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German Pages [315] Year 2011
Roberto Bolano
Das Dritte Reich Roman
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Für Carolina Lopez-
Wir spielen bald mit Hausierern, bald mit Ferienreisenden, und vor zwei Monaten durften wir gar einen deutschen General zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilen. Er kam hier durchgewandert mit seiner Gattin, nur meine Kunst rettete ihn vor dem Galgen. Friedrich Dürrenmatt, Die Panne
20. August
Durchs Fenster dringt das Rauschen des Meeres, vermischt mit dem Gelächter der letzten Nachtschwärmer, Lärm, der vielleicht von den Kellnern stammt, die die Tische von der Terrasse räumen, das gelegentliche Geräusch eines Autos, das langsam den Paseo Maritimo entlangfährt, und dumpfes, unverständliches Gemurmel aus den anderen Zimmern des I lotels. Ingeborg schläft; ihr Gesicht gleicht dem eines Engels, dessen Träume nichts trübt; auf dem Nachttisch steht ein Glas Milch, das sie nicht angerührt hat und das inzwischen warm sein dürfte, und neben ihrem Kopfkissen liegt, vom Laken halb verdeckt, ein Krimi mit Detektiv Florian Linden, in dem sie keine zwei Seiten gelesen hat, als ihr schon die Augen zufielen. Mir geht es genau umgekehrt: 1 litze und Müdigkeit rauben mir den Schlaf. Normalerweise schlafe ich gut, zwischen sieben und acht Stunden täglich, obwohl ich ganz selten müde ins Bett gehe. Morgens erwache ich frisch wie der Frühling und mit einer Energie, die auch nach acht oder zehn Stunden auf den Beinen nicht nachlässt. Wenn ich mich recht entsinne, war das schon immer so; liegt wohl in meiner Natur. Das hat mir niemand eingeimpft, ich bin einfach so und will damit nicht andeuten, ich sei besser oder schlechter als andere; als Ingeborg zum Beispiel, die samstags und sonntags nicht vor Mittag aufsteht und unter der Woche eine zweite Fasse Kaffee — und eine Zigarette — braucht, um richtig wach zu werden und für die Arbeit in Schwung zu kommen. Heute Nacht aber rauben mir Müdigkeit und Hitze den Schlaf. Auch dass ich schreiben will, die Ereignisse des Tages festhalten, hindert mich daran, ins Bett zu gehen und das Licht zu löschen. Die Reise verlief ohne nennenswerten Zwischenfall. In Strasburg, einer hübschen Stadt, die ich allerdings schon kannte, machten wir halt. Wir alien in einer Art Supermarkt am Rand der Auto-
bahn. Anders als man uns prophezeit hatte, gab es an der Grenze keine Schlange und dauerte es höchstens zehn Minuten, bis wir drüben waren. Alles ging schnell und zügig vonstatten. Ab da fuhr ich, weil Ingeborg den einheimischen Autofahrern nicht traute, ich glaube wegen einer schlechten Erfahrung auf einer spanischen Autobahn vor langer Zeit, als sie noch klein war und mit ihren Eltern in die Ferien fuhr. Außerdem war sie vcrständlicherweise müde. An der Rezeption bediente uns ein blutjunges Mädchen, das mit der deutschen Sprache gut zurechtkommt, und unsere Reservierungen wurden problemlos gefunden. Alles in bester Ordnung also, und wir waren schon auf dem Weg nach oben, als ich im Speisesaal Frau Else erblickte. Ich erkannte sie sofort wieder. Sie deckte gerade einen Fisch ein und gab nebenbei einem Kellner Anweisungen, der mit einem Tablett voller Salzstreuer neben ihr stand. Er trug einen grünen Anzug, und an der Brust stak das Metallschildchen mit dem Hotelemblem. Die Jahre waren fast spurlos an ihr vorübergegangen. Der Anblick von Frau Else rief in mir die läge meiner Jugend wach, mit ihren düsteren Stunden und lichten Stunden; meine Eltern und mein Bruder beim Frühstück auf der Hotelterrasse, die Musik, die von sieben Uhr abends an aus den Restaurantlautsprechern im Erdgcschoss perlte, das alberne Gelächter der Kellner und die unter uns Jugendlichen organisierten nächtlichen Badeausflüge oder Diskobesuche. Was war mein Lieblingssong damals? Jeden Sommer ein anderer, mit einer gewissen Ähnlichkeit zum Hit des Vorjahrs, der bis zum Uberdruss geträllert oder gepfiffen wurde und in der Regel zum Tagesausklang in allen Diskotheken des Ortes lief. Mein Bruder, der in Sachen Musik immer sehr wählerisch war, suchte vor der Fahrt in den Urlaub sorgfältig die Kassetten aus, die uns begleiten sollten; ich dagegen überließ es lieber dem Zufall, mir einen neuen Ohrwurm einzupflanzen, das unvermeidliche Lied des Sommers. Ich brauchte es nur beiläufig zwei- oder dreimal zu hören, damit seine Melodie mich durch die sonnigen Tage und neuen Freundschaften hindurch verfolgte, die unsere Urlaube umrahmten. Von meiner heutigen Warte aus betrachtet flüchtige Freund-
Schäften, die man nur schloss, um noch die leiseste Ahnung von Langeweile im Keim zu ersticken. Von den vielen Gesichtern überdauern in meiner Erinnerung nur ganz wenige. An erster Stelle das von Frau Fl sc, deren Nettigkeit mich im Sturm eroberte, was mich zur Zielscheibe fiir die Witze und Späße meiner Eltern machte, die sich sogar in Anwesenheit von Frau Else und ihrem Mann, einem Spanier, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, über mich lustig machten, indem sie Andeutungen über angebliche Eifersucht und die Frühreife junger Leute einflochten, mit dem Erfolg, dass ich bis in die Haarspitzen errötete und damit bei Frau Else zärtlich-kameradschaftliche Gefühle weckte. Fortan glaubte ich, in ihrem Verhalten mir gegenüber eine größere Wärme zu spüren, als sie sie meiner übrigen Familie zuteil werden ließ. Auch das Gesicht von Jose (hieß er so?), einem Jungen in meinem Alter, der im I lotcl arbeitete und uns, meinen Bruder und mich, an Plätze führte, die wir ohne ihn nie gefunden hätten. Als wir uns von ihm verabschiedeten - vielleicht ahnten wir, dass wir den nächsten Sommer nicht im Del Mar verbringen würden -, schenkte mein Bruder ihm einige RockmusikKassetten und ich ihm meine alte Jeans. Zehn Jahre sind seither vergangen, und noch immer sehe ich die Tränen, die plötzlich aus Jose hervorbrachen, der mit der zusammengefalteten 1 lose in der einen 1 land, Kassetten in der anderen, nicht wusste, was er tun oder sagen sollte, und in einem Englisch, über das sich mein Bruder ständig lustig machte, stammelte: Lebt wohl, meine Freunde, lebt wohl, meine Freunde usw., während wir auf Spanisch - eine Sprache, die wir leidlich gut beherrschten, nicht umsonst verbrachten unsere Eltern seit Jahren ihren Urlaub in Spanien —zu ihm sagten, er solle sich keine Sorgen machen, im nächsten Sommer seien wir wieder zusammen, wie die drei Musketiere, er solle nicht weinen. Wir bekamen zwei Postkarten von Jose. Die erste beantwortete ich in meinem Namen und im Namen meines Bruders. Dann vergaßen wir ihn und hörten nie wieder voneinander. Es gab auch einen Jungen aus Heilbronn, Erich, der beste Schwimmer der Saison, und eine gewisse Charlotte, die lieber mit mir in der Sonne lag, obwohl mein Bruder total verrückt nach ihr war. Ein Sonderfall ist die arme
Tante Giselle, die jüngere Schwester meiner Mutter, die uns in unserem vorletzten Sommer im Del Mar begleitete. Tante Giselle liebte Stierkampf über alles, und ihre Gier nach Spektakeln dieser Art kannte keine Grenzen. Unauslöschliche Erinnerung: Mein Bruder fuhr völlig unbeschwert den Wagen meines Vaters, ich saß rauchend neben ihm, ohne dass mir jemand etwas sagte, und Tante Giselle betrachtete vom Rücksitz aus verzückt die schaumbedeckten Klippen unterhalb der Straße und das Dunkelgrün des Meeres, ein zufriedenes Lächeln auf ihren ungemein blassen Lippen und drei Plakate, drei Schätze, im Arm, die belegten, dass sie, mein Bruder und ich in der Stierkampfarena von Barcelona mit einigen Größen des Stierkampfs zusammengetroffen waren. Bestimmt missbilligten meine Eltern viele der Beschäftigungen, denen sich Tante Giselle so leidenschaftlich hingab, wie sie auch nicht angetan waren von den Freiheiten, die sie uns ließ und die aus ihrer Sicht für uns Kinder völlig überzogen waren, obwohl ich damals immerhin fast vierzehn war. Andererseits hatte ich ständig den Verdacht, dass eher wir auf'Fante Giselle aufpassten, eine Aufgabe, die unsere Mutter uns auftrug, ohne dass es jemand mitbekam, sehr behutsam und äußerst rücksichtsvoll. Wie auch immer, 'Iante Giselle begleitete uns nur in diesem einen Sommer, unserem vorletzten im Del Mar. Ich erinnere mich an wenig sonst. Nicht vergessen habe ich das Gelächter an den Fischen auf der I lotclterrasse, die Riesenfasser Bier, die sich unter meinen staunenden Blicken leerten, die schwitzenden, dunklen Kellner, die an einer Ecke des Tresens zusammenhockten und leise miteinander sprachen. Vereinzelte Bilder. Das glückliche Lächeln und wiederholte Nicken meines Vaters, eine Werkstatt, die Fahrräder vermietete, der Strand abends um halb zehn mit einem letzten Schimmer Sonnenlicht. Das Zimmer, in dem wir damals wohnten, war ein anderes als das, in dem wir jetzt wohnen; ob besser oder schlechter, weiß ich nicht; anders, in einem niedrigeren Stockwerk und größer, groß genug, damit vier Betten darin Platz fanden, und mit einem breiten Balkon zum Meer hin, auf den sich meine Eltern gewöhnlich nach dem Essen zu endlosen Kartenspielen zurückzogen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir
ein eigenes Bad hatten. Wahrscheinlich in manchen Sommern ja, in anderen nicht. Unser jetziges Zimmer hat ein eigenes Bad, dazu einen hübschen, geräumigen Wandschrank und ein riesiges Ehebett, Teppiche und auf dem Balkon einen gusseisernen Tisch mit Marmorplatte, innen vor dem Fenster einen hauchdünnen, grünen Vorhang und außen sehr moderne, weiß gestrichene Holzjalousien, eine direkte und indirekte Beleuchtung und gut versteckte Lautsprecher, aus denen auf Knopfdruck Radiomusik ertönt ... Kein Zweifel, das Del Mar hat Fortschritte gemacht. I Jnd die Konkurrenz hat auch nicht geschlafen, wie mir ein rascher Blick aus dem Auto verriet, während wir den Paseo Marftimo entlangfuhren. Es gibt I lotcls, an die ich mich nicht erinnern kann, und auf den einstigen Brachflächen sind Apartmenthäuser in die Höhe geschossen. Aber das sind alles Spekulationen. Morgen werde ich versuchen, mit Frau Else zu sprechen, und einen Spaziergang durch den Ort machen. I labe auch ich Fortschritte gemacht? Aber ja: Früher kannte ich Ingeborg nicht, jetzt bin ich mit ihr zusammen; meine Freundschaften sind interessanter und intensiver, die zu Conrad zum Beispiel, der für mich wie ein zweiter Bruder ist und diese Seiten lesen wird; ich weiß, was ich will, und habe einen weiteren Horizont; ich bin finanziell unabhängig; anders als in meiner Jugend langweile ich mich heute nie. Uber nicht vorhandene Langeweile sagte Conrad, sie sei der Lackmustest einer guten Gesundheit. Demnach miisste meine Gesundheit ausgezeichnet sein. Ohne groß zu übertreiben, glaube ich sagen zu können, dass ich in der besten Phase meines Lebens stehe. Einen großen Anteil daran hat Ingeborg. Sic zu treffen war das Beste, was mir passieren konnte. Ihr sanftes Wesen, ihr ("härme, die zärtliche Art, mit der sie mich anschaut, bewirken, dass alles andere, die täglichen Anstrengungen, die Steine, die mir meine Neider in den Weg legen, den Stellenwert bekommen, der ihnen angemessen ist, einen, der es mir erlaubt, mich den Tatsachen zu stellen und mit ihnen fertig zu werden. Was wird aus unserer Beziehung werden? Ich sage das, weil die Beziehungen unter jungen Leuten heute so unbeständig sind. Ich will nicht lange darüber nachdenken. Ich bin
mehr fürs Liebevolle: Sic lieben und beschützen. Sicher, wenn wir am Ende heiraten, umso besser. Ein Leben langan Ingeborgs Seite, was könnte ich mir auf Gefühlsebene Schöneres wünschen? Die Zeit wird es weisen. Jetzt gerade ist ihre Liebe ... Aber lassen wir das Dichten. Diese Urlaubstage werden auch Arbeitstage sein. Ich inuss Frau Else um einen größeren Tisch oder um zwei kleine Fische bitten, um Platz für die Spielbretter zu haben. Schon bei dem Gedanken an die Möglichkeiten, die meine neue Eröffnung bietet, und an die vielen Entwicklungsvarianten, die sich daran knüpfen, bekomme ich Lust, das Spiel gleich jetzt aufzubauen und anzufangen. Aber das werde ich nicht tun. Bei mir reicht es gerade noch für ein paar Zeilen; die Reise war lang, und gestern habe ich kaum geschlafen, zum einen, weil es das erste Mal ist, dass Ingeborg und ich gemeinsam in den Urlaub fahren, zum anderen, weil ich nach zehn Jahren Abwesenheit wieder einen Fuß ins Del Mar setzen sollte. Morgen werden wir auf der Terrasse frühstücken. Um wie viel Uhr? Ich nehme an, dass Ingeborg spät aufstehen wird. Gab es feste Frühstückszeiten? Ich erinnere mich nicht; ich glaube, nein; auf jeden Fall können wir auch in einem Cafe im Ort frühstücken, einem urigen I -okal, das immer voller Fischer und Touristen war. Mit meinen Eltern haben wir alle Mahlzeiten im Del Mar und in diesem Cafe eingenommen. Ob es geschlossen wurde? In zehn Jahren kann viel passieren. Ich hoffe, es existiert noch.
21. August
Zweimal habe ich mit Frau Else gesprochen. Unsere ersten Begegnungen verliefen nicht ganz so, wie ich es mir gewünscht hätte. Zur ersten kam es um etwa elf Uhr morgens; ich hatte Ingeborg am Strand allein gelassen und war ins Hotel zurückgegangen, um ein paar Dinge zu regeln. Frau Else stand an der Rezeption und kiimmerte sich um ein dänisches Ehepaar, das gerade abreiste, wie man an den Koffern und der perfekten Bräune, die sie stolz zur Schau trugen, leicht ersehen konnte. Ihre Kinder schleiften riesige mexikanische Sombreros durch den Gang vor der Rezeption. Nachdem man sich verabschiedet und beteuert hatte, im nächsten Jahr bestimmt wiederzukommen, stellte ich mich vor. Ich bin Udo Berger, sagte ich, reichte die Hand und lächelte bewundernd; in dem Moment nicht ohne Grund, denn von nahem betrachtet erschien mir Frau Else noch viel schöner und mindestens so geheimnisvoll wie in den Erinnerungen aus meiner Jugend. Sic aber erkannte mich nicht. Fünf Minuten lang musste ich ihr auseinandersetzen, wer ich und wer meine Eltern waren, wie viele Sommer wir in ihrem Hotel verbracht hatten, und sogar vergessene, ziemlich unverblümte Anekdoten hervorkramen, die ich lieber verschwiegen hätte. Das alles, während ich vor der Rezeption stand, wo permanent Gäste in Strandkleidung vorbeikamen (auch ich trug nur Shorts und Sandalen), die mich in meinen Bemühungen unterbrachen, ihre Erinnerung an mich aufzufrischen. Schließlich sagte sie, ja natürlich, die Familie Berger, aus München, nicht wahr? Nein, Reutlingen, korrigierte ich, und dass ich jetzt in Stuttgart lebe. Stimmt, sagte sie, meine Mutter sei ein wunderbarer Mensch, sie erinnere sich auch an meinen Vater und sogar an Tante Giselle. Groß sind Sie geworden, ein richtiger Mann, sagte sie in einem Ton, aus dem mir eine gewisse Schüchternheit zu sprechen schien und die mich doch ver-
wirrte, ohne dass ich mir den Grund dafür erklären konnte. Sic fragte, wie lange ich im Städtchen zu bleiben gedächte, und ob ich fände, dass es sich sehr verändert habe. Ich sagte, ich hätte noch keine Zeit für einen Spaziergang gehabt, sagte, ich sei ziemlich spät in der Nacht angekommen, und dass ich plante, vierzehn Tage zu bleiben, hier im l)cl Mar, versteht sich. Sie lächelte, und damit beendeten wir das Gespräch. Anschließend ging ich aufs Zimmer, noch immer ein wenig durcheinander, ohne genau zu wissen, warum; von dort telefonierte ich nach unten und sagte, man solle mir einen Tisch heraufbringen; ich betonte, er müsse mindestens einen Meter fünfzig lang sein. Während ich wartete, las ich die ersten Seiten dieses Tagebuchs und fand sie nicht schlecht, zumal für einen Anfänger. Ich glaube, Conrad hat recht, die tägliche verbindliche oder fast verbindliche Gewohnheit, die Gedanken und Ereignisse eines jeden Tages festzuhalten, kann nützlich sein, damit ein potentieller Autodidakt wie ich Nachdenken lernt, sein Gedächtnis darauf trainiert, sich Bilder behutsam und nicht nachlässig einzuprägen, und sich vor allem um einige Aspekte seiner Sensibilität kümmert, die er für ausgewachsen hielt, wo sie in Wirklichkeit erst Keime sind, aus denen sich ein Charakter entwickeln kann oder nicht. Der Vorschlag, ein 'Tagebuch zu führen, verfolgte ursprünglich jedoch viel profanere Ziele: mich im Schreiben zu üben, damit in Zukunft nicht ungenaue Ausdrücke und mangelhafter Satzbau die Entdeckungen trüben. die meine in immer zahlreicheren Fachzeitschriften erscheinenden Artikel bereithalten, denen in letzter Zeit wiederholt Kritik zuteil wurde, sei es in Form von Leserbriefen, sei es in Form von Korrekturen und Streichungen seitens der zuständigen Redakteure. Lind meine Proteste haben genauso wenig wie meine Eigenschaft als Landesmeister etwas gegen diese Zensur vermocht, die sich nicht einmal um I nauffälligkeit bemüht und deren einziges Argument meine Grammatikschwäche ist (als würden sie besser schreiben). Lim der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich zugeben, dass es nicht immer so ist; es gibt Zeitschriften, die mir, wenn sie eine Arbeit aus meiner Feder erhalten, mit einem höflichen Briefchen antworten, in das sie vielleicht sogar zwei oder drei anerkennende
Sätze einflechten, und nach einiger Zeit erscheint mein Text gedruckt, ohne jede Kürzung. Andere zerfließen in Lob, das sind die, die Conrad Berger'sche Veröffentlichungen nennt. Tatsächlich habe ich die Probleme nur mit einem Teil der Stuttgarter Gruppe und mit einigen vergrätzten Typen aus Köln, gegen die ich einmal einen Kantersieg errungen habe und die mir das bis heute nicht verzeihen. In Stuttgart gibt es drei Zeitschriften, und in allen habe ich veröffentlicht; die Probleme dort sind mir, wie man sagt, vertraut. In Köln gibt es nur eine, die aber ist graphisch besser gestaltet, überregional und zahlt, was nicht unwichtig ist, für die Beiträge. Sie leisten sich sogar den Luxus eines kleinen, aber professionellen Redaktionsrats, mit einem nicht zu verachtenden monatlichen Salär dafür, dass man machen kann, was man will. Ob sie es gut oder schlecht machen - ich würde meinen, schlecht -, steht auf einem anderen Blatt. In Köln habe ich zwei Essays veröffentlicht, von denen der erste, »Wie man bei The Bu/ge gewinnt«, ins Italienische übersetzt und in einer Mailänder Zeitschrift veröffentlicht wurde, was mir einiges Lob seitens meiner Freunde und einen direkten Draht zu den Fans in Mailand eingetragen hat. Beide Essays wurden, wie gesagt, publiziert, doch in beiden bemerkte ich leichte Änderungen, kleine Umstellungen, bis hin zum Fehlen ganzer Sätze, die man unter dem Vorwand von Platzmangel weggelassen hatte - obwohl sämtliche von mir vorgeschlagenen Illustrationen aufgenommen worden waren! -, oder stilistische Korrekturen, für die irgendein Wicht die Verantwortung trug, den kennenzulernen ich nie das Vergnügen hatte, nicht einmal am Telefon, und an dessen wirklicher Existenz ich erhebliche Zweifel hege. (Sein Name taucht in der Zeitschrift nicht auf. Ich bin sicher, dass sich die Leute von der Redaktion bei ihren Übergriffen gegen Autoren hinter diesem apokryphen Korrektor verstecken.) Zum Eklat kam es dann bei meinem dritten Beitrag: Man weigerte sich rundweg, ihn abzudrucken, obwohl ich ihn auf ihre ausdrückliche Bitte hin geschrieben hatte. Meine Geduld hat Grenzen; wenige Stunden nach Erhalt der brieflichen Ablehnung rief ich den Redaktionsleiter an, um ihm mein Befremden über die Entscheidung und meinen Arger darüber
mitzuteilen, dass ich durch Schuld der Redaktion kostbare Zeit verloren hätte - wobei Letzteres gelogen war; die Stunden, die ich auf die Klärung von Problemen verwende, wie sie sich bei Spielen dieser Art ergeben, halte ich nie für vertane Zeit, zumal dann nicht, wenn ich über einzelne Aspekte eines Feldzugs nachdenke und schreibe, der mich besonders interessiert. Zu meinem Erstaunen antwortete der Rcdaktionsleiter mit einem Schwall von Drohungen und Beschimpfungen, von denen ich kurz zuvor nicht geglaubt hätte, dass ich sie aus seinem blasierten Storchenschnabel zu hören bekommen könnte. Bevor ich auflegte-obwohl am Ende er derjenige war, der auflegte-, versprach ich ihm, ich würde ihm die Nase einschlagen, wenn er mir eines Tages über den Weg liefe. Von den vielen Beleidigungen, die ich mir anhören musste, machte mir vermutlich jene am meisten zu schaffen, die sich auf meine angebliche schriftstellerische Unbeholfenheit bezog. Wenn ich mir die Sache in Ruhe überlege, ist klar, dass der arme Kerl im Irrtum war, warum würde sonst die Fachpresse in Deutschland und zum Teil im Ausland weiter meine Texte veröffentlichen? Warum würde ich sonst Briefe von Rex Douglas, Nicky Palmer und Dave Rossi bekommen? Nur weil ich Landesmeister bin? In dieser Situation, die ich auf keinen Fall Krise nennen möchte, sagte Conrad den entscheidenden Satz: Er riet mir, die Kölner zu vergessen (der einzige Nette ist I Icimito, und der hat nichts mit der Zeitung zu tun) und dass ich ein Tagebuch führen solle, weil es nie verkehrt sei, einen Ort zu haben, wo man die Ereignisse des Tages festhalten und die verstreuten Gedanken für zukünftige Arbeiten ordnen kann, und genau das gedenke ich hier zu tun. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als es an der Tür klopfte und ein Zimmermädchen erschien, fast noch ein Kind, die in einem Phantasiedeutsch - die einzige deutsche Vokabel war tatsächlich das Adverb nicht— einige Worte nuschelte, denen ich nach einigem Nachdenken entnahm, dass man keinen 'lisch habe. Ich erklärte auf Spanisch, dass ich unbedingt einen Tisch benötige, und nicht irgendeinen l isch, sondern einen mit mindestens eins fünfzig Länge oder zwei zu fünfundsiebzig Zentimetern, und zwar sofort.
Das Mädchen verschwand mit den Worten, sie werde ihr Möglichstes tun. Nach einer Weile erschien sie erneut mit einem etwa vierzigjährigen Mann, der eine braune Mose trug, so verknittert, als hätte er die Nacht darin geschlafen, und ein weißes Hemd mit schmutzigem Kragen. Ohne sich vorzustellen oder um Erlaubnis zu bitten, betrat der Mann das Zimmer und fragte, wozu ich den Tisch brauchte; mit dem Kinn wies er auf den Tisch, mit dem das Zimmer bereits ausgestattet war und der für meine Zwecke zu niedrig und zu klein war. Ich zog es vor, nicht /,u antworten. Angesichts meines Schweigens begann er zu erklären, dass er nicht zwei Tische in ein Zimmer stellen könne. Er schien nicht ganz sicher, ob ich seine Sprache verstand, und ab und zu machte er Gesten mit den I länden, als beschriebe er eine schwangere Frau. Von so viel Theater schon ein wenig erschöpft, warf ich alles, was sich auf dem Tisch befand, aufs Bett und befahl, er solle ihn mitnehmen und mit einem wiederkommen, der die geforderten Kriterien erfüllte. Der Mann machte keine Anstalten, sich vom Fleck zu rühren; er wirkte eingeschüchtert; das Mädchen dagegen sah mich mit unverhohlener Sympathie an. Im nächsten Moment nahm ich selbst den l isch und stellte ihn raus in den Gang. Der Mann verließ das Zimmer und nickte verblüfft, ohne das Geschehene zu verstehen. Bevor er ging, sagte er noch, es sei nicht leicht, einen Tisch aufzutreiben, wie ich ihn wolle. Ich ermunterte ihn mit einem Lächeln: Alles sei möglich, wenn man sich anstrenge. Kurz darauf bekam ich einen Anruf von der Rezeption. Eine nicht zu identifizierende Stimme sagte auf Deutsch, man habe keinen Tisch, wie ich ihn wünschte, ob ich wolle, dass man mir den ursprünglichen 'Tisch zurück aufs Zimmer bringe. Ich fragte, mit wem ich das Vergnügen hätte zu sprechen. Mit Senorita Nuria von der Rezeption. In einem gewinnenderen Ion erklärte ich der Senorita Nuria, dass für meine Arbeit - j a , ich würde im Urlaub arbeiten der Tisch unverzichtbar sei, aber nicht der, den ich schon hatte, ein Standardtisch, wie ihn vermutlich alle Zimmer des Hotels besäßen, sondern ein höherer und vor allem längerer l isch, wenn das nicht zu viel verlangt sei. Woran arbeiten Sie, Herr Berger?, fragte
die Senorita Nuria. Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Geben Sic bitte einfach Anweisung, dass man mir den gewünschten Tisch heraufbringt, und fertig. Die Rezeptionistin stammelte und sagte dann mit piepsigerStimme, sie werde sehen, was sich machen lasse, und legte hastig auf. In diesem Moment fand ich meine gute Laune wieder, ließ mich aufs Bett fallen und lachte aus vollem I lals. Frau Elses Stimme weckte mich. Sic stand an meinem Bett, und ihre ungewöhnlich intensiven Augen beobachteten mich besorgt. Sofort begriff ich, dass ich eingeschlafen war, und schämte mich. Ich tastete nach etwas, um mich zu bedecken - wenn auch ganz langsam, als befände ich mich mitten in einem Traum -, denn obwohl ich Boxershorts trug, hatte ich das Gefühl, vollkommen nackt zu sein. Wie hatte sie hereinkommen können, ohne dass ich sie gehört hatte? Ob sie einen Generalschlüssel für alle Hotelzimmer besaß und ohne Vorwarnung davon Gebrauch machte? »Ich dachte, Sic seien krank«, sagte sie. »Ist Ihnen klar, dass Sie unsere Rezeptionistin erschreckt haben? Sie befolgt lediglich die Anweisungen des Hotels und muss sich nicht die Frechheiten der Gäste gefallen lassen.« »Das ist in jedem 1 lotel unvermeidlich«, sagte ich. »Wollen Sie behaupten, Sie verstünden mehr von meinem Geschäft als ich?« »Natürlich nicht.« »Also?« Ich murmelte einige Worte der Entschuldigung, ohne den Blick von dem vollkommenen Oval ihres Gesichts wenden zu können, in dem ich ein fast unmerkliches ironisches Lächeln zu erkennen glaubte, als würde die von mir herbeigeführte Situation sie amüsieren. I linter ihr stand der Tisch. Ich richtete mich auf, bis ich auf dem Bett kniete; Frau Else machte keinerlei Anstalten, zur Seite zu gehen, damit ich den Tisch ausgiebig begutachten konnte; trotzdem war zu erkennen, dass er so war, wie ich ihn haben wollte, besser sogar. Ich hoffe, er entspricht ihren Vorstellungen, ich musste ihn aus dem Keller holen, er gehört
meiner Schwiegermutter. Ihre Stimme hatte immer noch den ironischen IJnterton; reicht das für Ihre Arbeit?, aber wollen Sie den ganzen Sommer arbeiten?, wenn ich so bleich wäre wie Sie, würde ich den ganzen lag am Strand liegen. Ich versprach, dass ich beides tun würde, ein bisschen Arbeit, ein bisschen Strand, im richtigen Verhältnis. Und gehen Sie abends nicht in Diskotheken? Mag Ihre Freundin keine Diskotheken? Bestimmt, wo ist sie? Am Strand, sagte ich. Sic muss ein kluges Mädchen sein, sie verliert keine Zeit, sagte Frau Else. Ich werde sie Ihnen heute Nachmittag vorstellen, wenn es keine Unannehmlichkeiten macht, sagte ich. Doch, auf mich warten etliche Unannehmlichkeiten, vermutlich verbringe ich den ganzen Tag im Büro, ein andermal, sagte Frau Else. Ich lächelte. Ich fand sie immer interessanter. »Auch Sie vertauschen Strand mit Arbeit«, sagte ich. Bevor sie ging, ermahnte sie mich, die Angestellten rücksichtsvoller zu behandeln. Ich rückte den l isch so vors Fenster, dass ich die größtmögliche Sonnenlichtausbeute hatte. Dann trat ich auf den Balkon und betrachtete eine Weile den Strand und versuchte, unter den halbnackten, in der Sonne liegenden Körpern Ingeborg zu erkennen. Wir aßen im I Intel. Ingeborgs I laut war gerötet, sie ist sehr blond, und so viel Sonne auf einen Schlag bekommt ihr nicht. Ich hoffe, sie hat sich keinen Sonnenstich geholt, das wäre schlimm. Als wir hoch aufs Zimmer gingen, fragte sie, wo der Tisch herkomme, und in einer Atmosphäre tiefen Friedens, während sie ausgestreckt auf dem Bett lag und ich am Tisch saß, musste ich ihr erklären, dass ich an der Rezeption darum gebeten hätte, den vorhandenen gegen einen größeren auszutauschen, um das Spiel aufbauen zu können. Ingeborg sah mich an, ohne etwas zu sagen, aber in ihren Augen las ich eine stumme Missbilligung. Wann genau sie eingeschlaien ist, könnte ich nicht sagen. Ingeborg schläft mit halboffenen Augen. Leise griff ich nach dem Tagebuch und begann zu schreiben.
