiven Begriffsbildung zugängliche und gleichwohl Objektive an der Verfassung der Wirklichkeit« (ÄT: 130). Mit der Hinwendung zur Allegorie zieht Adorno das sprachliche Register, um der in die Musik vermittelt eingegangenen Geschichte nicht nur sinnlich, sondern auch und insbesondere intellektuell auf die Spur zu kommen. Die Auffassung der Komposition als Schrift ist der erste Schritt dahin, in den musikalischen Phänomenen und Formen etwas über die geschichtlichen Verhältnisse herauslesen zu können. Die Dissonanz stellt sich der Deutung als kompositorische Verarbeitung einer »als dissoziiert erfahrene[n] Wirklichkeit« (Eichel 1993: 164) und als begriffslose Erkenntnis der unausweichlichen Erfahrung von Entfremdung und Vergänglichkeit dar. Mit der Entdeckung des gesellschaftlichen Symptoms verlagert Adorno jedoch die Frage nach der modernen Erfahrung von Dissoziation, Entfremdung und Vergänglichkeit, die sich – etwa in musikalischen Phänomenen – auf unterschiedliche Weise ausdrückt, entscheidend zur Gesellschaftstheorie hin. Dies setzt einen Reflexionsprozess in Gang, an den die allegorische »Zeichendeuterei« (LGF: 179) allein nicht heranreicht.
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
Das gesellschaftliche Allgemeine im sinnlichen und begriffslosen Zeichen zu erschließen, setzt eine Diskursivierung des Zugangs zu den Phänomenen voraus. Um diese Voraussetzung zu schaffen, vollziehen die folgenden Überlegungen den Übergang von der Allegorie zum Begriff.
1.3 1.3.1
Vermittlung: Begriff und Nichtidentität Ausgangspunkt philosophischer Selbstkritik
Die ästhetischen Implikationen, auf denen Adorno seine Auffassung von Naturgeschichte und Allegorie bettet, sind von der Frage begleitet, wie die Deutung zur geschichtlichen Bedeutung der Phänomene vordringen kann, ohne letztere »auf den Boden einer einfachen Symboltheorie herab[zu]ziehen« (Eichel 1993: 166), d.h. ohne sie als unmittelbare Abbilder von Geschichte zu betrachten. Dem gegenüber stellt Adorno eine Auffassung philosophischer Deutung, welche die Phänomene als Rätsel betrachtet, dessen Lösung zusammenfällt mit der Konstruktion geschichtlicher Figuren. Den Prozess der Rätsellösung kennzeichnet die Verwandlung des Phänomens in ein geschichtliches Zeichen. Für den Gestaltwandel des Phänomens in ein Zeichen zweiter Natur sowie für die Aufgabe von dessen Deutung »gilt der Hegelsche Satz, daß das Wesen erscheinen muß« (GS 14: 408). Das Wesen durch Deutung zur Erscheinung zu bringen ist gleichbedeutend damit, den objektiven, insbesondere den gesellschaftlichen Bedeutungsgehalt aus den Geschichtszeichen herauszulesen. An diesem zentralen Punkt geht es darum, die Bedingungen der Möglichkeit von Adornos Bestimmung der Interpretation als gesellschaftstheoretische ›Zeichendeuterei‹, als »gesellschaftliche Dechiffrierung« (ebd.: 394) zu klären. Man überlässt das Phänomen dabei nicht einfach nur einem anderen Stoff, sondern auch einer anderen Form: dem Begriff. Adorno gelangt zu Stoff und Form des Begriffs über das »Problem der Vermittlung« (PT I: 54). Es thematisiert die Herausforderung, »daß wir ein Seiendes überhaupt nicht haben und nicht denken können, es sei denn als bestimmtes, und daß darin schon der Begriff – oder die Idee – enthalten ist; dagegen wäre die Idee, die nicht ihrerseits sich bezieht auf Seiendes, auf reale Erfahrung, wirklich bloß ein leerer Name, ein leeres Gespinst.« (Ebd.) Die Herausforderung philosophischer Deutung wird transponiert in den Aufgabenbereich der begrifflichen Vermittlung, der begrifflichen Reflexion. Die dahinter stehende Annahme lautet: Ohne Begriff gebe es kein Denken und somit auch keine Wahrheit (vgl. ebd.: 55). Zugleich schließt Adorno in die Erläuterung und Rechtfertigung der Notwendigkeit begrifflicher Vermittlung dessen praktisches Misslingen mit ein. Das »Problem der Verdinglichung« (ebd.) bezeichnet den Zustand einer erfahrungslosen Selbstbezogenheit des Begriffs als Idee und damit die Verfehlung des Begriffs selbst. Adorno rückt mit der Diagnose der aus der Erfahrungslosigkeit und Leere hervorgehenden Selbstverfehlung des Begriffs ein für sein Verständnis begrifflichen Denkens entscheidendes Element in den Blickpunkt: die hegelsche Einheit von Leben und Begriff.
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1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
Das gesellschaftliche Allgemeine im sinnlichen und begriffslosen Zeichen zu erschließen, setzt eine Diskursivierung des Zugangs zu den Phänomenen voraus. Um diese Voraussetzung zu schaffen, vollziehen die folgenden Überlegungen den Übergang von der Allegorie zum Begriff.
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Vermittlung: Begriff und Nichtidentität Ausgangspunkt philosophischer Selbstkritik
Die ästhetischen Implikationen, auf denen Adorno seine Auffassung von Naturgeschichte und Allegorie bettet, sind von der Frage begleitet, wie die Deutung zur geschichtlichen Bedeutung der Phänomene vordringen kann, ohne letztere »auf den Boden einer einfachen Symboltheorie herab[zu]ziehen« (Eichel 1993: 166), d.h. ohne sie als unmittelbare Abbilder von Geschichte zu betrachten. Dem gegenüber stellt Adorno eine Auffassung philosophischer Deutung, welche die Phänomene als Rätsel betrachtet, dessen Lösung zusammenfällt mit der Konstruktion geschichtlicher Figuren. Den Prozess der Rätsellösung kennzeichnet die Verwandlung des Phänomens in ein geschichtliches Zeichen. Für den Gestaltwandel des Phänomens in ein Zeichen zweiter Natur sowie für die Aufgabe von dessen Deutung »gilt der Hegelsche Satz, daß das Wesen erscheinen muß« (GS 14: 408). Das Wesen durch Deutung zur Erscheinung zu bringen ist gleichbedeutend damit, den objektiven, insbesondere den gesellschaftlichen Bedeutungsgehalt aus den Geschichtszeichen herauszulesen. An diesem zentralen Punkt geht es darum, die Bedingungen der Möglichkeit von Adornos Bestimmung der Interpretation als gesellschaftstheoretische ›Zeichendeuterei‹, als »gesellschaftliche Dechiffrierung« (ebd.: 394) zu klären. Man überlässt das Phänomen dabei nicht einfach nur einem anderen Stoff, sondern auch einer anderen Form: dem Begriff. Adorno gelangt zu Stoff und Form des Begriffs über das »Problem der Vermittlung« (PT I: 54). Es thematisiert die Herausforderung, »daß wir ein Seiendes überhaupt nicht haben und nicht denken können, es sei denn als bestimmtes, und daß darin schon der Begriff – oder die Idee – enthalten ist; dagegen wäre die Idee, die nicht ihrerseits sich bezieht auf Seiendes, auf reale Erfahrung, wirklich bloß ein leerer Name, ein leeres Gespinst.« (Ebd.) Die Herausforderung philosophischer Deutung wird transponiert in den Aufgabenbereich der begrifflichen Vermittlung, der begrifflichen Reflexion. Die dahinter stehende Annahme lautet: Ohne Begriff gebe es kein Denken und somit auch keine Wahrheit (vgl. ebd.: 55). Zugleich schließt Adorno in die Erläuterung und Rechtfertigung der Notwendigkeit begrifflicher Vermittlung dessen praktisches Misslingen mit ein. Das »Problem der Verdinglichung« (ebd.) bezeichnet den Zustand einer erfahrungslosen Selbstbezogenheit des Begriffs als Idee und damit die Verfehlung des Begriffs selbst. Adorno rückt mit der Diagnose der aus der Erfahrungslosigkeit und Leere hervorgehenden Selbstverfehlung des Begriffs ein für sein Verständnis begrifflichen Denkens entscheidendes Element in den Blickpunkt: die hegelsche Einheit von Leben und Begriff.
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»Man hat dem vielfach die Wendung gegeben, daß die Begriffe – und ich würde sagen mit Recht, obwohl die Formulierung reichlich abgeklappert ist – lebendig seien oder gar, daß das Leben der Begriffe, bei Hegel heißt es sehr emphatisch das Leben des Begriffs, eigentlich dasselbe sei wie die Philosophie. Und ich möchte ihnen als ein Programm sagen […]: Die Aufgabe einer philosophischen Behandlung der philosophischen Terminologie kann eigentlich nichts anderes sein, als dieses in den Termini geronnenen Leben zu erwecken.« (Ebd.: 17f.) Was Adorno hier am Schluss der ersten Sitzung über Philosophische Terminologie als programmatischen Leitfaden der Vorlesung hervorhebt, gibt in stark verdichteter Weise seine Auffassung des Begriffs wieder: erstens als Aufbewahrungsmedium geschichtlicher Erfahrungen und Problemstellungen, zweitens als Entschlüsselungsinstanz eben dieser und drittens als Antwort auf die Frage, wie sich die Voraussetzungen und Strukturen von Wirklichkeit erfassen lassen. Die dreifache Bestimmung des Begriffs – als Zugang zum historisch Konkreten, als Speicher und als Schlüssel – ist der zentrale Gegenstand von Adornos »Begründung und Präsentation der philosophischen Methodologie« (Honneth 2006: 13)41 . Deren rechtfertigende Darstellung vollzieht sich dadurch, dass die begriffliche Reflexionsform »in der Durchführung spezifischer Probleme über ihre Voraussetzungen Auskunft gibt« (Städtler 2017: 2). Das Problem, um das die kritischen Betrachtungen Adornos kreisen, ist die idealistische, bei Hegel substantiell ausgearbeitete Auffassung des Begriffs als Einheit von Denken und Sein. Die folgenden Überlegungen sind dem Versuch gewidmet, Adornos kritische Auseinandersetzung mit der Identitätsphilosophie Hegels zu rekonstruieren. Die kritische Untersuchung jenes begrifflichen Anspruchs vollzieht sich im Horizont der Frage, ob und wie begriffliches Denken ohne Identitätsphilosophie möglich sein könnte. Hegel versteht unter dem Begriff die Identität des Subjektiven und des Objektiven, des Einzelnen und des Allgemeinen. Beide sind für sich Totalität, enthalten jedoch zugleich auch jeweils die Bestimmung des anderen in sich, sodass sie eine Einheit bilden. Diese Einheit wird durch die begriffliche Arbeit des Subjekts im Modus der bestimmten Negation hervorgebracht. Oder anders formuliert: Hegels Philosophie stellt die erkenntnistheoretische Genese in den konstitutiven Zusammenhang mit der Arbeit und der Aneignung des bearbeiteten Gegenstandes durch den Begriff. Dieser Prozess ist auf die Herstellung der Allgemeinheit des Begriffs gerichtet. Allgemeinheit ist »Einheit, welche nur durch jenes negative Verhalten, welches als das Abstrahieren erscheint, Einheit mit sich ist, und dadurch alles Bestimmtsein in sich auflöst« (W 6: 253). Oder an anderer Stelle formuliert Hegel, dass »die Wahrheit nur in der Einheit der Identität mit der Verschiedenheit vollständig ist« (ebd. 41). Der Begriff der Verschiedenheit verweist
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Für eine umfassende Darstellung von Adornos Methodenverständnis siehe: Jürgen Ritserts Beitrag Methode im Adorno Handbuch (2019). Im Rahmen seiner Analyse beschreibt Ritsert Adornos methodische Grundlage aus einer syntaktischen, einer erkenntnistheoretisch-ontologischen und einer praxisorientierten Perspektive. Ein besonderes Augenmerk legt die Untersuchung darauf, nachzuvollziehen, welche besondere Bedeutung dabei Hegels Wissenschaft der Logik zukommt. Die hegelschen Begriffe von Dialektik und Widerspruch werden von Ritsert als Dreh- und Angelpunkt von Adornos Auseinandersetzung mit methodologischen Fragen interpretiert.
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
auf den für die Dialektik Hegels entscheidenden Begriff des Widerspruchs. Widersprüche sind vermittelt, weil sie durch den Begriff vollzogen werden, befinden sich an sich jedoch »in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Dies zu wissen und die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen, gehört zum Wesentlichen der philosophischen Betrachtung; diese Eigenschaft macht das aus, was weiterhin sich als das dialektische Moment des Logischen bestimmt.« (W 8: 127f.) Hegel zufolge ist die Bestimmung von Widersprüchen logische Voraussetzung von Wahrheit, die Bestimmtheit als Widersprüche ist jedoch onto-logischer Natur. Diese Denkbewegung speist sich aus der Verkehrung der Kantischen Trennung des Apriori und des Aposteriori. Erst mit Hegel kommt sprichwörtlich Bewegung – in Form eines Prinzips – ins Spiel. Während Kant die Bedingungen möglicher Erkenntnis an ihre Begründung vor aller Erfahrung zurückbindet, denkt Hegel Geltung und Praxis des Bewusstseins zusammen. Da Erkenntnis wesentlich ein Vollzug ist, können Geltung und Praxis nicht grundsätzlich verschieden sein und insofern bilden die Bestimmung von Erkenntnis und das Begreifen ihrer Genese eine dialektische Einheit. Hegel konstatiert, dass sich in der transzendentalphilosophischen Begründung der Geltung der Erkenntnisbedingungen die Setzung der Voraussetzungen bereits vollzogen habe, das Unbedingte sich als das Bedingte herausstellt. Der Widerspruch wird geschichtlich in einer Form der Erkenntnis aufgehoben, in welcher Subjekt und Objekt zur für sich seienden Einheit des Denkens zwar erst werden, deren Einheit aber weder durch Wahrnehmung oder Einbildung hergestellt werden kann, sondern ein Produkt des Denkens selbst ist. Das Prinzip der Erkenntnis ist auch bei Hegel das Subjekt, aber dieses ist nicht bereits apriorisch gegeben, sondern muss sich innerhalb eines geschichtlichen Prozesses erst verwirklichen. Hegel geht es sowohl darum den aufklärerischen Impuls des erkenntniskonstituierenden Subjekts aufzugreifen und zugleich dessen formalistische Reduktion den Anspruch entgegenzusetzen, das Ganze begreifen zu können. Subjekt dieses Prozesses ist der selbsttätige und zugleich in sich gespaltene Begriff. Negativität und Selbsttätigkeit bilden das dialektische Verhältnis des Begriffs bzw. des Wissens. Um »zum eigentlichen Wissen zu werden oder das Element der Wissenschaft […]) zu erzeugen, hat es [das Wissen; rb] sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten« (W 3: 31). Um etwas zu wissen, zu erkennen, muss das Wissen sich erst selbst gewusst haben. Erst nach dem Durchgang durch die Genese des Wissens werden sich die Setzungen als Voraus-Setzung des Wissens sowie das Wissen als sich wissend und damit als wahr erwiesen haben. Es ist die Bestimmung des Wissens wahr zu sein oder auch ist es die Bestimmung der Wahrheit, sich selbst zu wissen. Ziel der Arbeit des Wissens ist Wahrheit oder das sich selbst wissende Wissen. Die Phänomenologie des Geistes ist die Darstellung der Wissenschaft vom fortschreitenden Erscheinen des Geists oder mit Hegel gesprochen vom »Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens« (ebd.: 31)42 . Medium der Selbstverwirklichung ist der Geist, dessen 42
Die Wahrheit des Geistes ist der Maßstab eines Erscheinungsprozesses, an deren Ende der absolute, d.h. der sich selbst wissende Geist zutage getreten sein wird. Indem Streben danach, die absolute Einheit herzustellen, nimmt der Geist zwangsläufig verschiedene Erscheinungsformen an.
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Entwicklung die Verwirklichung der Möglichkeit des Erkennens als solcher, oder der Gang des Weges von der Idee einer Einheit von Vernunft und Allgemeinheit hin zu ihrer Realisierung ist43 . Damit kann Hegels Philosophie als eine des sich im Fortgang seiner Entwicklung begreifenden Geistes aufgefasst werden. Geist als der aktive Prozess fortschreitender Selbsterkenntnis, bezeichnet also zugleich die Form, die erkennt als auch den Gegenstand, der erkannt werden soll sowie den Erkenntnisvollzug selbst. Voraussetzung ist die Bestimmung seiner selbst als dasjenige reflexive Selbstverhältnis, welches sowohl sich selbst erfassen als auch einen Selbstbezug in der objektiven Welt hervorbringen kann. Sich selbst zu wissen heißt, sich im anderen zu wissen. Das andere ist nicht das ganz andere des Geistes, sondern konstitutives Element der inneren Widersprüchlichkeit des Geistes. Es ist das andere des Geistes und damit zugleich dessen Gegenstand wie Repräsentant in seiner äußerlichen Form. Es ist die Bestimmung des Geistes bei Hegel, den Widerspruch in sich selbst und sein anderes als zwei sich widersprechende Gegenstände setzen, den Widerspruch erkennen und aufheben zu können. Ist die Identität von Bewusstsein und Gegenstand Ziel von Erkenntnis und geistiger Entwicklung, so nötigt die Nichtidentität von Bewusstsein und Gegenstand das Bewusstsein zur Transformation. Die Transformation ist der Prozess, den Hegel auch als »Mühe der Vergleichung beider [Bewusstsein und Gegenstand] und der eigentlichen Prüfung« (ebd.: 77) des Maßstabes bezeichnet. Dies ist jedoch kein abstraktes Verhältnis, in dem Begriff und Gegenstand äußerlich sind, sondern Vergleichung und Prüfung
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Das Werden und Erscheinen ist also nicht Zufall oder Schicksal des Geistes, sondern steht in einem notwendigen inneren Zusammenhang: »Dass der Geist dazu kommt, zu wissen wer er ist, dies macht seine Realisation aus. Der Geist ist wesentlich nur das, was er von sich weiß. Zunächst ist er nur an sich Geist; sein Fürsichwerden bildet seine Verwirklichung. Für sich aber wird er nur dadurch, dass er sich besondert, sich bestimmt oder sich zu seiner Voraussetzung, zu dem Anderen seiner selbst macht, sich zunächst auf dies Andere als auf seine Unmittelbarkeit bezieht, dasselbe aber als Anderes aufhebt.« (W 10: 33) Die Identität von Selbstverwirklichung des Geistes und Realisierung der Wahrheit vollzieht sich durch ihre Differenzmomente hindurch, also durch diejenigen Momente, in denen sich Identität ankündigt, sich aber noch nicht manifestiert hat: »Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegengesetzte Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche – ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.« (W3: 23) Die Entwicklung des Geistes verläuft von der Einheit mit sich selbst auf subjektiver Seite (Vernunft) zur Einheit mit sich selbst auf objektiver Seite (Staat der bürgerlichen Gesellschaft). Der Geist gibt sich selbst objektive Gestalt und bringt dadurch eine sittliche, kulturelle, soziale und politische Existenz hervor. Im letzten Schritt negiert er seine endliche Realität und wird dadurch zur absoluten, »ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes« (ebd.: 32).
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
vollziehen sich immanent44 . Das Bewusstsein eignet sich seiner Form entsprechend Gegenstände an und vergleicht sich diesen: »Entspricht sich in dieser Vergleichung beides nicht, so scheint das Bewusstsein sein Wissen ändern zu müssen, um es dem Gegenstand gemäß zu machen; aber in der Veränderung des Wissens ändert sich ihm in der Tat auch der Gegenstand selbst, denn das vorhandene Wissen war wesentlich ein Wissen von dem Gegenstand; mit dem Wissen wird auch er ein anderer, denn er gehörte wesentlich dem Wissen an.« (Ebd.: 78) Dass sich mit dem Wissen zugleich auch der Gegenstand des Wissens notwendig transformiert, macht ihr Bedingungsverhältnis aus. Hegel bezeichnet das transformatorische Bedingungsverhältnis als dialektischen Prozess, als Bildungsprozesse. Die Besonderheit des Bildungsprozesses liegt in dem doppelten Verhältnis, in welchem Form und Inhalt einerseits verschieden sind, andererseits aber das Ziel verfolgen, identisch zu sein: »Diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird« (W 3: 78). Der Weg des Geistes vollzieht sich im Medium der dialektischen Erfahrung. Erfahrung – wie oben bereits angesprochen – ist nicht der Zustand, in welchem das Bewusstsein eine Veränderung widerfährt, sondern es bringt diese selbst hervor, es vollzieht das, was Hegel als Synthese oder auch als qualitativen Sprung von der Entfremdung zur Einheit bezeichnet. Diese Verwirklichungsprozesse sind nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern stehen gleichsam in einem dialektisch-teleologischen Entwicklungszusammenhang. Sie sind – so Hegel – »ein Kreislauf in sich selbst […], worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste ist« (W 5: 70). Ist die geschichtliche Bewegung der dialektischen Philosophie Hegels an ihr Ende gekommen, offenbart sie ihre kreisförmige Gestalt und die Verwirklichung des idealistischen Anspruchs Philosophie als ein geschlossenes System zur Darstellung zu bringen. Am Ende steht der Geist für sich selbst und die vorausgesetzte Bestimmung des Begriffs, das Vermögen der Überwindung von Widersprüchen in der Identität, hat sich als dasjenige Prinzip erwiesen, auf das alles zurückgeführt werden kann. Die Totalität des Begriffs, verstanden als absolutes, die Widersprüche ganz in sich aufhebendes Subjekt, bildet das Zentrum von Adornos die Widersprüche aufspürenden Begehungen des identitätsphilosophischen Systems45 . Adornos Kritik an Hegels abso44
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Andreas Gelhards (2018) Studie Skeptische Bildung. Prüfungsprozesse als philosophisches Problem arbeitet das Verfahren der skeptischen Selbstprüfung des Bewusstseins, das sich zwischen Bewährung und Prüfung aufspannt, als Kern der Hegelianischen Bildungsidee heraus. Es ist wichtig zu erwähnen, dass sich Adornos Beschäftigung mit der identitätsphilosophischen Grundthese von der Einheit von Denken und Sein nicht auf die kritische Lektüre der hegelschen Schriften beschränkt. Identitätsphilosophie bezeichnet bei ihm eine die Philosophiegeschichte durchziehende und epochenübergreifende Denkform. Das Proprium dieser Denkweise besteht darin, dass sie den Primat der Philosophie und den »absolute[n] Identitätsanspruch […], daß schlechterdings alles in den Bestimmungen der Philosophie aufgeht« (VND: 117) allen weiteren Bestimmung voranstellt. Dieser Prämisse innewohnt eine »Hypostasis des Verhältnisses von Grund und Folge, des subjektiven Prinzips, dem die Erfahrung des Objekts nicht sich fügt« (ND:
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lutem Subjekt vollzieht sich vorrangig auf drei Ebenen: Erstens als Kritik an der Einheit des Begriffs, zweitens als Kritik an der Einheit des Geistes und drittens als Kritik an der Einheit der Weltgeschichte. Umklammert werden die verschiedenen Gegenstände von der sie bedingenden Krise der idealistischen Systeme. Die Krise des Idealismus bezeichnet eine Konstellation, welche die geistige Erfahrung des Idealismus, die Gründung des Seins im Denken, konfrontiert mit der geschichtlichen Erfahrung des Zerfalls ihrer individuellen und sozialen Voraussetzungen in der bürgerlichen Welt. Der Ausgriff kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf intra- und intersubjektive Lebensformen, zwei Weltkriege und die systematische Vernichtung der europäischen Jüd*innen stehen für das Scheitern der idealistischen These des Fortschritts des Menschen im Bewusstsein der Freiheit. Adorno steht – davon zeugt die Anfangspassage der Negativen Dialektik – in den geschichtlichen Trümmern der idealistischen Philosophie und ihrer Kritik durch Karl Marx: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang. […] Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß. […] Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren. Was einst, gegenüber dem Schein der Sinne und jeglicher nach außen gewandten Erfahrung, als das schlechthin Unnaive sich fühlte, ist seinerseits, objektiv, so naiv geworden[.] […] Nur Philosophie, die solcher Naivität sich entledigt, ist irgend wert, weitergedacht zu werden. […] An ihr wäre zu fragen, ob und wie sie nach dem Sturz der Hegelschen überhaupt noch möglich sei […]. Stellt die Hegelsche Lehre von der Dialektik den unerreichten Versuch dar, mit philosophischen Begriffen, dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen, so ist Rechenschaft vom fälligen Verhältnis zur Dialektik zu geben, wofern sein Versuch scheiterte.« (ND: 15f.) Adornos philosophisches Hauptwerk beginnt mit einer nüchternen Bestandsaufnahme: Subjektiv und objektiv haben sich weder der Widerspruch von Wissen und Begriff noch die Klassengegensätze der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufgehoben und sich Freiheit im Denken und in der Geschichte verwirklicht. Aber eben jener nüchternen Bestandsaufnahme bedarf es scheinbar für Adorno, um »die Karten auf 144). Als Zweck der verschiedenen Positionen stellt sich die Absicht heraus, eine Identität zwischen Denken und Gegenstand herzustellen. »Hegel, wie Kant und die gesamte Tradition, auch Platon, [sind] parteiisch für die Einheit (ebd.: 160). So wird sowohl Platons Ideenlehre, Kants Vernunftphilosophie und die Philosophie des deutschen Idealismus, als auch Husserls Phänomenologie und Heideggers Existentialphilosophie zum Gegenstand der Kritik am Denken der Identität. Auffallend und Grund zur Kritik ist die Tatsache, dass Adorno in Bezug auf seine eigene Analyse keinen Gebrauch von der Möglichkeit macht, die kritische Beurteilung identifizierenden Denkens auf die eigene identifizierende Weise der Kritik anzuwenden. Stattdessen wird die Heterogenität der philosophischen Positionen und Systeme zum Zweck der Rechtfertigung des eigenen Arguments unter einen Begriff oder einer Theorie subsumiert, wodurch deren Besonderheit zugunsten begrifflicher und theoretischer Allgemeinheit ein stückweit verloren geht.
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den Tisch« (ebd.: 9) legen zu können, wie es in der Vorrede heißt. Ob es sich dabei um Trümpfe handelt, kann nur im Spiel entschieden werden, aber auf der Hand hat Adorno zumindest ein aussichtsreiches, durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus gewonnenes Blatt: Negative Dialektik als Verfahren, welches die geschichtsphilosophische Konstruktion eines absoluten Subjekt-Objekts zum einen, die begriffliche Vermittlung als Medium, welches intendiert, mit »konsequenzlogischen Mitteln, anstelle des Einheitsprinzips und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs die Idee dessen zu rücken, was außerhalb des Banns solcher Einheit wäre« (ebd.: 10) zum anderen. Ein entscheidender Schritt der philosophischen Selbstkritik und Voraussetzung der Ausarbeitung der Dialektik zum Verfahren ist die Übersetzung eben jener Krise des Idealismus in einen Ablösungsprozess der Philosophie vom Zweck der Totalität und der Notwendigkeit zum System46 . Im Vorwort zur Negativen Dialektik bezeichnet Adorno seine Perspektive und Herangehensweise als Antisystem und stellt sie der Denkweise gegenüber, die er folgendermaßen beschreibt: »System, Darstellungsform einer Totalität, der nichts extern bleibt, setzt den Gedanken gegenüber jedem seiner Inhalte absolut und verflüchtigt den Inhalt in Gedanken« (ebd.: 35). Kennzeichnend für das System ist der Zwang des Denkens zur allumfassenden Vereinnahmung, welche die Mannigfaltigkeit der Einzelmomente in der Totalität des Denksystems aufhebt, unabhängig davon, ob sich der betreffende Gegenstand überhaupt sinnvoll vergeistigen lässt. Der Ganzheitscharakter des philosophischen Systems basiert also auf einem Zwang zur totalen Vergeistigung. Adornos Idee einer Philosophie mit »esprit systématique« (ebd.: 35) hingegen nimmt Abstand vom Zwang des Denkens zum System und zur Geschlossenheit. In der Vorlesung zur Negativen Dialektik beschreibt Adorno die Befreiung vom System als Prozess der Säkularisierung, der das auf das Ganze zielende Philosophieren in eine latente Kraft des Aneinanderbindens der Einzeleinsichten – den esprit systématique – transformiert. Systematisches Denken bezeichnet »ein Denken, das zwar nicht System ist, aber in sich das System und auch den systematischen Impuls verzehrt; das in seinen Analysen des Einzelnen eben die Kraft bewahrt, die einmal die Kraft der Systembildung hat sein wollen.« (VND: 65) Medium der Aufbewahrung der synthetisierenden Kraft und des systematischen Impulses ist der dialektische Begriff47 .
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Schäfer und Thompson (2010) sprechen in diesem Zusammenhang von einer »Brechung hinsichtlich der Selbstverständlichkeit, mit der die klassischen philosophischen Konzepte […] unsere Vorstellungen von der Welt, von uns selbst (und auch von unseren Vorstellungen) organisieren« (ebd.: 146). In diesem Zusammenhang erscheint Adornos Selbstbezeichnung seines Verfahrens als Antisystem im Vorwort der Negativen Dialektik als zwiespältig. Antisystem bezeichnet einerseits die Verschiebung von einer ontologisch und geschichtsphilosophisch begründeten Dialektik zu einer Dialektik »ohne System und ohne Ontologie« (VND: 53). Andererseits sei, Yolanda Espiña (1998) zufolge, damit auch »die Akzeptanz eines ›Systems‹ von Dialektik [gemeint], welches niemals abgeschlossen werden kann. Deshalb unterscheidet Adorno zwischen ›System‹ und ›Systematik‹« (ebd.: 57).
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1.3.2
Begriff: Von der Identität zur negativen Dialektik
Der Weg von der begrifflich vermittelten Geschlossenheit des Denksystems zur Öffnung des Begriffs auf Dialektik hin nimmt seinen Ausgang in der Auseinandersetzung mit dem Begriff der absoluten Idee, deren Erkenntnis den Endpunkt in der Geschichte der Selbsterfassung des Begriffs markiert und dadurch die Identität als Wesen des Begriffs begründet (vgl. PT II: 307ff.): »Dieser Begriff der Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit […], das Logische mit der Bedeutung, daß es die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist. Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen und das Logische so ihr Resultat als das Geistige, daß es aus dem voraussetzenden Urteilen, worin der Begriff nur an sich und der Anfang ein Unmittelbares war, hiermit aus der Erscheinung, die es darin an ihm hatte, in sein reines Prinzip zugleich als in sein Element sich erhoben.« (W 10: 393) Der Begriff realisiert seine Bestimmtheit, indem er sich in ein Entsprechungsverhältnis zu sich selbst bringt. Man könnte auch sagen die Durchführung des Begriffs und der Prozess der Selbstvervollkommnung des Begriffs sind ein und dasselbe. Zu diesem Zweck durchläuft er eine selbstproduzierte Transformation von der »reine[n] Form des Begriffs, die ihren Inhalt als sich selbst anschaut« (W 8: 388) hin zu seiner allgemeinen Form, »das freie selbstständige, sich in sich bestimmende Subjektive, das Subjekt selbst« (W 5: 62). Dass der Begriff sich als das Allgemeine erkennen kann, ist darauf zurückzuführen, dass begriffliches Sein nicht nur »die Form des Logischen selbst ist, sondern auch als Prinzip derjenigen Formen [verstanden wird], welche Erscheinungen des Logischen als des Geistigen sind« (Fulda 2004: 499). Die Einheit zwischen Begriff und Idee wird logisch vorausgesetzt und im Fortgang des Begriffs eingeholt. In dem »Sich-in-Eins-Zusammenziehen des Anfangs mit dem Ende – [in dem] in seiner Verwirklichung Zu-sich-selber-Kommen des Begriffs« (W 10: 15) bewegt sich die Idee von der logischen Voraussetzung des Begriffs zum wissenden Begriff, von dem aus die Erscheinungen bestimmt werden hin zum Wissen darüber, dass das reine Prinzip die Idee selbst ist. Die geschichtsphilosophische Bedeutung der These ergibt sich aus dem Grundgedanken aller Begriffe, die sich Hegel zufolge zur absoluten Form (Wissen, Idee, Geist) entwickeln. Ihre Entwicklung ist nicht äußerlich, sondern entspricht einer Notwendigkeit, die aus der inneren Bestimmungen der jeweiligen Begriffe entspringt48 . Die Identität des sich selbst verwirklichenden Subjekts bzw. Begriffs ist die zunächst nur an sich seiende Möglichkeit, jedoch noch nicht für sich seiende Wirklichkeit der Freiheit des Begriffs. Diese immanente Differenz zwischen dem »in sich selbst unterscheidenden und aus seinen Unterschieden zur Einheit mit sich zurückkehrenden« (ebd.: 13f.) Subjekts, seine »unruhige Natur« (ebd.: 14), setzt jenen Prozess in Gang, der sich aufspannt
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»Wie bei dem Lebendigen überhaupt auf ideelle Weise schon alles im Keime enthalten ist und von diesem Selbst, nicht von einer fremden Macht hervorgebracht wird, so müssen auch alle besonderen Formen aus seinem Begriffe als ihrem Keime sich hervortreiben.« (W 10: 14)
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zwischen der Erfahrung seiner einfachen Einheit als Mangel und ihrer absoluten Negation im verwirklichten Begriff49 . Dies geschieht auf dem Weg der Selbsterkenntnis des Begriffs als ein fortschreitender Prozess, indem der Begriff sich mit sich selbst zusammenschließt, weil er zur Einsicht kommt, dass er von Voraussetzungen abhängig ist, die nicht nur mit ihm sondern von ihm selbst gesetzt sind. Die Bewegung kommt dann an ein Ende, wenn die Selbstvermittlung »auf neue Weise verstanden werden [muss]: nicht mehr als Ausdruck für ein Geschehen, also einen Fortgang, sondern für dessen Abgeschlossensein, also in der Bedeutung ›es ist eins‹« (ebd.: 497; Herv. i.O.). Die Selbstidentität des Begriffs bedeutet zugleich seine Freiheit, denn bei sich angekommen zu sein heißt auch, nicht mehr aus der Not, sich noch nicht mit sich zusammengeschlossen zu haben, heraus agieren zu müssen. Stattdessen stellt Hegel für den Vollzug des vollendeten Begriffs fest, dass er »sich fortbewegt und entwickelt, [und] diese Bewegung ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist, die ewig an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt« (W 10: 394; Herv. rb). Mit dem Abschluss des begrifflichen Entstehungs- und Werdungsprozesses in der der Selbstvervollkommnung des Subjekts als absoluten Geist, geht der Begriff über in einen Zustand unendlicher Tätigkeit der Erkenntnis. Modus des Transformationsprozesses und Voraussetzung zur Hervorbringung der unaufhörlichen Tätigkeit des selbstidentischen Subjekts ist die Synthese. Damit ist eine intellektuelle Vollzugsform beschrieben, durch die der Begriff in der Vermittlung mit sich selbst »von seinem Ansichsein aus vermittelst seiner Differenz und ihres Sich-Aufhebens mit sich selbst zusammenschließt« (Fulda 2004: 489). Dieses als dialektische Methode bezeichnete Vorgehen – es wird darauf zurückzukommen sein – zielt auf die Widerspruchsaufhebung im Dienst der Identität. Adorno interpretiert Hegels Lehre des Begriffs als einen Versuch, den erkenntnistheoretischen Zwiespalt zwischen geschlossenem System, das die Allgemeinheit des Begriffs, und offenem Prozess, der die Freiheit des Begriffs begründet, in der »Konstruktion des Einheitsprinzips« (ND: 36) aufzulösen. Der Einwand zielt auf eine zentrale Prämisse der idealistischen Begriffslehre: auf die These, dass der Vollzug begrifflicher Erkenntnis und die Herstellung einer begrifflichen Selbstbeziehung ineinander fallen. Die Konstruktion eines selbstbezüglichen Entsprechungsverhältnisses seiner selbst in seinem Anderen basiert auf der Annahme des Telos einer Einheit des Begriffs mit sich. Der Knoten des idealistischen Begriffs, den es zu lösen gilt, sollen insbesondere zwei Fäden entzerren, die sich im Begriff verwirrt haben: das Identitätsprinzip und das Prinzip der Widerspruchslosigkeit. Adornos Kritik an der begrifflichen Identität 49
In der Einleitung der Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel in Bezug auf das Bewusstsein: »Die Ungleichheit, die im Bewußtsein zwischen dem Ich und der Substanz, die sein Gegenstand ist, stattfindet, ist ihr Unterschied, das Negative überhaupt. Es kann als der Mangel beider angesehen werden, ist aber ihre Seele oder das Bewegende derselben […] – Wenn nun dies Negative zunächst als Ungleichheit des Ichs zum Gegenstande erscheint, so ist es ebensosehr die Ungleichheit der Substanz zu sich selbst. Was außer ihr vorzugehen, eine Tätigkeit gegen sie zu sein scheint, ist ihr eigenes Tun, und sie zeigt sich wesentlich Subjekt zu sein. Indem sie dies vollkommen gezeigt, hat der Geist sein Dasein seinem Wesen gleichgemacht; er ist sich Gegenstand wie er ist, und das abstrakte Element der Unmittelbarkeit und der Trennung des Wissens und der Wahrheit ist überwunden. Das Sein ist absolut vermittelt; – es ist substantieller Inhalt, der ebenso unmittelbar Eigentum des Ichs, selbstisch oder der Begriff ist.« (W 3: 39)
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konzentriert sich dabei auf zwei ineinandergreifende und im Begriff der Synthese zusammenlaufende Aspekte: die intellektuelle Identifizierung von Begriff und Sache und die Stillstellung des Widerspruchs. Der erste Schritt zur Auflösung jenes Knotens wendet sich der These von der Einheit des Gedankens mit dem Gedachten zu: Begriffe bestimmen Gegenstände und machen dadurch den Gegenstand zu Begriffenen, also zu etwas, das sie selbst sind50 . Strukturell drückt sich dieses Verhältnis in der Denkform des Urteils aus. Hervorgebracht wird das Urteil durch die Synthese, die ein Subjekt mit einem Prädikat vermittels einer Kopula verknüpft. Die Kopula wird meist mit dem Wort »sein« angezeigt. Die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat fußt auf der Grundannahme, durch das Urteil den Wahrheitsgehalt der Sache zur Einsicht zu bringen. Adornos Haltung zum Schema der Synthese ist ambivalent. Zunächst ist sie ganz offenbar ein Widerspruch. Wenn man sagt »A ist B«, bedeutet das eine logische Antinomie, weil A nicht zugleich auch B oder C sein kann. Das formallogische Argument ist aber nur der Ansatzpunkt, von dem aus Adorno die Seins-Kopula als Ausdruck eines vom Identitätsprinzip ausgeübten Zwangsverhältnisses ins Licht setzt: »Die Copula sagt: Es ist so, nicht anders; die Tathandlung der Synthese, für welche sie einsteht, bekundet, daß es nicht anders sein soll: sonst würde sie nicht vollbracht. In jeglicher Synthesis arbeitet der Wille zur Identität.« (Ebd.: 151)51 . In der Synthese fallen »das Prinzip der Herrschaft« (VND: 21) und das »Prinzip der Identität« (ebd.) zusammen und bilden eine Art intellektuelles Herrschaftsinstrument. So spricht Adorno an anderer Stelle auch von der »Gewalttat des Gleichmachens« (ND: 146), um auf zugespitzte Weise den synthetisierenden Gebrauch von Begriffen als Verhaltensweise auszuweisen, die der Erfüllung der Bedürfnisse nach Ordnung und Überlegenheit dienen soll. Dem gegenüber scheint für Adorno der Widerspruch eine Möglichkeit zu sein, das Identitätsprinzip zu korrigieren:
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Adornos an verschiedenen Stellen vorgetragene Kritik an jenen beiden Formen begrifflichen Denkens kulminiert in der Einleitung und in dem mit »Negative Dialektik. Begriff und Kategorie« überschriebenen zweiten Teil der Negativen Dialektik. Siehe hierzu auch: Schnädelbach (1983); Theunissen (1983); Thyen (1989); Figal (2004); Seel (2004, 2006); Bernstein (2006); Honneth (2006); Schäfer/Thompson (2010); Sommer (2011, 2016,); Städtler (2012). Die Skepsis gegenüber der synthetisierenden Denkweise teilt Adorno mit Nietzsche, dessen Schrift Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn (1873) in einer Reihe von Punkten Koinzidenzen mit Adornos Begriffskritik aufweist. Es ist Wellmers (1985) Einschätzung zuzustimmen, dass Adornos Begriffskritik mitunter wie eine Wiederholung Nietzsches klinge (vgl. ebd.: 148). Dies ist etwa dort der Fall, wo Nietzsche mit Blick auf das Identitätsideal des Begriffs einwirft: »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. […] Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns der Begriff, wie es uns auch die Form gibt.« (KSA 3: 310). Wellmer selbst zitiert aus dem Nachlass Nietzsches folgende Passage: »Man soll die Nötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden (›eine Welt der identischen Fälle‹) nicht so verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu fixieren imstande wären, sondern als Nötigung, uns eine Welt zurecht zu machen, bei der unsere Existenz ermöglicht wird: – wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.« (Nietzsche zit.n. Wellmer 1985: 148) Josef Früchtls (1990) Studie Radikalität und Konsequenz in der Wahrheitstheorie. Nietzsche als Herausforderung für Adorno und Habermas arbeitet ausgehend von Nietzsche Aspekte von Adornos Wahrheitskritik heraus.
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»Der Widerspruch ist […] Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff. Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will. Sein Schein und seine Wahrheit verschränken sich. Jener läßt nicht dekretorisch sich beseitigen, etwa durch Beteuerung eines Ansichseienden außerhalb der Totalität der Denkbestimmungen. […] Dem Bewußtsein der Scheinhaftigkeit der begrifflichen Totalität ist nichts offen, als den Schein totaler Identität immanent zu durchbrechen: nach ihrem eigenen Maß. […] Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik mißt das Heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt, übersteigt es sich. Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.« (Ebd.: 17) Diese dichte Passage führt eine Reflexion über Identität und Widerspruch als Bedingungen der Möglichkeit des Wissens. Sie wirft einen Schatten auf das identifizierende Denken. Der Befund von der Scheinhaftigkeit des Denkens problematisiert die Begründung des Denkens in der ›puren Form‹. Der selbst gesetzte Formalismus überspringt seine eigene Gewordenheit. Wenn Denken identisch damit ist, zwei ungleiche Aspekte zu identifizieren, dann müssen Denken und Identifizieren, die nicht nur sprachlich eine Differenz markieren, selbst irgendwann einmal gleichgesetzt worden sein. Der Formalismus ignoriert die Tatsache, dass »ohne das Etwas […] formale Logik nicht gedacht werden« (ebd.: 139) könne und verdrängt damit, das Denken nicht nur Agens sondern auch Objekt seines eigenen Zugriffs ist. Im Ausgang der Kritik an der formalistischen Verdrängung erfolgt eine Wendung der Blickrichtung. Widerspruch – das ist für Adorno eine Art innerlogischer Akt der Distanzierung von der Identität. Über den immanenten Widerspruch eines sach- und geschichtsvergessenen Formalismus hilft nur das Denken selbst hinweg: »Indem Denken sich versenkt in das zunächst ihm gegenüberstehende, den Begriff, und seines immanent antinomischen Charakters gewahr wird, hängt es etwas nach, was jenseits des Widerspruchs wäre.« (Ebd.: 149) Es ist nicht die Setzung des Denkens durch sich selbst, sondern die Versenkung in die eigene Widersprüchlichkeit als Gegenstand der Auseinandersetzung, um auf dem Weg durch den begrifflichen Horizont von Identität und erzwungener Synthese hindurch eine Vorstellung des Begriffs zu gewinnen, der einem ganz anderen Gedanken Raum gibt; dem Gedanken nämlich, dass begriffliche Erkenntnis nicht bloß heißt, ein den Bedeutungsgehalt des Objekts hervorkehrendes begriffliches Urteil zu fällen. Darüber hinaus wird sichtbar gemacht, dass sich auch der Begriff als durchgreifendes Identifizierungsmedium der durschlagenden Kraft des ›Etwas‹ nur schwerlich entziehen kann: »[J]ede Bestimmung ist Identifikation. Aber eben sie nähert sich auch dem, was der Gegenstand selber ist als Nichtidentisches: indem sie es prägt, will sie von ihm sich prägen lassen. Insgeheim ist die Nichtidentität das Telos der Identifikation, das an ihr zu Rettende […]. Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, daß gerade sie mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt.« (Ebd.: 152)
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In der Konfrontation von Identitätszwang und Dialektik drückt sich die ganze Ambivalenz des Begriffs aus. Erkenntnis geht nicht ohne Identifikation, indes es darauf ankommt, was man darunter versteht. Adorno präzisiert, dass die Identifikationsform einer anderen Logik des Zugangs bedarf und führt zu diesem Zweck die Unterscheidung zwischen Identifikation als Subsumtion und Identifikation als begriffliche Bestimmung ein. Das subsumtive Vorgehen entstammt dem Identitätsdenken, das bestimmende Vorgehen geht auf die dialektische Erkenntnisweise zurück. Dialektische Erkenntnis – genauer gesagt die Dialektik, verstanden als Denken im Bewusstsein von Nichtidentität – steht für die Möglichkeit, das scheinbare Schicksal des Begriffs, Agens der Subsumtion zu sein, mithilfe des Begriffs selbst zu durchbrechen. Um – so die prägnante Formulierung – »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen« (ebd.: 25), hängt es davon ab, nicht in die gleiche formalistische Falle wie das Identitätsdenken zu tappen, das sich unter Absehung des »Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs« (ebd.: 139) selbst gesetzt und damit in den oben erläuterten Widerspruch geführt hat. Um der Antinomie des reinen Formalismus zu entgehen, darf Dialektik nicht unumwunden als etwas ganz anderes gegenüber des identifizierenden Denkens behauptet werden. Worum es hier geht, liegt außerhalb der Alternative von Dialektik oder Identität: »Dialektik bedeutet objektiv, den Identitätszwang durch die in ihm aufgespeicherte Energie zu brechen. Das hat partiell in Hegel gegen diesen sich durchgesetzt, der freilich das Unwahre des Identitätszwangs nicht zugestehen kann. Indem der Begriff sich als mit sich unidentisch und in sich bewegt erfährt, führt er, nicht länger bloß er selber, auf sein nach Hegelscher Terminologie Anderes, ohne es aufzusaugen. Er bestimmt sich durch das, was außer ihm ist, weil er dem Eigenen nach nicht in sich selbst sich erschöpft.« (Ebd.: 159) In dieser Passage sollen besonders zwei Aspekte hervorgehoben werden: Zum einen führt sie die Tatsache vor Augen, dass Adorno nicht vorhat, Dialektik wie ein Therapeutikum einzusetzen, mit dem der Begriff von seiner identitätsphilosophischen Krankheit des ›Identitätszwangs‹ geheilt werden soll. Stattdessen wird der Identitätszwang zum Material erklärt, daher auch die Rede von der ›objektiven Bedeutung‹ von Dialektik. Erst mit dessen Bearbeitung wird deutlich, dass die dialektische ›Brechung‹ des Identitätszwangs und die Freisetzung der Dialektik als jene im Identitätszwang ›aufgespeicherte Energie‹ auf das Engste ineinander verwoben sind. Zum anderen tritt hier eine Auffassung von begrifflicher Selbstkritik hervor, die sich als explizite Negation von Dialektik versteht. Sie bildet nicht nur so etwas wie den latenten Horizont, in dem sich die bisherigen Überlegungen mal stärker, mal zaghafter bewegten. Einige der Motive, die unmissverständlich zu diesem Prozess gehören, sind bereits angeklungen: ›Erkenntnis des Nichtidentischen‹, ›konsequentes Bewusstsein von Nichtidentität‹, ›Widerspruch als Nichtidentisches unter dem Aspekt der Identität‹. Sie sind auch das Resultat eines Akts der Distanzierung, dessen Einholung sich der Gedankengang nun widmen wird. Der Nachvollzug dieses Aktes geschieht insbesondere in Bezug auf Hegels identitätsphilosophische Figurierung der Vermittlung als Funktion der aufhebenden Synthese. Beruhend auf der Gewissheit, dass der Identifikation ein durch die Dialektik zu rettendes Moment anhaftet, geht die Aufgabe einher zu zeigen, warum es gerade die dia-
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lektische Erkenntnis sein soll, die dem Nichtidentischen bzw. der Wirklichkeit und der »ungeschmälerten Mannigfaltigkeit ihrer Gegenstände« (VND: 121) nachspüren kann. Das Versprechen, das sich an die Dialektik knüpft, ist die begriffliche Vermittlung und die Vorstellung, die damit verbunden ist: Begriffe, die sich durch die Erfahrung des Gegenstandes konstituieren; Begriffe, die das Verhältnis zwischen Erkenntnis und Phänomen regulieren, ohne die Spannung aufzuheben; Begriffe, die dem Nichtidentischen als solchem Rechnung tragen können. Aus diesem Versprechen speist sich der Versuch einer selbstkritischen Wendung der Dialektik hin zu einer negativen Dialektik. Der erste Schritt, um mit Hegel über Hegel hinauszugehen, wendet sich dem Programm der Phänomenologie des Geistes zu: »Die Dynamik der Phänomenologie des Geistes hebt erkenntnistheoretisch an, um dann freilich, wie es bereits die Einleitung skizziert, die Position einer isolierten oder, nach Hegelscher Sprache, abstrakten Erkenntnistheorie zu sprengen. Die Fülle des Gegenständlichen, die bei Hegel vom Gedanken gedeutet wird und ihrerseits ihn nährt, fällt demnach nicht sowohl seiner realistischen Sinnesart zu als seiner Weise von Anamnesis, der Versenkung des Geistes in sich selber, oder, in Hegels Worten, dem in sich Hineingehen, sich Zusammenziehen des Seins.« (DSH: 253) Adorno beschreibt Hegels Erkenntnistheorie hier anhand von zwei Bewegungen: die Erfahrung des Gegenständlichen und die Selbstversenkung des Geistes. Geleitet ist sie in der Deutung Adornos von dem Gedanken, dass Begriffe als bloße Reflexionskategorien statisch und abstrakt seien52 . Statt Formdeduktionen vorzunehmen oder gegenstandlose Analysen über die Formen des Denkens aufzustellen, bestehe »Hegels nachhaltige Kraft […] [darin], daß er der Philosophie Recht und Fähigkeit wiedergab, inhaltlich zu denken, nicht mit der Analyse leerer Formen und im emphatischen Sinn nichtiger Formen von Erkenntnis sich abspeisen zu lassen« (TGE: 228)53 . Die Erfahrung der Objektivität durch ihre Vermittlung bildet für Hegel den Schlüssel zur »Überwindung des Gegensatzes von subjektivem Bewusstsein und objektiver Gegenständlichkeit« (Schmied-Kowarzik 2014: 59). Vermittlung bezeichnet den entscheidenden Schritt des begreifenden Denkens, die eigene Unmittelbarkeit zu überwinden, um, »sich dem 52 53
So schreibt Hegel in der Wissenschaft der Logik: »Sie sind sich auf sich beziehende und damit der Bestimmtheit gegen Anderes zugleich entnommene Bestimmungen.« (W 6: 37) Die Hegelschen Reflexionsbestimmungen Identität, Unterschied, Widerspruch (W6: 35-80) sind nicht nur konstitutive Elemente formaler Logik, sondern Momente eines übergreifenden und lebendigen Zusammenhangs, des Begriffs, den sie vermöge der in ihnen selber liegenden lebendigen Bedeutung und durch die begriffliche Verschiedenheit und auch Widersprüchlichkeit hindurch erzeugen: »Endlich aber haben die Reflexionsbestimmungen zwar die Form, sich selbst gleich und daher unbezogen auf Anderes und ohne Entgegensetzung zu sein; aber wie sich aus ihrer näheren Betrachtung ergeben wird – oder wie unmittelbar an ihnen als der Identität, der Verschiedenheit, der Entgegensetzung erhellt –, sind sie bestimmte gegeneinander; sie sind also durch ihre Form der Reflexion, dem Übergehen und dem Widerspruche entnommen.« (Ebd.: 38). Und an anderer Stelle heißt es in Bezug auf die Vermittlung der Kategorien: »Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, diese Natur der betrachteten Reflexionsbestimmungen, dass ihre Wahrheit nur in ihrer Beziehung aufeinander besteht, dass jede in ihrem Begriffe selbst die andere enthält, einzusehen und festzuhalten; ohne diese Erkenntnis lässt sich eigentlich kein Schritt in der Philosophie tun.« (Ebd.: 73)
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Leben des Gegenstandes zu übergeben, […] und in deren Bewegung fortgehend, kommt es in sich selbst zurück« (W 3: 52). Dass Vertiefung in die Gegenstände und die »Reflexion im Anderssein in sich selbst« (ebd.: 23) zusammenfallen, hängt mit Hegels Auffassung der Dialektik als Vermittlung in sich selbst zusammen. Die vermeintliche Differenz zwischen Gegenstand und vertiefendem Begriff stellt bei Nahem besehen ein geistiges Selbstverhältnis dar. Dasjenige, in das sich das begreifende Denken vertieft, ist nichts anderes als das Resultat einer der Versenkung vorausgreifenden Selbstnegation, einer »Bewegung sich ein Anderes, d.h. Gegenstand seines Selbsts zu werden« (ebd.: 38). Zu sich selber kommen bildet dann bereits die Bewegung, »dieses Anderssein aufzuheben« (ebd.), oder: die Negation im begreifenden Denken zu negieren. So gesehen »gehört im begreifenden Denken das Negative dem Inhalte selbst an und ist sowohl als seine immanente Bewegung und Bestimmung wie als Ganzes derselben das Positive. Als Resultat aufgefaßt, ist es das aus dieser Bewegung herkommende, das bestimmte Negative und hiermit ebenso ein positiver Inhalt.« (Ebd.: 57). Wenn Hegel also von Dialektik spricht, mein er wesentlich Selbstvermittlung, ein »Übergreifen des Geistes über sich und sein Anderes, als Setzung (Negation) und Aufhebung (Negation der Negation) des Gegensatzes von sich und seinem Anderen« (Schmied-Kowarzik 2014: 60). Für Adorno verwickelt das Ziel, die Unmittelbarkeit in sich und durch sich überwinden zu wollen, die Dialektik in ein erkenntnistheoretisches Problem: Bei Hegel gibt es Dialektik, aber nur als Figur der Synthese54 . Sie übernimmt eine bestimmte intellektuelle Funktion, deren Zweck im Prinzip der Identität bereits vorbereitet ist: »Das Positive, das ihm zufolge aus der Negation resultieren soll, […] ist die Quintessenz des Identifizierens, das formale Prinzip auf seine reinste Form gebracht. Mit ihm gewinnt im Innersten der Dialektik das antidialektische Prinzip die Oberhand […]. Den dialektischen Widerspruch, Ausdruck des unauflöslich Nichtidentischen, wiederum durch Identität glätten[,] heißt so viel wie ignorieren, was er besagt, in reines Konsequenzdenken sich zurückbegeben. Daß die Negation der Negation die Positivität sei, kann nur verfechten, wer Positivität, als Allbegrifflichkeit, schon im Ausgang präsupponiert. […] Die Qualifikation der Wahrheit als negatives Verhalten des Wissens, welches das Objekt durchdringt – also den Schein seines unmittelbaren Soseins auslöscht –, klingt wie ein Programm negativer Dialektik als des ›mit dem Objekt übereinstimmenden‹ Wissens; die Etablierung des Wissens als Positivität jedoch schwört jenes Programm ab. Durch die Formel von der ›Gleichheit mit sich selbst‹, der reinen Identität, enthüllt sich das Wissen des Objekts als Gaukelei, weil das Wissen gar nicht mehr 54
An verschiedenen Stellen offenbart Adorno »eine tief eingewurzelte Aversion gegen den Begriff der Synthese« (VND: 16). Silvia Bovenschen (2000) zufolge könne gar die Negative Dialektik für sich gelesen werden als Explikation dessen, was einmal eine Idiosynkrasie gewesen sein mag und durch ihre Vermittlung den theoretischen Raum für die Philosophie des Nichtidentischen initiierend eröffnete. Bovenschen selbst lässt offen, ob es sich dabei um eine grundsätzliche Abneigung oder einen sekundären Effekt der theoretischen Absage gegen eine ›erpresste Versöhnung‹ handele (vgl. ebd.: 75f.). Da die Aversion nicht zu einer absoluten Ablehnung der Synthese, sondern im Denken zum Widerstand gegen deren Versuche, das Besondere in dem Ganzen verschwinden zu lassen, wird, legt m.E. nahe, diese als einen idiosynkratischen Impuls, als »Effekt einer Philosophie, deren Ausstrahlungen über die Kognition hinausgehend bis ins Blut, bis unter die Haut gedrungen sind« (ebd.: 76), zu betrachten.
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das des Objekts ist, sondern die Tautologie einer absolut gesetzten νοησις νοησεω.« (ND: 161ff.) In Adornos Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik im Zeichen von Identität und Positivität berühren sich seine Absichten, den Formalismus zu überwinden und den Identitätszwang zu durchbrechen mit dem Anliegen, jene Elemente in Hegel ausfindig zu machen, die ›wie ein Programm negativer Dialektik klingen‹. Die Veränderung negativer Dialektik gegenüber ihrer idealistischen Fassung ist die Rechtfertigung der Nichtidentität gegenüber Selbstgleichheit und Positivität. In dieser Hinsicht schließt Adorno implizit an die an anderer Stelle aufgeworfenen Motive des Widerspruchs und der Nichtidentität sowie der Erfahrung des Bewusstseins als Erfahrung der Objektivität an und verknüpft sie mit einer negativistischen Auffassung von Wissen. Adornos Idee eines ›negativen Verhalten des Wissens‹ ist ein neuer Blickwinkel der dialektischen Reflexion, der letztlich um das Thema des Nichtidentischen kreist. Die Entwicklung und Verarbeitung dieses Themas vollzieht sich anhand der Motive Widerspruch, Erfahrung und Konstellation. Der Versuch, die Koordinaten eines dialektischen Zugangs im Zeichen des Nichtidentischen zu bestimmen, führt Adorno zunächst zur Konkretisierung der Dialektik als Verfahren unter der Bedingung des Widerspruchs: »Tatsächlich ist Dialektik weder Methode allein noch ein Reales im naiven Verstande. Keine Methode, denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die der Gedanke surrogiert, ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstimmigen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlasst zur Dialektik. Kein schlicht Reales: denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache. Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. […] Ihre Bewegung tendiert nicht auf die Identität in der Differenz jeglichen Gegenstandes von seinem Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches. Ihre Logik ist eine des Zerfalls: der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der Begriffe […].« (Ebd.: 148) Die Bestimmung der Dialektik als Verfahren speist sich aus ihrer Ablehnung gegenüber der Betrachtung von Dialektik als Methode oder als Positivität. Der Akzent des dialektischen Verfahrens liegt auf der Betonung der Nichtidentität, die hier in der Figur des Widerspruchs beschrieben wird55 . Der Widerspruch als Statthalter der Nichtidentität 55
Das unterscheidet sie gleichermaßen von der idealistischen Dialektik, wie von dem Erkenntniszweck der Definition. Beiden gemeinsam ist es, die sachlichen Widersprüche durch logische und begriffliche Analyse kontrolliert auszuhebeln. Dahinter sieht Adorno das Ideal klarer Erkenntnisse, das Adorno insbesondere auf die Philosophie Descartes, welche auf Erkenntnis more geometrico zielt, zurückführt: »Vom Klarheitsideal wird, rationalistisch im historischen Sinn, der Erkenntnis etwas zugemutet, was a priori ihren Gegenstand zurechtstutzt, wie wenn er der statisch-mathematische sein müßte. Nur wofern vorausgesetzt ist, jener Gegenstand sei selbst so geartet, daß er vom Subjekt sich fixieren läßt wie geometrische Figuren, gilt die Norm der Klarheit schlechthin.« (DSH: 333) Adorno erfasst im Klarheitsideal die Reproduktion des Primats des methodisch handelnden Subjekts, welches die immanenten Widersprüche des Gegenstandes zugunsten der geordneten und widerspruchslosen Definitionen oder Gedankensysteme stillstellt und verstän-
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lässt sich hinsichtlich des Gedankens der ›unversöhnte Sache‹ und im Hinblick auf die ›Logik des Zerfalls‹ entfalten. Bei der Rede von der ›unversöhnten Sache‹ handelt es sich um die Nichtidentität der Sache mit sich selbst. Ihr mangelt es selbst an innerer Einheit. Dieser Mangel geht zurück auf ihre Geschichte bzw. die Tatsache, dass sie »nicht einfach so und nicht anders ist, sondern unter Bedingungen wurde [und] […] [d]ies Werden verschwindet und wohnt in der Sache, so wenig auf deren Begriff stillzustellen, wie von seinem Resultat abzuspalten und zu vergessen« (ebd.: 60). Das Fehlen dieser Einheit weist also zurück auf ihre Gewordenheit. Genauer gesagt ist sie Ausdruck der grundlegenden Vielschichtigkeit verschiedener und sich widerstrebender Bedingungen und Vermittlungen, durch die die Sache hervorgebracht wurde, sie zweite Natur wurde. Vor dem Hintergrund der in den Gegenständen geronnenen Widersprüche lässt sich nun auch besser verstehen, warum die Herstellung einer Identität zwischen Begriff und Sache ausgeschlossen erscheint: die Spannungen in der Sache und der Wille des Begriffs zur Identität koinzidieren nicht. Dieser Umstand forderte an anderer Stelle zur Durchbrechung des Identitätszwangs heraus und lässt Adorno hier noch einmal den Versuch einer veränderten Reflexion des dialektischen Begriffs unternehmen. Der erweiterte Blick, den die ›Logik des Zerfalls‹ ermöglicht, rührt von dem Impuls der dialektischen Erfahrung her. Der Impuls der dialektischen Erfahrung schließt an den vorhergehenden Aspekt der unversöhnten Sache an und fragt danach, warum Adorno sie als den Beweggrund der Dialektik betrachtet. In der Bestimmung der Dialektik als ›Reflexionskategorie kann die denkende Konfrontation von Begriff und Sache den Einsatzpunkt einer Antwort erkennen. Adorno folgt hier der Spur von Hegels Begriff der dialektischen Erfahrung, der es darum geht, »die Dinge nicht so zu sehen, wie sie allem Anschein nach sind, indem man sich von der unvertretbaren Betrachtung des Phänomen entlastet und nur das für wahr hält, was sich als ein Gegenstand der gesicherten Erkenntnis […] vergewissern lässt« (Wesche 2019: 380). Die innere Widersprüchlichkeit der Phänomene ist nichts, das sich dem Begriff unmittelbar, oder wie es bei Hegel heißt, durch »das reine Zusehen« (W 3: 77) erschließt. Im Gegenteil, ohne jene begriffliche Konfrontation hat es die Erfahrung mit nichts anderem zu tun als mit unmittelbaren Erscheinungen:
digungsorientiert zur Darstellung bringt. Unberührt davon, ob »die Erkenntnisse als solche, ihrer eigenen Beschaffenheit nach, den beiden Kriterien genügen, bleibt unausgemacht. Und zwar der Methode zu liebe« (ebd.: 332). Hogh (2019) weist darauf hin, dass die Kritik sich auf die »Verschiebung des Klarheitsbegriffs von einem Erkenntnis- zu einem Verständigungskriterium« (ebd.: 84) beziehe. Der Primat der Kommunikation führt nicht nur zu einer entscheidenden Veränderung des Erkenntniszweckes sondern auch zu einer solchen der Beziehung zur Sache. Die verständigungsorientierte Beziehung zur Sache zeichne sich dadurch aus, »so zu kommunizieren, dass sie klar und deutlich zu verstehen ist, ungeachtet dessen, ob die Sache sich einer solchen klaren und deutlichen Darstellung überhaupt erschließt« (ebd.). Indessen weist Adorno der Klarheit philosophisch keine zentrale Bedeutung zu: »Wohl darf man die Forderung von Klarheit nicht grob vernachlässigen, soll nicht Philosophie der Verwirrung verfallen und ihre eigene Möglichkeit zerstören. Was daran zu retten ist, wäre die Nötigung, daß der Ausdruck die ausgedrückte Sache genau trifft, auch wo diese ihrerseits der üblichen Ansicht eines klar anzugebenden widerstreitet.« (DSH: 334)
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»Die bereits bei Hegel kritisch tingierte Theorie der zweiten Natur ist einer negativen Dialektik unverloren. Sie nimmt die unvermittelte Unmittelbarkeit, die Formationen, welche die Gesellschaft und ihre Entwicklung dem Gedanken präsentiert, tel quel an, um durch Analysis ihre Vermittlungen freizulegen, nach dem Maß der immanenten Differenz der Phänomene.« (ND: 48) Der von Hegel kritisch ausbuchstabierte Begriff der zweiten Natur ist nun für Adorno Anlass und Ausgangspunkt negativer Dialektik. Erst durch die Zergliederung der Fassade zweiter Natur und das Hineingehen in die Sache erhält der Begriff die Möglichkeit, deren Bedingtheit und Gewordenheit zu analysieren. Die Negation der scheinhaften Unmittelbarkeit der Phänomene nennt Adorno bestimmte Negation. Oder wie Thilo Wesche es auf den Punkt bringt: »Der logische Ausdruck dieses Prozesses ist der Erfahrungsanspruch bestimmter Negation.« (Wesche 2019: 378; Herv. i.O.) Indes: die bestimmte Negation ist ein notwendiger aber noch kein hinreichender Schritt der negativ-dialektischen Erfahrung. Und so ist die Logik des Zerfalls noch in einer weiteren Hinsicht Impulsgeber für den »Übergang in ein anderes Genus des Denkens« (ET: 348). Die Gedankenbewegung der Auflösung bezieht sich nicht nur auf den Schein des Phänomens, sondern bestimmt auch die Art und Weise, wie sich der Begriff im Innern der Phänomene verhält. Die Bestimmung dieser Bewegung greift den Topos des ›negativen Verhaltens des Wissen‹ auf, um ihn dann wiederzufinden in den »Konstellationen von Elementen, die sie aufzulösen hat in ihre einzelnen Momente, aber zugleich doch wieder in ihrer Aufeinanderbezogenheit zu fassen« (ebd.: 349). Im Begriff der Konstellation wird das negative Moment der Dialektik in Form des Zerfalls, der Zergliederung, der Auflösung in seiner Bedingtheit zur Logik der Vermittlung sichtbar56 . Die Dialektik von Zerfall und Vermittlung wird zur erkenntnistheoretischen Nahtstelle zwischen der scheinhaften Unmittelbarkeit des Gegebenen und der Erkenntnisabsicht begrifflichen Denkens: »Das einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne Abstraktion als oberstes Prinzip, dadurch, daß nicht von den Begriffen im Stufengang zum allgemeineren Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten. Diese belichtet das Spezifische des Gegenstandes, das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last.« (ND: 164; Herv. rb) Mit der Idee der Konstellation schließt sich der Bogen von der Konzeption philosophischer Deutung als Herstellung geschichtlicher Figuren zur Ausarbeitung eines negativ-dialektischen Zugangs als Dechiffrierung von Widersprüchen und Vermittlungen. Konstellationen besitzen eine Erkenntnisfunktion, die darin besteht, das ›Spezifische des Gegenstandes‹ – d.h. das vielschichtige Vermittlungsverhältnis, das zu seiner Entstehung geführt hat – zu entschlüsseln: »Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt so viel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in 56
Mit Vermittlungen habe man es nach Adorno dann zu tun, wenn »man von zwei Momenten sagt, […] dass sie miteinander zusammenhängen, dass sie aber […] zugleich doch nicht miteinander identisch sind; dass sie also identisch sind, weil sie nicht ohne das andere gedacht werden können, dass sie aber nicht identisch sind, weil keines von beidem in dem anderen aufgeht, in dem anderen sich jeweils erschöpft.« (ET: 195)
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sich trägt.« (ebd.: 163) Oder zugespitzt formuliert: »Wahrheit ist werdende Konstellation.« (EF: 16) Dieses Wahrheitsverständnis verlangt nach einem Denken ohne Zwang. Mit dem Denken in Konstellationen generiert Adorno eine Logik der Reflexion, für die Wahrheitsfindung bedeutet, »zwischen verschiedenen Begriffen einen Sinnzusammenhang her[zu]stellen oder überhaupt den Sinn der einzelnen Begriffe nach[zu]fragen, [und diesen] […] Sinn der wohldefinierten Begriffe auf andere Begriffe führt, von denen er vorher abgegrenzt worden ist« (ET: 192). Die Einheit von Auflösung, Abgrenzung, Verknüpfung und Verflechtung in der Konstellation wird zum erkenntnistheoretischen Modell, an dem sich Adorno orientiert. Die hervorgebrachten Sinnzusammenhänge und gedanklichen Beziehungsgeflechte stehen unter dem Vorbehalt des Nichtidentischen. Konstellationen haben es zum Ziel, so nah wie möglich an den Kern der Sache, an dessen Wahrheit heranzukommen. In ihnen bzw. durch sie wird die Sichtbarmachung des in den Phänomenen verschwundenen Werdens vermittelt mit einer Logik der Annäherung. Damit verlagert Adorno das Wahrheitstelos in den Horizont fehlender Gewissheit darüber, ob es der erarbeiteten Konstellation gelungen ist, die Genese und den Bedeutungsgehalt des Erkenntnisobjekts tatsächlich ins Licht zu setzen. Im Hinblick auf die Wahrheitsfähigkeit der Konstellation fungiert die Logik der Annäherung als eine Art regulativer Idee, die zugleich in Wechselwirkung und in Opposition steht zur begrifflichen Form, die Konstellationen mitkonstituieren. Dadurch unterliegen Konstellationen auch dem Risiko, gerade durch die Konstruktionen begrifflicher Vermittlungsverhältnisse immer wieder zurückgeworfen zu werden auf »die sich einschleichenden Muster identifizierenden Denkens« (Eichel 1993: 24), die – anders als die Idee der Annäherung – »niemals wirklich zum Objekt« (Espiña 1998: 54) kommen können. Wie ambivalent der Status der Wahrheitsfähigkeit der Konstellation ist, wird dort besonders deutlich, wo Adorno von der »Unauflöslichkeit des Objekts« (ND: 163) spricht. Adorno erklärt das Objekt zur bestimmten Sache, aber erkennt zugleich, dass die Sache in ihrer Bestimmtheit nicht in gleichem Maß zu etwas wird, das sich – um in dem aufgeworfenen Bild zu bleiben: äquivalent zur Tablette im Wasser – in der Verobjektivierung auflöst. Der erkenntnistheoretische Zwiespalt zwischen der Sache und dem »Überschuß des Objekts« (PT II: 138) wird zum Auslöser für das, was Adorno als den begrifflichen Drang zur Einverleibung bezeichnet: »Durchweg verbindet es [das begriffliche Denken] den Appetit des Einverleibens mit Abneigung gegen das nicht Einzuverleibende, das gerade der Erkenntnis bedürfte. […] Was ist, ist mehr, als es ist. Dies Mehr wird [dem Objekt] nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte, ihm immanent. Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikation.« (ND: 163f.) Adorno deutet das Verhalten des Begriffs gegenüber der Sache sowie den Prozess ihrer Verobjektivierung unter Hinzuziehung der psychoanalytischen Konzepte der Introjektion und der Verdrängung57 . Unter dem Blickwinkel der Introjektion wird das begriffliche Denken ausgehend von der introjektiven Form der Objektbeziehung ausbuchstabiert als spezifische Weise der Verarbeitung der äußeren Wirklichkeit. Dieser Modus 57
Man könnte sagen, die Psychoanalyse fungiert hier »als eine Methode, [um] sich Rechenschaft über die Grenzen des Wissens« (Bock 2018: 72) abzulegen.
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der Verarbeitung entspricht einem Verinnerlichungsprozess, der libidinöse und aggressive Züge in sich vereint. In Adornos Interpretation steht der Impuls des Begriffs, die Sache in sich aufzunehmen und sich gleich zu machen, für die psychische Einverleibung eines äußeren Objekts. Zudem wird die Einverleibung assoziiert mit einer libidinösen Dimension, in Form des Appetits und einer aggressiven Dimension, in Gestalt der Abneigung gegen das Nichteinzuverleibende58 . Im zweiten Schritt wird eine strukturelle Analogie hergestellt zwischen der begrifflichen Verobjektivierung und Freuds Bestimmung des Verdrängten als dynamisches Unbewusstes (vgl. Gödde 2013). Nicht bloß geht es hierbei um die Abweisung der Sache durch den Begriff, sondern auch darum, dass die Sache durch den Akt der begrifflichen Vermittlung eine erzwungene Transformation und Verschiebung erfährt. Es fungiert nunmehr als das Nichtidentische in Form eines unbewussten Materials im Inneren des Begriffs. Ähnlich der Verdrängung in der Psychoanalyse deutet auch das Nichtidentische auf eine ›Wunde‹ hin (vgl. Früchtl 2019: 390). Nicht zufällig spricht Adorno von der Philosophie auch als »Anstrengung des Begriffes, die Wunde zu heilen, die der Begriff notwendig schlägt« (PT I: 55). Die Anstrengung des ›wunden-schlagenden‹ und ›wunden-heilenden‹ Begriffs zeichnet die Figur einer ambivalenten Denkform nach. Die Ambivalenz bewegt sich zwischen dem Anspruch, im Einzelnen allgemeine Zusammenhänge begrifflich zu erschließen und der Auffassung, »den individuellen Gegenstand für unendlich viel komplexer und heterogener zu halten als jeden seiner potentiellen Begriffe« (Honneth
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Einen anderen Zugang zur Erörterung des einverleibenden Begriffs verfolgt die geschichtsphilosophische These, dass die begriffliche Synthese, der intellektuelle Modus der Naturbeherrschung, seine »Urgeschichte im Vorgeistigen, dem animalischen Leben der Gattung« (ND: 33) besitze. Honneth (2006) sieht darin einen Hinweis darauf, dass »Adorno solche genealogischen Ausführungen als immanenten Bestandteil seines eigenen Verfahrens begreift; eine ›negative‹ Dialektik müßte dann im Unterschied zu ihrer positiven Alternative stets auch den Versuch unternehmen, die vorgeistigen, triebhaften oder praktischen Wurzeln aller geistigen Phänomene ans Licht zu bringen« (ebd.: 18). Adorno konstruiert die Vorgeschichte des Bewusstseins folgendermaßen »Raubtiere sind hungrig; der Sprung aufs Opfer ist schwierig, oft gefährlich. Damit das Tier ihn wagt, bedarf es wohl zusätzlicher Impulse. Diese fusionieren sich mit der Unlust des Hungers zur Wut aufs Opfer […]. Beim Fortschritt zur Humanität wird das rationalisiert durch Projektion. Das animal rationale, das Appetit auf seinen Gegner hat, muss, bereits glücklicher Besitzer eines Überichs, einen Grund finden. Je vollständiger was es tut, dem Gesetz der Selbsterhaltung folgt, desto weniger darf es deren Primat sich zugestehen […]. Dies anthropologische Schema hat sich sublimiert bis in die Erkenntnistheorie hinein. Im Idealismus […] waltet bewusstlos die Ideologie, das Nichtich, l’autri, schließlich alles an Natur Mahnende sei minderwertig, damit die Einheit des sich selbst erhaltenden Gedankens getrost es verschlingen darf. Das rechtfertigt ebenso dessen Prinzip, wie es die Begierde steigert. Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur eines jeglichen Idealismus; […].« (ND: 33f.) Die idealistische Einverleibung des anderen wird mit dem animalischen Verhalten nicht nur analogisiert, sondern unmittelbar in Verbindung gebracht. Der unmittelbare Drang zur Stillung des körperlichen Bedürfnisses des Hungers wiederholt sich im idealistischen Streben, sich das Andere einzuverleiben und zu seiner Sache zu machen. Der Grundzug des naturgeschichtlichen Arguments besteht darin, die idealistische Trennung zwischen triebhaft-somatischer Bewegung und vernunftbasierter Handlung gattungsgeschichtlich infrage zu stellen. Das Verhalten der Raubtiere wird hier nicht bloß als eine Metapher gebraucht, sondern als Gegenstand, um den Antrieb der idealistischen Praxis – den Zwang zur Gleichheit mit sich selbst – in seiner Naturverfallenheit zu verstehen.
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2006: 19). Das Ziel, der ›Fülle des Gegenständlichen‹ eine Form zu geben, lässt sich nur schwer trennen von der Praxis des Begriffs. Aufgefangen werden soll jener erkenntnistheoretische Zwiespalt durch eine dritte Option, die aus dem Bewusstsein heraus, auf das »Medium begrifflicher Reflexion« (ND: 25) nicht verzichten zu können, eine Position einnimmt, die sich gegenüber der Sache bestimmend, aber nicht kategorial zuschneidend oder subsumierend abschneidend verhält. Worum es also im Sinne einer dritten Option geht – und dies signalisiert bereits die Rede von der begrifflichen Wundheilung – ist der Versuch einer immanenten Korrektur des Begriffs. Die Immanenz des Korrekturversuchs ist die Konsequenz der begrifflichen Vermittlung des Gegenstandes, der auf diese Weise und unter dem Aspekt des Nichtidentischen zur Herausforderung im Inneren des Begriffs avanciert. Das charakteristische der Herausforderung durch das Nichtidentische kristallisiert sich in einer spezifischen Form heraus, die auch verstanden werden kann als Übersetzung der psychoanalytischen Bestimmung des Verdrängten in einen erkenntnistheoretischen Zustand. Diese stellt eine Verbindung her zwischen dem psychisch Verdrängten als unbewusster Wirkung im Bewusstsein und dem Nichtidentischen als eine der begrifflichen Vermittlung immanente, unbewusste Dynamik und Ausdruck »des gebrochenen Verhältnisses zu Wahrheit und Geltung (Thompson/Schäfer 2010: 155). Oder mit dem Bild der Einverleibung ausgedrückt: Der Begriff kann sich den Gegenstand einverleiben, er kann ihn aber nicht verdauen. Adornos Betrachtung bleibt hier jedoch nicht bei der objektiven Wirkung des Nichtidentischen stehen. Vielmehr lässt sich seine Idee des »Gedanken[s] in einem permanenten statu nascendi« (VND: 14) als Antwort auf die implizite Frage verstehen, wie sich die Unabschließbarkeit des Objekts auf die Form des begrifflichen Denkens selbst auswirkt.
1.4
Sprache, Komposition, Essay Dieser oder jener geglückte Vers darf uns nicht eingebildet machen, denn er ist eine Gabe Des Zufalls oder Des Geistes; nur die Mängel sind unser – José Luis Borges –
Die Idee eines unaufhörlich im Werden begriffenen Denkens beschreibt die Dynamik begrifflicher Erkenntnis als einen Prozess, der sich nicht zielgenau in nur eine Richtung vollzieht, sondern versucht, geleitet vom »Verzicht auf systematische Geschlossenheit« (Thompson 2017b: 120) und hingewendet auf »das Offene und Ungedeckte, so antisystematisch wie ihre Freiheit, Phänomene zu deuten, mit denen sie es unbewehrt aufnehmen kann« (ND: 31). Diese Form der Deutung, die ohne Hilfe der unmittelbaren Durchschlagskraft begrifflicher Identifizierung auskommen muss bzw. kann, zeichnet sich aus durch die Möglichkeit, sich dem eigenen Nichtwissen überantworten und sich einzulassen zu können auf ein blindes, assoziatives und mäanderndes Denken und auf das »Verfolgen von Spuren der Ähnlichkeit, der Parallelität [und] das Abtasten begrifflicher Resonanzräume« (Thompson 2017b: 119). Die hier aufgerufene Möglichkeit »des freien, des nicht gegängelten, des nicht reglementierten Gedankens« (PT II: 167) ist ei-
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2006: 19). Das Ziel, der ›Fülle des Gegenständlichen‹ eine Form zu geben, lässt sich nur schwer trennen von der Praxis des Begriffs. Aufgefangen werden soll jener erkenntnistheoretische Zwiespalt durch eine dritte Option, die aus dem Bewusstsein heraus, auf das »Medium begrifflicher Reflexion« (ND: 25) nicht verzichten zu können, eine Position einnimmt, die sich gegenüber der Sache bestimmend, aber nicht kategorial zuschneidend oder subsumierend abschneidend verhält. Worum es also im Sinne einer dritten Option geht – und dies signalisiert bereits die Rede von der begrifflichen Wundheilung – ist der Versuch einer immanenten Korrektur des Begriffs. Die Immanenz des Korrekturversuchs ist die Konsequenz der begrifflichen Vermittlung des Gegenstandes, der auf diese Weise und unter dem Aspekt des Nichtidentischen zur Herausforderung im Inneren des Begriffs avanciert. Das charakteristische der Herausforderung durch das Nichtidentische kristallisiert sich in einer spezifischen Form heraus, die auch verstanden werden kann als Übersetzung der psychoanalytischen Bestimmung des Verdrängten in einen erkenntnistheoretischen Zustand. Diese stellt eine Verbindung her zwischen dem psychisch Verdrängten als unbewusster Wirkung im Bewusstsein und dem Nichtidentischen als eine der begrifflichen Vermittlung immanente, unbewusste Dynamik und Ausdruck »des gebrochenen Verhältnisses zu Wahrheit und Geltung (Thompson/Schäfer 2010: 155). Oder mit dem Bild der Einverleibung ausgedrückt: Der Begriff kann sich den Gegenstand einverleiben, er kann ihn aber nicht verdauen. Adornos Betrachtung bleibt hier jedoch nicht bei der objektiven Wirkung des Nichtidentischen stehen. Vielmehr lässt sich seine Idee des »Gedanken[s] in einem permanenten statu nascendi« (VND: 14) als Antwort auf die implizite Frage verstehen, wie sich die Unabschließbarkeit des Objekts auf die Form des begrifflichen Denkens selbst auswirkt.
1.4
Sprache, Komposition, Essay Dieser oder jener geglückte Vers darf uns nicht eingebildet machen, denn er ist eine Gabe Des Zufalls oder Des Geistes; nur die Mängel sind unser – José Luis Borges –
Die Idee eines unaufhörlich im Werden begriffenen Denkens beschreibt die Dynamik begrifflicher Erkenntnis als einen Prozess, der sich nicht zielgenau in nur eine Richtung vollzieht, sondern versucht, geleitet vom »Verzicht auf systematische Geschlossenheit« (Thompson 2017b: 120) und hingewendet auf »das Offene und Ungedeckte, so antisystematisch wie ihre Freiheit, Phänomene zu deuten, mit denen sie es unbewehrt aufnehmen kann« (ND: 31). Diese Form der Deutung, die ohne Hilfe der unmittelbaren Durchschlagskraft begrifflicher Identifizierung auskommen muss bzw. kann, zeichnet sich aus durch die Möglichkeit, sich dem eigenen Nichtwissen überantworten und sich einzulassen zu können auf ein blindes, assoziatives und mäanderndes Denken und auf das »Verfolgen von Spuren der Ähnlichkeit, der Parallelität [und] das Abtasten begrifflicher Resonanzräume« (Thompson 2017b: 119). Die hier aufgerufene Möglichkeit »des freien, des nicht gegängelten, des nicht reglementierten Gedankens« (PT II: 167) ist ei-
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ne Variante des allgemeinen Versuchs, die Auffassung von Wissen als Beschreibung der ›Fassaden‹ zweiter Natur durch eine veränderte Auffassung begrifflichen Denkens zu unterwandern. Die Veränderung ist verbunden mit zwei Aspekten, und zwar mit dem bereits dargelegten Überschuss des Objekts sowie mit dem in verschiedenen Abschnitten zu entwickelnden Überschuss des Subjekts. Beide Aspekte sind unmittelbar verknüpft mit dem »Moment, das in der Sprache der Philosophie allgemein das Moment der Spekulation heißt« (ebd.). Adorno begründet die Notwendigkeit der Spekulation damit, dass »solange man sich einfach nach dem richtet, was der Fall ist, man immer bloß das an ihr erkennen wird, als was sie sich selber gibt; man wird es nicht vermögen, sie zu transzendieren, und wird, weil dieser Überschuss des Subjekt über das bloß Seiende fehlt, eben auch nicht dazu kommen, jenen Überschuss wahrzunehmen, welcher der Überschuss ist des Wesens, also des dahinterstehenden Gesetzes über die jeweilige Erscheinung, die dabei vorliegt.« (ET: 38) In der Verknüpfung von Spekulation und subjektivem Überschuss laufen verschiedene Fäden zusammen. Bereits entsponnen wurde der terminologische Knoten der Begriffe Annäherung, Versinken, Zergliedern, Zerfall. Hierbei ging es darum, einen Zugang zu erläutern, der den Identitätszwang abzuschütteln versucht und die geschichtlichen Bedingungen des Gegebenen und deren Vermittlungen analysiert. Aber in dieser Facette begrifflichen Denkens erschöpft sich der subjektive Anspruch des spekulativen Überschusses noch nicht. In der Rede von einer ›offenen und unbewehrten Deutung‹ und einem ›tastenden und assoziativen Denken‹ schimmerten bereits zwei Schichten hindurch, denen ein zentraler Stellenwert zukommt, wenn es darum geht, den Modus begrifflichen Denkens nicht nur immanent-kritisch zu verändern, sondern ihn in gewissem Sinn auch zu verfeinern: Sprache und Soma. Dem Begriff durch ein »Mehr an Subjekt« (ND: 50) in sprachlicher und somatischer Hinsicht eine Verfeinerung zukommen zu lassen, ist Ausdruck einer philosophischen Selbstkritik, die sich auch ästhetisch versteht. Ästhetische Selbstkritik bezeichnet hier das Ansinnen, eine Form von Erkenntnis zu entschlüsseln, die sprachlich vermittelt ist, Sprache aber nicht reduziert auf ihre pragmatische Funktion. Stattdessen weitet Adorno die Sprache des Begriffs auf die Ausdrucksformen des Körpers und den Sprachcharakter der Kunst hin aus, deren Vermittlungen sich beispielsweise figurieren in der Sprache als tastendes Organ und der musikalischen Sprache als »einsame Rede« (GS 12: 48). Diese Knotenpunkte scheinen in Opposition zu stehen zu der vorhergehenden Rede von Sprache und Körper als Schichten. Denn mit der Vorstellung von den Schichten ist unter anderem das Bild von zwei verschiedenen, aufeinander liegenden und darum voneinander abgegrenzten Sedimenten verbunden. Diese Assoziation ist in dem folgenden Abschnitt als Prämisse präsent, wenn die erste Schicht in Form der Frage nach der Bedeutung der Sprache für das begriffliche Denken abgetragen wird. Erst im zweiten Schritt werden die Verschlingungen zwischen begrifflicher Sprache und künstlerischer und körperlicher Sprachlichkeit zum Gegenstand der Analyse.
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1.4.1
Spekulativer Begriff und somatischer Ausdruck
Sprache hat für Philosophie konstitutive Bedeutung. Die Erschließung von Phänomenen, das Ausdrücken von Erfahrungen, Konstruktionen und Entäußerungen von Gedanken sowie die Tradierung von Wissen und Ideen sind ohne Sprache undenkbar. Zugleich wird Sprache selbst von der kritischen Wendung der Philosophie auf sich selbst berührt. Adorno vertritt die Ansicht, dass »das geschichtsphilosophische Schicksal der Sprache zugleich das geschichtsphilosophische Schicksal der Sache selbst ist, – auf Grund übrigens einer Ansicht, die dem deutschen Idealismus, insbesondere Wilhelm von Humboldt, gar nicht fremd gewesen ist: daß nämlich die Sprache ebenso das Denken konstituiert wie umgekehrt.« (M: 193) Die Dialektik von Sprache und Philosophie beleuchtet Adorno bereits in seiner unveröffentlichten Frühschrift Thesen über die Sprache der Philosophen. Im Rahmen einer erkenntniskritischen Sprachkritik gewinnen die Krise der Repräsentation und die Krise des Sinns eine sprachphilosophische Bedeutung: »[A]lle philosophische Kritik ist heute möglich als Sprachkritik. Diese Sprachkritik hat sich nicht bloß auf die ›Adäquation‹ der Worte an die Sachen zu erstrecken, sondern ebensowohl auf den Stand der Worte bei sich selber; es ist bei den Worten zu fragen, wie weit sie fähig sind, die ihnen zugemuteten Intentionen zu tragen, wieweit ihre Kraft geschichtlich erloschen ist, wie weit sie etwa konfigurativ bewahrt werden mag.« (GS 1: 369f.) Die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von Sprache, verschiedene Sachverhalte und Handlungen sprachlich adäquat wiederzugeben sowie die Frage nach dem Vermögen der Worte, Sinn zu erfassen und zu tradieren, wird zur Diskussion der Grenzen und Möglichkeiten philosophischer Sprache in sich selbst. Mit Blick auf Adornos Analysen zum »Geist der Sprache und ihrer Objektivität« (PT I: 25) treten insbesondere drei Stränge hervor: Sprachkritik als Gesellschaftskritik, Sprachkritik als Erkenntniskritik und die Suche nach sprachlichen Ausdruckspotentialen, die über semantischen Repräsentationalismus und Naturalismus, Signifikation und Kommunikation hinausgehen59 . Wenn von der Sprache als vermittelnder Dimension, als Objektivität die Rede ist, bezieht sich dies nicht nur auf ihre Funktion als kommunikatives Werkzeug, sondern auch auf die Gegenständlichkeit von Sprache selbst. Insofern ist Sprache zum einen
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Ziel des folgenden Abschnittes wird es jedoch nicht sein, die komplexen sprachtheoretischen Überlegungen Adornos zu rekonstruieren, sondern es soll, in kritischem Verhältnis zu einem technischen, auf Kommunikation und Zeichenregulierung basierenden Verständnis von Sprache, nach Artikulationsräumen in der philosophischen Sprache gesucht werden. Es liegt eine Vielzahl von Monographien und Aufsätzen vor, die sich in expliziter Weise mit Adornos Sprachtheorie und -philosophie auseinandersetzen. Davon sind sicher als einschlägig zu nennen: Schweppenhäuser (1986), Demmerling (1994), Bayerl (2002), Müller (2012), Hogh (2014, 2015).
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das Mittel, mit dem die begriffliche Reflexion Zugang in das Innere des Phänomens erhält und dessen immanente Vermittlungen entäußert; zum anderen ist sie selbst ein geschichtliches Phänomen und kann als dessen Produkt und Träger ausgeleuchtet werden60 . In den Thesen über die Sprache des Philosophen übersetzt Adorno die in der doppelten Bestimmung der Sprache zum Ausdruck kommende Dialektik von Sprache und Geschichte in die These, dass das sprachliche Verfahren des Philosophen nur als Konfiguration zu denken sei (vgl. GS 1: 369). Die »konfigurative Sprache«, erklärt Adorno, »bedeutet ein Drittes als dialektisch verschränkte und explikativ unauflösliche Einheit von Begriff und Sache.« (Ebd.: 368f.) Die Charakterisierung der Sprache als ein Drittes ist die Voraussetzung dafür, die Sprache des Begriffs anhand des Phänomens der Sprache zu erläutern. Ihre Erläuterung verfolgt das Ansinnen einer Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Sprache für den Begriff ausgehend von der Prämisse, dass Sprache nicht nur eine darstellende Funktion besitzt, sondern auch als Agens des Begriffs selbst fungiert61 . Der Versuch, einen Zugangs zu Adornos begrifflicher Erschließung des Begriffs der Sprache zu finden, führt zunächst zu Hegels Lehre vom spekulativen Satz62 . Ihr liegt die Einsicht zugrunde, dass der Entwicklungsprozess der Erkenntnisform immer zugleich auch eine Entwicklung der Sprachform darstellt. Die Einleitung der Phänomenologie des Geistes entfaltet diese Dialektik von Erkenntnisform und Sprachform als Bewegung des sich selbst begreifenden Begriffs. Die Bewegung zeichnet sich durch ein Ineinandergreifen von zwei Bewegungen aus: Das begreifende Denken bestimmt sich selbst, indem es sich nicht nur selbst begreift, sondern diese Bewegung des Selbstbegreifens zudem zur Darstellung bringt. Voraussetzung und Ziel dieser Gedankenbewegung ist die Spekulation, »der innere Erkenntnisakt des Anderen und die Vereinigung des eigenen Denkens mit diesem. Nur der sich darstellende Gedanke, in dem diese Vereinigung stattfindet, ist ein wahrer, und zwar so, daß die Vereinigung seine Wahrheit selber ist.« (Henrich/Fulda 1973:17f.; Herv. rb)63 Das Ineinandergreifen der spekulativen Vermittlung mit ihrer Darstellung wirft die Frage auf, wie die spekulative Erfahrung des Bewusstseins mittelbar wird. Hegel geht davon aus, dass die Weiterentwicklung des 60
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Hogh (2015) weist darauf hin, dass »die Formalisierung der Sprache zu einem Zeichensystem gerade ihren gesellschaftlichen Grund [verdeckt]. Die formalisierte und entsozialisierte Sprache erscheint in diesem Sinne selbst als Natur« (ebd.: 13). Die Autonomisierung der Sprache zu einem vorgeordneten und anwendbaren Zeichensystem manifestiere aus »Adornos Perspektive eine für sich selbst nicht durchsichtige sprachtheoretische Reflexion des gesellschaftlichen Lebens der Menschen im Kapitalismus« (ebd.). Dies unterscheide Adorno zufolge auch das philosophische von dem philologischen Interesse an den Begriffen (vgl. PT I: 50). Dieser Zusammenhang stellt einen der zentralen Gegenstände in Adornos Hegel-Studie Skoteinos oder: Wie zu lesen sei (1962/63) dar, die sich immanent-kritisch mit den sprachphilosophischen Überlegungen Hegels auseinandersetzt. »Spekulative Philosophie ist das Bewusstsein der Idee, so dass alles als Idee aufgefasst wird; die Idee aber ist das Wahre in Gedanken, nicht als bloße Anschauung und Vorstellung. Das Wahre in Gedanken ist näher dieses, dass es konkret sei, in sich entzweit gesetzt, und zwar so, dass die zwei Seiten des Entzweiten entgegengesetzt Denkbestimmungen sind, als deren Einheit die Idee gefasst werden muss.« (W 16: 30)
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Bewusstseins Hand in Hand geht mit einer Weiterentwicklung ihrer Darstellungsform, insbesondere die Sprache. Hegel zeichnet die Entwicklung des Bewusstseins vom vorstellenden Denken über die Verstandeserkenntnis hin zu einer Philosophie der Spekulation. Durch die immanente Kritik an der aus dialektischer Perspektive einseitigen Erkenntnisform von Rationalismus und Empirismus gelangt der Gedanke zur Spekulation64 . Der Verstand, Subjekt des begrifflichen Denkens, wird nicht nur beschrieben als von dem Inhalt abstrakt, sondern auch als feste und passive Instanz, auf die der Inhalt bezogen wird. Hiervon unterscheidet sich der Begriff des aktiven Subjekts, dessen Möglichkeit des Begreifens von der Versenkung in den Gegenstand abhängig ist65 . Die selbsttätige Wendung vom statischen zum dynamischen Begriff entspricht dem Übergang vom räsonierenden Denken zur spekulativen Philosophie. Der Übergang in eine andere Form der sprachlichen Auffassungs- und Ausdrucksweise, nämlich den spekulativen Satz, geht von der Kritik der begrifflichen Urteilsform aus. Das Subjekt wird mit einem Prädikat oder einem Akzidens zu einem Satz bzw. Urteil verknüpft, die jeweils die Identität von Subjekt und Prädikat anzeigen sollen. Prädikatsurteile haben den Anspruch, den Unterschied zwischen Begriff und Sache reflexiv aufzuheben. Mit Blick auf die Struktur könne Hegel jedoch keinen Unterschied zwischen konventionellen Sätzen und formalen Urteilen erkennen. Das stellt die Wahrheitsfähigkeit von Urteilen nicht grundsätzlich infrage, dennoch sei die »Form des Satzes oder bestimmter des Urteils ungeschickt, das Konkrete – und das Wahre ist konkret – und Spekulative auszudrücken, das Urteil ist durch seine Form einseitig und insofern falsch« (W 8: 18)66 . Die Kritik an der Urteilsform wird zur Frage nach der Möglichkeit von Sprache. Hegel zufolge stehen die Möglichkeiten des Denkens und die Möglichkeiten der Sprache in einem widersprüchlichen Verhältnis. Die Logik der sprachlichen Darstellung verdeckt den erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen räsonierendem und begreifendem Denken. Äußerlich besteht zunächst kein Unterschied zwischen Sätzen, die das Resultat von Applikations- oder von Spekulationsbeziehungen anzeigen. Erst
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Während Empirismus, also das materielle Denken, durch einen Überhang des Stoffes und einen Mangel an Reflexivität gekennzeichnet sei, bestehe das Problem des räsonierenden Denkens in der Vorrangstellung des Subjekts. Zwar habe mit letzterem, Hegel meint hier die kantische Auffassung des Begriffs, das begriffliche Denken eine Realität erlangt, dieses entspreche in dieser gegebenen Form aber noch nicht seiner wesentlichen Bestimmung (vgl. W 3: 56). »Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzien trägt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. In dieser Bewegung geht jenes ruhende Subjekt zugrunde; […] Das Subjekt, das seinen Inhalt erfüllt, hört auf, über diesen hinauszugehen, und kann nicht noch andere Prädikate oder Akzidenzien haben. […] Formell kann das Gesagt so ausgedrückt werden, dass die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnis enthält.« (W 3: 58ff.) Die Einseitigkeit des Urteils erwächst sowohl aus der Quantität seiner Gegenstände, die er erkennt als auch aus der Qualität der Erkenntnisbeziehung, die es hervorgebracht hat. Weder beschränkt sich Wahrheit auf die Verknüpfung bloß einer Gegenstandsbestimmung, die sie der Erfahrung entnimmt, noch liegt ihr die Vorstellung eines Subjekts als passiver Träger jener Prädikate zugrunde.
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die Frage nach den Voraussetzungen und dem Werden der Wahrheit bringt dies zutage. Während der Verstand dem Gegenstand im Begriff äußerlich bleibt, übersteigt der selbsttätige, in den Gegenstand sich versenkende Begriff, die bloße subjektive Reflexion. Dieser ist in der Lage, eine Vielzahl von Bestimmungen zu erkennen, zu vermitteln und in sich aufzuheben. Die Dynamik des theoretischen Vollzuges und die Konkretheit des Resultats sind denk- und erkennbar, jedoch in identischen Sätzen nicht darstellbar. Im spekulativen Satz realisieren sich die Abkehr von der Abstraktheit und Einfachheit des räsonierenden Denkens und die Hinwendung zur Einheit auch in der Sprache. Der spekulative Satz ist die sprachlich angemessene Form im Prozess der fortschreitenden Dialektik von Subjekt und Objekt67 : »Das Urteil ist eine identische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat; es wird dabei davon abstrahiert, dass das Subjekt noch mehrere Bestimmungen hat, als die des Prädikats, sowie davon, dass das Prädikat weiter ist als das Subjekt. Ist nun aber der Inhalt spekulativ, so ist auch das Nicht-Identische des Subjekts und Prädikats wesentliches Moment, aber dies ist im Urteile nicht ausgedrückt.« (W 5: 93) Der spekulative Satz überführt die Einfachheit des Urteils in die Vielheit und Widersprüchlichkeit der Dialektik. Der Begriff ist zugleich mit der Sprache vermittelt, weil er sich in dieser realisiert und durch diese zur Darstellung kommt sowie unmittelbar, weil er der Bewegung der Sprache hin zur Darstellung selbst als Möglichkeitsbedingung zugrunde liegt. Und weil er sie hervorbringt ist er auch mehr als bloße Sprache. Da der Begriff sich in der Sprache realisiert, zu sich selbst kommen soll, bringt er diese als seine notwendige Bedingung auch hervor. Erst in der vollständigen Realisierung aller Möglichkeiten des Begriffs wird offenbar, dass es der Begriff gewesen sein wird, der das spekulative Vermögen der Sprache verwirklicht, und diese erweist sich damit als notwendiger Teil einer Systemphilosophie des Begriffs68 . Die Thematisierung der sprachlichen Form dialektischer Spekulation bildet einen möglichen Schlüssel, um zu verstehen, wie bei Adorno zwei Dinge ineinandergreifen: das Festhalten an einem Denken in Begriffen und das Ansinnen einer begrifflichen Erkenntnis, die das Nichtidentische als solches zum Ausdruck bringen kann. Hierzu werden zwei Fäden – Adornos Bestimmung der Dialektik als »spekulative Kraft, das Un-
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Ihre Vermittlung ist dadurch bestimmt, dass sich die Wahrheit erst durch begriffliche Aufhebung einer Vielzahl von Denkbestimmungen über die Identität und die Differenz von Gegenständen erfassen lässt. Wahrheit aufgefasst als Geschichte ihrer Konkretion schließt also auch diejenigen Momente bzw. Prädikate ein, welche die Möglichkeiten des subjektiven Urteils sowohl quantitativ (Menge der Prädikate) als auch qualitativ (Grenzen des identischen Satzes) übersteigen und in sich verschieden sein können. In diesem Licht besehen, handelt es sich beim spekulativen Satz um »eine Struktur philosophischer Darstellung, die im Durchgang durch die Bewegung des Gegenstandes und die Entwicklung der Begriffsformen in der Lage ist, die analytische Differenzierung und lineare Sukzession, welche der sprachlichen Entfaltung unabdingbar ist, immanent zu überwinden und ein Ganzes zur Sprache zu bringen. Dabei interessiert nicht das Resultat des Prozesses, sondern dieser selbst: Die Wahrheit findet sich nicht in einem abschließenden, synthetisierenden Satz, sondern in der Einsicht in die Logik und Notwendigkeit der prozessualen Entfaltung, in der Reflexion des durchschrittenen Weges.« (Anghern 2019: 105)
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auflösliche aufzusprengen« (ND: 38) und als Ermöglichungsbedingung der Artikulation des Nichtidentischen – wieder aufgenommen und in der Beschreibung der Konstellation als Bedingung einer negativ-dialektischen Erkenntnis- und Darstellungsform neu miteinander verwoben. Es wurde bereits herausgearbeitet, dass Adorno Konstellationen als entscheidendes Element bei der Überwindung »begrifflicher Totalvermittlung« (Honneth 2006: 26) betrachtet. Hegels Bestimmung des spekulativen Satzes wird für Adorno zum Modell für eine begrifflich vermittelte Überschreitung des Begriffs: »Modell dafür ist auch das Verhalten der Sprache. […] Wo sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken. Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte. Der Hegelsche Gebrauch des Terminus konkret, demzufolge die Sache selbst ihr Zusammenhang, nicht ihre pure Selbstheit ist, registriert das, ohne doch, trotz aller Kritik an der diskursiven Logik, diese zu mißachten. Aber die Dialektik Hegels war eine ohne Sprache, während der einfachste Wortsinn von Dialektik Sprache postuliert.« (ND: 164f.) Hegels spekulativer Satz und Adornos Beschreibung der Konstellation, gehen von derselben Einsicht aus: einfache begriffliche Urteile sind nicht in der Lage, die Komplexität des Gegebenen zu konkretisieren, bzw. die immanenten Vermittlungsverhältnisse der Phänomene begreifbar zu machen. Sie ziehen jedoch aus dem erkenntnistheoretischen Unvermögen des begrifflichen Urteils grundsätzlich andere Schlüsse. Hegel entwickelt daraus die Idee der dialektischen Spekulation als Methode, die das »Fassen des Entgegengesetzen in seiner Einheit, oder des Positiven im Negativen« (W 6: 831) als ihren wesentlichen Zug bestimmt. Adorno variiert in der obenstehenden Passage seine Kritik an der positiven Negation. Der Drang des Begriffs zur »Allbegrifflichkeit« (ND: 162) brachte zwar den Übergang von der begrifflichen Urteilsform zur spekulativen Dialektik hervor, aber dabei handele es sich letztlich um einen Zugang ohne Sprache bzw. einen Zugang, der die Sprache noch in sich aufnimmt. Indem Adorno die Sprache als Folie zur Beschreibung der Konstellation heranzieht, steckt er die Elemente seiner Opposition zu Hegel in zwei Richtungen ab. Zum einen wird Notwendigkeit der begrifflichen Vermittlung, die sich in der spekulativen Potentialität der Konstellation verdichtet, nicht wie bei Hegel zugunsten der Einheit des Begriffs mit sich selbst aufgehoben. Zum anderen werden das spekulative Moment und die Konkretheit der Konstellation als sich manifestierendes »Bedürfnis, Nicht-Begriffliches begrifflich zu fassen« (Robinson 2009: 238) gelesen. Adornos Rede von der Sprache als Modell der Konstellation kann betrachtet werden als Übertragung der Funktion des spekulativen Satzes auf die Form der Konstellation. Dabei kommt es zu einer zentralen Verschiebung, insofern die Konstellation das Ganze der Vermittlung nicht von der Totalität des Begriffs her denkt, sondern – den Faden von
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Schrift und Lesbarmachung wiederaufnehmend – als Herausforderung von Darstellung und Entschlüsselung beschreibt: »Die Bestimmtheit von Philosophie als einer Konfiguration von Momenten ist qualitativ verschieden von der Eindeutigkeit eines jeglichen auch in der Konfiguration, weil die Konfiguration selber mehr und ein anderes ist als der Inbegriff der Momente. Konstellation ist nicht System. Nichts schlichtet sie, nicht geht alles auf in ihr, aber eines wirft Licht aufs andere, und die Figuren, welche die einzelnen Momente mitsammen bilden, sind bestimmtes Zeichen und lesbare Schrift.« (DSH: 342) Die Beschreibung von Konstellationen als lesbare Schrift stellt eine Analogie zwischen diesen und dem durch geistige Formung gewonnenen Zeichencharakter von Figuren her. In diesem Licht betrachtet, können Konstellationen charakterisiert werden als geistige, d.h. konstruierte Gebilde und »die Figuren ihres Durchgebildetseins sind ihre Schrift« (GS 16: 634)69 . Ihre Schriftlichkeit ist jedoch weder augenfällig noch unmittelbar zugänglich, sondern wird erst im »Akt des Lesens« (ebd.: 633) zur Aufgabe. Die deutende Lektüre zeichnet sich aus durch die »Neigung, die je zu behandelnden Sachen aufzuschließen durch den Rekurs darauf, wie sie wurden« (ND: 36). Der Aufschließungsprozess wiederum setzt die Versenkung in den Gegenstand voraus, insofern erst auf diese Weise »das Objekt [begänne] unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden« (ebd.: 38) und setzt sich fort in dem was Adorno als ›experimentierendes Lesen‹ bezeichnet (vgl. DSH: 372f.). Der Bezug auf die Schrift fängt die Sprachähnlichkeit der Konstellation in Bezug auf ihre Form ein. Um jedoch das Objekt zum Sprechen zu bringen reicht der Sprachcharakter, den die Konstellation in ihrer Schriftlichkeit besitzt, nicht aus. Vielmehr unterliegt sie dem, das mit Eichel als »Polyvalenz von Sprache« (Eichel 1993: 162) bezeichnet werden kann. Konstellationen sind auf höchst unterschiedliche Weise mit Sprache verbunden und Sprache ist in sich selbst wiederum vielgestaltig und vielfach vermittelt. Die Verbindung von Sprache und Konstellation soll hier hinsichtlich der Medialität der Konstellation, der Material der Lektüre, der erkenntniskritischen Funktion des Namens und der Expressivität von Sprache erläutert werden. Begriffliche Konstellationen sind sprachliche Gebilde, die philosophische Deutungen darstellen. Für Konstellationen als gestaltete Gebilde, die dem geschichtlich Seienden sprachliche Gestalt geben, ist Sprache weder bloße Durchgangsstation auf dem Weg zur Erkenntnis noch reine Abbildungsinstanz des Gegebenen. Was die philosophische Deutung zur begrifflichen Konstellation macht, ist ihre Medialität. Unter Medialität wird hier die innere Vermittlung von Sprache, Begriff und Sache verstanden, deren Verflechtung darauf zielt, »zu durchdringen, was als Objektivität hinter der Fassade sich versteckt« (EF: 10) und dies zur Darstellung zu bringen. Der Zugang, vermittels
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In ihrer figurativen Struktur sind Konstellationen dem Bild näher als dem Wort, man könnte gar die These in den Raum werfen, dass sich in der Konstellation das Streben der Erkenntnis zum Bild zeigt. Hinzukommt, dass der konstellative Zusammenhang als bestimmtes Zeichen nicht mit den lautlichen und graphischen Repräsentanten der kommunikativen Sprache zusammenfällt, sondern überhaupt nur »Zeichen wird […] vermöge eines Bruches zwischen ihm und allem Bezeichneten« (GS 16: 634).
