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German Pages 1334 [1327] Year 2005
Festschrift für Volker Röhricht
FESTSCHRIFT FÜR
VOLKER RÖHRICHT ZUM 65. GEBURTSTAG Gesellschaftsrecht Rechnungslegung Sportrecht herausgegeben von
Georg Crezelius Heribert Hirte Klaus Vieweg
2005
oUs
Dr.~~midt Köln
Bibliografische Information Der Deutseben Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel.: 02 21/9 37 38-01, Fax: 02 21/9 37 38-9 43 e-m:ail: [email protected] ~NWW.otto-schmidt.de
ISBN 3-504-06030-1 © 2005 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holzund säurefrei, alterungsbeständig und u:mweltfreundlich. UmschlaggestaJltung: jan P. Lichtenford, Mettmann Textformatierung: A. Quednau, Haan Druck und Verarbeitung: Bercker, Kevelaer Printed in Germany
Volker Röhricht zum 65. Geburtstag Mit dieser Festschrift wollen die Autoren – und im Geleitwort stellvertretend für sie die Herausgeber – Volker Röhricht einen Gruß zur Vollendung seines 65. Lebensjahres und seinem damit verbundenen Ausscheiden aus dem Richteramt überbringen. *** Volker Röhricht wurde am 11. Mai 1940 in Berlin geboren. Er absolvierte dort von 1946 bis 1959 seine Schulzeit und im Anschluss daran ab dem Sommersemester 1959 das Studium der Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Die dem Berliner nachgesagte rhetorische Schlagfertigkeit und Weltoffenheit hat er daher sozusagen mit der Muttermilch aufnehmen können. Aber nicht nur das: Wie viele Berliner seiner Generation ist Volker Röhricht für die Werte eines freiheitlichen Rechtsstaats besonders sensibilisiert. Wer das Vergnügen hat, mit ihm zu diskutieren, weiß, dass Freiheit für ihn eine herausragende Kategorie darstellt, die es im Rahmen der vorgefundenen Rechtsordnung zu verteidigen gilt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Röhricht schon zu Studienzeiten politische Ämter innehatte. Obwohl der Jubilar aus seiner politischen Einstellung keinen Hehl gemacht hat, hat sie nie Einfluss auf seine richterliche und schriftstellerische Tätigkeit gehabt. Aus vielen öffentlichen Äußerungen weiß man, dass Röhricht immer der Auffassung war, dass sich der Rechtsanwender, insbesondere der Richter, mit der vorgefundenen Gesetzeslage auseinandersetzen muss. Die erste Etappe von Röhrichts juristischem Lebensweg endete im Januar 1964 mit dem exzellent abgeschlossenen Ersten Juristischen Staatsexamen. Während der sich ab Juni 1964 anschließenden Referendarzeit holte ihn Hans Würdinger, seinerzeit einer der angesehensten deutschen Gesellschaftsrechtler, an seinen Hamburger Lehrstuhl, und zwar nicht nur wegen seiner herausragenden juristischen Kenntnisse, sondern auch deshalb, weil er einen Assistenten mit exzellenten Fremdsprachenkenntnissen benötigte – Röhricht hat auch das Dolmetscherexamen für Englisch abgelegt. Im März 1968 absolvierte Röhricht – wiederum mit glänzendem Ergebnis – das Zweite Juristische Staatsexamen. Nach der Emeritierung von Würdinger wurde er Assistent bei dessen Nachfolger Peter Ulmer. Am 22. März 1971 begann mit dem Eintritt in den Justizdienst der Freien und Hansestadt Hamburg Röhrichts richterliche Laufbahn. Nachdem er zum 1. Juli 1981 an das Hanseatische Oberlandesgericht abgeordnet worden war, wurde er am 26. Mai 1982 ebenda zum Richter ernannt. Hier führte ihn sein Weg unmittelbar in den vorrangig für das Gesellschaftsrecht zuständigen 11. Zivilsenat unter dem Vorsitz von Hartwin von Gerkan. Am 1. März 1986 wurde Röhricht zum Richter an den Bundesgerichtshof berufen und V
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– seiner vorherigen Tätigkeit entsprechend – dem vornehmlich für das Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenat zugewiesen. Den krönenden Abschluss seiner Richterkarriere bildete dann die Ernennung zum Vorsitzenden des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs am 18. April 1996. Volker Röhricht ist eine herausragende Richterpersönlichkeit, die aus profundem dogmatischen Wissen schöpft, dabei aber nie aus dem Auge verliert, dass jedes Gericht einen Fall, einen Sachverhalt zu entscheiden hat, dass die Entscheidungen mit dem gesetzten Recht übereinstimmen und zugleich den Interessen der beteiligten Parteien genügen. Die damit beschriebene fachliche Kompetenz, gepaart mit Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft, haben dazu geführt, dass Röhricht seit Jahren auch ein gefragter Schiedsrichter in Verfahren ist, die nicht in den Zuständigkeitsbereich des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs fallen; diese Schiedsverfahren haben fast ausschließlich Unternehmenskäufe betroffen. Der Wille zum „großen Wurf“ – und nicht formales Denken – hat sein Berufsverständnis als Richter geprägt, denn Röhricht hat sich immer auch als „Gestalter“ und nicht als reiner „Streit-Entscheider“ begriffen und daher versucht, mit seinen Entscheidungen ganz bewusst Akzente zu setzen oder Entwicklungen anzustoßen. Röhricht verkörpert deshalb auch mehr den deutlich einflussreicheren Richter des common law mit der ihm inhärenten Befugnis zur „Rechtsfortbildung“ als den „klassischen“ Normanwender kontinentaleuropäischer Prägung (zu seinem eigenen Berufsverständnis siehe seine Ausführungen in ZGR 1999, 445). Auch aus diesem Grunde sieht er es kritisch, dass weite Bereiche des Gesellschaftsrechts – vor allem das Personengesellschaftsrecht – in die Schiedsgerichtsbarkeit „abwandern“, den staatlichen Richtern aber mit dienstrechtlichen Mitteln eine Beteiligung an diesen Schiedsverfahren erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wird. Dadurch wird dem staatlichen Richter nicht nur der Zugang zu den für seine Rechtsprechung wichtigen Lebenssachverhalten verwehrt, sondern es wird auch die sonst wenigstens noch indirekt mögliche Einflussnahme der staatlichen Justiz auf diese Rechtsbereiche ausgeschaltet. *** Ungeachtet seiner richterlichen Tätigkeit ist Röhricht der Wissenschaft immer verbunden geblieben. Durch zahlreiche grundlegende Aufsätze und große Kommentierungen – stellvertretend seien seine Kommentierungen in den „Großkommentaren“ zum Aktiengesetz und zum Handelsgesetzbuch und die Herausgeberschaft des „Röhricht/Graf von Westphalen“ zum HGB genannt – hat er die Dogmatik des Handels- und Gesellschaftsrechts maßgeblich befruchtet. Dies brachte ihm am 1. Juli 1998 die – durch den Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg nur sieben Mal verliehene – Würde eines Dr. jur. honoris causa ein (Röhrichts Vortrag anläss-
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lich der Verleihung der Ehrendoktorwürde ist wiedergegeben in ZGR 1999, 445). Ihm ist es einerseits immer ein Anliegen gewesen, die Linie des II. Zivilsenats in der Öffentlichkeit – und das ist nicht zuletzt auch die wissenschaftliche Öffentlichkeit – zu kommunizieren. Vielen Studenten hat er in den von ihm mit durchgeführten Seminaren an den Universitäten Jena und Hamburg die Freude am Gesellschaftsrecht, aber auch die Grenzen eines wissenschaftlich-dogmatischen Ansatzes vermittelt, soweit es um die konkrete Lösung eines Sachverhalts geht. Als Mitglied des Kuratoriums der Bucerius Law School, Hamburg, und des Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München, pflegt er kontinuierlich den Dialog mit der Wissenschaft. Dasselbe gilt für die interuniversitären Sportrechtstagungen im Deutschen Olympischen Institut, bei denen er immer ein gern gesehener und kompetenter Gast ist. All’ dies zeigt, dass Röhricht nicht nur als Mitglied und Vorsitzender eines Kollegialorgans und als Autor, sondern auch und insbesondere durch seine kommunikativen Fähigkeiten wirkt. Es ist ihm stets ein Anliegen, die zu Grunde liegende Interessenlage der zu lösenden Problematik aufzudecken und einer sachgerechten Lösung zuzuführen. Ebenso wichtig wie der Dialog mit der Wissenschaft ist Röhricht der Kontakt mit der rechtsanwendenden und kautelarjuristischen Praxis. Die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zu erklären und damit für zukünftige Streitfälle vorhersehbar zu machen, war für ihn von besonderer Bedeutung, ebenso wie er umgekehrt auch für die Schwierigkeiten der Rechtsanwendung stets ein offenes Ohr hatte. Daraus ist eine langjährige Zusammenarbeit insbesondere mit dem Deutschen Anwaltsinstitut e. V. entstanden, die sich dadurch auszeichnet, dass das Gespräch zwischen Richtern aller Gerichtsbarkeiten, insbesondere des Bundesgerichtshofs und des Bundesfinanzhofs, Vertretern der rechtsberatenden Berufe und der Wissenschaft gepflegt wird. Es kann daher auch nicht überraschen, dass Volker Röhricht Vorstandsmitglied der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung – Wissenschaftliche Vereinigung für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (VGR) e. V. – ist und einen intensiven Kontakt zu Gremien des wirtschaftsprüfenden Berufs hat. So hat er von 1990 bis 1996 die Wirtschaftsprüferexamina in Baden-Württemberg mit abgenommen und wurde dann Mitglied des Qualitätskontrollbeirats bei der Wirtschaftsprüferkammer in Berlin (seit Januar 2005: Abschlussprüferaufsichtskommission [APAK]). Er wird diese Verbindungen auch nach seiner Pensionierung u. a. als Public Member des Ethics Committee der International Federation of Accountants (IFAC) aufrechterhalten. Volker Röhricht war im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit immer bewusst, dass viele streitig ausgetragene gesellschaftsrechtliche Probleme ihre Ursache im Bilanz- und im Steuerrecht haben – Gebiete, in denen zum großen Teil nicht juristisch Vorgebildete tätig sind. Für die sich daraus ergebenden VII
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Konflikte des Zusammenwirkens von Gesellschaftsrecht, Rechnungslegungs- und Steuerrecht hat er immer ein besonderes Gespür gehabt. Röhricht hat zwar – wie erwähnt – die Dolmetscherprüfung für Englisch abgelegt, besitzt allerdings – wie die meisten Richter – keine berufsspezifische „Auslandserfahrung“. Der Kontakt zu seinem akademischen Lehrer und späteren Schwiegervater Würdinger, der für die Kommission der Europäischen Gemeinschaften als Berater und Gutachter bei der Harmonisierung des Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts tätig war, öffnete ihm jedoch mehr als anderen den – nicht unkritischen – Blick für die Fragen der Rechtsvergleichung, der Rechtsangleichung und des europäischen Rechts. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wirkte er in der „Arbeitsgruppe Europäisches Gesellschaftsrecht“ („Group of German Experts on Corporate Law“) mit (siehe die Stellungnahmen zum Konsultationsdokument der [europäischen] High Level Group of Experts on Corporate Law in ZIP 2002, 1310 und zu deren Abschlussbericht in ZIP 2003, 863). *** Volker Röhricht hat schließlich eine intensive Beziehung zum Sport: Während seiner Schulzeit war er aktiver Leistungssportler und brachte es im Jahre 1956 bis zum Berliner Jugendmeister in seiner Paradedisziplin, dem 100Meter-Sprint. Seine Liebe zum Sport hat sich in einer intensiven Beziehung zum Sportrecht fortgesetzt. Insofern ist es ein glücklicher Zufall, dass das Sportrecht zu einem erheblichen Teil Verbandsrecht ist und als solches in die Zuständigkeit „seines“ II. Zivilsenats fällt. Mehrere der Tätigkeiten und Funktionen Röhrichts haben denn auch Bezug zum Sport. So war er von 1991 bis 1993 Mitglied der juristischen DopingKommission des Deutschen Sportbundes und hat durch seine Mitwirkung bei der Erstellung der Rahmenrichtlinien zur Bekämpfung des Dopings Kautelarjurisprudenz in Person und im besten Sinne verwirklicht. Als Vorsitzender des beim Bundesministerium des Innern angesiedelten Beirats nach dem Dopingopfer-Hilfsgesetz hat er zur Bewältigung der DDR-DopingProblematik seinen Beitrag geleistet. Wesentlichen Anteil hat er am Erfolg der Veranstaltung „Schiedsgerichte bei Doping-Streitigkeiten“, die 2002 in der Führungsakademie des Deutschen Sportbundes stattfand. Dasselbe gilt für die Ausarbeitung der deutschen Position im Hinblick auf den WorldAnti-Doping-Agency-Code (WADA-Code) im selben Jahr. Seit 1997 ist er Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportrecht (vormals „Konstanzer Arbeitskreis für Sportrecht“) und damit Nachfolger seiner BGH-Kollegin Erika Scheffen. Im Wesentlichen aus seiner Feder stammt die Karlsruher Erklärung zum Fairplay (1997/1998), die sich nicht auf die Darstellung hehrer Prinzipien beschränkt, sondern konkrete Forderungen an alle am Sport Beteiligten enthält. *** VIII
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Trotz aller sonstigen Ämter, Funktionen und schriftstellerischer Tätigkeit: Volker Röhricht war in erster Linie Richter, und das mit Leib und Seele. Vor allem seine Tätigkeit als Vorsitzender des II. Zivilsenats verbindet sich daher mit den Entscheidungen, an denen er – das darf auch mit Blick auf §§ 43, 45 Abs. 3 DRiG gesagt werden – prägend mitgewirkt hat (siehe dazu auch den ausführlicheren Überblick bei Henze, in diesem Werk, S. 201 ff.). Für das Recht der Personengesellschaften ist eine völlige Neukonzeption der Haftungsverfassung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts festzustellen. Angelegt schon in der Entscheidung BGHZ 142, 315, mit welcher die Firmierung als „GbR mbH“ abgelehnt worden war, ist mit Urteil vom 29. Januar 2001 die Rechts- und Parteifähigkeit einer Außengesellschaft bürgerlichen Rechts bejaht worden. Zugleich hat eine Abkehr von der „Doppelverpflichtungstheorie“ stattgefunden, so dass das Verhältnis zwischen der Haftung der Gesellschaft und der Haftung der Gesellschafter nach dem Akzessorietätsmodell zu beurteilen ist (BGHZ 146, 341). Die den II. Zivilsenat immer wieder beschäftigenden Finanzierungsfragen der GmbH haben ihre Ursache zumeist im Festkapitalsystem des geltenden Rechts. Obwohl die Konzeption des GmbH-Gesetzes rechtspolitisch nicht mehr unumstritten ist – gerade der Jubilar hat bei verschiedenen Gelegenheiten Zweifel an Effizienz und Zukunftsfähigkeit dieses Systems durchblicken lassen –, wird sie vom BGH der lex lata folgend strikt umgesetzt. Zu nennen ist hier nur die Fallgruppe der verdeckten Sacheinlage, bei welcher bezüglich der Rechtsfolgen nunmehr § 27 Abs. 3 S. 1 AktG analog angewendet wird (BGHZ 155, 329). Im Bereich der Kapitalerhaltung ist der Anwendungsbereich der §§ 30, 31 GmbHG neuerdings nochmals erweitert worden, indem bei Kreditgewährungen an Gesellschafter, die zu Lasten des gebundenen Vermögens erfolgen, einer rein bilanziellen Betrachtungsweise (Aktivtausch) eine Absage erteilt wird (BGHZ 157, 72). Die insbesondere in der Praxis kritisch betrachtete Konzernhaftungsrechtsprechung (Stichwort: BGHZ 115, 187 – Video-Urteil) ist – beginnend schon mit der TBB-Entscheidung (BGHZ 122, 123) – in traditionellere dogmatische Bahnen gelenkt worden. Vor allem mit dem Urteil „Bremer Vulkan“ (BGHZ 149, 10) wird der Gläubigerschutz der GmbH (konzeptionell grundlegend Röhricht, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, 2000, S. 83 ff.) aus seiner konzernrechtlichen Einbindung gelöst und durch die Figur des „existenzvernichtenden Eingriffs“ ersetzt. Die zunehmende Verbreitung der Aktiengesellschaft führt naturgemäß zu mehr „Fallmaterial“ in diesem Bereich. Der II. Zivilsenat lässt durchgängig erkennen, dass insbesondere börsennotierten Gesellschaften ausreichende Rechtssicherheit bei Strukturentscheidungen gegeben werden soll. Die Entscheidungen Siemens/Nold (BGHZ 136, 133) sowie MEZ und Aqua-Butzke (BGHZ 146, 179 – MEZ; BGH ZIP 2001, 412 – Aqua-Butzke) sind in diesem IX
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Zusammenhang beispielhaft zu nennen. Die Urteile knüpfen an eine ältere Entwicklung an, mit der der II. Zivilsenat die Eintragung einer Verschmelzung trotz schwebender Anfechtungsklage zuließ, wenn die Klage unzulässig oder offensichtlich unbegründet war (BGHZ 112, 9 – HypothekenbankSchwestern; vgl. nunmehr § 16 Abs. 3 UmwG). Neuerdings ist mit den beiden Gelatine-Entscheidungen (BGHZ 159, 30 = ZIP 2004, 993 – Gelatine I und BGH ZIP 2004, 1001 – Gelatine II – in Klarstellung von BGHZ 83, 122 – Holzmüller) die Kompetenz der Hauptversammlung in der Weise konkretisiert worden, dass eine Maßnahme unter Zustimmungsvorbehalt steht, wenn sie an die Kernkompetenz der Hauptversammlung rührt, nämlich über die Verfasstheit der Gesellschaft zu befinden, und wenn sie in ihren Auswirkungen einen Zustand erreicht, der allein durch Satzungsänderung herbeigeführt werden kann. Die zusätzliche Rechtssicherheit für die Gesellschaften sieht der II. Zivilsenat allerdings im Zusammenhang mit einer stärkeren Verpflichtung der Organmitglieder. Das war schon in der ARAG-Entscheidung (BGHZ 135, 244) herausgearbeitet worden und ist durch die Haftung von Organmitgliedern gegenüber Dritten in den Infomatec-Entscheidungen (BGHZ [demnächst] = ZIP 2004, 1593 – Infomatec I; BGHZ [demnächst] = ZIP 2004, 1599 – Infomatec II) bestätigt und intensiviert worden. Insbesondere im Fall ARAG hat der BGH den Begriff des unternehmerischen Ermessens (business judgment rule) eingeführt, im Gegenzug aber auch eine Verpflichtung des Aufsichtsrats statuiert, feststehende Pflichtverstöße der Verwaltung zu verfolgen. *** Karriere, Schaffenskraft, Lebensfreude sowie die vielfältigen Interessen des Jubilars, die hier gar nicht aufgezählt werden können und die ihn zu einem begeisternden Diskussionspartner machen, sind kaum möglich ohne ein stabiles Umfeld. Der Schlüssel zu allem liegt nicht zuletzt in seiner Gattin Gabriele Röhricht, einer geborenen Würdinger, die also selbst aus einer „gesellschaftsrechtlichen Familie“ stammt und ebenfalls Juristin ist. Sie hat erheblichen Anteil an all´ dem, was ihr Mann erreicht hat. Dass sie ihre eigene Karriere hintangestellt hat, verpflichtet uns alle zu besonderem Dank. Die Autoren dieser Festschrift wünschen daher nicht nur Ihnen, sehr verehrter, lieber Herr Röhricht, alles Schöne und Gute für die nächsten Jahre, sondern auch Ihrer Gattin, letztlich also den beiden „Röhrichts“, wie wir sie kennen und schätzen. Bleiben Sie dem Gesellschaftsrecht, der Rechnungslegung, dem Sportrecht und uns allen gewogen! Bamberg, Hamburg und Erlangen, im Mai 2005 Georg Crezelius, Heribert Hirte und Klaus Vieweg X
Inhalt Seite
Volker Röhricht zum 65. Geburtstag ........................................................
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Verzeichnis der Autoren ............................................................................. XVII Schriftenverzeichnis Dr. h.c. Volker Röhricht ......................................... XXV
I. Gesellschaftsrecht Holger Altmeppen Existenzvernichtungshaftung und Scheinauslandsgesellschaften .......
3
Walter Bayer Die Gesamtverantwortung der Gesellschafter für das Stammkapital und die Existenz der GmbH ....................................................................
25
Reinhard Bork Genussrechte in der Überschuldungsbilanz ..........................................
47
Carsten P. Claussen Nachtrag zur „kleinen AG“ ....................................................................
63
Barbara Dauner-Lieb Unternehmerische Tätigkeit zwischen Kontrolle und Kreativität ......
83
Hartwin von Gerkan Dauer und Wegfall des Sanierungsprivilegs bei Scheitern der Sanierung .................................................................................................
105
Wulf Goette Zur entsprechenden Anwendung des § 242 Abs. 2 AktG im GmbH-Recht ...........................................................................................
115
Barbara Grunewald Rechtsmissbräuchliche Umwandlungen ...............................................
129
Wilhelm Haarmann Der Rangrücktritt ....................................................................................
137
Mathias Habersack Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs – Überlegungen zu Zweck und Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ...........
155
Hans-Jürgen Hellwig Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA ..
181 XI
Inhalt
Hartwig Henze Aspekte des Verbraucherschutzes in der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes .........................................................................
201
Heribert Hirte Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige .......................................................................................
217
Klaus J. Hopt Europäisches Gesellschaftsrecht – Der Aktionsplan und die ersten Durchführungsmaßnahmen ...................................................................
235
Uwe Hüffer Der herrschende Aktionär – Adressat eines ungeschriebenen Wettbewerbsverbots? ..............................................................................
251
Michael Junge Der Verkauf von Teilnahme- und Stimmrechten über das Internet und die zahlenmäßige Begrenzung der Übertragbarkeit von Teilnahme- und Stimmrechten ..............................................................
277
Alfred Kellermann Zur Gesellschafterhaftung in der Vor-GmbH – BGH-Urt. v. 27.1.1997 – II ZR 123/94 BGHZ 134, 133 .........................
291
Peter Kindler Einlagengeschäft und Gesellschaftsrecht – Eine Skizze zu § 1 KWG ..
301
Detlef Kleindiek Eintrittshaftung in der BGB-Gesellschaft ..............................................
315
Achim Krämer Nachvertragliche Wettbewerbsverbote im Spannungsfeld von Berufs- und Vertragsfreiheit ....................................................................
335
Gerd Krieger Gewinnabhängige Aufsichtsratsvergütungen ........................................
349
Marcus Lutter Die Rückabwicklung fehlerhafter Kapitalübernahmen ........................
369
Georg Maier-Reimer Die Veräußerung von GmbH-Anteilen durch den Gesellschaftsvertrag ......................................................................................................
383
Reinhard Marsch-Barner Aktuelle Rechtsfragen zur Vergütung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer AG ........................................................
401
XII
Inhalt
Peter O. Mülbert Marktwertmaximierung als Unternehmensziel der Aktiengesellschaft ..............................................................................................
421
Hans-Werner Neye Die optionale Einführung der monistischen Unternehmensverfassung für die Europäische (Aktien-)Gesellschaft im deutschen Recht ........................................................................................................
443
Ulrich Noack Unternehmensinsolvenz: Reorganisation des Rechtsträgers oder Vertragsnachfolge bei übertragender Sanierung ....................................
455
Hans-Joachim Priester Schuldrechtliche Zusatzleistungen bei Kapitalerhöhung im Aktienrecht. Zulässigkeit – Registerprüfung – Bilanzierung ................
467
Alla Röhricht Der gegenwärtige Zustand des russischen Handelsrechts – ein Überblick ...........................................................................................
479
Franz Jürgen Säcker Derivative Finanzierungsinstrumente zwischen Aufsichtsrecht und Gesellschaftsrecht ............................................................................
497
Karsten Schmidt Zur Binnenverfassung der GmbH & Co. KG – Wer ist Herr im Haus: die GmbH oder die Kommanditisten? ...................................................
511
Uwe H. Schneider und Tobias Brouwer Die Aufrechnung von Ansprüchen der Gesellschaft auf Schadensersatz gegen Ansprüche des Geschäftsführers auf Ruhegeld ................
541
Wolfgang Schön Vermögensbindung und Kapitalschutz in der AG – Versuch einer Differenzierung ........................................................................................
559
Matthias Schüppen Dividende ohne Hauptversammlungsbeschluss? – Zur Durchsetzung des mitgliedschaftlichen Gewinnanspruchs in Pattsituationen ..........
571
Ulrich Seibert Die rechtsmissbräuchliche Verwendung der GmbH in der Krise – Stellungnahmen zu einer Umfrage des Bundesministeriums der Justiz ........................................................................................................
585
Christoph H. Seibt Gesamtrechtsnachfolge beim gestalteten Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personengesellschaften: Grundfragen des Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutzes .................................
603 XIII
Inhalt
Peter Ulmer „Satzungsgleiche“ Gesellschaftervereinbarungen bei der GmbH? – Zum Für und Wider der Trennung zwischen Satzung und schuldrechtlichen Gesellschafterabreden .........................................................
633
Harm Peter Westermann Die zweigliedrige Personengesellschaft in der Krise .............................
655
Friedrich Graf von Westphalen Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB – Kein Ende der Diskussion? .......................................................................................
675
Christine Windbichler Murmeln für Konzerne – Gesellschaftsrecht als Glasperlenspiel ........
693
Martin Winter Gesellschaftsrechtliche Schranken für „Wertgarantien“ der AG auf eigene Aktien ...........................................................................................
709
II. Rechnungslegung Wolfgang Ballwieser Die Konzeptionslosigkeit des International Accounting Standards Board (IASB) .............................................................................................
727
Jochen Berninghaus Feststellung des Jahresabschlusses in der stillen Gesellschaft? – Zugleich ein Beitrag zur Bilanzfeststellung im Personengesellschaftsrecht ....................................................................................
747
Hermann Clemm Zur Problematik einer wahren Rechnungslegung .................................
767
Georg Crezelius Überschuldung und Bilanzierung ...........................................................
787
Dietrich Dörner Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance-Vorschriften ........................................................................
809
Werner F. Ebke Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers und ihre Auswirkungen auf die Abschlussprüfung und den testierten Jahresabschluss ........................................................................................
833
Bernd Erle Steuerberatung durch den Abschlussprüfer ...........................................
859
XIV
Inhalt
Joachim Hennrichs Wahrheit und Dichtung – oder: Aspekte zur Wiederherstellung des Vertrauens in Bilanzen ............................................................................
881
Peter Hommelhoff und Daniela Mattheus Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung: Fachliche Verlautbarungen und ihre Steuerungswirkung ..................................................
897
Paul Kirchhof Der Vertrag – ein Instrument zur Begründung steuerlicher Ungleichheit? ..........................................................................................
919
Karl Ernst Knorr Fehlleistungen des Abschlussprüfers als Befangenheitsgrund ..............
935
Bernd Kunth Zur gerichtlichen Kontrolle der Unternehmensbewertung durch mehrere Dritte – Ein Beitrag wider die Leitsatz-Gläubigkeit ...............
951
Kai-Uwe Marten und Stefan Müller Squeeze-out-Prüfung ...............................................................................
963
Klaus-Peter Martens Bewertungsspielräume bei Fusionen und fusionsähnlichen Strukturänderungen ................................................................................
987
Adolf Moxter Zur Funktionsinadäquanz von Bilanzen ................................................ 1007 Welf Müller Anteilswert oder anteiliger Unternehmenswert? – Zur Frage der Barabfindung bei der kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaft ..... 1015 Arndt Raupach Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsrecht und Bilanzrecht unter dem Einfluss international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze ................................................................................................ 1033 Harald Ring Entwicklung einheitlicher Unabhängigkeitsregeln in Europa – Beitrag des europäischen Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer ............ 1055 Elisabeth Strobl-Haarmann Grenzüberschreitende Tätigkeit von betrieblichen Pensionsfonds und Pensionskassen in Europa: zur EG-Rechtswidrigkeit von § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG .................................................................................... 1065 Roland Wacker Vertrautes und Neues zu § 15a EStG ..................................................... 1079 XV
Inhalt
III. Sportrecht Walter Dury Lösung des Doping-Problems durch den Staatsanwalt? ........................ 1097 Toni Graf-Baumann Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte .................... 1115 Wolfgang Grunsky Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball ....................................... 1137 Ulrich Haas und Clemens Prokop Der eingetragene nichtwirtschaftliche Verein und das Kapitalersatzrecht ............................................................................................... 1149 Horst Hagen Harmonisierung des Lärmschutzes gegenüber Sport und Spiel – Rückschau und Ausblick ........................................................................ 1175 Peter W. Heermann Beschränkung der persönlichen Haftung des Vereinsvorstands durch Ressortverteilung .......................................................................... 1191 Alfred Sengle Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball (DFB) ........................................................................................... 1205 Udo Steiner Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland ... 1225 Rudolf Streinz Die Freizügigkeit für Sportlehrer im Binnenmarkt ............................... 1239 Klaus Vieweg Fairness und Sportregeln – Zur Problematik sog. Tatsachenentscheidungen im Sport ........................................................................ 1255 Wolf-Dietrich Walker Die Vertragsstrafe im Arbeitsvertrag des Sportlers am Beispiel des Lizenzfußballspielers .............................................................................. 1277 Johannes Wertenbruch Vertragsnatur, Gewährleistung und Bilanzierung beim Spielerkauf nach Bosman ............................................................................................ 1297
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Verzeichnis der Autoren Altmeppen, Holger Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht I, Universität Passau Ballwieser, Wolfgang Dr. Dr. h. c., Universitätsprofessor, Direktor des Seminars für Rechnungswesen und Prüfung, Ludwig-Maximilians-Universität München Bayer, Walter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Gesellschaftsrecht, Privatversicherungsrecht und Internationales Privatrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum deutschen und europäischen Unternehmensrecht, Richter am Thüringer OLG und am Thüringer VerfGH Berninghaus, Jochen Dr., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in Dortmund Bork, Reinhard Dr., Universitätsprofessor, Seminar für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht, Universität Hamburg Brouwer, Tobias Assessor, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Darmstadt Claussen, Carsten Peter Dr. Dr. h. c., Rechtsanwalt in der Kanzlei Hoffmann, Liebs, Fritsch & Partner in Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Hamburg Clemm, Hermann Dr., Wirtschaftsprüfer, Mitglied des Vorstands der KPMG Deutsche Treuhand Gesellschaft Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft i. R., Starnberg Crezelius, Georg Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Steuerrecht, Universität Bamberg Dauner-Lieb, Barbara Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht und Europäische Privatrechtsentwicklung der Universität zu Köln, Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht, Richter am OLG Köln XVII
Verzeichnis der Autoren
Dörner, Dietrich Dr. h. c., Wirtschaftsprüfer/Steuerberater, Vorsitzender des Beirats der Ernst & Young AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Stuttgart Dury, Walter Präsident des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz in Koblenz, Mitglied des Beirats der Deutschen Vereinigung für Sportrecht e. V. – DVSR – (Konstanzer Arbeitskreis) Ebke, Werner F. Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Attorney-at-Law, New York, USA Erle, Bernd Dr., Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwalt, Steuerberater, Mitglied des Vorstands der KPMG Deutsche Treuhand Gesellschaft Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Frankfurt am Main von Gerkan, Hartwin Dr., Vorsitzender Richter am Hanseatischen OLG Hamburg a. D., Reinbek bei Hamburg Goette, Wulf Dr., Richter am Bundesgerichtshof, Honorarprofessor der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Ettlingen Graf-Baumann, Toni Dr. med., Universitätsprofessor, Vorsitzender der FIFA-Dopingkomission, Mitglied der Sportmedizinischen Kommission der FIFA Grunewald, Barbara Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsund Anwaltsrecht an der Universität zu Köln Grunsky, Wolfgang Dr., Universitätsprofessor (em.), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Prozessrecht und Arbeitsrecht an der Universität Bielefeld, Rechtsanwalt in der Kanzlei Nörr, Stiefenhofer, Lutz in München Haarmann, Wilhelm Dr., Rechtsanwalt, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Haarmann Hemmelrath, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Universität Bamberg Haas, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht, Johannes Gutenberg-Universität Mainz XVIII
Verzeichnis der Autoren
Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Wirtschaftsrecht der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Hagen, Horst Dr., Vizepräsident des Bundesgerichtshofes a. D., apl. Professor an der Universität Kiel Heermann, Peter W. Dr., LL.M., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Sportrecht der Universität Bayreuth, Richter am OLG Nürnberg Hellwig, Hans-Jürgen Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Hennrichs, Joachim Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht der Universität zu Köln Henze, Hartwig Dr., Richter am Bundesgerichtshof a. D., Honorarprofessor der Universität Konstanz Hirte, Heribert Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schiffahrts- und Wirtschaftsrecht der Universität Hamburg Hommelhoff, Peter Dr. Dr. h. c., Universitätsprofessor, Rektor der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, vormals Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, vormals Richter am OLG Hamm und Karlsruhe Hopt, Klaus J. Dr. Dr. Dr. h. c. mult., Professor, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg, vormals Richter am OLG Stuttgart Hüffer, Uwe Dr., Universitätsprofessor (em.), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht (einschließlich Berg- und Energierecht), Richter am OLG Hamm a. D. XIX
Verzeichnis der Autoren
Junge, Michael Rechtsanwalt, Chefjustiziar der SAP AG, Mühlhausen Kellermann, Alfred Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Karlsruhe a. D. Kindler, Peter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Ruhr-Universität Bochum Kirchhof, Paul Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Bundesverfassungsrichter a. D. Kleindiek, Detlef Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, deutsches und europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bielefeld Knorr, Karl Ernst Dr., Rechtsanwalt/Wirtschaftsprüfer/Steuerberater, Vorstand der BDO Deutsche Warentreuhand Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Köln Krämer, Achim Dr., Honorarprofessor an der Universität Göttingen, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Krieger, Gerd Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf Kunth, Bernd Dr., Rechtsanwalt und Partner, Freshfields Bruckhaus Deringer, Düsseldorf Lutter, Marcus Dr. Dres. h. c., Universitätsprofessor (em.), Sprecher des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn, Rechtsanwalt in Berlin Maier-Reimer, Georg Dr. Dr. h. c., LL.M., Rechtsanwalt, Linklaters Oppenhoff & Rädler, Köln Marsch-Barner, Reinhard Dr., Syndikus der Deutschen Bank AG, Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen XX
Verzeichnis der Autoren
Marten, Kai-Uwe Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung an der Universität Ulm Martens, Klaus-Peter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeits-, Handels- und Gesellschaftsrecht, Universität Hamburg, Richter am OLG Hamburg a. D. Mattheus, Daniela Ass. iur., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht an der Universität Heidelberg, Mitarbeiterin in KPMG’s Audit Committee Institute, Frankfurt am Main Moxter, Adolf Dr. Dr. h. c. mult., Universitätsprofessor (em.), J. W. Goethe-Universität, Frankfurt am Main Mülbert, Peter O. Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Bankrecht an der Universität Mainz, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Universität Mainz Müller, Stefan Diplom-Wirtschaftswissenschaftler, Transaction Advisory Services, Ernst & Young AG, Frankfurt am Main Müller, Welf Dr., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Linklaters Oppenhoff & Rädler, Frankfurt am Main Neye, Hans-Werner Dr., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Leiter des Referats für Europäisches Gesellschaftsrecht, Berlin Noack, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Priester, Hans-Joachim Dr., Notar, Honorarprofessor an der Universität Hamburg Prokop, Clemens Dr., Direktor des Amtsgerichts Kelheim, Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes, Vizepräsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland XXI
Verzeichnis der Autoren
Raupach, Arndt Dr., Rechtsanwalt McDermott Will & Emery, München, Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Ring, Harald Dr., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Vorstandsvorsitzender des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. Röhricht, Alla Doktorandin am Institut für Staat und Recht, Moskau, Mitarbeiterin der wissenschaftlichen Information für Gesellschaftswissenschaften, Moskau, zugleich stud. iur. an der Ludwig-Maximilians-Universität München Säcker, Franz Jürgen Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. h. c., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Energierecht der Freien Universität Berlin, Richter am Kartellsenat des Kammergerichts a. D. Schmidt, Karsten Dr. Dres. h. c., Universitätsprofessor (em.) an der Universität Bonn, Präsident der Bucerius Law School, Hamburg Schneider, Uwe H. Dr., Universitätsprofessor an der Technischen Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Universität Mainz Schön, Wolfgang Dr., Direktor am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, Honorarprofessor an der Ludwig-MaximiliansUniversität München Schüppen, Matthias Dr. iur., Dipl.-Ökonom, Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Haarmann Hemmelrath, Stuttgart Seibert, Ulrich Dr., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Düsseldorf Seibt, Christoph H. Dr., LL.M. (Yale), Rechtsanwalt, Freshfields Bruckhaus Deringer, Hamburg
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Verzeichnis der Autoren
Sengle, Alfred Dr. h. c., Präsident des Landesgerichts a. D., ehem. Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in Frankfurt am Main Steiner, Udo Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bayerisches und Deutsches Staats- und Verwaltungsrecht sowie Verwaltungslehre an der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts Streinz, Rudolf Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht der Ludwig-Maximilians-Universität München Strobl-Haarmann, Elisabeth Dr., Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Kronberg Ulmer, Peter Dr. Dr. h. c. mult., Universitätsprofessor (em.), Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg Vieweg, Klaus Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsinformatik, Technik- und Wirtschaftsrecht, Universität Erlangen-Nürnberg, Vizepräsident der Deutschen Vereinigung für Sportrecht und der International Association of Sports Law Wacker, Roland Dr., Richter am Bundesfinanzhof, München Walker, Wolf-Dietrich Dr., Universitätsprofessor, Professur für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht, Justus-Liebig-Universität Gießen Wertenbruch, Johannes Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Handels- und Wirtschaftsrecht der Philipps-Universität Marburg Westermann, Harm Peter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Westphalen, Friedrich Graf von Dr., Rechtsanwalt, Graf von Westphalen Bappert & Modest, Köln, Honorarprofessor an der Universität Bielefeld XXIII
Verzeichnis der Autoren
Windbichler, Christine Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Institut für deutsches und europäisches Unternehmens-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht, HumboldtUniversität zu Berlin Winter, Martin Dr., Rechtsanwalt, Shearman & Sterling LLP, Mannheim
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Schriftenverzeichnis Dr. h.c. Volker Röhricht I. Kommentierungen Großkommentar zum Handelsgesetzbuch, Vorbemerkungen zu §§ 373/374 HGB, Kommentierung der §§ 373–376 HGB, 3. Aufl. Berlin 1970 (in Gemeinschaft mit Würdinger) Großkommentar zum Aktiengesetz, Kommentierung der §§ 23–40 AktG, 4. Aufl. Berlin 1996 Röhricht/Graf v. Westphalen, Kommentar zum Handelsgesetzbuch, Einleitung und Kommentierung der §§ 1–7 und §§ 93–104 HGB, 1. Aufl. Köln 1997, 2. Aufl. Köln 2001
II. Herausgeberschaft Kommentar zum Handelsgesetzbuch, 1. Aufl. Köln 1997, 2. Aufl. Köln 2001 (in Gemeinschaft mit Graf von Westphalen) Sportgerichtsbarkeit, Schriftenreihe Recht und Sport, Bd. 22, Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar, Dresden 1997 RWS-Forum 10, Gesellschaftsrecht 1997, Köln 1998 (in Gemeinschaft mit Hommelhoff) Doping-Forum, Aktuelle rechtliche und medizinische Aspekte, Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar, Dresden 2000 (in Gemeinschaft mit Vieweg) Gesellschafts- und Umwandlungsrecht in der Bewährung, ZGR-Symposion vom 20. und 21.06.1997, ZGR-Sonderheft 14, Berlin-New York 1998 (in Gemeinschaft mit Hommelhoff und Hagen)
III. Festschriftbeiträge Zum Austritt des Gesellschafters aus der GmbH, in: Festschrift für Alfred Kellermann, Berlin, New York 1990, ZGR-Sonderheft 10, S. 361–388 Freie Verfügungsmacht und Bankenhaftung, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, München 1996, S. 457–479 Die GmbH im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Dispositionsfreiheit ihrer Gesellschafter und Gläubigerschutz, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Köln, Berlin, Bonn, München 2000, S. 83–122
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Schriftenverzeichnis Dr. h.c. Volker Röhricht
IV. Abhandlungen zum Wirtschaftsrecht Die Rechtsprechungsregeln zum Eigenkapitalersatz bei GmbH und GmbH & Co. KG, Steuerberater-Jahrbuch 1991/1992, Köln 1992, S. 313–343 Das Wettbewerbsverbot des Gesellschafters und des Geschäftsführers, WPg 1992, S. 766–786 Reform des Umwandlungsrechts: IDW-Umwandlungssymposion am 8./9. Oktober 1992, Düsseldorf 1993, S. 64–72 Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht, Hommelhoff/Röhricht (Hrsg.), RWS-Forum 10, Gesellschaftsrecht 1997, Köln 1998, S. 191–222 Beratung und Abschlußprüfung, WPg 1998, S. 153–163 Die Rechtsstellung außenstehender Aktionäre beim Beitritt zum Beherrschungsvertrag, ZHR 162 (1998), S. 249–260 Von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, ZGR 1999, S. 445–478 Die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, WPg-Sonderheft 2001, S. 80–90 Die Treuepflicht der Aktionäre, insbesondere des Mehrheitsgesellschafters, Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, Köln 2003, S. 513–547 Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Kapitalgesellschaftsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion, Bd. 1, Köln 1999, S. 1–22 Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1999, Bd. 2, Köln 2000, S. 3–29 Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2000, Bd. 3, Köln 2001, S. 3–31 Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2001, Bd. 5, Köln 2002, S. 3–37 Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2002, Bd. 6, Köln 2003, S. 3–35 Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2003, Bd. 8, Köln 2004, S. 1–36
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Schriftenverzeichnis Dr. h.c. Volker Röhricht
Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2004, Bd. 9, Köln 2005, S. 1–30 Das neue Konzept des BGH zur Gesellschafterhaftung bei der GmbH, in: Henze/Hoffmann-Becking (Hrsg.), RWS-Forum 25, Gesellschaftsrecht 2003, Köln 2004, S. 1–36 Insolvenzrechtliche Aspekte im Gesellschaftsrecht, ZIP 2005, S. 505–516
V. Abhandlungen zum Sportrecht Inhaltskontrolle verbandsrechtlicher Entscheidungen. Bestandsaufnahme und Ausblick, in: Württembergischer Fußballverband e. V. (Hrsg.), Verbandsrechtsprechung und staatliche Gerichtsbarkeit, Schriftenreihe des Württembergischen Fußballverbandes e. V. Nr. 24, Stuttgart 1998, S. 75–90 Satzungsrechtliche und individualrechtliche Absicherung von Zulassungssperren als wesentlicher Bestandteil des DSB-Sanktionenkatalogs, in: Akademieschrift Nr. 39 der Führungs- und Verwaltungsakademie Berlin des Deutschen Sportbunds, Frankfurt/Main 1994, S. 12–27 Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfahren nach deutschem Recht, in: Röhricht (Hrsg.), Sportgerichtsbarkeit, Schriftenreihe Recht und Sport, Bd. 22, Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar, Dresden 1997, S. 19–42 Probleme des Beweisrechts im Sport – Verbandssanktionen bei Doping und Zuschauerausschreitungen, in: Württembergischer Fußballverband e. V. (Hrsg.), Sportrecht damals und heute, Schriftenreihe des Württembergischen Fußballverbandes e. V. Nr. 43, Stuttgart 2001, S. 15–48
VI. Rezensionen Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz – mit Nebengesetzen und den Anhängen Konzernrecht sowie Umwandlung und Verschmelzung, Bd. II, 7. Aufl. 1988, ZHR 153 (1989), S. 348–353 Barbara Grunewald, Der Ausschluss aus Gesellschaft und Verein, 1987, AcP 189 (1989), S. 386–395
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Existenzvernichtungshaftung und Scheinauslandsgesellschaften Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grund und Grenzen der Existenzvernichtungshaftung 1. Missbrauch der Gesellschafterstellung 2. Abzug oder Entzug von Vermögen 3. Vorenthaltung betriebswirtschaftlich benötigter Marktchancen 4. Subsidiarität der Haftung 5. Kausalität und Beweislast 6. Meinungsstand im Schrifttum a) Zustimmung b) Ablehnung 7. Stellungnahme III. Die Existenzvernichtungshaftung bei Scheinauslandsgesellschaften 1. Begriff und Entstehung der Scheinauslandsgesellschaft
2. Das maßgebliche Gesellschaftsstatut a) Meinungsstand b) Stellungnahme c) Das alternativ berufene Außenrecht des Gründungsstaates 3. Verstoß der richtigen Kollisionsregel gegen die Niederlassungsfreiheit? 4. Zur Anwendbarkeit der Existenzvernichtungshaftung auf die Scheinauslandsgesellschaft a) Meinungsstand b) Stellungnahme c) Zur Alternativanknüpfung IV. Der Gerichtsstand zur Verfolgung der Existenzvernichtungshaftung 1. Meinungsstand 2. Stellungnahme
I. Einleitung Der Jubilar hat im Gesellschaftsrecht grundlegende Veränderungen bewirkt. Ihm ist es auch zu verdanken, dass der II. Zivilsenat im Jahre 2001 die endgültige Abkehr von der Rechtsfigur des „qualifiziert faktischen“ Konzerns vollzogen hat1, die seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend zum Dauerthema des Gesellschaftsrechts geworden war und viel Verwirrung gestiftet hatte2. An die Stelle der Haftung im qualifiziert faktischen Konzern ist ein Konzept getreten, das durch wesentliche Vorarbeiten des Jubilars3 geprägt wurde und unter der Bezeichnung „Existenzvernichtungshaftung“ mit dem „KBV“-Urteil aus dem Jahre 20024 seinen Standort im System des Kapitalgesellschaftsrechts gefunden hat.
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S. BGHZ 149, 10 (Bremer Vulkan). S. dazu die Nachw. bei Altmeppen, Abschied vom „qualifiziert faktischen“ Konzern, 1991. 3 S. Röhricht in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 83 ff.; eingehend auch ders. in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2002, 2003, S. 22 ff. 4 BGHZ 151, 181 (KBV). 1 2
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Seit dem Centros-Urteil des EuGH5, spätestens aber seit dem Urteil des EuGH „Inspire Art“6 steht fest, dass sich EU-ausländische Kapitalgesellschaften, die nach dem Recht des Gründungsstaats keine oder keine nennenswerte Kapitalausstattung haben müssen, ausschließlich in Deutschland niederlassen können. Dies gilt insbesondere für die „Scheinauslandsgesellschaft“, deren Gründer lediglich den Zweck verfolgen, das permissivere Gründungsrecht in einem der Mitgliedstaaten zu nutzen, um anschließend die geschäftliche Tätigkeit dieser Gesellschaft an ihrem einzigen effektiven Sitz in Deutschland zu betreiben. Grund und Grenzen der Existenzvernichtungshaftung sind ebenso umstritten wie die Frage, ob Gesellschafter und Geschäftsführer der Scheinauslandsgesellschaft mit Sitz in Deutschland in diese persönliche Haftung geraten können. Von entscheidender Bedeutung ist auch, ob überhaupt ein deutsches Gericht angerufen werden kann, wenn und soweit es um die Haftung von Gesellschaftern und Geschäftsführern der Scheinauslandsgesellschaft geht, die möglicherweise keinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland haben. Die Bestandsaufnahme und nachfolgende Untersuchung dieser drei Fragen ist dem Vater der Existenzvernichtungshaftung mit Dank für stets anregenden und weiterführenden Gedankenaustausch gewidmet.
II. Grund und Grenzen der Existenzvernichtungshaftung 1. Missbrauch der Gesellschafterstellung Die Kernaussage zur „Existenzvernichtungshaftung“ i. S. d. Urteils „KBV“7 lautet, dass es unter engen Voraussetzungen, die mit einem Konzerntatbestand oder einheitlicher Leitung gar nichts zu tun haben, eine Durchgriffshaftung des Gesellschafters gibt, der keine angemessene Rücksicht auf die Erhaltung der Fähigkeit seiner GmbH genommen hat, ihre Verbindlichkeiten zu bedienen8. Der II. Zivilsenat des BGH geht von einem Verlust des Haftungsprivilegs des § 13 Abs. 2 GmbHG aus, wenn der beherrschende Gesellschafter im Sinne eines Missbrauchs der Rechtsform der GmbH objektiv gegen die angemessene Rücksicht auf die Gläubigerinteressen der GmbH verstößt. „Objektivität“ des Missbrauchs bedeutet dabei, dass es auf besondere Verschuldensmerkmale in der Person des Gesellschafters nicht ankommt.
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EuGH, EuGHE 1999, I-1459 = NJW 1999, 2027 (Centros). EuGH, EuGHE 2003, I-10155 = NJW 2003, 3331 (Inspire Art). BGHZ 151, 181 (KBV). BGHZ 151, 181 (187) (KBV). Bei genauer Betrachtung war das bereits die Haftungsformel des „TBB“-Urteils (BGHZ 122, 123), worauf Röhricht in Gesellschaftsrecht in der Diskussion (Fn. 3), S. 22 ff. zutr. hingewiesen hat.