Wir sind in der Diskothek Antiguo Egipto gewesen. Wir hatten im Hotel gegessen. Während der Siesta (wie schnell man die spanischen Gewohnheiten annimmt!) redete Ingeborg im Schlaf. Unzusammenhängende Worte wie Bett, Mama, Autobahn, Eis ... Als sie erwachte, gingen wir auf dem Paseo Maritimo spazieren, ohne in den Ort hineinzugehen, eingetaucht in den Strom der auf und ab laufenden Passanten. Dann setzten wir uns auf das Mäuerchen an der Promenade und unterhielten uns. Das Abendessen war leicht. Ingeborg zog sich um. Weißes Kleid, weiße hochhackige Schuhe, Perlenkette, das Haar zu einem mit Absicht nachlässigen Knoten hochgesteckt. Auch ich zog mir weiße, allerdings weniger elegante Sachen an. Die Diskothek lag auf dem Gebiet der Campingplätze, das zugleich das Gebiet der Diskotheken, Schnellrestaurants und Ausflugslokale war. Vor zehn Jahren gab es hier nur zwei Campingplätze und ein Kiefernwäldchen, das bis an die Bahnstrecke reichte; heute scheint es das wichtigste touristische Zentrum des Ortes zu sein. Der Lärm auf der einzigen, parallel zum Meer verlaufenden Hauptstraße entspricht dem in einer Großstadt zur Stoßzeit. Mit dem Unterschied, dass die Stoßzeiten hier um neun Uhr abends beginnen und erst nach drei Uhr morgens enden. Die Menge, die sich auf den Gehwegen drängt, ist bunt gemischt und kosmopolitisch; Weiße, Schwarze, Gelbe, Indios, Mestizen - man könnte meinen, alle Kassen hätten sich verabredet, hier ihren Urlaub zu verbringen, obwohl natürlich nicht alle Urlaub haben. Ingeborg sah blendend aus, und beim Betreten der Diskothek ernteten wir verstohlene Blicke der Bewunderung für sie und solche des Neides für mich. Neid registriere ich sofort. Jedenfalls hatten wir nicht vor, lange zu bleiben. Fatalerweise setzte sich kurz darauf ein deutsches Pärchen an unseren 'l isch. Ich sage kurz, wie es dazu kam: Ich reiße mich nicht ums Tanzen; ich tanze schon, zumal seit ich Ingeborg kenne, aber vorher muss ich mich mit ein paar Gläsern in Stimmung bringen und sozusagen das Befremden herunterspiilen, das so viele unbekannte Gesichter in meist schlecht erleuchteten Räumlichkeiten bei mir hervorrufen;
Ingeborg dagegen findet nichts dabei, allein zu tanzen. Sie kann für zwei, drei Lieder auf der Tanzfläche bleiben, zurück an den Tisch kommen, an ihrem Glas nippen, wieder auf die Tanzfläche gehen, und so die ganze Nacht, bis zur völligen Erschöpfung. Ich bin das schon gewöhnt. In ihrer Abwesenheit denke ich an meine Arbeit, an sinnlose Dinge, oder summe ganz leise die Melodie, die aus den Lautsprechern dröhnt, oder male mir die dunklen Schicksale der mich umgebenden amorphen Masse und undeutlichen Gesichter aus. Ab und zu kommt Ingeborg, von meinen Grübeleien nichts ahnend, zu mir und gibt mir einen Kuss. Oder sie erscheint mit einer neuen Freundin oder einem neuen Freund, wie an diesem Abend mit dem deutschen Pärchen, mit dem sie im Getümmel auf der Tanzfläche nur ein paar flüchtige Worte gewechselt hat. Worte, die zusammen mit der 'Tatsache, dass wir alle Sommerurlauber sind, ausreichen, so etwas Ähnliches wie Freundschaft zu stiften. Karl - der allerdings lieber Charly genannt werden will - und I lanna stammen aus Oberhausen; sie arbeitet als Sekretärin in der Firma, in der er Mechaniker ist; beide sind fünfundzwanzig. Hanna ist geschieden. Sie hat ein dreijähriges Kind und beabsichtigt, Charly so bald wie möglich zu heiraten; all das hat sie Ingeborg in der Frauentoilette erzählt, und Ingeborg mir, auf dem Rückweg ins I lotcl. Charly liebt Fußball, Sport überhaupt, besonders Windsurfen: Fr hat sein Brett aus Oberhausen mitgebracht, von dem er Wunderdinge erzählt; irgendwann unter vier Augen, Ingeborg und I lanna waren auf der Tanzfläche, fragte er mich nach meiner Lieblingssportart. Ich sagte. Laufen. Allein laufen. Beide tranken viel. Ingeborg ehrlich gesagt auch. Unter diesen Umständen ergab sich die Verabredung für den nächsten lag fast von selbst. Sie wohnen im Costa ßrava, nur ein paar Schritte von unserem I lotcl entfernt. Wir vereinbarten, uns um die Mittagszeit am Strand neben dem Tretbootverlcih zu treffen. Gegen zwei l hr morgens brachen wir auf. Vorher schmiss Charly noch eine letzte Runde; er war glücklich; er erzählte mir, sie seien schon seit zehn lagen hier und hätten noch keine Freunde gefunden, im Costa Brava gebe es jede Menge Engländer, und die \ve-
nigcn Deutschen, die sie getroffen hätten, seien ungesellige Leute oder gehörten zu reinen Männergruppen, was Hanna ausschloss. Auf dem Rückweg fing Charly an zu singen, Lieder, die ich noch nie gehört hatte. Die meisten waren anzüglich; einige bezogen sich auf das, was er mit Hanna zu tun gedachte, sobald sie in ihrem Zimmer waren, woraus ich schloss, dass er sie frei erfunden hatte. Hanna, die sich bei Ingeborg eingehängt hatte und ein wenig vorausging, quittierte sie mit sporadischem Gelächter. Meine Ingeborg lachte ebenfalls. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie sie in Charlys Armen lag, und erschauerte. Ich spürte, wie sich mir der Magen auf die Größe einer Faust zusammenkrampfte. Am Paseo Marftimo wehte eine frische Brise, die mich wieder einigermaßen zur Besinnung brachte. Ich sah fast keine Leute, die Touristen kehrten schwankend oder singend in ihre Hotels zurück, und die wenigen Autos schlichen in die eine oder andere Richtung, als wären alle mit einem Mal erschöpft oder krank und als flösse die Anstrengung jetzt in Richtung Bett und geschlossene Räume. Als wir zum Costa Brava kamen, bestand Charly darauf, mir sein Brett zu zeigen. Er hatte es mit einem Gewirr von Spanngurten auf dem Verdeck des Wagens befestigt, der im Freien auf dem Hotelparkplatz stand. Wie findest du es?, fragte er. Fs hatte nichts Besonderes an sich, sah aus wie Millionen andere. Ich gestand, dass ich vom Windsurfen nichts verstand. Wenn du willst, bringe ich es dir bei, sagte er. Mal sehen, sagte ich, ohne mich zu etwas zu verpflichten. Wir wollten nicht zulassen, und auch I lanna war dagegen, dass sie uns zu unserem Hotel brachten. Trotzdem zog sich der Abschied länger hin. Charly war viel betrunkener, als ich gedacht hatte, und versteifte sich darauf, dass wir hochkommen und uns sein Zimmer anschauen sollten. Hanna und Ingeborg lachten über den Unsinn, den er verzapfte, aber ich ließ mich nicht erweichen. Als wir ihn endlich überredet hatten, dass es das Beste wäre, schlafen zu gehen, zeigte er auf eine Stelle am Strand und rannte darauf zu, bis er sich in der Dunkelheit verlor. Als Erste folgte ihm I lanna, die an solche Szenen gewöhnt sein dürfte, dann Ingeborg und schließlich, wenn
auch widerwillig, ich; bald hatten wir die Lichter des Paseo Marftimo hinter uns gelassen. Am Strand hörte man nur das Rauschen des Meeres. Links in der Ferne sah ich die Lichter des Hafens, zu dem ich einmal in aller I lerrgottsfrühe mit meinem Vater in der vergeblichen Absicht gegangen war, Fisch zu kaufen: Damals zumindest fand der Verkauf an den Nachmittagen statt. Wir begannen nach ihm zu rufen. Nur unsere Stimmen hallten durch die Nacht. Hanna passtc nicht auf, und ihre I Jose wurde bis zu den Knien nass. Ungefähr in dem Moment - wir hörten Hanna immer noch fluchen, die Hose war aus Satin, und das Meerwasser würde sie ruinieren - antwortete Charly auf unsere Rufe: Kr befand sich zwischen uns und dem Paseo Marftimo. Wo bist du, Charly, schrie I lanna. I lier, hier, folgt meiner Stimme, sagte Charly. Wir machten kehrt und gingen wieder auf die Lichter des 1 lotels zu. »Vorsicht mit den Tretbooten«, warnte Charly. An Tiefseetiere erinnernd, bildeten die Tretboote eine schwarze Insel inmitten des gleichförmigen Halbdunkels. Auf der Kufe eines dieser seltsamen Gefährte saß, das Hemd aufgeknöpft, die Haare zerzaust, Charly und wartete auf uns. »Ich wollte Udo nur genau zeigen, wo wir uns morgen treffen«, erwiderte er auf Hannas und Ingeborgs Vorwürfe, die ihm den Schreck, den er uns eingejagt hatte, und sein kindisches Verhalten vorhielten. Während die Frauen Charly auf die Beine halfen, nahm ich die Ansammlung der Tretboote unter die Lupe. Was mich stutzig machte, könnte ich so genau nicht sagen. Vielleicht die merkwürdige Ordnung, in der sie dastanden, der ich noch nirgendwo sonst in Spanien begegnet war, obwohl das hier kein sehr methodisches Land ist. Die Anordnung war zumindest unregelmäßig und wenig praktisch. Im Normalfall, der auch die weniger normalen 1 ,aunen irgendwelcher 'Tretbootverleiher berücksichtigte, würde man sie mit dem I leck zum Meer liegen lassen, in Dreier- oder Viererreihen. Sicher gibt es welche, die sie mit dem Bug zum Meer oder in einer einzigen langen Reihe ausrichten oder sie gar nicht ausrichten oder sie bis an die Ufermauer ziehen, die den Strand vom Paseo Marftimo
trennt. Die vorliegende Anordnung passtc jedoch in keins dieser Schemata. Einige Tretboote zeigten mit der Spitze zum Meer, andere zum Paseo, die meisten jedoch quer dazu in Richtung Hafen oder Campingzone in einer igelähnlichen Anordnung; noch eigenartiger aber war, dass einige hochkant standen und nur auf einer Kufe balancierten, eins lag sogar ganz auf dem Kopf, Kufen und Schaufeln in der Luft, Sitze in den Sand gebohrt, was nicht nur ungewöhnlich war, sondern beträchtliche Körperkräfte erforderte, und wäre nicht die seltsame Symmetrie gewesen, hätte nicht die halb von alten Planen bedeckte Ansammlung eine Absicht verraten, dann hätte ich sie für das Werk irgendeiner Gang von Halbstarken gehalten, die sich nachts am Strand herumtrieb. Natürlich fiel weder Charly noch Hanna und nicht einmal Ingeborg an den Tretbooten etwas l Ingewöhnliches auf. Als wir zurück im Hotel waren, fragte ich Ingeborg, welchen Hindruck sie von Charly und 1 lanna gewonnen hätte. »Nette Leute«, sagte sie. Mit Einschränkungen teilte ich ihre Ansicht.
22. August
Wir frühstückten in der Bar La Sirena. Ingeborg nahm ein F.nglish breakfast, das aus einer Tasse Tee mit Milch, Spiegelei, zwei Streifen bacon, gebratener Tomate und baked beans bestand, alles für 350 Peseten, deutlich billiger als im Hotel. An der Wand hinter dem 'Tresen ist eine Sirene aus Holz mit rotem Haar und goldbrauner Haut angebracht. Von der Decke hängen noch einige alte Fischernetze. Alles andere hat sich verändert. Der Kellner und die Frau hinterm Tresen sind jung. Vor zehn Jahren arbeiteten hier ein alter Mann und eine alte Frau, braungebrannt und runzlig, die sich immer mit meinen Eltern unterhielten. Ich traute mich nicht, nach ihnen zu fragen. Wozu? Die beiden jetzt sprechen Katalanisch. Wir trafen Charly und Hanna an der vereinbarten Stelle bei den Tretbooten. Sie schliefen. Wir breiteten erst unsere Matten neben ihnen aus, dann weckten wir sie. 1 lanna schlug sofort die Augen auf, Charly grunzte etwas Unverständliches und schlief weiter. Hanna erklärte, er habe eine sehr schlechte Nacht verbracht. Wenn Charly trank, fand er, wie sie sagte, kein Ende, was auf Kosten seiner Widerstandskraft und seiner Gesundheit gehe. Sie erzählte uns, er sei um acht Uhr morgens, fast ohne geschlafen zu haben, zum Surfen verschwunden. Und tatsächlich, da lag das Brett an Charlys Seite. Dann verglich Hanna ihre Sonnencreme mit der von Ingeborg, und kurz d a r a u f - beide lagen ausgestreckt auf dem Bauch - drehte sich das Gespräch um jemanden aus Oberhausen, einen Typ aus der Verwaltung, der, wie es schien, I lanna gegenüber ernste Absichten hegte, obwohl sie ihn >nur als Freund schätzte«. Ich achtete nicht weiter auf ihre Unterhaltung und beobachtete in den folgenden Minuten die Tretboote, die mir in der vergangenen Nacht keine Ruhe gelassen hatten. Wenige befanden sich noch am Strand; die meisten waren aus-
geliehen und glitten langsam und schlingernd über ein glattes, tiefblaues Meer. Die nicht verliehenen Tretboote hatten natürlich nichts Beunruhigendes an sich; veraltete Modelle, denen die Boote anderer Verleihe deutlich überlegen waren, deren schrundige Oberflächen, von denen unerbittlich die Farbe abblätterte, die Sonne zurückzuwerfen schienen. Eine über ein paar in den Sand gerammte Pflöcke gespannte Schnur trennte die Badenden von dem Areal der Tretboote; die Schnur befand sich nur rund dreißig Zentimeter über dem Boden, und an einigen Stellen standen die Pflöcke ganz schräg, als würden sie gleich umfallen. Am Wasser entdeckte ich den Mann vom Verleih, der gerade einigen Kunden half, aufs Meer hinauszufahren und zu verhindern, dass das Tretboot einem der unzähligen Kinder, die dort herumplanschten, an den Kopf fuhr; seine Kunden, ungefähr sechs an der Zahl, alle auf dem Boot, mit Plastiktüten, in denen sich vermutlich Bocadillos und Bierdosen befanden, winkten in Richtung Strand oder klatschten vor Vergnügen in die Hände. Als das Tretboot den Kinderstreifen durchquert hatte, verließ der Mann das Wasser und kam langsam auf uns zu. »Armer Kerl«, hörte ich I lanna sagen. Ich fragte, was sie damit meine; Ingeborg und I lanna bedeuteten mir. ich solle unauffällig hinschauen. Der Mann war braun gebrannt, hatte lange I laare und einen muskulösen Körper, aber das bei weitem Auffälligste an seiner Person waren die Verbrennungen - von Feuer, nicht von der Sonne -, die einen Großteil des Gesichts, des Halses und der Brust bedeckten und sich offen darboten, dunkel und wulstig wie Fleisch auf dem Grill oder Verschalungen eines verunglückten Flugzeugs. Ich muss gestehen, dass ich mich für einen Moment wie hypnotisiert fühlte, bis ich gewahr wurde, dass auch er uns ansah und in seinem Gesicht Gleichgültigkeit überwog, eine Art Kaltblütigkeit, die mir sofort zuwider war. Von da an vermied ich es, ihn anzuschauen. Hanna sagte, sie würde sich umbringen, wenn sie so von Verbrennungen entstellt wäre. I lanna ist ein hübsches Mädchen, sie hat blaue Augen, braune Haare, und ihre Brüste - Hanna und Ingeborg
tragen beide kein Oberteil - s i n d groß und wohlgeformt, aber es fiel mir nieht schwer, sie mir verbrannt vorzustellen und wie sie sinnlos schreiend in ihrem Hotelzimmer umherlief. (Warum ausgerechnet in ihrem Hotelzimmer?) »Oder ist es ein Muttermal«, sagte Ingeborg. »Könnte sein, man sieht die komischsten Dinge«, sagte Hanna. »In Italien hat Charly eine Frau kennengelernt, die ohne Hände zur Welt kam.« »Wirklich?« »Ich schwöre. Frag ihn selbst. Sie haben miteinander geschlafen.« Hanna und Ingeborg lachten. Fs ist mir manchmal unbegreiflich, wie Ingeborg solche Reden lustig finden kann. »Vielleicht hat die Mutter in der Schwangerschaft irgendwelche Medikamente genommen.« Ich wusste nicht, ob Ingeborg von der Frau ohne Hände oder dem Mann vom Tretbootverleih sprach. Jedenfalls versuchte ich sie von ihrem Irrtum zu befreien. Niemand wird so geboren, mit einer derart zerpflügten Haut. Na gut, es stand außer Zweifel, dass die Verbrennungen nicht aus jüngster Zeit stammten. Wahrscheinlich waren sie rund fünf Jahre alt, vielleicht auch älter, dem Auftreten des armen Kerls nach zu urteilen (ich schaute ihn nicht an), denn er schien an das Interesse und die Neugier gewöhnt zu sein, die Monster und Krüppel wecken, an die Blicke unwillkürlichen Absehens, an das Mitleid für so maßloses 1 ngliick. Verliert man einen Arm oder ein Bein, bedeutet das, einen Teil von sich zu verlieren, aber wer solche Verbrennungen erleidet, der verwandelt sich, der wird ein anderer. Als Charly endlich aufwachte, sagte Hanna, sie fände den Verbrannten attraktiv. Muskulös! Charly lachte, und wir gingen alle ins Wasser. Am Nachmittag, nach dem Kssen, baute ich das Spiel auf. Ingeborg, Hanna und Charly gingen in die Altstadt zum Einkaufen. Während des Essens kam Frau Else an unseren Tisch, um zu fragen, ob wir uns gut amüsierten. Sie begrüßte Ingeborg mit einem offenen und
ehrlichen Lächeln, obwohl mir, als sie sich an mich wandte, eine gewisse Ironie an ihr auffiel, als würde sie sagen: Du siehst, ich sorge mich um dein Wohlbefinden, ich vergesse dich nicht. Ingeborg fand, sie sei eine schöne Frau. Sie fragte mich, wie alt sie sei. Ich sagte, dass ich das nicht wüsste. Wie alt mag Frau Else sein? Ich erinnere mich, dass meine Eltern erzählten, sie hätte sich sehr jung mit dem Spanier verheiratet, den ich mit Sicherheit noch nie gesehen habe. Im letzten Sommer, den wir hier verbracht haben, muss sie etwa fünfundzwanzig gewesen sein, so alt wie Hanna, wie Charly, wie ich. Dann dürfte sie jetzt etwa fünfunddrei Big sein. Nach dem Essen fallt das Hotel in einen seltsamen Dämmerzustand; wer nicht an den Strand geht oder einen Ausflug in die Umgebung unternimmt, kapituliert vor der I litze und legt sich aufs Ohr. Alle Angestellten, jene ausgenommen, die an der Bar stoisch ihren Dienst verrichten, verschwinden und lassen sich erst wieder nach achtzehn Uhr in 1 lotclnähe blicken. Eine zähe Stille legt sich über alle Stockwerke, ab und zu unterbrochen von leisen Kinderstimmen und dem Summen des Aufzugs. Zeitweilig hat man den Eindruck, eine Gruppe von Kindern habe sich hierher verirrt, aber das stimmt nicht; es ist nur so, dass die Eltern lieber nichts sagen. Wäre da nicht die von der Klimaanlage kaum gemilderte Hitze, es könnte keine bessere Zeit zum Arbeiten geben. Fs ist hell, der morgendliche Aufruhr hat sich gelegt, und noch viele Stunden liegen vor einem. Conrad, mein Freund Conrad, bevorzugt die Nacht, und darum sind die Ringe unter den Augen und die extrem bleiche Haut, mit denen er uns manchmal erschreckt, weil wir für Krankheit halten, was lediglich Schlafmangel ist, bei ihm nichts Ungewöhnliches. Aber er kann nicht arbeiten, nicht denken, nicht schlafen, und doch verdanken wir ihm viele der besten Varianten zu einigen Schlachten, zudem zahllose analytische, historische und methodologische Arbeiten sowie einfache Präsentationen und Besprechungen neuer Spiele. Ohne ihn wäre die Stuttgarter Runde nicht das, was sie ist, hätte weniger Anhänger und weniger Niveau. In gewisser Weise war er unser Mentor - der von mir, von Alfred, von
Franz-, machte uns auf Bücher aufmerksam, die wir sonst vielleicht nie gelesen hätten, und sprach über die verschiedensten Themen mit Elan und Leidenschaft. Sein großes Manko ist sein fehlender Ehrgeiz. Seit ich ihn kenne — und soweit ich weiß, schon lange vorher-, hat Conrad in einer drittklassigen Baufirma gearbeitet, in einer miserablen Stellung, fast unter allen anderen Angestellten und Arbeitern, und verrichtet Handlangerdienste, die früher die officeboys und Boten jungen erledigt hätten. Letzteres auch die Bezeichnung, die er sich selbst gern gibt. Von dem, was er verdient, bezahlt er seine Wohnung, isst in einer Gaststätte, wo er fast schon zur Familie gehört, und kauft sich ganz selten etwas zum Anziehen; der Rest fließt in Spiele, in Abonnements europäischer und US-amerikanischer Zeitschriften, in Vereinsbeiträge, in Bücher (wenige, denn in der Regel benutzt er Bibliotheken und spart das Geld für neue Spiele), in Spenden an die ortsansässigen Fanzines, an denen er mitwirkt - potentiell sind das alle, ohne Ausnahme. I berflüssig zu sagen, dass viele dieser Fanzines ohne Conrads Großzügigkeit das Zeitliche segnen würden, und auch daran kann man seinen fehlenden Ehrgeiz ersehen: Sang- und klanglos zu verschwinden wäre das Mindeste, was einige verdient hätten, schlampig fotokopierte Blattsammlungen, ausgeheckt von Jugendlichen, die mehr zu Rollenspielen, um nicht zu sagen Computerspielen tendieren als zur Strenge eines hexagonalen Spielbretts. Aber Conrad scheint das egal zu sein, und er unterstützt sie. Viele seiner besten Artikel, einschließlich >Ukrainisches Gambit« - Conrad nennt es den Traum von General Mareks-, wurden nicht nur veröffentlicht, sondern ausdrücklich für diese Sorte Zeitschriften geschrieben. Widcrsprüchlicherwcisc war er es, der mich ermuntert hat, in Blättern mit höherer Auflage zu publizieren, und auch derjenige, der mich gedrängt und überredet hat, mich stärker zu professionalisieren. Die ersten Kontakte zu Front Line, Jeux de Simulation, Stockade, Casus Belli, The General usw. verdanke ich ihm. Conrad meinte und dazu stellten wir einen ganzen Nachmittag lang Berechnungen an -, wenn ich regelmäßig mit zehn Zeitungen zusammenarbeiten würde, von denen einige monatlich, die meisten alle zwei, wieder
andere alle vier Monate erschienen, könnte ich meinen derzeitigen Beruf gewinnbringend an den Nagel hängen und mich ganz dem Schreiben widmen. Auf meine Krage, warum er das nicht selbst mache, wo sein Job doch schlechter sei als meiner und er genauso gut schreiben könne wie ich oder noch besser, meinte er, es sei ihm wegen seiner Schüchternheit zuwider, um nicht zu sagen unmöglich, wirtschaftliche Beziehungen mit Menschen zu knüpfen, die er nicht kenne, zumal für derartige Aufgaben eine gewisse Beherrschung des Englischen vonnöten sei, eine Sprache, die Conrad bestenfalls zu entziffern vermochte. An jenem denkwürdigen'lag steckten wir die Ziele unserer Träume ab und machten uns unverzüglich an die Arbeit. Unsere Freundschaft wurde noch enger. Dann kam das Turnier in Stuttgart, Vorläufer des Interzonenturniers (das der Deutschen Meisterschaft entsprach), das wenige Monate später in Köln stattfand. Beide traten wir an mit dem Versprechen, das wir uns halb im Ernst, halb im Scherz gaben, einander nicht zu schonen, wenn der Zufall uns zu Gegnern machte. Damals hatte Conrad gerade sein Ukrainisches Gambit im Fanzine Totenkopf veröffentlicht. Die ersten Partien verliefen gut, und wir überstanden ohne viel Kopfzerbrechen die erste Runde; in der zweiten trat Conrad gegen Matthias Müller an, das Stuttgarter Wunderkind, achtzehn Jahre alt, Herausgeber des Fanzines Gewaltmärsche und einer der schnellsten uns bekannten Spieler. Die Partie war hart, eine der härtesten der ganzen Meisterschaft, und am Ende wurde Conrad besiegt. Aber deswegen sank seine Moral nicht: Mit der Begeisterungeines Wissenschaftlers, der nach einer fulminanten Niederlage endlich klar sieht, erklärte er mir die Geburtsfehler des Ukrainischen Gambits und seine geheimen Stärken, die Methode, zu Beginn die Panzerund Gebirgsjägerverbände einzusetzen, die Orte, auf die man den Schwerpunkt legen oder selbiges vermeiden sollte, usw. Mit anderen Worten, er wurde zu meinem Berater. Ich bekam es im Halbfinale mit Matthias Müller zu tun und schaltete ihn aus. Das Finale bestritt ich gegen Franz Grabowski
vom Modellbauclub, einen guten Freund von Conrad und mir. Damit erwarb ich mir das Recht, in Stuttgart anzutreten. 1 )ann fuhr ich nach Köln, wo ich gegen Leute vom Schlage eines Paul Hüchel oder Heimito Gerhardt spielte, Letzterer mit fünfundsechzig Deutschlands ältester wargame-Spieler und ein Beispiel für treue Anhängerschaft. Conrad, der mich begleitete, machte sich einen Spaß daraus, allen, die damals in Köln antraten, Spitznamen zu geben, nur bei I leimito Gerhardt fühlte er sich gehemmt, bei ihm verpufften sein Witz und sein diesbezügliches Talent; wenn er von ihm sprach, nannte er ihn nur den Alten oder Herrn Gerhardt; vor I leimito bekam erden Mund kaum auf. Er war sichtlich darum bemüht, keinen Blödsinn zu reden. Einmal fragte ich ihn, warum er solchen Respekt vor I leimito habe. Er erwiderte, er halte ihn für einen eisernen Mann. Das war alles. Etwas rostig, sagte er später lächelnd, aber jedenfalls eisern. Ich dachte, er bezöge sich damit auf 1 leimitos militärische Vergangenheit, und das sagte ich ihm. Nein, antwortete Conrad, ich denke dabei an seinen Mut im Spiel. Alte Leute verbringen ihre Zeit gewöhnlich vor dem Fernseher, oder sie gehen mit ihren Frauen spazieren, Heimito dagegen besitzt den Mut, einen Saal voller junger Leute zu betreten, sich an einen Tisch mit einem komplizierten Spiel zu setzen und die spöttischen Blicke zu ertragen, mit denen viele dieser jungen Leute auf ihn herabsehen. Alte Leute von solcher Charakterstärke, solcher Redlichkeit, so Conrad, könne man nur noch in Deutschland finden. Eine aussterbende Spezies. Kann sein, kann nicht sein. Jedenfalls war Heimito, wie ich bald feststellte, ein ausgezeichneter Spieler. Wir trafen kurz vor dem Meisterschaftsfinale in einer besonders harten künde aufeinander, bei einem unausgewogenen Spiel, in dem mir die schlechtere Seite zugelost worden war. Das fragliche Spiel war I'ortress Europe, und ich spielte ilie Wehrmacht. Zur Überraschung aller um den Tisch Versammelten gewann ich. Nach dem Spiel lud Heimito ein paar Leute zu sich nach Hause ein. Seine Frau schmierte Brote und reichte Bier, und die Zusammenkunft, die sich bis tief in die Nacht hinzog, war nett und reich
an malerischen Anekdoten. Heimito hatte gedient, in der 352. Infanteriedivision, 915. Regiment, 2. Bataillon, aber sein General, behauptete er, habe es nicht verstanden, mit ihnen so gut zu manövrieren wie ich mit den entsprechenden Spielmarken. Obwohl ich mich geschmeichelt fühlte, sah ich mich gezwungen, ihn darauf hinzuweisen, dass der Schlüssel zum Erfolg in der Partie die Stellung meiner motorisierten Divisionen gewesen sei. Wir erhoben das Glas auf General Mareks, General Eberbach und die 5. Panzerarmee. Kurz bevor wir auseinandergingen, versicherte Heimito, ich werde der nächste deutsche Meister sein. Von da an, glaube ich, begannen mich die aus der Kölner Gruppe zu hassen. Ich für meinen Teil war glücklich, vor allem, weil ich wusste, dass ich einen Freund gewonnen hatte. Übrigens habe ich auch die Meisterschaft gewonnen. Das Halbfinale und das Finale wurden mit einer Wettkampfversion von Blitzkriegausgetragen, einem recht ausgewogenen Spiel, bei dem sowohl die Landkarte als auch die Kriegsmächte frei erfunden sind (Grcat Blue und Big Red), was im Falle gleich starker Kontrahenten extrem langwierige Partien zur Folge haben kann, die gern in Sackgassen enden. In meinem Fall nicht. Mit Paul Hüchel war ich innerhalb von sechs Stunden fertig, und für die letzte Partie genügten von Conrad gestoppte dreieinhalb Stunden, damit mein Widersacher sich zum Vizemeister erklärte und fröhlich aufgab. Wir blieben noch einen Tag länger in Köln; seitens der Zeitung schlug man mir vor, einen Artikel zu schreiben, und Conrad sah sich die Stadt an Lind fotografierte Straßen und Kirchen. Ingeborg und ich kannten uns noch nicht, aber schon damals fand ich das Leben schön, ohne zu ahnen, dass die wahre Schönheit noch ein wenig auf sich warten ließ. Aber zu jener Zeit fand ich alles schön. Der Verband der wargames-Spieler war möglicherweise der kleinste Sportverband Deutschlands, aber ich war die Nummer eins, und es gab niemand, der das hätte bestreiten können. Mir lachte das Glück. Der letzte lag in Köln bescherte uns etwas, das noch schwerwiegende Konsequenzen haben sollte. Heimito Gerhardt, seines Zeichens ein begeisterter Anhänger von Fernduellen,
schenkte Conrad und mir, als er uns zum lins begleitete, je ein Play-by-Mail-Kit. Ks stellte sich heraus, dass Heimito sich mit Rex Douglas (einem von Conrads Idolen), dem großen US-amerikanischen Spieler und renommierten Redakteur der auf unserem Gebiet tonangebenden Zeitschrift The General, ein Fernduell lieferte. Nachdem er uns gestanden hatte, dass er ihn kein einziges Mal hatte besiegen können (in sechs Jahren waren drei Partien postalisch ausgetragen worden), schlug 1 leimito mir vor, Rex zu schreiben und ein Duell mit ihm zu vereinbaren. Ich muss gestehen, dass mich die Idee anfangs nicht sehr reizte. Fernduelle führe ich lieber mit Personen wie Heimito oder Angehörigen meines Kreises; doch noch bevor der Bus in Stuttgart angekommen war, hatte Conrad mich von der Wichtigkeit überzeugt, Rex Douglas zu schreiben und gegen ihn zu spielen. Ingeborg schläft jetzt. Vorher hat sie mich gebeten, ich solle nicht aufstehen, ich solle sie die ganze Nachr im Arm halten. Ich fragte, ob sie Angst habe. Eine einfache Frage ohne Hintergedanken; ich fragte bloß, hast du Angst? Und sie antwortete, ja. Warum, wovor, das wusste sie nicht. Ich bin bei dir. sagte ich, du musst keine Angst haben. Dann schlief sie ein, und ich bin aufgestanden. Alle Lichter im Zimmer sind gelöscht, mit Ausnahme des Lämpchens, das ich mir auf den Tisch neben das Spiel gestellt habe. I leutc Nachmittag habe ich kaum gearbeitet. Ingeborg hat im Dorf eine I Ialskctte aus gelblichen Steinen gekauft, die man hier Filipinos nennt und die die jungen Leute am Strand und in den Diskotheken tragen. Wir haben zusammen mit Hanna und Charly in einem chinesischen Restaurant bei den Campingplätzen gegessen. Als Charly anfing, sich zu betrinken, sind wir gegangen. Eigentlich ein belangloser Nachmittag; das Restaurant war natürlich brechend voll und die I litze groß; der Kellner schwitzte; das Essen schmeckte gut, aber nicht überragend; die Unterhaltung kreiste um die Lieblingsthemen von Hanna und Charly, also bei ihr um Liebe, bei ihm um Sex. I lanna ist nach eigenen Worten von Kopf bis Kuß auf Liebe
eingestellt, obwohl jemand, mit dem sie über Liebe spricht, den seltsamen Eindruck nicht loswird, dass sie von Sicherheit spricht, schlimmer noch, von Automarken und Haushaltsgeräten. Charly seinerseits spricht von Beinen, Hintern, Brüsten, Schamhaaren, Hälsen, Nabeln, Rosetten usw., zum größten Vergnügen von I lanna und Ingeborg, die er damit pausenlos zum Lachen bringt. Eigentlich weiß ich nicht, was sie daran komisch finden. Vielleicht ist es Verlegenheit. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich still mein Essen aß und mit den Gedanken woanders war. Bei der Rückkehr ins I lotel sahen wir Frau Else. Sie stand im hinteren Teil des Speiseraums, der nachts zum Tanzsaal wird, neben der Bühne des Orchesters, und sprach mit zwei weiß gekleideten Männern. Ingeborg hatte ein flaues Gefühl im Magen, vielleicht wegen des chinesischen Essens, weshalb wir an der Hotelbar einen Pfefferminztee bestellten. Von dort aus sahen wir Frau Flse. Sic gestikulierte wie eine Spanierin und schüttelte den Kopf. Die Männer in Weiß dagegen bewegten keinen Finger. Das sind die Musiker, sagte Ingeborg, sie wäscht ihnen den Kopf. Eigentlich scherte es mich wenig, wer sie waren, obwohl ich natürlich vvusste, dass es nicht die Musiker sein konnten, denn die hatte ich in der vergangenen Nacht zu sehen Gelegenheit gehabt, und sie waren deutlich jünger. Als wir gingen, stand Frau Else noch immer da: eine perfekte Figur in grünem Rock und schwarzer Bluse. Die Männer in Weiß zeigten sich ungerührt, hatten nur die Köpfe gesenkt.
23. August
Ein relativ friedlicher lag. Morgens nach dem Frühstück war Ingeborg an den Strand gegangen, während ich mich aufs Zimmer zurückzog, um ernsthaft mit der Arbeit zu beginnen. Die I litze veranlasste mich wenig später, mich in Badehose auf den Balkon zu setzen, wo einige recht bequeme Liegen standen. Trotz der frühen Stunde war der Strand bereits voller Menschen. Als ich wieder hineinging, fand ich das Bett frisch gemacht, und ein Geräusch im Bad verriet mir, dass das Zimmermädchen noch da war. Es war das gleiche, das ich um den Tisch gebeten hatte. Diesmal kam sie mir weniger jung vor. Müdigkeit machte sich in ihrem Gesicht bemerkbar, und die verschlafenen Augen erinnerten an die eines nicht ans Tageslicht gewöhnten Tiers. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, mich anzutreffen. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, sie würde am liebsten davonlaufen. Bevor sie das tat, fragte ich sie nach ihrem Namen. Ciarita, sagte sie und lächelte auf eine Weise, die, und das ist noch gelinde gesagt, auf mich beunruhigend wirkte. Ich glaube, ich habe zum ersten Mal jemanden so lächeln sehen. Mit einer möglicherweise etwas ruppigen Geste befahl ich ihr zu warten, suchte nach einem Tausendpesetenschein und drückte ihn ihr in die Hand. Das arme Mädchen sah mich verdutzt an und wusstc nicht, ob sie das Geld annehmen sollte oder warum in aller Welt ich es ihr gab. Trinkgeld, sagte ich. Dann geschah das Erstaunliche: Frst biss sie sich auf die Unterlippe wie eine nervöse Schülerin, dann neigte sie den Kopf zu einer kleinen Verbeugung, die sie zweifellos irgendeinem Mantel-und-Dcgcn-Film abgeguckt hatte. Ich war unschlüssig, was ich tun und wie ich ihre Geste deuten sollte; ich bedankte mich und sagte, sie könne jetzt gehen, diesmal aber nicht aufSpanisch, sondern auf Deutsch. Das Mädchen gehorchte auf der Stelle. Es verschwand so leise, wie es gekommen war.