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dessen Konstellationen jene besagte Objektivität zu durchdringen und zu erhellen versuchen, »wird gestiftet von den Texten, die sie kritisiert. […] Das rechtfertigt den Übergang von Philosophie an Deutung, die weder das Gedeutete noch das Symbol zum Absoluten erhöht […]. Durch die sei’s offenbare, sei’s latente Gebundenheit an Texte gesteht die Philosophie ein, was sie unterm Ideal der Methode vergebens ableugnet, ihr sprachliches Wesen.« (ND: 65) In der Ausweisung des Textes als notwendige Bedingung des Philosophierens wird die Kritik an der Sprachlosigkeit der Dialektik als Methode in ein ›materialistischeres‹ Licht gerückt. Konzediert wird die Abhängigkeit der begrifflichen Erkenntnis vom Text, der als Schlüssel zur Erkundung eines Problems fungiert. Obgleich oder gerade weil die Phänomene nicht im kommunikativen Sinn sprechen, bedarf es der Texte, damit der lesende »Blick, […] deutend am Phänomen mehr gewahrt, als es bloß ist« (ND: 38f.). Dieser Sprung ins Objektiv-Allgemeine wird also nicht nur in Sprache selbst, sondern durch Sprache bzw. durch die textuelle Materialität der Lektüre vollzogen. Der Durchstoß der Fassade geht Hand in Hand mit dem »Durchstoßen des diskursiven Zwangsverbandes« (Tiedemann 1984: 60) der Sprache: »Womit negative Dialektik ihre verhärteten Gegenstände durchdringt, ist die Möglichkeit um die ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus einem jeden blickt. Doch selbst bei äußerster Anstrengung, solche in den Sachen geronnene Geschichte sprachlich auszudrücken, bleiben die verwendeten Worte Begriffe. Ihre Präzision surrogiert die Selbstheit der Sache, ohne dass sie ganz gegenwärtig würde; ein Hohlraum klafft zwischen ihnen und dem, was sie beschwören. Daher der Bodensatz von Willkür und Relativität wie in der Wortwahl so in der Darstellung insgesamt. […] Der bestimmbare Fehler aller Begriffe nötigt, andere herbeizuzitieren; darin entspringen jene Konstellationen, an die allein von der Hoffnung des Namens etwas überging. Ihm nähert die Sprache der Philosophie sich durch seine Negation. Was sie an den Worten kritisiert, ihren Anspruch unmittelbarer Wahrheit, ist stets fast die Ideologie positiver, seiender Identität von Wort und Sache. Auch die Insistenz vorm einzelnen Wort und Begriff, dem ehernen Tor, das sich öffnen soll, ist einzig ein wenngleich unabdingbares Moment. Um erkannt zu werden, bedarf das Inwendige, dem Erkenntnis im Ausdruck sich anschmiegt, stets auch eines ihm Äußeren.« (ND: 62) Die Passage befasst sich mit der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit philosophischer Erkenntnis angesichts der »Unversöhntheit« (VND: 16) von Sache und Begriff sowie von Sache und Wort. Beschreibt man die Unversöhntheit als Kluft, avanciert die Konstellation zur Brücke. Konstellationen fungieren dann als Bedingungen der Möglichkeit zur Vermittlung überbrückbarere Differenzen. Das Bild von der Brücke trägt auch dem Umstand Rechnung, dass das Erkenntnisobjekt stets einen Transformationsprozess durchmacht, sobald es verbalisiert wird. Die Möglichkeiten zur Umformung durch Entschlüsselung und Beschreibung, die den ›Bodensatz von Willkür und Relativität‹ bereitet, hängt konstitutiv zusammen mit dem Verlust des Vertrauens in die Adäquatheit des Verhältnisses zwischen Wort und Sache. Das Denken kann sich nicht stützen auf die unmittelbare Kraft des Wortes. Adorno erteilt damit zwar dem Versuch, Wahrheit
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einen Grund in der Sprache zu geben, eine Absage, zugleich verbindet er aber die Wahrheitsfähigkeit von Konstellationen mit der ›Hoffnung des Namens‹. Die Bedeutung des Namens für die Herstellung von Konstellationen weist unter anderem zurück auf Benjamins sprachmetaphysische Überlegungen, die Adorno gebrochen übernimmt70 . Bei Benjamin ist der Name die metaphysische Identität von Sache, Idee und Sprache, die als prägende Kraft von Worten in die Erfahrungswelt eingegangen ist. Da Namen selbst nicht empirisch sind, können sie weder etwas meinen, noch etwas bedeuten oder kommunizieren. Aus diesem Grund können Namen nicht erkannt, allein als Namen benannt werden. Zunächst greift Adorno die Idee des Namens ästhetisch auf und verortet die Intentions- und Bedeutungslosigkeit der Sprache in der Sprache der Musik: »Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; […]. Musik zielt auf intentionslose Sprache.« (GS 16: 252) Musik ist ein Sich-Mitteilen und nicht ein Mitteilen von etwas. Gleichsam Namen sich nennen, weil sie Namen sind, spricht Musik dadurch, dass sie
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Kommunikationskritisch unterscheidet Benjamin zwischen der Sprache als Medium und der Sprache als Unmittelbarkeit. Die Unmittelbarkeit der Sprache gründet in ihrem geistigen Wesen bzw. der Immanenz der Idee in der Sprache. Jedoch ist in der Sprache die selbstständige Einheit des geistigen Wesens bzw. der Idee bereits durch das empirische Wort infrage gestellt, denn weder in den Phänomenen noch in den Begriffen ist die Idee unmittelbar gegeben. Dieses Paradox bearbeitet Benjamin in einer »Metaphysik der Sprache« (Bertram 2016: 59), die sich aus der Bestimmung der Unterscheidung von Name, Wort und Begriff speist. Ausgangspunkt ist das Wort, welches Benjamin zufolge nicht nur etwas begrifflich bezeichnet, sondern auch eine symbolische Bedeutung, einen Namen, haben kann. Dass die Idee als Namen die sprachliche Empirie prägen kann, geht zurück auf die ursprüngliche Handlung des »adamitischen Namengeben[s]« (Benjamin 1974 [1928]: 217). Zunächst sind Wort und Idee unterschiedslose und intentionslose Einheiten. Als solche können sie nicht gesprochen, aber vernommen werden: »Gegeben aber sind sie nicht sowohl in einer Ursprache, denn in einem Urvernehmen, in welchem die Worte ihren benennenden Adel unverloren an die erkennende Bedeutung besitzen« (ebd.: 216). Zum ersten Mal vernehmbar aber noch intentionslos sind die Ideen im »paradisieschen Stand« (ebd.: 217). Instanz des Vernehmens ist »Adam, der Vater der Menschen als Vater der Philosophie« (ebd.). Seine vernehmende Existenz ist die Spaltung der ursprünglichen Einheit von Wort und Idee. Im Paradies können also Worte vernommen werde, ohne bereits jene mitteilende Bedeutung zu besitzen, die sie später im Empirischen haben werden. Insofern Adam derjenige ist, der die Einheit vernimmt, ist er auch derjenige, der der Idee im Wort einen Namen gibt. Benjamin bezeichnet diesen Vorgang als »Vergöttlichung des Wortbegriffs, eine Vergöttlichung des Wortes« (ebd.: 216). Da, wo Worte nicht nur profan sind, sondern symbolischen Charakter besitzen, sind sie nicht nur Worte, sondern tragen die Geschichte der adamitischen Namensgebung von Ideen in sich. Im Namen ist die Bedeutungsgebung metaphysischer Ideen in der Sprache aufgehoben: »Das aller Phänomenalität entrückte Sein, dem allein diese Gewalt eignet, ist das des Namens.« (Ebd.: 216) Die Idee ist als Namen in symbolischer Gestalt dort in die Erfahrungswelt eingegangen, wo sie das Wesen des Wortes prägt, ohne selbst empirisch zu sein. Namen benennen also Ideen, die erinnert werden können. Eine Idee zu erkennen, bedeutet insofern immer ein durch die Bedeutung des gegebenen Wortes hindurchund »aufs Urvernehmen zurückgehendes Erinnern« (ebd.: 217). Benjamin bezieht sich im Modus der immanenten Kritik auf die platonische Idee der Anamnesis. Er übernimmt den Gedanken der Erinnerung als Akt der philosophischen Kontemplation und stellt ihn in Zusammenhang mit der Aufgabe der Ideendarstellung. Zur Auseinandersetzung zu dem Verhältnis von Namen, Begriff und Kommunikation im Horizont der kategorialen Spannung zwischen dem Vollzug des Sprechens und seiner beschreibenden Modellierung siehe: Müller (2012).
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ist – nicht dadurch, dass sie etwas vorträgt. Aufgrund ihrer Unverstelltheit braucht sie auch kein anderes, das ihr Sprechen ermöglicht oder auf das sie gerichtet ist. Die Sprache der Musik verläuft auf einer anderen Sinnkurve als die Sprache der Kommunikation und darum ist das, was Musik sagt, auch nicht unmittelbar mit den Mitteln des Begriffs und der diskursiven Sprache zu verstehen. Die Sprache der Musik, in der der Namen als Idee präsent ist, bildet die Kontrastfolie mit der Adorno zu dem Urteil kommt, meinende Sprache sei »der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen« (GS 16: 650). Die intentionslose Sprache der Musik fördert die »sprachliche Unzulänglichkeit« (DSH: 339) des Begriffs zutage, der nicht in der Lage ist, die Sache unmittelbar zu nennen. Bei der Desavouierung des Begriffs durch den Namen und die Sprache der Musik will Adorno aber nicht stehen bleiben. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass es Adornos Beschreibung der Sprachähnlichkeit der Musik selbst nicht gelingt, »Analogien zur kommunikativen Sprache zu vermeiden« (Eichel 1933: 125)71 . Umgekehrt ist es gerade der Bezug der Musik auf Kommunikation und Verständigung, aus der sich die Hoffnung des Begriffs auf Wahrheitsfähigkeit nährt. Mit der Bezugnahme begrifflicher Sprache auf die Sprache der Musik vollzieht Adorno, Eichel zufolge einen »Drahtseilakt« (ebd.), der sich in einer gleichzeitigen Annäherung und Distanzierung des Begriffs vom Ideal des Namens manifestiert72 . Dies geht darauf zurück, dass der Name in der Sprache des Begriffs ein zugleich Anwesendes und Abwesendes ist. Abwesend ist der Name, weil sein Ideal nicht mehr von diesem selbst verwirklicht wird, sondern im naturgeschichtlichen Sog von Säkularisierung und Entmythologisierung in den Aufgabenbereich von Begriff und Logik gefallen ist. Womit er aber nicht verschwunden ist, sondern im Begriff als Erinnerungsspur präsent bleibt. Seine Präsenz als Erinnerung besteht darin, zugleich anwesend wie abwesend zu sein. Um noch einmal zum Ausgangspunkt zurückzukommen, an dem der Faden des Namens aufgenommen wurde: Bedeutsam wird diese gleichzeitige Ungleichheit insbesondere dann, wenn es um Wahrheitsfragen, genauer gesagt um die Frage geht, wie Wahrheit hervorgebracht und dargestellt werden kann und, wenn sowohl der Weg der Negation der Negation sowie der reinen Mitteilung der Sache versperrt ist. Mit dem Ausloten der Grenzen der Wahrheit ist allerdings alles andere als eine Abkehr von der Wahrheitsfähigkeit des Denkens verbunden. Und so tritt bei Adorno an den Grenzen der Wahrheit die Vorstellung eines am dünnen Faden des Namens hängenden Begriffs hinzu. In gewissem Sinn nimmt der Name die Form einer regulativen Idee 71
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Denn auch wenn Musik das Urbild wahrer Sprache ist, bleibt sie als sich geschichtlich realisierende Form von dem Einfluss der intentionalen Sprache nicht unberührt. So stellt Adorno fest: »Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; […]. Musik zielt auf intentionslose Sprache. Aber sie scheidet sich nicht bündig von der meinenden wie ein Reich vom anderen. Es waltet eine Dialektik: allenthalben ist sie von Intentionen durchsetzt […]. Als absolutes Meinen dagegen hörte sie auf, Musik zu sein, und ginge falsch in Sprache über. Intentionen sind ihr wesentlich aber nur als intermittierende.« (GS 16: 252) Dies hängt nicht nur, aber auch damit zusammen, dass Musik zum Namen nur noch annäherungsweisen Zugang hat, weil sie selbst nur vermittelt, also durch die Einheit von Konstruktion und Material spricht.
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an, mit Thompson könnte man von einem »Quasi-Transzendentalen« (Thompson 2007) der Konstellation sprechen. An den »Grenzen unmöglicher Identifikation« (ebd.: 404) verbindet sich mit jener regulativen Idee die Aufforderung, dass »die Begriffe so getreu wie nur möglich dem anbildet, was sie in der Sprache sagen: virtuell als Namen« (DSH: 340). Es scheint fast so, als erfahre der Begriff durch seine innere Beziehung zum Namen – als Statthalter für die Sprache der Musik – eine Aufwertung. Paradoxerweise wird die vom Namen als Ausdruck der reinen Sprache herrührende Möglichkeit des Begriffs von Adorno zurückgeführt auf die Fähigkeit zur Anbildung. Dies ist insofern paradox, da der Gedankengang bis zu diesem Punkt auf die verborgene, an den göttlichen Namen erinnernde Musikalität des Begriffs abzielte, nun aber durch die ›reine‹ Sprache in der Figur des ›Anbildens‹, die Adorno zurückführt auf die archaische Ausdrucksform des mimetischen Impulses, materiell durchkreuzt wird. In Form von mimetischen Impulsen nimmt der Körper, der dadurch zur Ausdrucks- und Reflexionsinstanz wird, eine zentrale Vermittlungsposition im Verhältnis zwischen Begriff und Sache, zwischen Ausdruck und Signifikation ein (vgl. Früchtl 1986: 200f.). Die Verbindung des Ausdrucks mit dem mimetischen Impuls und seiner Körperlichkeit dürfte einen Hinweis darauf geben, dass der mimetische Impuls nicht gleichermaßen reiner Ausdruck ist, wie der Name in der Musik reiner Klang ist (vgl. GS 18: 154)73 . Dies zeigt sich sowohl darin, dass der mimetische Ausdruck einem immer bereits schon geformten Körper entspringt, als auch darin, dass der Träger des Ausdrucks, der Laut – anders als der Träger des Namens in der Musik, der Klang – nicht zu denken ist, ohne die physische Instanz, auf welche die Lautförmigkeit des Ausdrucks konstitutiv zurückgeführt werden kann. Da es sich bei Lauten um phonetische, nicht-diskursive Phänomene handelt, die durch sinnliche Artikulation hervorgebracht werden, erscheint es zunächst naheliegend, das leibliche Moment als Bedingung für den »Ausdrucksdrang des Subjekts« (ND: 29) auszumachen (vgl. Meyer-Drawe 1999/2000)74 . Dass es aus Adornos Perspektive zu kurz greifen würde, Ausdrucksdrang auf reine Physis und Ausdruck auf dessen stimmliche Qualität, den nachahmenden Laut oder die gestische Darstellung zu beschränken, erschließt sich aus dem Horizont zweiter Natur. Das gilt nicht gleichermaßen für folgende Aussage Adornos: »In solchem Widerstand [gegen die Macht des Bestehenden] überlebt das spekulative Moment: was sich sein Gesetz nicht vorschreiben läßt von den gegebene Tatsachen, 73
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Oder wie es in der Theorie der geistigen Erfahrung heißt: »Der spekulative Überschuss des Gedankens über das, was er einzuholen vermag, ist seine Freiheit. Sie gründet im Ausdrucksdrang des Subjekts […]. Das mag erklären helfen, dass der Philosophie ihre Darstellung nicht gleichgültig und äußerlich ist, sondern ihrer Idee immanent: ihr integrales Ausdrucksmoment, unbegrifflichmimetisch, vermag nur durch die Darstellung – die Sprache – sich zu äußern. Die Freiheit der Philosophie ist nichts anderes als das Vermögen, ihrer Unfreiheit zum Laut zu verhelfen.« (TGE: 235) »Mag immer die Stimme ähnlich eine Resultante aus Sprech- oder Singkonventionen und individuellen psychischen Impulsen sein wie die Schrift eine aus Schreibvorlage und Ausdrucksimpuls: die Stimm-Modelle sind kaum ebenso vergegenständlicht wie die Schreibvorlagen, die jede Generation in der Schule erlernt. Dadurch macht die Stimmphysiognomik an psycho-dynamischem Erkenntniswert wett, was sie durch die Flüchtigkeit des Lautes einbüßt. Insgesamt dürfte die Stimme, wie es der frühen romantischen Ausdruckstheorie nicht fremd war, ein Mittleres zwischen Schrift und Gestus bilden.« (GS 20.2: 510)
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transzendiert sie noch in der engsten Fühlung mit den Gegenständen und in der Absage an sakrosante Transzendenz. Worin der Gedanke hinaus ist über das, woran er widerstehend sich bindet, ist seine Freiheit. Sie folgt dem Ausdrucksdrang des Subjekts; […] was es [aber] als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.« (ND: 29; Herv. rb)75 Hinsichtlich der Deutung der objektiven Vermittlung von Ausdrucksdrang und Ausdruck kommt dem Zusammenhang von Soma, Sprache und der Frage nach ihrem spekulativen Moment eine besondere Bedeutung zu. Dabei wird der These nachgegangen, dass Adorno in dieser Konstellation den medialen und spekulativen Charakter, den Hegel, weil ihm »der Leib der Sprache für sündhaft gilt« (ebd.: 66), vollständig auf die Seite des begrifflichen Subjekts schlägt, somatisch und ästhetisch aufbricht76 . Adornos Idee des anbildenden und spekulativen Begriffs gewinnt in dem Moment Kontur, in dem der sprach- und körperfeindliche Impuls des auf Einheit mit sich selbst ausgerichteten Begriffs somatisch, oder mit Dankemeyer (2020) gesprochen, erotisch unterlaufen wird. Dann gilt: »Negation vermag in Lust umzuschlagen, nicht ins Positive« (ÄT: 67). In der Verknüpfung des Ausdrucks mit der Möglichkeit lustversprechender Negation eröffnet sich ein Korrektiv zur identifizierenden Umklammerung der Sache durch den Begriff. In dem Verhältnis von Sache und Begriff nimmt der lustbereitende Ausdruck die Position eines Dritten ein. Aufmerksamkeit ist dabei jedoch dem Umstand geboten, dass jene Lust vermittelt ist, d.h. dass der spontane, mimetische Impuls in eine Form, nämlich in die Form des Ausdrucks, gebracht werden muss77 . Und genau das 75
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Die Konstitution des Ausdrucks ist in mindestens dreifacher Weise objektiv vermittelt: Erstens, weil sie somatisch vermittelt ist, zweitens, weil sie in einer Objektivation terminiert, die drittens auf dem Ausdruck äußerliche Begriffe angewiesen ist. Die differente Medialität des subjektiven Ausdrucks lässt sich also weder auf einen einzelnen gemeinsamen Nenner bringen, noch stehen die Vermittlungen in einem abstrakten Verhältnis zueinander. Stattdessen – und das zeigt der Begriff der Vermittlung an – bedingen sie einander. In der Auseinandersetzung mit der Sprachkritik Adornos kommt Wellmer (1985) zu der Einsicht, dass es Adorno nicht nur darum gehe, den zurüstenden und identifizierenden Gebrauch der Sprache, sondern deren Form selbst zu problematisieren. Wellmer kommt hier auf Verfahren zu sprechen, die für Adornos »Rettung des Mimetischen« substantiell sind: »Der poetische, der literarische, der ›konfigurative‹ Gebrauch der Sprache bezeichnen produktive Erweiterungen des Sprachvermögens, durch welchen das Nicht-Sagbare sagbar, durch welchen das in der Stummheit der individuellen Erfahrung Verschlossene zugänglich und mitteilbar wird.« (Ebd.: 89f.). Eichel (1993) stellt bei Adorno eine »Metaästhetik« (ebd.: 133) der Sprachphilosophie fest, die versuche durch eine umfassende Musikalisierung die verdrängte Ausdrucksfähigkeit der Sprache wiederzugewinnen. Kommunikative Sprache werde zum Ausgangsmaterial, »mit dem ein eigener Sprachtypus geschaffen werden kann – durch die Konstruktion eines ästhetischen Zusammenhangs […]: Die Funktion der Sprache, die identifizierende Festlegung auf tradierte Bedeutungen, könne auf diese Weise sinnlich unterlaufen werden.« (Ebd.) Ich schließe an die Analyse Hoghs (2019) an, der die Objektivität des Ausdrucks deutet »als subjektive Wirkung dessen, was mit dem Subjekt in seiner Erfahrung und Auseinandersetzung mit der Welt geschieht; im Ausdruck zeigen sich die Spuren, die die objektive Welt im Subjekt hinterlassen hat, bevor das Subjekt diese Erfahrung in Worte und Begriffe zu fassen vermag. Ausdruck meint an dieser Stelle also die noch unartikulierten leiblichen Äußerungen des Subjekts, denn der leibliche Niederschlag der Erfahrungen des Subjekts, der nicht einfach im Subjekt verschwindet, bedarf einer Be- und Verarbeitung.« (ebd.: 87f.)
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
macht den lustvollen, den erotischen Charakter der Negation aus. In dem immanenten Gefüge des Ausdrucks kristallisiert sich eine Verbindung heraus, die einen Wandel des Blickwinkels auf den bloßen Negativismus von Adornos Dialektik impliziert: die Lust an der Form. Dass Adorno zum einen den Ausdruck mit dem Bestreben verbindet, geschichtlich hervorgebrachte Verhältnisse und Erfahrungen des Leidens auf den Begriff zu bringen und zum anderen betont, dass »die intelligible Sphäre […] auf[gehe] an der sinnlichen Erfüllung, nicht an Versagung« (NL: 377), macht deutlich, wie eng, wie unauflöslich und mitunter undurchsichtig in Erkenntnisprozessen der Wunsch nach körperlicher Lusterfüllung und der Wunsch zur Überwindung objektiver Leiderfahrungen ineinander verstrickt sind (vgl. Grüny 2019: 439). Die Lust an der Form ist die Verwirklichung eines Dreiklangs aus Körper, Phantasie und Sprache, der versucht der »Anstrengung [gerecht zu werden], zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu verhelfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert« (DSH: 336). Den Vorrang vor der somatischen Lusterfüllung hat das Nichtidentische, also Impulse, Körperempfindungen, Idiosynkrasien, Affekte. Sie bilden das Material, durch das das »Verlangen [nach Form], das Gewalttat […] in sich hat« (ND: 371), befriedigt werden kann. Jene Aufhebungslust stehe jedoch, ließe sich mit Dankemeyer festhalten, »nicht im Zeichen von Herrschaft und Körperverletzung, sondern von Erotik« (Dankemeyer 2020: 323). Die Formung ist mit Phantasie und Sprache im Bunde. Das macht sie zu jenem Prozess im Zeichen körperlicher Lusterfüllung, bei der sich das Finden von Wahrheit und Lust am Erfinden von Worten und Sprachbildern – getragen von dem Wunsch, dem Nichtidentischen so nahe wie möglich zu kommen und dem Wissen es mit Sprache nicht erreichen zu können – ineinander verstricken. Das ›Spiel‹ mit der Sprache ist um eine größtmögliche Distanz zur Sprache der Begriffe bemüht, wenngleich sie von der Sprache der zweiten Natur nicht gänzlich zu trennen ist. Das im Ausdruck spürbare Spannungsverhältnis zwischen sprachlicher Spiellust und diskursiver Sprache ist für Adorno möglich in Formulieren von Assoziationen: »Assoziation, Mehrdeutigkeit der Worte, Nachlassen der logischen Synthese.« (EF: 31) Das Verfahren der Assoziation konfrontiert die begriffliche Erkenntnis mit einer Tendenz, vielleicht auch nur einem Impuls, der Sprache zum Spiel. Im assoziativen Sprachspiel entstehen aus dem Horizont sprachlicher Bewegungsfreiheit und dem sprachlichen Durchbruch körperlicher Regungen Sprachbilder und Texte, »für welche die diskursive Logik keinen Raum hat« (ebd.). Jenseits der gewohnten Bahnen von Kommunikation und Mitteilung wird versucht, die sprachlichen Möglichkeiten, die nach dem Verlust semantischer Eindeutigkeiten und syntaktischer Ordnungen zur Verfügung stehen, auszuprobieren78 . Dabei entstehen sprachliche Verbindungen und Bilder, die von dem Bemühen zeugen, den Gegenstand nicht mit einer diskursiven Betonschicht zu bedecken79 . Adorno erkennt in dem zunächst sachfremden 78
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Zu einer der zentralen »Verweigerungen […] der grammatischen Normalität« (Hoffmann 1983: 28) zählt die syntaktische Stellung der Reflexivpronomen beispielweise in folgendem Satz: »Durch die Lossage des Denkens vom Ersten und Festen indessen verabsolutiert es nicht sich als freischwebend« (ND: 44). Auffallend ist hier nicht nur die ungewohnte Stellung des Reflexivpronomens, sondern auch das Wortbild vom sich lossagenden Denken. Dass dies auf Adornos Sprachform selbst zutrifft, erschließt Rainer Hoffmann (1983) in seiner Untersuchung Figuren des Scheins. Studien zum Sprachbild und Denkbild Theodor W. Adornos. In kleinteili-
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Das hinzutretende Dritte
und beliebig erscheinenden Gebrauch von Worten die »Muße des Kindlichen« (ebd.: 10) wieder, die ausgreift auf die begriffliche Erkenntnis. Beiden sind insofern »Glück und Spiel […] wesentlich« (EF: 10), als sich im naiven und spielerischen Gebrauch von Worten ein Prozess in Bewegung setzt, der sich an der Intention orientiert, die Sache so präzise wie möglich auszudrücken. In gewissem Sinn präformiert der assoziative Ausdruck den Weg der begrifflichen Sprache zum objektiven Wahrheitsgehalt der Sache. Assoziationen wagen sich behutsam vor, geben der Sache eine sprachliche Form. Die Worte sind sinnvoll gesetzt, aber die Sache – und das ist wohl die Differenz zur diskursiven Gestalt von Sprache – durch Worte nicht mit Sinnzwang überformt. Adorno stellt für den nichtinstrumentellen Zugang zur Sprache, welcher Mehrdeutigkeiten und Sprachspiele zulässt, fest, dass »überall, wo ein Wort Verschiedenes deckt, das Verschiedene nicht ganz verschieden sei, sondern daß die Einheit des Worts an eine wie sehr auch verborgene in der Sache mahnt« (ebd.: 21). Die sprachliche Erfahrung, dass Worte in verschiedenen Kontexten auftauchen und Verschiedenes bezeichnen können, ohne beliebig zu sein, hängt damit zusammen, dass Wort und Sache gemeinsam haben, immer auch etwas zu bedeuten. Im Begriff treffen die Bedeutung der Sache und die Bedeutung von Worten zusammen. Im Horizont des Begriffs wird die Assoziation, der spontane, sprachliche Ausdruck der besonderen Erfahrung, zum Träger von Bedeutung und sie übersteigt damit auch ihr Dasein als bloß besondere Bestimmung. Der phantasievolle sprachliche Ausdruck ist also nicht beliebig, sondern öffnet das begriffliche Denken für die allgemeinen Gehalte der Sache, die aber noch »bewußtlos in der Sprache genannt sind« (ebd.: 20). Adorno treibt die Betonung des expressiven Moments und die sprachliche Integration einer »ästhetischen Selbstständigkeit« (ebd.: 11) unter dem Aspekt der Assoziation bis zu dem Punkt voran, wo ästhetische Ausdrucksformen das »Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner traditionellen begrifflichen Gestalt erstarrt, konventionell und veraltet dünkt. Was nicht im üblichen Stil sich beweisen läßt und doch bezwingt, soll Spontaneität und Energie des Gedankens anspornen und, ohne buchstäblich genommen zu werden, durch eine Art von intellektuellem Kurzschluß Funken entzünden, die jäh das Vertraute umbeleuchten, wenn nicht gar in Brand stecken.« (NL: 681) Daher erscheinen das assoziativ gewonnene Sprachbild eher als Poesie, denn als Wissenschaftsprosa und die sprachlich dargestellten Gedanken als singuläre und kontingente Imaginationen. Um diesem Eindruck etwas entgegen zu setzen, wird das rein »unverbindliche Assoziationsspiel« (NL: 442; Herv. rb) als Ideologie der Dichtung heraus-
ger Bergungs- und Analysearbeit verknüpft er die Erstellung einer Physiognomik des Sprachbilds Adornos mit der Analyse seiner Philosophie und ist daher ein wichtiger Anstoß- und Gedankengeber für diese Arbeit. Das Spiel mit Sprache kann im Sprachbild vo Adornos eigenen Texten etwa dort beobachtet werden, wo Wortprägungen ihren festgeschriebenen lexikalen Raum überschreiten, wo syntagmatische Fügungen eine Wendung ins Ungewohnte erhalten oder wo Sätze sich nicht an die gewohnte syntaktische Architektur halten. Dies trifft beispielsweise auf folgende Ausdrücke und Wortverbindungen zu: Bedeutungen, die »verkapselt sind« (EF: 11), geistige Erfahrungen nicht »aufzudröseln« (ebd.: 21), das »sich Anbilden des Ichs ans Nicht-Ich« (APD: 601).
1 Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff
gestellt80 . Dass Problem der Dichtung besteht darin, dass sie trotz der Verdinglichung der Sprache an der bündigen Trennung zwischen der Sprache als diskursivem Mittel und der Sprache als reinem Ausdruck festhalten möchte. Ihre Notwendigkeit verbürgt die assoziationskonstitutive Aktivität des freien Subjekts, dem Assoziationen als Geschöpfe der reinen Phantasie entspringen81 . Das Problem der Regression ins Poetische umgeht der erkenntnistheoretisch in Anschlag gebrachte sprachliche Ausdruck im Allgemeinen und Assoziationen im Besonderen dadurch, dass sie eingebettet sind in einen objektiven, d.h. geschichtlichen und begrifflichen Zusammenhang. Die Abhängigkeit der assoziierenden Form von objektiven Bedingungen zeigt sich zunächst in ihrer Verwiesenheit auf das sprachliche Material. Es ist der Assoziation äußerlich, denn es entstammt »aus dem Vorrat des objektiven Geistes, den Beziehungen von Worten und ihren Assoziationsfeldern in verschiedenen Sprachen« (NL: 445). Assoziationen sind also immer Formungen vorangehender Formen, welche die Form bedingt: »Noch der stammelnde Laut, soweit er Wort ist und nicht Ton, behält seinen begrifflichen Umfang, und vollends der Zusammenhang sprachlicher Gebilde, durch den allein sie zu einem künstlerischen Einen sich organisieren, kann des begrifflichen Elements kaum entraten.« (NL: 435) Der Begriff enteignet den subjektiven Ausdruck seiner bloßen Subjektivität und macht ihn anschlussfähig an ein Allgemeines. Der begriffliche Subtext versperrt der Assoziation gleichermaßen den weiteren Weg philosophischer Sprache in Richtung Dichtung, wie er den sprachlichen Raum des Begriffs öffnet für die Möglichkeit, an die Sache heranzukommen. Tatsächlich beruht die Spontaneität subjektiver Phantasie eben nicht auf »privatistischem Eigensinn und subversiver Neuschöpfung« (Bovenschen 2000: 29), sondern auf der Rezeptivität des Gegenstandes. Statt von ihrem Resultat her gedacht zu werden, dem kreierten »Überschuß von Bedeutungen« (NL: 446), denkt Adorno die Freiheit der Sprache zum Objekt von ihrem Anfang her: Um der gewaltsamen Aneignung des Begriffs zu entgehen, weicht er aus auf die Sprache des Somatischen. Die unmittelbarste Form sprechender Körperlichkeit findet auf der Körperoberflache statt, »die flüchtigen Regungen […] beim Erröten oder der Gänsehaut« (GS 16: 636). Sie sagen etwas, deren Gehalt mit der diskursiven Sprache nicht zusammenfällt. Die Verwandlung von Erfahrung in Ausdruck vollzieht sich ohne rationale und sprachliche 80
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In dem Text Essay als Form beurteilt Adorno eine allzu große Nähe von Philosophie zur Poesie als problematisch: »Wo Philosophie durch Anleihe bei der Dichtung das vergegenständlichende Denken und seine Geschichte, nach gewohnter Terminologie due Antithese von Subjekt und Objekt, meint abschaffen zu können und gar hofft, es spreche in einer […] Poesie, […] nähert sie eben damit sich dem ausgelaugten Kulturgeschwätz« (EF: 13). Auch wenn subjektive Spontaneität die Analogie zur Dichtung nahelegt, laufen sie auf unterschiedliche sprachliche Darstellungsweisen zu. Indes Adorno zwar implizit davor warnt, in der Philosophie die Grenze ins Poetische zu überschreiten, ist es, Hoffmann (1983) zufolge, jenen »poetisierenden […] Einflüssen […] zuzuschreiben, wenn eine – dichterischer Freiheit gewährte – Möglichkeit des Ausformens ungebundener Rede als Mittel der Gestaltung wissenschaftlicher, philosophischer Prosa wahrgenommen wird« (ebd.: 28). Nicht übergangen, aber an dieser Stelle auch nicht weiter erläutert werden kann der Hinweis auf den kategorialen Unterschied zwischen einem philosophisch-ästhetischen und einem psychoanalytischen Assoziationsbegriff. Dem philosophisch-ästhetischem Assoziationsverständnis geht es nicht um Assoziationen als Türöffner zum individuellen Unbewusstsein, sondern um Assoziationen als sprachliche Ausformung der Beziehung zu einer Sache.
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Vermittlung82 . Für Adorno gilt es die erkenntnistheoretische Relevanz solcher unmittelbarer sensorischer Körperreaktionen wahrzunehmen, sie aber auch nicht zu überbewerten. Für diese Einschätzung spricht seine Skepsis gegenüber einem falsch verstandenen Subjektivismus: »Aber wie kaum sich ausmachen läßt, was einer sich da und dort gedacht, was er gefühlt hat, so wäre durch derlei Einsichten nichts Wesentliches zu gewinnen. Die Regungen der Autoren erlöschen in dem objektiven Gehalt, den sie ergreifen.« (EF: 11) Gleichwohl sind die Regungen wahr und ernst zu nehmen, denn sie sind vor ihrem Verlöschen da. Sie sind die Verbindungen mit den vielzitierten Blitzen und Funken, die der Begriff nicht zu deuten weiß, die aber erfahren werden. Darum ist der sensorisch-sinnliche Ausdruck unter der Bedingung der zweiten Natur weit davon entfernt unmittelbar zu sein. Kritisch gegenüber »der Unterstellung eines Vermittelten als unmittelbar« (ebd.: 17) kann Adorno auch dahingehend verstanden werden, die Körperzeichen nicht nur als bloße Körperzeichen, sondern Zeichen von Erfahrungen zu betrachten, die im Medium der nicht-diskursiven und nicht-begrifflichen Sprache in noch nichtbegriffener Weise in Erscheinung treten. Wenn Adorno davon spricht, die Assoziation habe »mit dem begrifflichen Moment sich abzufinden, nicht aber sich ihm zu überantworten« (ebd.), drückt sich darin Widerwillen und Widerstand gegen die Zumutungen und Ansprüche des Begriffs aus. Der Sprachkörper verweigert den unmittelbaren und alleinigen Zugriff des Bewusstseins auf den sprachlichen Ausdruck und setzt dennoch die Vermittlung in Bewegung. Eine konstitutive Rolle für die assoziative Sprachform spielen die von Adorno so bezeichneten »ästhetisch avancierten Nerven« (MM: 165). Mit ihnen erhebt Adorno die sensorischen Leistungen zu einem entscheidenden Element innerhalb des Erkenntnisvorgangs (vgl. Grüny 2012). Dass es sich dabei um eine ästhetisch gebildete Sensibilität handelt, ist insofern bedeutsam, als Adorno die Wahrnehmung und das Fühlen nicht einfach als physiologische Tatsache beschreibt, sondern in gewissem Sinn als kultiviert oder zumindest als geschichtlich hervorgebracht denkt. Eine Erscheinungsweise der ästhetischen Sensorik stellt die Empfindung des »textkörperlichen Immunsystems« (Bovenschen 2000: 27) dar. Assoziation bzw. das assoziative Verfahren ist die zur Sprachpraxis gewordene Immunantwort auf die sich aufdrängende diskursive Sprache des Begriffs: »Der aversive Impuls in Form der Sprachidiosynkrasie ist Selbstentzündung, aber zugleich auch das Movens der verschärften Kritik. In dieses sprachkritische Geschehen ist der Körper autoaggressiv eingebunden. Körper und Stil stehe in einem Prozeß der wechselseitigen Ansteckung. Das ist ein produktiver, keinesfalls gesunder Vorgang.« (Ebd.: 28) Sprachidiosynkrasie richtet sich gleichermaßen gegen die Zumutung begrifflicher Eindeutigkeit wie gegen die Zumutung einer bloßen Mehrdeutigkeit der Worte. Dieser Ge-
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Auch wenn es, wie Grüny (2019) feststellt, bei Adorno »keine Auseinandersetzung mit Philosophien des Körpers etwa im Umkreis der Phänomenologie« (ebd.: 437) gebe, deutet sich hier dennoch eine jener leibphilosophischen Spuren an, von denen Meyer-Drawe (1989) feststellt, dass sich Adorno darum bemüht habe, sie »wenn nicht gar zu verwischen, so doch in ihrer Bedeutung herunterzuspielen« (ebd.: 300).
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danke lässt sich plausibilisieren vor dem Hintergrund von Sylvia Bovenschens (2000) Interpretation des Idiosynkrasiebegriffs bei Adorno. Sie schreibt, dass »die Idiosynkrasie immer in der Ambivalenz steht, sich dem gegenüber, worauf es reagiert, entweder ganz zu verhärten oder aber sich ihm zu überantworten, das heißt, der idiosynkratisch Reagierende ist von dem auslösenden Reiz zugleich affiziert« (ebd.: 90). Es ist die Reaktion eines Sprachkörpers, der uneindeutig zwischen Abhärtung gegenüber dem Begriff und begrifflicher Affizierung oszilliert. Darin aufgehoben ist auch die produktive Wendung hin zur Assoziation als idiosynkratischer Erfahrung, in der es zu einer » gleichzeitige[n] Mobilisierung körperlicher, geistiger und affektiver Reaktionsformen« (ebd.: 28; Herv. rb) kommt. Die gleichzeitige Ungleichheit der Regungsweisen geben zu erkennen, dass es sich bei diesen nicht um rein individuelle, sondern um Regungen eines »geschichtlich produzierten« (EF: 18) Körpers handelt, der die »körperlich fühlbaren Zumutungen des Sprachlichen« (Bovenschen 2000: 28) und des Geschichtlichen nach Außen kehrt. Die Frage, wann körperliche Bewegungen der Entäußerung philosophisch relevant werden, lässt sich nicht jenseits von Sprache und dem geschichtlichen Gehalt der Sache denken, auf deren Erfahrung der sprechende Körper reagiert. Als Reagierender ist er »der treuste Seismograph historischer Erfahrung« (ÄT: 60), der die ungewöhnlichen Bewegungen in der »objektiven Fülle von Bedeutungen« (EF: 11) erspürt und aufzeichnet. Der Vorzug des Sprachkörpers, welcher der Sache nachspürt und »sagt, was ihm daran aufgeht« (ebd.: 10), untermauert sowohl den Vorrang des Objekts als auch Adornos sprachphilosophische Intention, »dass es beim Philosophieren primär auf die Sprache als Ausdrucksmittel und nur sekundär als Darstellungsmittel ankommt. Die philosophische Sprache, die im extremen Maße avanciert sein muss, ist Seismograph der geschichtlichen Wahrheit; sie verhilft dem zum Ausdruck, was an der Zeit ist.« (MüllerDoohm 2006: 43) Dabei entfaltet sich eine »[i]diosynkratische Genauigkeit in der Wahl der Worte« (ND: 61; Herv. rb)83 . Die Ähnlichkeit der Worte mit der Sache, die sich im Ausdruck einstellt, ist damit Manifestation der »Anstrengung des sprachlichen Sensoriums zur Prägnanz« (ebd.) und zugleich Dokument einer doppelten Entfremdung. Als »Gebilde der Phantasie« (EF: 17; Herv. rb) sind sie Produkte somatischer Entrückungen, als Gebilde der Sprache manifestieren sie sich als Rudimente eines beschädigten Lebens des Begriffs: »Dessen Rudimente aber sind die in begrifflichen Bedeutungen nicht aufgehenden, gleichwohl mit zarter Notwendigkeit an die Worte sich anschließenden Assoziationen. 83
Zum Terminus der idiosynkratischen Genauigkeit schreibt Hoffmann (1983), sie sei ein produktiver Widerspruch in sich. Während Idiosynkrasie »psychisch und physisch gesehen – Formen von Überempfindlichkeit gegen bestimmte Stoffe und Reize, Allergie, starke Abneigung gegenüber gewissen Personen, Gegenständen, Verhaltensweisen, Anschauungen« (ebd.: 33) bezeichne, verweise der Begriff der Genauigkeit auf Sachgerechtigkeit und Objektivität. Die Wortkombination drücke die Idee, dass »Genauigkeit oder ein Suchen nach ihr, empfindlich, peinlich genau, allergisch auf unzulässige, unverträgliche Ungenauigkeiten reagiert. Adorno verbindet beide Momente zu einem für sein Denken typischen, es charakterisierenden Ausdruck, der in seiner paradox konstellativen Fügung übersetzt werden könnte als: objektiv-subjektive oder subjektiv-objektive Genauigkeit, die subjektiven Ausdruck und die an der Sache orientierte Anstrengung des Begriffs in sich zu vereinen sucht.« (ebd.: 33)
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Gelingt es der [Philosophie], in ihren Begriffen die Assoziationen zu erwecken und mit ihnen das signifikative Moment zu korrigieren, so beginnen die Begriffe, jener Konzeption zufolge sich zu Bewegung.« (NL: 437) Assoziationen sind nicht nur Ausdruck begrifflicher Verweigerung, sondern auch Zeichen der Berührbarkeit durch das sprachliche Material. Adorno scheint die Zärtlichkeit der Assoziation im Umgang mit dem Material der äußerlichen Sprache des Begriffs vorzuziehen: »Den Assoziationen ist mit so feinen Ohren nachzugehen, daß sie den Worten selbst sich anschmiegen und nicht bloß den zufälligen Individuum, das sie hantiert. Der subkutane Zusammenhang, der aus ihnen sich bildet, hat den Vorrang vor der Oberfläche des diskursiven Inhalts.« (NL: 437; Herv. rb.) Das, was körpersprachlich geschieht, scheint bedeutungsschwerer zu wiegen als das, was sich diskursiv darstellen lässt. Dennoch reicht das sinnliche Zeichen der Erfahrung auf der Haut nicht an die darunter liegende objektive Bedeutung heran, die sprachlich ist und deren Enthüllung sich begrifflich vollzieht. Adorno führt diese Möglichkeit auf die doppelte Verfasstheit der Sprache zurück, die »durch ihre Konfigurationen den subjektiven Regungen gänzlich sich ein[bildet]; ja wenig fehlt, und man könnte denken, sie zeitigte sie überhaupt erst. Aber sie bleibt doch wiederum das Medium der Begriffe, das, was die unabdingbare Beziehung auf Allgemeines und die Gesellschaft herstellt.« (ebd.: 56) Im Begriff treten die »Auslegung des Ausdrucks in der Darstellung« (EF: 11) und die Erschließung der objektiven Erfahrung im Modus der »sprachlichen Durchformung« (PT I: 63) spannungsvoll zusammen. Adorno beschreibt hier eine innere Vermittlung von Ausdruck und Objektivierung im Medium des Begriffs: »Das mag erklären helfen, warum der Philosophie ihre Darstellung nicht gleichgültig und äußerlich ist, sondern ihrer Idee immanent. Ihr integrales Ausdrucksmoment, unbegrifflich-mimetisch, wird nur durch Darstellung – die Sprache – objektiviert. […] [W]o [Philosophie] des Ausdrucksmoment und der Pflicht zur Darstellung sich begibt, wird sie der Wissenschaft angeglichen. Ausdruck und Stringenz sind ihr keine dichotomischen Möglichkeiten. Sie bedürfen einander, keines ist ohne das andere. Der Ausdruck wird durchs Denken, an dem er sich abmüht wie das Denken an ihm, seiner Zufälligkeit enthoben. Denken wird erst als Ausgedrücktes, durch sprachliche Darstellung, bündig; das lax Gesagte ist schlecht gedacht. Durch Ausdruck wird Stringenz dem Ausgedrückten abgezwungen. Er ist kein Selbstzweck auf dessen Kosten, sondern entführt es aus dem dinghaften Unwesen, seinerseits einem Gegenstand der philosophischen Kritik. Spekulative Philosophie ohne idealistische Substruktion erheischt Treue zur Stringenz, um deren autoritären Machtanspruch zu brechen.« (ND: 29)84 84
Carlo Petazzi (1977) zufolge gehe dieses Spannungsmoment in besonderem Maße auf Adornos frühe philosophische Erfahrung und Auseinandersetzung mit Kracauer zurück. Adorno bekundet dies selbst in dem Kracauer gewidmeten Essay Der wunderliche Realist: »Ohne dass ich davon hätte volle Rechenschaft ablegen können, gewahrte ich durch Kracauer erstmals das Ausdrucksmoment der Philosophie: ›sagen was einem aufgeht‹. Das diesem Moment konträre der Stringenz des objektiven Zwangs im Gedanken, trat dahinter zurück. Wie ich erst im philosophischen Betrieb der Uni darauf stieß, so dünkte es mir lange genug akademisch, bis ich herausfand, dass unter den Spannungen, an denen Philosophie ihr Leben hat, die zwischen Ausdruck und Verbindlichkeit viel-
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Mit der Bewertung der Sprache als Bedingung des Ausdrucks und des Ausdrucks als Bedingung des spekulativen Moments im begrifflichen Denken wird transparent, wie sich Adorno das Verhältnis von Erkenntnis und Darstellung denkt. Das Ausdrucksmoment sei in begriffliche Objektivität zu übersetzen, ohne dabei jedoch deren spezifischen Zug ins Somatische aufzuheben85 . Und genau das macht den Ausdruck zu jenem Dritten zwischen Sache und Begriff.
1.4.2
Komposition und Essay als Form86
Sprachliche Durchformung bezeichnet den Prozess, der den Ausdruck in die Bedeutungssubstanz des Begriffs überführt. Der Beleuchtung dieses Prozesses geht die Erinnerung an die Fäden, die aus Naturgeschichte und Deutung gesponnen sind und die Erinnerung an das Textgewebe der Allegorie voraus. Sie ist insofern von Belang, als die Überführung der Assoziation in die begriffliche Konstellation in Analogie steht mit der philosophischen Integration des Ausdrucks in die Naturgeschichte im Medium der Allegorie. Die Analogie ergibt sich aus der These, welche die folgenden Überlegungen entfalten wollen. Mit der Integration der Assoziation in den Begriff verhält es sich insofern wie mit der Integration der Allegorie in die Deutung des Geschichtlichen, als es sich in beiden Fällen um eine ästhetische Wendung der begrifflichen Erfahrung handelt. Die Wendung geschieht im Bemühen darum, der besonderen Erfahrung eine größere Bedeutung beizumessen, als es die auf das Allgemeine zielenden Begriffe können. Der erste Schritt der Ästhetisierung der begrifflichen Erfahrung bestand in der Bestimmung von Deutung als Konstruktion geschichtlicher Figuren durch das Vermögen exakter Phantasie und der allegorischen Integration von entfremdeter Erfahrung in Naturgeschichte. Nun geht es darum, einen Zugang zu bestimmen, welcher die Lust an der Form, das Sprachspiel der Assoziation, allegorisches Zeichen und Begriff in ein produktives Verhältnis setzt. Schauplatz dieses Verhältnisses ist die bereits vielfach aufgerufene begriffliche Konstellation, ihre Vollzugsweise ist die Komposition (vgl. Casale 2020d).
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leicht die zentrale ist.« (NL: 389) Petazzi nimmt dieses Zitat zum Ausgangspunkt, um bei Adorno ein ungebrochenes Spannungsverhältnis auszumachen: »Eben diese Spannung ermöglicht es ihm noch in der kältesten Begriffswüste jene Wärme der Unmittelbarkeit zu erhalten, die nur allzu oft den Schulphilosophen fehlt; und vielleicht findet sich gerade in dieser Spannung zwischen dem affektiven Inhalt und der logischen Stringenz der Form die Triebkraft der inneren Dynamik von Adornos Philosophie.« (Petazzi 1977: 32) Zur Vertiefung dieses Zusammenhangs sei hier eine zentrale Passage aus der Philosophischen Terminologie zitiert: »Es entstehen Termini dort, wo zu dem lebendigen Zweck eines Denkens selbst ein diesem Zweck gegenüber sekundärer und äußerlicher hinzutritt – der der Übermittlung dieses Denkens. Diese übermittelnde Funktion hat die Terminologie und tritt somit von vornherein in einen gewissen Gegensatz gegen das unmittelbare Denken der Sache selbst oder in einen gewissen Widerspruch zu ihm. […] Der Gedanke als Mittel tritt an die Stelle des Gedankens als Zweck.« (PT I: 63) Die Erprobung und Entwicklung zentraler Gedanken dieses Abschnitts verdanke ich Stephan Dorf und unserer gemeinsamen Lektüre des Textes Essay als Form, bei der kein Satz – analog zu den Steinen – auf dem anderen blieb.
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Angeregt zu der Auffassung der Konstellation als Komposition wird Adorno durch die Lektüre von Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920): »Wie Gegenstände durch Konstellation zu erschließen seien, ist weniger aus der Philosophie zu entnehmen, die daran sich desinteressierte, als aus bedeutenden wissenschaftlichen Untersuchungen.« (ND: 166) Entnommen wird von Weber der Grundgedanke, dass soziologische Begriffe aus ihren »einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. Die endgültige begriffliche Erfassung kann daher nicht am Anfang, sondern muß am Schluß der Untersuchung stehen« (Weber 1920 zit.n. ND: 167). Die Komplementarität von soziologischer Methode und Komposition steigert sich bei Adorno zur Vorstellung eines musikalischen Ursprungs des begrifflichen Komponierens. Von der Musik übernimmt die philosophische Komposition den Impuls zum Spiel und die Lust zur Form. Analog zur »Phantasie des Komponisten« (GS 12: 68) verhält sich etwa der Impuls, erfindungsreich Worte zu setzen, um Gedanken zu formulieren: »Subjektiv hervorgebracht, sind diese gelungen allein, wo die subjektive Produktion in ihnen untergeht« (ND: 167). Den Schein der Einzelheit durchbricht die Komposition in dem Moment, wo durch subjektive Formung ein objektiver Zusammenhang erkennbar wird, der mehr ist als nur die Addition von Einzelheiten. Angesichts der Anstrengung der Komposition zur Durchbildung legt Adorno besonderen Nachdruck auf den Aspekt der Synthese: »Das ›Spiel‹ der Musik ist das Spiel mit logischen Formen als solchen, der Setzung, der Identität, der Ähnlichkeit, des Widerspruchs, des Ganzen, des Teils, und die Konkretion […]. Sie, die logischen Elemente, sind dabei weitgehend eindeutig, d.h. so eindeutig wie in der Logik[,] und soweit nicht [eindeutig,] wie sie ihre Dialektik haben. Die musikalische Formenlehre ist die Lehre von solcher Eindeutigkeit, und ihrer Aufhebung. Die Schwelle der Musik gegen die Logik liegt nicht bei den logischen Elementen, sondern deren spezifisch logischer Synthesis, dem Urteil. Die Musik kennt dieses nicht sondern eine Synthesis anderer [Art], [eine] rein aus der Konstellation, nicht der Prädikation, Subordination, Subsumtion ihrer Elemente[,] sich konstituierende Synthesis. […] Musik ist die Logik der urteilslosen Synthesis.« (B: 32; Einfüg. und Herv. i.O.) Vor dem Hintergrund dieser Passage des fragmentarisch gebliebenen Buches zur Philosophie der Musik Beethovens wird in besonderem Maße sinnfällig, wie sich Adorno die kategorialen Möglichkeitsbedingungen einer negativ gewendeten Dialektik aus der Logik der Musik erschließt. Dabei kommen Gemeinsamkeiten und Differenzen im »Verhältnis der Musik und der begrifflichen Logik« (ebd.: 31) zum Vorschein. Das Spiel mit Formen steht dem begrifflichen Zwang zur Form, die urteilslose Synthesis der begrifflichen Synthese als alternativer Anknüpfungspunkt einer ›philosophischen Kompositionslehre‹ gegenüber. In der Gegenüberstellung der musikalischen Synthese als Konstellation und der begrifflichen Synthese als Urteil klingt bereits die implizite Musikalisierung begrifflicher Erkenntnis an87 . Diese Tendenz wird auch dort sichtbar, wo die Er-
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Dieter Schnebel (1971) versteht die musikalischen wie die nichtmusikalischen Werke als zwei unterschiedliche Weisen der Sprachkomposition: »Übliche Sprachgestaltung schreitet von Satz zu Satz fort, drückt also den Gedankengang aus oder zeichnet eine Sache nach. Komponieren verfährt weniger einlinig; heißt verschiedene Vorgänge gestalten und in Beziehung setzen. Wohl
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kundung einer Erkenntnisweise ohne Zwang zum System nicht nur getragen wird von der Kritik an philosophischen Totalitätsphantasien, sondern inspiriert ist von Kompositionen der neuen Musik, die »keinerlei Drang zur ›Auflösung‹ der vorgeblichen Dissonanzen verspürt[en]« (GS 12: 39). Der Erkenntnischarakter der neuen Musik besteht darin, dass sie nicht »die Wirklichkeit des Widerspruchs verleugnet« (ebd.: 119), sondern im Gegenteil die Widersprüche in sich so tief fasse, »daß sie nicht mehr sich schlichten lassen. […] Die neue Kunst lässt den Widerspruch stehen und legt das kahle Urgestein ihrer Urteilskategorien – der Form – frei.« (Ebd.) Die Affinität zwischen Philosophie und Musik besteht darin, dass sie in der negativen Dialektik und der Dissonanz einander affizierende Antworten, auf die Frage finden, wie die geschichtlichen Widersprüche zum Ausdruck gebracht werden könne, ohne sie durch den Ausdruck aufzuheben. Den Bogen vom musikalischen zum philosophischen Bewusstsein schlägt die Sprache: »Der Zusammenhang, den sie [die Komposition] stiftet – eben die ›Konstellation‹ – wird lesbar als Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts. Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache.« (ND: 167f.) Die musikalische Komposition unterscheidet sich von der philosophischen nicht nur darin, unter Ermangelung des Begriffs keine Urteile fällen zu müssen, sondern auch in dem Verhältnis von Sprache und Schrift. Der Begriff der Schrift ist eng gekoppelt an das Prinzip der Konstruktion. Ein Kunstwerk spricht umso deutlicher, je stärker es durchgebildet ist. Die dadurch gebildeten Figuren machen die Schrift des Kunstwerks aus. Das Kunstwerk spricht als Schrift, nicht weil es etwas Bestimmtes ausdrücken will. Die Auskonstruktion des »Ausdrucks ohne festes Auszudrückendes« (GS 16: 635) macht ja gerade den Schriftcharakter der Kunst aus. Der Philosophie geht die »Affinität [der musikalischen Komposition] zum reinen Ausdruck« (ebd.) ab, weil sie immer auf einen Gegenstand und die diskursive Sprache bezogen bleibt. In dem Moment, wo der philosophische Gedanke die Sache durch die Komposition, also die Durchbildung der verschiedenen Momente und Elemente, die in der Sache und um die Sache liegen, lesbar machen will, ist das Resultat, die Konstellation, nicht mehr nur Schrift, sondern immer auch sprachlich vermittelt. Denn letztlich bleibt es das Ziel der philosophischen Komposition, »ein Sachverhältnis zur Sprache« (Casale 2020d: 5) zu bringen. Damit trennt sie sich jedoch nicht von der Logik ihres musikalischen Pendants, sondern nimmt von diesem zentrale Impulse in sich auf. Dies wird etwa dort deutlich, wo die Komposition des Gegenstandes ausgehend vom Spiel mit der Mehrdeutigkeit zusammengebracht wird. Komposition bewegt sich also auf der Schwelle von Schrift und Sprache sowie auf der Schwelle von Spiel, Konstruktion und Urteil. Adorno umhüllt den Gedanken zur
werden auch hier Fortsetzungen gebildet und kommt es auf logischen Progreß an. Außerdem arbeitet Komposition mit Variationen und Kontrasten, überhaupt mit Umgestaltungen (Verkürzungen, Erweiterungen), die in mannigfache Richtungen führen. Entscheidend ist aber das zeitliche Element: daß Prozesse entstehen und auf Zukünftiges verwiesen oder an Zurückliegendes erinnert wird; wie überhaupt im Verlauf einer Komposition ein Beziehungsnetz entsteht, worin Vergangenes neue Aspekte gewinnt und Ahnungen von Kommendem sich einstellen.« (ebd.: 129)
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philosophischen Komposition mit einem Textgewebe, dessen Kettfäden aus der Spannung von Ausdruck, Spiel und Urteil gesponnen werden und dessen Schussfaden aus den Fasern der Spannung von Schrift und Sprache bestehen. Den Webrahmen, in dem sich die Fäden zu einem Gedankenteppich verweben, bilden Begriff und Geschichte. Dazu schreibt Adorno: »In ihr bilden jene kein Kontinuum der Operationen, der Gedanke schreitet nicht eigensinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab. Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln.« (EF: 21) Die Produktion von Gedankengewebe ist aktiv und passiv zugleich. Ihre passiven Momente hat sie in der Hingabe an die Sache, von der sie abhängig ist; ihre aktiven Momente manifestieren sich in der lebendigen Arbeit der Phantasie und der Deutung. Adorno beschreibt die Wechselbeziehung zwischen Passivität und Aktivität als Komposition im Zusammenhang mit der Erläuterung des Charakters der essayistischen Form. Stephan Müller-Dohm (2006) zufolge habe der Essay für Adorno programmatischen Charakter. Zum einen in sprachphilosophischer Hinsicht, wenn sie auf den Vorrang des Ausdrucks vor der Darstellung besteht, zum anderen als »Konzept einer strikt immanenten Texthermeneutik. Schließlich begründet Adorno den Essay als eine kompositorisch verfahrende Prosaform, die wie keine andere einer negativ dialektischen Philosophie adäquat ist.« (Ebd.: 43) Die doppelte Verfasstheit der Sprache bildet dabei die Klammer um das in sich paradox anmutende Verhältnis zwischen Texttreue und freier Prosaform: »Die objektive Fülle von Bedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phänomen verkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird. Nichts läßt sich herausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wäre. Kriterien dafür sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit dem Text und mit sich selber, und ihre Kraft die Elemente des Gegenstandes mitsammen zu Sprechen zu bringen. Durch diese ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbstständigkeit, die leicht als der Kunst bloß entlehnt angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidet und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins.« (EF: 11) In dieser Schlüsselpassage lassen sich verschiedene miteinander verwobene Ebenen heuristisch unterscheiden, die zusammengenommen einen Begriff davon geben, was Adorno unter der Objektivierung geistiger Phänomene im Modus der Komposition begrifflicher Konstellationen, also dem Essay als Form, versteht. Zusammengehalten wird der Prozess durch die Offenheit des ›Empfangenden‹, die Neugier, Freiheit und Stringenz der Deutung und die Arbeit der Sprache, die zwischen begrifflicher Logik und ästhetischem Ausdruck oszilliert. Ein spezifisches Element in Adornos Perspektive scheint eine doppelte Überschreitungsbewegung zu sein, die mit dem spekulativen Impuls verbunden ist und sich in der Vorstellung konkretisiert, dass der Essay mit einer Überschreitung beginnt und sich auf
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eine Überschreitung hin zu bewegt. Der Vorstellung einer beginnenden Überschreitung liegt der Gedanke zugrunde, dass der Essay in der Lage sei, »die Sache mit dem ersten Schritt so vielschichtig zu denken, wie sie ist. Korrektiv jener verstockten Primitivität, die der gängigen ratio allemal sich gesellt« (ebd.: 23; Herv. rb). Rationalität sei Adorno zufolge gerade dort am primitivsten, wo sie selbst glaubt, ihre Höherentwicklung unter Beweis zu stellen: im reinen Denken. Dem gegenüber sei der Essay avancierter, weil er Rationalität und Affektion zusammendenkt: »Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte.« (Ebd.: 10) Im Hintergrund steht die Annahme, dass, auch wenn sie endlich sind, »Empfindungen, […] ohne welche Formen nicht einmal vorzustellen wären, […] auch ihrerseits Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis« (ND: 141) seien. Unabhängig davon, ob die Interpretation am Ende gelungen ist bzw. der Wahrheit der Sache nahe gekommen sein wird, geht Adorno davon aus, dass die Körperlichkeit der Interpret*innen, die sich in Form von Empfindungen ausdrücken, eine konstitutive Bedeutung für die Erkenntnis hat. Anders gesagt: Weil es keine »Empfindung ohne somatisches Moment« (ebd.: 191) gibt, ist jeder Erkenntnisprozess »in sich auch Körpergefühl« (ebd.: 192; Herv. rb). Was sich über den Gegenstand erfahren lässt, ist nicht allein und nicht in erster Linie logischer Natur und darum kann die essayistische Erschließung des Gegenstandes weder im Modus der logischen Beherrschung beginnen, noch sich in diesem vollziehen. Stattdessen setzt sie an einem emotionalen Immanenzverhältnis an, das sich aufspannt zwischen der Rezeptivität der Empfangenden und ihrer »Neugier, Lustprinzip des Gedankens« (EF: 30), das sich »sublimiert zur Idee des Glücks einer Freiheit dem Gegenstand gegenüber« (ebd.: 30). Die anfängliche Freiheit zum Objekt, die nicht von vorneherein durch die hermeneutische Treue zum Sinn oder dem begrifflichen Zug um Urteil beherrscht wird, verfolgt die Absicht, durch Offenheit an den Kern des Gegenstandes heranzukommen. Im Modus »mimetischen Sichanschmiegens der Sprache der Reflexion« (Eichel 1993: 23) rückt der Gedanke »dem hic et nunc des Gegenstandes so nah bis er in die Momente sich dissoziiert, in denen er sein Leben hat, anstatt bloß Gegenstand zu sein« (EF: 22). Paradoxerweise fußt die Vorstellung, dass es der Gegenstand selbst sei, der sich dissoziiert, auf der Voraussetzung, dass dieser eine Vermittlung erfährt. Durch sprachlich und somatisch vermittelte und begrifflich getragene Hingabe enthüllen sich die verschiedenen Momente des Phänomens. Die Erfahrungen mit dem Gegenstand, die den interpretatorischen Prozess in Bewegung setzen, »müssen nicht nur durch den Kopf hindurch, sondern durch Körper, die Nerven, die Sinne, die Gefühle; sie müssen am Geschichtsverhältnis als einem faßlichen Gegenstand arbeiten können« (Kluge/Negt 1981: 779). Die Fassbarkeit weist zugleich darauf hin, dass die überschießenden Interpretationen zwar eine Offenheit gegenüber dem Gegenstand praktizieren, aber die »Offenheit ist keine vage von Gefühl und Stimmung, sondern wird konturiert durch seinen Gehalt« (EF: 26). Körpererfahrungen als sinnliche Zeichen, Wortassoziationen und Gedankenfiguren umkreisen den Gegenstand und werden in unterschiedlichen Variationen um diesen angeordnet. Der Prozess, der sich dabei zeigt, verweist auf eine inkrementalistische Art der Auseinandersetzung mit dem Material88 : 88
Denn der Erkenntniswert des sprachlichen Überschusses, der durch das Spiel mit der Mehrdeutigkeit von Worten entsteht, ist kein Produkt der Kreativität der Interpretator*innen, sondern ent-
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»Auch darin streift der Essay die musikalische Logik, die stringente und doch begriffslose Kunst des Übergangs, um der redenden Sprache etwas zuzueignen, was sie unter der Herrschaft der diskursiven Logik einbüßte, die sich doch nicht überspringen, bloß in ihren eigenen Formen überlisten läßt kraft des eindringenden subjektiven Ausdrucks. Denn der Essay befindet sich nicht im einfachen Gegensatz zum diskursiven Verfahren. Er ist nicht unlogisch; gehorcht selber logischen Kriterien insofern, als die Gesamtheit seiner Sätze sich stimmig zusammenfügen muß.« (Ebd.: 31) Durch die linguistische Gleichzeitigkeit von Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit kann der Gedankengang in der Sprache Wege gehen, die nicht auf die kommunikative Funktion der Worte beschränkt sind. Der Ausdruck ist spontan und expressiv, aber darin weder zufällig noch sinnlos, denn er hat eine objektive sprachliche Substanz89 . Dabei liegt es in der ›Natur‹ jener Logik, »bei der sich imaginative Räume erschließen« (Eichel 1993: 59), dass die Verknüpfung der verschiedenen Gedankenfäden »prinzipiell Überinterpretationen« (EF: 10) gleichen. Diese muten mitunter an, als seien sie »[u]nbewußt und theoriefern« (ebd.: 24), bis sich dann durch die »fortschreitende Selbstkorrektur solcher Projektion durch den Vergleich mit dem, was geschrieben steht« (DSH: 368f.), sukzessive ihr objektiver Bedeutungskern herausschälen lässt. Deutungen versuchen, eine Brücke zu schlagen zwischen Spekulation und objektivem Bedeutungskern. Sie setzen nicht nur die Hingabe an den Gegenstand voraus, sondern auch das, was Adorno die Erfahrung eines entspannten Bewusstseins nennt: »Entspannung des Bewußtseins als Verhaltensweise heißt, Assoziationen nicht abwehren, sondern das Verständnis ihnen öffnen.« (DSH: 370) Assoziationen zulassen und ›empfangen‹ ist Adornos Antwort auf die Frage, wie das auf Identität und Allgemeinheit zielende Bewusstsein, ohne das kein Herankommen an das Objektive ist, in Berührung kommt mit der besonderen Erfahrung. Oder anders formuliert: Die zwar sprachlich präformierten aber nicht zubetonierten Assoziationen scheinen der Bewegung des Begriffs widerstehen zu können – das »unverantwortlich geschluderte Wort wähnt, die Verantwortlichkeit in der Sache zu belegen, und die Reflexion über Geistiges wird zum Privileg des Geistlosen« (EF: 12).
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steht in der Erfahrung des Gegenstandes. Darum sei Adorno zufolge die Kritik an der Spontaneität im Sinne von Kreativität dem Essay immanent. Seine »Form kommt dem kritischen Gedanken nach, daß der Mensch kein Schöpfer, daß nichts Menschliches Schöpfung sei. Weder tritt der Essay selbst, stets bezogen auf schon Geschaffenes, als solches auf, noch begehrt er ein Allumfassendes, dessen Totalität der der Schöpfung gliche.« (EF: 26) Um nicht die ›Bodenhaftung‹ zu verlieren und sich auf den ›Flügeln der Phantasie‹ gen Dichtung davon tragen zu lassen, nimmt die Sprache der Philosophie »nur die objektive – das heißt: geschichtlich-gesellschaftlich sedimentierte – Bedeutung der Worte auf und differenziert sie konstellativ bezüglich des Gegenstandes der Darstellung« (Hogh 2019: 98; Herv. rb). Trotz der Wertschätzung für den spontanen Ausdruck trägt die Konstellation dem Umstand Rechnung, dass »Sprache und Sache sich in einer geschichtlichen Dynamik befinden und die einmal vollzogene konstellative Darstellung bei einem späteren Versuch nicht dieselbe bleibt, wenn sie sich nicht gegen die geschichtliche Veränderung ihres Gegenstandes verselbstständigen will« (ebd.: 99). Eingeholt wird die spontane Kraft des philosophischen Ausdrucks immer wieder durch die Sprache des Begriffs, in der die Konstellation den Gegenstand und dessen objektiven Gehalt darzustellen intendiert.
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Dabei geht es aber nicht so ›geistlos‹ zu, wie es zunächst scheint. Hinzukommen muss, dass Begriffe »nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihren theoretischen Bezug mitbringen« (ebd.: 27), den Adorno als Bezug »auf die ganze Geschichte« (ebd.: 18) versteht90 . Im Hintergrund der Dialektik von Theorie und Begriff steht das Spannungsverhältnis zwischen Natur und Geschichte sowie zwischen Wahrheit und Geschichte, die in dem Essay als textuelle Darstellungseinheit stillgestellt wird. Ziel der Stillstellung der Spannung in der Einheit der Form ist die Darstellung der Wahrheit der Sache, auf die sich das Erkenntnisinteresse richtet. Der Überschuss des Anfangs, das »Gewagte, Vorgreifende, nicht ganz Eingelöste jedes essayistischen Details zieht als Negation andere herbei; die Unwahrheit, in die wissend der Essay sich verstrickt, ist das Element seiner Wahrheit. Unwahres liegt gewiß auch in seiner bloßen Form, der Beziehung auf kulturell Vorgeformtes, Abgeleitetes, als wäre es an sich. Je energischer er aber den Begriff eines Ersten suspendiert und sich weigert Kultur aus Natur herauszuspinnen, umso gründlicher erkennt er das naturwüchsige Wesen von Kultur selber. Bis zum heutigen Tag perpetuiert sich in ihr der blinde Naturzusammenhang, der Mythos, und darauf gerade reflektiert der Essay: das Verhältnis von Natur und Kultur ist sein eigentliches Thema. Nicht umsonst versenkt er, anstatt sie zu ›reduzieren‹, sich in Kulturphänomene als in zweite Natur, in zweite Unmittelbarkeit, um durch Beharrlichkeit deren Illusion aufzuheben.« (Ebd.: 28; Herv. rb) Dass das überschüssige Moment des Essays von dem schöpferischen Moment der Kunst zu unterscheiden ist, ergibt sich nicht nur aus seiner begrifflichen Form und seiner interpretatorischen Intention, sondern auch dessen naturgeschichtlicher Vermittlung. Der Essay als Form ist selbst ein Kulturprodukt, das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses. Bezieht der Essay sich reflexiv auf Kultur, dann nimmt er nicht nur sich selbst, sondern auch Kulturphänomene in den Blick. Es ist also die Herausforderung des Essays, sich zum einen deutend auf Kultur als Geschichte zu beziehen, verbunden mit dem Anliegen der immanenten Kritik kultureller Unmittelbarkeit. Zum anderen ist es auch die Aufgabe des Essays sich kritisch gegenüber der Auffassung von Kultur als Abstraktionsprodukt von Natur zu positionieren. »Listig macht der Essay sich fest in die Texte, als wären sie schlechterdings da und hätten Autorität. So bekommt er, ohne den Trug des Ersten, einen wie immer auch dubiosen Boden unter die Füße, vergleichbar der einstigen theoretischen Exegese von 90
Dennoch warnt Adorno davor Begriff mit Theorie, insofern sie einen Anspruch auf Allgemeinheit vertritt, kurzuschließen: »Unheil droht der geistigen Erfahrung, je angestrengter sie zu Theorie sich verfestigt und gebärdet, als habe sie den Stein der Weisen in Händen. Gleichwohl strebt geistige Erfahrung selbst dem eigenen Sinn nach solcher Objektivierung zu. Diese Antinomie wird vom Essay gespiegelt.« (EF: 26) Der Kurzschluss würde nicht nur konkret die immanente Dialektik von Tradierung und spekulativer Überschreitung, von affektivem und logischem Momentstill stellen, sondern auch die offene Bewegung des Gedankens an sich, die zusammengenommen den Kern von Adornos Deutungsbegriff ausmachen. Aber zugleich kann es keine Erkenntnis geben, die den Gedanken nicht auch stillstellt und verobjektiviert, oder wie Adorno schreibt, »an der Form der Darstellung emphatisch arbeitet« (ebd.). Dass der Essay diese Antinomie spiegle, kann hier insofern im unmittelbaren Wortsinn verstanden werden, als die Antinomie innerhalb der Frage nach der Repräsentation der geistigen Erfahrung verhandelt wird.
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Schriften. Die Tendenz jedoch ist die entgegengesetzte, die kritische: durch die Konfrontation der Texte mit ihrem eigenen emphatischen Begriff, mit der Wahrheit, die ein jeder meint, auch wenn er sie nicht meinen will, […] den Anspruch von Kultur zu erschüttern und sie zum Eingedenken ihrer Unwahrheit zu bewegen, eben jenes ideologischen Scheins, in dem Kultur als naturverfallen sich offenbart. Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste.« (Ebd.: 29) Die Passage kehrt die Verschlagenheit der essayistischen Form hervor. Die Kategorie der List zeigt an, dass der Essay auf seine Abhängigkeit vom Medium des Textes mit einer instrumentellen Haltung antwortet. Texte werden als Mittel betrachtet, mit deren Hilfe der Essay das erreicht, was er aus sich heraus nicht erreichen kann: die Öffnung eines Zugangs zur Erforschung des Gegebenen. Die List ist hierbei doppelt: Denn die Texte werden nicht nur als ein Mittel, sondern zugleich auch als das Medium betrachtet, mit deren Hilfe der Essay seine Absicht verfolgt. Auf diese Weise verbindet sich das naturgeschichtliche Erkenntnisinteresse mit der kritischen Analyse der Texte hinsichtlich ihrer Scheinhaftigkeit. Der Prozess der Konstellation sieht so aus, dass die durch das Phänomen gegebenen Elemente in verschiedene Zusammenhänge gestellt, bestätigt oder verworfen werden, und zwar so lange bis der Gegenstand nicht nur »Relief« (EF: 15) erhält, sondern sich verdichtet zur statischen »Einheit einer in sich auskonstruierten Form« (ebd.: 26). »Erkenntnis des Gegenstandes in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert. Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination.« (ND: 165f.) Wie kann jedoch eine statische Einheit ein Kraftfeld bzw. die Bewegung einer Vielzahl verschiedener Elemente und deren Zusammenwirken zur Darstellung bringen91 ? Im Essay wird der Prozess der Komposition, aufgefasst als problemumkreisende Variation von Formen, Worten und Begriffen und Konstellation, vermittelt mit der Konstellation, deren Konstruktion bemüht ist um die »Konkretion des in Raum und Zeit bestimmten Gehalts« (EF: 32). Darauf, so stellt Adorno fest, »beruht seine Affinität zum Bild, nur daß jene Statik selber eine von gewissermaßen stillgestellten Spannungsverhältnissen ist« (ebd.). Die Elemente sowie deren Zusammenwirken werden im Essay sukzessive und zugleich durch »Querverbindungen der Elemente« (ebd.: 31) entfaltet. Dadurch treten »diskret gegeneinander abgesetzte Elemente zu einem lesbaren zusammen; er erstellt kein Gerüst und keinen Bau« (ebd.: 21). Nicht zufällig schein Adorno Begriffe aus der Baustatik zu benutzen, wenn es darum geht, diese Spezifik der Konstellation zu veranschaulichen: Konstellationen sind als Gebilde notwendigerweise statisch verfasst. Ihre 91
Die Betonung liegt hier insofern auf der Einheit in sich, als die Konstellation »auch als Form nicht die Identität von Gedanke und Sache behauptet« (ebd.), sondern sich auf sich selbst bezieht. Dies beginnt damit, dass sichtbar gemacht wird, dass der subjektive Ausdruck »selber logischen Kriterien insofern [folgt], als die Gesamtheit seiner Sätze sich stimmig zusammenfügen muß. Keine bloßen Widersprüche dürfen stehenbleiben, es sei denn, sie würden als solche der Sache begründet.« (EF: 31)
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statische Verfassung rührt aber nicht von einer äußeren Stütze wie bei einem Gerüst oder einem feststehenden Bauwerk her. Ohne Frage, Konstellationen fixieren, aber als begriffliche Fixierungen sind sie in Bewegung, sind »Versuche, durch die Versammlung von Begriffen den gesuchten [objektiven Wahrheitsgehalt] auszudrücken« (ND: 168)92 . Adorno schreibt dem Essay eine Sprengkraft zu, die nicht nur in der Lage ist, die Oberflächenstruktur der Phänomene, sondern auch die Logik, die diese hervorbringt, zu durchbrechen. Das geknüpfte Netz, das die Gegenstände einfängt, kann als Metapher für die begriffliche Erkenntnis gelesen werden, die mit ihrem Kategoriennetz die Gegenstände erkennt bzw. einfängt. Mit der Durchbrechung der Synthese folgt jedoch nicht, wie es die Angst des Idealismus vor der Nichtidentität antizipiert, die Auflösung in chaotische Mannigfaltigkeit, sondern die Freilegung der immanenten Voraussetzungen und Verhältnisse der Gegenstände.
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Auf dem Feld der Sprache wiederum tritt das Spannungsverhältnis von Konstellation, Begriff und Elemente in der Dialektik von subjektivem Ausdruck und allgemeinem Gehalt in Erscheinung, die ihrer Struktur nach auf »den spekulativen Satz, das Individuelle sei durchs Allgemeine vermittelt und umgekehrt« (NL: 55) verweist. Getragen sind Konstellation und Sprache von der Einsicht, »Subjekt und Objekt seien überhaupt keine starren und isolierten Pole, sondern könnten nur aus dem Prozeß bestimmt werden, in dem sie sich aneinander abarbeiten und verändern« (ebd.: 57). In der Autonomie der Darstellung wirkt eine Dialektik, durch die der Ausdruck versucht, sich durch die objektiven Kräfte hindurch eine Offenheit für Mehrdeutigkeit zu erhalten. Adorno nimmt das Spekulative, den auskundschaftenden Blick, beim Wort und tritt darin wiederum in Differenz zu Hegel. Dessen spekulative Philosophie stelle zwar eine Denkform dar, die sich kritisch gegenüber der Auffassung positioniert, dass der Gegenstand »vom Subjekt sich fixieren läßt wie geometrische Figuren im Blick« (DSH: 333) – entscheidend sei, dass »das Subjekt nicht wie eine Kamera auf einem Stativ ruht, sondern vermöge seiner Beziehung zu dem in sich bewegten Gegenstand auch selber sich bewegt – eine der zentralen Lehren der Phänomenologie« (ebd.: 334). Wechselt dabei aber in das andere Extrem: Von Entwindung des Gegenstandes aus »dem fixierenden Blickstrahl« (ebd.: 334) in die Perspektive einer Totalen, die letztlich von oben auf den Gegenstand blickt.
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2 Bildungstheorie und Naturgeschichte Der Weg der neuern Bildung geht/ Von Humanität/ Durch Nationalität/ Zur Bestialität. – Franz Grillparzer –
Die Herausbildung des Bildungsbegriffs hängt konstitutiv mit der Entstehung der bürgerlichen Moderne zusammen. Bildung ist ein zentrales Element in einem komplexen historischen Prozess, durch den sich die Strukturen und Bedingungen in Kultur, Wissenschaft, Erziehung, Politik, Wirtschaft und Religion auf grundlegende Weise verändern. Die Transformation versteht sich als Konsequenz, die individuell, sozial und kulturell aus der anthropologischen und der geschichtsphilosophischen Grundeinsicht in die Vernunftnatur und Freiheit des Menschen folgt. Die Einsicht ist verbunden mit der Erkenntnis, dass es Freiheit und Vernunft nicht von sich aus gibt, sondern individuell und institutionell realisiert und erhalten werden müssen. Der moderne Begriff der Bildung knüpft nun die Möglichkeit von Freiheit und Vernunft an den Prozess der Bewusstwerdung seiner selbst und seiner Geschichte. Ein entscheidender Schritt dieses Prozesses ist die Befreiung des Menschen von seiner inneren und äußeren Natur durch die Transformation derselben in etwas von Vernunft vollständig Erfasstes, in zweite Natur. In der Philosophie Hegels wird der Prozess der Befreiung bestimmt als Selbstentäußerung des Einzelnen, der sich durch Arbeit Natur aneignet sowie als Selbsterfahrung der Vernunft, die sich in den geistigen Prozessen und Verobjektivierungen der Geschichte wiedererkennt. Bildung ist Hegels Begriff für jenen Prozess, in dem sich Vernunft vermittels des Fortschrittsprozess des Bewusstseins sich ihrer selbst versichert und so Freiheit realisiert. Der individuelle und institutionell vermittelte Prozess der Befreiung durch Bewusstwerdung ist eingebettet in einen geschichtsphilosophischen Horizont. Das Bewusstsein der Einzelnen und die Vernunft der Institutionen sind konstitutiver Bestandteil eines Fortschritts der Geschichte im Ganzen. Die Ausführungen zu einer Naturgeschichte der Bildung sollen nun den Bruch Adornos mit der teleologischen Bestimmung des individuellen und gattungsgeschichtlichen Bewusstwerdungsprozesses herausarbeiten. Dieser Bruch, so die These, zieht die Konsequenz aus der Einsicht in die innere Ambivalenz des Bildungsbegriffs: So wie
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es ohne die Momente der Beherrschung der Natur und der Entfremdung von sich als bloße Natur keine Bildung gäbe, können Fortschritt, Freiheit und Vernunft sich nicht verwirklichen, wenn Bildung nichts anderes als Naturbeherrschung wäre.
2.1
Bildung, Entfremdung und Universalgeschichte
Der Zusammenhang von Entfremdung und Bewusstwerdung ist für den um 1800 entstandenen Begriff der Bildung konstitutiv (vgl. Buck 1984; Witte 2010)1 . Hegels Begriff der Bildung hat diesen Zusammenhang erstmals systematisch und historisch entfaltet. Dessen Schrift Die Phänomenologie des Geistes entwirft einen Begriff von Bildung als geschichtlich vermittelten Erkenntnisprozess des Bewusstseins. Agens und Movens dieses Prozesses sind Erfahrungen, die das Bedürfnis der Philosophie hervorrufen, ein Bedürfnis, dessen zutage treten Hegel auf die Erfahrung der Entzweiung und der Unbildung zurückführt2 . Hegel bestimmt Entzweiung als Anlass und Entfremdung als Bedingung, um sich durch die Arbeit der Vermittlung aus dem Zustand der Negativität zu befreien3 . Negativität ist also Bedingung von Bildung in einem doppelten Sinn4 : Als Zustandsbeschreibung der Differenz von Subjekt und Objekt markiert sie den notwendigen Ausgangspunkt, als intellektuelle Tätigkeit beschreibt sie die zentrale Struktur des Bildungsprozesses. Der Entfremdungsbegriff beschreibt Negativität als sinnliche und intellektuelle Erfahrung des Bewusstseins und markiert damit den »Ausgangspunkt von Bildung […] als Wahrnehmung des Gegenstandes, des Anderen, das das Ich nicht ist. In diesem Sinn ist Entfremdung Voraussetzung für jeden Prozess der Bewusstwerdung, der Erkenntnis.«
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Die Auseinandersetzung mit dem in der Philosophie Hegels entfalteten Zusammenhang von Bildung und Entfremdung stellt einen der zentralen Gegenstände der bildungsphilosophischen und -theoretischen Forschung dar. Die hier vorgelegten Interpretationen sind konturiert und geleitet von den Ausführungen von Buck (1984), Heydorn (2004b [1973]), Klafki (1986), Casale (2016a, 2018), Gelhard (2018), Thompson (2018), Casale/Oswald (2019). Dazu schreibt Hegel in der Differenz-Schrift: »[D]ie notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet, und die Totalität ist in der höchsten Lebendigkeit nur durch Wiederherstellung aus der höchsten Trennung möglich. […] Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.« (W 2: 21f.) Die Verwirklichung der Selbständigkeit basiert wesentlich auf der Annahme, dass sie Möglichkeit und Zweck des Subjekts zugleich ist. Berger und Städtler (2015) fassen dies folgendermaßen zusammen: »Der Zweck, der das Resultat der zweckgerichteten Arbeit antizipiert, ist gegen sein Produkt logisch selbstständig, kann sich aber nur in einem von ihm unterschiedenen Material realisieren, das er vorfinden muss und von dem er deshalb auch gleichzeitig materiell abhängig ist. […] Hegels Begriff der Selbstbestimmung ist nicht bloß formell, sondern auch konkret reflexiv gedacht: Selbstbestimmung resultiert nicht nur aus dem Prozess zweckgerichteter Tätigkeit, sondern sie ist diesem Prozess ebenso vorausgesetzt, sodass sie im Resultat mit sich selbst in ihrem Ursprung zusammengeht.« (Ebd.: 347f.) Zur Differenz zwischen Entfremdung als pädagogisch motivierter Gesellschafts- und Zeitkritik und Entfremdung als konstitutives Moment von Bildung siehe: Buck (1984: 155-203).
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
(Casale/Oswald 2019: 77f.) Dabei ist die Wahrnehmung des Gegenstandes nicht nur eine ausschließlich sinnliche, sondern zugleich auch affektive Erfahrung. Das Fremde wird nicht nur als Fremdes wahrgenommen, sondern die Trennung des Bewusstseins von dem Anderen wird als schmerzhaft erfahren. Der Schmerz hinsichtlich der Fremdheit des Gedachten wird von Hegel als Voraussetzung von Bildung bestimmt. So könne nicht von Bildung in einem reflexiven Sinn gesprochen werden, »wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt. An sich ist jenes Leben wohl die ungetrübte Gleichheit und Einheit mit sich selbst, der es kein Ernst mit dem Anderssein und der Entfremdung sowie mit dem Überwinden dieser Entfremdung ist.« (W 3: 24) Dass der ›Schmerz‹ und die ›Arbeit des Negativen‹ in einer Reihe genannt werden, bringt die Auffassung einer intellektuellen Existenz zum Ausdruck, für die die Erfahrung von Schmerz angesichts der Fremdheit des von einem selbst Verschiedenen zur Antriebskraft der Anstrengung des Denkens wird. Dahinter steht die Vorstellung, dass es keine Bildungsprozesse ohne die konstitutive Erfahrung der Negativität geben kann. In der Figur des »unglücklichen Bewusstseins« (W 3: 168) konkretisiert sich die Erfahrung der Negativität als Schmerz hinsichtlich seiner intellektuell ungenügenden Fähigkeiten und der daraus folgenden Beziehung zu dem Gegenstand. Seine Unzulänglichkeit, die das Bewusstsein »schmerzhaft fühlt« (ebd.: 169), besteht darin, dass er sich auf den Gegenstand nur im Modus des Fühlens beziehen kann. Da er ihn nur fühlen und nicht begreifen kann, bleibt dessen Bestimmung »das unerreichbare Jenseits, welches im Ergreifen entflieht oder vielmehr schon entflohen ist« (ebd.). Für das unglückliche Bewusstsein ist die »Bewegung des reinen Gemüts« (ebd.; Herv. i.O.) also in einem doppelten Sinn charakteristisch: Zum einen als Form der unbegrifflichen, sinnlichen Gewissheit, die die Bestimmung des Gegenstandes nicht zu fassen bekommt; und zum anderen als »Bewegung einer unendlichen Sehnsucht« (ebd.; Herv. i.O.), den Gegenstand trotz allem begreifen zu wollen. Um die dadurch unveränderte Fremdheit dennoch zu überwinden, macht Hegel die Fremdheit selbst zur Bewegung: »Das Bewußtsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist nur die geistige Substanz und zwar als Gegenstand ihres Selbsts. Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d.h. Gegenstand seines Selbsts zu werden und dieses Anderssein aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d.h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen zu sich zurückgeht und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewusstseins ist.« (Ebd.: 38f.; Herv. i.O.) Erfahrung wird hier in spezifischer Weise zum erkenntnistheoretischen Prinzip. Den Gegenstand erfahren heißt nicht mehr bloß, ihn sinnlich wahrzunehmen. Vielmehr setzt Hegel die Erfahrung des Gegenstandes mit seinem Begreifen in eins. Die Erfahrung des Gegenstands entspricht dem Prozess des Begreifens, der Bildung und vollzieht sich in zwei Schritten. Im ersten Schritt folgt aus dem bereits aufgeworfenen Ausgangspunkt – der Wahrnehmung eines Fremden – eine Bewegung, durch die man sich selbst fremd wird. Denn erst wenn man in der Lage ist, von sich selbst zu abstrahieren und
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in den Gegenstand hineinzugehen, kann die unmittelbare Erscheinung des Gegenstandes als Einfachheit und Abstraktheit aufgebrochen werden. Um die Konkretheit, d.h. Wahrheit erfassen zu können, bedarf es eines zweiten Schritts, in dem die Fremdheit mit sich und die Vertrautheit mit dem Gegenstand eine Wendung erfährt. Durch die »Umkehrung des Bewusstseins« (ebd.: 79; Herv. i.O.) wird nicht nur die Entfremdung überwunden, sondern die Erfahrung begrifflich vermittelt bzw. der Gegenstand in seiner Konkretheit erfasst. Mit Hegels Vermittlung von begrifflichem Denken und Bildung ist eine Verbindungslinie geschaffen zwischen der, in dem vorangehenden Kapitel, geleisteten Entwicklung eines Zugangs zum Gegenstand und der Bestimmtheit des Gegenstands selbst. Oder anders formuliert: Was dort zunächst als bloße Entwicklung eines Zugangs beschrieben wurde, entpuppt sich nun in seinen Grundzügen als eine bereits – wenngleich sie implizit geblieben ist – skizzierte Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff, wie er für Adorno herausgearbeitet werden soll. Nun geht es darum, die Fäden, die im vorhergehenden Kapitel verflochten wurden, wieder aufzunehmen und in der Entschlüsselung des Bildungsbegriffs am Leitfaden von Naturgeschichte und negativer Dialektik neu miteinander zu verweben. Dabei sollen zwei Knotenpunkte sichtbar werden: Zum einen das unglückliche Bewusstsein als Allegorie der Bildung und zum anderen die Kritik an der geschichtsphilosophischen Fundierung von Bildung im Fortschrittsprozess der menschlichen Gattungsvernunft.
2.1.1
Allegorie von Bildung: Das melancholische Bewusstsein
In der Vorlesung Philosophische Terminologie widmet sich Adorno in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte des philosophischen Begriffs auch dem Verhältnis von Denken, Erfahrung und Entäußerung. In diesem Zusammenhang unterzieht Adorno den Begriff der Tiefe einer kritischen Betrachtung und greift dabei auf Hegels Begriff des unglücklichen Bewusstseins zurück: »[M]an kann überhaupt sagen, daß alles das, was bei Hegel um den Komplex ›unglückliches Bewußtsein‹ sich gruppiert, und alle seinen Argumentationen gegen das, was man vulgo so mit Mystik bezeichnet, genau an diesem Begriff der falschen Tiefe orientiert sind. Eine der Pointen der Hegelschen Philosophie wird im Gegenteil gerade darin, gebildet, daß die Tiefe des Subjekts überhaupt nur sich konstituiert, indem es sich, wie es bei Hegel heißt, seiner selbst entäußert, das heißt aus sich hinaus und in die Andersheit hineingeht.« (PT I: 143) Adorno liest den Begriff des unglücklichen Bewusstseins als kritischen Einwand gegen die mystische Bindung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit an den Rückzug des Subjekts in sich selbst. Hegel beschreibt den Weg des Subjekts zur Wahrheit nicht von der Innerlichkeit her. Im Gegenteil bestimmt er gerade die Entäußerung und die Selbstabstraktion als notwendige Bedingungen von Erkenntnis. Aber für Adorno ist das Problem der ›falschen Tiefe‹ damit nicht einfach aufgelöst. Erkenntnistheoretisch – und im weitesten Sinne pädagogisch – entscheidend ist es, die Entäußerung als Vermittlung zu denken:
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»Das Subjekt hat selber als Inhalt überhaupt nichts, was nicht seinerseits auf Äußeres zurückverweisen würde; es ist […] bis in seine innere Zusammensetzung hin durchs Objekt, also durch das, was außer ihm ist, ebenso vermittelt, wie umgekehrt das, was ist, vermittelt ist durch das Subjekt. […] Mir scheint aber, diese klischeehafte Gestalt von Tiefe im Sinn der bloßen Reflexion auf das reine Subjekt so suggestiv eingeübt, […] daß es geradezu einer Anstrengung des Begriffs bedarf und einer Art Revolte gegen alles das, was unsere Bildung in uns hineingepumpt hat, wenn wir dazu kommen wollen, diese Art von Beziehung nicht für die tiefste zu halten.« (Ebd.) Adornos Formulierung enthält einen doppelten Bezug auf Hegels Auffassung der Entfremdung. Die Reflexion auf die erkenntnisgenerierende Form der Vermittlung von Subjekt und Objekt verbindet sich mit der Kritik an der ›hineingepumpten‹ Bildung zu der Forderung, sich die Grenzen einer zum Klischee geronnenen Vorstellung von Denkprozessen bewusst zu machen und sich in Form einer begrifflich vermittelten ›Umkehrung des Bewusstseins‹ gegen die erzwungene Internalisierung zu wenden. Darin gewinnt der Topos der Entäußerung eine bildungstheoretische Kontur, die Adorno zu einem späteren Zeitpunkt derselben Vorlesung explizit macht: »Entäußerung bedeutet nicht etwa, daß man sich in Anpassung aufgibt und der Welt gleichmacht. Man muß vielmehr das, was man nun einmal so ist, die Zufälligkeit des Soseins der eigenen Existenz, der Dialektik mit dem Nicht-Ich exponieren. Nur das, was diese Dialektik besteht und was in dieser Dialektik selbst zu seiner Wahrheit kommt, hat eigentlich recht; […]. Was man so die Fülle des Individuums oder die Person nennt und alles das, worauf die Bildungsideologien abzielen […] ist eigentlich immer zugleich die der Welt, die man erfährt, und sie bildet sich nur in der Erfahrung dieser Welt.« (Ebd.: 235) Die theoretische Abgrenzung des Entäußerungsbegriffs von dem Aspekt der Anpassung verfolgt die Absicht, den Blick auf die Form des Bildungsprozesses weiter zu schärfen. Entäußerung und Anpassung bezeichnen zwei verschiedene Weisen, von sich selbst zu abstrahieren. Ihr Unterschied ergibt sich aus dem Antriebsgrund des Sich-fremdWerdens: Während Anpassung in erster Linie das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle realisiert, ist die Entäußerung getragen von einer gewissen Unwägbarkeit: Sich entäußern heißt zum einen, sich etwas anderem, jenem ›Nicht-Ich‹, auszusetzen, jedoch verbunden mit dem Bewusstsein, sich in der Fülle des Gegenständlichen nicht zu verlieren. Weiteren Aufschluss über die Bestimmung der Entäußerung als Versenkung ohne Selbstverlust kann eine Überlegung aus dem 1967 gehaltenen Vortrag Reflexionen über Musikkritik geben. Dort heißt es, dass »man jedem Werk, um es verstehen zu können, um sinnvoll über es urteilen zu können, etwas vorgeben muß. Wer einem Kunstwerk nichts vorgibt, wer sich nicht einer Musik bei den ersten Takten überläßt mit dem Gefühl des Kindes, sobald der Vorhang sich hebt […], der wird zur Kritik nicht befähigt sein. Eben in diesem Kunstwerk etwas Vorgeben steckt immer auch bereits das Korrektiv jener äußerlich herangebrachten Vorstellung: die Freiheit zum Objekt, von dem man sich sagen läßt, was es nun einmal sagen will.« (GS 19: 577)
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Was Adorno hier in Bezug auf die kritische Interpretation von musikalischen Kunstwerken formuliert, kann auch für die Beschreibung des Bildungsprozesses herangezogen werden. In beiden Fällen geht es darum, sich dem Drang einer der Entfremdung vorausgehenden Beurteilung des Phänomens zu entziehen, ohne auf die Fähigkeit des kritischen Urteils zu verzichten: »Ihre Verbindlichkeit gewinnt Kritik nicht durch Standpunktlosigkeit, sondern dadurch, daß der Standpunkt in doppeltem Sinn aufgehoben, daß er in die Sache hineingenommen wird und in ihr verschwindet. Man könnte sagen, Kritik sei die paradoxe Einheit eines durchaus passivischen, fast weichen sich der Sache Hingebens und der größten Bestimmtheit des Urteils.« (GS 19: 578)5 Adorno attestiert der Vorstellung, im Modus der begrifflichen Erfahrung, »den Dingen auf den Grund zu gehen, nämlich auf den Boden der Dinge zu gelangen« (PT I: 148), eine genaue Bestimmung der raison d’être der Entäußerung. Gleichzeitig zieht er hinsichtlich ihres Zweckes eine Grenze, die er bei Hegel überschritten sieht. Es gelte in Bezug auf Hegels Rechtfertigung der Entäußerung, den »Anspruch [zu] kassieren, nicht länger sich und anderen einreden, sie verfüge über das Unendliche. […] Ihren Gehalt sucht sie wahrhaft in der von keinem Schema zugerichteten Mannigfaltigkeit der Gegenstände auf, die sich ihr aufdrängen, oder die sie wählt; ihnen überließe sie sich im Ernst, benützte sie nicht als Spiegel, aus dem sie sich selbst herausliest, ihr Abbild verwechselnd mit der Konkretion.« (TGE: 231; Herv. rb) Gegenüber der Logik der Verfügung und dem Ansinnen der begrifflichen Selbstreflexion kommt hier die Forderung nach einem ›ernsthaften‹ Sichüberlassen zur Sprache. Was es ernsthaft werden lässt: dass die Erfahrung in Bezug auf die geschichtliche Wirklichkeit »unablässig in der allerengsten Fühlung sein muß und der sie [sich] doch nicht ganz sich überlassen darf« (PT I: 90). Entäußerung bedeutet weder Selbstverlust, noch ist sie bloßer Zweck einer Rückführung des Anderen in sich selbst6 . Aufgebrochen wird die schlechte Alternative zwischen Selbstaufgabe und Selbstversenkung durch ihre allegorische Vermittlung. Wenn es darum geht, den Begriff der Entäußerung allegorisch aufzubrechen, dann verbirgt sich dahinter mehr als eine Begriffskritik in Form eines logischen Diskurses. Es geht in grundsätzlicher Weise um eine Umkehrung des philosophischen Blicks (vgl. Knatz 2007). Zur Erläuterung dieser These greife ich zurück auf einen programmatischen Gedanken, den Adorno in der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit ausführt: »Natur offenbart sich unter diesem Blick, unter dem allegorischen Tiefblick, der vielleicht doch das Modell des philosophischen Blicks überhaupt ist – die Haltung der me5
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Die im Denken Adornos präsente paradoxale Verstrickung zwischen der Kritik am Urteil als Stillstellung der kritischen Bewegung und der Notwendigkeit des bündigen Urteils für kritisches Denken entfaltet Quent (2019). So heißt es bei Hegel in der Enzyklopädie der Wissenschaften: »Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als die verschiedenen Weisen der Zurückführung des Äußeren zur Innerlichkeit, welche der Geist selber ist.« (W 10: 21)
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lancholischen Versenkung ist ja wohl die Verhaltensweise, an der überhaupt die philosophische Verhaltensweise sich gebildet hat –, […] als Geschichte […]. Umgekehrt ist es so […], daß Geschichte als Natur […] sich erweist als permanente Vergängnis. Und dieses: das Eingedenken an das Vergangene, die Erinnerung in dem Phänomen selber, ist die Verhaltensweise oder […] das Schema, nach dem Deutung sich vollzieht; ist aber zugleich auch, eben als eine solche Haltung der Schwermut, die in allem Geschichtlichen der Vergängnis inne wird, eine kritische Haltung.« (LGF: 188; Herv. i.O.) Was Adorno hier zu versuchen scheint, ist so etwas wie eine bildungsphilosophische Therapie: Dem ›Leiden‹ der Bildung am Narzissmus des Begriffs soll durch die ›Schwermut‹ des allegorischen Tiefblicks begegnet werden. Diese Deutung lässt sich zuspitzen auf die These einer Allegorisierung der Entäußerung durch die Integration von Naturgeschichte in den Prozess der Bildung. Die Entfaltung dieser These entspricht einer Reformulierung von Bildung unter dem Aspekt der Melancholie. Damit vollzieht Adorno den Übergang von einem unglücklichen zu einem melancholischen Bewusstsein: »Die tätig gewordene, die nicht bei sich selbst als unglückliches Bewusstsein sich bescheidende, sondern so den Phänomenen gegenüber kritisch sich entäußernde Melancholie […]. Wenn Sie die Phänomene der Geschichte lesen als Chiffren ihrer eigenen Vergängnis oder ihrer eigenen Naturverfallenheit, so werden sie damit zugleich immer auch bestimmt in ihrer eigenen Negativität. Und dieses Moment der Negativität ist das Kritische der Philosophie. Deutung und Kritik dürften in einem tiefsten Sinn miteinander koinzidieren. […] Deutung lockt aus den Phänomenen, aus der zweiten Natur, aus dem […] durch Geschichte und Gesellschaft Vermittelten, das uns umgibt, ihr Gewordensein heraus, – ebenso wie das Gewordensein nicht ist, ohne daß dabei der Prozess seiner eigenen Naturwüchsigkeit überführt und das Werden seinerseits selber […] als ein Naturverhältnis verstanden würde.« (LGF: 188f.; Herv. rb) Adornos Bestimmung des melancholischen Bewusstseins gibt Aufschluss darüber, was es heißt Bildung im Horizont naturgeschichtlicher Deutung zu reformulieren. Bildung im Zeichen von Naturgeschichte bezeichnet den Prozess, in dem das melancholische – anders als das bei sich selbst bleibende – Bewusstsein sich an das Phänomen entäußert. Dies führt zu einer Erfahrung der Entfremdung, deren Versachlichung ein spezifisches Moment zum Vorschein bringt: die Gewordenheit der zweiten Natur. »Bildung«, so Casale und Oswald, »ist in diesem Sinn das Begreifen der Entfremdung, nicht deren Aufhebung.« (Casale/Oswald 2019: 78) Das Moment der Negativität beschränkt sich hier nicht auf die Erfahrung des entfremdeten Bewusstseins, sondern weist auch zurück auf die Naturverfallenheit der Phänomene selbst. Adorno treibt den Gedanken bis zu dem Punkt, an dem Naturgeschichte zur Kategorie der Erkenntnis selbst wird: »Also der melancholische Tiefblick […], wird an dem Gewordensein das Werden, oder sein Gewordensein, nur dann entdecken können, wenn er an das Phänomen zugleich auch von sich aus schon das Bewusstsein seines Gewordenseins heranbringt.« (LGF: 189f.)7 Ob7
In der Figur des Heranbringens zeigt sich die andere Seite der Entäußerung. Neben den Momenten der Entfremdung und Versenkung, die es ermöglichen, »Nähe zu den Sachgehalten« (TGE: 236) zu gewinnen, handelt es sich bei der Entäußerung auf andere Weise um eine Überschreitungsbewegung. Bereits in der Beschreibung der essayistischen Form war von ihr die Rede, und
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wohl Adorno bezweifelt, dass ohne die Absehung von Vorurteilen, überhaupt Erkenntnisse über die Phänomene gewonnen werden können, spielt nun der vage kontrollierte, subjektive Impuls in der »gedankliche[n] Konfiguration melancholischer Kritik« (Thole 2013: 151) eine zentrale Rolle. Hinter der Bedingung einer melancholisch vermittelten ›Freiheit zum Objekt‹ stehe auch die Vorstellung, eine jede Person könne »überhaupt irgendetwas Wesentliches nicht etwa dann erkennen […], wenn ich dabei von mir als einem Erkennenden möglichst absehe, sondern wenn ich alles, was ich selber an Innervationen, an Regungen, an Willen, an Intentionen habe, in diese Erkenntnis mit hineingebe« (ET: 36). Es geht nun darum, die Übersetzung des subjektiven Impulses in den Prozess naturgeschichtlicher Deutung der Phänomene zu verstehen. In der Verbindung von Naturgeschichte und Melancholie stellt sich eine Konstellation zwischen historischer Struktur, erkenntnistheoretischer Kategorie und individueller Erfahrung dar, die auf die Formel der ›Reflexionen aus dem beschädigten Leben‹ gebracht werden kann. Das ›beschädigte Leben‹ trägt die »Signatur eines von Widersprüchen zerrissenen Zeitalters« (Seel 2006: 34) und ist darum für Adorno Gegenstand und Antriebspunkt der melancholischen Kritik. Mit der Hinwendung zur Figur des beschädigten Lebens ist gleichzeitig die Absicht verbunden, der melancholischen Deutung einen geschichtlichen Ort zu geben: den melancholischen Körper. Diese Wendung ist in den Minima Moralia, die Martin Seel (2006) zufolge versuche, die Möglichkeiten des Philosophieren von der subjektiven Erfahrung her darzustellen und »vom eigenen Leibe her Aufschluss über allgemeine theoretische und historische Verhältnisse zu gewinnen« (ebd.: 35), der Sache nach vorbereitet. Die Versenkung in das beschädigte Leben, gibt der Erkenntnis ihre melancholische Richtung sowie ihren objektiven Grundzug und wirkt der Tendenz entgegen den melancholischen Körper zu individualisieren. Stattdessen handelt es sich hierbei um eine geschichtsphilosophische Figur, die vor dem Hintergrund von Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaards Begriff der Schwer-
auch hier betrifft sie den spekulativen Gestus des Zugangs in einem erweiterten Sinn. In der Theorie der Halbbildung bringt Adorno den Modus des spekulativen Gedankens in Zusammenhang mit dem überschüssigen Potential des ›Sich-zu-weit-Vorwagens‹: »Aber theoretischen Entwürfen ist es eigentümlich, daß sie mit den Forschungsbefunden nicht blank übereinstimmen; daß sie gegenüber diesen sich exponieren, zu weit vorwagen, oder, nach der Sprache der Sozialforschung, zu falschen Generealisationen neigen. Eben darum war, abgesehen von den administrativen und kommerziellen Bedürfnissen, die Entwicklung der empirisch-soziologischen Methoden notwendig. Ohne jenes Sich-zu-weit-Vorwagen der Spekulation jedoch, ohne das unvermeidliche Moment von Unwahrheit in der Theorie wäre diese überhaupt nicht möglich: sie beschiede sich zur bloßen Abbreviatur der Tatsachen, die sie damit unbegriffen, im eigentlichen Sinne vorwissenschaftlich ließe.« (THB: 101; Herv. rb)
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mut entfaltet werden kann als Konstellation von Entfremdung, Sinnverlust und dem Gefühl der Trauer8 . In den Abschnitten Der spirituelle Leib und Schwermut wendet sich Adorno in immanent-kritischer Absicht Kierkegaards Auffassung von »Schwermut als spiritueller Leib des Selbst« (GS 2: 92) zu. Mit der Spiritualisierung des Körpers im Leib schließt Kierkegaard an die auf seelische Innerlichkeit gerichtete Tradition der christlichen Acedia an, welche das Gefühl der Schwermut ursächlich auf schuld- und sündhaftes Verhalten und Handeln der Einzelnen zurückführt (vgl. Pocai 2006: 16)9 . Um Körper und Seele aus der Entfremdung zu befreien, werden seelische Innerlichkeit und Unmittelbarkeit des Leibes zur Zufluchtsstätte des Subjekts. Adornos Kritik richtet sich auf die Abstraktion
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Diese findet in der Habilitationsschrift Kierkegaard. Konstruktionen des Ästhetischen statt, in deren Zentrum Kierkegaards subjektphilosophischer Ansatz steht, der sich in der Figur der Innerlichkeit zuspitzt (vgl. GS 2: 42f.). In der Einleitung der Schrift gibt Adorno an, dass es darum gehe, im »Fuchsbau der unendlich reflektierten Innerlichkeit ihn [Kierkegaard; rb] zu stellen« (GS 2: 21). Dies bedeutet in concreto, ein geschichtliches und dialektisches Licht auf den Entwurf einer Subjektphilosophie der Innerlichkeit zu werfen. Adorno interpretiert Kierkegaards philosophischen Ansatz als Antwort auf die moderne geschichtliche Erfahrung der »Entfremdung von Subjekt und Objekt« (GS 2: 42), die die Idee einer »Substantialität des Subjekts« (ebd.: 45) als Schein hervorbringt: »Nur Trümmer des Seienden rettet Subjektivität im Bilde des konkreten Menschen. In ihren schmerzlichen Affekten trauert sie als objektlose Innerlichkeit wie den Dingen so dem ›Sinn‹ nach.« (Ebd.: 46) Acedia, bekannt auch als Mönchskrankheit, bezeichnet gleichsam ein körperliches, »intellektuelles und spirituelles Leiden« (Hersant 2005: 55), das sich in unterschiedlichen Symptomen ausdrückt. Eine zentrale Rolle nehmen die Gefühle von Traurigkeit und Schwermut ein, die dafür sorgen, dass »keine körperliche Bewegung mehr möglich ist. Der Mensch verharrt, als ob er blödsinnig geworden wäre, in sich selbst unbeweglich« (ebd.: 58). Physisch wurden etwa Müdigkeit und emotionale Trägheit bis hin zu epileptischen Anfälle und Tollwut damit in Verbindung gebracht. Das christliche Erklärungsmuster besteht aus der Trias von Sünde, personaler Schuld und dämonischer Besessenheit. In einer »Physiognomik der Sünde […] verbinden die Beichtväter erkennbare physische Züge mit dem schuldhaften Verhalten der Sünder. So stößt also Acedia auf die Theorie über schwarze Galle: Die eine fügt […] das Geistige mit dem Körperlichen, die andere das Emotionale mit dem Somatischen zusammen.« (ebd.: 57) Die Idee der Melancholie hat ihre Wurzeln in der antiken Humoralpathologie, in der es darum geht, einen Zusammenhang zwischen symptomatischen Manifestationen, physischer Verfasstheit und der Umwelt herstellen, um zu erklären, wie spezifische psychische und physische Dispositionen entstehen oder zustande kommen können. Die Theorie der Melancholie entstand, Jean Starobinski (2005 [1963]) zufolge, »als Philosophen und Ärzte auf den Gedanken kamen, Angst, Traurigkeit und Irrungen des Geistes auf eine natürliche Ursache zurückzuführen, deren Erklärung überzeugend genug sein sollte, alle mythischen Deutungen zu verdrängen« (ebd.: 24). In seinem Aufsatz Trauer und Melancholie (1999 [1917]) kommt Freud zu der Einsicht, auf psychischer Ebene zeichne sich die Melancholie aus »durch eine tiefe schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe steigert« (ebd.: 429). Es ist interessant zu sehen, dass Adornos Auffassung der Melancholie, die sich auszeichnet durch eine Zuneigung zu den Phänomenen, ein ausgesprochenes ›Interesses für die Außenwelt‹ und einen gewissen Erkenntnisdrang eine fast schon diametrale Position sowohl zu der religiösen Auffassung der Acedia wie auch der psychoanalytischen Konzeption der Melancholie einzunehmen scheint.