Existenzvernichtungshaftung und Scheinauslandsgesellschaften
Letztlich geht es dem BGH um einen Verstoß gegen fundamentale Regeln der Kapitalgesellschaft, deren sich der Gesellschafter zum Betrieb seines Unternehmens bedient hat. Die kritische Grenze soll, um eine Formulierung des Jubilars aufzugreifen, erst bei Eingriffen in das Vermögen der Gesellschaft und bei dem Entzug ihrer Marktchancen überschritten sein, „… die mit den Mindestmaßstäben eines seriösen und verantwortungsbewussten unternehmerischen Verhaltens nicht mehr zu vereinbaren sind und deshalb als Missbrauch des mit der Rechtsform der GmbH verbundenen Haftungsprivilegs zu gelten haben“9. In solch einem Fall soll die Durchgriffshaftung des Gesellschafters in analoger Anwendung des § 128 HGB die angemessene Reaktion auf den Missbrauch der Rechtsform GmbH darstellen. Diese Haftung wäre in einem Insolvenzverfahren der GmbH vom Insolvenzverwalter geltend zu machen (§ 93 InsO analog), während die Gläubiger außerhalb des Insolvenzverfahrens grundsätzlich berechtigt sein sollen, ihre Forderungen unmittelbar gegen den Gesellschafter geltend zu machen10. 2. Abzug oder Entzug von Vermögen Die „Missbrauchs“-Formel bedarf der Präzisierung. Für den II. Zivilsenat des BGH steht dabei der Abzug oder Entzug von Vermögen der später insolventen GmbH im Vordergrund11. Das Charakteristische an der Existenzvernichtungshaftung ist dabei, dass es keineswegs nur um Verstöße gegen § 30 GmbHG geht, also um Fälle, in denen bilanziell gebundenes Gesellschaftsvermögen an den Gesellschafter oder mit ihm verbundene Unternehmen fließt. Ein i. S. d. Existenzvernichtungshaftung grob rücksichtsloser „Entzug“ von Vermögen kann insbesondere schon dann vorliegen, wenn der GmbH gegen „angemessenes“ Entgelt eine Ressource entzogen wird, ohne welche die GmbH nicht überleben kann12. Ein derartiger Abzug oder Entzug von Vermögen kann ebenso auch in einem Darlehen gesehen werden, welches sich die Muttergesellschaft – wenn auch bei angemessener Verzinsung – gewähren lässt. Darin muss nicht immer ein Verstoß gegen § 30 GmbHG gesehen werden13, doch hängt die Existenzvernichtungshaftung davon nicht ab. Maßgebend ist vielmehr, ob der Abzug von Liquidität, der nicht selten zum in der Praxis geübten „Cash-Management“ gehört, die Überlebensfähigkeit der GmbH nachhaltig gefährdet14. Eine weitere Variante des Ressourcenabzugs, die zur Durchgriffshaftung wegen Existenzvernichtung führen kann, ist die Übernahme der Haftung für
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9 Röhricht in Gesellschaftsrecht in der Diskussion (Fn. 3), S. 22 (31); ders. in FS 50 10 11 12 13 14
Jahre BGH (Fn. 3), S. 83 (114, 117). BGHZ 151, 181 (187) (KBV). BGHZ 151, 181 (186) (KBV). S. Röhricht in FS 50 Jahre BGH (Fn. 3), S. 83 (108). S. aber BGHZ 157, 72. S. dazu auch BGH, ZIP 2004, 1200; OLG Karlsruhe, ZIP 2003, 2082.
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Schulden des Gesellschafters (oder „des Konzerns“) im Außenverhältnis, zumal wenn sie nicht durch entsprechende Rückstellungen der GmbH abgesichert wird und deshalb die Überlebensfähigkeit der GmbH bedroht15. Ein relevanter Abzug oder Entzug von Vermögen ist, um eine letzte Fallgruppe aufzuzeigen, aber auch der absprachegemäße Rückzug der GmbH von einem Markt, auf dem sie Anteile hatte, um dieses Geschäftsfeld anderen Konzerngesellschaften zu überlassen16. Mag dies auch gegen „angemessenes Entgelt“ erfolgen, stellt sich auch hier die Frage, ob die Überlassung von Marktchancen an die Konzernmutter oder konzernangehörige Unternehmen die betreffende GmbH in ihrer Existenz gefährdet17. 3. Vorenthaltung betriebswirtschaftlich benötigter Marktchancen Nicht um den Ab- oder Entzug von Vermögen geht es in der Fallgruppe, die unter dem Stichwort der „Aschenputtel“-Gesellschaft traurige Berühmtheit erlangt hat18: In solchen Fällen gewährt der Gesellschafter seiner GmbH schon nach dem gesamten Unternehmenskonzept keine Fähigkeiten, als tauglicher Haftungsträger zu dienen. Die GmbH wird hier funktionswidrig der Chance beraubt, die normalen, vorhersehbaren Risiken ihres Geschäftsbetriebs zu bestehen, um aus eigener Kraft ihren Verbindlichkeiten nachkommen zu können19. Ein „Eingriff“ im Sinne eines „Vermögensentzugs“ muss in diesen Konstellationen keineswegs festgestellt werden20. Auch der, welcher seiner Gesellschaft von vornherein keine ausreichenden betriebswirtschaftlichen Überlebenschancen einräumt, „missbraucht“ die Rechtsform der GmbH zu Lasten unbefriedigter Gläubiger21. 4. Subsidiarität der Haftung Die Durchgriffshaftung wegen rücksichtsloser Existenzvernichtung ist hinsichtlich der Kapitalerhaltungshaftung nach §§ 30, 31 GmbHG subsidiär22. Diese Subsidiarität ist allerdings nicht so zu verstehen, dass der Gesellschafter der Durchgriffshaftung bereits entgehen könnte, indem er den Anspruch der GmbH aus § 31 GmbHG erfüllt. Denn der gegen § 30 GmbHG versto-
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Diese Situation stand bereits im Urteil BGHZ 122, 123 (TBB) im Vordergrund. Röhricht in FS 50 Jahre BGH (Fn. 3), S. 83 (92 ff.). Röhricht in Gesellschaftsrecht in der Diskussion (Fn. 3), S. 31. S. dazu Röhricht in FS 50 Jahre BGH (Fn. 3), S. 83 (91, 107, 111); Ulmer, ZIP 2001, 2021 (2028); klare Beispiele aus der Rechtsprechung: BGH, NJW 1994, 446 (EDV); BGH, NJW 1994, 3288; eingehende Nachw. zur „Aschenputtel“-Gesellschaft bei Goette, ZHR Beiheft Nr. 70 (2001), 11 (14 f.). Röhricht in FS 50 Jahre BGH (Fn. 3), S. 83 (91, 107, 111). Insofern richtig Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 3. Aufl. 2003, Anh. § 318 AktG Rz. 37. S. Röhricht in Gesellschaftsrecht in der Diskussion (Fn. 3), S. 31. BGHZ 151, 181 (KBV).
Existenzvernichtungshaftung und Scheinauslandsgesellschaften
ßende Eingriff kann die Aussichten der vollständigen Gläubigerbefriedigung in einem die Haftungssumme i. S. d. § 31 GmbHG um ein Vielfaches übersteigenden Ausmaß reduziert haben. Die Durchgriffshaftung wegen Existenzvernichtung beruht insoweit gerade auf der Einsicht, dass das gesetzliche Gläubigerschutzsystem der §§ 30, 31, 43 Abs. 3 GmbHG in einer Reihe von Fällen nicht ausreichend ist23. 5. Kausalität und Beweislast Die unbefriedigten Gläubiger haben in der Regel – und dieses Beweislastproblem hat schon die Haftung im „qualifiziert faktischen“ Konzern hervorgebracht24 – keine Möglichkeit, den Nachweis zu führen, dass der beherrschende Gesellschafter seine GmbH in rechtswidriger Weise zu Lasten unbefriedigter Gläubiger ruiniert hat. Der Gläubiger kann – ebenso wie der Insolvenzverwalter – im Allgemeinen nur einzelne Eingriffstatbestände substantiiert vortragen, doch ist den Gläubigern der Einblick in die Ursachen der Insolvenz der GmbH praktisch versagt. Insbesondere ist ihnen eine Bewertung der Schädigung des Gesellschaftsvermögens durch rechtswidriges Verhalten der Gesellschafter „auf Euro und Cent“ nahezu unmöglich25. Die Beweiserleichterungen, die der BGH bereits im „TBB“-Urteil aus dem Jahre 1993 herausgearbeitet hat26, sind sinngemäß auf die neue Existenzvernichtungshaftung zu übertragen. Der Insolvenzverwalter oder die Gläubiger haben danach nur „halbwegs substantiiert“ Eingriffe in das Gesellschaftsvermögen etc. vorzutragen, die als Grundlage für die Schlussfolgerung dienen, diese Eingriffe könnten die Insolvenz der GmbH herbeigeführt haben. Es ist dann Sache der Gesellschafter, darzulegen, dass sie trotz solcher Eingriffe angemessene Rücksicht auf die Erhaltung der Fähigkeit der Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten genommen haben oder dass die Insolvenz auf Umständen beruht, die mit dem Eingriff nichts zu tun haben. In dieser Beweislastregel schimmert zugleich die Vorrangigkeit der Haftung nach allgemeinen Regeln, insbesondere nach §§ 30, 31 GmbHG, durch27. 6. Meinungsstand im Schrifttum a) Zustimmung Die Existenzvernichtungshaftung in ihrer Ausprägung der Rechtsprechung des II. Zivilsenats28 hat im Schrifttum überwiegend Zustimmung gefunden.
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Röhricht in FS 50 Jahre BGH (Fn. 3), S. 83 (93 ff.). S. Altmeppen (Fn. 2), passim. Röhricht in Gesellschaftsrecht in der Diskussion (Fn. 3), S. 28 ff. BGHZ 122, 123 (TBB). S. Röhricht in Gesellschaftsrecht in der Diskussion (Fn. 3), S. 28 ff. BGHZ 151, 181 (KBV).
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Die Rechtfertigung erfolgt mit unterschiedlichen Erwägungen, die man im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen kann: Die erste Gruppe erkennt in der neuen Rechtsprechung eine gerechte „Risikoverteilung“ zwischen Gesellschafter und Gläubigern. Anknüpfend an die „ökonomische Analyse“ wird argumentiert, der Gesellschafter dürfe nicht die Vorteile unternehmerischen Handelns genießen, ohne einen angemessenen Teil des Unternehmerrisikos tragen zu wollen. Der Missbrauch der Rechtsform der GmbH soll also in einer einseitigen Verlagerung der Unternehmerrisiken auf die Gläubiger bestehen. Die „ökonomisch angemessene“ Verwendung eines Unternehmensträgers mit beschränkter Haftung soll der Maßstab sein29. Die zweite Argumentationsrichtung stellt eher darauf ab, dass der Gesellschafter durch ein rechtswidriges Verhalten die Gläubigerbefriedigung vereitelt habe, wobei letztlich diejenigen Kriterien wieder in den Vordergrund gestellt werden, die schon in der Rechtsfigur des „qualifiziert faktischen“ Konzerns oder in anderen mehr oder weniger anerkannten Fällen der Durchgriffshaftung erörtert wurden. Letztlich geht es um die Einsicht, dass der Kapitalerhaltungsgrundsatz und die Haftung der Geschäftsleiter (§§ 30, 31, 43 GmbHG) immer noch eine im Konzept des GmbHG angelegte Schutzlücke zu Lasten der Gläubiger erkennen lassen, die im Wege der „Durchgriffshaftung“ geschlossen werden soll, wenn der Gesellschafter in bestimmter Weise rücksichtslos seine eigene GmbH in den Ruin treibt, Vermögen vermischt etc. Diese Lehre versteht nach allem die neue Existenzvernichtungshaftung i. S. d. Rechtsprechung des BGH als die Fortentwicklung derjenigen Haftungskriterien, die bereits die Lehre vom „qualifiziert faktischen“ Konzern, der Vermögensvermischung und der materiellen Unterkapitalisierung geprägt haben30. b) Ablehnung Allerdings ist die neue Rechtsprechung teilweise auch heftig kritisiert worden. Nach Nassall soll sie sogar verfassungswidrig sein, da die Durchgriffshaftung wegen Existenzvernichtung gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstoße31.
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29 So etwa Kessler, GmbHR 2002, 945 ff.; Wiedemann, ZGR 2003, 283 ff.; Bitter, WM
2001, 2133 ff.; tendenziell auch H. P. Westermann, NZG 2002, 1129 ff.; Koppensteiner in FS Honsell, 2002, S. 607 ff. (617 ff., 619, dort mit Hinweis auf Bitter, WM 2001, 2133 [2139]). 30 S. dazu Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402 ff.; dies., ZIP 2003, 2177 ff.; Ulmer, JZ 2002, 1049 ff.; Henze, NZG 2003, 649 (656 ff.); Raiser in FS Ulmer, 2003, S. 491 ff.; Hoffmann, NZG 2002, 68 ff.; zuletzt Hölzel, ZIP 2004, 1729 (1733 ff.); ähnlich auch Mülbert, DStR 2001, 1937 ff.; Haas, WM 2003, 1929 ff.; Emmerich, AG 2004, 423 (426 f.). Wesentlich zurückhaltender Schön, ZHR 168 (2004), 268 (284 f.): Durchgriffshaftung nur bei Vermögens- oder Sphärenvermischung entsprechend den Fällen im „qualifiziert faktischen“ Konzern. 31 Nassall, ZIP 2003, 969 ff. (971).
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Existenzvernichtungshaftung und Scheinauslandsgesellschaften
Darüber hinaus sei die Rechtsprechung im Ansatz unschlüssig, weil ein existenzvernichtender Eingriff nach § 19 Abs. 2 S. 2 InsO ohnehin die Pflicht begründe, den Insolvenzantrag zu stellen. Der Gläubigerschutz folge daher dem insolvenzrechtlichen Instrumentarium32. Heftig kritisiert wird ferner eine „Ungerechtigkeit“, welche die Durchgriffshaftung dann und deswegen zur Folge habe, weil sich das Fehlverhalten der Gesellschafter zumeist auf Gesellschaften beziehe, die bereits insolvent seien. Den Gläubigern sei der Schaden daher schon vor dem „existenzvernichtenden Eingriff“ insofern entstanden, als ein werthaltiger Anspruch gegen die GmbH unabhängig von diesem Eingriff schon nicht mehr bestanden habe. So sei nicht einzusehen, dass etwa im Falle einer Schädigung in Höhe einer bestimmten Summe, etwa 100.000,– Euro, die Rechtsfolge der Durchgriffshaftung zu einer Gläubigerbefriedigung in Millionenhöhe führen könne. Insoweit fehle es am Rechtswidrigkeitszusammenhang33. Andere haben die neue Rechtsprechung weniger im Ergebnis, sondern wegen gewisser dogmatischer Unschärfen kritisiert34. 7. Stellungnahme Die neue Rechtsprechung des BGH zur Existenzvernichtungshaftung ist ein wichtiger Fortschritt, aber noch präzisierungsbedürftig und entwicklungsfähig. Letztlich geht es der Rechtsprechung – mit Recht – um Fälle, in denen der Gesellschafter durch sein Verhalten die Kontrolle darüber vereitelt hat, in welchem Umfang er seine GmbH geschädigt und ihr dadurch die Gläubigerbefriedigung unmöglich gemacht hat. Auch die „Existenzvernichtungshaftung“ erweist sich damit – wie schon die Haftung im „qualifiziert faktischen“ Konzern – als reines Beweislastproblem im Hinblick auf klassische Anspruchsgrundlagen35. Insofern ist die Rechtsprechung konsequent, wenn sie dem Gesellschafter den Beweis auferlegt, er habe seine Gesellschaft nicht in dem vermuteten Umfang geschädigt bzw. die Schädigung sei geringer zu bewerten als derjeni-
__________ 32 Nassall, ZIP 2003, 969 (974 ff.). 33 So insbesondere Vetter, ZIP 2003, 601 ff. S. dazu aber neuerdings BGH, ZIP 2005,
117 m. Anm. Altmeppen: Der Gesellschafter kann den Entlastungsbeweis führen, seine Gesellschaft um einen geringeren Betrag als den der Summe aller Insolvenzforderungen geschädigt zu haben. 34 Altmeppen, ZIP 2001, 1837 ff.; ders., ZIP 2002, 961 ff.; ders., ZIP 2002, 1553 ff.; ders., NJW 2002, 321 ff.; vgl. auch dens., DStR 2002, 2048 ff.; Wilhelm, NJW 2003, 175 ff. jew. m. w. N. 35 S. dazu die Nachw. bei Altmeppen (Fn. 2); ders., ZIP 2005, 119. Zutr. auch Schön, ZHR 168 (2004), 268 (284 f.), der mit Recht hervorhebt, dass eine Durchgriffshaftung allein wegen der mangelnden Quantifizierbarkeit der Masseverkürzung durch den Gesellschafter berechtigt sein kann.
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ge Betrag, der zur vollständigen Gläubigerbefriedigung erforderlich wäre. Diesen Beweis wird der Gesellschafter – aufgrund des allein ihm zuzurechnenden Verhaltens – in den relevanten Fällen nicht führen können. Ergibt sich aber aus der Beweislastumkehr, dass der Gesellschafter bis zur restlosen Gläubigerbefriedigung haftbar ist, spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob man diese Haftung als „Durchgriffshaftung“ analog § 128 HGB definiert oder im dogmatischen Ansatz von einer unbegrenzten Innenhaftung ausgeht, die an klassische Anspruchsgrundlagen gegenüber der GmbH anknüpft. Denn jede unbegrenzte Haftung schlägt ihrem Wesen nach in eine Außenhaftung um, weil der Umweg über eine Innenhaftung – gegenüber der Kapitalgesellschaft – keinen Sinn macht. Im Insolvenzverfahren spielt der dogmatische Unterschied schon deswegen keine Rolle, weil der Insolvenzverwalter die unbegrenzte Haftung jedenfalls geltend zu machen hätte (§§ 80, 92, 93 InsO), gleich, ob es um eine Innenhaftung oder um eine Außenhaftung des Gesellschafters gehen sollte.
III. Die Existenzvernichtungshaftung bei Scheinauslandsgesellschaften 1. Begriff und Entstehung der Scheinauslandsgesellschaft Der Begriff „Scheinauslandsgesellschaft“36 kann sinnvoll nur zur Bezeichnung einer Gesellschaft gebraucht werden, die nach ausländischem Recht gegründet wurde, ihren Unternehmensschwerpunkt aber im Inland hat, so dass kollisionsrechtlich die (teilweise) Anwendung des inländischen Gesellschaftsrechts auf sie in Betracht kommt. Nach der Rechtsprechung des EuGH37 gebietet es die Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG), Scheinauslandsgesellschaften aus Mitgliedstaaten der EU anzuerkennen. Ob sie bereits mit Verwaltungssitz im Inland gegründet wurden (anfängliche Scheinauslandsgesellschaft) oder der Unternehmensschwerpunkt erst nachträglich in das Inland verlegt wurde (nachträgliche Schein-
__________ 36 S. auch Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996, S. 219; Weller, IPRax
2003, 207 Fn. 4; Kindler in MünchKomm.BGB, Bd. 11, 3. Aufl. 1999, IntGesR, Rz. 344; ders., NJW 1999, 1993 (1994); ferner die Definition in Art. 1 WFBV aus dem Verfahren „Inspire Art“ (Fn. 6) und den Sachverhalt der „Centros“-Entscheidung, vgl. Schlussanträge Generalanwalt La Pergola (Fn. 5) Rz. 3. Der Begriff „Briefkastengesellschaft“ wird teilweise synonym, teils nur für die sog. „anfängliche Scheinauslandsgesellschaft“ (dazu sogleich im Text) verwendet, vgl. etwa Kindler, NJW 1999, 1073 (1078); Eidenmüller, JZ 2004, 24 (25). Die Bezeichnung als „pseudo foreign corporation“ wurde aus der US-amerikanischen Diskussion übernommen, vgl. Latty, Pseudo-foreign Corporations, Y.L.J. 65 (1955/56), 137: „corporations essentially local in character but incorporated in a foreign state“. 37 EuGH, EuGHE 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614 (Überseering).
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auslandsgesellschaft, Zuzugsfall), ist hierfür irrelevant38. Ungeklärt ist jedoch noch, ob die Anerkennungspflicht auch dann besteht, wenn die Scheinauslandsgesellschaft ursprünglich in einem Sitztheoriestaat gegründet wurde, genauer: in einem Staat, der den Wegzug mit dem Verlust der Rechtspersönlichkeit sanktioniert39. Bejahendenfalls muss Scheinauslandsgesellschaften der Betrieb einer alleingeschäftstätigen Zweigniederlassung im Inland ermöglicht werden40. 2. Das maßgebliche Gesellschaftsstatut a) Meinungsstand In Fällen mit Auslandsbezug bestimmt das IPR das anzuwendende Recht eines der in Betracht kommenden Staaten (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). In
__________ 38 Wie hier u. a. BayObLG, NZG 2003, 290 f.; OLG Zweibrücken, NZG 2003, 537 (538);
Behrens, IPRax 2003, 193 (201 f.); Ebke, JZ 2003, 927 (929); Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2242 f.); ders., JZ 2004, 24 (25); Heldrich in Palandt, BGB, 63. Aufl. 2004, Anh. zu Art. 12 EGBGB Rz. 7; Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 925 (929). A. A. Kindler, NJW 2003, 1073 (1078). Offen lassend Forsthoff, DB 2002, 2471 (2475); krit. zum Schutz der anfänglichen Scheinauslandsgesellschaft durch die Art. 43, 48 EG auch ders., DB 2003, 979 (981); Binz/Mayer, GmbHR 2003, 249 (256); W.-H. Roth, IPRax 2003, 117 (126 f.). 39 Zweifelhaft ist, ob den Mitgliedstaaten durch die „Bestätigung“ der Entscheidung „Daily Mail“ (EuGH, EuGHE 1988, 5483 = NJW 1989, 2186) in den Urteilen „Überseering“ (Fn. 37) und „Inspire Art“ (Fn. 6) die Freiheit gelassen wurde, den Wegzug ihrer Gesellschaften – u. a. in Anwendung der Sitztheorie – mit dem Entzug des Gründungsstatuts zu sanktionieren, oder in anderer Weise weitgehend einzuschränken. Bejahend, wenn auch teils kritisch, u. a. Baudenbacher/Buschle, IPRax 2004, 26 (28); Drygala, EWiR Art. 43 EG 4/03, 1029 (1030); Dubovizkaja, GmbHR 2003, 694 (696); i.E. auch Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2242 f.); ders., JZ 2004, 24 (29 mit Fn. 38); ders./Rehm, ZGR 2004, 159 (176); ferner Forsthoff, DB 2002, 2471 (2474); Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409 (411); Großerichter, DStR 2003, 159 (164 f.); v. Halen, WM 2003, 571 (574); Horn, NJW 2004, 893 (897); Kallmeyer, DB 2002, 2521 (2522); Kindler, NJW 2003, 1073 (1077); Leible, ZGR 2004, 531 (536); ders./ Hoffmann, RIW 2002, 925 (928, 930 f., 932 f.); dies., ZIP 2003, 925 (929 f.); dies., EuZW 2003, 677 (682 Fn. 43); Lutter, BB 2003, 7 (10); Paefgen, WM 2003, 561 (568 f.); Riegger, ZGR 2004, 510 (528); Schanze/Jüttner, AG 2003, 30 (33); Spindler/ Berner, RIW 2003, 949 (956); Triebel/v. Hase, BB 2003, 2409 (2410 f.); Zimmer, NJW 2003, 3585 (3592); ders., ZHR 168 (2004), 355 (360); zweifelnd Bayer, BB 2003, 2357 (2363); ders., BB 2004, 1 (4); Behrens, IPRax 2003, 193 (205); ders., IPRax 2004, 20 (26); Knapp, DNotZ 2003, 85 (91); Maul/Schmidt, BB 2003, 2297 (2300 f.); W.-H. Roth, IPRax 2003, 117 (121 f.): geboten sei die Zulassung einer formwechselnden Umwandlung in das EU-Ausland; verneinend Ebke, JZ 2003, 927 (929 Fn. 32, 932); Meilicke, GmbHR 2003, 793 (803); Schulz/Sester, EWS 2002, 545 (550); Schwark, AG 2004, 173 (180); Wagner, GmbHR 2003, 684 (691); Wertenbruch, NZG 2003, 618 (619); Ziemons, ZIP 2003, 1913 (1918 f.); Zimmer, BB 2003, 1 (3); differenzierend Drygala, EuR 2004, 337 (350 f.): geschützt sei jedenfalls der Wegzug solcher Gesellschaften, an denen EU-Ausländer unternehmerisch beteiligt seien. 40 EuGH (Fn. 5), Rz. 17 f., 29 (Centros); EuGH (Fn. 6), Rz. 95 f., 139 (Inspire Art). S. zuvor auch EuGH, EuGHE 1986, 2375 Rz. 16 = NJW 1987, 571 (Segers).
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Deutschland ist das Internationale Gesellschaftsrecht nicht gesetzlich geregelt41. Auch auf europäischer Ebene ist bisher keine Regelung gefunden worden42. Das mit der Kollisionsnorm des Internationalen Gesellschaftsrechts zu ermittelnde Recht wird als sog. „Gesellschaftsstatut“ (lex societas, Personalstatut) bezeichnet. Das Gesellschaftsstatut betrifft die Summe aller materiellrechtlichen Normen zur Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse eines Verbandes43. Nach der bisher ganz herrschenden, wenn auch immer wieder bestrittenen Ansicht ist das Gesellschaftsstatut einheitlich zu bestimmen. Das Postulat der Einheitlichkeit des Gesellschaftsstatuts wird damit begründet, dass die Regelungen des Gesellschaftsrechts in einem untrennbaren Funktionszusammenhang stünden, der nicht auseinander gerissen werden könne, indem auf eine Gesellschaft zugleich das Gesellschaftsrecht verschiedener Rechtsordnungen angewendet werde44. Seit dem EuGH-Urteil „Überseering“ steht fest, dass die Nichtanerkennung europäischer Kapitalgesellschaften nach Maßgabe der „Sitztheorie“ gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EGV) verstößt45. Die nahezu46 einheitliche Meinung in der Literatur hat sich dem angeschlossen, geht aber ganz überwiegend in ihren Folgerungen darüber hinaus: Aus den EuGH-Urteilen „Überseering“ und „Inspire Art“47 soll im Ergebnis abzuleiten sein, dass EUAuslandsgesellschaften mit Sitz im Inland (vorbehaltlich ihres Fortbestandes
__________ 41 Der Gesetzgeber des Gesetzes zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts
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vom 25.7.1986 (BGBl. I 1986 S. 1142) hat von einer Regelung bewusst abgesehen, um der europäischen Rechtsentwicklung nicht vorzugreifen (BT-Drucks. 10/504, S. 29). Das auf Art. 220, 3. Spiegelstrich EWGV (heute Art. 293, 3. Spiegelstrich EG) gestützte Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen vom 29.2.1986 (BGBl. II 1972 S. 370) ist nicht in Kraft getreten und gilt heute als gescheitert, s. statt aller Kindler in MünchKomm.BGB, IntGesR, Rz. 4, 43 f. m. w. N. RGZ 83, 367; BGHZ 25, 134 (144) = NJW 1957, 1433; weitere Nachw. bei Heider in MünchKomm.AktG, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, Einl. Rz. 131 ff.; Kindler in MünchKomm. BGB, IntGesR, Rz. 412. S. Großfeld in Staudinger, IntGesR, 13. Aufl. 1998, Rz. 66, 249; Heider in MünchKomm.AktG, Einl. Rz. 132; Kindler in MünchKomm.BGB, IntGesR, Rz. 412; H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, Bd. 1, 9. Aufl. 2000, Einl. Rz. 86, 90; Wiedemann, GesR, Bd. 1, 1980, S. 788; Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (330 ff.) jew. m. w. N. EuGH (Fn. 37), Rz. 59 f., 93 (Überseering); dazu auch die Abschlussentscheidung des VII. Zivilsenats des BGH vom 13.3.2003, JZ 2003, 525 = DB 2003, 986 = ZIP 2003, 718. A. A. Kindler, NJW 2003, 1073 (1076 ff.); ders., NZG 2003, 1086 ff.; eine Nichtanerkennung in Extremfällen für möglich haltend Knapp, DNotZ 2003, 85 (88 f.); eine nur partielle Verdrängung der „Sitztheorie“ unter Fortgeltung im Übrigen annehmend Hirte, EWS 2003, 521 (522). EuGH (Fn. 37) (Überseering); EuGH (Fn. 6) (Inspire Art).
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nach dem Recht des Gründungsstaates48) nicht nur als juristische Personen anzuerkennen, sondern im Grundsatz ausschließlich nach dem Gesellschaftsrecht ihres Gründungsstaates zu beurteilen seien49 und eine Anwendung des inländischen Gläubigerschutzrechts allenfalls zur Schließung unerträglicher Schutzlücken in Betracht komme50. Die Rede ist von einem gesellschaftskollisionsrechtlichen „Herkunftslandprinzip“51 oder einer „europarechtlichen Gründungstheorie“52.
__________ 48 Zum Meinungsstand hinsichtlich der Wegzugsproblematik s. Fn. 39. 49 Zu der extremen These, die Art. 43, 48 EG (bzw. Art. 48 EG allein) enthielten un-
mittelbar eine (versteckte) Kollisionsnorm im Sinne der Gründungstheorie, oder zumindest eine (auf die Frage der Rechts- und Parteifähigkeit beschränkte) „Anerkennungsnorm“, bekennen sich nur wenige Autoren ausdrücklich, so etwa Behrens, IPRax 1999, 323 (324, 329) m. w. N.; ders., IPRax 2003, 193 (201); Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2241); ders., JZ 2004, 24 (25); anders aber ders./Rehm, ZGR 2004, 159 (165 f.); s. ferner Leible, ZGR 2004, 531 (534); Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925 (930 f., 934 f.); dies., NZG 2003, 259 (260); dies., ZIP 2003, 925 (926); Weller, DStR 2003, 1800 f. Dagegen ausdrücklich, in den Folgerungen aber weitgehend identisch, u. a. Schanze/Jüttner, AG 2003, 661 (665 ff.); Spindler/Berner, RIW 2004, 7 (8, 10); s. ferner Heidenhain, NZG 2002, 1141 (1143). 50 S. u. a. Baudenbacher/Buschle, IPRax 2004, 26 (28 f.); Behrens, IPRax 2003, 193 (201, 203, 204, 205, 206); ders., IPRax 2004, 20 (25 f.); Bayer, BB 2003, 2357 (2362, 2364 f.); Binz/Mayer, GmbHR 2003, 249 (254 f.); Deininger, IStR 2003, 214; Drygala, EuR 2004, 337 (346 ff.); ders., EWiR Art. 43 EG 4/03, 1029 (1030); Dubovizkaja, GmbHR 2003, 694 (695); Ebke, JZ 2003, 927 (931 f.); Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2234, 2238, 2241 f.); ders., JZ 2003, 526 (528 f.); ders., JZ 2004, 24 (25, 28); ders./Rehm, ZGR 2004, 159 (165; 173); Forsthoff, DB 2002, 2471 (2476, 2477); Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409 (411 ff.); Halbhuber, ZEuP 2003, 418 (434); Heldrich (Fn. 38), Anh. zu Art. 12 EGBGB Rz. 6 f.; Horn, NJW 2004, 893 (896, 898 f.); Kallmeyer, DB 2002, 2521, 2522; ders., DB 2004, 636 ff.; Kleinert/Probst, DB 2003, 2217, 2218; Leible, ZGR 2004, 531 (533 f.); ders./Hoffmann (Fn. 49); Meilicke, GmbHR 2003, 793 (805 f.); ders., GmbHR 2003, 1271; Müller, NZG 2003, 414 (416); Müller-Bonanni, GmbHR 2003, 1235 (1236); Müller-Graff in Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 43 EGV Rz. 15; Paefgen, WM 2003, 561 (566 f.); ders., DB 2003, 487 ff.; Riedemann, GmbHR 2004, 345 (346); Riegger, ZGR 2004, 510 (522 ff.); i. E. auch W.-H. Roth, IPRax 2003, 117 (125); Sandrock, BB 2003, 2588 ff.; ders., ZVglRWiss 102 (2003), 447 (469 ff.); ders., BB 2004, 897 ff.; Schanze/Jüttner, AG 2003, 30 (31 ff.); dies., AG 2003, 661 (666 ff.); Schulz, NJW 2003, 2705 (2707 f.); ders./Sester, EWS 2002, 545 (549, 551); Schumann, DB 2004, 743 ff.; Spindler/ Berner, RIW 2003, 949 (953 ff.); dies., RIW 2004, 7 (8, 10 ff.); Wachter, GmbHR 2004, 88 (91); Weller, DStR 2003, 1800 ff.; ders., IPRax 2003, 324 (325 ff.); ders., IPRax 2003, 520 (522 ff.); Ziemons, ZIP 2003, 1913 (1917). Mit differenzierter Sicht, i.E. jedoch ebenso Großerichter, DStR 2003, 159 (166 f.). Für eine weitergehende Zulässigkeit der Anwendung deutscher Gläubigerschutznormen Binge/Thölke, DNotZ 2004, 21 (25 f.); tendenziell auch Borges, ZIP 2004, 733 (736 ff.); Ulmer, NJW 2004, 1201 (1207 f.). 51 Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2241); ders., JZ 2003, 526 (528); ders., JZ 2004, 24 (25); Paefgen, WM 2003, 561 (567). 52 Ausdruck von Leible/Hoffmann (Fn. 49); ferner u. a. Paefgen, WM 2003, 561 (563, 565, 566 f.).
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b) Stellungnahme Soweit die h.A. aus der neueren Judikatur des EuGH mehr als eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten ableitet, die nach dem Recht eines Gründungsstaats existierenden Kapitalgesellschaften ohne weiteres anzuerkennen, ist sie abzulehnen. Darüber, in welchem Umfang Auslandsgesellschaften mit Inlandssitz den Vorschriften des deutschen Rechts, insbes. des gläubigerschützenden Kapitalgesellschaftsrechts und der unternehmerischen Mitbestimmung unterliegen, hat der EuGH nichts gesagt. Auch aus den Rz. 59, 80, 81 und dem 2. Leitsatz des „Überseering“-Urteils53 ist nichts anderes zu entnehmen. Der EuGH hat sich dort nur mit der zwingenden Anerkennung einer Gesellschaft i. S. d. Art. 48 EG befasst, und insoweit aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen die Anwendung des Rechts des Gründungsstaates gefordert. In Wirklichkeit konnte der EuGH den Mitgliedstaaten darüber hinaus gar nicht vorgeben, das Gesellschaftsrecht des Gründungsstaates anzuwenden. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kommt z. B. bei Vergleichbarkeit oder gar bei Übereinstimmung der einzelnen Rechte schon tatbestandlich gar nicht in Betracht54. Der 2. Leitsatz des „Überseering“-Urteils bringt dies deutlich zum Ausdruck: Entgegen der Vorlagefrage des VII. Zivilsenats des BGH ist die Gesellschaft nicht nach dem Recht des Gründungsstaates zu „beurteilen“, sondern es ist nur ihre Rechts- und Parteifähigkeit nach diesem Recht zu „achten“. Welches Gesellschaftsrecht die Mitgliedstaaten auf ausländische Gesellschaften – abgesehen von deren Anerkennung – anzuwenden haben, ergibt sich im Grundsatz allein aus dem nationalen Kollisionsrecht. Soweit danach deutsches Gesellschaftsrecht zur Anwendung gelangt, könnte darin zwar eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit liegen. Insbesondere hat der EuGH in den Urteilen „Kraus“ und „Gebhard“55 auch nicht diskriminierende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit für rechtfertigungsbedürftig erklärt. Eine Rechtfertigung ist aber gegeben, wenn die Maßnahme oder Regelung (1.) in nicht diskriminierender Weise angewandt wird, (2.) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses erfolgt, sowie (3.) zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und (4.) nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Zieles erforderlich ist (sog. „Gebhard-Formel“ oder „VierKriterien-Test“). Ausschließlich in diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob die nach deutschem Kollisionsrecht etwa anzunehmende Anwendung des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts die EU-ausländische Scheinauslandsge-
__________ 53 EuGH (Fn. 37) (Überseering). 54 Zutr. insoweit Kleinert/Probst, DB 2003, 2217 (2218); s. auch Ulmer, NJW 2004,
1201 (1207). 55 EuGH, EuGHE 1995, I-4165 Rz. 37 (Gebhard); EuGH, EuGHE 1993, I-1663 Rz. 32
(Kraus).
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sellschaft mit Sitz in Deutschland in ihrer Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG) verletzt. Im ersten Schritt ist also die zutreffende Kollisionsregel für die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts zu ermitteln. Sie ergibt sich aus der Rückbesinnung auf den entscheidenden Leitgedanken des gesamten internationalen Privatrechts, dass der Sitz des jeweiligen Rechtsverhältnisses zu ermitteln ist56. Es ist danach dasjenige Recht zu ermitteln, zu dem das in Rede stehende Rechtsverhältnis den engsten Bezug aufweist57. Daraus folgt, dass eine ausnahmslos einheitliche Bestimmung des Gesellschaftsstatuts58 abzulehnen ist, gleichviel, ob sie nach der Sitz- oder nach der Gründungstheorie erfolgt. Die Sitztheorie im Sinne einer „Nichtanerkennungstheorie“, wie sie früher hierzulande vertreten wurde59, verstieß bereits gegen diesen Leitgedanken des IPR. Schon aus dem richtigen Verständnis dieses Leitgedankens im Sinne einer allgemeinen Regel, und nicht erst aus der Niederlassungsfreiheit, folgt, dass die wirksame Gründung einer juristischen Person im Ausland auch im Inland anzuerkennen ist60. Denn der „Sitz“ des Rechtsverhältnisses (handlungsbezogen: der Ort der Hervorbringung des Rechtssubjekts) liegt insoweit im Gründungsstaat61. Das gesamte Organisations- und Innenrecht der Kapitalgesellschaft richtet sich nach dieser zutreffenden Savigny’schen Anknüpfungsregel ebenfalls nach dem Recht des Gründungstaates, dessen Gerichte darüber in ausschließlicher Zuständigkeit (Art. 22 Nr. 2 EuGVVO) zu entscheiden haben62.
__________ 56 S. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 8, 1849 (Neudruck 1974),
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S. 28, 32, 108, 126, 128; ähnlich Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, Band 1, 1895, S. 217 f.: zu ermitteln sei bei jedem Rechtsverhältnis der „Schwerpunkt seiner räumlichen Beziehung“; s. auch C. L. von Bar, Theorie und Praxis des Internationalen Privatrechts, Band. 1, 2. Aufl. 1889, Neudruck 1966, S. 106; aus neuerer Zeit s. Beitzke in FS Smend, 1952, S. 19; Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50), 364 (372); Nussbaum, Deutsches Internationales Privatrecht, 1932, S. 41 jew. m. w. N. S. auch Sonnenberger in MünchKomm.BGB, Bd. 10, 3. Aufl. 1998, EGBGB, Einl. IPR Rz. 1 ff.; zahlreiche Beispiele bei Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, § 6 I 4 b. S. die Nachw. in Fn. 44; ferner etwa Behrens, IPRax 2003, 193 (204). S. dazu nur die Nachw. bei Heider in MünchKomm.AktG, Einl. Rz. 122 f.; Kindler in MünchKomm.BGB, IntGesR, Rz. 264, 312 ff. Großfeld in Staudinger, IntGesR, Rz. 26 ff., 38 ff.; die Sitztheorie ist teilweise sogar als „Gewohnheitsrecht“ bezeichnet worden, s. Bungert, EWS 1993, 17 (18); Großfeld in Staudinger, IntGesR, Rz. 26, 28; Kindler in MünchKomm.BGB, IntGesR, Rz. 5; ders., NJW 1993 (1994) mit reichen Nachw. S. dagegen bereits Nussbaum (Fn. 56), S. 187, 189; ferner F. A. Mann in FS Wolff, 1952, S. 271 (283): Es gebe keine höchstrichterliche Entscheidung in Deutschland, „die die Sitztheorie in einem Fall anerkannt hat, in dem die Gründungstheorie nicht zum selben Ergebnis geführt, in dem man der Sitztheorie nicht nur mit Worten gehuldigt, sondern sie in Opposition zum Recht des Gründungstaates durchgeführt hätte.“ S. Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083 (1086); tendenziell bereits Altmeppen, DStR 2000, 1061 (1062 f.). Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083 (1086). Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083 (1086 ff.).
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Soweit hingegen schutzwürdige Interessen des Außenverhältnisses, insbes. der Gläubigerschutz und die Arbeitnehmermitbestimmung betroffen sind, muss grundsätzlich (auch) das Recht des Staates, in dem die Gesellschaft tatsächlich ansässig ist, anwendbar sein63. Auch die Gründungstheorie ist daher abzulehnen, da im Hinblick auf den Schutz Dritter und der Mitbestimmungsinteressen der Arbeitnehmer Gesellschaften mit tatsächlichem Sitz im Gründungsstaat und Gesellschaften mit einem solchen Sitz außerhalb des Gründungsstaats wertungsmäßig nicht gleich behandelt werden können. Die relevanten Rechtsfragen weisen insoweit stets eine kollisionsrechtlich zu beachtende Beziehung zu dem Staat auf, in dem die Gesellschaft mit ihrem Unternehmensschwerpunkt tatsächlich ansässig ist. Bei genauer Betrachtung verstößt die Forderung nach einem einheitlichen Gesellschaftsstatut also gegen die Savigny’sche Kollisionsregel, die nämlich das Gründungs-, Organisations- und Innenrecht dem Gründungsstaat zuweist, während das Außenverhältnis im Interesse der davon betroffenen Dritten nach dem nicht disponiblen Recht am Ort des effektiven Sitzes der Gesellschaft beurteilt werden muss. Diese gebotene Aufspaltung des Gesellschaftsstatuts im Hinblick auf den zwingenden Gläubigerschutz führt endlich auch nicht zu relevanten Anpassungsproblemen, die nicht ohne weiteres lösbar wären. c) Das alternativ berufene Außenrecht des Gründungsstaates Zutreffend ist es, von einer alternativen Anknüpfung auszugehen64. Denn aus der Sicht des Gründungsstaats findet kein Statutenwechsel statt, wenn die Scheinauslandsgesellschaft ihren effektiven Sitz nicht im Gründungsstaat, sondern dort nur einen Satzungssitz hat. Gilt aber nach der maßgebenden Kollisionsregel des Gründungsstaats sein Gläubigerschutzrecht, können die Gläubiger dieses Recht auch im Zuzugsstaat geltend machen. Die Gesellschafter und Geschäftsleiter können sich schon deswegen nicht auf die Unanwendbarkeit des Rechts des Gründungsstaats berufen, weil sie gerade geltend machen, die Scheinauslandsgesellschaft sei eine solche des Gründungsstaats. Die Gläubiger können deshalb auch im Zuzugsstaat das ihnen etwa günstigere Gründungsrecht geltend machen, wenn im Zuzugsstaat ein Gerichtsstand gegen Gesellschafter und Geschäftsführer begründet
__________ 63 Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083 (1086 ff.). 64 Die im Folgenden darzulegende These der Alternativanknüpfung verdankt ihre
Entstehung der Dissertation meines Mitarbeiters Herrn Alexander Ego. Die Arbeit zur „Niederlassungsfreiheit der Scheinauslandsgesellschaft“ wird 2005 erscheinen. S. zur Alternativanknüpfung allgemein Kegel/Schurig (Rn. 57), § 6 IV; Mankowski in v. Bar/Mankowski, IPR, Bd. 1, 2. Aufl. 2003, § 7 I 9 d. Eine richterrechtlich begründete Alternativanknüpfung wurde in Deutschland seit dem Urteil RGZ 23, 305 (306) für das Deliktstatut praktiziert (s. auch BGH, NJW 1964, 2012; BGH, NJW 1981, 1606 f.). S. nunmehr Art. 40 Abs. 1 Satz 2, 3 EGBGB.
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ist und das Recht des Zuzugsstaats, das nach der maßgebenden Kollisionsregel des Zuzugsstaats jedenfalls anwendbar ist65, den Anspruch des Gläubigers nicht begründet. Der im Vergleich zur h. M. entscheidende Unterschied der hier vertretenen Lösung (Alternativanknüpfung) besteht darin, dass die deutschen Gerichte jedenfalls und in erster Linie das zwingende deutsche Gläubigerschutzrecht anzuwenden haben. Die Alternativanknüpfung des Gläubigerschutzrechts des ausländischen Gründungsstaats gewinnt nur Bedeutung, wenn es ausnahmsweise weiter gehenden Schutz als das deutsche Gläubigerschutzrecht bietet. Insoweit ist nach allgemeinen Regeln, insbesondere nach Maßgabe des § 293 ZPO, zu verfahren. Danach gilt für die Ermittlung des ausländischen Rechts der Grundsatz „iura novit curia“ nur in eingeschränktem Umfang66. Der Kläger, der sich von einer Anwendung des ausländischen Rechts Vorteile gegenüber einer Geltung der lex fori verspricht, kann und wird den Richter durch umfangreiche Ausführungen zur ausländischen Rechtslage bei deren Ermittlung unterstützen67. Bleibt die ausländische Rechtslage aber unklar, ist eine Entscheidung nach der lex fori zulässig68, die nach der hier vertretenen Ansicht unproblematisch ist, da das deutsche Gläubigerschutzrecht nach unserer Kollisionsregel jedenfalls auch – und zwar in erster Linie – zur Anwendung berufen ist. 3. Verstoß der richtigen Kollisionsregel gegen die Niederlassungsfreiheit? Die Alternativanknüpfung stellt insbesondere keinen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit der Gesellschaft dar. Die Anwendung des Gründungsstatuts auf eine als solche anerkannte EU-ausländische Kapitalgesellschaft stellt bereits keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, weil das Recht des Gründungsstaates für die Errichtung der Gesellschaft gewählt wurde. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kommt daher von vornherein nur insoweit in Betracht, als das Gläubigerschutzrecht des Zuzugsstaats strenger als dasjenige des Gründungsstaats ist. Die darin liegende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist aber nach dem Vier-KriterienTest69 sachlich gerechtfertigt. Dies gilt jedenfalls für die Existenzvernichtungshaftung70.
__________ 65 S. III 2 b. 66 Huber in Musielak, ZPO, 3. Aufl. 2002, § 293 Rz. 1; Prütting in MünchKomm.ZPO,
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Bd. 1, 2. Aufl. 2000, § 293 Rz. 3; Geimer in Zöller, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 293 Rz. 120 f.; Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 62. Aufl. 2004, § 293 Rz. 5 ff.; aus der Rspr. s. nur BGHZ 118, 151 (164). Leipold in Stein/Jonas, ZPO, Bd. 3, 21. Aufl. 1997, § 293 Rz. 48; Prütting in MünchKomm.ZPO, § 293 Rz. 52. BGHZ 69, 378; BGH, NJW 1982, 1215. S. dazu die Nachw. o. Fn. 55. Dazu sogleich im Text.
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4. Zur Anwendbarkeit der Existenzvernichtungshaftung auf die Scheinauslandsgesellschaft a) Meinungsstand Die Anwendung der Existenzvernichtungshaftung auf nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften wird im Ergebnis weithin bejaht, jedoch besteht erhebliche Unsicherheit in der Frage der kollisionsrechtlichen Einordnung. Teilweise wird darauf abgestellt, dass eine Haftung in den relevanten Fällen zumeist aus § 826 BGB, §§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 263 StGB zu bejahen sei, so dass das Deliktsstatut zur Anwendung deutschen Rechts führe oder trotz gesellschaftsrechtlicher Qualifikation in funktionaler Betrachtung das Deliktsstatut eröffnet sei71. Demgegenüber sprechen sich einige Autoren für eine insolvenzrechtliche Qualifikation aus oder lassen die Entscheidung zwischen deliktischer oder insolvenzrechtlicher Qualifikation offen72. Eine weitere, verbreitet vertretene Auffassung hält auf der Grundlage einer gesellschaftsrechtlichen Qualifikation eine Sonderanknüpfung der Existenzver-
__________ 71 So Bayer, BB 2003, 2357 (2365); s. ferner Wachter, GmbHR 2003, 1254 (1257);
Schanze/Jüttner, AG 2003, 661 (669) begreifen die Existenzvernichtungshaftung als Anwendungsfall des § 826 BGB, der bereits bei evidenter, sittenwidriger Gläubigerschädigung eingreifen soll; Schumann, DB 2004, 743 (748 f.) und Ziemons, ZIP 2003, 1913 (1917) halten die (gesellschaftsrechtliche) Existenzvernichtungshaftung für unanwendbar, jedoch ebenfalls eine dem Deliktsstatut unterfallende Haftung nach § 826 BGB (Ziemons a. a. O. S. 1917 Fn. 35; Schumann a. a. O. S. 749), sowie aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. einem ausländischen Schutzgesetz (Schumann a. a. O. S. 749) für möglich. Meilicke befürwortet einerseits eine Handelndenhaftung unterhalb der Schwelle der §§ 826 BGB, §§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 263 StGB nach Maßgabe der „TBB“- und „Bremer Vulkan“-Rechtsprechung (GmbHR 2003, 793 [806]), stellt an anderer Stelle aber der (seiner Ansicht nach unzulässigen) Anwendung der „Bremer Vulkan“-Grundsätze eine (zulässige) Handelndenhaftung für konkret missbräuchliches Verhalten gegenüber (GmbHR 2003, 1271 [1272]). Einschränkend allgemein für den Haftungsdurchgriff bei EU-ausländischen Kapitalgesellschaften Risse, MDR 1999, 752 (753); Schön, RabelsZ 64 (2000), 1 (19 ff.); ders., EWS 2000, 281 (287). Gegen eine deliktische Qualifikation u. a. Schön, ZHR 168 (2004), 268 (292). 72 S. Fischer, ZIP 2004, 1477 (1480): „über … Art. 4 Abs. 2 EuInsVO gedeckt“; Weller, IPRax 2003, 207 (210); ders., IPRax 2003, 324 (328): „Insolvenzverursachungshaftung“; ders., IPRax 2003, 520 (524); Horn, NJW 2004, 893 (899): Haftungstatbestand mit insolvenzrechtlicher Bedeutung; G. H. Roth, NZG 2003, 1081 (1085): Anknüpfung nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen als Haftung mit „vorinsolvenzrechtlicher Qualität“. Jew. offen lassend Binge/Thölke, DNotZ 2004, 21 (25 f.); Borges, ZIP 2004, 733 (741), gesellschaftsrechtliche Sonderanknüpfung favorisierend; Schulz, NJW 2003, 2705 (2708); Zimmer, NJW 2003, 3585 (3589). Noch anders Kindler, NZG 2003, 1086 (1090): Mehrfachqualifikation als gesellschafts-, delikts- oder insolvenzrechtlich. S. ferner Wackerbarth, Grenzen der Leitungsmacht in der internationalen Unternehmensgruppe, 2001, S. 109 f.: Durchgriffshaftung nach dem Recht des Staates, in dem das Insolvenzverfahren durchgeführt werde. Dagegen Schön, ZHR 168 (2004), 268 (292).