Den restlichen Vormittag brachte ich damit zu, die Eröffnungszüge meiner Variante in das von Conrad so genannte Schlachtenbuch einzutragen. I ni zwölf traf ich mich mit Ingeborg am Strand. Ich befand mich, muss ich gestehen, wegen der ertragreichen Stunden, die ich am Spielbrett verbracht hatte, in einer aufgekratzten Laune, weshalb ich ihr gegen meine Gewohnheit einen detaillierten Bericht von meiner Eröffnung gab, den Ingeborg mit den Worten unterbrach, man würde uns zuhören. Ich wandte ein, das sei nicht schwer, da sich am Strand fast Schulter an Schulter tausende Menschen drängten. Dann erst verstand ich, dass sich Ingeborg meinetwegen schämte, wegen der Vokabeln, die ich von mir gegeben hatte (Infanterieverbände, Panzerverbände, Kampfgeschwader der I ,uftwaffe, der Marine, Präventivschlag gegen Norwegen, Möglichkeiten für einen Angriff auf die Sowjetunion im Winter 1939, Chancen für eine vollständige Niederschlagung Frankreichs im Frühjahr 1940), und mir war, als täte sich vor meinen Füßen ein Abgrund auf. Wir aßen im Hotel. Nach dem Dessert schlug Ingeborg einen Bootsausflug vor; an der Rezeption hatte sie den Fahrplan der Schiffe bekommen, die zwischen unserem und zwei benachbarten Badeorten verkehrten. Ich lehnte ab und verwies auf unerledigte Arbeit. Als ich sagte, dass ich an diesem Nachmittag die ersten beiden Runden zu Papier zu bringen gedächte, schaute sie mich wieder mit dem Ausdruck an, der mir schon am Strand aufgefallen war. Mit ehrlichem Entsetzen wird mir bewusst, dass sich etwas zwischen uns zu schieben beginnt. Ein langweiliger Nachmittag übrigens. Im Hotel gibt es fast keine weißhäutigen Gäste mehr. Alle, auch die erst vor wenigen lagen Eingetroffenen, tragen eine perfekte Bräune zur Schau, Ergebnis vieler am Strand verbrachter Stunden sowie von Sonnenmilch und Sonnencreme, die unsere Industrie in Massen herstellt. Tatsächlich bin ich der einzige Gast, der noch seine natürliche Farbe besitzt. Auch derjenige, der die meiste Zeit im Hotel verbringt. Ich und
eine alte Frau, die kaum einmal die Terrasse verlässt. Ein Umstand, der offenbar die Neugier der Angestellten weckt, die mich mit immer unverhohlenerer Neugier beobachten, wenn auch aus sicherer Entfernung und mit etwas im Blick, das ich, auf die Gefahr hin, zu übertreiben, Angst nennen möchte. Ich glaube, die Nachricht von der Sache mit dem Tisch hat sich wie ein I ,auffeuer verbreitet. Der Unterschied zwischen mir und der Alten ist, dass sie unbeweglich auf der Terrasse sitzt und den Strand und den Himmel betrachtet, während ich alle naslang wie ein Schlafwandler das Zimmer verlasse, um mich am Strand mit Ingeborg zu treffen oder an der 1 lotelbar ein Hier zu trinken. Seltsam, manchmal bilde ich mir ein, die Alte sei schon hier gewesen, als ich mit meinen Eltern im Del Mar war. Aber zehn Jahre sind eine lange Zeit, zumindest in diesem Fall, und ich kann ihr Gesicht nicht einordnen. Vielleicht wenn ich zu ihr ginge und sie fragte, ob sie sich an mich erinnert ... Nicht sehr wahrscheinlich. Jedenfalls weiß ich nicht, ob ich imstande wäre, sie anzusprechen. Etwas an ihr stößt mich ab. Dabei ist sie auf den ersten Blick eine alte Frau wie tausend andere: eher dünn als dick, runzlig, weiß gekleidet, mit schwarzer Sonnenbrille und Strohhut. An diesem Nachmittag, nachdem Ingeborg fort war, betrachtete ich sie vom Balkon aus. Sie sitzt immer in derselben Ecke der Terrasse, gleich neben der Promenade. Halb verdeckt von einem riesigen blau-weißen Sonnenschirm sieht sie so stundenlang den wenigen Autos nach, die den Paseo Marftimo entlangfahren, wie eine Marionette, glücklich. Und seltsamerweise unabdingbar für mein eigenes Glück: Wenn ich die stickige Luft des Zimmers nicht mehr ertragen konnte, ging ich hinaus, und da war sie, eine Art Energiequelle, die mir die nötige Kraft einflößte, um mich wieder an den Tisch zu setzen und weiterzuarbeiten. Und wenn sie mich jedes Mal gesehen hat, wenn ich auf den Balkon trat? Was würde sie von mir denken? Für wen würde sie mich halten? Sie hob keinmal den Blick, aber bei diesen schwarzen Brillen weiß man nie, wann man beobachtet wird und wann nicht; sie konnte meinen Schatten auf den Fliesen der Terrasse gesehen ha-
ben; im 1 lotcl gab es wenige Gäste, und zweifellos würde sie es für unangebracht halten, dass ein junger Mann in regelmäßigen Abständen auftauchte und verschwand. Als ich das letzte Mal nach draußen trat, schrieb sie eine Postkarte. Konnte es sein, dass sie von mir schrieb? Ich weiß nicht. Aber wenn doch, mit welchen Worten, unter welchem Gesichtspunkt? Ein bleicher junger Mann mit hoher Stirn. Oder ein nervöser, zweifellos verliebter junger Mann. Oder vielleicht ein ganz gewöhnlicher junger Mann mit empfindlicher Haut. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich abschweife, dass ich mich in haltlosen Spekulationen verliere, die mich nur verwirren. Ich verstehe nicht, wie mein Freund Conrad einmal sagen konnte, ich schriebe wie Karl Bröger. Mehr wollte ich doch gar nicht. I )ank Conrad habe ich die Iviteratengruppe der Werkleute auf I laus Nyland kennengelernt. Er war es, der mir das Buch Soldaten der Erde von Karl Bröger in die 1 land drückte, der mich nach beendeter 1 „ektiire dazu brachte, in den Stuttgarter Bibliotheken in immer mühsamerer und abenteuerlicherer Jagd Bunker 17 von selbigem Bröger, Hammerschläge von I Icinrich Lersch, Das vergitterte Land von Max Barthel, Rhythmus des neuen Europa von Gerrit Engelke, Mensch im Eisen von Lersch usw. aufzutreiben. Conrad kennt unsere vaterländische Literatur. Eines Nachts zählte er mir in seinem Zimmer ohne zu stocken die Namen von zweihundert deutschen Schriftstellern auf. Ich fragte ihn, ob er alle gelesen habe. Er bejahte. Besonders lieb war ihm Goethe, und unter den Modernen Ernst Jünger. Von ihm besaß er zwei Bücher, die er immer wieder las: Der Kampf als inneres Erlebnis und Feuer und Blut. Dennoch verachtete er auch die Vergessenen nicht, daher seine bald von mir geteilte Begeisterung für den Nyland-Kreis. Wie viele Nächte bin ich seither spät ins Bett gekommen, weil ich mich nicht mehr nur mit dem Enträtseln vertrackter neuer Spielregeln beschäftigte, sondern auch versunken war in Freud und Leid, in Abgründe und 1 löhenfliigc der deutschen Literatur! Ich meine damit natürlich die Literatur, die mit Herzblut geschrieben wurde, nicht Bücher wie die mit Florian 1 binden, die nach
allem, was Ingeborg erzählt, immer aberwitziger werden. In dieser Hinsicht ist es keineswegs unangebracht, auf eine Ungerechtigkeit hinzuweisen: Ingeborg hat in den wenigen Fällen, wo ich ihr in der Öffentlichkeit und mehr oder weniger detailliert von den Fortschritten des Spiels erzählt habe, Arger oder Scham empfunden; sie dagegen hat mir unzählige Male bei verschiedensten Gelegenheiten, etwa beim Frühstück, in der Diskothek, im Auto, im Bett, während des Essens und sogar am Telefon von den Fällen erzählt, die Florian Linden zu lösen hat. Und ich bin nicht ärgerlich geworden, habe mich nicht geschämt, weil jemand vielleicht ihre Worte mitgehört hat; im Gegenteil, ich habe mich bemüht, die Sache auf eine übergeordnete und objektive Weise zu verstehen (vergebene Liebesmüh) und dann mögliche logische Lösungen für die Denksportaufgaben ihres Detektivs vorgeschlagen. Vor einem Monat, um es kurz zu machen, habe ich von Florian Linden geträumt. Das hatte mir noch gefehlt. Ich erinnere mich genau: Ich lag im Bett, denn mir war eiskalt, und Ingeborg sagte: »Der Raum ist hermetisch abgeriegelt«; dann vernahmen wir vom Gang her die Stimme des Ermittlers Florian Linden, der uns auf die Anwesenheit einer giftigen Spinne im Zimmer hinwies, einer Spinne, die uns beißen und dann entwischen könnte, obwohl das Zimmer doch »hermetisch abgeriegelt« war. Ingeborg begann zu weinen, und ich umarmte sie. Kurz darauf sagte sie: »Es ist unmöglich, wie wird Florian das diesmal wieder hingekriegt haben?« Ich stand auf, lief auf der Suche nach der Spinne herum und wühlte in Schubladen, fand aber nichts, obwohl es natürlich viele Orte gab, an denen siesich verstecken konnte. Ingeborg schrie: Florian, Florian, Florian, was sollen wir tun?, ohne eine Antwort zu bekommen. Ich glaube, wir wussten beide, dass wir allein waren. Das war alles. Es war weniger ein Traum als ein Albtraum. Wenn er eine Bedeutung hatte, kenne ich sie nicht. Ich habe sonst keine Albträume. Als Jugendlicher schon; es gab zahlreiche Albträume mit sehr verschiedenen Szenarien. Aber nichts, was meine Eltern oder den Schulpsychologen hätte beunruhigen können. Eigentlich war ich immer ein ausgeglichener Mensch.
Es wäre interessant, sich an die Träume zu erinnern, die ich hier, im Del Mar, vor mehr als zehn Jahren hatte. Sicher habe ich von Mädchen und Bestrafungen geträumt, wie alle Jugendlichen. Mein Bruder hat mir einmal einen Traum erzählt. Ich weiß nicht, ob wir zu zweit oder meine Kitern auch dabei waren. Ich habe so etwas nie gemacht. Ingeborg ist, als sie klein war, oft weinend aufgewacht und brauchte jemand, der sie tröstet. Will sagen, sie ist mit Angst aufgewacht und fühlte sich unendlich einsam. So etwas ist mir nie passiert, oder wenn, dann so selten, dass ich es vergessen habe. Seit ein paar Jahren träume ich von Spielen. Ich lege mich hin, schließe die Augen, und ein Brett mit lauter unverständlichen Spiclfiguren leuchtet auf und wiegt mich nach und nach in den Schlaf. Aber der eigentliche Traum muss anders sein, nur erinnere ich mich nicht an ihn. Selten habe ich von Ingeborg geträumt, obwohl sie doch die Hauptfigur in einem meiner intensivsten 'Träume ist. Es ist ein rasch erzählter, offensichtlich kurzer Traum, und vielleicht liegt darin sein größter Vorzug. Sie sitzt auf einer Steinbank und kämmt sich mit einem gläsernen Kamm; ihr Haar aus lauterem Gold reicht ihr bis zur Hüfte. Es dämmert. Im Hintergrund, noch weit entfernt, ist eine Staubwolke zu erkennen. Plötzlich bemerke ich neben ihr einen riesigen Hund aus Holz und wache auf. Ich glaube, der Traum ereignete sich, kurz nachdem wir uns kennenlernten. Als ich ihn ihr erzählte, sagte sie, die Staubwolke bedeute den Ausbruch der Kiebe. Ich pflichtete ihr bei. Wir waren beide glücklich. Das alles geschah in der Stuttgarter Diskothek Detroit, und möglicherweise erinnere ich mich an den 'Traum, weil ich ihn ihr erzählt habe und sie ihn verstand. Manchmal ruft mich Ingeborg mitten in der Nacht an. Sie gibt zu, dass das einer der Gründe ist, warum sie mich liebt. Frühere freunde kamen mit diesen Anrufen nicht klar. Ein gewisser Erich hat mit ihr Schluss gemacht, weil er von ihr um drei l 'hr morgens geweckt worden war. Eine Woche später wollte er sich wieder mit ihr versöhnen, aber Ingeborg wies ihn ab. Keiner verstand, dass sie mit jemandem reden musste, wenn sie aus einem Albtraum erwachte,
vor allem, wenn sie allein und es ein besonders schrecklicher Albtraum gewesen war. Für solche Fälle bin ich der ideale Partner: Ich habe einen leichten Schlaf; von einem Moment auf den anderen kann ich reden, als käme der Anruf nachmittags um fünf (unwahrscheinlich, da ich um diese Zeit noch arbeite); es stört mich nicht, wenn man mich nachts anruft; außerdem habe ich oft noch nicht einmal geschlafen. Überflüssig zu sagen, dass die Anrufe mich mit Glück erfüllen. Ks ist ein heiteres Glück, das mich nicht hindert, genauso schnell wieder einzuschlafen, wie ich aufgewacht bin. Und mit dem Klang von Ingeborgs Abschiedsworten im Ohr: »Mögest du von dem träumen, was dir das Liebste ist, lieber l Ido.« Geliebte Ingeborg. Niemand habe ich je so geliebt. Warum dann diese Blicke wechselseitigen Misstrauens? Warum lieben wir uns nicht einfach so wie Kinder und akzeptieren uns, wie wir sind? Wenn sie zurückkommt, werde ich ihr sagen, dass ich sie liebe, dass ich sie vermisst habe, und sie um Verzeihung bitten. Ks ist das erste Mal, dass wir zusammen wegfahren, gemeinsam Urlaub machen, und natürlich fällt es uns schwer, uns gleich aufeinander einzustellen. Ich muss aufhören, von Spielen zu reden, besonders von Kriegsspielcn, und ihr mehr Aufmerksamkeit schenken. Wenn ich Zeit habe, sobald ich mit diesen Zeilen fertig bin, werde ich in den Souvenir-Shop des I lotels gehen und ihr etwas kaufen, eine Kleinigkeit, die sie fröhlich und versöhnlich stimmt. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, ihr weh zu tun. Ich habe eine silberne I laiskette mit Einlegearbeiten aus Ebenholz gekauft. Viertausend Peseten. I loffentlich gefallt sie ihr. Außerdem habe ich eine winzige Tonfigur erstanden, einen Bauern mit rotem I lut, der in der Hocke sitzt und kackt; der Verkäuferin zufolge eine für die Region typische Kigur. Ich bin sicher, dass Ingeborg sie lustig finden wird. An der Rezeption habe ich Frau Klse gesehen. Ich habe mich ihr leise genähert, und bevor ich Guten Tag sagte, konnte ich über
ihre Schulter einen Blick in das Kontobuch werfen, in dem es von Nullen wimmelte. Etwas muss sie beunruhigen, denn als sie meine Anwesenheit bemerkte, reagierte sie eher unwirsch. Ich wollte ihr die Halskette zeigen, aber sie ließ mich nicht. Auf den Empfangstresen gestützt, das Haar schimmernd im letzten Licht, das durch die breite Fensterfront der Lobby fallt, erkundigt sie sich nach Ingeborg und »meinen Freunden«. Ich log, ich hätte keine Ahnung, von welchen Freunden sie spreche. Das junge deutsche Pärchen, sagte Frau Else. Ich erwiderte, das seien keine Freunde, sondern Bekannte, Urlaubsbekanntschaften; außerdem, sagte ich, seien sie Gäste der Konkurrenz. Frau Else schien für meine Ironie keinen Sinn zu haben. Da klar war, dass sie nicht vorhatte, das Gespräch fortzusetzen, und ich noch keine Lust hatte, nach oben zu gehen, zog ich rasch das Tonfigürchen aus der Tasche und zeigte es ihr. »Sie sind ein Kindskopf, Udo.« Ich weiß nicht, warum dieser einfache, in ernstem Ton geäußerte Satz genügte, mich erröten zu lassen. Dann teilte sie mir mit, sie habe zu arbeiten und ich solle sie allein lassen. Bevor ich ging, fragte ich sie, wann es dunkel werde. Um zehn, sagte Frau Else. Vom Balkon aus konnte ich die Ausflugsdampfer sehen; stündlich verlassen sie den alten Fischerhafen in östlicher Richtung, drehen dann nach Norden ab und verschwinden hinter einer großen Felsnase, die hier Punta de la Virgen heißt. Es ist neun, und erst jetzt kündigt sich geruhsam leuchtend die Nacht an. Der Strand ist fast leer. Man sieht nur Kinder und Hunde, die über den dunkelgelben Sand tapsen. Die anfangs vereinzelten Hunde sammeln sich zu einem Rudel und traben in Richtung Pinienwäldchen und Campingplätze, dann kommen sie zurück, und nach und nach löst sich das Rudel auf. Die Kinder spielen, ohne herumzulaufen. Vom anderen Fnde des Ortes, der Altstadt, und von den Felsen her nähert sich ein weißes Schiffchen. Dort kommt Ingeborg, bin ich mir sicher. Aber das Schiffchen scheint kaum vom Fleck zu kommen. Zwischen dem Del Mar und dem Costa ßrava beginnt der Mann vom Bootsverleih die Tretboote höher auf den
Strand zu ziehen. Obwohl es eine schwere Arbeit sein muss, hilft ihm niemand. Allerdings lässt sich an der Leichtigkeit, mit der er die riesigen, tiefe Rillen in den Sand furchenden CJetiime handhabt, ersehen, dass er sich selbst genug ist. Aus dieser Entfernung käme niemand auf die Idee, dass ein Großteil seines Körpers furchtbar verbrannt ist. Er trägt nur kurze Hosen, und der Wind, der über den Strand fegt, zerzaust ihm die zu langen Haare. Man kann nicht bestreiten, dass er ein origineller Typ ist. Nicht wegen der Verbrennungen, sondern wegen seiner speziellen Methode, die Tretboote zu versorgen. Was mir in der Nacht aufgefallen war, als Charly uns am Strand davonlief, sehe ich jetzt wieder, nur diesmal von Anfang an, und wie ich mir schon damals dachte, ist es eine langwierige, komplizierte Prozedur ohne praktischen Nutzen, absurd. Sic besteht darin, die Boote mit dem Bug in verschiedene Richtungen anzuordnen und miteinander zu verschränken, bis sie nicht die übliche Reihe oder Doppelreihe bilden, sondern einen Kreis oder richtiger: einen Stern mit unregelmäßigen Spitzen. Eine mühsame Arbeit, die zur Folge hat, dass die anderen Bootsverleiher längst fort sind, wenn er erst zur 1 lälfte fertig ist. Ihm scheint das jedoch egal zu sein. Kr muss Spaß daran haben, um diese Tageszeit zu arbeiten, erfrischt von der abendlichen Brise, wenn der Strand, abgesehen von ein paar im Sand spielenden Kindern, die sich von den Booten fernhalten, leer ist. Gut, ich glaube, als Kind würde ich mich ihnen auch nicht nähern. Seltsam: Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, er würde mit den Booten eine Festung bauen. Genauso eine Kestung, wie Kinder sie bauen. Der Unterschied besteht darin, dass der arme Kerl kein Kind ist. Fragt sich: Wozu eine solche Festung bauen? Ich glaube, es liegt auf der Hand: Um darin die Nacht zu verbringen. Ingeborgs Schiff hat angelegt. Sie muss jetzt auf dem Weg zum I lotel sein; ich stelle mir ihre glatte Haut vor, ihr frisches, duftendes Haar und wie sie mit entschlossenen Schritten die Altstadt durchquert. Bald wird es vollständig dunkel sein. Der Mann vom Bootsverleih ist noch immer nicht fertig mit seinem Stern. Ich frage mich, wie es sein kann, dass noch niemand auf
ihn aufmerksam geworden ist; die wie zu einer hässlichen Elendsbaracke aufgetürmten Tretboote zerstören den ganzen Zauber des Strands; auch wenn ich annehme, dass den armen Teufel keine Schuld trifft und sich die schlechte Wirkung, der starke Eindruck einer fatalen Ähnlichkeit mit einer Elendsbaracke oder Räuberhöhle vielleicht nur aus dieser Perspektive ergibt. Bemerkt vom Paseo Marftimo aus denn niemand die Unordnung, die diese Tretboote am Strand anrichten? Ich habe die Balkontür geschlossen. Warum braucht Ingeborg so lange, bis sie da ist?
24. August
Es gibt eine Menge zu schreiben. Ich habe den Verbrannten kennengelernt. Ich will versuchen, die Geschehnisse der letzten Stunden zusammenzufassen. Ingeborg kam gestern Abend freudestrahlend und gut gelaunt zurück. Der Ausflug war ein Erfolg gewesen, und wir versöhnten uns wieder, ohne ein Wort sagen zu müssen, was doppelt schön war. Wir aßen im I lotel und trafen uns anschließend mit I lanna und Charly in einer Bar am Paseo Marftimo, im Rincön de los Andaluccs. Eigentlich hätte ich lieberden restlichen Abend mit Ingeborg allein verbracht, aber wenn ich unseren gerade erst geschlossenen Frieden nicht gefährden wollte, durfte ich nicht nein sagen. Charly war glücklich und nervös, und ich erkannte bald, warum: An diesem Abend wurde im Fernsehen ein Fußballspiel zwischen Deutschland und Spanien übertragen, und er fand, wir sollten uns die Partie zu viert hier in der Bar anschauen, mitten unter den vielen Spaniern, die auf den Anpfiff warteten. Als ich ihn daraufhinwies, dass wir es im Hotel bequemer hätten, erwiderte er, dass sei nicht dasselbe; im I lotcl säßen mit fast hundertprozentiger Sicherheit nur Deutsche; in der Bar wären wir von »Feinden« umgeben, was den Reiz des Spiels erhöhte. Zu meiner Überraschung schlugen sich Hanna und Ingeborg auf seine Seite. Obwohl anderer Meinung, gab ich nach, und kurz darauf verließen wir die Terrasse und setzten uns in die Nähe des Fernsehers. So kam es, dass wir Fl Lobo und El Cordero kennenlernten. Ich will das Innere des Rincön de los Andaluccs nicht beschreiben, nur so viel, der I ,adcn war geräumig, die L u f t schlecht, und ein Blick genügte, um meine Befürchtungen zu bestätigen: Wir waren die einzigen Ausländer. Das auf anarchische Weise in einer Art Halbkreis vor dem Kern-
seher versammelte Publikum bestand in der 1 lauptsaehe aus jungen Männern, die alle wie Arbeiter aussahen, die gerade Feierabend gemacht und noch keine Zeit zum Duschen gefunden hatten. Im Winter nicht weiter befremdlich; im Sommer anstößig. Was die Kluft zwischen ihnen und uns noch vertiefte: Alle Anwesenden schienen sich von frühster Kindheit an zu kennen und demonstrierten das durch eifriges Schulterklopfen oder indem sie sich quer durch den Raum etwas zubrüllten und Witze machten, die mit der Zeit immer lauter wurden. Der Lärm war ohrenbetäubend. Auf den Tischen drängten sich die Bierflaschen. Einige Leute spielten an einem altersschwachen Kickertisch, und das Krachen billigen Blechs, das sie erzeugten, übertönte das allgemeine Getöse wie Schüsse eines Freischärlers eine Feldschlacht mit Schwertern und Degen. Es war offensichtlich, dass unsere Gegenwart eine Erwartung weckte, die wenig oder nichts mit dem Spiel zu tun hatte. Die mehr oder weniger versteckten Blicke fokussierten sich auf Ingeborg und Hanna, die, wie man sich denken kann, in dieser Umgebung wie Märchenprinzessinnen erschienen, vor allem Ingeborg. Charly strahlte. I lier war er ganz in seinem Element; er mochte das Geschrei, die geschmacklosen Witze, die von Rauch und fiesen Gerüchen geschwängerte I aift; wenn es außerdem ein Spiel unserer Nationalmannschaft zu sehen gab, umso besser. Aber nichts ist vollkommen. Gerade als die Sangria für vier an den Tisch kam, wurde allen klar, dass es die DDR-Auswahl war, die spielte. Charly wirkte wie vor den Kopf geschlagen, und seine Laune wurde von da an immer labiler. Frst wollte er sofort gehen. Später konnte ich feststellen, dass ihn, ungelogen, enorme und absurde Ängste plagten. Eine davon fiel besonders auf: Er fürchtete, die Spanier könnten uns für Ostdeutsche halten. Schließlich einigten wir uns darauf, zu gehen, sobald wir die Sangria geleert hatten. Erwähnt sei noch, dass wir das Spiel keines Blickes würdigten, so vollauf beschäftigt mit Lachen und Trinken waren wir. In diesem Moment setzten sich Kl Lobo und TU Cordero an unseren Tisch.
Wie es dazu kam, wüsste ich nicht zu sagen. Sic setzten sich ohne ein Wort der Entschuldigung zu uns und plapperten drauflos. Sie konnten ein paar Worte Englisch, ungenügend in jeder Hinsicht, doch machten sie den sprachlichen Mangel durch beachtliche gcstischc Fähigkeiten wett. Anfangs tummelte sich das Gespräch auf den üblichen Gemeinplätzen (Arbeit, Wetter, Einkommen usw.), wobei ich den Dolmetschergab. Sie waren, wenn ich richtig verstanden habe, einheimische Hobbyfremdenführer, sicher ein Scherz. Später, als der Abend und mit ihm die Vertrautheit fortgeschritten waren, wurde nur mehr in schwierigen Fällen auf meine Kenntnisse zurückgegriffen. Alkohol wirkt eben Wunder. Vom Rincön de los Andaluces fuhren wir alle zusammen in Charlys Wagen zu einer Diskothek am Ortsrand, die auf einer Brache nahe der Schnellstraße nach Barcelona lag. 11 ier waren die Preise erheblich günstiger als in der Touristengegend, das Publikum bestand überwiegend aus Leuten wie unseren neuen Freunden, und es herrschte eine fröhliche, kumpclhafte und doch irgendwie sinistre, undurchsichtige Stimmung, wie es sie nur in Spanien gibt und die komischerweise niemand misstrauisch macht. Charly war wie immer binnen kürzester Zeit betrunken. Irgendwann in der Nacht, ich weiß nicht wie, erfuhren wir, dass die DDR-Auswahl null zu zwei verloren hatte. Für mich eine merkwürdige Erinnerung, denn ich interessiere mich gar nicht für Fußball, und ich empfand die Mitteilung des Resultats wie einen Wendepunkt in der Nacht, als hätte sich die ganze Ausgelassenheit der Diskothek von da an in etwas anderes, in ein Schreckensszenario verwandeln können. Gegen vier Uhr morgens machten wir uns auf den Rückweg. Einer der Spanier fuhr, da Charly, der hinten saß und den Kopf aus dem Fenster hielt, die ganze Fahrt über kotzte. Er war wirklich in einem erbärmlichen Zustand. Als wir ankamen, zog er mich zur Seite und fing an zu heulen. Ingeborg, Hanna und die beiden Spanier schauten uns interessiert zu, obwohl ich ihnen Zeichen machte, sie sollten schon vorgehen. Unter Schluchzen gestand mir Charly, er habe Angst zu sterben; was er sagte, blieb weitgehend unverständlich, nur so viel wurde klar, dass es für seine Befürchtungen keinen
konkreten Grund gab. Im nächsten Moment begann er zu lachen und mit Kl Cordcrozu boxen. Der, deutlich kleiner und schmächtiger als sein Kontrahent, beschränkte sich darauf, ihm auszuweichen, aber Charly war zu betrunken und verlor das Gleichgewicht oder ließ sich absichtlich fallen. Während wir ihm auf die Beine halfen, schlug einer der Spanier vor, im Rincön de los Andaluccs noch einen Kaffee zu trinken. Vom Paseo Marftimo aus betrachtet, hatte die Bar etwas von Räuberhöhle, von verschlafener Spelunke unter Schleiern von Tau und Morgenncbcl. Kl Lobo erklärte, es sehe zwar so aus, als wenn geschlossen sei, aber meist würde der Wirt auf seiner neuen Videoanlage bis zum Morgengrauen Filme schauen. Wir machten die Probe. Kurz darauf öffnete ein Mann mit gerötetem Gesicht und Siebentagebart. Kl Kobo selbst machte den Kaffee. Hinter uns im Schankraum saßen nur zwei Männer und starrten auf den Fernseher, der Wirt und eine zweite Person, jeder an einem eigenen Tisch. Es dauerte eine Weile, bis ich den anderen erkannte. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich bemüßigt, mich zu ihm zu setzen. Möglicherweise war auch ich ein bisschen betrunken. Jedenfalls nahm ich meinen Kaffee und setzte mich an seinen Tisch. Mir blieb nur Zeit, ein paar Phrasen zu wechseln (plötzlich fühlte ich mich unbeholfen und nervös), bevor die anderen sich zu uns gesellten. Wir wurden einander in aller Korm vorgestellt. »Das hier sind Ingeborg, Hanna, Charly und Udo, Freunde aus Deutschland.« »Und das ist unser Kumpel, der Verbrannte.« Ich übersetzte die Vorstellungsrunde für I lanna. »Wie können sie ihn bloß den Verbrannten nennen?« »Weil er es ist. Sie nennen ihn noch anders. Du kannst auch Muskelprotz zu ihm sagen; beide Spitznamen passen zu ihm.« »Ich finde das schrecklich taktlos«, sagte Ingeborg. Charly, eben noch lallend, sagte: »Oder extrem ehrlich. Sie sehen den Dingen einfach ins Auge. Wie im Krieg, da haben sich die Kameraden auch gegenseitig ge-
sagt, was Sachc war, und das hatte nichts mit mangelndem Respekt oder mangelnder Höflichkeit zu tun, obwohl, klar...« »Ks ist abscheulich«, sagte Ingeborg und sah mich angewidert an. Kl Lobo und Kl Cordero achteten kaum auf unseren verbalen Schlagabtausch, weil sie damit beschäftigt waren, Hanna auseinanderzusetzen, dass ein Glas Cognac Charly schwerlich noch betrunkener machen konnte. I lanna in ihrer Mitte schien zeitweilig total aufgekratzt, dann wieder so verängstigt, als wollte sie gleich davonlaufen, obwohl ich eigentlich nicht glaube, dass sie Lust hatte, ins I lotel zurückzugehen. Jedenfalls nicht mit Charly, der einen Punkt erreicht hatte, wo er nur noch lallen konnte. Der einzig Nüchterne war der Verbrannte, der uns ansah, als verstünde er Deutsch. Auch Ingeborg fiel das auf, und es machte sie nervös. Eine typische Reaktion von ihr, sie kann es nicht ertragen, jemand unabsichtlich zu verletzen. Aber wie hätten unsere Worte ihn verletzen können? Später fragte ich ihn, ob er unsere Sprache spreche, was er verneinte. Morgens um sieben, als die Sonne schon hoch am Himmel stand, gingen wir ins Bett. Das Zimmer war kühl, und wir schliefen miteinander. Später sanken wir bei offenem Fenster und geschlossenen Vorhängen in den Schlaf. Vorher aber ... vorher hatten wir Charly noch ins Costa Brava verfrachten müssen, der nicht davon abzubringen war, I yieder zu singen, die ihm Kl Lobo und El Cordero ins Ohr trällerten (die beiden lachten sich schlapp und klatschten in die 1 lande); später auf dem Weg zum I lotel wollte er partout ein Stück schwimmen. Hanna und ich waren dagegen, aber die beiden Spanier unterstützten ihn, und zu dritt gingen sie ins Wasser. Die arme Hanna schwankte erst, ob sie mitgehen oder zusammen mit uns am Ufer warten sollte; am Ende entschied sie sich für Letzteres. Der Verbrannte, der unbemerkt die Bar verlassen hatte, kam jetzt den Strand entlang und blieb fünfzig Meter von uns entfernt stehen, ging in die Hocke und schaute aufs Meer. I lanna erklärte, sie habe Angst, Charly könne etwas zustoßen. Sie war eine glänzende Schwimmerin, deshalb dachte sie, es sei ihre Pflicht, ihn zu begleiten, sie habe sich aber, sagte sie mit einem
gequälten Lächeln, vor unseren neuen Freunden nicht ausziehen wollen. Das Meer war glatt wie ein I Iandtuch. Die drei Schwimmer entfernten sich immer weiter. Bald konnten wir nicht mehr sagen, wer von ihnen wer war; Charlys blondes Haar und die schwarzen I laare der Spanier wurden ununtcrschcidbar. »Charly ist der am weitesten draußen«, sagte Hanna. Zwei Köpfe bewegten sich zurück zum Strand. Der dritte strebte weiter dem offenen Meer zu. »Das ist Charly«, sagte Hanna. Wir mussten sie davon abbringen, sich auszuziehen und ihm nachzuschwimmen. Ingeborg sah mich an, als fiele letzteres in meine Zuständigkeit, sagte aber nichts. Wofür ich ihr dankbar war. Schwimmen ist nicht meine Stärke, und er war für mich schon außer Reichweite. Die Rückkehrer schwammen extrem langsam. Finer von ihnen drehte sich alle paar Züge um, als wollte er schauen, ob Charly ihnen folgte. Ich dachte kurz an das, was er mir gesagt hatte: Angst vor dem Tod. Lächerlich. In diesem Moment schaute ich zu dem Verbrannten hinüber und sah ihn nicht mehr. Links von uns, auf halbem Weg zwischen Meer und Paseo Marftimo, erhoben sich die in ein leicht bläuliches Licht getauchten Tretboote, und ich wusste, dass er sich jetzt dort im Inneren seiner Festung befand, vielleicht schlief, uns vielleicht beobachtete, und der bloße Gedanke, von seinem Versteck zu wissen, schien mir ergreifender als die Schwimmvorführung, die uns Charly zumutete, der Idiot. Schließlich erreichten Fl Lobo und Fl Cordero den Strand, wo sie sich erschöpft einer neben dem anderen fallen ließen, unfähig aufzustehen. Hanna lief zu ihnen, ohne dass es sie störte, dass sie nackt waren, und begann sie auf Deutsch auszufragen. 1 )ie Spanier grinsten müde und sagten, dass sie nichts verstünden. Fl I,obo versuchte, sie umzuschubsen, dann bespritzte er sie mit Wasser. 1 lanna machte einen Satz rückwärts (einen elektrisierten Satz) und schlug die Hände vors Gesicht. Ich dachte, sie würde anfangen zu weinen oder Ohrfeigen verteilen, aber sie tat nichts dergleichen. Sie kehrte zu uns zurück und setzte sich in den Sand neben das Häufchen von
Kleidern, die Charly verstreut liegengelassen und die sie aufgesammelt und sorgfaltig zusammengefaltet hatte. »Scheißkerl«, hörte ich sie flüstern. Dann stand sie mit einem tiefen Seufzer auf und suchte mit den Augen den Horizont ab. Charly war nirgends zu sehen. Ingeborg schlug vor, die Polizei zu rufen. Ich ging zu den Spaniern und f ragte, wie wir uns mit der Polizei oder einem Rettungsdienst der Küstenwache in Verbindung setzen könnten. »Keine Polizei«, sagte Hl Cordero. »Keine Bange, der Typ ist ein Witzbold, der kommt schon wieder. Er will uns sicher nur einen Streich spielen.« »Aber ruf nicht die Polizei«, beharrte Kl Cordero. Ich teilte Ingeborg und Hanna mit, dass wir mit den Spaniern nicht rechnen durften, wenn wir Hilfe holen wollten, was aber auch ein bisschen übertrieben schien. Charly konnte ja wirklich jeden Mo me n t a u ft auc h e n. Die Spanier zogen sich hastig an und gesellten sich zu uns. Der Strand wechselte von blau zu rötlich, und auf dem Gehweg am Paseo Marftimo joggten bereits einige frühaufstehende Touristen. Wir alle standen, während I lanna sich wieder neben Charlys Klamotten gesetzt hatte und die Augen zusammenkniff, als täte das immer stärkere Licht ihren Augen weh. Kl Cordero erspähte ihn als Krster. Ohne das Wasser zu kräuseln, in einem gleichmäßigen und eleganten Stil, kam Charly ans llfer geschwommen, rund hundert Meter von uns entfernt. Unter Freudengeschrei rannten die Spanier ihm entgegen, ohne sich um ihre Hosen zu kümmern, die dabei nass wurden. Hanna dagegen, von Ingeborg in den Arm genommen, fing an zu weinen und sagte, ihr sei übel. Charly stieg fast nüchtern aus dem Wasser. Kr kiisste 1 lanna und Ingeborg und begrüßte uns Männer mit I landschlag. Die Szene hatte etwas Irreales. Vor dem Costa Brava trennten wir uns. Während wir, jetzt allein, zu unserem 1 lotel weitergingen, sah ich den Verbrannten, der unter den Tretbooten hcrvorkroch und sich daranmachte, sie voneinander zu lösen und sich auf einen weiteren Arbeitstag vorzubereiten.