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des Leibes vom Körper und die mit der Tilgung des körperlichen Substrats einhergehende Ausschließung der Geschichte (vgl. GS 2: 45). Die Transformation des Körpers in eine geistig-spirituelle Repräsentationsform manifestiere sich etwa dort, wo »die Rede von Verlangen, Begehren, fruchtbarer Umarmung als ablösbare Metaphern [für] die Produktivität bloßen Geistes« (GS 2: 79) dienen. Das Anliegen, die sich in der Trauer auf körperliche Weise ausdrückende Entfremdung in der Idee der Schwermut als Erfahrungsweise des spirituellen Leibes aufzuheben, habe letztlich zur Konsequenz, den »Leib nur im Zeichen der ›Bedeutung‹ von Wahrheit und Unwahrheit des Geistes« (GS 2: 77) zu betrachten10 . Adornos Figur des melancholischen Körpers hingegen trägt die Signatur der Naturgeschichte, aus der sich dessen Bedeutung von Vergänglichkeit und Naturverfallenheit speist: »Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib.« (DdA: 267) Die Entmythologisierung des christlich fundierten Leibes befreit nicht nur den Körper aus seinem spiritualistischen Korsett, sondern kristallisiert ihn auch als Erscheinung von Natur heraus (vgl. Grüny 2012: 246). Dahinter steht die Vorstellung, dass es den Körper nur in der Form seines zeitlichen und geschichtlichen Erscheinens gibt. Daraus folgt für den melancholischen Körper der Bildung, dass sein ›allegorischer Tiefblick‹ die Naturverfallenheit der Geschichte stets unter der Bedingung der Todverfallenheit der eigenen Natur reflektiert. Mit dem Begriff der ›Todverfallenheit‹ schält sich eine weitere Vermittlungsfigur heraus, die in ihrer Funktion als Kategorie die Erfahrung und Bewusstwerdung von Geschichte strukturiert und darum an dieser Stelle einer kurzen Erläuterung bedarf11 . »Tod und Geschichte sind in Konstellation.« (M: 212) Den Tod als ein geschichtliches Bedingungsverhältnis – und vice versa Geschichte als ein Verhältnis der Naturverfallenheit – zu betrachten, verweist auf die These, dass »auch der Tod selbst […] in ganz verschiedenen Zeiten ein verschiedenes sein« (M: 166) könne. In den Überlegungen, die Adorno in der Vorlesung über Metaphysik an unterschiedlichen Stellen vorträgt und die sich auch in den Meditationen zur Metaphysik wiederfinden, lassen sich verschiedene Formen der Erfahrung von Naturverfallenheit herausarbeiten, die den Zusammenhang von Tod und Geschichte erhellen. Eine Form der Naturverfallenheit zeigt sich im Tod als Erfahrung des Lebendigen. Diese Form beschreibt das Paradox, physisch am Leben und dennoch Tod zu sein: »Der Schrecken vor dem Tod heute ist wesentlich Schrecken darüber, wie sehr die Lebendigen ihm ähnlich sind.« (Ebd.: 212) Für diese Erfahrung, in der »das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding macht« (MM: 263), findet Adorno das Bild eines Zustands, in dem »Menschen zwischen Leben und Tod vegetieren« (M: 10
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Zur Exemplifizierung der Analyse verweist Adorno auf Kierkegaards Auffassung der Ohren als »Organ der Innerlichkeit« (GS 2:78). Diese werden entsinnlicht und dadurch »zur leibhaften Repräsentanz des schlechthin Unleiblichen« ( ebd.). Auf diesen Zusammenhang weist auch Toni Tholen (2014) in seiner Arbeit über Melancholische Kritik bei Benjamin und Adorno hin. Dort heißt es: »Sowohl Benjamin als auch Adorno philosophieren von Beginn an im Zeichen von Negativität, Verlust und Tod. Der Geist ihrer Werke nährt sich in der dialektischen Bewegung von Leben und Tod, insofern diese ein Leben meint, das den Tod nicht nur erträgt, sondern auch austrägt, und umgekehrt den Tod so konstelliert, dass darin der Schein eines geretteten Lebens nicht erlischt. Das spezifische Leben des Geistes in Benjamin und Adornos Werk gibt sich […] in einer Grundstimmung und in einem gerichteten Verfahren zu erkennen. Die Grundstimmung ist die Melancholie und das Verfahren die Kritik.« (Ebd.: 146).
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184): das Leben in seiner verdinglichten Form. Oder wie Hans-Ernst Schiller (2019) es formuliert: »Verdinglichung wird zum prämortalen Tod.« (Ebd.: 43) Mit dem Begriff der Verdinglichung ist hier eine Erfahrungs- und Verhaltensweise bezeichnet, die auf einen Anpassungsprozess des lebendigen Daseins der Einzelnen an die Forderungen der Dingwelt zurückgeht: »Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter der Tod. Daran, daß er sie buchstäblich in Dinge verwandelt, werden sie ihres permanenten Todes, der Verdinglichung inne, der von ihnen mitverschuldeten Form ihrer Beziehungen.« (ND: 363; Herv. rb) Die Betrachtung der Verdinglichung als Tod hat Modellcharakter für Adornos Verständnis von Naturgeschichte: Der Tod wird beschrieben als eine Art ›Verwandlungsinstanz‹ zweiter Natur, durch die die Gewordenheit der letalen Dinglichkeit hinter dessen Schein von Permanenz bzw. von Immergleichheit verborgen wird. Gleichzeitig relativiert sich der Eindruck, dem Verdinglichungstod widerstandslos ausgeliefert zu sein, denn der Transformationsprozess wird auch als etwas gefasst, dass sich die Einzelnen selbst antun, indem sie die verdinglichten und verdinglichenden Strukturen in den Vollzugsformen ihrer Beziehungen reproduzieren. Neben den Bedeutungskomponenten Endlichkeit, Immergleicheit und zweite Natur ist mit dem Begriff der Naturverfallenheit noch eine weitere Dimension verbunden. In dem Gedanken der Vergänglichkeit drückt sich nicht nur die Einsicht aus, dass das Gegebene geworden ist und sich reproduziert, sondern es schließt auch die Vergänglichkeit der Vergänglichkeit selbst ein. Die Vergänglichkeit des geschichtlich erzeugten Todes des Lebendigen manifestiert sich nach Adorno in der »Erfahrung des Ist das denn alles?« (M: 224) Diese Erfahrung, in der sich »Spuren eines Lebendigen« (ebd.: 223) im Modus des Fragens, des Infragestellens des Gegebenen ausdrücken und die Möglichkeit implizieren, dass es anders sein könnte, bezeichnet unausgesprochen eine der zentralen Bedingung von Bildung. Da Bildung nicht ohne die Möglichkeit der Transformation zu denken ist, könne Adorno zufolge »nichts als lebendig auch nur erfahren werden, was nicht ein dem Leben Transzendentes zugleich verhieße. Dieses Transzendente ist also, und ist zugleich nicht, – und über diesen Widerspruch lässt sich wohl schwer, wahrscheinlich überhaupt nicht hinausdenken.« (ebd.: 226; Herv. i.O.) In der gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit von Sein und Nichtsein des Überschusses äußert sich eine Erfahrung, die der Möglichkeit nach ist, aber nicht – ohne in einen logischen Selbstwiderspruch zu geraten – auf Dauer gestellt werden kann. Denn würde man die Äußerung des Lebendigen im Transzendenten »als so eine Art kategorialer Struktur« (ebd.: 222) festlegen, würde man sie bereits als Möglichkeit stillstellen. Und diese Stillstellung äußert sich Adorno zufolge gerade im »Drang oder [der] Begierde« (LGF: 186), sinnlose Geschichte metaphysisch zu erhöhen, um »mit dieser Sinnlosigkeit fertig zu werden« (ebd.). Stattdessen müsse man die Möglichkeit in ihrem Zusammenhang mit der zeitlichen Dimension des Augenblicks begreifen. Im Begriff des Augenblicks drückt sich eine unmittelbare Erfahrung aus, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie im Moment ihres Geschehens nicht angeeignet werden kann. Stattdessen ist der Augenblick des Überschusses darauf angewiesen, im Rückgang, in der Erinnerung als solcher erkannt und in seinem Inhalt begriffen zu werden.
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Ein weiteres Phänomen, an dem sich die Konstellation von Tod und Geschichte analysieren lässt, ist die Metaphysik. Ihre Naturverfallenheit resultiert in Adornos Lesart aus dem Versuch, die »somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen« (ND: 358) zu verdrängen (vgl. Schmidt 1983: 27f.). Während in der Idee vom Augenblick der Transzendenz die geschichtliche Verklammerung weder negiert, noch aufgehoben wird, sei es das terminologisch und inhaltlich zum Vorschein kommende Anliegen der Metaphysik, sich aus eben jener geschichtlichen Vermittlung, nicht nur zu lösen, sondern sich »zum Organon oder gar dem Ursprung des Unbedingten« (M: 18) zu erheben12 . Die Deutung geht hierbei der These nach, dass die Einsicht in die Unausweichlichkeit des Todes nicht in der Lage sei, der Erfahrung des Todes standzuhalten. Statt den Tod als biologische, dem Zugriff der Geschichte entzogene Tatsache zu akzeptieren, werden Gedankengebäude errichtet, die versuchen, die Vergänglichkeit der menschlichen Natur intellektuell zu bearbeiten und dadurch beherrschbar zu machen. Der Versuch der souveränen Aneignung des Todes zeigt sich etwa in Denkfiguren, die den Tod als Utopie einer Erlösung oder einer Versöhnung von Leben und Tod konstruieren (vgl. Schiller 2019). Doch, so Adornos Entgegnung, auch die »metaphysische Erhöhung entbindet [nicht] von seiner Erfahrung« (ND: 362). Psychoanalytisch betrachtet, stellt die in dem metaphysischen Umgang mit der Endlichkeit zum Ausdruck kommende »Weigerung, den Tod als Natur hinzunehmen« (Schiller 2019: 39), eine Strategie dar, die Ohnmacht gegenüber der physischen Naturtatsache des Todes zu bewältigen. Dabei geht es nicht nur darum, den Tod in Gestalt einer Vorstellung bzw. eines Gedankens zu bearbeiten. Vielmehr geht die Herausbildung der ›psychischen‹ Schicht der Metaphysik zurück auf die Erfahrung der Vergänglichkeit im ganz unmittelbaren Sinn: »Es ist ja beinahe so, als ob die Philosophie […] einem einzigen Impuls gehorchen würde: nur von dort wegzugehen, wo Aas, Gestank und Fäulnis ist.« (M: 184) Mit der Zuspitzung der Erfahrung von »Zerfall« und »Hinfälligkeit« (ebd.: 210) auf das Moment der Verwesung bricht der Gedankengang die Trennung von Metaphysik und Geschichte, von Philosophie und Vergängnis auf und kommt über die »Beziehung […] zum Tod als dem Niedrigen, Widerlichen und Naturverfallenen, dem wir bis heute unterworfen sind« (PT II: 180) zu dem, was in jedem »Abstraktionsbegriff« und in jedem »Kategorisierungsprozess« (ebd.: 177) immer schon vorausgesetzt ist: »der unmittelbare Verweis auf den Leib jenes einzelnen Menschen« (ebd.). Adornos Interpretation der Naturverfallenheit der Phänomene, des Bewusstseins oder der Geschichte ist immer auch der Versuch, »die armseligste physische Existenz« (M: 183) in den Manifestationen zweiter Natur sichtbar zu machen. Übertragen auf die Analyse der Genese der Metaphysik oder im weitesten Sinne der Philosophie, bedeutet dies: Naturverfallenheit, die aus der Verdrängung des Todes resultiert, kann nicht losgelöst von der Naturverfallenheit betrachtet werden, die in dem »Moment des Abscheus vor dem physischen Schmerz des, wie Brecht es einmal ausgedrückt hat, quälbaren Körpers« (ebd.: 182) zur Erfahrung kommt.
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Ein zentraler Gegenstand, an dem Adorno seine Kritik an der »metaphysische[n] Erhöhung« entwickelt, ist das, was er die »sinngebenden Reflexionen über den Tod« (ND: 362) nennt. Die Kritik basiert auf der Auffassung, dass der Tod gleichzeitig ›Motor‹ des, die Limitationen der Natur übersteigenden, Denkens und Ausweis der Naturverfallenheit metaphysischen Denkens ist.
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Die Auseinandersetzung mit der Erfahrung körperlichen Schmerzes und der Angst vor dem Tod führt zu einer Form der Entfremdung, die Grenze der Möglichkeit von Philosophie, von Bildung bestimmt, weil sie nicht angeeignet werden kann. Eine der zentralen somatischen Erfahrungen, die die Grenze von Bildung bestimmt, ist die Erfahrung von Krankheit (vgl. Casale 2020c). Krankheit als Manifestationsweise der Verfallenheit an die Natur kennzeichnet, »den Tod und seine Boten, die Krankheiten, als heterogen, ichfremd« (ND: 362) zu erfahren. Tod und Krankheit sind durch eine ganz eigene Dynamik von Entfremdung gekennzeichnet, ihre Erfahrung ist eine Entfremdung im doppelten Sinn. Krankheit als körperliche Erfahrung der Entfremdung ist, wie Casale formuliert »keine der Aneignung. Sie ist eher die Erfahrung einer erlebten Disfunktion […]. Die Abweichung des Körpers wird als Lebensbedrohung erlebt, als Erfahrung der Negativität par excellence. Die Krankheit vergegenwärtigt die menschliche Endlichkeit, indem sie den iterativen Prozess der Todesverdrängung als Lebenserfahrung verunmöglicht. […] In der Krankheit erfährt man eher die Ohnmacht des Willens […], die Erfahrung der Unverfügbarkeit, die sich in einer Art nüchterner Absolutheit zeigt: Sie ist einfach sinnlos, es gibt nichts zu verstehen. Die Sinnlosigkeit der Krankheit macht sie unerträglich.« (Casale 2020c: 16)13 Die Charakterisierung der Krankheit als sinnlos und unverfügbar betrifft auch das Moment ihrer Kontingenz. Sie wird, wie der Tod, sich notwendigerweise ereignen. Ihr Eintreten ist gewiss, ungewiss ist jedoch, wann aus der Möglichkeit, krank zu werden oder zu sterben, Wirklichkeit wird. Die Unfähigkeit, die Kontingenz intellektuell oder technisch zu bewältigen, führt dazu, »den Tod oder schon eine schwere Erkrankung als ein uns widerfahrendes, als ein uns äußerliches Unglück [zu] erfahren« (M: 210). In der Begrifflichkeit des Widerfahrenden drückt sich ein Paradox aus. Die Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit von Krankheit und Tod lassen den Eindruck entstehen, dass es sich dabei um ein von außen kommendes Ereignis handelt, während es doch dasjenige betrifft, das für die Einzelnen das Unmittelbarste ist, nämlich den Körper in seiner Naturverfallenheit. Zugleich erkennt Adorno in der »Erfahrung des Todes als eines Zufälligen und Äußerlichen – sie ist ein bißchen so, wie man es empfindet, wenn man von einer Krankheit angesteckt wird und gar nicht recht weiß, wie man dazu kommt; davon hat die Erfahrung des Todes etwas – ein Moment, das mit der Selbstständigkeit des Geistes zusammenhängt, damit, daß der Geist eben doch so weit sich entrungen hat, so sehr sich verselbstständigt hat gegenüber dem, was wir bloß sind, daß gerade daran auch so etwas wie die Hoffnung, daß das nicht alles sein könnte, sich zu knüpfen vermag.« (Ebd.: 210f.)
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Entfremdung durch Krankheit und Tod wird von Casale(2020c) »nicht als Metapher für gesellschaftliche Probleme verstanden […], sondern […] als Chiffre, als Spur einer Berührung zwischen Drinnen und Draußen, als Indiz für die Porosität des Körpers. Nicht nur jede Form von Zivilisation kennt spezifische Formen von Krankheiten, vielmehr ist die Naturgeschichte des Körpers selbst nicht von der Geschichte der menschlichen Krankheiten zu trennen.« (: 16)
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In diesem Gedanken ist die eigentümliche Dialektik von Adornos Perspektive auf Krankheit und Tod als Gleichzeitigkeit der Möglichkeit und Wirklichkeit von Naturverfallenheit angedeutet. Ausgehend von der Erfahrung, den eigenen Körper zwar verdrängen, sich seiner aber nicht entledigen zu können, verwandeln Kontingenz, Unverfügbarkeit und Unausweichlichkeit von Krankheit und Tod, den Körper in eine Bedingung absoluter Entfremdung. Zugleich zeigt sich in der Formulierung dieses Gedankens, in der Bewusstwerdung dieser Erfahrung das »Moment des Nicht-in-denblinden-Zusammenhang-Hineingeschlungenen« (ebd.: 211). Die Antwort, die Adorno auf die Bedrohung durch Krankheit und Tod zu geben scheint, ist weder Verdrängung, noch Depression, sondern das, was man Bildung im Medium der Melancholie nennen könnte. Mit der Bestimmung des melancholischen Bewusstseins konturiert sich eine Form des Wissens heraus, »in der das Bewußtsein mit dem Tod sich abfindet« (ND: 364), ohne jedoch vor der Naturverfallenheit zu resignieren. In der Möglichkeit, die Erfahrung der Naturverfallenheit zu transzendieren, öffnet sich das melancholische Bewusstsein für das, was Adorno als das ›Glück der Deutung‹ bezeichnet: »Das Glück der Deutung heißt nämlich: die Kraft, sich nicht von dem Schein der Unmittelbarkeit verblenden zu lassen, sondern […] über den Schein hinaus zu kommen; und es heißt zugleich auch die Kraft des Geistes, […] in einem tiefen Sinn das Seinerselbst-mächtig-Bleiben im Angesicht der Übermacht der Natur, im Angesicht der totalen Vergängnis.« (LGF: 193; Herv. rb) Was Adorno hier als ›Glück der Deutung‹ beschreibt, ist eine präzise Bestimmung dessen, was die Figurierung von Bildung als Vermittlung beschreibt. Mit der Auffassung von Bildung als Vermittlung werden die Fäden dialektischer Erfahrung wieder aufgenommen und mit dem Begriff des melancholischen Bewusstseins in zweierlei Hinsicht verknüpft. Zum einen besteht eine strukturelle Überschneidung zwischen der Transzendierung des Scheins der Unmittelbarkeit und der dialektischen Erfahrung des immanenten Vermittlungszusammenhangs des Phänomens. Beiden geht es darum, durch die Zergliederung der Fassade zweiter Natur und die Entäußerung an das Phänomen einen Zugang zu schaffen, der die begriffliche Erschließung von dessen Gewordenheit und Bedingungen ermöglicht. Eine weitere Qualität der vermittelnden Bildung liegt in der ›Kraft des Geistes‹, die die Melancholie des Bewusstseins überwindet. Während es die Bestimmung des melancholischen Bewusstseins ist, sich zu entäußern und von sich selbst zu abstrahieren, ist es die Aufgabe jener geistigen Kraft, die Erfahrung der Entfremdung zu überschreiten. Adorno beschreibt diesen Prozess als Übergang vom melancholischen Bewusstsein zum Subjekt: »Zum Subjekt wird Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewusstseins sich objektiviert, in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Erfahrungen. […] Weil sie in sich allgemein ist, und soweit sie es ist, reicht individuelle Erfahrung auch ans Allgemeine heran.« (ND: 56) Der Begriff der Objektivierung wird zum Schlüsselbegriff für Adornos bildungstheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Erfahrung, Erkenntnis und Allgemeinem sowie für dessen Kritik an der Auffassung von Bildung als Selbstverhältnis (vgl. Casale 2020/21). Die Beschreibung von Bildung als Prozess der Verobjektivierung erläutert den Erkenntnisprozess als eine spezifische Weise der Subjektwerdung, die nicht nur gebunden ist an die Dialektik zwischen Erfahrung und Bewusstwerdung der Erfahrung, sondern eingebettet ist in
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
einen, die einzelne Existenz, übergreifenden Zusammenhang. Während dieser Zusammenhang in der idealistischen Tradition der Bildungsreflexion in einem geschichtsphilosophischen Horizont gedacht wird, stellt für Adorno das Allgemeine, das zwischen Erfahrung und Phänomen vermittelt, »die gesellschaftliche Totalität« (ND: 57) dar.
2.1.2
Geschichtsphilosophie der Nichtidentität
Die klassischen Bildungstheorien, so Klafki (1986), basieren fast durchgehend auf der Konzeption von Geschichte als Universalgeschichte: »Im großen Maßstab betrachtet, wird die Menschheitsgeschichte als Prozess der Freisetzung des Menschen zur Selbstbestimmung und zur Versöhnung von Geistigkeit und Naturhaftigkeit verstanden.« (Ebd.: 461) Konzeptionen von Universalgeschichte befassen sich mit der Frage nach dem Grund, der Form und dem Ziel der Entwicklung der Menschheit als Gattung. Die Vorstellung einer sich auf ein Ziel hinbewegenden Menschheit bildet den geschichtlichen Rahmen, dessen Einheit sich durch eine Idee, etwa Freiheit oder Weltbürgertum konstituiert und durch ein Bewegungsprinzip, etwa Vernunft oder Weltgeist, vollzogen wird. Angetrieben von dem Telos der Selbstverwirklichung der Menschheit wird Geschichte gedacht als kontinuierlicher Prozess von Fortschritt und Höherentwicklung. Adornos immanente Kritik der geschichtsphilosophischen Prämissen des idealistischen Bildungsbegriffs bezieht sich auf die Bestimmung von Geschichte als Universalgeschichte des Fortschritts und von Bildung als zentrale Bedingung des Fortschritts. Geführt wird diese Kritik als Auseinandersetzung mit Hegels Konzeption der Geschichte als Fortschrittsprozess der Vernunft. Grundlegende Bedingung der »systematischen Philosophie von Geschichte« sei, so Hans Friedrich Fulda (1986), »ein angebbares Subjekt, das Geschichte hat« (ebd.: 63). Hegel nennt dieses Subjekt Geist. Mit dem Begriff des Geistes und seinen verschiedenen Manifestationsweisen (subjektiv, objektiv, absolut) erörtert Hegel den Gang der Geschichte als Fortschrittsprozess der menschlichen Gattung in intellektueller, sozialer und weltgeschichtlicher Hinsicht. Die Bestimmung von Geschichte als Fortschrittsprozess der Vernunft denkt Geist nicht nur als einheitsstiftendes Subjekt der Geschichte, sondern macht Bildung auch zur »Grundkategorie der Geschichtlichkeit des Geistes« (Lichtenstein 1966: 28). Hegels Philosophie des Bewusstseins liegt die These zugrunde, dass der Geist eine Bildungsgeschichte besitzt. Insofern ist der Fortschrittsprozess der Geschichte nicht zu trennen vom Bildungsprozess des Bewusstseins und der Geschichte der Bildung der Welt. Ihr begrifflicher Zusammenhang verdichtet sich in der Idee einer Fortschrittsgeschichte von Freiheit: »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« (W 12: 32) Bildung als Bedingung geschichtlicher Einheit geht zurück auf die Erfahrung des Bewusstseins, in welcher das Bewusstsein in verobjektivierter Form vorhanden ist, und der Welt als Repräsentantin von Bildung. Eingeschlossen ist das Verhältnis von Bewusstsein und Welt in einen weltgeschichtlichen und staatlichen Rahmen. Hegels Philosophie der Geschichte geht von dem Gedanken aus, »daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei« (W 7: 20). Seine Rechtsphilosophie ist von der Auffassung geprägt, dass Vernunft in den institu-
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Das hinzutretende Dritte
tionalisierten und »praktischen Seinsweisen des Menschen« (Angehrn 1991: 92) in Form des Allgemeinen repräsentiert wird14 . Bildung als Erkenntnis im Medium des Allgemeinen bezeichnet einen Prozess, in welchem die Einzelnen »auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen (müssen), aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Weges, der ausgearbeitet und geebnet ist« (W 3: 32)15 . Im Bildungsprozess fallen Voraussetzung und Zweck allgemeiner Freiheit in eins, ohne aber dasselbe zu sein. Geschichtsphilosophisch formuliert: Der Prozess, der zur Freiheit des Bewusstseins und zur Freiheit des Objektiven führt, ist identisch, weil sie dasselbe wollen: die Erkenntnis des vernünftigen Allgemeinen. Zugleich ist der Prozess verschieden, weil ersteres letzteres voraussetzt. Um das Allgemeine als vernünftig erkennen zu können, muss es bereits immer schon vernünftig gewesen sein. Hegel löst diesen Widerspruch, indem er Bildung als denjenigen Prozess bestimmt, der beide Zwecke dialektisch zusammendenkt. Die Bildung des Bewusstseins und die Bildung der Welt werden also in einem geschichtlichen Prozess, dessen Kern der Fortschritt der Vernunft bildet, durcheinander hervorgebracht. Oder anders formuliert: Zusammengehalten wird die Einheit von individueller und sozialer Bildung in den Aspekten von Fortschritt und Freiheit, deren Fundament die alles vermittelnde Vernunft in der Geschichte darstellt.
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Emil Angehrns (1991) Studie zur Geschichtsphilosophie verdanke ich zentrale Einsichten und Impulse für die Erörterung von Adornos Überlegungen zur Konstruktion von Geschichte. Anliegen der Studie ist es, »in historischer Reflexion eine Art Selbstverständigung der Geschichtsphilosophie über ihre Fragen, Voraussetzungen und Grenzen zu unternehmen« (ebd.: 13). Wie bei Adorno wird Geschichte von Angehrn weder als ein Naturverhältnis betrachtet, noch unmittelbar mit realhistorischen Prozessen identifiziert. Stattdessen fußt die Erkundung auf dem Interesse an Geschichte als erkenntnistheoretischem Gegenstand. Im Folgenden greife ich immer wieder auf Angehrns Analysen der verschiedenen Formen der Bestimmung, Vergegenständlichung und inhaltlichen Deutung von Geschichte seit der Antike, welche die »Vorgeschichte« (ebd.: 14) der Geschichtsphilosophie bildet, zurück. »Das Allgemeine der Vernunft wird in erkenntnistheoretischer und praktischer Hinsicht als vermittelt betrachtet. Das Allgemeine als die Form der Vernunft ist im hegelschen Sinn keine transzendentale Setzung. Vielmehr ist es einerseits als Ergebnis einer gesellschaftlichen Regulierung individueller Bedürfnisse durch ein Gesetz zu betrachten, das die Freiheit aller seiner Mitglieder verspricht, anderseits als das Resultat eines geschichtlichen Prozesses, der in der Französischen Revolution seinen Höhepunkt erreicht hat. Die Möglichkeit des Allgemeinen setzt insofern seine Institutionalisierung bzw. Verobjektivierung im Staat voraus. Nur der Staat als verobjektivierte Instanz des Allgemeinen ist sittlich. Seine Sittlichkeit, d.h. seine Vertretung des Allgemeinen ist die Quelle seiner Autorität, der gesellschaftlichen Autorität. Der Staat ist der Repräsentant der Autorität in der doppelten Funktion des Erben und des Vertreters. Er repräsentiert in verobjektivierter Form den geschichtlichen Fortschritt der Menschheit und in sittlicher Form die Bedürfnisse der Gesellschaft. Geschichtsphilosophisch historisiert Hegel das Allgemeine, indem er es als Ergebnis eines historischen Prozesses betrachtet. Rechtsphilosophisch verankert er das Allgemeine im Staat als dessen Verobjektivierung. Ohne Staat gäbe es in diesem Sinn kein Allgemeines und damit auch keine Gesellschaft. Die Individuen würden losgelöst voneinander leben, sie wären eine Multitude. Indem Hegel das Allgemeine veräußert, in Abhängigkeit zu einer Instanz setzt, die zugleich abstrakt (das Recht) und konkret (die historische Form der Institutionen) ist, negiert er im Vergleich zu Kant die transzendentale Begründung des Allgemeinen.« (Casale 2016b: 218)
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
Mit der Bestimmung von Bildung als werdende Sittlichkeit zeigt der idealistische Bildungsbegriff, dass er mehr einbegreift als nur die Bestimmung eines individuellen Erfahrungsprozesses16 . Durch den geschichtsphilosophischen Horizont tritt Bildung als Bewusstwerdungsprozess der Einzelnen in den Dienst des Bewusstwerdungsprozesses des Allgemeinen, der Menschheit als Gattung, ein. Die Bestimmung der Bildung realisiert sich im Medium und zum Zweck des Allgemeinen, d.h. der Überwindung der Einzelheit und Realisierung freier Subjektivität im Allgemeinen. Aus universalgeschichtlicher Perspektive handelt es sich bei Bildung als Realisierung freier Subjektivität um einen Prozess, der gewissermaßen a priori und teleologisch immer schon in einen menschheitsgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist. In bildungstheoretischer Hinsicht abstrahiert Universalgeschichte als Gattungsgeschichte daher von der Existenz und Erfahrung der einzelnen Menschen. Sie werden in der Fortschrittsgeschichte zu abstrakten Repräsentationen des geschichtlichen Vernunftprinzips. Die Logik von Fortschritt und Repräsentation sowie das Telos der Geschichte bilden nicht nur zentrale Elemente der idealistischen Auffassung von Bildung, sondern auch die zentralen Phänomene, auf deren Erschließung Adornos Konzeption einer Geschichtsphilosophie der Nichtidentität zurückgeführt werden kann. Ihre Rekonstruktion charakterisieren zwei Dimensionen: zum einen wird die Konzeption gelesen als eine Verschiebung von Universalgeschichte in Naturgeschichte, genauer gesagt: von einer philosophischen Betrachtung der Geschichte als Ganzes zu einer geschichtsphilosophischen Konstruktion von Geschichte als Dialektik zwischen Erkenntnis und geschichtlichem Prozess; zum anderen wird sie nachvollzogen als negativ-dialektische Bestimmung von Geschichte, d.h. Geschichte wird als fortschreitender Prozess in seiner Notwendigkeit erkannt, ihr Fortschritt aber nicht mit Freiheit und Vernunft identifiziert (vgl. Städtler 2019: 32). Mit dem Begriff der Naturgeschichte wurde bisher dem Umstand Rechnung getragen, dass dem Gegebenen die Erfahrungen des Gewordenseins und der Naturverfallenheit zugrunde liegen. Nun geht es darum, Geschichte als Universalgeschichte selbst zum Phänomen geschichtlicher Deutung zu machen. Die Selbstreflexion geschichtlichen Denkens basiert auf historischen Kategorien, die aber nicht im Sinne einer kategorialen Bestimmung a priori gegeben sind, sondern durch die Reflexion von Geschichte als zweiter Natur erst konstruiert werden müssen. Adorno vollzieht diese Konstruktion am Modell der Universalgeschichte und ihrer bereits dargelegten Vorstellung »einer durchgehenden Geschichte der Menschheit […] als eine Höherentwicklung« (LGF: 118; Herv. rb) nach. Paradigmatisch für diese Grundidee steht Hegels geschichtsphilosophische Programmatik, welche Geschichte nicht nur als Raum versteht, in dem historische Einzelereignisse und soziale Lebensverhältnisse und kulturelle Errungenschaften zufällig 16
Sie beansprucht die »Vermittlung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht nur logisch zu denken, sondern zugleich zu demonstrieren, wie sich jene Vermittlung faktisch in Sozialbeziehungen, Tätigkeits- und Wissensformen ereignet und formt. Hegel gelingt es damit zu zeigen, wie das Ideelle, das Allgemeine, aus und in den praktischen Lebensvollzügen ›entsteht‹ und wirksam wird, wie es also zur (eigentlichen) Realität für menschliche Individuen wird. Dieser Vermittlungsvollzug, der niemals abgeschlossen, sondern um der Lebendigkeit der Sittlichkeit willen je zu erneuern oder zu vollziehen ist, könnte vielleicht als Bildung im vollen Sinne bezeichnet werden.« (Schmidt 2013: 118f.)
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geschehen und äußerlich verknüpft sind, sondern auch dahingehend begreift, dass ihnen ein notwendiger Zusammenhang innewohnt, der sich im Weltgeist repräsentiert17 . Die Selbstreflexion von Universalgeschichte im Modell des Weltgeistes stellt sich zwei Fragen, die getrennt voneinander beantwortet werden: Welche Potentialität wohnt dem Modell nach der Kritik durch den Positivismus, deren Interesse in erster Linie dem faktischen historisch-empirischen Detail gilt sowie der unausweichlichen Verkehrung von Geschichte in zweite Natur noch inne? Im zweiten Schritt befasst sich die Selbstreflexion mit der Frage, ob es noch so etwas wie ein universalhistorisches Prinzip gibt und wenn ja, worin dieses bestehen könnte. Die erste Frage ist methodologischer Natur, die zweite Frage befasst sich mit den Möglichkeiten einer geschichtsphilosophischen Neuausrichtung. Mit der positivistischen Kritik an der spekulativen Geschichtsphilosophie teilt Adorno die Hinwendung zum empirischen Detail. Er sieht darin »das Wahrheitsmoment in dem immerwährenden Einspruch der positiven historischen Wissenschaften gegen die geschichtsphilosophische Konstruktion« (LGF: 121), um dann jedoch im nächsten Moment sogleich wieder Abstand zur positiven Wissenschaft zu nehmen. Die Distanzierungsbewegung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer begrifflichen Differenzierung zwischen dem positivistischen »Glauben an Faktizität« (ND: 295) und der geschichtsphilosophischen Auffassung des Besonderen. Was sich in Adornos Unterscheidung widerspiegelt ist der Gedanke, dass der Verzicht auf eine geschichtsphilosophische Perspektive dazu führen würde, dass sich Geschichte in eine Ansammlung unverbundener historischer Einzelheiten verwandeln würde. Diese Perspektive lässt es jedoch nicht zu, ein »Bewußtsein des Besonderen« (ebd.: 323) zu erhalten, um das es Adorno in erster Linie geht. Das Besondere könne überhaupt erst als Besonderes erfasst werden in seiner Vermittlung zum geschichtlich Allgemeinen, das es hervorbringt und von dem es sich zugleich notwendig unterscheidet18 . Für Adorno ist das Erkenntnisinteresse am Besonderen in seinem geschichtlichen Zusammenhang der Grund, den Versuch einer kritischen Revision idealistischer Geschichtsphilosophie zu unternehmen. Die Konstruktion von Geschichte wird in diesem Zusammenhang zur Nahtstelle zwischen Adornos Kritik an Hegels Auffassung von der Vernunft in der Geschichte und der Betrachtung von Geschichte als Einheit. Sie drängt
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Hegel versteht diesen Zusammenhang von seinem Endziel her. Der Gang der Geschichte schreitet kontinuierlich fort, weil die dem geschichtlichen Prozess zugrunde gelegte Vernunft erkennbar auf ihre Realisierung zielt. Hegel geht als davon aus, »daß der subjektiven Erkenntnis der Geschichte ein Intelligibles in der Geschichte, ein objektiv vernünftiges Geschehen also entspricht, dessen durchgehende Bedeutung sich eben darum als die Verwirklichung der Vernunft in freien politischen Verhältnissen verständlich machen läßt. Die […] Begründung von Geschichtsphilosophie im methodologischen Ausgangspunkt einer auf beiden Seiten tätigen Vernunft führt somit die Momente des universalen Zusammenhangs sowie dessen auf Freiheit zielenden vernünftigen Zweck zwingend mit sich, deren Komplexion Hegel mit dem Ausdruck ›Weltgeist‹ bezeichnet.« (Sandkaulen 2006: 171f.; Herv. i.O.) Aus der Differenz zur positiven historischen Wissenschaft erwachse nun die »Aufgabe diese Kraft der Konstruktion nun doch in die Details selber herein zu werfen und in den Details jene Kräfte der Konstruktion des Ganzen zu mobilisieren, die, wenn sie den Details bloß äußerlich bleiben, allzu leicht etwas […] Unverbindliches haben« (LGF: 121f.; Herv. rb).
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dahin, »sich davon Rechenschaft zu geben, unter welchen methodologischen oder erkenntnistheoretischen Voraussetzungen eine solche Betrachtung der Geschichte überhaupt möglich ist« (Sandkaulen 2006: 170)19 . Universalgeschichte wird hierbei zum Konzentrationspunkt der Frage, wie die Form von Geschichte zu konstruieren wäre – und das lässt die Form der Konstruktion selbst nicht unberührt. In seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit kristallisiert Adorno erstmals die für die Deutung historischer Phänomene gerade nach der Abkehr von Geschichtsmetaphysik zentralen Elemente – zu nennen sind der Aspekt der geschichtlichen Vermittlung und des Fortschritts, sowie die Kategorien von Besonderem und Allgemeinen, Einheit und Nichtidentität – heraus und entwickelt eine Erkenntnisform von Geschichte, die die Grundidee der Universalgeschichte negativ wendet. Beide Momente spitzen sich zu in der Absicht, »Universalgeschichte […] ebenso zu konstruieren und zu leugnen oder […] Universalgeschichte ist zu achten und zu verachten zugleich« (LGF: 136f.). Adornos negativ-dialektische Konstruktion der Universalgeschichte fußt auf der grundlegenden Bestimmung einer »ununterbrochene[n] Geschichte der Unterdrückung« (LGF: 133; Herv. rb). Die Konstruktion der Universalgeschichte der Unterdrückung versucht nun zwei widersprüchliche Momente zusammenzudenken: »Man könnte demnach sagen, Geschichte sei diskontinuierlich insofern, als sie das perennierend zerrüttete Leben ist, – aus dem nun aber andererseits, gerade indem sie diesen Prozeß seiner Zerrüttung wiederholt und an seiner Fragmente anstatt an seine trügend geschlossene Oberfläche sich hält, die geschichtsphilosophische Interpretation, das heißt: die Konstruktion der Geschichte, auf das Ganze einen Blick gewinnt, den das Ganze unmittelbar versagt […]. Eine dialektische Geschichtsphilosophie müßte also die, gegeneinander gleichgültig auseinanderweisenden, Konzeptionen von Diskontinuität und Universalgeschichte zusammendenken. Man […] soll nicht der Alternative sich beugen: die Geschichte ist Kontinuität oder sie ist Diskontinuität; sondern man müßte sagen: in der Diskontinuität, in dem was ich einmal die Permanenz der Katastrophe genannt habe, gerade darin ist die Geschichte ungemein kontinuierlich.« (LGF: 134f.; Herv. i.O.) Im Geflecht der Dimensionen, die in dieser Passage zum Vorschein kommen, verbindet sich der allegorische Tiefblick der Naturgeschichte, dessen Erkenntnisinteresse dem ›Inneren‹ der Phänomene gilt mit der Interpretation der Geschichte als Ganzes, die verstanden wird als Konstruktion, als Hervorbringung von Geschichte als historischer Figur. Adornos solchermaßen verstandene Deutung von Geschichte setzt an bei dem, was die Geschichte zu durchziehen scheint und sich bei näherer Betrachtung als zweite Natur von Geschichte herausstellt: die zur Allgemeinheit gewordene Erfahrung des ›zerrütteten Lebens‹. Die »Affirmation der Universalgeschichte« (Städtler 2019: 31) hat nun den Zweck, die ›Fragmente‹ des einzelnen Lebens nicht in seiner Einzelheit zu belassen, sondern zu fragen, ob sich zwischen ihnen ein Zusammenhang herstellen lässt. 19
Über die Entwicklung eines Begriffs von Geschichte als spannungsvolle und zugleich kontinuierliche Einheit zwischen Gesellschaft, Fortschritt und Vernunft siehe: Sommer (2016); Breitenstein (2019); Städtler (2019). Und kritisch: Sandkaulen (2006); Schnädelbach (2008).
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Die Rede von der ausdauernden Diskontinuität bringt diesen Zusammenhang als universalgeschichtliche Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität hervor. Der Aspekt der Diskontinuität charakterisiert die Erfahrung der ›Zerrüttung‹ des Besonderen, die sich in Form von Unterbrechungen in der Geschichte manifestiert. Der Aspekt der Kontinuität ist das Bewusstsein dafür, dass der Modus der Zerrüttung auf eine solch allumfassende Weise wirkt, dass die Hervorbringung von Zerrissenheit und Unterdrückung die Form einer allgemeinen Struktur der Geschichte annimmt. Geschichte als Kontinuität der Diskontinuität zu betrachten, stellt insofern an ihre Reflexion die Anforderung, dass sie »jenes Einheitsmoment, nur als negatives, […] anerkennt« (ebd.; Herv. i.O.)20 . Eine solche »innere Geschichtsschreibung der Negativität« (GS 10.1: 295) denkt die zwei logisch eigentlich unvereinbaren Momente von Identität und Zerrüttung als dialektische Einheit; zum anderen entspricht ihre Reflexion von Geschichte als Einheit von Zerrüttetem einer kritischen Bestimmung der objektiven und geschichtlichen Bedingungen, die auf individueller und kollektiver Ebene die Erfahrungen von Entfremdung und Unterdrückung konstituieren. Trotz aller theoretischen Vergewisserung über eine Geschichtserkenntnis im »Bewußtsein der Diskontinuität« (LGF: 135), bleibt die Neuorientierung der geschichtlichen Reflexion prekär, wenn sie sich nicht die Differenz zwischen der besonderen Erfahrung des Leidens an der Geschichte und der Erkenntnis ihrer Bedingungen bewusst macht. Jenes Leiden werde schließlich »subjektiv erfahren als objektives Geschehen, als gerade nicht vom Begreifenden und Handelnden Ausgehendes« (Breitenstein 2019: 199; Herv. i.O.). Erst die Hervorkehrung dieser Differenz ermögliche überhaupt so etwas wie ein kritisches geschichtliches Bewusstsein: »Wohl ist Geschichte dem Menschen bewußt […] und es wäre töricht, das darin liegende Unterscheidende zu verleugnen. […] Geschichte wissen und Geschichte haben ist nicht dasselbe, und am Entscheidenden der Geschichte, dem Leiden, hat das Wissen bis heute wenig genug geändert. […] Der Trost, daß das Wissen um die Negativität de-
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In der Chiffre »Auschwitz« spitzt sich die ›Geschichtsschreibung der Negativität‹ in drastischer Weise zu: »Durch Auschwitz, und damit meine ich nicht Auschwitz allein, sondern die Welt der Tortur, die weitergeht nach Auschwitz […] als eine Art von Zusammenhang, von höllenhafter Einheit. [Durch diese Erfahrung] hat tatsächlich der Begriff der Metaphysik sich bis ins Innerste verändert. Und wer weiter Metaphysik alten Stils betreibt, ohne sich darum zu kümmern, […] das, was geschehen ist, für unter der Würde der Metaphysik stehend hält und von sich abwehrt, der zeigt sich darin als Unmensch; und die Unmenschlichkeit […] muss dann den Begriff der Metaphysik selber […] auch anstecken.« (M: 160; Herv. rb) Negative Geschichtsphilosophie, also eine Geschichtsphilosophie, der es um die Erkenntnis menschlichen, durch Geschichte hervorgebrachten Leidens geht, ist auch die logische und historische Konsequenz der Kritik an der geschichtsmetaphysischen Vorstellung eines, die historischen Geschehnisse, Verläufe und Strukturen transzendierenden Sinns in der Geschichte. Was Adorno für die Musik Mahlers beschreibt, gilt auch für die klassische Geschichtsphilosophie angesichts einer zweiten Natur, die erfahrbarerweise physisches und psychisches Leiden hervorruft: »Die Erfahrung metaphysischer Negativität, der Unmöglichkeit durch Musik [Philosophie] den Weltlauf […] sinnvoll zu bestätigen.« (GS 17: 328; Herv. rb) Wenn es einen ›Sinn‹, verstanden als erkennbare Kontinuität in der Geschichte gibt, dann allein die Notwendigkeit zum »Wissen um die Permanenz von Drohung und Katastrophe« (NL: 581).
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
ren Aufhebung gleichkomme, ist die jahrtausendealte Versicherung der Philosophie, der die kritische Dialektik das Vertrauen gekündigt hat.« (Adorno 1996: 287f.) Die Problematisierung der Aufhebungsfigur führt ins geschichtsphilosophische Zentrum des idealistischen Bildungsbegriffs. Dort strebt Bildung – unauflösbar verbunden mit dem Zweck von Geschichte »sich gegen ihre eigene Entfremdung als Geschichte zu gewinnen« (Angehrn 1991: 114f.; Herv. i.O.) – zur individual- und gattungsgeschichtlichen Überwindung der endlichen Erfahrungen und der Naturwüchsigkeit der geschichtlichen Verhältnisse. Der Zweck der Bildung ist die Befreiung der Vernunft aus der Irrationalität durch die Überwindung ihres partikularen Charakters. Adorno jedoch blickt in zweifacher Hinsicht aus der entgegengesetzten Blickrichtung – jedoch in ›Schlagdistanz‹ – auf die Geschichte und die Bedeutung des Wissens von ihr. In gewissem Sinn materialisiert Adorno Hegels Konstruktion einer Bildungsgeschichte dadurch, dass er die Erfahrung des individuellen, somatischen Leidens nicht nur als entscheidendes Element in die Konstruktion des geschichtlichen Zusammenhangs aufnimmt, sondern auch dadurch, dass er die somatische Erfahrung der herrschenden Negativität selbst zur Bedingung von Geschichtserkenntnis macht: »Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem, […] zittert ein letztes Mal das somatische Moment erkenntnistheoretisch nach […]. In der Erkenntnis überlebt es als deren Unruhe, die sie in Bewegung bringt und in ihrem Fortgang unbesänftigt sich reproduziert; unglückliches Bewußtsein ist keine verblendete Eitelkeit des Geistes sondern ihm inhärent, […] erinnert ihn, negativ, an seinen leibhaften Moment.« (ND: 202f.) Geschichte als Fortschreiten im Bewusstsein der Negativität ist durch die konkrete, somatische Erfahrung eben jener Negativität bedingt. Einzig die somatische Erfahrung der Negativität erachtet Adorno noch als legitimen Grund von Geschichtsphilosophie. Sie rettet sich vor der Hegelschen Frage nach der Vernunft in der Geschichte, indem sie das Unvernünftige – nicht legitimierbares Leid und die nicht unmittelbar rationalisierbare Erkenntnis des Somas – als Motor von Geschichtserkenntnis bestimmt. Diese gewinnt dann an Bedeutung, wenn »noch das äußerste Leiden, das das Individuum an sich erfährt, gleichzeitig in seiner Nezessität aus dem Fortgang der Gesamtbedingungen begriffen werden kann – das und nichts anderes ist eigentlich als jener Weltgeist zu verstehen, von dem Hegel gesprochen hat. Und ich setze hier gleich das große Fragezeichen, ob dieser Weltgeist überhaupt Weltgeist sei, oder ob er nicht vielmehr das genaue Gegenteil davon ist.« (LGF: 43) An dieser Stelle zielt Adorno letztendlich auf die Nivellierung des geschichtsphilosophischen Anspruchs, Vernunft in der Geschichte ausfindig machen zu müssen, ab. Dies geschieht nicht zuletzt aus dem Grund, Geschichtserkenntnis aus ihrer Verstrickung mit der idealistischen Synthese herauszulösen und vom Zwang zur Affirmation der Vernunft zu befreien. Angesichts der realen geschichtlichen Verhältnisse kommt der Anspruch, den geschichtlichen Prozess als Vernunfteinheit zu begreifen, einer Überforderung von Geschichte und Geschichtserkenntnis gleich. Ein anderer, bereits erläu-
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terter Zugang besteht darin, die Geschichte als Einheit der Zerrissenheit zu denken. Hinsichtlich des Topos der Zerrissenheit nimmt die Konstruktion einer negativen Universalgeschichte noch eine weitere Wendung an. Zerrissenheit konstituiert nicht nur die Einheit der Geschichte, sondern wird für Adorno zum Ausdruck eines anderen in der Geschichte: »In die Nichtidentität fällt ebenso das herein, wodurch die Geschichte ihre Einheit hat, […] wie auch das, wobei das nicht der Fall ist. […] [D]iese Akte der Unterdrückung und Unterwerfung, in denen die Identität zerreißt, die stiften ja jene Identität der Geschichte, von der wir sprechen und die man als negative Identität bezeichnen müsste. Um die Universalgeschichte einfach aus dem Denken über Geschichte zu eliminieren – das wäre ebenso blind gegen den Zug, gegen jenen ›Sturm‹ der Geschichte […], wie umgekehrt, die Fakten souverän dem Zug zu subsumieren, ohne das nichtidentische Moment dabei hervorzuheben.« (Ebd.: 136) Worin besteht jedoch das Nichtidentische Moment, dass die Identität der Geschichte zerreißt? Statthalter des Nichtidentischen in der Geschichte ist der Moment des Zufalles, die »Gestalt von Freiheit unterm Bann« (ND: 338). Der Zufall kann den Weg der Geschichte partiell durch-, aber keineswegs abbrechen. Stattdessen wiederholt sich im Zufall als dem Nichtidentischen die ambivalente Tendenz von Geschichte noch einmal. Denn was als Moment der Freiheit erscheint, ist bei genauerem Hinsehen, »der schale Rest, der übrigbleibt, nachdem die Identifizierung ihr Stück sich weggeschnitten hat; und diesem schalen Rest bleibt dann selber noch gewissermaßen die Macht des identifizierenden Prinzips eingeprägt, wie ein Stempel, als etwas Verstümmeltes […][,] wird selber zu einem Bösen und Verhängnisvollen. […] Als zufällig wird der unidentische Rest seinerseits nämlich wieder so abstrakt, daß er durch diese Abstraktheit mit der Gesetzlichkeit der Identifikation konvergiert.« (Ebd.: 143) Das Nichtidentische und das Identitätsprinzip von Geschichte konvergieren an ihren Rändern. Als Ununterscheidbare verweisen sie letztlich auf die Hoffnungslosigkeit eines anderen in der Geschichte selbst. Der geschichtliche Prozess geht zwar voran, bleibt dabei aber mit sich selbst identisch. Das macht für Adorno die Naturgeschichte jeder Geschichtsphilosophie aus: »Geist als zweite Natur jedoch ist die Negation des Geistes, und zwar desto gründlicher, je mehr sein Selbstbewußtsein gegen seine Naturwüchsigkeit sich abblendet. […] Hegel zitiert nach einem Automatismus, über den die Geschichtsphilosophie nichts vermag, Natur und Naturgewalt als Modelle der Geschichte. Sie behaupten sich aber in der Philosophie, weil der identitätssetzende Geist identisch ist mit dem Bann der blinden Natur, dadurch daß er ihn verleugnet.« (ND: 351) Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Befreiung aus der Naturwüchsigkeit der Geschichte und der Feststellung, dass Geschichte als Natur »zum unwiderstehlichen Gleichnis der Gefangenschaft« (ebd.: 351) wird, entspricht den widerstreitenden Implikationen einer negativen Geschichtsphilosophie. An ihren inneren Zwiespalt erinnert auch die Frage, warum überhaupt »ein Fortschritt sei und doch wieder nicht sei« (F: 635).
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
Fortschritt bezeichnet für Adorno sowohl eine geschichtsphilosophische Kategorie als auch einen Begriff21 . Als Kategorie steht Fortschritt für die Möglichkeit der Erkenntnis geschichtlicher Prozesse, als Begriff für eine spezifische Konstellation philosophischer Momente, die die Kategorialität und die inhaltliche Bedeutung des Fortschrittsbegriffs bestimmen. Kategorie und Konstellation von Fortschritt sind vermittelt, beide verweisen konstitutiv aufeinander. Menschheit, Totalität, Temporalität und Erlösung bilden zentrale Elemente einer Konstellation, die wiederum die Fortschrittskategorie prägen. Historisch nimmt die Fortschrittsidee ihren Anfang in Augustins theologischer Grundlegung von Geschichte als Heilsgeschichte der Menschheit22 . An ihr lasse sich die »innige Konstellation der Ideen Fortschritt, Erlösung und immanenter Geschichtsgang […] ablesen, die doch nicht ineinander aufgehen dürfen, wenn sie nicht wechselseitig sich vernichten sollen« (ebd.: 621). Geschichtsphilosophisch als erkenntnisdienlich erweist sich Augustins Integration eines Erlösungsgedankens in die Zeit und die damit verbundene Verklammerung der Temporalität des Fortschritts mit dem geschichtlichen Dasein. Voraussetzung hierfür ist es, Erlösung und Geschichte nicht als einander ausschließend, sondern als einander bedingend zu betrachten. Statt Fortschritt gleichzusetzen mit »Erlösung als dem transzendenten Eingriff schlechthin« (ebd.: 621) – in dessen Nachgang der Begriff seine Zeitdimension verlöre – müsse man den Fortschritt hin zur Erlösung aus der Erfahrung geschichtlicher Widersprüchlichkeit selbst herausarbeiten23 . Adornos immanente Kritik gibt so dem eschatologischen Standpunkt Augustins eine Wendung ins Geschichtliche. Empirische Augenfälligkeit gewinnt dieser Gedanke in der Beobachtung, dass es Fortschritt in der Geschichte gibt. Dass dieser jedoch nicht der Maßgabe der Erlösung entspricht, hängt gleichermaßen mit der geschichtlichen Entwicklung selbst wie mit der theologischen Begründung der
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Was Casale für den Begriff an sich formuliert, dem entspricht auch die gesellschaftliche Vermittlung des Fortschrittsbegriffs: »Vom Begriff kann nur a posteriori gesprochen werden. Er verdichtet die Erfahrung, er hat seinen Ausgangspunkt in der Erfahrung. […] Die Kategorie ordnet, strukturiert die Erfahrung. Damit sie diese strukturierende Funktion haben kann, darf sie nicht von der gleichen Natur der Erfahrung sein.« (Casale 2020d: 6; Herv. i.O.) Augustins Gottesstaat gilt in Adornos Entwicklung der Konstellation des Fortschrittbegriffs als zentraler ›Ursprungstext‹ eines sich sukzessive in der Nachfolge ausbildenden historischen Bewusstseins. Dessen Verdienst beziehe sich Angehrn zufolge sowohl auf die Vergeschichtlichung des weltlichen Horizonts selbst durch seine »radikale Verzeitlichung, Rückführung des Zukunftsbezugs auf einen substantiellen Vergangenheitsbezug, Anerkennung historischer Faktizität« (Angehrn 1991: 50), sowie auf die Möglichkeiten, diese Bewusst zu machen. In Augustins Geschichtsdenkens deuten sich eine Reihe von Aspekten an, die für die spätere klassische Geschichtsphilosophie zentral werden: die »Fundamentalität der Geschichte« (ebd.: 53); die »Einheit des geschichtlichen Verlaufs von der Weltschöpfung bis zum Ende der Zeiten« (ebd.); »Aufweis der einen Geschichte des Heils« (ebd.); die »Universalität des Geschichtsbildes […]: Die Geschichte des Gottesstaats ist eine Geschichte, welche die Menschheit betrifft« (ebd.); »die Zwiespältigkeit des Geschichtlichen, worin sich die Anhäufung von Elend und Bosheit mit dem Fortschritt zum Guten vermengt« (ebd.); sowie die »Periodisierung der Geschichte« (ebd.: 54). Dieser Gedanke spitzt sich für Adorno in der Frage zu, »ob die Menschheit die Katastrophe zu verhindern vermag« (F: 618), ob ihr die »Abwendung des äußersten, totalen Unheils […] durch eine vernünftige Einrichtung der Gesamtgesellschaft als Menschheit« (ebd.) gelinge.
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Idee zusammen. Letztere setze Erlösung an den Anfang, wohingegen Adorno zufolge »nur eine bereits erlöste Menschheit […] betrachtet werden [konnte], als bewege sie sich, nachdem die Entscheidung fiel, vermöge der Gnade, die ihr zuteil wurde, im Kontinuum der Zeit auf das himmlische Reich zu« (LGF: 208). Dem gegenüber findet mit dem Fortschreiten des Geschichtsbewusstseins auch eine Säkularisierung dieses Gedanken statt, die der Verschiebung von der Idee der Erlösung hin zur Idee der Versöhnung entspricht24 . Ankerpunkt in der Ausformulierung des Fortschrittsgedankens ist für Adorno Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die das geschichtliche Denken in doppelter Hinsicht maßgeblich prägt: Im Zentrum steht die Idee, Geschichte als menschheitsumfassenden Fortschrittsprozess zu erschließen, deren Ziel Kant sowohl gattungsgeschichtlich als auch moralisch ausbuchstabiert. Gattungsgeschichtlich relevant ist die These von der »vollständige[n] Entwicklung der Potenzen alles Lebendigen […]. Die Zielbeschreibung verknüpft die naturphilosophische mit der politisch-geschichtsphilosophischen Betrachtung. Naturrechtliche Leitwerte wie Freiheit, Selbsterhaltung, Sicherheit werden mit der Realisierung des umfassenden Naturzwecks verbunden.« (Angehrn 1991: 79) Die moralische Absicht verbindet das objektive Geschichtsziel der menschlichen Gattung mit dem Ziel der Herstellung der Menschheit, deren Idee das rationale Eigeninteresse und seine implizit »pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann« (Kant 1784: 38; Herv. rb). Kants Geschichtsphilosophie koppelt das moralische Anliegen der Verwirklichung der Menschheit an die soziale Bedingung einer weltbürgerlichen Gesellschaft, die auf der Transzendierung des Einzelinteresses und der Verwirklichung »des Staats als Grundlage historischer Vernunft« (Angehrn 1991: 83) beruht. Adorno zufolge steht Kants von der Idee der Menschheit als Ganzes geleitete Bestimmung der Geschichte als Fortschritt paradigmatisch für den immanenten Widerspruch des bürgerlichen Fortschrittsbegriffs, der
24
In Adornos Explizierung der geschichtsphilosophischen Entwicklungslinien des Fortschrittsbegriffs, die in dem Text Fortschritt und in der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit am deutlichsten herausgearbeitet sind, findet der Aspekt der Allegorie keine Erwähnung. Während etwa der Vortrag über die Idee der Naturgeschichte die Allegorie im barocken Trauerspiel als zentralen, qualitativen Schritt für die Entmythologisierung der Geschichte betrachtet, bleibt die Bedeutung der Allegorie, in der sich historisch und systematisch die Entdeckung der Kategorien Zeit und Vergänglichkeit, sowie die »weltliche […] Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt« (Benjamin 1974 [1928]: 343) niederschlägt, in Bezug auf die Genese des Geschichtlichen außen vor. Dies verwundert dreifach: Erstens verschiebt sich in der Allegorie, wie Benjamins Untersuchungen des barocken Trauerspiels gezeigt haben, das Bewusstsein von Geschichte von der Erlösung hin zur »Todverfallenheit« (ebd.), womit nicht nur die Entdeckung der »biographische[n] Geschichtlichkeit eines Einzelnen« (ebd.), sondern auch eine Veränderung des Geschichtsbildes selbst, das nun »nicht mehr in den Rahmen eines zyklischen corso und ricorso eingebunden ist, sondern auf den einmaligen, gerichteten Lauf zielt« (Angehrn 1991: 77), verbunden ist. Zweitens bildet der Aspekt der Vergänglichkeit eine zentrale kategoriale Bedingung negativer Universalgeschichte, deren »Gedanke an den Fortschritt […] seinen Tiefgang von der Last des geschichtlich ansteigenden Unheils« (LGF: 210) empfangen habe. Schon im Barock wird das Ziel der Geschichte negativ gedeutet. Drittens unterzieht Adorno den Versöhnungsgedankens der spekulativen Geschichtsphilosophie in den genannten Texten einer naturgeschichtlichen Analyse.
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
dem Spannungsverhältnis zwischen dem »zugleich totalitären und partikularen Begriff der Menschheit« (F: 620) entspringt. Die Dialektik lässt sich auf dem Weg negativer Universalgeschichte folgendermaßen darstellen: Die Fortschrittsidee ist konstitutiv gekoppelt an die Idee der Menschheit. Sie stiftet den geschichtlichen Zusammenhang und das Ziel von Geschichte. Daraus ergibt sich eine kategoriale »Angewiesenheit des Fortschritts auf Totalität« (ebd.: 618), ohne die »die Bestimmung von Menschheit als des schlechterdings nichts Ausschließenden« (ebd.: 619) keinen Sinn machen würde. Solange jedoch der Gang der Geschichte eine Einheit mit dem Moment der Zerrissenheit bildet, kann von der Realisierung der Menschheit nur als Idee, nicht als Wirklichkeit gesprochen werden: Fortschritt hat noch gar nicht stattgefunden. Und dennoch – das ist so etwas wie die bildungstheoretische Pointe in Adornos Perspektive auf die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte – findet dieser statt: »Zuwenig Gutes hat Macht in der Welt, als daß von ihr im prädikativen Urteil Fortschritt auszusprechen wäre, aber kein Gutes und nicht seine Spur ist ohne den Fortschritt. […] Jeder einzelne Zug im Verblendungszusammenhang ist doch relevant für sein mögliches Ende. Gut ist das sich Entringende, das, was Sprache findet, das Auge aufschlägt. Als sich Entringendes ist es verflochten in die Geschichte, die, ohne daß sie auf Versöhnung hin eindeutig sich ordnete, im Fortgang ihrer Bewegung deren Möglichkeit aufblitzen läßt.« (Ebd.: 622) Fortschritt ist möglich und Fortschritt ist wirklich. Die Wirklichkeit von Fortschritt hängt konstitutiv zusammen mit der in der Bewegung der Geschichte liegenden Möglichkeit, sich aus dem Verblendungszusammenhang zu befreien. Was Adorno hier beschreibt, ist nichts anderes als einen Bewusstwerdungsprozess, der die individuell vermittelte Erfahrung allgemeiner Verblendung sprachlich verobjektiviert – unmittelbar verbunden mit der Hoffnung, dass sich das universalgeschichtliche Versprechen von Bildung als Realisierung der Menschheit als Gattung trotz allem Zug um Zug realisieren könnte. Der Akzent dieses Gedankens liegt auf dem Verb ›aufblitzen‹, das in sich die Grenzen der Möglichkeit von Bildung trägt, denn es setzt auf geschichtlicher und subjektiver Seite Bedingungen voraus, denen in gewissem Sinn das Fundament bzw. die Bindung an ein Allgemeines fehlt (vgl. Schäfer 2007). Zum einen müssten die geschichtlichen Verhältnisse und der Gang der Geschichte das ›Aufblitzen‹ zulassen, zum anderen müsste das »von der Objektivität angerührte, affizierte Subjekt« (Schweppenhäuser 2020: 290) fähig sein, die Augen aufzuschlagen. Das geschichtliche Problem der Grenze und der Möglichkeit von Bildung als Fortschritt lässt sich vor dem Hintergrund von Adornos Kritik an der naturbeherrschenden Vernunft und an der zweiten Natur der Gesellschaft differenzierter beschreiben. Die Frage nach der Affizierung und Vermittlung des Subjekts wird Gegenstand des dritten Kapitels sein.
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Das hinzutretende Dritte
2.2
Entfremdete Bildung: Naturgeschichte und Gesellschaftskritik des Fortschritts
Dass sich Adornos Hoffnung auf das Versprechen der Bildung nicht mit der objektiven Wirklichkeit deckt, ist die Konsequenz eines spezifischen historischen Prozesses: »Was aus Bildung wurde und nun als eine Art negativen objektiven Geistes, keineswegs bloß in Deutschland, sich sedimentiert, wäre selber aus gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen, ja aus dem Begriff der Bildung abzuleiten. Sie ist zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes. Nach Genesis und Sinn geht sie nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie.« (THB: 92) Die oft vorgebrachte Deutung, Adornos Theorie der Halbbildung rekonstruiere eine Verfallsgeschichte der Bildung, ist angesichts der Rede von der ›Allgegenwart des entfremdeten Geistes‹ nicht nur naheliegend, sie wird auch durch die Rückführung auf die Gesellschaft und den Begriff der Bildung sinnfällig. Adorno selbst spricht von einer »Bildungskrise« (ebd.; Herv. rb), und so ist möglicherweise die an der Schwelle von Negativismus und Apodiktik vorgebrachte Diagnose eher eine Idiosynkrasie. Sie gleicht einer ambivalenten Haltung gegenüber den Veränderungen der objektiven Bildungsrealität, die man in ihrer Notwendigkeit begreifen kann. Durch das Begreifen der objektiven Notwendigkeit kann man sich auch darüber bewusst werden, dass die Möglichkeit zur Bewusstwerdung selbst durch jene Veränderungen aufgezehrt wird, denen doch eigentlich die kritische Erörterung gilt: »Nur eine geradlinige und ungebrochene Vorstellung von geistigem Fortschritt gleitet über den qualitativen Gehalt der zur Halbbildung sozialisierten Bildung unbekümmert hinweg. Ihr gegenüber täuscht die dialektische Konzeption sich nicht über die Zweideutigkeit von Fortschritt inmitten der repressiven Totalität. Daß die Antagonismen anwachsen besagt, daß alle partikularen Fortschritte im Bewußtsein der Freiheit auch am Fortbestand der Unfreiheit mitwirken.« (THB: 110f.) Aus der Perspektive einer negativen Geschichtsphilosophie widmet sich Adorno einer Analyse der Bedingungen der Veränderungen dessen, was objektiv, d.h. geschichtlich sowie gesellschaftlich unter Bildung verstanden werden kann. Die Analyse hat die Form einer immanenten Kritik der Fortschrittsgeschichte von Freiheit und Vernunft in naturgeschichtlicher, gesellschaftstheoretischer und kulturkritischer Hinsicht.
2.2.1
Der Prozess fortschreitender Naturbeherrschung
Wie viel Natur steckt in Bildung und wie viel Bildung steckt in Natur? Bildung und Natur sind keine Gegensätze, vielmehr bildet ihre dialektische Einheit so etwas wie den Horizont, vor dem sich Adornos zivilisationskritische Einholung der gattungsgeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Bestimmung der Bildungsidee entfaltet. Im Zentrum steht die Analyse der historischen Dynamik, die zur Auflösung der Vernunft in rationale Naturbeherrschung geführt hat und weiterhin führt. Sie zielt auf die Vergegenwärtigung der Transformation von Bildung in Natur durch die Herrschaft der
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
Einzelnen und der Gesellschaft über Natur. Für Adorno steht der Begriff der Rationalität für die Erfahrung der Herrschaft in der Vernunft: »Bewältigung der Natur durch den Menschen im Sinne ihrer Beherrschung, und zwar der Herrschaft sowohl über das Äußere und widerstrebende Naturmaterial wie auch im Sinn der Beherrschung über die naturhaften Kräfte in den Menschen selber also im Sinne der zivilisatorischen Kontrolle über das menschliche Triebleben und über das Unbewußte.« (KC: 156) Naturbeherrschung ist der Zweck und die Bedingung der Vernunft, die sich wiederum in zivilisationsgeschichtlichen Prozessen konstituiert. Die Fortschrittsgeschichte der Naturbeherrschung betrachtet Unfreiheit als Ergebnis einer Selbstverkehrung des Fortschritts, die bereits mit dem menschheitsgeschichtlichen Austritt aus der unmittelbaren Ungeschiedenheit mit der Natur begonnen hat. Hier verortet Adorno den Anfang vom Ende der Freiheit. Mit der Befreiung aus der Natur durch die Ausbildung instrumenteller Vernunft ist die Beherrschung von Natur als Bedingung von Freiheit unauflöslich gesetzt. Freiheit kann es in diesem Verständnis nur noch als Produkt fortschreitender Naturbeherrschung geben. Das Spezifische an der Fortschrittsgeschichte naturbeherrschender Rationalität ist ihr spaltender Charakter. Damit steht sie nicht nur in Gegensatz zur idealistischen Ausrichtung des Fortschritts auf die Versöhnung zwischen der Gattung als Natur und der Gattung als allgemeiner Vernunft. Durch sie erfährt nun auch die abstrakte Bestimmung der Universalgeschichte als negative Identität eine historische Konkretion: »Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der Zukünftigen zynisch. Nicht aber ist darum die Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitterten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von Naturbeherrschung, fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich die über inwendige Natur. Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. Sie endet in der totalen Drohung der organisierten Menschheit gegen die organisierten Menschen, im Inbegriff von Diskontinuität.« (ND: 314; Herv. rb.) Adornos ›Universalgeschichte der Selbstzerstörung‹ befasst sich mit der Absurdität der Naturbeherrschung. Sie ist eingefasst von der Frage, warum sich die Herrschaft über Natur beständig fortsetzt, verdrängend, dass sie die Zerstörung der eigenen Grundlage vorantreibt25 . 25
Die Reflexion von Universalgeschichte als Verfallsgeschichte im Modell der naturbeherrschenden Vernunft bewegt sich unübersehbar auf den Bahnen der Dialektik der Aufklärung: »Eine philosophische Konstruktion der Weltgeschichte hätte zu zeigen, wie sich trotz aller Umwege und Widerstände die konsequente Naturbeherrschung immer entschiedener sich durchsetzt und alles Innermenschliche integriert. Aus diesem Gesichtspunkt wären auch Formen der Wirtschaft, der Herrschaft, der Kultur abzuleiten.« (DdA: 254). Anders als Hegels optimistische Philosophie der Geschichte setzen Horkheimer und Adorno die Erkenntnis fortschreitende Rationalisierung nicht gleich mit dem Fortschritt der Menschheit hin zu ihrer Vervollkommnung in der Vernunft. Angesichts der historischen Erfahrung von zwei Weltkriegen, der millionenfachen Verfolgung und
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Einer der zentralen Gründe für die unaufhörliche Reproduktion des Rationalitätsprinzips stellt das Interesse der Menschen an Selbsterhaltung dar: »Die anwachsende Rationalität ist soviel wie anwachsende Selbsterhaltung der Gattung Mensch […], das Anwachsen des universalen Ich-Prinzips der Menschen; und der Fortschritt dieser Rationalität in seiner unreflektierten Gestalt ist im Grunde gar nichts anderes als die auf den Menschen übertragene und in den Menschen sich fortsetzende Ausbeutung der Natur […] – insoweit besitzt diese fortschreitende Vernunft immer zugleich auch jenes Moment der Selbstzerstörung […] als wesentlich einer Erfahrung von dessen Negativität […]. Mit anderen Worten also: in dieser fortschreitenden instrumentellen Vernunft verkörpert sich der Antagonismus, der besteht in dem Verhältnis zwischen dem vermeintlich freien und in Wahrheit eben darum noch nicht freien menschlichen Subjekt.« (LGF: 26f.) Das Selbsterhaltungsinteresse, das selbst Produkt eines Rationalisierungsprozesses ist, verwandelt Geschichte in einen zweckmäßigen Vollzug von Natur, deren Zusammenhang hervorgebracht wird durch den gattungsgeschichtlichen Verblendungsmechanismus. Dieser drückt sich aus in dem falschen Bewusstsein, Vergänglichkeit und Naturhaftigkeit gerade durch eine vollumfängliche Naturbeherrschung überwinden zu können. Die Vergeblichkeit dieses Unterfangens, die herrührt von den durch die Natur selbst gesetzten Grenzen, führt dazu, dass Geschichte als allgemeiner Fortschritt der Herrschaft ohne Freiheit letztlich im Zustand der ›Vorgeschichte‹ bleibt. Der Zusammenhang zwischen Selbsterhaltung, Zivilisationsgeschichte und Vorgeschichte wird gestiftet durch den Begriff der »Gattungsvernunft« (LGF: 67): »Man könnte sagen, es handelt sich hier […] um die Hypostasierung der Gattung Mensch, die als Ganze sich erhält und behauptet gegenüber den je Einzelnen sich erhaltenden Individuen. Das Prinzip der Selbsterhaltung ist, […] wenn es sich auf den je Einzelnen beschränkt, nur die partikulare Einzelvernunft des einzelnen Menschen betrifft, selber etwas Unvernünftiges und etwas Partikulares.« (LGF: 67)
Vernichtung von Jüd*innen im Dritten Reich sowie das über Europa hinausgehende Scheitern der proletarischen Revolution kann Aufklärung nur noch als negative Geschichtsphilosophie begriffen werden. In Distanz zum geschichtsphilosophischen Versprechen des Idealismus und skeptisch gegenüber jener »Ontologisierung des Faktischen« (ME: 139) in der Warenform gehen Horkheimer und Adorno auf der Suche nach dem Ursprung der Entfremdung von Natur und Geist in die Vorgeschichte der Gattung zurück. Anhand vier aufeinander folgenden Phasen – biologische, magische, mythische und logische Phase – erörtern die Autoren die Entstehungsgeschichte des modernen Zivilisationsprinzips, der naturbeherrschenden Rationalität. In den rationalistischen Strukturen der Gesellschaft, den arbeitsteiligen und tauschorientierten Verhältnissen, habe Horkheimer und Adorno zufolge die Vernunft die Beziehung zu den sich selbsterhaltenden Individuen verloren und schlage dadurch in Unvernunft um. Aus dieser Auslegung kann eine doppelte, geschichtsphilosophische Konsequenz gezogen werden: Erstens wird Entfremdung von den Hoffnungen der Aufklärung nicht allein als Krise als der bürgerlichen Gesellschaft sondern als konstitutive Antinomie der abendländischen Zivilisation aufgefasst. Daraus folgt zweitens, dass Aufklärung von den Autoren nicht beschränkt wird auf die Epochenbezeichnung und deren kulturelle, sozialen und philosophischen Manifestationen, sondern als ein die geschichtliche Entwicklung seit der Vorgeschichte der Gattung bestimmender Prozess fortschreitender Rationalisierung aufgefasst.
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
In der Aufwertung der Selbsterhaltung zum Zweck der Gattung verselbstständigt sich ein geschichtlich herausgebildetes Partikularinteresse zu einem allgemeinen Ziel. Durch den Gattungsbegriff erhält das Einzelinteresse des Menschen den Status, ein Zweck der Menschheit an sich zu sein. Insofern steht Vernunft als gattungsgeschichtlich herausgebildete Herrschaftsform über die innere und äußere Natur sowohl für die menschheitsgeschichtliche Erfahrung der Befreiung von der Natur und die Durchsetzung des Einzelinteresses als allgemeinem Zweck, als auch für die fortgesetzte Kontinuität des Partikularprinzips der Naturbeherrschung im Bewusstsein der Selbsterhaltung. Die Bestimmung der »Partikularität des Allgemeinen« (ebd.: 21) beschreibt den geschichtlich hervorgebrachten und sich fortsetzenden Widerspruch, der in der Vernunft unauflöslich eingetragen ist: Historisch entstanden, kann Vernunft nicht ohne den Begriff der Gattung erfasst werden, der beides bezeichnet, den einzelnen Menschen und die Menschheit im Ganzen, deren Funktion sie ist26 . Ihre Notwendigkeit ist jedoch nicht so sehr anthropologischer als vielmehr geschichtlicher Natur. Sie ergibt sich aus den politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen, die instituiert wurden infolge der »Auseinandersetzung der Menschen mit der physischen Natur, die sie zunächst in eine Mangelsituation, in ein Zuwenig versetzt hat, mit dem anders als durch eben jene Organisationsformen man nicht soll haben fertig werden können; nicht anders als eben in Gestalt der Herrschaftsverhältnisse, die die Menschen gezwungen haben, der Mangelsituation sowohl Rechnung zu tragen, wie den Mangel zu korrigieren, und die in sich notwendig den Antagonismus ausgebrütet haben.« (Ebd.: 78) Aus einer materialistischen Perspektive werden Naturbeherrschung und Vergesellschaftung erläutert als Antwort der Gattung auf Selbsterhaltung und Lebensnot. An dieser Stelle wird das Motiv der Reproduktion des Lebens der Menschen als Einzelne und der Menschheit als Gattung zum Denkmodell, an dem sich die Analyse der gattungsgeschichtlichen Herrschafts- und Entfremdungsverhältnisse entspinnt. Um die Universalgeschichte der naturbeherrschenden Rationalität zu verstehen, hangelt sich Adorno, befestigt an einem spekulativen Faden, hinab bis an den ›Ursprung‹ der Geschichte der Gattung. Dort findet er die »Katastrophe« (LGF: 81), die konstitutive Entfremdung, die nicht nur die Menschheit als Gattung sondern auch den destruktiven Charakter der Gattungsgeschichte hervorgebracht hat: »Es ist jedenfalls ein Gedanke, den man nicht einfach von der Hand weisen kann, daß am Anfang der Geschichte überhaupt so etwas wie eine schreckliche Katastrophe steht, durch die eben dieses herrschaftliche Moment sich eingedrängt hat […]. Wenn die Geschichte sich tatsächlich als permanente Katastrophe erweist, so ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, ob nicht schon im Ursprung, etwa gar in dem Menschwerden der Menschen selber irgendetwas Schreckliches geschehen ist, wie es in den Mythen von der Erbsünde und ähnlichen Vorstellungen überliefert ist, wo die Konzeption der
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In der Vorlesung zur Philosophischen Terminologie legt Adorno den Idealismus aus als ungeheure Anstrengung, die Vernunft vom Bewusstsein des empirischen Subjekts, das sich durch Selbsterhaltung konstituiert und durch Naturbeherrschung fortsetzt, abzulösen (vgl. PT II: 21).
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Menschwerdung, der Ausbildung der Rationalität selber mit einem unvordenklichen Unheil verbunden ist.« (Ebd.: 81f.)27 Die Analyse schlägt den Weg einer »radikale[n] Genealogie« (Navigante 2019: 403) ein, die in ihrem Zugriff auf Geschichte der Perspektive Nietzsches sowohl formal wie inhaltlich eng verwandt ist. Mit Nietzsche beleuchtet Adorno die Entdeckung und die Herausbildung der ›Gattungsvernunft‹, das Rationalitäts- und Selbsterhaltungsprinzip, als Resultat der vollzogenen Befreiung aus dem bloßen »physischen Zwang, der leiblichen Qual« (GS 8: 48) und der Etablierung rational gesteuerter Anpassungsprozesse. Nietzsches Erörterung der Selbsterhaltung als gattungsgeschichtliches Phänomen verfolgt die Entstehungsgeschichte der Rationalität bis zurück auf den individuellen und sozialen Existenzkampf. Er erkennt im Prozess der intellektuellen und sozialen Genese die »grosse Selbstbeherrschung« (KSA 6: 121) als den entscheidenden Sprung der Gattung aus der Lebensnot des Menschen als »noch nicht festgestellte[s] Thier« (KSA 5: 81; Herv. i.O.) in die Freiheit der Selbsterhaltung28 . Manifestationen der Befreiung sind die »Verstellungskunst« (KSA 1: 876) auf individueller29 , »Mittheilungs-Fähigkeit« (KSA
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Weil Denken das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gewalt nicht aufheben kann, bleibt es Adorno zufolge unauflöslich in einen »Schuldzusammenhang« (ME: 33) verstrickt. Der konstitutive Zusammenhang von Sünde und Schuld einerseits und Bewusstsein andererseits ist dort jedoch nicht unmittelbar theologisch gedacht. Zwar haben Religion und Philosophie eine gemeinsam geteilte Voraussetzung: Die Autonomie der philosophischen Erkenntnis ebenso wie die metaphysische Stellung Gottes sind nicht unmittelbar gegeben, sondern besitzen einen historischen Kern. Nicht nur werden diese durch verschiedene Prozesse der Abstraktion hervorgebracht, sondern basieren darauf, zu verschleiern, dass sich in ihrer Geltung geschichtliche Entwicklungen sedimentieren und diese prägen. Aber im Unterschied zur Religion, die in Gott ihr Prinzip hat, kann die Philosophie ihre erkenntnistheoretischen Bedingungen sowie ihren Gegenstand kritisch reflektieren. Dem gegenüber sieht Thomas Rentsch (1993) in Adornos Verwendung des Schuldgedankens, um das Problem begrifflichen Denkens zu begreifen, den Hinweis auf ein »kryptotheologisches Modell als latente Substruktur« (ebd.: 96). Der Autor vergleicht gar die negative Auffassung der Dialektik mit »gottlose[r] Theologie« (ebd.: 95). Anders argumentiert etwa der AdornoHerausgeber Tiedemann: Während er bei Benjamin die Neigung erkenne, Fortschritt an den transzendenten Eingriff, einen Hiatus der Geschichte zu, erkenne er bei Adorno gerade die Absicht, einer Verflüchtigung des Fortschritts in geschichtslose Theologie zu widerstehen (vgl. Tiedemann 1984: 196). Horkheimer und Adornos bestimmen die Entstehungsgeschichte verdinglichten Bewusstseins ausgehend von der Unterwerfung der Einzelnen unter das Prinzip der Lebenserhaltung. Deren Erinnerungsspur wird im Tier auf doppelte Weise erkennbar. Erstens in Form eines Unglücks, das darin besteht, die Verhaltensweise des Tieres zum Prinzip menschlichen Handelns gemacht zu haben: »Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat.« (DdA: 285) Zweitens als Erinnerung an ein verlorenes Glück, das in der Emanzipation von Natur erhalten blieb: »Die Erinnerung des fernsten und ältesten Glücks, die dem Geruchssinn aufblitzt, verschränkt sich noch mit der äußersten Nähe des Einverleibens. Sie weist auf die Urgeschichte zurück. Gleichgültig, welche Fülle der Qual den Menschen wiederfuhr, sie vermögen doch kein Glück zu denken, das nicht vom Bilde jener Urgeschichte zehrte.« (DdA: 82) »Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiß zu führen versagt ist. Im Menschen kommt die Verstellungskunst auf ihren Gipfel.« (KSA 1: 876)
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3: 590) auf intersubjektiver Ebene30 und der Auf- und Ausbaus sozialer Strukturen und Regulierungsweisen auf gesellschaftlicher Ebene31 . Die doppelte Erfahrung von Überlebenstrieb und Bedrohung des Lebens setzt die Dialektik von Trieb und Bewusstsein in Gang, aus der sich die geistigen und sinnlichen Voraussetzungen der Selbsterhaltung durch die Anpassung an die Erfordernisse der zweiten Natur herausbilden und fortsetzen32 . Selbsterhaltung ist darum nicht nur die notwendige Konsequenz und der »Ursprung der Erkenntniss« (ebd.: 469) im Rahmen der Befreiung aus der Ungeschiedenheit mit der Natur, sondern auch der sich geschichtlich fortsetzende Anlass zur rational vermittelten Anpassung der inneren Natur an die Erfordernisse der zweiten Natur33 . Bereits in ihren Ursprüngen ist die Gattungsgeschichte Naturgeschichte: Sie ist einerseits der Grund der befreienden Erhebung körperlichen Daseins aus ihrer Ungeschiedenheit mit der ersten Natur. Es erfolgt der Eintritt in die Freiheit der zweiten 30
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Nietzsche erörtert die Dialektik anhand der These, wonach sich das Bewusstsein aus dem doppelten Grund von Lebensnot und Mitteilungsbedürfnis entwickelt habe. Ausgangspunkt ist die Erfahrung, sich zu sich selbst in Beziehung zu setzen und seine Gedanken und Gefühle, explizit seine Lebensnot und Schutzbedürftigkeit wahrnehmen und ausdrücken zu können, um dann mit anderen darüber in kommunikativen Austausch zu treten (vgl. KSA 3: 590ff.). Die Entwicklung menschlichen Bewusstseins ist wie bereits angedeutet wurde, an den Prozess des Auf- und Ausbaus sozialer Strukturen und Regulierungsweisen genetisch geknüpft. Diese verbindet Nietzsche mit dem grausamen Sprung von Impulsen und Regungen zur sozialen und normativen Ordnungen. In dem Aphorismus Der Werth im Glauben an übermenschliche Leidenschaften aus der Morgenröthe schreibt Nietzsche dazu: »Die Institution hält hartnäckig den Glauben aufrecht, dass die Liebe, obschon eine Leidenschaft, doch als solche der Dauer fähig sei, ja dass die dauerhafte lebenslängliche Liebe als Regel aufgestellt werden könne. […] Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft Glauben an ihre Dauer und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben ihr einen neuen Rang gegeben: und Der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nicht, wie früher, dadurch erniedrigt oder gefährdet, sondern vor sich und seines Gleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lüge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer übermenschlicher, den Menschen hebender Begriff.« (KSA 3: 37f.) In einem Aphorismus stellt Nietzsche die durch Darwins Evolutionstheorie inspirierte These von der Entstehung des Denkens im Kampf der Gattung um Selbsterhaltung auf. Dort heißt es: »Der Intellect hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für sich und seinen Nachwuchs mit größerem Glücke. […] [S]ehr spät erst trat die Wahrheit auf als die unkräftigste Form der Erkenntniss. Es schien, dass man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet: alle seine höheren Functionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrthümern. […] Also: die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung.« (KSA 3: 469) Gattungsgeschichtlich steht Anpassung für die Fähigkeit der Transformation des Selbst am Leitfaden der Fehler anderer Menschen und Generationen; psychologisch für die Verinnerlichung gesellschaftlicher Prozesse; und philosophisch für die Aufhebung des anderen in einer allgemeinen und überzeitlich gültigen Vernunft oder Gedankensystem.
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Natur durch die Herausbildung von Intellekt und Sozialität, d.h. von Wahrnehmungsund Reflexionsfähigkeiten sowie von normativen und sozialen Ordnungen vermittels einer grundlegenden Kontrolle der Triebe und Impulse. Auf der anderen Seite bringt dasselbe Bedingungsgefüge, das die Befreiung aus der Ungeschiedenheit mit der ersten Natur ermöglicht, einen anderen Zustand unmittelbarer Natur hervor. In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um einen Naturzwang im biologischen Sinn, sondern um eben jenen geschichtlich instituierten und angeeigneten Zwang von Naturbeherrschung, der ein zentrales Element der Konstellation zweiter Natur darstellt. Dies legt den Schluss nahe: Die Befreiung aus erster Natur und die Unterwerfung unter zweite Natur sind nicht voneinander zu trennen. Mit der Vermittlungsfigur der Naturgeschichte umkreist Adorno nicht nur den Prozess der Zivilisierung, den die Naturbeherrschung als einheitsstiftendes Moment hervorgebracht hat, sondern auch die Erfahrung, dass die Erhaltung der Gattung abhängig ist von der Reproduktion der schon vorhandenen Wirklichkeit als Herrschaft. Kern der negativen Universalgeschichte ist darum die Einsicht, dass die Möglichkeit der Menschwerdung der Menschheit gattungs- und individualgeschichtlich nur durch die kontinuierlich fortgesetzte Beherrschung und Unterdrückung der Natur verwirklicht werden kann. Die geschichtliche Dynamik der Konstellation von Vernunft, Gattung und Selbsterhaltung bewegt sich in der unaufhörlichen Spannung der Befreiung aus der Natur durch Herrschaft sowie ihrer immanenten und zugleich gegenläufigen Bewegung, d.h. der notwendigen Anpassung an zweite Natur: »Anpassung aber ist unmittelbar das Schema fortschreitender Herrschaft. Nur durch ein der Natur sich Gleichmachen, durch Selbsteinschränkung dem Daseienden gegenüber wurde das Subjekt dazu befähigt, das Daseiende zu kontrollieren. Diese Kontrolle setzt gesellschaftlich sich fort als eine über den menschlichen Trieb, schließlich über den Lebensprozeß der Gesellschaft insgesamt. Zum Preis dafür aber triumphiert Natur gerade vermöge ihrer Bändigung stets wieder über den Bändiger, der nicht umsonst ihr, einst durch Magie, schließlich durch strenge szientifische Objektivität, sich anähnelt. In dem Prozeß solcher Anähnelung, der Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen, behauptet sich das Gegenteil dessen, als was er sich weiß, das bloße unmenschliche Naturverhältnis.« (THB: 96) Die ›Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen‹ beschreibt die universalgeschichtliche conditio humana eines entfremdeten Daseins. Woran sich die Einzelnen anpassen, ist geschichtlich bedingt und dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Dass sie sich anpassen müssen, dass sie ihre Lebendigkeit und Wünsche zurückdrängen müssen, und dies unmittelbar und notwendigerweise im Schema der Naturbeherrschung vollziehen, erweist sich aus Adornos Perspektive einer Universalgeschichte der Negativität als Ausdruck der ›Permanenz der Katastrophe‹. Die Ausführung dieses Zusammenhangs ist nicht zufällig in der Theorie der Halbbildung zu finden. Die Terminologie der ›Halbbildung‹ stellt den Versuch dar, die Erfahrung von Entfremdung unter der Bedingung ›fortschreitender Herrschaft‹ ausgehend von einer Analyse der Bildungskrise zu erläutern. Die Auseinandersetzung wird anhand von zwei Fragen geführt: Was heißt es und worin zeigt es sich, geistig entfremdet zu sein? Und durch was wird die
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geistige Entfremdung hervorgebracht? Der Rückgriff auf die ›Naturgesetze‹ der instrumentellen (Gattungs-)Vernunft reicht genauso wenig aus, um das geistig entfremdete Bewusstsein zu erläutern, wie es hinreichend ist, geistige Entfremdung nur als Problem einer spezifischen Form des Bewusstseins zu beschreiben. Die Naturverfallenheit der Bildung in der Halbbildung steht, wie in der Passage angedeutet, in konstitutivem Zusammenhang mit dem »Lebensprozeß der Gesellschaft insgesamt« (ebd.).
2.2.2
Gesellschaftskritik geistiger Entfremdung
Die Fortschrittsgeschichte der Naturbeherrschung betrachtet Naturverfallenheit nicht nur als Ergebnis einer Selbstverkehrung des Fortschritts, die bereits mit dem menschheitsgeschichtlichen Austritt aus der unmittelbaren Ungeschiedenheit mit der Natur begann, sondern auch als Resultat der ›Naturgesetze‹ der kapitalistischen Gesellschaft. Adorno kristallisiert an Hegels Konstruktion des historischen Prozesses, die »Gesamtbewegung der Gesellschaft« (ND: 298; Herv. rb) heraus, indem er deren Prinzipien von Vernunft und Freiheit in den Vermittlungsverhältnissen der »gesellschaftlichen Totalität und ihren Bewegungsgesetzen« (ebd.: 197) aufsucht34 . Die Totalität der Geschichte als vernünftiges Ganzes findet seine soziale Entsprechung in den Bewegungsgesetzen der Gesellschaft, die einen Funktionszusammenhang zwischen den Einzelnen stiften, ohne dass sich die Einzelnen darüber bewusst würden. Gegenstand der Analyse ist insofern »die Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der bewußtlosen Gesellschaft« (ebd.: 349). Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und realer Geschichte entwickelt Adorno eine Form der Reflexion, für die die Begriffe von Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie (1983 [1859]) gesellschaftskritisches Programm ist. Er spürt der »Objektivität des geschichtlichen Lebens« (ND: 347) nach, indem er die negative Universalgeschichte ausgehend von den Zwangsmechanismen der Gesellschaft deutet.
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Gesellschaft hat Adorno zufolge die Form einer zweiten, total gewordenen Natur, die als zweite Unmittelbarkeit und darum absolut erfahren wird. Es sei noch einmal daran erinnert: Geschichte als Naturgeschichte zu begreifen, heißt das Gegebene in seiner Absolutheit und in seiner Brüchigkeit zu begreifen. Adorno überträgt die Dialektik von Totalität und Brüchigkeit in die kategoriale Dialektik von Statik und Dynamik. Gesellschaftliche Prozesse, die der Sache nach Bewegung meinen, können sich in der Realität als statisch erweisen, wohingegen Strukturen, die den Zweck verfolgen, gesellschaftliche Stabilität und Dauerhaftigkeit zu stiften, als Gewordene auf ihre Endlichkeit verwiesen bleiben. Gesellschaft als widersprüchliche Einheit von Natur und Naturverfallenheit, von statischen und dynamischen Elementen zu analysieren, geht über das Programm der empirischen Soziologie hinaus. Stattdessen versteht Adorno Gesellschaftsanalyse als »Konstruktion der Totale« (GS 8.1: 197; Herv. rb). Konstruktion als Form und Totalität als Kategorie deuten den philosophischen Bezug an, aus dem sich jene nicht zufällig speisen: »Die Theorie der Gesellschaft ist aus der Philosophie entsprungen, während sie zugleich deren Fragestellungen umzufunktionieren trachtet, indem sie die Gesellschaft als jenes Substrat bestimmt, das der traditionellen Philosophie ewige Wesenheiten hieß oder Geist. Wie die Philosophie dem Trug der Erscheinungen mißtraute und auf Deutung aus war, so mißtraut die Theorie desto gründlicher der Fassade der Gesellschaft, je glatter sie sich darbietet. Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält.« (Ebd.: 196)
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Das hinzutretende Dritte
In der mit Naturgeschichte überschriebenen Passage der Negativen Dialektik bezieht sich Adorno auf Marx’ Analysen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als Naturgeschichte (vgl. ebd.: 348f.). Marx beschreibe, so Adornos Interpretation, die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation ausgehend von den Verwandlungen gesellschaftlich hervorgebrachter Vermittlungsweisen in den Schein zweiter Natur als einen naturgeschichtlichen Prozeß: »Sie finden bei Marx das Eingedenken der Naturhaftigkeit des Menschen und seiner geschichtlichen Prozesse und eine Lehre von der schrankenlosen Steigerung der Produktivkräfte und von der Organisation der gesamten Menschheit als eine Art rational verwalteter Industrie […]. Auch diese bildet eine merkwürdige Einheit von […] Selbstbesinnung des Menschen auf seine Naturhaftigkeit und ein sehr weit getriebenes Programm der Naturbeherrschung.« (PT II: 206) Der Begriff der Naturbeherrschung wird in diesem Zusammenhang zur Nahtstelle zwischen Gesellschaft und Geschichte35 . Naturbeherrschung gibt dem geschichtlichen Prozess und dem Zusammenschluss der Menschen zur Gesellschaft seine immanente Struktur und dennoch übersteigt die Beschreibung der Bewegungsgesetze der Gesellschaft das Moment der Herrschaft über Natur: »Das, was Gesellschaft eigentlich zu einem Gesellschaftlichen macht, wodurch sie im spezifischen Sinn sowohl begrifflich konstituiert wird, wie auch real konstituiert wird, das ist das Tauschverhältnis, das virtuell alle Menschen, die an diesem Begriff von Gesellschaft teilhaben, zusammenschließt.« (NaS IV, 15: 57) Das allgemeine Bewegungsgesetz, das zum einen an das heranreicht, was man aus Adornos Sicht ein geschichtliches Gesamtsubjekt nennen könnte, und zum anderen die Totalität der Gesellschaft neben der universal gewordenen Naturbeherrschung konstituiert, ist das Gesetz des Tausches und der unmittelbar mit diesem verbundene Zwang zur Abstraktion. Für Adornos Theorie der Gesellschaft ist die These »von der universellen Vermittlung alles Besonderen und Einzelnen durch das antagonistische Ganze der Tauschgesellschaft« (Schnädelbach 1983: 86) zentral. Die Geschichte im Ganzen und die gesellschaftliche Wirklichkeit werden vermittelt im Tausch. Der Begriff der universellen Vermittlung durch den Tausch enthält zwei Ebenen: Zum einen die Annahme, die Fortschrittsgeschichte habe ihr Universalprinzip im Moment des von der Einzelheit abstrahierenden Tausches; zum anderen die Beschreibung als Konstitutionsbedingung der Zwangsmechanismen der Gesellschaft. Adorno deutet Hegels Idee von der geschichtlich fortschreitenden Vernunft als Konstruktion der realgeschichtlichen Entwicklung hin zur vollständigen Integration der sozialen Verhältnisse und Beziehungen in die Logik des Allgemeinen:
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Dies schließt ein zu zeigen, dass der egalitär anmutende, aber partikularen Interessen dienende Tausch, nicht erst durch die bürgerliche Gesellschaft seine zentrale Geltung bekommen hat. In der Dialektik der Aufklärung wird etwa mit der Interpretation des vorgeschichtlichen Opferkults als Tauschgeschäft versucht, den Beweis zu führen, dass die Entstehung der Tauschkategorie nicht allein ökonomischer Natur war, sondern auch der zentrale Modus archaischer Praktiken und religiöser Riten (vgl. DdA: 55ff.).