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nichtungshaftung im Hinblick auf das Rechtfertigungskriterium der „Erforderlichkeit“ i. S. d. „Vier-Kriterien-Tests“73 nur für möglich, sofern im vorrangig anzuwendenden Recht des Gründungsstaates unerträgliche Schutzlücken zu Lasten der Gläubiger festzustellen seien74. b) Stellungnahme In Wirklichkeit ist die Existenzvernichtungshaftung, dies haben gerade die grundlegenden Vorüberlegungen des Jubilars gezeigt, spezifisch gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren75. Ungeachtet dessen ist sie aber auch auf EUausländische Kapitalgesellschaften anzuwenden76. Die gesellschaftsrechtliche Haftung wegen Existenzvernichtung ist von der deliktischen Haftung der Gesellschafter, die zugleich verwirklicht sein kann, zu unterscheiden77. Die Existenzvernichtungshaftung hängt auch nicht davon ab, ob der Gesellschafter einer Scheinauslandsgesellschaft seine Niederlassungsfreiheit im Sinne der Vorbehalte der Entscheidungen „Centros“ und „Inspire Art“78 „missbraucht“ hat79. Aus niederlassungsrechtlicher Sicht muss sich der Gesellschafter hierzulande nach der Existenzvernichtungshaftung verantwor-
__________ 73 S. Fn. 55. 74 So Behrens, IPRax 2003, 193 (203, 205, 206); ders., IPRax 2004, 20 (25), allgemein
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zum Haftungsdurchgriff; Drygala, EWiR Art. 43 EG 4/03, 1029 (1030); ders., EuR 2004, 337 (346 f.); Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2242); ders., JZ 2004, 24 (26, 27, 28); ders./Rehm, ZGR 2004, 159 (182); Paefgen, DB 2003, 487 (491), der jedoch bereits eine „ausreichende Inlandsbeziehung“ der Auslandsgesellschaft, d. h. irgendeine (Zweig-)Niederlassung, für die Anwendung genügen lassen will; W.-H. Roth, IPRax 2003, 117 (125); Spindler/Berner, RIW 2004, 7 (11, 13 f.); Sandrock, ZVglRWiss 102 (2003), 447 (485 f.); Sandrock hält neuerdings statt einer Anknüpfung gläubigerschützender Normen an den effektiven Verwaltungssitz eine Anknüpfung an den Ort, an dem deliktisch oder vertraglich gehandelt wurde („Handlungsstatut“), für zutreffend, vgl. dens., BB 2004, 897 (899 f. mit Fn. 36), sowie dens. in Sandrock/ Wetzler, Deutsches Gesellschaftsrecht im Wettbewerb der Rechtsordnungen, 2004, S. 33 (61 f.).. Eingehend II. S. Altmeppen, NJW 2004, 97 (101 f.); ders./Wilhelm, DB 2004, 1083 (1088); Borges, ZIP 2004, 733 (741); Ulmer, NJW 2004, 1201 (1208 f.); für eine weitgehende Zulässigkeit der Durchgriffshaftung auch Lutter, BB 2003, 7 (10) unter Hinweis auf Ulmer, JZ 1999, 662 (664 f.). S. Altmeppen, ZIP 2002, 1553 (1556). S. EuGH (Fn. 5), Rz. 38 (Centros); EuGH (Fn. 6) Rz. 136 (Inspire Art). Für eine Rechtfertigung nach Maßgabe des Missbrauchsvorbehalts aber u. a. Drygala, EWiR Art. 43 EG 4/03, 1129 (1130); ders., EuR 2004, 337 (347); Horn, NJW 2004, 893 (899); G. H. Roth, NZG 2003, 1081 (1085); Sandrock, BB 1999, 1337 (1343); ders., ZVglRWiss 102 (2003), 447 (464); Weller, IPRax 2003, 207 (209); Zimmer, NJW 2003, 3585 (3589), jeweils für die Existenzvernichtungshaftung bzw. die Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung.
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ten, weil diese Haftung zur Erreichung eines wirksamen Gläubigerschutzes erforderlich und damit gerechtfertigt ist80. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die zutreffende Kollisionsregel ohne weiteres zur Anwendung der Existenzvernichtungshaftung auf die Scheinauslandsgesellschaft mit Sitz in Deutschland führt81. Unter dem Aspekt der Niederlassungsfreiheit ist diese Anwendung, soweit es sich überhaupt um eine Beschränkung handeln sollte – etwa weil der Gründungsstaat entsprechenden Gläubigerschutz nicht kennt –, gerechtfertigt. c) Zur Alternativanknüpfung Soweit die Voraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung nicht vorliegen, bleibt es dem Kläger unbenommen, eine Durchgriffshaftung nach dem Recht des Gründungsstaats geltend zu machen. Zwar ist kaum anzunehmen, dass ein Mitgliedstaat die Durchgriffshaftung an geringere Voraussetzungen anknüpft als Deutschland. Bejahendenfalls wäre aber die Klage des Gläubigers nach dem Recht des Gründungsstaats erfolgreich, wenn und weil die Gesellschafter der Scheinauslandsgesellschaft sich auch nach dem Gläubigerschutzrecht des Gründungsstaats behandeln lassen müssen. Bei der Erforschung des ausländischen Rechts (hier: zur Durchgriffshaftung) gelten für den deutschen Richter erhebliche Erleichterungen, da der Grundsatz iura novit curia wesentlich eingeschränkt ist82.
IV. Der Gerichtsstand zur Verfolgung der Existenzvernichtungshaftung Wenn die Gesellschafter oder Geschäftsführer ihren allgemeinen Gerichtsstand nicht in Deutschland haben, ist ihre Haftung nach deutschem Recht faktisch kaum durchsetzbar, wenn es hierzulande keinen Gerichtsstand gäbe. Ein EU-ausländisches Gericht käme nach seinem Kollisionsrecht womöglich gar nicht zur Anwendung des deutschen Rechts, und zudem bliebe die erhebliche Schwierigkeit, dass der Richter im EU-Ausland das für ihn fremde deutsche Gesellschaftsrecht handhaben müsste. Doch stellt sich diese Problematik auch dann, wenn EU-ausländische Gesellschafter in Deutschland eine Tochtergesellschaft nach deutschem Recht gründen.
__________
80 S. zum „Vier-Kriterien-Test“ o. bei Fn. 55. Die Entscheidung zwischen einer Recht-
fertigung nach Maßgabe des Missbrauchsvorbehalts (s. Fn. 78) oder des allgemeinen Rechtfertigungstatbestands (Fn. 55) offen lassend Borges, ZIP 2004, 733 (742 f.). Fischer, ZIP 2004, 1477 (1480) verneint aufgrund der (angeblich) insolvenzrechtlichen Qualität der Existenzvernichtungshaftung bereits einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit. 81 III 2 b. 82 S. die Nachw. in Fn. 66.
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1. Meinungsstand Im Ergebnis besteht weitgehend Einigkeit, dass die Ansprüche der deutschen Tochtergesellschaft, ihrer außenstehenden Gesellschafter oder ihrer Gläubiger gegen die EU-ausländische Mutter an einem Gerichtsstand in Deutschland eingeklagt werden können. Die Begründung differiert jedoch. Weit verbreitet ist die Annahme, ein Gerichtsstand in Deutschland sei aus Art. 5 Nr. 1 EuGVVO abzuleiten. Da der EuGH mehrfach das mitgliedschaftliche Verhältnis zwischen Vereinsmitgliedern bzw. Aktionären untereinander und zwischen ihnen und der Gesellschaft als „vertraglich“ im Sinne des Art. 5 Nr. 1 EuGVVO angesehen habe83, gelte Entsprechendes etwa für die Konzernhaftung der Muttergesellschaft, auch wenn es nur um faktische Konzernierung der Tochtergesellschaft gehe, aber auch für die Kapitalerhaltungs- oder Kapitalersatzhaftung. Denn das mitgliedschaftliche Verhältnis beruhe jedenfalls auf dem Gesellschaftsvertrag84. Die Gegenansicht argumentiert, der Anspruch etwa aus faktischer Konzernierung sei nicht vertraglicher Art85. Namentlich die Konzernausfallhaftung gegenüber den Gläubigern der abhängigen Gesellschaft soll nicht „vertraglich“ sein86. Andere argumentieren, mit Hilfe des Art. 5 Nr. 1 EuGVVO könne, wenn es um die Zahlungsansprüche der deutschen Konzerntochter gegen Gesellschafter und Geschäftsleiter gehe, kein Gerichtsstand in Deutschland begründet werden. Denn nach deutschem Recht sei Erfüllungsort solcher Zahlungsansprüche gerade der Sitz der Muttergesellschaft oder der Wohnsitz der Geschäftsleiter etc. (§ 269 BGB)87. Soweit man den Gerichtsstand des Erfüllungsorts (Art. 5 Nr. 1 EuGVVO) nicht für einschlägig hält, wird allerdings vielfach auf den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung abgestellt (Art. 5 Nr. 3 EuGVVO), namentlich hinsichtlich der Haftung im faktischen Konzern. Das entscheidende Argument
__________ 83 S. dazu EuGH, EuGHE 1983, 987 Rz. 13 f. = IPRax 1984, 85 (Peters ZNAV); EuGH,
EuGHE 1992, I – 1769 Rz. 16 = IPRax 1993, 32 (Powell/Duffryn/Petereit). 84 Tendenziell so Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2003, Art. 5 EuGVVO Rz. 6;
Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2002, Art. 5 EuGVVO Rz. 7; Leible in Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht, 2004, Art. 5 EuGVVO Rz. 25; Martiny in FS Geimer, 2002, S. 641 (659); insbes. für konzernrechtliche Ansprüche Kindler in FS Ulmer, 2003, S. 305 (312 ff.); Haubold, IPRax 2000, 375 (376); für Vertragsgläubiger auch Kulms, IPRax 2000, 488 (491 f.); zurückhaltend Zimmer, IPRax 1998, 187 (190): „offene Frage“. 85 OLG Frankfurt, IPRax 2000, 525; ähnlich schon OLG Köln, WM 1998, 624; OLG Düsseldorf, IPRax 1998, 210 (die dagegen eingelegte Revision hat der BGH durch Beschl. v. 13.1.1997 – II ZR 304/95 nicht zur Entscheidung angenommen). Zust. Goette, DStR 1997, 503 (505). 86 OLG Düsseldorf, IPRax 1998, 210; Goette, DStR 1997, 503 ff.; Haubold, IPRax 2000, 375 (381) jew. m. w. N. 87 So Maul, AG 1998, 404 (408).
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dazu lautet, der EuGH verstehe diesen Gerichtsstand denkbar weit. Davon erfasst seien alle Klagen, die auf Ersatzleistung gerichtet seien, unabhängig von der Rechtswidrigkeit oder gar des Verschuldens auf Seiten des Schuldners. Letztlich gehe es um alle Schadensersatz- und Ausgleichsansprüche, die nicht auf Vertrag beruhen88. Manche befürworten sogar einen Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 5 EuGVVO, da die Tochtergesellschaft mit Sitz in Deutschland durchaus auch als „Zweigniederlassung“ angesehen werden könne89. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die in Deutschland ganz überwiegende Lehre darum bemüht ist, einen Gerichtsstand in Deutschland zu begründen, wenn es um Ansprüche einer deutschen Konzerntochter, der außenstehenden Gesellschafter oder Gläubiger geht, die sich gegen die EUausländische Muttergesellschaft oder die Geschäftsleiter der beteiligten Gesellschaften richten. Man stützt sich alternativ auf Art. 5 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 5 EuGVVO (Gerichtsstände des Erfüllungsorts, der unerlaubten Handlung bzw. der Zweigniederlassung). 2. Stellungnahme Sämtliche Ansprüche gegen Gesellschafter und Geschäftsleiter der Tochtergesellschaft, die auf der Mitgliedschaft oder auf der Organstellung beruhen, können bei großzügiger Betrachtung im Sinne des Art. 5 Nr. 1 EuGVVO (Gerichtsstand des Erfüllungsorts) eingeordnet werden90. Denn die Mitgliedschaft oder Organstellung beruht nach dem weiten Verständnis des EuGH auf einem Verhältnis, das als „vertraglich“ definiert werden kann, wenn es nur darum geht, einen Gerichtsstand am Ort der Gesellschaft zu begründen. Auch Sekundäransprüche gesetzlicher Natur, die an Verletzungen der vertraglichen Hauptleistungspflichten anknüpfen, sind Ansprüche im Sinne des Art. 5 Nr. 1 EuGVVO91. Hier geht es aber zumeist um Verletzungen von Mitgliedschafts- oder Organpflichten gegenüber der Gesellschaft. Der Erfüllungsort im Sinne des Art. 5 Nr. 1 EuGVVO ist bei Ansprüchen aus Gesell-
__________ 88 In diesem Sinne etwa Maul, AG 1998, 404 ff.; dies., NZG 1999, 741 f. (744);
Zimmer, IPRax 1998, 187 f.; Kindler (Fn. 84), 2003, S. 305 (317 ff.); Haubold, IPRax 2000, 375 (381 f.); hilfsweise – falls man den Gerichtsstand des Erfüllungsortes ablehnt – wohl auch Kulms, IPRax 2000, 488 (490); abl. jedoch Goette, DStR 1997, 503 (505): Die Konzernhaftung setze kein Verschulden voraus. 89 Zimmer, IPRax 1998, 187 (190 f.); auch Kulms, IPRax 2000, 488 (490): wenn der Kläger auf die Konzernhaftung der ausländischen Muttergesellschaft habe vertrauen dürfen; für die Konzernaußenhaftung auch Kindler (Fn. 84), S. 305 (321) m. Fn. 113 unter Hinweis auf dens. in MünchKomm.BGB, Rz. 638. 90 So ist die h. M. zu verstehen, Nachw. s. o. Fn. 84. 91 S. statt aller Kropholler (Fn. 84), Art. 5 EuGVVO Rz. 11; Schlosser (Fn. 84), Art. 5 EuGVVO Rz. 7; w. Nachw. bei Kindler (Fn. 84), 2003, S. 305 (312).
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schaftsverhältnissen auch keineswegs der Wohnsitz des Schuldners (§ 269 BGB), sondern der Sitz der Gesellschaft, um deren Ansprüche es geht92. Die Existenzvernichtungshaftung ist eine solche wegen Verletzung von Mitgliedschafts- oder Organpflichten93, also nach Art. 5 Nr. 1 EuGVVO am Sitz der Gesellschaft einzuklagen. Fallen Satzungssitz und effektiver Verwaltungssitz auseinander, ist dabei jedenfalls auch auf den effektiven Verwaltungssitz abzustellen. Richtet sich nämlich der Erfüllungsort nach dem Gesellschaftssitz, soll die jeweilige Leistung dort erbracht werden, wo sich die Gesellschaft oder deren Unternehmen tatsächlich befinden. Wer dieses Ergebnis nicht mittragen will, muss jedenfalls den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung (Art. 5 Nr. 3 EuGVVO) für einschlägig halten. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH knüpft dieser Gerichtsstand nicht an ein rechtswidriges oder schuldhaftes Verhalten an; er soll vielmehr für sämtliche Schadensersatz- und Ausgleichshaftungsfälle herangezogen werden, die nicht vertraglicher Natur sind94. Die Schadensersatz- oder Durchgriffshaftung beherrschender Gesellschafter und Geschäftsleiter der Kapitalgesellschaft kann deshalb auch als eine solche im Sinne des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO eingeordnet werden. Sogar ein Gerichtsstand der Zweigniederlassung (Art. 5 Nr. 5 EuGVVO) liegt nicht fern, wenn es um den Schutz von Außenseitern (insbesondere Gläubigern) der deutschen Tochtergesellschaft geht. Allerdings ist die Filiale rechtlich unselbständig, darin liegt der entscheidende Unterschied zur echten Tochtergesellschaft. Im hier interessierenden Zusammenhang des Gerichtsstandes kann es darauf aber nicht entscheidend ankommen, wenn es um Ansprüche von Außenseitern geht. Das Merkmal der fehlenden rechtlichen Selbständigkeit begründet den besonderen Gerichtsstand der Filiale deswegen, weil die Hauptniederlassung über die Filiale Ansprüche der Gläubiger gegen sich begründet hat. Dann muss sich die Hauptniederlassung am Ort der Filiale auf ein gerichtliches Verfahren mit diesen Gläubigern einlassen. Dieser Gedanke ist gleichermaßen einschlägig, wenn die Muttergesellschaft über eine Tochtergesellschaft Ansprüche gegen sich begründet hat, die ausschließlich im Interesse der Außenseiter der Tochtergesellschaft bestehen. Zum Gerichtsstand ist abschließend festzustellen, dass es keinen Sinn macht, die Außenseiter der deutschen Tochtergesellschaft eines EU-ausländischen Unternehmensträgers nach deutschem Recht schützen zu wollen, ohne die
__________ 92 S. nur Heinrichs in Palandt, BGB, § 269 Rz. 18; Krüger in MünchKomm.BGB, Band
2a, 4. Aufl. 2003, § 269 Rz. 32 jew. m. w. N. 93 S. eingehend II. 94 S. EuGH, EuGHE 1988, 5565 Rz. 18 (Kalfelis); EuGH, EuGHE 1998 I-6511 Rz. 17 –
„Réunion européenne“; Kropholler (Fn. 84), Art. 5 EuGVVO Rz. 56; Zimmer, IPRax 1998, 187 (190); Kiethe, NJW 1994, 222 (223); Schwarz, Der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht, 1991, S. 112 ff.
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deutschen Gerichte für zuständig zu halten. Eine großzügige Handhabung der Regelungen über die besonderen Gerichtsstände nach Maßgabe des Art. 5 Nr. 1, 3 u. 5 EuGVVO ist im Verhältnis zu diesem eher abwegigen Ergebnis allemal vorzuziehen. Die Ausführungen zur Zuständigkeit deutscher Gerichte für Klagen gegen EU-ausländische Gesellschafter und Geschäftsführer deutscher Kapitalgesellschaften gelten entsprechend im Falle der Scheinauslandsgesellschaft mit Sitz in Deutschland. Im Zusammenhang mit dem Gerichtsstand des Erfüllungsorts (Art. 5 Nr. 1 EuGVVO) wäre auf den Verwaltungssitz dieser Gesellschaften abzustellen, der sich in Deutschland befindet.
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Die Gesamtverantwortung der Gesellschafter für das Stammkapital und die Existenz der GmbH Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Gesamtverantwortung der Gesellschafter für die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals III. Die Haftung der Mitgesellschafter nach der BGH-Rechtsprechung zur Existenzvernichtung IV. Der Umfang der Ausfallhaftung 1. Ausfallhaftung gem. § 24 GmbHG
2. Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG a) Grundsatz: Haftungsbeschränkung auf das Stammkapital b) Haftungsbeschränkung auch bei schuldhafter Mitwirkung an verbotswidriger Auszahlung? c) Haftungsbeschränkung bei Eigenkapitalersatz V. Privilegierung für Kleingesellschafter? VI. Zusammenfassung und Ausblick
I. Einleitung Der BGH hat in den vergangenen Jahren in mehreren Entscheidungen Stellung bezogen zu dem Problem, inwieweit Mitgesellschafter für verbotswidrige Leistungen aus dem Vermögen der GmbH haftbar gemacht werden können. Hierbei wurden frühere Urteile teilweise korrigiert, was allerdings nicht überrascht, da sowohl eine extensive Rechtsfortbildung als auch harte Kurskorrekturen fast zum „Markenzeichen“ des II. Zivilsenats unter dem Vorsitz von Volker Röhricht geworden sind. Der folgende Beitrag beschäftigt sich zum einen mit der Ausfallhaftung nach erfolgter Kaduzierung gem. § 24 GmbHG, zum anderen mit der Ausfallhaftung wegen unzulässiger Auszahlungen gem. § 31 Abs. 3 GmbHG und schließlich mit der nicht kodifizierten (Ausfall-)Haftung wegen Mitwirkung an der Vernichtung der Existenz der GmbH. Zahlreiche Probleme zu diesen Themen werden kontrovers diskutiert; soweit höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, ist auch diese im Schrifttum umstritten. Es erscheint daher reizvoll und dürfte unseren Jubilar erfreuen, wenn die Problematik in der ihm gewidmeten Festschrift in ihrem dogmatischen Gesamtzusammenhang näher untersucht wird.
II. Die Gesamtverantwortung der Gesellschafter für die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals Zu den singulären Besonderheiten des GmbH-Rechts zählt, dass jeder Gesellschafter nicht nur die bei Errichtung der GmbH selbst übernommene 25
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Stammeinlage zu erbringen hat, sondern dass er darüber hinaus das zusätzliche Risiko trägt, für nicht oder nicht ordnungsgemäß erbrachte Stammeinlagen seiner Mitgesellschafter haftbar gemacht zu werden. Das entsprechende Pendant zu dieser für die Kapitalaufbringung in § 24 GmbHG angeordneten Ausfallhaftung findet sich für Verstöße gegen die Kapitalerhaltung (§ 30 GmbHG) in § 31 Abs. 3 GmbHG. Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers soll in beiden Konstellationen die unbedingte Sicherung des Stammkapitals im Interesse der Gläubiger gewährleistet werden: So formuliert etwa die Gesetzesbegründung, dass den Gesellschaftern „eine Gesamthaftung dafür auferlegt wurde, dass das im Gesellschaftsvertrage bestimmte Stammkapital vollständig zur Einzahlung gelangt und dass auch nicht später eine Verminderung desselben durch unberechtigte Auszahlungen an die Gesellschafter stattfindet (§§ 24, 31)“1. Diesem Normzweck hat in der Vergangenheit bereits die Rechtsprechung des Reichsgerichts konsequent Rechnung getragen2 und auch der BGH hat diese Linie beibehalten3. Nicht ohne mittelbare Auswirkungen auf die Ausfallhaftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG dürfte aktuell die – zutreffende – Auffassung des BGH sein, wonach sich das Aufrechnungsverbot des § 19 Abs. 2 GmbHG analog auch auf die Erstattungspflicht nach § 31 GmbHG erstreckt4 und der Anspruch auf Erstattung unzulässiger Vermögenszuwendungen nicht durch
__________ Begründung zum GmbHG, RT-Drucks. 1890/1892 Nr. 660, S. 3730. S. RGZ 82, 116 (122); RGZ 92, 365 (367); RG, JW 1937, 2284 (2286); zur Erstreckung des Aufrechnungsverbots gem. § 19 Abs. 2 Satz 2 GmbHG auf die Ausfallhaftung nach § 24 GmbHG: RGZ 92, 365; RGZ 98, 276 (277); bestätigt durch RGZ 123, 8 (9); seitdem allg.M.: Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 24 Rz. 12. 3 BGHZ 132, 390 (393 f.): Ausreichend für die Ausfallhaftung gem. § 24 GmbHG ist die Gesellschaftereigenschaft bei Fälligkeit der Stammeinlage; nicht erforderlich ist, dass auch die weiteren Voraussetzungen der §§ 21–23 GmbHG vorliegen; denn die Ausfallhaftung ist aufschiebend bedingt (anders noch RG, JW 1937, 2284 (2286); Goerdeler/Müller in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992, § 24 Rz. 28 f.; wie der BGH bereits OLG Köln, ZIP 1993, 1389 (1392); zustimmend LG Hildesheim, GmbHR 1998, 44 (46) sowie aus dem aktuellen Schrifttum etwa Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 24 Rz. 7 m. w. N. Die Frage ist auch für § 31 Abs. 3 GmbHG umstritten; die h. M. entscheidet hier ebenso wie bei § 24 GmbHG; vgl. nur BGH, GmbHR 1991, 195; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 31 Rz. 35; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 31 Rz. 18 m. w. N.; a. A. H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, Bd. 1, 9. Aufl. 2002, § 31 Rz. 25; Goerdeler/Müller in Hachenburg, § 31 Rz. 43. 4 BGHZ 146, 105 (107 f.) m. zust. Anm. Bayer, LMK 5/2001 § 19 GmbHG Nr. 22; ebenso Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 31 Rz. 24; vgl. auch schon Ulmer in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 363 (382); a. A. Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 31 Rz. 26; früher bereits Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 31 Rz. 18; Goerdeler/Müller in Hachenburg, GmbHG, § 31 Rz. 59; OLG Naumburg, GmbHR 1998, 1181 f. 1 2
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die Beseitigung der Unterbilanz entfällt5. Ebenso werden Mitgesellschafter für die Ausreichung von Darlehen und die Bestellung von Sicherheiten haftbar gemacht, sofern diese Rechtsgeschäfte nach Maßgabe von BGHZ 157, 72 als verbotene Auszahlungen zu qualifizieren sind6. Typologisch handelt es sich bei der Verantwortung der Gesellschafter für die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals um eine objektive Garantiehaftung: Sowohl für die Ausfallhaftung nach § 24 GmbHG als auch nach § 31 Abs. 3 GmbHG kommt es nach allgemeiner Auffassung auf ein Verschulden nicht an7. In speziellen Konstellationen kann sie existentielle Ausmaße annehmen, wie etwa für § 24 GmbHG die Sachverhalte der Entscheidungen BGHZ 132, 3908 und LG Mönchengladbach, ZIP 1986, 3069 verdeutlichen (jeweils Inanspruchnahme eines Kleingesellschafters durch Insolvenzverwalter wegen verdeckter Sacheinlage des Großgesellschafters)10. Der Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG kommt ebenfalls hohe praktische Bedeutung zu11. Sie findet insbesondere auch im Rahmen des Eigenkapitalersatzrechts entsprechende Anwendung12. Trotz dieser erheblichen Risiken wird die rechtspolitische Berechtigung der in der Praxis nach verbreiteter Einschätzung wenig bekannten13 Ausfallhaf-
__________ 5 BGHZ 144, 341; bestätigt durch BGH, NJW 2003, 3629 (3631); zustimmend Kort,
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ZGR 2001, 615 ff.; ebenso Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 31 Rz. 11; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 31 Rz. 44; Hueck/Fastrich in Baumbach/ Hueck, GmbHG, § 31 Rz. 6; i.E. auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 31 Rz. 13 ff.; a. A. noch BGH, NJW 1988, 139 (140); OLG Stuttgart, NZG 1998, 683 (684) (Vorinstanz zu BGHZ 144, 341); Goerdeler/Müller in Hachenburg, GmbHG, § 31 Rz. 24 m. w. N. Ausf. und mit allen Nachw. Bayer/Lieder, ZGR 2005, 133 ff. Allg.M.; vgl. nur Ulmer (Fn. 4), S. 363 (370); für § 31 Abs. 3 GmbHG abw. allein Reemann, ZIP 1990, 1309 (1314 ff.). Dazu Bayer, WuB II C. § 24 GmbHG 1.96. Dazu Müller-Wüsten, EWiR 1986, 161. Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung: OLG Hamm, GmbHR 1993, 360; OLG Köln, ZIP 1993, 1389; LG Hildesheim, GmbHR 1998, 44. Aus der Rechtsprechung: BGHZ 151, 61; 144, 336; BGH, NJW 1990, 1730; NJW 2003, 3629. BGH, NJW 1990, 1730 (1731); Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 106; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 32a Rz. 115; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, Bd. 1, 9. Aufl. 2002, §§ 32a, b Rz. 83; Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, § 32a Rz. 219; ausf. K. J. Müller, DB 1998, 1117 ff.; nach Ulmer in Hachenburg, GmbHG, §§ 32a, b Rz. 173 gilt § 31 Abs. 3 GmbHG direkt. Gegen Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG im Rahmen des Eigenkapitalersatzrechts allerdings Oppenhoff in FS Stiefel, 1987, S. 551 ff.; krit. Fastrich in FS Zöllner, 1998, Bd I, S. 143 (157 ff.); zweifelnd H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 31 Rz. 30; einschränkend früher auch noch Lutter/Hommelhoff, ZGR 1979, 31 (44) [soweit Ausfallschuldner die Darlehensgewährung mit zu verantworten hat]. So die Einschätzung von Robrecht, DB 1972, 1469 und ebenso von Müller-Wüsten, EWiR 1986, 161 (162).
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tung im aktuellen Schrifttum nicht in Frage gestellt14. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang einerseits auf den personenbezogenen Charakter der GmbH, andererseits darauf, dass mit der Gesamtverantwortung der Gesellschafter die gegenüber der Aktiengesellschaft weniger strenge Gründungsprüfung und -haftung sowie die geringere Publizität ausgeglichen werden solle15. Diese allgemeine Akzeptanz ist umso bemerkenswerter, als die Regelungen seit dem In-Kraft-Treten des GmbH-Gesetzes im Jahre 1892 zwar in ihrem Wortlaut unverändert geblieben sind, durch die Rechtsentwicklung jedoch einen deutlich erweiterten Anwendungsbereich erfahren haben16. Sowohl das hohe Risiko als auch die Ausweitung der Haftungstatbestände haben eine lebhafte Diskussion über eine Haftungsbegrenzung ausgelöst, wobei sich sowohl zu § 24 GmbHG als auch zu § 31 Abs. 3 GmbHG ein buntes Meinungsbild ergibt, jedoch bislang eine in sich stimmige Gesamtkonzeption noch nicht vorgelegt wurde (hierzu ausf. IV.). Seit einigen grundlegenden Urteilen des Reichsgerichts ist allgemein anerkannt, dass die Ausfallhaftung gem. § 24 GmbHG uneingeschränkt auch im Rahmen der Kapitalerhöhung Anwendung findet17. So haftet einerseits der alte Gesellschafter auch für neue, durch die Kapitalerhöhung geschaffene Geschäftsanteile18, andererseits aber auch der im Rahmen der Kapitalerhöhung erst neu in die GmbH aufgenommene Gesellschafter für alte Geschäftsanteile19. Entgegen einer früher im Schrifttum vertretenen Auffassung20 werden also zum Zwecke der Haftungsabschottung keine verschiedenen Gesellschaftergruppen gebildet. Zutreffend wurde in Schrifttum und Rechtsprechung jedoch ein besonderes Schutzbedürfnis für Altgesellschafter ausgemacht, die der Kapitalerhöhung widersprochen haben: Auch wenn für sie die Ausfallhaftung hinsichtlich der neuen Geschäftsanteile nicht generell entfallen kann21, so wird ihnen doch ein außerordentliches Austrittsrecht aus wichtigem Grund eingeräumt, das allerdings relativ kurzfristig nach der Beschlussfassung – und nicht erst im Falle der Inanspruchnahme aus § 24
__________ 14 Müller in Hachenburg, GmbHG, § 24 Rz. 1; Ebbing in Michalski, GmbHG, Bd. 1,
2002, § 24 Rz. 3; ausf. K. Schmidt, BB 1985, 154 ff. 15 S. Begründung zum GmbHG (wie Fn. 1); vgl. weiter RGZ 92, 365 (367); RGZ 132,
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392 (397); Müller in Hachenburg, GmbHG, § 24 Rz. 1; Priester in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 159 (182). Ausf. unten IV.1. Für alle: Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 24 Rz. 8; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 24 Rz. 16; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 24 Rz. 5; Müller in Hachenburg, GmbHG, § 24 Rz. 19 f.; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 24 Rz. 30. Grundlegend RGZ 93, 251 (252). Grundlegend RGZ 82, 216; bestätigt durch RGZ 132, 392 (394 ff.). So etwa Hachenburg, LZ 1914, 119 ff. und JW 1918, 588; Ehrenberg/Feine, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. III, 3. Abteilung: GmbH, 1929, S. 334 ff. Abw. noch Liebmann, ZHR 75 (1914), 534 (539 f.); ders., ZHR 77 (1916), 557 (559); Hollaender, ZHR 76 (1915), 65 (104 f.).
Gesamtverantwortung der Gesellschafter für Stammkapital und Existenz der GmbH
GmbHG – ausgeübt werden muss22. Wirtschaftlich betrachtet ist dieses Austrittsrecht jedoch nicht sehr attraktiv; daher stellt sich insbesondere hier die Frage nach einer möglichen weiteren Privilegierung (ausf. unten V.).
III. Die Haftung der Mitgesellschafter nach der BGH-Rechtsprechung zur Existenzvernichtung In Ergänzung der als lückenhaft erkannten Kapitalschutz-Konzeption der §§ 30, 31 GmbHG hat der BGH mit den Entscheidungen Bremer Vulkan23 und KBV24 im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung die neue Kategorie der Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs geschaffen25. Danach haftet ein Gesellschafter der GmbH deren Gläubigern analog § 128 HGB unmittelbar, wenn er ohne die erforderliche Rücksichtnahme auf die Belange der GmbH durch einen Abzug von Vermögen oder auch durch sonstige Nachteilszufügungen26 die Unfähigkeit der GmbH zur Bedienung ihrer Verbindlichkeiten verursacht hat und dadurch die spätere Insolvenz ausgelöst oder vertieft wird. Im Falle der eröffneten Insolvenz werden die Haftungsansprüche durch den Insolvenzverwalter geltend gemacht (§ 93 InsO analog). Rechtsdogmatisch handelt es sich um eine Form der Durchgriffshaftung wegen Missbrauchs der Rechtsform27. Diese neue Haftungsfigur soll die bisherige Rechtsprechung zur Haftung im qualifizierten faktischen Konzern ablösen, ist aber nicht auf Konzernsachverhalte beschränkt, sondern erfasst auch die Einzel-GmbH28. Es ist hier nicht der Ort, die Haftung wegen Existenzvernichtung vollumfänglich nachzuzeichnen oder auf Kritikpunkte einzugehen29. In unserem
__________ 22 LG Mönchengladbach, ZIP 1986, 306 (307); Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff,
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GmbHG, § 24 Rz. 8; Emmerich in Scholz, GmbHG, Bd. 1, 9. Aufl. 2002, § 24 Rz. 17; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 24 Rz. 5; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 24 Rz. 16; ausf. Grunewald in FS Lutter, 2000, S. 413 (418); zweifelnd Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 24 Rz. 31; vgl. auch Priester (Fn. 15), S. 159 (184). BGHZ 149, 10 = ZIP 2001, 1874 m. Bspr. Altmeppen, ZIP 2001, 1837 ff.; vgl. weiter K. Schmidt, NJW 2001, 3577 ff. BGHZ 151, 181 = JZ 2002, 1047 m. Anm. Ulmer; vgl. dazu weiter Wiedemann, ZGR 2003, 283 ff.; Wilhelm, NJW 2003, 175 ff. Vgl. weiter BGHZ 150, 61 (dazu noch ausf. unten IV.2.); BGH, ZIP 2005, 250 sowie auch ThürOLG, ZIP 2002, 631 und OLG Rostock, DZWiR 2004, 249 m. Anm. Lieder. Zu dieser Erweiterung ausf. und zutreffend Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402 (414 f.); G. H. Roth, NZG 2003, 1081 (1082). BGHZ 151, 181 (187); vgl. weiter Wiedemann, ZGR 2003, 283 (285 ff.); Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402 (440); Wilhelm, NJW 2003, 175 (177 f.). So ausdrücklich Röhricht in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 83 (118 ff.); ders. in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2002, 2003, S. 3 (23). Vertiefend etwa Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402 ff.; Wiedemann, ZGR 2003, 283 ff.; Henze, NZG 2003, 649 ff.; Vetter, ZIP 2003, 601 ff.
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Zusammenhang interessiert allein, unter welchen Voraussetzungen der BGH einen Gesellschafter haftbar macht, der nicht selbst der GmbH Vermögen entzogen oder andere zur späteren Existenzvernichtung führende Nachteile zugefügt hat: Dies ist nach BGHZ 150, 61 (67) sowie gleich lautend BGHZ 151, 181 (188) dann der Fall, soweit der Mitgesellschafter durch sein „Einverständnis“ mit dem Vermögensentzug (zu ergänzen wäre: oder der anderen Nachteilszufügung30) an der Existenzvernichtung „mitgewirkt“ hat. Entgegen Wiedemann gilt diese Haftungsvoraussetzung auch für Unternehmer-Gesellschafter31. Denn die Existenzvernichtungshaftung ist eine Verhaltens- und keine Strukturhaftung32. Dem Streit, ob zusätzlich zur Erfüllung der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen ein Verschulden erforderlich ist33, kommt praktisch keine große Bedeutung zu: Denn ein Gesellschafter, der es trotz objektiver Erkennbarkeit34 des aus dem Eingriff resultierenden Insolvenzrisikos an der „gebotenen Rücksichtnahme“ auf die Belange der GmbH fehlen lässt, handelt doch wohl pflichtwidrig. Dann ist aber aufgrund des im Zivilrecht geltenden objektiven Fahrlässigkeitsbegriffs35 eine unverschuldete Haftung wegen Existenzvernichtung kaum denkbar36. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Begriff „Einverständnis“ mehr verlangt als einfache Fahrlässigkeit und daher insbesondere ein fahrlässiges Nichteingreifen nicht zur Haftung wegen Existenzvernichtung führt; in Betracht kommt hier allein eine Haftung aus § 31 Abs. 3 GmbHG (ausf. unten IV.2). Die durch ihr Einverständnis an der Existenzvernichtung mitwirkenden Gesellschafter trifft dagegen das volle Risiko einer unbegrenzten Haftung: Ebenso wie der Gesellschafter, der direkt vom Vermögensabzug oder der sonstigen Nachteilszufügung profitiert hat, haften sie analog § 128 HGB unmittelbar den Gläubigern für jeden Schaden, der durch den Insolvenzeintritt verursacht wurde37. Diese Schadensersatzhaftung ist zwar subsidiär gegenüber der Kapitalerhaltungshaftung (so ausdrücklich BGHZ 151, 181 [(187]), kann jedoch ohne weiteres über die Höhe des abgezogenen Vermögens und
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So auch Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402 (436). Gegen Wiedemann, ZGR 2003, 283 (292) etwa Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402 (436). Zutreffend Haas, WM 2003, 1929 (1936). Dazu nur Bruns, WM 2003, 815 (816 f.); Altmeppen, ZIP 2002, 961 (967); für Verschulden ausdrücklich OLG Rostock, DZWiR 2004, 249. S. zu dieser tatbestandlichen Voraussetzung: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 13 Rz. 17. So der BGH in st. Rspr.; vgl. dazu und m.z.N. Grundmann in MünchKomm.BGB, Bd. 2, 4. Aufl. 2001, § 276 Rz. 54 ff.; Stadler in Jauernig, BGB, 11. Aufl. 2004, § 276 Rz. 29. So auch Bruns, WM 2003, 815 (817); vgl. weiter Decher in MünchHdb.GesR(GmbH), 2. Aufl. 2003, § 69 Rz. 10; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 13 Rz. 25a. Ausf. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 13 Rz. 20 ff.
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damit auch über den Umfang eines Rückgewähranspruches nach § 31 Abs. 1 GmbHG hinausgehen38.
IV. Der Umfang der Ausfallhaftung 1. Ausfallhaftung gem. § 24 GmbHG Im Rahmen des § 24 GmbHG erfasst die Ausfallhaftung zunächst und unstreitig die Stammeinlage eines zahlungsunfähigen Gesellschafters; beim Ausfall sämtlicher Mitgesellschafter wird daher im Ergebnis eine Verpflichtung zur Leistung des gesamten Stammkapitals begründet39. Allerdings ist zu beachten, dass für die Erfüllung der eigenen Stammeinlageverpflichtung nicht nach § 24 GmbHG gehaftet wird; diese Pflicht folgt vielmehr aus §§ 3 Abs. 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 GmbHG. Somit erstreckt sich das Ausfallrisiko der Mitgesellschafter streng genommen nur auf das Stammkapital minus der eigenen Stammeinlage40. Umstritten ist, ob die Ausfallhaftung gem. § 24 GmbHG darüber hinausgehen kann: Dies wird insbesondere für die Konstellation einer überbewerteten Sacheinlage kontrovers diskutiert. Ausgehend von der allgemein anerkannten Prämisse, dass auch die Differenzhaftung des Inferenten gem. § 9 Abs. 1 GmbHG von § 24 GmbHG mitumfasst wird41 – denn insoweit handelt es sich nach dem heutigen Stand der Dogmatik um die wiederaufgelebte Bareinlageschuld42 –, stellt sich das Problem, ob bei der Einbringung eines überschuldeten Unternehmens nicht nur der Inferent zum vollen Ausgleich verpflichtet ist43, sondern ob auch die Mitgesellschafter hierfür das unbe-
__________ 38 Cahn, ZGR 2003, 298 (312); Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402 (430); vgl. auch
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ThürOLG, ZIP 2002, 631; krit. Vetter, ZIP 2003, 601 (602 ff.). Einschränkend nunmehr aber BGH, Urt. v. 13.12.2004 – II ZR 206/02, ZIP 2005, 117 m. Anm. Altmeppen. Insoweit unstreitig: K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 37 II 5d, S. 1128; ders., BB 1985, 154 f.; ders., BB 1995, 532; Priester (Fn. 15), S. 159 (182); Emmerich in Scholz, GmbHG, § 24 Rz. 3a; Müller in Hachenburg, GmbHG, § 24 Rz. 22 (der indes fälschlicherweise von K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, bei Fn. 75 einer anderen Auffassung zugerechnet wird). Insoweit richtig bereits K. Schmidt, BB 1985, 154 (155). Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 9 Rz. 9; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 9 Rz. 4; Winter in Scholz, GmbHG, § 9 Rz. 3; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 9 Rz. 6; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 9 Rz. 5; Heyder in Michalski, GmbHG, § 9 Rz. 12. Für alle: K. Schmidt (Fn. 39), § 20 III 4 a und § 37 II 3 c; Lutter/Bayer in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, § 9 Rz. 1 m. w. N.; noch unentschieden dagegen BGHZ 29, 300 (306). Die Haftung des Inferenten ist weitgehend anerkannt: BGHZ 80, 129 (140); Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 9 Rz. 4; H. Winter in Scholz, GmbHG, § 9 Rz. 14; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 9 Rz. 6; Heyder in Michalski, GmbHG, § 9 Rz. 11; a. A. Grunewald (Fn. 22), S. 413 (415); Trölitzsch, Differenzhaftung für Sacheinlagen in Kapitalgesellschaften, 1998, S. 228 ff.
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schränkte Ausfallrisiko tragen44. Weder der Gesetzeswortlaut von § 24 GmbHG noch die Gesetzesmaterialien geben für die Lösung etwas her. Denn bei der Verabschiedung des GmbH-Gesetzes im Jahre 1892 wurde nicht nur bewusst auf jede Wertkontrolle durch das Registergericht verzichtet45; auch eine Wertgarantiehaftung der Gesellschafter war noch nicht bekannt, so dass Sacheinlagen bei Einverständnis der Gesellschafter nach Belieben bewertet werden konnten46. Diese Sichtweise wurde nur zögernd und dann auch nur für evidente Missbrauchsfälle aufgegeben47; erst die Entscheidung des BGH vom 14.3.197748 hat die im Schrifttum vielfach geforderte49 und vom Gesetzgeber dann mit der Novelle von 1980 auch kodifizierte verschuldensunabhängige Differenzhaftung höchstrichterlich anerkannt. Dies bedeutet: Entgegen ihrer historischen Wurzel wird die Ausfallhaftung heute bereits dadurch inhaltlich erweitert, dass § 24 GmbHG trotz unverändertem Wortlaut der Vorschrift aufgrund der dogmatischen Fortentwicklung des Anknüpfungspunktes (Einlageschuld) auch überbewertete Sacheinlagen erfasst. Noch weiter gehend wäre die Ausfallhaftung bei Einbringung eines überschuldeten Unternehmens: Dass „weniger als nichts“50 eingelegt wird und eine von der Stammkapitalziffer völlig losgelöste Haftung des Inferenten begründen kann, entzog sich schlicht der Vorstellungskraft der Gesetzesverfasser. Die Erkenntnis, dass die Einbringung eines überschuldeten Unternehmens dem historischen Verständnis des § 24 GmbHG nicht zugrunde lag, berechtigt indes nicht dazu, die Ausfallhaftung entgegen dem Wortlaut der Vorschrift nicht anzuwenden51. In Betracht käme methodisch allein eine teleologische Reduktion. Wer dies befürwortet52, begünstigt den Mitgesellschafter zu Lasten der GmbH-Gläubiger. Eine solche Privilegierung wäre
__________ 44 Die gleiche Problematik stellt sich z. B. auch bei Einbringung eines Anteils an einer
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Personengesellschaft und anschließender persönlicher Haftung der GmbH für eine bereits bei der Einbringung bestehende Altverbindlichkeit (zutreffend Gätsch, BB 1999, 701 [7029]). Hierzu Priester (Fn. 15), S. 159 (166 f.) m. w. N. RG, JW 1913, 1040 (1041); JW 1935, 2890 (2891). RGZ 159, 321 (355 f.) = DR 1939, 431 m. Anm. Boesebeck. BGHZ 68, 191 (195 ff.); dazu K. Schmidt, GmbHR 1978, 5 ff.; vgl. zum Aktienrecht bereits BGHZ 64, 52 ff. S. nur Wiedemann in FS E. Hirsch, 1968, S. 257 (260 ff.); Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 7. Aufl. 1975, § 5 Rz. 61 ff., 71 ff.; früher bereits Herbig, DNotZ 1936, 332 (342 ff.) und Boesebeck, DR 1939, 431 (436 f.). Das Bild findet sich etwa bei K. Schmidt (Fn. 39), § 37 II (S. 1128) und Müller in Hachenburg, GmbHG, § 24 Rz. 22. Ebenso zur Parallelproblematik des § 31 Abs. 3 GmbHG: Cahn, ZGR 2003, 298 (302). K. Schmidt, BB 1985, 154 (155); ders. (Fn. 39), § 37 Abs. 2, S. 1128; Priester (Fn. 15), S. 159 (183 f.); Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 9 Rz. 6; Müller in Hachenburg, GmbHG, § 24 Rz. 22; Emmerich in Scholz, GmbHG, § 24 Rz. 3a; Heyder in Michalski, GmbHG, § 9 Rz. 12; Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 9 Rz. 7; i.E. übereinstimmend Grunewald (Fn. 22), S. 413 (416).
Gesamtverantwortung der Gesellschafter für Stammkapital und Existenz der GmbH
indes – in Parallele zu § 31 Abs. 3 GmbHG (dazu IV. 2.) – allein dann zu erwägen, wenn hierfür ein besonderes Schutzbedürfnis geltend gemacht werden könnte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr übernehmen alle Gesellschafter im Rahmen der Kapitalaufbringung die uneingeschränkte Gesamtverantwortung für die Einhaltung der im Handelsregister ausgewiesenen Stammkapitalziffer. Im Unterschied zur Kapitalerhaltung sind sie auch in der Lage, auf die Erfüllung der originären Leistungspflichten ihrer Mitgesellschafter Einfluss zu nehmen. Entscheiden sich die Gesellschafter im Rahmen der GmbH-Gründung für eine besonders risikobehaftete Konstruktion (nämlich die Einbringung eines Unternehmens im Wege der Sacheinlage), so müssen sie hierfür auch ohne die Möglichkeit einer Beschränkung ihrer Ausfallhaftung geradestehen53. Gleiches gilt, wenn sie diese Entscheidung im Rahmen einer Kapitalerhöhung getroffen haben. Es ist daher nur eingeschränkt zutreffend, wenn das Reichsgericht die Ausfallhaftung mit den Worten charakterisiert hat, jeder Mitgesellschafter müsse haften, „ohne dass er das Ereignis, das seine Verpflichtung auslöste, verhindern könnte“54. Zum Ausdruck kommt mit dieser Formulierung allein die dogmatische Qualifikation der §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG als objektive, verschuldensunabhängige Garantiehaftung. Dennoch wird die Ausfallhaftung allen Gesellschaftern kraft willentlicher Risikoübernahme zugerechnet. Die zur Differenzhaftung angestellten Überlegungen gelten in gleicher Weise im Hinblick auf die Vorbelastungshaftung (auch: Unterbilanzhaftung), die nach allgemeiner Auffassung ebenfalls von § 24 GmbHG erfasst wird55. Im Unterschied zur überbewerteten Sacheinlage führt die Vorbelastung der GmbH im Zeitraum vor ihrer Eintragung allerdings nur zu einer pro rataHaftung aller Gesellschafter56, so dass sich die Vorschrift auch nur auf den (jeweiligen) Ausfall der anteiligen Haftung eines Mitgesellschafters erstreckt. Dogmatisch handelt es sich daher um eine analoge Anwendung des § 24 GmbHG, die aufgrund des einlageähnlichen Charakters der Vorbelastungshaftung gerechtfertigt ist57. In ihrem Umfang kann nun die Vorbelastungs-
__________ 53 So Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 24 Rz. 6; Pentz in Rowedder/
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Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 24 Rz. 24; Ebbing in Michalski, GmbHG, § 24 Rz. 63; wohl auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 24 Rz. 18; grundlegend vor der GmbH-Novelle 1980 bereits Wilhelm in FS Flume II, 1978, S. 361 f.; vgl. weiter Gätsch, BB 1999, 701 (703 f.). RGZ 93, 251 (253). BGHZ 80, 129 (141); BGH, ZIP 2003, 625 (627); Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 33; § 24 Rz. 6; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 24 Rz. 2; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 24 Rz. 2; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 90; Müller in Hachenburg, GmbHG, § 24 Rz. 16. BGHZ 80, 129 (141); OLG Köln, NZG 2002, 871; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 30; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 90; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 11 Rz. 128; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 11 Rz. 12. Zutreffend Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 90.