Es war nach drei, als wir aufwachten. Wir duschten und aßen eine Kleinigkeit im Hotelrestaurant. Von unseren Plätzen an der Bar aus betrachteten wir durch die getönten Scheiben das Panorama des Paseo Marftimo. Ein Bild wie eine Postkarte. Alte Männer, die es sich auf der Ufermauer bequem gemacht hatten, gut die Hälfte von ihnen mit weißen I lütchen, alte Frauen in übers Knie gerafften Röcken, damit die Sonne an ihre Beine käme. Das war alles. Wir tranken etwas Kühles und gingen zurück nach oben, um unsere Badesachen zu holen. Charly und I lanna lagen am gewohnten Platz bei den Booten. Der Vorfall vom Morgen sorgte eine Weile für Gesprächsstoff: Hanna sagte, als sie zwölf war, sei ihr bester Freund beim Baden an einem Herzinfarkt gestorben; Charly, von seinem Besäufnis vollständig genesen, erzählte, dass er und ein gewisser I lans Krebs eine Zeitlang die besten Schwimmer im Oberhausener Stadtbad gewesen seien. Sie hatten Schwimmen in einem Fluss gelernt, und er vertrat die Meinung, wer es dort lernt, kann niemals vom Meer besiegt werden. In Flüssen, sagte er, muss man mit hellwachen Muskeln und geschlossenem Mund schwimmen, vor allem, wenn der Fluss radioaktiv ist. Es gab ihm ein Gefühl der Befriedigung, den Spaniern seine Ausdauer bewiesen zu haben. Er erzählte, die beiden hätten ihn irgendwann gebeten, umzukehren; zumindest kam es Charly so vor; aber was sie auch gesagt haben mochten, der Klang ihrer Stimmen verriet ihm ihre Angst. Du hattest nur keine Angst, weil du betrunken warst, sagte I lanna und küsstc ihn. Charly grinste und zeigte zwei Reihen großer weißer Zähne. Nein, sagte er, ich hatte keine Angst, weil ich schwimmen kann. Es ließ sich nicht vermeiden, dass wir den Verbrannten sahen. Fr bewegte sich langsam und trug nur eine Jeans, clie er auf Bermudashortslänge abgeschnitten hatte. Ingeborg und Hanna hoben die Arme und grüßten. Er kam nicht näher. »Seit wann seid ihr mit dem Typ befreundet«, fragte Charly. Der Verbrannte grüßte zurück und kehrte mit einem Tretboot im Schlepptau zum Wasser zurück. I lanna fragte, ob es stimme, dass man ihn den Verbrannten nenne. Ich nickte. Charly sagte, er erinnere sich kaum an ihn. Warum ist er nicht mit mir ins Wasser
gegangen? Aus dem gleichen Grund wie Udo, sagte Ingeborg, weil er nicht blöd ist. Charly zuckte mit den Schultern. (Ich glaube, er mag es, wenn Krauen mit ihm schimpfen.) Wahrscheinlich ist er ein besserer Schwimmer als du, sagte I lanna. Glaube ich nicht, sagte Charly, jede Wette dagegen. I lanna meinte, der Verbrannte habe mehr Muskeln als wir beide und als jeder, der hier gerade in der Sonne liege. Ein Bodybuilder? Ingeborg und Hanna lachten. Daraufhin gestand Charly, dass er sich an nichts in der letzten Nacht erinnern könne. Die Rückfahrt von der Diskothek, das Erbrechen, die Tränen, alles war aus seinem Gedächtnis gelöscht. Stattdessen aber wusste er mehr über El Lobo und Kl Cordero als wir. D e r e i n e arbeitete in einem Supermarkt in der Campingzone, der andere war Kellner in einer Bar in der Altstadt. Fabelhafte Kerle. Um sieben verließen wir den Strand und tranken auf der Terrasse des Rincön de los Andaluces ein Bier. Der Wirt stand hinter dem 'Tresen und unterhielt sich mit zwei Alten aus dem Ort, beide sehr klein, fast zwergenhaft. Als er uns sah, hob er die I land zum Gruß. Es war nett hier. Tis wehte ein leichtes, kühles Lüftchen, und obwohl die 'Tische alle besetzt waren, versuchten die Anwesenden noch nicht, aus Leibeskräften Lärm zu machen. Es waren Leute die wie wir vom Strand kamen, erschöpft vom Schwimmen und Sonnenbaden. Wir trennten uns, ohne etwas für den Abend zu planen. Zurück im Hotel, gingen wir unter die Dusche, und danach beschloss Ingeborg, sich in den Liegestuhl auf dem Balkon zu setzen, Postkarten zu schreiben und den Hlorian-Linden-krimi zu Ende zu lesen. Ich schaute mir einen Moment lang mein Spiel an und ging dann runter ins Restaurant, um ein Bier zu trinken. Nach einer Weile kehrte ich ins Zimmer zurück, um mein I left zu holen, und fand Ingeborg schlafend, in ihren schwarzen Bademantel gehüllt, die Postkarten mit der Hand an die Hüfte gepresst. Ich gab ihr einen Kuss und schlug ihr vor, sich ins Bett zu legen, aber sie wollte nicht. Ich glaube, sie hatte etwas Fieber. Ich beschloss, wieder runter an die Bar zu gehen. Am Strand wiederholte der Verbrannte das allabendliche Ritual. Ein Tretboot nach dem anderen wurde
eingebaut, und die Baracke nahm Gestalt an, wuchs in die Höhe, falls eine Baracke in die Höhe wachsen kann. (Eine Baracke nicht, eine Festung schon.) Ich hob unwillkürlich eine Hand und grüßte. Er sah mich nicht. In der Bar traf ich Krau Else. Sie fragte, was ich schriebe. Nichts Besonderes, sagte ich, den Entwurf zu einem Essay. Ach, Sie sind Schriftsteller, sagte sie. Nein, nein, sagte ich, während mir die Röte ins Gesicht stieg. Um das T h e m a zu wechseln, erkundigte ich mich nach ihrem Mann, den begrüßen zu dürfen, ich noch nicht das Vergnügen gehabt hatte. »Er ist krank.« Das sagte sie mit einem ganz leisen Lächeln, während sie mich ansah und sich gleichzeitig umschaute, als wollte sie nichts von dem verpassen, was in der Bar geschah. »Tut mir leid.« »Es ist nichts Schlimmes.« Ich sagte etwas über Sommerkrankheiten, sicher irgendeine Dummheit. Dann stand ich auf und fragte sie, ob sie ein Glas mit mir trinken wolle. »Nein danke, ich möchte nichts, außerdem habe ich zu tun. Ich habe ständig zu tun!« Aber sie rührte sich nicht von der Stelle. »Ist es lange her, dass Sie in I )eutschland waren?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen. »Nein, mein Lieber, im Januar war ich für einige Wochen dort.« »Und wie kam Ihnen das Land vor?« Sofort merkte ich, dass ich Blödsinn geredet hatte, und wurde wieder rot. »Wie immer.« »Sie haben recht«, murmelte ich. Zum ersten Mal schenkte mir Krau Klsc einen freundlichen Blick, dann ging sie. Ich sah, wie sie mit einem Kellner sprach, dann mit einem weiblichen Gast und anschließend mit zwei alten Leuten, bis sie hinter der Treppe verschwand.
25. August
Die Freundschaft mit Charly und Hanna wiegt allmählich schwer wie Blei. Gestern, nach getaner Tagebucheintragung, als ich glaubte, ich würde mit Ingeborg allein einen ruhigen Abend verbringen, tauchten sie auf. Es war zweiundzwanzig Uhr und Ingeborg gerade wieder aufgewacht. Ich sagte ihr, ich würde lieber im I lotel bleiben, aber nachdem sie mit I lanna telefoniert hatte (Charly und I lanna standen an der Rezeption), entschied sie sich, doch auszugehen. Die ganze Zeit, die das Umziehen beanspruchte, diskutierten wir im Zimmer miteinander. Als wir nach unten gingen, war meine Überraschung groß, Fl Lobo und Fl Cordero zu sehen. Letzterer lehnte am Tresen und flüsterte der Empfangsdame etwas ins Ohr, worüber sie schallend lachte. Das missfiel mir außerordentlich: Ich vermutete, dass es dieselbe war, die bei dem Missverständnis mit dem Tisch Frau Klse gegenüber gepetzt hatte, obwohl es auch gut jemand anders gewesen sein konnte, wenn man die Tageszeit berücksichtigte und die Möglichkeit, dass es am Empfang zwei Schichten gab. Jedenfalls war sie sehr jung und dumm: Als sie uns sah, zwinkerte sie uns anerkennend zu, als teilte sie mit uns ein Geheimnis. Die anderen applaudierten. Es war unerhört. Wir verließen die Stadt in Charlys Auto, Hanna saß neben ihm, und El Lobo zeigte ihm, wie er fahren musste. Auf dem Weg zur Diskothek, wenn man diese Kaschemme eine nennen durfte, sah ich riesige, rohbauähnliche Fliesenfabriken entlang der Straße. Eigentlich sollten es Weinkeller oder Großhandelsfirmen sein. Sie wurden die ganze Nacht wie Fußballplätze von Flutlicht beleuchtet, und der Autofahrer konnte hinter den Gitterzäunen Unmengen von Keramikwaren, Tongefaßen und Pflanzenkübeln in allen Größen sowie die eine oder andere Statue erkennen. Grobschlächtige, staubbedeckte Imitationen griechischer Vorbilder. Unechtes mc-
diterranes Kunsthandwerk, gefangen in einer Zeit, die weder 'lag noch Nacht war. Uber die I löfe sah man nur Wachhunde laufen. Die Nacht verlief mehr oder weniger so wie die vorige. Die Diskothek hatte keinen Namen, obwohl El Cordero behauptete, sie heiße Trapera; wie die gestrige, war auch sie eher auf die Arbeiter der Umgebung zugeschnitten als auf Touristen; Musik und Beleuchtung waren erbärmlich; Charly widmete sich dem Alkohol und Hanna und Ingeborg dem Tanz mit den Spaniern. Alles hätte auch wie in der vergangenen Nacht enden können, wäre nicht etwas geschehen, das hier oft vorkommt, wie Hl Lobo meinte, der uns empfahl, schleunigst das Weite zu suchen. Ich will mich bemühen, die Geschichte zu rekapitulieren: Sic beginnt mit einem 'lypen, der so tat, als würde er zwischen den Tischen und am Rand der Tanzfläche tanzen. Wie es aussah, hatte er einige Getränke nicht bezahlt und stand unter Drogen. Letzteres ist natürlich eine reine Vermutung. Das Auffalligste an ihm und das, was mir ins Auge sprang, lange bevor der Tumult losbrach, war eine Reitgerte von beträchtlicher Dicke, die er in der einen Hand schwang, obwohl Hl Lobo nachher versicherte, es habe sich um einen Prügel aus Schweinedarm gehandelt, dessen Schlag auf der Haut eine lebenslange Narbe hinterlässt. Jedenfalls wirkte das Auftreten des falschen Tänzers bedrohlich, und gleich traten zwei Kellner der Diskothek auf ihn zu, die übrigens keine Dienstkleidung trugen und sich durch nichts von den Gästen unterschieden, außer durch ihr Benehmen und ihre besonders üblen Visagen. Zwischen ihnen und dem mit dem Prügel entspann sich ein Wortwechsel, der zusehends eskalierte. Ich konnte hören, wie der mit dem Prügel sagte: »Mein Rapier begleitet mich überallhin«, und bezog sich mit dieser eigenartigen Bezeichnung auf seinen Prügel und das Verbot, ihn in die Diskothek mitzunehmen. Der Kellner antwortete: »Ich habe hier etwas viel 1 lärteres als dein Rapier.« Es folgte eine Flut obszöner Beleidigungen, die ich nicht verstand, und schließlich sagte der Kellner: »Willst du es sehen?«
I )cr mit dem Prügel verstummte; ich glaube fast, dass er plötzlich erbleichte. Daraufhin reckte der Kellner seinen l nterarm, muskulös und behaart wie der eines Gorillas, und sagte: »Siehst du? Das ist härter.« Der mit dem Prügel lachte, aber weniger herausfordernd als erleichtert, obwohl ich bezweifle, dass die Kellner den Unterschied registrierten, und hob seine Gerte, die er an beiden Enden hielt und wie einen Bogen krümmte. Er besaß ein dümmliches Lachen, das Lachen eines Säufers und Widerlings. In diesem Moment schoss der Arm des Kellners, mit dem dieser gedroht hatte, nach vorn und packte den Prügel. Alles ging blitzschnell. Mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht brach er ihn entzwei. An einem l isch wurde Beifall geklatscht. Mit der gleichen Geschwindigkeit stürzte sich der mit dem Prügel auf den Kellner und drehte ihm den Arm auf den Rücken, und ohne dass jemand eingreifen konnte, hatte er ihn ruckzuck gebrochen. Ich glaube, dass ich trotz der Musik, die während des ganzen Vorfalls weiterlief, das Geräusch brechender Knochen hörte. Es erhob sich ein großes Geschrci. Erst war es nur das Brüllen des Kellners, dem man den Arm gebrochen hatte, dann die Schreie derer, die sich in die Wolle bekamen, wobei zumindest von meinem Tisch aus nicht ersichtlich war, wer auf wessen Seite stand, und schließlich verfielen alle Anwesenden in ein wildes Gekeife, diejenigen eingeschlossen, die gar nicht wussten, worum es ging. Wir beschlossen, den Rückzug anzutreten. Auf dem Heimweg kamen uns zwei Polizeiwagen entgegen. El Lobo fuhr nicht mit uns, es war nicht möglich, ihn in dem herrschenden Durcheinander zu finden, und El Cordero, der uns widerspruchslos folgte, bedauerte jetzt, seinen Freund zurückgelassen zu haben, und schlug vor, zurückzufahren. In diesem Punkt war Charly kompromisslos: Wenn er umkehren wolle, solle er trampen. Wir einigten uns darauf, im Rincön de los Andaluccs auf Iii Lobo zu warten. Die Bar war noch offen, als wir kamen, ich meine, sie hatte für alle
geöffnet, auf der Terrasse brannte Licht, und trotz der späten Stunde war sie rappelvoll; eigentlich hatte die Küche schon geschlossen, aber auf Kl Corderos Bitten machte uns der Wirt zwei I lühnchen warm, die wir mit einer Klasche Rotwein paarten; und weil wir immer noch Appetit hatten, genehmigten wir uns einen bunten Teller mit Wurstscheiben, Schinken-Tacos und Brot mit Tomaten und Olivenöl. Als die Terrasse bereits geschlossen hatte und drinnen nur noch wir und der Wirt saßen, der mittlerweile seiner Lieblingsbeschäftigung frönte, Westernfilme zu sehen und gemütlich zu essen, kam Kl Lobo durch die Tür. Bei unserem Anblick bekam er fürchterlich schlechte Laune, und seine Vorwürfe, >ihr habt mich sitzengelassen«, >ihr habt mich vergessen«, -nicht mal seinen Freunden kann man mehr vertrauen« usw., richteten sich erstaunlicherweise an Charly. Kl Cordero, streng genommen sein einziger Kreund hier, begegnete den Worten seines Kumpels mit zerknirschter und stumm demütiger Haltung. Und was noch erstaunlicher war, Charly nickte und entschuldigte sich, witzelte, aber warb um Verständnis, mit einem Wort, er fühlte sich geehrt von dem Beleidigungstalent, das der Spanier mit großer Geste und schlechtem Geschmack zur Schau trug. Ja, (üharly gefiel das! Möglich, dass er hinter dieser Gardinenpredigt wahre Kreundschaft vermutete! Ich muss betonen, dass El Lobo mir nicht den geringsten Vorwurf machte und den Mädchen gegenüber sein übliches halb komödiantisches, halb anzügliches Verhalten an den Tag legte. Ich glaube, ich war schon kurz davor, zu gehen, als der Verbrannte hereinkam. Kr grüßte uns mit einem Kopfnicken und setzte sich mit dem Rücken zu uns an den Iresen. Ich hörte mir noch El I ,obos Bericht von den Kreignissen in der Diskothek Trapera zu Ende an, wobei er die blutigen Tatsachen und Verhaftungen vermutlich aus eigener Ernte ergänzte, und ging dann zum Verbrannten hinüber. Seine Oberlippe war zur Hälfte ein unförmiges Geschwulst, aber mit der Zeit gewöhnte man sich an den Anblick, ich fragte, ob er unter Schlaflosigkeit litte, und grinste. Nein, das nicht, aber er brauche nur wenige Stunden Schlaf, um fit zu sein für seine Arbeit, eine leichte und vergnügliche Arbeit. Gesprächig war er nicht gerade,
aber auch nicht so wortkarg, wie ich erwartet hatte. Er besaß kleine, gleichsam abgeschliffene Zähne in einem verheerenden Zustand, von dem ich in meiner Ahnungslosigkeit nicht weiß, ob er seinen Verbrennungen oder bloß mangelnder Mundhygienc zuzuschreiben ist. Ich vermute, dass sich jemand mit einem solchen Gesicht um sein Gebiss keine allzu großen Sorgen macht. * Er fragte, woher ich komme. Er sprach mit einer dunklen, klangvollen Stimme, in der vollen Überzeugung, dass man ihn verstand. Ich antwortete, ich sei aus Stuttgart, und er nickte mit dem Kopf, als würde er die Stadt kennen, obwohl er dort eindeutig noch nie gewesen war. Er trug die gleichen Sachen wie tagsüber, kurze I lose, T-Shirt, Espadrilles. Sein Körperbau ist bemerkenswert, Brust und Schultern breit, der Bizeps übermäßig entwickelt, obwohl er, so am Tresen sitzend - und einen Tee trinkend! -, schlanker wirkte als ich. Oder schüchterner. Jedenfalls war trotz der wenigen Kleidung zu bemerken, dass er auf sein Außeres achtete, zumindest in einfachen Dingen: Er war rasiert und roch nicht unangenehm. Letzteres war durchaus eine Leistung für jemanden, der am Strand lebte, wo das einzige Badezimmer das Meer war. (Wenn man die Nase spitzte, roch er nach Salzwasser.) Für einen Moment sah ich ihn vor mir, wie er tagein, tagaus oder Nacht für Nacht seine Kleider (die kurze 1 lose, einige T-Shirts) im Meer wusch, seinen Körper im Meer wusch, seine Notdurft im Meer oder am Strand verrichtete, am selben Strand, an dem später hunderte von Touristen lagen, darunter Ingeborg ... Von Ekelgefühlen übermannt, stellte ich mir vor, wie ich sein unflätiges Benehmen der Polizei melde ... Aber natürlich werde nicht ich es sein, der das tut. Trotzdem, wie lässt es sich erklären, dass jemand mit einem bezahlten Job nicht in der Lage ist, sich einen anständigen Schlafplatz zu suchen? Sind denn überall in der Stadt die Mieten in die Höhe geschossen? Gibt es keine billigen Pensionen oder Campingplätze, wenn auch vielleicht nicht in vorderster Front am Meer? Oder möchte sich unser verbrannter Freund ein paar Peseten für die Zeit nach dem Sommer sparen? Er hat etwas vom (Juten Wilden; aber den Guten Wilden kann ich auch in El Lobo und El Cordero erkennen, und die kommen anders
zurecht. Vielleicht bedeutet diese Gratis-l nterkunft zugleich ein geschütztes, den Blicken der Leute entzogenes Haus. Das würde ich irgendwie noch verstehen. Außerdem sind da die Vorzüge eines Lebens an der frischen Luft, obwohl sein Leben, wie ich es mir vorstelle, wenig gemein hat mit einem Leben an der frischen Luft, dem Synonym für gesundes Leben, das sich mit der am Strand herrschenden Feuchtigkeit und den Bocadillos, die, da bin ich mir sicher, seine tägliche Ernährung bilden, nur schlecht verträgt. Wie lebt er also? Ich weiß nur, dass er tagsüber einem Zombie gleicht, der vom Meer hoch zu dem kleinen umfriedeten Bereich und von dort zurück ans Meer stapft. Das ist alles. Obwohl es auch für ihn eine Essenszeit geben, er sich irgendwann mit seinem Chef treffen muss, um ihm die Einnahmen zu übergeben. Weiß dieser Chef, den ich nie gesehen habe, dass der Verbrannte am Strand schläft? Weiß es, um nicht weiter auszuholen, der Wirt des Rincön de los Andaluccs? Sind El Cordero und El Lobo in das Geheimnis eingeweiht oder bin ich der Einzige, der sein Versteck entdeckt hat? Ich traue mich nicht, ihn zu fragen. Nachts tut der Verbrannte, was er will, oder versucht es wenigstens. Aber was genau tut er, von Schlafen einmal abgesehen? Er sitzt bis tief in die Nacht im Rincön de los Andaluccs, läuft am Strand entlang, hat vielleicht Freunde, mit denen er plaudert, 'Fee trinkt, sich unter seinen Gerätschaften vergräbt ... Ja, manchmal sehe ich in der Tretbootfestung eine Art Mausoleum. Solange es hell ist, hält sich der Eindruck einer Baracke; im nächtlichen Mondschein könnte man sie für ein heidnisches Hügelgrab halten. Sonst geschah in der Nacht des Vierundzwanzigsten nichts Erwähnenswertes. Wir verließen das Rincön de los Andaluccs verhältnismäßig nüchtern. Der Verbrannte und der Wirt blieben zurück; jener vor seiner 'Fasse 'Iee, dieser vor einem weiteren Westernfilm. Heute sah ich ihn wie erwartet am Strand. Ingeborg und Hanna lagen ausgestreckt neben den Tretbooten, und der Verbrannte, der drüben an einer Kufe aus Kunststoff lehnte, betrachtete den Horizont, an dem sich bloß die Silhouetten einiger seiner Kunden ab-
zeichneten. Kr drehte sich kein einziges Mal nach Ingeborg um, die nun wirklich dazu einlud, sie mit Blicken zu verschlingen. Beide Mädchen trugen neue Tangas in Orange, einer lebhaften, fröhlichen Farbe. Aber der Verbrannte vermied es, sie anzuschauen. Ich bin nicht an den Strand gegangen. Ich bin im Zimmer geblieben - wenn ich auch regelmäßig auf den Balkon oder ans Fenster trat - und habe mir mein verwaistes Spiel angeschaut. Wie man weiß, ist Liebe eine Leidenschaft, die auf Ausschließlichkeit angelegt ist, obwohl ich in meinem Fall hoffe, dass sich die Liebe zu Ingeborg mit meiner Spielleidenschaft in Finklang bringen lässt. Nach den in Stuttgart gemachten Plänen müsste ich um diese Zeit meine strategische Variante bereits zur Hälfte entwickelt und aufgeschrieben haben, zumindest den Entwurf, den wir in Paris vorstellen wollen. Stattdessen habe ich noch kein Wort geschrieben. Wenn Conrad mich sähe, würde er sich über mich lustig machen. Aber Conrad muss begreifen, dass ich Ingeborg in unserem ersten gemeinsamen Urlaub nicht links liegenlassen kann, um mich mit Leib und Seele der Variante zu widmen. Trotzdem habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sie bis zu unserer Rückreise nach Deutschland fertigzubekommen. Am Nachmittag geschah etwas Merkwürdiges. Ich saß im Zimmer, als ich plötzlich den Klang eines Horns vernahm. Ich kann es nicht beschwören, aber eigentlich bin ich schon imstande, den Klang eines I lorns von anderen Klängen zu unterscheiden. Merkwürdig war, dass ich im gleichen Moment, wenn auch vage, an Sepp Dietrich dachte, der einmal vom I Iorn der Gefahr gesprochen hatte. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass es keine Einbildung war. Sepp behauptete, es zweimal gehört zu haben, und beide Male besaß die geheimnisvolle Musik die Kraft, sich gegen eine fürchterliche körperliche Erschöpfung durchzusetzen, das erste Mal in Russland, das zweite Mal in der Normandie. Das I Iorn, so Sepp, der damals eine Armee befehligte, nachdem er als Laufbursche und Fahrer angefangen hatte, ist der Weckruf der Ahnen, die Stimme des Blutes, die dich warnt. Ich saß wie gesagt da und ließ die Gedanken schweifen, als ich es plötzlich zu hören glaubte. Ich stand auf und trat hinaus
auf den Balkon. Draußen dröhnte nur der übliche Nachmittagslärm; man hörte nicht einmal das Rauschen des Meeres. Im Flur dagegen herrschte eine aufgedunsene Stille. Tönte das I Iorn also in meinem Kopf? Tönte es, weil ich an Sepp Dietrich dachte oder weil es mich vor einer Gefahr warnen sollte? Wenn ich mich recht entsinne, dachte ich auch an Hausser und Bittrich und Meindl ... Tönte es also für mich? Und wenn ja, vor welcher Gefahr wollte es mich warnen? Als ich Ingeborg davon erzählte, riet sie mir, nicht so viel im Zimmer herumzusitzen. Sie meinte, wir sollten uns für die vom Hotel angebotenen Jogging- und Gymnastik-Kurse anmelden. Arme Ingeborg, sie versteht gar nichts. Ich habe versprochen, darüber mit Frau Klse zu sprechen. Vor zehn Jahren gab es hier solche Kurse noch nicht. Ingeborg sagte, sie kümmere sich darum, uns anzumelden, es sei nicht nötig, dass ich mit Frau Else über eine Sache spräche, die man an der Rezeption erledigte. Ich stimmte zu, sie solle tun, was sie für richtig halte. Vor dem Zubettgehen habe ich zwei Dinge getan, nämlich: 1. Ich habe die Panzerverbände für den Blitzkrieg gegen Frankreich aufgestellt. 2. Ich bin auf den Balkon getreten und habe nach einem Licht am Strand Ausschau gehalten, das auf die Anwesenheit des Verbrannten hingewiesen hätte, aber es war alles dunkel.
26. August
Ich bin Ingeborgs Anweisungen gefolgt. Heute habe ich mehr Zeit als sonst am Strand verbracht. Mit dem Ergebnis, dass meine Schultern rot sind von der vielen Sonne und ich mir am Nachmittag eine Creme kaufen musste, um meine brennende Haut zu lindern. Natürlich waren wir an unserem Platz neben den Tretbooten, und weil es nichts anderes zu tun gab, habe ich mich mit dem Verbrannten unterhalten. Jedenfalls hat uns der Tag einige Informationen beschert. Die wesentlichste ist, dass Charly gestern in Gesellschaft von El Lobo und El Cordero ein kolossales Besäufnis abgehalten hat. Mit einem Stoßseufzer sagte Hanna zu Ingeborg, sie wisse nicht, was tun, ob sie ihn verlassen solle oder nicht. Der Wunsch, allein zurück nach Deutschland zu fahren, begleite sie unentwegt; sie vermisse ihr Kind; sie sei müde und habe es satt. Ihr einziger Trost sei ihre perfekte Bräune. Ingeborg betont, alles hänge davon ab, ob sie Charly wahrhaftig liebe oder nicht. Hanna weiß darauf keine Antwort. Die andere Nachricht ist, dass der Geschäftsführer des Costa Brava sie aufgefordert hat, das I lotel zu verlassen. Offenbar haben Charly und die Spanier versucht, den Nachtportier zu schlagen. Obwohl ich ihr heimlich Zeichen machte, hat ihr Ingeborg vorgeschlagen, sie sollten ins Del Mar umziehen. Zum Glück will I lanna den Geschäftsführer bewegen, sich die Sache noch einmal zu überlegen oder ihr andernfalls das Geld zurückzugeben, das sie im Voraus bezahlt haben. Ich nehme an, es wird mit ein paar Erklärungen und Entschuldigungen getan sein. Auf Ingeborgs Frage, wo sie sich zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung befunden habe, antwortet Hanna, sie habe schon geschlafen. Charly erschien erst gegen Mittag am Strand, noch ziemlich angeschlagen, sein Surfbrett im Schlepptau. Als Hanna ihn sah, flüsterte sie Ingeborg ins Ohr: »Fr bringt sich um.«
Charlys Version klingt völlig anders. Außerdem lassen ihn der Geschäftsführer und seine Drohungen kalt. Mit einem Schlafzimmcrblick, ganz so, als sei er gerade aufgestanden, sagte er: »Wir können in El Lobos Wohnung umziehen. Billiger und authentischer. So lernst du mal das echte Spanien kennen.« Und er zwinkerte mir zu. Das ist nur zum Teil scherzhaft gemeint, Kl Kobos Mutter vermietet im Sommer Fremdenzimmer, mit oder ohne Halbpension und zu günstigen Preisen. Einen Moment lang sieht es so aus, als würde 1 lanna anfangen zu weinen. Ingeborg greift ein und beruhigt sie. Im gleichen spöttischen Ton fragt sie Charly, ob sich El Lobo und Fl Cordero nicht in ihn verlieben werden. Aber die Frage ist ernst gemeint. Charly lacht und sagt nichts. Daraufhin sagt I lanna, die sich wieder gefangen hat, sie sei es, die El 1 ,obo und El Cordero ins Bett kriegen wollten. »Letzte Nacht haben sie mich dauernd angefasst«, sagt sie mit einer eigenartigen Mischung aus Koketterie und Gekränktheit. »Du siehst halt gut aus«, erklärt Charly gelassen. »Ich hätte es auch versucht, wenn wir uns nicht schon kennen würden.« Plötzlich verlagert sich das Gespräch auf so abseitige T h e m e n wie die Diskothek 33 in Überhausen und Deutsche Post und Telefon. Hanna und Charly werden sentimental bei dem Gedanken an Orte, die für sie mit romantischen Erinnerungen verbunden sind. Trotzdem fangt Hanna nach einer Weile wieder an: »Du bringst dich um.« Charly setzt den Vorwürfen ein Ende, indem er sich sein Surfbrett schnappt und es ins Meer schiebt. Meine Unterhaltung mit dem Verbrannten kreiste anfangs um Tragen wie: Ob man ihm schon mal ein Tretboot geklaut habe, ob die Arbeit anstrengend sei, ob es nicht langweilig sei, so viele Stunden unter dieser unbarmherzigen Sonne zuzubringen, ob er Zeit zum Essen finde, ob er wisse, welche von den Ausländern seine besten Kunden seien usw. Die ziemlich wortkargen Antworten lauteten: Zweimal habe man ihm ein Tretboot geklaut oder besser gesagt am
anderen Ende des Strands liegen gelassen; die Arbeit sei nicht anstrengend; manchmal langweilig, aber nicht sehr; er ernähre sich, wie ich vermutet hatte, von Bocadillos; er habe keine Ahnung, welche Nationalität die meisten Tretboote ausleihe. Ich ließ die Antworten gelten und ertrug die sich anschließenden Minuten des Schweigens. Zweifellos war er ein Mensch, der es nicht gewohnt war, sich zu unterhalten, außerdem ziemlich misstrauisch, wie mir seine schiefen Blicke verrieten. Wenige Schritte entfernt absorbierten Ingeborgs und I lannas glänzende Körper die Strahlen der Sonne. Daraufhin sagte ich unvermittelt, ich wäre lieber im Hotel geblieben. Er sah mich ohne Neugier an und betrachtete weiter den Horizont, wo seine Tretboote von denen anderer Verleiher ununterscheidbar wurden. In der Ferne bemerkte ich einen Windsurfer, der ein ums andere Mal das Gleichgewicht verlor. An der Farbe des Segels erkannte ich, dass es sich nicht um Charly handelte. Ich sagte, meine Sache seien die Berge, nicht das Meer. Ich mag das Meer, aber die Berge sind mir lieber. Der Verbrannte gab keinen Kommentar. Wieder schwiegen wir eine Weile. Ich spürte, dass die Sonne meine Schultern versengte, rührte mich aber nicht und unternahm nichts, um mich zu schützen. Im Profil sah der Verbrannte wie jemand anders aus. Nicht, dass er weniger entstellt gewirkt hätte (gerade seine entstelltere Seite wandte er mir zu), er sah bloß wie ein anderer aus. Ferner. Wie eine Büste aus Bimsstein, umrahmt von dichtem, dunklem I laar. Ich weiß nicht, was mich zu dem Geständnis verleitete, Schriftsteller sein zu wollen. Der Verbrannte wandte den Kopf und sagte nach kurzem Zögern, das sei ein interessanter Beruf. Ich ließ es ihn wiederholen, weil ich erst dachte, ich hätte mich verhört. »Aber nicht von Romanen oder Theaterstücken«, fügte ich hinzu. Der Verbrannte öffnete den Mund und sagte etwas, das ich nicht verstand. »Wie?« »Dichter?« »Nein, natürlich nicht, Dichter nicht.«
Da er mir nun schon die Gelegenheit gegeben hatte, präzisierte ich, dass ich Lyrik durchaus nicht verachtete. Verse von Klopstock oder Schiller hätte ich auswendig hersagen können; aber heutzutage Verse zu schreiben, außer solche an die Geliebte, wäre einigermaßen nutzlos, ob er das nicht auch fände? »Oder grotesk«, sagte der arme Kerl und nickte. Wie jemand, der so entstellt war, etwas als grotesk bezeichnen konnte, ohne es sofort auf sich zu beziehen? Unbegreiflich. Jedenfalls setzte der Eindruck, dass der Verbrannte heimlich grinste, noch eins drauf. Vielleicht waren es seine Augen, die diesen Schatten eines I „ächelns warfen. Selten schaute er mich an, aber wenn doch, sah ich in ihnen ein triumphierendes, selbstbewusstes Funkeln. »Fachautor«, sagte ich. »Schöpferischer Essayist.« Daraufhin entwarf ich vor ihm in groben Zügen ein Panorama der Welt der wargames mit ihren Zeitschriften, Wettkämpfen, Ortsgruppen usw. In Barcelona gebe es zum Beispiel mehrere Vereine, und obwohl ich nicht wisse, ob ein Verband existiere, würden die spanischen Spieler inzwischen ziemlich aktiv bei europäischen Turnieren mitmischen. In Paris hätte ich einige kennengelernt. »Eine Sportart, die im Kommen ist«, bekräftigte ich. Der Verbrannte ließ sich meine Worte durch den Kopf gehen, stand dann auf, um ein Tretboot in Empfang zu nehmen, das gerade anlandete; mühelos zog er es in den umfriedeten Bereich. »Ich habe mal von Leuten gelesen, die mit Bleisoldaten spielen«, sagte er. »Gar nicht lange her, glaube ich, zu Beginn des Sommers ...« »Ja, das ist vergleichbar. Wie Rugby und American Football. Aber Bleisoldaten interessieren mich nicht so, obwohl sie nett sind ... hübsch ... kunstvoll ...«, lachte ich. »Ich bevorzuge Brettspiele.« »Und über was schreibst du?« »Über alles Mögliche. Nenn mir irgendeinen Krieg oder irgendeine Schlacht, und ich sage dir, wie man sie gewinnen oder verlieren kann, welche Schwächen das Spiel hat, worin der Autor recht und worin er sich geirrt hat, welche Mängel seine Erfindung auf-
weist, welche Rangfolge die richtige ist und wie die ursprüngliche Schlachtordnung aussah ...« Der Verbrannte schaut zum 1 lorizont. Mit dem großen Zeh bohrt er eine Kuhle in den Sand. Hanna ist hinter uns eingeschlafen, und Ingeborg liest die letzten Seiten ihres Florian-Linden-Krimis; als sich unsere Blicke kreuzen, lächelt sie und haucht mir einen Kuss zu. Mir schießt die Frage durch den Kopf, ob der Verbrannte eine Freundin hat. Oder hatte. Welches Mädchen könnte imstande sein, diese grausige Maske zu küssen? Aber ich weiß schon, für alles gibt es Frauen. Nach einer Weile: »Du scheinst dich gut zu amüsieren«, sagte er. Ich hörte seine Stimme, als käme sie aus weiter Ferne. Uber der Meeresoberfläche staute sich das Licht und bildete eine Art Wand, die wuchs, bis sie an die Wolken stieß. Die bewegten sich - prall, schwer, von der Farbe schmutziger Milch - unmerklich auf die nördliche Landzunge zu. Unterhalb der Wolken näherte sich ein Fallschirm, von einem Motorboot gezogen, dem Strand. Ich sagte, mir sei ein bisschen schlecht. Sagte, das müsse an der unerledigten Arbeit liegen, meine Nerven würden mich so lange triezen, bis ich den letzten Punkt gesetzt hätte. Ich erläuterte, so gut ich konnte, dass man als Fachautor einen komplizierten und umfangreichen Aufbau leisten müsse. (Das ist der wesentliche Vorteil, den die Spieler von Computex-ivargames für sich verbuchen können: Ersparnis von Raum und Zeit.) Ich gestand, dass ich seit Tagen dabei sei, in meinem Hotelzimmer ein riesiges Spiel aufzubauen, und dass ich eigentlich arbeiten müsse. »Ich habe versprochen, den Artikel Anfang September zu liefern, und du siehst ja, was ich tue, dolce vita.« Der Verbrannte ging darauf nicht ein. Ich fügte hinzu, er sei für eine Zeitschrift in den Vereinigten Staaten. »Eine unglaubliche Variante. Daraufist noch niemand gekommen.« Vielleicht hatte mich die Sonne so übermütig gemacht. Zu mei-
ncr Entlastung muss ich sagen, dass ich seit meiner Abreise aus Stuttgart mit niemand über wargames habe reden können. Andere Spieler würden mich sicher verstehen. Wir lieben es, über Spiele zu reden. Wenn ich mir auch, das ist klar, den seltsamsten Gesprächspartner ausgesucht hatte, den ich finden konnte. Der Verbrannte schien zu verstehen, dass ich, um schreiben zu können, spielen musste. »Aber so gewinnst immer du«, sagte er und bleckte seine übel zugerichteten Zähne. »Keineswegs. Wenn man allein spielt, hat man keine Möglichkeit, den Gegner durch Strategien oder Finten zu täuschen. Die Karten liegen offen auf dem 'l isch; wenn meine Variante funktioniert, dann weil es mathematisch unabdingbar ist. l'nter uns, ich habe sie bereits zweimal ausprobiert, und beide Male habe ich gewonnen, aber sie muss noch perfektioniert werden, darum spiele ich allein.« »Du musst sehr langsam schreiben«, sagte er. »Nein«, lachte ich, »ich schreibe wie der Blitz. Ich spiele sehr langsam, aber ich schreibe schnell. Man sagt, ich sei nervös, aber das stimmt nicht; man sagt das wegen der Art, wie ich schreibe. Ohne Pause!« »Ich schreibe auch sehr schnell«, murmelte der Verbrannte. »Ja, das habe ich mir gedacht.« Ich wunderte mich über meine eigenen Worte. Eigentlich hatte ich nicht einmal erwartet, dass der Verbrannte schreiben konnte. Aber als er es sagte, oder vorher, als ich es sagte, ahnte ich, dass auch er ein Schnellschreiber war. Wir sahen uns einige Sekunden lang schweigend an. Es fiel schwer, sein Gesicht lange anzusehen, aber nach und nach gewöhnte ich mich daran. Das leise Lächeln des Verbrannten hielt an, lauernd, vielleicht mokierte er sich über mich oder über unsere gerade entdeckte Gemeinsamkeit. Mir ging es immer schlechter. Ich schwitzte. Ich begriff nicht, wie der Verbrannte so viel Sonne ertragen konnte, sein verwachsenes, von narbigen Falten durchzogenes Fleisch nahm zeitweise eine gasflämmchenblaue oder gelblich-schwarze Färbung an und schien platzen zu wollen.