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
»Das Zug um Zug in der Geschichte ebenso wie das zur Totalität fortschreitende Äquivalenzprinzip des gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen Einzelsubjekten verläuft nach der Logizität, die Hegel vorgeblich in sie bloß hineininterpretiert. Nur ist diese Logizität, der Primat des Allgemeinen in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderen, index falsi. So wenig wie Freiheit, Individualität, all das, was Hegel mit dem Allgemeinen in Identität setzt, ist auch jene Identität. In der Totale spricht dessen eigenes Mißlingen sich aus. Wer kein Partikulares erträgt, verrät damit sich selber als partikular Herrschendes. Die sich durchsetzende allgemeine Vernunft ist bereits die eingeschränkte.« (ND: 311) Geschichte ist für Adorno die Realisierung der Unvernunft des Allgemeinen. Hinter dem Schein der Vernunft steht das Äquivalenzprinzip, das Adorno als Realisierung einer Unvernunft zum Zweck des Allgemeinen interpretiert. Der geschichtliche Zweck der Tauschgesellschaft steht nicht nur unmittelbar im Gegensatz zur Idee der Freiheit, sondern auch hinsichtlich seiner Bedingungen. Insofern er sich realgeschichtlich nur auf dem Weg der Entindividualisierung, der Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine verwirklichen kann, löst sich das Freiheitsversprechen der Geschichte in der Wirklichkeit der Tauschgesellschaft auf. Die Reflexion der universalen Herrschaftsgeschichte des Tauschprinzips, welche die immanente, gesellschaftskonstitutive Ungleichheit des Tauschverhältnisses nur durch die unmittelbare und vollumfängliche Integration der Einzelnen in die Gesellschaft reproduzieren kann, führt Adorno zu einer Auseinandersetzung mit den Zwangsmechanismen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: »In dessen universalem Vollzug, nicht erst in der wissenschaftlichen Reflexion, wird objektiv abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit des Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beiher, als Sekundäres befriedigt. Primär ist der Profit. […] Die Abstraktheit des Tauschwerts geht […] mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen. […] In der Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentausches versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Das bleibt wahr trotz aller Schwierigkeiten, denen mittlerweile manche Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie konfrontiert sind. Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, dass alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem ›Profitmotiv‹ geleitet werden oder nicht.« (GS 8.1: 13f.) Erläutert werden hier die ökonomischen und rationalen Komponenten des kapitalistischen Herrschaftsverhältnisses. Selbsterhaltung wird ökonomisch ausbuchstabiert und an die Anforderungen von Warentausch und Konsum – zusammengehalten durch den Zweck der Profitsteigerung – gebunden. Vermittelt werden die verschiedenen Elemente durch die Universalität des Tauschprinzips und dessen Bedingung der Abstraktion. Was sich in Adornos Erläuterung des gesellschaftlichen Vermittlungsverhältnisses widerspiegelt, ist nur auf den ersten Blick eine bloße Analyse der Gesellschaftsstrukturen: »Im Geist ist Einstimmigkeit des Allgemeinen Subjekt geworden, und alle Allgemeinheit behauptet in der Gesellschaft sich nur durchs Medium des Geistes, die abstra-
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Das hinzutretende Dritte
hierende Operation, die er höchst real vollzieht. Beides konvergiert im Tausch, einem zugleich subjektiv Gedachten und objektiv Geltenden […].« (ND: 310) Der Tausch ist eine gesellschaftliche Kategorie, die verschiedene Vermittlungsverhältnisse zwischen Individuum, Institutionen und Waren reguliert und die Gesellschaft als Ganze konstituiert. Als Kategorie strukturiert und ordnet der Tausch die Erfahrung und ist darum auch konstitutiver Bestandteil reflexiver Vollzüge. Die Konvergenz zwischen Gesellschaft und Erkenntnis im Tausch wird für Adorno zum Konzentrationspunkt einer gesellschaftstheoretisch vermittelten Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Formen der Gegenstandserkenntnis. Eine solche Auseinandersetzung wäre weder rein materialistisch noch rein idealistisch. Adorno legt einen Modus der Gesellschaftskritik fest, der auf die Vermittlung der intellektuellen und der materiellen Voraussetzungen der Gesellschaft zielt. In gesellschaftliche Vermittlungsverhältnisse und »gesellschaftliche Kategorien ist philosophisch überzugehen allein durch Dechiffrierung des Wahrheitsgehalts der philosophischen« (ND: 198). Adorno entdeckt in den Voraussetzungen und Formen der Erkenntnis den Prozesscharakter der arbeitsteiligen Tauschgesellschaft. Abstraktion, Adäquation, Vergleich und Identifikation sind dann eben nicht nur logische Operationen, und Einheit, Gleichheit, Verschiedenes und Totalität nicht nur apriorische Kategorien. In der Rationalität des Tausches verdichtet sich das gesellschaftstheoretische Fundament der Gegenstandserkenntnis: »Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und es wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität.« (Ebd.: 149) Adorno löst die vermeintliche Trennung zwischen Logik und Gesellschaft auf, indem er ihre Abhängigkeit voneinander betont. Die Verschleierung des im Tausch spürbaren Spannungsverhältnis von Allgemeinem und Besonderen ist für Adorno möglich durch das Identifikationsprinzip, das Gleichmachen von verschiedenen, gar von entgegengesetzten Phänomenen. Vice versa entspringen Identität und Identifikation als principii synthesis einer Notwendigkeit im gesellschaftlichen Prozess des Warentausches und der Aneignung menschlicher Arbeit. Ein weiterer Strang, der die Dialektik von Erkenntnistheorie und Gesellschaft hinsichtlich des Identifikationsprinzips erhellt, ist das Phänomen der Gleichsetzung des Verschiedenen durch ihre ununterscheidbare Teilhabe am gesellschaftlichen Zwang zur Arbeit: »Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind solche der gesellschaftlichen Macht; daher rührt der Vorrang der Produktion über die anderen Bereiche. In ihm verschränken sich die für die gesellschaftliche Dialektik insgesamt maßgeblichen Momente: die menschliche Arbeit, durch die das Leben bis in die äußersten Sublimierungen hinein sich erhält, und die Verfügung über fremde Arbeit als Schema von Herrschaft. Ohne gesellschaftliche Arbeit ist kein Leben, Genuß wird von ihr erst hervorgebracht.« (GS 14: 399)
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
Innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft fungiert die über den Tausch vermittelte Arbeit als zentrales Element zur Fortsetzung von Herrschaftsverhältnissen. Der Arbeitsprozess selbst ist eingelassen in ein Vermittlungsverhältnis, das sich aufspannt zwischen der Notwendigkeit der Arbeitsteilung zur Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion und der Vergesellschaftung der individuellen Arbeit deren Resultat, wie Berger und Städtler (2015) feststellen, »in zweierlei Weisen den Subjekten dieser Arbeit, den unmittelbaren Produzenten, entzogen wird, einmal als Produktionsmittel und einmal als Privateigentum« (ebd.: 356). Um den Widersprüchen gesellschaftlicher Arbeit – die ungleiche Verteilung von Arbeit und Besitz, die Entfremdung des Menschen zu seinem Handeln als freie Tätigkeit, zum Produkt der Arbeit, zu sich als Gattungswesen sowie von anderen Menschen – nachzugehen, geht Adorno hinter das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis der »kapitalistischen Aneignung des Mehrwerts im Tausch der Ware Arbeitskraft gegen deren Reproduktionskosten« (F: 636) zurück und wendet sich dem Begriff der Arbeit selbst zu. Eine exponierte Rolle spielt dabei das bürgerliche Modell der Arbeit, wie es, Adorno zufolge, in Hegels Begriff des Geists repräsentiert wird: »Das Hegelsche Kapitel über Herr und Knecht entwickelt, wie man weiß, aus dem Arbeitsverhältnis die Genese des Selbstbewußtseins, und zwar in der Anpassung des Ichs an den von ihm bestimmten Zweck sowohl wie an das heterogene Material. Kaum noch eben wird dabei der Ursprung des Ichs im Nichtich verhüllt. Er wird im realen Lebensprozeß aufgesucht, in den Gesetzmäßigkeiten des Überlebens der Gattung, ihrer Versorgung mit Lebensmitteln. Vergebens hypostasiert Hegel danach den Geist. […] Unverloren ist die Einsicht des Idealismus, daß die Tätigkeit des Geistes als Arbeit durch die Individuen gleichwie durch ihre Mittel vollzieht und in ihrem Vollzug die Individuen zu ihrer Funktion herabsetzt. Der idealistische Geistbegriff beutet den Übergang zur gesellschaftlichen Arbeit aus: die allgemeine Tätigkeit, welche die einzelnen Tuenden absorbiert, vermag er leicht, unter Absehung von diesen, ins An sich transformieren.« (ND: 198f.) Adorno beschreibt hier die Genese der bürgerlichen Arbeitsideologie als Hypostasierung der gesellschaftlichen und individuellen Praxis der Naturbeherrschung. Vermittelt über den Begriff des Geistes werden die Partikularität und der Zwang des zweckgerichteten, menschlichen Verhältnisses zur Natur im Rahmen der Arbeit und deren gesellschaftliche Organisation – die Gesamtheit der technologische-ökonomischen Aneignungsweisen der äußeren und der sozialen Natur – zur Voraussetzung der individuellen und gesellschaftlichen Selbstbestimmung. Die geschichtlichen Voraussetzungen und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Arbeit als Zwangs- und Entfremdungsverhältnis bleiben dem ›Selbstbewusstsein‹ unverfügbar. Im Gegenteil: Für Hegel verfolgt die Hervorbringung von Selbstbestimmung durch Arbeit nicht nur gesellschaftliche Zwecke, sondern es stellt das ökonomische Resultat der Arbeit auch als »ein notwendiges Durchgangsmoment in einem übergeordneten systematischen Zusammenhang dar, dessen Ziel […] auch deren sittlicher Entfaltung genügen muss« (Berger/Städtler 2015: 347). Arbeit, die sich auf den Zweck der Sittlichkeit, des vernünftigen Allgemeinen hin realisiert, nennt Hegel Bildung:
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»Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung, die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der, nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlichen Substantialität der Sittlichkeit. – Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens gegen die Unmittelbarkeit der Begierde, sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens.« (W 7: 344) Nachdem die Herr-Knecht-Figur, die Natur in »den vergegenständlichten und wiederholbaren Arbeitsprozessen« (ND: 327) aufgehoben hat, so scheint es nun der Zweck der sittlichen Bildung zu sein, die Entfremdung des Geistes durch die Tätigkeit des Geistes zu überwinden. In dem Abschnitt Reine Tätigkeit und Genesis aus der Negativen Dialektik nimmt Adorno gegenüber der Vergeistigung der Bildung in kritischer Absicht Bezug: »Tätigkeit des Geistes, einmal vermenschlicht, kann niemand und nichts anderem zugesprochen werden als den Lebendigen. […] Einzig sofern es seinerseits auch Nichtich ist, verhält das Ich sich zum Nichtich, ›tut‹ etwas, und wäre selbst das Tun Denken. Denken bricht in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Anderes, weil es Anderes immer in sich schon ist. […] Beides, Körper und Geist, sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Gesetztes. Die reflektiert das historisch gewonnene ›Selbstbewußtsein‹ des Geistes und seine Lossage von dem, was er um der eigenen Identität willen negiert. Alles Geistige ist modifiziert leibhafte Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist« (Ebd.: 201f.) Adorno kann bei Hegel nur eine entfremdete Bildung finden. Die Kritik an der Entfremdung des Bewusstseins berührt sich mit dem Versuch einer Verschiebung des idealistischen Bildungsbegriffs. Dessen Vereinnahmung der Bildung durch den Geist und die Entfremdung des Bewusstseins von seiner somatischen Erfahrung sind zwei Seiten einer Medaille. Der Vorrang des Denkens über den Körper und die These von der radikalen Differenz zwischen Körper und Geist sind zentrale Bedingungen einer Bildungsphilosophie der Identität. Mit der ›Vermenschlichung‹ der geistigen Tätigkeit verändern sich auch die Voraussetzungen und der Zweck der Bildung. Der ›qualitative Umschlag‹ der Bildung durch das Begreifen der eigenen Entfremdung – oder wie Adorno es nennt: ›Denken bricht in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Anderes‹ – öffnet die Erfahrung des Bewusstseins hin auf seine somatische Vermittlung. In der Theorie der Halbbildung bringt Adorno die Bildungskrise zusammen mit dem Zustand der Bilderlosigkeit und dem Verlust des somatischen Moments in der Bildung: »Nichts verhält mehr den Geist zur leibhaften Fühlung mit den Ideen« (THB: 105). Es stellt sich also eine gewisse Spannung ein zwischen der Entschlüsselung des somatischen Moments in der idealistischen Bildungsidee und dem Scheitern der Verwirklichung somatischer Bildung. Adorno versteht die Phantasielosigkeit und die Körperlosigkeit weniger als einen subjektiven Mangel, vielmehr handelt es sich dabei um den unmittelbaren Ausdruck der warengesellschaftlich organisierten Kulturindustrie.
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
2.2.3
Kulturindustrie als zweite Natur
Eine entscheidende Rolle für ein Verständnis der Bildungskrise spielt die kritische Auseinandersetzung mit der Kulturindustrie. Unter Kulturindustrie, so eine erste Annäherung, kann ein geschichtlich hervorgegangener und gesellschaftlich sedimentierter, praktizierter und erlebter Zusammenhang verstanden werden, der im Hinblick auf die Kultur in vielen Aspekten die industrielle Organisationsform nachahmt, aber nicht mit ihr identisch ist. Ähnlichkeiten lassen sich etwa in der Produktionsweise feststellen: Produkte, also in diesem Fall Kulturprodukte werden gezielt zum Zwecke der Konsumierung durch die Massen hergestellt. Damit sie von der Mehrheit konsumiert werden können, müssen die Produkte möglichst standardisiert sein. Mit der »Standardisierung der Sache« in engem Zusammenhang steht die »Rationalisierung der Verbreitungstechniken« (GS 10.1: 25), worunter Produktion und Distribution der Kulturprodukte fällt. Zentraler Modus und Maßstab der Kulturindustrie ist also die Vereinheitlichung; vereinheitlicht werden die Produkte, die Produktion und Distribution sowie die Konsumtion. Im Zentrum von Adornos kultur- und gesellschaftskritischem Zugriff auf die Strukturen der Kulturindustrie steht die Warenform der Kulturprodukte36 . Sie verbindet die Kritik an der Totalität des Tauschverhältnisses mit der Kritik an der konservativen Kulturvorstellung und setzt sich fort in der Konfrontation des Autonomieideals mit der Konsumlogik der Kulturindustrie. In seiner Analyse der Kulturprodukte als für den Massenkonsum bestimmter Waren greift er den Begriff des Fetischcharakters und der Verdinglichung von Marx und Lukács auf37 . Adorno führt Verdinglichung zurück auf das Spannungsverhältnis von Herrschaft und Natur, das sich in den Bewusstseinsstrukturen und in den Strukturen der Gesellschaft sedimentiert und sich immer wieder gegenseitig hervorbringt. Vor diesem Hintergrund wird die Warenform als Totalität und als Vermittlungsinstanz, als zweite Natur und als Geschichte beschrieben. Der Bezug auf die Ware ist unausweichlich und darum ist sie total. Bezogen auf die Kultur bedeutet dies, dass »die industrielle Verwaltung aller Kulturgüter als Totalität sich etabliert hat« (GS 12: 15). In der verwalteten Kultur als zweite Natur der, vom Profitmotiv bestimmten, Gesellschaft seien »[g]eistige Gebilde kulturindustriellen Stil […] nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und
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Bollenbeck (2007) bezeichnet Kulturkritik als einen »Reflexionsmodus der Moderne«, deren »motivierende Ausgangslage, […] [ist] eine geschichtsphilosophisch nicht mehr vermittelbare Diskrepanz zwischen hochgestimmten Erwartungen und ernüchternden Erfahrungen. Aus dieser Diskrepanz entsteht die allgemeine Problemkonfiguration kulturkritischen Denkens, nämlich die Entfremdung von sich selbst und von der Gesellschaft und die schwierige Vermittlung von Individuum und Gesellschaft.« (Ebd.: 11; Herv. i.O.) Bereits in der Antrittsvorlesung greift Adorno Lukacs’ Analysen der Ware kritisch auf und setzt sich an anderer Stelle – wie bereits gezeigt – mit Lukács These von der total entfremdeten zweiten Natur auseinander. Entfremdung bezeichnet hier einen den Individuen vorausgesetzten und in der Warenform existierenden Zustand der Trennung des Menschen von seiner Natur. Eine Analyse der Rezeption der Verdinglichungsthese Lukács in der Kritischen Theorie von der Dialektik der Aufklärung über Adornos Negative Dialektik zu Habermas Theorie des Kommunikativen Handelns und Honneths Anerkennungstheorie findet sich bei Quadflieg (2011).
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durch« (GS 10.1: 338; Herv. i.O.). Aus diesem Grund müsse sich auch das Profitinteresse nicht mehr durchsetzen, weil es immer schon durchgesetzt ist. Es habe sich in den Kulturwaren »vergegenständlicht, zuweilen sich unabhängig gemacht vom Zwang, die Kulturwaren zu verkaufen, die ohnehin geschluckt werden müssen« (ebd.: 339). Mit dem Aspekt des Kulturkonsums hat die Kulturware Einzug in die Sphäre der Selbsterhaltung erhalten, wobei das Verhältnis von Notwendigkeit und Zwang zu präzisieren wäre38 . Gerade weil der Konsum nicht erzwungen ist, sondern sich auf notwendige Weise vollzieht, ist er zwanghaft, zweite Natur. Obgleich also hinter der scheinhaften Notwendigkeit wiederum der durch den Gebrauchswert verschleierte Tauschwert steht, ist der Gebrauchswert zugleich real. In der Kulturware vermittelt sich die Totalität des Tauschzwangs mit deren sekundärem Nutzen, der Bedürfnisbefriedigung. Insofern vermittelt die Kulturware zwischen den Bedürfnissen der Konsumenten und den Zwecken der Kultur, die beide wiederum geschichtlich, d.h. kulturindustriell vermittelt sind. In der Kulturindustrie »werden Produkte mehr oder minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmten. […] Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben. […] Während die Kulturindustrie dabei unleugbar auf den Bewußtseinsstand der Millionen spekuliert, denen sie sich zuwendet, sind die Massen nicht das Primäre, sondern ein Sekundäre […], nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt.« (Ebd.: 337) Die Bedürfnisse, deren Befriedigung das Versprechen des Standardproduktes ist, sind selbst durch die gesellschaftliche Konstellation der Kultur hervorgebracht39 . Gleichsam die Bedürfnisse, die durch den Konsum von Kulturprodukten, durch die Produktion selbst hervorgebracht werden, geht auch der Konsum nicht auf die Dinge selbst, sondern darauf zurück, was sie gesellschaftlich bedeuten40 . Die Verwandlung von Kultur38
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In vermittelter Weise ist dies dort der Fall, wo die Angleichung von Produktion und Konsumtion im Alltagsleben der Einzelnen sichtbar wird. Sie finden für die Vermengung von Arbeit und Freizeit den Begriff des Amüsements: »Amüsement ist die Verlängerung der Arbeitszeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst« (DdA: 158f.). In den Thesen über Bedürfnis (1942) schreibt Adorno zur Geschichtlichkeit der Bedürfnis- und Triebnatur des Menschen: »Bedürfnis ist eine gesellschaftliche Kategorie. Natur, der ›Trieb‹ ist darin enthalten. Aber das gesellschaftliche und das natürliche Moment des Bedürfnisses lassen sich nicht als sekundär und primär voneinander abspalten, um danach eine Rangordnung von Befriedigungen auszustellen. […] Jeder Trieb ist so gesellschaftlich vermittelt, dass sein Natürliches nie unmittelbar, sondern stets nur als durch die Gesellschaft produziertes zum Vorschein kommt.« (GS 8: 392) Das Bedürfnis hat sich also vom materiellen Naturbezug entkoppelt und wird nun durch die Warenform geformt: »Gerade nicht das Bedürfnis konstituiert die Ware. Der Warenwert wird nicht aus dem Bedürfnis abgeleitet, sondern aus den objektiven Bedingungen der Produktion, in die zwar das Bedürfnis eingeht, aber nur an letzter Stelle, nämlich vermittelt durch das Interessen, das Zeug los zu werden.« (Adorno 1997 zit.n. Braunstein 2011: 207) »Scheinheilig beansprucht die Kulturindustrie, nach den Konsumenten sich zu richten und ihnen zu liefern, was sie sich wünschen. Aber während sie beflissen jeden Gedanken an ihre eigene Autonomie verpönt und ihre Opfer als Richter proklamiert, übertrifft ihre vertuschte Selbstherrlichkeit
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gütern in Waren wird für Adorno nicht nur »aus dem gesellschaftlichen Apriori objektiv deduziert, dem Tauschvorgang« (ND: 188), sondern auch darin sichtbar, dass sie ihre »vermittelte Nützlichkeit« (MM: 306), Produktion und Konsumtion zum Zweck des Profits, verbirgt. Aus diesem Grund »sind die Bedürfnisse der Menschen, ist die Befriedigung des Menschen selber immer nur ein Beiherspielendes […]: Wenn gesagt wird, dass alles für die Menschen da sei, so klingt das eben deshalb so hohl, weil in Wirklichkeit ja für den Profit produziert wird, und weil die Menschen von vorneherein […] als Konsumenten eingeplant sind.« (LGF: 76) Verwertungsprinzip und Profitmotiv stiften den Zusammenhang – von Produktion und Bedürfnis, von Tausch und Rezeption –, der die verdinglichten Objekte der Kultur hervorbringt als Warenverhältnis (vgl. GS 10.1: 338). Die Produktion von Kultur als Ware geht unmittelbar auf ökonomische Kategorien zurück: »Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, daß sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind im Gebrauch auf, daß man sie nicht mehr gebrauchen kann« (DdA: 185). Das Paradox der warenförmigen Kultur besteht in der Unmittelbarkeit ihrer gesellschaftlichen Praxis. Kultur ist so in zweiter Natur aufgegangen, dass sie sich gegenüber sich selbst verselbstständigt hat. Wenn Adorno von der »Standardisierung der Sache« (GS 10.1: 339) spricht, bezieht sich dies sowohl auf die Weise der industriellen Kulturproduktion, als auch auf den Umgang mit Kultur selbst. Diese Feststellung ist nicht nur dahingehend relevant, dass sie auf den Fetischcharakter der Kultur – die durch die Normen der Konsum- und Zirkulationssphäre präformierte Wahrnehmung und Erfahrung von Kultur– verweist, sie bildet auch den Anstoß einer historischen Rekonstruktion der Bedingungen der Entstehung der Kulturindustrie. Adorno erläutert die Genese der Kulturindustrie ausgehend von der historischen These, dass der Übergang von der bürgerlichen Kultur zur Kulturindustrie, von autonomer Kunst zu ihrem Fetischcharakter nur gelingen konnte, weil die Bedingungen des Wandels in der bürgerlichen Kultur in verdeckter Weise schon vorhanden waren. Zu den Bedingungen zählen die Aufhebung des Differenzverhältnisses zwischen autonomer Kultur und Markt sowie die Entkoppelung der Kunst von ihrer Freiheit zur Form. Die bürgerliche Kultur agiert zwischen »Zwecke[n], die der Markt deklariert« und dem Formideal der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« (DdA: 181), zwischen ökonomischer Abhängigkeit und der Autonomie der Form (vgl. Geulen 2019). Während jener Widerspruch zwischen dem Ideal der autonomen Kunst und der warenproduzierenden und -tauschenden Gesellschaft für eine gewisse Zeit Bedingung der Schaffung, zumindest scheinhaft, autonomer Kunstwerke sein konnte, ist die Aufhebung der Spannung zur Seite des Marktes Indiz dafür, dass die – allgemein gesprochen – »radikal vergesellschaftete Gesellschaft nichts draußen läßt« (GS 8: 133). Der destruktive Charakter der Kulturindustrie besteht darin, dass in ihr der Autonomieverlust des künstlerischen Prozesses zum Ausdruck kommt, einer Freiheit, die diese durch fortschreitende Materialbeherrschung erreicht hat. In dem historischen
alle Exzesse der autonomen Kunst. Nicht sowohl paßt Kulturindustrie sich den Reaktionen der Kunden an, als daß sie jene fingiert. Sie übt sie ihnen ein, indem sie sich benimmt, als wäre sie selber ein Kunde.« (MM: 228)
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Durchgangspunkt von der bürgerlichen Kultur zur Kulturindustrie hat die Kunst einen Stand erreicht, dass ihre durch Materialbeherrschung und –gestaltung hervorgebrachten Formen in der Lage sind, »dem Unterdrückten zur Stimme zu verhelfen« (VÄ: 91). Kunstwerke, die das Ziel verfolgen, die Erfahrung der Entfremdung ästhetisch zu übersetzen, zu »verfremden und auf diese Weise in eine Perspektive zu rücken, die die Perspektive des Wesens und nicht mehr die bloße Erscheinung ist« (VÄ: 127), entfalten sich aus einer Dialektik von Konstruktion und Ausdruck. Kunstwerke bringen die Entfremdung zum Ausdruck, indem sie ihre Erfahrung vermittelt mit der »Logik des Materials« (VÄ: 103) und sie dadurch in eine andere, nicht mehr unmittelbar Entfremdung seiende Form übersetzt. Durch diesen Prozess des Verfremdens macht Kunst die Entfremdung geistig erfahrbar und damit zu Gegenständen von Bildungs- und Erkenntnisprozessen. Gibt das Kunstwerk jedoch eine der beiden dialektischen Pole auf, kommt es zuerst zum »Verlust an Innenspannung« (GS 8: 133) auf Seiten der Kunst und dann zum Ausbleiben eines Bewusstwerdungsprozesses auf Seiten der Bildung. Der Autonomieverlust der Kunst spielt, wie der Fetischcharakter und die Warenform der Kultur eine entscheidende Rolle, beim Übergang von der bürgerlichen Bildung in die spätbürgerliche Halbbildung41 : 41
Mit der Etablierung der Kulturindustrie, die nicht nur für alle zugänglich ist, sondern der sich auch niemand entziehen kann, scheint die Bildungsidee ihren begrifflichen und sozialgeschichtlichen ›Geburtsfehler‹ zu korrigieren und sich das universalistische Versprechen der Bildungsidee gesellschaftlich erfüllen zu können. Dass dies nur zum Schein gelingt, legen folgende Aussagen nahe: »Während die ursprünglich sozialen Differenzierungsmomente kassiert werden, in denen Bildung bestand – Bildung und Differenziertheit sind eigentlich dasselbe –, gedeiht an ihrer Stelle ein Surrogat. Die perennierende Statusgesellschaft saugt die Reste von Bildung auf und verwandelt sie in Embleme des Status.« (THB: 108) Die gesellschaftliche Integration von Bildung steht in konstitutivem Verhältnis zu der Verschiebung von der Klassengesellschaft zur Statusgesellschaft. Aus ihnen resultiert der ideologische Charakter der Halbbildung, der gesellschaftlich instituierte Schein der Aufhebung der sozialen Widersprüche durch Kultur. Diese sind scheinhaft, weil sich de facto gesellschaftlich »an der objektiv gesetzten Grenze von Bildung nichts Entscheidendes sich änderte […]. Sie verschleiert die Spaltung weithin auch denen, welche die Last zu tragen haben. […] Der soziologische Terminus dafür lautet: Integration. […] Die Massen werden durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert. Diese helfen als neutralisierte, versteinerte die bei der Stange zu halten, für die nichts zu hoch und zu teuer sei. Das gelingt, indem die Gehalte von Bildung, über den Marktmechanismus, dem Bewußtsein derer angepaßt werden, die vom Bildungsprivileg ausgesperrt waren und die zu verändern erst Bildung wäre.« (THB: 100) In weitaus geringerem Maße als Heydorns bildungstheoretische Schriften betrachtet Adornos Diagnose die Bildungskrise »als Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses, das von der Entwicklung der produktiven Kräfte und ihrer politischen Repräsentation nicht zu trennen ist« (Casale 2020a: 10). Zwar nimmt die Theorie der Halbbildung den Zusammenhang zwischen der Emanzipation des Bürgertums und der hervortretenden proletarischen Klasse in den Blick, aber die gesellschaftskritische Analyse, die »Phänomenologie des bürgerlichen Bewußtseins« (THB: 100) wird anders als bei Heydorn nur andeutungsweise in ihrer Dialektik mit der erkenntnistheoretischen Begründung des Bewusstseins zusammengedacht. Knapp heißt es bei Adorno: »Die Qualitäten, die dann nachträglich den Namen Bildung empfingen, befähigten die aufsteigende Klasse zu ihren Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung. Bildung war nicht nur Zeichen der Emanzipation des Bürgertums, nicht nur das Privileg, das die Bürger vor den geringen Leuten, den Bauern voraus hatten. Ohne Bildung hätte der Bürger, als Unternehmer, als Mittelsmann, als Beamter und wo auch immer kaum reüssiert.« (ebd.: 98) Heydorn (1974) verbindet den Begriff mit dem geschichtlichen Prozess, konstruiert aber kei-
2 Bildungstheorie und Naturgeschichte
»Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten. […] An [Bildung] partizipieren nur noch […] einzelne Individuen, die nicht ganz in den Schmelztiegel geraten sind. […] Die Kulturindustrie im weitesten Umfang jedoch, all das, was der Jargon als Massenmedien bestätigend einordnet, verewigt jenen Zustand, indem sie ihn ausbeutet, eingestandenermaßen Kultur für jene, die die Kultur von sich stieß, Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten. Halbbildung ist ihr Geist, der mißlungener Identifikation. Mißlingen aber muß jene Identifikation, weil der Einzelne von der durch die Allherrschaft des Tauschprinzips virtuell entqualifizierten Gesellschaft nichts an Formen und Strukturen empfängt, […] woran er im wörtlichsten Verstand sich bilden könne; während andererseits die Gewalt des Ganzen über das Individuum zu solchen Disproportionen gediehen ist, daß das Individuum in sich das Entformte wiederholen muß.« (THB: 103f.) In der kulturindustriell vermittelten Halbbildung spitzt sich Adornos geschichtsphilosophische Kritik an der ausgebliebenen Fortschrittsgeschichte zu. Die Kulturwaren und Omnipotenz des Tauschprinzips bilden den gesellschaftlichen Grund eines ausbleibenden, vernünftigen Gesamtzusammenhangs, in den sich das Subjekt vermitteln könnte. Der Übergang von Bildung zu Halbbildung entspricht der Verschiebung von Bildung als einer »immer schon geschehenen und sich vollziehenden Selbstentfremdung des Bewußtseins« (Buck 1984: 180), die sich den Gegenstand durch die gedankliche Vermittlung des Erfahrenen aneignet und sich so als selbstständig erfährt, hin zu einer gesellschaftlich erzwungenen Entfremdung, die ohne Vermittlung bleiben muss, weil sich in den Kulturprodukten, die nach dem Muster der »Reproduktion des Immergleichen« (DdA: 142) hergestellt sind, die Entfremdung nicht mehr durch die Autonomie der Form und die Widerständigkeit des Materials geistig erfahren lässt. Sie bleibt dadurch unvermittelt. Entfremdung ohne Vermittlung – die Form des Anpassungsprinzips und der instrumentellen Vernunft– bestimmt den psychischen und intellektuellen Zustand der Individuen unter der Bedingung von Halbbildung. Die Aufgabe bestünde nun in dem Versuch einer weiteren Verschiebung: dem Eingedenken des Subjekts in der Naturgeschichte von Bildung.
ne Kausalität, sondern versucht die Entstehung des Begriffs und Aufstieg und Emanzipation des Bürgertums, der sich in dessen Schatten vollzieht, als durcheinander bedingt zu begreifen. Präzise formuliert geht es darum, den Widerspruch zwischen Bildung als Verwirklichung des universellen Anspruchs der Vernunft und Bildung als Projekt der Durchsetzung bürgerlicher Herrschaftsinteressen auszuweisen: »Im aufklärerischen Entstehungsprozeß wird der Begriff der Bildung der Naturunterwerfung durch den Menschen verbunden, dem rationalen Prozeß seiner Befreiung. […] Zwar unterscheidet sich von Beginn an die Bildung des Organisators der Naturunterwerfung von der Bildung des Knechts, doch faßt das aufsteigende Bürgertum den Bildungsbegriff noch für die gesamte Gattung, die ein gemeinsames Werk in Angriff nimmt. […] Es ist dieser aufklärerische Bildungsbegriff, der die Universalität der Gattung zuerst auf ihre Geschichte hin festlegt, sie zur geschichtlichen Aufgabe macht […] In der Sache blieb Bildung, trotz früher begrifflicher Universalität, jedoch auf wenige beschränkt.« (ebd.: 257f.; Herv. rb)
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3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran »Der Körper denkt immer« – Pierre Bourdieu –
3.1
Dialektik der Form
Die Naturgeschichte der Vernunft bezeichnet den Umstand, dass Befreiung aus der Natur und Beherrschung von Natur unauflöslich ineinander verschlungen sind und diese ›Verschlingung‹ ihre Naturverfallenheit bestimmt. Für Adorno ist der Begriff der Vernunft Resultat eines geschichtlichen Prozesses, innerhalb dessen die Praxis der fortschreitenden Naturbeherrschung zum erkenntnistheoretischen Prinzip erhoben und ihre »Voraussetzungsabhängigkeit (Menke 2018b: 115) von innerer, äußerer und sozialer Natur verdrängt wurde. Die Epistemologisierung jener Herrschaftsverhältnisse bringt eine Dialektik der Vernunft hervor, um die es in diesem Kapitel gehen wird. Die Dialektik resultiert aus der Ambivalenz des erkenntnistheoretischen Projekts, eine ursprünglich mit der Erfahrung von Herrschaft konstitutiv verbundene Vollzugsweise als Prinzip zu begründen, die zum einen unabhängig von Geschichte und Natur gedacht und zum anderen als Werkzeug des Fortschritts beschrieben wird. Die Vergegenwärtigung des Spannungsverhältnisses vollzieht sich am Leitfaden einer Vollzugsform, die Adorno als »helfende Selbstreflexion der Vernunft« (F: 628; Herv. rb) bezeichnet und wie folgt bestimmt: »Die sprengende Tendenz des Fortschritts ist nicht einfach bloß das Andere der Bewegung fortschreitender Naturbeherrschung, ihre abstrakte Negation, sondern erheischt die Entfaltung der Vernunft durch Naturbeherrschung selbst. […] Das eine Moment schlägt nur dadurch in sein anderes um, daß es buchstäblich sich reflektiert, daß Vernunft auf sich Vernunft anwendet und in ihrer Selbsteinschränkung vom Dämon der Identität sich emanzipiert. Kants unvergleichliche Größe bewährte nicht zuletzt sich darin, daß er die Einheit der Vernunft noch in ihrem widerspruchsvollen Gebrauch, dem naturbeherrschenden der nach seiner Sprache theoretischen, kausalmechanischen, und dem versöhnlich der Natur sich anschmiegenden der Ur-
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Das hinzutretende Dritte
teilskraft, unbestechlich festhielt und ihre Differenz strikt in die Selbsteingrenzung der naturbeherrschenden Vernunft verlegte.« (Ebd.: 627f.) In dieser Passage sind mehrere Stränge ineinander verwoben, die es hier zunächst zu benennen und im Gedankengang des Kapitels zu entspinnen gilt. Herausgestellt wird die Bedeutung der Vernunft nicht nur im Hinblick auf ihre Funktion der Naturbeherrschung, sondern eben auch im Hinblick auf ihre implizite und immanente Möglichkeit der Selbstreflexion. Auf dem Weg der Selbstbesinnung der naturbeherrschenden Vernunft wird durch die Rekonstruktion der Bedingungen und Gründe ihres instrumentellen Gebrauchs hindurch nach einer anderen, aber der Vernunft immanenten Weise der Auseinandersetzung mit der Natur gesucht. Den Schlüssel für eine solche Vollzugsweise liefert Adornos Interpretation der Kantischen Begründung der Selbsttätigkeit der Vernunft im abgrenzenden Bezug auf den kausalen Determinismus der Natur. Gegenstand und Agens dieses dialektischen Zusammenhangs ist das Erkenntnissubjekt. Die Bestimmung des Subjekts als erkenntnisvollziehendes Verhältnis, also als Agens der Form, verweist a priori auf dessen geschichtliche Konstitution. Die zunächst paradox erscheinende Beziehung zwischen Apriorität und geschichtlicher Konstituiertheit ist das Resultat einer Erkenntnis, die mit Adorno aus der durchgeführten Selbstkritik der erkenntnistheoretischen Form, genauer gesagt einer immanenten Kritik des Kantischen Modells von Erkenntnistheorie gewonnen werden kann. Die Auseinandersetzung, die hierzu geführt werden muss, erfolgt innerhalb zwei ineinander verschränkter und in sich selbst vielfach vermittelter Problemfelder: Die transzendentale Begründung des Denkens unabhängig von jeder Erfahrung und die Begründung der Autonomie von Erkenntnis in der Selbsttätigkeit der Vernunft. Obgleich die beiden Problemfelder zusammenhängen, werden sie zunächst getrennt voneinander untersucht. Epistemologischer Ausgangspunkt und Gegenstand, von dem aus und in dem sich die Selbstbesinnung der Vernunft vollzieht, ist Kants transzendentalphilosophische Auffassung von Erkenntnis. Die Form, das erkenntnistheoretische Subjekt, wird in der Einheit der transzendentalen Vernunft begründet, die dadurch die Unabhängigkeit der Erkenntnis gegenüber ihrer selbst fremden Faktoren garantiert. Mit dem Anliegen der Selbstbesinnung wird die im vorausgegangenen Kapitel geschichtsphilosophisch ausgeführte Dialektik der Vernunft wieder aufgenommen und nun erkenntnistheoretisch, d.h. in Bezug auf die Frage nach der Genese und Geltung der Form begrifflicher Erkenntnis in zwei Schritten nachgegangen. Der erste Schritt befasst sich mit der Konstitution und Normativität von Erkenntnis ausgehend von der Frage nach der Einheit der Form und der zweite Schritt ausgehend von der Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status des Inhalts für die Form.
3.1.1
Form und Erfahrung
Adorno versteht Erkenntnistheorie »als eine freilich sehr weit gesponnene und sehr weit ausgreifende Einleitung in die Problematik der ›Kritik der reinen Vernunft‹« (ET: 196). Die Transzendentalphilosophie Kants ist der Versuch, die Bedingungen der Erkenntnis a priori zu begründen. Kant zufolge sei »alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegen-
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
ständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« (KrV B: 25). Diese auch als kopernikanische Wende der Philosophie bezeichnete Verschiebung, nimmt eine die moderne Erkenntnistheorie begründende Veränderung vor, die sich von der Orientierung der Erkenntnis an den Sachen weg- und zur Orientierung der Gegenstände nach den Erkenntnisformen hinbewegt. Die Möglichkeit, Gegenstände erkennen zu können, hängt in dieser Perspektive nicht davon ab, ob dem empirischen Erkenntnissubjekt Material zur Formung gegeben ist, sondern davon, ob es vom Subjekt als Gegenstand erkannt wird. Aus dieser Einsicht zieht Kant den Schluss, dass bereits vor den erkennenden Erfahrungen von Gegenständen Bedingungen gegeben sein müssen, welche Erkenntnis überhaupt erst ermöglichen können. Ursprung der Bedingungen ist die Einheit der transzendental begründeten Vernunft. Adorno versteht diesen Denkprozess Kants nicht nur als Wendung der Erkenntnis auf die Einheit der Vernunft, die sich gegenüber der äußerlichen Mannigfaltigkeit der empirischen Objektivität abdichtet, sondern als Bewegung, welche jene Einheit nur aus dem Grund begründen könne, weil sie Objektivität, also die Möglichkeit, dass es überhaupt etwas gibt, zur Sache der Erkenntnis selbst gemacht habe (vgl. ET: 255ff.). Diesen philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden Gedanken entwickelt Adorno ausgehend von dem Übergang von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Form der Philosophie. Im Ausgang der Neuzeit tritt mit dem Ende der göttlich begründeten Ordnung von Denken und Sein die erkenntnistheoretische Differenz von Subjekt und Objekt zutage. Wurde die Einheit zwischen Welt und Mensch, Besonderem und Allgemeinen in der mittelalterlichen Ordnung noch in der Totalität Gottes begründet, wird diese, angestoßen durch einen Säkularisierungsprozess der Erkenntnis, mit Beginn der Neuzeit zur innerweltlichen Herausforderung. Die Entwicklung findet in der Aufklärung und der Befreiung des Verstandes aus religiösen und politischen Herrschaftsverhältnissen ihren erkenntnistheoretisch neuralgischen Punkt. Befreiung bezeichnet hier nicht nur die Negation geistiger, politischer und kultureller Unfreiheit, sondern nimmt auch die Form einer ›Aufgabenstellung‹ an. Die Aufgabe besteht darin, ein Prinzip zu finden, das die Erfahrung der Heteronomie in der Vergangenheit dadurch überwindet, dass es die Möglichkeit von Heteronomie in Gegenwart und Zukunft verhindert. Die philosophische Antwort der Aufklärung liegt in der Freiheit der Vernunft. Die Freiheit der Vernunft besteht darin, sich in dem Gebrauch ihrer Prinzipien selbst hervorzubringen und die eigenen Grenzen selbst bestimmen zu können. Kant zufolge teilt sich die Erkenntnis in sich selbst – in das Vermögen der Vernunft, des Verstandes und der Urteilskraft. Jedes Erkenntnisvermögen erhält seine Bestimmung durch die Abgrenzung zu dem anderen. Die Spaltung der Erkenntnis korrespondiert mit der Trennung der Welt in unterschiedliche Sphären ihres Vermögensgebrauchs: Der mundus intelligibilis, die Welt der reinen Vernunft einerseits und der mundus phaenomenon, die Welt der verstandesmäßigen Erkenntnis und sinnlichen Erfahrung von Erscheinungen andererseits. Während die Systematik Kants sich selbst als eine Erkenntnistheorie versteht, welche sich an ihren Grenzen konstituiert, zeigt Adorno, dass diese sich vielmehr durch ihre Grenzen hindurch bestimmt. Das Nebeneinander von Einheit und Differenz wird zu einem Ineinander von Subjekt und Objekt. Adorno stellt die Trennung zwischen Vorstellungen, die ihren spezifischen Inhalt durch eine intentionale Beziehung des vorstellenden Subjekts zu dem vorgestellten Gegenstand erhalten und dem inten-
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tionalen Bewusstsein, welches diesen Vorstellungen notwendig vorausgeht, in Frage. Bestritten wird, dass die Trennung von apriorischem und aposteriorischem Subjekt sowie von Immanenz und Transzendenz in der Argumentation Kants selbst aufrechterhalten werden könne. Stattdessen könne gezeigt werden, dass die Formbestimmung bei Kant dialektisch verfährt (vgl. ND: 173f.; ET: 403ff.). Die Frage nach der Dialektik in der Formbestimmung setzt an bei der These, dass die Kantische Bedingung der Erkenntnis, die vorgängige und allen gemeinsame Einheit des denkenden Subjekts, selbst wiederum Produkt eines Denkprozesses ist. Bei Kant ist die transzendentale Einheit der Vernunft das Prinzip, in dem sich die Möglichkeit der Erkenntnis begründet. Aus diesem Grund ist die Vernunft selbst das Unbedingte und insofern frei. Die Freiheit der Vernunft erschließt sich in einer Doppelbewegung: Als Denkende ist sie sowohl frei vom Zweck empirischer Erkenntnis als auch in sich frei von jeder empirischen Materialität. Dies macht die reine Vernunft sowohl zum Vermögen der »Prinzipien (an sich selbst)« (KrV: B 358), als auch zur logischen Voraussetzung jeder empirischen Erkenntnis. Die erkenntnisbegründende und erkenntnisbedingende Stellung, der mit sich selbst identischen und freien Vernunft findet ihren Ausdruck in Kants Bestimmung des »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen muss begleiten können und in allem Bewusstsein ein und dasselbe ist« (KrV: B 131)1 . Während Kant sein eigenes Vorgehen als transzendentalphilosophische Neubestimmung der Metaphysik versteht, erkennt Adorno darin in erster Linie die Steigerung des aufklärerischen Impulses der reductio ad homines und die damit verbundene, »ungeheure Anstrengung […] [das empirische Subjekt; rb] abzulösen« (PT II: 20f.). Was sich Adornos Verständnis nach in Kants Idee der Einheit des Bewusstseins zuträgt, ist mehr als nur die Bestimmung der Formen der Vernunft (vgl. ET: 262ff.; PT II: 116-122)2 . Er deutet Kants Idee des apriorischen Bewusstseins als Antwort auf die Frage, wie sich durch die 1
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Vollständig lautet die Passage: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das Ich denke, in demselben Subjekt, darin diese Mannigfaltigkeit angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als der Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muss begleiten können, und in allem Bewusstsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.« (KdrV: B 131f.) Für Adorno reicht das ›Ich denke‹, das in der Annahme der Identität des Bewusstseins gründet, sowohl ideell, als auch philosophiegeschichtlich über Kant hinaus. Ideell stellt es den Kern jeder Identitätsphilosophie dar. Philosophiegeschichtlich sind insbesondere die nachkantianischen Idealisten Hegel und Fichte die »Testamentsvollstrecker Kants oder die ehrlichen Makler der Kantischen Philosophie« (ET: 246). Adorno macht das daran fest, dass die Vertreter des Idealismus die Selbstidentität der subjektiven Vernunft auf die Identität von Subjekt und Objekt ausdehnen. Dadurch sind sie aber auch in einem entscheidenden Punkt ›Abtrünnige‹. Während Kant die Vernunft auf den Bereich der Erkenntnis beschränkt, konstatiert Adorno bei Hegel und Fichte eine »Überspringung der von ihm gesetzten Schranke in die Hybris der Vernunft« (ebd.: 243). Im Begriff des Geistes werde der Kantische Begriff der Spontaneität zum Absoluten erhoben. Dies beurteilt Adorno als Dialektik von Treue und Verrat. Diese »haben in der Geschichte des Geistes selten so
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Vielheit der Einzelmenschen hindurch ein Allgemeines begründen ließe. Kants Struktur des Bewusstseins steht also am Ende der Suche nach der »Einheit des Subjekts in der Vielheit der Personen« (PT II: 116)3 . Damit schreibe er jedoch in die Einheit, die Bedingung ihrer Krise mit ein. Denn, so Adornos Auslegung, im selben Atemzug wie Kant der Erkenntnis die Einheit der Vernunft notwendig voraussetzt, verkenne er, dass die Identität und die Apriorität der Form de facto Resultat einer Abstraktion ist: Das transzendentale Subjekt wird vom empirischen Subjekt als einzelnes Individuum und als Repräsentant der Gattung gespalten, erst dann könne jenes diesem überhaupt vorangestellt werden4 . Diesen Gedanken konkretisiert Adorno in der ersten These des Textes Zu Subjekt und Objekt: »›Subjekt‹ [kann] sich auf das einzelne Individuum ebenso wie auf allgemeine Bestimmungen, nach der Sprache der Kantischen Prolegomena von ›Bewusstsein überhaupt‹ beziehen. Die Äquivokation ist nicht einfach durch terminologische Klärung wegzuräumen. Denn beide Bedeutungen bedürfen einander reziprok; kaum ist die eine ohne die andere zu fassen. Von keinem Subjektbegriff ist das Moment der Einzelmenschlichkeit […] wegzudenken; ohne jede Erinnerung daran verlöre Subjekt allen Sinn. Umgekehrt ist das einzelmenschliche Individuum sobald überhaupt auf es in allgemeinbegrifflicher Form als auf das Individuum reflektiert, nicht nur Dies da irgendeines besonderen Menschen gemeint wird, bereits zu einem Allgemeinen gemacht, ähnlich dem, was im idealistischen Subjektbegriff ausdrücklich wurde; sogar der Ausdruck ›besonderer Mensch‹ bedarf des Gattungsbegriffs, wäre sonst sinnleer.« (SO: 741) In das idealistische Subjekt ist somit eine Antinomie eingetragen, die Adorno als dessen grundlegendes Konstitutionsproblem interpretiert: »In der Erkenntnistheorie wird unter Subjekt meist soviel wie Transzendentalsubjekt verstanden. […] Dass dies transzendentale, alle inhaltliche Erfahrung konstituierende Subjekt seinerseits von den lebendigen einzelnen Menschen abstrahiert sei, wurde nicht erst von der Kritik am Idealismus entdeckt. Evident ist, dass der abstrakte Begriff des transzendentalen Subjekts, die Formen von Denken, deren Einheit und die
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innig sich miteinander verschränkt, wie es in der Geschichte dieser geistigen Bewegung der Fall ist« (ebd.: 243). »Kants berühmte Formulierung […] enthält in dem ›muss‹ bereits die Anweisung auf dies Identische in einer Vielheit von Subjekten; denn dieses ›muss‹ kann gar nichts anderes heißen, als das so etwas wie einheitliche Vorstellungen und damit ein in sich einheitlicher Bewusstseinsverlauf, auch wenn er der von unzähligen verschiedenen Subjekten sein soll, nur unter der Bedingung möglich ist, dass jedes einzelne dabei durch ein Einheitsmoment charakterisiert und zusammengehalten wird.« (PT II: 117) Schäfer (2012a) interpretiert diese Spaltung als »konstitutive Grundlosigkeit [und] als immanentes Problem der Moderne« (ebd.: 12). Die These von der Grundlosigkeit der modernen Pädagogiklegt einen differenztheoretischen Zugang dar, die apriorischen Erkenntnisbedingungen zum Gegenstand der Kritik zu machen. Diese grundlegende »Differenz von Grund und Gegründetem« (Schäfer 2012a: 8) entsteht dadurch, dass das erkennende Subjekt selbst kein Gegenstand der Erkenntnis ist, sondern »als unbedingter Grund menschlicher Erkenntnis unzugänglich« (Schäfer 2007, S. 142) bleibt. Es ist ein Subjekt, um das gewusst wird, dessen Begründung jedoch die Möglichkeiten des Wissens übersteigt.
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ursprüngliche Produktivität von Bewusstsein, voraussetzt, was er zu stiften verspricht: tatsächliche lebendige Einzelwesen. […] Wiederholt wird ein Topos […], demzufolge allein das Erste oder, wie Nietzsche kritisch es formulierte, nur das nicht Gewordene wahr sein könne.« (Ebd.: 744) Mit der Dimension der individuellen Lebendigkeit erinnert Adorno mit Nietzsche an ein in der idealistischen Konstitutionslogik ausgeschlossenes Moment, dessen immanente Dialektik folgendermaßen herausgearbeitet wird5 : Die Hereinnahme der Lebendigkeit der Einzelnen in das subjektive Bewusstsein führt die Gedankenbewegung von der Infragestellung des idealistischen Subjekts, des abstrakt-allgemeinen Prinzips der Vernunft, hin zur Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Erkenntnissubjekts. Die Krise des Idealismus ist eine Krise der allgemeinen Vernunft und ihres subjektphilosophischen Anspruches, das empirische Einzelbewusstsein transzendental oder geschichtlich zu konstituieren. Adornos Kritik an der Trennung der Vernunft von ihrer empirischen Verwirklichung geht über Hegels dialektische Infragestellung der absoluten Trennung von Idealität und Wirklichkeit hinaus. Was bei Kant a priori vorausgesetzt wird, erweist sich für Hegel erst a posteriori. Durch einen geschichtlichen Prozess hindurch, in welchem das Bewusstsein seine mangelhafte und bedingte Form kontinuierlich überwindet, wird das erkennende Subjekt als Unbedingtes manifest. Adornos
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In der Einleitung zur Metakritik der Erkenntnistheorie stellt Adorno die Intention, die Geschichtlichkeit philosophischer Begriffe und Systeme herauszuarbeiten, in Zusammenhang mit Nietzsches historischer Philosophie: »Heraklit, vor dem Hegel und Nietzsche sich neigten, hat noch das Wesen der Vergängnis gleichgesetzt; seit der ersten authentischen Formulierung der Ideenlehre hat man Vergänglichkeit der Erscheinung, dem Reich der doxa, dem Schein zugerechnet und das Wesen der Ewigkeit reserviert. Nur Nietzsche hat dagegen aufbegehrt« (ME: 25). Aufbegehren und Korrektur ist methodologischer und inhaltlicher Natur. Mit dem methodologischen Begriff der Genealogie verknüpft Nietzsche die Einsicht in das Werden alles Gegebenen mit der Anforderung einer »historische[n] Philosophie« (KSA 2: 23): »Die Philosophie als Genealogie ist das historische Philosophieren, das mit der Bescheidung des Historikers anfängt, alles, was bis jetzt als Gegebenes, als Tatsache gesehen wurde, eher als Gewordenes zu analysieren.« (Casale 2001: 31) Angesichts der Blindheit der Philosophie für die Geschichte ihrer Bedingungen zielt Nietzsche im Modus kritischer Genealogie auf die Erkundung der »Entstehungsgeschichte des Denkens« (KSA 2: 37; Herv. i.O.): »Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnisvermögen geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnisvermögen sich herausspinnen lassen.« (Ebd.: 24). Historische Philosophie interessiert sich für das in philosophischen Begriffen und Systemen abgewertete und verdrängte Andere. In diesem Zusammenhang steht auch Nietzsches Kritik der Leibvergessenheit der Philosophie. Die Kritik findet auf zwei großen Feldern statt: Erkenntnistheorie und Moralphilosophie (vgl. Klass 2012). Nietzsche vermutet hinter der Verdrängung des Leibes durch den Geist eine Idiosynkrasie gegen das Körperliche: »[D]as Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein.« (KSA 6: 76) Diese führe, so Goebels (2009), »Nietzsches Philosophie als Arbeit am Dualismus von Leib und Seele ›hinab‹, in die Richtung von Physiologie und Psychologie und Sublimierung erweist sich auch hier als Verbindung zwischen Psychologie und Kosmologie im Zeichen des Willens zur Macht« (ebd.: 94). Die genealogische Lesart des Sublimierungsbegriffs steht aber nicht nur für die Überwindung der Trennung von Geist als dem Höheren und der Triebnatur als dem Niedrigen, sondern für eine grundlegende Umwendung der Perspektive, »das Denken [zu] ›physiologisieren‹« (Casale 2020c: 17).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Kritik greift diesen Gedanken affirmativ auf und wendet ihn gleichermaßen gegen Hegel selbst. Beide, Kant und Hegel, erliegen auf unterschiedliche Weise dem Trug einer Einheit der Vernunft. In die Unbedingtheit der transzendentalen und geschichtlich begründeten Vernunft ragt das Bedingte als Wiedererkanntes hinein. Es überschreitet darin, die ›sichere‹ Grenze oder Einheit der Vernunft und wird zu einem Bedingenden, welches seine Bedingtheit nicht aufheben kann. Anders als bei Hegel, wo die Reflexion von Bedingtheit ihre Negation zum Zweck ihrer Aufhebung bedeutet, eröffnet sich umgekehrt für Adorno durch die naturgeschichtliche Deutung hindurch die Geschichte einer Entfremdung, die in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis von bedingendem und bedingtem Bewusstsein zusammentritt: »Die Kraft des Bewußtseins reicht an seinen eigenen Trug heran. Rational erkennbar ist, wo die losgelassene, sich selbst entlaufende Rationalität falsch wird, wahrhaft zu Mythologie. Ratio schlägt in Irrationalität um, sobald sie, in ihrem notwendigen Fortgang, verkennt, dass das Verschwinden ihres sei’s noch so verdünnten Substrats ihr eigenes Produkt, Werk ihrer Abstraktion ist.« (ND: 152; Herv. rb)6 Das Bedingte des Bedingenden hat unterschiedliche Gegenstände und Formen7 . Die Bedingtheit ist in einem doppelten Sinn objektiv: Objektivität steht einerseits für das somatische Moment, das »materialistische Memento« (Seel 2006: 59), das daran erinnert, dass Wahrnehmung nicht ohne Wahrnehmungsorgane und Empfindung nicht ohne affektives Einzelnes erlebt werden können. Des Weiteren antizipiert dieser Gedanke die Erfahrung, dass sich Bedingungen von Erkenntnis nicht in kategorialer Form und begrifflichem Verstand erschöpfen, sondern im umgekehrten Fall Erkenntnis ihrerseits abhängig ist von Objektivität. Die Bestimmung der Vermittlung von somatisch vermittelter Objektivität und Bewusstsein stellt sich für Adorno folgendermaßen dar: »Wir müssen sie als Unterschiedene festhalten; […] aber während wir sie als Unterschiedene festhalten müssen, ist es uns gleichzeitig nicht möglich, eines von ihnen gewissermaßen herauszuisolieren und zu sagen, dies ist nur Körper, denn alles körperliche Sein ist uns ja vermittelt durch die Tatsache des Bewusstseins, noch sie zu isolieren, indem wir sagen, dies ist nur Bewusstsein, denn was auch immer Bewusstsein ist, weist seinem eigenen Sinn nach […] auf physisches Sein zurück, ist also in sich 6
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So heißt es bei Hegel: »Schon daß wir von einer Schranke wissen, ist Beweis unseres Hinausseins über dieselbe, unserer Unbeschränktheit. […] Nur der unwissende ist beschränkt, denn er weiß nicht von seiner Schranke; wer dagegen von der Schranke weiß, der weiß von ihr nicht als einer Schranke seines Wissens, sondern als von einem zu seinem Wissen Gehörenden. Nur das Ungewußte wäre eine Schranke des Wissens; die gewußte Schranke dagegen ist keine Schranke desselben; von seiner Schranke wissen heißt daher, von seiner Unbeschränktheit wissen.« (W 10: 36) In Adornos dialektischer Kritik der Philosophie im Allgemeinen und des Kantischen Idealismus im Besonderen geht es darum, zu zeigen, dass jede Form von erkenntnistheoretischer Subjektivität zugleich an sich eine Abstraktion darstellt, die sie für sich nicht ist (vgl. ET: 205; siehe auch: DSH: 284f.; PT II: 142ff.). Abstraktion besitzt nicht die Souveränität, um das Erkenntnismaterial oder das Körperliche aus der Erkenntnis zu eskamortieren. Abstrahieren ist etwa neben Negieren, Identifizieren, Synthetisieren eine körperlose Operation der logischen Form. Gemeinsam ist ihnen die Illusion, in der Trennung vom Körper eine höhere, körperlose und geschichtslose Einheit zu haben.
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selber ein genauso Vermitteltes. Der Weg, der dem Bewusstsein an dieser Stelle allein offen zu sein scheint, ist […] diese wechselseitigen Vermittlungen und Bedingtheiten in jedem konkreten Einzelfall zu analysieren und aufzuzeigen, die Momente voneinander abzuheben und sie gleichzeitig als Vermittelte zu begreifen.« (ET: 123) Im kantischen Verständnis von Erkenntnis sind Form und Inhalt getrennt. Die Frage nach der Möglichkeit der gegenständlichen Erkenntnis kann nicht durch diese selbst, sondern nur in einer ihr vorangehenden Analyse beantwortet werden. Kant antwortet mit den Mitteln der Logik auf eine erkenntnistheoretische Frage und reproduziert darin die Auffassung der Trennung von Denken und Erfahrung. Adorno nimmt die Trennung von Logik und Erkenntnistheorie, aus der sich wiederum die Trennung von Denken und Erfahrung ableitet, auf und reflektiert sie noch einmal kritisch in sich selbst. Ziel der neuerlichen Reflexion ist eine dialektische Erörterung des Kantischen Dualismus8 . Gegenstand der dialektischen Wendung des Verhältnisses von Denken und Erfahrung ist Kants Begriff der Spontaneität der Vernunft. Im Begriff der Spontaneität der Vernunft, den Kant als ursprüngliche Einheit alles Vorgestellten und Gedachten bestimmt, wird für Adorno eine zentrale Bruchlinie im Kantischen System sichtbar, deren Erörterung einer Analyse der »Vermitteltheit des [ursprünglich] Unmittelbaren« (ebd.: 396) entspricht9 . Die Antinomie in der ursprünglichen Einheit verdeutlicht Adorno in einer kritischen Analyse der Idee des synthetischen Urteils a priori (vgl. ebd.: 236f.; ebd.: 291301). Synthetische Urteile unterscheiden sich von analytischen Urteilen darin, dass sie davon ausgehen, dass die Wahrheitsfähigkeit eines Begriffs nicht schon von Beginn an in diesem enthalten ist, sondern erst durch die Verknüpfung mit weiteren Anschauungen erzeugt wird. Synthetische Urteile a priori bezeichnen all solche Urteile, die aufzeigen, dass reine Anschauungen und reine Begriffe zur Synthesis fähig sind. Instanz dieses Urteilsgeschehen ist das Vermögen der Spontaneität. Kant versteht darunter »eine Kausalität, durch welche etwas geschieht, ohne dass die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen« (KrV: B 474). Die Spontaneität kann nach Kant also als Ursprung alles Gedachten betrachtet werden. Sie ist dazu in der Lage, etwas Kausales zu erzeugen, ohne selbst unter diese Kausalität zu fallen; sie verbindet, ohne dass diese Verbindung »durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekt selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist« (ebd.: B 129f.). Insofern
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Genau besehen sind »(i)n Wahrheit […] Denken und Erfahrung ineinander verflochten, sie haben jeweils etwas von der Farbe des anderen und sind wechselseitig durcheinander motiviert. Wenn man je im Ernst den Versuch hätte durchführen wollen, auszugliedern, was in einem lebendigen Bewusstsein aus der Erfahrung und was aus der Tätigkeit des Denkens kommt, wäre man dann nur in die allergrößten Schwierigkeiten geraten.« (PT II: 157) Die Analyse vollzieht sich im Modus einer immanenten Kritik. Als solche löse sie den Begriff der Unmittelbarkeit überall dort auf, wo er in einer starren, verdinglichten, fetischhaften Weise uns gegenübersteht, aber auf der anderen Seite führt diese Reflexion uns doch wieder darauf, dass »die Begriffe der Vermittlung und der Identität […] selbst als ein Element ihrer eigenen Möglichkeiten auch wieder Unmittelbarkeit voraussetzen« (ET: 403).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
fällt synthetischen Urteilen a priori ein doppelter, aber in sich unvermittelter Zweck zu: die Begründung der Möglichkeit von Grundsätzen erfahrungsunabhängiger Urteile, die etwas Neues hinzufügen sowie die Begründung der Möglichkeit der Erfahrung selbst10 . Es treten an dieser Stelle zwei Widersprüche hervor, die Kants Ausdifferenzierung der Tätigkeit der Vernunft in reine Anschauung und Spontaneität entspringen und synthetisiert sind in der Frage, wie das Neue ohne Zeitlichkeit und ohne Gegenstand zu denken sei und woraus die Kraft entspringt, durch welche die Selbsttätigkeit, die auch apriorisch aktiv ist, angetrieben werde. Begrifflicher Ausgangspunkt der Frage sind Kants Bestimmungen des Verhältnisses von reiner Anschauung und Form, das durch eine Paradoxie gekennzeichnet ist. Die Paradoxie von Form und reiner Anschauung betrifft insbesondere das innerste Prinzip, die Spontaneität. Es stellt sich hierbei die Frage, wie Spontaneität einerseits, den Anspruch vertreten kann, aus sich heraus Vorstellungen hervorzubringen, d.h. durch das Urteil dem Subjekt im Prädikat etwas Neues hinzuzufügen, wenn andererseits im Fall von reiner Sinnlichkeit die Prädikate schon als identisch mit der Bewusstseinsform gedacht sind und die Urteile darum nur durch Anschauung gewonnen werden können. Kant löst die Paradoxie, indem er zunächst eine Unterscheidung macht zwischen der ursprünglichen, selbstbestimmten Spontaneität, die sich a priori selbst hervorbringt, und ihrer empirischen Gestalt, welche Begriffe nur in der Verarbeitung des durch Rezeptivität sinnlich Gegebenen konstituiert und deren Urteil darum relativ ist zu eben jenen sinnlich gegebenen Eindrücken. Im nächsten Schritt jedoch hebt er diese Unterscheidung zwischen der Spontaneität der Vernunft und der Spontaneität des Verstandes dadurch wieder auf, dass er zweitere auf erstere zurückführt. Kant entwickelt diesen Gedanken, so die Deutung Marcus Willaschecks (2001), aus der Normativität der Spontaneität. Es gebe zwischen der Spontaneität der Vernunft und der Spontaneität des Verstandes keinen Unterschied hinsichtlich der Geltung ihrer objektiven, von den räumlichen und zeitlichen Einflüssen unabhängigen Gründe (vgl. ebd.: 175). Wie die Vernunft verfüge auch »der menschliche Verstand über eine absolute Spontaneität […]; die Begriffsbildungen und Urteile des Verstandes sind durch sinnliche Daten zwar bedingt, aber nicht kausal determiniert.« (Ebd.: 177) Adornos dialektische Arbeit verhält sich diametral zu der Analyse Willaschecks, denn sie visiert die Vergegenwärtigung der Erkenntnis an, dass die Tätigkeit des Verstandes nicht nur inhaltlich, sondern in konstitutiver Weise sinnlich bedingt ist. Plausibilisiert wird dieser Gedanke der sinnlichen Bedingtheit anhand Adornos dialektischer Lektüre von Kants Raum-Zeit-Theorie. Abstrakt unterscheidet Kants Raum-Zeit-Theorie zwischen Raum und Zeit als Kategorien der Erfahrung einerseits und als reine Formen sinnlicher Anschauung andererseits. Vom empirischen Standpunkt sind Raum und Zeit kategorialer, vom transzendentalen Standpunkt gegenständlicher Natur. Raum und Zeit als Kategorien sind grundlegende
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»Das ›System der Grundsätze‹ [Adorno meint hier das zweite Buch der transzendentalen Logik System aller Grundsätze des reinen Verstandes] […] ist eigentlich nichts anderes als die systematische Anordnung der synthetischen Urteile a priori, wie sie gewissermaßen fix und fertig herausfallen aus dem Zusammenspiel der Elemente der Anschauung oder, richtiger gesagt, der Formen der Anschauung mit den in der Vernunftkritik deduzierten Formen des Verstandes, also den Kategorien.« (NaS IV, 4: 59)
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Bestandteile des menschlichen Verstandes. Aus transzendentaler Perspektive lässt sich feststellen, »dass sie Formen aller Sinnlichkeit sind, [und] synthetische Sätze a priori möglich machen« (KrV: B 56; Herv. rb). Die doppelte Bestimmung von Raum und Zeit wird für Adorno zum Gegenstand einer dialektischen Wendung der Kantischen Trennung von Form und Kategorie. Die Trennung zeichnet sich dadurch aus, dass die Geltung der Form ungegenständlich begründet ist, während die Kategorien objektive Gültigkeit besitzen. Mit Kant macht Adorno gegen Kant dasjenige zum Gegenstand kategorialer Erkenntnis, das diese eigentlich zuallererst begründen soll – die Form. Gegen die Apriorität der Form vertritt Adorno die Einsicht, dass man sich keine reinen Denkgesetze vorstellen könne, »ohne dass man sie denkt als Sätze, die sich auf irgendwelche, sei es auch ideale Gegenstände beziehen. Infolgedessen sind also die Denkgesetze nicht als reine Formen von Denken zu entwickeln, sondern begreifen notwendig auch immer schon in sich, wenngleich in ihrer allerformalsten Gestalt, die Frage nach einer möglichen Gegenständlichkeit überhaupt, und die logischen Grundsätze insgesamt führen auf die großen erkenntnistheoretischen Fragen, eben der Beziehung von Bewusstsein auf Dasein […] zurück.« (ET: 177) Nicht nur rechtfertigt die empirische Allgemeingültigkeit der Kategorien die Möglichkeit synthetischer Urteile vor jeder Erfahrung, sondern zeigt, dass auch die reine Anschauung nicht ohne Raum und Zeit als deren Prädikate zu denken ist11 . Das erzeugt eine »Paradoxie des Systems« (ebd.: 293), die Kant noch mit der Synthese von Gegenstandserfahrung und Erfahrung aufzulösen versucht12 . Da dieser Versuch nach Adornos Dafürhalten nicht gelinge, trägt sich in die Erfahrung ein unauflösbarer Widerspruch zwischen Raum und Zeit als Anschauungsformen und Formen, die angeschaut werden, ein: »Die Kantische transzendentale Ästhetik findet mit dem quid pro quo von Constituens und Constitutum sich ab, indem sie die Sinnlichkeit entsinnlicht. Ihre reine Anschau11
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»Durch diese Unterscheidung sucht gewissermaßen das System e contrario, auf eine negative Weise doch auch das einzufangen, was es gar nicht einfangen kann, nämlich das sinnliche Material in der Weise, dass es zeigt, was geschieht, wenn ich sinnliches Material habe, und was geschehen muss, wenn ich ein solches sinnliches Material nicht habe. Durch dieses Umfassende der Bestimmungen wird das selber nicht bestimmbare sinnliche Material doch zur geheimen Kraftquelle, welche die kritischen Erwägungen innerhalb des gesamten Systems nun eigentlich speist. Man kann das auch so ausdrücken, dass wiederum in diesen beiden Teilen die rationalistischen und empiristischen Motive sich vorfinden, […] als hier der Nachweis erbracht wird, was Ideen überhaupt bedeuten, wenn sie nicht mehr auf das Erfahrungsmaterial bezogen sind; während umgekehrt […] versucht wird, das rationalistische Moment, das Moment der Stammformen der Erkenntnis, zu retten unter der Bedingung, […] dass es sich also auf ein solches sinnliches Material überhaupt bezieht.« (ET: 294) »[D]ie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteil a priori.« (KrV: B 197) In diesem Fall verläuft der Riss durch das innerste Prinzip der Erkenntnis, der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption. Manifest wird eine Differenz zwischen dem ›Ich denke‹, als reines Bewusstsein und der Idee der Anschauung, die dem Intellekt entspringt. Denn diese gibt dem reinen Bewusstsein einen Gegenstand, wo dieser eigentlich keine Gegenstände, sondern nur Begriffe hervorbringt.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
ung ist nicht mehr anschaulich. Die Verwiesenheit des Gegebenen auf ein je schon Konstituiertes schlägt in der Kantischen Terminologie sich nieder, in Redeweisen wie eben jener immer wiederkehrenden, daß ›uns‹ Gegenstände gegeben seien. […]. Aber im Zentrum des Kantischen Versöhnungsversuchs wohnt eine Paradoxie, zu welcher der unauflösliche Widerspruch sich zusammengezogen hat. Er wird sprachlich indiziert von der Nomenklatur ›reine Anschauung‹ für Raum und Zeit. Anschauung als unmittelbare sinnliche Gewißheit, als die Gegebenheit unterm Aspekt des Subjekts, benennt einen Typus von Erfahrung, der, als eben ein solcher, überhaupt nicht ›rein‹, nicht von Erfahrung unabhängig sein kann; reine Anschauung wäre ein hölzernes Eisen, Erfahrung ohne Erfahrung. Wenig hülfe es, wenn man die reine Anschauung als laxe Redeweise für die von allem besonderen Inhalt gereinigten Formen der Anschauung interpretierte. Daß Kant vielmehr in der transzendentalen Ästhetik zwischen den Ausdrücken ›Form der Anschauung‹ und ›reine Anschauung‹ schwankt, bezeugt die Inkonsistenz der Sache. Er will verzweifelt, wie mit einem Schlag, Unmittelbarkeit und Apriorität auf den gemeinsamen Nenner bringen, während der Begriff der Form, als auf einen Inhalt verwiesen, selbst bereits eine Vermittlung, wenn man will ein Kategoriales darstellt. Die reine Anschauung, als unmittelbar und nicht begrifflich, wäre eben selbst sinnlich, ›Erfahrung‹; die reine, von der Beziehung auf jeglichen Inhalt gelöste Sinnlichkeit keine Anschauung mehr, sondern einzig ›Gedanke‹. […] Kant müßte zugestehen, daß das ›Material‹, an dem die kategoriale Arbeit sich betätigen soll, selbst bereits vorgeformt sei. Raum und Zeit, so wie die transzendentale Ästhetik sie herauspräpariert, sind allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz Begriffe, nach Kantischer Redeweise Vorstellungen einer Vorstellung. Sie sind nicht anschaulich, sondern die obersten Allgemeinheiten, unter denen ›Gegebenes‹ befaßt wird. […] Wird aber die reine Sinnlichkeit, in voller Konsequenz des Programms der Ästhetik, ihrer Materie enteignet, so reduziert sie sich auf ein selbst bloß Gedachtes, ein Stück transzendentaler Logik, und es wäre nicht zu verstehen, wieso Denken erst hinzuträte. Kant selbst, der den begrifflichen Charakter von Raum und Zeit bestreitet, kommt doch nicht darüber hinweg, daß Raum und Zeit nicht vorgestellt werden können ohne Räumliches und Zeitliches. Insofern sind sie selber nicht anschaulich, nicht ›sinnlich‹. Diese Aporie erzwingt die kontradiktorischen Aussagen, dass einerseits Raum und Zeit ›Anschauungen‹ seien, andererseits ›Formen‹.« (ME: 150ff.) Der Widerspruch, den die Paradoxie der reinen Anschauung überschriebene Passage der Metakritik der Erkenntnistheorie herausstellt, besteht darin, dass reine Anschauung nicht anschaut, sondern formt und reiner Verstand nicht denkt, sondern das bereits Vorgeformte anschaut und es sich darum vorstellt13 . Sowie Raum und Zeit nicht vorgestellt werden können ohne Räumliches und Zeitliches, kann auch nicht ursprünglich gedacht werden, wo rein angeschaut wird. Form und Anschauung stehen sich also nicht unvermittelt gegenüber, sondern bedingen einander. Dieses Bedingungsverhältnis geht durch Raum und Zeit hindurch und darum können sich in Raum und Zeit Denken und Erfahrung, vermitteln14 . 13 14
Zur Unmöglichkeit einer intelligiblen Selbstanschauung siehe: (Ricken 1999: 68f.). Darüber hinaus verbindet Adorno die Kritik an der erkenntnistheoretischen Geltung der Anschauungsformen mit der Analyse ihrer gesellschaftlichen Genese. Dabei gewinnt er die Einsicht, dass
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Diese erkenntnistheoretische Einsicht verwickelt die logische Bedingung der Einheit des Bewusstseins, die transzendentale Synthesis, in Widersprüche. Kant verortet die Synthesis von Erlebtem und Wahrgenommenen in der Einbildungskraft. Einbildungskraft bezeichnet zunächst das Vermögen, Vorstellungen des Objekts auch ohne dessen Gegenwart geben zu können. Sie operiert als synthetisierende Kraft gleichermaßen im Erkenntnisbereich der Sinnlichkeit und des Verstandes15 . Sie hat die Aufgabe, die einzelnen Anschauungen zu einer Vorstellungseinheit zu verknüpfen, um den »reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben, ohne den sie ohne Inhalt, mithin völlig leer sein würden« (KrV: A 77)16 . Die produktive Einbildungskraft des Verstandes hingegen bezeichnet die Fähigkeit, etwas ursprünglich darzustellen. In diesem Fall ist die Synthesis der Einbildungskraft »eine Ausübung der Spontaneität« (ebd.: A 151), die dieser notwendig vorausgeht. Beide Anwendungsweisen gründen in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption. Adorno greift das Verhältnis zwischen der Faktizität der reproduktiven Einbildungskraft und ihrer transzendental begründeten Geltung auf und reflektiert dieses noch einmal im Bewusstsein ihrer geschichtlichen Dimension. Während bei Kant die reproduktive Einbildungskraft aus der Spontaneität abgeleitet und in der Erinnerung faktisch wird, wird sie für Adorno in einer genealogischen Wendung zu einer »Tatsache der Erinnerung« (PT II: 60; Herv. rb). Die Erkundung fußt auf der Prämisse, dass die Einheit des Kantischen Konstituens immer zuerst Ergebnis eines Hervorbringungsprozesses ist, bevor sie Bedingung der einzelmenschlichen Realisierung des Bewusstseins sein kann. Die Genealogie ersetzt aber nicht die Geltung: Es gibt keine Konstitution, ohne dass das zu Konstituierende in der Konstitution nicht auch schon wirkt. Aus diesem Grund setzt die Kritik das Kritisierte, den Einheitsmoment des Bewusstseins, in gewisser Weise immer schon voraus, obwohl sie ihm zeitlich erst folgt. In der Erinnerung, welche die Mannigfaltigkeit des individuell Erlebten zu einer Einheit in der Zeit synthetisiert, wird die Einheit des Bewusstseins erkennbar: »Durch diese Erinnerung ist so etwas wie ein einheitliches, seiner Einheit bewusstes Bewusstsein überhaupt begründet. Wenn ich mich nicht an Vergangenes erinnern und
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Raum den Bedürfnissen der sesshaft gewordenen Menschen nach Abgrenzung ihrer Besitzverhältnisse voneinander entspreche und Zeit in sich die Schemata der Generationenverhältnisse und Erbschaftsordnung verarbeite (vgl. ET: 392f.). Darüber hinaus ist sie damit befasst, zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu vermitteln. Sie ist »ein Drittes« (KrV: A 137), welches die Erkenntniskategorien und die sinnlich erfasste Erscheinung in eine Beziehung der »Gleichartigkeit« (ebd.) bringt. Sich etwas vorstellen zu können, meint im Kantischen Sinne nicht Imagination oder Phantasie, sondern die Fähigkeit, sich einen Gegenstand auch unabhängig von seiner sinnlichen Gegebenheit, vor Augen bringen zu können. Bedingung ist das Vermögen der empirischen Apperzeption. Dieses bezeichnet das Bewusstsein empirischer Vorstellungen als eigene Vorstellungen. Jedoch ist die empirische Apperzeption selbst wiederum eine Manifestation der transzendentalen Apperzeption, auf die letztlich jede Vorstellung zurückgeht. Transzendentale Apperzeption bezeichnet die »durchgängige Identität seiner selbst bei allen möglichen Vorstellungen, a priori« (KrV: A 116). Wäre dies nicht gegeben würde Kant zufolge »etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein« (ebd.: B 131f.). Damit ist die Einbildungskraft anders als die Sinnlichkeit nicht im Gemüt verankert, sondern ein »Vermögen der Seele« (ebd.: A 94).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
nicht entsprechend ein Zukünftiges erwarten könnte, gäbe es gar keine Erfahrung, sondern eine unorganisierte, in sich unidentische Folge von einzelnen Erlebnissen – sozusagen ein vertikales Chaos. Nun ist es aber klar, dass dieses Moment der Erinnerung abgeleitet ist von dem Modell des individuellen, einzelnen, psychologischen Bewusstseins, das heißt, daß jeder einzelne von uns hat Erinnerung und hat Erwartung, und das ist nicht etwa eine vorgegebene, etwa logische Struktur […]. Es ist also nicht möglich, den Begriff der Erinnerung, der nun einmal eine der konstitutiven Formen von Geist überhaupt sein muss, so zu fassen, dass in ihm überhaupt nicht mehr irgendetwas enthalten ist, was auf bestimmtes einzelnes Bewusstsein, auf Individualität zurückweist.« (PT II: 61ff.) In der Erinnerung vermitteln sich die allgemeine Struktur der kontinuierlichen Zeit – das Bewusstsein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und das Besondere im Sinne synthetisierter individueller Erlebnisse, Erfahrungen und Erwartungen. Dieser Gedanke wird in zwei Richtungen weitergeführt: Erinnerung wird auf der einen Seite Bedingung dafür, überhaupt so etwas wie ein Bewusstsein entwickeln und haben zu können. In der Erinnerung erfahre das einzelmenschliche Subjekt, dass es »die Erlebnisse, die es zu verschiedenen Zeiten hat oder haben wird, erinnern und erwarten [kann]; wir behaupten also in der Zeit eine Einheit.« (Ebd.: 118) Jedoch wird auf der anderen Seite erst im Wiedererkennen des Erinnerten, der Rekognition im Begriff, aus der Möglichkeit des Bewusstseins Wirklichkeit: »Das ›ich denke‹, das das eigentliche Prinzip der Identität sein soll, ist nun nichts anderes als die Einheit, die zwischen diesen temporalen Horizonten oder temporalen Momenten von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, von jetzt Erlebtem, Erinnertem und Wiedererkanntem herrschen soll.« (Ebd.: 119) Die Selbstbezüglichkeit der Erkenntnis meint also nichts anderes als die doppelte Bewegung des Rekurses des Bewusstseins auf eine Erinnerung, in der es sich als Erkennendes erkennt und in der Erkenntnis des Erkennens konstituiert. Im Schatten der Idee des Wiedererkennens des Bewusstseins in der Erinnerung reproduziert sich der Schein der Verfügung und der Selbstbehauptung des Bewusstseins. Beide sind eine Verzerrung der Erkenntnis, die darauf zurückgeführt werden kann, dass das Denken nicht bloß der Willkür des Einzelnen, sondern auch einer geschichtlichen Kontingenz unterliegt. Adorno greift zur Bestimmung des Kontingenzmoments im Bewusstsein auf Bergsons Auseinandersetzung mit dem Erinnerungsbegriff und Prousts
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Begriff der mémoire involtaire, der unwillkürlichen Erinnerung, zurück17 . Die Begriffe machen deutlich, »dass das mit der Willkürlichkeit der Erinnerung gar nicht unter allen Umständen gilt; […] die Erinnerung hat ihre höchst […] irrationalen, also ihre von der zentrierenden willensmäßigen Instanz unseres Ichs unabhängigen Wegen. Es gibt eine unwillkürliche Erinnerung, und wir alle wissen ja, dass gerade dann etwa, wenn wir angestrengt
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Adorno hat in einem Brief an Benjamin bezugnehmend auf Benjamins Baudelaire-Essays die Notwendigkeit einer »dialektische[n] Theorie des Vergessens« (Adorno 1994: 417) und die damit zusammenhängende »Unterscheidung von guter und schlechter Verdinglichung« (ebd.: 418) betont. Dort schreibt er: »Es will mir scheinen, daß in dieser Theorie ein dialektisches Glied ausgefallen ist und zwar das des Vergessens. Das Vergessen ist in gewisser Weise Grundlage für beides, für die Sphäre der ›Erfahrung‹ oder mémoire involontaire, und für den reflektorischen Charakter, dessen jähe Erinnerung selber das Vergessen voraussetzt.« (Ebd.: 417) Die Andeutungen zu diesem doppelten Bezug auf das Vergessen implizieren Adornos kritische Anmerkungen zu dem von Benjamin eröffnete Erfahrungshorizont einer dem Unbewussten entspringenden mémoire involontaire. Zu bedenken gibt Adorno die in dem Konzept der unwillkürlichen Erinnerung fehlende bzw. unausgesprochene Dialektik von Erfahrung und Vergessen, denn »[o]b ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt« (ebd.). Insofern es für Adorno unbestritten zu sein scheint, dass Erfahrung auf Vergessen beruht, befasst sich der Gedankengang im Weiteren mit der Frage, wie vergessen wird. Die Antwort geht von einem konstitutiven Zusammenhang von Vergessen und Verdinglichung aus, denn – so Adorno – »alle Verdinglichung ist ein Vergessen. Objekte werden dinghaft im Augenblick, wo sie festgehalten sind, ohne in allen ihren Stücken aktuell gegenwärtig zu sein, wo etwas an ihnen vergessen ist. Und es stellt sich die Frage, wieweit dieses Vergessen das erfahrungsbildende, […] das epische Vergessen [ist] und wieweit es das reflektorische Vergessen ist.« (Ebd.) Durch die Perspektive einer Verdinglichung durch Vergessen wird der Widerspruch der Tradition erkennbar, das Vergangene durch Bewahren lebendig halten zu wollen, daran aber notwendigerweise zu scheitern. Jede Bestimmung von Gegenständen als bewahrenswert bringt es mit sich, andere Gegenstände auszuschließen, die infolge über kurz oder lang dem Vergessen preisgegeben werden. Dem Vergessen durch Bewahrung liegt eine instrumentelle Weise der Bezugnahme auf Geschichte zugrunde, das ›reflektorische Vergessen‹. Aus dem Brief selbst geht nicht weiter hervor, was Adorno genau unter reflektorischem Vergessen versteht, aber es spricht Vieles für die Einschätzung, dass es in unmittelbarem Zusammenhang mit instrumenteller Vernunft steht, die sich ihre eigene Konstitutionsgeschichte selbst nicht vergegenwärtigt. Das reflektorische Vergessen ist also nicht nur ein erkenntnistheoretischer Automatismus des verdinglichenden bzw. vergessen-machenden Bewusstseins, sondern selbst das Produkt einer Geschichte des Vergessens und Verdrängens. Dialektik des Vergessens meint nun jedoch nicht die eine Weise des Vergessens durch eine andere Weise zu ersetzen, vielmehr geht es darum, sie in ihrer immanenten Bedingtheit zu verstehen. Dies bedeutet, die Verdrängungen »der mannigfaltigen Affinitäten zwischen Seiendem […] von der einen Beziehung zwischen sinngebendem Subjekt und sinnlosem Gegenstand, zwischen rationaler Bedeutung und zufälligem Bedeutungsträger« (DdA: 27) zu registrieren, ohne sie unumwunden zu affirmieren. Die Dialektik des Vergessens besteht Dirk Quadflieg (2019) zufolge darin, dass das ›epische‹ Vergessen eine Verbindung zur Vorwelt behalte, in der die Natur noch nicht in innere und äußere, in Subjekt und Objekt geschieden war, die Verbindung aber nicht im Sinne der unmittelbaren Rückkehr zu einem Ursprung sondern eher in Richtung einer Hingabe des Subjekts an das Objekt gedeutet werden könne (vgl. ebd.: 46f.). Was das Vergessen episch macht ist also nicht nur der Rückbezug auf Urgeschichte und Animalität, sondern auch das Moment der Selbstvergessenheit, das bisher vor allem mit der philosophischen Aufgabe der Hingabe an den Gegenstand diskutiert wurde und nun um die Bedeutung erweitert wird, Bedingung der Verlebendigung des Entfremdeten zu sein.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
versuchen, uns ein Vergangenes zu vergegenwärtigen, dass wir dabei immer scheitern und das uns all die viel substantiellere, als die eigentlich genuine Art der Erinnerung vielmehr erscheint, wenn uns die Dinge dann in irgendeiner Weise von selber kommen – wenn sie uns […] einfallen.« (ET: 319; Herv. rb) An dieser Stelle kann festgehalten werden, wie Adorno die Verbindung von Spontaneität und einfallender Erinnerung fasst. Dabei kehrt der an einer früheren Stelle aufgeworfene Aspekt wieder, der danach fragte, wie das Neue, das die Spontaneität ihrem Begriff nach hervorbringt, ohne Erinnerung und ohne Gegenstand zu denken ist. Aus Adornos Perspektive erscheint dies nicht möglich. Daher auch die Schlussfolgerung: »Also Erinnerung im exakten Sinn gibt es überhaupt nur dort, wo nicht reine Spontaneität da ist.« (Ebd.: 321; Herv. rb) Aus diesem Grund ist der Begriff des Einfalls nicht identisch mit Kants actus purus. Da Einfälle dem einzelmenschlichen Bewusstsein nicht aus dem Nichts zufallen, vollzieht sich die Spontaneität nicht ausschließlich in rationaler Weise. Dies macht den Einfall zum anderen in der Anstrengung des Gedankens und durchbricht dessen Trug, selbsttätig zu sein. Der Einfall geschieht, wenn mit seinem Eintreten nicht gerechnet wird, er ist aber in Adornos Verständnis nicht willkürlich18 . Er ist dem gedanklichen Zugriff entzogen und dennoch nicht ohne die Tätigkeit des Denkens möglich. Sein Wirken bringt Assoziationen, Verknüpfungen des Materials hervor, ohne schon das zu sein, was Kant Synthese nennt. Einfälle wirken produktiv, alles andere »wäre die Negation ihres Aktcharakters; sie wäre buchstäblich unmittelbares Wissen« (ME: 157) und dennoch kann der Einfall nicht rational begründet werden. Die Assoziation von Stofflichem kann durch die nachträgliche Reflexion nur eingeholt, aber nicht willentlich erzeugt werden. Der Einfall ist assoziativer Gestalt und stofflichen Gehalts. Man könnte auch sagen: Die Unverfügbarkeit in der Verfügung ist stofflich vermittelt. Dieser Gedanke geht von einer spezifischen Bestimmung des Assoziationsbegriffs aus. Assoziationen verknüpfen objektiv gegebene, isolierte Elemente so zu einem Zusammenhang des Objekts, dass ihr geschichtlicher Erfahrungsgehalt sichtbar wird. Dass die Kritik an der Konstitutionslehre, nicht nur vom Subjekt her zu denken ist, sondern auch und vorrangig ein Ansinnen ist, das sich aus dem Objekt selbst ergibt, zeigt sich darin, dass das Assoziieren nicht bloß ein individueller Vollzug, d.h. die Hervorbringung des Gegenstandes aus dem Subjekt selbst ist, sondern vornehmlich auch einen objektiven ›Grund‹ hat. Interessant wäre, die Frage nach der Affinität von Subjekt und Objekt nicht nur ausgehend von der Natur des Subjekts zu diskutieren, sondern auch, wie bereits von Bernstein (2006) vorgelegt, um das in den Gegenständen
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Adorno beschreibt diese Spannung als Dialektik von »Sich-auf Etwas-Besinnen« und »Uns-aufetwas Besinnen«: »In dem Moment des Sich-auf Etwas-Besinnens liegt eigentlich immer das darin, dass man eine Situation herstellt oder eine Spannung schafft, in der es einem dann einfällt. Wenn es mir dann aber nicht einfällt, wenn es bloß bei der Anstrengung bleibt, dann sind wir eben in der Situation des Uns-auf-etwas-Besinnens und haben eigentlich gar keine Erinnerung. – […] diese reine Anstrengung oder Tätigkeit ist wirklich dann gegeben, wenn wir mit zusammengerunzelter Stirn dasitzen und uns krampfhaft auf irgendeine Sache besinnen; […] die wirkliche Erinnerung ist erst dann da, wenn uns dann in dieser Anstrengung dieses andere zufällt; wenn es uns einfällt; und wenn dieses Moment nicht dazukommt, gibt es eigentlich auch gar nicht diese intellektuelle Grundfunktion eines Wissens von nicht Gegenwärtigem.« (ET: 321)
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liegende Verhältnis der Affinität zu zentrieren. Anlass der Überlegungen Bernsteins ist Kants Begriff der »Affinität des Mannigfaltigen« und die Frage nach deren Verbindung zu Adornos Grundgedanke des Vorrangs des Objekts. Bei Kant selbst ist Affinität als das Andere des Bewusstseins gedacht: Als Verhältnis erklärt sie, warum die Affizierung zweier unterschiedlicher Dinge nicht nur schlechthin möglich, sondern auch, warum ihr Zustandekommen nicht dem Zufall sondern einer Regel geschuldet ist. Als objektive Affinität fungiert es als Grund, welcher trotz subjektiver Kontingenzmomente im Erkenntnisprozess verhindert, dass die Vielgestaltigkeit von Vorstellungen nur als »regellose[r] Haufen« (KrV: A 121) stehen bleiben, sondern eine Verbindung von Vorstellungen manifestiert, die einen objektiven Grund besitzen:« Der Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, so fern er im Objekte liegt, heißt die Affinität des Mannigfaltigen.« (Ebd.: A 112) Kant führt den Begriff in dem Abschnitt »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« in der »Transzendentalen Analytik« der Kritik der reinen Vernunft in Zusammenhang mit der Frage ein, wie eine objektive Einheit in der objektiven Vielheit hervorgebracht werden kann. Wurde die Erkenntnis des Objektes bisher als Konstitutum des begrifflichen Verstandes aufgefasst, tritt hier eine zweite, im Objekt selbst liegende Ermöglichungsbedingung hinzu: »In der Tat mußte Kant zugeben, daß die Anschauung mit den Kategorien nicht ›korrespondieren‹ könnte, wenn ihre Elemente ›getrennt‹, ›isoliert‹ oder untereinander ganz fremd wären; daher konzedierte er dem Mannigfaltigen der Anschauung selbst eine ›Synopsis‹.« (Beyer-Naumann 2010: 223) In der Kantischen Logik kommt der Synopse als objektiver Affinität die Aufgabe zu, auch im Falle subjektiver Kontingenz, die in der sinnlichen Anschauung in Form von Empfindungen und Assoziationen potentiell gegeben ist, empirisch notwendige Erkenntnis hervorzubringen. Andernfalls »würde es auch etwas ganz Zufälliges sein, daß sich Erscheinungen in einen Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisse schickten« (KdrV: A 121). Wenn die objektive Einheit nicht rein durch die Notwendigkeit der Form bestimmt werden kann, springt der immanente Objektzusammenhang korrigierend ein, d.h. die »Vorstellungen sind im Objekt, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjects, verbunden und nicht bloß in der Wahrnehmung« (ebd.: B 141; Herv. rb). Kant greift zu dessen Erläuterung auf die terminologische Verwendungsweise aus der Chemie zurück, wo Affinitätsowohl die reziproke Anziehung zwischen zwei verschiedenen Elementen sowie dynamische, wechselseitige Attraktion zwischen verschiedenen Teilen zu einem Ganzen bezeichnet und versieht sie mit erkenntnistheoretischer Bedeutung19 . Ausgehend von dieser Voraussetzung beruht für Adorno die Möglichkeit, das Verhältnis von Form und Inhalt dialektisch zu denken, auf der Annahme, dass die stoffliche Vermittlung der begrifflichen Vermittlung immer schon vorausgeht. »Soviel ist wahr an der Kantkritik des spekulativen Idealismus, welche den Gegensatz von Form und Inhalt verflüssigte. Keine Materie ist von den Formen abzusondern. Dennoch aber ist die Form einzig als Vermittlung der Materie. In solchem Widerspruch
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Es kann nicht unerwähnt bleiben, dass Kant in Zusammenhang mit der Bedeutungsänderung der ›Einbildungskraft‹ die ›Affinität des Mannigfaltigen‹ in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft streicht. Dadurch wird die erkenntniskonstituierende Stellung der Gegenstände wieder zurückgenommen und die zentrale Stellung des Verstandes betont.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
drückt Einsicht in die Nichtidentität, die Unmöglichkeit sich aus, in subjektiven Begriffen ohne Überschuß einzufangen, was nicht des Subjekts ist; schließlich das Scheitern von Erkenntnistheorie selber.« (Ebd.: 151) Auch wenn der Stoff, um erkannt zu werden, Form braucht, so ist Form nicht das Ganze und auch nicht das Erste: »Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt, wesentlich Deformation.« (SO: 747) Deformation, die ausgeht von einem Überschuss der stofflichen Erfahrung, sprengt die Grenzen der Form durch einen stofflichen Überschuss. Auch wenn der Einfall über das Subjekt hinausgeht, bleibt er doch subjektiv – Erinnerungs- und Erfahrungsmaterial als Produkt von Affizierung, Anschauung und Assoziation. Zum anderen lässt sich der stoffliche Überschuss des Einfalls auch als Hinweis auf seine somatische Vermittlung lesen, wenn darunter das nicht-intentionale, stoffliche Moment, welches weder von Affizierung, Anschauung und Assoziation, noch von Bewusstsein zu trennen ist, verstanden werden kann. Um diesen Gedankengang zu entwickeln, bedarf es zunächst eines Zwischenschritts, der die Wendung von Erkenntnis und Form zu Erfahrung und Deformation an zwei zentralen Aspekten der Kant-Lektüre Adornos erläutert: im Begriff der transzendentalen Anschauung und in der Idee vom Ding an sich.
3.1.2
Form und Vorrang des Objekts
Adornos Kritik am Primat der Form zielt darauf ab, die konstitutive Abhängigkeit des Bewusstseins von den Erkenntnisgegenständen und den objektiven Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht, auszuleuchten. Von zentraler Bedeutung für dieses Unterfangen ist die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status des Inhalts für die Form. Am Beginn von Adornos Überlegungen zur Vermittlung von Form und Inhalt steht die ideengeschichtliche Einordnung von Kants transzendentaler Begründung der Gegenstandserkenntnis. Diese wird etwas vereinfacht rekonstruiert als Prozess, in dessen Verlauf die Objektivität zunächst in die Innerlichkeit der Subjektivität verschoben wird, um sie dann wieder voneinander zu trennen und die Vernunft an die primäre Stelle setzen zu können20 . Dadurch sei es zu einer »merkwürdigen Doppelschlächtigkeit« (ET: 249) in der Erkenntnistheorie gekommen: »[A]uf der einen Seite [wurde] der […] Subjektivierungsprozess der erkenntnistheoretischen Reflexion viel weiter getrieben wie in den vorhergehenden Philosophien, dass
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Damit ist nicht die bloße Subjektivierung der Erkenntnisfähigkeiten gemeint. Diesfalls wären der Rationalismus und der Empirismus schon die Verwirklichung der Aufklärung. Die Philosophie Kants setzt der rationalistischen und empiristischen Fokussierung der Erkenntnis auf das an sich seiende die Begründung des für sich seienden Subjekts entgegen: »Der Sinn der kopernikanischen Wendung von Kant ist nicht die bloße Reduktion von Objektivität auf Subjektivität, sondern der Versuch, Objektivität selber zu erretten gewissermaßen innerhalb der Subjektivität selber und durch diesen Versuch der Errettung des Objektiven im Subjektiven jene Vermittlung der seit dem Zerfall des mittelalterlichen Kosmos auseinandergetretenen Bereich der Subjektivität und Objektivität herzustellen.« (ET: 199) Und an anderer Stelle heißt es: »Die Ordnung der Vernunft, die von der Vernunft erzeugte, die von der Vernunft gestiftete Ordnung jener Gesetze, die der Geist der Natur vorschreibt, die soll an die Stelle der verlorenen theologischen Ordnung treten.« (Ebd.: 247)
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aber auf der anderen Seite […] zugleich geht um etwas wie die Rettung der Objektivität oder […] Rettung der Ontologie. […] [Von Bedeutung ist], dass diese beiden im Gegensatz zu einander stehenden Intentionen bei ihm zugleich durcheinander vermittelt sind, […] das heißt, es wird bei ihm die Kraft der Subjektivität als des Organons der Erkenntnis derart gesteigert, dass durch diese Steigerung […] das Substantielle, das, was wesenhaft ist, was eigentlich überhaupt Erkenntnis konstituiert, nur in der Subjektivität selber sich findet. […] [Daraus folgt], dass die Ordnung des Seins aus der Ordnung der Vernunft, aus den der Vernunft selber objektiv innewohnenden Formen erschlossen werden soll.« (Ebd: 249f.) Das Gegebene vermittels der aus der Vernunft abgeleiteten Formen zu erschließen, heißt in der Kantischen Logik, objektiv notwendige Gegenstandserkenntnis hervorzubringen21 . Eine gewisse Ambivalenz liegt hierbei in dem Vermögen der Anschauung. Kant unterscheidet, wie bereits aufgezeigt, unter anderem zwischen transzendentaler und sinnlicher Anschauung. Etwas sinnlich anzuschauen, setzt voraus, durch etwas affiziert worden zu sein, es aufzunehmen und dazu Empfindungen und Vorstellungen zu haben. Aus diesem Grund lokalisiert Kant das Vermögen der Sinnlichkeit im menschlichen Gemüt 22 . Zugleich ist die Form der Sinnlichkeit dem Erkenntnissubjekt durch die Vernunft a priori gegeben. Das sinnliche Material ist dem Erkenntnissubjekt zwar äußerlich, dennoch muss die »Anschauung a priori […] in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht empirische Anschauung sein« (KdrV: B 41). Aus der Perspektive Kants ist also zu unterscheiden zwischen empfundenen Anschauungen, die subjektive Vorstellungen
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Empirische Erkenntnis entspringt dem Vermögen von Sinnlichkeit und Verstand. Beide fallen zwar gleichsam in den Bereich der Erkenntnis a posteriori, stellen darin aber unterschiedliche Stufen und Zwecke dar. Kant zufolge lasse sich aus der Differenz der Erkenntnisquellen kein hierarchisches Verhältnis ableiten, vielmehr stehen diese in einem Bedingungsverhältnis. An den Anfang des Abschnittes Von der Logik überhaupt im zweiten Teil der transzendentalen Elementarlehre erläutert Kant diese Unterscheidung: »Unsre Erkenntniß entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüths, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Receptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältniß auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüths) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntniß aus, so daß weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art correspondirende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe ein Erkenntniß abgeben können.« (KrV: B 74) Sinnliche Wahrnehmung der objektiven Mannigfaltigkeit ist jedoch nicht schon vollständige Erkenntnis des Objekts. Erst die Einheit von Sinn und Verstand bringt eine empirische Erkenntnis hervor: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden.« (Ebd.: B 74) Der Körper, durch den das Subjekt das gegebene Material erfasst, ist in der kantischen Logik in erster Linie ein Funktionsraum des Bewusstseins. Statt identitätslogisch um der Erkenntnis willen all dasjenige auszuschließen, das dem Gedanken ungleich ist und all dasjenige einzuschließen, das dem Gedanken gleicht, zielt der identitätskritische Zugang im Fall der Sinnlichkeit auf einer Kritik an der Funktionalisierung der Sinne und des sinnlichen Körpers durch das Bewusstsein und als Kritik an dessen erkenntnisbegründendem Ausschluss. In beiden Fälle äußert sich die Illusion von Selbstgegebenheit. Doch Bewusstsein und Körper sind weder unmittelbar gegeben noch bloße Funktionen im Erkenntnisprozess, sondern gehen über ihre Einengung im Prozess fortschreitender Naturbeherrschung hinaus.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
und reinen Anschauungen, die objektive Vorstellungen hervorbringen. Adorno dialektisiert die starre Grenzziehung und bündige Differenzierung zwischen transzendentaler Anschauung einerseits, welche die Kategorien und Strukturen der Erfahrung bestimmt und sinnlicher Anschauung andererseits, welche diese gebraucht, um zu unterscheiden. In der Anschauung treten das ›Ich denke‹ und dass ›Ich empfinde‹ in ein spannungsvolles Verhältnis der Identität und Nichtidentität. Die Anschauung und das anschauende Subjekt durchzieht eine Dialektik zwischen dem Subjekt, das wahrnehmen kann, weil es empfindet und dem Subjekt, das nicht wahrnehmen kann, weil es empfindet. Die Spannung ist die Konsequenz einer zweifachen Illusion: Erstens die imaginäre Vorstellung von Wahrnehmung ohne Empfindung und ohne Wahrnehmungsphysis; zweitens die Überzeugung, dass Empfindung objektive Vorstellungen des Gegenstandes gänzlich verunmöglichen. Beide Fälle setzen voraus, dass das Subjekt, um Objekt zu erkennen, sich selbst in seiner Objektivität reflektiert. Selbstobjektivierung und Selbsterkenntnis sind zentrale Elemente einer Konstellation der Wahrnehmung, die Adorno in dem Kapitel Zur Dialektik der erkenntnistheoretischen Begriffe in Zur Metakritik der Erkenntnistheorie in immanent-kritischer Auseinandersetzung mit Kants Lehre der sinnlichen Wahrnehmung entwickelt. Zunächst wird die Bedeutung der kantischen Bestimmung von Sinnlichkeit als Vermittlung verstandesgeleiteter Wahrnehmung und Empfindung herausgestellt: »Wahrnehmung jedoch – nach dem historischen Sprachgebrauch stets auf Gegenständliches bezogen – lässt sich, ist einmal der naive Realismus verworfen, nur als denkende Leistung, Kantisch als ›Apprehension in der Anschauung‹, als Kategorisierung deuten; nach Abzug der kategorialen Formen bliebe die bloße ὕλη zurück.« (ME: 159) Unterscheiden und Selbstobjektivierung nehmen in dieser Perspektive eine erkenntnistheoretisch entscheidende Rolle ein, wenngleich die Differenz zwischen Wahrnehmung und Empfindung nicht als absolute Differenz zu verstehen ist. Eine absolute Differenz einzuziehen würde bedeuten, Wahrnehmung nur als intentionalen Akt zu verstehen und damit die Möglichkeit von assoziativen Vorstellungen, die etwa für die essayistische Form und ihr kompositorisches Moment eine entscheidende Rolle spielen, auszuschließen. Die Unterscheidung von Wahrnehmung als Erkenntnisform und Empfindung als Affektgeschehen impliziert, dass der bloße Stoff, die absolute sinnliche Erfüllung ohne jede weitere Form, keine Vorstellung des Empfundenen geben und damit letztlich auch nicht zu Wissen werden kann. Zwar stimmt Adorno zu, »dass auch die Empfindung nicht jenes absolut Erste beistellt« (ebd.: 160; Herv. rb), folgert daraus jedoch nicht, dass Form und Inhalt unmittelbar sind. Die kategoriale Anschauung ist von der Empfindung verschieden, aber von dieser nicht getrennt. Die zentrale Verschiebung zu Kant liegt also in der dialektischen Bestimmung von Wahrnehmung und Empfindung. Zum einen bedarf es der Vermittlung zur kategorialen Form, um in der empfundenen Mannigfaltigkeit Objektives zu erkennen. Zum anderen bedarf es der Vermittlung zum Erkenntnismaterial, um die Erkenntnisform zu konstituieren: »Empfindungen, die Kantische Materie, ohne welche die Formen nicht einmal vorzustellen wären, die also auch ih-
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rerseits Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis sind, haben den Charakter des Vergänglichen.« (ND: 141; Herv. rb)23 Die Vermittlung von Form und Empfindung ist Ausdruck der ausgeführten Naturgeschichte der Erkenntnistheorie als Naturgeschichte. Der Selbstbesinnung der Form auf ihre eigene Naturverfallenheit fördert die Bedingtheit der Erkenntnis und die bescheidene Stellung der Form im Erkenntnisprozess zutage: »Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens von Objekt« (SO: 752). Adornos Verständnis von Erkenntnis als ein Ineinander von selbstständigem Denken und Ausführung des Objekts, das die ausführende Person auch selbst ist, hält paradoxerweise dadurch an der Notwendigkeit des intellektuellen Vollzugs fest, in dem er die Verfügungsmacht der Form infrage stellt. Die Wendung rührt her von der Grundeinsicht des Vorrangs des Objekts. Das Objekt gegen die Verselbstständigung des Subjekts – »Subjekt unterschiebt sich auf der Spitze seiner formenden Prätention als Objekt« (SO: 753) – abzugrenzen, ist bei Kants Begrenzung der Vernunft bereits gedacht. ›Hinter‹ der Grenze der Vernunft liegt das Ding an sich24 und die Einsicht, dass die Dinge, wie sie an sich sind, nicht erkannt werden können25 . Das Ding an sich hat bei Kant eine doppelte logische Funktion: Es 23
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In dem Abschnitt Übergang zum Materialismus in der Negativen Dialektik führt Adorno anhand des Empfindungsbegriffs eine explizite Abgrenzung von dessen leibphänomenologischer Auffassung bei Edmund Husserl. Dort heißt es: »Die Empfindung, crux aller Erkenntnistheorie, wird erst von dieser, im Widerspruch zu ihrer eigenen vollen Beschaffenheit, welche doch die Rechtsquelle der Erkenntnis sein soll, in eine Tatsache des Bewusstseins uminterpretiert. Keine Empfindung ohne somatisches Moment. […] Die sprachliche Tönung von Worten wie sinnlich, sensuell, ja schon von Empfindung verrät, wie wenig die damit designierten Sachverhalte sind, als was die Erkenntnistheorie sie abhandelt, pure Momente von Erkenntnis. Die subjekt-immanente Rekonstruktion der Dingwelt hätte die Basis ihrer Hierarchie, eben die Empfindung, nicht ohne die Physis […]: Irreduzibel ist das somatische Moment als das nicht rein cognitive an der Erkenntnis. […] Dass die cognitiven Leistungen des Erkenntnissubjekts dem eigenen Sinn nach somatisch sind, affiziert nicht nur das Fundierungsverhältnis von Subjekt und Objekt sondern […] entthront die leitende Idee von Erkenntnistheorie, den Körper als Gesetz des Zusammenhangs von Empfindungen und Akten, geistig also, zu konstituieren.« (ND: 194) Zweifellos bedürfte es an dieser Stelle einer ausführlicheren Rekonstruktion von Husserls Phänomenologie der Erfahrung. Dies muss auf eine andere Zeit und a einen anderen Ort verschoben werden. An dieser Stelle ist jedoch festzuhalten, dass Adornos Blick auf Husserls »Bemühungen um die Erfassung der Leiblichkeit im Prozeß des Erkennens« (MeyerDrawe 1989: 292) ein immanent kritischer ist. Mit Husserl teilt er die Kritik an der Beschneidung des Körpers und seiner reflexiven und sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten durch den naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriff. Adorno zieht daraus jedoch andere Schlüsse. Die ›somatische‹ genauso wie die sprachliche Vermittlung durch Erkenntnisobjekte verdichten sich zu der Einsicht, dass sich Empfindung und Erkenntnis nur geschichtlich realisieren können. Dies schließt die Idee des Leibes als einer der materiellen und symbolischen Vermittlung vorausliegenden und zugleich in der Welt fungierenden Instanz sinnlicher und reflexiver Erfahrung aus. Zur Interpretation Adornos am Leitfaden des Leibes: vgl. Meyer-Drawe (1989, 2000). Adorno bezeichnet das Ding an sich auch als »Schwäche von Kants System« (GS 2: 43). Daraus entsteht das Paradox, dass das Denken einerseits nur durch das Denken von etwas, also ein Objekt, überhaupt als Denken erkannt werden kann, andererseits jedoch darin seine innere Grenze hat, sich nicht erkennend auf Objekte, sondern insofern es reines Denken ist, nur auf Gedanken beziehen zu können. Kant löst dieses paradoxale Verhältnis in dem Argument auf, wonach das Vernunftvermögen seine Bestimmung nicht in der Erkenntnis von Gegenständen, sondern darin habe, selbst die Grenzen des Gebrauchs zu bestimmen. Gegenstände haben für die Vernunft lediglich
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
hat die Aufgabe »die objektive Gültigkeit […] [und] die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken« (KrV: B 311). Im Medium von Anschauung und synthetisierendem Begriff bringen Sinnlichkeit und Verstand die an sich unverbundene Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit in einer gegenständlichen Einheit hervor. Was Gegenstände jedoch außerhalb der subjektiven Erkenntnis sind, bleibt dieser unbekannt. Aus diesem Grund unterscheidet Kant zwischen Erscheinung und ›Ding an sich‹: »Wenn wir aber auch von Dingen an sich selbst etwas durch den reinen Verstand synthetisch sagen könnten (welches gleichwohl unmöglich ist), so würde dieses doch gar nicht auf Erscheinungen, welche nicht Dinge an sich selbst vorstellen, gezogen werden können. Ich werde also in diesem letzteren Falle in der transzendentalen Überlegung meine Begriffe jederzeit nur unter den Bedingungen der Sinnlichkeit vergleichen müssen, und so werden Raum und Zeit nicht Bestimmungen der Dinge an sich, sondern der Erscheinungen sein: was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.« (Ebd.: B 333) Die Allgemeingültigkeit einer Erkenntnis ist also nicht konstituiert durch das Objekt sondern durch die Form des Denkens. Dieser Gedanke führt Kant zu der methodologischen Konstruktion, dass der Anlass der Erkenntnis von den gegebenen Gegenständen ausgeht, die Ursache und die Möglichkeit der Erkenntnis jedoch rein intelligiblen Ursprungs ist. Das Wissen, welches über einen Gegenstand generiert wird, ist nicht nur durch die Erkenntniskategorien bedingt, sondern auch und zuvörderst durch diese bestimmt. Da jedoch die empirisch gewonnene Erkenntnis nur eine vom Verstand erzeugte Erscheinung, eine Rationalisierung des an sich Irrationalen ist, kommt Kant zu dem Schluss, dass über die gegebene Wirklichkeit, insofern sie außerhalb der durch das rationale Subjekt erzeugten Wirklichkeit liegt, nichts gewusst werden kann. Formwissen geht also der Möglichkeit von Gegenstandswissen notwendigerweise voraus. Zugleich sind es die für die Form unüberwindbaren Grenzen des Gegenstandes, die ihre Einheit und Notwendigkeit zeigen. Weit vor Adorno bildet die Antinomie von Verstand und Ding an sich bereits für Hegel einen der zentralen Gegenstände seiner Kantkritik. Dieser argumentiert, dass die Trennung von Bewusstsein und Ding an sich selbst ein Produkt des Denkens ist, also transzendental gesetzt, jedoch von Kant nicht begründet werde. Hegel zufolge gebe der Kantische Idealismus »aus Angst vor dem
eine »erkenntnisbegrenzende, keine ontologische Bedeutung« (Willaschek 1998: 327). Die grenzsetzenden Objekte der reinen Vernunft nennt Kant »transzendentale Ideen« (KrV: B 378). An sich handelt es sich dabei jedoch nicht um Gegenstände, sondern um reine Vernunftbegriffe. Kant definiert transzendentale Ideen als Prädikate der Vernunft. Sie sind Eigenschaften der Vernunft selbst und können nicht vorgestellt werden. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass der Bereich der Vernunft die Sphäre reinen Denkens ist, sondern auch damit, dass sie der Vernunft selbst entspringen und dieser somit nicht grundsätzlich äußerlich sein können. Wenn jene also von der Vernunft ›zur Ansehung vorgelegt‹ werden, haben sie nicht den Status äußerer Objekte, deren Inhalt zu bestimmen sei. In der Systematik Kants hat die Ansehung der Ideen vielmehr die Bedeutung, die Vernunft zu einem Urteil über sich selbst zu bringen. Dies sagt aus, dass die Vernunft, in dem sie zu einem Urteil kommt, sich selbst vollzieht und zugleich die Einsicht eröffnet, dass diese Urteile a priori, weil sie jener entspringen, notwendig und allgemein sind.