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haftung die Stammkapitalziffer der GmbH um ein Vielfaches übersteigen58. Doch ist die Ausfallhaftung auch hier nicht zu begrenzen: Für die Unversehrtheit des Stammkapitals bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Handelsregistereintragung der GmbH59 tragen alle Gesellschafter die Gesamtverantwortung60. Da aus diesem Grund die Vertretungsmacht der Geschäftsführung der Vor-GmbH nicht gem. § 37 Abs. 2 GmbHG unbeschränkt ist, sondern mangels abweichender Festlegung61 – die einstimmig erfolgen muss62 – nur solche Rechtshandlungen umfasst, die zur Herbeiführung der Eintragung notwendig sind63, liegt es in der Entscheidungsfreiheit eines jeden Gesellschafters, ob er neben dem Risiko seiner eigenen pro-rata-Vorbelastungshaftung zugleich und unabdingbar auch das unbeschränkte Ausfallrisiko analog § 24 GmbHG übernehmen will oder nicht64. Für Privilegierungen der Gesellschafter zu Lasten der GmbH-Gläubiger besteht auch insoweit nicht der geringste Anlass; ein besonderes Schutzbedürfnis ist nicht erkennbar. Im Ergebnis kann für die Verlustdeckungshaftung65 – dem Spiegelbild der Vorbelastungshaftung im Zeitraum vor der Eintragung der GmbH – nichts
__________ 58 BGHZ 105, 300 (303); BGH, GmbHR 1982, 235; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG,
§ 11 Rz. 13; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 30 m. w. N. 59 So zu Recht die h. M.: BGH, ZIP 2003, 625 (627); Hueck/Fastrich in Baumbach/
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Hueck, GmbHG, § 11 Rz. 56; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 29 m. w. N.; a. A. Heinrich in MünchHdb.GesR (Fn. 36), § 13 Rz. 27: Zeitpunkt der Anmeldung. Dies gilt auch für zwischenzeitlich entwertete Sacheinlagen, allerdings mit der Besonderheit, dass für Verluste bis zum Zeitpunkt der Anmeldung zunächst und vorrangig der Inferent haftet. S. zu dieser streitigen Frage nur Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 29, 33 sowie auch K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 11 Rz. 130; zu Unrecht a. A. Schmidt-Leithoff in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, § 11 Rz. 30. Auch konkludent, z. B. bei Einbringung eines Unternehmens: BGHZ 45, 343; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 28; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 11. BGHZ 80, 132 (139); Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 9; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 52; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 11 Rz. 63; Zöllner in FS Wiedemann, 2002, S. 1383 (1421). BGHZ 80, 132 (139); Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 11; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 11 Rz. 18; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 25, 54, 85; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 11 Rz. 47; a. A. K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 11 Rz. 64; Michalski, GmbHG, § 11 Rz. 55; W. H. Roth, ZGR 1984, 597 (608 f.). Für Vorbelastungen, die ohne Einverständnis aller Gesellschafter begründet wurden, haften weder die (Vor-)GmbH noch die Gesellschafter (richtig Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 85), sondern der Handelnde gem. § 11 Abs. 2 GmbHG (dazu aktuell für die AG: BGH, NJW 2004, 2519 m. zust. Anm. Bayer, LMK 2004, 209). Ausf. hierzu Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 13 ff.; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 11 Rz. 78 ff.; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 11 Rz. 49 ff.
Gesamtverantwortung der Gesellschafter für Stammkapital und Existenz der GmbH
anderes gelten. Allerdings ergibt sich ein dogmatischer Unterschied: Eine (analoge) Anwendung des § 24 GmbHG kommt hier – trotz Unanwendbarkeit der §§ 21–23 GmbHG – nur in Betracht, soweit man – wie im Grundsatz der BGH66 – dem Konzept der Innenhaftung folgt67. Überzeugender ist jedoch das Modell einer unmittelbaren und gesamtschuldnerischen Außenhaftung gegenüber den Gläubigern der Vor-GmbH nach dem Vorbild des § 128 HGB68; bei dieser Sichtweise ist naturgemäß für eine Ausfallhaftung kein Raum69, doch kommt § 24 GmbHG dann für den Regress im Innenverhältnis der Gesellschafter Bedeutung zu70. 2. Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG a) Grundsatz: Haftungsbeschränkung auf das Stammkapital § 30 GmbHG verbietet alle Auszahlungen, durch die eine Unterbilanz herbeigeführt oder vertieft wird71. Allgemein anerkannt ist heute, dass dieses Verbot auch die Herbeiführung oder Vertiefung einer Überschuldung erfasst72. Entgegen BGHZ 60, 324 (331) handelt es sich im Überschuldungsfall aber nicht um eine analoge Anwendung des § 30 GmbHG mit der Folge, dass auch die Rückgewährpflicht gem. § 31 Abs. 1 GmbHG sowie die ergänzenden Regelungen gem. § 31 Abs. 2 und 4 GmbHG nur analog begründet wären73. Diese unzutreffende Sichtweise beruhte auf einem verfehlten Ver-
__________ 66 BGHZ 134, 333 ff.; ebenso BAG, NJW 1996, 3165; NJW 1998, 629; BSG, ZIP 2000,
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497; BFH, NJW 1998, 2927; vgl. weiter Ulmer, ZIP 1996, 733 ff.; Roth in Roth/ Altmeppen, GmbHG, § 11 Rz. 52 ff. m. w. N. Für Anwendbarkeit des § 24 GmbHG: BGHZ 134, 333 (340) [obiter]; KG, GmbHR 1993, 649; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 11 Rz. 66; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 24 Rz. 2; a. A. trotz Befürwortung der Innenhaftung: Emmerich in Scholz, GmbHG, § 24 Rz. 2a („kaum haltbar“); unabhängig vom Haftungskonzept generell abl. Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 24 Rz. 2. S. zur Vermeidung von Wiederholungen die eingehende Begründung bei Lutter/ Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 11 Rz. 13 ff., 20 m. w. N.; ähnlich Zöllner in FS Wiedemann, 2002, S. 1383 (1405 ff.); grundlegend K. Schmidt, ZIP 1996, 353 ff.; vgl. weiter ders. in Scholz, GmbHG, § 11 Rz. 83 ff. m. w. N. Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 24 Rz. 13; Altmeppen in Roth/ Altmeppen, GmbHG, § 24 Rz. 3; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 11 Rz. 85. Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 24 Rz. 13. Einzelheiten etwa bei Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 30 Rz. 13 ff. Zum Sonderproblem von Darlehen an Gesellschafter und Sicherheitenbestellung für Gesellschafter: BGHZ 157, 72 m. Bspr. Bayer/Lieder, ZGR 2005, 133 ff. m. w. N. zum Streitstand. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 30 Rz. 2, 13; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 30 Rz. 17; H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 30 Rz. 18. So BGHZ 60, 324 (331); bestätigend noch BGHZ 67, 171 (174); BGHZ 76, 326 (332); BGHZ 81, 259; zustimmend auch noch Goerdeler/Müller in Hachenburg, GmbHG, § 30 Rz. 19 und H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, 6. Aufl. 1983, § 30 Rz. 15.
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ständnis des gesetzlichen Kapital- und Vermögensbegriffes74, wurde im Schrifttum zutreffend kritisiert75 und ist heute überholt76. Die restriktive Auffassung von BGHZ 60, 324 war allerdings durch die zusätzliche Überlegung getragen, dass bei einer direkten Anwendung der §§ 30, 31 GmbHG auf die überschuldete GmbH die Ausfallhaftung der Mitgesellschafter gem. § 31 Abs. 3 GmbHG nicht mehr „in kalkulierbaren Grenzen“ gehalten werden könne; diese Vorschrift sei hier vielmehr generell nicht (auch nicht analog) anwendbar77. Im Schrifttum hat zwar die dogmatische Begründung für die Nichtanwendung des § 31 Abs. 3 GmbHG in Überschuldungsfällen überwiegend Kritik erfahren78; der vom BGH vorgenommenen Begrenzung der Ausfallhaftung stimmte indes die Mehrzahl der Autoren79 zu80. Mit seiner Entscheidung vom 5.2.1990 hat der BGH seine frühere Auffassung ausdrücklich korrigiert und zutreffend festgestellt, dass § 31 Abs. 3 GmbHG auch auf solche Auszahlungen direkte Anwendung findet, durch die eine Überschuldung der GmbH herbeigeführt oder vertieft wird. Offen gelassen wurde allerdings die strittige Frage einer Haftungsbegrenzung81. Im Schrifttum wird die Problematik sehr kontrovers diskutiert. Folgende Varianten werden vertreten: Die Mitgesellschafter haften (1) unbeschränkt82,
__________ 74 Ausf. hierzu Joost, GmbHR 1983, 285 ff.; vgl. weiter Immenga, ZGR 1975, 487 ff.,
Fabritius, ZHR 144 (1980), 628 (634 f.). 75 Ausf. K. Schmidt, DB 1973, 2230 ff.; ders., BB 1985, 154 (156 f.); Immenga, ZGR
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1975, 487 (491 ff.); Wilhelm in FS Flume II, 1978, S. 337, 361 ff.; Fabritius, ZHR 144 (1980), 628 (634 f.); Joost, GmbHR 1983, 285 ff. Für alle: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 30 Rz. 2; Hueck/Fastrich in Baumbach/ Hueck, GmbHG, § 30 Rz. 9; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 30 Rz. 17; H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 30 Rz. 18; ausf. K. J. Müller, DB 1998, 1117 ff. BGHZ 60, 324 (331). Zustimmend allein Goerdeler/Müller in Hachenburg, GmbHG, § 30 Rz. 19. Dagegen für unbegrenzte Ausfallhaftung: Immenga, ZGR 1975, 487 (491 f.); Wilhelm (Fn. 75), S. 337 (361 f.); Fabritius, ZHR 144 (1980), 628 (635). Joost, GmbHR 1983, 288 ff.; K. Schmidt, BB 1985, 154 (156 ff.); Rowedder, GmbHG, 1. Aufl. 1985 § 31 Rz. 19; H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, 7. Aufl. 1986, § 31 Rz. 26. BGH, NJW 1990, 1730 (1731 f.) m. Anm. Immenga, WuB II C. § 31 GmbHG 1.90 und Joost, EWiR 1990, 481; bestätigt durch 2. Revisionsurteil BGH v. 16.12.1991 – II ZR 110/91 m. Anm. Wissmann, EWiR 1992, 787. Ehricke, Das abhängige Konzernunternehmen in der Insolvenz, 1998, S. 299 ff.; Gätsch, BB 1999, 701 (704 ff.); Kleffner, Erhaltung des Stammkapitals und Haftung nach §§ 30, 31 GmbHG, 1994, S. 177 ff.; J. Meyer, Haftungsbeschränkung im Recht der Kapitalgesellschaften, 2000, S. 544; sowie die bei Fn. 74 und 79 zitierten Autoren. Von einem abw. dogmatischen Standpunkt aus auch Reemann, ZIP 1990, 1309 ff.
Gesamtverantwortung der Gesellschafter für Stammkapital und Existenz der GmbH
(2) bis zur Höhe des Stammkapitals83, (3) bis zur Höhe des Stammkapitals minus der eigenen Stammeinlage84, (4) bis zur Höhe der Stammeinlage des nach § 31 Abs. 1 GmbHG haftenden Empfängers85. Der II. Zivilsenat hat seine Entscheidung in zwei Etappen getroffen: Zunächst wurde in BGHZ 150, 6186 im Wege der Rechtsfortbildung die unbeschränkte Ausfallhaftung (1) abgelehnt und mit dem Betrag des Stammkapitals nach oben begrenzt. Aus der Entscheidung folgt zugleich, dass diese Obergrenze für die gesamte Ausfallhaftung gelten soll, so dass also bei mehreren haftenden Mitgesellschaftern nicht jeder bis zur Höhe des Stammkapitals in Anspruch genommen werden kann87, sondern – vom Fall des § 31 Abs. 3 Satz 2 GmbHG abgesehen – nur hinsichtlich seines Haftanteils88. Eine weitere Begrenzung der Ausfallhaftung wurde indes vom BGH im Urteil vom 22. September 2003 abgelehnt89; der II. Zivilsenat folgt vielmehr der heute herrschenden Lehre (2) und entscheidet sich damit sowohl gegen die radikale Variante von K. Schmidt (4) als auch gegen das Modell von Lutter/Hommelhoff (3). Ebenso wie § 24 GmbHG (oben IV.1.) trägt derjenige die Begründungslast, der die vom Wortlaut her unbegrenzte Haftung des § 31 Abs. 3 GmbHG einschränken will90. Überzeugend hat sich hier ein von der herrschenden Meinung angeführtes Wertungsargument erwiesen: Eine unbegrenzte Ausfallhaftung stünde außer jedem Verhältnis zu dem von den Mitgesellschaftern mit ihrer Beteiligung an der GmbH übernommenen Risiko. Auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Gläubiger können diese billigerweise nicht erwarten, dass an der verbotswidrigen Auszahlung unbeteiligte Mitgesellschafter über den Betrag des Stammkapitals hinaus in Anspruch genommen werden können. Eine unbegrenzte Garantiehaftung ist unserer Rechtsordnung fremd. Daher muss jedenfalls das Stammkapital der GmbH die Obergrenze der Ausfallhaftung bilden. Dies ist allerdings nicht
__________ 83 So zuerst Joost, GmbHR 1983, 288 ff.; ebenso Goerdeler/Müller in Hachenburg,
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GmbHG, § 31 Rz. 54; Altmeppen, ZIP 2002, 962; ders. in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 31 Rz. 17; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 31 Rz. 17; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 31 Rz. 38; Heidinger in Michalski, GmbHG, § 31 Rz. 66; ausf. Ulmer (Fn. 4), S. 363 (370 ff.) und neuerdings wieder Cahn, ZGR 2003, 298 (304 ff.). So Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 31 Rz. 21. K. Schmidt, BB 1985, 154 (157 f.); ders., BB 1995, 529 (530 f.); ders. (Fn. 39), § 37 III 3 b, S. 1143; ihm folgend H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 31 Rz. 30; Mayer/Fronhöfer in MünchHdb.GesR (Fn. 36), § 51 Rz. 71. BGHZ 150, 61 (63 ff.) m. Bspr. Cahn, ZGR 2003, 298 ff. In diesem Sinne aber möglicherweise H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 31 Rz. 30. Zutreffend Cahn, ZGR 2003, 298 (305). BGH, NJW 2003, 3629 m. Anm. Wagner, EWiR 2004, 383; ebenso bereits OLG Oldenburg, EWiR 2001, 761 (v. Gerkan). Richtig Altmeppen, ZIP 2002, 962 (963); K. Schmidt, BB 1995, 529 (531); H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 31 Rz. 30.
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zwingend, wenn den Ausfallschuldner an der verbotenen Auszahlung ein Verschulden trifft (dazu sogleich). Weitere Einschränkungen der Ausfallhaftung sind indes nicht gerechtfertigt. Insbesondere sind alle zu § 24 GmbHG gezogene Parallelen abzulehnen. Dies gilt sowohl gegen die Auffassung von K. Schmidt (4) als auch gegenüber der von Lutter/Hommelhoff seit der 15. Auflage vertretenen „Zwischenlösung“ (3), was am nachfolgenden Beispiel illustriert werden soll: An einer GmbH mit 100000 Euro Stammkapital sind neben einem Hauptgesellschafter mit 80 % vier Minderheitsgesellschafter mit je 5 % beteiligt. Würde an einen der Minderheitsgesellschafter verbotswidrig das gesamte Vermögen der GmbH in Höhe von 100000 Euro ausbezahlt, so müsste bei Ausfall aller anderen Gesellschafter ein weiterer Minderheitsgesellschafter nach Lutter/Hommelhoff in Höhe von 95000 Euro (100000 Euro minus Einlage 5000 Euro), der Hauptgesellschafter dagegen nur in Höhe von 20000 Euro (100000 Euro minus Einlage 80000 Euro) haften. Nach K. Schmidt würde sich die Ausfallhaftung generell auf 5000 Euro (Einlage des Empfängers) begrenzen.
Beide Lösungen überzeugen nicht. Das Ergebnis von K. Schmidt verfehlt offensichtlich vollständig das mit § 31 Abs. 3 GmbHG verfolgte Ziel des Gläubigerschutzes, die Differenzierung von Lutter/Hommelhoff behandelt den Minderheitsgesellschafter ungleich strenger als den Hauptgesellschafter und ist somit widersprüchlich. Vielmehr gilt: Sowohl der Haftungsgrund als auch der Haftungsumfang des Empfängers der verbotenen Auszahlung stehen in keiner Beziehung zu dessen Stammeinlage91. Die Ausfallhaftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG orientiert sich allein am Umfang der Rückgewährverpflichtung nach § 31 Abs. 1 GmbHG. Die bereits vorgenommene Begrenzung auf die Stammkapitalziffer ist – wie ausgeführt – allein der Billigkeit und einer Interessenabwägung geschuldet. Es gibt entgegen anders lautenden Behauptungen keinen Grundsatz, dass jeder GmbH-Gesellschafter den Gläubigern maximal einmalig in Höhe des Stammkapitals haftet. Vielmehr kommt eine solche Haftung auch mehrfach in Betracht, nämlich zunächst im Rahmen der Kapitalaufbringung und dann zusätzlich wieder im Rahmen der Kapitalerhaltung, wobei mehrere Verstöße gegen § 30 GmbHG – falls sie sich nicht, wie im Sachverhalt von BGHZ 150, 61 zusammenfassen lassen92 – auch mehrmals die Ausfallhaftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG nach sich ziehen können. Der Blick auf § 24 GmbHG hilft somit für die Bestimmung einer Obergrenze im Rahmen des § 31 Abs. 3 GmbHG generell nicht weiter.
__________ 91 So dezidiert und zutreffend bereits Ulmer (Fn. 4), S. 363 (372). 92 Zu dieser Problematik eingehend Cahn, ZGR 2003, 298 (304 ff.).
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Gesamtverantwortung der Gesellschafter für Stammkapital und Existenz der GmbH
b) Haftungsbeschränkung auch bei schuldhafter Mitwirkung an verbotswidriger Auszahlung? Fraglich ist jedoch, ob die Haftungsbegrenzung auf das Stammkapital auch dann gerechtfertigt ist, wenn der Ausfallschuldner vorsätzlich oder fahrlässig an dem Verstoß gegen § 30 GmbHG mitgewirkt hat. Der BGH hat die Frage bislang unterschiedlich beantwortet: BGHZ 93, 146 (150) verurteilte den beklagten Gesellschafter wegen Mitwirkung an einer unzulässigen Auszahlung zur Leistung von Schadensersatz an die GmbH. Die Ausfallhaftung wurde in dieser Entscheidung direkt gar nicht angesprochen. Streitgegenstand war vielmehr eine Haftung wegen schuldhafter Verletzung der gesellschafterlichen Treuepflicht93. Diesen originären Haftungstatbestand hat indes BGHZ 142, 92 ausdrücklich aufgegeben. Der II. Zivilsenat führte hier im Anschluss an BGHZ 136, 12594 aus, dass sich die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 30 GmbHG ausschließlich aus § 31 GmbHG ergeben; auch Mitgesellschafter, die schuldhaft an einer unzulässigen Auszahlung mitwirkten, hafteten – vom Fall der Existenzgefährdung abgesehen95 – nur nach Maßgabe des § 31 Abs. 3 GmbHG, da andernfalls bereits bei fahrlässigem Handeln dessen „differenzierte, tendenziell auf eine Haftungsbegrenzung … angelegte Regelung … unterlaufen würde“96. Der BGH folgte damit der verbreiteten Kritik97 an seiner früheren Rechtsprechung98; da die Voraussetzungen der Ausfallhaftung nicht vorgetragen worden waren, wurde die Klage des Konkursverwalters abgewiesen. Obwohl nun auch diese „Rechtsrückbildung“99 auf Widerspruch im Schrifttum stieß100, hat BGHZ 150, 61 die neue Linie nochmals bekräftigt101. Zugleich wird in dieser Entscheidung vom 22.2.2002 einer unbegrenzten Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG eine Absage
__________
93 Ausf. hierzu Ulmer, ZGR 1985, 598 ff.; vgl. auch dens. (Fn. 4), S. 363 (373 ff.). 94 Dazu Bayer, WuB II C. § 30 GmbHG 1.97. 95 Diese Einschränkung findet sich nur im 3. Leitsatz, nicht dagegen in den Ent-
scheidungsgründen; vgl. dazu G. H. Roth, LM § 823 BGB Nr. 13. 96 BGHZ 142, 92 (96). 97 Abl. zu BGHZ 93, 146 insbesondere Ulmer, ZGR 1985, 598 ff.; Erlinghagen, WuB
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II C §§ 30, 31 GmbHG 1.85; H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 31 Rz. 27; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 14. Aufl. 1994 § 31 Rz. 22; w.N. bei Goerdeler/ Müller in Hachenburg, GmbHG, § 31 Rz. 57; im dogmatischen Ausgangspunkt zustimmend und lediglich Detailkritik äußernd hingegen K. Schmidt, BB 1995, 529 (531); ders., Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 1998, § 37 III 3 b (S. 1140); generell zust. Fleck in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 391 (407 f.). Dagegen hatte sich die BGHZ 93, 146 bestätigende Entscheidung BGH, NJW 1995, 1960 mit der Kritik noch nicht auseinander gesetzt, weil die Haftungsansprüche bereits verjährt waren. So Noack, JZ 1999, 1173 (1174). Abl. zu BGHZ 142, 92 insbesondere Wilhelm, EWiR 1999, 836; Altmeppen, ZIP 1999, 1354 ff.; G. H. Roth, LM § 823 BGB Nr. 13; krit. auch Noack, JZ 1999, 1173 (1174); zustimmend dagegen K. Müller, GmbHR 1999, 923 (924 f.); Uwe H. Schneider, WuB II C. § 31 GmbHG 1.99; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 31 Rz. 17a; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 31 Rz. 22. BGHZ 150, 61 (67) m. Anm. Henze, BB 2002, 1011.
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erteilt102. Die Problematik der Haftungsbegrenzung wird hier vom BGH indes nur allgemein erörtert; die Argumentation des II. Zivilsenats hinterfragt mit keinem Wort, ob die befürwortete Begrenzung auf das Stammkapital auch dann gerechtfertigt ist, wenn der Ausfallschuldner an den unzulässigen Auszahlungen in schuldhafter Weise mitgewirkt hat. Fazit von BGHZ 150, 61 ist vielmehr: Es gibt zum einen eine auf das Stammkapital begrenzte Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG, zum anderen eine weiter gehende Schadensersatzhaftung nach Maßgabe der Bremer Vulkan-Rechtsprechung. Eine dritte, „mittlere“ Lösung hat der BGH nicht erwogen. Hat er die zwischen diesen beiden Polen bestehende „Lücke“ nicht gesehen? Einerseits haften nach Maßgabe von BGHZ 150, 61 sowie der Entscheidungen Bremer Vulkan und KBV alle Mitgesellschafter, die mit dem Vermögensabzug „einverstanden“ waren, analog § 128 HGB unbeschränkt für alle durch die spätere Insolvenz der GmbH verursachten Schäden. Diese Rechtsfolge ist sehr streng und weitreichend; sie kann – wie bereits dargelegt (oben III.) – insbesondere auch über eine unbegrenzte Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG deutlich hinausgehen. Dennoch ist gegen diese Rechtsfortbildung des BGH nichts einzuwenden. Andererseits werden jedoch unterhalb der Ebene der Existenzvernichtungshaftung die Gesellschafter der überschuldeten GmbH, die von der unzulässigen Auszahlung nicht selbst „profitieren“103, privilegiert, und zwar auch, wenn sie in vorwerfbarer Weise an dem Verstoß gegen § 30 GmbHG mitgewirkt haben. Diese generelle Haftungsprivilegierung ist nicht gerechtfertigt; sie ist im Gegenteil aus Sicht der GmbHGläubiger völlig unangemessen, wie insbesondere der dem BGH vorliegende Sachverhalt anschaulich demonstriert: Der bilanziellen Unterdeckung von 1839409,37 DM, die vom Konkursverwalter mit der Ausfallhaftung geltendgemacht und in 1. Instanz auch zuerkannt worden war, stand ein Stammkapital von (nur) 100000 DM gegenüber; allein in diesem Umfang wurden die beiden beklagten Mitgesellschafter vom BGH (anteilig) verurteilt104. Kritisch zur Ausschließlichkeit der beiden Alternativen „begrenzte Ausfallhaftung“ oder „unbegrenzte Haftung wegen Existenzvernichtung“ hat sich in der Entscheidungsbesprechung auch Cahn geäußert. Er möchte das „unvollständige Haftungskonzept“ des BGH allerdings nur dahin ergänzen, dass die Haftungsbegrenzung des § 31 Abs. 3 GmbHG dann entfallen solle, wenn der Mitgesellschafter die Auszahlung „aus betriebsfremden Gründen veranlasst habe“105. Eine solche, in die Vorschrift „hineininterpretierte“ Dif-
__________ 102 BGHZ 150, 61 (64 ff.). 103 So die Formulierung in BGHZ 150, 61 (65); dazu Cahn, ZGR 2003, 298 (308 ff.). 104 Inwieweit eine schuldhafte Mitwirkung der Beklagten an der unzulässigen Aus-
zahlung vorlag, gibt der vom BGH referierte Sachverhalt nicht her. Ob der BGH im Ergebnis auch vom hier vertretenen Standpunkt richtig entschieden hat, muss daher offen bleiben. 105 Cahn, ZGR 2003, 298 (313 f.).
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ferenzierung, für die es keinerlei gesetzliche Anhaltspunkte gibt, überzeugt nicht. Methodisch korrekter erscheint es, direkt bei § 31 Abs. 3 GmbHG anzusetzen und auf die Haftungsbegrenzung – die dem Wortlaut der Vorschrift widerspricht und daher nur aufgrund einer teleologischen Reduktion vorgenommen werden kann – dann zu verzichten, wenn der Ausfallschuldner an der verbotenen Auszahlung in schuldhafter Weise mitgewirkt hat, da in dieser Konstellation die ratio der Haftungsprivilegierung entfällt. Die überschießende Haftungsprivilegierung des BGH hat auch Altmeppen zutreffend erkannt106. Allerdings vertritt er – in Übereinstimmung mit K. Schmidt107 – einen abweichenden dogmatischen Ansatz, der an den Rechtszustand vor BGHZ 142, 92 anknüpft und mit BGHZ 93, 146 für den an der verbotenen Auszahlung mitwirkenden Mitgesellschafter eine originäre culpa-Haftung konstruiert108. Dieses Haftungsmodell sieht sich indes nach wie vor dem Einwand ausgesetzt, dass Verstöße gegen das Recht der Kapitalerhaltung nach der gesetzlichen Konzeption ausschließlich gem. §§ 30, 31 GmbHG sanktioniert werden. Darüber hinaus wäre eine unbegrenzte Schadensersatzhaftung wegen jeder Form schuldhafter (also auch fahrlässiger) Verletzung der gesellschafterlichen Treuepflicht in der Tat zu streng; dass BGHZ 142, 92 gegenüber BGHZ 93, 146 die „Notbremse“ gezogen hat und eine unbegrenzte Schadensersatzhaftung vom BGH nunmehr nur noch im Rahmen der Existenzvernichtungshaftung anerkannt wird, ist dogmatisch eine richtige Kurskorrektur und auch im Ergebnis zu billigen. Die durch BGHZ 93, 146 vorgenommene, unzutreffende Weichenstellung hat indes möglicherweise den Blick auf die sachgerechte „Mittellösung“ versperrt: Soweit ein Gesellschafter schuldhaft an Verstößen gegen die Kapitalerhaltung mitwirkt, verdient er nicht die Privilegierung der Begrenzung seiner Ausfallhaftung. In diesem Fall ist es nicht unangemessen, dass ihm die Verantwortung für den vollständigen bilanziellen Ausgleich auch dann auferlegt wird, wenn die Voraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung nicht gegeben sind; es ist in dieser Konstellation nicht Sache der GmbHGläubiger, dieses Risiko selbst zu tragen. Das Argument, bei § 31 Abs. 3 GmbHG handele es sich um keine Verschuldens-, sondern um eine objektive Garantiehaftung, steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen: Das Verschulden des Mitgesellschafters begründet hier keine zusätzliche im Gesetz nicht vorgesehene Haftung, sondern bewirkt lediglich, dass die Vorschrift des § 31 Abs. 3 GmbHG nicht teleologisch reduziert wird: Mangels besonderer Schutzbedürftigkeit ist hier für eine Haftungsbegrenzung kein Raum. Für direkten oder bedingten Vorsatz des Mitgesellschafters sollte dies unzweifelhaft sein. Wann im Einzelfall fahrlässiges Handeln vorliegt, wird die Praxis klären können, wenn ihr hierfür vom BGH der Weg eröffnet würde.
__________ 106 Altmeppen, ZIP 2002, 961 (964). 107 Zusammenfassend K. Schmidt (Fn 39), § 37 III 3 c, S. 1144 ff. 108 Altmeppen, ZIP 2002, 961 (966 ff.); ders. in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 31 Rz. 22.
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c) Haftungsbeschränkung bei Eigenkapitalersatz Im Gegensatz zum Rückgewähranspruch analog § 31 Abs. 1 GmbHG109 gilt im Rahmen des Eigenkapitalersatzrechts die Haftungsbegrenzung auf das Stammkapital in gleicher Weise bei der analogen Anwendung des § 31 Abs. 3 GmbHG110. Der Umfang der Ausfallhaftung erhöht sich daher nicht um den Betrag des eigenkapitalersetzenden Darlehens111.
V. Privilegierung für Kleingesellschafter? Für das Eigenkapitalersatzrecht hat der Gesetzgeber mit § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG die rechtspolitisch nicht ganz unumstrittene Privilegierung des nicht-geschäftsführenden Kleingesellschafters angeordnet; hiervon erfasst werden nicht nur die Vorschriften der §§ 32a, b GmbHG, sondern unzweifelhaft auch die Rechtsprechungsgrundsätze112 und damit konsequenterweise auch die Ausfallhaftung analog § 31 Abs. 3 GmbHG113. Denn wenn der Kleingesellschafter für eigene eigenkapitalersetzende Darlehen privilegiert ist, muss dieses Privileg zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen auch im Rahmen der Haftung für die Darlehen von Mitgesellschaftern gelten. Daran anschließend wird im neueren Schrifttum erwogen, Kleingesellschafter generell von der Ausfallhaftung des § 31 Abs. 3 GmbHG und für bestimmte Konstellationen auch von der Ausfallhaftung gem. § 24 GmbHG auszunehmen. Dies wird insbesondere für die Konstellation gefordert, dass ein Altgesellschafter gegen eine Kapitalerhöhung gestimmt und auch keinen neuen Geschäftsanteil übernommen hat: Er soll dann in analoger Anwendung des § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG von der Ausfallhaftung für die neu geschaffenen Geschäftsanteile befreit sein114. Eine weiter gehende – generelle – Erstreckung auch auf sämtliche alten Geschäftsanteile wird dagegen zu Recht nicht befürwortet. Denn hierfür hat auch der Kleingesellschafter mit
__________ 109 Zur unbegrenzten Eigenkapitalersatzhaftung gem. § 31 Abs. 1 GmbHG analog:
110
111 112 113
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K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 80; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 32a Rz. 110; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 102 m. w. N. Zutreffend Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 106; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32, 32b Rz. 83 a. E.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 32a Rz. 115; K. J. Müller, DB 1998, 1117 (1120). So zuerst Priester, DB 1991, 1917 (1922); zust. Ulmer (Fn. 4), S. 363 (373); vgl. weiter K. J. Müller, DB 1998, 1117 (1120). BegrRegE zum KapAEG, BT-Drucks. 13/7141, S. 12 = ZIP 1997, 706 (710); Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 32a Rz. 7 m. w. N. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 106; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 32a Rz. 115; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 32a Rz. 219; Heidinger (Fn. 83), §§ 32a, 32b Rz. 272; Grunewald (Fn. 22), S. 413 (420 f.); K. J. Müller, DB 1998, 1117 (1120); Gaiser, GmbHR 1999, 210 (216). So zuerst Gaiser, GmbHR 1999, 210 (213 ff.); nunmehr auch Grunewald (Fn. 22), S. 413 (417 ff.); Emmerich in Scholz, GmbHG, § 24 Rz. 17; Priester in Scholz, GmbHG, § 55 Rz. 17; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 55 Rz. 36.
Gesamtverantwortung der Gesellschafter für Stammkapital und Existenz der GmbH
seiner Beteiligung an der GmbH-Gründung die Mitverantwortung übernommen (siehe auch oben IV.1.)115. Bedenken bestehen gegenüber dieser Privilegierung allerdings deshalb, weil auf diese Weise nun doch wieder die Aufspaltung in verschiedene Gesellschaftergruppen vorgenommen wird – eine Auffassung, die durch eine gefestigte Rechtsprechung bereits seit Jahrzehnten dogmatisch überholt ist116 und nicht wieder neu belebt werden sollte. Der bezweckte Schutz des der Kapitalerhöhung widersprechenden GmbH-Gesellschafters wird überdies an der falschen Stelle verortet: Dass der nicht-unternehmerische Kleingesellschafter von der Finanzierungsfolgenverantwortung für kapitalersetzende Darlehen befreit ist, bedeutet nicht, dass er zugleich auch seiner Verantwortung für das (erhöhte) Stammkapital der GmbH entledigt ist. Auch ist der überstimmte Altgesellschafter mit 20 % Beteiligungsquote in der Sache genauso schützenswert. Überzeugender erscheint daher eine Zustimmungspflicht aller Gesellschafter zur Kapitalerhöhung zu verlangen. Solange keine Pflicht zur Übernahme eines neuen Geschäftsanteils begründet wird, lässt sich hierfür zwar nicht auf § 53 Abs. 3 GmbHG zurückgreifen117, doch kommt eine analoge Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 UmwG118 in Betracht, soweit die neuen Geschäftsanteile nicht sofort vollständig einzuzahlen sind119. Diese Analogie ist näher liegend als die Heranziehung des § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG. Sie ist sogar der anerkannten Austrittslösung120 überlegen, da sich der Altgesellschafter mit seinem Austritt aus der GmbH in systemwidriger Weise der nach herrschender Meinung aufschiebend bedingten Ausfallhaftung121 entziehen könnte. Weder ein außerordentliches Austrittsrecht noch ein allgemeiner Zustimmungsvorbehalt zur Ausgabe neuer Geschäftsanteile schützen einen Altgesellschafter dagegen vor der Ausfallhaftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG, wenn ein Neugesellschafter verbotswidrige Leistungen nach § 30 Abs. 1 GmbHG empfängt und diese nicht gem. § 31 Abs. 1 GmbHG zurückgewähren kann. Umgekehrt hat aber auch ein Neugesellschafter das Risiko von verbotswidrigen Leistungen an einen Altgesellschafter zu tragen. Denn im Rahmen des § 31 Abs. 3 GmbHG wird generell nicht zwischen Alt- und Neugesellschaf-
__________ 115 Zutreffend Grunewald (Fn. 22), S. 413 (416). 116 Dazu oben II. 117 Dazu (abl.) RGZ 122, 159 (163); Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 55 Rz. 8; Priester
118 119
120 121
in Scholz, GmbHG, § 55 Rz. 22; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 55 Rz. 7 m. w. N. Zu dieser Vorschrift ausf. M. Winter in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 51 Rz. 4 ff. m. w. N. So auch Zimmermann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 55 Rz. 7; sympathisierend Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 55 Rz. 7; wegen Blockadegefahr indes abl. Priester in Scholz, GmbHG, § 55 Rz. 22 aE. (dafür u. U. Anfechtungsrecht bei nicht voll eingezahlten neuen Geschäftsanteilen). Dazu m. w. N. oben II. Zum Streitstand oben Fn. 3.
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tern differenziert122. Für eine solche Differenzierung gäbe es auch überhaupt keinen Rechtfertigungsgrund, da die Kapitalerhaltungshaftung in keiner Beziehung zur Übernahme alter oder neuer Geschäftsanteile steht. Daher stellt sich hier – ungeachtet der Beschränkung auf die Konstellation der Kapitalerhöhung – die Frage, ob nicht das Kleingesellschafterprivileg zur Anwendung kommen soll. Für eine solche analoge Anwendung des § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG hat sich Grunewald ausgesprochen123. Gefolgschaft hat diese Auffassung soweit ersichtlich jedoch nicht gefunden. Zu Recht nicht: Denn die scheinbare Nähe der Ausfallhaftung gem. § 31 Abs. 3 GmbHG zur Kapitalersatzhaftung, bei der Kleingesellschafter privilegiert werden, ist eine zu schmale Basis, um entgegen Wortlaut und Normzweck die Haftung des § 31 Abs. 3 GmbHG noch über die – auch hier für zutreffend erachtete – Obergrenze des Stammkapitals hinaus einzuschränken. Denn eine solche Betrachtung könnte etwa dazu führen, dass in einer GmbH mit zahlreichen Kleingesellschaftern und einem geschäftsführenden Hauptgesellschafter, der sich verbotswidrig Vermögen der GmbH auszahlt und zur Rückgewähr nicht in der Lage ist, das Kapitalerhaltungsrisiko gänzlich von den Mitgesellschaftern auf die Gläubiger verlagert wird. Eine solche Risikoverlagerung wäre indes contra legem und auch in der Sache nicht gerechtfertigt. Zusammenfassend ist daher festzuhalten: Das Kleingesellschafterprivileg des § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG kann außerhalb des Eigenkapitalersatzes nicht zur Anwendung kommen, weder im Rahmen der Ausfallhaftung nach § 24 GmbHG124 noch im Rahmen des § 31 Abs. 3 GmbHG125.
VI. Zusammenfassung und Ausblick Es hat sich herausgestellt, dass entgegen verbreiteter Auffassung die Ausfallhaftung nicht generell auf die Höhe des Stammkapitals beschränkt ist. Eine solche Obergrenze – und erst recht eine weiter gehende Beschränkung – gilt generell nicht für die Kapitalaufbringung und auch für die Kapitalerhaltung nur im Regelfall, nicht dagegen bei schuldhafter Mitwirkung an der verbotswidrigen Auszahlung. Noch strenger ist die Haftung für Mitgesellschafter, die einverständlich an der Existenzvernichtung der GmbH mitwirken.
__________ 122 Heute allg.M. im Anschluss an RGZ 93, 251 (252); vgl. nur Pentz in Rowed-
der/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 31 Rz. 35 a. E.; H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 31 Rz. 26; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 31 Rz. 15. 123 Grunewald (Fn. 22), S. 413 (422). 124 Wie hier Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 24 Rz. 17; Roth in Roth/ Altmeppen, GmbHG, § 55 Rz. 7; Heidinger in Michalski, GmbHG, § 24 Rz. 53; Hermanns in Michalski, § 55 Rz. 108; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 24 Rz. 16; tendenziell auch bereits Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 24 Rz. 8. Abw. für die Kapitalerhöhung die in Fn. 113 genannten Autoren. 125 Abw. nur Grunewald (Fn. 22), S. 413 (422).
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Gesamtverantwortung der Gesellschafter für Stammkapital und Existenz der GmbH
Trotz seiner Schärfe ist dieses Haftungsmodell der lex lata in sich stimmig. Fraglich ist allein, ob die verschuldensunabhängige Ausfallhaftung angesichts des sich verschärfenden Wettbewerbs der europäischen Rechtsordnungen noch zeitgemäß ist. Jedenfalls wird sich der Gesetzgeber im Rahmen der erwarteten Reform des GmbH-Rechts auch zu dieser rechtspolitischen Problematik äußern müssen. Bis zu einer solchen Entscheidung kommt auch eine Privilegierung von Kleingesellschaftern nicht in Betracht.
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Genussrechte in der Überschuldungsbilanz Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Typische Formulierungen III. Passivierungspflicht 1. Grundsatz 2. Passivierung von Genussrechten a) Generelle Betrachtungsweise b) Beurteilung typischer Genussrechtsbedingungen 3. Ergebnis zu III. IV. Rangrücktritt 1. Anforderungen an einen überschuldungsvermeidenden Rangrücktritt a) Meinungsstand aa) Rangrücktritt überflüssig
bb) Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO cc) Rang des § 39 Abs. 2 InsO dd) Rang des § 199 Satz 2 InsO b) Stellungnahme aa) Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO bb) Gesetzgebungsgeschichte cc) Systematische Erwägungen dd) Sinn und Zweck der Passivierungspflicht c) Ergebnis zu 1. 2. Beurteilung typischer Genussrechtsbedingungen 3. Ergebnis zu IV. V. Ergebnis
I. Einleitung Unter dem Vorsitz von Volker Röhricht hat sich der II. Zivilsenat des BGH in seiner Entscheidung vom 8.1.20011 mit der Frage befasst, wie Ansprüche aus eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen in einem Überschuldungsstatus zu bilanzieren sind. Die Entscheidung hat enorme praktische Bedeutung, die weit über die eigenkapitalersetzenden Darlehen hinausreicht. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich aus insolvenzrechtlicher Sicht mit der verwandten Frage, wie Genussrechte in einer Überschuldungsbilanz zu passivieren sind. Genussrechte, die das Gesetz nur am Rande erwähnt (vgl. etwa § 221 Abs. 4 Satz 1 AktG2), erfreuen sich als Finanzierungsinstrument einiger Beliebtheit3. Es handelt sich dabei freilich nicht um ein fest definiertes Institut. Vielmehr entscheidet die schuldrechtliche Ausgestaltung in den als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu qualifizierenden4 „Genussrechts-
__________
II ZR 88/99 = BGHZ 146, 264 = AG 2001, 303 = GmbHR 2001, 190 = JZ 2001, 1188 = KTS 2001, 302 = NJW 2001, 1280 = NZG 2001, 361 = WM 2001, 317 = ZIP 2001, 235. 2 Dazu BGHZ 120, 141 (145 ff.). 3 Vgl. aus jüngster Zeit etwa Forst/Frings, EStB 2003, 358 ff.; Gündel/Werner, Bank 2003, 560 ff.; Kirchner/Schrell, BKR 2003, 13 ff.; Stadler, NZI 2003, 579 ff.; Stegemann, GStB 2004, 208 ff. 4 BGHZ 119, 305 (312). 1
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bedingungen“, welche Rechte und Pflichten dem jeweiligen Genussrechtsinhaber im Verhältnis zu der Gesellschaft einerseits und den übrigen Gesellschaftsgläubigern andererseits zustehen5. Das gilt, wie sich zeigen wird, auch für die Behandlung der Ansprüche der Genussrechtsinhaber in der Überschuldungsbilanz. Die erwähnte Entscheidung vom 8.1.2001 spielt dabei eine große Rolle, weshalb auf das Interesse des Jubilars gehofft werden darf!
II. Typische Formulierungen Wie vorstehend bereits angedeutet, unterliegt die Ausgestaltung von Genussrechten der Parteivereinbarung. In der Praxis finden sich dazu regelmäßig „Genussrechtsbedingungen“, in der die für den vorliegenden Zusammenhang relevanten Fragen typischerweise wie folgt formuliert sind6: Die Ansprüche aus den Genussrechten sind gegenüber denjenigen der Gesellschafter vorrangig. Im Übrigen treten die Forderungen aus den Genussrechten gegenüber anderen Gläubigeransprüchen gegen die Gesellschaft im Rang zurück. Im Falle der Beendigung der Gesellschaft sind die Genussrechte erst nach Befriedigung der Gläubiger zu bedienen. Die Genussrechte gewähren keinen Anteil am Liquidationserlös.
Außerdem wird meistens noch bestimmt, dass die Genussrechtsinhaber am Verlust der Gesellschaft beteiligt sind.
III. Passivierungspflicht Für derart ausgestaltete Genussrechte ist zunächst zu fragen, ob sie überhaupt in einem Überschuldungsstatus passivierungspflichtig sein können. Dazu ist zu überlegen, was auf der Passivseite einer insolvenzrechtlichen Überschuldungsbilanz auszuweisen ist (1.) und ob Genussrechte dazugehören können (2.). 1. Grundsatz Die einzelnen Bilanzpositionen einer Überschuldungsbilanz ergeben sich aus deren Sinn und Zweck. Mit einem insolvenzrechtlichen Überschuldungsstatus soll bei juristischen Personen festgestellt werden, ob eine Überschuldung und damit ein Eröffnungsgrund für ein Insolvenzverfahren vorliegt. Bei juristischen Personen ist neben der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) und der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) die Überschuldung Eröffnungsgrund (§§ 16, 19 Abs. 1 InsO). Überschuldung liegt nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten
__________ 5 6
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Vgl. vorerst nur BGHZ 119, 305 (309 ff.). Vgl. stellvertretend BGHZ 120, 141 (142, 147).
Genussrechte in der Überschuldungsbilanz
nicht mehr deckt. Ob das der Fall ist, ist nach allgemeiner Ansicht mit Hilfe einer Überschuldungsbilanz festzustellen7. Da mit der Überschuldungsbilanz ermittelt werden soll, ob das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten deckt, sind auf der Passivseite des Überschuldungsstatus sämtliche Verbindlichkeiten auszuweisen, die im Fall einer Verfahrenseröffnung Insolvenzforderungen begründen können8. Dabei werden einfache (§ 38 InsO) und nachrangige Insolvenzforderungen (§ 39 InsO) gleichermaßen erfasst, solange keine hinreichende Rangrücktrittserklärung vorliegt9. Unberücksichtigt hingegen bleibt das Eigenkapital, da es sich dabei nicht um echte, d. h. gläubigerbelastende Verbindlichkeiten der Gesellschaft handelt, sondern um Haftkapital10. Das Insolvenzrecht kennt daher den Begriff des Eigenkapitals auch gar nicht. Es kennt nur (einfache und nachrangige) Insolvenzforderungen und bestimmt sodann, dass ein nach deren vollständiger Befriedigung verbleibender Liquidationsüberschuss an die Gesellschafter auszuschütten ist (§ 199 Satz 2 InsO). 2. Passivierung von Genussrechten Auf dieser Grundlage kann der Passivierungspflicht für Genussrechte nachgegangen werden. Wie sich aus den vorstehenden Bemerkungen ergibt, ist zu ermitteln, ob es sich bei Genussrechten um (einfache oder nachrangige) Insolvenzforderungen handelt. Dafür ist ausschließlich eine insolvenzrechtliche Betrachtungsweise maßgebend. Ob Genussrechte aus ökonomischer, bankrechtlicher, steuerrechtlicher oder handelsbilanzrechtlicher Sicht als Eigen- oder als Fremdkapital zu behandeln sind, ist unerheblich. Insbesondere ist die Handelsbilanz für die Überschuldungsbilanz nicht ausschlaggebend11. Es ist vielmehr zu fragen, ob Genussrechtsinhaber als Insolvenzgläubiger zu behandeln sind oder ob sie gemäß § 199 Satz 2 InsO am Liquidationsüberschuss teilnehmen.
__________ 7 Vgl. nur BGHZ 146, 264 (268); Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 3. Aufl.
8 9
10 11
2002, Rz. 92; Müller/Haas in Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl. 2000, S. 1799 ff. Rz. 5; Pape in Kübler/Prütting, InsO, Loseblatt Stand März 2004, § 19 Rz. 7; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 19 Rz. 24. BGH, ZIP 1982, 1435 (1437); Müller/Haas (Fn. 7), Rz. 30; Pape in Kübler/Prütting, InsO, § 19 Rz. 13; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 49/53. Begr. RegE § 23 InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 115; BGHZ 146, 264 (269 ff.); Pape in Kübler/Prütting, InsO, § 19 Rz. 14; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 49. – Die Einbeziehung nachrangiger Verbindlichkeiten wurde teilweise bestritten. Dass sie überhaupt einzubeziehen sind, ist heute durch BGHZ 146, 264 geklärt. Streitig ist daher im Wesentlichen nur noch, welche Anforderungen an einen Rangrücktritt zu stellen sind. Vgl. dazu unten IV. 1. Drews, Der Insolvenzgrund der Überschuldung bei Kapitalgesellschaften, 2003, S. 99; Lutter, ZIP 1999, 641 (644); Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 51. BGHZ 146, 264 (267 f.); 125, 141 (146).
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a) Generelle Betrachtungsweise Eine generelle Betrachtungsweise hat ihren Ausgang von der allgemein akzeptierten Erkenntnis zu nehmen, dass Genussrechte zunächst einmal nicht gesellschaftsrechtlich geprägt sind. Es handelt sich vielmehr um geldwerte Ansprüche auf rein schuldrechtlicher Basis12. Vorbehaltlich näherer Ausgestaltung der Genussrechte durch die Genussrechtsbedingungen im Einzelfall sind die Genussrechtsinhaber folglich in der Insolvenz der Gesellschaft weder „Gesellschafter“ noch nachrangige Insolvenzgläubiger i. S. v. § 39 InsO13, sondern einfache Insolvenzgläubiger i. S. v. § 38 InsO14. Nach einer weit verbreiteten Ansicht kann allerdings anders entschieden werden, wenn es sich bei den Genussrechten um „Quasi-Eigenkapital“ handele. Dazu sei erforderlich, dass die Genussrechtsinhaber gemäß der besonderen Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses in den Genussrechtsbedingungen an den Verlusten der Gesellschafter teilnehmen und dass ein Rangrücktritt in dem Sinne erklärt sei, dass die Genussrechtsinhaber im Range nach den nachrangigen Insolvenzgläubigern des § 39 InsO aus Liquidationsüberschüssen zu bedienen seien15. Dieser Auffassung ist, wie sich noch zeigen wird, im Ergebnis zu folgen. Sie muss aber in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Denn es handelt sich hier nicht um ein „Sonderrecht“ für Genussrechtsinhaber, sondern um die allgemeinere Frage, mit welcher Art Rangrücktritt die Passivierungspflicht im Überschuldungsstatus vermieden werden kann16. Diese Frage ist nicht nur für Genussrechtsinhaber, sondern für alle (einfachen oder nachrangigen) Insolvenzgläubiger zu stellen. b) Beurteilung typischer Genussrechtsbedingungen Auf der Basis des soeben Ausgeführten kann nicht zweifelhaft sein, dass die Genussrechtsinhaber – vorbehaltlich des zu prüfenden Rangrücktritts – aufgrund der typischen Genussrechtsbedingungen17 als (einfache oder nachrangige) Insolvenzgläubiger einzustufen sind. Zwar nehmen sie regelmäßig an
__________ 12 BGHZ 156, 38 (43); 120, 141 (147); 119, 305 (309); BGH, WM 1959, 434 (436). 13 So aber Müller/Haas (Fn. 7), Rz. 57. 14 Noack in Kübler/Prütting, InsO, Sonderband 1 (Gesellschaftsrecht), 1999, Rz. 411;
Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 29 Rz. 154; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 65; ders. in K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2002, Rz. 922. 15 Müller/Haas (Fn. 7), Rz. 57; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 6. Aufl. 2002, Rz. 1.986; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 65; ders. (Fn. 14), Rz. 922; unklar Drews (Fn. 10), S. 112 f.; T. Wolf, Überschuldung, 1998, S. 120; a. M. (es reicht der Rang des § 39 Abs. 2 InsO) Noack (Fn. 14), Rz. 411. 16 Bezeichnend ist der Verweis bei Obermüller (Fn. 15) auf BGH, ZIP 1987, 574 = NJW 1987, 1697: Diese Entscheidung befasst sich nicht mit Genussrechten, sondern allgemeiner mit einem überschuldungsvermeidenden Rangrücktritt bei einer eigenkapitalersetzenden Gesellschafterleistung. 17 Oben II.