Trotzdem konnte er im Sand sitzen bleiben, I lande auf den Knien, Blick aufs Meer gerichtet, ohne sich das geringste Unbehagen anmerken zu lassen. Auf eine für seine sonstige Reserviertheit unübliche Art fragte er mich, ob ich ihm helfen wolle, ein gerade ankommendes Tretboot an Land zu ziehen. Ich nickte benommen. Die beiden auf dem Tretboot, ein italienisches Pärchen, waren unfähig, ans Ufer zu steuern. Wir gingen ins Wasser und halfen sanft nach. Die Italiener blieben sitzen, machten Witze und taten, als würden sie über Bord gehen. Bevor sie an Land waren, sprangen sie ab. Ich fühlte mich gut, als ich sah, wie sie Hand in Hand in Richtung Paseo Marftimo um andere Badegäste herum Slalom liefen. Nachdem das Tretboot versorgt war, sagte der Verbrannte, ich sollte etwas schwimmen gehen. »Warum?« »Die Sonne schmilzt dir die 1 lirnkappen ab«, versicherte er. Ich lachte und lud ihn ein, mich zu begleiten. Wir schwammen ein Stück, nur um schnell voranzukommen, bis wir den ersten Saum von Badenden hinter uns gelassen hatten. Dann wandten wir den Blick zum Strand: Von hier, mit dem Verbrannten neben mir, sahen der Strand und die an ihm aufgereihten Menschen ganz anders aus. Als wir zurückkamen, empfahl er mir mit seltsamer Stimme, meine I laut mit Kokoscreme einzuschmieren. »Kokosnussöl und Dunkelheit«, murmelte er. Absichtlich brüsk weckte ich Ingeborg, und wir brachen auf. Am Nachmittag bekam ich Fieber. Ich sagte das Ingeborg. Sie glaubte mir nicht. Als ich ihr meine Schultern zeigte, sagte sie, ich solle mir ein feuchtes Handtuch umlegen oder kalt duschen. I lanna wartete auf sie, und sie schien es eilig zu haben, von mir loszukommen. Fine Weile lang betrachtete ich das Spiel, ohne mich zu etwas aufraffen zu können; das Licht tat meinen Augen weh, und das Summen des Hotels machte mich schläfrig. Nicht ohne Mühe raffte ich mich auf, um eine Apotheke zu suchen. Unter einer cntsetzli-
d i e n Sonne irrte ieli durch die Straßen des alten Ortskerns. Ich erinnere mich nicht, Touristen gesehen zu haben. Eigentlich kann ich mich nicht erinnern, überhaupt jemanden gesehen zu haben. Nur zwei schlafende I lunde; das Mädchen, das mich in der Apotheke bediente; einen alten Mann, der im Schatten eines Torbogens saß. Auf dem Paseo Marftimo dagegen drängten sich Menschenmassen, so dass an ein Vorwärtskommen ohne Rempeln und Schieben nicht zu denken war. In der Nähe des Hafens hatte ein kleiner Jahrmarkt begonnen, und wie hypnotisiert zog es die I>eute dorthin. Als hätten alle den Verstand verloren. I Iberall fliegende Händler mit winzigen Verkaufsständen, die der Strom der Menschen im nächsten Moment plattzuwalzen drohte. So schnell es ging, flüchtete ich mich wieder ins Straßengewirr der Altstadt und kehrte auf Umwegen ins I lotel zurück. Ich zog mich aus, schloss die Fensterläden und verteilte die Creme auf meinem Körper. Ich glühte. Als ich im Bett lag, im Dunkeln, aber mit offenen Augen, versuchte ich mir vor dem Einschlafen die Ereignisse der letzten Tage in Erinnerung zu rufen. Dann träumte ich, dass ich kein Fieber mehr hätte und mit Ingeborg in diesem Zimmer im Bett läge, jeder mit einem Buch, aber zugleich eng beisammen, ich meine: Beide in der Gewissheit, dass wir zusammen waren, obwohl beide in das jeweilige Buch vertieft, beide überzeugt, dass wir uns liebten. Dann kratzte jemand an der Tür, und kurz daraufhörten wir von draußen eine Stimme sagen: »Ich bin Florian Linden, kommen Sie schnell nach draußen, Ihr Leben ist in großer Gefahr.« Sofort ließ Ingeborg das Buch fallen (es fiel zerfleddernd auf den Teppich) und starrte zur Tür. Ich dagegen rührte mich kaum. Die Wahrheit ist, dass ich mich gerade so wohl fühlte, die Haut so kühl, dass ich dachte, es lohne sich nicht, Angst zu haben. »Ihr Leben ist in Gefahr«, wiederholte Florian Linden von immer weiter weg, wie vom anderen Ende des Flurs. Und tatsächlich hörten wir als Nächstes das Geräusch des Aufzugs und seiner Türen, die sich mit einem metallischen Schnalzen öffneten und wieder schlössen und Florian Linden ins Erdgcschoss entließen. »Er ist zum Strand oder zum Jahrmarkt
gegangen«, sagte Ingeborg, während sie sich hastig anzog, »ich muss ihn finden, warte hier auf mich, ich muss mit ihm reden.« Natürlich machte ich keine Einwände. Aber als ich allein war, konnte ich nicht weiterlesen. »Wie kann jemand eingeschlossen in diesem Zimmer in Gefahr sein?«, fragte ich laut. »Was bildet sich dieser Westentaschendetektiv ein?« Mit wachsender Erregung trat ich ans Fenster und suchte den Strand ab, wo ich erwartete, Ingeborg und Florian Linden zu sehen. Es wurde Abend, und nur der Verbrannte war dort und versorgte seine Tretboote unter roten Wolken und einem Mond von der Farbe eines Tellers kochend heißer Linsen, bekleidet nur mit kurzen Hosen und ohne Augen für seine Umgebung, für das Meer, für den Strand, für die Ufermauer des Paseo Marftimo und die Schatten der I lotcls. Einen Moment lang packte mich die Angst; ich wusste, dort lauerten Gefahr und Tod. Schweißgebadet wachte ich auf. Das Fieber war verschwunden.
27. August
An diesem Morgen, nachdem ich die ersten zwei Runden geschafft und aufgeschrieben hatte, womit ich die Aufsätze von Ben jamin Clark (Waterloo, No. 14) und von Jack Corso (TheGeneral No. 3, Vol. 17) zu Makulatur machen werde, die beide davon abrieten, im ersten Jahr mehrere Fronten zu eröffnen, ging ich hinunter in die Hotelbar, fröhliche Beute einer glänzenden Laune, mit einem Gefühl unbändiger Lust zu lesen, zu schreiben, zu trinken, zu lachen, und was der sichtbaren Zeichen von Gesundheit und 1 Lebensfreude mehr sind. Meist trifft man morgens an der Bar nicht viele Gäste, weshalb ich einen Roman und die Mappe mit den Kopien der für meine Arbeit unverzichtbaren Artikel mitnahm. Bei dem Roman handelte es sich um Wally, die Zweiflerin von K.G., aber ob die innere Erregung, meine Freude über den ergiebigen Vormittag, daran schuld war, jedenfalls wurde es mir unmöglich, mich auf das Buch oder die Artikel zu konzentrieren, die ich, offen gestanden, in der Luft zerreißen wollte. So begnügte ich mich damit, das Kommen und Gehen zwischen Restaurant und Terrasse zu beobachten und mir mein Bier schmecken zu lassen. Als ich eben auf mein Zimmer zurückkehren wollte, wo ich mit etwas Glück den Entwurf der dritten Runde hätte zu Papier bringen können (Frühjahr 1940, zweifellos eine der wichtigsten), erschien Frau Else. Als sie mich sah, lächelte sie. Es war ein seltsames Lächeln. Anschließend löste sie sich aus einer Gruppe von Gästen, ich würde sagen, sie ließ sie mitten im Satz stehen, und setzte sich an meinen l isch. Sie sah müde aus, was ihren regelmäßigen Gesichtszügen, ihren strahlenden Augen aber keinen Abbruch tat. »Habe ich nie gelesen«, sagte sie, während sie das Buch musterte. »Ich weiß nicht mal, wer das ist. Was Modernes?« Ich schüttelte lächelnd den Kopf; der Autor sei aus dem neun-
zehnten Jahrhundert. Ein Toter. Einen Moment lang fixierten wir einander, ohne den Blick zu senken oder mit Worten abzuschwächen. »Worum geht es? Erzählen Sie es mir.« Sie wies auf den Roman von G. »Wenn Sie wollen, leihe ich Ihnen das Buch.« »Ich habe keine Zeit zum Lesen. Nicht im Sommer. Aber Sie können es mir erzählen.« Ihre noch immer sanfte Stimme nahm einen befehlenden Ion an. »Es ist das Tagebuch eines Mädchens. Wally. Das sich am Ende umbringt.« »Das ist alles? Wie schrecklich.« Ich lachte: »Sie wollten eine Zusammenfassung. Nehmen Sie's. Sie werden es mir schon zurückgeben.« Nachdenklich nahm sie das Buch. »Kleine Mädchen schreiben gern in ihre Tagebücher ... Ich hasse dieses Pathos ... Nein, ich werde es nicht lesen. Haben Sie nichts Fröhlicheres?« Sie öffnete die Mappe mit den fotokopierten Artikeln. »Das ist etwas anderes«, beeilte ich mich zu sagen. »Nichts Wichtiges!« »Das sehe ich. Sie lesen Englisch?« »Ja.« Sie nickte anerkennend mit dem Kopf. Dann schloss sie die Mappe, und eine Weile lang schwiegen wir beide. Die Situation war ziemlich peinlich, zumindest für mich. Am ungewöhnlichsten fand ich, dass sie es offenbar nicht eilig hatte. Ich suchte fieberhaft nach einem Gesprächsthema, aber mir fiel keins ein. Plötzlich erinnerte ich mich an eine Szene von vor zehn oder elf Jahren: Frau Fl sc entfernte sich von den Besuchern eines Fests zu Ehren von ich weiß nicht wem, überquerte den Paseo Marftimo und verschwand am Strand. Damals standen am Paseo noch keine Laternen wie heute, und schon nach zwei Schritten betrat man eine Zone völliger Finsternis. Ich weiß nicht, ob noch jemand ihrer Flucht
gewahr wurde, ich glaube nicht, das Fest war laut, und alle tranken und tanzten auf der Terrasse, sogar Passanten, die zufällig vorbeikamen und nichts mit dem Hotel zu tun hatten. Auf alle Fälle gab es außer mir niemand, der sie vermisste. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis sie wieder auftauchte; ich vermute, sehr lange. Als sie zurückkam, war sie nicht mehr allein. Bei ihr, sie an der I land haltend, war ein großer, sehr dünner Mann in einem weißen I lemd, das im Wind flatterte, als befänden sich darin nur Knochen, besser gesagt: ein einziger Knochen, lang wie ein Fahnenmast. Als sie den Paseo überquerten, erkannte ich ihn, es war der Besitzer des I lotels, der Mann von Frau Else. Als sie an mir vorbeiging, grüßte sie mich mit einigen Worten auf Deutsch. Nie habe ich ein so trauriges Lächeln gesehen. Jetzt, zehn Jahre später, lächelte sie genauso. Ohne nachzudenken, sagte ich, ich fände, sie sei eine wunderschöne Frau. Frau Else sah mich an, als hätte sie mich nicht richtig verstanden, dann lachte sie, aber ganz leise, auf eine Art, dass man am Nachbartisch größte Mühe gehabt hätte, sie zu hören. »Stimmt«, sagte sie; die Angst, mich lächerlich zu machen, die ich sonst in ihrer Gegenwart empfand, war verflogen. Plötzlich ernst, vielleicht weil sie verstand, dass es auch mir ernst war, sagte sie: »Sie sind nicht der Einzige, der das findet, l do; ich muss es wohl sein.« »Und sind es immer gewesen«, sagte ich, einmal in Fahrt, »wobei ich mich nicht nur auf ihre ohnehin offensichtliche körperliche Schönheit beziehe, sondern auf ihre ... Ausstrahlung; die Aura, die ihre unscheinbarsten Handlungen umgibt... Ihr Schweigen ...« Frau Flse lachte, diesmal offen, als hätte sie einen Witz gehört. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich lache nicht über Sie.« »Nicht über mich, über meine Worte«, sagte ich ebenfalls lachend und keineswegs beleidigt. (Eigentlich war ich doch ein wenig beleidigt.) Diese I Ialtung schien Frau Flse zu gefallen. Ich dachte, ich hätte
unabsichtlich an eine verborgene Wunde gerührt. Ich stellte mir Frau Flse vor, von einem Spanier umworben, vielleicht verstrickt in eine heimliche Beziehung. Zweifellos ahnte der Fhemann etwas und litt; sie, unfähig, den Geliebten aufzugeben, besaß ebenso wenig die Kraft, den Fhemann zu verlassen. Gefangen in beiderseitiger Treue gab sie ihrer eigenen Schönheit die Schuld an ihrer Qual. Ich sah Frau Flse wie eine Flamme, die Flamme, die uns leuchtet, auch wenn sie sich bei dieser Aufgabe verzehrt und stirbt, usw. Oder wie ein Wein, der, indem er sich mit unserem Blut vermischt, als Wein verschwindet. Schön und unerreichbar. Und im Exil... Letzteres ihre geheimnisvollste Eigenschaft. Ihre Stimme riss mich aus meinen Grübeleien: »Wie es scheint, sind Sie weit weg.« »Ich habe an Sie gedacht.« »Um Himmels willen, Udo, ich werde gleich rot.« »Ich habe daran gedacht, wie Sie vor zehn Jahren waren. Sie haben sich überhaupt nicht verändert.« »Und wie war ich vor zehn Jahren?« »So wie jetzt. Magnetisch. Aktiv.« »Aktiv ja, notgedrungen, aber magnetisch?« Wieder flatterte ihr kameradschaftliches Lachen durchs Restaurant. »Doch, magnetisch; erinnern Sic sich an jenes Fest auf der Terrasse, als Sie zum Strand gegangen sind?... Der Strand war finster wie ein Ofenloch, trotz der vielen Lichter auf der Terrasse. Nur ich hatte Ihre Abwesenheit bemerkt und wartete darauf, dass Sie wiederkämen. Dort auf den Stufen. Nach einer Weile kehrten Sie zurück, aber nicht allein, sondern in Begleitung Ihres Mannes. Im Vorbeigehen lächelten Sic mir zu. Sie waren sehr schön. Ich erinnere mich nicht, gesehen zu haben, dass Ihr Mann Ihnen gefolgt ist, woraus ich schließe, dass er schon vorher am Strand gewesen sein muss. Diese Art von Magnetismus meine ich. Sie ziehen Menschen an.« »Lieber Udo, ich kann mich kein bisschen an dieses Fest erinnern; es gab so viele, und es ist ewig her. In Ihrer Geschichte bin jedenfalls ich diejenige, die angezogen wird. Und zwar von meinem Mann, da gibt es kein Vertun. Wenn Sie sagen, dass Sie ihn nicht
haben hinausgehen sehen, deutet das daraufhin, dass er schon am Strand war, aber wenn der Strand, wie Sie sagen, und darin gebe ich Ihnen völlig recht, stockfinster war, konnte ich nicht wissen, dass er sich dort befand, weshalb es sein Magnetismus gewesen sein muss, der mich angezogen hat, als ich zum Strand ging, nicht wahr?« Ich wollte nicht antworten. Zwischen uns gab es mittlerweile eine gemeinsame Wellenlänge, die, obwohl Frau Else sie zu zerstören versuchte, Entschuldigungen erübrigte. »Wie alt waren Sie damals? Es ist normal, dass sich ein Fünfzehnjähriger von einer etwas älteren Frau angezogen fühlt. Ehrlich gesagt kann ich mich kaum an Sie erinnern, Udo. Meine ... Interessen lagen woanders. Ich vermute, ich war ein dummes Mädchen, wie alle, und ziemlich unsicher. Ich mochte das I lotel nicht. Natürlich habe ich sehr gelitten. Aber gut, alle Ausländerinnen leiden am Anfang sehr.« »Für mich war es ziemlich ... schön.« »Machen Sie nicht so ein Gesicht, Udo.« »Was für ein Gesicht?« »Ein Gesicht wie ein geprügeltes Walross.« »Das sagt Ingeborgauch immer.« »Wirklich? Glaube ich nicht.« »Nein, sie benutzt andere Worte. Aber es geht in dieselbe Richtung.« »Sie ist ein hübsches Mädchen.« »Das ist sie.« Plötzlich verfielen wir wieder in Schweigen. Die Finger ihrer linken I land begannen auf der Kunststoffobcrflächc des Tischs zu trommeln. Ich hätte gern nach ihrem Mann gefragt, den ich noch nicht einmal von weitem gesehen hatte und von dem ich ahnte, dass er einen maßgeblichen Anteil an dem hatte, was, unbenennbar, Frau Else ausstrahlte, aber dazu kam ich nicht mehr. »Warum reden wir nicht über etwas anderes? Reden wir über Literatur. Oder besser, Sie reden über Literatur, und ich höre zu. Ich habe keine Ahnung, was Bücher betrifft, aber ich lese gern, glauben Sie mir.«
Es kam mir so vor, als würde sie sich über mich lustig machen. Ich machte eine ablehnende Kopfbewegung. Die Augen von Frau Else schienen sich in meine Haut zu bohren. Ich war mir sogar sicher, dass ihre Augen die meinen suchten, wie um darin meine intimsten Gedanken zu lesen. Gleichwohl speiste sich dieser Blick aus so etwas wie Liebenswürdigkeit. »Dann sprechen wir über Kino. Mögen Sie Kino?« Sie fasste mich bei den Schultern. »1 leute Abend läuft im Fernsehen ein Film mit Judy Garland. Ich liebe Judy Garland. Sic auch?« »Ich weiß nicht. Ich habe noch nichts von ihr gesehen.« »I laben Sic nie den Zauberer von Oz gesehen?« »Doch, aber als Zeichentrickfilm, ich erinnere mich nur an einen Zeichentrickfilm.« Sic machte ein enttäuschtes Gesicht. Aus einer Ecke des Restaurants kam sehr leise Musik. Wir schwitzten beide. »Das kann man nicht vergleichen«, sagte Frau Else. »Allerdings nehme ich an, dass Sic und Ihre Freundin nachts etwas Besseres zu tun haben, als nach unten zu kommen und im Aufenthaltsraum des Hotels Fernsehen zu gucken.« »Nicht viel. Wir gehen in Diskotheken. Letztlich langweilig.« » Tanzen Sie gut? Ja, ich bin sicher, Sie sind ein guter Tänzer. Filier von der ernsthaften und unermüdlichen Sorte.« »Wie sind die?« »Sie lassen sich nicht aus dem Konzept bringen und sind auf alles gefasst.« »Nein, so einer bin ich nicht.« »Was ist dann Ihr Stil?« »Fher tollpatschig.« Trau Else nickte und machte mit einer geheimnisvollen Miene klar, dass sie verstand. Von uns unbemerkt füllte sich das Restaurant allmählich mit den Gästen, die vom Strand zurückkamen. Im Nachbarraum saßen schon Leute am Tisch und warteten auf ihr Essen. Ich nahm an, Ingeborg würde jeden Moment kommen. »Ich mache das nicht mehr so oft; aber als ich nach Spanien kam, ging ich fast jeden Abend mit meinem Mann tanzen. Immer im glci-
chcn Lokal, weil es damals noch nicht so viele Diskotheken gab, lind weil es das modernste lind beste war. Nein, nicht hier, es befand sich in X ... Es war die einzige Diskothek, die meinem Mann gefiel. Vielleicht gerade, weil sie außerhalb lag. Das Lokal gibt es nicht mehr. Es wurde Vorjahren geschlossen.« Bei der Gelegenheit erzählte ich ihr, was sich bei unserem letzten Diskothekenbesuch ereignet hatte. Krau Else hörte sich alles an und verzog keine Miene, auch nicht, als ich haarklein von dem Streit zwischen dem Kellner und dem Typ mit dem Prügel berichtete, der in einer Massenschlägerei endete. Sie schien sich mehr für den Teil der Geschichte zu interessieren, der von unseren spanischen Begleitern Kl 1 ,obo und Kl Cordero handelte. Ich dachte, sie würde sie kennen oder von ihnen gehört haben, und fragte sie das. Nein, sie kannte sie nicht, aber sie waren vielleicht keine passende Gesellschaft für ein junges Paar, das seinen ersten gemeinsamen Urlaub, um nicht zu sagen, seinen Honigmond verlebt. Aber auf welche Weise hätten sie uns dazwischenfunken können? Über Krau Elses Gesicht huschte ein Ausdruck der Besorgnis. Wusstc sie vielleicht etwas, das ich nicht wusste? Ich sagte, El Lobo und Kl Cordero seien eher Freunde von Charly und I lanna als meine, und in Stuttgart würde ich viel üblere Typen kennen. Das war natürlich gelogen. Schließlich versicherte ich, die Spanier würden mich nur interessieren, weil ich mit ihnen meine Sprachkenntnisse auffrischen konnte. »Sie müssen an Ihre Kreundin denken«, sagte sie. »Sie müssen nett zu ihr sein.« Etwas wie Abscheu trat in ihre Züge. »Keine Sorge, uns wird nichts geschehen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch und weiß, mit welchen Leuten ich mich wie weit einlassen kann. Übrigens sind diese Kontakte Ingeborg sympathisch. Ich vermute, dass sie nicht oft mit solchen Leuten zu tun hat. Selbstverständlich nimmt keiner von uns beiden sie irgendwie ernst.« »Aber sie sind real.« Ich war versucht zu sagen, dass mir in diesem Moment alles irreal erschien: Kl Lobo und Kl Cordero, das Hotel und der Sommer, der Verbrannte, den ich gar nicht erwähnt hatte, und die Touris-
ten; alles außer ihr, außer Frau Else, magnetisch und einsam; aber glücklicherweise hielt ich den Mund. Es hätte ihr sicher nicht gefallen. Wir saßen noch einen Moment schweigend da, obwohl ich mich ihr in diesem Schweigen näher fühlte denn je. Dann erhob sie sich, was ihr sichtlich schwer fiel, gab mir die Hand und ging. Als ich mit dem Aufzug nach oben ins Zimmer fuhr, hörte ich einen l Inbekannten auf Englisch sagen, der Direktor sei krank. »Ks ist ein Jammer, Lucy, dass der Direktor krank ist«, so seine Worte. Ich war mir völlig sicher, dass er von Frau Elses Mann sprach. Auf dem Weg zum Zimmer ertappte ich mich dabei, dass ich vor mich hin murmelte: Kr ist krank, er ist krank, er ist krank ... Ks stimmte also. Die Figuren auf dem Spielbrett schienen sich aufzulösen, die Sonne fiel schräg auf den Tisch, und die Spielmarken, die die deutschen Panzerverbände darstellten, funkelten, als wären sie lebendig. I leute gab es Hähnchen mit Pommes frites und Salat, Schokoladeneis und Kaffee. Ein ziemlich trauriges Essen. (Gestern hatten wir Wiener Schnitzel und Salat, Schokoladeneis und Kaffee.) Ingeborg hat mir erzählt, dass sie mit I lanna im Stadtpark war, der hinter dem Hafen liegt, zwischen zwei Felsvorsprüngen, die steil ins Meer abfallen. Sie haben viele Fotos geschossen, Postkarten gekauft und sich für den Rückweg zu Kuß entschieden. Ein runder Morgen. Von mir habe ich kaum gesprochen. Das Stimmengewirr im Speisesaal stieg mir zu Kopf und verursachte mir leichte I belkeit. Kurz bevor wir mit Essen fertig waren, tauchte Hanna auf, bloß mit einem Bikini und einem gelben 1-Shirt bekleidet. Beim Hinsetzen warf sie mir ein etwas gezwungenes Lächeln zu, als wollte sie sich für etwas entschuldigen oder als schämte sie sich für etwas. Wofür oder worüber, war mir nicht klar. Sie trank einen Kaffee mit uns und sagte fast nichts. In Wahrheit war mir ihr Auftauchen äußerst unangenehm, aber ich hütete mich, das zu zeigen. Schließlich gingen wir zu dritt hoch aufs Zimmer, wo sich Ingeborg ihre Badesachen anzog; dann ging sie mit I lanna zum Strand.
I l a n n a fragte: »Warum verbringt Udo so viel Zeit im Zimmer?« Und nach kurzer Pause: »Das Spielbrett mit den Figuren dort auf dem Tisch, was ist das?« Ingeborg wusste nicht gleich eine Antwort; verwirrt sah sie mich an, als sei ich für die dämliche Neugier ihrer Freundin verantwortlich. Hanna wartete. Mit einer beherrschten, kühlen Stimme, die sogar mich selbst verwirrte, erklärte ich, in Anbetracht des Zustands meiner Schultern zöge ich derzeit den Schatten und die Lektüre auf dem Balkon vor. Es tut gut, betonte ich, musst du mal probieren. Erleichtert das Nachdenken. Hanna lachte, über den Sinn meiner Worte im Ungewissen. Dann fügte ich hinzu:
»Das Brett zeigt die Landkarte Europas, wie du siehst. Es ist ein Spiel. Und eine Herausforderung. Und es ist Teil meiner Arbeit.« Verwirrt stammelte Hanna, sie hätte gehört, ich würde bei den Stuttgarter Elektrizitätswerken arbeiten, und so musste ich ihr erklären, dass ich zwar nahezu mein gesamtes Einkommen von den Elektrizitätswerken bezöge, darin jedoch weder meine Berufung sähe noch meine ganze Zeit dort zubrächte; mehr noch, ein kleiner Nebenverdienst stamme aus Spielen, wie eines sich hier auf dem Tisch befände. Ich weiß nicht, ob es die Erwähnung von Geld oder der Glanz des Spielbretts und der Spielmarken war, jedenfalls näherte sich Hanna dem Tisch und begann mich allen Ernstes über die Karte auszufragen. Das war der ideale Moment, sie in die Sache einzuführen ... In dem Augenblick sagte Ingeborg, sie müssten los. Vom Balkon aus sah ich, wie sie den Paseo Marftimo überquerten und wenige Meter neben den Tretbooten des Verbrannten ihre Matten ausbreiteten. Ihre sanften, ausgesprochen weiblichen Gesten taten mir ungewöhnlich weh. Kurze Zeit fühlte ich mich schlecht, war unfähig, etwas anderes zu tun, als bäuchlings und schwitzend auf dem Bett zu liegen. Absurde Bilder gingen mir durch den Kopf und schmerzten mich. Ich wollte Ingeborg schon vorschlagen, in Richtung Süden weirerzureisen, nach Andalusien oder nach Portugal, oder ohne festes Ziel durchs spanische Inland zu fahren oder nach Marokko überzusetzen ... Dann erinnerte ich mich, dass sie am 3. September wieder arbeiten musste und mein eigener Urlaub
am 5. September endete und wir im Grunde keine Zeit hatten ... Schließlich stand ich auf, duschte und setzte mich ans Spiel. (Allgemeines zur 3. Kunde, Krühjahr 1940. Frankreich bezieht die klassische Front auf den Ilexagonen der Reihe 24 und eine zweite Kampflinie auf denen der Reihe 23. Von den vierzehn Infanteriekorps, die sich zu dem Zeitpunkt auf der europäischen Bühne befinden müssen, haben zumindest zwölf die Hexagone Q24, P24, O24, N24, M24, L24, (J23, O23 und M23 zu besetzen. Die beiden übrigen werden auf I Iexagon O22 und Hexagon P22 stehen. Von den drei Panzerkorps dürfte das eine vermutlich auf O22, das andere a u f T 2 0 und das dritte auf O23 zu finden sein. Die Reserveeinheiten werden die Kelder Q22, T21, U20 und V20 einnehmen; die Luftwaffenverbände die Luftwaffenstützpunkte auf P21 und Q20. Das britische Expeditionskorps, das im günstigsten Kall aus drei Infanterie- und einem Panzerkorps besteht - würde der Engländer mehr Truppen nach Krankreich verlegen, käme natürlich die Variante eines Direktschlags gegen Großbritannien zur Anwendung, und dafür muss das deutsche Luftlandekorps auf K28 bereitstehen -, würde sich auf die Felder N23 (zwei Infanteriekorps) und P23 (ein Infanterie- und ein Panzerkorps) verteilen. Eine defensive Variante könnte darin bestehen, die englischen Einheiten von P23 nach O23 und die französischen, ein Panzer- und ein Infanteriekorps, von O23 nach P23 zu verschieben. In jedem Fall wird das stärkste Hexagon dasjenige sein, auf dem sich das englische Panzerkorps befindet, also P23 oder O23, und über die Ausrichtung des deutschen Angriffs entscheiden. Dieser wird mit sehr wenigen Verbänden durchzuführen sein. Wenn sich das englische Panzerkorps auf P23 befindet, erfolgt der deutsche Angriff auf O24, wenn das englische Panzerkorps stattdessen auf O23 steht, muss der Angriff im Süden Belgiens bei N24 erfolgen. I lm den breakthrough sicherzustellen, muss das Luftlandekorps auf Hexagon O23 angreifen, wenn das englische Panzerkorps in P23 steht, oder auf N23, wenn es in O23 steht. Der Angriff auf die erste Verteidigungslinie wird durch zwei Panzerkorps geschehen, und der Einmarsch Aufgabe von zwei,
drei weiteren Panzerkorps sein, die je nach Standort des englischen Panzerkorps bis Hexagon O23 oder N22 vordringen und zu einem sofortigen, die Gunst der Stunde nutzenden Angriff auf O22, Paris, übergehen müssen. Um einen Gegenangriff mit mehr als doppelter Überlegenheit zu verhindern, müssen einige Luftwaffenverbände in Wartestellung gehalten werden usw.) Am Nachmittag saßen wir bei kühlen Getränken in der Campingzone und gingen anschließend Minigolf spielen. Charly war friedlicher als an den Tagen zuvor, seine Miene locker und entspannt, als wäre eine bislang unbekannte Ruhe über ihn gekommen. Wie der Schein trügen kann. Bald begann er mit der gewohnten Wirrköpfigkeit zu schwadronieren und erzählte uns eine Geschichte. Sie verdeutlicht, wie dumm er ist oder für wie dumm er uns hält oder beides. Zusammengefasst: Den ganzen lag über hatte er mit dem Surfbrett trainiert und sich irgendwann bis außer Sichtweite von der Küste entfernt. Der Clou seiner Geschichte bestand darin, dass er bei der Rückkehr zum Strand unser Städtchen mit dem Nachbarort verwechselte; die Gebäude, die Hotels, sogar die Form des Strands ließen ihn stutzen, aber er achtete nicht weiter darauf. 1 )csorientiert fragte er einen deutschen Badegast nach dem Hotel Costa Brava; dieser zeigte ihm ohne Zögern ein 1 lotel, das tatsächlich Costa Brava hieß, aber nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Costa Brava besaß, in dem Charly logierte. Trotzdem ging Charly hinein und verlangte seinen Zimmerschlüssel. Da er nicht registriert war, gab der Empfangschef ihn natürlich nicht heraus und ließ sich auch von Charlys Drohungen nicht beeindrucken. Da an der Rezeption nicht viel los war, gingen sie schließlich von Beleidigungen zur Unterhaltung über und tranken an der Bar ein Bierchen, wo sich zur Überraschung der 1 mstehenden alles aufklärte, und Charly gewann einen Freund und allgemeine Bewunderung. »Was hast du dann gemacht?«, fragte I lanna, obwohl klar war, dass sie die Antwort kannte. »Ich habe mein Brett genommen und bin zurück. Ubers Meer natürlich!«
Charly ist entweder ein Angeber der schlimmsten Sorte oder ein Schwach köpf der schlimmsten Sorte. Warum habe ich manchmal solche Angst? I nd warum scheint mein Bewusstsein, wenn die Angst am größten ist, anzuschwellen, emporzusteigen und den gesamten Planeten von oben zu betrachten? (Ich sehe Frau Flse von oben und habe Angst. Ich sehe Ingeborg von oben und weiß, dass sie mich auch sieht, habe Angst und möchte weinen.) Möchte ich vor Liebe weinen? Möchte ich in Wirklichkeit mit ihr fliehen, nicht nur aus diesem Ort und vor der Hitze, sondern auch vor dem, was die Zukunft für uns bereithält, vor der Mittelmäßigkeit, dem Absurden? Andere kommen beim Sex und mit den Jahren zur Ruhe. Charly reichen I Finnas Beine und Titten. Ihn beruhigt das. Mich dagegen zwingt Ingeborgs Schönheit, die Augen zu öffnen und meine Gelassenheit zu verlieren. Ich bin ein Nervenbündel. Ich möchte weinen und um mich schlagen, wenn ich an Conrad denke, der keinen Urlaub hat oder seinen l Irlaub in Stuttgart verbringt und noch nicht einmal ins Schwimmbad geht. Aber ich verziehe keine Miene. Und mein Puls bleibt unverändert. Ich mache keinen Mucks, obwohl es mich innerlich zerreißt. Als wir ins Bett gingen, meinte Ingeborg, Charly sei gut drauf gewesen. Wir waren bis drei Uhr morgens in einer Diskothek namens Adan's gewesen. Jetzt schläft Ingeborg, und ich schreibe am offenen Balkon und rauche eine Zigarette nach der anderen. Auch Hanna war gut drauf. Sic hat sogar zweimal mit mir Blues getanzt. Die Unterhaltung belanglos wie immer. Worüber unterhalten sich wohl 1 lanna und Ingeborg? Ist es möglich, dass sie richtige Freundinnen werden? Gegessen haben wir im Restaurant des Costa Brava, eingeladen von Charly. Paella, Salat, Wein, Eis und Kaffee. Anschließend fuhren wir in meinem Wagen zur Diskothek. Charly hatte keine Lust zu fahren, auch keine Lust zu laufen; vielleicht übertreibe ich, aber mein Eindruck war, dass er nicht einmal Lust hatte, sich zu zeigen. Noch nie habe ich ihn so still und zurückhaltend erlebt. Hanna beugte sich ständig zu ihm herüber und kiisste ihn. Ich ver-
mute, dass sie genauso ihren Sohn in Oberhausen kiisst. Bei unserer Rückkehr sah ich den Verbrannten auf der Terrasse des Rincön de los Andaluces. Die Terrasse war leer, und die Kellner schoben die 'Tische zusammen. Kin paar Jugendliche aus dem Ort lehnten an der Bar und unterhielten sich. Als ich halb im Scherz zu Charly meinte, dass dort sein Freund sei, erwiderte er grob: Mir doch egal, fahr zu. Ich glaube, er dachte, dass ich von Fl I „obo oder Fl Cordero sprach. In der Dunkelheit waren sie schwer auseinanderzuhalten. Fahr zu, fahr zu, sagten Ingeborg und Hanna.