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Objekt den logischen Bestimmungen eine wesentliche subjektive Bedeutung« (W 5: 45). Erkenntnistheoretisch angstbefreit will Hegel die transzendentale Logik einer »totalen Umarbeitung« (ebd.: 46) unterziehen, was in erster Linie bedeutet, die Schranke zwischen Subjekt und Ding an sich dialektisch im Begriff aufzuheben. Was Hegel für seine Philosophie in Bezug auf Kant in Anspruch nimmt, kann auch für Adornos negative Dialektik in Bezug auf Hegel formuliert werden. Während die Kantische Differenz von Subjekt und Ding an sich von Hegel als Verhältnis der Nichtidentität gedacht wird, das durch die dialektische Bewegung aufgehoben werden kann, verbindet Adorno beide Aspekte in der erkenntnistheoretischen Grundprämisse vom Vorrang des Objekts. Von Kant greift er die Idee der vernunftbegrenzenden Funktion des Dinges an sich auf. Es wird zum zentralen Element einer Kritik an der bewusstseinsphilosophischen »Gewalt gegen das Objekt« (SO: 752)26 . Aber der Weg von dort führt nicht unmittelbar zum Vorrang des Objekts. Erst durch die durchgeführte Kritik an dem Primat des konstitutiven Erkenntnissubjekts wird die Unabhängigkeit des Subjekts vom Objekt zur Unabhängigkeit des Objekts vom Subjekt. »Wodurch aber das vorgängige Objekt, zum Unterschied von seiner subjektiven Zurüstung, sich bestimmt, das ist zu fassen an dem, was seinerseits die kategoriale Apparatur bestimmt, von der es dem subjektivistischen Schema zufolge bestimmt werden soll, an der Bedingtheit des Bedingenden.« (ebd.: 748) Die Bedingtheit des Bedingenden setzt Kants Vernunftgrenze in Beziehung zu Hegels Begriff der Nichtidentität, der die Vermittlung von Erkenntnissubjekt und Ding an sich herausstellt. An die Stelle des Dings an sich tritt das erkenntnisbegrenzende Postulat des Objektvorrangs. In einem weiteren Schritt wird die Grenzsetzung durch das Objekt zusammengedacht mit der Idee vom Vorrang des geschichtlich vermittelten Erfahrungsmaterials: »Ihm [Kant;rb] ist jegliche Bestimmung des Gegenstandes eine Investition der Subjektivität in die qualitätslose Mannigfaltigkeit, ohne Rücksicht darauf, daß die bestimmenden Akte, die ihm für spontane Leistungen der transzendentalen Logik gelten, auch einem Moment sich anbilden, das sie nicht selbst sind; daß sich synthesieren nur läßt, was es auch von sich aus gestattet und verlangt.« (ND: 142) Es geht hier nicht darum, dem Objekt nun eine Autonomie zu zuschreiben, die sich darin manifestierte, selbst entscheiden zu können, ob es erkannt werden will. Vorrang des Objekts heißt nicht Souveränität des Objekts:
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»Hat Hegel, vermöge seiner Kantkritik, das kritische Philosophieren großartig über das formale Bereich hinaus erweitert, so hat er in eins damit das oberste kritische Moment, die Kritik an der Totalität, am abschlußhaft gegebenen Unendlichen, eskamotiert. Selbstherrlich hat er dann doch den Block weggeräumt, jenes fürs Bewußtsein Unauflösliche, an dem Kants transzendentale Philosophie ihre innerste Erfahrung hat.« (GS 5: 353f.) Andererseits zeigt sich in der Trennung von Ding an sich und Erkenntnismaterial das Problem einer auf Grenzziehung setzenden Erkenntnistheorie. Adorno plausibilisiert diesen Gedanken an einer Interpretation der doppelten Bedeutung des Dingbegriffs bei Kant aus. (Siehe hierzu: Adornos Ausführungen in der Vorlesung zur Erkenntnistheorie (vgl. ET: 302-315).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
»Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung. Auch es freilich trägt bereits, trotz Kant, durch seine bloße Unterscheidung zum kategorial Prädizierten ein Minimum von Bestimmungen an sich.« (SO: 748f.) Das objektiv Gegebene geht also einerseits seiner subjektiven Formung voraus und ist andererseits nicht ohne den subjektiven Faktor zu denken. Im Erkenntnismaterial sind Form und Objekt, in der Erkenntnis Bestimmung und Verselbstständigung vermittelt27 . Man kann ihr Verhältnis auch so interpretieren, dass der Gegenstand zum einen immer mehr und zum anderen stets weniger ist als das Subjekt. Es ist mehr, weil es vor jeder Erkenntnis objektiv gegeben ist. Es ist aber zugleich weniger, weil es kein Objekt gibt, das nicht bereits geformt und damit Träger subjektiver Leistung ist. In umgekehrter Analogie dazu ist das Subjekt zugleich mehr und weniger als das Objekt. Es ist mehr, weil es in der Lage ist, durch Objekte Erfahrungen zu machen, die in sich bereits über das Objekt hinausgehen. Um dennoch eine Erfahrung mit dem Objekt machen zu können, muss das Subjekt sich selbst vergessen und aus diesem Grund ist Erfahrung nicht ohne das Moment der Entäußerung zu denken: »Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt, als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach immer auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein.« (ND: 184) Die Ungleichheit im Vermittlungsprozess wirft Fragen auf: Wie ist es zu verstehen, dass Adorno den Zugriff des Subjekts auf den Gegenstand durch den Vorrang des Objekts und durch die Notwendigkeit der Entäußerung in starkem Maße beschränkt, zugleich aber durch Vorrang und Verschiedenheit hindurch die Kraft des Bewusstseins, welche Subjekt und Objekt vermittelt, anerkennt? Auf diese Frage soll die Dialektik von Spontaneität und Affizierung eine Antwort geben (vgl. Bernstein 2006: 113).
3.2
Vernunft, Spontaneität und Soma
Die Erörterung der Dialektik von Spontaneität und Affizierung kann als Versuch verstanden werden, der Dialektik von Entfremdung und Autonomie eine Bestimmung zu
27
Adorno versteht die Dialektik des Gegenstandes so, dass dieses »zwar […] ein Konstituiertes, das heißt, etwas ist, was immer auch Bewusstsein, was immer auch Subjekt ist, zugleich aber auch bereits ein Objektives, also etwas, was uns mit einer bestimmten Struktur gegenübertritt, die wir nicht einfach brechen können, die wir nicht einfach mit der Gewalt unserer Kategorisierungen nach Belieben in unsere Ordnungsschemata übersetzen können, sondern nach der wir uns selbst in einem bestimmten Sinn, auch bereits zu richten haben« und »dass in diesem strukturierten Gegenstand immer sowohl selber auch ein bereits strukturiertes Gegenständliches ist, nie bloß das was, unser Bewusstsein davon behauptet.« (ET: 139)
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»Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung. Auch es freilich trägt bereits, trotz Kant, durch seine bloße Unterscheidung zum kategorial Prädizierten ein Minimum von Bestimmungen an sich.« (SO: 748f.) Das objektiv Gegebene geht also einerseits seiner subjektiven Formung voraus und ist andererseits nicht ohne den subjektiven Faktor zu denken. Im Erkenntnismaterial sind Form und Objekt, in der Erkenntnis Bestimmung und Verselbstständigung vermittelt27 . Man kann ihr Verhältnis auch so interpretieren, dass der Gegenstand zum einen immer mehr und zum anderen stets weniger ist als das Subjekt. Es ist mehr, weil es vor jeder Erkenntnis objektiv gegeben ist. Es ist aber zugleich weniger, weil es kein Objekt gibt, das nicht bereits geformt und damit Träger subjektiver Leistung ist. In umgekehrter Analogie dazu ist das Subjekt zugleich mehr und weniger als das Objekt. Es ist mehr, weil es in der Lage ist, durch Objekte Erfahrungen zu machen, die in sich bereits über das Objekt hinausgehen. Um dennoch eine Erfahrung mit dem Objekt machen zu können, muss das Subjekt sich selbst vergessen und aus diesem Grund ist Erfahrung nicht ohne das Moment der Entäußerung zu denken: »Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt, als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach immer auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein.« (ND: 184) Die Ungleichheit im Vermittlungsprozess wirft Fragen auf: Wie ist es zu verstehen, dass Adorno den Zugriff des Subjekts auf den Gegenstand durch den Vorrang des Objekts und durch die Notwendigkeit der Entäußerung in starkem Maße beschränkt, zugleich aber durch Vorrang und Verschiedenheit hindurch die Kraft des Bewusstseins, welche Subjekt und Objekt vermittelt, anerkennt? Auf diese Frage soll die Dialektik von Spontaneität und Affizierung eine Antwort geben (vgl. Bernstein 2006: 113).
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Vernunft, Spontaneität und Soma
Die Erörterung der Dialektik von Spontaneität und Affizierung kann als Versuch verstanden werden, der Dialektik von Entfremdung und Autonomie eine Bestimmung zu
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Adorno versteht die Dialektik des Gegenstandes so, dass dieses »zwar […] ein Konstituiertes, das heißt, etwas ist, was immer auch Bewusstsein, was immer auch Subjekt ist, zugleich aber auch bereits ein Objektives, also etwas, was uns mit einer bestimmten Struktur gegenübertritt, die wir nicht einfach brechen können, die wir nicht einfach mit der Gewalt unserer Kategorisierungen nach Belieben in unsere Ordnungsschemata übersetzen können, sondern nach der wir uns selbst in einem bestimmten Sinn, auch bereits zu richten haben« und »dass in diesem strukturierten Gegenstand immer sowohl selber auch ein bereits strukturiertes Gegenständliches ist, nie bloß das was, unser Bewusstsein davon behauptet.« (ET: 139)
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geben, die sich von ihrer Übersetzung in Naturbeherrschung unterscheidet. Beide, Naturbeherrschung und affizierbare Spontaneität, gehen aus der gleichen Dialektik hervor. Während jedoch die Spannung im durchgesetzten Modus von Naturbeherrschung in Naturverfallenheit aufgehoben wird, beschreibt der Begriff affizierbarer Spontaneität in Genesis und Geltung, die Möglichkeit eines nicht-zurichtenden Zugangs zum Gegebenen. Gegenstand der zu erörternden Dialektik von Entfremdung und Autonomie bilden die Begriffe der Affektion, Affinität und Assoziation und ihr Ineinandergreifen in Kants erkenntnistheoretischem Anschauungsbegriff. Affektion bezeichnet sowohl Prozess als auch Resultat der äußerlichen Einwirkung auf die Rezeptivität eines zugleich intelligiblen und empirischen Subjekts; Affinität rekurriert auf den Gedanken, dass die Mannigfaltigkeit der Anschauungen selbst, also ohne unmittelbare Wirkung der Form eine Verbindung unterhalten; Assoziation gibt eine Antwort auf die Frage, nach der Möglichkeit einer Vermittlung ohne Synthese. Kerngedanke der Ausführung ist es, die Wendung der begrifflichen Form in eine »Form der intellektuellen Körpererfahrung« (Casale 2020c: 13) vorzubereiten. Aufgerufen ist hier eine Denkform, die sich aus der Vermittlung der bei Kant getrennten Begriffe der Spontaneität und Affizierung entwickeln lässt. Das erkenntniskritische Moment, auf das sich die Dramaturgie des Gedankengangs zubewegt ist das Somatische als das zur Erkenntnistheorie Hinzutretende.
3.2.1
Von der Affizierung zur Dialektik der Vernunft
Im Begriff der Anschauung verschränken sich zwei Weisen der Affizierung, der Berührung: Die Affizierung durch einen Gegenstand und die Selbstaffektion (vgl. Campe 2007). Das Affiziertwerden durch einen Gegenstand erläutert den Sachverhalt, dass Gegenstände »unsere Sinne rühren« (KdrV: B 1) und sich als Anschauungen geben: »Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht und von ihm entspringen die Begriffe« (ebd.: B 33)28 . Affizierung und Anschauung hängen also miteinander zusammen. Affizierung ist die Möglichkeit, des »InBerührung-Kommens« mit einem Gegenstand. Die Berührung führt dazu, die »wahrnehmende Gleichgültigkeit abzuschütteln« (Casale 2020c: 13) und das Subjekt »zur Erkenntnis [zu] beweg[en]« (ebd.). Sinnliche Affektion und empirisch affizierender Gegenstand erscheinen aus dieser Perspektive als notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Dies wäre für sich genommen richtig, würde Kant nicht eine weitere Präzisierung des Verhältnisses von Anschauung und Empfindung einführen. Die unmittelbare Wirkung des Gegenstandes ist nichts anderes als eine Empfindung, deren Reflexion zutage bringt, dass das sinnliche Vermögen Wirkungen ausgesetzt ist und sie rezipiert. Auch wenn also alle »Anschauungen, als sinnlich, […] auf Affektionen beruhen« (KrV: A 68), bringen Affektionen Anschauung nicht zwangsläufig 28
Kants Unterscheidung zwischen transzendentaler und empirischer Affizierung des transzendentalen Subjekts hat für den Gang der Argumentation keine unmittelbar substantielle Bedeutung und wird daher nicht weiter thematisiert (siehe hierzu: Willaschek 2001).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
selbst hervor. Nicht zufällig ist der Verstand in dem obigen Zitat – getrennt nur durch ein Semikolon – der Sinnlichkeit beinahe unmittelbar zur Seite gestellt. Ohne weitere Vermittlung können Gegenstände nur empfunden, nicht aber erkannt werden. Doch, sobald die Affektion sich »als Inhalt (Gegenstand) einer Sinneswahrnehmung gibt« (Casale 2020c: 13), ist die Erfahrung bereits kategorial vermittelt. Der Übergang von einer Affektion zu einer sinnlichen Erfahrung fungiert als Möglichkeitsbedingung des Verstandes durch Anwendung seiner Begriffe zur Erkenntnis des sinnlich gegebenen Materials zu gelangen, ohne dass die sinnliche Affiziertheit des Verstandes die spontane Hervorbringung der Begriffe selbst tangiert. Hier soll nun argumentiert werden, dass die Spontaneität des Verstandes materialistischer ist als es Kants, durch eine logische Operation vorgenommene Trennung zwischen Spontaneität und Affektion zunächst nahelegt. Der Begriff der affizierbaren Spontaneität kann als Versuch verstanden werden, jene oben genannte Form intellektueller Körpererfahrung erkenntnistheoretisch zu erörtern. Ausgangspunkt der Erörterung ist die auf Rüdiger Campe (2007) zurückgehende Kritik an der Bestimmung der Spontaneität als Selbstaffektion im Gegensatz zur sinnlichen Affizierung, die nicht mehr als eine Wirkung äußerer Ursachen ist. Campe löst den Dualismus zwischen sinnlicher Fremdaffizierung und spontaner Selbstaffizierung dahingehend auf, dass er sie im Begriff der sinnlichen Selbstaffektion zusammendenkt. Ihre Dialektik beschreibt er wie folgt: »Nicht durch das reine Gegebensein der Gegenstände und nicht als das bloße Affiziertwerden der Sinne wird Sinnlichkeit zum anderen und zur notwendigen Voraussetzung der Erkenntnis. Das ist erst in einer grundlegenden Formung der Sinnesdaten der Fall […] – aber in der Folge der grundlegenden Formung ist die Anschauung nicht mehr rohe Affiziertheit, […] sondern eine […] Tätigkeit und Spontaneität auf Seiten des Subjekts. In den Anschauungen, die aus Einwirkungen auf die Sinne resultieren, die Wirkungen dieser Formvorgaben mit anschauen heißt: sich selbst affizieren. Indem man‹ in den Wirkungen der Gegenstände auf die Sinne, das heißt in ihrem Affiziertwerden, die Formvorgaben Raum und Zeit mit anschaut, schaut man das Anschauungwerden der Anschauungen an.« (Ebd.: 154f.) Im Unterschied zu roher Affiziertheit und passiver Rezeptivität, besteht die Aktivität der Sinnlichkeit, also die sinnliche Spontaneität darin, im Moment des Affiziertwerdens nicht nur eine Vorstellung von dem äußeren affizierenden Gegenstand zu geben, sondern sich dabei auch selbst eine Anschauung von den Formen zu geben, mit denen Anschauungen gegeben werden. Sie ist also Selbstaffektion, eine kategorial vermittelte »Selbstbeziehung durch Selbsteinwirkung und Selbstberührung« (ebd.: 151). Die Kantische Trennung zwischen der Materie der Erscheinung auf der einen Seite, die a posteriori durch Affektion gegeben werden, und den Formen der Erkenntnis auf der anderen Seite, die a priori in einer reinen Anschauung gegeben werden, wird aufgehoben und in einer sich selbst affizierenden und anschauenden Anschauung synthetisiert. Der Begriff der Selbstaffektion kann in diesem Zusammenhang als Versuch gelesen werden, die festgesetzte Trennung zwischen der formalen und gegenständlichen Seite, der die Unterscheidung zwischen der Form als Ursache und dem Gegenstand als Wirkung implizit ist, zu vermitteln. Während Kant die Möglichkeit, dass es erkenntnisstiftende
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Anschauungen gibt, rational begründet, erschließt die Selbstaffektion die Formungsweise der Sinnlichkeit – nicht nur, aber auch – aus dem Sinnlichen selbst. Dazu zählen sowohl das in der Außenwelt sinnlich Erfassbare als auch die Wirkung der Erfahrungen im Medium der Empfindungen. Für den Gedankengang relevant ist bei der Idee der Selbstidentifikation, dass sie das sinnliche Vermögen – ohne das keine Erkenntnis möglich wäre – als Einheit hervorbringt, ohne sie aus der apriorischen Einheit der Vernunft abgeleitet zu haben. Was dieser Gedanke hier leistet, ist die Vermittlung von zwei Verschiebungen: Die erste Verschiebung vollzieht das, was man als »Detranszendentalisierung« (Habermas) – hier: bezogen auf Ästhetik – bezeichnen könnte. Eine solche detranszendentalisierte Ästhetik hält an der Idee des kategorialen Zugangs zu aller Erfahrung fest, verwirft jedoch zugleich die Auffassung, dass es notwendig ist die Kategorien in apriorischen Denkformen zu begründen. Im Gegenteil, und darin besteht die zweite Verschiebung, wird die kantische Logik vom Kopf auf die Füße gestellt. Denn was Campe hier vorschlägt ist eine Begründung der Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis a posteriori. Der Grundgedanke einer solchen Erkenntnistheorie als Selbstaffektion besteht darin, dass nicht nur die Anwendung, sondern auch die spontane Hervorbringung der Verstandesbegriffe selbst nicht unabhängig von einer sinnlichen Ursache zu denken sind. Campe verdichtet diesen Gedanken der sinnlich verursachten Begründung begrifflicher Erkenntnis in dem Begriff der »Verkörperung des transzendentalen Ichs« (ebd.: 151; Herv. rb). Campes Begriff erschließt eine grundsätzlich andere Weise, die Form des Denkens erkenntnistheoretisch zu bestimmen. Statt die Möglichkeit von Erkenntnis wie Kant transzendental zu begründen, gilt es – ausgehend von der sinnlich und geistig vermittelten Erfahrung, dass es sie gibt – zu fragen, wie es sie gibt. Oder noch einmal anders formuliert: Kants Antwort auf die Frage, wie Erkenntnis möglich ist, setzt die transzendentale Antwort auf die Frage, warum Erkenntnis möglich ist, notwendig voraus. Der Begriff der Verkörperung des transzendentalen Ichs will auch eine Antwort geben auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, aber eben nicht vor jeder Erfahrung, sondern aus der Erfahrung selbst heraus. Bei Adorno vergegenwärtigt sich dieser Gedankenzug als Selbstkritik der Vernunft vom Standpunkt ihrer geschichtlichen Bedingtheit29 . Die Selbstkritik der Vernunft hat bei Adorno einen spezifischen Gegenstand und einen spezifischen Ort. Gegenstand der Selbstkritik ist die transzendentale Begründung der Einheit des Erkenntnissubjekts, Ort der Selbstkritik ist der Begriff der Apperzeption als ursprüngliche Einheit alles Vorgestellten und Gedachten. Wie bereits gezeigt, bestimmt Kant das reine Bewußtsein im Gegensatz zum empirischen Bewusstsein als in sich unbedingte Form. Während es dem empirischen Bewusstsein um die Hervorbringung gegenständlichen Wissens geht, weiß das reine Bewusstsein nur sich selbst und ist darum unbedingt. Das sich selbst wissende und darum mit sich selbst identische Bewusstsein, Kant nennt es die transzendentale Apperzeption, ist der Ursprung der Kategorien und der apriorischen
29
Dabei handelt es sich insofern um eine Selbstkritik der Vernunft, weil das Bewusstsein nicht nur die Instanz der Kritik, sondern in Gestalt der These vom mit sich selbstidentischen Bewusstsein zugleich Gegenstand der Kritik ist. Dies ist so zu verstehen, »daß der Prozeß nicht nur ein Prozeß des Denkens sondern, und das ist guter Hegel, zugleich ein Prozeß in den Sachen selber sei« (VND: 37).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Grundsätze der Erkenntnis. In der Möglichkeit, Erfahrungsgegenstände vermittels der Tätigkeit des Verstandes und seiner Kategorien zu konstituieren, spiegelt sich die Einheit des transzendentalen Ichs wider, das die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt erst begründet. Das Grundargument der Kritik Adornos an der transzendentalen Apperzeption besagt, dass diese vermittelter ist, als es die Bestimmung der konstitutiven Einheit des Bewusstseins und die Idee einer ursprünglichen Produktivität im Denken behauptet. Über letzteres heißt es in der Dialektik der Aufklärung: »Das Ich, die synthetische Einheit der Apperzeption, die Instanz, die Kant den höchsten Punkt nennt, an dem man die ganze Logik aufhängen müsse, ist in Wahrheit das Produkt sowohl wie die Bedingung der materiellen Existenz« (DdA: 106). Die Autoren betrachten die Einheit des transzendentalen Ichs nicht in erster Linie unter dem Aspekt der Erkenntnisbegründung, sondern unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Empirie. Das bedeutet, dass das Erkenntnisinteresse nicht allein erkenntnistheoretischer sondern auch gesellschaftsanalytischer Natur ist. Sie betrachten das subjektive Bewusstsein als Resultat geschichtlicher Prozesse. Der Zugang zur geschichtlichen Formierung des subjektiven Bewusstseins erfolgt über den Begriff des Individuums. Der Begriff des Individuums fungiert in diesem Fall als Phänomen, durch dessen Entschlüsselung eine Vorstellung davon gewonnen werden kann, wie sich in den für sich genommen besonderen Erfahrungen und Erkenntnisvollzügen ein subjektives Allgemeines als eine »Art von gesamtgesellschaftliche[m] Gesamtsubjekt« (ET: 152) manifestiert. Das Gesamtsubjekt ist nach Adornos Verständnis gleichzeitig Wahrheit und Schein der Vorgegebenheit einer allgemeinen Form. Die Produktivität des Erkenntnissubjekts, also das »Subjekt als reine Spontaneität, ursprüngliche Apperzeption, scheinbar das absolute dynamische Prinzip« (SO: 754), lässt sich im Horizont zweiter Natur an der Schnittstelle von Besonderem und Allgemeinem weiter ausbuchstabieren. Das erkennende Individuum ist »Träger dieser intersubjektiven gesamtgesellschaftlichen Ichlichkeit […] und wir sind als einzelne konkrete Individuen gar nicht unmittelbar identisch mit jener Vernunft« (ET: 152). Adorno zufolge findet sich das logische Subjekt und dessen Prinzip der Spontaneität seiner Form nach nicht zuvörderst in den intellektuellen Leistungen der Einzelnen sondern in dem allgemeinen und notwendigen Prinzip gesellschaftlicher Arbeit wieder, durch die sie überhaupt erst hervorgebracht werden. Die gesellschaftliche Vermittlung von erkennendem Besonderem und logischen Allgemeine beschreibt einen »Zusammenhang also, der über die bloße einzelmenschliche Existenz hinausgeht, durch Begriffe wie die Gesellschaft getroffen wird, in die ja die einzelnen Individuen eingehen, aber nur als vermittelte eingehen durch die Ganzheit eines Prozesses, in dem sie dann lediglich als Funktionen dieser Totalität und nicht als bloße Einzelwesen eine Rolle spielen, und das eigentliche Modell jener absoluten Ursprünglichkeit und Spontaneität, die man im allgemeinem dem Geist zurechnet, die gesellschaftliche Arbeit in einem allerweitesten Sinn ist.« (Ebd.: 106)30 30
»Das Kantische Moment der Spontaneität, das in der synthetischen Einheit der Apperzeption mit der konstitutiven Identität geradezu in eines gesetzt ist – Kants Begriff des Ich denke war die Formel für die Indifferenz erzeugender Spontaneität und logischer Identität –, wird bei Hegel total
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Das durchs Allgemeine vermittelte Individuelle ist nicht nur das »Hinausgehen über die Zufälligkeit des je einzelnen Subjekts« (DSH: 265), sondern birgt auch den Grundgedanken zum Ausdruck, dass Spontaneität gelesen werden kann als »Rückverweis des erzeugenden Moments […) des Geistes auf ein allgemeines Subjekt anstatt auf die individuelle, je arbeitende Einzelperson [und] definiert Arbeit als organisierte gesellschaftliche; ihre eigene ›Rationalität‹, die Ordnung der Funktionen, ist ein gesellschaftliches Verhältnis.« (Ebd.) Folgt man dieser Lesart kann der theoretische Beweis für die Möglichkeit des Prinzips einer ursprünglichen Einheit nur praktisch geführt werden, nämlich bezogen auf die gesellschaftliche Arbeit, die in dem Modell der spontanen Verursachung erkenntnistheoretisch verarbeitet wird. Die Aporie der logisch begründeten Spontaneität besteht also darin, sich zwar als erkenntnistheoretisch falsch aber als gesellschaftlich wahr herauszustellen. Nicht nur die dialektische Bestimmung des Selbstbewusstseins, auch die transzendentale Begründung der unmittelbaren Erkenntnis in und aus Freiheit führt in die materialistische Sackgasse der Heteronomie zweiter Natur. Doch der materialistische Begriff der Spontaneität ist nicht nur von seinem gesellschaftlichen Ende her zugänglich, wo das gesellschaftliche Allgemeine in der zweiten Natur des »spontanen Geist[s] als Arbeit« (DSH: 268) lesbar wird. Vielmehr liegt im Begriff der Spontaneität durch die Vermittlung hindurch der Verweis auf die Möglichkeit von Freiheit. Mit Adorno lässt sich diese innere Dialektik im Spontaneitätsbegriff wiederum ausgehend von Kants Begründung der Vernunftfreiheit bestimmen. Denn bereits bei Kant, so Adorno, trete im Begriff der Spontaneität der Konflikt zwischen dem Allgemeinen, dem Immergleichen der zweiten Natur, und dem Anspruch auf Selbsttätigkeit deutlich hervor. Statt den Konflikt jedoch auszutragen, begrifflich zu bearbeiten, rette Kant sich in den »Übermut einer Vernunft, welche der eigenen Naturwüchsigkeit« (GS 11: 395) ausweiche und dadurch gerade in jene Natur verfälle, von der sie sich unabhängig wähnt. Nun ist der unbearbeitete Konflikt weder der Versäumnis noch der Ignoranz Kants geschuldet, sondern liegt in der Sache selbst. Auch der strengsten Selbstbesinnung der Vernunft auf sich selbst, stehen nur diejenigen Möglichkeiten zur Verfügung, die sie durch die rationale Kontrolle der Natur hervorgebracht hat. Aus diesem Grund bleibt die Idee einer Freiheit durch Vernunft im Mythos verstrickt. Die Reflexion dessen, was Freiheit durch Erkenntnis und Erkenntnis aus Freiheit sei, führt Adorno heraus aus der »Totalität der Naturbeherrschung« (PM: 155) und zur Einsicht das es »eines Dritten, […] eben jenes Einschusses von Irrationalität, von auf Vernunft nicht rein Reduktiblem« (ebd.: 168) bedarf. Das Dritte steht für die Möglichkeit der Freiheit in der Vernunft, das von der Vernunft nicht beherrscht werden kann. Während Vernunft Natur wird, weil
und in solcher Totalität Prinzip des Seins nicht weniger als der Denkens. Indem aber von Hegel Erzeugen und Tun nicht mehr als bloß subjektive Leistung dem Stoff gegenübergestellt, sondern in den bestimmten Objekten, in der gegenständlichen Wirklichkeit aufgesucht sind, rückt Hegel dicht ans Geheimnis, das hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt und sie hinaushebt über die bloße willkürliche Hypostasis des abstrakten Begriffs. Das jedoch ist nichts anderes als die gesellschaftliche Arbeit.« (DSH: 265)
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
sie Natur beherrscht, ist das Dritte Natur, weil es sich nicht von Vernunft beherrschen lässt. Von der Spontaneität als Vermögen der mit sich selbst identischen Vernunft zur Spontaneität als Qualität des nicht-vernünftigen, des mit Vernunft Nichtidentischen gelangt Adorno über eine dialektische Wendung der Kantischen Unterscheidung zwischen praktischer und transzendentaler Freiheit. Freiheit in transzendentaler Hinsicht bezeichnet, wie an anderer Stelle ausgeführt, nichts anderes als die Unabhängigkeit der Vernunft selbst und die sich daraus ergebende Möglichkeit, zu etwas Neuem. Praktischer und transzendentaler Freiheit gemein ist es, nicht durch sinnliche Eindrücke determiniert zu sein31 . Sie unterscheiden sich jedoch an dem Punkt wo die Selbsttätigkeit der transzendentalen Vernunft sich dadurch begründet, dass sie die Ursache ihrer selbst ist, während sich die Tätigkeit der praktischen Vernunft in den Handlungen vernünftigen Wollens realisiert. Während die transzendentale Vernunft frei ist, weil sie nicht will, ist die praktische Vernunft frei, weil sie das Vernünftige will. Adornos Gegenthese zu Kants Spontaneitätsbegriff setzt daran an, zu zeigen, dass die transzendentale Freiheit der Vernunft zwar der Idee nach ein reines Bewusstsein ohne ein fremdes Wollen und den Drang zur Praxis meint, andererseits Vernunft nur schwerlich ohne ein Drängen auf ihren Vollzug als Ursache von Erkenntnis vorgestellt werden kann32 . Da 31
32
»Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft.« (KrV: A 803) Der Begriff der praktischen Freiheit ist Kants Antwort auf die Frage, warum Freiheit legitim in der Vernunft gründet und darum auch als Prinzip zur Begründung universeller Normen fungiert. Dass bei Kant die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wille, Vernunft und Freiheit in erster Linie moralphilosophisch geführt wird, soll hier nicht ungeachtet bleiben, spielt aber für die weitere Argumentation erst einmal keine Rolle. Die Möglichkeit jener Selbstbegründung des vernünftigen Willens hat eine doppelte, aber an sich bereits scheinhafte Bedingung: Erstens die Illusion einer Einheit des vernünftigen Bewusstseins durch Abstraktion und zweitens die Annahme, Freiheit durch Herrschaft unmittelbar hervorbringen zu können. In beiden Fällen täuscht sich das Denken selbst über Reichweite und Intensität seiner Möglichkeiten. Die Illusion der Abstraktion bestehe in der Annahme, das Bewusstsein der »Zufälligkeit der einzelmenschlichen Seele [begründungslogisch sowie erkenntnispraktisch; rb] entreißen« (ET: 127) und auf diese Weise dessen Einheit transzendental und empirisch garantieren zu können. Die Kritik an der abstrakt begründeten Bewusstseinseinheit hat zwei ineinandergreifende Momente. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass das »Denken selber, das als Bedingung aller Gegenständlichkeit erscheint, […] genetisch gebunden [ist] an die gegenständliche Welt insofern, als es seinen geschichtlichen Ursprung hat und in der Geschichte recht eigentlich sich herausgebildet hat. […] [Und] diese ganze Sphäre des Denkens überhaupt, als eine entsprungene gedacht werden muss, also als eine gedacht werden muss, der das Moment der Zeit nicht äußerlich ist, sondern wesentlich inhäriert.« (Ebd.: 133f.) Räumlichkeit und Zeitlichkeit, Gegenständlichkeit und Geschichtlichkeit des Denkens werden in und aus zweiter Natur hervorgebracht und reproduzieren sich in ihr. Diese Einsicht ist aber nicht identisch mit dem geschichtsphilosophischen Anliegen Bewusstseinseinheit und Denkgesetze geschichtlich zu begründen. Das Bewusstsein ist mit seinem geschichtlichen Ursprung nicht identisch. Und dennoch sind sie nicht voneinander zu trennen. Die Gesetze des Denkens und die materiellen Momente der zweiten Natur sind durcheinander vermittelt.
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also das »Bewußtsein, vernünftige Einsicht nicht einfach dasselbe wie freies Handeln, nicht blank dem Willen gleichzusetzen [sei]« (ND: 226 Herv. rb), betont Adorno ihre Vermittlung: »Reines Bewußtsein – ›Logik‹ – selber ist ein Gewordenes und ein Geltendes, in dem seine Genese unterging. Diese hat es an dem von der Kantischen Doktrin unterschlagenen Moment der Negation des Willens, der Kant zufolge reines Bewußtsein wäre. Logik ist eine wider sich selbst abgedichtete Praxis. Kontemplatives Verhalten, das subjektive Korrelat der Logik, ist das Verhalten, das nichts will. Umgekehrt durchbricht jeder Willensakt den autarkischen Mechanismus der Logik; das rückt Theorie und Praxis in Gegensatz. Kant stellt den Sachverhalt auf den Kopf […] – wäre die motorische Reaktionsform ganz liquidiert, zuckte nicht mehr die Hand, so wäre kein Wille.« (ND: 229f.) Die Vermittlung von Bewusstsein und Willen wird zunächst ausgehend von Kants Bestimmung des Willens als Begehrungsvermögen erörtert. Kant unterscheidet zwischen dem ursächlichen Vorstellungsvermögen, das auf vernünftige Zwecke gerichtet ist und einem Vorstellungsvermögen, das auf Objekte gerichtet ist. Die Trennung des Begehrungsvermögens ist eine ordnende Abgrenzung, die den Blick auf die Vermittlung der Ebenen verstellt. Dagegen stellt Adorno fest, dass das »prinzipiell als sinnlich gedachte Vermögen dadurch, daß es abermals sehr formal gefaßt ist, in dem Augenblick, in dem es eben nach Vernunftzwecken sich ordnet, den Vernunftzwecken untergeordnet ist, trotzdem zu der Vernunft selbst vermittelt sei. Und diese Vermittlung ist, wie alle Vermittlungskategorie, deshalb so ungeheuer wichtig bei Kant, weil nur dadurch […] dieses ursprünglich sinnliche Vermögen des Begehrens […] in sich die Möglichkeit hat, auch durch Vernunft bestimmt zu sein.« (PM: 189f.) In der Dialektik ist also implizit mitgedacht, dass die Realisierung der Vernunft bedingt ist durch die Sinnlichkeit der Erkennenden. Für Adorno markiert der Willensbegriff so etwas wie die sinnliche »Schwelle« (ME: 160), auf dem Weg der Überwindung der Vorstellung einer einheitlichen Vernunft, die unter der Bedingung der Naturbeherrschung nur scheinhaft sein kann, hin zur Vermittlung von Vernunft mit dem »materialistische[n] Element von Natur« (ebd.: 160), welches angrenzt an »physischen Schmerz und an Organlust; ein Stück Natur, das nicht auf Subjektivität sich reduzieren lässt. […] [D]urchs somatische Moment wird die [Naturverfallenheit qua Naturbeherrschung] nicht zur reinen Unmittelbarkeit« (ebd.) mit dem Vermögen der Vernunft. Insofern Erkenntnis etwas sei, das von wirklichen Menschen vollzogen werde, seien diese Erkenntnisakte, »ein Teil des Seelenlebens dieser Menschen, neben ihrem Wollen, ihren Strebungen und was uns immer bei ihnen begegnen mag« (ET: 99; Herv. rb). Da dieses Wollen nicht gleichzusetzen ist mit dem Willen der selbsttätigen Vernunft, erschöpft sich das Problem der Einheit des Bewusstseins nicht in der Dialektik von Sinnlichkeit und Vernunft, sondern verweist auch und insbesondere auf die triebhafte Dimension der Vernunft. Zusammengenommen bilden sie ein Verhältnis des »immanent Somatischen« (ND: 194). Die These von der geschichtlich hervorgetretenen und der philosophisch gerechtfertigten Entfremdung von Körper und Seele, von Soma und Bewusstsein, von Natur und Geist erweitert nicht nur den traditionellen Interpretationsrahmen des Entfremdungsbegriffs, sondern wird auch zum konstitutiven Element naturgeschichtlicher Deutung.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Insofern vollzieht sich Adornos Auseinandersetzung mit der Trennung des Geistigen von seiner somatischen Existenz in doppelter Weise immanent. Es geht sowohl darum, sich an der Trennung selbst abzuarbeiten, die im deutschen Idealismus in der transzendentalen sowie geschichtsphilosophischen Priorisierung der Vernunft als Zweck an sich ihren höchsten Punkt erreicht, als auch darum, kritisch gegenüber der Bestimmung der Vernunft als Erste und Letzte zu zeigen, dass schon in der Form das zu Formende, die somatische Natur, konstitutiv und unaufhebbar enthalten ist. Das Somatische bildet den Problemhorizont, in dem die Kritik an der selbsttätigen Vernunft situiert ist und den Möglichkeitsraum, in dem sich der Kerngedanke der spontanen Vernunft durch die Kritik hindurch praktisch verwirklichen kann33 .
3.2.2
Vernunft, Wille und Psyche
Wir haben gesehen: In Adornos dialektischer Lektüre der Kantischen Einheit von Freiheit und Vernunft steht Natur für die Ermöglichung und Verunmöglichung der Spontaneität. Am Begriff der Willensfreiheit zeigt sich, dass die transzendentale Freiheit der absoluten Spontaneität der Ursachen schon in ihrem Grund praktisch gedacht ist. Adorno interpretiert diesen Sachverhalt als Affinität von Wille und Praxis im Vernunftprinzip selbst: »Man wird dann finden, daß […] die eigentliche Bestimmung von Vernunft bei Kant selber ein dem Willen sehr Ähnliches ist: nämlich der Gedanke von der ursprünglichen Apperzeption, das heißt von der rein erzeugenden Kraft. Denken, Vernunft ist bei ihm […] schon von vornherein als das Tun, das Hervorbringen gedacht, aus dem dann die logischen Gesetzmäßigkeiten entspringen sollen. Und man könnte insofern wirklich sagen, daß […] die Vernunft selber auch gar nichts anderes als der Wille ist, nur eben nun wirklich der reine Wille, das heißt: eine Art von Tun, von ursprünglichem Tun, das von aller Abhängigkeit von ihm vorgegebenen Objekten sich gänzlich gereinigt hat.« (PM: 194f.; Herv. rb) Wenn Adorno hier vom ›wirklich reinen Willen‹ spricht, dann meint er nicht die von der sinnlichen Empfindung befreite Vernunft wie Kant, sondern den Willen in Form einer fortgesetzten Naturgeschichte. Vernunft, die dazu angehalten ist, »im Sinn ihrer Identität ihre Einheit zu kontrollieren« (ebd.: 200), kann insofern als unbedingt gelten, als sie in sich den Zwang der zweiten Natur wiederholt. Der Eindruck von der Ursprünglichkeit der Handlung stellt sich darum ein, weil sie unter Absehung der Besonderheit der Situation und der entscheidungs- und handlungsvollziehenden Einzelnen nach allgemein gültigen Gesetzen geschieht. Die naturgeschichtliche Perspektive
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Ricken (1999) weist auf die Ambivalenz, die aus dem praktischen Anspruch der theoretischen Vernunft erwächst, hin: »Zunächst entstanden zur ›Sicherung‹ eines sowohl erkenntnis- als auch freiheitstheoretisch begründeten Subjektdenkens, kehrt sich darin das transzendentale Subjekt gegen das empirische Subjekt und wird zum Anspruch an das empirische Subjekt, der dessen (empirische) Stärkung hintertreibt und dieses nicht nur mit und durch Vernunft bestimmt, sondern auch entlang deren Maßgaben auf ein Verallgemeinerbares ›zurichtet‹. Kurz: das Sollen überwiegt nicht nur das Wollen; es depotenziert dieses auch zum ›freiwillig Gesollten‹.« (ebd.: 77; Herv. i.O.)
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unterstreicht einmal mehr, dass sich in der Vernunft als immanent praktisches und abstrakt-allgemeines Prinzip »der Zwangscharakter der Realität« (ebd.: 198), nämlich das Selbsterhaltungsprinzip und die »Norm des Produktionsprozesses von Gütern« (ebd.: 195) verselbstständigt hat. Jedoch sind weder die Gesetze oder das Prinzip vernünftig noch die Handlung freiheitsdienlich, denn der Identifizierung von Wille, Freiheit und Vernunft »widerspricht das Einfachste: vermittelt durch die von der analytischen Psychologie so genannte ›Realitätsprüfung‹ gehen in die mit Wille und Freiheit designierten Entscheidungen ungezählte Momente der auswendigen, zumal gesellschaftlichen Realität ein; wenn der Begriff des Vernunftgemäßen im Willen überhaupt etwas sagen soll, so bezieht er sich eben darauf, so eigensinnig Kant das auch bestreitet. Was der immanenzphilosophischen Bestimmung jener Begriffe ihre Eleganz verleiht und ihre Autarkie, ist in Wahrheit angesichts der tatsächlichen Entscheidungen, bei denen nach frei oder unfrei gefragt werden kann, eine Abstraktion; was sie vom Seelischen übriglässt karg gegenüber der realen Komplexion von Innen und Außen. […] Strenger ausgedrückt, und Kantischer zugleich, ist das empirische Subjekt, das jene Entscheidungen fällt – und nur ein empirisches kann sie fällen, das transzendentale Ich denke, wäre keines Impulses fähig –, selbst Moment der raum-zeitlichen ›auswendigen‹ Welt und hat vor ihr keine ontologische Priorität; darum scheitert der Versuch, die Frage nach der Willensfreiheit in ihm zu lokalisieren.« (ND: 212f.) Die Passage enthält drei Aspekte, die entscheidend sind für die Kritik an der philosophischen Begründung des freien Willens in der Vernunft. Der erste Aspekt betrifft die Frage nach dem Ort sowie der Erscheinungsweise der Willensfreiheit. Adorno verlegt den Grund der Willensfreiheit vom transzendentalen Raum in die zweite Natur, von der mit sich selbst identischen Denkeinheit in die somatische ›Impulsquelle‹ als Möglichkeit und Medium der Erfahrung und Vergegenwärtigung von Natur innerhalb und jenseits des geschichtlichen Horizonts von Naturbeherrschung und Selbsterhaltung. Mit dieser Verschiebung der vorhergehend transzendentalen Begründungsmatrix in Naturgeschichte geht der zweite Aspekt einher, nämlich die Verortung der Willensfreiheit nicht mehr im ›Ich denke‹, sondern im gesellschaftlich vermittelten Individuum. Die Möglichkeit der Freiheit wird nicht von der Vernunft getrennt, aber diese wird konfrontiert mit der Erfahrung ihres anderen. Aus psychoanalytischer Perspektive ergibt sich ein Verhältnis zwischen »der vernünftigen, bewussten Instanz, die dem diffusen, triebmäßigen Unbewussten ihrerseits gegenübersteht« (ET: 132)34 . Das Ich will nicht 34
Ein zentrales Element der materialistischen Wendung der Erkenntnistheorie ist die Hervorkehrung der Dialektik von Logik und Psychologie. Zwar lasse »auf der einen Seite die Erkenntnis nicht sich erschöpfen in psychologischen Gesetzen und in dem faktischen psychologischen Dasein der einzelnen Menschen, sondern sie transzendiert dieses […], weil die Menschen zusammen eben einen Zusammenhang bilden, der ihre monadologische Existenz transzendiert. Sie können aber auf der anderen Seite von der Faktizität der einzelmenschlichen Subjekte, also von der Bezogenheit aller Erkenntnis auf solche real raum-zeitlichen Substrate, auch nicht absehen, […] müssen, um dieses gesellschaftliche Constituens der Erkenntnis überhaupt denken zu können, dabei immer und notwendig mitdenken auch die einzelnen Subjekte, […] aus deren Zusammenhang das Ganze sich bildet.« (ET: 107)
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
nur und nicht zuvörderst dasjenige sein, für das es sich vernünftigerweise entschieden hat, sondern umgekehrt ist das Ich zuallererst selbst das Ergebnis einer sozialen Rationalität, von der es in der kantischen Logik getrennt bestimmt wird. Die Idee auf die Adorno sich hier stützt, geht zurück auf eine Auseinandersetzung mit der kulturellen und gesellschaftlichen Entstehung des Bewusstseins als Agens der Vernunft und des individuellen Willens, als deren Abstraktion er das idealistische Erkenntnissubjekt auffasst35 . Bewusstsein und Willen bedingt zu begreifen heißt, die Bedingungen zu untersuchen, die sie hervorbringen und aufrechterhalten. Eine besondere Rolle wurde hierbei dem Prinzip der Naturbeherrschung zugewiesen. Adorno erläutert die Unterdrückung und Kontrolle der Natur nicht nur aus dem geschichtsphilosophischen Horizont, sondern darüber hinaus in Anlehnung an die Psychoanalyse Freuds als eine sich immanent somatisch vollziehende »Rationalität des Treibverzichtes« (PM: 204). Nach Adornos Verständnis kann ein philosophischer Begriff des Ichs nicht auf eine psychoanalytische Deutung des erkennenden Individuums verzichten. Adornos Rezeption der Psychoanalyse ist nicht ohne Hindernisse, insbesondere der Blick auf die Subjekttheorie der Psychoanalyse Freuds ist durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Die Dechiffrierung ihrer zentralen Kategorien fördert die gesellschaftliche und kulturelle Erfahrung widerspruchsvoll zutage. Sie wird eingeschätzt als eine gleichermaßen kritische wie affirmative Theorie des naturbeherrschenden Subjekts und der bürgerlichen Gesellschaft, die sie hervorbringt. Diese habe einerseits »gegen die bürgerliche Ideologie, materialistisch das bewusste Handeln hinab auf seinen unbewussten Triebgrund verfolgte, zugleich aber in die bürgerliche Verachtung des Triebes einstimmte, die selber das Produkt eben jener Rationalisierungen ist, die er abbaut.« (MM: 67) Der begriffliche und kritische Beitrag der Psychoanalyse zum Selbstverlust von Subjektivität unter dem Zwang zur Selbstbeherrschung besteht darin, dass sie mit der Aufdeckung der Wirkungsweise psychischer Strukturen eine Perspektive für die Beantwortung der Frage liefern kann, warum sich Naturbeherrschung und die Anpassung an gegebene Herrschaftsverhältnisse, entgegen aller ideologiekritischen Einsichten weiterhin reproduzieren36 . Was die Psychoanalyse für Adorno jedoch heikel macht, ist ihr 35
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Ausgehend von zentralen Theoremen der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds gewinnt Adorno die Einsicht, dass »dieses mit sich selbst identische feste Ich […] nicht wie es im Sinn der Erkenntnistheorie traditionellen Wesens gelegen sein muss, eine absolute Bedingung ist, sondern selber ebenso ein Bedingtes, dass es ebenso auch ein Entsprungenes ist; dass also die These vom Ich als der Sphäre absoluter Ursprünge nicht gehalten werden kann, weil die Ausbildung dieser Ich-Instanz selber erst sich im Kampf der Gattung um ihre Selbsterhaltung konstituiert hat […], dass von der dem Menschen zu Gebote stehenden Triebenergie ein bestimmtes Quantum abgezweigt wird auf eine im einzelnen noch keineswegs durchsichtige Weise, die die Funktion erfüllt nun eben jene Prüfung der Realität, jene Identität, […] (die) dazu befähigt, sich selbst zu erhalten.« (ET: 133). Über die Bedeutung der Psychoanalyse für das Denken Adornos: vgl. Bonß (1982); Reiche (2004); Klein (2007); Decker/Türcke (2007); König (2016); Bock (2017); Kirchhoff/Schmieder (2020). Eine nicht unerhebliche Rolle spielt Adornos Kritik an der Psychoanalyse als Therapie und ihrer Methode der freien Assoziation. Eine Reihe von Untersuchungen weisen nach, dass die Kritik eine
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naturwissenschaftlich-biologisches Fundament. Die Psyche wird als Apparatur und ihre Vorgänge als Mechanismen betrachtet. Die Dynamik ihrer Triebnatur wird biologisch-organisch verortet37 . Mit Blick auf Adornos Rezeption der Psychoanalyse geht es nun darum, die Dynamik der körperlichen Triebe und ihre Stabilisierung durch die Psyche aus den historischen und gesellschaftlichen Spannungsverhältnissen und Prozessen heraus zu verstehen38 . Die Ausführungen seines Textes Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie (1955) führen Freuds Instanzenmodell der Seele auf dessen objektive Bedingungen zurück. Geleitet sind die Überlegungen, von der These, dass Ich und Realitätsprinzip, »obzwar sie die Individuen zum Schauplatz haben und von individueller Triebenergie gespeist werden« (ebd.: 87), als »wesentlich gesellschaftliche, nicht psychologische Instanz« (ebd.: 86) zu verstehen seien. Die These konstituiert sich vor dem Hintergrund einer naturgeschichtlichen Auffassung der Psyche als Vermittlungsinstanz des Ichs zwischen Gesellschaft und Triebgrundlage und als Resultat einer nur scheinhaft rein triebhaften Natur. In der Naturgeschichte der Psyche geht es so gesehen um zwei Prozesse in einem. Es geht um die Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen
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gewisse Kurzatmigkeit und Unschärfe aufweist. Häufig handelt es sich dabei eher um Zerrbilder, nicht selten in Verbindung mit Wissenslücken: vgl. Goebel (2004), Whitebook (2009). In dem Text über Das Interesse an der Psychoanalyse (1913) schreibt Freud: »Nach vollzogener psychoanalytischer Arbeit müssen wir den Anschluss an die Biologie finden und dürfen zufrieden sein, wenn er schon jetzt in dem einen oder anderen Punkt wesentlich gesichert scheint. […] In der Biologie tritt uns die umfassendere Vorstellung des unsterblichen Keimplasmas entgegen, an welchem wie sukzessiv entwickelte Organe die einzelnen vergänglichen Individuen hängen; erst aus dieser können wir die Rolle der sexuellen Triebkräfte in die Physiologie und Psychologie der Einzelwesen richtig verstehen.« (Ebd.: 410) Ein weiteres Element der affirmativen Verstrickung der Psychoanalyse in das Gegebene erwächst ihr aus ihrem therapeutischen Beitrag, den Adorno als Hilfestellung für die Selbsterhaltung des Einzelnen betrachtet, durch die sich wiederum der gesellschaftliche status quo erhält. Den gedanklichen Ankerbegriff hierfür stellt Adorno zufolge der Begriff der Persönlichkeit dar: »Das Prinzip menschlicher Herrschaft, das zum absoluten sich entfaltete, hat eben damit seine Spitze gegen den Menschen als das absolute Objekts gekehrt und die Psychologie hat daran mitgewirkt, jene Spitze zu schärfen. […] Psychotechnik ist keine bloße Verfallsform der Psychologie, sondern ihrem Prinzip immanent. Sie [die Psychoanalyse; rb] zieht die Persönlichkeit als Lebenslüge ein, als die oberste Rationalisierung, welche die zahllosen Rationalisierungen zusammenhält, kraft deren das Individuum seinen Triebverzicht zuwege bringt und dem Realitätsprinzip sich einordnet. Zugleich aber bestätigt sie dem Menschen in eben solchem Nachweis sein Nichtsein. Sie entäußert ihn seiner selbst, denunziert mit seiner Einheit seine Autonomie und unterwirft ihn so vollends dem Rationalisierungsmechanismus, der Anpassung.« (MM: 71) Der Begriff der Persönlichkeit hat seinen wesentlichen Gehalt darin, den bereits vollzogenen Rationalisierungen eine weitere, diese integrierende Rationalisierung hinzuzufügen. Durch die immanente Kritik an der Aufhebung des Individuums in der Persönlichkeit deutet Adorno jedoch auch ihre kritische Bedeutung an. Kritisch ist sie, weil sie Naturbeherrschung nicht als bloß notwendige Triebhemmung zwecks Selbsterhaltung des Einzelnen und der Gattung auffasst, sondern sich auch deren destruktives Potential bewusstwerden kann, das sich auf verschiedenen Wegen äußert, etwa im Erleben von Erfahrungs- und Autonomieverlust oder in neurotischen und psychotischen Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Trieb und Gesellschaft und um die Rekonstruktion der libidinösen Bedingungen als immer schon durch zweite Natur vermittelte Grundlage psychischer Prozesse39 . Gegenstand der Kritik ist die von Freud formulierte Grundannahme, dass »das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben« (Freud 1972 [1938]: 9). Die Vorstellung der Psyche als Apparat findet sich in dessen Auffassung der Seele wieder. Diese teilt er in verschiedene Instanzen auf, denen er unterschiedliche Zwecke innerhalb des Seelenlebens zuweist.40 Knotenpunkt dieses Geschehens ist der Körper:
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Wolfgang Bock (2018) bezeichnet Adornos Kritik als Versuch einer »Umwidmung der biologischen Triebtheorie Freuds« (ebd.: 15) durch ihre immanente Historisierung ausgehend von Benjamins Theorem der Naturgeschichte und der Allegorie. Bock widmet Adornos geschichtsphilosophischer Rahmung der Psychoanalyse ein eigenes Kapitel (vgl. ebd.: 105-156). Darin nimmt die Analyse von Adornos Auseinandersetzung in seinen Vorträgen von 1931 und 1932 mit dem Verhältnis von Biologie und Gesellschaft eine entscheidende Rolle ein. Deren Kern besteht nach Bock in Adornos doppeltem Anliegen von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik: »einmal ist für ihn die zweite, soziale Natur eigentlich die erste, d.h. die Ergebnisse der Naturwissenschaften entstehen nicht wertfrei zwischen dem Subjekt des Forschers und dem Objekt der Natur angeordnet, sondern sie stehen innerhalb von größeren sozialen Zusammenhängen der Epoche und ihrer individuellen und gesellschaftlichen Vermittlung. […] Zum Zweiten sind deren Ergebnisse damit nicht einfach abzulehnen, sondern dialektisch zu kontextualisieren und zu interpretieren.« (ebd.: 133f.) Eine kritische Theorie der Psychoanalyse deckt sowohl die Differenz zwischen Psyche und Gesellschaft an sich, als auch die konkreten gesellschaftlichen und ökonomischen Gesetze und Kategorien auf, die sich in den Theoremen und Bestimmungen über die menschliche Psyche sedimentiert haben. Die subjekt- und gesellschaftskritische Anverwandlung der Psychoanalyse ist jeher konstitutiv für das wissenschaftsprogrammatische Gefüge des Instituts für Sozialforschung. Von besonderer Relevanz sind die Studien über Autorität und Familie (1987 [1936]) und The Authoritarian Personality (1950). Konkret setzt sich das Seelenleben der Einzelnen aus den Instanzen Ich, Es und Über-Ich sowie den Sphären des Bewusstseins, des Vorbewusstseins und des Unbewussten zusammen. Als Schauplatz der Zusammensetzung fugiert für Freud das Ich. Es beschreibt die »Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person« (Freud 1923: 243), die im Entwicklungsprozess »von der Triebwahrnehmung zur Triebbeherrschung, vom Triebgehorsam zur Triebhemmung« (ebd.: 286) entsteht. Das Ich hat die Aufgabe zwischen Innenwelt und Außenwelt sowie innerpsychisch zu vermitteln. Vermittlung kann hier verstanden werden als vielfältiges psychisches Geschehen zur Herstellung von Verknüpfungen zwischen unmittelbar Getrenntem. Von spezifischer Bedeutung sind hier vor allem die Tätigkeit des Wahrnehmungsbewusstseins und die jeweiligen Prozesse der Bewusstmachung. Es ist sowohl mit all jenen Wahrnehmungen befasst, die dem Ich von außen gegeben werden, als auch mit all jenen Wahrnehmungen, die dem Ich aus libidinösen Bedürfnisforderungen erwachsen. Im Zentrum des psychoanalytischen Interesses stehen jedoch weniger die Sinneswahrnehmungen als vielmehr die libidinösen Grundbedürfnisse sowie die, sich aus modifizierten und ins Unbewusste verdrängten Erfahrungen speisenden, Bedürfnisse der Einzelnen. Insofern gibt die innere Wahrnehmung »Empfindungen von Vorgängen aus den verschiedensten, gewiss auch tiefsten Schichten des seelischen Apparates« (ebd.: 249) preis. In Bezug auf die Bewusstmachungsprozesse unterscheidet Freud zwischen Denken in Worten und Denken in Bildern. Beim Denken in Bildern geht es darum, etwas Vorbewusstes bewusst zu machen. Die Gegenstände, die dem Vorbewussten entnommen sind, werden »durch Verbindung mit den entsprechende Wortvorstellungen« (ebd.: 247), zu Bewusstsein gebracht. Zu diesem Vorgang zählt auch das Lesen von »Erinnerungsspuren« (ebd.: 247), das auf der Prämisse basiert, dass in der Vergangenheit bewusst getätigte Wahrnehmungen auch wieder zu Bewusstsein drängen können. Während das Denken in Worten mit der Vermittlung von Ich und Vorbewusstem befasst
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»Der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können. Er wird wie ein anderes Objekt gesehen, ergibt aber dem Getast zweierlei Empfindungen, von denen die eine einer inneren Wahrnehmung gleichkommen kann. […] Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.« (ebd.: 253)41 Begriffen wird der eigene Körper als konstellativer Punkt, durch den sich Triebgeschehen und Denken vollziehen. Er ist darum zugleich – als Soma gar gleichzeitig – Objekt und Subjekt, genauer gesagt Gegenstand der Wahrnehmung und Agens inneren und äußeren Wahrnehmens. Diese Gleichzeitigkeit erwächst ihm durch das Ich, welches weder a priori noch unter der Bedingung der Dominanz des Ich-Prinzips ein rein geistiges Wesen ist. Bewusstsein und Geist sind nur die Oberfläche, darunter jedoch ereignet sich der Körper. Diese Perspektive betrachtet den Körper nicht nur als Gegenstand verstandesgeleiteten Einwirkens durch das Realitätsprinzip, sondern auch als grundlegende Bedingung der Hervorbringung und Reproduktion des Ichs. Freud gibt dem Körper als Bedingung der Genese den Begriff des Es42 . Es und Körper sind die Quelle der Triebkräfte, auf die jedes Bedürfnis zurückgeht43 . Einen besonderen Stellenwert in der historischen Entwicklung der Bedürfnisstruktur der Gattung steht das Bedürfnis
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ist, stellt das Denken in Bildern eine »Eigenart […] visuellen Denkensdar, das sich durch ein nur sehr unvollkommenes Bewusstwerden [auszeichnet]. Es steht auch irgendwie der unbewussten Vorgängen näher als das Denken in Worten und ist unzweifelhaft onto- wie phylogenetisch älter als dieses.« (Ebd.) Als »Oberfläche des seelischen Apparates« (Freud 1923: 246) bezeichnet Freud das Bewusstsein. Das Es hat – wie das Ich – seinen Sitz in der Libido, der universalen und zugleich vielgestaltigen Triebenergie. Der Differenz von Ich und Es entspricht die Trennung von Lustprinzip und Realitätsprinzip. Beide entstammen der Libido, unterscheiden sich jedoch in Form und Zweck. Die Libido in Gestalt des Es drängt zur unmittelbaren Befriedigung der Triebe, ist jedoch nicht in der Lage dies aus sich selbst heraus zuvollziehen. Der Inhalt des Es »ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden (Freud 1972 [1938]: 9). Der Libido entspringen der Sexual- und der Todestrieb: »Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören« (ebd.: 12). Aus diesem Grund, Freud nennt dies Triebökonomie, verwendet das Lustprinzip seine Triebenergie dazu, im Ich Gefühle der Unlust zu erzeugen. Das Ich nimmt diese nicht nur wahr, sondern handelt seinem Zweck folgend Unlust vermeidend oder unterbindend. Lustprinzip und Realitätsprinzip wirken dann gemeinsam bei der Bedürfnisbefriedigung, wenn die verstandesgeleitete Suche des Ichs nach Wegen der Vermeidung von Unlust zusammenfällt mit dem Finden eines Objektes, das das Bedürfnis des Lustprinzips stillt. Triebe werden bei Freud aus einer repräsentationslogischen Perspektive bestimmt, die sich aus dem Objektbezug des Triebes ergibt. Triebe »repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben. Obwohl letzte Ursache jeder Aktivität, sind sie konservativer Natur; aus jedem Zustand, den ein Wesen erreicht hat, geht ein Bestreben hervor, diesen Zustand wieder herzustellen, sobald er verlassen worden ist. Man kann also eine unbestimmte Anzahl von Trieben unterscheiden.« (Freud 1972 [1938]: 11) Deren Drängen geht vom Körper aus, richtet sich auf ein Objekt und schlägt sich zum Zweck der Erfüllung seelisch nieder. Aus diesem Grund wird er auch als »ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem« (ebd.) aufgefasst.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
der Selbsterhaltung, das sich historisch – sowohl in phylo- als auch ontogenetischer Hinsicht – in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichen Ausprägungsformen manifestiert. Trotz historischer Differenzen wiederholt sich in Praktiken, die mit einer selbsterhaltenden Absicht vollzogen werden, ein emotionales Grundschema, in dem Außenwelt und Innenwelt als existenzbedrohend wahrgenommen werden. Man könnte auch sagen: Unter dem Gefühl der Angst erwächst das Bedürfnis nach Selbsterhaltung, es bildet sich das Ich44 . Während das Es für die Herrschaft des Lustprinzips steht, zeichnet sich das Ich durch die Dominanz des Realitätsprinzips aus, ohne dass darin das Lustprinzip zum Verschwinden gebracht wäre45 . Freuds Menschheitskränkung des Ichs, das nicht Herr im eigenen Hause sei, bricht mit der philosophiegeschichtlich dominanten Position des Subjekts, das kraft seiner Rationalität dazu in der Lage ist, die inneren und äußeren Naturverhältnisse zu disziplinieren und zu kontrollieren und sich darin selbst hervorzubringen und zu festigen. Freud interpretiert das rationale Subjekt nicht als historisches, also pädagogisches und kulturelles Resultat einer anthropologischen Grundbestimmung menschlicher Natur, sondern als Verschiebung der Triebenergie zum Zweck der Selbsterhaltung. Resultat der Verschiebung ist das Realitätsprinzip, das fortan in Opposition zum Lustprinzip steht. Mit Freud teilt Adorno die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Rationalität und ihrer psychosomatischen Bedingtheit: »Genetisch ist das verselbstständigte Bewußtsein, Inbegriff des Tätigen in den Erkenntnisleistungen, abgezweigt von der libidinösen Energie des Gattungswesens Mensch […]. Bewußtsein ist Funktion des lebendigen Subjekts, sein Begriff nach
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»Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt. In seiner Tätigkeit wird es durch die Beachtungen der in ihm vorhandenen oder in dasselbe eingetragenen Reizspannungen geleitet. Deren Erhöhung wird allgemein als Unlust, deren Herabsetzung als Lust empfunden. […] Das Ich strebt nach Lust, will der Unlust ausweichen. Eine erwartete, vorausgesehene Unluststeigerung wird mit dem Angstsignal beantwortet, ihr Anlass, ob er von außen oder innen droht, heißt eine Gefahr.« (Freud 1972 [1938]: 10; Herv. i.O.) Der Selbstbehauptungszweck interagiert in der Innenwelt mit dem Es, das »die eigentliche Lebensabsicht des Einzelwesens« ausdrückt und zugleich die Existenz bedroht, weshalb es die »Aufgabe des Ichs [ist], […] auch die günstigste und gefahrloseste Art der Befriedigung mit Rücksicht auf die Außenwelt herauszufinden« (Freud 1972 [1938]: 11). Insofern werden dem Ich spezifische psychische Funktionen, die der Abwendung der Lebensnot dienen, zugeschrieben, welche im Modus von Triebbeherrschung und Triebverzicht agieren, etwa Wahrnehmung, Realitätsprüfung, Denken und Motilität. Das Ich handelt im Dienste des Es, substituiert es darum auch nicht: »Die im Es existierenden Empfindungen werden vom Ich als Lust- und Unlustempfindungen wahrgenommen und bewusst. Das Ich ist bestrebt, dem Es gegenüber die Außenwelt zur Geltung zu bringen und das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen. Dabei ist entscheidend, dass es den Zugang zu den Muskelbewegungen kontrolliert. Das Es ist jedoch stärker als das Ich; das Ich pflegt den Es-Willen in Handlunge umzusetzen, als ob es der eigene wäre« (Freud 1999 [1923]:293).
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dessen Bild geformt. Das ist aus seinem Sinn nicht zu exorzieren. Der Einwand, dabei würde das empirische Moment der Subjektivität mit dem transzendentalen oder wesenhaften vermengt, ist schwächlich. Ohne alle Relation zu einem empirischen Bewußtsein, dem des lebendigen Ichs, wäre kein transzendentales, rein geistiges.« (ND: 186) Zugleich widerspricht er Freuds Ableitung des rationalen Ichs aus Libido und Lebensnot und stellt der Rückführung des Ichs auf die allgemeine und primäre Triebnatur der Einzelnen die Erläuterung des individuellen Bewusstseins aus der immanenten Dialektik der zweiten Natur gegenüber. Die immanente Dialektik der zweiten Natur besteht aus zwei einander ausschließenden und zugleich konstitutiv ineinander wirkenden Momenten: Gesellschaft und Individuum. Die Differenz von Gesellschaft und Individuum gründet in dem Vorrang der Gesellschaft: »Die Divergenz von Individuum und Gesellschaft ist wesentlich gesellschaftlichen Ursprungs, wird gesellschaftlich perpetuiert, und ihre Äußerungen sind vorab gesellschaftlich zu erklären. […] Denn die spezifisch gesellschaftlichen Phänomene haben sich durch die Einschaltung abstrakter Bestimmungen zwischen die Personen, zumal des Äquivalententauschs, und durch die Herrschaft eines nach dem Modell solcher von den Menschen abgelöster Bestimmungen gebildeten Organs, der ratio, von der Psyche emanzipiert. Daher ist die ›subjektive‹ Ökonomie ideologisch: die psychologischen Momente, die sie zur Erklärung der Marktvorgänge heranzieht, sind deren bloße Akzidentien, und die Akzentverschiebung präsentiert die Erscheinung als Wesen.« (SP: 50) Adorno kehrt die psychoanalytische Stoßrichtung gesellschaftskritisch um. Nicht nur sind die psychischen Mechanismen und Funktionen der Einzelnen tief in den materiellen Strukturen und Verhältnissen der Gesellschaft verwurzelt, vielmehr besitzen die psychoanalytischen Theoreme selbst eine ökonomische Basis. Man könnte auch sagen: Die metatheoretisch und biologisch fundierte Psychoanalyse ist selbst ein Produkt zweiter Natur. Es wäre nun jedoch ein Missverständnis, das Phänomen der Psyche mit den ökonomischen Voraussetzungen bzw. der Aufhebung der Psyche in den gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen kurzuschließen. Kritik der psychischen Ökonomie setzt nicht die kategoriale Einverleibung der Psychoanalyse durch Ökonomie und Soziologie voraus. Stattdessen wird die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Psyche naturgeschichtlich gestellt, ausgehend von der psychoanalytischen Zentralkategorie, dem psychologischen Subjekt als Konstellation von Soma, Psyche und Bewusstsein46 .
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Man könnte auch sagen, Adornos Überlegungen gelten dem Anliegen einer gesellschafts- und erkenntniskritischen Zurückgewinnung der psychoanalytischen Grundbegriffe, verbunden mit dem Ziel einer Reepistemologisierung freudscher Kategorien. In den Aphorismen Ich ist Es und Diesseits des Lustprinzips aus den Minima Moralia weist Adorno das bürgerliche Individuum als Ort der Vermittlung von Psychoanalyse und Philosophie aus. Die Vermittlung ist aber nicht ohne Paradoxie zu ergreifen. So führt Adorno in besagtem Aphorismus einige Gedanken aus zur Spannung zwischen der Individuen hervorbringenden Produktivität der Vermittlung sowie der »Unterdrückung und Auflösung eben des Individuums« (MM: 70), das sie selbst hervorzubringen scheint. Als er-
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Der Subjektbegriff wird nicht als metatheoretischer Begriff rekonstruiert, sondern geschichtlich interpretiert. Die Interpretation bezieht sich auf die immanente Dialektik von Natur und Geschichte, die im Subjekt wirkt und sich somatisch und psychisch in Form von Symptomen und Neurosen ausdrückt. Die Konstruktion dieses Gedankengangs vollzieht sich in drei kurzen Schritten: Erstens werden die psychischen Elemente, Strukturen und Mechanismen als Verkörperungen des gesellschaftlichen Allgemeinen in den Blick genommen; zweitens wird die Geschichtlichkeit der psychischen Natur selbst analysiert; im dritten Schritt rückt die Frage nach der Lücke, die sich zwischen dem gesellschaftlich hervorgebrachten Verhalten der Einzelnen und ihren individuellen Ängsten, Wünschen, Phantasien öffnet, in den Fokus des Interesses. Zunächst werden vormals individualpsychologisch bestimmte Kategorien wie Ich, Selbsterhaltungstrieb und Psychodynamik als gesellschaftlich entsprungene Entfremdungsphänomene rekonstruiert47 . Die Strukturen des Trieblebens sowie die dem Individuum daraus erwachsenden Vorgänge sind nicht naturwüchsig gegeben, sondern durch Verinnerlichung gesellschaftlicher Prozesse erst zu dessen zweiter Natur geworden. Der Prozess der Verinnerlichung des gesellschaftlichen Außen durch die Sedimentierung seiner Prinzipien im Körper und Seelenleben der Einzelnen entspricht der Hervorbringung und der Reproduktion des rationalen und am Zweck der Selbsterhaltung orientierten Ichs. Ichbildung und Selbsterhaltung sind keine Notwendigkeiten der ersten, sondern eine dem Individuum unausweichlich gegenübertretende Notwendigkeit der zweiten Natur. Die Kritik Adornos richtet sich also nicht gegen die Wirklichkeit psychischer Naturverhältnisse, sondern gegen ihre Auffassung als universale, in der physischen und anthropologischen Natur begründete Gesetze. Was Freud als Invarianz der Natur erkennt, hat in dieser Lesart einen konstitutiven gesellschaftlichen Grund, der durch den Schein ihrer Unveränderlichkeit fortbesteht. In einer dialektischen Wendung argumentiert Adorno, dass Freuds erste Natur Wahrheit und Unwahrheit der zweiten
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kenntnistheoretischen und ideologiekritischen Grund für die Paradoxie von Hervorbringung und Negation nennt er »die Rückbeziehung der Erkenntnis auf ihr Subjekt« (ebd.). Der erkenntnistheoretische Begriff des transzendentalen Subjekts hebt die historische und systematische Wahrheit der kritischen Kategorie des Individuums, welche in der Vermittlung von gesellschaftlicher und körperlicher Natur besteht, im Prinzip innerer und äußerer Naturbeherrschung auf. Seine erkenntnistheoretische Entsprechung hat es in der Logik von Identifikation und Subsumption. Identitätslogik und Naturbeherrschung, welche Adorno zufolge das Subjekt repräsentiert, eskamotiert die Vermittlung und damit auch die Einsicht in die objektive Bedingtheit und den dynamischen ›Grund‹ von Erkenntnis »Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse […]. Die Verleugnung der objektiven Wahrheit durch den Rekurs aufs Subjekt schließt dessen eigene Negation ein.« (MM: 70) Der Ausschluss der Vermittlung erscheint als Synthese eines dialektischen Verhältnisses durch die Psychoanalyse selbst. »[D]as Substrat der Psychologie, das Individuum, reflektiert selber die heute überholte Form der Vergesellschaftung. ([.] Das vereinzelte Individuum, das reine Subjekt der Selbsterhaltung, verkörpert im absoluten Gegensatz zur Gesellschaft deren innerstes Prinzip. Woraus es sich zusammensetzt, was in ihm aufeinanderprallt, seine ›Eigenschaften‹, sind allemal zugleich Momente der gesellschaftlichen Totalität. […] Die Gesellschaft hat ihm die Vereinzelung aufgeprägt, und diese hat als ein gesellschaftliches Verhältnis teil an seinem Schicksal. ›Psychodynamik‹ ist die Reproduktion gesellschaftlicher Konflikte im Individuum.« (SP: 55)
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Natur zum Ausdruck bringt. Gesellschaft als zweite Natur zu analysieren, macht ihre Genese aus den geistigen und materiellen Verhältnisse zwischen den Menschen bewusst. Von der Gesellschaft als zweite Natur kann insofern gesprochen werden, als sie den Individuen als unveränderliche Naturgegebenheit gegenübertritt und für diese die Form eines Schicksals annimmt. Die Dialektik von Geschichtlichkeit der Natur und Naturhaftigkeit der Geschichte spiegelt sich in der Stillstellung der psychischen Dynamik des Individuums empirisch und gedanklich wider. Adorno nimmt an, dass Freuds biologisch motivierte Naturalisierung des individuellen Triebgeschehens zwar wissenschaftlich falsch, aber historisch wahr sei. Kontur erhält das Argument von der ›historischen Biologie‹ der triebhaften Natur, wenn man es in einen Zusammenhang stellt mit Adornos Verknüpfung von Gesellschaftskritik und Evolutionsbiologie. In dieser Lesart ist Gesellschaft selbst nichts anderes als »bloße darwinistische Naturgeschichte« (THB: 96). Anpassung, Selbsterhaltung, Naturbeherrschung und survival oft the fittest sind die Kategorien einer »Gesellschaft, die ihre Kinder so zeugt, wie der Biologismus es auf die Natur projiziert: sie ›erblich belastet‹« (MM: 262)48 . Die Vererbungsvorgänge, um die es hier geht, sind nicht biologisch sondern sozial gedacht und entsprechen in ihrer Vollzugsform dem gesellschaftlich geforderten und pädagogisch und kulturell verwirklichten Zwang zur Nachahmung der zweiten Natur. »Nur durch ein der Natur sich Gleichmachen, durch Selbsteinschränkung dem Daseienden gegenüber wurde das Subjekt dazu befähigt, das Daseiende zu kontrollieren. […] Zum Preis dafür aber triumphiert Natur gerade vermöge ihrer Bändigung stets wieder über den Bändiger […]. In dem Prozeß solcher Anähnelung, der Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen, behauptet sich das Gegenteil dessen, als was er sich weiß, das bloße unmenschliche Naturverhältnis.« (THB: 96)
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»Unterm gesellschaftlichen Druck spricht die psychologische Schicht nur noch aufs Immergleiche an und versagt vor der Erfahrung des Spezifischen. Das Traumatische ist das Abstrakte. Darin ähnelt das Unbewusste der Gesellschaft, von der es nicht weiß, und die selber dem abstrakten Gesetz gehorcht […]. Freud ist nicht vorzuwerfen, dass er das konkret Gesellschaftliche vernachlässige, sondern dass er sich allzuleicht beim gesellschaftlichen Ursprung jener Abstraktheit beruhigt und bei der Starrheit des Unbewussten, die er mit der Unbestechlichkeit des Naturforscher erkennt.« (SP: 61) Es ist dem Neutralitätsgebot des naturwissenschaftlichen Paradigma geschuldet, dass Freud die gesellschaftliche Verstrickung seiner Kategorien und Modelle unberücksichtigt lässt und das geschichtlich erstarrte Ich in die Natur des Menschen hinein projiziert: »Sowohl sein Determinismus mahnt an die Naturwissenschaft als auch implizite Kategorien wie die Erhaltung der Energie, die Umsetzbarkeit einer Energieform in die andere, die Subsumtion sukzessiver Ereignisse unter allgemeine Gesetze. Inhaltlich resultiert seine ›naturalistische‹ Gesinnung im prinzipiellen Ausschluss des Neuen, der Reduktion des seelischen Lebens auf die Wiederholung von schon einmal Gewesenem. […] [U]nter ihrem mit dem Tode verschworenen Medizinerblick gerinnt die Unfreiheit zur anthropologischen Invariante, und damit versäumt die quasi-naturwissenschaftliche Begriffsapparatur an ihrem Gegenstand, was nicht nur ihr Gegenstand ist: das Potential der Spontaneität […] Die auf sich selbst zurückgeworfene, gleichsam objektlose Seele erstarrt zum Objekt. Sie kann aus ihrer Immanenz nicht ausbrechen, sondern erschöpft sich in ihren Gleichungen. Die streng nach den eigenen Gesetzen studierte Seele wird unbeseelt: Seele wäre erst das Tasten nach dem, was sie nicht selbst ist.« (Ebd.: 62f.)
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Die Passage hält eine Entwicklungsgeschichte des Individuums bereit, das durch die Identifikation mit der Seinsweise des Sozialen als spezifische Form von Natur hervorgebracht wird. Seine Existenz basiert auf der Anpassung seiner körperlichen und geistigen Möglichkeiten an die Voraussetzungen zweiter Natur. Um in jener Unfreiheit des unmenschlichen Naturverhältnisses anzukommen, vollziehen sich auf Seiten des Individuums zwei zueinander im Widerspruch stehende Züge in einem: Die Ausschaltung des Subjekts als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und die Regulierung des Körpers durch dessen soziale vermittelte Beherrschung. Ausdruck dieses gesellschaftlichen Zugriffs auf den Körper ist das Soma, das Casale zufolge, einen »Körper bezeichnet, dessen Psyche zur Bühne der Dialektik von Natur und Kultur werde« (Casale 2020c: 12). Das Somatische, d.h. der in und durch zweite Natur hervorgebrachte Körper des Erkenntnissubjekts, ist einer der zentralen Leitfäden, an denen sich die erkenntnistheoretische Wendung von der Transzendentalität in die Materialität vollzieht. Auch das Soma ist in und durch zweite Natur hervorgebracht worden. Es ist Produkt der vollzogenen Befreiung aus der Unmittelbarkeit mit der Triebnatur und gleichzeitig wesentlich beteiligt an der Reproduktion der wesentlich in zweiter Natur gründenden Rationalität. Das Soma ist zwar Produkt einer sich aus der bloßen körperlichen Natur befreienden Handlung, aber die Befreiung bringt eine andere Weise der Naturverfallenheit hervor. Darum wiederholt sich auch in der geformten Natur des Somatischen Naturverfallenheit, nun jedoch in Gestalt des Vernunftprinzips. Es ist verschieden von der Natur und doch ein Moment von dieser. Obgleich zweite Natur durch den beherrschenden Zugriff der Naturbeherrschung die »zur immanenten Bestimmung gewordene […] Vorgeschichte« (ND: 285) des Somatischen markiert, geht letzteres nicht in zweiter Natur auf. Es ist geformte, aber nicht überformte Natur, die in sich die Erinnerung des ›Sprungs‹ aus erster in zweite Natur aufbewahrt und durch den Zwang zur Anpassung an die Ideologie der Selbsterhaltung hindurch die Erfahrung ermöglicht, dass etwas von Natur auch bewahrt werden kann. Es geht also um Möglichkeit von Erfahrungen,die über den Zustand »der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt« (MM: 68) hinaus, aber noch nicht vollständig vom Prinzip der Selbsterhaltung erfasst sind. Die psychische Regulierung des Verhältnisses zur eigenen Natur ist in einem doppelten Sinne vergesellschaftet: Die Gesellschaft gibt nicht nur von außen die normative Ordnung individuellen Handelns vor, sondern bestimmt, vermittelt durch die psychische Verdrängung, das individuelle Selbstverhältnis zum Körper. Dadurch werden die Einzelnen, so Adorno, dazu gezwungen, »nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse [zu] verdrängen, sondern auch noch alle die Symptome, die in bürgerlichen Zeiten aus der Verdrängung folgten« (Adorno 1951: 96f.). Diese Feststellung einer doppelten Verdrängung lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass es sich bei der Verdrängung nicht nur um einen bloßen Abwehrmechanismus handelt, der gegen die Triebnatur der Einzelnen arbeitet, sondern um einen Prozess der Gesellschaft selbst. Die gesellschaftlichen Lebensprozesse und ihre vielfältigen Gewaltpraktiken formen die Körper im Inneren durch Einwirkungen von außen. Die formierende Wirkung im Inneren ist die Konsequenz der gehemmten Möglichkeit, die Außengrenzen des Körpers, die Haut von innen libidinös zu besetzen, sie hinterlässt die Einzelnen mit fragmentierten Körpern, deren Einheit nur durch das gewährleistet werden kann, was Klaus Theweleit (2000
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[1978]) als »Fragmentpanzer« (ebd.: 206) bezeichnet. Bei der Formation des Körpers als Fragmentpanzer handelt sich um eine spezifische Leistung der individuellen Anpassung an die erfahrenen Körpereinwirkungen. Die erzwungene Anpassung bringt eine psychische Struktur hervor, die auf die Verletzung der Natur nicht anders antworten kann als mit Verpanzerung – von innen gegen die eigenen Gefühle und Körperempfindungen und nach außen gegen alles, was einen bedroht bzw. was man als bedrohlich bewertet. Im ständigen Gefühl der Angst vor dem Zusammenbruch des brüchigen Körpers und dem ständigen Gefühl, sich wehren zu müssen, entsteht ein Zustand der Daueraggressivität und der Kälte, die – um die damit verbundenen inneren Konflikte zu lösen – permanent ausagiert werden müssen. Das Entscheidende an Theweleits Deutung ist die Einsicht, dass mit der psychischen Struktur des Körpers als Panzer »mehr erreicht ist als bloße ›Abwehr‹, nämlich ein Moment des Überlebens ohne Bedrohung […]: ›Erhaltungsmechanismen‹ bezeichnet präzise das über die ›Abwehr‹ Hinausgehende und steht dazu nicht im Widerspruch zum Vorgang des ›fragmentierten Ichs‹« (ebd.: 219). Diese Deformation des Körpers ist schließlich »Repräsentant[in] der Welt« (SP: 70) in einem doppelten Sinn: Zum einen als Objekt der gesellschaftlichen Einwirkung und zum anderen als Vollzugsform des sozial erzwungenen Selbsterhaltungsmechanismus. Die Konsequenz des fragmentierten Körpers ist, die individuelle Unfähigkeit, das Andere anders sein zu lassen, Nicht-Identisches wahrzunehmen, Fremdes nicht zu entfremden, in Vielheiten und Dissonanzen, Widersprüchen und Brüchen zu handeln, den Schmerz, die Angst, das Vergehen nicht abzuwehren und darin all dasjenige anzuerkennen, was eben nur zu erfahren, gar zu erleiden ist, weil man sich diesem nicht entziehen kann. Das Ich ist Soma, weil es Gesellschaft verkörpert und zugleich ist das Ich Soma, weil es mehr ist als bloße Verkörperung des Gesellschaftlichen49 . Es bleibt ein körperlicher Rest, der sich seiner psychischen und rationalen Einhegung durch das Realitätsprinzip entzieht: »Das Subjekt zerlegt sich in die nach innen hin fortgesetzte Maschinerie der gesellschaftlichen Produktion und einen unaufgelösten Rest, der als unaufgelöste Reservatsphäre gegenüber der wuchernden ›rationalen‹ Komponente zur Kuriosität verkommt.« (SP: 60). Das Subjekt spaltet sich in das individuelle Bewusstsein als Produkt gesellschaftlicher Rationalität, erkennbar dort, wo die Erhaltung des Selbst und die Erhaltung der Gesellschaft zum Unbewussten, »zu einem Stück der Triebdynamik« (SP: 71) des rationalen Ichs selbst werden. Mit der Kategorie des unaufgelösten Rests, der somatischen Schicht, umschreibt Adorno die Erfahrung, dass das individuelle Dasein nicht zwangsläufig im Allgemeinen aufgehen muss50 . Das Ich ist in seinem Dasein zwar immer zuvörderst und unentrinnbar zweite Natur jedoch nicht ausschließlich zweite Natur. Mit dem Begriff des Somas ist nicht nur die körperliche Erscheinungsweise
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Verkörperung von Gesellschaft meint nicht bloße äußerliche Reproduktion ihrer Bedingungen und Anforderungen, sondern setzt voraus, dass »Züge der Integration […] gesellschaftlich rationales Verhalten mit den psychologischen Residuen verschmolzen« (SP: 60) sind und zum Unbewussten des Subjekts werden. Nicht nur, dass die gesellschaftliche Basis das Denken, Wahrnehmen und Fühlen der Einzelnen nicht vollumfänglich erschließt, auch deren »Motivationen erschöpfen sich nicht in der gesellschaftlichen Rationalität und zuweilen handeln sie ihr entgegen« (SP: 56).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
der psychischen Vermittlung zwischen Ich und gesellschaftlicher Herrschaft51 , der die Herausbildung von Erhaltungsmechanismen entstammt, angezeigt, sondern auch die körperliche Bedingung für dasjenige, was man im allerweitesten Sinn als Erfahrung von Lebendigkeit bezeichnen könnte. Wie lässt sich diese Erfahrung von Lebendigkeit, wie lassen sich Präsenz und Möglichkeit des Somatischen als das andere Moment in der Erkenntnis und die Möglichkeit der Freiheit in der Vernunft genauer bestimmen? Dies bedarf einer ›Sprengung von Innen‹ (vgl. GS 15: 276) und einer schichtweisen Spurensuche in der sedimentierten Natur an der Schnittstelle philosophischer und psychoanalytischer Reflexion. Es handelt sich hierbei um eine Archäologie im allerweitesten Sinne. In ihr kommt eine analytische Einschränkung zum Tragen, die Whitebook (2009) als entscheidend für die Vermittlung der Erkenntniskritik Adornos mit der Psychoanalyse erachtet: »Die Existenz eines unmittelbar gegebenen Objekts folgt nicht aus der Tatsache, dass das Objekt Priorität gegenüber dem Subjekt besitzt. Das ist besonders wichtig für die Interpretation der Psychoanalyse. In diesem Bereich die Präponderanz des Objekts geltend zu machen – das heißt die zentrale Bedeutung des Körpers – heißt nicht, unvermittelt Zugang zum Soma selbst zu haben.« (Ebd.: 74) Für Adornos Deutungsarbeit bedeutet dies, es dort aufzuspüren, wo es in vermittelter Weise zum Ausdruck kommt.
3.2.3
Das Somatische als Hinzutretendes
Die Begriffe Willensfreiheit und Spontaneität geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, was Freiheit im Hinblick auf Vernunft bedeutet. Der Begriff der Spontaneität bezeichnet die Möglichkeit der Realisierung der transzendentalen Freiheit der Vernunft. Sie bleibe, so Adorno, als eine ausschließlich »intellektive Konstruktion« (LGF: 264) unmittelbar folgenlos. Gleiches gilt nicht für den Begriff der Willensfreiheit, dem es darum geht, »Handlungen des Menschen, [...] die durch Gründe der Vernunft bestimmt waren« (KrV: B 578), zu erfassen. Zusammengenommen bilden Spontaneität und Willensfreiheit den Gegenstand, anhand dessen sich Adornos Untersuchung des praktischen Freiheitsmoments in der Vernunft entfalten: 51
In dem Aphorismus Plurale tantum aus den Minima Moralia umschreibt Adorno den Einfluss der Gesellschaft auf die individuelle Psyche mit dem Bild der verinnerlichten Räuberbande: »Wenn wirklich, wie eine zeitgenössische Theorie lehrt, die Gesellschaft eine von Rackets ist, dann ist deren treuestes Modell gerade das Gegenteil des Kollektivs, nämlich das Individuum als Monade. An der Verfolgung der absolut partikularen Interessen des je Einzelnen läßt sich das Wesen der Kollektive in der falschen Gesellschaft am genauesten studieren, und wenig fehlt, daß man die Organisation der auseinander weisenden Triebe unter dem Primat des realitätsgerechten Ichs von Anbeginn als eine verinnerlichte Räuberbande mit Führer, Gefolgschaft, Zeremonial, Treueid, Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen und allem anderen Zubehör aufzufassen hat. Man muß nur einmal Regungen beobachten, in denen das Individuum energisch gegen die Umwelt sich geltend macht, wie etwa die Wut. Der Wütende erscheint stets als der Bandenführer seiner selbst, der seinem Unbewußten den Befehl erteilt, dreinzuschlagen, und aus dessen Augen die Genugtuung leuchtet, für die vielen zu sprechen, die er selber ist. Je mehr einer die Sache seiner Aggression auf sich selbst gestellt hat, um so vollkommener repräsentiert er das unterdrückende Prinzip der Gesellschaft. In diesem Sinn mehr vielleicht als in jedem anderen gilt der Satz, das Individuellste sei das Allgemeinste.« (MM: 50)
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»Nach [Kants] Modell wäre der Wille die gesetzmäßige Einheit aller Impulse, die als zugleich spontan und vernunftbestimmt sich erweisen, zum Unterschied von der Naturkausalität, in deren Rahmen sich allerdings verblieben: keine Folge von Willensakten außerhalb des Kausalnexus. Freiheit wäre das Wort für die Möglichkeit jener Impulse. […] [Es] wird, bei der am Modell subjektiver Immanenzphilosophie orientierten Begriffsbildung, die monadologische Struktur von Wille und Freiheit stillschweigend unterstellt.« (ND: 212) Kantisch will der freie Wille das Vernünftige zum Zweck der Freiheit und damit sich selbst. Mit der dialektischen Kritik an der monadologischen Struktur der Willensfreiheit sind mindestens zwei Aspekte aufgeworfen: zum einen die Auffassung, dass die Einheit von Wille und Vernunft kein Ausweis der Freiheit, sondern der Naturverfallenheit des Willens sei; zum anderen die Frage, ob und wodurch Freiheit trotz Naturverfallenheit möglich wäre. Mit Blick auf den Fortschritt naturbeherrschender Rationalität lässt sich Geschichte konstruieren als sich fortsetzendes Verhältnis der Unterdrückung der Natur zum Zweck der Konstitution des Ichs. Spontaneität, die Idee praktisch werdender Vernunft, verbleibt so lange im Naturzusammenhang und damit im eigentlichen Sinne ungeschichtlich, wie sie versucht, sich im vernünftigen Willen selbst zu bespiegeln. Die Kritik an der transzendentalphilosophischen Begründungslogik von Erkenntnis verweist die Beantwortung der Frage nach dem ›Grund‹ der Bedingung in einen materialistischen Horizont. Die Einhegung des Subjekts in einen materialistischen Bezugsrahmen setzt voraus, dass die Einzelnen fähig sind, sich der eigenen Materialität nichtherrschaftlich zuzuwenden. Damit eine »derartige Vergegenständlichung des Subjekts, eine derartige Angleichung der Subjektsphäre an die Objektsphäre überhaupt statthat, [ist vorausgesetzt, dass es] immer auch bereits so etwas wie die Sphäre subjektiver Reflexion, wie Sphäre von Subjektivität überhaupt geben muß. Wenn es kein Subjekt gäbe, wenn kein Subjekt wäre, dann wäre es eben jener Selbstobjektivierung nicht fähig […].« (LGF: 266) Solche Annäherungen der Subjektsphäre an den eigenen objektiven Grund von Erkenntnis sind von anthropologischen und biologischen Beschreibungen der Objektivität bewusst abgetrennt. Stattdessen argumentiert Adorno an der Schnittstelle von Psychoanalyse und Erkenntnistheorie. Die psychoanalytische Praxis des Erspürens spontaner, ›nicht-ichlich‹ erscheinender Regungen und ihre Überführung in Vorstelllungen und Handlungen wird für ihn zum Modell einer selbstkritischen Erkenntnistheorie (vgl. Warsitz 2007.) Begründen lässt sich die Übersetzung der psychoanalytischen Praxis der Erkundung aktuellen Selbsterlebens in die erkenntnistheoretische Selbstbesinnung der Subjektivität aus der somatischen Materialität des Denkens selbst: »Daß die cognitiven Leistungen des Erkenntnissubjekts dem eigenen Sinn nach somatisch sind, affiziert nicht nur das Fundierungsverhältnis von Subjekt und Objekt sondern die Dignität des Körperlichen. Am ontischen Pol subjektiver Erkenntnis tritt es als dessen Kern hervor.« (ND: 194) Das Somatische, als vom Bewusstsein unabhängig existierende Gegebenheit und die kognitiven Leistungen des Subjekts besitzen einen Schnittpunkt, den zu er-
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
kunden eben jenem subjektiven Selbstbesinnungsprozess entspricht. Vor diesem Hintergrund ist die Auffassung formuliert, »daß wir als Modell dessen, was Subjekt ist, gerade das Nicht-Ich haben; daß das NichtIch Modell des Ichs ist. Und wenn ich glaube, von einem gewissen Vorrang des Objekts in der […] Erkenntnistheorie reden zu dürfen, dann ist es wahrscheinlich jener merkwürdige Objektcharakter des Ichs, auf den wir hier stoßen.« (LGF: 266) Die Merkwürdigkeit des Objektcharakters ergibt sich zunächst aus der Erfahrung, dass dieser überhaupt erlebt werden kann. Dessen Erleben kann wiederum auf das Unvermögen des Subjekts zurückgeführt werden, jedes Anzeichen von Lebendigkeit immer und vollständig durch intellektuelle Leistungen kontrollieren zu wollen. Darum bleibt der Objektcharakter des Ichs immer »etwas eigentümlich Schwebendes, etwas zugleich sich Entziehendes, was man nicht recht dingfest machen kann« (ebd.: 264). Die Entzogenheit werde spürbar in dem »Gefühl des Das-bin-ich-doch-gar-nicht« (ebd.: 302). Dass sich die Selbstfremdheit des Ichs in einem Gefühl ausdrückt, verdeutlicht, dass der Objektcharakter, der in der Erkenntnistheorie nach Adornos Verständnis den Rang einer konstitutiven Bedingung besitzt, somatisch und kontingent in einem ist. In der somatischen Kontingenz liegt nun der Grund dafür, dass »Kant einzig Vernunft als Movens von Praxis gelten ließ […]: das jäh Herausspringende, ist die Spontaneität, die Kant ebenfalls in reines Bewußtsein transplantierte, weil sonst die konstitutive Funktion des Ich denke gefährdet worden wäre« (ND: 229). Adorno deutet Kants Begriff der Spontaneität als erkenntnistheoretische Antwort auf eine, »[j]enes Gefühl im Denken also, daß die tiefsten sogenannten konstitutiven Leistungen, […] gar nicht die sind, in denen ich selber denke, sondern, daß ›es‹ da schon in mir denkt« (LGF: 298; Herv. rb). Ausgehend von der Angst des fragmentierten Ichs vor der Auflösung des Selbst, ließe sich der Drang, alles in sich einzuschließen, als psychischer Mechanismus bestimmen, der aus der aggressiven Abwehr einer Realangst entspringt. Es bildet sich ein Subjekt heraus, das nicht als freie Instanz zur Konstitution von Erkenntnis fungiert. Stattdessen ist das Erkenntnissubjekt mit dem gesellschaftlichen Ich im Bunde – ein Bündnis, das eingegangen wird, um der »Gefahr, bei der Wahrnehmung von Lebendigem, der Berührung von Lebendigem sogleich zu fragmentieren« (Theweleit 2000 [1978]: 220) zu entgehen. Gegenstand und Zweck ihres Zusammenschlusses ist der Körper, den es durch Rationalisierung und innerer Naturbeherrschung unter Kontrolle zu bringen gilt. Es ist jedoch ein Trugschluss des Idealismus und Ausdruck einer Verdrängung der eigenen neurotischen Gestalt, die laufenden Kontrollfunktionen des individuellen Bewusstseins gegenüber der körperlichen Natur gleichzusetzen mit der Unabhängigkeit und Spontaneität des Denkens gegenüber seiner eigenen Natur. Diese blinden Flecken sind dem individuellen Bewusstsein, »sind dem Beschädigten aber nicht erfahrbar, bleiben ihm fremd. In-sich-Kreisen, blinde Befangenheit in der Zufälligkeit des Eigenen – in der Sprache der Analyse: die Neurose, der Wiederholungszwang – können so schwerwiegend sein, daß das Subjekt keinen Zugriff mehr auf distanzierendes Denken hat, in Adornos Sprache: ›böse‹ wird. […]
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Das hinzutretende Dritte
Um die Denkhemmungen aufzulösen, Selbstentfremdung zu lindern, den Weg zum anderen zu Bahnen, bedarf es eines Mediums, eines Dritten.« (Goebel 2004: 495) Das Dritte geht mit dem überein, was hier unter den Begriff des hinzutretenden Somas zu entfalten ist: Weder blinde noch unterdrückte Natur, sondern das Hinzutreten von Natur. »Der philosophischen Reflexion scheint es ein schlechthin Anderes, weil der auf die reine praktische Vernunft gebrachte Wille eine Abstraktion ist. Das Hinzutretende ist der Name für das, was von jener Abstraktion ausgemerzt ward; real wäre Wille ohne es überhaupt nicht. […] Praxis bedarf auch eines Anderen, in Bewusstsein nicht sich Erschöpfenden, Leibhaften, vermittelt zur Vernunft, aber von ihr verschieden. Beide Momente werden keineswegs getrennt erfahren; doch hat die philosophische Analyse das Phänomen derart zurechtgestutzt, dass es danach, in der Sprache der Philosophie, gar nicht anders kann ausgedrückt werden, als wie wenn zu Rationalität ein Anderes addiert würde.« (ND: 228; Herv. rb) Das hinzutretende Dritten wurde an anderer Stelle schon einmal bezeichnet als ›Einschuss von Irrationalität, als auf Vernunft nicht Reduzierbares‹. Bei der naturgeschichtlichen Deutung der inneren Sprengung verwendet Adorno nun den Begriff des »Hinzutretenden« als spezifische Kategorie, die versucht, an der Verknüpfung von Spontaneität, Willensfreiheit und Praxis festzuhalten und dabei die Erfahrung von Freiheit gegen die Verdrängung der Natur geltend zu machen52 . Natur als das nicht ganz Beherrschte ist im Vernunftwillen ideell so eingeschnürt – folglich mit zweiter Natur identisch –, dass die Befreiung von der Entfremdung zunächst nur als ein von außen kommender Akt vorgestellt werden kann: »[D]amit Vernunft Freiheit wird, dazu bedarf es eben jenes was ich das Hinzutretende nenne.« (LGF: 253; Herv. rb)53 Ermöglichungsbedingung der Freiheitserfahrungen ist in diesem Fall aber nicht der freie Wille der Vernunft, sondern ihr phylo- und ontogenetisches Gegenteil: der somatische Impuls54 . »Dem Hinzutretenden eignet ein nach rationalistischen Spielregeln irrationaler Aspekt. Er dementiert den Cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans, der das Hinzutretende, als Mentales, der res cogitans zuschlägt, bar der Rücksicht auf die Differenz vom Gedanken. Das Hinzutretende ist Impuls, Rudiment einer Phase, in der der Dualismus des Extra- und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war, weder willentlich zu überbrücken, noch ein ontologisch Letztes.« (ND: 227f.; Herv. rb)
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»Es ist äußerst schwierig, für diese sehr tief liegenden Sachverhalte auch nur einigermaßen richtige Termini zu finden, wenn man sie nicht sofort selber verdinglichen will. Die Unwiderstehlichkeit von Impulsen, die man an sich, die jedenfalls ich an mir sehr stark beobachten kann; und die Sie an sich, wenn Sie ein bißchen sich daran gewöhnen, sich selbst zu beobachten, vielleicht auch konstatieren können.« (LGF: 330) Zum Hinzutretenden als ethische Kategorie siehe auch: Schweppenhäuser/Wischke (1995); Menke (1997, 2006); Düttmann (2004). Adorno entfaltet seine Überlegungen zum Impuls »in einem Zusammenhang äußerst exponierter geschichtsphilosophischer Spekulation« (LGF: 329). Weil die vollständige Integration der Impulse nicht gelang, trägt ihr Erscheinen stets auch »archaische Züge« (ebd.) und die Impulse erinnern in ihrer Strukturan die Erfahrung reflexhaften Reagierens.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Anders als es der Begriff nahelegt, meint das Hinzutretende nicht etwas dem Subjekt gänzlich Abstraktes und Äußerliches. Im Gegenteil gelangt die Abstraktionsfunktion des Dualismus von Körper und Geist und dessen Fortsetzung im Prinzip der Naturbeherrschung durch den Begriff des Hinzutretenden in zweifacher Weise an seine eigenen Grenzen. Die rationale Entzogenheit von sich selbst öffnet das naturbeherrschte Subjekt für das, was Adorno bezeichnet als »Moment des Jähen, Plötzlichen, […] das ich anders als ein somatisches, als ein leibliches Moment überhaupt nicht mir vorstellen kann« (LGF: 298). Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Reproduktion des Dualismus in umgekehrter Stoßrichtung, nun mit dem leiblichen Moment an der Spitze. Die Forderung nach Berücksichtigung des somatischen Impulses richtet sich gegen die Alternative selbst. Stattdessen sei der Impuls »somatisch und geistig in eins, ohne daß dabei diese Momente wahrscheinlich sich ganz auseinanderklauben lassen« (ebd.: 326; Herv. rb). Im Moment der impulshaften Entäußerung entsteht also eine doppelt gelagerte Situation von alogischer Uneindeutigkeit und dynamischem Zwiespalt. Zwischen Somatischem und Mentalem kann im Moment des Eintretens des Impulses nicht unterschieden werden. »[E]in Ruck erfolgt« im Körper (ND: 226), der für das Bewusstsein zwar undurchschaubar, aber dennoch wahrnehmbar ist. Die somatisch vermittelte Spontaneität gleicht der Struktur nach einer unbewussten und impulsiven Tätigkeit, deren Vollzug »das stärkste unmittelbare und lebendige Argument für so etwas wie Freiheit ist« (LGF: 327). Adorno vollzieht die somatische Kategorisierung der Spontaneität aus einem zugleich psychischen, wie geschichtsphilosophischen Horizont, der mit dem Begriff der »Abspaltung von der Natur« (Casale 2020c: 11) und der Erfahrung von Selbstfremdheit überschrieben werden kann. Zunächst stellt Adorno fest, dass durch den gesellschaftlichen Druck zur Anpassung »die subjektiven Momente der Spontaneität im geschichtlichen Prozeß zu verkümmern beginnen« (LGF: 226). Dies geschieht bis hin zur Herausbildung bürgerlicher Kälte und der Negation somatischer und intellektueller Möglichkeiten zugunsten gesellschaftlicher Integration. Dennoch gibt es in der Totalität der somatischen und intellektuellen Verkümmerung Möglichkeiten des spontanen Widerstands. Wäre dem nicht so, gäbe es überhaupt keine Veränderungen und Geschichte wäre bloß Natur. Entscheidend ist, dass die Möglichkeit der Veränderung nicht wie es die idealistische Deutung nahelegt in den Freiheitsspielräumen der Vernunft begründet ist, sondern sich aus einem phylogenetischen Zusammenhang speist: »Das dämmernde Freiheitsbewußtsein nährt sich von der Erinnerung an den archaischen, noch von keinem festen Ich gesteuerten Impuls. Je mehr das Ich diesen zügelt, desto fragwürdiger wird ihm die vorzeitliche Freiheit als chaotische. Ohne Anamnesis an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls, der später in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist, wäre die Idee von Freiheit nicht zu schöpfen.« (ND: 221) Die Verschiebung des Spontaneitätsbegriffs in das Feld des Impulses ergibt sich aus dem spekulativ- geschichtsphilosophischen Rückbezug auf das archaische Moment des Willens (vgl. LGF: 294). Nach Adornos Verständnis basiere die lebendige »Möglichkeit des sich Entringenden […] vom Druck der Negativität« (ebd.: 221) in besonderem Maße auch auf diesem archaischen Moment, aus dem die epistemologische Herausforderung entsteht, den »›monadologischen Schleier« (ebd.: 301) des selbstbestimmten Subjekts
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zu zerreißen. Diesen zerrissen zu haben, ermöglicht die Einsicht, dass die Einzelnen »noch in ihrer eigenen Immanenz nicht sie selber sind; daß das Fremde in sie selber hineinrecht« (ebd.: 302). Selbstfremdheit, wie Adorno sie hier versteht, resultiert aus der Verinnerlichung der geschichtlich bereits vorausgesetzten und zunächst unbewusst bleibenden Erfahrung der Nichtidentität des Ichs mit sich selbst. Entsprechend betrachtet Adorno auch die Gleichsetzung von Impulsen mit Kontrollverlust und von Bewusstsein mit Kontrollfähigkeit skeptisch. Die entscheidende Differenz zwischen der Naturverfallenheit der Vernunft und dem Ausgeliefertsein an die Natur im somatischen Impuls zeigt sich in dem, was Adorno als »Dekomposition des Individuums« (ND: 337) bezeichnet. Seine Naturverfallenheit tritt zutage, wenn das Individuum »weder mehr die Kraft zur Leidenschaft – Ichstärke – aufbringt, noch ihrer bedarf, weil die gesellschaftliche Organisation, die es integriert, Sorge trägt, daß die offenbaren Widerstände beseitigt werden, an denen die Leidenschaft einmal entflammte, und dafür die Kontrollen ins Individuum als ein um jeden Preis sich Anpassendes verlegt.« (ebd.: 337) Dem gegenüber kristallisiert sich in dem Ausgeliefertsein an die Natur die Erfahrung des Durchbruchs gesellschaftlicher Entfremdung heraus. Von den somatischen Impulsen lässt sich im Hinblick auf den Moment des Durchbrechens sagen: sie »komponieren nicht, sie dividieren auseinander« (Casale 2020c: 14). In der somatischen Division gelangt die gesellschaftliche Dekomposition des Individuums an seine Grenzen und darüber hinaus. An seine Grenzen kommt das dekomponierte Individuum dort, wo somatisch erfahrbar wird, dass das »Ich, das man darin als etwas Festes und Gegebenes ansieht, ja selber gar kein Seiendes, sondern etwas höchst Prekäres ist, dessen eigene Hinfälligkeit einem nur an diesen Erlebnissen deutlich wird« (LGF: 302). Auf dieses Moment allein kann sich das ›dämmernde Freiheitsgefühl‹ nicht stützen. Für Adorno bleibt Befreiung unauflöslich mit Bewusstsein verkoppelt, also damit, dass »das Ich seine Möglichkeit, gegen die ein solcher Zwang sich verfehlt, als sein eigenes Wesen eben doch weiß. Das Subjekt weiß […] die innere Kausiertheit seiner Impulse als nicht eigene; und wo es auf diese innere Kausiertheit seiner Impulse stößt, kollidiert dieses Wissen mit seinem eigenen Selbstbewußtsein, – auch das Ausdruck jenes realen Widerspruchs der Freiheit.« (Ebd.; Herv. rb) Bei der Befreiung kommt es darauf an, die Kollision des Impulszusammenhangs mit dem Wissen, das man von sich hat oder glaubt zu haben, nicht bloß geschehen zu lassen, sondern die durch das Bewusstsein gesetzte Nötigung der eigenen Impulse und deren Befreiung in ihrer immanenten Dialektik zu bestimmen. Adornos Begriff der Spontaneität beschreibt den ›Endpunkt‹ eines erkenntniskritischen Weges, der von der Reduktion der Spontaneität auf ein Vermögen des reinen intellektuellen Willens hinführt zur Deutung der Freiheit als somatisches Moment in der geistigen Erfahrung. Mit dieser Beschreibung der Spontaneität wird der somatische Impuls als Kategorie in der Dialektik der Freiheit sichtbar gemacht. Ratio und somatischer Impuls sind nicht statisch, sondern bilden ein Spannungsverhältnis, in dem sich die Möglichkeit der Freiheit nur durch die Wirklichkeit der Unfreiheit realisiert.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Gerade weil die somatischen Einzelimpulse nicht versuchen, den »Sprung [in die naturbeherrschende Rationalität] rückgängig zu machen« (VÄ: 70f.), können sie innerhalb der Rationalität in gewisser Weise das Interesse der Natur wahrnehmen (vgl. ebd.: 78). Die Bedingung der Freiheit ist der Unfreiheit nicht äußerlich, denn der somatische Impuls »ist immer zugleich – und wesentlich – in den geschichtlichen Prozeß verflochten und hat an allen Kategorien der Naturbeherrschung selbst teil« (ebd.: 71). Jedoch ist nicht jeder Auftritt somatischer Impulse gleichzusetzen mit der Erfahrung von Freiheit. Ohne das vermittelnde Moment wären somatische Impulse nichts anderes als sensuelle Reizreaktionen, die ohne verändernde Bedeutung blieben. Demgegenüber kommt im Begriff des somatischen Impulses die objektive, d.h. gesellschaftliche und geistige Vermittlung der Körpererfahrung zum Ausdruck. Als Vermittelter geht er über das bloß sinnliche Moment hinaus, aber nicht im Geistigen auf. Gerade weil sich der Impuls gegen seine Einverleibung durch das identifizierende Subjekt sperrt, kann er das Nichtidentische sein, »die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen« (ND: 164). Den somatischen Impuls als Nichtidentisches zu bezeichnen, heißt hier nichts anderes als wahrzunehmen und zu nennen, dass es ist. Darum hat es eine Identität. Die Identität des somatischen Impulses ist nicht das Produkt synthetisierender Denkleistungen, sondern schlicht die »des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen« (ebd.: 139). Entscheidend ist, dass die Kritik am Schein der Trennung von Natur und Rationalität nicht bei der Nichtidentität von Bewusstsein und Nichtidentischem stehen bleibt, sondern den Gedanken bis zu dem Punkt treibt, dass der ins Subjekt fortgesetzte »Bruch von innen und außen, von Gedanke und Tat« (LGF: 321) in gewissem Sinn eine Versöhnung erfährt. Die Gleichzeitigkeit zwischen somatischem Impuls und geistiger Erfahrung – der »Impuls, intramental und somatisch in eins [–], treibt über die Bewusstseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört. Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung hinein; das beseelt ihren Begriff als den eines Standes, der so wenig blinde Natur wäre wie unterdrückte« (ND: 227f.)55 . Freiheit wäre damit ein Zustand, der sich einstellt, weil der somatische Impuls eine Vermittlung erfahren hat, die nicht logischer Natur ist,diesen aber dennoch übersetzen kann in die Voraussetzung für eine »erkennende[n] Haltung« (VÄ: 295). In diesem Übersetzungsprozess ist nicht nur implizit mitgedacht, dass die Erfahrung immer wesentlich von einem Gegenstand ausgeht, sondern mit ihm ist auch die Frage aufgeworfen, was die sinnliche Erfahrung eines Gegenstandes durch ein gesellschaftlich vermitteltes Einzelsubjekt zu einer intellektuellen Körpererfahrung werden lässt.