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Genussrechte in der Überschuldungsbilanz
den Verlusten der Gesellschaft teil. Sie sind aber ebenso regelmäßig nicht am Liquidationsüberschuss beteiligt. Außerdem sind die Ansprüche aus den Genussrechten gegenüber denjenigen der Gesellschafter typischerweise vorrangig. Es handelt sich daher nicht um „Quasi-Eigenkapital“ im vorstehend beschriebenen Sinne, denn die Genussrechtsinhaber sollen gerade nicht aus den Liquidationsüberschüssen befriedigt werden und sind damit nicht mit den in der Insolvenz gemäß § 199 Satz 2 InsO zu bedienenden Eigenkapitalgebern auf eine Stufe gestellt. 3. Ergebnis zu III. Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass Genussrechte in einem Überschuldungsstatus grundsätzlich zu passivieren sind.
IV. Rangrücktritt Damit ist als nächstes zu überlegen, wie sich ein etwaiger Rangrücktritt auf die Passivierungspflicht auswirkt. Auch hierzu empfiehlt sich zunächst eine generalisierende Betrachtungsweise (1.), bevor dann auf typisch gelagerte Fälle näher eingegangen werden kann (2.). 1. Anforderungen an einen überschuldungsvermeidenden Rangrücktritt Welche Anforderungen an einen Rangrücktritt zu stellen sind, damit die Passivierungspflicht für die betroffene Verbindlichkeit entfällt, ist seit jeher umstritten18. a) Meinungsstand Die angebotenen Lösungen sind in das Rangsystem der Insolvenzordnung einzuordnen. Danach kommen vornehmlich drei Rangstufen in Betracht: die Gleichstellung mit nachrangigen Insolvenzforderungen aus eigenkapitalersetzenden Gesellschafterleistungen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO), die Gleichstellung mit Forderungen, für die ein nicht näher spezifizierter Nachrang vereinbart wurde (§ 39 Abs. 2 InsO), und die Berücksichtigung auf der Ebene der Liquidationsüberschüsse (§ 199 Satz 2 InsO). Alle drei Vorschläge werden vertreten, freilich nicht speziell bezogen auf Genussrechte, sondern in der Regel bezogen auf eigenkapitalersetzende Darlehen. Dieser Ansatz beruht darauf, dass der Bundesgerichtshof in seinem bereits erwähnten Urteil vom 8.1.200119 für Recht erkannt hat, dass eigen-
__________ 18 Ausf. Drews (Fn. 10), S. 116 ff.; Teller/Steffan, Rangrücktrittsvereinbarungen zur
Vermeidung der Überschuldung bei der GmbH, 3. Aufl. 2003, Rz. 259 ff. 19 Oben Fn. 1.
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kapitalersetzende Gesellschafterleistungen in einer Überschuldungsbilanz grundsätzlich zu passivieren sind, solange kein Rangrücktritt vereinbart ist. Im Anschluss an diese Entscheidung wird nun diskutiert, wie der Rangrücktritt ausgestaltet sein muss, um den Anforderungen des BGH zu genügen. aa) Rangrücktritt überflüssig Vor der Entscheidung des BGH vom 8.1.2001 ist vielfach die Auffassung vertreten worden, eigenkapitalersetzende Gesellschafterleistungen seien in einer Überschuldungsbilanz überhaupt nicht zu bilanzieren; auf einen wie auch immer gearteten Rangrücktritt komme es nicht an20. Heute findet sich diese Auffassung, die für die Praxis als erledigt gelten darf, nur noch sehr vereinzelt21. Die Diskussion hat sich vielmehr ganz auf die Frage verlagert, in welchen Rang der Gläubiger zurücktreten muss, damit seine Forderung im Überschuldungsstatus unberücksichtigt bleiben kann. bb) Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO Die wohl herrschende Meinung in der Literatur ist der Überzeugung, dass ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO genüge22. Diese Auffassung lässt sich im Grunde von der Überzeugung leiten, dass eigenkapitalersetzende Gesellschafterleistungen in einer Überschuldungsbilanz eigentlich gar nicht berücksichtigt zu werden brauchten, weil diese nicht dem Schutz der nachrangigen Gläubiger diene. Der Rangrücktritt sei nur deshalb nötig, um jeden Zweifel daran zu beseitigen, dass es sich um eine Forderung mit dem Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO handele. Jedes weiter gehende Rangrücktrittserfordernis mache außerdem § 39 Abs. 2 InsO überflüssig. cc) Rang des § 39 Abs. 2 InsO Die Gegenauffassung steht auf dem Standpunkt, dass ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO erforderlich, aber auch ausreichend sei23. Es ge-
__________
20 Stellvertretend Hirte, DStR 2000, 1829 (1830 f.); Lutter, ZIP 1999, 641 (644 ff.). 21 Vgl. etwa Dahl, InVo 2001, 265 (269 f.). 22 Bauer, ZInsO 2001, 486 (491); Fleischer, JZ 2001, 1191 (1193); Habersack/Mayer,
NZG 2001, 365 (366); Kleindiek in v. Gerkan/Hommelhoff, Handbuch des Kapitalersatzrechts, 2. Aufl. 2002, Rz. 7.36; Müller in Jaeger, InsO, 2004, § 19 Rz. 102/107; Paulus, ZGR 2002, 320, (327 ff.); Uhlenbruck (Fn. 14), Rz. 919; ders. in Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 72; H. P. Westermann, DZWIR 2001, 207 (209); Wittig in K. Schmidt/ Uhlenbruck (Fn. 14), Rz. 518; ders., NZI 2001, 169 (172 ff.); wohl auch Röhricht in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2001, 2002, S. 3 (20); vor der BGH-Entscheidung vor allem Hirte, DStR 2000, 1829 (1831) (hilfsweise); K. Schmidt, GmbHR 1999, 9 (12 ff.). 23 Altmeppen, ZIP 2001, 240 (241); ders., ZHR 164 (2000), 349 (373 f.); Felleisen, GmbHR 2001, 195 (196); Noack (Fn. 14), Rz. 411; Teller/Steffan (Fn. 18), S. 284 ff. (mit Formulierungsvorschlägen Rz. 288 ff., 293).
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Genussrechte in der Überschuldungsbilanz
nüge, dass der Gläubiger auf eine gleichrangige Befriedigung mit den in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO erfassten Gläubigern verzichte, aber vor den Anteilseignern befriedigt werde. Er befinde sich dann noch im Schutzbereich der Insolvenzantragspflicht und stehe, worauf es allein ankomme, im Rang hinter den außenstehenden Gläubigern. dd) Rang des § 199 Satz 2 InsO Demgegenüber vertritt die Rechtsprechung24 unter Zustimmung in der Literatur25 die Auffassung, dass ein sog. „qualifizierter Rangrücktritt“ erforderlich sei, der dazu führe, dass sich der Gläubiger in einer Rangklasse mit den Einlageansprüchen der Gesellschafter befinde. Denn nur dann sei für den Geschäftsführer der GmbH hinreichende Rechtssicherheit geschaffen. Diesen träfen die schadensersatzrechtlichen (§ 64 GmbHG) und strafrechtlichen (§ 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) Risiken der ihm abverlangten Entscheidung, ob eine Gesellschafterleistung als eigenkapitalersetzend einzustufen und ob demgemäß von der Stellung des Insolvenzantrags Abstand zu nehmen sei. Nicht zuletzt das Anliegen, den Geschäftsführer hiermit nicht zu belasten, sondern für zweifelsfreie und rechtssichere Verhältnisse zu sorgen, verlangten einen eindeutigen qualifizierten Rangrücktritt. Dass dieser Ansicht auch der Bundesgerichtshof ist, kann eigentlich nicht zweifelhaft sein26. In der Leitentscheidung vom 8.1.200127 verlangt der II. Zivilsenat, dass der Gläubiger „sinngemäß erklärt hat, er wolle wegen der genannten Forderung erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und – bis zur Abwendung der Krise – auch nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen seiner Mitgesellschafter berücksichtigt, also so behandelt werden, als handele es sich bei seiner Gesellschafterleistung um statutarisches Kapital“. Das kann nur als Rangrücktritt auf die Stufe des § 199 Satz 2 InsO verstanden werden, denn nur auf dieser Stufe wird das statutarische Kapital berücksichtigt. Derselbe Senat28 und eines seiner Mitglieder29 fordern daher auch ausdrücklich einen solchen qualifizierten Rangrücktritt. Hingegen hält der (damalige) Vorsitzende des Senats Röhricht diese Interpretation irritierenderweise für ein „bedauerliches Mißverständnis“30. Gleichwohl wird hier im Folgenden zunächst ein-
__________
24 BGHZ 146, 264 (271); BGH, ZIP 2001, 1366 (1367); OLG Dresden, InVo 2004, 53
25 26 27 28 29 30
(54) = EWiR 2002, 489 (Steinecke); OLG Düsseldorf, NZG 2001, 133 (134); OLG Frankfurt, GmbHR 2004, 53 (54) m. Anm. Blöse; OLG Stuttgart, GmbHR 2002, 1072 (1074). Drews (Fn. 10), S. 127 ff.; Goette, DStR 2001, 179; unklar Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 42 Rz. 47. Vgl. aber die in Fn. 22 und 23 Genannten und vor allem Röhricht (Fn. 22), S. 19 f. Oben Fn. 1. BGH, ZIP 2001, 1366 (1367). Goette, DStR 2001, 179. Röhricht (Fn. 22), S. 20.
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mal davon ausgegangen, dass der Senat beim Wort zu nehmen, dass er also eine Gleichstellung mit den Gesellschaftern und damit einen Rücktritt in den Rang des § 199 Satz 2 InsO fordert. b) Stellungnahme Die zuletzt dargestellte Auffassung verdient den Vorzug. Die Entscheidung des BGH vom 8.1.2001 überzeugt – wenn man sie, wie vorstehend begründet, versteht – in jeder Hinsicht. Sie hat über den Rangrücktritt bei eigenkapitalersetzenden Gesellschafterleistungen hinausreichende Bedeutung und ist deshalb auch für die Einordnung von Genussrechten heranzuziehen. Man kann dem nicht entgegenhalten, bei Genussrechten handele es sich um „funktionelles“ oder „Quasi-Eigenkapital“, also jedenfalls um Kapital und nicht um Kapitalersatz. Das ist ein Spiel mit Worten. Genussrechte gewähren schuldrechtliche Ansprüche, die allenfalls durch Rangrücktritt dem Kapital angenähert werden können31. Sie sind daher bestenfalls Ersatz für Eigenkapital und damit, nicht anders als in der Krise gewährte Gesellschafterdarlehen, Eigenkapitalersatz. In beiden Fällen handelt es sich um Fremdkapital mit der wirtschaftlichen Funktion von Eigenkapital32 und in beiden Fällen stellt sich die Frage, wie ein Rangrücktritt inhaltlich ausgestaltet sein muss, damit die Forderung im Überschuldungsstatus nicht berücksichtigt zu werden braucht. Dafür, diese Frage – auch für Genussrechte – auf der (vermutlichen) Linie des BGH zu beantworten, sind folgende Gesichtspunkte ausschlaggebend: aa) Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO Jede Überlegung zur Passivierungspflicht im Überschuldungsstatus hat ihren Ausgang beim Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO zu nehmen. Diese Norm verlangt die Berücksichtigung aller bestehenden Verbindlichkeiten. Auch nachrangige Verbindlichkeiten sind bestehende Verbindlichkeiten, gleich, ob der Nachrang auf Gesetz oder auf Rangrücktritt beruht. Eine Passivierung lässt sich daher nach dem Wortlaut der Vorschrift nur vermeiden, wenn der Gläubiger durch den Rangrücktritt den erst am Liquidationsüberschuss partizipierenden Eigenkapitalgebern gleichgestellt wird33.
__________ 31 Vgl. oben III. 2. a. 32 Vgl. für Gesellschafterdarlehen Hommelhoff in v. Gerkan/Hommelhoff (Fn. 22),
Rz. 1.1. 33 Zutr. Drews (Fn. 10), S. 127.
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Genussrechte in der Überschuldungsbilanz
bb) Gesetzgebungsgeschichte In dieselbe Richtung weist die Entstehungsgeschichte der Norm. In der Begründung zu § 23 RegE InsO34 heißt es dazu: Auf der Passivseite des Überschuldungsstatus sind auch die nachrangigen Verbindlichkeiten im Sinne des § 46 des Entwurfs35, z. B. Zahlungspflichten aus kapitalersetzenden Darlehen zu berücksichtigen. Dem Bedürfnis der Praxis, durch den Rangrücktritt eines Gläubigers den Eintritt einer Überschuldung zu vermeiden oder eine bereits eingetretene Überschuldung wieder zu beseitigen, kann in der Weise Rechnung getragen werden, daß die Forderung des Gläubigers für den Fall der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens erlassen wird.
Der Gesetzgeber ist damit eindeutig davon ausgegangen, dass nachrangige Verbindlichkeiten in einer Überschuldungsbilanz auch bei einem Rangrücktritt zu passivieren sind. Nur mit einem auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bedingten Erlass sollte die Passivierungspflicht vermieden werden können. Letztere Auffassung hat der BGH in der Entscheidung vom 8.1.2001 mit Recht dahin korrigiert, dass ein Rangrücktritt auf die Stufe des § 199 Satz 2 InsO genügt. Denn es ist zur Vermeidung der Passivierung nicht erforderlich, dass der Gläubiger noch schlechter gestellt wird als die (dadurch dann unnötigerweise begünstigten) Eigenkapitalgeber36. Vorbehaltlich dieser Ausnahme kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Passivierung nachrangiger Verbindlichkeiten dem Willen des Gesetzgebers entspricht. cc) Systematische Erwägungen Ein Blick auf das Normumfeld führt zu keinem anderen Ergebnis. Insbesondere lässt sich nicht erkennen, wieso durch die Forderung nach einem qualifizierten Rangrücktritt § 39 Abs. 2 InsO überflüssig werden sollte. Diese Vorschrift enthält eine Auslegungsregel des Inhalts, dass der Gläubiger mit einem nicht näher ausgestalteten Rangrücktritt im Zweifel hinter die nachrangigen Insolvenzgläubiger aus § 39 Abs. 1 InsO zurücktreten will. Eine solche Gläubigererklärung bleibt möglich, zulässig und sinnvoll. Steht eine Überschuldung nicht im Raum, muss jedem Gläubiger – sei er Gesellschafter oder nicht – die Möglichkeit eröffnet bleiben, den in § 39 Abs. 1 InsO erfassten Gläubigern den Vortritt zu lassen. Das gilt selbst für die Gläubiger kapitalersetzender Leistungen. So kann es beispielsweise sinnvoll sein, dass sich mehrere Gesellschafter, die alle kapitalersetzende Darlehen gegeben haben, dahin gehend verständigen, dass im Falle der Insolvenz oder Liquidation erst die Darlehen der (Minderheits-)Gesellschafter A und B vollständig zurückgezahlt werden sollen, bevor an den (Mehrheits-)Gesellschafter C ausgeschüttet werden kann.
__________ 34 BT-Drucks. 12/2443, S. 115. 35 Dieser entspricht § 39 InsO [R.B.]. 36 BGHZ 146, 264 (271).
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Nur wenn mit dem Rangrücktritt die Überschuldung beseitigt oder vermieden werden soll, reicht der Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO nicht aus. Denn ein solcher Rangrücktritt ändert nichts daran, dass der Gläubiger, sofern die Masse reicht, im Insolvenzverfahren (und nicht nur aus dem Liquidationsüberschuss) befriedigt werden will. Folglich ist sein Anspruch im Überschuldungsstatus zu passivieren. Dem kann man nicht entgegenhalten, der Gläubiger habe in diesem Fall erklärt, vor den Gesellschaftern, aber nach den außenstehenden Gläubigern befriedigt werden zu wollen37. Denn den Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO kann auch ein außenstehender Gläubiger erklären, also jemand, der weder Gesellschafter ist noch in den Anwendungsbereich des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO fällt (Beispiel: Darlehen eines Familienmitglieds). Erst wenn der Gläubiger mit einem qualifizierten Rangrücktritt erklärt, sich wie ein Gesellschafter behandeln lassen zu wollen, fällt er aus dem Schutzbereich des Überschuldungsstatus heraus. dd) Sinn und Zweck der Passivierungspflicht Fraglich ist allerdings, ob man dem nicht entgegenhalten muss, der Schutzzweck des Überschuldungsstatus umfasse die nachrangigen Verbindlichkeiten nicht. So formuliert wäre die These freilich sicher zu weit gefasst. Dass das Insolvenzverfahren nicht dem Schutz der in § 39 Abs. 1 Nr. 1–4 InsO genannten Gläubiger diene, lässt sich nicht begründen. Allenfalls kann man eine teleologische Betrachtung für die in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO genannten Gläubiger anstellen. In der Tat findet sich nun für diese in der Literatur die Auffassung, es sei nicht Sinn der Insolvenzantragspflicht, ein Insolvenzverfahren nur für die Gläubiger nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu eröffnen38. Plakativ heißt es bei Lutter39: Aus den Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 von § 39 InsO kann also nur die Aussage entwickelt werden: Um dieser Forderungen willen wird das Insolvenzverfahren bestimmt nicht betrieben, sondern, wenn es denn aus anderen Gründen stattfindet, sollen sie ganz zum Schluss und im ganz seltenen Fall eines Überschusses mit abgewickelt werden. (…) Vor allem aber wäre es ganz und gar verfehlt, um dieser Forderungen und ihrer Inhaber willen die Gesellschaft dem Insolvenzverfahren zu unterwerfen. Das hat niemand gewollt und kann auch niemand wollen, geht es doch bei der Pflicht zur Einleitung des Insolvenzverfahrens um die Interessen der normalen Gläubiger der Gesellschaft und darum, weitere Dritte davon abzuhalten, noch Gläubiger der insolventen Gesellschaft zu werden. Das alles trifft auf nachrangige Gläubiger nicht zu (…).
__________ 37 So aber Altmeppen, ZIP 2001, 240 (241); ders., ZHR 164 (2000), 349 (373 f.);
Felleisen, GmbHR 2001, 195 (196). 38 Dahl, InVo 2001, 265 (269); Fischer, GmbHR 2000, 66 (68); Haas, NZI 1999, 209
(211); Habersack/Mayer, NZG 2001, 365 (366); Lutter, ZIP 1999, 641 (645); Noack (Fn. 14), Rz. 80; K. Schmidt, GmbHR 1999, 9 (12 f.); Wittig, NZI 2001, 169 (174); ders. in K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 14), Rz. 518. – Dagegen ausdrücklich Altmeppen, ZIP 2001, 240 (241). 39 ZIP 1999, 641 (645).
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Genussrechte in der Überschuldungsbilanz
Das ist ganz und gar gesellschaftsrechtlich gedacht; insolvenzrechtlich ist es unhaltbar, wie folgende Überlegungen belegen mögen: Zunächst einmal darf man die Anforderungen an den Überschuldungsstatus nicht nur unter dem Aspekt der Insolvenzantragspflicht (vornehmlich aus § 64 Abs. 1 GmbHG) bestimmen40. Auch ein außenstehender Gläubiger kann – mag das auch in der Praxis eher selten vorkommen – den Insolvenzantrag auf Überschuldung stützen, für deren Vorliegen die Überschuldungsbilanz ganz unabhängig davon aufgestellt werden muss, wie sich das in anderen Fällen auf die Insolvenzantragspflicht der Geschäftsführung auswirkt. Sodann kann man auch kaum sagen, niemand habe die Einbeziehung nachrangiger Forderungen in die Überschuldungsbilanz gewollt. Vielmehr entspricht dieses Vorgehen dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers41. Das ist nicht nur ein historischer, sondern auch ein methodischer Hinweis: Weder eine einschränkende Auslegung noch eine teleologische Reduktion kommen in Betracht, wenn der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers entgegensteht42. Vor allem aber ist auch die These selbst nicht haltbar. Ein Insolvenzverfahren wird – insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Überschuldung – nötig, wenn das Vermögen des Schuldners nicht mehr ausreicht, alle Gläubiger zu befriedigen. Es ist also zu fragen, ob bei einer Liquidation alle Gläubiger befriedigt werden können, die nicht am Liquidationsüberschuss teilnehmen. Ist das nicht der Fall, muss ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden. Die von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO erfassten Gläubiger nehmen aber nicht am Liquidationsüberschuss teil, sondern sind als Insolvenzgläubiger, wenn auch nachrangig, zu befriedigen. Dass sie bei eigenkapitalersetzenden Darlehen zugleich Gesellschafter sind, ändert daran nichts, denn sie sind mit der Darlehensforderung und nicht mit Gesellschafterrechten beteiligt. Das wird ohne weiteres klar, wenn man bedenkt, dass auch Nichtgesellschafter den Regeln über den Eigenkapitalersatz unterfallen können (§ 32a Abs. 3 GmbHG). Dass ein Insolvenzverfahren nicht für die Gläubiger eigenkapitalersetzender Darlehen durchgeführt werde, ist auch unter einem anderen Gesichtspunkt unzutreffend. Es gibt Fälle, in denen das Schuldnervermögen zwar für alle einfachen Insolvenzgläubiger und für die in § 39 Abs. 1 Nr. 1–4 InsO Genannten reicht, nicht aber für die Gläubiger nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. So kommt es beispielsweise vor, dass Gläubiger eines Schuldners im Wesentlichen nur die Banken sind, die ihre Darlehen unter eigenkapitalersetzenden Bedingungen gegeben haben, so dass § 32a Abs. 3 GmbHG anzuwenden ist43.
__________ 40 41 42 43
Zutr. Goette, DStR 2001, 179. Vgl. vorstehend bb). Vgl. nur Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2001, Rz. 135, 142. Dem Verf. sind solche Konstellationen aus der Praxis bekannt.
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Reicht hier das Schuldnervermögen für alle vorgehenden Rangklassen, nicht aber zur vollständigen Befriedigung der unter § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO rangierenden Banken aus, so muss im Interesse der Banken ein Insolvenzverfahren durchgeführt werden können. Die Auffassung, das Insolvenzverfahren diene nicht der Befriedigung der nachrangigen Insolvenzgläubiger, erweist sich in solchen Fällen als völlig haltlos. Das wird auch durch einen Blick auf den Gesamtzusammenhang bestätigt. Die in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO genannten Gläubiger sind außerhalb der Insolvenz in ihren Rechten nicht eingeschränkt. Es ist daher kein Grund ersichtlich, solchen Gläubigern bei unzureichendem Schuldnervermögen die Gesamtvollstreckung zu versagen. Folglich behandelt die Insolvenzordnung die nachrangigen Insolvenzgläubiger auch grundsätzlich als ganz normale Insolvenzgläubiger. Insbesondere sind sie antragsbefugt44. Dass aber jemand antragsbefugt ist, dessen Schutz das Insolvenzverfahren per se nicht dienen soll, ist kaum erklärlich. Konsequent ist es hingegen, die Antragsbefugnis bei einem qualifizierten Rücktritt in den Rang des § 199 Satz 2 InsO zu verneinen45. Unter teleologischen Gesichtspunkten ist schließlich noch auf folgenden Aspekt aufmerksam zu machen: Es entspricht allgemeiner Ansicht, dass das Erfordernis eines hinreichenden Rangrücktritts den Geschäftsführer bei der im Hinblick auf die Insolvenzantragspflicht (§ 64 Abs. 1 GmbHG) sowie die daran geknüpften schadensersatzrechtlichen (§ 823 Abs. 2 BGB) und strafrechtlichen (§ 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) Folgen ebenso wichtigen wie schwierigen Überschuldungsprüfung entlasten soll46. Solange gar kein Rangrücktritt vorliegt, muss er die jeweilige Verbindlichkeit passivieren. Liegt aber einer vor, so erlangt der Geschäftsführer wirkliche Rechtssicherheit nur in zwei Fällen: Entweder lässt man jeden Rangrücktritt genügen (dann braucht der Geschäftsführer nur zu prüfen, ob überhaupt ein Rangrücktritt erklärt wurde, nicht aber, ob er weit genug reicht) oder man verlangt einen qualifizierten Rangrücktritt (dann braucht der Geschäftsführer nur zu prüfen, ob sich der Gläubiger mit den Gesellschaftern auf eine Stufe – nämlich die des § 199 Satz 2 InsO – gestellt hat). Die erste Lösung scheidet aus, da sonst auch ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 „Nr. 0“ InsO (bzw. an die letzte Stelle des § 38 InsO) genügen würde. Also bleibt nur der zweite Weg. Alle anderen (Zwischen-)Lösungen würden den Geschäftsführer mit erhebli-
__________ 44 Statt vieler: Goetsch in Breutigam/Blersch/Goetsch, InsO, Loseblatt Stand April
2004, § 14 Rz. 13; Pape in Kübler/Prütting, InsO, § 14 Rz. 14; Schmahl in MünchKomm.InsO, 2001, § 13 Rz. 37; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, § 14 Rz. 15. – Nicht die Antragsbefugnis, wohl aber das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag kann fehlen, wenn keinerlei Befriedigungsaussichten bestehen; vgl. die vorstehend Genannten. 45 Goetsch in Breutigam/Blersch/Goetsch, InsO, § 14 Rz. 13; Pape in Kübler/Prütting, InsO, § 14 Rz. 14; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, § 14 Rz. 15. 46 Gegen die Überbetonung dieses Kriteriums freilich Röhricht (Fn. 22), S. 18.
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Genussrechte in der Überschuldungsbilanz
cher Rechtsunsicherheit belasten, weil er prüfen müsste, ob der Rangrücktritt wirklich weit genug geht. Das betrifft vor allem die Ansicht, es sei ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO erforderlich. Denn ob ein Gläubiger für sich den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO oder den des § 39 Abs. 2 InsO akzeptiert, ist meistens nur unter größten Auslegungsschwierigkeiten zu klären47. Diese bleiben ihm zwar auch nach der hier vertretenen Auffassung nicht gänzlich erspart. Bei ihr wird man aber zumindest sagen können, dass ein Rangrücktritt im Zweifel nicht reicht, wenn er nicht klar erkennen lässt, dass der Gläubiger nur aus dem Liquidationsüberschuss befriedigt werden will. c) Ergebnis zu 1. Damit kann festgehalten werden, dass die Passivierungspflicht nur durch einen qualifizierten Rücktritt in den Rang des § 199 Satz 2 InsO vermieden werden kann. Ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO48 oder in den des § 39 Abs. 2 InsO reicht nicht. 2. Beurteilung typischer Genussrechtsbedingungen Damit bleibt die Frage zu klären, ob die in typischen Genussrechtsbedingungen49 abgegebene Rangrücktrittserklärung den vorstehenden Anforderungen genügt. Die Frage ist klar zu verneinen. Die Genussrechtsbedingungen sagen regelmäßig, dass die Genussrechtsinhaber vor den Gesellschaftern und damit gerade nicht gleichrangig mit diesen befriedigt werden sollen. In konsequenter Fortführung dieses Gedankens schließen die Genussrechtsbe-
__________ 47 Vgl. als Beispiel sogleich unter 2. 48 Angesichts dieses Ergebnisses braucht der Frage, welchen Sinn eigentlich ein
Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO bei kapitalersetzenden Darlehen haben soll, nicht näher nachgegangen zu werden. Folgende Bemerkungen mögen genügen: Ein solcher Rangrücktritt gibt dem eigenkapitalersetzenden Darlehen keinen anderen Rang, als es nach dem Gesetz ohnehin schon hat. Daran ändert nichts, dass sich die Rangordnung unabhängig von der gesetzlichen Zuweisung allein auf die Rangrücktrittsvereinbarung stützen lässt, so dass auch der „deklaratorische“ Rangrücktritt insoweit „konstitutiv“ ist (vgl. dazu K. Schmidt, GmbHR 1999, 9, [13 f.]). Letztlich diente eine solche Rangrücktrittserklärung allein der Absicherung des Geschäftsführers, der sich über den eigenkapitalersetzenden Charakter des Darlehens und damit über die Passivierung in der Überschuldungsbilanz keine Gedanken mehr zu machen brauchte. Unabhängig davon darf man aber Überlegungen zum richtigen Rangrücktritt nicht nur mit Blick auf eigenkapitalersetzende Gesellschafterleistungen anstellen. Wie die vorliegende Problematik zeigt, gibt es eben auch Ansprüche, die ohne Rangrücktritt nicht unter § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO subsumiert werden können und für die deshalb die Frage zu stellen (und aus den im Text genannten Gründen zu verneinen) ist, ob die Passivierungspflicht mit einem Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO vermieden werden kann. 49 Oben II.
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dingungen die Genussrechtsinhaber vom Liquidationsüberschuss aus. Sie werden damit als – wenn auch nachrangige – Gläubiger und nicht wie Gesellschafter behandelt. Das ergibt sich auch aus Klauseln, die von einem Rücktritt hinter die Ansprüche der anderen Gläubiger sprechen, womit noch einmal bestätigt wird, dass auch die Genussrechtsinhaber als Gläubiger und nicht wie Gesellschafter berücksichtigt werden sollen. Angesichts dessen ist regelmäßig unerheblich, ob die Genussrechtsinhaber in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO oder in den des § 39 Abs. 2 InsO zurückgetreten sind. Nach den Genussrechtsbedingungen sollen die Genussrechtsinhaber vor den Gesellschaftern und hinter den anderen Gläubigern befriedigt werden. Das lässt zunächst an den Rang des § 39 Abs. 2 InsO denken50. Da auch im Rang des § 39 Abs. 2 InsO noch Gesellschaftsgläubiger befriedigt werden, müsste man an eine eigene letztrangige Untergruppe innerhalb des Rangs des § 39 Abs. 2 InsO denken. Andererseits werden aber auch im Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO noch Gesellschafter befriedigt, wenn auch nicht mit gesellschaftsrechtlichen, sondern mit allgemeinen schuldrechtlichen Ansprüchen. Das könnte die Annahme nahe legen, dass die Genussrechtsinhaber den Gesellschaftern auch insoweit vorgehen sollen. In der Tat sind solche Erklärungen typischerweise dahin zu verstehen, dass in ihnen gerade nicht der Wille des Gläubigers zum Ausdruck kommt, hinter die Forderungen der darlehensgebenden Gesellschafter zurücktreten zu wollen51. Es ist daher zwar vorstellbar, bei entsprechenden Formulierungen52 an einen Rangrücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu denken und die Genussrechtsinhaber dort vor den Gesellschaftern zu platzieren. Richtiger dürfte aber sein, die Genussrechtsinhaber zwischen Rang Nr. 4 und Rang Nr. 5 – also gleichsam auf Rang Nr. 4a – einzuordnen, denn nur dort rangieren sie vor den Gesellschafteransprüchen und hinter den übrigen Gläubigern. Gegen diese Deutung lässt sich nicht einwenden, es gebe gar keinen Rang „Nr. 4a“, denn es gibt auch keine Rangabstufung innerhalb des Rangs Nr. 5, wie sich aus dem Eingangsteil des § 39 Abs. 1 InsO ergibt. Hätten die Genussrechtsinhaber beispielsweise erklärt, im Rang hinter den Gläubigern nach §§ 38, 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO zurücktreten zu wollen, käme sicher niemand auf die Idee, ihre Ansprüche den Ordnungsgeldern etc. zuzuordnen. Es ist eben ein Spezifikum des Rangrücktritts, dass bestimmte Gläubiger, die eigentlich nach § 38 InsO zu befriedigen wären, andere vorlassen, aber eben nur so weit, wie der Rangrücktritt reicht. Im vorliegenden Fall werden nur die Gläubiger nach §§ 38, 39 Abs. 1 Nr. 1–4 InsO vorgelassen, nicht aber
__________ 50 Diese Vorschrift kann selbst zur Auslegung nicht beitragen, da der Rangrücktritt
regelmäßig nicht „für den Insolvenzfall“ erklärt wird. 51 Vgl. etwa Kleindiek in v. Gerkan/Hommelhoff (Fn. 22), Rz. 7.36; K. Schmidt,
GmbHR 1999, 9 (12); ders., ZIP 1999, 1242 (1247); Wittig, NZI 2001, 169 (173 f.). 52 Vgl. nochmals oben II.
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Genussrechte in der Überschuldungsbilanz
die nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. Bevor also diese Gruppe zur Verteilung aufgerufen wird, sind erst einmal die zurückgetretenen Gläubiger zu befriedigen. 3. Ergebnis zu IV. Damit kann festgehalten werden, dass der typischerweise erklärte Rangrücktritt regelmäßig nicht ausreicht, um die Passivierungspflicht für die Genussrechte zu vermeiden.
V. Ergebnis Im Ergebnis steht also fest: Ansprüche aus Genussrechten sind in einem Überschuldungsstatus regelmäßig zu passivieren. Etwas anderes gilt nur bei einem hinreichenden Rangrücktritt. Dazu ist erforderlich, dass sich die Genussrechtsinhaber (regelmäßig bereits in den Genussrechtsbedingungen) mit den Gesellschaftern auf eine Stufe stellen, also erst aus dem Liquidationserlös befriedigt werden wollen (§ 199 Satz 2 InsO).
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Nachtrag zur „kleinen AG“* Inhaltsübersicht I. Einstimmung II. Die geltenden Aufsichtsratsregeln sind für kleine und mittlere Aktiengesellschaften teilweise ungeeignet 1. Persönliche Voraussetzungen für ein Aufsichtsratsamt 2. Vergütung des Aufsichtsrats nach § 113 AktG 3. Effizienzprüfung nach Ziff. 5.6 des DCG Kodex 4. Anmerkungen zur Aufsichtsratsdebatte in Deutschland
III. Über die Nichtanwendbarkeit der gesamten Rechnungslegungsvorschriften IAS und US-GAAP auf KMUen IV. Über die unterschiedliche Belastung mit administrativen Kosten V. Ist der geltende Corporate Governance Kodex unreflektiert auf KMUen anwendbar?
I. Einstimmung Das deutsche Aktiengesetz mit seiner hundertfünfzigjährigen Geschichte versteht sich – neben anderen Zielsetzungen, aber nicht zuletzt – als ein Organisationsgesetz1. Ein Organisationsprinzip ist seit jeher die für Deutschland typische und für angelsächsische Betrachter, auch für Schweizer, fremde Organisationsstruktur mit den drei Organen, nämlich der Hauptversammlung, dem Aufsichtsrat und dem Vorstand. Wie und wann diese drei Organe zusammenzuwirken haben, ist im Einzelnen im Aktiengesetz vorgeschrieben. So schreibt das Aktiengesetz über alle Zeiten2 hinweg vor, dass der Vorstand in eigener Verantwortung die Aktiengesellschaft leitet und das operative Geschäft führt (§ 76 AktG). Der Vorstand ist im operativen Tagesgeschäft unabhängig vom Aufsichtsrat und von der Hauptversammlung. Sodann schreibt das Aktiengesetz vor, dass der Aufsichtsrat die Geschäftsführung des Vorstandes zu überwachen hat (§ 111 Abs. 1 AktG)3. Schließlich schreibt das Aktiengesetz historisch vor4, dass die Hauptversammlung die
__________ * Der Verfasser dankt Herrn Rechtsanwalt Dr. Arnd Weisner, LL.M., für seine engagierte Mitarbeit an diesem Beitrag. 1 Vgl. Würdinger, Aktienrecht und das Recht der verbundenen Unternehmen, 4. Aufl. 1981, S. 1–3. 2 So z. B. § 231 HGB von 1897: „Die Aktiengesellschaft wird durch den Vorstand gerichtlich und außergerichtlich vertreten“. Das Aktiengesetz von 1965 sagt das Gleiche. 3 Früher § 246 Abs. 1 HGB von 1897. 4 Früher §§ 250 ff. HGB von 1897; jetzt der Katalog der §§ 119, 120 AktG 1965.
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Aufgabe hat, einmal im Jahr Beschluss über die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat zu fassen. In den Fällen des § 58 Abs. 1 Satz 1 AktG hat die Hauptversammlung Beschluss über die Gewinnverwendung zu fassen. Zu diesen Positionen hat die Hauptversammlung den Bericht des Vorstandes und teils des Aufsichtsrates entgegenzunehmen und zu diskutieren. Dies sind typisch deutsche Organisationsregeln, die in anderen Aktienrechten so nicht vorkommen, sich aber hier bewährt haben. Dieses einheitliche Gebilde eines jahrhundertealten Organisationsgesetzes, das für alle Aktiengesellschaften – gleichgültig wie groß sie sind – sinnvoll ist, wird nun zunehmend durch einen Wertungskatalog unterlegt. Dieser Wertungskatalog gibt vor, was der Gesetzgeber und andere Normsetzer schätzen und was sie nicht schätzen. Diese Hinwendung zur Wertung, die Entfernung vom Organisatorischen, wird deutlich an den Vorgaben des Gesetzes und der anderen Normensetzer zu der Frage, was einem Aufsichtsratsmitglied verboten ist, um das Amt eines Aufsichtsrats ausüben zu können, und was ihm erlaubt ist. Konkret lässt sich dieser Trend zur Wertung und die Abwendung vom Organisatorischen beweisen mit dem Bemühen des Gesetzgebers und noch stärker des Corporate Governance-Normsetzers, den Wertungsbegriff „Unabhängigkeit“ des Aufsichtsrats zu definieren und in den Griff zu bekommen5. Das ist ein Beispiel für die Entwicklung des Aktienrechtes weg vom Organisationsgesetz und hin zu einem Wertungsgesetz. Ein zweiter Trend, der mit der Zurückdrängung eines allgemein gültigen Organisationscharakters des Aktienrechts zusammenhängt, ist die Aufteilung des früher einmal einheitlichen Rechtes für alle Aktiengesellschaften in ein Recht für große und ein Recht für kleine Aktiengesellschaften. Dies ist ein Trend, der bis heute die Rechtspolitik6 bestimmt. Angefangen hat diese Entwicklung 1974 mit der qualifizierten Mitbestimmung, die den Arbeitnehmern bei Großgesellschaften in der Rechtsform einer juristischen Person mit in der Regel mehr als 2000 Arbeitnehmern gem. § 1 Abs. 1 Ziff. 2 MitbestG in den Aufsichtsräten 50 % der Sitze zuwies. Dann folgte 1985 das Bilanzrichtliniengesetz, das in §§ 267, 274a HGB eine Auffächerung des Reporting gegenüber den Aktionären zwischen großen, mittleren und kleinen Aktiengesellschaften vorschreibt. In diesen Kanon kann man auch die Rechtsidee der kleinen Aktiengesellschaft einreihen7, die keine eigene Rechtsform darstellt, sondern sich als ein Sonderrecht für Aktiengesellschaften
__________ Vgl. Corporate Governance Kodex v. 14.11.2002, § 5, 4.2 – 5.4.4., § 5.5 und § 5.6. Nach früherem Recht war dieser Komplex der Unabhängigkeit nur insoweit Regelungsgegenstand, als nur in § 248 HGB die Unvereinbarung der Ämter eines Mitglieds in Vorstand und Aufsichtsrat vorgegeben war. 6 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 764; vgl. Strenger, Corporate Governance: Braucht der deutsche Mittelstand einen speziellen Codex?, BB 2003, Heft 32, S. 1. 7 Albach/Corte/Friedewald/Lutter/Richter, Deregulierung des Aktienrechts, 1988. 5
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Nachtrag zur „kleinen AG“
ohne Börsennotierung präsentiert8. Es wurde also schon früher ein Differenzierungsbedarf zwischen der großen und der kleinen Aktiengesellschaft im Rechtsleben aufgespürt und dann realisiert. Heute ist der Differenzierungsbedarf noch deutlicher, und zwar im Bereich des Corporate Governance Kodex. Das beginnt schon mit der Geschichte des Kodex: Als der Beginn der Corporate Governance-Entwicklung gilt der Insolvenzfall der großen Aktiengesellschaft Holzmann; es folgte die Ausrichtung der Regierungskommission auf internationale Kapitalanleger9, die nicht in kleine Aktiengesellschaften investieren sondern nur in große; die Zusammensetzung der Regierungs- und der Kodex-Kommission, wo die Vertreter der großen AG dominieren, zielt in die gleiche Richtung; auch die Fokussierung auf den Aufsichtsrat, der bei kleinen AGen nicht im Vordergrund der Gegenwartsprobleme steht, zielt in die Richtung „große AG“. Dieser Gedanke findet in der Rechtswirklichkeit seine Entsprechung: Bei den großen Aktiengesellschaften findet der Deutsche Corporate Governance Kodex höhere Akzeptanz als bei kleinen, ebenfalls börsennotierten Aktiengesellschaften. Dies wird aus folgenden Zahlen deutlich: Bei 80 % der großen AGen, den 30 DAX-Werten, fanden von den 62 Empfehlungen des Kodex nur fünf keine Entsprechung. Bei 128 untersuchten Small-Caps war die Akzeptanz viel geringer: Dort akzeptierten nur sieben AGen den Kodex ohne Ausnahme, d.i. eine Akzeptanzquote von 5,5 %; vier AGen, gelistet im GeneralStandard-Markt, lehnen den Kodex ganz und gar ab; ihre Abweichungen „explainen“ nur 42,5 % der General Standard-Werte10. Dies ist ein weiteres Zeichen für ein Auseinanderdriften der Ordnungen unseres Aktienrechts in Richtung von großen und kleinen Aktiengesellschaften. Die Begründung für diese Tendenz kann man – unter anderem – im relativen Verzicht auf den organisatorischen Charakter des Aktienrechts und im Herausstellen des Wertungscharakters sehen. Da dieser Trend unumkehrbar ist, soll dieser Ansatz hier weiter verfolgt werden. Sollte der Gesetzgeber und/oder der Corporate Governance-Normgeber weiter gehend als bisher, nämlich flächendeckend, zwischen der großen, der mittleren und der kleinen AG unterscheiden, also unterschiedliches Recht für unterschiedliche Größenordnungen schaffen? Die Antwort auf diese Frage in dieser Arbeit wird lauten, dass – auf eine vereinfachende, verkürzte Formel gebracht – dies der Ansatz der Zukunft sein sollte. Die Begründung dieser These könnte etwa lauten, dass, was richtig und rechtsetzend für einen internationalen Großkonzern in der Rechtsform Aktiengesellschaft ist, für eine kleine oder mittelgroße Gesellschaft in der Form der Aktiengesellschaft (KMU) nicht bindend sein muss, weil ein KMU anderen Wertungskategorien
__________ 8 Seibert/Kiem, Handbuch der kleinen AG, 4. Aufl. 2000, Rz. 3, sagt: „Das Gesetz
schafft keinen neuen Typus der Aktiengesellschaft.“. 9 Baums, Rechtspolitisches Forum des IRP der Universität Trier, S. 4. 10 Bozicevic, AG-Report 2003, R 432 (434).
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unterliegt und deshalb die für Großgesellschaften geltenden Vorgaben überzogen sind, mitunter objektiv nicht erfüllbar, jedenfalls zu teuer sind, und/oder deshalb ein ungeeignetes Regelwerk darstellen. Mit dieser Rechtsidee soll hier angeknüpft werden an die Arbeit von Albach/ Lutter aus 198811 über die „Kleine Aktiengesellschaft“ und das, was sich hieraus im Laufe der Jahre entwickelt hat12. Der Grundgedanke dieser Arbeit von Albach/Lutter und der gesetzlichen Umsetzung war, dass die KMUen in der Form der Aktiengesellschaft Deregulierungen erfahren müssen, um konkurrenzfähig zu sein. Dieser Gedanke war damals einleuchtend und ist es bis heute geblieben. Ebenso einleuchtend – aber weiter führend und über das Gesetz von 1994 hinausgehend – ist die Rechtsidee, diese Deregulierungen auch auf die kleinen und mittleren börsennotierten Aktiengesellschaften auszudehnen, weil die Anzahl kleiner Aktiengesellschaften seit 1994 signifikant gestiegen ist13, dies aber gilt nicht für die börsennotierte AG, deren Anzahl nicht gestiegen ist. Deren Anstieg ist aber förderungswürdig, weil die Kapitalbedürftigkeit das wichtigste Problem der deutschen KMUen ist. Diese Kapitalbedürftigkeit kann und soll in einer marktwirtschaftlichen Ordnung vorzugsweise von vielen Anlegern befriedigt werden. Diese Anleger hat das Gesetz zu schützen. Darum ist Anlegerschutz ein tragender Gesichtspunkt deutschen Aktienrechts. Aber dieser Anlegerschutz ist differenziert zu definieren bei Großgesellschaften mit Hunderttausenden von Aktionären und bei einer kleineren jungen AG mit wenigen Aktionären, die den unternehmerischen Risiken und Chancen enger verbunden sind als die Aktionäre der Großgesellschaften. Die Formel könnte plakativ lauten: Die Kleinaktionäre von Siemens bedürfen, da zu Hunderttausenden vorhanden, die den Details der Geschäftsentwicklung nicht folgen und sich nicht einarbeiten können, anstelle dessen auf den guten Namen Siemens vertrauen, eines intensiven Anlegerschutzes. Anders ist die Lage bei den wenigen Aktionären, in der Regel einigen Hundert, im Höchstfall vielleicht tausend
__________ 11 Albach/Corte/Friedewald/Lutter/Richter (Fn. 7); Gesetz für kleine Aktiengesell-
schaften und zur Deregulierung des Aktienrechts v. 2.8.1994, BGBl. I S. 196. 12 Seibert/Kiem (Fn. 8); Claussen, AG 1995, 163. 13 Seibert/Kiem (Fn. 8) sprechen von Verdoppelung. Zahlenmaterial zur Anzahl der
Aktiengesellschaft in Deutschland bei Leven, AG-Report 2003, R 189. Danach stieg die Zahl der Aktiengesellschaften von ca. 3000 in 1994 auf 14000 in 2000. Die Anzahl börsennotierter AGen ist aber nicht gestiegen, sondern verharrt auf dem Niveau von ca. 700 kleinen und mittleren Aktiengesellschaften. Ähnliches gilt für die Marktkapitalisierung: 1994 betrug der Marktwert aller börsennotierten Aktiengesellschaften rd. 300 Mrd. $, jetzt rd. 700 Mrd. $ nach dem Gipfel auf der Höhe der „Blase“ von rd. 1432 Mrd. $ in 1999. Aber auch hier ist keine Positivposition der kleinen und mittleren AG herauszulesen: Über alle Zeiten hinweg entfallen auf die DAX-30-Werte und die sechs größten M-DAX-Werte 65 % der Marktkapitalisierung des deutschen Aktienmarktes. Über 650 Aktiengesellschaften teilen sich den Rest von 35 % der Marktkapitalisierung; i.E. Leven, AG-Report 2003, R 248.
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Nachtrag zur „kleinen AG“
Aktionären, von denen die Rechtsordnung erwarten kann, dass sie sachlich vertraut mit dem Geschäftsmodell des IPO-Unternehmens sind und/oder aufgrund ihrer Kenntnis und ihres Vertrauens in den Vorstand und/oder den Aufsichtsrat derartige Aktien kaufen. Aktionäre wissen, ob sie ihr Geld in einen „Blue-Chip“ investieren oder aber in ein kapital- und reservenschwaches High-Tech-Unternehmen. Dieser Wertung sollte sich die Rechtsordnung einschließlich des Corporate Governance Kodex nicht verschließen, sondern hieraus Konsequenzen ziehen. Anders gewendet sollte die kleine und mittlere börsennotierte AG ein Maß an Deregulierung im Vergleich mit dem internationalen Konzern erfahren, das sie als „kleine AG“ vom Gesetzgeber zugewiesen bekommen hat. Wenn die Normsetzer so verfahren würden, wäre dies ein Beitrag, die Kapitalbedürftigkeit bei den kleinen und mittleren AGen abzubauen, weil sich diese Gesellschaften dann rechtssicherer, stressärmer, preiswürdiger und damit zukunftssicherer entfalten können. Nach alledem soll hier ein weiteres Kapitel der kleinen Aktiengesellschaft aufgeschlagen werden unter der Überschrift „Die börsennotierte kleine Aktiengesellschaft“. Dies ist ein vornehmlich rechtspolitisches und weniger ein materielles oder rechtstechnisches Thema, fügt sich damit gut ein in das Lebenswerk unseres Jubilars, der für rechtspolitische Strömungen immer ein waches Gespür bewiesen hat. So sollen im Folgenden einige Beispiele für die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen den „kleinen“ und den „großen“ börsennotierten AGen in der für eine Festschrift vorgegebenen Raumnutzung behandelt werden.
II. Die geltenden Aufsichtsratsregeln sind für kleine und mittlere Aktiengesellschaften teilweise ungeeignet Als erstes Beispiel sei das deutsche Aufsichtsratsrecht, wie es sich heute darstellt, angeführt, unter Einschluss der Normen des DCG Kodex. Grundsätzlich gilt, dass die Einsatz- und Arbeitsfelder der deutschen Aufsichtsräte nicht so einheitlich zu sehen sind, wie das der Normgeber wohl vorschreibt. Vielmehr bieten deutsche Aufsichtsräte ein weites Panorama: Wir haben Aufsichtsräte in den 30 DAX-Aktiengesellschaften, den 50 M-DAX-Aktiengesellschaften, den 50 Aktiengesellschaften im Premium-Markt, Aufsichtsräte in Aktiengesellschaften des Standardmarktes und 14000 nicht-börsennotierten AGen. Daneben gibt es Aufsichtsräte bei Sparkassen, Landesbanken, bei Gesellschaften m.b.H. nach den § 52 GmbHG und § 77 BetrVG, bei 3286 Genossenschaften, 1621 Volksbanken und Raiffeisenbanken14. Alle diese Aufsichtsratsmitglieder üben die Kontrolle über die Geschäftsführung aus, entweder direkt nach § 111 AktG oder in analoger Anwendung. Es ist offensichtlich, dass die personellen Voraussetzungen für derart viele Perso-
__________
14 Ungeprüfte Zahlen ergeben eine Gesamtzahl von 363000 Aufsichtsräten in Deutsch-
land.