28. August
Heute war es zum ersten Mal morgens bewölkt. Von unserem Fenster aus wirkte der Strand majestätisch und leer. Ein paar Kinder spielten im Sand, aber kurz darauf fing es an zu regnen, und eins nach dem anderen verschwand. Auch beim Frühstück im Restaurant herrschte eine andere Atmosphäre; die Leute, die wegen des Regens nicht draußen sitzen können, drängen sich an den Tischen drinnen, und die Frühstückszeit zieht sich in die Länge und bietet Gelegenheit zu neuen, raschen Freundschaften. Alle reden. Die Männer beginnen früher zu trinken. Die Frauen gehen ständig auf ihre Zimmer, um nach wetterfester Kleidung zu suchen, die sie in der Regel nicht finden. Witze werden gerissen. Nach kurzer Zeit überwiegt eine verdrießliche Stimmung. Weil man aber auch nicht den ganzen Tag im Hotel bleiben kann, werden Ausflüge organisiert: Gruppen von fünf oder sechs Personen ziehen im Schutz von Regenschirmen von Geschäft zu Geschäft und landen schließlich in einem Cafe oder in einer Kneipe mit Videospiclautomaten. Die vom Regen leergefegten, in eine andere Art Alltag versunkenen Straßen bewahren keine Erinnerung an das sonst übliche Gewimmel. Charly und I lanna platzen mitten in unser Frühstück, sie haben beschlossen, nach Barcelona zu fahren, und Ingeborg begleitet sie. Ich will nicht mit. Der heutige lag gehört nur mir. Nachdem sie fort sind, verfolge ich das Kommen und Gehen der Restaurantgäste. Frau Else lässt sich wider Erwarten nicht blicken. Auf alle Fälle ist es ein ruhiges und angenehmes Plätzchen. Ich lasse mein Gehirn arbeiten. In Gedanken gehe ich Spieleröffnungen durch, vorbereitende und sondierende Züge ... Eine allgemeine Schläfrigkeit macht sich breit. Richtig zufrieden sind plötzlich nur die Kellner. Sie haben doppelt so viel Arbeit wie an normalen Tagen,
aber sie scherzen miteinander und lachen. Ein älterer Herr neben mir meinte, sie würden über uns lachen. »Sie irren sich«, erwiderte ich. »Sie lachen, weil sie das Ende des Sommers und damit das Ende ihrer Plackerei zum Greifen nah sehen.« »In dem Fall müssten sie traurig sein. Sie werden auf der Straße stehen, die Flegel.« Mittags verließ ich das I lotel. Ich nahm den Wagen und fuhr langsam zum Rincön de los Andaluccs. Zu Fuß wäre ich schneller gewesen, aber ich hatte keine 1 -ust zu laufen. Von draußen sah die Bar aus wie jedes andere 1 ,okal mit Terrasse: angekippte Stühle, Sonnenschirme mit tropfenden Fransen. Das Leben spielte sich im Innern ab. Als hätte der Regen einen Bann gebrochen, versuchten sich Touristen und Einheimische in einem leicht katastrophischen Durcheinander an einem unendlichen und unverständlichen, mit Händen und Füßen geführten Dialog. Hinten vor dem Fernseher sah ich Fl Cordero. Er winkte mich zu sich. Ich wartete, bis ich meinen Milchkaffee bekam, und setzte mich dann an seinen l isch. Die ersten Worte waren bloß Höflichkeiten. (El Cordero klagte darüber, dass es regnete, nicht seinetwegen, sondern meinetwegen, denn ich sei ja gekommen, um sonnige Tage am Strand zu verleben, usw.) Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu sagen, dass ich im Grunde hoch erfreut war über den Regen. Nach einer Weile fragte er nach Charly. Ich sagte, er sei in Barcelona. Mit wem?, wollte er wissen. Ich staunte nicht schlecht über die Frage; gern hätte ich ihm gesagt, dass ihn das nichts anginge. Ich zögerte und entschied dann, dass es sich nicht lohnte. »Mit Ingeborg und Hanna natürlich, was glaubst du denn, mit wem ?« Der arme Kerl schien verwirrt. »Mit niemandem.« Er grinste. An die beschlagene Scheibe hatte jemand ein von einer Spritze durchbohrtes Herz gemalt. Im Hintergrund sah man den Paseo Marftimo und ein paar graue Planken. An den wenigen Tischen am Ende der Bar saßen Jugendliche, und sie waren die Einzigen, die gegenüber
den Touristen eine gewisse Distanz wahrten; eine Mauer, die sowohl die Leute, die sich an den Tresen quetschten - Familien und ältere M ä n n e r - , wie die jungen 1 -eure stillschweigend akzeptierten und die den Raum auf der Hälfte in zwei Gruppen teilte. Plötzlich fing Fl Cordero an, mir eine merkwürdige und sinnlose Geschichte zu erklären. Er sprach hastig, verstohlen, über den Tisch gebeugt. Ich verstand ihn kaum. Die Geschichte handelte von Charly und El Lobo, aber seine Worte klangen wie in einem Traum: ein Streit, eine Blondine (Hanna?), Messer, Freundschaft über alles ... »El Lobo ist ein guter Mensch, ich kenne ihn, er hat ein Herz aus Gold. Charly auch. Aber wenn sie sich betrinken, gehen im Himmel die 1 dichter aus.« Ich nickte. Mir war es egal. Ein Mädchen dicht neben uns starrte in den erloschenen Kamin, der jetzt als riesiger Aschenbecher diente. Draußen nahm der Regen zu. Kl Cordero lud mich zu einem Cognac ein. In diesem Moment erschien der Wirt und legte ein Video ein. Dazu musste er auf einen Stuhl steigen. Von dort verkündete er: »Ich mache euch jetzt ein Video an, Kinder.« Niemand beachtete ihn. »Eine faule Bande seid ihr«, sagte er wie zum Abschied. Der Film handelte von postnuklearen Motorradfahrern. >Kenn ich schon«, sagte Fl Cordero, als er mit zwei Gläsern Cognac zurückkam. Das Mädchen am Kamin begann zu weinen. Ich kann es nicht erklären, aber sie war die Einzige in der ganzen Kneipe, die nicht hier zu sein schien. Ich fragte El Cordero, warum sie weinte. »Woher weißt du, dass sie weint?«, entgegnete er, »ich sehe kaum ihr Gesicht.« Ich zuckte die Achseln; im Fernseher brachen zwei Motorradfahrer in die Wüste auf; einer der beiden war einäugig; am I lorizont ragten die Reste einer Stadt auf: die Ruine einer Tankstelle, ein Supermarkt, eine Bank, ein Kino, ein Hotel ... »Mutanten«, sagte El Cordero und drehte sich ins Profil, um ein bisschcn was zu sehen. Neben dem Mädchen am Kamin saßen noch ein zweites Mädchen und ein Junge, der ebenso gut dreizehn wie achtzehn hätte sein können. Die beiden sahen ihr beim Weinen zu und strichen ihr ab und zu über den Rücken. Das Gesicht des Jungen war von Pickeln übersät; er flüsterte dem Mädchen etwas ins Ohr, so als woll-
tc er sie eher von etwas überzeugen als sie trösten, während er aus dem Augenwinkel die besonders brutalen Szenen des Films genau verfolgte, die übrigens in kurzen Abständen aufeinanderfolgten. Tatsächlich wandten sich die Gesichter der Jugendlichen mit Ausnahme der Weinenden automatisch dem Fernseher zu, angezogen vom Kampflärm oder der Musik, die die 1 löhepunkte des Gemetzels einleitete. Der Rest des Films interessierte sie entweder nicht, oder sie hatten ihn schon gesehen. Der Regen draußen ließ nicht nach. Dann dachte ich an den Verbrannten. Wo mochte er sein? Konnte er den Tag am Strand verbringen, unter den Tretbooten vergraben? Als würde ich keine Luft bekommen, spürte ich einen Augenblick lang den Drang, nach draußen zu laufen und nachzuschauen. Allmählich nahm die Idee, ihm einen Besuch abzustatten, Gestalt an. Am meisten reizte mich, mit eigenen Augen zu sehen, was ich mir bereits ausgemalt hatte: Halb kindliches Versteck, halb Drittweltbaracke, was erwartete ich denn, unter den Tretbooten zu finden? In meiner Vorstellung sah ich den Verbrannten wie einen Höhlenbewohner neben einer Campinggaslampe hocken; bei meinem Eintreten schaute er auf und wir sähen uns an. Aber wo eintreten, durch ein Loch wie in einen Kaninchenbau? Wäre eine Möglichkeit, l'nd am Ende des Tunnels, Zeitung lesend, sähe der Verbrannte aus wie ein Kaninchen. Ein riesiges, zu Tode erschrockenes Kaninchen. Klar, wenn ich ihn nicht erschrecken wollte, müsste ich vorher rufen. Hallo, ich bin es, Udo; bist du hier, wie ich vermutet habe? ... Und wenn keiner antwortete, was dann? Ich stellte mir vor, wie ich um die Tretboote herum nach dem Eingangsloch suchte. Winzig. Mühsam kriechend passte ich hindurch ... Im Innern war es stockfinster. Warum? »Soll ich dir das Ende des Films erzählen?«, fragte El Cordero. Das Mädchen am Kamin weinte nicht mehr. Im Fernseher gräbt eine Art I lenker eine Grube, groß genug, um den Körper eines Mannes zusammen mit seinem Motorrad zu begraben. Als er damit fertig ist, lachen die Jugendlichen, obwohl die Szene etwas Unantastbares hat, eher tragisch als komisch.
Ich nickte. Wie ging er aus? »Irgendwie schafft es der I leid, mit dem Schatz aus der radioaktiven Zone herauszukommen. Ich weiß nicht mehr, ob es eine Formel zur Herstellung von künstlichem Treibstoff oder künstlichem Wasser oder dergleichen war. Ein Film wie viele andere, stimmt's?« »Ja«, sagte ich. Ich wollte zahlen, aber Fl Cordero ließ es nicht zu. »1 leute Abend zahlst du.« Er grinste. Die Vorstellung behagte mir gar nicht. Aber letztlich konnte mich keiner zwingen, mit ihnen auszugehen, obwohl ich fürchtete, dass Charly, der Idiot, sich schon mit ihnen verabredet hatte. Und wenn Charly mit ihnen ausging, dann auch Hanna; und wenn Hanna mitkam, dann wahrscheinlich auch Ingeborg. Als ich aufstand, fragte ich ganz beiläufig nach dem Verbrannten. »Keine Ahnung«, sagte Fl Cordero. »Der Typ ist ein bisschen verrückt. Willst du ihn treffen? Suchst du ihn? Wenn du willst, komme ich mit. Vielleicht ist er in der Bar von Pepe, unwahrscheinlich, dass er bei dem Regen arbeitet.« Ich sagte danke, aber das sei nicht nötig. Ich würde ihn nicht suchen. »Ein sonderbarer Vogel«, sagte El Cordero. »Wieso? Wegen seiner Verbrennungen? Weißt du, woher er sie hat?« »Nein, nicht deswegen, damit will ich nichts zu tun haben. Sondern weil er mir sonderbar vorkommt. Nein, nicht sonderbar, eher wunderlich, du weißt schon, was ich meine.« »Nein, was meinst du?« »Er hat so seine Marotten, wie alle. Wirkt irgendwie verbittert. Ich weiß nicht. Jeder hat so seine Marotten, oder? Schau dir nur Charly an, das Einzige, was ihn interessiert, ist Saufen und Windsurfen auf Teufel komm raus.« »Jetzt übertreib nicht, er hat auch noch andere Interessen.« »Frauen?«, fragte Fl Cordero mit einem maliziösen Lächeln. »I lanna sieht klassc aus, muss man zugeben, oder?« »Ja«, sagte ich. »Sic sieht nicht schlecht aus.« »Und sie hat einen Sohn?«
»Ich glaube ja«, sagte ich. »Sie hat mir ein Foto gezeigt. Ein hübsches Kind, ganz blond, sieht ihr ähnlich.« »Weiß ich nicht. Ich habe kein Foto gesehen.« Bevor ich ihm erklärte, dass ich Hanna ungefähr so gut kannte wie er, ging ich lieber. Wahrscheinlich kannte er sie in mancher Hinsicht besser als ich, es wäre also ganz überflüssig. Draußen regnete es noch immer, wenn auch nicht mehr so stark. Auf der Promenade am Paseo Marftimo waren einige Touristen in verschiedenfarbigen Jacken unterwegs. Ich setzte mich ins Auto und zündete mir eine Zigarette an. Von hieraus konnte ich die 'Tretbootfestung und den Vorhang aus D a m p f u n d Gischtsehen, den der Wind aufspannte. Durch ein Fenster der Bar schaute auch das Mädchen vom Kamin auf den Strand. Ich startete den Wagen und rollte los. Eine halbe Stunde lang fuhr ich durch den Ort. In der Altstadt war kein Vorwärtskommen. Das Wasser schäumte von den Klippen, und ein schwüler, fauliger Dunst drang ins Auto, zusammen mit den Abgasen, dem Hupen und dem Geschrei der Kinder. Endlich war ich draußen. Ich hatte I lunger, richtigen Heißhunger, aber anstatt mir etwas zu suchen, wo ich essen konnte, ließ ich das Städtchen hinter mir. Ich fuhr drauflos, ohne zu wissen, wohin. Ab und zu überholte ich Autos von Touristen mit Wohnwagen; das Wetter verhieß das nahe Ende des Sommers. Plastikplanen und dunkle Furchen überzogen das Land zu beiden Seiten der Straße; am Horizont zeichneten sich abgeplattete, kahle Hügel ab, auf die die Wolken zutrieben. Ich sah eine Gruppe von Schwarzen, die in einer Obstplantage unter den Zweigen eines Baums Schutz vor dem Regen suchten. Plötzlich tauchte eine Keramikfabrik auf. Also war das der Weg zu der namenlosen Diskothek, die wir vor Tagen besucht hatten. Ich parkte den Wagen auf dem Hof und stieg aus. Ein alter Mann sah aus seinem Verschlag wortlos zu mir herüber. Alles war verändert: Es gab keine Scheinwerfer, keine 1 lunde, kein unwirklicher Schimmer ging von den Gipsstatuen aus, auf die der Regen prasselte. Ich nahm ein paar Blumentöpfe und trat an den Verschlag des Alten.
»Achthundert Peseten«, sagte er, ohne herauszukommen. Ich kramte nach Geld und reichte ihm einen Schein. »Schlechtes Wetter«, sagte ich, während ich auf das Wechselgeld wartete und der Regen mir ins Gesicht fiel. »Ja«, sagte der Alte. Ich verstaute die Töpfe im Kofferraum und fuhr davon. Ich aß in einer Einsiedelei auf dem Gipfel eines Berges, von dem aus man den ganzen Badeort überblickt. Vor Jahrhunderten stand hier eine steinerne Festung zum Schutz vor Piraten. Vielleicht gab es das Städtchen noch nicht, als die Festung errichtet wurde. Keine Ahnung. Von der Festung sind jedenfalls nur einige mit Namen, Herzen, obszönen Zeichnungen bedeckte Steine übrig. Neben den Ruinen erhebt sich die Einsiedelei, die aus jüngerer Zeit stammt. Der Blick ist toll: Der Hafen, der Yachtclub, die Altstadt, die besseren Wohnviertel, die Campingplätze, die erste Reihe der 1 lotcls am Meer; bei gutem Wetter kann man weitere Küstenorte erkennen und, wenn man das Skelett der Festung erklimmt, im Landesinnern ein Netz aus Nebenstraßen und eine Unzahl von Dörfern und Weilern. In einem Anbau der Einsiedelei findet sich eine Art Restaurant. Ob die Betreiber einer religiösen Gemeinschaft angehören oder die Lizenz auf dem üblichen Wege erhalten haben, ist mir nicht bekannt. (Jute Köche, daraufkommt es an. Die Leute aus dem Städtchen, besonders Paare, kommen regelmäßig herauf, wenn auch nicht unbedingt, um die Landschaft zu genießen. Bei meiner Ankunft parkten unter den Bäumen etliche Autos. Einige Fahrer blieben in ihren Fahrzeugen. Andere saßen an den Tischen des Restaurants. Es herrschte fast völlige Stille. Ich machte einen Abstecher zu einer Art Aussichtsplattform mit Geländer; zu beiden Seiten standen münzbetriebene Fernrohre. Ich ging zu einem und warf fünfzig Peseten ein. Ich sah nichts. Totale Finsternis. Ich schlug ein paar Mal dagegen, dann ging ich. im Restaurant bestellte ich ein Kaninchengericht und eine Flasche Wein. Was habe ich noch gesehen? i. Einen Baum, der über den Abgrund hing. Seine gleichsam wild gewordenen Wurzeln krallten sich in die Steine und in die Luft.
(Aber so etwas sieht man nieht nur in Spanien; auch in Deutschland habe ich solche Bäume gesehen.) 2. Einen Jugendlichen, der sich am Straßenrand übergab. Seine Eltern warteten im Innern des Wagens mit britischem Kennzeichen und hatten das Radio voll aufgedreht. 3. Ein Mädchen mit dunklen Augen in der Restaurantküche der Einsiedelei. Unsere Blicke trafen sich nur ganz kurz, aber etwas an mir brachte sie zum Lachen. 4. Die Bronzebüste eines kahlen Mannes auf einem kleinen, abgelegenen Platz. Auf dem Sockel ein Gedicht in katalanischer Sprache, von dem ich nur die Worte »Boden«, »Mann«, »Tod« identifizieren konnte. 5. Eine Gruppe Muscheln suchender Jugendlicher in den Klippen am Nordrand des Städtchens. Ohne erkennbaren Grund brachen sie in regelmäßigen Abständen in Hurra- und Hochrufe aus. Ihre Schreie stiegen wie der Lärm von Trommeln aus den Felsen auf. 6. Eine Wolke von dunklem Rot, schmutzigem Blut, die von Osten her aufzog und zwischen den schwarzen Wolken, die den I limmel verbarrikadierten, wie ein Versprechen auf das Ende des Regens wirkte. Nach dem Essen kehrte ich ins I lotel zurück. Ich duschte, zog mich um und ging wieder nach draußen. An der Rezeption lag ein Brief für mich. Er war von Conrad. Ich schwankte kurz, ob ich ihn gleich lesen oder das Vergnügen der I ,ektüre auf später verschieben sollte. Ich beschloss, ihn erst nach der Begegnung mit dem Verbrannten zu lesen. Den Brief in der Tasche, steuerte ich also auf die Tretboote zu. Der Sand war feucht, obwohl es nicht mehr regnete; am Strand sah man vereinzelt schemenhafte Gestalten, die gebückt am Wasser entlangschlichen, als suchten sie nach einer Flaschenpost oder Juwelen, die das Meer zurückgegeben hatte. Zweimal wäre ich fast umgekehrt und wieder ins Hotel gegangen. Das Gefühl, mich lächerlich zu machen, kam jedoch nicht gegen meine Neugier an. Noch bevor ich dort war, hörte ich schon das Geräusch der Plane, die gegen die Schwimmkörper schlug. Ein 'lau musste sich los-
gerissen haben. Vorsichtig ging ich um die Tretboote herum. Und tatsächlich, ein loses Tau war der Grund, dass der Wind die Plane immer heftiger beutelte. Ich erinnere mich, dass sich das Tau wie eine Schlange wand. Wie eine Wasserschlange. Die Plane war durch den Regen feucht und schwer. Ohne nachzudenken, griff ich nach dem Tau und befestigte es, so gut ich konnte. »Was machst du da«, rief der Verbrannte aus dem Inneren der Tretboote. Ich machte einen Satz rückwärts. Dabei ging der Knoten wieder auf, und die Plane schnalzte wie eine mit der Wurzel ausgerissene Pflanze, wie etwas Lebendiges und Feuchtes. »Nichts«, sagte ich. Im nächsten Moment dachte ich, ich hätte hinzufügen sollen: >Wo steckst du?< Jetzt konnte der Verbrannte auf die Idee kommen, dass ich sein Geheimnis kannte und mich deshalb nicht wunderte, seine Stimme zu hören, die offensichtlich aus dem Innern kam. Zu spät. »Wie, nichts?« »Nichts«, schrie ich. »Ich kam vorbei und sah, dass sich die Plane im Wind losgerissen hat. Hast du das nicht gemerkt?« Schweigen. Ich trat entschlossen vor und band das verdammte Tau wieder fest. »Fertig«, sagte ich. »Jetzt sind die Tretboote wieder sicher. Muss nur noch die Sonne rauskommen.« Fin unverständliches Brummen drang aus dem Innern. »Kann ich reinkommen?« Der Verbrannte antwortete nicht. Einen Moment lang fürchtete ich, er würde herauskommen und mich mitten auf dem Strand anbrüllen. was zum Teufel ich wolle. Ich hätte keine Antwort gewusst. (Mir die Zeit vertreiben? Einen Verdacht überprüfen? Sitten und Gebräuche studieren?) »1 lörst du mich?«, schrie ich. »Kann ich reinkommen oder nicht?« »Ja.« Die Stimme des Verbrannten war kaum zu hören. Ich suchte angestrengt nach dem Eingang; natürlich gab es keine
Öffnung im Sand. Zwischen den schier unglaublich ineinander verkeilten Tretbooten schien es keinen Spalt zum Durchschlüpfen zu geben. Ich schaute nach oben: Zwischen der Plane und einem Schwimmkörper war genug Platz, damit ein Körper sich hineinzwängen konnte. Vorsichtig kletterte ich hinauf. »I licr hinein?«, fragte ich. Der Verbrannte grunzte etwas, das ich als Zustimmung wertete. Oben angekommen, erwies sich das Loch doch als größer. Ich schloss die Augen und ließ mich fallen. Ein Geruch von fauligem Holz und Salz schlug mir entgegen. Endlich war ich im Innern der Festung. Der Verbrannte saß auf einer ähnlichen Plane, wie sie die 'Tretboote bedeckte. Neben ihm lag ein Beutel, fast so groß wie ein Koffer. Auf einer Zeitung hatte er ein Stück Brot und eine Dose 'Thunfisch angerichtet. Wider Erwarten gab es ausreichend Licht, zumal wenn man bedachte, dass es draußen bewölkt war. Durch unzählige Löcher drang mit dem Licht auch Luft herein. Der Sand war troeken, glaubte ich wenigstens; jedenfalls war es hier drinnen kalt. Das sagte ich ihm: Kalt hier. Der Verbrannte zog eine Flasche aus dem Beutel und reichte sie mir. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Es war Wein. »Danke«, sagte ich. Der Verbrannte nahm die Flasche und trank ebenfalls; dann schnitt er einen Kanten Brot ab, teilte ihn in der Mitte und tat ein paar Brocken Thunfisch hinein, träufelte Ol darüber und aß es. Der Raum im Innern der Tretboote war ungefähr zwei Meter breit und etwas mehr als einen Meter hoch. Bald entdeckte ich weitere Dinge: ein Handtuch von unbestimmter Farbe, seine Espadrilles (der Verbrannte war barfuß), eine weitere 'Thunfischdose, leer, eine Plastiktüte mit dem Aufdruck eines Supermarkts ... Insgesamt herrschte Ordnung in der Festung. »Wundert es dich nicht, dass ich wusste, wo du steckst?« »Nein«, sagte der Verbrannte. »Manchmal helfe ich Ingeborg beim Lösen von Sachen ... Wenn sie Kriminalromane liest... Ich errate noch vor Florian Linden, wer
die Mörder sind ...« Meine Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. Nachdem er das Brot verschlungen hatte, beförderte er mit wenigen Handgriffen beide Dosen in die Plastiktüte. Seine riesigen I lande bewegten sich schnell und vollkommen geräuschlos. Verbrecherhände, dachte ich. Sekunden später war keine Spur von Essen mehr zu sehen, nur die Weinflasche stand immer noch zwischen uns. »Der Regen ... War das unangenehm für dich? ... Aber ich sehe, es geht dir gut hier ... Wenn es hin und wieder regnet, musst du glücklich sein: Heute bist du genauso Tourist wie alle anderen.« Der Verbrannte sah mich schweigend an. Ich glaubte, in seinen vermatschten Zügen einen sarkastischen Ausdruck zu erkennen. Du machst auch Urlaub?, sagte er. Ich bin heute allein, erklärte ich, Ingeborg, Hanna und Charly sind nach Barcelona gefahren. Was wollte er mit der Frage andeuten, ob ich auch Urlaub mache? Dass ich nicht an meinem Artikel schrieb? Dass ich nicht im I lotel blieb? »Wie kamst du auf die Idee, hierzu wohnen?« Der Verbrannte zuckte mit den Schultern und seufzte. »Ich verstehe schon, es muss schön sein, unter den Sternen zu schlafen, an derfrischen Luft, obwohl du von hier nicht viele Sterne sehen dürftest.« Ich lächelte und schlug mir mit der Hand an die Stirn, untypisch für mich. »Auf alle Fälle logierst du näher am Meer als irgendein Tourist. Mancher würde viel dafür bezahlen, mit dir zu tauschen!« Der Verbrannte suchte etwas im Sand. Die Zehen seiner Füße gruben sich gemächlich ein und aus; sie waren groß, unförmig und zu meiner Überraschung-obwohl es eigentlich keinen Grund gab, dass es sich anders verhielt - ohne die kleinste Verbrennung, glatt, von gesunder I laut, sogar ohne Schwielen, die offenbar der tägliche Kontakt mit dem Meer abzuschmirgeln übernahm. »Ich wüsste gern, warum du beschlossen hast, dich hier einzurichten, wie du daraufgekommen bist, dir aus den Tretbooten einen Unterschlupf zu bauen. Eine gute Idee, aber warum? Um die Miete zu sparen? Sind die Mietpreise so hoch? Entschuldige, wenn
mich das nichts angeht. Ks macht mich einfach neugierig. Wollen wir vielleicht einen Kaffee trinken gehen?« Der Verbrannte griff zur Flasche, und nachdem er sie an die Kippen gesetzt hatte, reichte er sie mir weiter. »Ks ist billig, es ist gratis«, brummte er, als ich die Flasche wieder zwischen uns stellte. »Ist es auch erlaubt? Weiß außer mir jemand, dass du hier schläfst? Der Eigentümer der Tretboote zum Beispiel, weiß er, wo du die Nächte verbringst?« »Der Eigentümer der Tretboote bin ich«, sagte der Verbrannte. Ein Lichtstrahl fiel ihm genau auf die Stirn: Das verbrannte Fleisch schien sich bei der Berührung mit dem Licht aufzuhellen, zu bewegen. »Sie sind nicht viel wert«, fügte er hinzu. »Alle Tretboote der Stadt sind neuer als meine. Aber sie schwimmen noch, und den Leuten gefallen sie.« »Ich finde sie großartig«, sagte ich in einem Anfall von Begeisterung. »Ich würde niemals in ein Tretboot steigen, das die Form eines Schwans oder Wikingerschiffs hat. Scheußlich. Deine dagegen finde ich ... wie soll ich sagen, klassischer. Vertrauenerweckender.« Ich kam mir bescheuert vor. »Ach was. Die neuen Tretboote sind viel schneller.« Umständlich erklärte er, dass das Verkehrsaufkommen bei Booten, Ausflugsdampfern und Windsurfern zuweilen dem auf einer Autobahn gleiche. Dadurch würde die Geschwindigkeit, die 'Tretboote bei Ausweichmanövern erreichen konnten, zu einem wichtigen Faktor. Bislang habe er keine schlimmeren Unfälle zu beklagen als Kollisionen mit Köpfen von Badenden; aber sogar darin waren die neuen Tretboote überlegen: Ein Zusammenprall mit dem Schwimmkörper eines seiner alten 'Tretboote konnte einem glatt den Schädel spalten. »Sie sind massiv gebaut«, sagte er. »Stimmt, wie Panzer.« Zum ersten Mal an diesem Nachmittag lächelte der Verbrannte.