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Die Verallgemeinerung dieser Versöhnung muss angesichts des Risses zwischen Gesellschaft und Individuum und der sich nur spontan und unwillkürlich gebenden Aufhebung notwendigerweise ein »Phantasma von Freiheit« (LGF: 330) bleiben. Der Durchgang zur Allgemeinheit bleibt insofern versperrt, als sich die imaginierte Versöhnung, die so etwas wie die Vollendung von Freiheit wäre, im Sozialen nicht verwirklichen kann, weil das allgemeine Entringen aus dem Zustand zweiter Natur abhängig ist von der Spontaneität des Subjekts, dessen konstitutive somatischen Momente sich der Idee nach nicht zur Allgemeinheit erheben lassen.
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3.3
Spontaneität und Form
In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist Adorno vor die Herausforderung gestellt, den somatischen Impuls, der zunächst nichts anderes ist als eine subjektive und damit kontingente Einzelreaktion, in irgendeiner Weise erkenntnisdienlich auszuweisen. Um den erkenntnistheoretischen Sinn von Impulsen zu verstehen, sind sie in ihrem inneren Zusammenhang zum begrifflichen Denkenzu betrachten. Wie die Naturgeschichte des Begriffs gezeigt hat, ist dem begrifflichen Urteil die nichtbegriffliche Erfahrung immanent. Mit dem somatischen Impuls erhält das nichtbegriffliche Moment im Begriff eine spezifische Konkretisierung. Der somatische Impuls ist das »Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs« (ND: 139), das sich zwar in seiner Unbestimmtheit von der Form des Begriffs unterscheidet, dessen Vorkommen aber zugleich als begriffsimmanente Möglichkeitsbedingung dafür fungiert, anders wahrnehmen und anders denken zu können. Aus diesem Grund – so stellt Adorno in der Vorlesung über Philosophische Terminologie fest – »versichert uns [die begriffliche Erfahrung] unmittelbar des Leibes und ist ohne Leibreaktionen, ohne das Leibhafte nicht vorstellbar« (PT II: 177; Herv. rb). Von der Schwierigkeit, den Impuls selbst zu fassen, zeugt Adornos Festhalten an der Vermittlung. Trotz der Selbstkritik des begrifflichen Urteils bleibt die Vermittlung in einem gewissen Sinn das konstitutive Moment. In der dialektischen Struktur der Vermittlung von Vermitteltem und Unmittelbarem schlägt sich die Erfahrung nieder, dass das somatische Moment und die begriffliche Form »in sich selbst als Bedingung seiner Möglichkeit das andere enthält« (M: 134). Während der Begriff des Nichtidentischen als Begriff etwas begreift, dass eigentlich nicht begreifbar ist, bezeichnet der somatische Impuls einen Moment, der im Moment seiner Bezeichnung schon nicht mehr ist. Mit dem Impuls kommt Bewegung ins Denken, die bloße Bewegung muss jedoch nicht zwangsläufig in einem Denkprozess münden. Lediglich sicher scheint zu sein, dass der Übergang des somatischen Impulses ins Denken nicht gelänge, »wären die Reflexe ohne jegliches Moment von Einheit« (ND: 216). Das Nichtbegriffliche kann also nur durch seine Vermittlung zur geistigen Erfahrung erfahren werden und weil die »Bildung der Form zugleich das der Form Vorhergehende hervorbringt: das Formlose, das immer wieder neu ›in Form gebracht‹ werden muß und niemals – selbst oder ganz – zur Form wird« (Menke 2015: 135f.), kann der somatische Impuls stets nur das Hinzutretende sein. Geistig erfahrbar wird der Impuls auch darum, weil das »Bewußtsein seinerseits abgezweigte Triebenergie, selber auch Impuls, auch ein Moment dessen ist, worin sie eingreift. Wäre jene Affinität, die Kant krampfhaft verleugnet, nicht, so wäre ebensowenig die Idee von Freiheit, um derentwillen er die Affinität nicht Wort haben will.« (ND: 262) Der Gedanke schaut in die Lücke, die die Natur im Bewusstsein hinterlässt, weil die Freiheit jenes Bewusstseins nicht nur genetisch, sondern auch praktisch somatisch bedingt ist. »Unausrottbar aus ihr ist das materialistische Element; sie grenzt an physischen Schmerz und an Organlust; ein Stück Natur, das nicht auf Subjektivität sich reduzieren lässt. Aber durchs somatische Moment wird die Empfindung nicht zur reinen Unmittelbarkeit. An der bloßen Empfindung aber hat die Dialektik darum keinen ma-
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
terialistischen Boden, weil Empfindung trotz ihres somatischen Wesens gegenüber der vollen Realität durch die Reduktion auf subjektive Immanenz ganz verdünnt ist. […] Die Einsicht in das subjektiv Vermittelte der Empfindung dagegen führt darauf, dass das vermittelnde Ich seinerseits gar nicht als reines sondern nur als raumzeitliches und darum wieder als Moment von Objektivität gedacht werden kann. […] Es ist danach aber auch nicht umgekehrt die Dialektik ins Objekt aufzulösen: in diesem steckt, als Differenzbestimmung, Subjektivität. […]. Erst die Kritik der abstrakten Empfindung wie des abstrakten Ich denke […] schafft Raum für eine Bewegung des Begriffs […] Weder kann das unmittelbare Moment der Empfindung von der Vermittlung isoliert werden, noch umgekehrt […] die Vermittlung vom Moment der Unmittelbarkeit.« (ME: 160f.) Die Dialektik von Natur, Empfindung und Subjektivität verdeutlicht, dass trotz der materialistischen Wendung, die der – bei Kant logisch begründete – Spontaneitätsbegriff durch das Hinzutretende erhalten hat, körperliche Empfindungen und Erfahrungen nicht unmittelbar epistemisch sind. Darum fallen sie auch nicht unter die Maßgabe klassischer Erkenntnistheorie, philosophisch begründet werden zu müssen. Angestoßen durch die Freilegung des somatischen Moments in der Erkenntnis, geht es nun darum, einen Begriff des Urteilens herauszuarbeiten, der »vom Empfinden ausgeht und beständig auf es zurückbezogen bleibt. Denn das Sinnliche ist nicht bloß das Material, auf das Begriffe angewandt werden, sondern das Medium einer vorbegrifflichen Evidenz, die dem begrifflich artikulierten Urteilen zugrunde liegt und in ihm wirksam ist.« (Menke 2015: 377) Kritisch »gegen den Fundierungswahn der Philosophie« (VÄ: 287) geht Adorno den naturgeschichtlichen Weg, um über die mimetische Rationalität und die ästhetische Erfahrung zu plausibilisieren, warum »das somatische Moment als das nicht rein cognitive an der Erkenntnis« (ND: 194) für die Arbeit der Synthesis unverzichtbar ist. Mit der Dialektik von Affektion und Selbstaffektion wurde ja bereits eine Struktur bestimmt, die – mit Menke gesprochen – auch als »materialistische Prozessualisierung« (Menke 2015: 136; Herv. i.O.) der Form bezeichnet werden kann. Die Formulierung nimmt Adornos Kritik an der Trennung der Erkenntnistheorie von Logik sowie dessen Vermittlungen von Psychoanalyse und Erkenntnistheorie wieder auf und geht der These nach, dass die Bestimmung der Form nicht nur eine formale Bestimmung ist, sondern sich wesentlich aus denjenigen objektiven Bedingungen speist, die der Herausbildung der Form vorausgehen. Hierin eingeschlossen ist die Beziehung zu den Erkenntnisgegenständen und ebenso die äußeren geschichtlichen Verhältnisse, in denen sich Erkenntnis vollzieht; gefragt wird nach dem Verhältnis der Form zu ihren somatischen Bedingungen und nach der Erfahrung, die die Hervorbringung der Form bewirkt. Die Dialektik von Form und somatischen Bedingungen betrifft den Sachverhalt, dass Denken »von der Beziehung auf den Leib gar nicht losgelöst werden [könne] und […] daher in sich selbst einen gewissen Charakter von Stofflichkeit [habe]. Die gesamte Philosophie pflegt den Stoff als Konstitutum zu behandeln. Die materia wird in eine Substanz verwandelt, also in das, was […] durch den Gedanken gesetzt wird. In jenen Momenten, aus denen durch einen Abstraktionsbegriff oder einen Kategorisierungsprozess
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die Realität sich formieren soll, steckt der unmittelbare Verweis auf den Leib jenes einzelnen Menschen, der kognitive Akte vollzieht.« (PT II: 177) In der Passage steckt nicht nur der Hinweis auf die einfache Tatsache, dass denkende Menschen nun einmal einen Körper haben. Viel wichtiger ist die »Einsicht, daß alle Formen durch die Triebkräfte der Materie mit hervorgebracht werden« (Menke 2015: 136). Der Unterschied zu einer bloßen Feststellung, dass Menschen Körper haben und rationale Fähigkeiten besitzen, besteht darin, dass Letzteres die Form selbst, also die kategoriale Vermittlung, als Vergeistigung einer somatischen Wirkung und die Hervorbringung der Form als eine Tätigkeit betrachtet, die in sich auch und unabweisbar somatisch ist. Die Wendung der Möglichkeit der Erkenntnis in die Objektivität »stellt eine Form der intellektuellen Körpererfahrung dar, weil der Ausgangspunkt, das Movens, im Prozess des Begreifens paradoxerweise ein Zustand der Passivität ist, der durch das Gefühl ausgelöst wird, von etwas affiziert zu werden […]; es bedeutet, getroffen zu werden. In diesem Sinne impliziert die Auffassung des kognitiven Prozesses ausgehend von der Affizierung nicht nur die Autonomie des kognitiven Subjekts zu entthronen, sondern auch den intentionalen Charakter des kognitiven Prozesses umzukehren. Die Möglichkeit, die Qualität und die Form des kognitiven Prozesses hängen von dem Gegenstand ab, der zur Erkenntnis bewegt.« (Casale 2020c: 13) Casale beschreibt hier die ›materiellen‹ Voraussetzungen für die Form, die Adorno als ästhetische Erfahrung bzw. begriffslose Synthesis auszeichnet. Die Vollzugsform ästhetischer Erfahrung verweist es auf das »mit geschichtlichen Erfahrungen gesättigte […] Subjekt, das gar nicht verglichen werden kann mit jenem allgemeinsten, transzendentalen Subjekt« (VÄ: 321), das sich der materiellen Wirklichkeit entzieht. Nachgerade seine geschichtliche Vermittlung ermöglicht es dem Subjekt überhaupt Erfahrungen zu machen, denn nur als solches kann es von einem Gegenstand getroffen und von ihm in seiner Wahrnehmung körperlich betroffen werden. Seel (2014) charakterisiert die Erfahrung, in dem das Subjekt, bewegt durch eine Affizierung, sinnlich wahrnimmt, ohne dabei wie im Kantischen Begriff der Rezeptivität ein Bestimmungsvermögen auszuüben, mit der »bei Adorno geliehene[n] Formel einer ›aktive Passivität‹« (ebd.: 8). Statt von Sinnlichkeit als Vermögen, geht es im Fall aktiver Passivität um Wahrnehmungen ohne Subjektivität, d.h. um Wahrnehmungen, die sich ohne inhaltliche Bestimmung vollziehen. In diesem Fall muss das Subjekt für einen Moment aufhören, seinem Zwang zur begrifflichen Bestimmung nachzugehen, weil es von etwas affiziert wird, das es nicht selbst ist und das sich nicht unmittelbar bestimmen lässt. Dies kann so verstanden werden, dass der affizierende Gegenstand nicht mehr nur den Anlass darstellt, sich eine Anschauung von den Formen geben zu können, sondern er ist der Grund der Formbestimmung selbst. Formen, könnte man sagen, sind die geistigen Erfahrungen bzw. die begrifflichen Vermittlungen einer Ursache, die zunächst als formlos erscheint. Adorno rekonstruiert den Zugang aktiver Passivität, verstanden als Verschränkung von Affizierung und Wahrnehmung, aus zwei Richtungen: zum einen ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Erfahrung spezifischer ästhetischer Gegenstände, nämlich mit avantgardistischen Kunstwerken; zum anderen reicht der Zugang über das Bedeutungsfeld moderner Ästhetik hinaus, und ins vorgeschichtlich-archaische
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
zurück, wo sich die Begegnung mit dem anderen noch im Medium der Idiosynkrasie vollzog (vgl. Grabau 2016). In ihrer Studie über die Spielformen der Idiosynkrasie (2000) stellt Bovenschen heraus, dass für Adorno »das Idiosynkratische ein Strukturelement sowohl ästhetischer als auch außerästhetischer Erfahrung« (ebd.: 93) sei. Beide reichen zurück in die »Augenblicke der biologischen Urgeschichte« (DdA: 212), die hier gelesen werden als phylogenetische Bedingung der Affizierung. Dass Adorno den Affizierungsbegriff nicht im Emotionsspektrum des »Entzückens« oder des »Enthusiasmierens« verortet, sondern mit den archaischen Erfahrungen von Erschütterung, Erschauern, Erzittern verknüpft, hat maßgeblich mit demjenigen zu tun, was mit Bovenschen als »Schreckenskonstellation« (Bovenschen 2000: 84) bezeichnet werden und »im Rekurs auf einen sehr alten archaischen Schrecken und auf einen diesen alten Schrecken (wieder)erkennenden Schrecken« (ebd.: 82) herausgearbeitet werden kann. Das Motiv der Idiosynkrasie, »Moment des Schreckens in der Begegnung mit dem Anderen« (ebd.: 85) öffnet den Affizierungsbegriff für den geschichtlichen Grund seiner somatischen Regungen: »Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die Herkunft. Sie stellen Augenblicke der biologischen Urgeschichte her: Zeichen der Gefahr, bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz stillstand. In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbstständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen. Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganze mächtig.« (DdA: 212) Ästhetische Erfahrung hat die idiosynkratische Reaktionen des Somatischen in sich aufgenommen, wo sie als Rudiment noch unbeherrschter innerer und äußerer Natur fortleben, ohne jedoch zu behaupten, dass bloße sensuelle Reize und individuell-affektive Regungen bereits den Kern ästhetischer Erfahrung ausmachen: »Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu Erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild. […] [N]icht ist Leben am Subjekt, als dass es erschauert, Reaktion auf den totalen Bann der ihn transzendiert, Bewußtsein ohne Schauer ist das verdinglichte. Jener, darin Subjekt sich regt, ohne schon zu sein, ist aber das vom Anderen angerührt sein. […] Solche konstitutive Beziehung des Subjekts auf Objektivität in der ästhetischen Verhaltensweise vermählt Eros und Erkenntnis.« (ÄT: 497) Die Passage beschreibt präzise die immanente Dialektik des Affizierungsbegriffs bei Adorno als geschichtsphilosophischen Übergang von dem archaischen Schema des Erschauerns zum Affekt als augenblickliche Regung von Lust oder Unlust. Der Übergang entspricht einem Wechsel der Szenerie von der außerästhetischen zur ästhetischen Erfahrung, die aber nicht nur eine ästhetische Erfahrung ist, sondern insofern in die Sphäre einer metaphysischen Erfahrung hinüberreicht, als sich in den spontanen Regungen Momente der Unmittelbarkeit in der Vermittlung exponieren. Einer der zentralen Pfeiler der ästhetischen Theorie Adornos besteht in der Kritik an jeder Form von ästhetischem Subjektivismus, gleichgültig ob die Erfahrung im ästhetischen Erleben oder im Bewusstsein des ästhetischen Betrachters begründet werden soll:
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»[W]enn also Objekt und Subjekt der ästhetischen Erfahrung nicht in einem transzendentalen Verhältnis ursprünglicher Apperzeption […] zueinander stehen, sondern beide […] bereits in die konstituierte Welt fallen, dann hört der Vorrang des Subjekts gegenüber dem Objekt auf und, die beiden Momente sind wechselseitig einander produzierend und sind eigentlich gleichen Ranges und […] das Objekt ist aus sehr gewichtigen Gründen sogar der Subjektivität vorzuordnen.« (VÄ: 321f.) Auch unter der Bedingung vom Vorrang des Objekts spielt das Gegenüber des Gegenstandes im Fall der Affizierung eine entscheidende Rolle. Konkret geht es um das subjektive Moment nicht im kategorialen Sinn, sondern in Form eines Verhaltens, das seinen Ausgangspunkt in der Begegnung mit einem Gegenstand hat und sich in körperlicher Weise ausdrückt. Adorno schlägt vor, diese Weise der Erfahrung »mit ›ästhetischem Enthusiasmus‹« (ebd.: 332) zu bezeichnen, der wiederum »gar nichts anderes [sei] als die erfüllte Beziehung zu der Sache selbst« (ebd.). Die emotionale Reaktion und die sinnliche Empfindung, die der Gegenstand hervorruft, ist dann vergleichbar mit dem, was als ein »Gefühl von der Welt« (ebd.: 325) bezeichnet werden kann. Dabei handelt es sich weder um genau benennbare Gefühle noch um unmittelbar anschaulich werdende intellektuelle Urteile oder Ideen, sondern um eine Erfahrungsweise, die sich auf die dem Gegenstand immanente »Fülle des Seienden […], die sonst durch die Logik des Urteils gerade abgeschnitten wird« (ebd.: 328) bezieht56 . Die materialistische Pointe von Adornos Affizierungsbegriffs besteht in der Auflösung des rationalistischen Ansinnens, die sinnlich-körperliche Berührung dadurch im Denken zu begründen, dass sie als eine Leistung der Einbildungskraft begriffen wird57 . Was die ästhetische Erfahrung von der sinnlichen Erfahrung unterscheidet, ist der Umstand, dass erstere nicht nur den Inhalt der begrifflichen Synthese zur Verfügung stellt, sondern auf ganz andere Weise synthetisiert, d.h. auf ganz andere Weise zu Urteilen kommt.
3.3.1
Ästhetische Erfahrung
Der Begriff der Affizierung verbindet den somatischen Impuls mit der Berührung durch einen Gegenstand. Affizierung entspricht, wie bereits aufgezeigt, nicht der unmittelbaren, bloß sinnlichen Reaktionsweise der Einzelnen, sondern bezeichnet
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Die Auffassung der gegenständlichen Fülle bedeutet für Adorno, dass sich das Subjekt von sich selbst entfernt, und zwar in dem Sinn, dass es von dem Wunsch ablässt, dass Erkenntnisobjekt müsse den eigenen, partikularen Interessen dienen. Das wäre beispielsweise bei denen, von Adorno als emotional klassifizierten Musikhörer*innen der Fall, die ein Musikstück in der Absicht hören, bestimmte Gefühle dadurch hervorbringen zu können. Die Auseinandersetzung mit Kunstwerken dient dabei Zwecken, die nicht der Sache selbst entspringen. Diesen Punkt arbeitet Hannah Arendts (1985) Kant-Lektüre heraus: »Nur das, was einen in der Vorstellung berührt, affiziert, und zwar dann, wenn man nicht mehr durch seine unmittelbare Gegenwart affiziert wird […]. Erst dann spricht man vom Urteil und nicht mehr vom Geschmack, weil man nun, obwohl noch wie von einer Angelegenheit des Geschmacks affiziert, mittels der Vorstellung den angemessenen Abstand hergestellt hat […]. Indem man den Gegenstand wegräumt, hat man die Bedingungen für die Unparteilichkeit [bzw. das begriffliche Urteil] geschaffen.« (Ebd.: 90).
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
das In-Berührung-Kommen eines geschichtlich vermittelten Subjekts mit einem geschichtlich vermittelten Gegenstand: »Es ist nicht das Subjekt, das sich dem Objekt zuwendet, das sich auf das Objekt zubewegt. Es ist das Objekt, das sich in erster Linie als Inhalt (Gegenstand) einer Sinneswahrnehmung gibt. Der Gegenstand wird in seiner Vorrangigkeit erkannt, d.h. als vorrangiges Objekt erfasst, sofern man in der Lage ist, ihn in einer Form wiederzugeben, die seine Qualitäten erhält. […] Adornos ästhetische Erfahrung des Begriffs gibt einerseits eine entscheidende Bewegung für eine sinnliche Konnotation der Erkenntnis wieder: Der kognitive Prozess geht von einer Affektion aus. Zum anderen verspricht eine solche Auffassung die Erlösung des Sinnlichen im Medium ästhetischer Formalisierung.« (Casale 2020c: 13) Casales Interpretation betont zwei Aspekte, die das spezifische Verhältnis von Subjekt und Objekt in der ästhetischen Erfahrung betreffen: Die Auffassung vom Vorrang des Objekts als Primat der Form und die Bestimmung der ästhetischen Formalisierung als Synthese ohne Begriff. Zunächst scheint die Auffassung vom Vorrang des Objekts als Primat der Form zu Adornos Kritik an der Voranstellung des Subjekts in logischem Widerspruch zu stehen. Paradoxerweise ist es aber gerade Adornos Kritik an der Konstitutionslogik des idealistischen Subjekts, die den Blick freigibt für den vor dem subjektiven Zugriff immer schon geformten Gegenstand. Der Sachgehalt eines Gegenstandes fällt weder mit seiner materiellen Seite, also seinen geschichtlichen und ideellen Einzelmomenten, dem Material, das sich in ihm sedimentiert, noch mit der subjektiven Seite des Produzierenden zusammen. Stattdessen entspringt er aus seinem eigenen geistigen Gehalt, seiner Form58 . Eine Affizierung führt dann zu einer ästhetischen Erfahrung, wenn »das geistige Moment der Kunst bereits in ihrer unmittelbaren Erfahrung qua Kunst, in der unmittelbaren Wahrnehmung eines Kunstwerks als Kunstwerk (VÄ: 197; Herv. rb) erfasst werde. Die Erfassung des Formgesetzes ist der Sache nach selbst eine geistige Erfahrung. Wäre sie das nicht, würde eine ästhetische Erfahrung zwar Gegenstände sinnlich wahrnehmen, den Gegenstand jedoch nicht als autonomes Kunstwerk erfassen. Die Einheit eines autonomes Kunstwerkes besteht in dem dynamischen und »dialektischen Verhältnis von Einzelmomenten und dem Ganzen« (ebd.: 182). Adorno bezeichnet diese Gleichzeitigkeit von Einheit und Vermitteltheit, von innerer Dynamik
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Der Formbegriff bildet das Zentrum von Adornos Analysen zu Kunst und Ästhetischer Theorie. Unter Form versteht Adorno in kunsttheoretischer Hinsicht die immanente »Logizität oder […] Stimmigkeit an den Kunstwerken« (ÄT: 211) und ihre Hervorbringung als Zweck ästhetischer Erfahrung. Die Bestimmung der ästhetischen Erfahrung als Reflexion der Form ohne Begriff geht einher mit der Entkopplung der Objektivität des ästhetischen Urteils von der Zufälligkeit des Geschmacks. Das Kantische »Modell der Autonomie des Geschmacksurteils« (Casale 2004: 232) begründet das ästhetische Urteil in der Erfahrung eines Gegenstandes, das in allgemeiner Weise als schön betrachtet wird. Es handelt sich also um ein Geschmacksurteil und der »Geschmack drückt sein Urteil über das Schöne aus, ohne auf einen Begriff des Schönen zu verweisen: das Schöne ist das, was allgemein gefällt, ohne dass der Urteilende weiß warum. Man hat keinen Begriff, der die allgemeine Gültigkeit begründet.« (Ebd.: 233)
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und äußerer Statik auch als Kraftfeld, das Kunstwerken genauso eigen ist wie etwa begrifflichen Konstellationen. Ästhetische Erfahrungen zu machen, besteht dann in nichts anderem als in der »Arbeit der Synthesis« (ebd.: 300), durch die die Einheit des Kunstwerks, also dessen Form, dadurch hervorgebracht werden kann, »daß die einzelnen Momente in einen stringenten notwendigen Zusammenhang geführt werden« (ebd.: 212). Ästhetische Erfahrung agiert damit jenseits der »Sphäre der bloßen sinnlichen Unmittelbarkeit« (ebd.: 178), aber noch nicht in der Sphäre begrifflicher Vermittlung. Auf die Affizierung folgt die Transzendierung im Sinne einer »Herausgliederung des ästhetischen Bereichs aus dem empirischen Bereich« (ebd.: 178) vermittels eines spezifischen reflexiven Verhaltens zum Gegenstand, das Adorno in Anlehnung an Kants Begriff der Apprehension in der Anschauung – aber entgegen Kants Auffassung transzendentalen Verhältnis ursprünglicher Apperzeption – als »passive Synthesis« (PT II: 142) bestimmt. Passive Synthesis bezeichnet eine »Art Synthesis bereits in der Unmittelbarkeit […] ehe die mittelbaren Funktionen der Reproduktion und Rekognition hinzutreten« (ebd.: 143). Ästhetische Erfahrung als eine begriffslose Praxis des Synthetisierens bezeichnet eine einheitsstiftende Verhaltensweise, in der »die Grenze zwischen dem Reflexiven und dem bloß Anschaulichen fließend ist« (VÄ: 301). Was diese Form der Synthese auszeichnet ist ihr zwangloser Charakter und die damit verbundene Aussicht auf eine Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt. Adorno beschreibt die ästhetische Form als »objektive Organisation eines jeglichen innerhalb eines Kunstwerks [oder bezogen auf begrifflicher Erkenntnis innerhalb einer Konstellation] Erscheinenden zum stimmig Beredten. Sie ist die gewaltlose Synthesis des Zerstreuten, die es doch bewahrt als das, was es ist, in seiner Divergenz und seinen Widersprüchen, und darum tatsächlich eine Entfaltung der Wahrheit« (ÄT: 216). Die Erfahrungen dienen nicht mehr dem kontrollierenden und zurichtenden Zugriff der Rationalität, sondern werden als Ermöglichungsbedingungen versöhnender Synthese gedacht. Die Vollzugsweise versöhnender Synthese beschreibt Adorno als »lebendige […] Beziehung zu einer Sache« (ET: 74; Herv. rb) oder als »Hingabe an die Sache ohne Zwischenschaltung prästabilisierter Formen« (GS 16: 617). Beherrschung und Versöhnung meinen zwei unterschiedliche Modi des Verhaltens gegenüber den Erfahrungsgegenständen und rechtfertigen die Differenz zwischen der Reflexivität der ästhetischen Erfahrung und der reflexiven Haltung der naturbeherrschenden Vernunft. Während letztere sich in zweckgerichteter Weise auf die Gegenstände bezieht, geht es ästhetischer Erfahrung gerade um ein nicht-instrumentelles Verhältnis zu diesen. Die Verhaltensweise der ästhetischen Erfahrung kann somit als Antwort auf die Frage gelesen werden, wie Objekterkenntnis möglich ist, die nicht subjektiv konstruiert und intentional konstituiert, aber auch nicht der Zufälligkeit und subjektiven Willkür überlassen wird. Dabei tritt die immanente Dialektik der Erkenntnistheorie zutage. Ob ich etwas erkennen kann, wie ich etwas erkennen kann und was ich erkennen kann, ist nicht allein und nicht zuerst bestimmt von der Logik des begrifflichen Zugangs, sondern nimmt ihren Ausgang in konstitutiver Weise bei der unmittelbaren Wahrnehmung der erfahrenen Gegenstände selbst. Erkenntnistheorie ist in diesem Sinn eine genuin ästhetische Angelegenheit. Zugleich ist die Bedingung der Ästhetisierung der Erkenntnistheorie, das ästhetische Verhalten, Resultat der Gegenstände selbst. Adornos Gedankengang vollzieht in diesem Sinn eine erkenntnistheo-
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
retische Verschiebung: Diese betrifft das bereits erläuterte Argument, dass subjektive Erkenntnisprozesse zunächst vom Gegenstand der Erfahrung ausgehen, um dann im Prozess der Verobjektivierung die Erkenntnis von dessen Form realisieren. Daraus ergibt sich jedoch die Aufgabe, eine Verhaltensweise zu erschließen, die beides realisieren kann: die lebendige Beziehung zu Gegenständen und die Verobjektivierung ihrer Form. Adornos Antwort auf diesen Anspruch ist der Begriff der mimetischen Rationalität59 . Der Begriff der mimetischen Rationalität ist geschichtsphilosophisch konzipiert und bezeichnet eine reflexive, von dem Zwang der apriorischen Form befreite »Stellung zur Realität diesseits der fixen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt« (ÄT: 169). Das mimetische Verhalten, in dem das Subjekt »mit subversiver Selbstüberschreitungslust« (Eichel 1993: 21) sich der Sache gleichmacht, kann in gewissem Sinne als Statthalter der Nichtidentität verstanden werden. Nichtidentität ist die zur Form gewordene Erfahrung, dass Subjekt und Objekt nicht identisch sind und der Gedanke nicht durch die Herrschaft über die Natur gesetzt werden kann. Mimesis unterscheidet sich von der identitätslogischen Form – zu der sie gleichwohl vermittelt ist – in Bezug auf Haltung, Zweck und Agens ihrer Vollzugsweise. Ihren Zweck hat sie in der Ermöglichung einer nichtbegrifflichen Synthese der Einheit des Gegenstandes. »Der objektive Gehalt wird hergestellt […] durch Auflösung dessen, was jene Erfahrung, als selber befangene, daran hindert, dem Objekt so ohne Vorbehalt, nach Hegels Wort, mit der Freiheit sich zu überlassen, die das Subjekt der Erkenntnis entspannte, bis es wahrhaft in dem Objekt erlischt, dem es verwandt ist vermöge seines eigenen Objektseins.« (SO: 752) Anders als das Paradigma der Rationalität, das zu Gegenstandsurteilen durch begriffliche Identifikation zu gelangen intendiert, bringt der Mimesisbegriff die gegenteilige Praxis zum Ausdruck60 . Versöhnung aus Sicht ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Deutung bedeutet, »die Momente des Kraftfelds, die das Kunstwerk darstellt,
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Zur Bedeutung der Mimesis bei Adorno siehe: Wellmer (1985); Früchtl (1986); Schmid Noerr (1990: 146ff.). Das aktive Moment des Verhaltens besteht in »Konzentration« (APD: 602), »Geduld« (ebd.), »Ruhe« (ebd.: 603), »Glück« (ebd.) und »Zivilcourage« (ebd.: 604). Bei den Merkmalen aktiven Verhaltens denkt man zunächst eher im aristotelischen Sinne an die Sammlung von – so Schweppenhäuser (2016 [1993]: 46) – »dianoetischen Tugenden, […] in denen sich die Vernunft selber zum Gegenstand der Betrachtung macht und die daher wesentlich für das ,göttliche‹ Leben sind, das der theoria gewidmet ist«. Für Adorno – davon kann man sich in dem Aphorismus Für Anatole France überzeugen – ist die Vorstellung von Tugenden, die die Verhaltensweise des Denkens begründen sollen, fragwürdig geworden (MM: 85f.). Ich glaube, worum es Adorno in erster Linie geht, ist nicht die Frage, ob die Verhaltensweisen des Denkens Tugenden sind oder moralisch zu begründen wären. Wenn dann ließe sich eine »Moral des Denkens« (ebd.: 82) aus der Kritik an der ›Amoralität‹ der herrschenden Erkenntnispraxis extrahieren: »Das Verderben kommt vom Gedanken als Gewalt, dem Abkürzen des Weges, der einzig durchs Undurchdringliche hindurch das Allgemeine findet« (ebd.: 86). Von der Gewaltförmigkeit der intellektuellen Naturbeherrschung verschieden ist die Auffassung, dass »vom Tempo der Geduld und Ausdauer des Verweilens beim Einzelnen Wahrheit selber abhängt: was darüber hinausgeht, ohne sich erst ganz verloren zu haben, was zum Urteil fortschreitet, ohne der Ungerechtigkeit der Anschauung erst sich schuldig gemacht zu haben, verliert sich am Ende im Leeren.« (Ebd.: 86)
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an den Kunstwerken mit[zu]vollziehen« (VÄ: 226; Herv. rb). Der Mitvollzug des objektiven Kraftfeldes entspricht einer somatischen und geistigen Verhaltensweise, und bildet das mimetische Moment in der Erkenntnis, das »die Rolle des Korrektivs eines vereinseitigten Rationalitätstyps« (Schmidt 1997: 201) übernimmt. Dies bedeutet aus Adornos Sicht, »das, was eigentlich an Erfahrung, an lebendiger Erfahrung in der dialektischen Philosophie verschlossen ist, fruchtbar zu machen und […] zu zeigen« (VÄ: 14). Mit dem Begriff der Mimesis tritt also eine weitere Bedeutungskomponente hervor, die die Idee ästhetischer Erfahrung als zwangloser Synthesis, als Versöhnung zwischen Gegenstand und Reflexion auf naturgeschichtliche Beine stellt. Die Darstellung lebendiger Erfahrung in der Vermittlung verbindet zwei wesentliche Stränge, die die Arbeit bisher explizit und implizit durchzogen haben: Die Verbindung von ästhetischer und geistiger Erfahrung nimmt den Faden der melancholischen Konstellation – Deutung im Bewusstsein der Vergänglichkeit; melancholischer Tiefblick als Spiegelungsweise der subjektiv-eigenen Vergänglichkeit in den geschichtlich gegebenen Gegenständen; und Versenkung in den Erfahrungsgehalt des Objekts – noch einmal auf und spinnt ihn vermittels der ästhetischen Kategorie der Mimesis in Richtung einer Auffassung begrifflichen Denkens als Bestimmen ohne Einverleibung des Gegenstandes weiter. Zweitens steht die Wendung auf den Begriff der Mimesis in Zusammenhang mit dem geschichtsphilosophischen Ansinnen, Erkenntnis nicht transzendental zu begründen, sondern die Form geschichtsphilosophisch Auszuleuchten. Die Diskussion der Geschichtsphilosophie als Naturgeschichte hat gezeigt, dass letzteres nicht als Geschichtsmetaphysik gedacht ist. Stattdessen vollzieht sich die Analyse aus dem Horizont zweite Natur, genauer gesagt greift die geschichtliche Bestimmung der Form aus bis auf die archaische »Urgeschichte der Subjektivität« (ÄT: 172). Zunächst zum ersten Aspekt: Den melancholischen Horizont des mimetischen Verhaltens als Möglichkeitsbedingung von Versöhnung bilden der »Augenblick der Selbstvergessenheit« (GS 11: 57) und der Akt der Selbstentfremdung. Ohne »den Akt der Entäußerung zu leisten, wird es keineswegs zu einem substantiellen und vollen [Erkenntnisprozess kommen], es sieht dann quasi in einen Abgrund von Leere hinein« (PT II: 236). Die enge Bindung von Melancholie und ästhetischer Erfahrung zeigt sich daran, dass Versöhnung – als Verwirklichung des Glücks – nichts anderes ist als die Erfahrung, in der Objektivität zu erlöschen und durch die Erlöschung hindurch die Form sichtbar machen zu können. Statt Erkenntnis im Dienst der Subsumption oder Gleichsetzung des Gegenstands mit dem Gedanken, versenkt sich das Subjekt in die Objekte und lässt sich »von ihnen bestimmen« (Bonnemann 2017: 37). Was begriffliche Erkenntnis im Bewusstsein von Nichtidentität durch Selbstvergessenheit zunächst an »Eindeutigkeit und Bestimmtheit verliert, gewinnt es freilich durch eine bestimmte Nähe und Konkretion zum Wesen, wie sie den abstrahierenden Mechanismen des gewöhnlichen Urteilens nicht gegeben sind« (VÄ: 323). Der Akt der Selbstdurchstreichung unterscheidet sich von Naturbeherrschung darin, dass ersterer keine im vernunfttheoretischen Sinne selbstbestimmte, aber dennoch eine Handlung aus Freiheit ist. Dies hat mit drei Aspekten zu tun, die sich anhand von zwei Paradoxien erläutern lassen: Das erste Paradoxon betrifft die Gleichzeitigkeit von somatischer und metaphysischer Erfahrung im ›mimetischen Impuls‹ bzw. im ›mimetischen Moment‹. Blickt man auf die Auseinandersetzung mit der idealistischen
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Begründung der Freiheit in der Vernunft und dem Begriff der Affizierung zurück, in denen die Bedeutung des somatischen Impulses auf unterschiedliche Weise sichtbar gemacht wurde, so kann im ersten Augenblick der Eindruck entstehen, Adornos Überlegungen sollen hier letztlich auf einen physischen oder leiblichen Grund abgezogen werden. Dass dem nicht so ist, sollte nicht zuletzt die naturgeschichtliche Deutung des Somabegriffs zeigen, der die durch zweite Natur hervorgebrachte Dialektik des Körpers von Physis und Metaphysis bestimmt. Vor dem Hintergrund dieser Dialektik zeigt sich das Paradox, dass gerade der Impulsbegriff als eigentlich unmittelbarer Ausweis der empirischen Existenz darin mündet, deren Naturverfallenheit – die »in bornierter Selbsterhaltung aufgehende instrumentelle Vernunft« (ND: 263) – zu transzendieren. Die Bewegung der Transzendierung durch Mimesis birgt also eine Aporie: die Aporie der Gleichzeitigkeit von Vermittlung und Unmittelbarkeit, von Subjektivität und Metaphysik, von geistigem und somatischem Moment. Der mimetischen Bewegung geht stets ein äußerer Anstoß voraus, auf welchen sie impulshaft, mit einer »unmittelbaren Kundgabe der Regung« (VÄ: 106) reagiert. Vermittelt ist die unmittelbare Regung nicht nur aufgrund der Begegnung mit einem anderen, das die Bewegung auslöst, sondern auch weil »aus ihr [der unmittelbaren Regung], subjektiv vermittelt, ein Objektives spricht: Trauer, Energie, Sehnsucht« (ÄT: 170). Die mimetische Verhaltensweise ist subjektiv vermittelt, weist aber über den individuell affektiven Erfahrungsraum hinaus. Das metaphysische Moment der mimetischen Reaktion beginnt beim »Zünden« (M: 134) in der Begegnung mit einem Gegenstand, der zunächst als fremd erscheint, und setzt sich darin fort, »die Zufälligkeit des Soseins der eigenen Existenz, [in] der Dialektik mit dem Nichtich« (PT II: 236) zu transzendieren. Mimetisch-metaphysisch ist die Bewegung auch darum, weil sie sich in Freiheit vollzieht, d.h. ohne sachfremde Interessen zum Gegenstand hinbewegt und sich in diesen versinkt. Diese Konstellation von Affizierung, Entäußerung und Versenkung in den Gegenstand beschreibt Adorno in der Vorlesung über Ästhetik als Moment des Überwältigtwerdens und Moment des Durchbruchs: »Wenn ich also auf die eigene Erfahrung mich hier noch einmal beziehen darf, dann will es mir so vorkommen, als ob in der eigentlichen künstlerischen Erfahrung, wo sie genuin ist, wo die Beziehung zu dem Kunstwerk aufs äußerste intensiviert ist, wo man – man könnte fast sagen: in dem Puls, in dem Rhythmus des eigenen Lebens ganz und gar eins wird mit dem Leben des Kunstwerks, wo man darin aufgeht, daß es dann Augenblicke des Durchbruchs gibt – es können zufällige Augenblicke sei, es können aber auch die höchsten und intensivsten Augenblicke eines Kunstwerks sein –, in denen jenes Gefühl des Herausgehobenseins, jenes Gefühl […] der Transzendenz gegenüber dem bloßen Dasein, sich intensiv zusammendrängt, sich aktualisiert, und in denen es uns vorkommt, als ob das absolut Vermittelte, nämlich eben jene Idee des Befreitseins, doch ein Unmittelbares wäre, wo wir glauben sie unmittelbar greifen zu können. Diese Augenblicke sind die höchsten wohl und die entscheidenden, deren die künstlerische Erfahrung überhaupt mächtig ist. […] Aber merkwürdigerweise sind nun gerade diese Augenblicke, in denen […] der Geist des Kunstwerks oder seine Bedeutung sich aktualisiert und so ist, als ob wir sie unmittelbar, fast körperhaft an uns selbst erführen, diese Augenblicke sind solche […] des Überwältigtwerdens, der Selbstvergessenheit, eigent-
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lich der Auslöschung des Subjekts […]. Es ist dann so, wie wenn in diesem Augenblick – man könnte sie die Augenblicke des Weinens nennen – das Subjekt sich selber auslöscht und sein Glück hat an dieser Auslöschung.« (VÄ: 196; Herv. rb) In dieser Passage verdichtet sich die zweite Paradoxie, nämlich die Erfahrung des Überwältigtwerdens als eine Erfahrung der Versöhnung. Wie gehen Versöhnung, die das Bild hamonisierter und ruhiger Verhältnisse transportiert, und Überwältigung als Prozess absoluter Unruhe zusammen? Versöhnung wird hier weder ursprungsphilosophisch als »Rückkunft zu etwas, was irgendwann einmal gewesen sein soll« (ebd.: 84), noch im geschichtsphilosophischen Sinn als Telos der Geschichte betrachtet, sondern auf subjektive Erfahrung beschränkt. Die subjektive Erfahrung von Versöhnung bewegt sich an der Schnittstelle von Unfreiheit und Befreiung. Gerade weil es Unfreiheit gibt, ist Freiheit möglich und – das ist die naturgeschichtliche Pointe des Freiheitsbegriffs bei Adorno – gerade, weil es Freiheit nur als Augenblick in der Unfreiheit gibt, ist sie nicht fixierbar. Erkenntnistheoretisch gilt die Dialektik der Freiheit sowohl aufgrund der Abhängigkeit der Erfahrung von einem Objekt: was subjektiv als reiner Selbstverlust erfahren wird, ist immer objektiv vermittelt. Sie gilt aber auch im Zusammenhang mit der metaphysischen Erfahrung des Wartens. Diese Unfreiheit des Wartens nimmt in einem doppelten Sinne Bezug auf die Affizierung: es ist nämlich nicht nur Warten auf die ›occasio‹ (Casale), sondern auch das Erwarten einer Antwort auf die Frage, ob es trotz Verdinglichung und Verhärtung überhaupt noch möglich ist, ästhetisch und geistig berührt werden zu können. Um mimetische Erfahrung und Objektvorrang zusammendenken zu können bzw. um mimetische Erfahrung als zwangsfreien Objektbezug verwirklichen zu können, muss das Subjekt sich vom Objekt berühren lassen können. Die Berührung des Subjekts durch das Objekt setzt – zunächst ganz formal beschrieben – die »Ähnlichkeit von Subjekt und Objekt als Bedingung der Erkenntnis« (ME: 147) voraus: »Der griechische Streit, ob Ähnliches oder Unähnliches erkenne, wäre allein dialektisch zu schlichten. Gelangt in der These, nur Ähnliches sei dazu fähig, das untilgbare Moment von Mimesis in aller Erkenntnis und aller menschlichen Praxis zum Bewusstsein, so wird solches Bewusstsein zur Unwahrheit, wenn die Affinität in ihrer Untilgbarkeit zugleich unendlich weit weg, positiv sich selbst setzt. In Erkenntnistheorie resultiert daraus unausweichlich die falsche Konsequenz, Objekt sei Subjekt. Traditionelle Philosophie wähnt, das Unähnliche zu erkennen, indem sie es sich ähnlich macht, während sie damit eigentlich nur sich selbst erkennt.« (ND: 153) Die epistemologische Pointe jenes griechischen Streits besteht darin, dass die idealistische Erkenntnistheorie diesen Streit dadurch zu schlichten versucht hat, dass sie ihn erst gar nicht austrägt, sondern durch eine andere These ersetzt, nämlich die Identität zwischen Subjekt und Objekt. Mit der Wendung zum Mimesisbegriff betont Adorno die Relevanz der Affinität in der Erkenntnistheorie. Dabei argumentiert er immanent, d.h. Ähnlichkeit wird nicht als Antithese zur Identität, sondern als das andere in der Identität bestimmt.
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Die Betonung der Immanenz des Mimetischen hat geschichtsphilosophische Gründe, von denen das bereits erwähnte, idiosynkratische Element ästhetischer Erfahrung eines ist. Ein weiteres Element führt abermals an den ›Ursprung‹ der »Trennung von Subjekt und Objekt« (SO: 742) zurück, diesmal im Kontext einer immanente Kritik an der Fixierung ihrer Differenz und ihrer identitätsphilosophischen Folgen: »Einmal radikal vom Objekt getrennt, reduziert Subjekt bereits das Objekt auf sich; Subjekt verschlingt Objekt, indem es vergißt, wie sehr es selber Objekt ist. Das Bild eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt aber ist romantisch; zuzeiten Projektion der Sehnsucht, heute nur noch Lüge. Ungeschiedenheit, ehe das Subjekt sich bildete, war der Schrecken des blinden Naturzusammenhangs, der Mythos; […]. Übrigens ist Ungeschiedenheit nicht Einheit; […]. Wäre Spekulation über den Stand des Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. An [Stelle objektiver Kommunikation] wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.« (Ebd.: 742f.) Die Passage thematisiert drei verschiedene Formen der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, denen drei naturgeschichtliche Wegmarken entsprechen: Die Differenzlosigkeit der archaischen Vorgeschichte; die vorgeschichtliche Moderne, die sich auszeichnet durch eine Dialektik zwischen der Trennung von Subjekt und Objekt – ohne die Naturbeherrschung nicht möglich wäre – und die bis zur Unmittelbarkeit reichende Anpassung an zweite Natur; und die Vorstellung einer Versöhnung, die nicht vorgibt, dass »es die Differenz von Subjekt und Objekt nicht gegeben hat« (VÄ: 84), sondern die sich »rückbezieht auf einen Zustand in dem das Verhältnis der Ähnlichkeit und damit der Verwandtschaft zwischen Subjekt und Objekt geherrscht hat, anstelle jener antithetischen Trennung der beiden Momente« (ebd.)61 . 61
Für Adorno ist die Vorstellung einer Versöhnung mit der Natur bzw. einer »angstfreien Teilhabe des Subjekts an der Natur« (Duckheim 2014: 162) konstitutiv verknüpft mit der Erfahrung von Geborgenheit und Glück. Adorno versinnbildlicht diese Möglichkeit wie folgt: »Ob einer glücklich ist, kann er dem Winde anhören. Dieser mahnt den Unglücklichen an die Zerbrechlichkeit seines Hauses und jagt ihn aus leichtem Schlaf und heftigem Traum. Dem Glücklichen singt er das Lied seines Geborgenseins: sein wütendes Pfeifen meldet, daß er keine Macht mehr hat über ihn.« (MM: 54) An anderer Stelle werden Glück und Mutterleib assoziiert: »Ja Glück ist nichts anderes als Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, daß er es ist. […] Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich. Das einzige Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus« (Ebd.: 124; Herv. rb). Die Analogie von Unmittelbarkeit und Glück mit der Geborgenheit im Leib der Mutter ist nicht zufällig. Vielmehr verweisen sie auf eine für Adorno besondere Quelle des Glücks. Immer wieder rekurriert Adorno in seinen Texten, Vorträgen und Vorlesungen auf die »Erinnerungsspuren der Kindheit« (GS 13: 287). Augenfällig werden die Vergleiche in den Musikinterpretationen, zu deren deutender Bebilderung er stets auf Analogisierungen mit Kindheitserfahrungen zurückgreift. Etwa in der Monographie über Mahler: »Mütterlich fährt Mahlers Musik denen, welchen sie sich zuwendet, über die Haare.« (Ebd.: 177) Oder die These, in der Musik »dämmert über Äonen
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Zum Zweck, nicht selbst unter die Kritik an der romantischen Projektion in die Vergangenheit zu fallen, unternimmt Adorno eine spekulative Anstrengung, die Möglichkeit der Versöhnung im ästhetischen Verhalten zu vergegenwärtigen. Die Möglichkeit basiert geschichtlich auf der angedeuteten Affinität zwischen Subjekt und Objekt, die der Vorgeschichte der Naturbeherrschung entspringt. Sie kann also weder empirisch festgestellt noch begrifflich identifiziert werden. Um sie zu verstehen, muss man sie am Leitfaden der geschichtsphilosophischen Programmatik der Dialektik der Aufklärung, durchleuchten. Das »Eingedenken der Natur im Subjekt« (DdA: 59) fördert die Affinität von Natur und Subjekt als Erinnerung an die archaische Mimesis hervor (vgl. Schmid Noerr 1990; Vogt 2008). Hierbei handelt es sich um eine Fortbestimmung der Überlegungen zur idiosynkratischen Reaktion und deren Moment einer archaischen, noch »unbeherrschten Mimesis« (DdA: 212; Herv. rb). Archaische Mimesis ist die unmittelbare »Angleichung an die umgebende unbewegte Natur« (ebd.) und damit ein primär körperliches Verhalten. An dem gattungsgeschichtlichen Umbruch vom »schreckhaften Erstarren« (Bovenschen 2000: 82) zur Mimesis zeigt sich, dass das »Moment des nicht ganz Erfaßten, […] der unmittelbaren Kundgabe der Regung, einen außerordentlich langen und schwierigen Prozeß durchgemacht hat, bis es eben dazu fähig geworden ist, überhaupt sich manifestieren zu können« (VÄ: 106). Gerade weil der Prozess bis zu jenem Punkt, an dem spontane Regungen überhaupt als Differenzmoment bzw. als Nichtidentisches erfahrbar werden konnten, lang und schwierig war, verbleibt es als »mimetisches Residuum, also ein Moment, das noch übrig ist aus der sonst gebändigten Natur« (ebd.: 81). Es erinnert daran, dass wahrer Fortschritt noch nicht stattgefunden hat und wahrscheinlich auch nicht stattfinden kann62 . Dagegen folgt das Prinzip der Naturbeherrschung einer andere Fortschrittsgeschichte: Dass überhaupt über die Affinität zwischen dem somatischen Impuls und Bewusstsein nachgedacht werden kann, ist Resultat der Substitution jener archaisch unbeherrschten Mimesis durch das Prinzip der Rationalität:
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die Sprache auf, die man als Kind verstand« (ebd.: 205). Erfahrungen, die Adorno in dem autobiographischen Aufsatz Amorbach formuliert, treten in der Negativen Dialektik an den Stellen auf, wo es darum geht das Modell der Kindheit als Fundament metaphysischer Erfahrung zu plausibilisieren. Dort heißt es: »Was metaphysische Erfahrung sei, wird […] am ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück, etwa, das Namen von Dörfern wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn. […] Dem Kindt ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung. […] Er haftet am Versprechen des Glücks, während die Welt, […] es verweigert […]. Glück, das einzige an Metaphysischer Erfahrung, das mehr ist denn ohnmächtiges Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes. Wer indessen an derlei Erfahrung sich erlabt, als hielte er in Händen, was sie suggeriert, erliegt Bedingungen empirischer Welt, über die er hinaus will, und die ihm doch die Möglichkeit dazu allein beistellen.« (ND: 367) So wird die Idealisierung der individuell erfahrenen Kindheit, »die kindliche Wahrnehmung und die kindlichen Formen der Authentizität« (Eichel 1993: 212) zum Ankerpunkt und Faden von (Musik-)Philosophie und Ästhetischer Theorie. Oder »daß der Weg, den die Menschheit etwa finden mag in ein Reich der Freiheit – also in ein Reich, in dem Unterdrückung und Gewalt, gegen die Menschen und gegen die Natur, gleichermaßen, endlich einmal aufhören – […] nur dadurch [herzustellen wären], daß die Menschen die Natur nur soweit beherrschen lernen, daß sie nun nicht länger ihr blind hörig sind.« (VÄ: 84)
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»In der Verhärtung [gegen die archaische Mimesis] ist das Ich geschmiedet worden. Durch seine Konstitution vollzieht sich der Übergang von reflektorischer Mimesis zu beherrschter Natur. An Stelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt die ›Rekognition im Begriff‹, die Befassung des Verschiedenen unter Gleiches. Die Konstellation aber, unter der Gleichheit sich herstellt, die unmittelbare der Mimesis wie die vermittelte der Synthesis, die Angleichung ans Ding m blinden Vollzug des Lebens wie die Vergleichung des Verdinglichten in der wissenschaftlichen Begriffsbildung, bleibt die des Schreckens.« (DdA: 213) Der Gegensatz zwischen Mimesis und Rationalität ist in Adornos Augen eher scheinhaft. De facto zeigt sich im Gebrauch des begrifflichen Werkzeugs eine zwar rational erscheinende Form der Bezugnahme auf das Gegebene, die bei genauerer Betrachtung jedoch Tendenzen unbeherrschter Mimesis fortsetzt. Dass archaische Mimesis und Synthese in gewissem Sinne »derselben Schreckenskonstellation zugeschrieben« (Bovenschen 2000: 84) werden können, weil sich in beiden Fällen ein Verhältnis von Gleichmachung von Ungleichem ergibt, hat zur Folge, dass ihr Unterschied erst dann zutage tritt, wenn man beide Möglichkeiten im Horizont der Fortschrittsgeschichte von Naturbeherrschung betrachtet. Erst in diesem Licht besehen, tritt an die Stelle »der alten mimetischen Verhaltensweise eine fortschreitende Entfremdung von der Natur; und […] anstelle der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches tritt immer mehr das Motiv der Erkenntnis des Gleichen durch Ungleiches« (VÄ: 79). Im Zuge der Durchsetzung des rationalistischen Paradigmas kommt es zu einer entscheidenden Verschiebung. An die Stelle des mimetischen Verhaltens, das die Affinität zwischen Natur und ihrem Anderen betont, treten instrumentelle Vernunft und die Vorstellung einer grundlegenden Differenz zwischen Subjekt und Objekt. Dabei verschwindet die mimetische Verhaltensweise nicht, sondern setzt sich in modifizierter Weise in der ästhetischen Erfahrung fort. Wie gesehen ist der somatische Impuls in einem aktiven Sinn »Erinnerung an das Unterdrückte, an das, was Opfer wird, auch der Erinnerung an all das an innermenschlichen Kräften, was durch diesen Prozeß der fortschreitenden Rationalisierung in den Menschen zerstört wird« (ebd.: 79). Ästhetische Erfahrung nimmt hierbei eine Art Sonderstellung ein, da sie auch »Zuflucht des mimetischen Verhaltens« (ÄT: 86) ist. »Hat die ästhetische Verhaltensweise, früher als alle Objektivationen, sich aber sei’s noch so unbestimmt von den magischen Praktiken einmal gesondert, so eignet ihr seitdem etwas vom Überrest, wie wenn die in die biologische Schicht zurückreichende, funktionslos gewordene Mimesis als eingeschliffene festgehalten wird.« (ÄT: 482) Adorno beschreibt den Zusammenhang zwischen Impuls und Form so, dass in der ästhetischen Mimesis der Unterschied zwischen der mimetischen Bewegung und dem Modus der Naturbeherrschung, zwischen der Praxis, »sich selber zu der Sache zu machen oder [andererseits] die Sache zu einem selber zu machen, die einem gegenüber steht« (ebd.: 70), als geschichtliche Differenz deutlich wird. Der Unterdrückung der Natur durch Rationalität vorangehend hat sich der somatische Impuls in der mimetischen Verhaltensweise zwar so weit formalisiert, dass die Einzelnen der Natur nicht mehr blind ausgeliefert sind, aber der geistige Zusammenhang die Verwandtschaft mit
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der Natur noch nicht verdrängt hat. Mimetisches Verhalten zu den Gegenständen hat bei Adorno nicht nur eine passive Struktur, die »gegenüber diesem rationalen Verfahren das mimetische Verfahren, dieses Archaische, dieses Ältere festhält« (ebd.: 69). Es ist gleichzeitig mit einer aktiven Verhaltensweise verbunden – dem Ausdruck.
3.3.2
Im Schatten des Begriffs63
Die grundlegende Sublimierung der archaischen Mimesis in der ästhetischen Mimesis zeigt, dass somatischer Impuls und Rationalität einander in erkenntnistheoretischer Hinsicht bedingen. In diese Richtung weist die Auffassung mimetischen Verhaltens als Ausdruck lebendiger und geistiger Erfahrung64 . Der Begriff des Ausdrucks beschreibt das vormals in erster Linie passivisch gedeutete Verhalten von Affizierung und Selbstvergessenheit als Manifestationen subjektiver Aktivität an der Schnittstelle von Sinnlichkeit, Passivität und Spontaneität65 . Letzteres bezieht sich vor allem auf die Verweisungs- und Darstellungsfunktion des Ausdrucks. Die expressive Rezeption ist passiv, weil das Rezeptionsgeschehen, welches das Subjekt affiziert und das es somatisch-impulshaft erfährt, dem intentionalen Zugriff entzogen ist. Sie ist aber zugleich auch aktiv in dem Sinn, dass der unmittelbare Ausdrucksmoment als »unverstellt leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata« (PM: 44; Herv. rb) das erkenntnistheoretische Korsett der rationalen Form durchbricht und als Ausdruck zur Erscheinung gebracht werden kann. Darum ist der Ausdruck, »auch wenn [der Vorrang der Form sowie der Vorrang des Objekts] das bestreite[n], subjektivistisch« (ND: 184; Herv. rb). Unter dieser Voraussetzung liegt die Unmittelbarkeit des Ausdrucks weder in seinem Voraus noch in seiner Konsequenz. Sie liegt in dem Prozess des Ausdrückens selbst. Man könnte so weit gehen und sagen, dass gerade der Umstand, subjektivistisch und prozedural zu sein, den Vorrang des Objekts in doppelter Weise erfüllt. Dies trifft dann zu, wenn Vorrang des Objekts nicht nur bedeutet, Philosophie auf das Gewordensein der objektiven Gehalte zu zentrieren, sondern auch heißt, den »Anspruch des materiellen Körpers« (Whitebook 2009: 73) konsequent gegenüber seiner gesellschaftlichen und symbolischen Überformung geltend zu machen. Damit weist der Ausdruck in spezifischer Weise zurück auf die erkenntnistheoretische Ausbuchstabierung des Somatischen. Im Begriff des Ausdrucks wird nun eine weitere Komponente dieses Unterfangens thematisch. Diese Komponente bestimmt das Soma als konstitutives Moment ästhetischer
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Die Überschrift dieses Kapitels ist inspiriert von Jens Bonnemanns (1997) Text Licht und Schatten der Begriffe Zwischen Sozialkonstruktivismus und Mythos des Gegebenen: Adorno mit Merleau-Ponty. Den Begriff des Ausdrucks als wesentliches Merkmal ästhetischer Erfahrung stellt auch Volker Schmidts (1997) Adorno-Lektüre heraus. Er ist zentrales Element der »gegen die Dominanz der instrumentellen Rationalität gerichtete[n] Idee der ästhetischen Form als einer zwanglosen Synthesis des Zerstreuten […] [, die] von einem mimetisch-expressiven Element durchsetzt wird« (ebd.: 195). Als zweite Bedeutungskomponente des Ausdrucks arbeitet Schmidt heraus, »daß sich darin leibgebundene, sogenannte mimetische Verhaltensweisen materialisieren« (ebd.). Im Sinne der Dialektik des Ausdrucks »überdauert [der passive Moment], weil im Subjekt jene Urgeschichte überlebt. Es fängt in aller Geschichte immer wieder von vorne an. Nur das Subjekt taugt als Instrument des Ausdrucks, wie sehr es auch, das sich unmittelbar wähnt, selber ein Vermitteltes ist.« (ÄT: 172)
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
und geistiger Gestaltungskraft. Die »Kraft des Subjekts« (ND: 165) schließt – »im engen Kontakt mit den tiefsten Schichten der menschlichen Seele« (Whitebook 2009: 61) – das Moment der ästhetischen Produktivität ein. Die Produktivität des Ausdrucksmoment agiert an der Schwelle zwischen dem Augenblick der Selbstvergessenheit des Subjekts an den Gegenstand sowie dem Moment, in dem es seinem »Ausdrucksdrang« (ND: 29; Herv. rb) folgt, die gegenständliche Immanenz produktiv überschreitet und etwas zur Darstellung bringt. Das zur Darstellung gebrachte folgt jedoch keiner schlichten Repräsentationslogik, sondern ist Resultat einer subjektiv erfahrenen Dialektik von Erfahrung, somatischem Impuls und Entäußerung einerseits und Darstellung bzw. Verobjektivierung andererseits. Ausdruck, verstanden als Prozess, in dem menschliche Produktivität sich in der Wirkung, die sie erzeugt, manifestiert, wird damit zum wichtigen Vehikel der Überschreitung. Die subjektive Gestaltungskraft, bricht sich rezeptiv und formend Bahn, ist geistig und somatisch in eins und lässt sich darum nicht »stillschweigend messen an der Rationalität« (LGF: 325). Ausdruck hebt das »logische Recht, das trotz allem in jedem [auch assoziativen] Gedanken sich geltend macht« (ÄT: 91), nicht auf. Jedoch wird durch sie eine Zäsur in der Vermittlung selbst sichtbar. Die Zäsur negiert nicht die Vorstellung, dass die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts Gesetzen folgt, die dessen physische und psychische Möglichkeiten überschreiten, sondern dass die Erkenntnisfähigkeit bloß nach in sich unbedingten Gesetzen der Logik strukturiert gedacht wird66 . Darum gelte es, die »Tendenz der synthetisierenden Akte umzuwenden, indem sie auch auf das sich besinnen, was sie dem Vielen antun. Einheit allein transzendiert Einheit. An ihr hat die Affinität ihr Lebensrecht, welche durch fortschreitende Einheit zurückgedrängt wurde« (ND: 160f.)67 . Der vorausgehende Abschnitt hat Affinität als nichtbegriffliche, mime66
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Dies würde auf eine »Sabotage der Gedanken heraus[laufen]« (MM: 90). Die Idee des sabotierten Gedankens erörtert Adorno in dem AphorismusLücken am Phänomen der intellektuellen Redlichkeit und deren Maßstab der lückenlosen Darstellung. Diese folge nicht nur der »liberalen Fiktion der beliebigen, allgemeinen Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens und hemmt dessen sachlich angemessenen Ausdruck, sondern ist falsch auch als Prinzip der Darstellung selber« (ebd.). Nicht nur gerät das an den Normen der Transparenz und Objektivität orientiert Denken dann in Widerspruch zu sich selbst, wenn es versucht, »ängstlich jeden Schritt bruchlos nachzuzeichnen« (ebd.: 90; Herv. rb), sondern ist bereits in sich widersprüchlich verfasst. Die Gleichsetzung von Denken und Darstellen verhindert de facto, dass überhaupt gedacht wird, weil ja immer schon dargestellt wird. Den Gedanken zu sabotieren, bedeutet also seine Möglichkeiten, die Adorno zufolge darin bestehen, einen Überschuss zu produzieren, von vornherein zu unterdrücken. Zwar ist die Darstellung auch eine Produktivkraft, aber eine solche des »Banalen und der Langeweile, die sich nur auf die Spannung bei der Lektüre, sondern auf ihre eigene Substanz bezieht« (ebd.: 90). Weder stellt Adorno damit dem Darstellungsprinzip bloß ein anders geartetes Prinzip gegenüber, noch ist aus der Bestimmung der Intransparenz als einer Bedingung des Überschusses die Schlussfolgerung zu ziehen, logische Gesetze schlechterdings zu negieren. Vielmehr geht es darum, dessen immanente Spannung zwischen Transparenz und logischem Gesetz einerseits und Undurchsichtigkeit und »Unzulänglichkeit« (ebd.) des Gedankens andererseits einsichtig zu machen. Die Transzendierung der Einheit durch Einheit entspricht der Wendung vom Primat der einheitsstiftenden Subjektivität zum Vorrang objektiver Einheit: »So befangen deren Postulat ist in der Präsupposition der Identität alles Seienden mit dem erkennenden Prinzip, so legitim erinnert andererseits jenes Postulat, […], an die Affinität der Gegenstände zueinander […]. Das, worin die Ge-
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tische Weise der subjektiven Beziehung zu einem Gegenstand als eines der Momente der ästhetischen Erfahrung bestimmt. Ein anderes Moment ist der Ausdruck. Der Ausdruck versucht auf dem Weg zwangloser Synthesis die Erfahrung des Gegenstandes sprachlich zur Darstellung zu bringen. Dabei lässt sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine interessante Zwiespältigkeit erkennen: Der Ausdruck hat die Funktion, die Lücke zwischen Gegenstand und Erkennendem sprachlich zu schließen. Er schließt damit eine Lücke, die bereits in einem vorhergehenden Augenblick durch Affizierung und Mimesis geschlossen wurde. Das doppelte Schließen der Lücke markiert einen entscheidenden Schritt in Richtung des Ziels, den Wahrheitsanspruch von Erkenntnis, also das Ansinnen begrifflicher Urteile, geltend zu machen. Affinität ist jedoch nicht Identität. Weil Mimesis und Ausdruck die Lücke nicht schließen, sondern lediglich überbrücken können, schaut jede Darstellung eines Gegenstandes – um in dem Bild zu bleiben – auf der Brücke stehend auf einen Grund, der sich aus Sicht begrifflicher »Selbstheit« (ebd.: 164) als Abgrund herausstellt. Jede Erkenntnis entspringt in gleichursprünglicher Weise der begrifflichen Fähigkeit und der unbegrifflichen Erfahrung (vgl. Kern 2006: 55). Die Notwendigkeit der Gleichursprünglichkeit ist der Erfahrung geschuldet, dass man es nur dann mit einer Erkenntnis zu tun hat, wenn die Deutung des Gegebenen aktualisiert wird, die Aktualisierung aber nicht vom identifizierenden Begriff geleistet werden kann. Was den Grund zum Abgrund werden lässt, ist somatisch charakterisiert. Mit der somatischen Charakterisierung unbegrifflicher Erfahrung verbindet Adorno die Tatsache, dass Erkenntnisprozesse nach einem »Anstoß von außen« (ND: 183) durch somatische Impulse und Regungen in Gang gesetzt werden. Die somatische Dimension der Affizierung setzt sich in der mimetischen, nicht-begrifflichen Verhaltensweise der Erkenntnis fort, die Adorno als sinnliche Empfindungsfähigkeit auffasst: »Ein Objekt zu empfinden, heißt nach dieser Lesart folglich, durch eine Zurückhaltung der begrifflichen Fähigkeiten, über die man verfügt, in einem unbegrifflichen Verhältnis zu einem Objekt zu stehen, dessen Vorliegen einem zugleich bewußt ist. In dieser Verknüpfung von bewußt und unbegrifflich liegt die Pointe von Adornos Begriff der ›Empfindung‹: Empfindung meint nicht unbewußte Erfahrung, sondern durch die Zurückhaltung der Begriffe bewußt vollzogene ›somatische‹ Erfahrung des Objekts [ND: 193]. Die Idee einer solchen Erfahrung des Objekts soll die Unabhängigkeit des Objekts retten, weil sie eine Erfahrung beschreiben soll, deren Vollzug zwar von Begriffen abhängig ist, nicht jedoch ihr Inhalt. […] Der Begriff der Erkenntnis bezeichnet daher, so die erkenntnistheoretische Konsequenz, ein aporetisches Ideal: Es verlangt, daß ein Urteil in einer unbegrifflichen Erfahrung gründet, damit es eine Erkenntnis sein kann. Denn nur dann kann es in dem Objekt, über das es urteilt, sein Maß haben. Doch die genstände kommunizieren, anstatt dass jeder das Atom wäre, zu dem die klassifikatorische Logik ihn zurichtet, ist Spur der Bestimmtheit der Objekte an sich, die Kant leugnete […]. Eine Sache selbst begreifen, nicht sie bloß einpassen, […] ist nichts anderes, als das Einzelmoment in seinem immanenten Zusammenhang mit anderen gewahren.« (ND: 36) Was Adorno hier als die ›Sache selbst begreifen‹ bezeichnet, hat die Bedeutung der Assoziation bereits in sich aufgenommen, insofern sie das Vermögen beschreibt, das Einzelne nach Maßgabe des Objekts zu verknüpfen, nicht nach dem Willen der Form zu synthetisieren.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Erfüllung genau dieser Bedingung macht es zugleich unmöglich, daß ein Urteil eine Erkenntnis sein kann. Denn eine unbegriffliche Erfahrung ist nicht in der Lage, ein Urteil als wahr auszuweisen. […] [D]ann bedeutet dies, daß ein Subjekt für kein einziges Urteil, das es fällt, die Gewähr übernehmen kann, daß es wahr ist.« (Kern 2006: 57f.) Andrea Kerns Interpretation trifft ins Zentrum der von Adorno entfalteten »Aporie des Erkennens« (ND: 397; vgl. Menke 1991: 250-277). Darin aufgehoben ist die für das Nachdenken Adornos grundlegende Frage danach, ob und wenn ja, auf welche Weise die besondere, nicht-begriffliche Erfahrung einzelner Individuen überhaupt Objektivität beanspruchen können. Die zunächst naheliegende und notwendige Antwort verweist auf den Vorrang des Objekts. Empfindungen können in begriffliche Erkenntnisse münden, weil jene bereits die Form des Gegenstandes er-, jedoch noch nicht begriffen haben. Um das bereits verwandte Bild wieder aufzugreifen: Zwischen dem Abgrund und der Brücke besteht ein dialektischer Zusammenhang. Denn ohne den affirmativen Zug zum objektiven Gehalt des Gegenstandes, den man immer zunächst nicht anders als sinnlicherfahren kann, gibt es auch keine Notwendigkeit des Begriffs. Sprache ist das Material, aus dem die Brücke gebaut ist, und der Ausdruck das Medium, das sie baut. Ausdruck ist eine Weise der sprachlichen Darstellung, die sich dem objektiven Gehalt des Gegenstands nähert, ohne dass das Gesagte, schon den Anspruch eines auf Wahrheit zielenden Urteils erhebt. Grund hierfür ist, dass der Ausdruck nicht nur den Gegenstand zur Erscheinung bringen möchte, sondern auch, dass die Sprache, die ausdrückt, eine »nichtbegriffliche Sprache« (ÄT: 121) ist. Dieser Umstand ermöglicht es, dem eigenen Anspruch, sich dem sprachlich vermittelten oder sprachähnlichen »Objekt, der Sache selbst, rein, vorbehaltlos zu überlassen« (ND: 189), überhaupt gerecht werden zu können. Im sprachlichen Ausdruck treten zwei Momente spannungsvoll zusammen: Er ist immer Zeichen, das auf den Impuls in der Erscheinung verweist, indem der Ausgangsimpuls nur noch negativ vorhanden ist, denn er ist jetzt sprachlich vermittelt (vgl. Szukala 1988: 101). Die andere Seite der Zweideutigkeit von somatischem Impuls und Ausdruck entspricht der Struktur nach dem allegorischen Zeichen, das versucht, die Antinomie zwischen sinnlichem Zeichen und Bedeutung zu schlichten. Das Dritte, das zwischen diesen beiden Momenten vermittelt ist die Assoziation. Assoziation ist ein entscheidender Aspekt der ästhetischen Antwort auf die Frage nach den Grenzen begrifflicher Erkenntnis. Sie ist eine Erscheinungsform der Vermittlung, die, berührt durch einen sinnlich erfassten Gegenstand, diesen mit vorgeformten Erinnerungen, affektiven Vorgängen und sedimentiertem Wissen in gewissem Sinn unwillentlich zu Vorstellungsnetzen verknüpft. In den Vorstellungsnetzen haben jene somatischen Impulse, die den Anstoß zum Erkenntnisprozess gegeben haben, Dasein gewonnen, ohne sichtbar zu sein. Die Impulse sind das nichtidentische Moment in der Assoziation, die versucht, die sinnliche Erfahrung des Gegenstandes einer begrifflichen Konstellation des Gegenstandes anzunähern. Durch die Trennung der assoziativen Fähigkeit von der Konstitutionsmacht der Identitäts- und Syntheselogik enthält sie in sich die Möglichkeit einer anderen Form von Erkenntnis. Aus der Perspektive einer kritisch festgehaltenen Rationalität bilden Affinität und Assoziation ein Verhältnis, welches zugleich als »Korrektiv der subjektiven Reduktion [fungiert], nicht [jedoch damit auch] die Verleugnung ei-
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nes subjektiven Anteils« (SO: 747) impliziert (vgl. Powell 1998). Sie ist eine »Leistung der spontanen Subjektivität« (GS 11: 440), die wie gesehen, somatisch und geistig zugleich ist. Versteht man den Körper als »Assoziationszentrum« (Kluge) lässt sich damit also eine Form der Synthese beschreiben, in der das Soma eine, über die Sprache vermittelt, erkenntnistheoretisch aktive Rolle einnimmt. Diese subjektive Aktivität ist von der synthetisierenden und urteilskonstituierenden Leistung des Begriffs verschieden und dennoch in einem erweiterten Sinn Ausweis körperlicher Urteilsfähigkeit, in der auch, Adorno zitierend, »etwas von der Kraft der Stringenz [stecke], welche in Logik und Musik die Schlüsse unmittelbar beanspruchen« (ÄT: 432)68 . Insofern ist der Zusammenhang, den der Ausdruck in der Assoziation stiftet zwar alogisch, weil er keiner kausallogischen und begrifflichen Struktur folgt, aber dennoch geformt. Die Formung weist auf subjektiver Seite zurück auf die bereits ausgeleuchtete Spontaneität von Impuls und Phantasie, auf objektiver Seite auf Sprache und Theorie. Assoziationen sind Synthesen objektiver Erfahrungen, die sich im Schatten von Begriff und Rationalität in einem »Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen, kurz in der dichten, fundierten, aber keineswegs an allen Stellen transparenten Erfahrung« (MM: 90) vollziehen. Eher »indirekt, verdunkelt spielen logische Kategorien hinein […] und erheben sie über die Kontingenz bloßen Einfalls« (ÄT: 432f.). Versteht man die Assoziation nicht als etwas der Rationalität ganz Äußerliches sondern als ein ihr Fremdes und zugleich auf sie Bezogenes, dann beschreibt sie analog zur Kunst so etwas wie eine »Sondersphäre« (VÄ: 83), um dem, was »nicht ratio ist, zur Stimme zu verhelfen« (ebd.: 84). Gegenüber der Reduktion von Form auf Rationalität stellt die Assoziation die Möglichkeit dar, die Lebendigkeit der Erfahrung in die Form hineinzunehmen. Beides zusammengenommen, also das Übersetzungsvermögen der Assoziation sowie ihr Zweck, unterstreichen ihren Zug ins Ästhetische. Eichel (1993) zufolge führt das konstitutive ästhetische Moment der Assoziationsform in zwei Richtungen: »Zu denken wäre auf der einen Seite an intuitive, noch im Bereiche von Mimesis lokalisierbare Assoziationen, auf der anderen Seite an solche, die durch das implizite Netz theoretischer Erkenntnis hervorgerufen werden« (ebd.: 171). Ihre Interpretation verdichtet sich in der Bestimmung des Assoziationsprozesses als Herstellung einer Bilderwelt, »die sich als ästhetischer Subtext über die Gegenstände legt und mit dem philosophischen Wahrheitsbegriff, der Intersubjektivität von Erkenntnis« (ebd.: 23) in eine produktive Spannung gerate. Dabei komme eine »Eigendynamik bildhaften Denkens« (ebd.) zum Tragen, die wiederum »komponierte Sprachkunstwerk« (ebd.: 197) hervorbringt. Der Übergang von bildhaftem Denken zur Sprache entspricht nicht nur dem Übergang von der subjektiven Seite zur immanenten Objektivität der Assoziation, sondern bereitet auch die Voraussetzung vor, um quasi den letzten Schritt zu machen auf dem
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Entgegen der Annahme eines positivistischen Materialismus, das neuronale Verarbeitungszentrum transformiere auf rein physiologischer Ebene körperliche Reize in Reaktionen, entäußern sich im Ausdruck auch das einzelmenschliche, geschichtlich bedingte Bewusstsein, das die Spontaneität immer schon ist sowie die in transformierter Gestalt ausgedrückten Reize und Einwirkungen, ohne die es ein Ausdrucksgeschehen überhaupt nicht gäbe.
3 Wendung auf das Subjekt: Die Transzendentalität reicht an Spontaneität nicht heran
Weg von der subjektiven Erfahrung – somatischer Impuls, Widerstand und Versenkung in den Gegenstand – über die Verwandlung lebendiger Erinnerung in assoziativen Ausdruck hin zum objektiven Erfahrungsgehalt der Phänomene. Im Begriff der ›komponierten Sprachkunstwerke‹ sind zwei terminologische Wegpunkte benannt, die den Gedankengang vom Ausdruck zum objektiven Gehalt führen sollen: Sprache als Ort, wo Geschichte sich ereignet, ausdrückt, vermittelt und verstehbar wird und damit auch Bedingung, durch die der objektive Gehalt ergriffen werden kann; Komposition als Verfahren der Objektivierung und Durchbildung. Die immanente Logik dieses Gedankengangs speist sich aus dem Spannungsfeld, in dem sich das ganze Kapitel implizit bewegt. Die Kritik an der Verfügungsmacht der Vernunft führt zunächst weg vom Begriff bzw. der Begründung des autonomen begrifflichen Urteils in der intellektuellen Spontaneität und der Willensfreiheit hin zu einem Begriff von Freiheit, der dadurch auf Herrschaft verzichten kann, weil er Freiheit in die Erfahrung von somatischen Impulsen verlegt. »Die spontane Reaktion des Individuums ist aber kein Letztes und darum auch nicht der Garant verbindlicher Erkenntnis. Sogar vermeintlich extrem individuelle Reaktionsweisen sind vermittelt durch die Objektivität, auf die sie ansprechen, und müssten dieser Vermittlung um ihres eigenen Wahrheitsgehalts willen innewerden.« (GS 11: 394) Da aus den spontan-unwillkürlichen Reaktionsformen des Somatischen nicht unmittelbar so etwas wie verbindliche Erkenntnis folgt, bedurfte es der Ausarbeitung der Idee mimetischer Rationalität, die Adorno historisch und systematisch als ästhetische Erfahrung bestimmt. Entäußerung und mimetische Angleichung an das Objekt sowie die begriffslose Synthesis der Assoziationsform – zusammengenommen die »nicht-begriffliche Affinität […] zu seinem Anderen, nicht Gesetzten« (ÄT: 86) – fungieren als Bedingungen der Möglichkeit von Wissen. Ästhetische Erfahrung – also Mimesis, Ausdruck und Assoziation – versteht die Bedeutung des Erkenntnissubjekts qualitativ anders als die Konstitutionslehre Kants, hält aber an deren zentralen Kategorien und Begriffen fest. Nicht zuletzt an der begrifflichen Synthese, auf die objektive Erkenntnis nicht verzichten kann. Während in der Assoziation eine Vielfalt von Elementen an der Schwelle von Freiheit und Stringenz verknüpft werden, hat der philosophische Gedanke die Aufgabe, Spontaneität, begriffslose Synthesis und Geschichte zu konstellieren und ihren dialektischen Gehalt zu entschlüsseln.
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4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
4.1 4.1.1
Lebendige Erfahrung und Universität Bildungstheorie als Ideologiekritik der modernen Universität
Die Herausbildung des Bildungsbegriffs gehört in denjenigen geschichtlichen Prozess, in dem durch die Einsetzung einer spezifischen Form des Wissens und ihrer sozialen Verobjektivierung die bürgerliche Moderne entsteht1 . Der soziale Akt, mit dem sich der Bildungsbegriff in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht, ist die »institutionelle Verankerung der Bildung in der Universität bzw. […] die Realisierung durch die Wissenschaft« (Casale 2012: 134). In dem 1961 gehaltenen Vortrag Die Einheit von Forschung und Lehre unter den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. Und 20. Jahrhunderts erörtert Adorno den Zusammenhang zwischen der Entstehung des modernen Bildungsbegriffs und seiner Verobjektivierung in der universitären Einheit von Lehre und Forschung2 . Dabei wird die Analyse der erkenntnistheoretischen und sozialen Bedingungen, durch die, der Begriff gerechtfertigt wird, verkoppelt mit dem, was sich mit Casale als »Erforschung gesellschaftlicher und historischer Transformationen […] hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und/oder epistemologischen Legitimierung« (ebd.: 129) bestimmen
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»Bildung sowohl als Wort als auch als Phänomen ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, aber sie wird zum geschichtlichen Grundbegriff im Zusammenhang mit der Etablierung der kulturellen und politischen Hegemonie des Bürgertums. Sie bildet das kulturelle Selbstbewusstsein einer Klasse, die ihre Hegemonie im Sinne der Vertretung des Allgemeinen fasst. Das betrifft sowohl das bürgerliche Verständnis von Institutionen als sittlicher Konkretisierung der allgemeinen Interessen als auch seine Auffassung des Wissens als transzendentaler Synthesis der sinnlichen Erfahrungen.« (Casale 2016a: 30; Herv. i.O.) Der Fokus der Ausführungen des Vortrags liegt auf der ideologiekritischen Einholung der Bedingungen des Universitätsideals, der Einheit von Lehre und Forschung, die das widersprüchliche und krisenproduzierende Verhältnis zwischen Bildungsidee und Bildungsrealisierung zu bestimmen sucht, sowie auf dem kontrastierenden Vergleich mit der universitären Situation der 1950er und frühen 1960er Jahre.
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lässt. In Form einer dialektischen Kritik wechseln sich ideologiekritische Ausführungen über den Bildungsbegriff und die institutionellen Vermittlungsverhältnisse von Bildung ab mit Einwürfen einer gesellschaftskritischen Rekonstruktion von Halbbildung als empirischem Krisenphänomen der Universität. Adorno betrachtet die Etablierung der Universität als Institutionalisierung der idealistischen Auffassung von Bildung, deren Kerngedanke die Realisierung von Freiheit im Medium der Wissenschaft bildet (vgl. Casale 2016a): »Der Begriff der Bildung, wie er [vorausgesetzt war] […] in der großen Periode des deutschen Idealismus, also ungefähr in der Periode [, die] vom Erscheinen der ersten Ausgabe der ›Wissenschaftslehre‹ – das war wohl 1794 […] – bis zum Tode Hegels 1831 reicht, diese große Blütezeit der deutschen Universitäten hat ja erstaunlich kurz gedauert. […] Diese ganze Sphäre des Idealismus hat die Bildung vorausgesetzt in einem ganz spezifischen Sinn, wie er gewonnen war ursprünglich in der Kantischen Philosophie, […] nämlich die autonome, über ihr eigenes Schicksal, über ihr inneres und äußeres Schicksal entscheidende, mündige, selbstständige Person. Dieser Gedanke von Autonomie qua Mündigkeit ist von dem deutschen Idealismus nicht zu trennen, und […] der Begriff der Autonomie, der bei Kant ja noch relativ (choris) gegenüber der realen Gesellschaft ist, von Anfang an schon bei Fichte durchaus konkret auf die die gesellschaftliche Verwirklichung bezogen ist daß dabei unter dem autonomen Subjekt nicht mehr bloß das transzendentale Subjekt verstanden wird, sondern eigentlich eine Gesellschaft, die sich selber ihre Gesetze gibt.« (ELF: 267) Diese Lesart betont das begriffliche Ineinander von Bildung als normativer Idee allgemeiner Freiheit und der begriffsimmanenten Forderung zu ihrer gesellschaftlichen Realisierung. Adorno nimmt auf die Verschränkung ideologiekritisch Bezug. Bestimmt werden soll, inwiefern und aus welchem Grund bereits im Kern der Bildungsidee das Fundament für ihre Krise gelegt ist. Zurückgeführt wird die Krise auf den immanenten Widerspruch der Bildungsidee selbst und ihrer geschichtlichen Verselbstständigung. Adorno erläutert den antinomischen Charakter folgendermaßen: »Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch zugleich, bis heute, auf Strukturen einer dem je einzelnen heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag. Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall teleologisch gesetzt.« (THB: 104) Die Begriffe von Freiheit und Autonomie sind hier nicht synonym zu verstehen, sondern als begrifflicher Ausdruck von zwei unterschiedlichen Bedingungen der Realisierungen der Bildungsidee. Autonomie verweist auf die dich selbst begründende Form der Vernunft, aus der der praktische Vollzug begrifflicher Urteile abgeleitet werden kann. Freiheit geht über die bloße normative Bestimmung der intellektuellen Fähigkeiten hinaus und besagt, dass Freiheit sich nur verwirklichen könne, wenn die geschichtlichen Bedingungen ihrer Hervorbringung und Realisierung gegeben sind. Wie bei Hegel ist der Bildungsidee ihr objektiver Stellenwert durch die Geschichtsphilosophie vorgegeben und dies macht sie zum Bildungsbegriff.
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
Die Theorie der geschichtlichen Bildung unterliegt einer Dialektik, die die Versöhnung zwischen subjektivem und objektivem Geist genauso voraussetzt wie die Autonomie der Einzelnen und des Allgemeinen3 . Adorno spricht hier von einer »zirkularen Konzeption der Wirklichkeit« (ELF: 269), die davon ausgehe, dass »das, was hier als Bildung geschaffen werden soll, zugleich als ein Substantielles immer schon da sein soll« (ebd.). Weil sie objektiv bereits voraussetzt, was sie subjektiv hervorbringen soll, entsteht eine strukturelle Differenz, die die Idee zwangsläufig in konstitutive und institutionelle Nöte versetzt. Gerade weil die realgeschichtlichen Verhältnisse so verfasst sind, dass sie der Hervorbringung der für Bildung notwendigen intellektuellen Autonomie gesellschaftliche Grenzen setzt, kann sich Bildung nicht verwirklichen. Dass der Bildungsidee ihre notwendige Krise immanent ist, ist kein Zufall, sondern hat ihren weiteren Grund in der sozial motivierten, aber geschichtsphilosophisch verschleierten Gleichsetzung von Begriff und sozialer Wirklichkeit. Zurückgeführt werden kann die nachträglich eigeholte geschichtsphilosophische Legitimierung einer sozialen Entwicklung auf den Aufstieg des Bildungsbürgertums. Adorno interpretiert den Bildungsbegriff als intellektuellen Ausdruck eines »in einem sehr emphatischen Sinn philosophischen Elans […] der gesamten geistig emanzipierten Klasse in Deutschland, alles Wirkliche substantiell aus dem Geist heraus zu begreifen« (ebd.: 273). Der Begriff des Elans beschreibt den Zusammenhang, dass der deutsche Idealismus nicht nur eine Philosophie, sondern auch und insbesondere eine zur Idee erhobene kollektive Befreiungserfahrung einer zwar kleinen, aber qua ausgeprägter Homogenität wirkmächtigen Gruppe war. Die objektive Durchschlagskraft der Idee basiere daher in besonderem Maße auf der »Tatsache, daß in dieser produktivsten Zeit der deutschen Universität der Begriff der Bildung die Menschen so ergriffen hat, daß […] diese Menschen, […] eben doch getragen wurden von der Welle der bürgerlichen Emanzipation, des Aufschwungs […] und der Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft.« (Ebd.: 268) Jene geschichtliche Entwicklung beantwortet also die Frage, wie der Aufstieg der Bildungsidee zu einem objektiven Verhältnis sich als sozialer Akt der Befreiung vollziehen konnte. Dabei handelt es sich nach Adornos Verständnis in gewissem Sinn um einen Akt der Selbstbefreiung. Die Auffassung von der Selbstbefreiung basiert in erheblichem Maße darauf, die sozialen Konstitutionsbedingungen, die die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Kultur ermöglicht haben, zu negieren und die intellektuellen und
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In einer zentralen Passage der Vorrede der Phänomenologie des Geistes formuliert Hegel die Bedingung der Bildung als Identität von Subjekt und Substanz: »Es kommt […] alles darauf an, das Wahre nicht [nur] als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken. Zugleich ist zu bemerken, dass die Substantialität so sehr das Allgemeine oder die Unmittelbarkeit des Wissens selbst als auch diejenige, welche Sein oder Unmittelbarkeit für das Wissen ist, in sich schließt. – Wenn Gott als die eine Substanz zu fassen, das Zeitalter empörte, so lag teils der Grund hiervon in dem Instinkte, dass darin das Selbstbewusstsein nur untergegangen, nicht erhalten ist, teils aber ist das Gegenteil, welches das Denken als Denken festhält, die Allgemeinheit als solche, dieselbe Einfachheit oder ununterschiedene Substantialität; und wenn drittens das Denken das Sein der Substanz mit sich vereint und die Unmittelbarkeit oder das Anschauen als Denken erfasst, so kommt es noch darauf an, ob dieses intellektuelle Anschauen nicht wieder in die träge Einfachheit zurückfällt und die Wirklichkeit selbst auf eine unwirkliche Weise darstellt.« (W 3: 23)
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geschichtsphilosophischen Bedingungen zu hypostasieren. Das aus kritischen Auseinandersetzung mit Kants Kritiken und ihren Zentralbegriffen der Autonomie und Spontaneität gewonnene, intellektuelle Selbstbewusstsein und Selbstverständnis verdränge, so Adorno, dass die Befreiung nur »innerhalb von Elementen eines aufgeklärten Absolutismus« (ebd.: 270; Herv. rb) gelingen konnte4 . Die Verdrängung der sozialen Abhängigkeit durch den geschichtsphilosophischen Nachvollzug der transzendentalen Begründung des Wissens finalisiert sich durch die institutionelle und lebensweltliche Verankerung von Bildung: »Die Verbindung zwischen moderner erkenntnistheoretischer Normativität, der politischen und kulturellen Hegemonie des Bürgertums und der kategorialen Begründung von Bildung erweist sich von zentraler Bedeutung für die Geschichte des Bildungsbegriffs, insofern Bildung das bürgerliche Selbstverständnis sowohl in wissenschaftlicher als auch in habitueller Hinsicht darstellt. Bildung war bürgerlich verstanden nichts anderes als Wissenschaft als Lebensführung.« (Casale 2020a: 16) Der Universität kommt die Aufgabe zu, den allgemeinen Bildungsanspruch, der in der Idee normativ verankert ist, gesellschaftlich zu verwirklichen. Sie fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen der Bildung des Einzelnen und der Bildung des Allgemeinen, deren Vermittlung sich zum Zweck des Fortschritts des Wissens vollzieht. Das analytische Interesse Adornos gilt der Universität als Idee und als Phänomen. Die Institutionalisierung von ›Wissenschaft als Lebensführung‹ basiert auf der Idee der Einheit von Lehre und Forschung. Der universitäre Einheitsgedanke entspricht nicht nur der Realisierung der Bildungsidee, sondern auch der institutionellen Fortschreibung und Verselbstständigung einer spezifischen sozialen, intellektuellen und sinnlichen Erfahrung der Freiheit innerhalb des gebildeten Bürgertums. Mit dem Übergang in die bürgerliche Gesellschaft kommt es also zur Durchsetzung der modernen Universität und damit zu einer Verobjektivierung der bildungsbürgerlichen Kollektiverfahrung5 . Gedankliches Trittbrett für diese Verschiebung ist die Idee von der Einheit von Forschung und Lehre als das »substantielle Element von Bildung« (EFL: 267; Herv. rb). Adornos Bestimmung bezieht sich auf die paradigmatischen Schriften Fichtes und Schellings, in denen die Idee der Universität als Gemeinschaft und Stätte der Bildung grundlegend begründet sei (ebd.: 267f.). Durch seine normative Begründung erscheint die Idee als selbstständiges und unabänderliches Fundament einer freien und allgemeinen Bildung6 . Adorno bestreitet dieses Fundament und beharrt auf der Naturgeschichte der Einheit. Die Naturgeschichte des Einheitsgedankens nimmt die Genese des ›Grundes‹ von Bildung in den Blick. 4
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Dazu zählen sowohl das verschleierte Kongruenzverhältnis zwischen dem bürgerliche Selbstverständnis des gebildeten Menschen und dem kulturellen Selbstverständnis der aristokratischen Gesellschaft (vgl. ELF: 271), als auch die mit dem oben genannten philosophischen Elan verbundene Situation, dass die »Bildungsschicht relativ homogen war« (ebd.: 269). Zum Zusammenhang von Nationalkulturbewusstsein und die Herausbildung der modernen, deutschen Universität siehe: Haupt (2018), Müller (1990). Konkret nennt Adorno in diesem Zusammenhang J. G. Fichtes Deducierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lernanstalt (1807) sowie F. W. J. Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802).
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
Die naturgeschichtliche Kritik an der These von der Substantialität der Einheit besteht in dem Nachweis, dass das was geschichtsphilosophisch als Grund der Verwirklichung von Bildung betrachtet wird, selbst das Resultat eines geschichtlichen Prozesses darstellt. Angesichts des fließenden Übergangs von einer kollektiv geteilten Vorstellung und Erfahrung zur Begründung einer allgemeinen Idee entpuppt sich die Einheit der Universität als Vermittlungsprodukt, das der Homogenität der Bildungsschicht entspringt. Die Hervorbringung einer allgemein geteilten Idee sei möglich gewesen, weil man zugleich ein gemeinsames »Sprachmedium, das […] auch ein homogenes geistiges Medium ist« (ebd.: 275) begründete und realisierte – den Begriff als Instanz der dialektischen Vermittlung. Den Zweck einer gemeinsamen Sprach- und Denkform erfüllt der Begriff in idealistischer Hinsicht nicht nur als Bedingung einer dialektischen Logik sondern, als Begründung der »Philosophie als transzendentale Grammatik der gesamten Wissenschaft« (Casale et al. 2018)7 . Die Krise der transzendentalen Begründung des Bildungsbegriffs und der Einheit der Universität setzt nach Adornos Einschätzung im Moment des »Auseinandertretens der philosophischen Bildung und der Naturwissenschaften« (ELF: 274) ein. Die Naturgeschichte des Bildungsbegriffs beantwortet die Frage, warum das Auseinandertreten erfolgte: durch die Konfrontation der zweiten Natur der Idee mit ihrer ›ersten‹ Natur. Adorno stellt dies so dar, dass das Auseinandertreten notwendig und kritisch zugleich gewesen sei: Notwendig, weil die Begriffe und Methoden der (Natur-)Philosophie nicht mehr in der Lage gewesen seien, die naturwissenschaftliche Forschung zu begründen (vgl. ebd.). Adorno bringt das Beispiel eines tuberkulösen Mädchens, das verstarb, weil dessen Behandlung auf Basis von Methoden geschah, die aus der schellingschen Naturphilosophie abgeleitet wurden. Darin manifest werde »die Schattenseite der Einheit von Philosophie und Bildung und vor allem jener Einheit zwischen der philosophischen Lehre und der konkreten wissenschaftlichen Forschung, […] die schon da(mals) nicht mehr so recht zusammengeklappt haben« (ebd.: 274). Die kritische Seite dieser Entwicklung besteht in der Aufteilung der Einheit der Wissenschaften in verschiedene Disziplinen und Fächer. Die Ausdifferenzierung des erkenntnistheoretischen Fundaments der Wissenschaft hat auf lange Sich betrachtet zur Folge, dass das einheitsstiftende Bewusstsein des begrifflichen und spontanen Denkens abgelöst wird durch das einheitserzwingende, hegemoniale Wissenschaftsverständnis des Positivismus. Zudem ist mit der Auflösung der Wissenschaft das Fächerstudium an die Stelle des philosophischen Studiums getreten, verbunden mit der Konsequenz, dass jene ›Freiheit zum Objekt‹, die Bildung als Erfahrung der Vermittlung charakterisiert, nicht mehr möglich und auch nicht mehr gewollt ist. Beides ist Adorno zufolge Ausdruck einer Universität, die nicht selbstkritisch genug war und ist, um den gesellschaftlichen Zwängen der akademischen Bildung, die sowohl in der Arbeitsteilung der Wissenschaften als auch in der Berufsorientierung des Studiums wirkungsvoll gewesen sind, etwas entgegen zu setzen. Dass
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Letztere prägt die Einheit der Universität nicht nur ideell, sondern auch realgeschichtlich. Adorno hat vor allem die 1809/10 gegründete Universität zu Berlin im Blick, wo sich die Einheit zunächst zu realisieren scheint. Beispiele erfahrener Einheit sind die »face-to-face-Beziehung zwischen den Studenten und Professoren« (EFL: 272), die dadurch zustande kommt, dass die Lehre als Ort der Forschung und des gemeinsamen Denkens selbst betrachtet wurde.
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Das hinzutretende Dritte
es dennoch weiterhin Universitäten gibt, ist Ausweis der Fortsetzung ihrer Krise und ihres ideologischen Charakters zugleich – kurz: ihrer Naturgeschichtlichkeit.