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nen und für auseinander fallende Pflichtenkreise nicht einheitlich festgeschrieben werden können, sondern ausdifferenziert werden müssen. Hier wird dieser Ausdifferenzierungsbedarf der börsennotierten kleinen AG, den „KMUen“, im Vordergrund stehen15. In der Soziologie eines Aufsichtsrats in dieser Kategorie der KMU ist die Kontrolle des Vorstandes nur eine der Funktionen des Aufsichtsrats. Seiner Amtsbezeichnung als „Aufsichtsrat“ entsprechend ist die Raterteilung neben der Aufsichtsführung ebenfalls Rechtspflicht des Aufsichtsrats16. Zwischen Raterteilung und Überwachung muss kein Gegensatz bestehen, wenn in die Überwachung die Umsetzung des Rates miteinbezogen wird. In der Gratwanderung17 des Aufsichtsrats zwischen der Aufsichtsführung, also der Überwachung der Geschäftsführung als einer Rechtspflicht, der Raterteilung an den Vorstand mit aus dieser Raterteilung sich ergebendem Einfluss auf die Leitungsaufgaben18 und unzulässiger Leitung der Gesellschaft, setzen die angesprochenen Größenordnungen der kleinen und mittleren AG ihre eigenen Akzente. Denn die Erwartungshaltung der in diesen AGen tätigen Vorstände und der in diesen AGen investierenden Aktionäre geht dahin, die Einwirkungsmöglichkeiten und Notwendigkeiten eines Aufsichtsrats höher als bei einer Großgesellschaft einzuschätzen. Um dieser Erwartungshaltung zu entsprechen, sollte die Bereitschaft zur Mitwirkung intensiver ausgestaltet sein19. Gelegentlich wird, zumal bei Gründungsgesellschaften, aber auch bei anderen kleinen AGen, von den Aufsichtsräten neben Kontrolle und Raterteilung auch Kapitaleinsatz erwartet und erbracht. Hieraus ergeben sich bisher nicht behandelte Fragestellungen.
__________ 15 Unter einer „börsennotierten kleinen AG“, dem KMU, sind in Anlehnung an die
16 17 18 19
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Realwirtschaft Gesellschaften mit einem Umsatz von 10 Mio. Euro bis zu 250 Mio. Euro zu verstehen, auch Neugründungen von Aktiengesellschaften noch ohne Umsatz, wobei unter „Neugründungen“ Unternehmen zu erfassen sind, die längstens vor zehn Jahren und kürzer gegründet wurden. Nach § 111 Abs. 1 AktG, vgl. Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 111 Rz. 1. Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl. 2003, Rz. 102. Hüffer, AktG, § 111 Rz. 5. Auf dieser Linie mag die Formel von der „abgestuften Überwachungspflicht“ auf Interesse stoßen, nämlich bei der kleinen und mittleren AG im Vergleich zur großen AG. Eine kleine, neu gegründete AG im Technologiebereich mit 2 Vorständen, die aus eben dieser Technologie herstammen, ist auf den Rat und die Mitwirkung eines kaufmännisch geschulten AR angewiesen, der, um seine Aufgabe erfüllen zu können, eine intensivere Überwachung auszuüben hat. In der Literatur wird diese „intensivere Überwachung“ eher für den Fall der Krise der AG angenommen ohne Differenzierung nach der Größe der AG, so z. B. Semler, Leitung und Überwachung der AG, 2. Aufl. 1996, S. 131; ders., AG 1983, 141, mit der Formel der „führenden Überwachung“; dagegen Claussen, AG 1994, 20, mit der Feststellung, dass ein 21köpfiger AR als Krisenmanagement nicht vom Gesetz vorgesehen und hierfür untauglich ist; vgl. hierzu v. Schenck in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl. 2004, § 7 Rz. 130.
Nachtrag zur „kleinen AG“
Es gibt also drei verschiedene Funktionsbereiche eines Aufsichtsrats in einer kleinen und mittleren AG, wobei die Gewichte dieser drei Funktionsbereiche von Fall zu Fall variieren und von den unterschiedlichen Zeiten abhängen. Wer diese Arbeit eines derart „multifunktionalen“ Aufsichtsrats häufig leistet, wird landläufig als „Berufsaufsichtsrat“ bezeichnet, positiver klingt business angel20. Diese gelebte Praxis, diese Soziologie des Aufsichtsrats einer KMU, ist wissenschaftlich wenig verarbeitet. Aber es gibt wohl 10000 kleine und mittlere Aktiengesellschaften und 700 davon sind börsennotiert. Diese Anzahl ist so erheblich, dass man sich hiermit beschäftigen sollte. 1. Persönliche Voraussetzungen für ein Aufsichtsratsamt Wir wollen die These von der Differenzierungsnotwendigkeit des Aufsichtsratsrechts konkret auf realwirtschaftliche Divergenzen zwischen einem großen und einem kleinen Aufsichtsrat stützen. Zu beginnen ist mit den persönlichen Voraussetzungen für Aufsichtsratmitglieder. Hierzu gibt § 100 AktG drei Vorgaben, nämlich erstens dass nicht Aufsichtsrat sein kann, wer in mehr als zehn Handelsgesellschaften bereits Aufsichtsratmitglied ist; zweitens wer gesetzlicher Vertreter eines von der Gesellschaft abhängigen Unternehmens ist; drittens wer gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft ist, deren Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied der Gesellschaft angehört (interlocking directories). Welche positiven Qualitäten ein Aufsichtsrat zu erfüllen hat, sagt das Gesetz nicht. Ergänzt werden diese gesetzlichen Vorschriften durch soft law, nämlich die in dem DCG Kodex enthaltenen weiteren sieben Merkmale, die ein Aufsichtsrat zu erfüllen hat21. Hierbei handelt es sich teils um Qualitätsanforderungen oder um die Festlegung von Voraussetzungen, die bei der Übernahme eines Aufsichtsratmandates vorliegen sollten. In summa haben wir einen Katalog von zehn Voraussetzungen, die ein Aufsichtsratsmitglied haben soll, wenn er sich einer Hauptversammlung zur Wahl stellt. Hinzu kommen zu den drei Voraussetzungen des Gesetzes und den sieben Kodexanforderungen die Forderung der Rechtsprechung des BGH an die fachliche und persönliche Eignung22. Bei diesen zehn Voraussetzungen spielt der Komplex „Unabhängigkeit der Aufsichtsräte“ im weitesten Sinne eine wichtige Rolle23. Schließlich können die Satzung oder faktisches Recht weitere Voraussetzungen vorgeben, etwa dass ein Vertreter der Aktionäre im Aufsichtsrat vertreten sei. Denn der Aufsichtsrat hat nicht nur die geschilderten Aufsichts-
__________ 20 Organisiert in European Business Angels Network (EKAW); vgl. www.business-
angels.de (BAND Business Angels Netzwerk Deutschland e.V.). 21 Deutscher Corporate Governance Kodex, Ziff. 5.4. 22 BGHZ 135, 244 (ARAG/Garmenbeck); früher BGHZ 85, 295 (Hertie). 23 Hierzu kritisch und zutreffend Zöllner in Hommelhoff/Rowedder/Ulmer, Max
Hachenburg, Gedächtnisvorlesung 2004, erscheint demnächst.
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pflichten, sondern ist auch ein Repräsentationsgremium der Aktionäre, die das Innehaben eines Aktienpakets der AG als Legitimation für einen Aufsichtsratssitz anführen. Ähnlich war früher der Usus der Hausbanken, die wie selbstverständlich – mithin gewohnheitsrechtlich – einen Platz im Aufsichtsrat einnahmen. Hierfür, für die sog. „geborenen Aufsichtsratsmitglieder“, insbesondere die Aktionärsvertreter, sind i. d. R. ein bis zwei Sitze erforderlich. Wenn diese Aufsichtsratsaspiranten über ihren Anteilsbesitz hinaus auch die vom Gesetz, vom Kodex und der Rechtsprechung geforderten Qualitäten aufbringen, ist dies hoch zu schätzen. Aber es gibt keinen Rechtstitel, mit dem dies durchzusetzen wäre. So reduziert sich die Anzahl der freien Aufsichtsratssitze, die ausschließlich nach den personellen Qualitätserfordernissen zu besetzen sind. Was ergibt diese Addition? Bei einem Sechser-Aufsichtsrat entfallen nach dem Gesetz auf die Mitarbeiter zwei Sitze. Diese Repräsentanten werden von der Belegschaft gewählt, man kann diese Wahl nur schwerlich einem weiteren Qualitätsanforderungskatalog des Kodex und der Rechtsprechung unterwerfen. Ähnliches gilt für die „geborenen Aufsichtsräte“, die Aktionärsvertreter. In einem Sechser-Aufsichtsrat bleiben zwei Mandate für die Abdeckung der Soft-law-Anforderungen. In einem Dreier-Aufsichtsrat bleibt für diese Aufgabenerfüllung ein Aufsichtsratsmitglied übrig, der alle Qualitäten des Kodex und der Rechtsprechung abdecken muss. Hinzu kommt Folgendes: Der Aufsichtsrat wird von den Aktionären in der Hauptversammlung gewählt, und zwar aufgrund eines Vorschlages des Aufsichtsrats, § 126 Abs. 3 AktG. Ob der Aufsichtsrat dieses Vorschlagsrecht nutzt, um eine Person wählen zu lassen, die anforderungsgerecht ist, weiß der Aufsichtsrat frühestens nach dem Wahlgang, in der Regel nach dem Einsammeln von Erfahrungen nach den ersten Sitzungen. Nach alledem reduzieren sich erfahrungsgemäß bei einem Sechser-Aufsichtsrat die „freien“ Aufsichtsrats-Positionen, die kodexgerecht besetzt werden können, auf zwei verbleibende Sitze. Diese zwei Sitze müssen mit dem dargestellten Voraussetzungskatalog des Kodex in Übereinstimmung gebracht werden. Auf diesen verbleibenden zwei Sitzen sollten solche Personen sitzen, die auf Rechnungslegung, Bilanzkunde, Controlling, auch auf Optionen spezialisiert sind, die Verträge mit Abschlussprüfern schließen können und „unabhängig“ im weitesten Sinne sind. Dies sagen das Gesetz, der Kodex und die Rechtsprechung. Außerhalb des Rechtsrahmens müssen die Aufsichtsräte unternehmerische Qualitäten besitzen wie kaufmännische Sachkenntnis, Branchenkenntnis, Branchennetzwerke, Chancen- und Risikobewusstsein, Durchsetzungskraft, Charakterstärke, die Fähigkeit, einem tatenfreudigen Vorstand auch „Nein“ zu sagen, in Erfahrung gestählte Souveränität ausstrahlen. Am wichtigsten wird erwartet und nicht vom Gesetz vorgegeben: Der Aufsichtsrat soll einen Beitrag zur Förderung der Ertragskraft der AG zu leisten imstande sein. Das alles zusammengenommen ist reichlich viel, was von einem Aufsichtsrat vom Kodex, der Recht70
Nachtrag zur „kleinen AG“
sprechung und den Geboten der Praxis verlangt wird24. Die Aufzählung weist in die Richtung, dass es solche „Universalgenies“ selten gibt, jedenfalls nicht im Felde der KMUen. Das Auswahlmodell des Kodex für Aufsichtsräte mag für eine große AG passen, nicht für eine kleine AG. Die Ursache dieser Entwicklung ist, dass der deutsche Kodex insgesamt und folglich die Vorschriften für den Aufsichtsrat für die DAX 30-AGen konzipiert mit einem Zwanziger-Aufsichtsrat; dort mag dieser Katalog der Aufsichtsrats-Qualitäten geeignet sein. Denn der Kodex ist in seinem historischen Ursprung auf die Verursachung im Fall Holzmann und andere Großinsolvenzen und in seiner Zielsetzung auf amerikanische Kapitalanlagegesellschaften wie CalPers und andere Milliarden-$-Fonds zurückzuführen. Diese Kapitalanlagegesellschaften werden keine Aktie einer deutschen AG mit einem Dreier- oder Sechser-Aufsichtsrat kaufen, sondern nur in DAX-30-Werte oder höchstens in M-DAX-Aktien investieren. Auch die Zielsetzung des Kodex in Deutschland, die Aktie als Anlagetitel für die Altersvorsorge der Bevölkerung (Riester-Rente) aufzubereiten, hat nicht die KMUen im Visier, auch nicht AGen mit einem Dreierund Sechser-Aufsichtsrat. Aus diesem Herkommen erklärt sich die Orientierung des Kodex auf die große AG, im Umkehrschluss die Nichtbeachtung der kleinen AG. In der Praxis ist es die Folge dieser langen Liste von persönlichen Voraussetzungen, die ein Aufsichtsrat erfüllen muss, dass Diskussionen um und mit Kandidaten für einen kleinen Aufsichtsrat zumeist mit Diskussionen um die Erfüllung dieses Voraussetzungskataloges beginnen und auch damit enden. Die Rekrutierung neuer Aufsichtsräte für einen Sechser- oder gar Dreier-Aufsichtsrat ist schwierig, jedenfalls viel schwieriger als noch vor einigen Jahren25. Die Fülle der Kodex-Voraussetzungen, der von der Rechtsprechung und der im Schrifttum vorgegebenen persönlichen Voraussetzungen mag zur Folge haben, dass bei Verfehlungen auch nur einer dieser Voraussetzungen der alleine für Aufsichtsrats-Empfehlungen zuständige Aufsichtsrat in die Falle des Auswahlverschuldens laufen kann26. Auch dies mag dazu beitragen, dass man eher Absagen erhält als Zusagen, wenn man Aufsichtsrats-Mandate bei KMUen geeigneten Kandidaten anträgt. Da wir aber nicht unerfüllbares Recht setzen dürfen, wenn wir den Respekt vor der Rechtsordnung aufrechterhalten wollen, bleibt die Feststellung, dass der Anforderungskatalog für die große, nicht aber für die kleine AG gemacht
__________ 24 Zu den Ergebnissen dieses Befundes kann man zählen, dass ein Drittel aller Neue-
Markt-Unternehmen – auch wegen schlechter Beaufsichtigung – insolvent ist oder dem Börsenausschluss wegen Unterschreitung des Zulassungsminimums von einem Kurs mit mehr als 1 Euro pro Aktie unterlag. 25 Rechtsanwälte, Bankkaufleute, Wirtschaftsprüfer scheiden als potentielle AR-Mitglieder weitgehend aus. 26 Vgl. Lutter, ZIP 2003, 417.
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wurde und es für die kleine AG einen „abgespeckten“ persönlichen Anforderungskatalog im Kodex geben sollte. 2. Vergütung des Aufsichtsrats nach § 113 AktG Problematisch ist nicht nur der persönliche Anforderungskatalog für Aufsichtsräte in den kleinen AGen, sondern auch die Entgeltfrage der Aufsichtsräte. Die Rechtslage ist wie folgt: Nach § 113 AktG besteht kein gesetzlicher Anspruch der Aufsichtsratsmitglieder auf eine Vergütung, schon gar nicht ein Anspruch auf Zahlung in Geld. Dass nach Satzungsrecht eine Vergütung in Geld bezahlt werden kann, erlaubt das Gesetz allerdings. Aber dies ist eine Kannvorschrift. Wichtiger als diese Kannvorschrift ist, dass die Bezahlung eines Aufsichtsrats mit barem Geld gleichbedeutend ist mit einem Liquiditätsabfluss bei der AG. Ein solcher Liquiditätsabfluss steht im Gegensatz zu dem obersten Grundsatz jeder Unternehmensführung, nämlich dem Gesetz der Liquiditätsschonung. Die hier in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden KMUen sind dieser Obernorm der Liquiditätsschonung überwiegend unterworfen, während bei den DAX-Gesellschaften und anderen Großgesellschaften dem Liquiditätsgesichtspunkt ein geringerer Stellenwert zugemessen wird27. Wer also die Obernorm der Liquiditätsschonung beachtet, andererseits die Aufsichtsräte nicht gratis arbeiten lassen will oder keine Personen findet, die hierzu bereit sind, für den bieten sich stock options als problemlösende Form der Vergütung an, weil stock options keinen Liquiditätsabfluss verursachen. Denn mit der stock option erhält der Aufsichtsrat kein bares Geld28, sondern in Zukunft fällig werdende Rechte. Diese Form der Vergütung ist nicht nur liquiditätsschonend, sondern kann auch eine positive Motivation für engagierte Aufsichtsrattätigkeit bedeuten. Das ist nach deutschem Recht in Abweichung zu anderen Rechtsordnungen ebenso in Abweichung von Geist und Sinn von Ziff. 5, Abs. 4, 5 des Corporate Governance Kodex nicht möglich, weil § 192 Abs. 2 Ziff. 3 AktG29 den Aufsichtsrat von der Bedienung mit bedingtem Kapital ausschließt – und dieses bedingte Kapital ist das Vehikel, mit dem man stock options mit Aktien bedient. Diese Verbotsnorm des § 192 Abs. 2 Ziff. 3 AktG hat der Bundesgerichtshof30 bestätigt, damit für geltendes Recht erklärt und darüber hinausgehend auch für richtiges Recht
__________ 27 Diese These belegt die Insolvenzstatistik: Die häufigste Insolvenzursache von
KMUen ist fehlende Liquidität, also Zahlungsunfähigkeit, während bei den seltenen Insolvenzen von Großgesellschaften die Ursache Überschuldung, also Verlust des Eigenkapitals ist, vgl. die Fälle Babcock AG/Holzmann AG/AEG etc. 28 Auf das Aufsichtsräte erfahrungsgemäß für die Jahre der Gründung, die i. d. R. Verluste bei KMU ausweisen, nicht angewiesen sind. 29 In der Fassung durch das KonTraG v. 27.4.1998, BGBl. I 1998 S. 786. 30 Urteil im Fall Mobilcom v. 16.2.2004, AG 2004, 265 = DB 2004, 696; Jahn, AGReport 2004, R 119.
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erklärt, das durch keine Umgehungsversuche ausgehebelt werden darf31. So sei auch die Bedienung von stock options durch zurückgekaufte eigene Aktien unzulässig. Mit dieser Rechtsgestaltung32 setzt man die KMUen unter einen Zwang, entweder die Obernorm der Liquiditätsschonung aufzugeben, also auf Liquidität zu verzichten, oder einen Aufsichtsrat zu finden, der gratis arbeitet, oder eine Lösung zu finden, die das gleiche Ergebnis wie die stock options bringt und mit der Rechtsprechung des BGH noch übereinstimmt. Die erste Alternative widerspricht der unternehmerischen Obernorm der Liquiditätsschonung. – Die zweite Alternative wendet sich an Menschenfreunde oder Großkapitalisten, die es nicht nötig haben, für Geld zu arbeiten – eine im Katalog der personellen Voraussetzungen für einen Aufsichtsrat nicht enthaltene Qualität. – Zu denken wäre zur dritten Alternative daran, etwa die Aufsichtsräte mit der Emission von Wandel- und Optionsanleihen gem. § 221 AktG zu bedenken, etwa zu Vorzugskursen. Aber auch diese Lösungen haben nicht die Akzeptanz des BGH gefunden33, der § 192 Abs. 2 Ziff. 3 AktG extensiv auslegt und im letzten Absatz des Urteils diese Lösung in Zweifel zieht. Es bleibt als weitere Alternative, um einem für kleine und mittlere Aktiengesellschaften liquiditätsschädigenden Recht zu entgehen, die Gründung einer ausländischen Holdinggesellschaft, in der der Kapitalstock für die stock options gesammelt wird. Diese Lösung ist allerdings aufwendig. Weniger aufwendig ist die Zusage einer gewinnabhängigen AufsichtsratsTantieme mit einem weit hinausgeschobenen Fälligkeitsdatum von etwa fünf Jahren, so dass jährlich im Rechenwerk der AG nur der Rückstellungsbedarf, aber kein Liquiditätsabfluss zu verarbeiten ist. Ob diese rechtliche Möglichkeit mit der Linie des BGH, der alle Umgehungsmöglichkeiten des Stock-option-Verbots ausschließen will, noch übereinstimmt, muss hier offen bleiben. Außerdem muss dann jedenfalls nach fünf Jahren bares Geld fließen, was für kleine AGen ein Problem sein kann. Das Ganze ist eine Position, die für die große AG wohl ohne große Probleme ist, aber für die kleine AG zu existentiellen Fragen führen kann, also die hier vertretene Differenzierung zwischen „groß“ und „klein“ unterstreicht. Zusammenfassend gilt: Das Stock-option-Verbot ist für die Wirtschaftsgrößenordnung der KMUen aus Gründen der Liquiditätsschonung abänderungsbedürftig. Man mag dieser Argumentation entgegenhalten, dass ein Unternehmen, das seinen Aufsichtsrat nicht angemessen bezahlen kann, nicht existieren soll-
__________
31 Zum Urteil und gegen die extensive Auslegung von § 192 Abs. 2 Ziff. 3 AktG
Vetter, AG 2004, 234. 32 Hierzu ablehnend für kleine und mittlere AGen schon früher Claussen, WM 1997,
1825; ders., DB 1998, 175; ebenso Semler in MünchKomm.AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 2004, § 113 AktG Rz. 68; Wiechers, DB 2003, 536; dafür DAV, ZIP 1997, 2059. 33 BGH v. 16.2.2004, AG 2004, 265, 266, letzter Absatz.
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te34. Die Zahlen zeigen ein anderes Bild: Der Sechser-Aufsichtsrat hat i. d. R. Aufsichtsratskosten in Höhe von Faktor siebeneinhalb plus Nebenkosten für Reise und Übernachtung und Aufwendungsersatz mit i. d. R. ebenfalls Faktor zweieinhalb. Beratungstätigkeiten, die nach § 114 Abs. 1 AktG zulässigerweise honoriert werden dürfen, bleiben außer Ansatz. Die Addition dieser Faktoren ergibt einen Faktor/Multiplikator von zehn. Wenn die Basisvergütung 10000 Euro35 beträgt, einschließlich Verdoppelung für den Aufsichtsratsvorsitzenden36, sind dies für den gesamten Aufsichtsrat 100000 Euro p. a., nach § 10 Abs. 4 KStG zur Hälfte abzugsfähig. Hinzu kommen möglicherweise Aufwandsentschädigung, D&O-Versicherung, mögliche Sitzungsgelder, insgesamt geschätzt 150000 Euro Kosten eines Aufsichtsrates. Wenn man davon ausgeht, dass die Verlustperiode bei Gründungsunternehmen bis zu zehn Jahren betragen kann, sind dies Kosten in Höhe von 1500000 Euro, was für ein kleines Gründungsunternehmen eine liquiditätsrelevante Dimension darstellt. Wichtiger als die absolute Höhe der akkumulierten Aufsichtsratsvergütungen ist der Motivationsfaktor: Wie soll ein Aufsichtsrat seine Vorstände und andere gewinnabhängig bezahlte Mitarbeiter zu Höchstleistungen motivieren, die 50 % ihrer Bezüge, also den vertraglich vereinbarten gewinnabhängigen Teil ihrer Vergütung, nicht erhalten, weil die Ertragslage dies noch nicht erlaubt und die Aufsichtsratsmitglieder sich an dieser Sparaktion nicht beteiligen. Das ist schwierig vorzustellen, auch aus moralischer Sicht. Nach alledem lautet das Petitum wie folgt: Der Gesetzgeber sollte aus dem Gesichtspunkt der Liquiditätsschonung Aktienoptionen für Aufsichtsräte von kleinen und mittleren Unternehmen zulassen37. Andere Gesichtspunkte – wie Interessenkollisionen, Manipulationsgefahr etc. – sind weit hergeholt, haben demgegenüber ein geringeres Gewicht. 3. Effizienzprüfung nach Ziff. 5.6 des DCG Kodex Eine weitere Vorgabe ist die in Ziff. 5.6 des Corporate Governance Kodex enthaltene Überprüfungspflicht: Alle Aufsichtsräte einer börsennotierten Gesellschaft sollen regelmäßig auf die Effizienz ihrer Tätigkeit getestet wer-
__________ 34 A. A. und zur überragenden Finanzierungsbedeutung der Liquidität bei KMUen
s. Claussen in Semler/Peltzer (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Vorstände, 2005, § 4 Rz. 299 ff. 35 Bei ca. 40 % der kleinen AGen erhalten die Aufsichtsräte zwischen 5000 Euro bis zu 15000 Euro, bei 20 % der AGen endet die Vergütung bei 10000 Euro, rd. 20 % zahlen zwischen 15000 Euro bis 30000 Euro pro Mitglied des AR. Hierbei handelt es sich um Erfahrungswerte. 36 Vgl. Helm, Größe und Vergütung des Aufsichtsrats kleiner und mittelständischer Aktiengesellschaften, Der Aufsichtsrat 2004, Heft 2, 5, der auf die Spannweite der gezahlten AR-Tantieme hinweist. 37 Dies entspricht auch dem Geist des Deutschen Corporate Governance Kodex, Ziff. 5.4.5.
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den, was man Evaluierungsverfahren nennt. Wie dies zu geschehen hat, lässt der Kodex offen. In der Literatur hat sich einiges angesammelt, was diese Lücke füllen will und Vorgaben zu diesem Thema gibt38. Diese Vorgaben sind überwiegend, auch im wording, angelsächsisch und überdies großfirmenorientiert. Sie sind für kleine und mittlere Aktiengesellschaften in Deutschland kaum brauchbare Wegweiser. Denn dieses Evaluierungsverfahren wird möglicherweise als eine ständige Infragestellung der Aufsichtsräte empfunden, was eine motivierte und auf Dauer angelegte Tätigkeit behindert. Diese Evaluierungsverfahren entsprechen zudem nicht der Marktlage: Am Markt der geeigneten Aufsichtsrats-Kandidaten für kleine und mittlere AGen herrscht Ebbe. Diese Ebbe kann man durch weitere Kontrollen und Prüfungen einem Nullpegel zuführen, jedenfalls besteht ein solches Risiko, das man vermeiden sollte. Außerdem bringen diese Prüfungen als Prüfer Dritte ins Spiel, die Geld kosten und denen oft mit Misstrauen begegnet wird. Die Rechtsidee der Evaluierung wurde nicht für die KMUen geschaffen, sondern für Großunternehmen39. Evaluierungen können sich für eine Mitgliedschaft im Aufsichtsrat einer kleinen AG als hinderlich erweisen. Evaluierung kann die Frage „cui bono“ nicht eindeutig beantworten: Für die Freistellung, sprich Entlassung, ungeeigneter Aufsichtsratsmitglieder gibt es in kleinen und mittleren AGen weniger formalisierte Verfahren als das hier behandelte Evaluierungsverfahren. Die hier geltend gemachten Einwendungen gegen eine Effizienzprüfung bei kleinen und mittleren Aktiengesellschaften sind auch nicht durch Verweis darauf auszuräumen, dass sich diese Prüfungen i. d. R. in der Autonomie des Aufsichtsrats abspielen, also nicht dem Auskunftsrecht der Aktionäre unterliegen40. Denn die Probleme aus der Evaluierung ergeben sich bei der kleinen AG zwischen Vorstand und Aufsichtsrat und weiterhin innerhalb des Aufsichtsrats und berühren die Hauptversammlung selten. Beispiele für die „Überflüssigkeit“ sind aus der Checkliste für die Effizienzprüfung41 die Frage nach der Sitzungsfrequenz in A.1.; ob die Tagesordnung nebst Unterlagen rechtzeitig versandt wurde und daraus die behandelnden Tagesordnungspunkte deutlich wurden in B.2. und 3., weil solche Mängel in einer kleinen AG sofort mündlich gerügt werden. Überflüssig ist auch für einen Dreier- oder Sechser-Aufsichtsrat eine „Effizienzprüfung“ der Dauer der Aufsichtsratssitzungen, weil dort kaum Fragen gestellt werden, um sich auch zu Wort zu melden – ein Problem des großen Zwanziger-Aufsichtsrats. Für schädlich mag man auch die Forderungen nach mehreren Ausschüssen
__________ 38 Theisen, Grundsätze einer ordnungsmäßigen Information des Aufsichtsrats,
3. Aufl. 2002, S. 75; Seibt, DB 2003, 2107; Berliner Diskussionskreis zum German Code of Corporate Governance, AG 2001, 109 ff. 39 Von Seibt, DB 2003, 2107 (2108), wurden General Motors und Honeywell zitiert. 40 Zust. Seibt, DB 2003, 2107 (2110). 41 Bei Seibt, DB 2003, 2107 (2111).
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halten, die es bei einem Sechser- oder gar Dreier-Aufsichtsrat nicht geben kann. Zusammenfassend gilt: Für die Effizienzprüfung des Aufsichtsrats und dessen Evaluierung gibt es in der Literatur Vorschläge, die für Großgesellschaften gedacht sind und dort, und nur dort, sinnvoll sein mögen. Schwierigkeiten gibt es mit diesem Verfahren bei den KMUen, nicht von der Sache her, sondern in der Konsequenz, den Aufsichtsrat eines KMU angemessen zu besetzen. Die ohnehin schwierige Suche und Auswahl nach willigen Aufsichtsräten wird von diesen Vorgaben erschwert. 4. Anmerkungen zur Aufsichtsratsdebatte in Deutschland Abschließend eine Anmerkung zur Diskussion um den deutschen Aufsichtsrat, wie sie gegenwärtig geführt wird. Diese Debatte wird ausschließlich über den Aufsichtsrat geführt und lässt die anderen Organe einer AG – Vorstand und Hauptversammlung – mit ihren Problemen und Zukunftsfragen vergessen. In dieser Debatte werden Einzelfälle von Fehlleistungen verallgemeinernd gegeißelt. Die Stärken des deutschen Aufsichtsrats fallen unter den Tisch. Zu den Meriten des deutschen Aufsichtsrats gehören aktuell seine soziologische und politische Anpassung an veränderte Verhältnisse, nämlich die Abkehr von dem Honoratiorenaufsichtsrat und die Hinwendung zum Leistungsaufsichtsrat, die Erfindung des Berufsaufsichtsrats und des business angel im Feld der hier im Mittelpunkt stehenden kleinen AG. Neben diesem Wandel in der Soziologie des deutschen Aufsichtsrats stehen die klassischen Meriten des deutschen Aufsichtsrats: Die klare rechtliche Trennung zwischen der operativen Tätigkeit des Vorstandes und der Kontrolle im Gegensatz zum angelsächsischen oder auch Schweizer System, wo diese klare Trennung fehlt. Hinzu kommt, dass der deutsche Aufsichtsrat die Chance bietet, hoch qualifizierte Personen für ein Unternehmen zu gewinnen, das nach Größe und Ausprägung auf dieses hohe Niveau nicht ausgerichtet ist. Last but not least gibt es bei den Aufsichtsräten in mittleren und kleinen AGen nicht das Informationsproblem, das den Aufsichtsrat in der Groß-AG prägt (§§ 111 Abs. 2, 170 Abs. 2, 90 Abs. 1 und 2 AktG). Diese gesetzlichen Informationspflichten42 reichen nach Meinung vieler nicht aus, um einen Aufsichtsrat voll ins Bild über einen Großkonzern zu setzen mit tausenden von Tochtergesellschaften in hunderten von Ländern43. Dies hinterlässt bei einem verantwortungsvollen Aufsichtsrat Unsicherheiten, die es bei einer kleinen AG nicht gibt. Weitere Meriten des kleinen Aufsichtsrats sind, dass hier der soziologischindustriepolitische Wandel des deutschen Aufsichtsrats von einem Prestige-
__________
42 Hoffmann/Preu (Fn. 18), S. 67 Rz. 247 ff. 43 Studie Deloitte 2004 „Entwicklung der Aufsichtsratpraxis in Deutschland“, S. 1,
8 ff., spricht von „schlecht informierten Kontrollern“.
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posten in eine Rechtsfigur, die Pflichten zu erfüllen hat, in wenigen Jahren vollzogen wurde. Und dies alles zu relativ niedrigen Preisen für die AG, insbesondere in der Beratung, wenn man sie mit Preisen von sonstigen Beratern vergleicht, die erforderlich wären, wenn es Aufsichtsräte nicht gäbe. Aus alledem fließt das weitgehend beanstandungslose, fast skandalfreie Wirken von wohl über 300000 Aufsichtsräten, die nicht im Blickfeld stehend ihre Arbeit machen. Aber diese Personen werden durch diese auf Negativa eingestimmte Aufsichtsrats-Debatte in eine Negativecke gestellt, was einmal ungerecht ist, zum anderen die Rekrutierung für diese Aufsichtsratsposition erschwert. Von den segenstiftenden Positivaspekten einer Tätigkeit als Aufsichtsrat von KMUen, nämlich am unternehmerischen Gedeihen mitzuwirken, vielleicht an einer Krisenbewältigung Anteil zu haben, und zwar mit einer dem einzelnen Aufsichtsrat zurechenbaren Leistung, ist im Schrifttum kaum die Rede. Ebenso wenig ist die Rede von dem Anteil eines Aufsichtsrats an der unternehmerischen Prosperität eines Unternehmens, das sich im Markt behauptet, Arbeitsplätze schafft und sich einen Marktplatz unterhalb der großen AGen erarbeitet. Der Zeitgeist und der Volksmund schätzen die Arbeit dieser Aufsichtsräte der KMUen, der Gründungs-AGen, höher. Der Volksmund nennt diese Personen „business angels“ und teilt ihnen mit dieser Wertung einen überirdischen Stellenwert zu. Diese business angels mit ihren vielen Mitgliedern sind organisiert in Verbänden in Deutschland44, in Europa und in der Welt, sie liefern aus lebenslanger Erfahrung gespeiste Ratschläge, Mitarbeit an konkreten Projekten, permanente Verfügbarkeit, Kapitaleinsatz und last not least die zum Amt gehörige Kontrolle des Vorstands.
III. Über die Nichtanwendbarkeit der gesamten Rechnungslegungsvorschriften IAS und US-GAAP auf KMUen Die Differenzierung zwischen großer und kleiner AG, der hier für das Aktienrecht das Wort geredet wird, hat im Rechnungslegungsrecht längst Platz gegriffen. § 267 HGB nimmt die Differenzierung zwischen kleiner, großer und mittlerer AG vor, § 274a HGB gibt die Konsequenzen an, die für die unterschiedlichen Größenordnungen anfallen. Eine Differenzierung danach, ob die börsennotierten Aktien einer kleinen AG, einer mittelgroßen oder großen AG zugehören, kennt das HGB nicht – § 267 Abs. 3 Satz 2 HGB. Es fehlt eine Differenzierung der börsennotierten AG nach der Größenordnung45.
__________ 44 Business Angels Netzwerk Deutschland, abgekürzt BAND; Prof. Dr. Dr. h.c.
Norbert Szyperski ist der Gründer: vgl. schon oben Fn. 21. 45 Zum ganzen Kleindiek, Die Zukunft der Rechnungslegung in kleinen und mittle-
ren Unternehmen, in Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2002, 2003, S. 115 ff.
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Die gleiche Linie verfolgt das IFRS in London. Auch dort – im internationalen Rechnungslegungsrecht – gibt es keine Differenzierung nach der Größenordnung. Für die kleinen AGen soll dieses Einheitssystem alsbald ein Ende haben: Für KMUen soll es eigene Standards geben, die an die bisherigen Standards gleichsam als Anhang angefügt werden. Aber auch diese Differenzierung wird nicht durchgehalten bei Aktiengesellschaften, die „zur öffentlichen Rechnungslegung verpflichtet sind“, wozu die börsennotierten AGen gehören. Der International Accounting Standards Board will mit diesem Projekt den Bedürfnissen von KMUen Rechnung tragen und für sie den Aufwand der Rechnungslegung reduzieren. Für diese KMUen soll es eigene Standards geben. Diese so genannten „IASB-SME-Standards“46 sollen als ein einheitliches Regelwerk für alle SMEs Anwendung finden. Sie sollen – wie gesagt – den Aufwand für die Rechnungslegung wesentlich reduzieren, einen einfacheren Umgang mit den IAS-Standards ermöglichen und auf die Bedürfnisse der SME-Gesellschaften zugeschnitten sein47, Erleichterung gewähren in der Offenlegung und in der Darstellung. Ob diese Modifikation der IFRSStandards je in Kraft treten wird und in welcher Form, ist offen. Selbst wenn die Regelung in Kraft tritt, ist für die SMEs mit Börsennotierung nichts gewonnen, weil für börsennotierte Werte die Erleichterungen nicht gelten, sondern die volle Wucht der IAS-Grundsätze unverändert Unternehmen treffen wird, die die Börsenzulassung von ihren Wertpapieren beantragt oder genehmigt haben oder aus anderen Gründen zur öffentlichen Rechnungslegung verpflichtet bleiben. Im Zielkonflikt zwischen Anlegerschutz als Motivator der Rechnungslegung und Abbau von übermäßigem Regelwerk für KMUs/SMEs wird der erstere Gesichtspunkt siegen. Jedenfalls wird sich ohne das In-Kraft-Treten einer KMU-Regelung für den deutschen Mittelstand ein Problem entwickeln, wenn § 292a HGB aufgehoben und durch die Anwendung von IAS ersetzt werden wird. Dann entfällt das Wahlrecht des § 292a HGB und alle AGen ob klein oder groß, aber börsennotiert, müssen nach dieser Reform nach IAS bilanzieren, sofern eine Differenzierung zwischen großen und kleinen börsennotierten AGen nicht vorgenommen wird. Der Mittelstand verweist auf die Komplexität der IAS, die permanenten Änderungen der Standards, die im Mittelstand nicht verbreitete Sprache, die Beratungsnotwendigkeit, den Kostengesichtspunkt. Gegenwärtig bilanzieren von den General-Standard-Werten 75 % nach HGB48, was nicht mehr möglich ist, wenn für börsennotierte Werte die ausnahmslose Anwendung von IAS/IFRS-Standards in Kraft ist.
__________ 46 SME = small and medium sized enterprises; entsprechend KMU = kleine und mitt-
lere Unternehmen. 47 Scheffler, AG-Report 2004, R 172 (174). 48 Bozicevic, AG-Report 2003, R 432.
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IV. Über die unterschiedliche Belastung mit administrativen Kosten Aus den vorstehenden Ausführungen zur Rechnungslegung ist zu entnehmen, dass in diesem Feld die administrativen Kosten einer Rechnungslegung nach IAS höher sind, als wenn man bei HGB bliebe. Diese Konsequenz ist verallgemeinerungsfähig: Die administrativen Kosten sind bei den KMUen relativ viel höher als bei den großen AGen, wenn man diese Kosten per capita rechnet. Das gilt nicht für die Rechnungslegung nach IAS, sondern flächendeckend, also für die Felder des Arbeitsrechtes, des Steuerrechtes, des Umweltrechtes, um nur einige kostentreibende Rechtsfelder zu benennen. Diese administrativen Kosten, die die Wirtschaft zu tragen hat, explodieren. Sie betragen 96 Mrd. Euro 2004 nach 30 Mrd. Euro Ende der 90er Jahre. Diese Kosten werden unterschiedlich verteilt: Die Groß-AGen müssen per capita fünfeinhalb Stunden zu Abdeckung dieser Kosten aufwenden, die KMUen 62 Stunden, was 3580 Euro entspricht49, weil sich der Arbeitsanfall auf weniger Köpfe verteilt. Von den Gesamtkosten von 96 Mrd. Euro entfallen 84 % auf KMUen, auf jedes Unternehmen ca. 46000 Euro. Was auch immer von diesen Zahlen zu halten ist, die Aussage, dass die administrativen Belastungen unterschiedlich einschlagen, ist jedenfalls einleuchtend: Die Belastung der kleinen Vorstände – i. d. R. zwei Mitglieder – mit administrativen Lasten war in der jüngsten Vergangenheit absolut zu groß, nämlich Steuerrechtsreform, Sozialreform, AktG-Reformen am laufenden Meter, Börsenrechtsänderungen, alles bei anhaltender Konjunkturflaute, die zu Entlassungen von Mitarbeitern zwang. Da blieb wenig Kraft bei den KMUen für Corporate Governance, während diese Zusatzlasten bei Groß-AGen auf vorhandene Stäbe verteilt werden können. Auch beantwortete niemand den KMUen positiv die Frage: Cui bono? Nach Kley50 ist Corporate Governance kein Garant für Wertsteigerung einer Aktie, aber ein Übermaß an Corporate Governance bedeutet mehr Bürokratie und damit höhere Kosten. Kley weist einleuchtend darauf hin, dass er keinen Zusammenhang zwischen Wertsteigerung von Einzelwerten und der Befolgung von Corporate-Governance-Regeln sieht. Corporate Governance steht für verbesserte Finanzkommunikation und Vertrauensaufbau in das deutsche aktienrechtliche System im Ausland, aber die Börse ist für die small caps nicht ansprechbar, jedenfalls nicht in jüngster Vergangenheit. Diese Verteilung öffentlicher Kosten verletzt das Gebot der Wettbewerbsneutralität und ist nicht gerecht.
__________ 49 Studie des Instituts für Mittelstandsforschung, Bonn, für das Ministerium für Wirt-
schaft und Arbeit, 2003. 50 Kley, Corporate Governance birgt Gefahr der Bürokratisierung, FAZ v. 23.12.2003
(Vortrag bei Ernst & Young).
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V. Ist der geltende Corporate Governance Kodex unreflektiert auf KMUen anwendbar? Aus Vorstehendem lässt sich folgern, dass einzelne Leitsätze des Kodex ungeeignet für KMUen sind51. Im Einzelnen gilt dies für –
die personelle Qualitätsanforderung an Aufsichtsratsmitglieder, die überzogen und damit in der Praxis nicht erfüllbar sind;
–
den Entzug von stock options als Entgelt für Aufsichtsräte. Das UMAG sollte § 192 Abs. 2 Nr. 8 AktG für stock options an Aufsichtsratsmitglieder von KMUs öffnen;
–
das Evolutionsverfahren, dem eine abschreckende Wirkung zukommen kann;
–
den ungebremsten Übergang der Rechnungslegung auf IAS;
–
die höhere Belastung der KMUen mit administrativen Kosten. Dieses Problem steht allerdings außerhalb des Kodex, aber in einem inneren, wirtschaftlichen Zusammenhang mit ihm.
Für eine derartige Entscheidung des Kodex sprechen Argumente aus der Privatautonomie, des zweifelhaften Regelungsbedarfs, dem rechtspolitischen Förderungsauftrag für kleine und mittlere Unternehmen und solche in der Gründungsphase zu dem Ziel, den Fortbestand der deutschen Wirtschaft zu sichern. Für eine Differenzierung der kleinen börsennotierten AG von der großen AG anhand dieses Kataloges spricht auch, dass die Corporate-Governance-Grundsätze für die Vorstände der small caps nicht gemacht sind, es fehlt die Mittelstandsorientierung. Dafür wird Regelungsdichte angepeilt52. Es könnte also erwogen werden, diesen Kodex aufzugliedern in zwei Abteilungen, nämlich eine Abteilung für große AGen und eine für kleine AGen, wobei Letztere von den überwiegend kostenträchtigen, in ihren positiven Auswirkungen auf das Unternehmensinteresse nicht einsichtigen Empfehlungen freizustellen und durch Empfehlungen auf Mittelstandsorientierung zu reduzieren sind, wofür der hier gelieferte Katalog als Denkanstoß dienen mag. Rechtspolitisch sinnvoller wäre allerdings der Ansatz, zu einem einheitlichen Aktienrecht zurückzukehren mit einer Akzentuierung dieses Gesetzes auf den organisatorischen Charakter, wie es den Ursprüngen dieses Ge-
__________ 51 Hierzu Bozicevic, AG-Report 2003, R 432, unter der Überschrift „Ein Kodex nur
für Konzerne? – Corporate Governance von Small-Caps unter der Lupe“; Strenger, BB 2003, 1, mit der Überschrift „Corporate Governance: Braucht der deutsche Mittelstand einen speziellen Kodex?“. 52 Zust. in der Richtung Spindler, Corporate Governance und Kapitalmarkt, in Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2001, 2002, S. 91 (95). Tendenziell ähnlich Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, Kommentar, 2003, Rz. 45, S. 251.
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setzes entspricht. Die Details – z. B. des Anlegerschutzes – und folglich die Differenzierung zwischen der Groß- und Klein-AG mit Börsenzulassung sollten der Satzung, also der Privatautonomie, den unternehmerischen Gegebenheiten überlassen bleiben53. Aber dann wäre der Kodex ohne spezielle Zielrichtung. Ob das ein realistischer Weg ist, bleibt dem wertgeschätzten Jubilar und Geburtstagskind zu entscheiden vorbehalten.
__________ 53 Im Sinne von Baums, Stellungnahme für den Wirtschaftsausschuß des Deutschen
Bundestages vom 4.6.1997, S. 8–9.
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Unternehmerische Tätigkeit zwischen Kontrolle und Kreativität Inhaltsübersicht I. Unternehmerische Tätigkeit als Handeln in Unsicherheit II. Regelungsdichte als Problem eines Zielkonfliktes 1. Die organisationsrechtlichen Rahmenbedingungen 2. Zum Diskussionsstand 3. Die legislatorische Zielstellung: Steigerung der Unternehmensintegrität 4. Das eigentliche Ziel: Der unternehmerische Erfolg 5. Präzisierung der Problemstellung III. Verbesserung der Corporate Governance durch Aktivierung der Organhaftung? 1. Der geheime Charme von Haftungssanktionen
2. Das UMAG: Ein neues Konzept der Organinnenhaftung? 3. Zur haftungsrechtlichen Eigenart unternehmerischer Tätigkeit 4. Exkurs: Dogmatische Konsequenzen 5. Das ganz alltägliche Missmanagement IV. Konsequenzen für die Diskussion über die Organisationsverfassung 1. Problemstellung 2. Zur Verantwortlichkeit des Gesamtvorstands 3. Gesamtverantwortung des Vorstands versus Führungsanspruch des CEO 4. Exkurs: Mitbestimmung 5. Fazit V. Ausblick
I. Unternehmerische Tätigkeit als Handeln in Unsicherheit Es sind kaum unterschiedlichere Berufe, Arbeits- und Denkweisen und damit Lebenswirklichkeiten vorstellbar als die des Unternehmers (sei er Eigenunternehmer oder Fremdmanager) und die des Richters1. Die unternehmerische Tätigkeit ist durch die Notwendigkeit zur Entscheidung in Unsicherheit gekennzeichnet2: Die in einem Unternehmen zu treffenden unternehmerischen Leitentscheidungen3 (eindeutige Beispiele: Investitionen in eine neue Fertigungsanlage zwecks Kapazitätsausweitung, Markteinfüh-
__________ Die folgenden Überlegungen wurden angestoßen durch Röhricht, Das Gesellschaftsrecht in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in RWS-Forum 10, Gesellschaftsrecht 1997, 1998. 2 Dauner-Lieb, Unternehmen in Sondervermögen, 1998, S. 14 ff., 20 ff., 25 ff.; Mutter, Unternehmerische Entscheidungen und Haftung des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, 1994; Reuter in MünchKomm.BGB, Bd. 1, 4. Aufl. 2001, §§ 21, 22 Rz. 26 ff.; ders., ZHR 135 (1971), 509. 3 Zur Leitungsaufgabe des Vorstands Fleischer, ZIP 2003, 1. 1
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rung eines neuen Pkw-Modells mit dem Ziel des Vorstoßes in die LuxusKlasse, Festlegung der Farben für die nächste Sommerkollektion, Herausgabe eines neuen BGB-Großkommentars, Erwerb eines ausländischen Großhändlers zur Erschließung des ostasiatischen Marktes) sind „infolge ihrer Zukunftsbezogenheit durch Prognosen und nicht justitiable Einschätzungen geprägt“4. Der Erhebung relevanter und erforderlicher Daten und Entscheidungsgrundlagen, sei es über das eigene Unternehmen, sei es über das externe Entscheidungsumfeld, sind durch den im Wettbewerb maßgeblichen Faktor Zeit Grenzen gesetzt. Die meisten Entscheidungen sind außerdem von hoher Komplexität, die sich u. a. aus der Unübersichtlichkeit der Problemstruktur, der Vielzahl der Problemvariablen und ihrer Verknüpfung, dem Mangel an Isolierbarkeit einzelner Probleme sowie aus der begrenzten Aussagekraft von Prognosen ergibt5. So hängt etwa die erfolgreiche Umsetzung einer Grundsatzentscheidung für die Einführung eines neuen Produktes von zahlreichen, zusammenhängenden Vorfragen ab, die ihrerseits wieder in großem Umfang „in Unsicherheit“ zu beantworten sind (Entwicklung der Material-, Personal- und Kapitalkosten, Durchsetzbarkeit einer Flexibilisierung der Arbeitszeit in den vorhandenen Fertigungskapazitäten etwa durch Einführung einer weiteren Schicht, Möglichkeiten einer Verlagerung der Fertigung ins Ausland, Verhalten der Konkurrenz etc.). Die Vorbereitung und Durchsetzung der unternehmerischen Leitentscheidung setzt eine Fülle von mehr oder weniger gewichtigen Einzelentscheidungen voraus. Der entscheidende Unsicherheitsfaktor ist freilich der Markt. Das typische unternehmerische Risiko besteht im Kern darin, dass die angebotene Ware oder Dienstleistung vom Markt überhaupt nicht oder jedenfalls nicht zu mindestens kostendeckenden Preisen angenommen wird und infolgedessen die Erträge die Aufwendungen nicht decken6. Prägt damit die auf einer Ex-ante-Betrachtung beruhende Entscheidung unter Zeitdruck und in Unsicherheit die unternehmerische Tätigkeit, dominiert für den Richter (und wohl nach wie vor auch für viele Rechtslehrer) die Ex-post-Betrachtungsweise, die nachträgliche und eindeutige Beurteilung abgeschlossener Vorgänge unter ganz bestimmten, von den jeweiligen Parteien definierten, rechtlichen Fragestellungen. Seine Entscheidungsoptionen sind von vornherein begrenzt; es geht um entweder/oder, richtig/falsch. Der Klage ist stattzugeben oder sie ist abzuweisen7.