»Daran denkst du wohl ständig«, sagte er. »Ja, ständig, ständig.« Immer noch lächelnd zeichnete er etwas in den Sand und wischte es gleich wieder weg. Überhaupt waren seine knappen Gesten rätselhaft. »Wie läuft dein Spiel?« »Bestens. Rückenwind. Ich werde alle Schemata über den Haufen werfen.« »Alle Schemata?« »Alle früheren Spielweisen. Mein System zwingt dazu, das Spiel neu zu überdenken.« Draußen war der Himmel von metallgrauer Farbe und verhieß weitere Regengüsse. Ich sagte zum Verbrannten, ich hätte vor ein paar Stunden im Osten eine rote Wolke gesehen und darin ein Vorzeichen für besseres Wetter vermutet. Später in der Bar saß El Cordero über eine Zeitung gebeugt noch am selben Tisch, an dem ich ihn zurückgelassen hatte. Als er uns sieht, winkt er uns zu sich heran. Die Unterhaltung berührt Gegenstände, die Charly gefallen hätten, mich jedoch anöden. Bayern München, Schuster, Hamburg, Rummenigge sind die T h e m e n und die Vorwände. Natürlich weiß El Cordero mehr über die Fußballclubs und Persönlichkeiten als ich. Zu meinem Erstaunen beteiligt sich der Verbrannte an der Unterhaltung (die mir zuliebe geführt wird, denn nicht von spanischen, sondern von deutschen Sportlern ist die Rede, was ich in gewisser Weise zu schätzen weiß, was mich aber zugleich misstrauisch macht) und gibt eine beachtliche Kenntnis des deutschen Fußballs zu erkennen. Auf El Corderos Frage nach unserem Uieblingsspicler, im Anschluss an meine Antwort (Schumacher, um irgendwas zu sagen) und seine eigene (Klaus Allofs), sagt der Verbrannte: »Uwe Seelcr«, den keiner von uns beiden kennt. Der und Tilkowski sind die Namen, die bei ihm den glänzendsten Eindruck hinterlassen haben. Wir, El Cordero und ich, wissen nicht, von wem er spricht. Auf unser Nachfragen antwortet er, er habe als Kind beide in einem Fußballstadion gesehen. Als ich schon glaube, der Verbrannte werde von seiner Kindheit erzählen, verstummt er plötz-
lieh. Die Stunden verstreichen, und obwohl der 'lag bewölkt ist, dauert es, bis es dunkel wird. Um acht verabschiede ich mich und gehe zurück ins Hotel. In einem Sessel im Erdgeschoss vor der Fensterfront, von der aus ich den Paseo Marftimo und einen Teil des Parkplatzes sehe, lese ich Conrads Brief. Fr schreibt: Lieber Udo: Ich habe Deine Karte bekommen. Ich hoffe, das Badengehen und Ingeborg lassen Dir Zeit, den Artikel bis zum geplanten Termin abzuschließen. Gestern haben wir zu Hause bei Wolfgang eine Partie Drittes Reich beendet. Walter und Wolfgang (Achsenmächte) gegen Franz (Alliierte) und mich (Russland). Wir spielten mit drei Parteien, und das Endergebnis war: W & W vier Kricgszicle; Franz achtzehn; ich neunzehn, unter anderem Berlin und sage und schreibe Stockholm! (Du kannst Dir vorstellen, in welchem Zustand W & W die Kriegsmarine hinterlassen haben.) Überraschungen im diplomatischen Modul: Im Herbst 1941 geht Spanien zu den Achsenmächten über. Keine Chance, die Türkei zu einem kleinen Verbündeten zu machen wegen der Diplomaticpunkte, mit denen Franz und ich nur so um uns werfen. An Alexandria und Suez ist kein Herankommen; Malta unter Dauerbeschuss, aber noch standhaft. W & W wollten einige Aspekte Deiner Mittelmeerstrategie testen. Und der von Rex Douglas. Eine Nummer zu groß für sie. Sie gingen unter. David Hablanians Spanisches Gambit kann in einem von zwanzig Fällen gelingen. Im Sommer 1940 verlor Franz Frankreich, und im Frühjahr 1941 l i e ß e r e i n e Landung in England zu! Fast alle seine Truppenteile befanden sich im Mittelmeerraum, und W & W konnten der Versuchung nicht widerstehen. Wir spielten nach der Beyma-Variante. Im Jahr 1941 rettete mich der Schnee, und dass W & W auf Teufel komm raus und mit riesigem BRP-Verbrauch Fronten bezogen-, immer waren sie in der letzten Runde eines Jahres bankrott. Was Deine Strategie betrifft: Franz sagt, sie würde sich nicht sehr von der von Anchors unterscheiden. Ich sagte, dass Du mit Anchors korrespondiert hast und zwischen Deiner und seiner Strategie keinerlei Übereinstimmung bestehe. W & W sind fest ent-
schlössen, ein riesiges DR anzuberaumen, sobald Du zurück bist. Sie haben zunächst die Europa-Serie von GDW vorgeschlagen, was ich ihnen ausgeredet habe. Ich glaube einfach nicht, dass Du einverstanden wärst, mehr als einen Monat in Folge zu spielen. Wir haben vereinbart, dass W & W, Franz und Otto Wolf die Alliierten bzw. die Russen spielen und Du und ich Deutschlands Zügel in die Hände nehmen, was meinst Du? Wir haben auch von dem Treffen in Paris vom 23. bis 28. Dezember gesprochen. Es wurde bestätigt, dass Rex Douglas persönlich kommt. Ich weiß, dass er Dich kennenlernen möchte. In Waterloo ist ein Foto von Dir erschienen: das, wo Du gegen Randy Wilson spielst, außerdem ein Bericht über unsere Stuttgarter Gruppe. Ich habe einen Brief von Matte bekommen, erinnerst Du Dich? Sie möchten einen Artikel von Dir (sie wollen auch einen von Mathias Müller bringen, unglaublich!) für eine Sondernummer über Spieler mit Spezialgebiet WW 11. Dabei sind überwiegend Franzosen und Schweizer. Weitere Neuigkeiten möchte ich Dir lieber erzählen, wenn Du aus dem Urlaub zurück bist. Was glaubst Du, welche Zielfelder W & W behalten haben? Leipzig, Oslo, Genf und Mailand. Franz wollte mir an die Gurgel. Er hat mich wirklich rund um den Tisch gejagt. Wir haben ein Gase White vorbereitet. Morgen Abend fangen wir damit an. Die Jungs von Feuersturm und Stahlgewitter haben Boots & Saddles und Bundeswehr aus der Assault-Seric entdeckt. Jetzt erwägen sie, ihre alten Squadl.eader zu verkaufen, und reden davon, eine Zeitschrift herauszubringen, die Assau/t oder Atomare Schlachten oder so ähnlich heißen soll. Ich lach mich tot. Tank ordentlich Sonne. Grüß mir Ingeborg. Fs umarmt Dich Dein Freund Conrad Der Abend im Del Mar nach dem Regen verfärbt sich zu einem golddurchwirkten Dunkelblau. Ich bleibe eine ganze Weile im Restaurant sitzen und tue nichts anderes, als mir die Leute anzuschauen, die mit müden, hungrigen Gesichtern ins Hotel zurückkehren. Trau Flse habe ich nirgends gesehen. Ich merke, dass mir kalt ist: Ich sitze im Hemd. Auch hat Conrads Brief bei mir eine
traurige Stimmung geweckt. Wolfgang ist ein Idiot: Ich denke an seine Langsamkeit, seine Unentschlossenheit beim Bewegen jeder Statusmarke, seine Phantasielosigkeit. Wenn sich die Türkei mit DP nicht kontrollieren lässt, musst du einmarschieren, du Trottel. Nick Palmer hat es tausendmal gesagt. Ich habe es tausendmal gesagt. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, kam mir der Gedanke, dass ich allein bin. Dass nur Conrad und Rex Douglas (den ich nur durch Briefe kenne) meine Freunde sind. Alles übrige ist Leere und Dunkelheit. Rufe, auf die niemand antwortet. Pflanzen. »Allein in einem wüsten Land«, fiel mir ein. In einem erinnerungslosen Europa ohne Heldentum und epische Größe. (Es wundert mich nicht, dass die Jugendlichen auf Dungeons & Dn/gons und andere Rollenspiele verfallen.) Wie ist der Verbrannte an seine Tretboote gekommen? Doch, er hat es mir gesagt. Mit den Ersparnissen aus der Weinlese. Aber wie konnte er mit dem Geld von einer Weinlese den ganzen Fuhrpark, sechs oder sieben Stück, kaufen? Es reichte für die erste Rate. Den Rest bezahlte er nach und nach. Der Vorbesitzer war alt und müde. Im Sommer verdient man nicht genug, und wenn dann noch Lohn zu zahlen ist... Da beschloss er, sie zu veräußern, und der Verbrannte kaufte sie. I Iatte er vorher schon im 'Tretbootverleih gearbeitet? Nie. Ist nicht schwer zu lernen, spottete El Cordero. Könnte ich so was auch? (Blöde Frage.) Natürlich, sagten 101 Cordero und der Verbrannte im Chor. Jeder. Im Grunde brauchte man für den Beruf bloß Geduld und ein scharfes Auge, damit man die flüchtigen Tretboote nicht aus dem Auge verlor. Man müsse nicht mal schwimmen können. Der Verbrannte kam ins I lotel. Wir gingen hoch, ohne dass uns jemand sah. Ich zeigte ihm das Spiel. Er stellte intelligente Fragen. Plötzlich erfüllte Sirenenlärm die Straße. Der Verbrannte trat auf den Balkon und sagte, der Unfall sei in der Campingzone. Was für eine Dummheit, im Urlaub zu sterben, bemerkte ich. Der Verbrannte zuckte die Schultern. Er trug ein sauberes weißes I Icmd. Von
dort, wo er stand, konnte er die unförmige Masse seiner Tretboote im Auge behalten. Ich trat neben ihn und fragte, wohin er schaue. Zum Strand, sagte er. Ich glaube, er könnte das Spiel schnell lernen. Die Stunden vergehen, und kein Lebenszeichen von Ingeborg. Bis neun habe ich im Zimmer gewartet und Züge notiert. Das Essen im Hotelrestaurant: Spargelcrcmesuppe, Cannelloni, Cafe und Eis. Auch nach Tisch ließ Frau Else sich nicht blicken. (Heute ist sie jedenfalls verschwunden.) Ich teilte den Tisch mit einem holländischen Ehepaar, beide in den Fünfzigern. Das Gespräch an unserem wie an allen anderen Tischen kreiste um das schlechte Wetter. Unter den Gästen herrschten unterschiedliche Ansichten vor, die die Kellner - mutmaßlich meteorologisch beschlagen und immerhin E i n h e i m i s c h e - z u beschwichtigen suchten. Am Ende siegte die Fraktion, die für den nächsten Tag gutes Wetter prophezeite. Um elf drehte ich eine Runde durch die verschiedenen Aufenthaltsräume im Erdgeschoss. Frau Flse traf ich nicht, und so ging ich zu Fuß ins Rincön de los Andaluces. Fl Cordero war noch nicht da, kam aber eine halbe Stunde später. Ich fragte ihn nach El Lobo. Er hatte ihn den ganzen Tag nicht gesehen. »Er wird doch nicht in Barcelona sein?«, sagte ich. El Cordero sah mich erschrocken an. Natürlich nicht, heute müsse er bis nachmittags arbeiten, was mir immer einfiele. Warum sollte der arme Kerl nach Barcelona fahren? Wir tranken einen Cognac und verfolgten einige Zeit eine Spielshow im Fernsehen. Fl Cordero verhaspelte sich beim Sprechen, woraus ich schloss, dass er nervös war. Ich weiß nicht, wie wir auf das 'Thema kamen, aber ohne dass ich ihn gefragt hätte, vertraute er mir irgendwann an, dass der Verbrannte kein Spanier sei. Möglich, dass wir über die Härten des Lebens und über Unfälle sprachen. (In der Spielshow passierten Hunderte von kleinen Unfällen, dem Anschein nach vorgetäuschte und unblutige.) Vielleicht hatte ich etwas hinsichtlich des spanischen Charakters behauptet. Vielleicht hatte ich danach über Feuer und Verbrennungen gesprochen. Keine Ahnung. Jedenfalls
sagte 101 Cordero, der Verbrannte sei kein Spanier. Was denn sonst? Südamerikaner; aus welchem Land genau, wusste er nicht. El Corderos Enthüllung traf mich wie eine Ohrfeige. Der Verbrannte war also kein Spanier. Und hatte nichts davon gesagt. Diese an sich unerhebliche Tatsache schien mir aufs höchste beunruhigend und bedeutsam. Welche Gründe konnte der Verbrannte haben, mir seine wahre Nationalität zu verheimlichen? Ich fühlte mich nicht hintergangen. Ich fühlte mich beobachtet. (Nicht vom Verbrannten, eigentlich von niemandem speziell: durch ein Loch, eine Abwesenheit.) Nach einer Weile zahlte ich die Getränke und ging. Ich hoffte, Ingeborg im I lotel zu treffen. Im Zimmer ist niemand. Ich gehe wieder nach unten: Auf der Terrasse sehe ich ein paar schemenhafte Gestalten, die wenig reden: Auf den Tresen gestützt trinkt schweigend ein alter Mann, der letzte Gast. An der Rezeption teilt mir der Nachtportier mit, dass mich niemand angerufen hat. »Wissen Sie, wo ich Frau Else finden kann?« Er weiß es nicht. Anfangs versteht er nicht einmal, von wem ich rede. Frau Else, sage ich ungehalten, die Chefin des Hotels. Der Angestellte reißt die Augen auf und schüttelt wieder den Kopf. Er hat sie nicht gesehen. Ich bedankte mich und bestellte mir an der Bar einen Cognac. Um eins beschloss ich, dass es das Beste sei, hoch und ins Bett zu gehen. Auf der Terrasse war niemand mehr, nur an der Bar hatten sich einige gerade angekommene Gäste eingefunden und scherzten mit den Kellnern. Ich kann nicht schlafen; ich bin nicht müde. Um vier Uhr morgens endlich taucht Ingeborg auf. Der Nachtportier teilt mir telefonisch mit, dass eine Senorita mich zu sehen wünsche. Ich lief nach unten. An der Rezeption stehen Ingeborg, Hanna und der Nachtportier und haben die Köpfe zusammengesteckt, was von der Treppe aus hochgradig konspirativ wirkt. Das Erste, was ich sehe, als ich bei ihnen bin, ist Hannas Gesicht: Ein Bluterguss in Violett und Rosa bedeckt ihren linken Wangenknochen und einen
Teil des Auges; ähnliche, weniger heftige Spuren sind auf ihrer rechten Wange und an der Oberlippe zu sehen. Im Übrigen weint sie ununterbrochen. Als ich nach dem Grund ihres Zustands frage, bringt Ingeborg mich abrupt zum Schweigen. Ihre Nerven liegen blank; immer wieder sagt sie, so etwas könne auch nur in Spanien passieren. Erschöpft schlägt der Nachtportier vor, einen Krankenwagen zu rufen. Ingeborg und ich beraten, aber I lanna lehnt das kategorisch ab. (Sic sagt Sachen wie: >Das ist mein Körper«, >das sind meine Verletzungen« usw.) Die Diskussion geht weiter, und Hannas Weinen wird heftiger. Bis zu diesem Moment habe ich nicht an Charly gedacht, wo ist er: Als ich ihn erwähne, kann Ingeborg nicht an sich halten, und ein Schwall von Flüchen bricht aus ihr hervor. Einen Moment lang habe ich den Eindruck, Charly sei für immer verschwunden. Unerwartet spüre ich, dass mich ein Strom der Sympathie mit ihm verbindet. Etwas, das ich nicht benennen kann und das uns beide auf schmerzliche Weise eint. Während der Nachtportier ein Erste-Hilfe-Köfferchen holt - Kompromisslösung, auf die wir uns mit Hanna geeinigt haben -, informiert Ingeborg mich über die jüngsten Ereignisse, die ich übrigens bereits geahnt hatte. Der Ausflug hätte schlimmer nicht sein können. Nach einem vordergründig normalen und ruhigen, eher zu ruhigen 'lag, der sich unter Spaziergängen durchs Barrio Götico und über die Ramblas, Fotografieren und Souvenirkäufen hinzog, bröckelte die anfängliche Behaglichkeit, bis sie vollends in die Brüche ging. Ingeborg zufolge begann alles nach dem Nachtisch: Charly erfuhr ohne äußeren Anlass eine merkliche Veränderung, als hätte etwas im Essen ihn vergiftet. Zunächst äußerte sich das in einer feindlichen Haltung Hanna gegenüber und in geschmacklosen Witzen. Einige beleidigende Worte flogen hin und her, und dabei blieb es. Die Explosion, die erste Vorwarnung, erfolgte später, nachdem 1 lanna und Ingeborg, wenn auch zähneknirschend, eingewilligt hatten, in eine Bar am Hafen zu gehen; sie würden ein letztes Bier trinken und dann zurückfahren. Ingeborg zufolge war Charly nervös und reizbar, aber nicht aggressiv. Das Ganze wäre vielleicht nicht eskaliert, wenn Hanna ihm nicht im Laufe des Gesprächs eine Sache
aus Oberhausen vorgeworfen hätte, von der Ingeborg nichts wusstc. 1 lannas Worte blieben dunkel und kryptisch; Charly hörte sich die Vorwürfe zunächst stumm an. »Sein Gesicht war weiß wie eine Wand, und er wirkte erschrocken«, sagte Ingeborg. Dann stand er auf, packte I lanna am Arm und verschwand mit ihr in der Toilette. Nervös und unsicher, was geschehen würde, bcschloss Ingeborg nach einigen Minuten, nach ihnen zu rufen. Die beiden hatten sich in der Frauentoilette eingeschlossen, leisteten Ingeborgs Stimme aber widerspruchslos Folge. Beide weinten, als sie herauskamen. I lanna sagte kein Wort. Charly bezahlte, und sie verließen Barcelona. Finc halbe Stunde später hielten sie am Rand eines der vielen Städtchen, die die Küstenstraße säumen. Die Bar, die sie betraten, hieß Mar Salada. Diesmal versuchte Charly erst gar nicht, sie zu überreden; er kümmerte sich nicht um sie und begann zu trinken. Beim fünften oder sechsten Bier brach er in Tränen aus. Ingeborg, die mit mir hatte zu Abend essen wollen, verlangte daraufhin die Karte und überredete Charly, etwas zu bestellen. Für eine Weile schien alles zur Normalität zurückzufinden. Die drei aßen zusammen und hielten, wenn auch mühsam, die Fassade einer zivilisierten Unterhaltung aufrecht. Als der Moment des Aufbruchs gekommen war, entflammte der Streit erneut. Charly war entschlossen, noch zu bleiben, und Ingeborg und Hanna wollten, dass er ihnen die Autoschliissel gab, um zurückzufahren. Ingeborg zufolge waren die Worte, die sie wechselten, »eine Sackgasse«, in der sich Charly pudelwohl fühlte. Schließlich stand er auf und tat so, als wollte er ihnen die Schlüssel geben oder sie fahren. Ingeborg und Hanna folgten ihm. Ais sie durch die Tür waren, drehte Charly sich unvermittelt um und schlug I lanna ins Gesicht. 1 lannas Reaktion bestand darin, in Richtung Strand zu laufen. Charly schoss hinter ihr her, und wenige Sekunden später hörte Ingeborg Hannas erstickte, schluchzende Schreie wie von einem kleinen Mädchen. Als sie bei ihnen ankam, schlug Charly sie nicht mehr, trat und spuckte nur von Zeit zu Zeit nach ihr. Ingeborgs erster Impuls war es, die beiden zu trennen, aber als sie ihre Freundin mit blutigem Gesicht am Boden liegen sah, verlor sie den Rest an Gelassenheit, der ihr geblieben war, und
rief um Hilfe. Natürlich kam niemand. Der Aufruhr endete damit, dass Charly im Wagen davonfuhr; Hanna, blutverschmiert, mit letzter Kraft bemüht, sich gegen ein polizeiliches oder ärztliches Eingreifen zu wehren; Ingeborg, verlassen, in unbekannter Umgebung, dafür verantwortlich, ihre Freundin von hier fortzubringen. Zum Glück kümmerte sich der Wirt der Kneipe, in der sie gewesen waren, um Hanna, half ihr, das Blut abzuwischen, ohne Fragen zu stellen, und rief dann ein 'laxi, das sie ins Hotel fuhr. Jetzt war das Problem, was Hanna tun sollte. Wo schlafen? In ihrem Hotel oder in unserem? Wäre es denkbar, dass Charly sie wieder schlug, wenn sie bei ihm im Hotel schlief? Sollte sie ins Krankenhaus gehen? Wäre es möglich, dass ihr Wangenknochen stärker verletzt war, als wir gedacht hatten? Der Nachtportier wischte die Frage vom Tisch: Seiner Ansicht nach war der Knochen heil; ein kapitaler Bluterguss, sonst nichts. Was das Schlafen betraf, so würden morgen sicher Zimmer frei werden, für diese Nacht sei leider nichts verfügbar. Hanna wirkte erleichtert, als sie sah, dass sie keine Wahl hatte. »Alles meine Schuld«, flüsterte sie. »Charly ist sehr nervös, und ich habe ihn provoziert, was soll man machen, der Mistkerl ist, wie er ist, ich kann ihn nicht ändern.« Ich glaube, Ingeborg und ich fühlten uns besser, als wir sie so reden hörten; es erleichterte die Sache. Wir bedankten uns beim Nachtporticr für seine Hilfe und brachten sie zu ihrem 1 lotel. Es war eine wunderbare Nacht. Nicht nur die Gebäude, auch die Luft hatte der Regen reingewaschen. Ein frischer Wind blies, und es herrschte vollkommene Stille. Wir begleiteten sie bis zum Eingang des Costa Brava und warteten mitten auf der Straße. Nach einer Weile erschien Hanna auf dem Balkon und teilte uns mit, dass Charly noch nicht zurück sei. »Schlaf und denk nicht darüber nach«, rief Ingeborg hoch, bevor wir zum Del Mar zurückkehrten. Auf unserem Zimmer sprachen wir über Charly und Manna (ich würde sagen, wir kritisierten sie) und schliefen miteinander. Dann griff Ingeborg nach ihrem Florian-Linden-Roman und war kurz darauf eingeschlafen. Ich ging auf den Balkon, um eine zu rauchen und nach Charlys Auto Ausschau zu halten.
29. August
Krühmorgens ist der Strand voller Möwen. Voller Möwen und voller Tauben. Die Möwen und die Tauben stehen am Ufer, unverrückbar, und schauen aufs Meer, nur ab und zu fliegt eine kurz auf. Ks gibt zwei Sorten Möwen: große und kleine. Von weitem sehen auch die Tauben aus wie Möwen. Wie Möwen einer dritten, noch kleineren Sorte. Die ersten Schiffe passieren die I lafenmündung; beim Hinausfahren hinterlassen sie eine trübe Kurche in der glatten Meeresoberfläche. Heute habe ich nicht geschlafen. Der Himmel zeigt ein bleiches, wässriges Blau. Der Saum des Horizonts ist weiß; der Sand des Strandes braun mit einer Maserung aus kleinen Abfalltupfern. Von der Terrasse aus - noch sind die Kellner nicht gekommen, um die Tische aufzustellen - deutet alles auf einen milden, klaren l ag hin. Man würde meinen, die aufgereiht dastehenden Möwen würden den davonfahrenden Booten ungerührt nachsehen, bis sie außer Sichtweite sind. Um diese Zeit sind die Hotelflure warm und menschenleer. Im Restaurant reißt ein verschlafener Kellner brutal die Vorhänge auf; der alles überflutende Glanz jedoch ist freundlich und kühl; zartes, verhaltenes Licht. Die Kaffeemaschine funktioniert noch nicht. Dem Gesichtsausdruck des Kellners entnehme ich, dass es noch dauern kann. Im Zimmer schläft Ingeborg mit dem zwischen die Laken geratenen Florian-Linden-Roman. Behutsam lege ich ihn auf den Nachttisch, wobei ein Satz doch meine Aufmerksamkeit erregt. Florian Linden (vermute ich) sagt: »Sie behaupten, mehrmals dasselbe Verbrechen begangen zu haben. Nein, Sic sind nicht verrückt. Genau darin besteht das Böse.« Vorsichtig lege ich das Lesezeichen zwischen die Seiten und schließe das Buch. Beim Hinausgehen hatte ich die seltsame Vorstellung, dass niemand im Del Mar die Absicht hatte, aufzustehen. Aber die Straßen waren keineswegs mehr leer. An der
Bushaltestelle vor dem Kiosk, auf der Grenze zwischen Altstadt und Touristenzone, steht ein Lieferwagen, aus dem paketweise Zeitschriften und Tageszeitungen geladen werden. Ich kaufe zwei deutsche Zeitungen, bevor ich mich durch schmale Gassen in Richtung I lafen auf die Suche nach einer offenen Bar mache. Im Türrahmen zeichneten sich die Silhouetten von Charly und El Lobo ab. Keiner der beiden schien überrascht, mich zu sehen. Charly steuerte gleich auf meinen Tisch zu, während 101 Lobo am Tresen zweimal Frühstück bestellte. Ich bringe kein Wort heraus; eine maskenhafte Gelassenheit lag auf den Gesichtern von Charly und dem Spanier, doch hinter dieser vermeintlichen Gemütsruhe waren sie hellwach. »Wir sind dir gefolgt«, sagte Charly; »wir haben dich aus dem Hotel kommen sehen ... du schienst sehr müde, darum wollten wir dich lieber ein Stück taufen lassen.« Mir fiel auf, dass meine linke Hand zitterte; nur ein bisschen - sie merkten nichts —, aber sofort verbarg ich sie unter dem Tisch. Innerlich machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. »Ich nehme an, du hast auch nicht geschlafen«, sagte Charly. Ich zuckte die Schultern. »Ich habe nicht schlafen können«, sagte Charly, »vermutlich kennst du die ganze Geschichte schon. Ist mir egal; ich meine, auf eine schlaflose Nacht mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an. Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass ich Fl Lobo geweckt habe. Durch meine Schuld hat er auch nicht geschlafen, stimmt's, El Lobo?« Fl l,obo grinste, ohne das Geringste zu verstehen. Eine Sekunde lang hatte ich die verrückte Idee, ihm Charlys Worte zu übersetzen, ließ es aber sein. Etwas sagte mir, dass es so besser war. »Freunde sind dazu da, ihren Freunden beizustehen, wenn sie gebraucht werden«, sagte Charly. »Das ist zumindest meine Meinung. Wusstest du, dass 101 Lobo ein echter Freund ist, Udo? Ihm ist die Freundschaft heilig. Jetzt zum Beispiel müsste er zur Arbeit gehen, aber ich weiß, er wird es nicht tun, solange er mich nicht im Hotel
oder an einem anderen sicheren Ort abgeliefert hat. Er kann seine Arbeit verlieren, aber das ist ihm egal. Und warum ist das so? Das ist so, weil ihm die Freundschaft ist, was sie sein muss: heilig. Mit der Freundschaft spaßt man nicht.« Charlys Augen glänzten übermäßig; ich dachte, er würde gleich weinen. Mit angewidertem Gesicht starrte er auf sein Croissant und schob es von sich. El Lobo bedeutete ihm, wenn er es nicht wolle, würde er es essen. Ja. ja, sagte Charly. »Um vier Uhr morgens bin ich zu ihm. Glaubst du, mit einem Unbekannten hätte ich das tun können? Natürlich sind alle Unbekannte, im Grunde sind alle ekelhaft; El Lobos Mutter jedoch, und sie war es, die mir aufmachte, glaubte, dass ich einen Unfall gehabt hätte, und bot mir als Erstes einen Cognac an, den ich natürlich annahm, obwohl ich schon voll war wie eine Strandhaubitze. Eine großartige Person. Als El Lobo aufstand, fand er mich Cognac trinkend in einem seiner Sessel. Was sollte ich sonst tun?« »Ich verstehe kein Wort«, sagte ich. »Du bist immer noch betrunken, scheint mir.« »Nein, ich schwöre ... Es ist ganz einfach: Um vier Uhr morgens bin ich zu El Lobo gegangen; ich wurde von seiner Mutter fürstlich empfangen; dann versuchten El Lobo und ich miteinander zu reden; dann zogen wir los und fuhren im Auto herum; waren in zwei Kneipen; kauften zwei Flaschen; gingen zum Strand, um mit dem Verbrannten zu trinken ...« »Mit dem Verbrannten? Am Strand?« »Der Typ schläft manchmal am Strand, damit ihm keiner seine ätzenden Tretboote klaut. Wir beschlossen also, unseren Alkohol mit ihm zu teilen. Es ist doch seltsam, Udo: Von dort aus sah man deinen Balkon, und ich könnte schwören, dass du das Licht die ganze Nacht nicht ausgemacht hast. Irre ich mich oder hab ich recht? Nein, ich irre mich nicht, es war dein Balkon und deine Fenster und dein verdammtes Licht. Was hast du die ganze Zeit getrieben? Hast du Krieg gespielt oder mit Ingeborg Schweinkram gemacht? Na, na! Guck nicht so, war nur ein Scherz, kann mir doch egal sein. Es war dein Zimmer, ja, das hab ich sofort gewusst, und
der Verbrannte hat es auch gewusst. Eine ereignisreiche Nacht jedenfalls, sieht so aus, als würden wir alle uns ein bisschen Sorgen machen, wie?« Außer der Scham und dem Groll, die in mir aufstiegen, als ich erfuhr, dass Charly von meiner Spielleidenschaft wusste und es zweifellos Ingeborg gewesen war, die ihm davon erzählt oder falsch erzählt hatte (ich konnte mir sogar vorstellen, wie die drei am Strand entsprechende Begebnisse mit großem Gelächter quittierten: »Udo ist am gewinnen, aber Udo ist auch am verlieren«; »so verleben die Herren Generalstabsoffiziere ihren l-rlaub, eingesperrt«; »Udo hält sich für die Reinkarnation Erich von Mansteins«; »was schenkst du Udo zum Geburtstag, eine Wasserpistole?«), außer, wie gesagt, der Scham und dem Groll gegen Charly, Ingeborg und Hanna besehlich mich das Gefühl einer leise, aber kontinuierlich ansteigenden Panik, als ich nun hörte, dass »der Verbrannte auch wusste, welcher dein Balkon ist«. »Du solltest mich besser nach I lanna fragen«, sagte ich und versuchte meine Stimme normal klingen zu lassen. »Wozu? Sicher geht es ihr gut. Hanna geht es immer gut.« »Was wirst du jetzt tun?« »Mit Hanna? Keine Ahnung; gleich bringe ich El Lobo zu seiner Arbeit, danach fahre ich ins Hotel. Ich hoffe, Hanna ist dann schon am Strand, denn ich habe Lust, mich so richtig auszuschlafen ... Es war eine ereignisreiche Nacht, Udo. Sogar am Strand! Du wirst es nicht glauben, hier steht niemand still, nicht eine Minute, Udo! Von den Tretbooten aus hörten wir laute Geräusche. Ist schon merkwürdig, um diese Zeit am Strand laute Geräusche zu hören. El Lobo und ich gingen nachschauen, und was glaubst du, was wir sahen: ein vögelndes Pärchen. Ein deutsches Pärchen, nehme ich an, denn als ich ihnen sagte, sie sollten es sich gutgehen lassen, antworteten sie auf 1 deutsch. Auf den Typ habe ich nicht geachtet, aber die Kleine, die so ein schickes weißes Kleid trug, wie Inge eins hat, sah süß aus, wie sie da im Sand lag, mit verknittertem Kleid und all dem poetischen Krimskrams ...« »Inge? Sprichst du von Ingeborg?« Wieder begann meine Hand
zu zittern; ieh konnte die Gewalt förmlich riechen, die uns umgab. »Nicht von ihr, Mann, von ihrem weißen Kleid; sie hat doch ein weißes Kleid, oder? Also davon. Weißt du, was El Lobo da sagte? Wir sollten uns hinten anstellen. Dann wären wir nach dem Typen die nächsten in der Schlange. Mann, habe ich gelacht! Er war dafür, dass wir es ihr richtig besorgen sollten, wenn der arme Trottel mit ihr fertig war. Eine Vergewaltigung erster Klasse! Der Mann hat Humor! Ich hatte nur Lust, zu trinken und Sterne zu gucken! Gestern hat es geregnet, erinnerst du dich? Jedenfalls standen am Himmel zwei, drei Sterne. Und ich fühlte mich gerade prächtig. Unter anderen Umständen, Udo, hätte ich El Lobos Vorschlag vielleicht angenommen. Vielleicht hätte es der Kleinen gefallen. Vielleicht auch nicht. Als wir zu den Tretbooten zurückkamen, versuchte El Lobo, glaube ich, den Verbrannten zu überreden, ihn zu begleiten. Der Verbrannte wollte auch nicht. Aber sicher bin ich mir nicht, du weißt ja, Spanisch ist nicht so meins.« »Absolut nicht, nein«, sagte ich. Charly stieß ein lustloses Lachen aus. »Soll ich ihn fragen, damit du Klarheit hast?«, fügte ich hinzu. »Nein. Das ist meine Sache ... Du kannst mir auf alle Fälle glauben, dass ich mich mit meinen Freunden verstehe, und Fl Lobo ist mein Freund, und wir verstehen uns.« »Das glaube ich.« »Gut so ... 10s war eine schöne Nacht, Udo ... Eine ruhige Nacht mit schlechten Gedanken, aber ohne schlechte Taten ... Eine ruhige Nacht, wie soll ich's dir erklären, ruhig, und keine Minute Stillstand, keine Minute ... Sogar als es Tag wurde, als man meinen konnte, jetzt ist Schluss, da kamst du aus dem Hotel ... Im ersten Moment dachte ich, du hast uns vom Balkon aus gesehen und kommst, dich unserem Besäufnis anzuschließen; als du runter zum Hafen gingst, half ich Fl Lobo hoch, und wir folgten dir ... Ohne Eile, hast du ja gesehen. Als würden wir spazieren gehen.« »Hanna geht es nicht gut. Du solltest nach ihr sehen.« »Inge geht es auch nicht gut, Udo. Mir auch nicht. El Lobo, mei-
nem Kumpel, aueh nicht. Dir auch nicht, wenn ich das sagen darf. Nur El Lobos Mutter geht es gut. Und Hannas Kleinem in Oberhausen. Nur ihnen geht es ... nein, total gut auch nicht, aber verglichen mit anderen gut. Ganz gut.« Es klang obszön, ihn Ingeborg Inge nennen zu hören. Leider nannten auch ihre Freunde und einige ihrer Arbeitskollegen sie so. Es war normal, und trotzdem hatte ich nie darüber nachgedacht; ich kannte keinen einzigen von Ingeborgs Freunden. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich bestellte noch einen Milchkaffee. El Lobo nahm einen Carajillo mit Rum (wenn er zur Arbeit musste, zeigte er wenigstens nicht die geringste Unruhe). Charly wollte nichts. Er hatte nur Lust zu rauchen, und das tat er ausgiebig, eine Zigarette nach der anderen. Versicherte aber, er werde die Rechnung bezahlen. »Was ist in Barcelona passiert?« Ich wollte sagen, »du wirkst verändert«, aber das erschien mir lächerlich: Ich kannte ihn kaum. »Nichts. Wir sind herumgelaufen. Haben Souvenirs gekauft. Eine schöne Stadt, nur zu viele Leute, das ja. Ich war mal Fan vom FC Barcelona, als er noch von Lattek trainiert wurde und Schuster und Simonsen dort spielten. Jetzt nicht mehr. Barcelona interessiert mich nicht mehr, aber die Stadt gefällt mir immer noch. Warst du mal in der Sagrada Familia? I lat sie dir gefallen? Ja, echt schön. Wir haben auch in einer uralten Bar voller Stierkampfplakate und Zigeuner etwas getrunken. I lanna und Inge fanden sie sehr authentisch. Und billig war es, viel billiger als in den Kneipen hier.« »Wenn du I lannas Gesicht gesehen hättest, wärst du nicht so ruhig. Ingeborg hat überlegt, dich anzuzeigen. Wäre das in Deutschland passiert, bin ich sicher, sie hätte es gemacht.« »Du übertreibst ... In Deutschland, in Deutschland ...« Er verzieht das Gesicht zu einer Ohnmachtsgrimasse. »Ich weiß nicht, vielleicht stehen die Dinge auch in Deutschland jetzt keine Minute still. Scheiße. Egal. Außerdem glaube ich dir nicht, ich glaube nicht, dass Inge auf die Idee käme, die Polizei zu rufen.« Ich zuckte beleidigt die Schultern; möglich, dass Charly recht hatte, möglich, dass er Ingeborgs Herz besser kannte.