4.1.2
Verdinglichtes Bewusstsein im Horizont der Trennung von Wissenschaft und Bildung
Die universitäre Krise ist Gegenstand einer 1961 publizierten Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung. Sie hat zwei Züge: das sukzessive Zusammengehen von Bildung und fachlicher Ausbildung und den Funktionswandel der Wissenschaft. Beide Züge hängen miteinander zusammen, fallen aber nicht in eins. Während der erste Aspekt an der institutionellen Schnittstelle von Universität und Arbeitsgesellschaft verläuft, behandelt der zweite Aspekt die Bildungskrise an der Schnittstelle von Universität und Wissenschaft. Die Notiz wendet sich dem zweiten Aspekt in Form der Frage zu, »ob der Universität heute Bildung dort noch gelinge, wo sie nach Thematik und Tradition an deren Begriffen festhält, also in den sogenannten Geisteswissenschaften; ob im allgemeinen der Akademiker [!] durch deren Studium überhaupt noch jene Art geistiger Erfahrung gewinnen kann, die vom Begriff Bildung gemeint war, und die im Sinn der Gegenstände selber liegt, mit denen er sich befaßt.« (NGB: 495) Das Ineinander von Bildungs- und Universitätskrise besagt, dass die Verunmöglichung von Bildung konstitutiv zurückzuführen ist auf den akademischen Zustand der Wissenschaften – die Geisteswissenschaften eingeschlossen – und ihrem zugrundeliegenden Wissensbegriff. Den Hintergrund der Analyse bildet die kritische Auseinandersetzung Adornos mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie nach ihrer Trennung sowie die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Paradigmas der »feststellenden Wissenschaft« (VND: 148) zur vorherrschenden akademischen Bewusstseinsform. Mit der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften habe sich nicht nur die Bindung von Philosophie bzw. geistiger Erfahrung und Bildung gelöst, sondern habe auch das positivistische Wissenschaftsparadigma »eine Art Monopol erlangt« (NGB: 495). Dieser Prozess unterliegt einer Dynamik, die der Dialektik von »Entgeistung und Verwissenschaftlichung« (ebd.: 498) entspricht. Mit der Dominanz einer ›entgeisterten‹ Wissenschaft tritt an die Stelle geistiger Erfahrung, die vor der Trennung von Wissenschaft und Bildung noch als Konstellation von Entäußerung, Spontaneität und kollektiver Erfahrung praktiziert wurde, eine verdinglichte Form des Bewusstseins, die auf ästhetische und begriffliche Erfahrungen verzichtet und stattdessen einen instrumentellen und technizistischen Zugang zum Wissen praktiziert8 . 8
Gegenwärtig spitzt sich die Krise der Bildung infolge der wissenschaftlichen und politischen Durchsetzung des kognitionswissenschaftlich begründeten Verständnisses von Bildung als Kompetenz weiter zu. Im Zentrum steht das einzelne Individuum, das seine psychische Einheit durch kognitive Lernprozesse und der kontinuierlichen Erneuerung persönlicher und sozialer Fertigkeiten und Verhaltensdispositionen selbst erhält. Casale und Oswald (2019) rekonstruieren die Entwicklung als »eine Art Naturalisierung und Pädagogisierung des Bildungsbegriffs. Bildung wird nicht mehr ausgehend von der Kultur gedacht, sondern von der Fähigkeit einer intelligenten Anpassung an die Natur. Mit der Naturalisierung des Bildungsbegriffs wird der Akzent bei der Inter-
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
Wissenschaft, die »unter den Bann der positivistischen Denkmanier gelangt« (ebd.: 496), kennzeichnet eine methodisch zentrierte Forschungspraxis. Dazu zählen »methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit, der Consensus der zuständigen Gelehrten, die Belegbarkeit aller Behauptungen« (ebd.: 496). Dem methodischen Verfahrensreglement liegt eine spezifische Form des Bewusstseins zugrunde. Registrieren, Ordnen, Klassifizieren sind verschiedene Modi instrumenteller Rationalität, hinter denen sich, Adorno zufolge, eine »Intoleranz gegen den Geist« (NGB: 496) verberge9 . Dass für diese Form des Bewusstseins »die Dialektik anathema« (GS 8: 550) sei, geht zurück auf eine »Wandlung der Funktion des Wissenschaftsbegriffs« (NGB: 496), die sich ausdrückt im »mangelnden Sachbezug von Fragestellung und theoretischer Prämisse und deren gesellschaftlicher Herkunft« (Windheuser 2016: 130). Die Verantwortung, die im Forschungsprozess der Theorie zukommt, wird delegiert an die Methode10 . Hinter der
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aktion von Menschen und Natur auf einer psychologischen Qualität – auf der Intelligenz – gesetzt und nicht mehr auf einer moralischen Dimension, auf der Freiheit. Die wenngleich nicht unbedingt logische aber doch faktische Konsequenz aus der Auffassung von Bildung als Lernen ist eine Art Vernaturwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften und eine Aufwertung der Naturwissenschaften.« (ebd.: 78) Die Wissensform der Synthese wird durch die Wissensform der Information abgelöst und an die Stelle der Tätigkeit der Vernunft die »Tätigkeit der Intelligenz« (Casale 2011a: 327) als Bezugspunkt gesetzt. Zur Bestimmung von Bildungsprozessen werde auf den differenzierten Wissensbegriff der Psychologie zurückgegriffen, der sich von dem informellen Wissensverständnis der pädagogischen Tradition substantiell unterscheidet. Casale und Oswald betrachten die kognitionswissenschaftliche Neujustierung von Bildung als Rückschritt: »Das Konzept der Kompetenz steht für eine abstrakte Form der Ausübung der Vernunft, die sich auf den prozeduralen Charakter von Operationen fokussiert. Die Genese und der Grund solcher logischer Operationen werden nicht hinterfragt. Die Operationen als solche (Vergleich, Übertragung, Schluss, Ausschluss etc.) werden als gegeben betrachtet. […] In der Möglichkeit selbst der Handlung findet sie ihre Legitimierung. Effizienz, Effektivität und Problemlösung sind ihre Qualitäten. […] Diese praktische Vernunft, deren Sphäre die Handlung ist, fällt hinter die transzendentale Logik zurück. Ihr Ziel ist weder Erkenntnis noch Erfahrung, sondern die Befähigung zur Handlung durch die Beherrschung logischer Operationen. Den Gegenstand wird das Kompetenzmodell nicht los, er wird ein Mittel zum Zweck: die psychologische Ausstattung des Subjekts. Das Wissensverständnis, das darin vorausgesetzt wird, hat einen rein psychologischen Charakter.« (Casale/Oswald 2019: 67) Mit der »neurowissenschaftlichen Verdrängung der Perspektive der 1. Person« (Hogh/König 2011: 421; Herv. rb) scheint eine weitere Etappe in dem historischen Prozess der kontinuierlichen Entsubjektivierung von Bildung erreicht. Dies lässt sich mit Adorno etwa anhand der Praxis der Prioritätensetzung im Wissenschaftsbetrieb und ihrer Konsequenz für die Theoriebildung nachvollziehen. Der Aphorismus Groß und klein stellt fest, dass »sich in die Theoriebildung eine Hierarchie der Wichtigkeiten ein[schleicht], mit Bevorzugung der sei’s aktuellen, sei’s besonders relevanten Themen, und Hintanstellung oder nachsichtiger Duldung des nicht Hauptsächlichen« (MM: 141). Das Beispiel verweist auf einen größeren Zusammenhang, nämlich die Erfahrung, dass der Forschungsgegenstand nicht um seiner selbst willen oder weil er sich aufdrängt, ausgewählt wird, sondern auf Grundlage von sachfremden Kriterien wie Aktualität und Nützlichkeit. Vorrang des Objekts hingegen bedeutet »Wirkliches um seiner selbst willen in Freiheit zu begreifen« (MM: 224), d.h. den »Forschungsgegenstand in Bezug auf seine erkenntnistheoretischen, […] aber auch auf seine materiellen Voraussetzungen zu erörtern« (Casale 2011b: 54; Herv. rb). »Die Berufung aus Wissenschaft auf ihre Spielregeln auf die Alleingültigkeit der Methoden, zu denen sie sich entwickelte, ist zur Kontrollinstanz geworden, die den freien, ungegängelten, nicht
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»Verschiebung von einer sachlichen zu einer methodologischen Fundierung der Objektivität wissenschaftlicher Forschung« (Casale 2011a: 326) liegt die Prämisse, durch die methodische Formalisierung des Erkenntnisprozesses die Neutralität und Objektivität des Wissens sichern zu können. Der Unterschied zwischen dem Begreifen der Wirklichkeit und ihrer Feststellung entspricht der Differenz zwischen einem dialektischen und einem positivistischen Wissenschaftsverständnis. Adorno begreift die Differenz von positivistischer und begrifflich arbeitender Wissenschaft aus dem Erfahrungsbegriff und seiner differenten Auslegung. Erörtert wird die Differenz von geistiger und empirischer Erfahrung anhand der Unterscheidung von trivialem und sublimem Bewusstsein (vgl. M: 179ff.). Das triviale Bewusstsein stellt die Denk- und Erfahrungsform der positivistischen Wissenschaft dar. Neben der Praxis der Methode und der feststellenden und registrierenden Reflexionsweise zähl die Beschränkung der Erfahrung auf Empirie zu ihren zentralen Merkmalen. Unter Empirie kann die regelgeleitete und kontrollierte Erfassung und Auswertung von Daten durch den technischen Einsatz eines je spezifischen Methodenreservoirs betrachtet werden. In der Einleitung zum Positivismusstreit in der deutschen Soziologie nimmt Adorno kritisch Bezug auf die positivistische Auffassung wissenschaftlicher Erfahrung als Empirie: »Im Positivismus dokumentiert sich eine geschichtliche Verfassung des Geistes, die Erfahrung nicht mehr kennt und darum sowohl deren Rudiment ausrottet wie sich als ihren Ersatz, als allein legitime Form von Erfahrung anbietet. Die Immanenz des virtuell sich abdichtenden Systems toleriert weder ein qualitativ Anderes, das sich erfahren ließe, noch befähigt sie die ihr angepaßten Subjekte zur unreglementierten Erfahrung. Der Zustand universaler Vermittlung der Verdinglichung aller Beziehungen zwischen Menschen, sabotiert die objektive Möglichkeit spezifischer Erfahrung der Sache […]. Die reglementierte Erfahrung, welche der Positivismus verordnet, annulliert Erfahrung selbst, schaltet der Absicht nach das erfahrende Subjekt aus, […] ohne dessen spontane Rezeptivität doch nichts Objektives sich gibt.« (GS 8: 342f.) Adorno beschreibt den Positivismus als Ergebnis eines historischen Prozesses, der sich in dem Titel Der Untergang des Geistes, der Aufstieg der Evidenz (Casale 2016c) zusammenzieht. Der Aufstieg des Positivismus wird hier zusammengebracht mit einer Entwicklung, in der sich das vorherrschende Bewusstsein löst von einer spezifischen Auffassung von geistiger Erfahrung. Dem Erfahrungsbegriff der empirischen Forschung liegt das implizite Phantasma einer Evidenz ohne Erfahrung zugrunde. Bei der reglementierten Erfahrung handelt es sich nur dem Schein nach um Erfahrungen. Die Reglementierung des Forschungsprozesses sorgt dafür, dass man nichts über die Phänomene wissen kann, was zum einen den Kompetenzbereich des methodischen Instrumentariums und zum anderen den vorab festgelegten Erfahrungsbereich des Subjekts übersteigen würde. Eine solche Bewusstseinsform der Erfahrungslosigkeit behandelt das zu Erfahrende als bloßes Material und die Erfahrenden als bloße Container von Wirklichkeit. Des Weiteren attestiert Adorno der im Wissenschaftsbetrieb vorherrschenden Forschungspraxis in dem Aphorismus Diagnose in den Minima Moralia eine grundlegende schon dressierten Gedanken ahndet und vom Geist nichts duldet als das methodologisch approbierte.« (GS 10.2: 468)
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»Unlust zum Denken« (MM: 140), die sich aus dem gesellschaftlich rationalisierten Ressentiment gegen das spekulative Moment speist. Zwar wisse man dort um die Spekulation als konstitutives Moment des Denkens und darum »warten [manche] noch mit Angst und Scham darauf, ihres Defektes überführt zu werden« (ebd.: 141). Dies ändert aber nichts daran, dass sich das Ressentiment zum Ideal »wissenschaftliche[r] Askese« (ebd.) erhoben und das spekulative Denken als »unwissenschaftlich« (ebd.) abgewertet wird. Dass »die Empirie selbst ihrer Materialität enthoben« (Windheuser 2018: 130; Herv. i.O.) ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich die Normativität der empirischen Wissenschaft auf selbstwidersprüchliche Weise realisiert: Die Verengung der Erfahrung auf Registration und Methode durch administrative Behandlung und Blockierung von Subjektivität, die objektive Wahrheit garantieren soll, realisiert sich bedingt durch dasjenige, das sie negiert: Als Übersetzung der Affekte – des anti-intellektuellen Ressentiments und der Wut auf Gefühl, Sensibilität und Spontaneität –, von denen sie beherrscht werden, in den technokratischen Zwang der Methode gegenüber ihren Gegenständen. Dem gegenüber wird das sublime Bewusstsein, das in sich die unreglementierte Erfahrung und das spekulative Moment vermittelt, zum Angelpunkt einer anderen Logik wissenschaftlicher Reflexion und eines anderen Verständnisses von Wahrheit11 . Diese Auffassung von Bewusstsein ist von dem Grundgedanke getragen, »dass eine Erkenntnis um wahr zu sein, eines Zusatzes an Subjektivität bedarf« (ET: 35; Herv. rb). Mit dem Brückenschlag zwischen der Erfahrung der Sache durch ihre begriffliche Vermittlung und der Rückbindung von Wahrheit an die spezifische Qualität der Subjektivität, die in den Begriffen von der ›unreglementierten Erfahrung‹ und der ›spontanen Rezeptivität‹ zum Ausdruck kommt, durchbricht er die Logik der vorherrschenden Form wissenschaftlichen Bewusstseins auf somatische Weise. Es sind die Fähigkeiten, affiziert zu werden und sich in den Gegenstand zu versenken, es ist die Fähigkeit, die Lust und Unlust, die in der sinnlichen und geistigen Auseinandersetzung mit dem Stoff entsteht, nicht zu verdrängen, sondern zuzulassen und begrifflich zu vermitteln. »[D]i Lust am 11
In dem Aufsatz Soziologie und empirische Forschung konkretisiert Adorno anhand eines Beispiels, worin er die Möglichkeit einer »Rebellion der Erfahrung gegen den Empirismus« (GS 15: 91) sieht: »In dem Augenblick, in dem man den Zustand, den die Researchmethoden treffen zugleich und ausdrücken, als immanente Vernunft der Wissenschaft hypostasiert, anstatt ihn selbst zum Gegenstand des Gedankens zu machen, trägt man, willentlich oder nicht, zu seiner Verewigung bei. […] In ihrer Anwendung steckt eine Voraussetzung, die nicht sowohl aus den Forderungen der Methode als aus dem Zustand der Gesellschaft, also historisch zu deduzieren wäre. Die dinghafte Methode postuliert das verdinglichte Bewußtsein ihrer Versuchspersonen. Erkundigt sich ein Fragebogen nach musikalischem Geschmack und stellt dabei die Kategorien ›classical‹ und ›popular‹ zur Auswahl, so hält er – mit Recht – dessen sich versichert, daß das Publikum nach diesen Kategorien hört […]. Aber solange die gesellschaftlichen Bedingungen derartiger Reaktionsformen mitgetroffen werden, bleibt der richtige Befund zugleich irreführen; er suggeriert, daß die Spaltung musikalischer Erfahrung […] ein Letztes, gleichsam natürliches wäre. Die gesellschaftlich relevante Frage indessen hebt genau bei jener Spaltung, bei deren Verewigung zum Selbstverständlichen erst an und führt notwendig, die mit sich, ob nicht die Wahrnehmung von Musik unterm Apriori von Sparten die spontane Erfahrung des Wahrgenommenen aufs empfindlichste tangiert. Bloß die Einsicht in die Genese der vorfindlichen Reaktionsformen und ihr Verhältnis zum Sinn des Erfahrenen würde es erlauben, das registrierte Phänomen zu entschlüsseln.« (GS 8.1: 203)
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eigenen Text, das Glück gelungenen Ausdrucks und die Spontaneität des Einfalls« (Dankemeyer 2020: 284) bringen die Grenzüberschreitung der Erkenntnis zu ihrem somatischen Moment zum Ausdruck. Das sublime Bewusstsein wird in diesem Zusammenhang zur Nahtstelle zwischen lebendiger Erfahrung und der Entschlüsselung objektiver Wahrheit und damit zu einem zentralen Element somatischer Bildung. Dieser Gedankengang ist nicht selbstverständlich. Nicht nur der positivistische Grundsatz von der Wahrheit durch Methode, sondern auch die damit einhergehende Dominanz der korrespondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit als adaequatio rei atque intellectus entziehen dem sublimen Bewusstsein die objektive Grundlage. Darüber äußert Adorno »den Horror der Ahnung, was erkannt werden muß, gliche eher dem, was down to earth sich findet, als dem, was sich erhebt; es könnte sein, daß jene Ahnung noch jenseits des Pedestren sich bestätigt, während doch der Gedanke allein in der Elevation sein Glück, die Verheißung seiner Wahrheit hat. Behielte das Pedestre das letzte Wort, wäre es die Wahrheit, so wäre Wahrheit entwürdigt. Das triviale Bewußtsein, wie es theoretisch im Positivismus und unreflektierten Nominalismus sich ausspricht, mag der adaequatio rei atque cogitationis näher sein als das sublime, in fratzenhaftem Hohn auf die Wahrheit wahrer als das überlegene, außer wenn ein anderer Begriff von Wahrheit gelingen sollte als der von adaequatio. Solcher anderen Wahrheit gilt die Innervation, Metaphysik möchte gewinnen allein, wenn sie sich wegwirft. Sie nicht zuletzt motiviert den Übergang in Materialismus.« (ND: 357) Ein anderer, ein materialistischer Begriff von Wahrheit lässt den Begriff der Erkenntnis nicht unberührt. Statt methodisch kontrollierter, lückenloser Darstellung des Gegebenen entdeckt Adorno den dialektischen Charakter der Wahrheitsfindung, der nicht mehr auf den methodologischen Bahnen der positiven Wissenschaften verläuft. Die Bedingung, durch die der dialektische und somatische Charakter von Erkenntnis ermöglicht wird, situiert Adorno deshalb fernab von Methode in die Unvorhersehbarkeit der plötzlichen Erfahrung des Gegenstandes: »Und genau diese Konstellation: also auf der einen Seite jenes aufblitzenden und fehlbaren Bewusstseins […], und auf der anderen Seite jenes Moment des Vorrangs des Objekts, – zwischen diesen beiden Momenten scheint mir eine merkwürdige Konstellation zu herrschen; allerdings mehr auch eine momentan sich entladende, eine jähe, als eine bloß kontemplative, die nun als so eine Art kategorialer Struktur eines sogenannten Sachverhaltes sich greifen ließe.« (M: 222) Der jähe, sich entladende Impuls, der von Adorno hier exponiert behandelt wird, korrespondiert im Erkenntnisprozess dem Moment des Zufallens als einer Facette des Nichtidentischen. Mit ihm ist die sekuritätskritische Einsicht verbunden, dass »die Erkenntnisse die wesentlichen sind, die nicht in dem Begriff aufgehen, – sondern die mir zukommen und die damit immer die Möglichkeit haben, daß sie mir nicht zukommen, daß sie mir nicht zufallen« (M: 220; Herv. i.O.). Ob das sublime Bewußtsein zu spontanen Einfällen kommen wird, entzieht sich der individuellen Verfügungsmacht und darum kann der Moment nicht intentional hervorgebracht werden. Das Zufallen von Erkenntnismöglichkeiten ereignet sich überhaupt nur dort, wo sie zufallen könnten. Damit ist
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auch der Zufall wieder an Bedingungen geknüpft, die seinen Ereignischarakter relativieren. Was als von außen kommendes Ereignis erscheint, geht, aus Adornos Sicht, zurück auf eine meist lange (Vor-)Geschichte und auf die unbewusste Bereitschaft, sich auf das immanent Nichtidentische einzulassen: »Die Gedanken kommen nicht angeflogen, sondern kristallisieren sich, auch wenn sie plötzlich hervortreten, in langwährenden unterirdischen Prozessen. Das Jähe […] markiert den Durchbruch der lebendigen Erfahrung durch die verhärtete Kruste der communis opinio; es ist der lange Atem des Gegensatzes zu dieser, keineswegs das Privileg begnadeter Augenblicke, der dem unreglementierten Gedanken jene Fühlung mit dem Wesen gestattet, die von der aufgeschwollenen Apparatur, die sich dazwischenschaltet, oft unwiderstechlich sabotiert wird.« (GS 8.1: 212) Der Begriff des ›Jähen‹ gibt dem mitunter opak wirkenden Begriff des Nichtidentischen und der mit ihm verbundenen Möglichkeit der Überschreitung eine materialistische Gestalt. Nicht nur handelt es sich bei dem Zufallenden nicht um ein von außen kommendes Ereignis, sondern zeigt: der Grund des plötzlich eintretenden Gedankens ist selbst wiederum vermittelt. Die Präzisierung des Verhältnisses von Spontaneität und Vermittlung setzt an bei zwei auf den ersten Blick ›misslichen‹ Momenten. Wie bereits aufgezeigt wurde: Der spontane Gedanke kommt dann, wenn er kommt. Er ist weder vorhersehbar noch evozierbar. Diese Erfahrung bezeichnet Adorno als »Negativität der Situation des vergeblichen Wartens« (M: 224). Damit ist aber keine Aufforderung zur intellektuellen Trägheit verbunden, d.h. nichts zu tun und zu warten bis der geniale Gedanke kommt. Im Gegenteil liegt dieser Gedankenfigur die Eigenschaft einer passiven Aktivität zugrunde. Die Aktivität des wartenden Bewusstseins besteht darin, mit Geduld und Konzentration, aber ohne Gewissheit über den Zeitpunkt des Eintretens der Gedanken, sich an die Gegenstände zu entäußern und an ihrem Verstehen zu arbeiten. Das geduldige und konzentrierte Warten bezeichnet ein epistemologisches Verhalten, das das Ausbleiben von Erkenntnis aushalten kann, ohne in Aktionismus zu verfallen. Aushalten muss das sublime Bewusstsein auch die Unabwägbarkeit, dass der durchbrechende Gedanke womöglich nicht der »qualitative Sprung« (ND: 183) ist, als der er im ersten Moment erfahren wird. Dass er der Anfang einer Erkenntnis ist, ist genauso wenig auf den ersten Blick auszumachen, wie man unmittelbar absehen kann, dass das Nachspüren eines ersten Einfalls schlussendlich in eine Sackgasse geführt haben wird. Im gedanklichen Nachvollzug des spontanen Gedankens muss man stets mit der »Möglichkeit des Mißlingen, der Enttäuschung« (M: 220) rechnen, denn »[p]rinzipiell kann sie stets fehlgehen und allein darum etwas gewinnen« (TGE: 232). Dass die Möglichkeit von Erkenntnis trotz dieser ›Misslichkeiten‹ als Möglichkeit präsent ist, hat damit zu tun, dass der ›lange Atem‹ und die Spontaneität immer schon Teil eines weiteren Prozesses sind. Die ›langwährenden, unterirdischen Prozesse‹ beschreiben eine Eigendynamik unbewussten, vermittelnden Denkens, die in Adornos Konzeption des sublimen Bewusstseins eine zentrale Ebene der Reflexion konstituiert. Manifest wird die unbewusste Arbeit in den spontanen Gedanken, deren Durchbruch die materiellen Bedingungen seines Entstehens eher verbirgt als offenlegt. Und dennoch ist Spontaneität von dem »Eingedenken in die Natur im Subjekt als einem sinnlich-leiblichen Wesen und jener Natur als ein ›Nichtidentisches‹ das stoffliche Substrat
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seiner Arbeit bildet« (Schmidt 1983: 24), nicht zu trennen. Es gehört zur Natur des sublimen Bewusstseins stofflich vermittelt zu sein: Dies betrifft zum einen sein immanentes »Moment der Organlust« (PT II: 179), zum anderen den Stoff, der subjektiv bearbeitet wird, ohne dass die Arbeitsprozesse zwangsläufig bewusst sind. Ausgehend von der Bestimmung der Natur des sublimen Bewusstseins scheint es möglich eine Vorstellung davon zu gewinnen, was somatische Bildung bedeutet: »Dieses Geistige hat in sich dadurch, daß es nie ohne das Moment von Lust oder Schmerz vorgestellt werden kann, selber deutlich ein stoffliches Moment, ein nichtintentionales, ein nicht auf Erkenntnis bezogenes, nicht kognitives Moment. In unserem eigenen Erfahrungsgehalt, wenn wir die Erfahrung wirklich genau beschreiben, erinnert nicht nur immer etwas uns auch an den Leib, sondern er versichert uns unmittelbar des Leibes und ist ohne die Leibreaktion, ohne das Leibhafte nicht vorstellbar. […] Der Objektivierungsprozeß der Erkenntnis, dem wir notwendig unterliegen, verlangt, daß wir von diesen Momenten absehen; deshalb sind sie aber als Grundtatsachen dessen, was man subjektive Erfahrung nennt, noch da.« (Ebd.: 177f.). Die Verobjektivierung beschreibt den Erkenntnisprozess eines Phänomens ausgehend von seiner begrifflichen Vermittlung. Dieser Prozess der geistigen Erfahrung ist immer auch somatisch vermittelt. Dies betrifft nicht nur die Erfahrung der Entäußerung, die von Adorno auch als Reaktion des Leibes betrachtet wird, sondern auch die Aufhebung der somatischen Entäußerung als ihre Aufbewahrung in der Vermittlung.
4.2
Bildung als geistige Erfahrung Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht? – Kurt Tucholsky –
4.2.1
Kritik am beschädigten Bewusstsein der Bildung
Mit der Konstellation des sublimen Bewusstseins durchleuchtet Adorno ein Gegenmodell zur institutionellen und epistemologischen Matrix der akademischen Bildung der 1950er und 1960er Jahre. Dieser attestiert er einen Mangel an Selbstreflexion ihrer heteronomen wissenschaftlichen Geltungsbedingungen und eine allzu rasche Anpassung an die »herrschende Form des gegenwärtigen Bewußtseins« (THB: 94)12 . Wie die Aus12
»An der Enttäuschung vieler geisteswissenschaftlicher Studenten in den ersten Semestern ist nicht nur deren Naivetät schuld, sondern ebenso, daß die Geisteswissenschaften jenes Moment von Naivetät, von Unmittelbarkeit zum Objekt eingebüßt haben, ohne das Geist nicht lebt; ihr Mangel an Selbstbesinnung dabei ist nicht weniger naiv […]. Die Verdinglichung des Bewusstseins, die Verfügung über seine eingeschliffenen Apparaturen schiebt sich vielfach vor die Gegenstände und verhindert die Bildung, die eins wäre mit dem Widerstand gegen Verdinglichung. […] Was das verdinglichte wissenschaftliche Bewußtsein, anstelle der Sache begehrt, ist aber ein Gesellschaftliches: Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig, auf welchen jenes Bewußtsein als einzige Instanz sich beruft. […] Das ist der implizite Konformismus der Geisteswissenschaften.
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seiner Arbeit bildet« (Schmidt 1983: 24), nicht zu trennen. Es gehört zur Natur des sublimen Bewusstseins stofflich vermittelt zu sein: Dies betrifft zum einen sein immanentes »Moment der Organlust« (PT II: 179), zum anderen den Stoff, der subjektiv bearbeitet wird, ohne dass die Arbeitsprozesse zwangsläufig bewusst sind. Ausgehend von der Bestimmung der Natur des sublimen Bewusstseins scheint es möglich eine Vorstellung davon zu gewinnen, was somatische Bildung bedeutet: »Dieses Geistige hat in sich dadurch, daß es nie ohne das Moment von Lust oder Schmerz vorgestellt werden kann, selber deutlich ein stoffliches Moment, ein nichtintentionales, ein nicht auf Erkenntnis bezogenes, nicht kognitives Moment. In unserem eigenen Erfahrungsgehalt, wenn wir die Erfahrung wirklich genau beschreiben, erinnert nicht nur immer etwas uns auch an den Leib, sondern er versichert uns unmittelbar des Leibes und ist ohne die Leibreaktion, ohne das Leibhafte nicht vorstellbar. […] Der Objektivierungsprozeß der Erkenntnis, dem wir notwendig unterliegen, verlangt, daß wir von diesen Momenten absehen; deshalb sind sie aber als Grundtatsachen dessen, was man subjektive Erfahrung nennt, noch da.« (Ebd.: 177f.). Die Verobjektivierung beschreibt den Erkenntnisprozess eines Phänomens ausgehend von seiner begrifflichen Vermittlung. Dieser Prozess der geistigen Erfahrung ist immer auch somatisch vermittelt. Dies betrifft nicht nur die Erfahrung der Entäußerung, die von Adorno auch als Reaktion des Leibes betrachtet wird, sondern auch die Aufhebung der somatischen Entäußerung als ihre Aufbewahrung in der Vermittlung.
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Bildung als geistige Erfahrung Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht? – Kurt Tucholsky –
4.2.1
Kritik am beschädigten Bewusstsein der Bildung
Mit der Konstellation des sublimen Bewusstseins durchleuchtet Adorno ein Gegenmodell zur institutionellen und epistemologischen Matrix der akademischen Bildung der 1950er und 1960er Jahre. Dieser attestiert er einen Mangel an Selbstreflexion ihrer heteronomen wissenschaftlichen Geltungsbedingungen und eine allzu rasche Anpassung an die »herrschende Form des gegenwärtigen Bewußtseins« (THB: 94)12 . Wie die Aus12
»An der Enttäuschung vieler geisteswissenschaftlicher Studenten in den ersten Semestern ist nicht nur deren Naivetät schuld, sondern ebenso, daß die Geisteswissenschaften jenes Moment von Naivetät, von Unmittelbarkeit zum Objekt eingebüßt haben, ohne das Geist nicht lebt; ihr Mangel an Selbstbesinnung dabei ist nicht weniger naiv […]. Die Verdinglichung des Bewusstseins, die Verfügung über seine eingeschliffenen Apparaturen schiebt sich vielfach vor die Gegenstände und verhindert die Bildung, die eins wäre mit dem Widerstand gegen Verdinglichung. […] Was das verdinglichte wissenschaftliche Bewußtsein, anstelle der Sache begehrt, ist aber ein Gesellschaftliches: Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig, auf welchen jenes Bewußtsein als einzige Instanz sich beruft. […] Das ist der implizite Konformismus der Geisteswissenschaften.
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führungen zum Zusammenhang von Wissenschaft und Universität gezeigt haben, geht die Geltung der jeweiligen Bewusstseinsformen auf geschichtliche Prozesse zurück13 : »Zwischen Geist und Wissenschaft lagert sich ein Vakuum. Nicht nur die Fachausbildung, sondern auch Bildung selber bildet nicht mehr. Sie polarisiert sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen. Der gebildete Geist wäre demgegenüber ebenso eine willkürliche Reaktionsform wie seiner selbst mächtig. Nichts steht mehr dem Bildungswesen bei […].« (NGB: 498) Mit dieser Auslegung schlägt Adorno einen Bogen, der die Bildungskrise zu einem geschichtsphilosophischen Phänomen werden lässt. Dass Bildung nicht mehr bildet, ist nicht nur wohlfeile Polemik, sondern gehört für Adorno in jenen geschichtlichen Prozess, den die fortschreitende Entmythologisierung – hierunter fällt auch die Desavouierung des spekulativen Moments – und die Durchsetzung rationaler Naturbeherrschung als hegemoniale Bewusstseinsform charakterisiert. Die Situation der Bildung in der Halbbildung stellt einen entscheidenden Knotenpunkt in dieser Entwicklung dar14 . In subjektiver Hinsicht mündet die fortschreitende Rationalisierung vorerst in einem Zustand, den Adorno zuspitzt auf die Formel einer »Selbsterhaltung ohne Selbst« (THB: 115), also einem Zustand in dem die Möglichkeit von Bildung instrumentell überformt ist. Mit der Instrumentalisierung von Bildung verändern sich auch die erkenntnistheoretischen Koordinaten. Das fehlende Selbst ist der subjektive Ausdruck einer technischen Form des Bewusstseins, die sich von der synthetisierenden Form des Bewusstseins grundlegend unterscheidet:
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Prätendiert sie, geistige Menschen zu bilden, so werden diese eher von ihr gebrochen. Sie errichten in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlaßt sie zunächst dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln nicht gehorcht.« (NGB: 497) Adorno scheint sich auch keine Illusion mehr darüber zu machen, dass überhaupt noch die Möglichkeit bestünde, objektiv so etwas wie einen emphatischen Bildungsbegriff zu realisieren: »Die Universitäten als Bildungsanstalten haben es schwer. […] In dieser Spaltung droht die Bildungsidee auch dort, wo sie noch festgehalten wird, zur antiquarischen Spezialität oder zur unverbindlichen und darum im weiten Maß irrationalen ›Weltanschauung‹ herabzusinken, die man sich je nach Bedarf wählt und die um solcher Unverbindlichkeit willen nur allzuleicht in starre, aber auswechselbare totalitäre Parolen übergeht. Daß die Universitäten von sich aus, durch eine Reform, daran etwas ändern können, solange die gesellschaftliche Tendenz selber auf den Abbau von Bildung hinausläuft, ist illusionär. Am Scheitern der Studium Generale ist nicht nur der Widerstand der Fachleute gegen das schuld, was sie mit Recht als Phrase beargwöhnen, sondern auch die objektive Unmöglichkeit, Bildung, die nur in der Einheit zwischen der Sache und ihrer geistigen Erfahrung besteht, durch eine Dachorganisation zu ersetzen, welche die entzauberten Tatsachen gewissermaßen nachträglich unter einen geistigen Hut bringt.« (GS 20.1: 328f.; Herv. rb) Verortet man nun die Bildungskrise, wie sie Adorno vor Augen steht, in dem Spannungsfeld zwischen der Naturbeherrschung der Synthese und der Naturbeherrschung der Kompetenz, nimmt sie geschichtsphilosophisch betrachtet eine Zwischenstellung ein. In diesem Sinn stellt Halbbildung eine Art Zwischenstufe auf dem Weg dar, der zur Auffassung von Bildung als Kompetenz hinführt. Die historische Pointe von Adornos Analyse besteht nicht zuletzt darin, dass sich die »neue Gestalt des Bewußtseins« (THB: 116) dann »durch die Verankerung von Bildung in der Schule« (Casale/Oswald 2019: 65) und durch die Transformation von Bildung in den psychologisch begründeten Kompetenzbegriff von einer Tendenz zur manifesten Realität im kompletten Bildungssystem gewandelt hat.
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Das hinzutretende Dritte
»Worin nach jeglicher bürgerlichen Theorie Subjektivität sich erfüllte, Erfahrung und Begriff, kann er sich nicht mehr leisten: das höhlt die Möglichkeit von Bildung subjektiv ebenso aus, wie ihr objektiv alles entgegen ist. Erfahrung, die Kontinuität des Bewußtseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften, wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird. Anstelle des temps durée, des Zusammenhangs eines in sich relativ einstimmigen Lebens, das ins Urteil mündet, tritt ein urteilsloses ›Das ist‹ […]. Halbbildung ist eine Schwäche zur Zeit, zur Erinnerung, durch welche allein jene Synthesis des Erfahrenen im Bewußtsein geriet, welche einmal Bildung meinte. Nicht umsonst rühmt sich der Halbbgebildete seines schlechten Gedächtnisses, stolz auf seine Vielbeschäftigtheit und Überlastung. […] Der Begriff wird von der dekretorischen Subsumtion unter irgendwelche fertigen Chlichés abgelöst, die ihre verderbliche Gewalt unter totalitären Systemen enthüllen: auch ihre Form ist das isolierende, aufspießende, einspruchslose ›Das ist‹. Weil jedoch Halbbildung gleichwohl an die traditionellen Kategorien sich klammert, die sie nicht mehr erfüllt, so weiß die neue Gestalt des Bewußtseins unbewußt von ihrer Deformation.« (THB: 115) Die naturgeschichtliche Reflexion betrachtet die Entwicklung von Bildung zu Halbbildung als notwendigen geschichtlichen Prozess. Der Übergang von Bildung im Medium des Begriffs zu Bildung als Information und Methode hat sich real bereits vollzogen und stellt als zweite Natur der Bildung den idealistischen und neuhumanistischen Bildungsbegriff grundlegend infrage Vor dem Hintergrund dieser Zuspitzung stellt sich für Adorno nichts anderes als die Frage, in welcher Form Bildung jenseits von Halbbildung noch möglich sei15 . Die Beantwortung der Frage fördert die bereits an verschiedenen Stellen ausgewiesene Ambivalenz von Adornos Umgang mit der Bildungskrise zutage: »Wo der Konflikt gegen die unreglementierte Einsicht entschieden ist, kann es zur Dialektik der Bildung, zum inwendigen Prozeß von Subjekt und Objekt gar nicht kommen«. (NGB: 496) Zum einen scheint er keinen Zweifel zu hegen, dass Halbbildung so etwas wie die gerechtfertigte Konsequenz des bürgerlichen Bildungsbegriffs sei: »Was an der Bildung zugrunde geht, hat die Bildung selbst verschuldet. Auf der anderen Seite aber hat man auch den Wahrheitskern, den der Bildungsbegriff hat, ihren ei-
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»Taugt jedoch als Antithese zur sozialisierten Halbbildung kein anderer als der traditionelle Bildungsbegriff, der selber zur Kritik steht, so drückt das die Not einer Situation aus, die über kein besseres Kriterium verfügt als jenes fragwürdige, weil sie ihre Möglichkeit versäumte. Weder die Restitution des Vergangenen gewünscht, noch daran im mindesten gemildert. Nichts widerfährt heute dem objektiven Geist, was nicht in ihm selbst in hochliberalen Zeiten schon gesteckt hätte oder was nicht wenigstens alte Schuld eintriebe. Aber was jetzt im Bereich von Bildung sich zuträgt, läßt nirgends anders sich ablesen als an deren wie immer auch ideologischer älterer Gestalt. Denn potentiell haben die versteinerten Verhältnisse abgeschnitten, womit der Geist über die herkömmliche Bildung hinausginge. Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere. Es zeigt in dem Augenblick, da es verurteilt ist, gegenüber der jüngeren Form des Bestürzenden als Verschwindendes versöhnende Farbe.« (THB: 102)
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genen Wahrheitsgehalt verdrängt. Man hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet […]. Es ist sicherlich so, daß gegenüber dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Gebildeten, wie es um das Jahr 1810 bestanden haben mag, die Gesellschaft heute den Informierten und den Techniker verlangt.« (ELF: 287f.) Die Auffassung von Bildung als Information und Technik ist nicht nur die wissenschaftliche Antwort auf ein gesellschaftliches Bedürfnis, sondern auch die Verunmöglichung von Bildung als Vermittlung und Spekulation. Was diese Entwicklung partiell auffangen könnte, ist die kritische Reflexion auf die Krise des Idealismus. Adorno geht dabei von zwei Prämissen aus. Auf der einen Seite steht die historische These, dass der Bedeutungsverlust von Begriff und Synthese als Medium von Erkenntnisprozessen und Wissensproduktion Resultat der Krise der Bildungsidee selbst sei. Auf der anderen Seite vertritt er die erkenntnistheoretische These, dass Bildung ohne begriffliche Vermittlung nicht denkbar sei16 . Er spricht dabei auch von »Bildung, die nur in der Einheit zwischen der Sache und ihrer geistigen Erfahrung besteht« (GS 20.1: 329). Um sich diesem Verständnis von Bildung zu nähern, führt Adorno eine explizite Abgrenzung des Bildungsbegriffs in zwei Richtungen aus: als kritische Auseinandersetzung mit dem Stand des Wissens unter der Bedingung der Halbbildung und als Selbstkritik an der philosophischen Begründung. Erkenntnisse, die unter der Bedingung von Information und Methode zustande kommen, sind zwar reflexive Erfahrungsprozesse, die jedoch nicht automatisch auch zu Bildungsprozessen führen müssen. Die Bildungskrise geht mit einer Veränderung des Wissens einher, die der Verschiebung von der sublimen zur trivialen Bewusstseinsform entspricht. Adorno erläutert den Inhalt und die Konsequenzen dieser erkenntnistheoretischen Verschiebung folgendermaßen: »Wenn man sich etwa vergegenwärtigt, welche Anforderungen die letzten Quartette von Beethoven auch heute noch an die Spiritualität ihrer Zuhörer stellen, und wenn man sich vorstellt, wie klein wahrscheinlich heute die Zahl derer ist, die derartigen Gebilden überhaupt mit Konzentration und Verantwortung zu folgen vermögen, dann ist es eine erstaunliche Sache, wenn man erfährt, daß […] diese fünf letzten Quartette zu Lebzeiten Beethovens einen außerordentlichen Erfolg hatten […], während, wenn die Menschen sie heute über sich ergehen lassen, es im allgemeinen eben aus jenem Bildungsfetischismus heraus geschieht […]. Ich möchte hier andeuten, daß das Phänomen der Halbbildung, also der sich ausbreitenden Informiertheit, ohne das gleichzeitig die Dinge über die man informiert wäre, genuin erfahren würden, so daß man eigentlich nur etwas über sie erfährt, aber nicht die Dinge selbst […]. Während der 16
Ein bedeutsamer Motor der erziehungswissenschaftlichen Kritik am Bildungsbegriff stellt die Deutung der Moderne als Krise ihrer Erzählung dar. Die Auffassung der Moderne als spekulative Erzählung und Erzählung der Emanzipation wird von Jean-François Lyotard in Das Postmoderne Wissen (1986 [1979]) herausgearbeitet. Die transzendental begründete Einheit von Subjekt, Wissen und Geschichte wird als narrative Legitimationsweise entschlüsselt. Bildungstheoretisch von spezifischer Bedeutung ist die Auffassung der idealistischen Begründung von Bildung als Erzählung: »Der deutsche Idealismus und die darin implizierte Bildungstheorie erzählen die Etappen der Bildung des Geistes als Geschichte, es ist die Erzählung der Geschichte und des Individuums und ihrer innigen Zusammengehörigkeit.« (Casale 2016a: 26)
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Begriff der Bildung in dem radikalen Sinn, in dem er in der humanistischen Periode nicht nur formuliert, sondern auch verwirklicht war, ausstirbt […], ist es andererseits so, daß der Typus des sogenannten ungebildeten Menschen ebenfalls ausstirbt, daß alle irgendwie Bescheid wissen […].« (VÄ: 313; Herv. rb) Die zweite Natur von Bildung wird als Zustand fetischisierter Bildung beschrieben. Informiert zu sein und Bescheid zu wissen, ist nicht mit Bildung gleichzusetzen oder zu verwechseln. Die intellektuelle Konsequenz, die Adorno aus dem unaufhaltbaren Prozess der fortschreitenden Verdinglichung zieht, ist der Versuch, durch eine verschiebende Deutung der Tradition im Bewusstsein ihrer Krise eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit von Bildung zu finden. Information, Bescheidwissen und Besitz bilden die Grundkonstellation der Halbbildung. Sie lässt sich sowohl in psychosozialer als auch erkenntnistheoretischer Hinsicht ausbuchstabieren. Psychoanalytisch betrachtet ist Halbbildung eine Strategie, mit dem kollektiven Bedürfnis nach Selbsterhaltung umzugehen. Bildung wird in diesem Zusammenhang der Rang zugesprochen, jenes äußerlich hervorgebrachte bzw. gesellschaftlich vermittelte narzisstische Bedürfnis auf dem Weg der souveränen Inbesitznahme von geistigen Produkten auf unmittelbare Weise zu befriedigen17 . Halbbildung wird ausgelegt als eine Praxis, der es darum geht, individuell internalisierte und empfundene Unzulänglichkeiten durch intellektuelle Souveränisierung auszugleichen. Also solche beschreibt sie stets zugleich ein psychisches und ein gesellschaftliches Verhältnis. In der »Einheit von Bildung und Besitz« (THB: 115) verknoten sich das Bedürfnis des Selbst nach Bestimmtheit und Bedeutung mit dem, was innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Geltung hat, nämlich Besitz. Halbbildung als Kulturindustrie schließt die Lücke zwischen Individuum und Besitz und stellt damit die soziale Konstitutionslogik des bürgerlichen Bildungsbegriffs auf den Kopf. Sie erweckt den Schein, die Trennung von geistiger und materialer Arbeit, die Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zum Privileg und Ausschlussmechanismus machte, sei gesellschaftlich nivelliert18 . Über die Kulturindustrie wird Bildung an die Funktionen 17
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»Kollektiver Narzißmus läuft darauf hinaus, daß Menschen das bis in ihre individuellen Triebkonstellationen hineinreichende Bewußtsein ihrer sozialen Ohnmacht, und zugleich das Gefühl der Schuld, weil sie das nicht sind und tun, was sie dem eigenen Begriff nach sein und tun sollten, dadurch kompensieren, daß sie real oder bloß in der Imagination, sich zu Gliedern eines Höheren, Umfassenden machen, dem sie die Attribute alles dessen zusprechen, was ihnen selbst fehlt, und von dem sie stellvertretend etwas wie Teilhabe an jenen Qualitäten zurückempfangen. Die Bildungsidee ist dazu prädestiniert, weil sie […] vom Individuum bloß ein Minimum verlangt, damit es die Gratifikation des kollektiven Narzißmus gewinne; […]. Die Attitüde, in der Halbbildung und kollektiver Narzißmus sich vereinen, ist des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazugehörens.« (THB: 114f.) »Während die ursprünglich sozialen Differenzierungsmomente kassiert werden, in denen Bildung bestand – Bildung und Differenziertheit sind eigentlich dasselbe –, gedeiht an ihrer Stelle ein Surrogat. Die perennierende Statusgesellschaft saugt die Reste von Bildung auf und verwandelt sie in Embleme von Bildung. Sie hat von je dazu sich erniedrigt, ihre sogenannten Träger, früher jene die Latein konnten, vom Volk zu trennen […]. Nur konnten hinter den Mauern ihres Privilegs auch die humanen Kräfte sich regen, die, auf die Praxis zurück gewandt, einen privileglosen Zustand verhießen. Solche Dialektik der Bildung ist durch ihre gesellschaftliche Integration, dadurch also, daß sie unmittelbar in Regie genommen wird, stillgestellt.« (THB: 108)
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und Regeln des freien Marktes angepasst, Wissen in der Form von Informationen wird tauschbar und kann dadurch erworben und besessen werden (vgl. Casale 2011a). In erkenntnistheoretischer Hinsicht bezeichnet Halbbildung eine Erkenntnisweise der intellektuellen Verfügbarmachung und Inbesitznahme von Objekten, deren Besitz allgemein als erstrebenswert gilt. Sie geht zurück auf das verdinglichte Bewusstsein, selbst wiederum Resultat der lückenlosen Anpassung an die Voraussetzungen des zweck- und funktionsorientierten Charakters der instrumentellen Rationalität. Die Konsequenz aus der Vereinnahmung von Bildung durch die verdinglichte Bewusstseinsform besagt, dass der Bildungsprozess nur in eine Richtung geht: Vom Besitzwollenden zum Besitzenden. Was das verdinglichte Bewusstsein dabei vollzieht, ist eine Praxis der Selbstaffirmation. Darunter kann eine Handlungsweise verstanden werden, in der sich das Bewusstsein zwar auf ein Äußeres bezieht, aber nur um sich durch das Andere wissend auf sich selbst bzw. das eigene Wissen und Können beziehen zu können. Dieses Wissen von sich selbst ist »wie das Wissen von einem Ding: das Wissen um eine abgeschlossene Reihe von Vollzügen, die in abstrahierend identifizierten Merkmalen übereinstimmen. Was das Selbst der Gewohnheit will ist, dieser Reihe ein weiteres Merkmal hinzuzufügen, das der Reihe nichts hinzufügt.« (Menke 2018: 136). Das verdinglichte Bewusstsein ist beides: eine Erscheinungsform zweiter Natur und die Bedingung ihrer Reproduktion19 . Die Differenz zwischen geistiger Erfahrung und maschineller Rationalität beschreibt die erkenntnistheoretische Voraussetzung der Unterscheidung zwischen einem sachlich vermittelten Erkenntnisprozess – also Bildung – und der methodischen Aktivität des verdinglichten Bewusstseins – also Halbbildung. Maßgeblich festzumachen an der Spontaneität der denkenden Subjekte, bewegt sich geistige Erfahrung auf einer anderen Sinnkurve als die ›Ersatzbefriedigungen‹ von Information und Methode. Adornos Schritt über die Halbbildung hinaus besteht in entscheidender Weise darin, die Frage, ob und inwiefern Bildung seinem Versprechen nach Fortschritt als Verwirklichung von Freiheit gerecht werden kann, aus dem Horizont von Spontaneität und Begriff zu erkunden. Die Erkundung fußt auf der Prämisse eines selbstreflexiven Bildungsbegriffs, der als solcher kritisch weitergedacht werden kann. Bildung bringt die Verdinglichung des Bewusstseins nicht nur hervor, sondern kann das beschädigte Bewusstsein »auch als unhintergehbar erkennen – und sich im Lichte dieser Erkenntnis neu formieren, seine Form, die Form seiner Form, radikal verändern« (Menke 2015: 122; Herv. i.O.). Der Anknüpfungspunkt einer veränderten Form der Bildung ist die dialektische Einheit von Vermittlung und Versöhnung von Geist und Natur:
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Mit Menke (2018b) lässt sich die Vollzugsform des verdinglichten Bewusstseins fassen als Handlung aus Gewohnheit, d.h. als eine Handlung, die sich mechanisch vollzieht: »Mechanisch ist die Gewohnheit in der Art ihrer Wiederholung. Denn ›Wiederholung‹ heißt in der Gewohnheit, ein Verhalten zu reproduzieren, das dasselbe Merkmal noch einmal aufweist. Das kann die Gewohnheit nur leisten, wenn sie nicht weiß, weil sie verdrängt, was das Verhalten in der Tat in jedem Fall verändert. […] In der identischen Reproduktion seines Verhaltens geht es dem Selbst der Gewohnheit um seine Identität. […] Die Identität des Selbst der Gewohnheit ist imaginär: Sie ist geworden, geistig gesetzt und erscheint als Sein oder Natur« (ebd.: 136; Herv. i.O.).
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»Fortschreitendes Bewußtsein, das der angehorteten zum Besitz verschandelten Kultur widersteht, ist nicht nur über, sondern immer zugleich auch unter der Bildung. Stets ist die hervortretende neue Qualität mehr und weniger als das Versinkende. Dem Fortschritt selber, der Kategorie des Neuen ist als Ferment, ein Zusatz von Barbarei beigemischt: man fegt aus. Zu visieren wäre ein Zustand, der weder Kultur beschwört, ihren Rest konserviert, noch sie abschafft, sondern der selber hinaus ist über den Gegensatz von Bildung und Unbildung, von Kultur und Natur.« (THB: 120) Bildung ist also immer beides: als begriffliche Erfahrung kultureller und wissenschaftlicher Sachverhältnisse ist sie vermittelnd, negativ-bestimmend – darin besteht ihr barbarisches Moment; als mimetische Verhaltensweise, die sich in die Gegenstände versenkt, überschreitet sie jene Gegensätze – darin besteht ihr versöhnendes Moment. In beiden Fällen handelt es sich um intellektuelle Erfahrungen, in denen das Somatische auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommt. Die Erfahrungen, um die es hier geht, sind Zueignung, Spontaneität und melancholisches Bewusstsein. In der Bestimmung von Bildung als »Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung (THB: 94; Herv. rb) verdichtet sich die zweite Natur von Bildung in erkenntnistheoretischer und gesellschaftskritischer Hinsicht. Der Begriff beschreibt zum einen den individuellen Prozess der Halbbildung als rational vermittelte Anpassung an die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse. Zum anderen versucht Adorno mit dem Begriff ein neues Verhältnis zwischen Kultur und Bildung zu bestimmen. In beiden Fällen ist das Subjekt mit einer Objektivität, einem Etwas das Außerhalb der eigenen subjektiven Grenzen liegt, konfrontiert, das dazu bewegt, sich diesem aktiv zuwenden. Worin besteht jedoch die Differenz zwischen der Vorstellung von Zueignung als Entäußerung und der Auffassung von Zueignung als Anpassung? Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Verhaltensweise gegenüber der wahrgenommenen Fremdheit und Unverfügbarkeit in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf den Anderen. Während Anpassung das Resultat eines in gewissem Sinn fehlgeschlagenen Versuches ist, die Erfahrung der eigenen Begrenztheit und der Unverfügbarkeit des Gegenstandes rationalen Mitteln zu bewältigen, geht Entäußerung den gegenteiligen Weg: sich in das Objekt zu versenken, um es als solches lebendig zu erfahren. Selbstvergessenheit und Entäußerung beschreiben Modi geistiger Erfahrung, die von der Negativität eines Objekts ausgehen: »Keine Objektivität des Denkens als eines Aktes wäre überhaupt möglich, wäre Denken nicht in sich selber, der eigenen Gestalt nach, immer auch gebunden an das, was nicht selbst Denken ist: darin ist zu suchen, was an Denken zu enträsteln wäre. Wo es wahrhaft produktiv ist, wo es erzeugt, dort ist es immer auch ein Reagieren. Passivität steckt im Kern des Aktiven, ein sich Anbilden des Ichs ans Nicht-Ich.« (APD: 601; Herv. rb)20
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Selbstvergessenheit unterscheidet sich von einer »Selbstausschaltung« (APD: 603) des Subjekts, die von dem rein methodologischen Zugang zu den Objekten verlangt wird. Der Differenzpunkt zwischen Selbstausschaltung und Selbstvergessenheit besteht darin, dass ersteres von der Vorstellung geleitet ist, Wahrheit und Objektivität seien dasselbe, wohingegen letzteres die Bedeutung des Subjekts – nicht des Individuums – für die Wahrheitsfindung gerade betont.
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Bei der Bestimmung des Anbildens als passives Moment des Bildungsprozesses handelt es sich um eine erkenntnistheoretische Vorstellung, die die Abhängigkeit der Erfahrung vom Objekt und das passive Moment des Denkens zusammendenkt. Das Anbilden ist aktiv und passiv zugleich: passiv, weil es ein impulshaftes und somit auch somatisches Reagieren auf eine sinnliche Affizierung ist und aktiv, weil hinter der Selbstaufgabe die Fähigkeit zur Vermittlung steht. Adorno legt Entäußerung und Vermittlung nicht als reine Verstandestätigkeiten aus, sondern bezieht sich zurück auf ihre immanente Natur. Die Beherrschung des Gegenstandes setzt die Befreiung und Objektivierung der eigenen Natur zu einem rationalen Mittel voraus. Dem Modus der Zueignung hingegen fehlt die instrumentelle Absicht der Rationalität, sie ist darum aber nicht weniger reflexiv. Adorno erläutert diese Dialektik zwischen subjektiver Zueignung und reflexiver Arbeit durch eine Theorie der Bildung als somatische und lebendige Erfahrung. Sie nimmt ihren Ausgang von der Kritik an der Gleichsetzung von Freiheit und rationaler Beherrschung der Natur. Die Tätigkeit des Bewusstseins erscheint zunächst als frei, weil sie sich vermittels der Struktur einer bestimmenden und identifizierenden Rationalität vollzieht. Rationalität und intellektuelle Autonomie sind jedoch nicht identisch. Im Gegenteil ist gerade die rationale Selbstbestimmung unfrei, weil sie nichts anderes tut, als das Gegebene unter den eigenen Gesetzen zu subsumieren. Die Ausschließlichkeit, mit der sie verfährt, ist Ausdruck ihrer Naturverfallenheit. Mit der geistigen Erfahrung verhält es sich genau umgekehrt. Sie erscheint unfrei, weil sie weder über die Tätigkeit, die sie ausübt, noch über den Anlass ihrer Tätigkeit verfügen kann. Aber genau darin scheint für Adorno der Kern der Befreiung durch lebendige Erfahrung zu liegen. Die Erfahrung erschließt den Gegenstand nicht ausschließlich mit den Mitteln des naturbeherrschenden Verstandes. Ihre Vermittlung vollzieht sich an der Schwelle von somatischer und geistiger Vermittlung »und erinnert auf diese Weise an eine unentfremdete Rationalität« (Eichel 1993: 145). Lebendige Erfahrung als ›unentfremdete Rationalität‹ durchbricht einen streng begrifflichen Anspruch an Bildung zugunsten einer Intellektualität, die das konstitutive Moment des Somatischen im Erkenntniszusammenhang betont. Diese Form der intellektuellen Aktivität lässt sich ausgehend von einigen Hinweisen zum Spontaneitätsbegriff näher erläutern. Durch die lebendige Erfahrung des Subjekts ändert sich fundamental, wie Bildung als ursprüngliche Erzeugung und als Vermittlung aufgefasst wird. Spontaneität bezeichnet für Adorno in bildungstheoretischer Hinsicht zunächst nichts anderes als die Erfahrung, dass »Forschung in Freiheit des Gedankens besteht […] im Produzieren, also darin, daß nicht schon ein Vorgegebenes angeeignet, sondern daß es ursprünglich erzeugt wird – und dieser Gedanke der ursprünglichen Erzeugung hängt nicht nur in den Wolken als die Tat des transzendentalen Subjekts, sondern wird in einem gewissen Sinn von jedem einzelnen tätigen Bewusstsein verlangt« (ELF: 275)21 . In dieser Auslegung
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Die Wendung basiert auf der Gewinnung einer veränderten Perspektive auf den Spontaneitätsbegriffs Kants: »Kants Größe jedoch, eine der kritischen Beharrlichkeit auch gegenüber den eigenen sogenannten Grundpositionen, hat sich zuletzt daran bewährt, daß er, dem Tatbestand Denken höchst angemessen, die Spontaneität, die im Denken ist, nicht einfach mit bewußter Tätigkeit gleichsetzte. Die maßgeblichen konstitutiven Leistungen des Denkens waren ihm nicht dasselbe
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löst Adorno Spontaneität zunächst aus ihrem transzendentalen Begründungskontext von intelligibler Unabhängigkeit und idealistischer Selbstbezüglichkeit. Dahinter steht die Übertragung der Verantwortung für den Bildungsprozess von einem allgemeinen Vernunftgesetz an die geistige Produktivität der Einzelnen, an die Erfahrung des einzelnen Bewusstseins. Das Spezifische dieser Produktivität besteht zunächst darin, dass sie an das Bewusstsein die Anforderung der Vermittlung stellt. Bildung ausgehend von der Idee ursprünglicher Erzeugung von Gedanken durch Vermittlung zu denken, bedeutet Vermittlung als notwendige Bedingung von Bildungsprozessen zu bestimmen. Mit der Einsicht in die Bedingtheit verschiebt sich auch der »Traum der Bildung, [von der] Freiheit vom Diktat der Mittel« (THB: 98), der in Vernunft gründenden Identität von Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Adorno rückt dabei nicht ab vom Kerngedanken des Bildungsbegriffs. Vielmehr erweist sich Bildung als Vermittlung als Konsequenz einer kritischen Einholung der philosophischen Bildungsidee Hegels. In der Herr-Knecht-Dialektik der Phänomenologie des Geistes macht Hegel die Differenz zwischen intellektuellen Techniken der Naturbearbeitung und der Fähigkeit zum selbstständigen und schöpferischen Gedanken zum Gegenstand einer geschichtsphilosophischen Reflexion. Die Dialektik von Technik und Vernunft ist Bedingung und Telos befreiender Bildung. Ausgangspunkt jedes Bildungsprozesses ist nach Hegel die Erfahrung der Entzweiung und das Bedürfnis, sich aus dieser zu befreien. Form und Medium der Befreiung ist die Arbeit des Begriffs. Im Begriff verwirklicht die Vernunft ihr Vermögen, die Entzweiung zu überwinden. Die Zweiheit des Begriffs von Form und Medium entspricht der Spaltung des Bewusstseins in Selbstbewusstsein und natürliches Bewusstsein, in Herr und Knecht. Der Herr besitzt im naturbearbeitenden Knecht, aufgefasst als Sitz von Fähigkeiten (Sinnlichkeit, Wahrnehmung, Verstand) die Form eines Werkzeuges. Die knechtische Produktivität an sich und das von ihm Produzierte für sich garantiert und entlarvt zugleich die Selbstständigkeit des Herrn. Diese ist, wenn man Arbeit und Freiheit zusammendenkt, auf der Seite des Knechts. Dieser verwirklicht durch bildende Arbeit, seine geistigen Möglichkeiten und kommt darin zu Bildung in einem eigenen, nicht aber allgemeinen Sinn. Das technische Verhältnis geistiger Arbeit, welches sich im Eigensinn der knechtischen Bildung verwirklicht, ist Bedingung, aber noch nicht Zweck der Vernunft oder der allgemeinen Bildung. Den Zweck der Bildung bestimmt Hegel als absolute Befreiung aus der unmittelbaren Natur durch das Begreifen der geschichtlichen Welt in ihrer Totalität. Adorno greift die Differenz zwischen besonderer und allgemeiner Bildung auf und gibt ihr eine dialektische und eine materialistische Wendung. wie Denkakte innerhalb der bereits konstituierten Welt. […] [D]ie Akte, durch welche das Bewußtsein die Sinnesmaterialien vorweg formt, seien ihm als solche nicht bewußt: das ist ihre ›Tiefe‹, passivisch durchaus. Sie charakterisiert sich systemimmanent dadurch, daß das ›Ich denke, daß all meine Vorstellungen muß begleiten können‹, die Formel für die Spontaneität, nicht mehr sagen will, als daß ein Tatbestand in der Einheit des subjektiven Bewußtseins, und zwar des persönlichen, sich finde […]. Niemand kann den Schmerz eines anderen in der eigenen Einbildungskraft reproduzieren. Darauf läuft die transzendentale Apperzeption hinaus.« (APD: 600; Herv. rb) Halbbildung hingegen ist die Negation von Spontaneität. Sie beschreibt einen anderen Zustand des tätigen Bewusstseins, in dem »Spontaneität, geschichtlicher Knotenpunkt, verstellt [ist] unter den gegenwärtigen Bedingungen« (ND: 218) der allgemeinen Naturbeherrschung.
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Die dialektische Wendung betrifft die technische Vernunft des knechtischen Bewusstseins. Rationalität, die bei Hegel noch als das partikulare Moment der Vernunft bestimmt wird, entwickelt sich innerhalb kapitalistischer Verhältnisse zum Allgemeinen in der Geschichte. Das geschichtlich entstandene, aber zu zweiter Natur geronnene Tausch- und Produktionsverhältnis konstituiert das verdinglichte Bewusstsein. Daraus lässt sich schließen, dass Technik nicht nur als Mittel in sozialen, ökonomischen, politischen und intellektuellen Verhältnisse fungiert, sondern dass Individuen sich in weiten Teilen selbst als Mittel verstehen und entsprechend handeln. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass Adornos idealismuskritischer Bildungsbegriff Abstand nimmt vom »mythischen Ich der großen deutschen Philosophie« (NL: 143), hier repräsentiert im Hegelschen Begriff des Selbstbewusstseins. Das Gleiche gilt jedoch nicht für dessen Begriff vom natürlichen Bewusstsein, repräsentiert im Knecht. »Indem nicht alle Erfüllungen seines natürlichen Bewusstseins wankend geworden, gehört es an sich noch bestimmtem Sein an; der eigene Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, die immer noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt.« (W 3: 155) Ersichtlich leidet das natürliche Bewusstsein in seiner Eigensinnigkeit für Hegel an einem Mangel an Allgemeinheit und Freiheit. Darum muss die mangelhafte Gestalt der knechtischen Freiheit notwendig überwunden werden, das besondere Bewusstsein muss sich zur allgemeinen Vernunft bilden. Diese Notwendigkeit wird jedoch von Adorno infrage gestellt. Dies hat, wie oben gesehen, zunächst damit zu tun, dass die objektiven Bedingungen so aufgestellt sind, dass Bildung dem Anspruch allgemeiner Freiheit und Vernunft realgeschichtlich nicht gerecht werden kann. Der idealistische Bildungsbegriff ringt mit dem Widerspruch, einerseits Autonomie subjektiv und objektiv vorauszusetzen und zu bezwecken, jedoch beide – Voraussetzung und Zweck – realgeschichtlich nicht verwirklichen zu können. Die moderne Bildungsidee ist krisenhaft von Anfang an22 . Wenn aber der Bildungsidee, die dem Anspruch der Vermittlung
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Adorno liest Humboldts Bildungstheorie als Versuch, den Bildungsbegriff durch die Zentrierung von Bildung auf individuelle Freiheit zu retten. Die begriffliche Trennung zwischen individueller und gesellschaftlicher Freiheit basiert weiterhin auf einem »liberale[n] und idealistischen Begriff des Individuums als Vernunft- und Gattungswesen […], dessen Entfaltung nach einer Entwicklung kognitiver und moralischer Natur strebt, die eine mit der Menschheit geschichtsphilosophisch versöhnte Individualität vorsieht« (Casale 2012: 130; Herv. rb), aber geschichtlich nicht voraussetzt. Durch die Verschiebung der Begründungachse der Bildung von der Geschichte zu Individuum und Humanität trete, so Adorno, »ein tiefer Widerspruch zutage. Auf der einen Seite ist das HegelischGoetsche Ideal der Entäußerung, das heißt der partikularen Realisierung der Bildung und der selbstgenügsamen Bildung des Individuums für sich als Selbstzweck, unter Verzicht auf Realisierung, und auf der anderen Seite hält dann Humboldt doch noch den allgemeinen Bildungsbegriff im Sinn universaler Humanität aufrecht, ohne daß sein Denken […] aus objektiven Gründen fähig gewesen wäre, diesen Widerspruch zu meistern. Man kann wahrscheinlich zeigen […], wie bei Humboldt diese beiden Motive mehr oder minder unglücklich aneinander sich abarbeiten. Die Neutralisierung der Bildung zu einem Geisteszustand des Individuums ist eine Not, die [Einsicht] in die Unrealisierbarkeit der Bildung im Bestehenden, welche sie zum Rückzug nötigt.« (ELF: 286) Die Zurücknahme von Bildung auf das geistige Vermögen von Einzelnen entspricht einerseits der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft und desavouiert die Vorstellung von Bildung als kollektiver Erfahrung. Zugleich ist das individuelle Moment insofern konstitutiv für Bildungsprozesse,
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von subjektiver und objektiver Dimension angesichts widerstreitender gesellschaftlicher Verhältnisse nicht gerecht werden kann, die Krise also unauflöslich eingeschrieben ist, ist damit auch die Existenz und Bedeutung des Begriffs prekär. Warum hält Adorno trotzdem am Hegelschen Bildungsbegriff fest? Die kritische Rezeption der idealistischen Auffassung von Bildung ist geprägt von einer Differenzierung zwischen ihrem ideologischen Gehalt und ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung: »Die unwiderrufliche Verselbstständigung des Geistes gegenüber der Gesellschaft, die Verheißung von Freiheit, ist selber so gut ein Gesellschaftliches, wie die Einheit von beidem es ist. Wird jene Verselbstständigung einfach verleugnet, so wird der Geist unterdrückt, und macht dem, was ist, nicht weniger die Ideologie, als wo er ideologisch Absolutheit usurpiert. Was ohne Schande, jenseits des Kulturfetischismus, kulturell heißen darf, ist einzig das, was vermöge der eigenen geistigen Gestalt sich realisiert, in die Gesellschaft zurückwirkt, nicht durch unmittelbare Anpassung an ihre Gebote. Die Kraft dazu aber wächst dem Geist nirgendwoher zu als aus dem, was einmal Bildung war. Tut indessen der Geist nur dann das gesellschaftlich Recht, solange er nicht in der differenzlosen Identität mit der Gesellschaft zergeht, so ist der Anachronismus an der Zeit: an der Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog.« (THB: 121) Das Paradoxe an Hegels Begriff der Bildung, der die subjektiven und objektiven Bedingungen des Bildungsprozesses bestimmt, ist für Adorno der Umstand, dass sich Bildung durch seine gesellschaftliche Verunmöglichung hindurch individuell verwirklichen konnte und weiterhin verwirklichen kann. Dies erklärt, warum Adorno notwendigerweise von der geschichtsphilosophischen Begründung einer Identität zwischen der Geschichte der Bildung des Bewusstseins und der Geschichte der Bildung der Welt Abstand nimmt, nicht jedoch von der erkenntnistheoretischen Auffassung von Bildung als Erfahrung des Bewusstseins. Bildung als Erfahrung des Bewusstseins muss also mehr sein, als Hegels Bildungsbegriff es nahelegt. Dieses Mehr herauszuarbeiten heißt, den Bildungsbegriff der Erfahrung des Bewusstseins von seiner engen Bindung an begriffliches Denken zu lösen – ohne die Verbindung zu kappen – und ihn hinzuwenden auf seine materiellen Bedingungen. Die Hinwendung erfolgt in Form einer Verschiebung des Erkenntnisvermögens vom Begriff als allgemeinem Subjekt in »das individuelle Bewusstsein, Schauplatz geistiger Erfahrung« (ND: 55). Der Begriff der geistigen Erfahrung öffnet Bewusstsein und Begriff gegenüber anderen, nichtbegrifflichen Formen der Erfahrung. Als Schauplatz geistiger Erfahrungen ist das individuelle Bewusstsein nicht identisch mit dem Vollzug begrifflichen Denkens. Die geistige Erfahrung, die sich stets individuell vollzieht, ist weder künstlich zu trennen von dem, was das individuelle Bewusstsein immer auch ist bzw. geschichtlich geworden ist. Das ist nicht zuletzt eine der Schlussfolgerungen, die aus Adornos Erläuterung des Individuums als »ein Stück Naturgeschichte« (F: 633) folgt. Hierin lässt sich erkennen, dass das Individuum »wie
als sie sich nicht realisieren können »ohne dieses Sich-Zurücknehmen der Bildung auf sich selbst, dieses Herausgehen, dieses Zurückgehen aus der gesellschaftlichen Realität« (ELF: 286).
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der geschichtliche Verlauf und die psychologische Genese es lehren, ein Entsprungenes ist; […] Aber dies Urteil ist kein absolutes. Das Entsprungene kann, nach Nietzsches Einsicht, gegenüber seinem Ursprung das Höhere sein.« (GS 8: 91) Der Begriff des Entsprungenen weist terminologisch auf die Entstehungsgeschichte des Bewusstseins und auf seinen gesellschaftlichen und psychischen ›Grund‹ hin. Er artikuliert damit aber auch die Möglichkeit über bloße Naturbeherrschung hinauszugehen. Wissend um dessen Dialektik diskutiert Adorno das individuelle Bewusstsein nicht nur als Herrschaftsform, sondern auch als Möglichkeitsbedingung, sich vom Zwang der Naturbeherrschung zu befreien. Der Kern dieses Befreiungsprozesses besteht in einer veränderten Weise der Bezugnahme auf Natur. Wenn Adorno von der »Individuation der Erkenntnis« (ND: 56) spricht, dann artikuliert sich darin nicht nur die Hervorkehrung des Besonderen bzw. der besonderen Erfahrung gegenüber des begrifflichen Zugs ins Allgemeine, sondern besagt auch, dass geistige Erfahrungen nicht zu trennen sind von der Natur der Einzelnen. Während das verdinglichte Bewusstsein jenes »Triebelement, das eigentlich jeden Akt der Erkenntnis in irgendeiner Weise inspiriert und das jeder eigentlich an sich selbst realisieren kann, gerade auch als Erkennender, verleugnet« (NaS IV, 4: 294), setzt die Vollzugsweise von Bildung als geistiger Erfahrung das Somatische des denkenden Subjekts konstitutiv voraus. Das Somatische als Bedingung von Bildung bedeutet mehr als eine Erinnerung an das Moment der sinnlichen Rezeption. Es besagt, dass es keine epistemische Absicht im Sinne von Bildung geben kann, für die die somatische Erfahrung und der somatische Nachvollzug des Gegenstandes nicht konstitutiv sind23 . Um den Implikationen einer bildungstheoretischen Verknüpfung geistiger und somatischer Erfahrung auf die Spur zu kommen, ist eine Betrachtung der verschiedenen Facetten der somatischen Voraussetzung in Bezug auf das Bewusstsein von Bildung notwendig. In dem Aphorismus Intellectus sacrificium intellectus aus den Minima Moralia entwirft Adorno eine Konstellation der Erkenntnistriebe und intellektuellen Leidenschaften: »Ist nicht das Gedächtnis untrennbar von der Liebe, die bewahren will, was doch vergeht? Ist nicht jede Regung der Phantasie aus dem Wunsch gezeugt, der übers Daseiende in Treue hinausgeht, indem er seine Elemente versetzt? Ja ist nicht die einfachste Wahrnehmung an der Angst vorm Wahrgenommenen gebildet oder der Begierde danach? Wohl hat der objektive Sinn der Erkenntnisse mit der Objektivierung der Welt
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Dass Bildung als Ausdruck der freien Produktivität des Gedankens eine Wirkung des Somatischen ist, gehört in grundlegender Weise zur begrifflichen Matrix der klassischen Bildungsidee. Casale (2020c) formuliert hierzu: »Für die Bildung in der Moderne, die als Ziel der Formation des Selbst die Subjektwerdung hat, ist das Verhältnis vom Ich zum eigenen Körper von entscheidender Relevanz. Dieses Verhältnis wird anthropologisch gedacht, logisch und ästhetisch dekliniert. […] Kognitiv, logisch wird die Humanisierung des Animalischen als Dramaturgie eines Übergangs vom Sinnlichen zum Rationalen im Medium des Begriffs. Die Distanz zum Sinnlichen, die sich in der Verobjektivierung des Wahrgenommenen realisiert formiert sich im Begriff. Der Begriff trennt die Wahrnehmung nicht vom Sinnlichen. Er nimmt lediglich Abstand von ihm. Der Charakter des Bildungsprozesses wird von der Art der Zurückweisung bzw. der Versöhnung mit dem Sinnlichen abhängig gemacht. Das Sinnliche soll in der Bildung vergegenständlicht werden, aber der natürliche Keim soll noch zu spüren sein.« (ebd.: 10f.)
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vom Triebgrund immer weiter sich gelöst; wohl versagte Erkenntnis, wo ihre vergegenständlichende Leistung im Bann der Wünsche bleibt. Sind aber die Triebe nicht im Gedanken, der solchem Bann sich entwindet, zugleich aufgehoben, so kommt es zur Erkenntnis überhaupt nicht mehr und der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater tötet, wird von der Rache der Dummheit ereilt.« (MM: 138f.) Dabei übernimmt er wiederum aus Nietzsches Aphorismus Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf die Auffassung, dass die Möglichkeit von Erkenntnis mit der Sublimierung der Triebnatur der Einzelnen konstitutiv zusammenhängt24 . Der Bezug auf Nietzsche dient Adorno nicht nur dazu, hinsichtlich der Genese des Bewusstseins Triebe als »Bedingungen seiner selbst« (ebd.: 138) auszuweisen, sondern auch dazu, die Bedeutung der spezifischen Emotionen Liebe, Angst und Sehnsucht für die Hervorbringung und Geltung von Erkenntnissen zu unterstreichen. Sie bilden so etwas wie den emotionalen Grund der drei zentralen Erkenntnismodi Mimesis, Naturbeherrschung und Einbildungskraft. Während Selbstvergessenheit an den Erkenntnisgegenstand nicht ohne den Moment der liebenden Zueignung zu verstehen ist, verliert Naturbeherrschung, ohne die Angst vor dem nicht-ichlichen Moment, ihren Sinn. In der Einbildungskraft wiederum manifestiert
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Adorno greift die Idee von Sublimierung als Verfeinerung und Befreiung dort auf, wo die Möglichkeit zu emphatischer Erkenntnis, Spontaneität und Spekulation an den Zusammenhang mit ihrer körperlichen und emotionalen Erfahrung genetisch und in Bezug auf die Geltung gebunden ist. Nietzsche beschreibt den Prozess, aus dem das Denken hervorgeht, als Sublimierung. Das, was dabei herauskommt, schließt die gewaltsam hervorgebrachte Allgemeinheit von Bewusstsein und Sprache ebenso ein, wie die leiblichen Kräfte, zu denen Nietzsche Instinkte, Triebe, Reize, Affekte, Illusionen und Traumbilder zählt, zu denen sie qua Genese konstitutiv in Beziehung stehen. Die leiblichen Kräfte werden nicht rein physiologisch, sondern philosophisch betrachtet. Die genealogische Analyse führt zur Einsicht in die Entstehung von Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeiten aus der gewaltvollen Formung leiblicher Impulse, Triebe und Affekte. Indes der Prozess weder automatisiert und noch auf den Austritt aus dem Zustand der Animalität reduziert verläuft, sondern auch auf Verfeinerung oder das, was Nietzsche als »Hinaufkommen« (KSA 6: 150) des Leibes bezeichnet, zielt, spielt der Befreiungsaspekt und dessen immanentes pädagogisches Moment eine entscheidende Rolle in der Sublimierung. Das pädagogische Moment stellt die Ursprünglichkeit der leiblichen Natur infrage: »Unsere Triebe Affekte werden […] erst gelehrt: sie sind nichts Ursprüngliches! Es giebt keinen ›Naturzustand‹ für sie« (KSA 9: 510f.; Herv. i.O.). Der philosophische Blick interessiert sich für die Vielheit des Leibes als Mannigfaltigkeit seiner Erfahrungs- und Entäußerungsformen und -weisen: »Es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib: es ist die fühlbar werdende Geschichte davon, dass ein höherer Leib sich bildet. Das Organische steigt noch auf höhere Stufen.« (KSA 10: 653) Klass (2012) erkennt in der uneindeutigen Bestimmung des Verhältnisses von Leib, Affekt und Bewusstsein »die ganze Ambiguität von Nietzsches Versuch, den Leib philosophisch zu rehabilitieren: Er will zum Leib, er will die Macht des Leibes gegen eine bloße Bewusstseinsfixierung geltend machen, indem er das ›Physiologische‹ gegen den ›Geist‹ und die ›Vernunft‹ in Stellung bringt – und findet doch im Leib selbst, seinen ›physiologisch‹ genannten Grundeinheiten immer wieder ›geistige‹ und ›intellektuelle‹ Momente, die die Idee reiner Physiologie unterminieren« (ebd.: 202). Bedingung und Motor der Steigerung des bloß organisch-physiologischen Daseins ist der Wille zur Macht. Goebel beschreibt den Willen zur Macht als »überall spürbare[n] Motor der Selbstüberwindung – Überwindung von Lebensnot und Triebnatur, Wahrung der Distanz und Gewinnung des sublimen Überblicks im Zeichen des Selbstseins« (Goebel 2016: 92).
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
sich nicht nur die Lust am Bilderspiel, sie ist auch Ausdruck eines Wunsches der Negativität des Gegebenen zumindest virtuell zu entfliehen. Darin berührt sie sich mit der Denkform des melancholischen Bewusstseins. Adornos Verknüpfung von geistiger Erfahrung und Melancholie nimmt Bezug auf das »Affiziertsein vom Negativen« (Klein 1998: 11), dass die Erfahrung der Vergänglichkeit und das Leiden an dem Gegebenen das Bewusstsein in Bewegung setzt. Beide fungieren als notwendige Ausgangspunkte von Bildungsprozessen. Deren Entstehen ist in diesem Sinn abhängig von der Erfahrung des melancholischen Bewusstseins. In Adornos Verständnis zieht Bildung erst aus der Melancholie »die Kraft des Widerstands« (VND: 148), um sich aus dem Zustand der bloßen Anpassung an zweite Natur zu befreien. Doch wie ist diese subversive Kraft der Melancholie genau zu verstehen? Als »eine Kategorie des Impulses, eine Kategorie der unmittelbaren Verhaltensweise« (ebd.: 149; Herv. rb) beschreibt sie die Form des Übergangs in einen Erkenntnisprozess25 . Der ›qualitative Sprung‹, den das melancholische Bewusstsein in Bewegung setzt, ist somatisch vermittelt: »Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem« (ND: 202). Und an anderer Stelle heißt es: »Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle.« (Ebd.: 203) ›Schmerz‹ ist für Adorno nicht nur eine Denkfigur, durch die eine Vorstellung über die Bewusstseinsform gewonnen werden kann, sondern zeigt an, dass geistige Erfahrung »in seinem tatsächlichen Vollzug eine körperliche Dimension« (Grüny 2019: 440) besitzt. Es ist die Aufgabe, des melancholischen Bewusstseins, den Schmerz in Erkenntnisprozesse zu überführen, dem Schmerz eine Form zu geben. Da das melancholische Bewusstsein dazu keiner weiteren Anstöße oder Antriebsmechanismen braucht, beginnt der Übergang von der somatischen Erfahrung zur Forderung nach Veränderung stets als Impuls. Adorno treibt den Gedanken bis zu dem Punkt, dass er den somatischen Impuls als zentrale Bedingung von Erkenntnis- und somit auch von Bildungsprozessen bestimmt, ohne ihn darum an die Stelle der begrifflich-rational fundierten Erkenntnis zu setzen (vgl. Menke 2006: 163). Der Impuls kann als somatisch vermittelte Erkenntnisbedingung erkannt, aber nicht gesetzt oder begründet werden kann. Darum erscheint er als ein Ereignis, das den Gedanken von außen her kommend unterbricht oder als eine Erfahrung, die zum Bewusstsein hinzutritt.
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Im Versuch, den lebendigen Impuls des Widerstandes in einen naturgeschichtlichen Horizont einzubetten, grenzt Adorno den Widerstand in zwei Richtungen von der Reaktionsweise individueller Aversion ab. Denn »wenn also Philosophie nichts anderes vermag als sich gewissermaßen zu schütteln und zu sagen: ich bin dagegen, ich mag das nicht, – dann bleibt eine solche Philosophie im Bereich der Zufälligkeit der subjektiven Reaktionsweise« (VND: 149). Nicht jeder Impuls, der bei empfindenden Individuen zu Abwehrreaktionen führt, hat eine erkenntnisdienliche Bedeutung und ist darum zu unterscheiden von bloßen »Reibungskoeffizienten« (GS 8: 212). Ob Impulse in die geistige Kraft des Widerstandes übergegangen sein und zu Bildungsprozessen geführt haben werden, wird sich immer erst nachträglich in der theoretischen Einholung des Erfahrungsgehalts, d.h. in der Deutung des affizierenden Objektes zeigen.
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Das hinzutretende Dritte
Adorno räumt dem Hinzutretenden in Form von »natürlichen, spontanen Regung[en]« (ELF: 291f.) einen bildungstheoretisch entscheidenden Platz ein26 . Dahinter steht die Auffassung, dass Bildung als lebendige Erfahrung und als Prozess der Befreiung nicht ohne »die wendende Spontaneität« (F: 632) zu denken ist. Sie bedarf »jenes menschlichen Potentials, das von der Notwendigkeit der geschichtlichen Bewegung nicht ganz absorbiert wird« (ebd.). Die Praxis der wendenden Spontaneität hat die Form eines spontanen Urteils, das sich dadurch auszeichnet, dass in ihm die Momente von somatischen Impulsen und ihrer nicht-begrifflichen Synthese verwoben sind. Entscheiden ist, dass das spontane Urteil einen Zugang zum Erkenntnisgegenstand ermöglicht, der sich vom Zugriff des identifizierenden und generalisierenden Begriffs unterscheidet, ohne selbst jedoch eine gegenständliche Erkenntnisfunktion zu besitzen. Das spontane Urteil ist letztlich nur erkenntnisdienlich, kann aber das begriffliche Urteil nicht ersetzen. Seine erkenntnisdienliche Funktion besteht insbesondere darin, dem begrifflichen Drang zur Generalisierung des Gegebenen Grenzen zu setzen. Adornos Überlegungen zur lebendigen Erfahrung liegen also zwei ineinandergreifende Gedanken zugrunde: dass Wissen über geschichtliche Phänomene ohne begriffliches Denken genauso wenig zu erhalten ist, wie durch ausschließlich begriffliches Denken. Spontanes und begriffliches Urteil bedingen einander und ihre Dialektik bestimmt das, was Adorno als lebendige, geistige Erfahrung bezeichnet.
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Die somatische Dimension als Bedingung von Bildung herauszustellen, gehört zum »Programm einer negativen oder dialektischen Dialektik des Geistes« (Menke 2018a: 30), wie sie Menkes an Adorno geschulte Interpretation vertritt. Ausgehend von Überlegungen zur Dynamik von Befreiungsprozessen hat er mit der Konzeption von Bildung als ›Eingedenken der Natur‹ eine naturgeschichtliche Justierung des Bildungsbegriffs vorgenommen, die die Form negativer Erfahrung aus dem Horizont einer Dialektik von Natur und Geist bestimmt. Bildung ist »die Erfahrung der Natur, die dem Geist, der Kultur und der Gesellschaft immanent ist. Die geistigen Formationen des Menschen operieren anders als die natürlichen […]. Aber in allem geistigen Operieren ist zugleich eine Erfahrung des Nichtgeistigen, des Natürlichen enthalten. Der Geist, der sich denkt, denkt dabei immer zugleich die Natur, die er nicht ist. Der Geist denkt die Natur als das Andere des Geistes, wenn er seine Bildung, seine Entstehung denkt. […] Die Bildung führt von der Natur zur Kultur. Also muss die Kultur, die sich als Ergebnis eines Prozesses der Bildung versteht, zugleich ein Verständnis, von der Natur haben, aus der – und gegen die – sie sich gebildet hat. Sie muss über einen Begriff der Natur verfügen, und das kann nicht der Naturbegriff der Naturwissenschaften sein. Denn von deren Natur, der Natur der Kausalgesetze, führt gar kein Weg der Bildung zum Geist. Die Natur, so wie sie der Geist erfährt, wenn er sich als Produkt der Bildung denkt, ist daher eine andere oder ›zweite Natur‹ […]. Das Sich-Denken des Geistes ist zugleich ›Eingedenken der Natur‹ im Geist (Theodor W. Adorno). Denn indem der menschliche Geist sich die Geschichte seiner Entstehung aus Natur, seine Naturgeschichte erzählt, erfährt er die Natur als den Anfang des Geistes, den Ort seiner Herkunft« (Ebd.: 32 f). In Menkes Auffassung der Bildung bilden die Befreiung aus der Natur und die Hervorbringung von Kultur ein dialektisches Verhältnis: Ersteres bringt das Zweite hervor, d.h. Kultur ist das Resultat von Befreiungsprozessen aus der Natur und damit von Natur genetisch abhängig. Auf der anderen Seite setzt der Prozess, Natur zu denken, die Negativität von Natur bereits immer schon voraus. Bildung als negative Erfahrung stellt das Naturmoment als das immanente Andere in seiner konstituierenden Bedeutung für Erkenntnisprozesse heraus, ohne den Unterschied zwischen geistiger Erfahrung und der Erfahrung der Natur zu nivellieren.
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
Eingebettet ist die Dialektik von geistiger Erfahrung und spontanen Regungen in die Naturgeschichte des Begriffs. Die Entstehung und der Gebrauch von Begriffen entspringen einer sich geschichtlich durchsetzenden Praxis der Beherrschung von Natur. Lebendige Erfahrungen, insofern sie auch geistige Erfahrungen sind, sind mit der Geschichte fortschreitender Naturbeherrschung unauflöslich verstrickt. Insofern stellt der Begriff lebendiger Erfahrung eine Wissensform dar, die sich aus den Zwängen der Naturbeherrschung befreit, indem sie das Nichtidentische zu seinem Recht kommen lässt: »Unfrei sind [Subjekte] als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen – nichts anderes ist die Nichtidentität des Subjekts mit sich –, auch des Zwangscharakters der Identität ledig werden.« (ND: 294) Lebendig sind subjektive Erfahrungen dann, wenn es ihnen möglich ist, sich von den natürlichen Regungen, die in der Begegnung mit Erkenntnisgegenständen hervortreten, überwältigen zu lassen (vgl. König/Hogh 2011). Das Zulassen-Können von spontanen Regungen wird zum Dreh- und Angelpunkt einer Kritik an der Gleichsetzung von Erkenntnis und Rationalität. Adornos Bestimmung von Bildung als geistiger Erfahrung läuft darauf hinaus, dem Nichtidentischen dadurch Rechnung zu tragen, dass Natur und Erkenntnis, Somatisches und Bewusstsein nicht künstlich voneinander getrennt, sondern als durcheinander vermittelt betrachtet werden. Mit Blick auf das melancholische Bewusstsein stellt sich die Dialektik so dar, dass zum einen den spontanen Regungen durch das formgebende Bewusstsein ein intellektueller Ausdruck gegeben wird, zum anderen die Formung nicht als souveräner Akt, sondern als eine von den spontanen Regungen selbst evozierte Verhaltensweise des Bewusstseins zu betrachten ist. In Melancholie geht dieses Vermittlungsverhältnis dann über, wenn es die Fähigkeit hervorbringt, sich der eigenen und der sozialen Naturhaftigkeit bewusst werden zu können und im Bewusstsein geschichtlicher Hinfälligkeit hinter die Gewordenheit des Gegebenen zu gelangen. Eine andere Weise, in der die Dialektik von spontanen Regungen und Bewusstsein produktiv wird, stellt das Spannungsverhältnis dar, das sich zwischen geistiger Erfahrung und der Liebe entspinnt. Liebe steht nach Adorno für die Fähigkeit, im Erkenntnisgegenstand »das Allgemeine zu ergreifen, ohne sich selber und die Wahrheit seiner Erfahrung darüber zu opfern« (MM: 204). Wie im Fall der Melancholie wird im Fall der Liebe die Spontaneität des somatischen Impulses zugleich bewahrt und geformt. Denn »Lieben heißt fähig sein, die Unmittelbarkeit sich nicht verkümmern zu lassen vom allgemeinen Druck der Vermittlung« (ebd.: 195). Die ›geformte‹ Liebe erscheint hier als Antwort auf die Frage, wie ein zwangloser Zugang zum Objekt gelingen kann. Eine ›nicht-verkümmerte‹ Weise von Unmittelbarkeit stellt die mimetische Verhaltensweise dar. Liebe erweist sich aus dieser Perspektive als emotionale Bedingung der Mimesis. Im Moment der mimetischen Entäußerung an den Gegenstand gewinnt das Bewusstsein Abstand und Nähe zu einer Sache – eine Nähe, die nicht Überwältigung bedeutet. Gelingt es, diese tastende Form der Nähe herzustellen, nimmt das Bewusstsein, die Form eines Liebenden ein. Wird das Objekt im Medium der Liebe mimetisch erfahren, wird sich der somatische Impuls, aus dem sich die Liebe speist, erwiesen haben als
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»ein Moment. Zwar geht es ohne diesen Moment nicht, und zwar nicht allein genetisch; wenn man nicht überhaupt an der Sache etwas Ursprüngliches sieht, wenn einem nichts aufgeht, dann ist jede Einsicht, die eine philosophische überhaupt genannt werden kann. Von vornherein überflüssig: Dennoch zeigt sich dann der Fortgang dieser Erkenntnis das, was ich das Vermitteltsein der ursprünglichen Erfahrung genannt habe. So bleibt es nicht bei dieser ursprünglichen Erfahrung, diese ordnet sich vielmehr selber in viel komplexere Zusammenhänge ein. Dadurch verändern sich die sogennanten ursprünglichen Erfahrungen sehr entscheidend.« (PT I: 86; Herv. rb) Liebe ist eine entscheidende Etappe »in dem Fortgang des Gedankens« (ebd.) vom spontanen Impuls bzw. der ursprünglichen Erfahrung zur ›Ergreifung des Allgemeinen‹. Wenn mit Adorno festgestellt werden kann, dass Erkenntnis darin besteht, »seine Erfahrung von der Sache zu sublimieren, ohne daß die Züge der unmittelbaren Liebe dabei ganz verschwänden« (GS 19: 587f.), dann kann dies auch als Hinweis auf die emotionale Differenz zwischen dem blinden Ressentiment des verdinglichten Bewusstseins und dem liebenden Verhalten des sublimen Bewusstseins gelesen werden27 . Was das sublime Bewusstsein kennzeichnet, ist Adorno zufolge seine immanente Dialektik von Liebe und Begriff: »Wenn man einmal davon ausgeht, daß das Bewußtsein sich gespalten hat in das Mimetische oder in die Ausdruckstätigkeit auf der einen Seite, wie sie im allgemeinen nach der offiziellen Theorie der Kunst zugewogen wird, und in das philosophisch Begriffliche auf der anderen Seite, dann könnte man sagen, daß die Philosophie […] eigentlich der Versuch ist, mit den Mitteln des Begriffs jenes Moment des Ausdrucks, jenes mimetische Moment zu retten oder wiederherzustellen, das wahrhaftig mit der Liebe aufs tiefste zusammenhängt. Vielleicht sucht der Philosoph gar nicht in dem üblichen Sinn die Wahrheit als ein Gegenständliches, sondern sucht viel eher mit den Mitteln des Begriffs seine eigene Erfahrung auszudrücken; vielleicht trachtet er, durch den Ausdruck in der Sprache des Begriffs hier eine Objektivation zu schaffen.« (PT I: 81; Herv. rb) Bei der liebenden Verobjektivierung der eigenen Erfahrungen geht es nicht um das individuelle Erleben an sich, sondern darum, dass eine angemessene, d.h. wahrheitskonstituierende Darstellung des Gegenstandes nur durch den Prozess der Vermittlung geschaffen werden kann. Und dieser Prozess ist ohne die vermittelnde Liebe, »das Mehr an Subjekt« (ND: 50), ohne das auch Bildung verkümmert, nicht realisierbar: »Denn Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale. Ja, in Wahrheit fällt sie nicht einmal Anstrengungen zu, sondern der Aufgeschlossenheit, der Fähigkeit, überhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu lassen und es produktiv ins eigene Bewusstsein aufzunehmen, anstatt, wie ein unerträgliches Chliché lautet, damit, bloß
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»Liebe und Hass liefern in ihrer Polarität das Beispiel für die Entfernung, die zwischen der Blindheit des Affekts und der Hellsichtigkeit der Leidenschaft besteht.« (Casale 2010 [2005]: 255)
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
lernend, sich auseinanderzusetzen. Fürchtete ich nicht das Mißverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit.« (Adorno 1973: 41)28 Adorno scheut sich nicht, Liebe als Bedingung von Bildung auszuweisen. Bildung im Medium der Liebe »bedeutet die Fähigkeit, angstfrei Fremdes an sich heranzulassen und die Offenheit, Anderes in sich selbst aufzunehmen« (Dankemeyer 2020: 192). Sie ist das, was Bildung von bloßen Lernleistungen unterscheidet. Adorno fürchtet das Missverständnis der ›Sentimentalität‹, denn in der Rede von der Liebesfähigkeit deutet sich die Vorstellung eines romantisch verklärten Bildungsbegriffs an. Ein Irrtum, der entsteht, weil die Linie der Liebe zu ihrem ›Wahrheitskern‹ – die Libido – implizit bleibt. Liebende Bildung berührt sich im Verborgenen mit der Libido, sie ist »die Schicht der Erotik: sie liegt durchaus im Intimbereich und hat alle Besonderheit des psychologischen Individuums in sich, das sie auf das Leben bezieht« (GS 18: 256). Libido und Intellektualität sind sachlich vermittelt. Es ist dieser Bezug auf ein Äußeres, durch den das »Moment der Organlust« (PT II: 179) in ›spontane Anstrengung‹, das unmittelbare Begehren in »ein gleichsam erotisches Sich-Anschmiegen« (Schmidt 1983: 26) sublimiert werden kann. Die Sublimierung verwandelt Bildung zu einer Möglichkeit, in der das Begehren ›überlebt‹, sie ist aber nichts, das planvoll hervorgebracht werden könnte. Mit dem Defekt der Liebesfähigkeit ist jedoch eine Grenze der Möglichkeit von Bildung eingezogen – eine Grenze deren Genese Adorno in der Familie verortet.
4.2.2
Familie und Erziehung in der Krise
Bildung naturgeschichtlich zu denken heißt, die Prozesse und Strukturen zu untersuchen, die Bildung ermöglichen. Bildung als Erkenntnisprozess ist abhängig von Individuen, die von Objekten affiziert werden können und fähig sind, sie geistig zu erfahren. Eine zentrale Bedeutung innerhalb der Ermöglichungskonstellation von Bildung kommt so dem Individuum zu, das als Produkt zweiter Natur betrachtet wird. Als solches zeigt es an, dass die Hervorbringung jener Offenheit für das andere und der Fähigkeit zu geistiger Erfahrung individual- und gattungsgeschichtlich abhängig ist von verschiedenen intellektuellen, emotionalen und materiellen Bedingungen. Darin eingeschlossen ist auch die Frage, wie und wodurch sich die Konstitution des Individuums vollzieht. Adorno beantwortet diese Frage aus zwei unterschiedlichen Richtungen: Erstens in Form einer Kritik an der anthropologischen Begründung von Bildung und zweitens auf dem Weg einer Analyse der Strukturen und Mechanismen der Erziehungsund Familienkonstellation der Spätmoderne. Der Erziehungsprozess vermittelt zwischen zweiter Natur und den Einzelnen. Der einzelne Mensch lernt innerhalb pädagogischer Beziehungen von den bloßen Zwängen der eigenen Natur zu abstrahieren, indem normative Ordnungen der Intellektualität, der Kultur und der Gesellschaft gegen die Unordnung der Natur implementiert werden.
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Kappners (1984) Studie zur Bildungstheorie widmet der Rekonstruktion der Liebe als konstitutive Bedingung von Bildungsprozessen ein eigenes Kapitel (vgl. ebd.: 267-305).
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Bevor Einzelne überhaupt Subjekte von Bildung sein können, haben sie genealogisch bereits Anteil an pädagogischen und gesellschaftlichen Formierungsprozessen gehabt, sind zu zweiter Natur geworden. Die Differenz zwischen individueller Natur und Gesellschaft ist nicht gleichbedeutend mit der Differenz zwischen erster und zweiter Natur. So etwas wie eine erste, von den Einflüssen und Wirkungen der zweiten Natur unabhängige Natur gibt es aus Adornos Sicht nicht. Und eben weil die Einzelnen angesichts der Verwobenheit in geschichtliche Strukturen immer schon vermittelt sind, nimmt Adorno auf die Frage nach dem Wesen des Menschen im Kontext von Bildung und Erziehung nur kritisch Bezug. In dem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Text Problem des neuen Menschentypus (1941)29 setzt sich Adorno kritisch mit der anthropologischen Begründung der modernen Pädagogik auseinander30 . Adorno bezieht sich dabei im weitesten Sinne auf die Grundbestimmung der aufklärerischen Erziehungsidee, wie sie in Kants Vorlesung über Pädagogik (1977 [1803]) paradigmatisch formuliert ist31 . Kant spannt den Erziehungsgedanke auf zwischen der Bestimmung des Menschen als von Natur aus vernünftigem und als von Natur aus triebhaftem Wesen. Das Ziel von Erziehung besteht aus Kants Sicht darin, die Einzelnen durch Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung in einen Zustand zu versetzen, in dem sie, der Bestimmung des Menschen entsprechend, frei sind. Freiheit im Sinne des Autonomiegedankens bedeutet, sein Denken und Handeln nach den Gesetzen der Vernunft zu richten. Bei der Kritik an der Pädagogik der Aufklärung wandelt Adorno bereits auf den Spuren der erst später fertiggestellten Dialektik der Aufklärung. Auf die Frage, warum sich die Möglichkeit und das Versprechen der Pädagogik der Aufklärung nicht verwirklicht haben, antwortet Adorno mit der Feststellung, dass ihre Grundidee von Prämissen und Zielsetzungen ausgehe, die in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht realisiert werden können. Zurückzuführen ist dies auf die psychoanalytische und die gesellschaftliche Infragestellung des autonomen Subjekts. Der erste Aspekt weist darauf hin, dass Erziehung die Verstrickung der Einzelnen in die blinde Herrschaft der Triebe zwar bis zu einem gewissen Grad kontrollierbar 29
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Der Text entsteht während der Zeit Adornos am Princeton Radio Research Projekt (1938-1941) und ist an Peter Lazarsfeld gerichtet, von dem das Projekt geleitet wurde. Der Text dient als Grundlage für weitere Forschungsprojekte, die sich innerhalb des Gegenstandspektrums von Bildung, Erziehung und Kultur bewegen (vgl. NaS I, 3: 66). Sie gründet die Formation des zur Bildung fähigen Subjekts auf den menschlichen Voraussetzungen von Bildsamkeit und Rationalität sowie der Annahme einer historisch unveränderten Natur des Menschen. Dazu Adorno: »Das gesamte traditionelle System der Pädagogik ist von der Annahme dieser Konstanz abhängig. Ihr ist nämlich die von der steten Perfektibilität des Individuums gestellt. Auf der einen Seite sollen die konstanten Triebe stehen, auf der anderen die Produkte ihrer Sublimierung, die Güter der Kultur. Je mehr es gelingt, den Prozeß der Sublimierung zu befördern, die Menschen der ›Kultur‹ aufzuschließen und sie durch die ›Aufklärung‹ zu erfassen, um so besser soll es sein.« (NaS I, 3: 651) Die aufklärerische Begründungsmatrix des Pädagogischen besteht Casale (2016b) zufolge »in der autoritativen Übernahme der Verantwortung der Mündigen gegenüber den Unmündigen, mit dem Zweck, dass auch letztere Autonomie erlangen […]. Nach ihrer modernen Begründung ist die pädagogische Verantwortung als eine Differenz – ein Surplus an Erfahrung und Wissen – zu denken, die allein dem Pädagogen seine Autorität verleiht.« (Ebd.: 207f.)
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machen, aber nicht auflösen kann; der zweite Aspekt zeigt die Verbindung zwischen dem Erziehungsprozess und der Internalisierung gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse auf32 . Beide Aspekte führen Adorno zu der Feststellung: »Innerhalb weiter Sektionen der Bevölkerung gibt es kein ›Ich‹ im traditionellen Denken mehr. Da aber die gesamte traditionelle Kultur, in welche die Erzieher die Menschen eingliedern wollen, das Ich voraussetzt und ans Ich appelliert, so ist dadurch die Möglichkeit der kulturellen Erziehung vorweg äußerst problematisch geworden.« (NaS I, 3: 652; Herv. i.O.) In der Passage tritt das Problem der modernen Pädagogik auf dem Schauplatz des Individuums in grundsätzlicher Weise hervor. Dass es das traditionelle Ich bzw. das autonome Subjekt als normativen Horizont nicht mehr gibt, hat auch entscheidende Konsequenzen für den Bildungsprozess. Mit dieser Entwicklung hängt die Bildungskrise wesentlich zusammen. Bildung hat insofern ein Erziehungsproblem, als verschiedene gesellschaftliche Veränderungsprozesse die für Bildung notwendige Kultivierung verhindern. Die Bilderlosigkeit des Daseins, so Adorno, führe zu einer »Schrumpfung der subjektiven Phantasiekraft« (ebd.: 653) und die kulturindustriellen Kulturprodukte zu einer »Verkümmerung des Sprachschatzes« (ebd.: 654). Die Technifizierung der Gegenstände schränke das spielerische Moment ein und die Orientierung des Pädagogischen an der Struktur von Arbeitsprozessen verhindere »erfahrendes Denken, [das] durch technisch-logische Manipulationen ersetzt zu werden [scheint]« (ebd.: 654). Darüber hinaus verändere die Technifizierung und Rationalisierung der Arbeits- und Lebenswelt auch die Beziehung der Einzelnen zu ihrem Körper. Die Disziplinierung des Körpers durch Training und Funktionalisierung des Körpers durch Arbeit ist für Adorno eine der entscheidenden Facetten ausbleibender Bildung. Nicht zuletzt der »Weg zur ›Barbarisierung‹ hängt wahrscheinlich mit dieser veränderten Einstellung zur Physis zusammen« (ebd.: 655)33 . Für die Veränderung der Struktur von Erziehungs- und Bildungsprozessen am bedeutsamsten erachtet Adorno die »Zersetzung der Familienautorität« (ebd.: 654). In der psychoanalytischen Theorie, auf die sich Adornos Erörterung der These bezieht, fungiert die Familie als Ort der Formierung eines selbstständigen Ichs und als Instanz, die zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen der Familie als biologischem Verhältnis der Abstammung, als Institution
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Und so setzt auch die Erziehung in der Moderne weiterhin »das Individuum in relativer Geschlossenheit, Konstanz und Autonomie der Zielsetzung – in Freudscher Sprache als ›Ich‹ – voraus. Während selbstverständlich das Ich als biologische Einheit weiterexistiert und damit auch diejenigen seiner Charakteristiken, welche seiner Reproduktion dienen, ist es in die gesellschaftliche Konstellation eingetreten, in der die Reproduktion seines Lebens nicht mehr in dem alten Sinn von seiner ›monadologischen‹ Beschaffenheit, also seiner selbstständigen Abhebung von der Umwelt geleistet werden kann. Das Individuum scheint auf dem Wege, sich nur dann am Leben erhalten zu können, wenn es sich als Individuum aufgibt, die Grenze zur Umwelt verwischt, der Selbstständigkeit und Autonomie in weitem Umfang sich begibt.« (NaS I, 3: 651) Hier schlägt Adorno vor, »den Sport als einen Versuch [zu] betrachten, dem Leib einen Teil jener Funktionen zurückzugewinnen, welche die Maschine ihm entzogen hat. Aber er wird dafür selber virtuell zur Maschine« (NaS I, 3: 654).
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und als gesellschaftlichem Verhältnis. Anders als das biologische Abstammungsverhältnis, haben sich die gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen und Funktionen der Familie, so Adornos These in dem Text Problem der Familie (1955), verändert. Interpretiert wird die Veränderung als Verdrängung der traditionellen Familienverhältnisse durch die geschichtliche Gesamtentwicklung, die in der fortschreitenden Vergesellschaftung menschlicher Beziehungen besteht. Durch die Integration des familiären Gefüges in die Rationalität der Tauschgesellschaft und die Emanzipation der Frau werde das irrational-naturwüchsige Element der familialen Ordnung zurückgedrängt. Der Transformationsprozess unterliegt der grundlegenden Veränderung der Logik der bürgerlichen Ordnung, der die zu analysierende familiäre Erziehungskonstellation entstammt: »Gleich allen Vermittlungsformen zwischen dem biologischen Einzelwesen, dem Atom Individuum, und der integralen Gesellschaft, wird auch der Familie ihre Substanz von jener entzogen, ähnlich wie der wirtschaftlichen Zirkulationssphäre, oder der mit der Familie aufs tiefste verbundenen Kategorie der Bildung.« (GS 20.1: 304) Die verloren gegangene Substanz, um die es hier geht, betrifft die Form und Vermittlungsfunktion der Kleinfamilie in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie basiert auf einer patriarchalen Strukturierung des Geschlechter- und Generationenverhältnisses. Die patriarchale Struktur, die sich aufspannt zwischen der väterlich-männlichen Autorität und der weiblichen Unterordnung im Dienst der familiären Fürsorge, stellt in der bürgerlichen Kleinfamilie die Bedingung für die Erfüllung der familieneigenen Erziehungsfunktion dar. Die Funktion der Erziehung besteht nach psychoanalytischer Lesart in der Hervorbringung eines autonomen Ichs, dessen Genese sich in der bürgerlichen Kleinfamilie innerhalb des psychodynamischen Verhältnisses zwischen den Eltern und dem Kind in Form des ödipalen Sozialisationsmodells entspinnt34 . Im Zentrum steht hierbei das Spannungsverhältnis zwischen der mütterlichen Liebe und Sorge und der väterlichen Autorität (vgl. Kuster 2019)35 . Adorno zufolge manifestiert sich die Krise der Familie zum einen in der Auflösung der Familienautorität, die die Familie als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft legitimiert hat und zum anderen in dem Zerfall der familiären und erzieherischen Grundkonstellation. Adornos Analyse der Krise erweist sich als ambivalent. Mit der »Lockerung der Familienautorität« (GS 20.1: 303) verbunden sind Veränderungen hinsichtlich der ökonomischen Ausbeutung der weiblichen Hausarbeit sowie 34
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Für eine feministische und geschlechterkritische Analyse der patriarchalen Prämissen der auf der Freud’schen Psychoanalyse beruhenden Gesellschaftskritik der Vertreter der Kritischen Theorie siehe: Benjamin (1993 [1988]); Umrath (2019). Die ›Bildung des Ichs‹ setzt die Möglichkeit voraus, dass sich das Kind auf ein Ich-Ideal hin antizipieren kann. Angesichts der Angewiesenheit des Kindes auf Pflege und liebevolle Sorge, ist dessen erstes Ich-Ideal, diejenige Instanz, die ihm die notwendige Liebe und Fürsorge angedeihen lässt. An die väterliche Macht auf der anderen Seite ist die Aufgabe gestellt, die ökonomische Existenz der Familie zu sichern, die Frau als sinnlich-sexuelles Wesen zu negieren, um so auch die sexuellen Energien des Kindes abzuschneiden und infolge die kindliche »Identifikation mit der Autorität hervorzubringen« (GS 20.1: 303). Identifikation und Verinnerlichung der Autorität bilden die Voraussetzungen für den eigenen Emanzipationsprozess.