__________ Entwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), S. 22; der Regierungsentwurf ist auf der Internetseite des Bundesjustizministeriums über http://www.bmj.bund.de/media/archive/797.pdf abrufbar (Stand: 30.12.2004). 5 Mutter (Fn. 2), S. 12 ff.; vgl. auch Dreher, ZHR 158 (1994), 614 (619). 6 Vgl. Dauner-Lieb (Fn. 2), S. 25 ff. 7 Zur Rolle der Rechtsprechung bei der Sicherung einer modernen Unternehmensführung Goette, Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, 2000, S. 123. 4
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Der verehrte Jubilar, Volker Röhricht, hat dieses Spannungsverhältnis zwischen „unternehmerischer Entscheidung und retrospektiver Rechtmäßigkeitskontrolle“8 offen thematisiert und problematisiert und aus dem „Prognostisch-Wagnishaften“9 weitreichende Konsequenzen gezogen: Der Stolz auf den inzwischen erreichten hohen Reifegrad unserer Gesellschaftsrechtskultur entbinde Gesetzgeber, Wissenschaft und Rechtsprechung nicht von der selbstkritischen Prüfung, ob damit nicht schon ein Zustand der Überreife erreicht sei, der in seiner ständig weiter vorangetriebenen Verfeinerung, in seinem unablässigen Bemühen um Vorsorge für jeden erdenklichen Krankheitsfall seinem Regelungsgegenstand nicht mehr durchweg gerecht werde, weil der Blick, allzu konzentriert auf kranke Phänomene gerichtet, die Interessen der gesunden Unternehmen zu vernachlässigen drohe10. Frage man nach dem richtigen Maß rechtlicher Regulierung, komme man schwerlich um die Feststellung herum, dass das deutsche Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht zumindest in einzelnen Teilbereichen inzwischen in dem Bemühen um eine möglichst umfassende Risikovorsorge eine von Gesetzgebung, Wissenschaft und Rechtsprechung gemeinsam bewirkte und zu verantwortende Komplexität und Regulierungsdichte erreicht habe, die von der Praxis berechtigterweise als Fessel empfunden werde, weil sie die Transaktionskosten der Wirtschaft ohne zwingende Notwendigkeit in die Höhe treibe, ohne dass dem ein Gewinn an Rechtssicherheit gegenüberstehe. Trotz oder sogar wegen der hohen Regelungsdichte seien sichere Aussagen über die eigenen Rechte und Pflichten ebenso wie die Vorausberechenbarkeit gerichtlicher Entscheidungen eher schwieriger geworden. In dem allzu fein gestrickten Netz verfingen sich allzu oft die falschen Fische11. Die Haftung des Vorstandes für gesetz- und satzungsmäßige, von Verantwortungsbewusstsein getragene, ausschließlich am Wohl der Gesellschaft ausgerichtete, lege artis auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhende unternehmerische Entscheidungen könne auch im Falle des Misserfolges schon deshalb kein geeignetes Sicherungsmittel gegen geschäftliche Fehleinschätzungen sein, weil sie letztlich die Beurteilung unternehmerischen Handelns in die Hände der dazu weder berufenen noch vorbereiteten Richter legen müsste12. Diese für einen Richter sicherlich „ungewöhnlichen“13, programmatischen Überlegungen aus dem Jahr 1997 faszinieren gerade durch ihren common sense approach14 und ihren Verzicht auf allzu kleinteilige akademische Differenzierungen. Die kaum noch überschaubare Normenflut, mit der die Unternehmen in den letzten Jahren kon-
__________ 8 9 10 11 12 13 14
Röhricht (Fn. 1), S. 235. Reuter in MünchKomm.BGB, §§ 21, 22 Rz. 28. Röhricht (Fn. 1), S. 191 f. Röhricht (Fn. 1), S. 192. Röhricht (Fn. 1), S. 205. So die Selbsteinschätzung von Röhricht (Fn. 1), S. 191. So die Würdigung von K. Schmidt in RWS-Forum 10 (Fn. 1), S. 229.
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frontiert worden sind, lässt die von Röhricht aufgeworfenen skeptischen Fragen nach noch zu verantwortender Komplexität und Regulierungsdichte aktueller erscheinen denn je.
II. Regelungsdichte als Problem eines Zielkonfliktes 1. Die organisationsrechtlichen Rahmenbedingungen Die zentralen organisationsrechtlichen Rahmenbedingungen unternehmerischer Tätigkeit finden sich für die Publikumsgesellschaft im Aktiengesetz. Die Führungsstruktur der deutschen Aktiengesellschaft15 ist bekanntlich geprägt durch ein dualistisches System, das die Leitung der Gesellschaft und die Überwachung der Geschäftsleitung zwei unterschiedlichen Organen, dem Vorstand und dem Aufsichtsrat, zuweist. Der seit der Aktienrechtsreform 1965 als Kollegialorgan konzipierte Vorstand hat in eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG) und übt damit die Unternehmerfunktion aus16. Davon im rechtlichen Ausgangspunkt scharf zu trennen ist der aus Repräsentanten der Anteilseigner und in mitbestimmten Unternehmen auch aus Vertretern der Arbeitnehmer zusammengesetzte Aufsichtsrat, dessen zentrale Aufgabe es ist, die Geschäftsführung des Vorstandes zu überwachen und von ihr ausgehende Schädigungen der Gesellschaft abzuwehren (§ 111 Abs. 1 AktG) und ggf. Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand geltend zu machen. Die in Wahrnehmung dieser Überwachungsfunktion zu treffenden Entscheidungen des Aufsichtsrats, insbesondere über eine Inanspruchnahme des Vorstands, sind nach zutreffender Auffassung des II. Zivilsenats des BGH keine unternehmerischen Entscheidungen. Infolgedessen hat der Aufsichtsrat insoweit auch nur einen äußerst begrenzten Entscheidungsspielraum17. An der (im Ausgangspunkt unbestrittenen) unternehmerischen Handlungsfreiheit des Vorstands hat der Aufsichtsrat nur dort Anteil, wo er die geschäftsführende Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer präventiven Kontrolle begleitend mitgestaltet, wie etwa bei der Mitwirkung an der strategischen Planung des Unternehmens oder bei der Erteilung einer Zustimmung zu wichtigen Einzelentscheidungen des Vorstands gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG18. Auch die zentrale Aufgabe des Aufsichtsrats, den Vorstand zu bestellen und abzuberufen, rechnet der II. Senat dem unternehmerischen Bereich zu19.
__________ 15 Zu den Alternativen bei der Gestaltung der Führungsorganisation einer Gesell-
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schaft aus betriebswirtschaftlicher Sicht von Werder, RIW 1997, 304; s. auch bereits ders., DB 1987, 2265. Dazu Fleischer, ZIP 2003, 1 (2 f.). BGHZ 135, 244 = BGH, ZIP 1997, 883 (ARAG/Garmenbeck); dazu ausführlich Röhricht (Fn. 1), S. 201 ff.; Henze, NJW 1998, 3309. Röhricht (Fn. 1), S. 205. Röhricht (Fn. 1), S. 205.
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2. Zum Diskussionsstand Über die Reformbedürftigkeit und Reformfähigkeit dieses deutschen Modells der Führungsorganisation wird sowohl im Grundsatz als auch im Hinblick auf Einzelheiten seit Jahrzehnten in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik nachgedacht; im Zuge der Europäisierung und Globalisierung der Märkte haben die Reformüberlegungen unter der Flagge der Corporate Governance zusätzliche Schubkraft bekommen. In dieser kaum noch überschaubaren, vielleicht in ihrer inhaltlichen Bedeutung letztlich aber doch überschätzten Diskussion über Corporate Governance, insbesondere über tatsächliche oder vermeintliche Defizite der Leitung der deutschen Aktiengesellschaft, lag der Schwerpunkt des Interesses lange Zeit auf dem Aufsichtsrat, und zwar in seiner Funktion als Überwachungsorgan; unter allen denkbaren Aspekten wurden die Möglichkeiten einer Effizienzerhöhung seiner Arbeit und damit insbesondere der ihm obliegenden Kontrolle des Vorstands beleuchtet. Das neue gesellschaftsrechtliche Modell einer SE, das Gesellschaften mit grenzüberschreitender Geschäftstätigkeit eine ganze Vielzahl von verschiedenen Gestaltungsformen eröffnet, wird die Diskussion über die jeweiligen Vorund Nachteile verschiedener Führungsorganisation (dualistisches System vs. monistische Verfassung)20 beleben und vielleicht auch das Nachdenken über alternative Mitbestimmungsmodelle befördern. Der Aspekt einer Effektivierung der Überwachung von Aufsichtsrat und Vorstand steht auch in der Diskussion über die Zukunft der Hauptversammlung21 im Vordergrund. Das zentrale Funktionsproblem der AG als Rechtsform wird darin gesehen, dass die Aktionäre in der Publikums-AG nicht willens und in der Lage seien, die ihnen als wirtschaftlichen Eigentümern zugewiesene Oberherrschaft und Oberaufsicht rollenkonform wahrzunehmen; die Ohnmacht der Hauptversammlung und die daraus resultierende rationale Apathie der Kleinaktionäre wird vor allem unter dem Gesichtspunkt des Versagens einer wichtigen Instanz der Kontrolle der übrigen Organe wahrgenommen22. Parallel zur aktuellen Diskussion über eine Optimierung der organisationsrechtlichen Kontrollmechanismen wurde und wird zunehmend über eine Effektivierung der Organhaftung gegenüber der Gesellschaft nachgedacht. Diesem Anliegen will nunmehr das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) durch Erleichterung von Aktionärsklagen im Wege der massiven Herabsetzung des Minderheiten-Quorums Rechnung tragen23.
__________ 20 von Werder, RIW 1997, 304. 21 Weit in die Zukunft greifend Noack, Zukunft der Hauptversammlung – Hauptver-
sammlung der Zukunft, in Zetzsche (Hrsg.), Die virtuelle Hauptversammlung, 2002. 22 S. nur M. Roth, ZIP 2003, 369. 23 Dazu im Einzelnen Seibert/Schütz, ZIP 2004, 252.
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3. Die legislatorische Zielstellung: Steigerung der Unternehmensintegrität Die starke Konzentration auf Überwachung der unternehmerischen Tätigkeit und Haftungssanktion ist kaum zufällig: Rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Diskussionen entzünden sich im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht häufig an spektakulären unternehmerischen Misserfolgen. Dabei werden hinter Krisen und Schieflagen in aller Regel nicht Realisierung und Auswirkung typischer unternehmerischer Risiken vermutet, sondern Missstände, Pflichtverletzungen, individuelles Verschulden, vielleicht sogar kriminelle Machenschaften. Dementsprechend sieht man politischen Handlungsbedarf vor allem im Hinblick auf die Verbesserung der Überwachung der Geschäftsleitung im Wege der Entwicklung von Mechanismen und Strukturen, die auf Unterbindung krimineller Aktivitäten, auf den Respekt vor der Rechtsordnung und auf das frühzeitige Erkennen und Bekämpfen von Krisen zielen. In diesen Zusammenhang einordnen lässt sich etwa auch die vom KonTraG in § 91 Abs. 2 AktG geforderte Implementierung eines Kontroll- und Frühwarnsystems. Durch eine Verbesserung der Kontrollstrukturen, eine Effektivierung der Haftungsnormen und eine Erhöhung der Transparenz der Unternehmensführung insbesondere auch gegenüber dem Kapitalmarkt hofft man, verlorenes Vertrauen der Anleger zurückgewinnen und für die Zukunft Missstände vermeiden zu können. 4. Das eigentliche Ziel: Der unternehmerische Erfolg Bei dem Bemühen, vermutete oder tatsächliche Überwachungs- und Informationsdefizite im Zusammenhang mit der unternehmerischen Tätigkeit in den Griff zu bekommen, besteht freilich die Gefahr, dass nicht ausreichend berücksichtigt wird, dass korrektes, regelkonformes Verhalten, das zwecks Haftungsvermeidung zunehmend auch ausführlich bürokratisch dokumentiert und durch die Rechtsabteilung oder den compliance officer überprüft werden muss, kein Selbstzweck ist. Ziel unternehmerischer Tätigkeit und damit guter Corporate Governance ist – dies ist ebenso banal wie zentral – letztlich der unternehmerische Erfolg. Gerade diese Ebene erweist sich jedoch für einen regulatorischen Zugriff als weitgehend ungeeignet. Zunächst lässt sich „Erfolg“ selbst dann nicht ohne weiteres eindeutig definieren, wenn man allein auf die Interessen der shareholder abstellt und andere stakeholder von vornherein ausklammert; verwiesen sei nur auf das Spannungsverhältnis zwischen nachhaltiger Ertragssteigerung und kurzfristiger Kurspflege. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang freilich, dass der unternehmerische Erfolg letztlich nicht plan- und machbar ist. Das unternehmerische Risiko, dass der Markt die angebotene Ware oder Dienstleistung nicht annimmt, ist im Kern nicht beherrschbar. Schon daraus folgt die „fehlende Normierbarkeit richtigen unternehmerischen“ Handelns24. Die Abhängig-
__________ 24 Reuter, ZHR 135 (1971), 509 (521 f.).
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keit des Erfolgs von den Unwägbarkeiten des Kundengeschmacks, der Leistungsfähigkeit der Konkurrenten, den Schwankungen der Konjunktur u. Ä. schließt es aus, die unternehmerische Tätigkeit an erlernbaren und entsprechend (auch rechtlich) verbindlichen „Kunstregeln“ zu messen; nicht selten erweist sich gerade die Wahl unorthodoxer oder sogar bisher unbekannter Wege als richtig, weil erfolgreich25. 5. Präzisierung der Problemstellung Bereits aus diesen wenigen, zwangsläufig knappen Überlegungen ergeben sich weittragende Schlussfolgerungen, die von einem breiten Publikum, möglicherweise aber auch von vielen Spezialisten, nicht klar genug wahrgenommen werden: Die Neigung, im Hinblick auf eingetretene Verluste ex post zu erklären, dass man es ex ante hätte besser wissen können und müssen, ist ebenso populär wie naiv und inzwischen sogar Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen26: Der unternehmerische Erfolg, der gesamtwirtschaftliche Aufschwung, ist auch für die prominenten Macher an der Spitze der Unternehmen nicht machbar; das typische unternehmerische Risiko ist im Kern eben nicht beherrschbar und in einer auf Wettbewerb und Privatautonomie beruhenden Marktwirtschaft muss es geradezu denklogisch sowohl Gewinner wie Verlierer geben. Umgekehrt ist auch nicht jeder unternehmerische Erfolg Produkt einer individuell und kausal eindeutig zurechenbaren Leistung. Er ist vielmehr von vielen variablen Faktoren und eben auch vom Zufall bestimmt. Man spricht daher – völlig zu Recht – davon, dass ein Management „Fortune“, eine „glückliche Hand“27, hat oder eben auch nicht. Fehlt dem Vorstand die für eine erfolgreiche Unternehmensführung erforderliche glückliche Hand, so kann er bei nächster Gelegenheit abberufen werden; Schadensersatzpflichten können aus dem Misserfolg für sich genommen noch nicht hergeleitet werden28, schon weil es keine Erfolgshaftung gibt29. Angesichts der Bedeutung einer „glücklichen Hand“ ist es aber möglicherweise nicht nur eine Frage der „Leistung“, sondern ein Gebot der Solidarität mit den Anlegern und vielleicht auch den Arbeitnehmern, Managementbezüge in gewissem Umfang an den Faktor „Fortune“ zu knüpfen, also erfolgsbezogen (nicht deckungsgleich mit „leistungsbezogen“) zu gestalten. Im Übrigen ist die Vorstellung weit verbreitet, dass allzu viel Skepsis und Kontrolle die Glücksgöttin Fortuna manchmal sogar erschre-
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25 Ausführlich dazu Reuter, ZHR 135 (1971), 511 zu dem allerdings für moderne Ge-
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sellschafts- und Kapitalmarktrechtler eher abgelegenen Problem des Zusammenspiels des § 27 HGB und §§ 1975 ff. BGB, §§ 780 ff. ZPO; zu den Konsequenzen für das „Unternehmen im Erbgang“ ausführlich Dauner-Lieb (Fn. 2). Nachweise bei Fleischer, ZIP 2004, 685 (686). Röhricht (Fn. 1), S. 205. Röhricht (Fn. 1), S. 205. So ausdrücklich de lege lata und de lege ferenda Regierungsentwurf des UMAG (Fn. 4), Begründung, S. 21.
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cken können. Dementsprechend haben auch sehr erfahrene Aufsichtsräte bisher häufig Hemmungen, einen derzeit erfolgreichen Vorstand allzu kritisch und unangenehm zu befragen. Nichts ist eben erfolgreicher als der Erfolg. Dieses psychologische Moment, das nicht mit distanzloser Kumpanei gleichgesetzt werden sollte, ist ein echtes, sicherlich aber auch schwer zu lösendes Problem der Corporate Governance, das den Versuch, die Aufsichtsratsarbeit (noch) effektiver zu gestalten, von vornherein schwierig macht. Damit ist festzustellen, dass die verschiedenen Stoßrichtungen alter und neuer Corporate-Governance-Ansätze in Wissenschaft und Gesetzgebung in einem deutlichen, bisher nicht ausreichend thematisierten Spannungsverhältnis stehen: Die Entwicklung und Verfeinerung rechtlicher Spielregeln unternehmerischer Tätigkeit, insbesondere die Verschärfung von Kontrollmechanismen und Effektivierung von Haftungstatbeständen, können (vielleicht) Skandalen vorbeugen, Gesetzesverstöße verhindern, ganz sicherlich aber keinen unternehmerischen Erfolg garantieren. Es ist genau umgekehrt zu befürchten, dass eine zu starke Erhöhung der Kontroll- und Regelungsdichte sich hemmend auf die unverzichtbare Initiativ- und Risikobereitschaft auswirkt und die erforderliche Kreativität lähmt30.
III. Verbesserung der Corporate Governance durch Aktivierung der Organhaftung? 1. Der geheime Charme von Haftungssanktionen Wann immer über Optimierungsmöglichkeiten der Kontrolle unternehmerischer Tätigkeit nachgedacht wird, wann immer neue Regelungen geplant und realisiert werden, die im weitesten Sinne auf eine Verbesserung der Corporate Governance zielen, folgt gleichzeitig oder wenig später eine rechtspolitische und rechtswissenschaftliche Diskussion über eine Sanktionierung der juristischen Innovation durch Haftung, und zwar durch persönliche Haftung der Organmitglieder, also der Manager und Aufsichtsräte. Besonders plastisch zeigt sich dieser Trend in der rechtswissenschaftlichen Rezeption der Comply-or-explain-Regelung des § 161 AktG: Ursprünglich bestand Einigkeit darüber, dass aus der Verzahnung von Aktiengesetz und Kodex über § 161 AktG keine neuen Haftungsrisiken erwachsen sollten; man ging davon aus, dass die Einhaltung der Spielregeln des Kodex oder die Gleichwertigkeit anderer Systeme vom Kapitalmarkt bewertet und evtl. positiv oder negativ sanktioniert werden31. Außerdem bestand die Befürchtung, dass eine haftungsrechtliche Instrumentalisierung des § 161 AktG mangels demokratischer Legitimation nicht unerhebliche verfassungsrecht-
__________ 30 Röhricht (Fn. 1), S. 205. 31 S. nur Seibert, BB 2002, 581 (584); es kann kaum erstaunen, dass nunmehr Zweifel
auftauchen, ob der Aktienmarkt überhaupt einen Unterschied danach macht, ob ein Unternehmen den Kodex befolgt oder nicht; s. Managermagazin 1/2005, S. 15.
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liche Probleme aufwerfen könnte. Dennoch setzte bereits kurz nach In-KraftTreten des § 161 AktG eine intensive Kontroverse über die Haftungsrelevanz des Kodex ein32. So wurden etwa seitens der rechtsberatenden Praxis dem Kodex ganz unbefangen zusätzliche schadensersatzrechtlich relevante Pflichten für den Aufsichtsrat entnommen, wobei den unbefangenen Beobachter kaum erstaunen kann, dass der Königsweg zur pflichtgemäßen Professionalisierung des Aufsichtsrats in der verstärkten Heranziehung von externen professionellen Beratern gesehen wurde; das Interesse von Rechtsanwälten, Unternehmens- und Personalberatern an einer solchen Deutung liegt auf der Hand33. Differenzierter, aber ebenfalls tendenziell im Sinne einer Haftungsrelevanz des Kodex, reagierte das juristische Schrifttum. Typisch ist etwa die Äußerung, es bestehe zwar keine Gefahr, dass es „zu einer übermäßigen oder gar uferlosen Ausweitung der Schadensersatzsanktion zu Lasten von Vorstand und Aufsichtsrat“ komme, es gebe aber keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, dass die Gerichte bei der notwendigen Konkretisierung der §§ 93, 116 AktG die Kodex-Empfehlungen als Orientierungsmaßstab heranziehen. Dies gelte zunächst dann, wenn ein Unternehmen nicht die Opt-out-Option gemäß § 161 AktG gewählt und damit zum Ausdruck gebracht habe, den Kodex befolgen zu wollen; aber auch mit der Offenlegung einer Nichtbefolgung sei nicht ohne weiteres ein „Freibrief“ verbunden34. Dieser Trend einer Verknüpfung von Corporate-GovernanceRegeln mit Ansätzen zur Haftungsverschärfung überrascht nicht: Es entspricht populärer Vorstellung, dass Regeln Sanktionen brauchen, um Wirksamkeit zu entfalten, und als wirksamste Sanktion gilt eben allgemein die persönliche Haftung35, zumal sie in Zeiten unternehmerischer Schieflage rechtspolitisch auch geeignet erscheint, mediengeschürten Volkszorn zu dämpfen. Eine Verschärfung der Managerhaftung werde eine höhere Abschreckungswirkung haben, sie erziehe Vorstände besser, weil es an deren eigenes Portemonnaie gehe, so lautete etwa ein Kommentar zu den verschiedenen Gesetzesprojekten des 10-Punkte-Programms der Bundesregierung36. 2. Das UMAG: Ein neues Konzept der Organinnenhaftung? Auf eine Neuregelung des Organhaftungsrechts zielt das UMAG. Zunächst soll die Klagedurchsetzung durch eine Minderheit im Wege einer deutlichen Herabsetzung des Quorums erheblich erleichtert werden; künftig sollen bereits Aktionäre, deren Anteile im Zeitpunkt der Antragstellung zusammen
__________ 32 S. zum Streitstand Liebscher in Beck’sches Hdb.AG, 2004, Gesellschaftsrecht 33 34 35 36
Rz. 131a. S. nur Peltzer, NZG 2002, 10. Ulmer, ZHR 166 (2002), 150. Managermagazin 1/2005, S. 115. FAZ v. 26.8.2004, S. 19.
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1 % des Grundkapitals oder einen Börsenwert von 100 000,00 Euro erreichen, in gesetzlicher Prozessstandschaft Haftungsansprüche der Gesellschaft gegen ihre Organe verfolgen können. In der Begründung zum Referentenentwurf wird die Rolle des Drucks der öffentlichen Meinung ganz offen thematisiert: Mit der Änderung des Systems der Verfolgungsrechte der Minderheit solle der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich in dieser Frage seit InKraft-Treten des KonTraG unter dem Eindruck der Übertreibungen und Skandale an den Aktienmärkten in den Jahren 1999 und 2000 ein grundlegender Stimmungswandel vollzogen habe, der durch die kritischen Stimmen im Schrifttum und nicht zuletzt durch die Empfehlungen der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 93. DJT Leipzig 2000 dokumentiert werde. Ersatzansprüche, insbesondere solche, die aus groben Pflichtverletzungen von Organmitgliedern herrührten, sollten künftig unter erleichterten Voraussetzungen verfolgt werden können. Die Hindernisse, welche die bisherige Regelung der Durchsetzung von Ersatzansprüchen durch eine Minderheit in den Weg stellte, und die falschen Anreize, die sie vermittelte, sollten so weit wie möglich beseitigt werden37. Damit kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Konsequenz einer Vermehrung von Organhaftungsprozessen billigend in Kauf genommen wird oder sogar beabsichtigt ist. Ganz wohl ist dem BMJ dabei aber offensichtlich nicht. Um eine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der neuen Regelung zu vermeiden, wird ein gerichtliches Vorverfahren eingeführt und ein „Haftungsfreiraum im Bereich qualifizierter unternehmerischer Entscheidungen geschaffen“38. Gewissermaßen als Gegengewicht zur Erleichterung der Haftungsklage soll in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die business judgment rule ausdrücklich in das positive deutsche Aktienrecht übernommen werden. Es soll ein sicherer Hafen für unternehmerische Entscheidungen, die nach bestem Wissen und Gewissen getroffen worden sind, geschaffen werden: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“, so lautet die Formulierung des Regierungsentwurfs39. Den entscheidenden Punkt in dieser Formulierung sehen die Entwurfsverfasser40 in der subjektiven Absicherung des Freiraums. Würde man den Spielraum nur auf die unternehmerische Entscheidung selbst beziehen, die äußeren Voraussetzungen „Gesellschaftswohl“ und „angemessene Information“ hingegen objektiv fassen, so unterlägen diese objektiven Merkmale der vollen Ex-post-Überprüfung durch die Gerichte und es könnte leicht zu einer Reduzierung des Freiraums auf einen Punkt
__________ 37 38 39 40
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Begründung (Fn. 4), S. 43 f. Begründung (Fn. 4), S. 20. S. Fn. 4. Seibert/Schütz, ZIP 2004, 252 (254); freimütig wird offen gelegt, dass es sich beim Entwurf des UMAG um einen der Fälle des outsourcing ministerieller Aufgaben handelt.
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kommen. Dadurch, dass sich die Einschätzungsprärogative aber auch auf die genannten Voraussetzungen erstrecke, sei dies nicht möglich41. Eine Haftungsverschärfung im materiellen Sinne ist also – so wird man diese Ausführungen deuten dürfen – gerade nicht beabsichtigt. Ziel der Regelung ist es nur, die bereits bestehende Organhaftung „punktgenauer“ zu aktivieren, also – um im Bild zu bleiben – das Netz nicht noch feiner zu stricken, sondern bessere Boote zur Verfügung zu stellen, die mit den vorhandenen Netzen weiter draußen endlich die richtigen Fische fangen. Schon der ursprüngliche Referentenentwurf hat sofort heftige Kritik ausgelöst42. Bei der vorgeschlagenen Ergänzung des § 93 Abs. 1 AktG durch einen neuen Satz 2 handele es sich nicht um eine Klarstellung, sondern – wie die Bemerkungen der Entwurfsverfasser zur „subjektiven Absicherung des Freiraums“ zeigten – um eine weitgehende, nicht durch Sachnotwendigkeiten bedingte Beschränkung der Organhaftung in der AG43. Es wird – so ließe sich diese Kritik auf den Punkt bringen – zwar einfacher zu klagen, aber schwieriger, den Haftungsprozess zu gewinnen. Dementsprechend wurde im Hinblick auf den Referentenentwurf gefordert, zum Diskussionsstand des DJT zurückzukehren und dementsprechend die Formulierung des Referentenentwurfs „ohne grobe Fahrlässigkeit“ ganz zu streichen. Als äußerste Rückzugslinie wurde folgende Umstellung vorgeschlagen: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung auf der Grundlage angemessener Informationen ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“44. Inzwischen wurde „ohne grobe Fahrlässigkeit“ durch „vernünftigerweise“ ersetzt, ohne dass dadurch freilich der Kritik in der Sache wirklich effektiv Rechnung getragen worden wäre. Die aktuelle Diskussion ist jedenfalls für den Nichtjuristen nicht leicht zugänglich; schon deshalb ist zu befürchten, dass die Neuregelung bei den angesprochenen Organmitgliedern eher Verunsicherung auslöst als eine sinnvolle, verhaltenssteuernde Wirkung entfaltet45. Schon dies könnte gegen eine „Festschreibung des Geschäftsleiterermessens“46 beim derzeitigen Diskussionsstand sprechen47. Die Schwierigkeiten einer dogmatischen Einordnung der geplanten Regelung deuten aber auch darauf hin, dass die Diskussion möglicherweise doch noch nicht zum Kern der Problematik vorgestoßen ist.
__________ 41 Seibert/Schütz, ZIP 2004, 252 (254). 42 S. zur Diskussion nur Ulmer, DB 2004, 859; Fleischer, ZIP 2004, 685; Diekmann/
43 44 45 46 47
Leuering, NZG 2004, 249; Hauschka, ZRP 2004, 65; Kinzl, DB 2004, 1653; Kock/ Dinkel, NZG 2004, 441; Kuthe, BB 2004, 449; Paefgen, AG 2004, 245; M. Roth, BB 2004, 1066; Thümmel, DB 2004, 441; ders., AG 2004, 83. Ulmer, DB 2004, 859 (861). Ulmer, DB 2004, 859 (863). S. noch einmal FAZ v. 26.8.2004, S. 19. Fleischer, ZIP 2004, 685 (687). Zum Für und Wider ausführlich Fleischer, ZIP 2004, 685 (687 f.).
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3. Zur haftungsrechtlichen Eigenart unternehmerischer Tätigkeit Auffällig ist zunächst, wie wenig Aufmerksamkeit dem neu einzufügenden Tatbestandsmerkmal der unternehmerischen Entscheidung gewidmet wird. Ihm wird allenfalls Abgrenzungsfunktion zu Konstellationen von Treuepflichtverletzungen beigemessen48; dagegen wird offensichtlich nicht für notwendig gehalten, es positiv mit Inhalt zu füllen. Die im Schrifttum beispielhaft herangezogenen Konstellationen (pflichtwidriger) unternehmerischer Entscheidungen sind so inhomogen, dass sich Zweifel aufdrängen, ob sie wertungsmäßig tatsächlich auf einer Ebene liegen: Vergabe eines Großkredits ohne nähere Bonitätsprüfung des Schuldners, die Investition erheblicher Mittel in die Ausweitung der Unternehmensaktivitäten ohne vorherige Marktanalyse, die Entscheidung für eine Fusion oder Übernahme ohne angemessene due diligence oder die Bewilligung großzügiger Anerkennungsprämien ohne hinreichende, die Verdienste der einzelnen Zuwendungsempfänger und den Wert ihrer etwaigen Gegenleistung evaluierende Entscheidungsgrundlagen49. Unternehmerische Entscheidungen – so könnte der voreilig-naive Versuch einer Beruhigung dieser Zweifel lauten – sind eben alle Entscheidungen, die in einem Unternehmen fallen. Gegen diese Definition spricht freilich schon der natürliche Sprachgebrauch. Nicht wesentlich weiter hilft auch der Versuch einer Anknüpfung an den Träger der unternehmerischen Funktion, den Normadressaten des § 93 AktG: Nicht jede Entscheidung auf Vorstandsebene ist auch eine unternehmerische Entscheidung, weder die Auswahl des Mittagessens für die Aufsichtsratssitzung oder der Dekoration für die Bilanzpressekonferenz noch die Zurverfügungstellung von Dienstwagen für Mitarbeiter des Vertriebs, obwohl entsprechende Themen in zahlreichen Unternehmen ganz selbstverständlich als „Chefsache“ behandelt werden. In diese Kategorie von Vorstandsentscheidungen ließe sich etwa auch die Vergabe von Spenden ansiedeln, möglicherweise aber auch das bereits zitierte Beispiel der Festlegung von Anerkennungsprämien. Der gemeinsame Nenner mit den eindeutigen Fällen „unternehmerischer Entscheidungen“ (beispielhaft sei noch einmal die Markteinführung eines neuen Kfz-Modells genannt) besteht allenfalls darin, dass der Vorstand in allen Fällen gleichermaßen einen gewissen Handlungsspielraum haben muss, schon weil es jeweils eine Vielzahl von Entscheidungsvarianten gibt, die unter rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten jedenfalls im Ergebnis akzeptabel erscheinen. Dennoch erscheint eine Gleichsetzung von unternehmerischen Entscheidungen mit jeglicher Ausnutzung von Entscheidungsspielräumen im Unternehmen äußerst problematisch, schon weil damit Konstellationen mit ganz unterschiedlichen Problemstrukturen miteinander vermengt würden: Die
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48 Vgl. etwa Fleischer, ZIP 2004, 685 (690). Kritisch gegen das Tatbestandsmerkmal
„unternehmerische Entscheidung“ Hauschka, ZRP 2004, 65 (66). 49 Ulmer, DB 2004, 859 (860).
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Vergabe von Anerkennungsprämien oder Spenden verlangt Augenmaß, beinhaltet aber im Regelfall weder Unsicherheiten noch Risiken. Auch bei risikobehafteten Entscheidungen gibt es einschneidende Unterschiede in der Risikostruktur: Hat etwa der Aufsichtsrat das Bestehen und die Durchsetzbarkeit eines Schadensersatzanspruchs der Gesellschaft gegen ihren Vorstand zu prüfen, so ist lediglich eine Prozessrisikoanalyse gefordert, wie sie jeder vornehmen muss, der für sich oder andere die gerichtliche Geltendmachung eines vermeintlichen Anspruchs erwägt. Fällt die Prognose optimistisch aus, dann ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob nicht doch ausnahmsweise aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohls von der Geltendmachung des Anspruchs abgesehen werden soll50. Die Fragen, ob die Prêt-à-porter-Kundinnen im kommenden Sommer die Farbe Orange tragen werden oder ob die Anwaltschaft einen neuen Großkommentar zum BGB braucht, haben eine völlig andere Qualität. Insoweit sind zukunftsbezogene Entscheidungen zu fällen, die weitgehend von „Prognosen und nicht justitiablen Einschätzungen“51 geprägt sind. Gerade für diesen Kernbereich unternehmerischer Tätigkeit, nämlich die Aktivitäten am eigenen Markt, ist nun freilich das derzeit im Mittelpunkt stehende Kriterium der „angemessenen Information“ wenig aussagekräftig: Über die Zukunft können Informationen im Wortsinne nicht eingeholt werden, eben weil die Zukunft unsicher ist. Zwar können betriebswirtschaftliche Entscheidungsunterstützungssysteme dazu beitragen, die Flut der relevanten Informationen über die Gegenwart zu kanalisieren und zu strukturieren, um auf dieser Grundlage Prognosen zu entwickeln und Planverfehlungen frühzeitig festzustellen. Mit Hilfe des Konzepts einer computergestützten simulativen Unternehmensführung kann die Entwicklung eines Unternehmens in einem künstlichen „Business-Kosmos“ in Varianten vorgedacht werden; Entscheidungsalternativen lassen sich in ihren Auswirkungen auf Gewinn und Verlust, cash flow und Finanzentwicklung gegenüberstellen52. Die mit Hilfe solcher Instrumente zu erreichende „Reduzierung von Komplexität“ kann jedoch nicht die entscheidende Unsicherheit beseitigen, ob die erarbeiteten Prognosen Wirklichkeit werden, insbesondere ob der zur Erreichung bestimmter Zielwerte erforderliche Umsatz tatsächlich zu erreichen ist. Computer, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater können – entgegen verbreiteten diffusen Vorstellungen – die unternehmerische Entscheidung zwar erheblich erleichtern, sie jedoch nicht ersetzen und erst recht nicht unangreifbar den Erfolg sichern53. Vor diesem Hintergrund sind auch Formulierungen unglücklich, es liege im Wesen unternehmerischer
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Röhricht (Fn. 1), S. 206. S. Fn. 4. Vgl. Dauner/Dauner-Lieb, BFuP 1996, 233; dies., DStR 1996, 1541 und 1578. Ausführlich dazu Dauner-Lieb (Fn. 2), S. 25 ff.; durchaus kritisch und distanziert gegenüber einem routinemäßigen Einholen von externem Sachverstand der Regierungsentwurf (Fn. 4), S. 24.
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Entscheidungen, dass sie zwar in der Erwartung positiver Ergebnisse getroffen werden, aber unvermeidlich auch mit gewissen Unsicherheiten verbunden seien54; vielmehr könnte man – etwas überspitzt – formulieren, dass risikofreie Entscheidungen per definitionem gar keine echten unternehmerischen Entscheidungen sein können55. Damit ist als Zwischenbefund festzuhalten, dass die derzeit diskutierten Formulierungen einer kodifikatorischen Implementierung der business judgment rule der haftungsrechtlichen Eigenart unternehmerischer Tätigkeit, nämlich des ganz unvermeidlichen Handelns in Unsicherheit, nicht gerecht werden. Die entscheidende Unsicherheit, nämlich die künftige Reaktion des eigenen Marktes, lässt sich durch noch so breite und gründliche Information nicht beseitigen; Informationen können lediglich die Grundlage für naturgemäß unsichere Prognosen bilden. Diese Überlegungen sprechen selbstverständlich nicht gegen die Entwicklung bestimmter, im Regelfall einzuhaltender Standards der Informationsbeschaffung. So ist schwer vorstellbar, dass in einem geordneten Unternehmen die Vergabe eines Großkredits ohne die in den betroffenen Verkehrskreisen übliche Bonitätsprüfung erfolgt. Es wird auch leicht darüber Konsens zu erzielen sein, dass einer M&A-Transaktion im Regelfall eine due diligence vorauszugehen hat56. Ob insoweit die verschiedenen Formulierungsvorschläge freilich zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würden, erscheint eher zweifelhaft; wenn hier keine übergeordneten Gründe für einen Verzicht auf Ausschöpfung vorhandener Informationsquellen vorliegen, wird man ohnehin in aller Regel auch grobe Fahrlässigkeit bejahen können. Ganz anders zu beurteilen ist dagegen die Frage der Beiziehung von Unternehmensberatern und Einholung von Marktanalysen; hier wird man sich in aller Regel streiten können, wie viel (teure) Fremdberatung ein Unternehmen tatsächlich benötigt; eine Verstärkung des Trends zur Absicherung des Managements durch Rückgriff auf auswärtige Experten wäre der Entwicklung kreativer Quellen im eigenen Hause sicherlich nicht förderlich und würde außerdem die ohnehin schon weit verbreitete Risiko- und Verantwortungsscheu noch erhöhen. Das von einem neuen § 93 Abs. 1 Satz 2 ausgehende Signal wäre diffus, wenn nicht sogar klar kontraproduktiv57. 4. Exkurs: Dogmatische Konsequenzen Liegt die haftungsrechtliche Eigenart unternehmerischen Handelns in der aus der Unbeherrschbarkeit des Marktes resultierenden Unmöglichkeit,
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54 Ulmer, DB 2004, 859 (860). 55 Semler in FS Ulmer, 2003, S. 627. 56 Böttcher, Verpflichtung des Vorstandes einer Aktiengesellschaft zur Durchführung
einer due diligence beim Beteiligungserwerb (zur due diligence als Verkehrssitte), 2005. 57 Kritisch zu solchen Tendenzen auch der Regierungsentwurf (Fn. 4), S. 24.
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Maßstäbe für „richtiges“ und erfolgreiches unternehmerisches Handeln zu entwickeln, dann folgt daraus, dass die übliche Bezeichnung des unternehmerischen Freiraums als unternehmerisches Ermessen58 unglücklich oder sogar irreführend ist: Der Ermessensbegriff ist eine Zweckschöpfung des Öffentlichen Rechtes, der dazu dient, den hoheitlich handelnden Staat zum Schutz der seiner Gewalt unterworfenen Bürger selbst dort noch gerichtlich überprüfbaren Bindungen zu unterwerfen, wo ihm zur Erhaltung der notwendigen Handlungsfreiheit gewisse gesetzlich umschriebene und eingegrenzte Handlungsspielräume offen gehalten werden müssen. Der verwaltungsrechtliche Ermessensbegriff ist damit das Produkt einer weit fortgeschrittenen Verrechtlichung staatlichen Handelns. In diametralem Gegensatz dazu steht das unternehmerische Handeln, das vor Verrechtlichung und Nachprüfung grundsätzlich gerade bewahrt werden muss, wenn man nicht die Gerichte an die Stelle der Unternehmensführung setzen will59. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch im Ausgangspunkt problematisch, die geplante Regelung des § 93 Abs. 1 Satz 2 unter dem Gesichtspunkt eines Schrittes vom „Richterrecht zur Kodifizierung“60 zu reflektieren. Solange man eine Erfolgshaftung der Organe für die Wahrnehmung unternehmerischer Aufgaben ablehnt, kann es überhaupt nicht darum gehen, unternehmerische Freiräume zu eröffnen, sei es nun kraft Richterrecht oder kraft Kodifikation. Die Freiheit ist vielmehr vorgegeben und kann – soweit dies erforderlich und damit auch verfassungsrechtlich legitimierbar ist – im Interesse der Anleger, Gläubiger etc. eingeschränkt werden. Der BGH ist also in der ARAG-Garmenbeck-Entscheidung gerade nicht rechtsfortbildend tätig geworden, sondern hat das Zurechnungskonzept der §§ 93, 116 AktG konsequent konkretisiert. 5. Das ganz alltägliche Missmanagement Bisher überhaupt nicht erörtert wird, wie sich die typische Komplexität unternehmerischer Tätigkeit, insbesondere die Verknüpfung von vielen Problemvariablen61, auf die Organhaftung auswirkt. Die Maßstäbe des geltenden § 93 Abs. 1 AktG und auch des geplanten § 93 Abs. 1 Satz 2 können überhaupt nur greifen, wenn der eingetretene Schaden auf isolierbare Einzelhandlungen, genauer, auf abgrenzbare unternehmerische Entscheidungen, zurückzu-
__________ 58 S. etwa die ausgreifenden Monographien von M. Roth, Unternehmerisches Ermes-
sen und Haftung des Vorstandes, 2001; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, insbes. S. 9 ff.; es ist daher zu begrüßen, dass der Regierungsentwurf (Fn. 4) – anders als noch der Referentenentwurf – die Formulierung „unternehmerisches Ermessen“ nicht mehr verwendet. 59 Röhricht (Fn. 1), S. 204; dies akzentuiert jetzt auch der Regierungsentwurf (Fn. 4) dadurch, dass er von nicht justitiablen Einschätzungen spricht. 60 Fleischer, ZIP 2004, 685. 61 S. dazu oben I.
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führen ist. Auf diese klaren, meist sehr spektakulären Fälle fokussiert sich verständlicherweise die rechtswissenschaftliche Literatur: Der ohne Bonitätsprüfung vergebene Kredit erweist sich als notleidend, die ohne ausreichende due diligence teuer erworbene Beteiligung ist wertlos62. Für die Mehrzahl der Schieflagen und Insolvenzen erweist sich die haftungsrechtliche Beurteilung freilich als deutlich komplizierter. Es lässt sich nämlich nicht ohne weiteres feststellen, ob sich das typische, eben nicht beherrschbare unternehmerische Risiko realisiert hat oder ob der Einbruch zu vermeiden gewesen wäre. Selbst wenn eine Gesamtschau den Schluss nahe legt, dass im Unternehmen etwas schief gelaufen ist, sind die Ursachen häufig schwer präzise zu greifen, eben weil sie vielfältig und in ihrer Vernetzung komplex sind. Das Urteil „so nicht“ liegt nahe und ist einfach, nicht jedoch die Antwort auf das „wie denn dann?“. Hier hilft auch die Beweislastverteilung des § 93 AktG nicht entscheidend weiter: Zwar weist § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG die Beweislast für die Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters den Vorstandsmitgliedern zu und weicht damit zugunsten der AG von den allgemeinen Grundsätzen ab63. Immerhin muss aber die AG Eintritt und Höhe des Schadens beweisen, vor allem aber auch eine Handlung des beklagten Vorstandsmitglieds, sowie schließlich adäquate Kausalität zwischen Handlung und Schaden. Es muss also das positive Tun oder Unterlassen bezeichnet werden, das die AG dem Vorstandsmitglied als möglicherweise pflichtwidrig vorwerfen will64. Genau hier liegt freilich das zentrale Problem: In sehr vielen Fällen liegt zwar der Vorwurf des Missmanagements (auch juristisch) greifbar in der Luft, lässt sich dann aber doch nicht an halbwegs klaren Tatbeständen des Tuns oder Unterlassens festmachen. Es ist die Summe des Schlendrians, die das Unternehmen an den Abgrund gebracht hat, aber dennoch mit den normalen Kategorien des Haftungsrechts nicht zu greifen ist: Auf Wandel des Kundengeschmacks wurde zu spät reagiert, über neue Produkte wurde zu spät nachgedacht, die Personalplanung und Personalförderung wurde vernachlässigt; die Kundenverbindungen wurden nicht gepflegt. Kurz, es wurde nicht der Boden gepflegt, auf dem die großen und erfolgreichen unternehmerischen Entscheidungen greifen können.
IV. Konsequenzen für die Diskussion über die Organisationsverfassung 1. Problemstellung Die vorangegangenen Überlegungen haben zu der These geführt, dass der auf den ersten Blick moderat wirkende und offensichtlich im Grundsatz kon-
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62 Ulmer, DB 2004, 859 (860). 63 Dazu Goette, ZGR 1995, 648. 64 S. nur Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 93 Rz. 16 m. w. N.
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sensfähige Weg des UMAG zur Aktivierung der Organhaftung gefährlich ist. Er erleichtert die Organklage, ohne dass es ihm aber gleichzeitig gelingt, die haftungsrechtliche Eigenart unternehmerischer Tätigkeit präziser zu erfassen, als § 93 AktG dies bisher schon vermochte. Schon die Zielvorstellung, die Klage zwar einfacher zu machen, gleichzeitig aber die Latte für einen Klageerfolg höher zu hängen65, kann letztlich nur zu Irritationen bei den Klägern oder aber zu einer schleichenden Aushöhlung des Prinzips der Verschuldenshaftung zugunsten einer verschleierten Erfolgshaftung bei den Gerichten führen, nach dem Prinzip „kein Rauch ohne Feuer“. Beide Entwicklungsperspektiven wären fatal, für das Anlageklima und für die Arbeitsatmosphäre in den Vorstandsetagen. Wichtiger ist freilich die Erkenntnis, dass die Organhaftung, die eben bisher keine Erfolgshaftung ist, sondern eine durch Beweiserleichterungen abgemilderte Verschuldenshaftung, dann nicht wirklich greift, wenn zwar Pflichtverletzungen wahrscheinlich sind, der eingetretene Schaden aber konkreten Pflichtverletzungen nicht zugeordnet werden kann. Wegen der „fehlenden Normierbarkeit richtigen unternehmerischen Verhaltens“ geht die Schadensersatzhaftung insoweit ins Leere. 2. Zur Verantwortlichkeit des Gesamtvorstands Vor diesem Hintergrund kommt erneut die organisationsrechtliche Grundstruktur der deutschen AG ins Blickfeld: Im Verhältnis der Vorstandsmitglieder untereinander gilt der Grundsatz gemeinsamer Verantwortung; Leitung im Sinne von § 76 Abs. 1 AktG ist Gesamtleitung66. Leitungsaufgaben, die der Gesetzgeber dem Vorstand zuweist, sind vom Gesamtorgan und nicht von einzelnen Organmitgliedern wahrzunehmen67. Auch bei einem mehrgliedrigen Vorstand ist im Rahmen der Ressortverteilung diese Grenze sorgfältig zu beachten68. Es mag zwar sein, dass das Ressortprinzip zu mehr Professionalität und damit zur Delegation der Vorbereitung von Vorstandssitzungen in einzelnen Fragen führt. Ein gravierender haftungsrechtlicher Unterschied ergibt sich daraus jedoch nicht. Weder gibt es eine Privilegierung bei Gesamtverantwortung noch eine Verschärfung der Verantwortlichkeit bei primär alleiniger Zuständigkeit im Rahmen einer entsprechenden Geschäftsverteilung. Auch bei einer divisionalen Organisation bildet der Grundsatz der Gesamtverantwortung eine immanente Schranke der Selb-
__________ 65 Der Regierungsentwurf (Fn. 4), S. 21 spricht allerdings von einer bloßen Klarstel-
lung; dann wäre freilich die äußerst heftige Reaktion im Schrifttum nicht verständlich. 66 Fleischer, ZIP 2003, 1 (2); Bernhard/Witt, ZfB 1999, 825; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497. 67 Vgl. Martens in FS Fleck, 1988, S. 191. 68 Vgl. Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497.