»Was hättest du getan?« Charlys Augen glitzerten bösartig. »An deiner Stelle?« »Nein, an Inges Stelle.« »Keine Ahnung. Dir in den Hintern treten. Das Genick brechen.« Charly schloss die Augen. Erstaunlicherwcise schien ihm meine Antwort weh zu tun. »Ich nicht.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wäre ihm etwas Wichtiges entwischt. »Ich an Inges Stelle hätte das nicht gemacht.« »Sicher.« »Ich wollte auch die I )eutsche am Strand nicht vergewaltigen. Ich hätte es tun können, aber ich habe es nicht getan. Verstehst du? Ich hätte Hanna eine reinschlagen können, richtig eine reinschlagen, und habe es nicht getan. Ich hätte mit einem Stein dein Fenster einwerfen oder dir eine Tracht Prügel verpassen können, nachdem du diese dreckigen Zeitungen gekauft hast. Ich habe nichts getan. Ich rede und rauche, sonst nichts.« »Warum stilltest du bei mir die Scheiben einschlagen oder mich schlagen wollen? Ist doch Schwachsinn.« »Ich weiß nicht. Mir kam der Gedanke. Ruckzuck, mit einem faustgroßen Stein.« Die Stimme versagte ihm, als erinnerte er sich plötzlich an einen Albtraum. »Es war der Verbrannte; während ich auf das Licht in deinem Zimmer schaute; vermutlich hatte ich Lust, Aufmerksamkeit zu erregen ...« » Der Verbrannte wollte dir einreden, mein Fenster einzuwerfen?« »Nein, Udo, nein. Du verstehst gar nichts, Mann. Der Verbrannte hat mir uns getrunken und sagte nicht viel, wir sagten alle drei nicht viel, schauten bloß aufs Meer, sonst nichts, und tranken, aber mit offenen Augen, okay?, und der Verbrannte und ich schauten zu deinem Fenster hoch. Ich meine: Als ich zu deinem Fenster hochschaute, hatte der Verbrannte schon seine Augen dort, und mir war klar und ihm war klar, dass ich jetzt am Zug war. Aber er sagte nichts von Steinewerfen. Das war schon meine Idee. Ich dachte, ich sollte dich vorwarnen ... Verstehst du?« »Nein.«
Charly machte ein generv tes Gesicht; er griff nach den Zeitungen und blätterte sie mit affenartiger Geschwindigkeit durch, als wäre er vor seiner Zeit als Mechaniker Kassierer bei einer Bank gewesen; ich bin mir sicher, dass er keinen vollständigen Satz las; dann legte er sie seufzend beiseite; er schien damit sagen zu wollen, dass die Meldungen für mich seien, nicht für ihn. Eine Weile lang blieben wir stumm. Draußen fand die Straße zu ihrem alltäglichen Rhythmus zurück; in der Bar waren wir nicht mehr die Einzigen. »Eigentlich liebe ich Hanna.« »Du solltest auf der Stelle zu ihr gehen.« »Ja, sie ist ein gutes Mädchen, lind sie hat eine Menge Glück gehabt im Leben, auch wenn sie das Gegenteil glaubt.« »Du solltest ins Hotel gehen, Charly ...« »Erst bringen wir El Lobo zur Arbeit, okay?« »Gut, gehen wir.« Als er vom Tisch aufstand, war er kalkweiß, als hätte er kein Blut mehr im Leib. Ohne einen einzigen Stolpercr, und das legte den Schluss nahe, dass er nicht so betrunken war, wie ich gedacht hatte, steuerte er auf den Tresen zu, bezahlte, und wir gingen. Charlys Wagen parkte am Meer. Ich sah auf dem Dachgepäckträger sein Surfbrett. War er damit nach Barcelona gefahren? Nein, er muss es nach der Rückkehr aufgeladen haben, und das hieß, dass er schon im Hotel gewesen war. Langsam legten wir die Strecke zurück, die zum Supermarkt führte, in dem El Lobo arbeitete. Bevor er ausstieg, sagte Charly zu ihm, wenn man ihn entließe, solle er ins 1 lotel kommen, er sehe da schon eine Lösung für das Problem. Ich übersetzte. El Lobo lächelte und sagte, das würden sie sich bei ihm nicht trauen. Charly nickte ernst, und als der Supermarkt bereits ein gutes Stück hinter uns lag, sagte er, das stimme, eine Meinungsverschiedenheit mit El Lobo könne schnell kompliziert werden, um nicht zu sagen gefährlich. Dann sprach er von den Hunden. Im Sommer sah man an den Straßen ständig verlassene, ausgehungerte Hunde. »Vor allem hier«, sagte er. »Als ich gestern El Lobos Haus suchte, habe ich einen überfahren.«
Er wartete auf eine Reaktion von mir und fuhr fort: »Einen kleinen, schwarzen Hund, den ich schon am Paseo Marftimo gesehen habe ... Wie er seine beschissenen Besitzer suchte oder etwas zu essen ... Keine Ahnung ... Kennst du die Geschichte von dem Hund, der neben der Leiche seines Herrchens verhungert ist?« »Ja.« »Daran musste ich denken. Die armen Tiere wissen anfangs nicht, wohin, und warten bloß. Das ist Treue, was, Udo? Ist diese Phase vorbei, beginnen sie herumzustreunen und Mülleimer zu durchwühlen. Der kleine schwarze gestern machte auf mich den Eindruck, als würde er noch warten. Kann man so was verstehen, Udo?« »Wieso bist du dir so sicher, dass du ihn vorher schon gesehen hast oder dass es ein streunender Hund war?« »Weil ich ausgestiegen bin und ihn mir angesehen habe. Es war haargenau derselbe.« Das Licht im Auto machte mich langsam schläfrig. Für einen Moment glaubte ich, Charly stünden Tränen in den Augen. Wir sind beide müde, dachte ich. Am Eingang seines Hotels gab ich ihm den Rat, duschen zu gehen, sich ins Bett zu legen und die Aussprache mit Hanna auf nach dem Aufstehen zu verschieben. Die ersten Gäste bummelten zum Strand. Charly lächelte und verschwand in der Hotellobby. Innerlich unruhig kehrte ich ins Del Mar zurück. Ich traf Frau Flse auf der Dachterrasse, nachdem ich souverän die Schilder ignoriert hatte, die anzeigten, wo Touristen und wo nur Hotelangcstellte Zugang hatten. Ich muss übrigens gestehen, dass ich sie nicht gesucht habe. Es ergab sich, dass Ingeborg noch schlief, dass ich in der Bar keine L u f t bekam, dass ich keine Lust hatte, wieder nach draußen zu gehen, und auch nicht müde war. Frau Flse lag in einem hellblauen Liegestuhl, neben sich ein Glas Saft, und las. Sie war nicht überrascht, mich zu sehen, im Gegenteil, mit ihrer wie immer fröhlichen Stimme beglückwünschte sie mich, den
Zugang zur Dachterrasse gefunden zu haben. »Das Privileg von Schlafwandlern«, erwiderte ich und legte den Kopf zur Seite, um das Buch zu erkennen, das sie in I fänden hielt. Es war ein Reiseführer Südspanien. Daraufhin fragte sie, ob ich etwas trinken wolle. Auf meinen fragenden Blick hin erklärte sie, auch hier auf der Dachterrasse verfüge sie über eine Klingel, um die Bedienung zu rufen. Aus Neugier nahm ich das Angebot an. Nach einer Weile fragte ich sie nach ihren gestrigen Beschäftigungen. Ich fügte hinzu, ich hätte sie vergeblich im ganzen Hotel gesucht. »Es regnet, und Sie verschwinden«, sagte ich. Krau Elses Miene verdüsterte sich. Mit einstudiert wirkender Geste (ich weiß allerdings, dass sie so ist, dass auch das zu ihrer Spontaneität und Energie gehört) nahm sie ihre Sonnenbrille ab und sah mich scharf an, bevor sie antwortete: Sie habe den ganzen gestrigen Tag im Zimmer verbracht, bei ihrem Mann. Sei er denn krank? Das schlechte Wetter, die atmosphärische Elektrizität der Wolken belasten ihn; er hat fürchterliche Kopfschmerzen, die seine Sehkraft und seine Nerven in Mitleidenschaft ziehen; einmal sei er sogar vorübergehend erblindet. »Gehirnfieber«, formen die vollkommenen Lippen von Frau Else. (Meines Wissens gibt es keine solche Krankheit.) Gleich darauf verlangt sie mit einem leisen Lächeln, dass ich ihr verspreche, nie wieder nach ihr zu suchen. Wir werden uns nur sehen, wenn der Zufall es will. Und wenn ich mich weigere? Ich werde Sic zwingen, es mir zu versprechen, flüstert Frau Else. In diesem Augenblick erscheint eine Angestellte mit genau dem gleichen Saft, wie Frau Else einen trinkt; für Sekunden ist das arme Mädchen von der Sonne geblendet, blinzelt und weiß nicht, wohin; dann stellt es das (»las auf den Tisch und geht. »Ich verspreche es Ihnen«, sagte ich, wandte mich von ihr ab und trat an den Rand der Dachterrasse. Der Tag war gelb, und überall schillerte es in einer Farbe menschlichen Fleisches, von der mir übel wurde. Ich drehte mich wieder um und gestand ihr, dass ich letzte Nacht kein Auge zugetan hatte. »Das glaube ich sofort«, antwortete sie, ohne den Blick von ihrem Buch zu heben, das sie wieder vorgenom-
men hatte. Ich erzählte ihr, dass Charly I lanna geschlagen habe. »Manche Männer tun so etwas«, lautete ihr Kommentar. Ich lachte. »Kine Feministin sind Sie nicht gerade!« Frau Flse blätterte wortlos eine Seite um. Dann sagte ich ihr, was Charly von den 1 lunden erzählt hatte, von den Hunden, die die Leute vor oder während des Urlaubs aussetzen. Ich bemerkte, dass Frau Else interessiert zuhörte. Als ich mit meiner Geschichte fertig war, sah ich in ihren Augen ein Alarmsignal; ich fürchtete, sie würde aufstehen und auf mich zukommen. Ich fürchtete, sie würde die Worte sagen, die ich in dem Moment am wenigsten hören wollte. Aber sie blieb stumm, und kurz daraufschien es mir klüger, mich zurückzuziehen. In der Nacht kehrte alles zur Normalität zurück. In einer Diskothek bei den Campingplätzen haben wir, Hanna, Charly, Ingeborg, 101 Lobo, El Cordero und ich, auf die Freundschaft angestoßen, auf den Wein, auf das Bier, auf Spanien, auf Deutschland, auf Real Madrid (El Lobo und El Cordero sind keine Barcelona-Fans, wie Charly geglaubt hatte, sondern Real-Madrid-Fans), auf die schönen Krauen, auf die Ferien usw. Kriede auf ganzer Linie. Natürlich haben Charly und Hanna sich versöhnt. Charly ist wieder mehr oder weniger derselbe ganz gewöhnliche Rüpel, den wir am 21. August kennengelernt haben, und Hanna hatte sich zur Keier des Tages das tollste und tiefausgeschnittenste Kleid angezogen, das sie besitzt. Sogar ihr dunkelvioletter Wangenknochen verleiht ihr ein gewisses halb erotisches, halb vulgäres Etwas. (Ihr dunkelvioletter Wangenknochen, den sie, solange sie nüchtern war, hinter einer Sonnenbrille verbarg, im Trubel der Diskothek dann aber offen zur Schau trug, glücklich, als hätte sie sich und ihren Sinn des Lebens wiedergefunden.) Ingeborg verzieh Charly offiziell, der vor aller Augen vor ihr auf die Knie ging und zum Ergötzen aller, die ihn hörten und Deutsch verstanden, ihre Vorzüge lobte. Beim Aufgebot der Nettigkeiten wollten El Lobo und Fl Cordero nicht zurückstehen; wir schuldeten ihnen die Entdeckung des authentischsten jemals in Spanien gesichteten Restaurants. Eines Restaurants, in dem wir nicht nur gut und billig gegessen, reichlich und noch billiger getrunken hatten, sondern eine
Flamenco- oder Folklore-Sängerin hören durften, die sich als Transvestit mit Namen Andromeda entpuppte, mit unseren spanischen Freunden bestens bekannt. Nach Tisch gab es lange und vergnügliche Geschichten, Tanz und Gesang. Andromeda saß neben uns und brachte den Frauen das Flamenco-Klatschen bei, dann tanzte sie mit Charly eine sogenannte »Sevillana«; kurz darauf taten es ihnen alle gleich, auch Leute von anderen Tischen, nur ich nicht, der ich mich strikt und etwas brüsk weigerte. Ich hätte mich lächerlich gemacht. Meine brüske Art schien dem Transvestiten zu gefallen, der mir nach beendetem Tanz die Zukunft aus der Hand las. Mir würde Geld, Macht und Liebe winken; ein aufregendes Leben; ein schwuler Sohn (oder Fnkcl) ... Andromeda liest und interpretiert die Zukunft; zu Anfang senkt sie ihre Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern, dann wird sie lauter, und schließlich deklamiert sie auf eine Weise, dass alle sie hören und ihre Hinfalle bejubeln können. Wer sich zu solchen Spielen hergibt, ist Zielscheibe der Witze der Gäste, aber im Großen und Ganzen sagte sie mir nichts l nangenehmes, und bevor wir gingen, schenkte sie jedem von uns eine Nelke und forderte uns auf wiederzukommen. Charly gab ihr iooo Peseten Trinkgeld und schwor bei seinen Eltern, das werde er tun. Alle waren wir uns einig, dass der Laden »sein Geld wert« sei; Glückwünsche regnen auf El Lobo und El Cordero herab. In der Diskothek herrscht eine andere Atmosphäre, es gibt mehr junge Leute, und die Umgebung ist künstlicher, aber nicht lange und wir hatten den Dreh raus. Resignation. Hier tanze ich dann doch; und küsse Ingeborg und Hanna, und suche die Toilette auf und übergebe und kämme mich und kehre zurück auf die Tanzfläche. Unter vier Augen packe ich Charly am Kragen und frage: Alles in Ordnung? Alles in bester Ordnung, erwidert er. I lanna umarmt ihn von hinten und zieht ihn fort von mir. Charly will mir noch etwas sagen, aber ich sehe nur, wie sich seine Lippen bewegen und, als das nichts nützt, wie er lächelt. Ingeborg ist auch wieder die Ingeborg vom 21. August; dieselbe Ingeborg wie immer. Sic küsst mich, umarmt mich, will, dass ich mit ihr schlafe. Als wir um fünf Uhr morgens in unser Hotelzimmer zurückkehren, schlafen wir folglich miteinan-
der; Ingeborg hat einen rasehen Orgasmus; ich halte noch etliche Minuten länger durch. Wir sind beide müde. Nackt auf dem Bett liegend versichert Ingeborg, alles sei einfach. »Sogar deine Miniaturen.« Sie bcharrt auf dem Begriff, bevor sie einschläft. »Miniaturen.« »Alles ist einfach.« Eine ganze Weile habe ich mein Spiel betrachtet und nachgedacht.
30. August
Die Ereignisse von heute sind noch verworren, dennoch werde ich versuchen, sie in geordneter Form darzustellen, so kann auch ich selbst vielleicht etwas darin entdecken, was mir bislang entgangen ist, ein schwieriges, wahrscheinlich nutzloses Unterfangen, denn was passiert ist, ist passiert, und was soll man falsche I loffnungen nähren. Aber etwas muss ich tun, um die Zeit totzuschlagen. Ich beginne mit dem Frühstück auf der 1 lotcltcrrassc, wir schon in Strandkleidung, der Morgen wolkenlos, dazu eine angenehm kühle Brise, die vom Meer herüberwehte. Ich hatte anfänglich geplant, aufs Zimmer zurückzukehren, sobald es hergerichtet war, und mich den Vormittag über in mein Spiel zu vertiefen, aber Ingeborg redete mir das aus: Der Morgen sei viel zu schön, um im I lotel zu bleiben. Am Strand fanden wir I lanna und Charly ausgestreckt auf einer riesigen Badematte, schlafend. An einer Ecke der nagelneuen Badematte hing noch das Preisschild. Ich erinnere mich an die Zahl mit der Deutlichkeit einer Tätowierung: 700 Peseten. In dem Moment dachte ich, oder vielleicht denke ich es erst jetzt, dass mir die Szene bekannt vorkam. Das passiert mir nach schlaflosen Nächten regelmäßig, dass belanglose Kleinigkeiten ausufern und sich festsetzen. Nichts Außergewöhnliches also. 'Trotzdem schien es mir beunruhigend. Oder es erscheint mir jetzt so, wo die Sonne schon untergegangen ist. Der Morgen verebbte in den immergleichen müßigen Verrichtungen: schwimmen, reden, Zeitung lesen, Körper mit Sonnenmilch eincremen. Wir aßen früh zu Mittag, in einem Restaurant voll von 'Touristen, die genau wie wir Badesachen trugen und nach Creme rochen (kein angenehmer Geruch beim Essen); danach gelang es mir, mich davonzustehlen; Ingeborg, Hanna und Charly gingen zurück an den Strand, ich zurück ins Hotel. Was tat ich da? Nicht viel.
Ich sah mir mein Spiel an, ohne mich darauf konzentrieren zu können, und fiel dann bis sechs in einen von Albträumen umlagerten Mittagsschlaf. Als ich vom Balkon aus sah, dass die große Mehrheit der Badegäste den Rückzug in Hotels und Campinganlagen antrat, ging ich hinunter zum Strand. Traurig die Tageszeit, traurig auch die Badegäste: Müde, der Sonne überdrüssig, wenden sie den Blick zu der Gebäudereihe hinter sich, wie Soldaten, die sichere Niederlage vor Augen; ihre matten Schritte, die den Strand und den Paseo Marftimo überqueren, umsichtig, aber mit einem Rest von Verachtung, von Überheblichkeit gegenüber einer fernen Gefahr, ihre spezielle Art, in Seitenstraßen einzubiegen und dort instinktiv den Schatten zu suchen, führen sie auf direktem Weg in die (und sind eine Verbeugung vor der) Leere. Rückblickend betrachtet scheint der Tag frei von Gesichten und Vorahnungen. Weder Trau 101 sc noch El Lobo, noch El Cordero, noch ein Brief aus Deutschland, noch ein Anruf, noch sonst etwas von Bedeutung. Nur 1 lanna und Charly, Ingeborg und ich, wir vier ganz friedlich; und der Verbrannte, aber weiter weg und mit seinen Tretbooten beschäftigt (allzu viele Kunden gab es nicht mehr), obwohl Hanna, keine Ahnung warum, zu ihm ging und mit ihm sprach; kurz, keine Minute lang, aus Höflichkeit, sagte sie später. Alles in allem ein ruhiger lag zum Sonnenbaden, sonst nichts. Ich erinnere mich, dass sich bei meinem zweiten Strandbesuch der Himmel plötzlich mit einer Unmenge Wolken überzog, winzigen Wolken, die in Richtung Osten oder Nordosten hasteten, und dass Ingeborg und 1 lanna gerade schwammen und, als sie mich sahen, aus dem Wasser kamen, erst Ingeborg, die mich küsste, dann Hanna. Charly lag auf dem Rücken im schon nicht mehr so intensiven Sonnenlicht und schien zu schlafen. Links von uns errichtete der Verbrannte geduldig die allabendliche Festung, ohne sich um anderes zu kümmern, zu einer Tageszeit, da sich ihm seine monströse Erscheinung sicherlich schonungslos offenbarte. Ich erinnere mich an das aschgelbe Licht des frühen Abends, unsere belanglose Unterhaltung (ich könnte nicht sagen, worüber), die nassen Haare der Mädchen, Charlys Stimme, die die absurde Geschichte eines
Jungen erzählte, der Fahrradfahren lernte. Alles deutete auf einen geruhsamen Abend von vielen hin und dass wir demnächst in unsere Hotels zurückkehren und duschen würden, um die Nacht in irgendeiner Diskothek zu beschließen. In dem Moment sprang Charly auf, griff sich sein Surfbrett und ging ins Wasser. Bis eben hatte ich nicht einmal gemerkt, dass das Surfbrett da war, dass es die ganze Zeit dagelegen hatte. »Komm bald wieder«, rief Hanna. Ich glaube nicht, dass er sie gehört hat. Die ersten Meter schwamm er, das Brett im Schlepptau; dann stieg er auf, zog das Segel hoch, winkte zum Abschied und nutzte eine auffrischende Brise, um Kurs aufs offene Meer zu nehmen. Hs muss gegen sieben gewesen sein, kaum später. Er war nicht der einzige Windsurfer. Das weiß ich sicher. Als wir nach einer Stunde das Warten leid waren, gingen wir auf der Terrasse des Costa Brava etwas trinken, von wo aus man den Strand und die Stelle bestens im Blick hat, an der Charly logischerweise auftauchen sollte. Wir fühlten uns schmutzig und durstig. Der Verbrannte, erinnere ich mich, den ich jedes Mal sah, wenn ich mich umdrehte und nach Charlys Segel Ausschau hielt, war ständig um die Tretboote herum in Bewegung, eine Art emsiger Golem, bis er plötzlich einfach verschwand (ins Innere seiner Baracke, nahm ich an), aber so unvermittelt, so spurlos, dass am Strand eine zweifache Leere zurückblieb: Charly fehlte, und jetzt auch der Verbrannte. Ich glaube, bereits da fürchtete ich ein Unglück. Um neun, obwohl es noch nicht dunkel wurde, beschlossen wir, im Costa Brava den Mann an der Rezeption um Rat zu fragen. Der schickte uns zum Roten Kreuz, dessen Büro am Paseo Marftimo kurz vor dem Beginn der Altstadt lag. Dort setzte man sich nach unserer umständlichen Erklärung per Funk mit einem Schlauchboot der Seenotrettung in Verbindung. Eine halbe Stunde später rief man vom Boot aus zurück und empfahl, sich mit dem Problem an Polizei und Hafenbehörde zu wenden. Ks wurde jetzt rasch dunkel; ich erinnere mich, dass ich durchs Fenster schaute und für eine Sekunde das Rettungsboot sah, das wir kontaktiert hatten. Ein
Mitarbeiter erklärte uns, es sei das Beste, ins Hotel zurückzugehen und von dort die Hafenkommandantur, die Polizei und den Zivilschutz anzurufen; der Hotelchef sollte uns in allem zur Seite stehen. Dem stimmten wir zu und gingen. Die eine Hälfte des Wegs legten wir schweigend, die andere diskutierend zurück. Ingeborg zufolge waren alle unfähig. I lanna fand das nicht, behauptete aber andererseits, der Chef des Costa Brava würde Charly hassen; es bestand auch die Möglichkeit, dass er in einem Nachbarort gelandet war wie schon einmal, ob wir uns erinnerten? Ich sagte ihr meine Meinung: Dass sie genau tun solle, was man ihr geraten habe. Hanna sagte daraufhin, ja, ich hätte recht, und brach in Tränen aus. Im 1 lotel erklärten der Mann am Empfang und später der I Iotclchef I lanna, dass es verunglückte Windsurfer um diese Jahreszeit zu häuf gebe und in der Regel alles glimpflich verlaufe. Schlimmstenfalls trieben sie 48 Stunden im Meer, aber Rettung komme immer, usw. Nach diesen Worten hörte Hanna auf zu weinen und schien ruhiger. Der Hotelchef erbot sich, uns im Auto zur Hafenkommandantur zu fahren. Dort nahm man Hannas Aussage auf, verständigte sich mit der I lafenbehörde und noch einmal mit dem Roten Kreuz. Kurz darauf erschienen zwei Polizisten. Sic brauchten eine genaue Beschreibung des Surfbretts; man würde eine Suche per Hubschrauber einleiten. Auf die Frage, ob das Brett eine Krste1 lilfe-Ausrüstung besäße, erklärten wir alle, von einer solchen Ausrüstung noch nie gehört zu haben. Kincr der Polizisten sagte: »Das ist eine spanische Erfindung.« Der andere ergänzte: »Dann hängt alles davon ab, wie müde er ist; wenn er einschläft, hat er schlechte Karten.« Es verletzte mich, dass sie vor uns so sprachen, obwohl ihnen klar war, dass ich ihre Sprache verstand. Natürlich übersetzte ich Hanna nicht, was sie sagten. Der Hotelchef dagegen zeigte nicht das geringste Anzeichen von Nervosität und gestattete sich sogar auf der Rückfahrt, über die Angelegenheit zu scherzen. »Sind Sie zufrieden?«, fragte ich. »Ja, alles läuft gut«, erwiderte er. »Ihr Freund wird bald wieder auftauchen. Sie sehen, wir haben alles im Griff. Wir können nicht scheitern.«
Wir aßen im Costa Brava. Wie zu erwarten, wurde es kein sehr munteres Essen. Huhn mit Kartoffelbrei und Spiegelei, Salat, Kaffee und Eis, von den Kellnern, die man schon über alles informiert hatte (überhaupt waren wir die Zielscheibe aller Blicke), ganz besonders zuvorkommend serviert. Unserem Appetit tat das keinen Abbruch. Wir waren eben beim Dessert, als ich dicht hinter der Scheibe, die den Speisesaal von der lerrasse trennte, El Lobos Gesicht sah. Er gab mir Zeichen. Als ich I lanna auf ihn aufmerksam machte, errötete sie plötzlich und schlug die Augen nieder. Mit tonloser Stimme bat sie mich, sie abzuwimmeln, auf morgen zu vertrösten, was immer ich für richtig hielte. Ich zuckte die Schultern und ging nach draußen; auf der Terrasse warteten Kl Lobo und El Cordero. Ich erzählte kurz, was passiert war. Beide reagierten betroffen auf die Nachricht (ich glaube sogar. Kl Lobo standen Tränen in den Augen, beschwören könnte ich es indes nicht); ich erklärte, Hanna sei äußerst angespannt, und wir erwarteten in jedem Moment neue Nachrichten von der Polizei. Ich wusste nichts zu antworten, als sie sagten, sie würden in einer Stunde wiederkommen. Ich wartete auf der Terrasse, bis sie fort waren; einer der beiden roch nach Parfüm, und gemessen an ihrer üblichen Schlampigkeit waren sie anständig gekleidet; als sie den Bürgersteig erreicht hatten, begannen sie zu diskutieren; und gestikulierten noch, als sie um die Ecke bogen. Die nachfolgenden Ereignisse sind vermutlich Teil der in solchen l allen üblichen Routine, so nervtötend und unnötig sie in aller Regel sind. Krst erschien ein Polizist; dann noch einer, nur anders uniformiert, in Begleitungeines Mannes in Zivil, der Deutsch sprach, und eines Marineoffiziers in kompletter Marineuniform! Zum Glück blieben sie nicht lange (wie uns der I lotelchef mitteilte, würde der Marineoffizier gleich in einem Boot mit Suchscheinwerfern aufbrechen). Zum Abschied versprachen sie, uns stündlich über ihre Erkenntnisse auf dem Laufenden zu halten. Ihren Gesichtern war abzulesen, dass die Chancen, Charly zu finden, immer geringer wurden. Zuletzt erschien ein Vertreter - der Vorsitzende, wenn ich recht verstanden habe - des örtlichen Surfclubs, der uns
der materiellen und moralischen Unterstützung seiner Mitglieder versicherte; sie hatten ebenfalls ein Rettungsboot einsatzbereit gemacht, um mit Hafenkommandantur und Zivilschutz zusammenzuarbeiten, sobald man Nachricht von dem Schiffbrüchigen hätte. So nannte er ihn: einen Schiffbrüchigen. I lanna, die sich während des Essens heiter und gefasst gezeigt hatte, brach bei dieser letzten Solidaritätsbekundung erneut in Weinen aus, das sich nach und nach zu einem hysterischen Anfall steigerte. Mit der I lilfe eines Kellners brachten wir sie auf ihr Zimmer und ins Bett. Ingeborg fragte, ob sie irgendein Beruhigungsmittel hätte. Hanna verneinte, der Arzt habe sie ihr verboten. Am Ende beschlossen wir, dass es das Beste sei, wenn Ingeborg die Nacht über bei ihr bliebe. Bevor ich ins Del Mar zurückkehrte, schaute ich im Rincön de los Andaluces vorbei. Ich nahm an, ich würde El Lobo und Hl Cordero oder den Verbrannten hier treffen, aber ich sah keinen von ihnen. Am ersten Tisch vorm Fernseher saß der Wirt und schaute wie üblich einen Western. Ich ging sofort wieder. Kr drehte sich nicht einmal um. Vom Del Mar aus rief ich Ingeborg an. Keine Neuigkeiten. Sie lagen im Bett, konnten aber beide nicht schlafen. Unsinnigerweise sagte ich: »Tröste sie.« Ingeborg antwortete nicht. Einen Moment lang dachte ich, die Verbindung sei unterbrochen. »Ich bin noch da«, sagte Ingeborg, »ich denke nach.« »Ja, ich denke auch nach«, sagte ich. Dann wünschten wir uns gute Nacht und legten auf. Ich lag im I )unkeln auf dem Bett und zerbrach mir den Kopf, was Charly zugestoßen sein könnte. Vor meinem inneren Auge sah ich nur unzusammenhängende Bilder: die neue Badematte mit dem nicht entfernten Preisschild, das von widerlichen Gerüchen überlagerte Mittagessen, das Meer, die Wolken, Charlys Stimme ... Ich dachte, seltsam, dass niemand Hanna nach dem Veilchen auf ihrer Wange gefragt hat; dachte an das Aussehen von Ertrunkenen; dachte, dass unser Urlaub in gewisser I linsicht zum Teufel gegangen war. Der letzte Gedanke führte dazu, dass ich mit einem Satz
aus dem Bett sprang und mich mit ungewöhnlicher Energie an die Arbeit setzte. Um vier Uhr morgens hatte ich die Runde »Frühjahr 1941« abgeschlossen. Die Augen fielen mir zu, aber ich fühlte mich befriedigt.
31. August
Um zehn Uhr morgens rief mich Ingeborg an, um mir zu sagen, dass uns die I lafenkommandantur einbestellt hatte. Ich holte beide mit dem Auto vom Costa Brava ab, und wir fuhren hin. Hanna war munterer als noch am Abend zuvor, hatte sich Augen und Lippen geschminkt, und als sie mich sah, schenkte sie mir ein Lächeln. Dagegen verhieß Ingeborgs Miene nichts Gutes. Die Hafenkommandantur liegt nur ein paar Meter vom Sporthafen entfernt in einer schmalen Straße der Altstadt; um zu den Büros zu gelangen, muss man einen Innenhof mit schmutzigen Fliesen und ausgetrocknetem Brunnen in der Mitte durchqueren. Dort fanden wir, an den Brunnen gelehnt, Charlys Surfbrett. Wir erkannten es, ohne dass jemand darauf hinweisen musste, und einen Moment lang waren wir unfähig, etwas zu sagen oder weiterzugehen. »Kommen Sie bitte rauf«, rief aus einem Fenster im zweiten Stock ein junger Mann, in dem ich später den Mitarbeiter vom Roten Kreuz wiedererkannte. Nach anfanglicher Verunsicherung gingen wir hoch; auf dem Treppenabsatz erwarteten uns der Chef vom Zivilschutz und der Vorsitzende des Surfclubs, die uns mit Verständnis und Herzlichkeit im Blick empfingen. Sic baten uns einzutreten: Im Büro befanden sich zwei weitere Männer in Zivil, der junge Mann vom Roten Kreuz und zwei Polizisten. Fine der Personen in Zivil fragte, ob wir das Brett wiedererkennen würden, das im Hof stünde? Hanna, deren gebräunte Haut erbleichte, zuckte die Schultern. Sie fragten mich. Ich sagte, ich sei mir nicht hundertprozentig sicher; Ingeborg antwortete das Gleiche. Der Vorsitzende des Surfclubs schaute daraufhin aus dem Fenster. Die Polizisten wirkten gelangweilt. Ich hatte den Eindruck, dass sich niemand etwas zu sagen traute. Es war heiß. Schließlich brach Hanna das Schweigen. »Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie in einem so scharfen Ton, dass alle zusam-
menzuckten. Der Polizist, der Deutsch sprach, beeilte sich zu erwidern, nein, nur das Brett und das Rigg, was, wie sie verstehen werde, von einiger Bedeutung sei ... I lanna zuckte wieder mit den Schultern. »Sicher war ihm klar, dass er einschlafen würde, und so beschloss er, sich anzubinden« ... »Oder er sah voraus, dass seine Kräfte nachlassen würden, das Meer, die Angst, die Dunkelheit, Sic verstehen« ... »Er hat jedenfalls getan, was das Beste war: Er hat die Tampcn gelöst, die das Segel befestigen, und sich an sein Brett gebunden« ... »Das sind natürlich Vermutungen« ... »Wir haben keine Mittel gescheut: Die Suche war teuer und riskant« ... »In den frühen Morgenstunden hat ein Boot der Fischereigenossenschaft das Brett und das Rigggefunden« ... »Natürlich suchen wir das Gebiet weiter ab« ... Hanna hatte die Augen geschlossen. Dann wurde mir bevvusst, dass sie weinte. Wir sahen uns alle betroffen an. Der Bursche vom Roten Kreuz sagte: »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.« Es klang prahlerisch. Dann legten sie einige Papiere vor, die Hanna unterschreiben sollte; keine Ahnung, was es damit auf sich hatte. Als wir wieder draußen standen, gingen wir in eine Kneipe in der Innenstadt, etwas Kühles trinken. Wir sprachen über das Wetter und die spanischen Beamten, gutwillige Leute, aber ohne Mittel. Das Lokal war gedrängt voll mit einer Sorte ziemlich verdreckter Touristen auf der Durchreise und stank nach Schweiß und Zigaretten. Gegen Mittag brachen wir auf. Ingeborg beschloss, bei 1 lanna zu bleiben, und ich ging hoch aufs Zimmer; die Augen fielen mir zu, und ich schlief gleich ein. Ich träumte, jemand würde an die Tür klopfen. Es war Nacht, und als ich öffnete, sah ich am Ende des Flurs eine Gestalt verschwinden. Ich folgte ihr: Unversehens gelangten wir in ein riesiges, abgedunkeltes Zimmer, in dem sich die Silhouetten schwerer alter Möbel abzeichneten. Über allem ein feuchter, modriger Geruch. Auf einem Bett wälzte sich ein Schatten. Erst dachte ich, es sei ein Hund. Dann erkannte ich den Ehemann von Frau Else. Endlich!
Als Ingeborg mieh weckte, war das Zimmer lichtdurchflutet, und ich schwitzte. Das Krste, was ich wahrnahm, merklich verändert, war ihr Gesicht; Verdruss kräuselte ihr Stirn und Lider, und für einige Augenblicke sahen wir uns an, ohne uns zu erkennen, als wären wir beide eben aufgewacht. Dann drehte sie mir den Rücken zu und betrachtete Schränke und Decke; sie habe, behauptete sie, bei dem Versuch, mich vom Costa Brava aus anzurufen, eine halbe Stunde verloren, niemand habe abgenommen. In ihrer Stimme bemerke ich Groll und Traurigkeit; auf meine versöhnliche Erklärung reagiert sie mit Verachtung. Nach langem Schweigen, das ich nutze, um zu duschen, gibt sie schließlich zu: »Du hast geschlafen, aber ich dachte, du seist abgereist.« »Warum bist du nicht hochgekommen und hast dich mit eigenen Augen überzeugt?« Ingeborg errötet: »War nicht nötig... Außerdem macht dieses Hotel mir Angst. Der ganze Ort macht mir Angst.« Aus unerfindlichen Gründen dachte ich, dass sie recht hatte; sagte das aber nicht. »Ach was, IJnsinn ...« »Hanna hat mir was zum Anziehen geliehen, steht mir sehr gut, wir sind fast gleich groß.« Ingeborg spricht hastig, und zum ersten Mal schaut sie mir in die Augen. Richtig, die Sachen, die sie anhat, gehören ihr nicht. Plötzlich sehe ich Hannas Geschmack, ihre eitlen Hoffnungen, ihren eisernen Ferienwillen, und das Ergebnis ist verwirrend. »Weiß man etwas Neues von Charly?« »Nichts. Fin paar Journalisten waren im Hotel.« »Dann ist er tot.« »Möglich. Hanna sagst du davon besser nichts.« »Natürlich nicht, das wäre absurd.« Ingeborgs Anblick, als ich aus der Dusche kam, wie sie versunken neben meinem Spiel saß, erschien mir vollkommen. Ich schlug vor, miteinander zu schlafen. Mit einer Kopfbewegung und ohne sich umzudrehen, wies sie mich ab.
»Ich weiß nicht, was dich daran reizt«, sagte sie und wies auf die Landkarte. »Die Klarheit«, erwiderte ich, während ich mich anzog. »Ich glaube, ich finde es scheußlich.« »Weil du nicht weißt, wie es geht. Wenn du es wüsstest, würde es dir gefallen.« »(übt es Frauen, die sich für solche Spiele interessieren? I last du mal mit einer gespielt?« »Nein, ich nicht. Aber es gibt sie. Wenige, das stimmt; es ist kein Spiel, das Mädchen besonders anzieht.« Ingeborg sah mich aus trostlosen Augen an. »Alle haben sie I lanna angefasst«, sagte sie plötzlich. »Was?« »Alle haben sie angefasst.« Sie machte ein grässliches Gesicht. »Einfach so. Ich versteh das nicht, Udo.« »Was meinst du damit? Dass alle mit ihr geschlafen haben? Und wer ist >allc