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
hinsichtlich des an die Familienmitglieder gerichteten, väterlichen Gebots zum Triebverzicht. Sie haben die Emanzipation der Frau wie des Sexus ermöglicht. Adornos Problematisierung dieser Entwicklung richtet sich nicht auf den Emanzipationsprozess per se, sondern auf den gesellschaftlichen Grund, der die Veränderungen hervorbringt. Die Emanzipation entspringt nicht einer allgemeinen gesellschaftlichen Veränderung hin zu einer »Familie aus Freiheit« (ebd.: 309), sondern ist im Gegenteil zurückzuführen auf den integrativen Zug der kapitalistischen Gesellschaft als Totalität. Im Zuge der gesellschaftlichen Integration der Familie tritt an die Stelle des väterlichen Gesetzes, das nicht nur eine Disziplinierungs- sondern auch eine Schutzfunktion ausübt, das Tauschgesetz, das nun auf direktem Wege verinnerlicht werden kann36 . Der »Druck des herrschenden Allgemeinen auf alles Besondere stärkt die Tendenz, das Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft zu zertrümmern« (EnA: 677). Die Schwierigkeit besteht darin, dass das Tauschgesetz nicht vermittelt ist und sich daher das Individuum dem universalen Tauschgesetz – anders als der Vaterautorität – nicht entziehen kann: »Während auf der einen Seite in der lebendigen und konkreten Auseinandersetzung mit der Familie die besten Kräfte des Individuums gediehen, denen jetzt gleichsam der lebendige Angriffspunkt fehlt, ist auf der anderen Seite die unmittelbar fühlbare Übermacht der Gesellschaft übers Individuum, ohne Zwischeninstanz, so gewaltig, daß in einer tieferen Schicht das ›autoritätslos‹ aufwachsende Kind wahrscheinlich noch verängstigter ist als es je der gute alte Ödipuskomplex zustande brachte. Gerade diese Seite des Sachverhalts wird von progressiven Erziehern oft übersehen.« (Ebd.: 654; Herv. rb) Da es nicht möglich ist mit dem Tauschgesetz jene autonomiekonstituierende Auseinandersetzung zu führen, wird die Anpassung an zweite Natur durch das Fehlen eines Dritten auf Dauer gestellt37 . Die Aufgabe der bürgerlichen Familie geht aber über die Förderung der Ichbildung noch hinaus. Die weitere Erziehungsfunktion setzt sich zusammen aus den Momenten
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Mitnichten jedoch führe, Adorno zufolge, die Infragestellung der Vaterautorität zur Auflösung des Autoritätsverhältnisses an sich. Stattdessen könne man eine Kollektivierung der Vaterautorität beobachten. Die Vaterimago werde auf »sekundäre Gruppen und deren Häupter übertragen […]. Unsinnig wäre es jedenfalls, die Krise der Familie mit der Auflösung der Autorität als solcher gleichzusetzen. Die Autorität wird immer abstrakter; […]. Das ins Gigantische vergrößerte, kollektivierte Ich-Ideal ist das satanische Widerspiel eines befreiten Ichs« (GS 20.1: 306). Dass der Weg von der Kritik an der Autorität des Vaters nicht notwendigerweise zur Negation der Autorität führen muss, arbeitet Casale (2016b) heraus, indem sie die subjekt- und sozialkonstitutive Bedeutung der Autorität deutlich macht: »Autorität wird dann als das Gesetz der symbolischen Ordnung aufgefasst, d.h. als das Dritte, das zugleich das Verhältnis zwischen den Generationen und den Verkehr zwischen den Geschlechtern strukturiert. Das Dritte zwischen den Geschlechtern und zwischen Eltern und Kind ist zugleich die Bedingung für eine nicht identitäre Subjektivation, indem die Bildung des Ichs als ein symbolisch vermittelter Prozess der Trennung, der Individuation begriffen wird.« (Ebd.: 220)
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der Fürsorge38 und der kulturellen Erziehung39 . Die Erziehung der Kinder basiert auf einem geschlechterkonnotierten Modell der Arbeitsteilung: »Im klassischen Geschlechterarrangement fällt die Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse nach Beziehung, Nähe, Bindung und Vertrautheit der Mutter zu, die nach Selbstbehauptung, Aktivität, Erforschung und Differenzierung dem Vater, der sie gleichwohl […] in der bürgerlichen Familie auf repressive Weise beschneidet« (Kuster 2019: 150). Die Aufhebung dieses Modells stellt sich für Adorno im Hinblick auf die Rolle der Mutter als problematisch dar. Aus dieser Sicht ist die Vorstellung der opferbereiten, sorgenden und gütigen Mutter nicht nur ein ideologisches Instrument zur Unterdrückung der Frau, sondern auch die Verheißung von Liebe und Humanität. Adorno spricht in diesem Zusammenhang auch von der »Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte (MM: 23). Entscheidend hierbei ist, dass sich die Liebe der Mutter nicht nur auf die pflegende Tätigkeit bezieht. Damit verbunden ist auch der der Aspekt der vermittelten Liebe durch die kulturelle Bildung, der die Familie als »hegende Keimzelle« (ebd.) charakterisiert. Ausgehend von einer biographischen Episode in Adornos Leben – das vierhändige Klavierspiel mit Mutter und Tante und dessen historischer Reflexion in dem kleinen Text Vierhändig, noch einmal (1933) – verweist (Dankemeyer 2020) auf die Bedeutung der mütterlichen Erziehung für Adornos Vorstellung von ästhetischer Bildung (vgl. ebd.: 124f.)40 . Die 38
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In Adornos Gedankengang stellt Sorge eine zentrale Bedeutungskomponente dar, die dem pädagogischen Verhältnis seine spezifische Fassung gibt. Implizit mitbedacht ist bei Adorno die Tatsache, dass Bildung auf den Empfang von Sorge angewiesen ist: »Bildung braucht Schutz vom Andrängen der Außenwelt, eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der Gesellschaft.« (THB: 106) Für eine geschlechtertheoretisch fundierte Erörterung der Bedeutung der Sorge für Prozesse der Subjektkonstitution siehe: Hartmann (2020), insbesondere Kap. 2; zur Bestimmung von Erziehung als Sorge: siehe Casale (2018b). Die Bildungskrise besteht nicht nur aus dem Grund, dass die Voraussetzungen in den Familien nicht mehr geschaffen werden, sondern auch aus dem Grund, dass sie nicht mehr geschaffen werden können. Dieser Umstand manifestiere sich darin, dass die Bildungsfunktion »offenbar von der Familie nicht mehr angemessen erfüllt [werden könne], weil die innere Überzeugungskraft mangelt, welche die Kinder dazu vermochte, mit den Bildern ihrer Eltern wahrhaft sich zu identifizieren. Wenn man heute auch immer wieder über Kinder aus gehobenen Schichten hört, sie hätten von zu Hause ›nichts mitbekommen‹, und wenn man als Hochschullehrer beobachten muß, wie wenig an substantieller, wirklich erfahrener Bildung vorausgesetzt werden kann, so liegt das nicht etwas an der vorgeblichen Nivellierung der demokratischen Massengesellschaft und ganz gewiss nicht an fehlender Information, sondern daran, daß die Familie das umhegende, bergende Moment eingebüßt hat, das einzig ein Talent in der Stille zu bilden vermochte, während die Tendenz dahin geht, daß das Kind solcher Bildung als Introversion sich entzieht und sich lieber nach den Anforderungen des sogenannten realen Lebens einrichtet, längst ehe diese an es überhaupt herangebracht werden. Das spezifische Moment der Versagung, das heute das Individuum verstümmelt und sie an der Individuation verhindert, ist kaum mehr das familiale Verbot, sondern die Kälte, die zunimmt, je löchriger die Familie wird.« (GS 20.1: 307) Das Problem der Bilderlosigkeit der elterlichen Halbbildung reproduziert sich generational dadurch, dass die Eltern selbst angepasst sind an die gesellschaftliche Rationalität und es ihnen dadurch kaum möglich ist, den Kindern nichtfetischisierte Erfahrungen oder einen Zugang zu den Dingen zu ermöglichen, der nicht durch das gesellschaftliche Tauschgesetz präformiert wäre. »Jene Musik, die wir die klassische nennen, habe ich kennengelernt durchs Vierhändigspielen. […] Und er spielte nicht gänzlich privat; er durfte nicht, […] Tempo und Dynamik nach dem Belieben seiner Triebregungen modifizieren, sondern mußte sich nach Text und Vorschrift des Werkes rich-
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vierhändige Erfahrung führt vor Augen, was es bedeuten kann, »durch tiefgehende erzieherische Prozesse die Fähigkeit zu bilden oder wiederherzustellen, ein spontanes und lebendiges Verhältnis zu Menschen und Dingen zu gewinnen« (GS 9.2: 369). Das pädagogische Moment dieser Erfahrung ist ästhetisch und erotisch zugleich vermittelt. Das Spezifische dieser Gleichzeitigkeit besteht darin, dass die Sublimierung der Triebe nicht unmittelbar – etwa von der Mutter – erzwungen werden muss, denn sie ist eine Forderung des Stückes, und von dem Kind nicht repressiv erfahren wird, denn sie ist mit einem Lustgewinn verbunden. In dem gemeinsamen Spiel, in dem man sich zugleich aufeinander und auf ein anderes bezieht, geht es um nicht weniger als »die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen« (MM: 116). Doch die Terminologie von der ›Verheißung von Liebe‹ bringt auch zum Ausdruck, dass es sich um ein geschichtlich kaum noch realisiertes Versprechen handelt. Weit davon entfernt, den Zustand bürgerlicher Kälte zur Schuld der Frau zu machen, wendet sich Adornos Analyse im nächsten Schritt der Erziehungskrise nicht nur als Problem der Familie, sondern auch als gesellschaftliche Krise des modernen Erziehungsgedankens zu. Die moderne Pädagogik hat Zivilisierung und Humanisierung versprochen, aber bürgerliche Kälte und Barbarei hervorgebracht, so lässt sich Adornos Gesellschaftsdiagnose von Erziehung zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichten. Zurückgeführt werden kann die Entwicklung in pädagogischer Hinsicht auf den Überhang von Härte und Disziplin in der Erziehung. Die erfahrene Gewalt »annuliert das Leben an der Subjektivität« (ebd.: 262), derer Bildung als lebendige Erfahrung und kritisches Bewusstsein eigentlich bedürfte. Durch die kritische Analyse der pädagogischen Konstellation der Moderne wird für Adorno nicht nur offenbar, wie unangemessen der Anspruch lebendiger Bildung ist, angesichts der physischen, psychischen und kulturell vermittelten Erfahrungen von Gewalt innerhalb des Erziehungsverhältnisses. Diametral zur Sublimierung der Lust in jener beschriebenen Klavierspielepisode steht das psychische Verhältnis, dessen Beschaffenheit Adorno als Ausdruck von Barbarei bezeichnet: »Ich meine dabei mit Barbarei etwas ganz Einfaches, daß nämlich im Zustand der höchstentwickelten technischen Zivilisation die Menschen in einer merkwürdigen ungeformten Weise hinter ihrer eigenen Zivilisation zurückgeblieben sind – nicht nur, daß sie in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht die Formung erfahren haben, die dem Begriff der Zivilisation entspricht, sondern daß sie erfüllt sind, von einem primitiven Angriffswillen, einem primitiven Haß, oder, wie man das gebildet nennt, Destruktionstrieb.« (EzE: 126) Die Reproduktion intellektueller Naturbeherrschung wird in entscheidendem Maße vorbereitet durch pädagogische Prozesse. Unter dem Begriff der Verdinglichung lassen sich verschiedene pädagogische Bestrebungen zusammenfassen, welche die unmittelbare Erfahrungsfähigkeit verdrängen. Verdinglichung meint einen Komplex von Regressionstendenzen, in denen »die Menschen, die so geartet sind, sich selber gewisserten, wenn er nicht ›herauskommen‹, den Zusammenhang mit dem Partner verlieren wollte.« (GS 17: 304)
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maßen den Dingen gleichgemacht [haben]. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich« (EnA: 684). Heraus kommen Anpassungsfähigkeit und die damit verbundene »Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen, […] eine gewisse Emotionslosigkeit« (ebd.: 683) sowie der »Bewußtseins- und Unbewußtseinszustand, daß man sein So-Sein – daß man so und nicht anders ist – fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes hält und nicht für ein Gewordenes. […] [Verdinglichtes Bewußtsein] ist […] vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt.« (Ebd.: 685) Von besonderer Bedeutung für den Verlust individueller Erfahrungsfähigkeit sind die repressiven bis destruktiven Tendenzen von Verdinglichungsprozessen, die sich in Form von gewaltvollen Anpassungsprozessen des Körpers an die Anforderungen der zweiten Natur vollziehen: »Überall dort, wo Bewußtsein verstümmelt ist, wird es in unfreier, zur Gewalttat neigender Gestalt auf den Körper und die Sphäre des körperlichen zurückgeworfen« (EzA: 681). Die Verdinglichung des Körpers formiert die Schemata der Körperwahrnehmung und prägt die Beziehung zum eigenen Körper. In dem Text Interesse am Körper rekonstruieren Horkheimer und Adorno die Geschichte der Zivilisation als Geschichte fortschreitender Körperbeherrschung. Sie deuten den Körper als begriffliches und gesellschaftliches Resultat der Geschichte, in der es zu einer unumkehrbaren Verdinglichung der sinnlichen, affektiven und ästhetischen Ausdrucks- und Erfahrungsformen des Leibes gekommen sei: »Der Körper ist nicht zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche auch, wenn er noch so sehr ertüchtigt wird. Die Transformation ins Tote, die in seinem Namen sich anzeigt, war ein Teil des perennierenden Prozesses, der Natur zu Stoff und Materie machte. Die Leistungen der Zivilisation sind das Produkt der Sublimierung, jener erworbenen Hassliebe gegen Körper und Erde, von denen die Herrschaft alle Menschen losriss. In der Medizin wird die seelische Reaktion auf die Verkörperlichung des Menschen, in der Technik die auf Verdinglichung der ganzen Natur produktiv.« (DdA: 267f.) Der gesellschaftliche Druck verdichtet sich in der Transformation des zur unmittelbaren Erfahrung fähigen Leibs in den rationalisier- und beherrschbaren Körper. Die Verdinglichung des Bewusstseins ist also auch die Konsequenz aus der erfahrenen und ausgeübten psychischen und physischen Gewalt gegen den Körper sowie der Internalisierung spezifischer Normen, beispielsweise des Leistungsprinzips und des Wettbe-
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werbsgedankens41 (vgl. EzE: 133) sowie des Prinzips der »Härte« (EnA: 682) gegen sich selbst und andere42 . Die Unterdrückung, Verdrängung und Instrumentalisierung des Körpers bringt das Soma der Halbbildung hervor. Dieses werde, so Casale, »von Adorno aus der historischen Kälte gedacht, die geschichtlich zum Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität wird. Als solches wird es zum Drehpunkt einer verkörperten Bildung der Moderne« (Casale 2020c: 12f.) sowie einer Erziehung zur Entbarbarisierung (vgl. Fechler et al. 2001). Die grundlegende Einsicht in die Kälte als Erfahrungs- und Gestaltungshorizont moderner Subjektivität formuliert die monadologische Grundstruktur des bürgerlichen Subjekts als affektiv-rationalen Zusammenhang, der somatisch entschlüsselt werden kann. Nicht nur wird jene Grundstruktur in Verhaltensweisen gegen den Körper sichtbar, sondern auch durch den Körper erfahrbar. In beiden Fällen handelt es sich um psychisch vermittelte und somatisch erfahrbare Phänomene, die auf einem Mangel an Liebe in der zweiten Natur basieren: »Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann. […] Wahrscheinlich ist jene Wärme unter den Menschen, nach der alle sich sehnen, außer in kurzen Perioden und ganz kleinen Gruppen […] bis heute überhaupt noch nicht gewesen. […] Wenn irgendetwas helfen kann gegen Kälte als Bedingung des Unheils, dann die Einsicht in ihre eigenen Bedingungen und der Versuch vorwegnehmend im individuellen Bereich diesen ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten.« (EzA: 687f.) Mit Freuds Einsicht in das Unbehagen der Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft werden Psyche und Körper als Produkt von Anpassungsprozessen der Bedürfnis- und Befriedigungsstruktur an die Anforderungen der zweiten Natur bestimmbar. Kälte als
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Zu beobachten ist eine »Art technologischer Quantifizierung des Leibes […], bei der Begriffe wie fitness, training, schließlich aber die nackte physische Kraft eine immer größere Rolle annehmen. Es ist dieses veränderte Verhältnis zur Physis und insbesondere zur physischen Kraft, dem keinerlei Tabus mehr entgegenstehen.« (NaS I, 3: 655) Um diesen Entwicklungen pädagogisch entgegenwirken zu können, müsse man den Wettbewerb als pädagogisches Ziel negieren: »Ich bin völlig der Ansicht, daß der Wettbewerb ein im Grunde einer humanen Erziehung entgegengesetztes Prinzip ist. Ich glaube im übrigen auch, daß ein Unterricht, der sich in humanen Formen abspielt, keineswegs darauf hinausläuft, den Wettbewerbsinstinkt zu kräftigen. Damit kann man allenfalls Sportler erziehen, aber keine entbarbarisierten Menschen. […] [Es geht darum], daß man den Menschen abgewöhnt, die Ellenbogen zu gebrauchen. Und der Gebrauch von Ellenbogen ist ohne alle Frage ein Ausdruck von Barbarei.« (EzE: 132f.) Im Erziehungsideal der Härte treten die psychische und körperliche Dimension spannungsreich zusammen: »Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Dabei wird zwischen dem eingenen und dem anderer gar nicht einmal so sehr fest unterschieden. Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen mußte. Dieser Mechanismus ist ebenso bewußt zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt und auf die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten. Mit anderen Worten: Erziehung müßte ernst machen mit einem Gedanken, der der Philosophie keineswegs fremd ist: daß man die Angst nicht verdrängen soll.« (EnA: 682f.)
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Allegorie der bürgerlichen Gesellschaft ist beides, sinnliches Zeichen einer affektiven Struktur, die sich selbstbezüglich und intersubjektiv entäußert sowie zweite Natur und damit etwas, das historisch gewachsen ist. Die geschichtliche Dimension fasst Kälte als Produkt individueller Entfremdungserfahrungen. Der Naturgeschichte der Kälte kann strukturell nur durch kritische Reflexion entgegengewirkt werden, denn anders als Kälte gehört Wärme nicht zur zweiten Natur der bürgerlichen Gesellschaft. Wärme liegt ihrer Form nach auf einer anderen Ebene als das gesellschaftliche Vermittlungsprinzip der Kälte. »Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch. Überdies läßt sich in beruflich vermittelten Verhältnissen wie dem von Schüler und Lehrer, von Arzt und Patient, von Anwalt und Klient Liebe nicht fordern. Sie ist ein Unmittelbares und widerspricht wesentlich vermittelten Beziehungen. Der Zuspruch zur Liebe – womöglich in der imperativischen Form, daß man es soll – ist selber Bestandstück der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwanghafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt.« (Ebd.: 688f.; Herv. rb) Liebe ist pädagogisch betrachtet etwas Vermitteltes, dass unmittelbar gegeben ist. Sie beschreibt das Verhältnis eines Ichs zu einem Nicht-Ich ohne ein Drittes, das zwischen ihnen steht, etwa eine Absicht oder ein Gesetz. Liebe als unmittelbare Vermittlung kann nicht künstlich erzeugt und ihr in der Kindheit erfahrene Mangel kann auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht kompensiert werden. Adorno bleibt aber nicht bei der pädagogischen und psychischen Rekonstruktion gesellschaftlicher Kälte stehen, sondern sucht nach anderen Möglichkeiten liebender Vermittlung. Die Suche führt über den Aspekt der sachlichen Vermittlung hin zu Bildung als ästhetischer Erfahrung.
4.2.3
Dialektik von Autonomie und Autorität
Halbbildung bezeichnet einen intellektuellen Zustand, in dem das Bewusstsein aktiv auf den Gegenstand einwirkt, ohne dabei etwas von seiner Souveränität aufzugeben. In diesem Zusammenhang wird das Objekt »zum Stoff, an dem eine Funktion, aber keine Erfahrung mehr gemacht wird. Verdinglicht wird es, indem der Stoff auf seine Wirkung fixiert wird und damit seinen Überschusscharakter verliert« (Casale/Oswald 2019: 78f.). Die Verdinglichung des Bewusstseins, also die Transformation des Bewusstseins zu einem Werkzeug und die Funktionalisierung des Objekts, entsprechen einander und bilden so die beiden Momente eines Verhältnisses. Das Verhältnis charakterisiert eine Bewusstseinsform, die sich mit den Sachen auseinandersetzt, ohne sich auseinanderzusetzen, ohne sich von sich zu entfremden. Halbbildung ist eine Aneignungspraxis, die ohne Berührung und Entäußerung, also ohne den Moment subjektiver Zueignung auskommt. Was der Verlust der zueignenden Vermittlung konkret bedeutet, kann anhand von Adornos immanenter Kritik an Form und Inhalt der akademischen Bildung differenzierter nachvollzogen werden. Ausgangspunkt ist die Beobachtung einer fortschreiten-
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
den Anpassung institutioneller und individueller Bedürfnisse an die Anforderungen der Gesellschaft auf akademischer Ebene: »Das Bewußtsein all dieser Gruppen von sich selbst ebenso wie ihr Verständnis der äußerst komplexen Lage in der die Universität durch den Widerstreit zwischen der traditionellen Bildungsidee, den praktischen Anforderungen des gegenwärtigen Berufslebens und einer erst sich bildenden Vorstellung von freien und bewußten Menschen sich befindet, ist begrenzt, ohne daß die Gruppen, oder einzelne Repräsentanten, Schuld daran trügen. Der Schleier etwa, der vielen Studenten verbirgt, daß ihre Zurichtung auf den Beruf auch eine Zurichtung ihrer Menschlichkeit ist, oder vielen Professoren, daß das Humboldtische Bildungsideal, das sie noch als selbstverständlich voraussetzen, unvereinbar wurde mit den realen Bedingungen des gegenwärtigen Lebens, oder manche Experten dazu verführt, die Idee der allgemeinen Bildung so zu wenden, als ob sie nichts anderes wäre als die Fähigkeit von Praktikern […] – all das ist selber von der Gesellschaft vorgezeichnet und nicht von der [individuellen] Psychologie.« (GS 20.2: 687) Gezeichnet wird das Bild verschiedener, gruppenspezifischer Auswirkungen gesellschaftlicher Tendenzen, denen gemeinsam ist, dass sie »die Möglichkeit intellektueller Arbeit« (Casale 2011a: 328) einschränken. Die Bestimmung der objektiven Tendenz erschöpft sich dabei nicht in soziologischen Beschreibungen der gesellschaftlichen Anforderung an Bildung. Der Fokus von Adornos Analyse liegt auf der Erörterung der erkenntnistheoretischen und individuellen Gründe, die zu einer Verunmöglichung intellektueller Arbeit führen. Der Verlust von Vermittlung wird zunächst beschrieben als Auflösung der Einheit von Forschung und Lehre. Die Konsequenz dieser Auflösung besteht darin, dass Forschung und Lehre als zwei voneinander getrennte Bereiche aufgefasst werden. Ein zentrales Phänomen dieser Entwicklung ist das akademisch vorherrschende Paradigma der geschlossenen Wissenschaft. Innerhalb des Paradigmas scheint Lehre ihre Bedeutung als Ort der Forschung verloren zu haben, was daran festzumachen sei, dass die Lehrenden selbst ihre Praxis begreifen als einen »Vorgang der Reproduktion« (ELF: 289; Herv. rb) und »als bloße undialektische Übermittlung von Kenntnissen ohne aktive Beteiligung der Studenten. Das Mittun der Studenten in der Universität wird zu einer Praxis der Einübung« (Ebd.: 288; Herv. rb). Forschung und Lehre bleiben in diesem Zusammenhang ebenso abstrakt, wie Lehrende und Studierende. Dem gegenüber bildet die Idee der Einheit von Lehre und Forschung die Grundlage einer akademischen Praxis, die von der Einsicht getragen ist, dass Bildung sich nur als lebendige Erfahrung realisiert. Für Adorno ist die Lehre einer der zentralen Verhältnisse, in denen sich spontane Reflexion, Deutung und Kritik verwirklichen und in die »Produktion eines nicht bereits Vorgedachten oder Kodifizierten« münden können. Dies würde für die Forschung wiederum bedeuten, »durch die Einheit mit ihrer Darstellung und Kommunikation nicht länger branchenhaft abgekapselt und fetischisiert [zu sein], das heißt sie wäre nicht länger gegen die Gesellschaft verblendet« (ebd.: 283). Die Festlegung der Forschung auf ihre Einheit mit der Lehre entspricht dem Einwand, dass Forschung, will sie nicht mit Spezialistentum identisch sein, von der Aufgabe der
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Das hinzutretende Dritte
Darstellung der Sache in ihren historischen und wissenschaftlichen Bezügen ausgehen müsse. Durch ihre Kommunikation wäre infolgedessen »auch die Lehre nicht länger […] resultathaft, sondern sie stünde in einer lebendigen Beziehung zu den Hörern und wäre dadurch selbst lebendig. Sie würde das schlecht autoritäre Moment verlieren, das die Universitätslehre – und ich glaube, daß Sie, meine Kollegen, mir das zugeben werden – innerhalb unseres Universitätsbetriebs […] immer noch hat. […] Je weniger getrennt die Lehre von der Forschung ist, desto mehr würde sie zur Selbstkritik und dadurch auch zur Kritik sowohl an der Realität wie an dem Bewußtsein, das sie bedrängt.« (ELF: 284) Die Kritik an der herrschenden Lehrpraxis, die Adorno seinen Kollegen hier entgegenhält, richtet sich auf zwei verschiedene Dimensionen: Sie betrifft erstens die bereits erwähnten Inhalte der Lehre und zweitens das intellektuelle Verhältnis selbst. Ersteres bezieht sich auf die Kommunikation statischen Wissens; letzteres dient der kritischen Einordnung der Tatsache, dass die universitären »Angst und Autoritätsstrukturen« (ebd.: 284) die Anforderungen an ein intellektuelles Verhältnis verfehlen. Beides, statisches Wissen und die Psychologisierung des intellektuellen Verhältnisses verhindern die vermittelte lebendige Erfahrung, die das Bildungsverhältnis in subjektiver Hinsicht bestimmt. Die Vermittlungsweise, in der sich Bildung als lebendige Erfahrung realisiert, setzt intellektuelle Autorität voraus. Casale (2011a) bestimmt intellektuelle Autorität als »eine Form von Intellektualität, die als sachlich vermittelt zu verstehen ist« (ebd.: 328). Die Wendung von der pädagogischen Autorität zur intellektuellen Autorität entspricht der Verschiebung von einem psychischen zu einem sachlichen Verhältnis, das jedoch die pädagogische Dimension in sich aufnimmt und weiterspinnt. Die Bedeutung des sachlichen Verhältnisses von Person und Gegenstand geht in zwei Richtungen: Erstens bildet das sachliche Verhältnis, zusammen mit einer »spezifischen Art der Urteilsbildung« (ebd.: 329), die Bedingung wissenschaftlicher Autonomie; zweitens betraut es die Instanzen intellektueller Autorität mit der Aufgabe, vermittelt durch die Sache, Bildungsprozesse in kognitiver und affektiver Hinsicht zu fördern. Die Verantwortung zur Förderung von Bildungsprozessen entstammt der neuhumanistischen Idee der Universität, die die Universität versteht als einen »Ort der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, unter der Bedingung, dass dieses Verhältnis in der Wissenschaft, die als Quelle der Autorität gilt, ihr Fundament findet. Die Wissenschaft wird zum Urteilskriterium, zum Legitimationskriterium sowohl für die einen als auch für die anderen.« (Ebd.: 330) Die Versachlichung des Verhältnisses kann der affektiven Dimension nicht ganz entraten, insofern die Person nicht von der Sache getrennt werden kann. Casale paraphrasierend könnte man sagen, man lernt durch etwas Bestimmtes durch jemand Bestimmten und »[j]e sachlicher das Verhältnis zu jemandem vermittelt ist, desto besser kann man von diesem Anderen etwas erfahren. Das geschieht lebenslang und ist eine Erfahrung, die in intellektuellen Kontexten [geschieht].« (ebd.: 330f.) Ohne diesen kurzen Seitenblick zur intellektuellen Autorität blieben Adornos Deutungen der Bildungskrise als Autoritätskrise, wie sie in dem Vortrag über Die Einheit von Forschung und Lehre unter den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. Und 20. Jahrhunderts implizit verhandelt werden, womöglich unverständlich. Gleichwohl Adorno den Begriff
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
der intellektuellen Autorität nicht selbst verwendet, schwingt das »sachliche Verhältnis von Lehrenden und Lernenden« (GS 20.2: 685) zwischen den Zeilen lesbar mit. Eine besondere Rolle für die Herstellung sachlicher Vermittlungsverhältnisse spielen die philosophische Vorlesung und das philosophische Seminar: »Die philosophische Vorlesung, wenn sie heute überhaupt noch einen Sinn haben soll, muß Reflexion sein. Sie soll prinzipiell nicht das wiederkäuen, was rationell aus Büchern anzueignen ist. […] [D]ie einzige Form eines menschenwürdigen philosophischen Unterrichts scheint mir die zu sein, spontan selber, wenn man das kann, zu denken und die Studenten dadurch am Denkprozeß teilhaben zu lassen, während die geronnene Form des Gedanken, der objektivierten Gedanken eben dem Buch gehört. Wen dann in die Vorlesung ein Moment des Experimentellen kommt, wenn man dabei auch dazu kommt, etwas sich selbst zu korrigieren, oder sich in Widersprüche verwickelt, solange man sie nicht vertuscht, sondern wenn man sie austrägt, dann scheint mir das dabei nur das kleinere Übel zu sein. […] In dem Philosophischen Seminar, wo Texte erarbeitet werden, geht es nicht in erster Linie um Philologie. […] Aber es geht um ihr Verständnis und um ihren Wahrheitsgehalt. Ich möchte hier die These vertreten, daß das Verständnis philosophischer Texte überhaupt nicht möglich ist ohne Kritik […], sondern wir können das nur verstehen, wenn wie dabei die aufgeworfenen Sachfragen in all ihrem Ernst und nicht als bereits vorentschiedene behandeln.« (ELF: 296) Dieses Zitat ist nicht einfach die nüchterne Beschreibung der Vorlesungs- und Seminarform, sondern der neuralgische Punkt, an dem sich das – so die Auslegung –, was mit Adorno als Konstellation der essayistischen Form entwickelt wurde, als eine kollektive Bildungserfahrung zu verwirklichen scheint. Die Einheit von Forschung und Lehre ist eine Art ›Lebensnerv‹ der Spontaneität und des begrifflichen Denkens. Sie macht die daran Beteiligten zum Schauplatz geistiger Erfahrung. Dabei kommt den Lehrenden in der Vorlesung die Aufgabe zu, dem spontanen Ausdruck von Gedanken eine sprachliche und begriffliche Objektivität zu verleihen. Das von Adorno gewünschte Denken ist dazu befähigt, »sich etwas einfallen zu lassen, an den Dingen etwas zu sehen, sich etwas aufgehen zu lassen, was nicht schon da war« (ebd.). Offenheit und Neugier in Bezug auf die Gegenstände gelten ihm als Voraussetzung zur Realisierung des spontanen Moments, der sich in Assoziationen ausdrückt und sich zu begrifflichen Konstellationen verweben lässt. Im Zentrum steht also kein hierarchisches Verhältnis, sondern die Praxis des Denkens selbst. In der Vorlesung ermöglichen die Lehrenden, indem sie intersubjektiv vermittelte, geistige Erfahrungen machen, die Zueignung der Form. Die Vermittlung ist immer auch im Bunde mit Affektion und Lust. In der Verobjektivierung von Gedanken realisiert sich das, was Dankemeyer (2020) als Verbindung von »zärtliche[r] Erotik und philosophische[r] Sehnsucht« (ebd.: 325) bezeichnet und das sie in Adornos Modus des Philosophierens selbst widerfindet: »Aufmunternd wird dem Publikum in der [Vorlesung] Terminologie zweideutig zugezwinkert und gegen die unzulänglichen und erfahrungsarmen Definitionen exakter Wissenschaft die verschwörerische Kraft philosophischen Geheimwissens vorgeführt. Was Adornos Publikum ›fasziniert‹ und ›anzieht‹, ist die sinnliche Qualität seiner Spra-
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che, die erotische Evidenz der Gedanken. Nie ist der von Adorno vermittelte Stoff trocken, stets scheint das Denken noch im Fluss, noch feucht. Seine Aromatheorie […] vertritt das […] ›Moment der Organlust‹ und damit die Lust am eigenen Text, das Glück gelungenen Ausdrucks und die Spontaneität des Einfalls. Adorno scheint mit der höheren materialistischen Macht der Libido im Bunde und so ist die Philosophische Terminologie Verführung zur ›Liebe zur Weisheit‹.« (Ebd.: 284f.) Ergänzt wird die Situation der Vorlesung durch das Seminar, das mit der Aufgabe betraut ist, durch »gemeinsames Denken« an einem Stoff »ihre Adepten [so] in den lebendigen Prozeß ein[zu]beziehen« (ELF: 276), dass sich geistige Erfahrung als Deutung und Kritik individuell und kollektiv zugleich realisieren können. Dies bedeutet nicht, dass die Zueignung der Form nicht auch im Seminar stattfindet; und keine Vorlesung könnte abgehalten werden, die nicht stofflich vermittelt wäre. Die Differenz ist eher eine Frage der unterschiedlichen Positionen innerhalb der intellektuellen Situation. Die Formierung von Spontaneität und geistiger Erfahrung bildet für Adorno den Zweck der universitären Lehre, der zugleich die entscheidende Voraussetzung von Bildungsprozessen darstellt. Lehrende und Studierende sind vor das gemeinsame Problem gestellt, dass sich in der Lehre die Momente der spontanen Regungen und Einfälle de facto nicht mehr realisieren, weil die Einzelnen sie nicht mehr realisieren können. Die Lehrenden setzen auf Reproduktion des Immergleichen und die Studierenden brächten, nach Adornos Erfahrung, die Voraussetzungen nicht mehr mit, die es zur lebendigen Erfahrung von Wissen bedürfte: »Aber sowohl ihrem Selbstbewußtsein wie der Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeit nach sind sie das kaum. Es fehlt vor allem das Moment der Spontaneität, also das Moment einer Aktivität, die nur dann substantiell ist, wenn man auch glauben kann, daß man aus dieser Aktivität heraus selbst etwas Entscheidendes leistet. Es verkümmert aber auch […] die Phantasie, und es verkümmert […] offenbar auch die Tugend des Gedächtnisses, kurz, alle die Tugenden, die dem Individuum als einem selbstständigen, vorblickenden, sich selbst behauptenden gemeint sind, demgegenüber heute eher Tugenden wie Wendigkeit, Anpassungsfähigkeit, Nachgiebigkeit verlangt werden. Gerade […] die Fähigkeit, selber etwas zu denken, tritt zurück hinter die technischen Fähigkeiten, die sich rationalisieren mit dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach absoluter Sicherheit.« (Ebd.: 290) Für Adorno entspricht das Problem der Autonomie im Hinblick auf Bildung dem Fehlen geistiger Fähigkeiten. Damit behauptet Adorno nicht, dass die Studierenden nicht denken können. Im Gegenteil ist es sogar so, dass bei ihnen ein Zuviel an Rationalität vorliegt – ein Zuviel, das letztlich dafür verantwortlich ist, dass die aktiven Momente der lebendigen Arbeit von Phantasie und Deutung sich nicht entfalten können. Das Übermaß an Naturbeherrschung und instrumenteller Vernunft verhindert, dass geistige Erfahrungen überhaupt gemacht werden können.
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
4.3
Bildung als ästhetische Erfahrung
4.3.1
Bildung und Naturbewahrung
I found out, how it feels not to be chained to anything, to any face, to any body, to any creed, to any hopes, I know how it feels to be free – Nina Simone – Eine der wesentlichen Elemente des modernen Bildungsbegriffs ist seine Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die erkenntnistheoretische Grundlage dieses Ansinnens bildet Kants Idee der kritischen Vernunft, also deren transzendental begründetes Vermögen, sich kritisch auf sich selbst zu beziehen. Der moderne Bildungsbegriff kann als Versuch gelesen werden, die Selbstreflexion der transzendentalen Vernunft in den geschichtlichen Prozess zu verlagern. Den ideellen Horizont, aus dem heraus Adorno Bildung als Selbstkritik der Vernunft auslegt, bilden Friedrich Schillers in Briefform verfasste Ausführungen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (2009 [1785]). Oszillierend zwischen engagierter Gegenwartsdiagnose, geschichtsphilosophischer Analyse, Philosophiekritik und normativer Perspektive geht Schiller der Frage nach, wie Freiheit in moralischer und intellektueller Hinsicht möglich sei43 . Schillers Konstellation ästhetischer Bildung ist das Resultat einer Auseinandersetzung mit der Kantischen Ästhetik, einer zivilisationskritischen Deutung des kulturellen Fortschritts und der anthropologischen Bestimmung des Menschen als vernünftig-sinnlicher Doppelnatur (vgl. Zirfas 2014). Ein zentrales Element jener Konstellation bildet die affirmative Kritik Kants. Schiller entwickelt, wie Kant es auf dem Feld von Erkenntnistheorie und Moral getan hat, entgegen Kant auf dem Feld des Ästhetischen einen »reine[n] Vernunf tbegriff der Schönheit« (Schiller 2009 [1785]): 43; Herv. i. Org.). Diesem Begriff müsste es gelingen, auf »dem Wege der Abstraktion« (ebd.) Schönheit als »notwendige Bedingung der Menschheit« (ebd.) aufzuzeigen44 . Ein für Adornos bildungsphilosophischen Bezug auf Schiller bedeutsamer Aspekt ist das Verhältnis des Subjekts zur Natur. Kritisch gegenüber der idealistischen Tradition und ihrer Maßgabe der Disziplinierung der sinnlichen Natur durch das Vermögen 43
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Bedingt durch die sozial und politisch erkämpfte Abschaffung der Souveränität von Adel und Klerus wird die Frage nach der richtigen Form des politischen Zusammenlebens durch die richterliche Instanz einer unabhängigen Vernunft entschieden. Die Briefe sind getragen von der Absicht, politische Freiheit nicht rational, sondern ästhetisch zu bestimmen. Die Absicht selbst ist die Konsequenz von Schillers kritischer Auseinandersetzung mit den konkreten Folgen der Französischen Revolution, resp. der Einrichtung eines terroristischen Regimes unter dem Deckmantel des Vernunftstaates sowie mit der – entgegen der eigenen Auskunft, »daß es größtenteil Kantische Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden« (Schiller 2009 [1785]: 10) – kritischen Lektüre der Kantischen Vernunftphilosophie. Der Weg der Abstraktion führt Schiller über die sinnlich-vernünftige Doppelnatur des Menschen, die durch zwei, sich widerstreitenden Trieben, dem Formtrieb und dem Stofftrieb, gekennzeichnet ist. Die Besonderheit des doppelten Triebbegriffs besteht darin, dass Schiller unter Trieb nicht nur ein physisches Drängen zwecks Bedürfnisbefriedigung versteht, sondern auch das geschichtlich verankerte »Streben, jenes Gesetz [der Vernunft] in Ausübung zu bringen« (Schiller 2009 [1785]: 48).
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von Rationalität und begrifflichem Denken, geht es Schillers ästhetischer Auffassung von Erziehung um ein anderes Verhältnis des Menschen zu seiner inneren und äußeren Natur. Zentrales Element in der ästhetischen Bestimmung der Natur ist die Hervorkehrung der konstitutiven Bedeutung von Empfindungen und Gefühlen für die Realisierung des begrifflichen Erkenntnisvermögens: »Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der mutige Wille, und das lebendige Gefühl.« (Ebd.: 33) Aus Schillers Sicht verwirklicht sich das Vermögen der Vernunft nicht gegen die sinnliche Natur des Menschen, sondern gerade wegen ihr. Im »Dämmerschein dunkler Begriffe« (ebd.: 34) – man könnte auch sagen im Schatten der Begriffe – öffnet sich die Erkenntnis für die Möglichkeit, die »unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen« (KdU: 83), zu überbrücken. Die Überbrückung der Kluft ist idealiter der Zweck des Schönen und realiter die Funktion der ästhetischen Erziehung: »Die einzige Erziehung, die in der Lage ist, einen solchen Zweck zu erreichen, ist die Erziehung des Geschmacks bzw. die Erziehung zur Schönheit.« (Casale 2004: 236) Die Überwindung der Trennung von Gefühl und Verstand mündet in der Harmonisierung der beiden Triebe, die der Erhebung des Menschen als sinnliches Wesen zur Menschheit entspricht. Sie bildet den Zweck ästhetischer Erziehung und ist gleichzeitig die Realisierung eines weiteren Triebs, des Spieltriebs. Bedingung der Hervorbringung von Schönheit durch Erziehung ist das Spiel. Spiel im ästhetischen Sinn meint nicht Spiel im alltagssprachlichen Sinn, sondern, in Übereinstimmung mit Kant, das freie Wechselverhältnis der Erkenntniskräfte. Als solches bestimmt es dasjenige, »was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist, und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt« (Schiller 2009 [1785]: 62). Das freie Spiel von Sinnlichkeit und Verstand verläuft in formalisierten Bahnen, ist dabei jedoch vom Zwang der begrifflichen Arbeit verschieden. Zu dessen Realisierung gelangt man »durch eine Reihe von Übungen […]. Solche Übungen sollen bis zu dem Punkt wiederholt werden, an dem ihre Ausführung ein Spiel wird.« (Casale 2004: 236) Der Übergang von Übung zu Spiel entspricht der »Ausbildung des Empfindungsvermögens« (Schiller 2009 [1785]: 34) und des Vermögens des Begriffs. »Erst, wenn er in seinem ästhetischen Stande sie [die Welt, rb] außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen. Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zum Weltall, das ihn umgibt. […] Aus einem Sklaven der Natur, solang er sie bloß empfindet, wird der Mensch ihr Gesetzgeber, sobald er sie denkt.« (Ebd.: 103f.) Den Kern der ästhetischen Bestimmung von Bildung bildet also die Hervorbringung eines Zustandes, in dem die Empfindungen weder unterdrückt noch hypostasiert, sondern vermittelt werden. Für Adorno bildet Schillers Gedanke der Vermittlung von Geist und Empfindung die Grundlage seiner ästhetischen Auslegung des Bildungsbegriffs aus dem Horizont der Dialektik von Natur und Geschichte: »Die philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe wollte natürliches Dasein bewahrend formen. Sie hatte beides gemeint, Bändigung der animalischen Menschen aneinander
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
und Rettung des Natürlichen im Widerstand gegen den Druck der hinfälligsten, von Menschen gemachten Ordnung. Die Philosophie Schillers, des Kantianers und Kantkritikers, war der prägnanteste Ausdruck der Spannung beider Momente, während in Hegels Bildungslehre […] das Desiderat der Anpassung inmitten des Humanismus selbst triumphierte. Ist jene Spannung einmal zergangen, so wird Anpassung allherrschend, ihr Maß das je Vorfindliche. Sie verbietet, aus individueller Bestimmung übers Vorfindliche, Positive sich zu erheben. Vermöge des Drucks, den sie auf die Menschen ausübt, perpetuiert sie in diesen das Ungestalte, das sie geformt zu haben wähnt, die Aggression.« (THB: 95) Naturbewahrung und Naturbeherrschung beschreiben zwei unterschiedliche Weisen der Auseinandersetzung des Menschen mit der inneren und äußeren Natur. Der Bildungsbegriff Schillers vollbringt es, das harmonische Wechselverhältnis beider Momente als Hervorbringung ästhetischer Erfahrung auszuweisen45 . Adorno interpretiert dieses Verhältnis jedoch nicht als harmonische Wechselbeziehung sondern als dialektische Einheit46 . Anders als Schillers anthropologisches Triebmodell ästhetischer Erfahrung, das die Harmonisierung der menschlichen Triebe durch einen weiteren Trieb bezeichnet, durchleuchtet Adorno die Möglichkeit der Naturbewahrung aus geschichtlicher Richtung. Das geschichtliche Verhältnis von Naturbeherrschung und Naturbewahrung, das den Bildungsbegriff konstituiert, basiert auf dem, was man als somatische Genealogie der ästhetischen Erfahrung bestimmen könnte. Die Fähigkeit zur Naturbewahrung entspringt nicht unmittelbar einem zugrundeliegenden menschlichen Triebvermögen, sondern bildet sich aus der Modifikation somatischer Kräfte in geistige und ästhetische Erfahrungsfähigkeit heraus. Auch wenn Adorno Hegels Bildungsphilosophie in der Passage als Desiderat der Anpassung liest
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Bereits für Schiller steht Naturbeherrschung in einem ambivalenten Verhältnis zu sich selbst: Einerseits ist sie Motor des zivilisatorischen und kulturellen Fortschritts der Gattung, andererseits löst derselbe geschichtliche Prozess das Selbstverständnis des Menschen als Gattungswesen sukzessive auf bis zu dem Punkt, dass in der Moderne an dessen Stelle das Individuum, Statthalter von Naturbeherrschung und Partikularinteressen, gesetzt wird. Schiller beschreibt die Moderne als Zeitalter des Individuums: »Auch bei uns ist das Bild der Gattung vergrößert auseinander geworfen – aber in Bruchstücken, nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammen zu lesen« (Schiller 2009 [1785]: 23). Diese dialektische Einheit verbindet, Meyer-Drawe (2006) zufolge, die chiasmatische Struktur der Trieblehre Schillers mit der negativen Dialektik Adornos (ebd.: 39f.). Was sie in Bezug auf Schillers ästhetische Theorie herausarbeitet, berührt sich mit Adornos Auffassung einer ästhetisch vermittelten Bildung: »Seine Theorie des Ästhetischen schmiegt sich der spannungsreichen Existenz des Menschen an, der mit der Welt die Materialität teilt und doch nicht mit ihr zusammenfällt. Er empfängt von ihr das Stoffliche, indem er diesem Gestalt verleiht. Nichts existiert außerhalb dieser Verflechtung. Diese Verknüpfung ist fundamental, nicht die in ihr verbundenen Elemente. […] Ist diese Hinsicht in allem Ernst eingenommen, so zeigt sich nach Schiller, dass die Natur immer schon in Richtung vernünftiger Natur über sich hinaus ist und die Vernunft sich immer schon als natürliche überbietet. In diesen Überschüssen gründet die konkrete Möglichkeit einer ästhetischen Erziehung, deren Aufgabe es vor allem ist, die Empfänglichkeit für die Wahrheit zu stärken, also dem Vermögen der Bestimmung das Unbestimmte zurückzuerstatten.« (ebd.: 40; Herv. i.O.)
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und zu verwerfen scheint47 , bleibt für ihn der Entfremdungsbegriff zentral. Denn Entfremdung bezeichnet nicht nur ein negatives Selbstverhältnis, die Auslöschung der Spontaneität und der Autonomie des einzelnen Menschen; Entfremdung als Entäußerung macht jene Modifikation überhaupt erst möglich. So sei es auch ein »Trugbild, das im Übrigen von Goethe und von Hegel in eminentem Maß kritisiert worden ist, zu glauben, daß der Prozeß der Humanisierung, der Vermenschlichung, der Kultivierung sich von innen nach außen abspiele, sondern er spielt sich wesentlich auch, und gerade durch die ›Entäußerung‹ ab, wie Hegel das genannt hat. Wir werden nicht dadurch eigentlich Menschen, wir machen uns nicht dadurch zu Menschen [passiv und aktiv], daß wir uns selbst als je einzelne verwirklichen, sondern dadurch, daß wir aus uns herausgehen und daß wir in diesem Aus-uns-Herausgehen zu anderen Menschen in Beziehung treten und in gewissem Sinn an sie uns aufgeben. Und durch diese Veräußerlichung oder Entäußerung hindurch erst bestimmen wir uns als Individuen.« (KC: 165) In dieser dialektischen Einheit von Entäußerung und Kultivierung ist die Pflege der Natur nicht einfach das ganz Andere der Naturbeherrschung, sondern entspricht geschichtlich und systematisch dessen immanent Anderem. Die Notwendigkeit von Naturbeherrschung wird bei aller Naturverfallenheit nicht per se infrage gestellt, vielmehr richtet sich die Kritik auf die Erscheinungsweise der Naturbeherrschung als verdinglichter Rationalität. Die Dialektik von Naturbeherrschung und Naturbewahrung nimmt Abstand von einer Praxis, in der die Einzelnen ihre innere Natur unterdrücken und sich dadurch beinahe unausweichlich zu einem Werkzeug machen. Der Auffassung von Naturbewahrung hingegen geht es darum, inmitten von Naturbeherrschung ein »Stück Natur« zu retten: »Die Natur pflegen heißt nicht einfach die Natur unterdrücken und die Natur ausbeuten, sondern in diesem Begriff der Pflege ist auch enthalten das Moment des Bewahrens, das Moment, daß also das, was von dem Menschen angeeignet, was unter ihre Herrschaft gebracht wird, dabei nicht radikal gebrochen, nicht ausgerottet werden soll, sondern gleichzeitig in seinem Wesen erhalten.« (KC: 157) Die von Adorno als Naturbewahrung bezeichnete Rettung der Natur ist nicht als Verteidigung ihres blinden Vollzugs zu verstehen. Worum es geht, ist die Exposition einer anderen Weise der Formung von Natur, deren Spezifikum es ist, dass sie sich einzig auf
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Im Hintergrund steht Adornos Kritik am Bildungsideal der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Diese bezieht sich auf deren abgebrochene Dialektik von Besonderem und Allgemeinen, die sich in der Destruktion von Erfahrungsmöglichkeiten durch Disziplin und Arbeit manifestiert. Adorno zufolge entspreche die Herbeiführung des Allgemeinen im Subjekt vermittels Disziplinierung der Struktur und dem Mechanismus der Praxis der »Prügelpädagogik im wörtlichen Sinn und im übertragenen des unansprechbaren Gebots, man müsse sich fügen. Der mit Gewalt erzogene kanalisiert die eigene Aggression, indem er mit der Gewalt sich identifiziert, um sie weiterzugeben und sie loszuwerden; so werden Subjekt und Objekt nach dem Bildungsideal von Hegels Rechtsphilosophie real identifiziert. Kultur, die keine ist, will von sich aus gar nicht, daß die, welche in ihre Mühlen geraten, kultiviert seien.« (ND: 330)
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
ästhetischem Weg, d.h. durch die Erfahrung von Kunstwerken, vollzieht (vgl. Thompson 2006: 77). Die ästhetische Transformation der Natur durch die Erfahrung von Kunst entfaltet sich in dem Spannungsverhältnis zwischen einem unmittelbarem Objektbegehren und der Sublimierung dieses Begehrens48 . Sublimierung bezeichnet jenen Prozess, in dem den »sinnlichen Regungen« (ÄT: 24) nicht unmittelbar nachgegeben wird, sondern sie in Imaginationen verwandelt werden. Sublimierung verwirklicht die Möglichkeit, »überhaupt an den Dingen etwas wahrzunehmen, aufleuchten zu sehen« (PT I: 208; Herv. rb). In dem die Wahrnehmung sich auf etwas anderes bezieht, geht sie über die unmittelbare subjektive Erfahrung hinaus. Die »Imagination, der Durchgang des Gebildes durchs Subjekt« (ÄT: 43) ist demnach stets mehr als die bloß sinnliche Wahrnehmung von Kunstwerken und mehr als eine avancierte Form der Triebbefriedigung (vgl. Sieber 2017). Was die psychoanalytische Kunsttheorie durch ihren Fokus auf das Subjekt übersieht, ist das »Moment des Ichfremden unterm Zwang der Sache« (ebd.: 254). Gegen das Paradigma der Triebbefriedigung wendet Adorno ein, dass sich die Entstehung und die Realisierung von ästhetischen Erfahrungen immer in »der Sphäre einer bereits verobjektivierten Kunstsphäre« (VÄ: 60) abspielen. Ästhetische Erfahrung erschöpft sich nicht in der Bestimmung des Schematismus der Triebbefriedigung durch die Verschiebung von Trieben. Das Besondere an Adornos Begriff der Sublimierung in der ästhetischen Erfahrung besteht vielmehr darin, dass er darunter nicht einfach die Formung der menschlichen Triebnatur versteht, sondern die Verwandlung des Begehrens in die Imagination an das Verstehen der Form selbst bindet. Dieser Gedanke rührt her von der Differenz zwischen dem vorkünstlerischen und dem ästhetisch gebildeten Bewusstsein, die Adorno in der Ästhetischen Theorie einführt. Dort heißt es: »Der vorkünstlerisch Reagierende, der Stellen aus der Musik liebt, ohne auf die Form zu achten, vielleicht ohne sie zu merken, nimmt etwas wahr, was von ästhetischer Bildung zurecht ausgetrieben wird und gleichwohl ihr essentiell bleibt. Wer kein Organ für schöne Stellen hat […], ist dem Kunstwerk so fremd, wie der zur Erfahrung von Einheit Unfähige.« (ÄT: 279f.) Also weit davon entfernt ästhetische Erfahrung als harmonisches Zusammenspiel oder als bloße Triebverschiebung zu bestimmen, gewinnt sich Adornos ästhetische Auffassung der Bildung aus der Ambivalenz der Kultur in der Moderne, die sich aufspannt zwischen der gesellschaftlichen Realität eines »kulturindustriell bedingten Wahrneh-
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»Aber das Spezifische – und das hat die Psychoanalyse […] richtig gesehen – was nun mit diesen Triebenergien geschieht, das sie, wo es zu einer Erfahrung des Schönen kommt, nicht etwa verdrängt, unterdrückt, gewaltsam abgebogen werden, sondern […] ›sublimiert‹, das heißt also in gewisser Weise festgehalten, bewahrt werden, aber auf eine Weise, die das, was einmal unmittelbares Begehren war, nun in die Vorstellung setzt. Diese Verwandlung eines Begehrten in ein Vorgestelltes ist […] eines der Ursprungsphänomene des ästhetischen Verhaltens überhaupt [und] […] daß darin eigentlich, nach der subjektiven Seite hin gesehen jedenfalls, die Voraussetzung jenes Moments der Vergeistigung der Kunst ist – jenes Momentes also, das die Kunst zu einem Sinnlichen und zugleich mehr als Sinnlichen macht.« (VÄ: 58)
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mungsverlusts« (Jepsen 2018: 106) und den fortgeschrittenen ästhetischen Produktionsbedingungen der Kunst in der Moderne. Die vorkünstlerische Reaktionsweise steht für die unter der kulturindustriellen Bedingung zur zweiten Natur gewordene Auseinandersetzung mit Kultur. Die Auseinandersetzung entspricht der fetischisierten Konsumtion von Kulturgütern, die zur Befriedigung kulturfremder Bedürfnisse benutzt werden. Die Fetischisierung von Kultur bleibt nicht ohne Konsequenzen für die gesellschaftlich vermittelte Praxis von Erfahrungs- und Erkenntnisprozessen. Die Kulturindustrie »verunstaltet alle Wahrnehmungen: das worin nicht mehr das Licht der eigenen Bestimmung als ›Lust an der Sache‹ leuchtet, verblaßt dem Auge. Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, […] während sie nach den Zwecken der Aneignung sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz verdanken. Die Entzauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf ihre objektive Bestimmung als ›Warenwelt‹.« (MM: 280) Die gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen der Deformationen des subjektiven Erfahrungsraumes schlagen sich im Körper konstitutiv nieder, wo sie zu einer sensorischen De-Ästhetisierung und zu einer Ent-Emotionalisierung des Gedankens führen. Durch die Beschäftigung mit kulturindustriellen Produkten wird Wahrnehmung notwendig schematisiert, sodass die lebendigen Beziehungen zu den Objekten ausbleiben müssen. Die semantisch überdeutlich artikulierte Zeitdiagnose von der »Kastration der Wahrnehmung« (ebd.: 139) und der »Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität der Kulturkonsumenten« (DdA: 148) bezeichnet die Verwandlung der Wahrnehmung von einem Verhältnis des Begehrens und der Phantasie in einen schematisch agierenden Apparat49 . In der Theorie der Halbbildung ist in dieser Hinsicht auch die Rede vom »sinnlich entstellten Leben« (THB: 108), das als ein zentrale Phänomen einer Konstellation von Phantasie- und Berührungslosigkeit gelesen werden kann. Halbbildung beschreibt also auf subjektiver Seite eine Wahrnehmungsweise »diesseits der produktiven Einbildungskraft« (THB: 99). Das berührungs- und phantasielose Bewusstsein gipfelt in dem, was man eine pathische Vernunft nennen könnte. Der Begriff bezeichnet das Unvermögen, zu Objekten eine intellektuelle Beziehung zu pflegen, die nicht instrumentell ist. Eingefangen vom Modus der Selbstbehauptung, »weicht [sie] 49
Die kulturindustriell »präsubjektive Strukturierung des subjektiven Wahrnehmungsraumes« (Jepsen 2018: 112) führt zu einer Reihe von erkenntnistheoretische Konsequenzen, die Per Jepsen (2018) auf den Punkt bringt: »Weil selbst die einfache Sinneswahrnehmung durch die kulturindustriellen Produkte präpariert wird, schwindet auch die Fähigkeit des Subjekts, in seinen Vorstellungen und Gedanken über das bereits Gegebene hinauszugehen. So werden auch Fantasie und Einbildungskraft durch die kulturindustrielle Einübung in den Bedingungen des durchkapitalisierten Lebens in weitem Maß gelähmt. Mit dem Verlust dieser Fähigkeiten reproduziert sich noch einmal die Welt, wie sie ist. Dass die Individuen die mit dem Begriff der Fantasie gemeinte Antizipation des noch nicht Seienden verlernen, bedroht Denken und Erkenntnis im Allgemeinen, im Besonderen aber die Einsicht in das Gewordensein des Bestehenden, ohne die der Gedanke an seiner möglichen Veränderung aber nicht festgehalten werden kann.« (ebd.: 113)
4 Krise und Möglichkeit von Bildung: Konstellation somatischer Bildung
Berührungen aus, die etwas von ihrer Fragwürdigkeit zutage fördern könnten« (ebd.: 117). Einer solchen Grundhaltung der Berührungslosigkeit bleibt die eingangs des Kapitels genannte selbstreflexive Möglichkeit von Bildung ebenso verstellt wie ein kulturell vermittelter Erkenntnisprozess. Erst »[ä]sthetische Bildung führt aus der vorästhetischen Kontamination von Kunst und Realität heraus« (ÄT: 361).
4.3.2
Ästhetische Bildung in der Moderne
Adornos ästhetische Auffassung von Bildung führt eine kulturkritische Abgrenzung in zwei Richtungen: Einerseits gegenüber den destruktiven Tendenzen der Halbbildung, andererseits gegenüber dem Bildungsideal der Humanisierung der Sinnlichkeit. Gibt es jedoch diesseits von Schillers Idee ästhetischer Bildung und jenseits der deästhetisierten Halbbildung eine Bestimmung ästhetischer Bildung, die die Erfahrung der Moderne in sich reflektiert? Adorno beantwortet die Frage auf dem Weg einer bildungstheoretischen Neubestimmung ästhetischer Erfahrung ausgehend von einer ästhetischen Theorie der fortgeschrittenen Moderne Der Begriff des fortgeschrittenen künstlerischen Bewusstseins bildet den Ausgangspunkt des Versuchs durch Kritik an der herrschenden Wissensform zu einer ästhetischen Neubestimmung der intellektuellen Verhaltensweise in Bildungsprozessen zu gelangen. Dabei gewinnt die Fähigkeit zur Zueignung, die bisher als Verhaltensweise geistiger Erfahrung bestimmt wurde, eine ästhetische Erweiterung: »[J]e fortgeschrittener ein künstlerisches Bewußtsein ist, also je mehr das Bewußtsein sich an der Erfahrung der Sache selbst geschult hat, umso mehr von dem, was scheinbar bloß intellektiv ist, sich dann auch ein selbst Anschauliches darstellt. […] Ja, dazu bedarf es unter Umständen so einer Art von intellektiver Anstrengung, wie wenn man sich auf etwas krampfhaft besinnt oder etwas festhält. Und dieses Festhalten, diese verstärkte Aufmerksamkeit, ist vor allem, wo man sich bemüht, Kunstwerke, die einem fremd sind, zuzueignen, sicher eine unbedingt notwendige Verhaltensweise […] [Zueignung] ist etwas, wozu wir tatsächlich nur durch das gebracht werden können, was mit Fug ästhetische Erziehung heißen darf. Und soweit man überhaupt von ästhetischer Erziehung reden darf, bedeutet es wahrscheinlich gerade, daß diese vermittelten und bis zu einem gewissen Grad willkürlichen Prozesse immer mehr in die Möglichkeit des unmittelbaren Auffassens dieses Vermittelten übergehen.« (VÄ: 302; Herv. rb.) In der Passage gibt Adorno seinem Begriff der ästhetischen Erfahrungsfähigkeit eine pointierte Fassung und macht ihre Herausbildung zum Zweck ästhetischer Erziehung. Zurückgebunden ist die Auffassung an eine Historisierung von Schillers Idee ästhetischer Erziehung auf der Grundlage der fortgeschrittenen Kunst in der Moderne. Die Weiterentwicklung, die Adorno hierbei vornimmt, basiert auf dem veränderten Verständnis dessen, was es heißt, angesichts des Zerfalls der Kategorien und Materialien bürgerlicher Kunstproduktion, auf denen noch Schillers Idee von Bildung gründet, ästhetische Bildungsprozesse zu vollziehen. Nach dem Übergang vom Epos zum Roman in der Literatur und der Ablösung von der Sonatenhauptsatzform zugunsten der freien Tonalität verschiebt sich auch die Form ästhetischer Rezeption und Reflexion. An die Stelle des Wechselspiels zwischen Sinnlichkeit und Verstand, die prägendste Form der
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bürgerlichen Kunstreflexion, tritt das Wechselspiel zwischen Zueignung und nicht-begrifflicher Reflexion, das sich rezeptiv auf das Spannungsverhältnis der im ästhetischen Produktionsprozess entfalteten Dialektik von Konstruktion und Ausdruck bezieht50 . Adornos Begriff ästhetische Erfahrung fortgeschrittener Kunst bezeichnet eine spezifische Praxis der Deutung, die sich zwischen dem theoretischen Nachvollzug der Konstruktion und der Erfassung eines emotionalen Ausdrucks am Kunstwerk aufspannt51 . Daraus abgeleitet besteht der Anspruch ästhetischer Bildung darin, sich das Kunstwerk zuzueignen, d.h. seine Form zu verstehen und seinen Ausdruck zu erfahren. Worin unterscheidet sich jedoch die Zueignung im Zusammenhang von geistiger Erfahrung von dem Zueignungsbegriff in ästhetischer Hinsicht? Beide bezeichnen das subjektive Verhalten selbstvergessener Versenkung in den Gegenstand. Auf die ästhetische Erfahrung gewendet und bildlich gesprochen, meint Zueignung den Prozess, in dem das Subjekt eine Reise ins Innere des Kunstwerks unternimmt. Der Unterschied setzt indes noch einen Schritt früher an, nämlich bei der Frage warum und unter welchen Bedingungen es zur Zueignung überhaupt kommt. Die Zueignung als geistige Erfahrung entspringt der Melancholie des Bewusstseins, die sich aus somatisch vernehmbaren Leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen speist. Zueignung als ästhetische Erfahrung hingegen »gehört dem Augenblick an, in denen der Rezipierende sich vergißt und im Werk verschwindet: dem von Erschütterung. Er verliert den Boden unter den Füßen; die Möglichkeit der Wahrheit, welche im ästhetischen Bild sich verkörpert, wird ihm leibhaft. Solche Unmittelbarkeit im Verhältnis zu den Werken, eine im großen Sinn, ist Funktion von Vermittlung, von eindringender und umfassender Erfahrung; diese verdichtet sich im Augenblick, und dazu bedarf es des ganzen Bewußtseins, nicht punktueller Reize und Reaktionen. Die Erfahrung von Kunst als die ihrer Wahrheit […] ist Durchbruch von Objektivität im subjektiven Bewußtsein. Durch jene wird sie eben dort vermittelt, wo die subjektive Reaktion am intensivsten ist.« (ÄT: 363) Der Kerngedanke in Adornos Bestimmung ästhetischer Erfahrung ist der Begriff der Erschütterung. Der Begriff beschreibt die Erfahrung eines Subjekts, das durch ein Kunst50
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Das expressive Moment fortschrittlicher Kunst ist konstitutiv bezogen auf den »Ausschlag negativer Erfahrung. Sie gilt dem realen Leiden« (GS 12: 43), das etwa der Komponist durch die lebendige Auseinandersetzung mit dem objektiv gegebenen Material zum Ausdruck bringt. Der ästhetische Ausdruck unterliegt dem Prozess der »Vergegenständlichung des Ungegenständlichen« (ÄT: 170). Es geht also nicht unmittelbar um die subjektiven Gefühlsregungen der komponierenden Person, sondern um den lebendigen Ausdruck objektiv vermittelter Erfahrungen, der wiederum aus der »Artikulation […] der Sache selbst […] – sogar aus der Logik des Materials selber – heraus erwächst« (VÄ: 103). Mit Artikulation ist hier die Durchformung des expressiven Moments auf der Grundlage der zeittypischen Materialkonfigurationen gemeint. Im Fall von Musik sind diese gegeben »in Melodie- und Kadenzfloskeln, in syntaktischen Strukturen wie der Periodik, in Formtypen wie dem Sonatensatz oder in harmonischen Regel- und Ordnungssystemen wie der Dur-MollTonalität« (Freund 2020: 16). Wenn vorhin die Rede davon war, dass diejenigen, die kein Organ für schöne Stellen haben, dem Kunstwerk ebenso fremd bleiben, wie die zur Erfahrung von Einheit Unfähigen, drückt sich hierbei der Anspruch ästhetischer Bildung in verdeckter Weise aus.
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werk in einen anderen körperlichen und geistigen Zustand versetzt wird und der die eingeübten Erfahrungs- und Denkmuster übersteigt. Es kommt zur »Liquidation des Ichs, das als erschüttertes der eigenen Beschränktheit und Endlichkeit innewird. Diese Erfahrung ist konträr zur Schwächung des Ichs, welche die Kulturindustrie betreibt« (ebd.: 364). Wie intensiv die Erfahrung ist, wird dadurch deutlich, dass es der Körper ist, der als erstes von der Erschütterung weiß. Im Moment der Erschütterung sind Subjekt und Werk so eng miteinander vermittelt, dass ihre Vermittlung nicht anders als unmittelbar-somatisch erfahren werden kann. Weil das Subjekt von der Erfahrung des Kunstwerks überwältigt wird, bleibt ihm nicht genug Zeit die Kategorie anzuwenden, mit denen er gewöhnlich das Objekt identifiziert. Der kategoriale Zugriff des Subjekts scheitert (vgl. Hindrichs 2000). Eine Erfahrung ist also dann im eigentlichen Sinn ästhetisch, wenn geschichtliche Erfahrungen vermittelt durch den ästhetischen Gegenstand unmittelbar zum Subjekt durchbrechen und in der somatischen Reaktion vermittelt werden. Dieser Gedanke kann weitergesponnen werden zur Auffassung des Somatischen als Moment, in dem nicht nur das Objekt im subjektiven Bewusstsein, sondern auch das Nichtidentische im Körper zur Geltung kommt. Das Scheitern des Subjekts entspricht, ästhetisch betrachtet, dem Gelingen des unbegrifflichen Zugriffs des Somatischen. Im Durchbruch des Nichtidentischen wird für Adorno offenbar, wie unangemessen die Ansprüche an die körperliche Erfahrung von Kunstwerken sein können. Als solch einen unangemessenen Anspruch betrachtet er die Befriedigung des kulturellen Bedürfnisses durch das Erleben und Nacherleben emotionaler Ereignisse52 . Beschrieben wird der Unterschied von Erschütterung und Erlebnis als Differenz zwischen Affektion und Stimulation. In beiden Fällen hat der Körper zwar eine konstitutive Bedeutung und dennoch unterscheiden sie sich grundsätzlich voneinander. Die erlebnisästhetisch geprägte Erfahrung betrachtet den Körper als eine Funktion der Reizempfängnis, die es erlaubt, »überhaupt etwas zu fühlen« (VÄ: 293). Entgegen der Funktionalisierung von Kunst und Körper für subjektive Empfindungen, steht die Erschütterung für die somatisch vermittelte Rettung des Nichtidentischen. Das Nichtidentische ist konstitutiv an das Somatische gebunden, aber nicht gleichzusetzen mit einem rein körperlich-emotionalen Verhalten. Emotionale Reaktionen sind hierbei nicht ausgeschlossen, aber sie sind für eine ästhetische Erfahrung nicht hinreichend, der es zuvörderst um die unmittelbare Erfassung des Werkes selbst geht. Weit davon entfernt, das Band zwischen ästhetischer Erfahrung und Gefühl zu kappen, richtet sich der Einwand also gegen die Vorstellung, ästhetische Erfahrungsprozesse basierten in erster Linie auf individuellen, sinnlich-emotionalen Erlebnissen53 . Die ästhetische Erfahrung fortgeschrittener 52
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Die Theorie ästhetischen Erlebens »beruht auf der Annahme, einer Äquivalenz zwischen dem Erlebnisgehalt – grob: dem emotionellen Ausdruck – von Werken und dem subjektiven Erlebnis des Rezipierenden. Er soll in Aufregung geraten, wenn Musik sich aufgeregt gebärdet, während er doch, wofern er etwas versteht, emotional eher desto unbeteiligter sich verhalten sollte je aufdringlicher die Sache gestikuliert. […] Was da angeblich erlebt oder nacherlebt werden soll, nach populärer Vorstellung die Gefühle der Autoren, sind ihrerseits nur ein Teilmoment in den Werken und gewiss nicht das entscheidende.« (ÄT: 362) »Kunstwerke sind keine Protokolle von Regungen […] sondern durch den autonomen Zusammenhang radikal modifiziert. Das Wechselspiel des konstruktiven und des mimetisch expressiven Ele-
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Kunst gibt es nur als Nachvollzug der Einheit des Kunstwerks. Das Gefühl tritt hinter die Form des Werks zurück, nur so kann »man sich auf die Machart des Objekts einlassen. […] Die Übergänge der Momente des Kunstwerks müssen allererst entdeckt, ihre widersprüchliche Einheit im Nachvollzug hergestellt werden.« (Hindrichs 2000: 155) Erschütterung als Leitidee ästhetischer Erfahrung erschöpft sich nicht nur in dem Moment der Selbstvergessenheit, sondern schließt auch das Moment der Spontaneität in sich ein. Daran hat immer, wenngleich zunächst unbewusst, auch das Bewusstsein maßgeblich teil. Zwar ist im Augenblick der Erschütterung und der impulshaften Entäußerung Subjektivität bis zum äußersten begrenzt, dennoch ist ästhetische Erfahrung ohne jenen Moment des geistigen Auffassens des Objekts, den Adorno als Spontaneität bezeichnet, nicht zu denken. Spontaneität ist die Bedingung der Verwandlung der Erschütterung in eine »rationale Verhaltensweise« (VÄ: 294). Sie ist negativ, emanzipativ und produktiv zugleich: negativ, weil sie die Nichtidentität und Inkommensurabilität mit dem Objekt nicht verdrängt; emanzipativ, weil sie den Immanenzzusammenhang des Begriffs und des verdinglichten Bewusstseins übersteigt; und produktiv, weil sich in Zueignung und Nachvollzug verschiedene Formen unmittelbar erscheinender Vermittlungsweisen manifestieren. Adornos Versuch der Rettung des Bildungsbegriffs nimmt die Aspekte von Erschütterung und Spontaneität systematisch auf und läuft hinaus auf eine ästhetische Auffassung von Bildung als Befreiungsprozess, der sich aus der Dialektik zwischen der Bebilderung der Erfahrung und ihrer begrifflichen Deutung entfaltet. Durch die Bestimmung der wendenden Spontaneität als Erschütterung tritt der ästhetische Bedeutungskern des Hinzutretenden hervor. Mit dem spontanen, also zugleich geistigen und somatischen Impuls, reicht für Adorno Freiheit in die subjektive Erfahrung von Erkenntnisobjekten hinein. Als zunächst singuläre, zuallererst körperlich spürbare Erfahrung des Subjekts unterläuft Spontaneität den Zwang zu Verdinglichung und Aneignung. Sie ist dann wirksam, wenn das Subjekt »Erhebungen der Leidenschaften; das Unerwartete, scheinbar Zufällige, gleichwohl Notwendige; die Umwege, die allein der Weg sind« (GS 16: 328) – kurz: das Nichtidentische – zulassen kann. Dies macht das Hinzutretende zur zentralen Bedingung von Bildung als Befreiung. Die Realisierung ihrer Bestimmung bedarf jedoch der Rückkehr aus dem Inneren des Kunstwerks und aus der Verstrickung mit der eigenen, diffusen Natur. Beides ist notwendig, um den Wahrheitsgehalt des Erkenntnisobjekts geistig zu erfahren bzw. begrifflich zu deuten. Von Bildung kann erst dann gesprochen werden, wenn sich auf subjektiver Seite der »Weg von der ursprünglichen Erfahrung [der Gegenstände] zu ihrer Objektivation« (PT I: 87) realisiert. Der Befreiungsprozess nimmt den Weg von der Erschütterung zur Deutung über die lebendige Vermittlung des Erfahrenen. Lebendige Vermittlung entspricht in der Form dem, was Adorno für die ästhetische Erfahrung des Objekts in der Kunst formuliert: »[I]ndem sie von der Natur sich entfernt, indem sie […] das Glück der Unmittelbarkeit in die Vermittlung der Imagination verlegt, eben immer genau durch diesen Akt der ments in der Kunst wird von der Erlebnistheorie einfach unterschlagen oder verfälscht. Betroffenheit durch bedeutende Werke benutzt diese nicht als Auslöser für eigene, sonst verdrängte Emotionen.« (ÄT: 362f.)
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immanenten Konstitution auch versucht der Natur selber beizuspringen, etwas von der Natur zu bewahren, der Natur etwas von dem Ihren wiederzugeben, was ihr durch die geschichtliche Welt entzogen wird.« (VÄ: 63) In der Hervorbringung von Bildern setzt das Subjekt die spontane Erfahrung des Kunstwerks bildhaft um. Die Übersetzung der subjektiven Erfahrung in Bilder ist jedoch nicht repräsentations- sondern imaginationslogisch zu verstehen. Das Bild als Imagination unterliegt zwar wie das Bild als Repräsentation – oder auch das Bild als Symbol – dem Zweck der Darstellung. Die Bildformen unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des Inhalts, der dargestellt wird und der Form, die diese Darstellung hervorbringt54 . Das Bild als Imagination ist weder empirisch noch absolut, sondern »geschichtlich und imaginär« (ÄT: 132). Geschichtlich ist das Bild, weil in ihm das Nichtidentische zu seinem Recht kommt; imaginär ist das Bild, weil dessen »Manifestation des Innen im Gegensatz zum Außen des Kunstwerks« (Eichel 1993: 192) der Spontaneität subjektiver Phantasie entspringt. Das Nichtidentische kommt dadurch zu seinem Recht, dass es im Bild ausgedrückt wird. Das Bild ist also eine Form, von der gesagt werden kann, dass in ihr der Durchbruch somatischer Natur, nicht im Vorfeld verhindert oder nachträglich verdrängt, sondern im bildlichen Ausdruck sichtbar wird. Hervorgebracht wird das Bild auf imaginationslogischem Weg. Imaginationslogik bezeichnet »eine Eigendynamik bildhaften Denkens« (Eichel 1993: 197), die eine spezifische Weise der Bebilderung der Erfahrung vollzieht. Diese Weise der Bebilderung charakterisiert ein Ineinander von Phantasie und Konstruktion und fußt auf der Prämisse, dass die Bebilderung der ästhetischen Erfahrung nicht auf eine gegebene Bilderwelt zurückgreifen kann. Für Adorno stellt die Bilderlosigkeit der Moderne den geschichtlichen und systematischen Ausgangspunkt jeder ästhetischen Erfahrung dar. Bei der bilderlosen Moderne handelt es sich um eine Konstellation, die sich aus kultur- und erkenntnistheoretischen sowie aus gesellschaftskritischen Aspekten zusammensetzt55 : Erstens dem »Verbot des ›Auspinselns‹ der Utopie‹ einer anderen Gesellschaft (Bloch 1985: 361), nicht zuletzt im Angesicht von Auschwitz56 ; zweitens der Kritik an der Installierung von Leitbildern nach dem Verlust eines allgemein geteilten Kanons57 ; und drittens dem alttestamenta-
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»Die Abbildtheorie verleugnet die Spontaneität des Subjekts […]. Wird das Subjekt zur sturen Widerspiegelung des Objekts verhalten, die notwendig das Objekt verfehlt, das nur dem subjektiven Überschuß im Gedanken sich aufschließt, so resultiert die friedlose geistige Stille integraler Verwaltung. Einzig unverdrossen verdinglichtes Bewußtsein wähnt, oder redet anderen ein, es besitze Photographien der Objektivität.« (ND: 205) Eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Bilderverbots im Denken Adornos findet sich bei Tränkle (2013). Mit der Bedeutung des Bild- und des Leibbegriffs für den Zentralbegriff von Adornos negativer Dialektik, dem Nichtidentischen, befasst sich Dorf (2020). »Erstreckte einst das Bilderverbot sich auf die Nennung des Namens, so ist es in dieser Gestalt selbst der Superstition verdächtig geworden. Es hat sich verschärft: Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen.« (ND: 394) Eine dezidierte Kritik an der Aufstellung und Ausformulierung ästhetischer Leitbilder und Normen formuliert Adorno in dem Text Ohne Leitbild. Anstelle einer Vorrede. In dem Text Über Tradition kritisiert er wiederum das Verhalten, sich im Angesicht real verlorener Tradition umso mehr auf kulturelle Tradition als Wert und Besitz zu beziehen und zu berufen: »Schließlich verwandelt sich
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Das hinzutretende Dritte
rischen Bilderverbot58 . Trotz Bilderlosigkeit und Bilderverbot bleiben der Wunsch nach Ausdruck und die Notwendigkeit der Darstellung bestehen. Es bleibt ein »Bilder trotz allem« (Meyer-Drawe 2020). Die Bebilderung dessen, was man durch die Versenkung in das Innere des Kunstwerks erfahren kann, vertritt nicht den Anspruch, dessen Bedeutung getreu wiederzugeben oder dessen Wahrheit sicher abzubilden. Die ästhetischen Bilder, um die es Adorno geht, sind zwar Konstruktionen und darum geistig vermittelt, entziehen sich aber dem »Bildcharakter des Bewusstseins (ND: 205). Die Übersetzung der Erfahrung des Kunstwerks in Imaginationen basiert auf dem Drang nach Ausdruck und auf der Erfahrung von Spontaneität. Letztere ist in der Lage, unter Einbezug der Phantasie einen bildhaften Zusammenhang zu konstruieren, der das Kunstwerk auf nichtrepräsentationale Weise verobjektiviert. Die Imagination verweigert sich der Aufforderung zur vergegenständlichten Abbildung geschichtlicher Erfahrung – und könne ihr dennoch zum Ausdruck verhelfen (vgl. ÄT: 422). Doch wie das Abbild, bleibt auch die Imagination in ihrem Erkenntnis- und Ausdrucksvermögen des Objekts beschränkt. Das Verstehen des Objekts verläuft über den Nachvollzug seiner Vermittlungen und dies gelingt zunächst nur durch den Übergang von der Erschütterung in die Medialität des Bildes. Und dennoch: die»materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen« (ND: 207), bleibt. Und sie bleibt notwendig unerfüllt, denn »nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken« (ebd.). Dies gilt auch für das »bilderloses Bild« ästhetischer Erfahrung. Durch Erschütterung entäußert sich das Subjekt und gelangt selbstvergessen in das Kunstwerk hinein. Selbstvergessenheit ist
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die vom bürgerlichen Prinzip abgetötete manipulierte Tradition in Giftstoff. Auch genuin traditionale Momente, bedeutender Kunstwerke der Vergangenheit arten in dem Augenblick, in dem das Bewußtsein sie als Reliquien anbetet, in Bestandstücke einer Ideologie aus, die am Vergangenen sich labt, damit am Gegenwärtigen sich nichts ändere« (GS 10.1: 312). Statt bloßer Bewahrung geht es darum, sich zum »Zusammensturz jenes Überbaus« (ebd.: 318) noch einmal zu verhalten. Zentrales Element einer solchen Verhaltensweise zur Tradition ist die »Beziehung durch Distanz« (ebd.: 316). Sie zielt auf »ein Verhalten, das Tradition ins Bewußtsein hebt, ohne ihr sich zu beugen. Sie ist ebenso von der Furie des Verschwindens zu behüten, wie ihrer nicht minder mythischen Autorität zu entreißen.« (Ebd.: 317) In der Dialektik der Aufklärung nehmen Horkheimer und Adorno Bezug auf die jüdische Tradition und deren »Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit« (DdA: 40). Das Bilderverbot richtet sich primär auf die Funktion des Bildes als Erlösungsversprechen und Trostangebot. In einer Passage der Minima Moralia formuliert Adorno die Einsicht, dass der Bildersturm der Aufklärung den Rückfall in eine »zweite Bildlichkeit« (MM: 159) hervorgebracht habe. Auf der einen Seite steht die »aufklärende Intention des Gedankens, Entmythologisierung tilgt den Bildcharakter des Bewußtseins. Was ans Bild sich klammert, bleibt mythisch befangen, Götzendienst. Der Inbegriff der Bilder fügt sich zum Wall vor der Realität. […] Abbildendes Denken wäre reflexionslos, ein undialektischer Widerspruch; ohne Reflexion keine Theorie.« (ND: 205) Die Bildkritik der Aufklärung sei jedoch in ihrem Drang nach der Absolutheit von Vernunft und Begriff einen Schritt zu weit gegangen. Denn in dem sie alles dem Bewusstsein unterordnet, hat sie auch das erkenntnisproduktive Potential der Einbildungskraft, dazu gebracht, nach den Regeln des Verstandes zu operieren. Dabei blieb ihr aber unbewusst, dass ihre Grundannahme einer begrifflich erfassbaren objektiven Welt selbst der Vorstellung entspringt (vgl. MM: 159 f).
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aber nicht identisch mit Selbstausschaltung. Der Bezug auf das Kunstwerk bleibt darum – wenngleich nicht formal abstrakt – immer auch geistig. Eine unmittelbare, d.h. ganz und gar bilderlose Beziehung zwischen Werk und Rezipient konvergiere, so Adorno, »mit dem theologischen Prozess. […] Mit der Theologie kommt [der Materialismus] dort überein, wo er am materialistischsten ist. Seine Sehnsucht ist die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd.« (ND: 207; Herv. rb) Adorno führt den materialistischen Wunsch nach Unmittelbarkeit zurück auf das religiöse Dogma des Bilderverbots und dessen ›materialistischer‹ Begründung. Um von der Gegenwart Gottes zu wissen, bedarf es keines Bildes, keiner Projektion ins Außen, denn der menschliche Körper ist bereits der Resonanzraum des Göttlichen. Das Fleisch wird als Angelpunkt des Heils’ (caro cardo salutis) betrachtet und bildet als solches das Vorbild für die Sehnsucht des Materialismus nach der Versöhnung der Natur mit der Vernunft. Auch für Adorno bildet die Versöhnung von Natur und Vernunft den Fluchtpunkt menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse. Die Möglichkeit ihrer Realisierung findet er in der ästhetischen Erfahrung in jenem, bereits beschriebenen Moment, in dem zwischen dem vermittelten Kunstwerk und dem historisch gewordenen Subjekt für einen kurzen, somatischen Augenblick die Versöhnung Wirklichkeit zu sein scheint. Das Somatische vertritt in der ästhetischen Erfahrung den »Gesichtspunkt des Nichtidentischen« (ebd.: 205), der Moment, in dem Subjekt und Objekt nichts bezeichnen, bedeuten oder darstellen müssen. Mit Hindrichs (2020) kann die Versöhnung darum als etwas »Metalogisches« (ebd.: 204) bezeichnet werden. Die Emphase, mit der Adorno den Versöhnungsgedanken belegt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie über ihr Dasein als Augenblick nicht hinauskommen kann. Bereits in der ästhetischen Erfahrung selbst ist sie nur ein Moment, dem die Bildhaftigkeit der Spontaneität auf dem Fuße folgt. Ihre Einheit entspricht der Möglichkeit jener »lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekte« (THB: 103), die Adorno als zentralen Ausweis für Bildungsprozesse erachtet. Das, was sich für Adorno als ästhetische Erfahrung und als Bildungsprozess darstellt, ist eng verbunden mit dem, was von ihm als exakte Phantasie gefasst wird. Unter exakter Phantasie wurde bereits an anderer Stelle der für Adornos Begriff einer lebendigen Gegenstandserfahrung zentrale Zugang benannt, dessen Kerngedanke in der Wechselwirkung von Rezeptivität und Produktivität besteht. Der methodologische Bezug auf den Modus der exakten Phantasie ist hier insofern entscheidend, als er deutlich macht, dass es der subjektiven Spontaneität der Phantasie nicht um Erfindungen oder künstlerische Schöpfungen geht, sondern um eine den Erkenntnisgegenstand konstruierende Weise der »Arbeit an einem Widerstehenden« (ÄT: 21; Herv. rb). Innerhalb dieses zugleich rezeptiven wie produktiven Arbeitsverhältnisses bedeutet Phantasie »nicht ein weniger an Genauigkeit sondern das noch Genauere. Sie tritt nicht zu den Werken hinzu, sondern entspringt – wofern sie als spontane Kraft einmal da ist – in deren Mikroanalyse, sprengt die Werke von Innen.« (GS 15: 276) Der paradox anmutende Gebrauch des Begriffs der Genauigkeit soll ausdrücken, dass sich Spontaneität und Phantasie zwar auf Faktisches beziehen, der Bezug sich aber nicht mit der »Deskription der Fassade« (ND: 206) begnügt. Für Adorno schließen sich Erkenntnis und bloße Beschreibung der Sache nach aus. Stattdessen können Erkenntnisprozesse nicht auf die Bildung von Bildern verzichten. Erst auf dem Weg exakter Phantasie greifen Bildungsprozesse
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»unvermerkt ins Seiende ein als Vollzug von dessen Anordnung zum Bilde« (GS 2: 196). Die Unmerklichkeit zeigt sich darin, dass dem Eingriff exakter Phantasie die intellektuelle und schwerlich unbemerkt bleibende Souveränität des identifizierenden Begriffs fehlt. Während es ihm an Kontrolle mangelt, eignet ihm das »Element der Übertreibung, des über die Sachen Hinausschießens, von der Schwere des Faktischen sich Loslösens, kraft dessen er anstelle der bloßen Reproduktion des Seins dessen Bestimmung, streng und frei zugleich, vollzieht. Darin ähnelt jeder Gedanke dem Spiel, mit welchem Hegel nicht weniger als Nietzsche das Werk des Geistes verglichen hat.« (MM: 144; Herv. rb) Die Praxis anordnender Bildproduktivität und das ›an der Sache arbeitende geistige Spiel‹ sind für Adorno starke Argumente dafür, weiterhin an Bildung festzuhalten. Eine solche Auffassung von Bildung wendet sich nicht zuletzt gegen jene Bewegung, die versucht, der gesellschaftlich geschaffenen Leerstelle dadurch zu begegnen, dass sie mit alten Leitbildern auch dann noch gefüllt wird, wenn sie individuell und gesellschaftlich nicht mehr realisiert werden kann. Adornos Antwort auf die objektiv zerfallene Bildung ist ein Gegenentwurf zur Orientierung an Leitbildern. An einer Stelle in der Theorie der Halbbildung geht Adorno kritisch auf die ideologische Herausforderung von Bildung als Leitbild ein. Zunächst stellt er ein Bedürfnis nach Leitbildern fest, das Halbbildung nicht befriedigen kann und das sich irgendwann in einen Zustand der »Gier« (THB: 104) verwandelt hat. Dem in Gier verwandelten Bedürfnis nach Leitbildern stellt er etwas gegenüber, was als eine Art ›Phänomenologie der lebendigen Erfahrung‹ bezeichnet werden kann. Adorno beschreibt dort den Weg vom Zustand der Unbildung, der – von falschen Bedürfnissen noch nicht eigenommen – »ein unmittelbares Verhältnis zu den Objekten gestattete[, hin] […] zum kritischen Bewußtsein« (ebd.: 104f.). Als Motor dieses Steigerungsprozesses fungieren das Potential »von Skepsis, Witz und Ironie – Eigenschaften die im nicht ganz Domestizierten gedeihen« (THB: 105). In dem Versuch, Bildung als lebendige Erfahrung zu erörtern, bezieht sich Adorno also nicht auf gesellschaftlich gängige Vorstellungen davon, was Bildung sein könnte oder sein sollte, sondern auf die Durchleuchtung einer Praxis, der zwar objektiv keine Wirklichkeit mehr entspricht, die aber subjektiv weiterhin die Möglichkeit einer »empirischen Einlösbarkeit« (Koselleck 2015 [1988]: 126) darstellt.
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4.3.3
Bildung als Verobjektivierung
Von allen Werkzeugen, die der Mensch besitzt, ist das erstaunlichste zweifellos das Buch. Die anderen sind nur verlängerte Werkzeuge seines Körpers: Mikroskope, Teleskope sind eine Verlängerung seiner Sicht; das Telefon ist die Verlängerung seiner Stimme; dann gibt es da noch den Plug und die Waffen, die nur Verlängerungen seines Armes sind. Aber das Buch ist etwas anderes: Das Buch ist eine Verlängerung des Gedächtnisses und der Vorstellung – José Luis Borges – Adorno knüpft den Vollzug von Bildung als Vermittlung an das, was von der logischen Form der Synthese – oder in einem weiteren Sinne: vom verdinglichten Bewusstsein – und ihrem Freiheitsversprechen erfolgreich verdrängt wurde: die somatische Natur. Indem das Negierte, zu Bewusstsein und Synthese hinzutritt, lässt es diesen eine Freiheit erfahren, die ihrem vermeintlich freiem Zwangscharakter selbst nicht erreichbar ist. Die Möglichkeit, sich von dem Zwang des begrifflichen Urteils zu befreien, entspinnt sich, wenn den Impulsen »unterdrückter und in die geschichtliche Dynamik verflochtener Natur« (ÄT: 198) ›Zutritt‹ zu geistiger Erfahrung gewährt wird. Das Somatische ist vom Bewusstsein zwar qualitativ verschieden, aber nicht dessen ganz Anderes. Vom Somatischen als hinzutretendem Dritten zu sprechen, ist die Konsequenz einer Einsicht: Die Verdinglichung des Körpers ist so weit fortgeschritten, er ist so sehr zweite Natur geworden, dass sein Ausdruck und seine Manifestationsweisen nicht anders erlebt und gedeutet werden können, als ob etwas Fremdes von außen hinzukomme. Für Adorno stellt sich jedoch das, was dem gesteigerten Individualismus der Halbbildung und der gesellschaftlichen vorherrschenden Form des verdinglichten Bewusstseins als fremd erscheinen mag, als nicht weniger dar, als »das stärkste unmittelbare und lebendige Argument für so etwas wie Freiheit« (LGF: 327); einer Erfahrung der Freiheit, die zu Bildung führen kann. Mit Blick auf den Bildungsprozess lässt sich sagen: »Der Anfang wird im erfahrenden Subjekt gemacht, nicht außerhalb.« (Hindrichs 2000: 147; Herv. rb) Da Spezifische dieser subjektiven Erfahrung ist es nun also, dass sie den Charakter eines »immanent Somatischen« (ND: 194; Herv. rb) besitzt, und dennoch die Qualität einer Entfremdung hat. Diese Doppelstruktur ist eine der Voraussetzungen dafür, dass eine somatische Erfahrung, durch ihre ästhetische und begriffliche Vermittlung, zu einer bildenden Erfahrung werden kann. Jener Anfang der Bildung erhält in den Begriffen der Affizierung und Erschütterung eine ästhetische Auslegung. Hierbei handelt sich um zwei Modi der somatisch vermittelten Erfahrung der Entfremdung. Was sie ästhetisch macht, ist unter anderem ihr Bündnis mit der mimetischen Fähigkeit. Zusammengenommen bilden sie eine Einheit, die sich dadurch auszeichnet, die »Unwiderstehlichkeit von Impulsen« (LGF: 330) zulassen und selbstvergessen in das Objekt »hineinzuspringen« (ebd.) zu können. Über Bildung zu sprechen, die das ästhetische Moment der Mimesis nicht verdrängt, heißt auch über Lust zu sprechen: Lust des Einzelnen an sich selbst, wenn man sich aktiv empfindet, Lust an der Denkaktivität, Lust an der Erfahrung von Kunstwerken, Lust an der Form. Bildung kann nicht ohne diesen Akt der Bejahung gedacht werden. Aber sie kann auch nicht bloße Bejahung bleiben, sie muss anfangen, sich zu
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objektivieren. Adorno verbindet diesen Anfang mit der Tätigkeit des melancholischen Bewusstseins. Der Übergang von Affizierung, Erschütterung und Lust zur Melancholie zeugt von einem kritischen Erkenntnisinteresse. Ganz offensichtlich geht es Adorno nicht nur um die mimetische Erfahrung des Gegebenen, sondern auch um die Dechiffrierung ihres geschichtlichen Bedeutungsgehalts. Dass das Bewusstsein nicht anders kann, als sich melancholisch zu vollziehen, verweist auf seine doppelte naturgeschichtliche Stoßrichtung. Diese zielt zum einen auf die »Deutung der konkreten Geschichte« (IN: 358), die als Natur erscheint. Sie nimmt die Objekte nicht nur als Positivitäten, sondern als Zeichen der Verwandlung von Geschichte in zweite Natur. Die Erkenntnisobjekte als Zeichen von naturhafter Geschichte zu deuten, heißt dann nichts anderes als die Erschließung ihrer geschichtlichen Vermittlungsverhältnisse. Die andere Stoßrichtung betrifft die Form des Bewusstseins selbst. Leiden und Vergänglichkeit bilden den Erfahrungshorizont, aus dem gedacht und gegen den angedacht wird: »Ich meine, daß man überhaupt nicht einen Gedanken denken kann, wenn man nicht das Richtige will; das heißt, wenn nicht hinter diesem Gedanken, als die eigentlich ihn beseelende Kraft, das steht, daß es richtig sein soll, daß es mit den Menschen in einen Zustand kommen soll, in dem das sinnlose Leid aufhört […] und der Bann von den Menschen genommen wird.« (VND: 82f.) Der Wunsch, durch Denken zur Aufhebung sinnlosen Leids und der gesellschaftlichen Totalität von Naturbeherrschung beizutragen, gibt dem kritischen Erkenntnisinteresse seinen normativen Impetus und Zug ins ›Negative‹, genauer gesagt seinen Zug in die bestimmte Negation. Adornos Auffassung von Bildung als begriffliche Vermittlung verfolgt das Ziel, durch geistige Erfahrung – also der Einheit von Zueignung, »Reflexion und Spekulation« (MM: 76) – die vielfältigen Vermittlungsverhältnisse, die das Gegebene konstituieren, zu entschlüsseln. Im Zuge ihrer Dechiffrierung gewinnen Erfahrungen und Phänomen eine »eigene Sprache und können mehr bedeuten, als ihnen vorab beigelegt wurde« (von Wussow 2006: 79; Herv. i.O.). Jenes Mehr im Besonderen und letztlich auch gegen das Besondere zutage zu fördern und zur Darstellung zu bringen, ist die die Funktion begrifflicher Konstellationen. Bildung, verstanden als Denken in Konstellationen, ist der Versuch, dem ›intellektuellen Dominanzverhalten‹ der synthetisierenden, identifizierenden und subsumierenden Denkformen eine andere Weise des Erkennens gegenüberzustellen – eine Erkenntnisweise, die die Erfahrung des Besonderen – d.h. die Erfahrung des Subjekts und die Erfahrung des Gegenstandes – in seiner geschichtlichen Allgemeinheit erfasst, ohne es in seiner Besonderheit zu negieren. Aus Adornos Perspektive entspricht dieser Prozess niemals nur einer virtuellen Erkenntnishandlung. Sie ist immer auch sondern eine lebendige, also somatisch und geschichtlich vermittelte Erfahrung. In jedem Bildungsprozess wird angeschmiegt, gefühlt, gespürt, imaginiert, assoziiert, abstrahiert, konstruiert, ausgedrückt, spekuliert, gelesen und gedeutet. Die Handlungs- und Verhaltensweisen an sich machen jedoch noch keinen Bildungsprozess aus. Beim Sport wird auch gespürt, in der Therapie auch gefühlt, assoziiert und gedeutet, an der Börse auch
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spekuliert. Woran lässt sich also erkennen, dass die Vermittlung dieser Handlungs- und Verhaltensweise den prozessualen Charakter von Bildung bestimmen? Die Antwort liegt in der Vermittlung des Besonderen, in subjektiver und objektiver Hinsicht, mit dem Allgemeinen durch seine Verobjektivierung. Im Prozess der Verobjektivierung des Besonderen in der begrifflichen Konstellation verbindet sich unter anderem die melancholische Dimension von Bildungsprozessen mit dem Aspekt der Liebesfähigkeit. Während die Melancholie zum Bewusstsein für die Gewordenheit, Vergänglichkeit und Naturverfallenheit des Besonderen anhält, bezeichnet Liebe die Fähigkeit, im Besonderen »das Allgemeine zu ergreifen, ohne sich selber und die Wahrheit seiner Erfahrung darüber zu opfern« (MM: 204). Beide übernehmen innerhalb des begrifflichen Objektivierungsprozesses, auf unterschiedliche Weise, die Funktion, »das nichtbegriffliche Moment zu vertreten und es durch den Begriff selber zur Geltung kommen zu lassen« (PT I: 87). Die Terminologie der ›Vertretung‹ verdeutlicht nun den entscheidenden Zug der Bildungstheorie Adornos, die versucht zwei Aspekte miteinander zu vermitteln: Zum einen will sie dem Besonderen als Besonderem in seinen verschiedenen Facetten Rechnung tragen, zum anderen will sie am Erkenntnisanspruch des Begriffs festhalten, ohne dessen zwingende Zugriffsweisen von Gleichsetzung, Abbildung und Subsumption zu reproduzieren. Bildung als Verobjektivierung vollzieht den Übergang in ein Drittes. Dieser Übergang von der besonderen Erfahrung zur Einsicht in das Allgemeine über ein Drittes, das für Adorno die begriffliche Konstellation darstellt, vollzieht sich in einem Spannungsverhältnis von Soma und Sprache. Verobjektivierung ist immer auch ein Ringen zwischen begrifflicher Sprache und lebendigem Ausdruck. In der ästhetischen Erfahrung genießt der mimetische Sprachkörper noch den Vorrang. Durch die Erschütterung oder Melancholie bricht ein Objekt in das Subjekt ein und das Subjekt versucht, sich dem Objekt durch Assoziation und Bilder sprachlich anzuähneln. In der eigentümlichen Verschränkung von ›Körpersprache‹ und sprachlichem Ausdruck erkennt Adorno das zentrale Argument für die nicht-begriffliche Erkenntnis des Objekts. Der Ausdruck des mimetischen Sprachkörpers befindet sich an der Schwelle von signifikativer Sprachlosigkeit und sprachlicher Vermittlung. Wie aber kann sich eine Erkenntnis als objektiv gültig behaupten, die sich auf Mimesis beruft und damit keinen Bezug zur Sprache als Trägerin allgemeiner Bedeutung hat? Die Antwort darauf ist schlicht: gar nicht. Die sprachmimetischen Äußerungen gewinnen erst in Verbindung mit der begrifflichen Sprache ihre Bedeutung. Im Medium des Begriffs wird die noch nicht offen zutage liegende, aber objektive Erfahrung des Ausdrucks durch Deutung und sprachliche Formung erschlossen. Dabei hat man es mit einem Prozess zu tun, der sich vor allem im Schreiben vollzieht. Oder anders formuliert: Im Schreiben hat die Verobjektivierung ihren Zweck, das Dritte seinen Ort. Durch das Schreiben wird eine ästhetische Erfahrung zu einer geistigen Erfahrung Der Prozess des Schreibens ist eine denkende Hinwendung zur ästhetischen Erfahrung, die aus der hinreißenden Begegnung mit einem anderen entstanden ist. Das, was Adorno von der geistigen Erfahrung erwartet, den zwanglosen und konzentrierten Blick auf das Phänomen, soll sich auch textuell widerspiegeln – in der Dichte des Textgewebes. Für Adorno gilt: »Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben: dicht,
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konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt« (MM: 108). Das denkende Schreiben folgt in Adornos Verständnis den Bedingungen des Essays. Die subjektiven Pole, die das essayistische Schreiben bedingen und darauf abzielen, ohne dabei zwangsläufig schon selber schreibend zu agieren, sind Eigensinn und Liebe. Durch sie lässt sich nicht nur der Unterschied zwischen der begrifflichen Zueignung und der begrifflichen Aneignung einer Erfahrung bestimmen. Sie bilden auch den Übergang von der subjektiven Erfahrung zur Erörterung des Vermittlungsverhältnisses einer Sache. Während begriffliche Aneignung darauf aus ist, die Erfahrung in den Besitz des Begriffs zu bringen, geht es begrifflicher Zueignung um die Verwandlung subjektiver Erfahrung in objektive Wahrheit. Eigensinn und Liebe bringen zum Ausdruck, dass Zueignung dabei gleichermaßen behutsam und frei vorgeht. Deutlich zeichnet sich in der freien Zueignung der Erfahrung die Praxis des ›knechtischen Bewusstseins‹ auf dem Feld des Versprachlichung von Gedanken ab. Für das reflektierende Schreiben ist Sprache sowohl Werkzeug begrifflicher Arbeit als auch Medium, in dem die Lust an sprachlichem Spiel und Komposition zu ihrem Recht kommt. Texte, die in dem Spannungsverhältnis von Lust und Arbeit entstehen, haben einen Eigensinn, der nicht nur daran erinnert, dass »noch die fernsten Objektivierungen des Denkens sich nähren von den Trieben« (MM: 138), sondern der auch das ermöglicht, was man als Befreiung von den Zwängen des Begriffs im Begriff bezeichnen kann. Die sprachliche Durchformung des Objekts ist abhängig von der signifikativen Trittsicherheit des Begriffs. Der Überschuss, der die Erfahrung zu einer Erkenntnis macht, vollzieht sich jedoch im Schatten des Begriffs – dort, wo Körpersprache und Phantasie wirken. Die Freiheit des Schreibens ist letztlich nichts anderes als die Einsicht, dass es Erkenntnis nicht gibt, »ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion« (MM: 44; Herv. rb). Das essayistische Schreiben ist nicht nur ein Prozess, der sich aus Freiheit vollzieht, sondern auch eine Handlung aus Liebe. Das liebende Verhalten des sublimen Bewusstseins kommt sprachlich in doppelter Weise zum Tragen. Liebe als zwanglose Vermittlung von Subjekt und Objekt steht nicht nur am Anfang des Bildungs- und Erkenntnisprozesses. Die Selbstvergessenheit des Subjekts setzt sich auch im sprachlichen Verfertigen von Deutungen fort. »Wo man liebt, versteht man.« (GS 20.1: 319) – und versucht auf diesem Weg, im begrifflichen Denken das »mimetische Moment zu retten oder wiederherzustellen, das wahrhaftig mit der Liebe aufs tiefste zusammenhängt« (PT I: 81). Doch reicht die Liebe aus als Möglichkeitsbedingung für den qualitativen Sprung von der »Selbstvergessenheit des Subjekts, das der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt« (NL: 56) zur Verobjektivierung des Gegenstandes? Um sich von den Zwängen des Begriffs partiell zu lösen und dennoch schreibend hinter die Dinge zu kommen, sie schreibend zur Darstellung zu bringen, braucht es ein Drittes. Dieses Dritte lässt sich nicht nur methodologisch auffassen – als Konstellation –, sondern auch auf einer intersubjektiven Ebene beschreiben.
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In dem Aphorismus Lämmergeier – ein Spitzname von Adornos Frau Gretel (vgl. Dankemeyer 2020: 142) – beschreibt dieser die Bedeutung des mündlichen Diktats als Bedingung des Schreibens: »Zu diktieren ist nicht bloß bequemer, spornt nicht bloß zur Konzentration an, sondern hat überdies einen sachlichen Vorzug. Das Diktat ermöglicht es dem Schriftsteller, sich in den frühesten Phasen des Produktionsprozesses in die Position des Kritikers hineinzumanövrieren. Was er da hinstellt ist unverbindlich, vorläufig, bloßer Stoff zur Bearbeitung, tritt ihm jedoch zugleich, einmal transkribiert, als Entfremdetes und ich gewissem Maße Objektives gegenüber. Er braucht sich gar nicht erst zu fürchten etwas festzulegen, was doch nicht stehenbliebe, denn er muß es ja nicht schreiben […]. Das Risiko der Formulierung nimmt die harmlose Gestalt erst des ihm leichthin präsentierten Memorials, dann der Arbeit an einem schon Daseienden an, so daß er die eigene Verwegenheit gar nicht recht wahrnimmt. Angesichts der ins Desperate angewachsenen Schwierigkeit einer jeglichen theoretischen Äußerung werden solche Tricks segensreich. Sie sind technische Hilfsmittel des dialektischen Verfahrens, das Aussagen macht, um sie dann zurückzunehmen und dennoch daran festzuhalten. Dank aber gebührt dem, der das Diktat aufnimmt, wenn er den Schriftsteller durch Widerspruch, Ironie, Nervosität, Ungeduld und Respektlosigkeit im rechten Augenblick aufscheucht. Er zieht Wut auf sich. […] Der Affekt, der gegen den lästigen Helfer undankbar sich kehrt, reinigt wohltätig die Beziehung zur Sache.« (MM: 242) Das Diktat besetzt für Adorno den Raum, der zwischen dem denkenden Sprechen und dem denkenden Schreiben vermittelt. Das Diktat ist beides: bloßer Stoff, und darum unmittelbar; Material, und darum vermittelt. Das Transskript hat die Form einer Verobjektivierung, die aber noch den Charakter eines Versuches besitzt. Das begriffliche Herantasten, das Assoziieren, Mäandern, sie sind die ersten Schritte der Entäußerung an den Gegenstand auf dem Weg, sich dessen im Modus des Schreibens bewusst zu werden. Entscheidend ist: Die Selbstvergessenheit braucht jemanden, der die Gedanke und Impulse durch ihre Niederschrift aufbewahrt. Neben der sachlichen Begründung enthält der Aphorismus noch eine emotionale Rechtfertigung des Diktierens. Denn das eigentliche Dritte, das die Verobjektivierung ermöglicht, ist die Person, die es aufnimmt und dabei jedoch weitaus mehr tut, als es nur aufzunehmen. Das ›dialektische Verfahren‹ versetzte den Denkenden in einen Zustand der Unruhe, der Zerrissenheit, der Entfremdung. Vor diesem Hintergrund ist der Diktierende der aufschreibenden Person doppelt zu Dank verpflichtet. Der Dank gilt zunächst ihrer helfenden und produktiven Anstrengung, dem komplexen Material eine Form zu geben, das zerstreut Gesprochene in eine Konstruktion zu bringen, die richtige Sprache für den Ausdruck der Sache zu finden. In ihrer Rolle »legt sie schützend die Hand über das Gelingen der Arbeit und überlistet die Schreibhemmung des Autors, indem sie ihm den freien Vortrag gestattet. […] Seine druckreife gesprochene Sprache hat Adorno nur entwickeln können, weil er eine treue und strenge Zuhörerin hatte.« (Dankemeyer 2020: 144) Der Dank gilt aber auch und insbesondere ihrer emotionalen ›Sorgearbeit‹. Sie ist notwendig, weil affizierbare Spontaneität und somatischer Impuls nicht nur das ›lebendigste Argument für Freiheit‹ sind, sondern – wenn sie in Form von Wut, Verzweiflung,
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Abwehr zum Ausdruck kommen – auch der Vermittlung durch ein Drittes bedürfen – ein Drittes, das es ermöglicht – aufgelöst in dem Dazwischen von Impulsen, Empfindungen, Gedanken – ganz bei der Sache und dennoch auf dem Weg der begrifflichen Vermittlung sein zu können. Der Weg des Gedankens zum fertigen Text ist nicht nur somatisch und begrifflich, sondern auch intersubjektiv vermittelt – eine Intersubjektivität, die im Manuskript ihren objektiven Ausdruck findet. Erst die »spätere Tatsache des Manuskripts gibt ihm die objektive Distanz zurück, die er nicht hat, solange er ›in der Sache‹ ist, aber er bewahrt gleichzeitig den ersten subjektiven Impuls auf, den er verliert, sobald er ›außer der Sache‹ ist« (ebd.: 143). Es entzieht sich – nun am Schluss dieser Arbeit – nicht einer gewissen Ironie, dass zu der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt nicht das Somatische allein hinzutritt. Es hat ein anderes Drittes dabei, das es braucht, das es aber in diesem Fall nicht selbst sein kann.
Verzeichnisse
Siglen zu Adornos Schriften APD Anmerkungen zum philosophischen Denken ÄT Ästhetische Theorie B Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte CK Culture und Kultur DdA Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente DSH Drei Studien zu Hegel. EF Der Essay als Form ELF Die Einheit von Forschung und Lehre unter den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. Und 20. Jahrhunderts EnA Erziehung nach Auschwitz ET Erkenntnistheorie EzE Erziehung zur Entbarbarisierung F Fortschritt LGF Vorlesung »Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit« M Vorlesung »Metaphysik« ME Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien MM Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben ND Negative Dialektik NL Noten zur Literatur I–IV. PM Probleme der Moralphilosophie PT I und II Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Bd. 1 und 2 SO Zu Subjekt und Objekt THB Theorie der Halbbildung VÄ Vorlesung Ästhetik VND Vorlesung über Negative Dialektik
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Weitere Siglen KrV Kritik der reinen Vernunft (Immanuel Kant) KdU Kritik der Urteilskraft (Immanuel Kant)
Abkürzungen GS: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 1-20, Hg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz 1970-1986. Frankfurt/M: Suhrkamp. NaS: Nachgelassene Schriften, hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M/Berlin: Suhrkamp 1993ff. W: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1979): Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M: Suhrkamp. KSA: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, hg. Gorgio Colli/Mazzin Montinari, München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter.
Literatur Adorno, Theodor W. (1968/1993): »Einleitung in die Soziologie«, in: Christoph Gödde (Hg.), Nachgelassene Schriften, Abt. IV. Bd. 15. Frankfurt/M: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (197 [1957]): »Rede über Lyrik und Gesellschaft.« in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 11, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 48−68. Adorno, Theodor W. (1971 [1968]): »Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 13, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 321-494. Adorno, Theodor W. (1971 [1968]): »Versuch über Wagner«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 13, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 7-148. Adorno, Theodor W. (1972 [1930]): »Thesen über die Sprache des Philosophen«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 366-371. Adorno, Theodor W. (1972 [1931]): »Die Aktualität der Philosophie«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 325-344. Adorno, Theodor W. (1972 [1932]): »Die Idee der Naturgeschichte«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 345-365. Adorno, Theodor W. (1972 [1958]): »Der Essay als Form«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 11, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 9-33. Adorno, Theodor W. (1972 [1969a]): »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 12-245. Adorno, Theodor W. (1972 [1969a]: »Einleitung zum ›Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‹« in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 280-353. Adorno, Theodor W. (1972 [1969b]: »Drei Studien zu Hegel«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 247-382.
Verzeichnisse
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Pädagogik Tobias Schmohl, Thorsten Philipp (Hg.)
Handbuch Transdisziplinäre Didaktik August 2021, 472 S., kart., Dispersionsbindung, 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-5565-0
Andreas de Bruin
Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5
Andreas Germershausen, Wilfried Kruse
Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können April 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8
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Pädagogik Andreas de Bruin
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Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna March 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0
Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)
Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4
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