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ständigkeit einzelner Geschäftsbereichsleiter69. Durch das Prinzip der Gesamtverantwortung wird – im Modell – für das operative Geschäft, aber auch für die strategischen Überlegungen ein permanentes internes Controlling gewährleistet. Dies wird zum einen eine erhebliche Hemmschwelle für Gesetzesverstöße darstellen. Es führt aber vor allem auch zwangsläufig dazu, dass die einzelnen Vorstandsmitglieder ihre Aktivitäten und Konzepte kontinuierlich in einer Runde von peers zur Diskussion stellen und legitimieren müssen. In einem mit Fingerspitzengefühl zusammengesetzten Vorstand kann dieses System Pflichtverletzungen, insbesondere einem schleichenden Missmanagement, deutlich eher vorbeugen als eine Androhung persönlicher Haftung. 3. Gesamtverantwortung des Vorstands versus Führungsanspruch des CEO In eigentümlichem Spannungsverhältnis zu dem Bemühen, die Kontrolle und Haftungssanktionierung des Managements effektiver und schärfer zu gestalten, steht die Tendenz, den Vorstandsvorsitzenden in die Nähe eines Chief Executive Officer (CEO) amerikanischer Prägung zu rücken70. Dieser Trend ist geeignet, die wohltuende und im Ernstfall vielleicht auch schadenspräventive Gesamtverantwortung des Vorstands zu deaktivieren. Rechtlich ist diese Entwicklung de lege lata ohnehin zweifelhaft: Die große Reform des Aktienrechts im Jahr 1965 hat mit der hervorgehobenen Stellung des Vorstandsvorsitzenden (bewusst) gebrochen. Aus der Vorschrift des § 77 Abs. 1 Satz 2, 2. Hs. AktG ergibt sich, dass dem Vorstandsvorsitzenden eine besondere Position (abgesehen vom Repräsentationsbereich71) heute nicht mehr zusteht72. Er ist vielmehr nur primus inter pares, nicht mehr und nicht weniger. Zwar ist mit der Position des Vorstandsvorsitzenden eine gewisse Aufsichtspflicht gegenüber den anderen Vorstandsmitgliedern verbunden. Größere Befugnisse als den übrigen Mitgliedern stehen dem Vorstandsvorsitzenden jedoch nicht zu. Dementsprechend kann sein Handeln oder Unterlassen bezüglich der übrigen Vorstandsmitglieder auch nicht haftungsrechtlich entlastend wirken. Man könnte heute geneigt sein, diesem Standpunkt des Gesetzes vorzuwerfen, er sei lebensfremd; an der besonderen Position des Vorstandsvorsitzenden führe nun einmal zumindest de facto kein Weg mehr vorbei. In der Tat gibt es natürlich „starke Vorstandsvorsitzende“, denen entgegenzutreten nicht jedermann wagt73. Das ist aber das persönliche Schicksal desjenigen, der bereit ist, „unter“ einem solchen Vorstandsvorsit-
__________ 69 Fleischer, ZIP 2003, 1 (7); Schiessl, ZGR 1992, 64; s. auch Schwark, ZHR 142
(1978), 203. 70 Ausführlich dazu Hein, ZHR 166 (2002), 464; ders., RIW 2002, 501; s. auch Frühauf,
ZGR 1998, 407. 71 S. etwa T. Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (662). 72 T. Bezzenberger, ZGR 1996, 661. 73 Aufschlussreich dazu Riegger in FS Peltzer, 2001, S. 339 ff. (347 f.).
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zenden ein Vorstandsamt anzunehmen und wahrzunehmen. Rechtlich ändert dies an der gleichrangigen Verantwortlichkeit der einzelnen Vorstandsmitglieder nichts. Jedenfalls dort, wo es um die Rechtswidrigkeit des Handelns des Vorstandsvorsitzenden geht, kann man die übrigen Vorstandsmitglieder nicht nur nicht entlasten, sondern man wird ihnen im Gegenteil im Hinblick auf die faktische Machtposition des Vorstandsvorsitzenden zum Zwecke der Kontrolle besondere Sorgfaltspflichten auferlegen müssen. Das Unterlassen einer Auflehnung gegen ein pflichtwidriges Verhalten des Vorstandsvorsitzenden wäre ebenfalls pflicht- und rechtswidrig. Das Aktienrecht sieht also de lege lata eine jedenfalls im Modell vernünftige und funktionsfähige Kontrolle durch die Vorstandsmitglieder untereinander vor. 4. Exkurs: Mitbestimmung Neben der gegenseitigen Kontrolle der peers im Vorstand tritt die externe Kontrolle durch den Aufsichtsrat. Trotz aller Kritik an der mangelnden Effektivität der Aufsichtsratsarbeit ist davon auszugehen, dass dieser Filter eine deutlich höhere schadenspräventive Wirkung hat als die Androhung der Organhaftung und darüber hinaus auch dazu führt, dass der Vorstand ein kritisches Publikum von seinen Konzepten überzeugen muss. An der Effektivität dieses Kontrollelements werden freilich immer wieder Zweifel auch im Hinblick auf die unternehmerische Mitbestimmung im Aufsichtsrat formuliert. Es hat sicherlich nicht zur Klärung der Probleme beigetragen, dass dieser Aspekt der Unternehmensverfassung in der Corporate-Governance-Diskussion zunächst bewusst tabuisiert worden ist. Immerhin setzt sich jedoch allmählich die Erkenntnis durch, dass erst ein Abschied von politisch verordneten Denkverboten die Chance eröffnet, zu den echten Problemen vorzustoßen und tragfähige Lösungswege zu entwickeln. Die Bandbreite der Positionen ist bekannt: Auf der einen Seite wird argumentiert, dass die Anteilseignervertreter ihren Vorstand in Gegenwart der Arbeitsnehmervertreter nicht scharf angehen können, was dem Vorstand teilweise sogar die Chance eröffne, die Arbeitnehmervertreter gegen die Anteilseignervertreter auszuspielen. Sehr viel seltener wird thematisiert, dass der Vorstand, der im operativen Geschäft die Arbeitgeberfunktion gegenüber den Arbeitnehmervertretern aus dem Betrieb wahrnimmt, denselben Betriebsratsvorsitzenden aber im Aufsichtsrat in der Rolle des stellvertretenden Vorsitzenden wiedersieht, in einer üblen Zange ist, die ihn nicht gerade zu kostensparenden, unpopulären Maßnahmen inspirieren wird. Auf der anderen Seite darf aber auch nicht außer Betracht bleiben, dass die aus dem Betrieb stammenden Arbeitsnehmervertreter häufig die internen Verhältnisse im Unternehmen aus eigener Anschauung kennen und infolgedessen die Präsentation des Vorstands sehr viel besser hinterfragen können als die Anteilseignervertreter.
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5. Fazit Auch wenn Anspruch und Wirklichkeit sicherlich häufig auseinander liegen, bleibt doch das deutsche Modell einer gestuften Kontrolle auf der Grundlage eines dualistischen Systems ergänzt durch das Prinzip der Gesamtverantwortung des Vorstands auch de lege ferenda diskussionswürdig. Ob daneben eine Aktivierung der Organhaftung wirklich förderlich ist, erscheint nach dem derzeitigen Diskussionsstand durchaus zweifelhaft. Wichtiger wäre es, die Aufmerksamkeit stärker auf die Frage zu lenken, ob es Möglichkeiten gibt, die Besetzung von Vorständen und Aufsichtsräten mit mutigen und unabhängigen Persönlichkeiten so zu stimulieren, dass das geltende Kontrollmodell seine Potentiale tatsächlich zugunsten der Anteilseigener und anderer stakeholder entfalten kann.
V. Ausblick Die zahlreichen neuen Regelungsansätze, die im weitesten Sinne unter der Flagge der Corporate-Governance-Bewegung fahren, werfen eine Fülle von schwierigen neuen Fragen auf und führen infolgedessen in nicht unerheblichem Umfang auch zu Rechtsunsicherheit. Den Juristen wird das zunächst kaum stören. Gerade der typische gute Jurist, der sich den akademischen Spieltrieb erhalten hat, brennt darauf, Probleme auch zu entdecken, aufzupusten und schließlich – wie durch Zauberhand – wieder verschwinden zu lassen. Unklarheiten ziehen ihn geradezu magisch an, sozusagen von Natur aus, nicht nur weil sie Beratungsbedarf generieren. Der Wirtschaftsjurist verliert allerdings häufig im Laufe seiner Berufstätigkeit seine Problemfindungseuphorie. Zwar ist er für den Unternehmer um so unentbehrlicher, je schwieriger die auftauchenden Rechtsfragen sind. Er weiß jedoch, dass so viel Recht dem Geschäft nicht unbedingt gut tut. Jede Minute, die der Vorstand mit Rechtsfragen beschäftigt ist, widmet er sich eben nicht dem Markt, seinen Produkten, seinen Kunden, seiner Konkurrenz. Die zentrale Kontrollfrage für aktuelle Reformprojekte müsste daher lauten, ob es wirklich erforderlich ist, den bereits bestehenden Regeln noch weitere hinzuzufügen und damit die ohnehin schon hohe Regelungsdichte und Komplexität weiter zu erhöhen74. Nur so besteht die Chance, Systeme zu entwickeln, zu erhalten und zu pflegen, die einerseits ausreichend Transparenz und Überwachung gewährleisten, andererseits aber auch funktionsfähige Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches und damit notwendig auch risikofreudiges unternehmerisches Handeln bieten. Lässt man die Gesamtheit der in den letzten Jahren schon realisierten und noch geplanten Vorhaben auf dem Gebiet des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts Revue passieren, dann drängt sich die Frage
__________ 74 Entsprechend Röhricht (Fn. 1), S. 193 zur Beschränkung höchstrichterlicher Rechts-
fortbildung.
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auf, ob nicht bereits jetzt die Gefahr einer Verfehlung dieser zentralen Zielstellung besteht: Die einzelnen Vorhaben mögen für sich genommen jeweils ein berechtigtes Anliegen haben und theoretisch geeignet sein, den Schutz des Unternehmens und damit auch der Anleger zu fördern; in der Summe ist die Perspektive einer Überregulierung aber kaum noch von der Hand zu weisen.
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Dauer und Wegfall des Sanierungsprivilegs bei Scheitern der Sanierung Inhaltsübersicht I. Zur Entstehung des § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG II. Bisherige praktische Bedeutung der Vorschrift 1. Stand der Judikatur 2. Gründe für die mangelnde Aktualität III. Zur zeitlichen Erstreckung des Sanierungsprivilegs IV. Rechtslage nach erfolgreicher Sanierung
V. Rechtslage nach gescheiterter Sanierung 1. Bei alsbaldigem Kreditabzug oder alsbaldiger Liquidation 2. Bei Kreditbelassung und unterbleibender Liquidation a) Meinungsstand b) Stellungnahme c) Folgerungen VI. Zusammenfassung
I. Zur Entstehung des § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG Das am 1.5.19981 in Kraft getretene Sanierungsprivileg des § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG ist nunmehr seit sieben Jahren geltendes Recht. Die Art und Weise der Entstehung der Vorschrift, die – anders als sonst üblich – „unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne den Rat von Wissenschaft und Praxis“2 geschaffen worden ist, war deswegen damals schon auf Kritik gestoßen3. Aber auch in der Sache waren die Reaktionen in der sogleich einsetzenden Diskussion überwiegend ablehnend, war doch deutlich, dass der Privilegierungstatbestand einen klaren Eingriff in die Grundvorstellungen darstellte, auf denen das Gesamtsystem des Eigenkapitalersatzrechts beruhte4. Als eine Abkehr von diesem wurde die angestrebte Freistellung von Sanierungskrediten gerade auch von den Stimmen gesehen (und deshalb befürwortet), die dem Kapitalersatzrecht skeptisch gegenüberstanden5.
__________ Vgl. Art. 10, 14 KonTraG (BGBl. I S. 786). Seibert, GmbHR 1998, 309 (310). S. insbes. Dauner-Lieb, DStR 1998, 1517 ff. (S. 1518: „Nacht- und Nebelaktion“). Vgl. die Nachweise bei Dauner-Lieb in v. Gerkan/Hommelhoff (Hrsg.), Handbuch des Kapitalersatzrechts, 2. Aufl. 2002, Rz. 4.2 f. S. auch Hirte, ZInsO 1998, 147 (150 ff.); Altmeppen, ZGR 1999, 291 (296 ff.); Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, §§ 32a, 32b Rz. 192; v. Gerkan in Röhricht/Graf v.Westphalen, HGB, 2. Aufl. 2001, § 172a Rz. 82e. 5 Vgl. etwa Claussen, GmbHR 1996, 316 (323). 1 2 3 4
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Inzwischen weiß man, dass die Freistellung von den Regeln des Kapitalersatzrechts in § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG dazu gedient hat, den damals aus dem Kreis von Mittelstandspolitikern getragenen Bestrebungen entgegenzutreten, das nahezu zeitgleich eingeführte Kleingesellschafterprivileg (§ 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG) erheblich auszuweiten und auf eine Beteiligungsquote bis zu 25 % zu erstrecken6. Diese Tendenz ließ sich von der Vorstellung einer vermeintlichen Sanierungsfeindlichkeit7 – obwohl es sich bei dieser Etikettierung um eine Missdeutung handelt – der von der Rechtsprechung entwickelten und praktizierten Regeln zur Behandlung kapitalersetzender Gesellschafterkredite leiten; sie gipfelte in dem Vorwurf, die Rechtsprechung halte Banken und andere Kreditgeber „in zahlreichen Fällen davon ab, durch Beteiligung als Gesellschafter einen effizienten Beitrag zur Sanierung eines notleidenden Unternehmens zu leisten und auf diese Weise Insolvenzen zu verhüten“8. Hätten sich diese Bestrebungen durchgesetzt, wären die Regeln des Kapitalersatzrechts allerdings weithin von ihrer praktischen Relevanz entleert worden. So gewinnt der Anstoß zur Schaffung des § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG ungeachtet der besonderen Umstände seiner Geburt durchaus auch etwas Versöhnliches; und es kann in der Vorschrift eine Lösung erblickt werden, der mithin auch ein schadensbegrenzender Charakter innewohnt. Im Übrigen warf die neu geschaffene Regelung eine Vielzahl von Auslegungsfragen auf, die zu ausgedehnten Kontroversen im Schrifttum geführt haben. Der Gegenstand dieser Erörterungen, auf die an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, ist aus den Erläuterungswerken, Handbüchern und Zeitschriftenbeiträgen zu erkennen, die sich mit der Bedeutung und der Reichweite des § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG befassen.
II. Bisherige praktische Bedeutung der Vorschrift 1. Stand der Judikatur Mittlerweile – und ohne dass dies eigentlich so zu erwarten war – ist es um die entstandenen Streitfragen aber überaus still geworden. Die Rechtsprechung, jedenfalls soweit sie veröffentlicht ist, hat bislang kaum Gelegenheit gehabt, etwas zur Aufhellung der Zweifelsfragen beizutragen. Als für die Rechtspraxis geklärt darf man allerdings annehmen, dass die Privilegierung nur für Tatbestände eingreift, bei denen der Erwerb der Sanierungsbeteiligung in die Zeit nach dem In-Kraft-Treten von § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG
__________ S. die Darstellung bei Dauner-Lieb, DStR 1998, 1517 (1518). Dazu, dass es sich bei der unterstellten Sanierungsfeindlichkeit um eine Missdeutung handelt, vgl. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt/Uhlenbruck (Hrsg.), Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2003, Rz. 399. 8 So die Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf des Dritten Finanzmarktförderungsgesetzes, BT-Drucks. 13/8933, S. 180. 6 7
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fällt. Denn hier kann schwerlich etwas anderes als für das Kleingesellschafterprivileg in Abs. 3 Satz 2 gelten. Zu diesem haben der Bundesgerichtshof9 und – davor schon – das OLG Brandenburg10 entschieden, dass eine Rückwirkung des Privilegs auf Tatbestände vor In-Kraft-Treten der Vorschrift mangels einer dies etwa ermöglichenden Übergangsvorschrift nicht in Betracht komme. Für das Sanierungsprivileg kann das dann nichts anders gesehen werden11. Des Weiteren liegt noch eine Entscheidung des OLG Düsseldorf12 vor, die – im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den vorherrschenden Meinungen im Schrifttum13 – ausführt, dass die Darlehensgewährung dem Beitritt nicht notwendigerweise zeitlich vorangehen müsse, obschon der Beteiligungserwerb im Zusammenhang mit dem Sanierungszweck stehen müsse. Die Entscheidung führt im Übrigen aus, dass es für die Bewertung der Sanierungsfähigkeit der Gesellschaft auf die Sicht eines ordentlichen Geschäftsmannes ankomme. 2. Gründe für die mangelnde Aktualität Das Abflauen bei der Aktualität der Materie, die doch anfangs die Aufmerksamkeit der Fachwelt in so hohem Maße auf sich gezogen hatte, ist in der Tat recht auffällig14, ohne dass aber die Gründe hierfür so recht klar sind. Es spricht allerdings einiges dafür, dass das Bedürfnis, das Sanierungsprivileg wahrzunehmen, deshalb gering geblieben ist, weil der Weg, den Kapitalersatzregeln über das Kleingesellschafterprivileg oder darüber hinaus – so für Kreditinstitute – über die Freistellung der Unternehmensbeteiligungsgesellschaften gemäß § 24 UBGG auszuweichen, weiter gehende Wünsche doch wohl kaum noch offen lässt, und zwar auch ohne dass es zu einer Ausweitung des Kleingesellschafterprivilegs auf Beteiligungen bis zu 25 % gekommen ist. Eine Rolle mag in diesem Zusammenhang auch spielen, dass die Attraktivität der Regelung in § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG als einer effizienten Sanierungshilfe problematisch ist15. Hingegen spricht wenig für die Möglichkeit, dass die im Schrifttum entstandenen Kontroversen zur Auslegung
__________ 9 BGH, Urt. v. 27.11.2000 – II ZR 179/99, ZIP 2001, 115 (116). 10 OLG Brandenburg, Urt. v. 19.2.2000 – 6 U 298/98, WM 2003, 132 (136); die hierge-
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gen eingelegte Revision ist durch Beschl. des BGH v. 29.5.2002 – III ZR 299/01 – nicht angenommen worden. Im gleichen Sinne auch OLG Stuttgart, Urt. v. 13.2.2002 – 20 U 67/01, GmbHR 2002, 1072. Teilweise missverständlich aber LG Erfurt, Urt. v. 8.8.2001 – 3 HKO 400/00, ZIP 2001, 1673 (1676). OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.12.2003 – I–17 U 77/03, ZIP 2004, 508 (509 ff.). Vgl. bei Dauner-Lieb (Fn. 4), Rz. 4.43 f., 4.54. S. bereits Götz/Hegerl, DB 2000, 1385 (1389 f.); Karsten Schmidt, GesRZ 2004, 75 (77); Penz, GmbHR 2004, 529. Vgl. im Einzelnen bei Karsten Schmidt (Fn. 7), Rz. 400 ff.; Götz/Hegerl, DB 2000, 1385.
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der Vorschrift bei der Abwicklung von Insolvenzen in der Vergangenheit so wenig Anlass zum Streit gegeben hätten, dass es deshalb dazu bislang nur zu so spärlichen Judikaten gekommen ist.
III. Zur zeitlichen Erstreckung des Sanierungsprivilegs In dieser Situation bestünde derzeit an sich wenig Anlass, die entstandenen und noch offenen Unklarheiten und Kontroversen bei den Privilegierungsvoraussetzungen aufzugreifen. Doch in einem Punkte liegt das dennoch nahe, nämlich im Hinblick auf die Frage nach der zeitlichen Erstreckung des Sanierungsprivilegs in die Zukunft. Denn die damit verbundene Problematik wird sich vielfach erst geraume Zeit nach der Entstehung einer Unternehmenskrise aktualisieren und so ggf. erst zu einem späteren Zeitpunkt ein Feld möglicher Auseinandersetzungen eröffnen. Aufmerksamkeit verdient die Frage darüber hinaus auch insoweit, als die Diskussion hierzu – im Gegensatz zu den sonstigen Zweifelsfragen des Privilegierungstatbestandes, die durchweg recht gründlich erörtert worden sind – noch längst nicht alle Aspekte thematisiert hat. Es geht dabei darum, ob und inwieweit ein privilegierter Kredit diese Qualität etwa über den Zeitraum hinaus behält, in welchem die Sanierung betrieben wird. Bei dieser Fragestellung ist natürlich zu unterscheiden, ob die Sanierung erfolgreich abgeschlossen worden ist oder ob sie sich am Ende als gescheitert herausstellt.
IV. Rechtslage nach erfolgreicher Sanierung Im ersteren Falle liegt das Ergebnis noch relativ klar auf der Hand. Denn mit dem Erfolg einer Sanierung, durch die die Gesellschaft ihre Kreditwürdigkeit wiedererlangt hat, entfallen die Voraussetzungen für eine fortdauernde Privilegierung, da die Frage einer Einordnung von Gesellschafterkrediten als Kapitalersatz in dem erreichten Finanzierungszustand schlechthin gegenstandslos geworden ist; für sie bleibt kein Raum mehr. Der bisherige Sanierungskredit weist nunmehr keine andere Qualität mehr auf als jeder sonstige Gesellschafterkredit. Das bedeutet, dass einem früher einmal privilegierten Kredit, wird er in einer etwaigen späteren (neuen) Finanzierungskrise stehen gelassen, dann auch keine abweichende Behandlung gegenüber anderen Gesellschafterkrediten zuteil werden kann, die der Gesellschaft in der Krise weiterbelassen werden. Das ist auch der Standpunkt der deutlich überwiegenden Meinung16. An Gegenstimmen hierzu lassen sich nur wenige konsta-
__________ 16 S. etwa Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 200; Fastrich in
Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 32a Rz. 19; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, §§ 32a/b Rz. 87; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, Bd. 3, 2002, § 172a Rz. 20; Dauner-Lieb (Fn. 4), Rz. 4.60 (s. dort in Fn. 169 f., 172 f.);
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tieren17. Allerdings wird man bei der Frage einer etwaigen Umqualifizierung zu Kapitalersatz hier zu beachten haben, dass von einer neuen Krise nur gesprochen werden kann, wenn die frühere Krise durch die Sanierung wirklich behoben war. War die Konsolidierung hingegen nur scheinbar erfolgreich gewesen und schwelte die Krise in Wahrheit weiter, so ließe sich noch nicht von einer abgeschlossenen Sanierung reden; die Privilegierung des Kredits bliebe dann weiter bestehen, bis sich das Schicksal der Sanierungsbemühungen abschließend entschieden hat. Konstellationen dieser Art werden namentlich dann in Betracht zu ziehen sein, wenn es nach einer vermeintlichen Erholung des Unternehmens alsbald danach wieder zu einer Schieflage kommt, ohne dass dafür bestimmte erst jetzt aufgetretene Umstände oder Entwicklungen verantwortlich gemacht werden können.
V. Rechtslage nach gescheiterter Sanierung Wie steht es aber mit dem Fortbestand der Freistellung, wenn die Sanierungsbemühungen gescheitert sind? 1. Bei alsbaldigem Kreditabzug oder alsbaldiger Liquidation Hier ist es wiederum unproblematisch, wenn unverzüglich, nachdem der Misserfolg der Sanierung deutlich geworden ist, der Kredit abgezogen wird oder die Liquidierung des Unternehmens – in der Regel wohl durch Einleitung des Insolvenzverfahrens – betrieben wird18. Es versteht sich, dass der privilegierte Kredit hierbei seine Sonderstellung auch für das Insolvenzverfahren behält, denn darin liegt ja gerade der Sinn der Privilegierung, die ihm das Gesetz zuerkennt. Hier ist auch klar, dass dies auch für die Überwachungsphase im Falle eines bestätigten Insolvenzplans gilt, und zwar auch dann, wenn der Kredit nicht in den Kreditrahmen gemäß § 264 Abs. 1 InsO aufgenommen ist. Und die Privilegierung setzt sich darüber hinaus auch für ein nach einem Abbruch der Überwachung eingeleitetes neues Insolvenzverfahren i. S. v. § 266 Abs. 1 InsO fort. Hier kommt es jeweils nicht zu einer Rückstufung des Kredits in die Rangklasse des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO.
__________ Rümker/Denicke in FS Lutter, 2000, S. 665 (682 f.); Hirte (Fn. 4), S. 151; Casper/ Ullrich, ZIP 2000, 472 (481 f.); v. Gerkan in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, § 172a Rz. 82e. 17 Obermüller, ZInsO 1998, 51 (53); Früh, GmbHR 1999, 842 (847); Wittig in FS Uhlenbruck, 2000, S. 685 (694 f.); Jung in Welf Müller/Hense (Hrsg.), Beck’sches Handbuch der GmbH, 3. Aufl. 2002, § 8 Rz. 215. 18 Dauner-Lieb (Fn. 4), Rz. 4.61; Lehner, Sanierungsprivileg (§ 32a Abs. 3 S. 3 GmbHG), 2001, S. 184 ff.; Pichler, WM 1999, 411 (418).
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2. Bei Kreditbelassung und unterbleibender Liquidation Anders sieht es dagegen aus, wenn eine Liquidierung des erfolglos sanierten Unternehmens unterbleibt und der Sanierungsgesellschafter auch nicht auf andere Weise sein Kreditengagement bei der nicht mehr sanierungsfähigen Gesellschaft beendet. a) Meinungsstand Betrachtet man hierzu das einschlägige Schrifttum, so fällt auf, dass dieser Situation – anders als der bei einer gelungenen Sanierung – weithin kaum Beachtung geschenkt wird; nur wenige Stimmen haben bislang ihr Augenmerk auf sie gerichtet. Dabei hätte gerade diese Konstellation die größere praktische Relevanz, muss man doch davon ausgehen, dass in einer Reihe von Fällen, in denen einer Sanierung zunächst Aussicht auf ein Gelingen beizumessen war, dann doch die erstrebte Erholung am Ende ausbleibt und das Unternehmen keinen Ausweg mehr aus der Krise findet. Hier haben sich Dauner-Lieb19 und der Verfasser dieses Beitrags20 dafür ausgesprochen, dass der Sanierungsgesellschafter nunmehr vor die Wahl gestellt ist, ob er sein Kreditengagement beendet, ggf. durch Einleitung des Insolvenzverfahrens, oder ob er seinen Kredit der Gesellschaft ungeachtet des Scheiterns der Sanierungsbemühungen weiterbelässt. Letzterenfalls ist dann für ihn die Interessenlage nicht verschieden von der eines Gesellschafters, der ein der Gesellschaft in noch gesunder wirtschaftlicher Lage gewährtes Darlehen nach für ihn erkennbarem Eintritt der Finanzierungskrise und nach Verstreichen einer ihm einzuräumenden Überlegungsfrist stehen lässt und damit eine Umqualifizierung seines Kredits zu Eigenkapitalersatz hinnehmen muss21. Demgegenüber machen Lutter/Hommelhoff22 geltend, dass es schwierig sei, den Zeitpunkt des Scheiterns einer Sanierung hinreichend präzise festzustellen. Ferner entfalle mit einem Disengagement des Sanierungsgesellschafters der Anreiz für andere, sich an der Sanierung zu beteiligen. Zudem werde das Eigeninteresse des Sanierers diesen veranlassen, die Sanierungsbemühungen nicht schleifen zu lassen. Ihm könne allenfalls eine Haftung wegen Insolvenzverschleppung drohen. b) Stellungnahme Die angeführten Gegenargumente können jedoch nicht überzeugen. Sie gehen zum Teil insofern an der hier zu betrachtenden Sachlage vorbei, als wir
__________
19 Dauner-Lieb (Fn. 4), Rz. 4.61. 20 v. Gerkan in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, § 172a Rz. 82e. 21 S. dazu die ständige Rechtsprechung des BGH: Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 270/73,
BGHZ 127, 336 (341, 345 ff.); Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 19/97, ZIP 1998, 1552 (1553). 22 Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 88.
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es hier nur mit als abschließend gescheitert zu beurteilenden Sanierungen zu tun haben. Es handelt sich also um Konstellationen, in denen der Misserfolg der Sanierung nicht mehr zweifelhaft ist und deshalb auch kein Raum mehr für Anreize für etwaige Dritte ist, sich noch an der Sanierung zu beteiligen. Und ebenso kann hier auch das Eigeninteresse des Sanierungsgesellschafters, in den Sanierungsbemühungen nicht nachzulassen, keine Rolle mehr spielen, wenn die Aussichten auf eine erfolgreiche Sanierung entfallen sind. Im Übrigen ist es natürlich richtig, dass der Bestimmung des Zeitpunktes, von dem an eine Sanierung als gescheitert gelten muss, im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen können. Doch als Argument dafür, der Sachfrage deshalb aus dem Wege zu gehen, kann der Hinweis auf diese Schwierigkeiten nicht durchschlagen. Denn Hindernisse vergleichbarer Art hat die Rechtspraxis in der Vergangenheit eigentlich immer recht gut bewältigt, denkt man nur an die in vielen Fällen aktuell gewordene Frage, auf welchen Zeitpunkt etwa der Eintritt der Kreditunwürdigkeit einer Gesellschaft festzustellen sei. Die Antwort hierauf war ja jeweils von ausschlaggebender Bedeutung für die sich anschließenden Überlegungen, wann im Gefolge der entstandenen Krise ein kreditgebender Gesellschafter den Eintritt der Kreditunwürdigkeit hat erkennen können und damit die Überlegungsfrist für ihn anlief, ob er seine Kreditgewährung beenden oder fortbestehen lassen sollte. Diese Problematik hatte bei der praktischen Handhabung der Kapitalersatzregeln stets eine hohe Relevanz, bedenkt man, dass die Fälle der stehen gelassenen Gesellschafterdarlehen in der Rechtswirklichkeit den zahlenmäßig weitaus größten Teil der eigenkapitalersetzenden Kredite ausgemacht haben. Da der Eintritt der Krise vielfach kein plötzliches Ereignis zu sein pflegt, sondern typischerweise einen sich allmählich vollziehenden, von mancherlei Unwägbarkeiten und Unsicherheiten geprägten Vorgang im Rahmen des wirtschaftlichen Schicksals eines Unternehmens darstellte, war es vielfach nicht möglich, einen einigermaßen genauen Termin als maßgeblich zu ermitteln. Das hat für die Praxis aber kaum je einmal zu unübersteigbaren Schwierigkeiten geführt. Denn es hat sich eigentlich immer ein Weg gefunden, einen Zeitpunkt anzunehmen, zu dem spätestens an einer eingetretenen Kreditunfähigkeit nicht mehr zu zweifeln war. Damit waren dann die in Betracht kommenden Fälle jeweils angemessen zu lösen. Für die Feststellung des Scheiterns einer Sanierung werden ähnliche Erwägungen zum Zuge kommen können. Insbesondere wird von einem Scheitern noch nicht zu sprechen sein, wenn noch einigermaßen vertretbare Sanierungsbemühungen möglich sind und auch unternommen werden. Das gilt auch dann, wenn ihnen nicht mehr unbedingt der gleiche Grad an Erfolgsaussicht beizumessen wäre, wie dies für den Beginn der Sanierung noch angebracht gewesen sein mag. Erst dann, wenn von keiner vernünftigen verbleibenden Chance mehr für eine Erholung des Unternehmens von der Krise ausgegangen werden kann, wäre es gerechtfertigt, das Scheitern einer Sanierung zu konstatieren. 111
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c) Folgerungen Es fehlt damit an Gründen, die für eine perpetuierte Freistellung eines Sanierungsdarlehens sprechen könnten, wenn die Sanierung fehlgeschlagen ist. Eine solche Perpetuierung hätte schon deshalb keine Plausibilität für sich, weil auch ein gemäß Insolvenzplan mit Vorrang nach § 264 Abs. 1 InsO ausgestatteter Kredit seine Sonderstellung jedenfalls mit dem Ende eines sich nach einem Abbruch der Überwachung anschließenden neuen Insolvenzverfahrens (§ 266 InsO) verliert23. Darüber hinaus ist die Gleichstellung des Sanierungsgesellschafters mit einem Gesellschafter, dessen Darlehen die Umqualifizierung zu Kapitalersatz droht, weil die Gesellschaft in die Krise geraten ist und er sich in dieser Lage entscheiden muss, ob er sein Kreditengagement beendet oder das Darlehen der Gesellschaft – nunmehr als Kapitalersatz – weiterbelässt, aber auch in der Sache gerechtfertigt. In beiden Fällen haben wir die Situation, dass eine nach marktüblichen Kriterien kreditunwürdige Gesellschaft nur noch vermittels der Finanzierungshilfe des Gesellschafters weiterexistieren kann – mit allen drohenden Konsequenzen wie der einer Verschleppung der Krise unter Verwirtschaftung der restlichen noch vorhandenen Vermögenssubstanz und damit der Überwälzung des unternehmerischen Risikos auf die Unternehmensgläubiger24. Hier greift jeweils die gesellschafterliche Finanzierungsfolgenverantwortlichkeit25 ein, der sich auch der Sanierungsgesellschafter nicht mehr entziehen darf. Die gegenteilige Meinung liefe demgegenüber darauf hinaus, dass eine aus eigener Kraft nicht mehr lebensfähige Gesellschaft vermittels eines Gesellschafterkredits, der in einem früheren Stadium unter ganz anderen Begleitumständen einmal privilegiert war, künftig verantwortungs- und haftungsfrei fortgeführt werden könnte – und dies prinzipiell ohne zeitliche Einschränkung. Das wäre nicht zu rechtfertigen. Auch hier ist es für den betreffenden Gesellschafter nicht unzumutbar, sich zu entscheiden, ob er in dieser Lage sein Kreditengagement aufrechterhalten oder beenden will. Voraussetzung für eine die berechtigten Interessen aller Beteiligten wahrende Lösung muss allerdings sein, dass dem Sanierungsgesellschafter – ebenso wie einem Gesellschafter beim Stehenlassen eines Kredits – die entstandene Situation bekannt oder wenigstens erkennbar ist und er damit in den Stand versetzt wird, auf sie zu reagieren. Soweit es sich dabei um die Kenntnis oder Erkennbarkeit der Krisenlage als solcher geht, ergeben sich keine zusätzlichen Fragen. Ohnehin ist regelmäßig davon auszugehen, dass ein Gesellschafter imstande ist, sich Klarheit über den Finanzierungszustand der
__________ 23 Drukarczyk in MünchKomm.InsO, Bd. II, 2002, § 264 Rz. 9, § 266 Rz. 13; Lüer in
Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 254 Rz. 25, § 266 Rz. 1. 24 S. im Einzelnen hierzu: BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, BGHZ 90, 381 (388 f.);
Röhricht in StbJb 1991/92, S. 313 (318 f.). 25 Vgl. BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 270/93, BGHZ 127, 336 (344 f.).
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Gesellschaft zu verschaffen26. Dies wäre hier um so weniger problematisch, als das Engagement des Sanierungsgesellschafters ja gerade eingegangen worden ist, um der entstandenen Krisenlage zu begegnen. Doch kann die Kenntnis oder Erkennbarkeit der Krise allein hier noch nicht ausreichen. Vielmehr ist es darüber hinaus erforderlich, dass der Sanierungsgesellschafter auch Zugang zu der Erkenntnis hat, dass die Sanierung gescheitert ist27. Denn nur wenn ihm die Kenntnis oder Erkennbarkeit des Scheiterns zugerechnet werden kann, kann ihm die Entscheidung abverlangt werden, ob er sich von seinem Kreditengagement lösen will oder ob er die nicht mehr lebensfähige Gesellschaft vermittels der Belassung des Kredits fortbestehen lassen will. Entscheidet er sich für Letzteres, erlangt sein Kredit dann aber Haftkapitalfunktion. Es versteht sich in diesem Zusammenhang auch, dass ihm für seine Entscheidung eine Überlegungsfrist von angemessener Dauer zuzubilligen ist. Diese wird sich auch hier regelmäßig an der Drei-Wochen-Frist des § 64 Abs. 1 GmbHG28 orientieren können. Damit aber wären die Belange des Sanierungsgesellschafters angemessen gewahrt.
VI. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass die Privilegierung eines Sanierungsdarlehens außer im Falle eines erfolgreichen Abschlusses der Sanierung dann ausläuft, wenn die Sanierung in für den Sanierungsgesellschafter erkennbarer Weise gescheitert ist und er seinen Kredit der Gesellschaft ohne deren Liquidierung auch nach Ablauf einer ihm zuzubilligenden angemessenen Überlegungsfrist weiter zur Verfügung belässt.
__________ 26 Zur Rechtsprechung hierzu vgl. BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 270/93, BGHZ 127,
336 (344 ff.); Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 17/97, ZIP 1998, 1552. 27 Vgl. bereits Lehner (Fn. 18), S. 186. 28 S. dazu BGH, Urt. v. 19.12.1994 – II ZR 10/94, ZIP 1995, 280 (281); Urt. v. 15.6.1998 –
II ZR 17/97, ZIP 1998, 1552 (1553).
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Zur entsprechenden Anwendung des § 242 Abs. 2 AktG im GmbH-Recht Inhaltsübersicht I. Einleitung – der Ausgangsfall II. Reaktionsmöglichkeiten der Gesellschafter der GmbH 1. Fallgestaltungen 2. Austrittsrecht 3. Antrag an das Registergericht, nach §§ 142 ff. FGG tätig zu werden 4. Satzungsänderung und Zustimmungspflicht
5. Zwischenergebnis III. Zur ratio des § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG 1. Entstehungsgeschichte 2. Teleologische Betrachtung 3. Die registergerichtlichen Befugnisse im Eintragungsverfahren IV. Ergebnis
I. Einleitung – der Ausgangsfall Der II. Zivilsenat hatte am 19.6.20001 über folgenden Fall zu befinden: Die beklagte GmbH war mit einem Stammkapital von 120000 DM ausgestattet. Der Kläger hielt zwei Geschäftsanteile im Nominalwert von 40000 DM. Bei der Sparkasse X hatte er Schulden in Höhe von mehr als 570000 DM. Wegen dieser Forderung ließ die X die Geschäftsanteile des Klägers pfänden und sich zur Einziehung überweisen. Die Beklagte zahlte daraufhin die von ihr auf 88400 DM festgesetzte Abfindungssumme an die X aus. Ihre Gesellschafterversammlung fasste, gestützt auf § 5 Abs. 3 der Satzung der Beklagten, den Beschluss, den Geschäftsanteil des Klägers zum „Steuerkurswert“ – damit ist der „steuerliche Einheitswert“ gemeint – einzuziehen. Die genannte Bestimmung lautet: „Sofern ein Geschäftsanteil gepfändet wird …, ist die Gesellschaft befugt, den Geschäftsanteil zum Steuerkurswert zwecks Einziehung zu erwerben.“
Für den Fall der Ausschließung eines Gesellschafters enthält die Satzung der Beklagten dagegen keine Regelung hinsichtlich der Höhe der Abfindung, so dass in diesem Fall der betreffende Gesellschafter zum Verkehrswert abzufinden ist. Der Kläger hat diesen Beschluss angefochten. Er hat die Abfindungsregelung der Satzung für nichtig gehalten und geltend gemacht, der wirkliche Wert
__________ 1
BGHZ 144, 365 ff.; s. dazu Zöllner, DNotZ 2001, 872; Emde, ZIP 2000, 1753; Kleindiek, WuB II C § 242 AktG 1.01; Heidenhain, LM AktG 1965 § 242 Nr. 6; Goette, DStR 2000, 1445.
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seiner Beteiligung mache rund 1,6 Mio. DM aus. Nach dem Vortrag der Beklagten weist der Jahresabschluss für das Jahr 1997 – nach Auszahlung des von ihr ermittelten Abfindungsguthabens des Klägers an die X – einen Überschuss von nur noch rund 18000 DM aus. Die Revision des Klägers, der in den Vorinstanzen unterlegen war, führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Der Senat ist dem Kläger zwar darin gefolgt, dass die satzungsrechtliche Abfindungsregelung, weil auf Vereitelung der Gläubigerbefriedigung abzielend, nach § 138 BGB nichtig2 sei, er hat dem Kläger die Berufung hierauf aber mit der folgenden, im ersten Leitsatz der Entscheidung zusammengefassten Erwägung versagt: „Die Regelung des AktG § 242 Abs. 2 findet auf nichtige Bestimmungen der Ursprungssatzung sowohl im Aktienals auch im GmbH-Recht entsprechende Anwendung.“ Allein wegen der – tatrichterlich ungeklärten, für das Revisionsverfahren aber als richtig zu unterstellenden – Behauptung des Klägers, die Gesellschaft habe das von ihr selbst ermittelte Abfindungsguthaben nicht aus ungebundenem Vermögen leisten können, so dass der Zwangseinziehungsbeschluss wegen Verstoßes gegen § 34 Abs. 3 GmbHG nichtig3 sei, hatte die Revision Erfolg. Der Senat wendet danach § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG in doppelter Analogie an: Die für bestimmte zwar nichtige, aber in das Handelsregister eingetragene Beschlüsse der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft getroffene Anordnung, dass die Nichtigkeit nach Ablauf von drei Jahren „nicht mehr geltend gemacht werden“ kann, soll nicht nur in gleicher Weise für nichtige Regeln der Ursprungssatzung der Aktiengesellschaft gelten, sondern diese Regelungen sollen uneingeschränkt auch im GmbH-Recht Anwendung finden. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Folgerungen sich aus dieser durchaus kritisch aufgenommenen4 Judikatur ergeben: Gerade für die Gesellschafter einer GmbH mit ihrer typischerweise eher personalistischen Struktur stellt sich die Frage (dazu unten II.), ob sie diesen unbeabsichtigt oder gezielt5 herbeigeführten Zustand – sofern sie die Gesellschaft nicht ver-
__________ Vgl. dazu schon BGHZ 32, 151 (158); BGHZ 65, 22 (26). Vgl. BGHZ 9, 157 (173 f.); BGH, DStR 2001, 1898. Paradigmatisch Zöllner, DNotZ 2001, 872 (874 f.); wie der BGH aber z. B. Wiedemann in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1992 ff., § 181 Rz. 47; Hüffer in MünchKomm.AktG, Bd. 7, 2. Aufl. 2001, § 242 Rz. 6, 30 m. w. N. 5 Angesichts der nur beschränkten Prüfungspflicht und -befugnis des Registergerichts nach § 9c Abs. 2 GmbHG, die der auf die Beschleunigung des Eintragungsverfahrens fixierte Gesetzgeber sehenden Auges (BT-Drucks. 13/8444, S. 77 = Schumacher, Handelsrechtsreformgesetz, 1998, S. 195) eingeführt hat, ist die Gefahr nicht völlig von der Hand zu weisen, dass sich gutgläubige und weniger gut beratene Gesellschafter nach Jahren mit Satzungsklauseln konfrontiert sehen, deren Nichtigkeit nicht auf den ersten Blick erkennbar war; für die „Verwender“ solcher Klauseln ist das Risiko obendrein gering, weil selbst dann, wenn § 242 Abs. 2 AktG nicht greifen sollte, lediglich die allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen greifen. 2 3 4
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lassen wollen – auf Dauer hinnehmen müssen, etwa auf das vom Senat angeführte, seinem Ausgang nach ungewisse6 Verfahren nach § 142 bzw. bei Gesellschafterbeschlüssen nach § 144 Abs. 2 FGG beschränkt sind oder ob ein – notfalls im Klagewege zu verfolgender – Anspruch auf (Wieder)Herstellung rechtmäßiger Verhältnisse besteht; dabei gilt es, zunächst die überhaupt in Betracht zu ziehenden Fallgestaltungen in den Blick zu nehmen. Bejaht man einen solchen durchsetzbaren Anspruch auf Satzungsänderung, führt das im Ergebnis zu einer neben das Verfahren nach §§ 142, 144 FGG tretenden Aufhebung der „Heilungswirkung“ des § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG. Das gibt Anlass zur Besinnung auf die – nach der genannten Entscheidung allein in der Herstellung von Rechtssicherheit7 zu findenden – ratio der Vorschrift, die sachgerecht nicht ohne Berücksichtigung der präventiv wirkenden Prüfungsbefugnisse des Registergerichts bestimmt werden kann (dazu unten III.). Als Ergebnis (dazu IV.) wird sich zeigen, dass resignative Hinnahme der als „verfehlt“ bezeichneten gesetzlichen Regelung8 nicht angezeigt ist, jedenfalls aber die uneingeschränkte Übertragung der für andere Fallgestaltungen konzipierten aktienrechtlichen Vorschrift auf das GmbH-Recht zu rechtsethisch angreifbaren Ergebnissen führt und zusätzliche Gerichtsverfahren nach sich zieht, die im Interesse der Schonung der ohnehin überstrapazierten Ressourcen der Justiz vermieden werden sollten.
II. Reaktionsmöglichkeiten der Gesellschafter der GmbH 1. Fallgestaltungen Der Anwendungsbereich des § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG betrifft die in § 241 Nr. 1, 3 und 4 AktG aufgeführten Nichtigkeitsgründe; für das GmbH-Recht von Bedeutung sind indessen nur die in § 241 Nr. 3 und 4 AktG genannten Gründe. Die selteneren Fallgestaltungen, in denen sich die Nichtigkeit aus § 241 AktG Nr. 4 als dem gegenüber der engeren § 241 AktG Nr. 3 zu qualifizierenden Auffangtatbestand9 ergibt, sind dadurch gekennzeichnet, dass die betreffende Regelung nicht gegen Vorschriften verstößt, die im Wesentlichen
__________ S. dazu Stein, ZGR 1994, 472 (478 f.); im registerrechtlichen Schrifttum zu § 144 Abs. 2 FGG wird der dem Registergericht zukommende doppelte Ermessensspielraum – beim Aufgreifen des Sachverhalts und bei der Prüfung des öffentlichen Interesses – nachhaltig betont, vgl. z. B. Jansen, FGG, Bd. 2, 2. Aufl. 1970, § 144 Rz. 18 und 15; Winkler in Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl. 2003, § 144 Rz. 31; Keidel/Krafka/Willer, Registerrecht, 6. Aufl. 2003, Rz. 460; ferner BayObLG, DB 1991, 1976: nur eingeschränkte Ermittlungspflicht, ob ein Beschluss nichtig ist, Löschung nur, wenn Nichtigkeit „zweifelsfrei“ feststeht. 7 Anschluss an Geßler, ZGR 1980, 427 (453); offen gelassen noch BGHZ 99, 211 (217). 8 So Zöllner, DNotZ 2001, 872 (874 f.). 9 S. dazu Hüffer in MünchKomm.AktG, § 241 Rz. 68. 6
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im Interesse der Allgemeinheit erlassen worden sind, sondern ihrem Inhalt nach so anstößig ist, dass sie schlechterdings nicht hinnehmbar ist. Das kann auch dann angenommen werden, wenn nur die Gesellschafter selbst, nicht aber Dritte betroffen sind. Ein Beispielsfall ist etwa eine für sämtliche Fälle des Ausscheidens eines Gesellschafters getroffene Abfindungsregelung, die wegen überlanger ratenweiser Begleichung der Abfindungsschuld oder weil nur der halbe Buchwert geleistet werden soll10, sittenwidrig ist. In diese Kategorie wird man auch die gläubigerdiskriminierende Abfindungsklausel des Ausgangsfalls einordnen müssen: Schutzbedürftig sind hier nicht die Gläubiger der Gesellschaft, die § 241 AktG Nr. 3 im Auge hat, sondern diejenigen des einzelnen Gesellschafters, und eine spezielle Vorschrift, die deren Schutz als Anliegen des öffentlichen Interesses qualifiziert, ist nicht ersichtlich. Nach Zahl und Bedeutung ganz im Vordergrund stehen danach die Fälle, in welchen sich die Nichtigkeit einer Satzungbestimmung daraus ergibt, dass sie zur Wahrung öffentlicher Interessen erlassen worden sind (§ 241 Nr. 3 AktG) und zwingenden, der Dispositionsbefugnis der Gesellschafter entzogenen Charakter haben. Dazu11 gehören neben der vorgeschriebenen Firmenbezeichnung (§ 4 GmbHG12) vornehmlich eine Reihe von Vorschriften, die im Interesse des Schutzes der Gläubiger der Gesellschaft – z. B. durch die ordnungsgemäße Kapitalaufbringung und -erhaltung (§ 5 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 213, § 19 Abs. 2 und 3, §§ 21–24, 30–33, § 34 Abs. 3, § 55 Abs. 4 und § 58 GmbHG) – erlassen sind, den Geschäftsführer der Weisungsgebundenheit der Gesellschafterversammlung entziehen und ihm im öffentlichen Interesse bzw. im Interesse der Gesellschaftsgläubiger bestimmte Pflichten auferlegen (§ 43 Abs. 3 Satz 3, § 64 GmbHG), die der Sicherung unverzichtbarer Minderheitenrechte (§ 51a Abs. 3, § 5014, § 61 GmbHG) oder der Durchsetzung bestimmter Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz dienen. 2. Austrittsrecht Einem Gesellschafter, dem bei der Abfassung der Ursprungssatzung oder bei ihrer späteren Änderung entgangen ist, dass dieselbe eine nichtige Klausel enthält, oder der später einen Geschäftsanteil an einer derart verfassten GmbH erwirbt und sich sagen lassen muss, dass er sich wegen der analogen Anwendung des § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG auf diese Nichtigkeit nicht berufen darf, wird man – jedenfalls, wenn seine Mitgesellschafter auf der Fortgel-
__________ 10 Vgl. näher Goette, StBerJb. 1996/97, 221 ff. (231) m. w. N. 11 Vgl. K. Schmidt in Scholz, GmbHG, Bd. 2, 9. Aufl. 2002, § 45 Rz. 74 ff. m. w. Bei-
spielen; Raiser in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992 ff., Anh. § 47 Rz. 49 ff. 12 Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 4 Rz. 28. 13 Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 5 Rz. 12. 14 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 50 Rz. 6.
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tung der „geheilten“ Bestimmung beharren – ein Recht zum Austritt15 aus wichtigem Grund nicht verwehren können. Das sollte – allein begrenzt durch eine Verwirkung dieses Rechts – selbst dann gelten, wenn man mit einer im Vordringen befindlichen Ansicht16 die „Heilung“ als Veränderung der materiellen Rechtslage versteht; denn erst mit der Aufdeckung der „an sich“ bestehenden, aber durch Eintragung und Zeitablauf geheilten Nichtigkeit kann dem betroffenen Gesellschafter bewusst geworden sein, dass Handlungsbedarf besteht und für ihn die fortdauernde Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft unzumutbar geworden ist. In vielen Fällen wird indessen die Wahrnehmung eines solchen Austrittsrechts aus wichtigem Grund den berechtigten Interessen des Gesellschafters nicht entsprechen, etwa weil er wegen einer deutlich unter dem Verkehrswert liegenden Abfindung Vermögenseinbußen erleiden würde oder aus beruflichen oder persönlichen Gründen auf die fortdauernde Zugehörigkeit zu der Gesellschaft angewiesen ist. Der Zwang zum Rückzug aus der Gesellschaft erscheint auch unabhängig davon als unangemessene Bürde, so dass das Austrittsrecht – ähnlich wie die Erhebung einer Auflösungsklage17 – nur als Ultima Ratio in Betracht kommt. 3. Antrag an das Registergericht, nach §§ 142 ff. FGG tätig zu werden Geht man vom Wortlaut des § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG aus, tritt die „Heilung“ durch Handelsregistereintragung und Fristablauf allein bei Gesellschafterbeschlüssen ein. Folgerichtig kommt als Vorschrift über das Amtslöschungsverfahren allein § 144 Abs. 2 FGG, der in § 242 Abs. 2 Satz 3 AktG als von der „Heilung“ unberührt bezeichnet wird, in Betracht18. Anders verhält es sich dagegen bei nichtigen Bestandteilen der Ursprungssatzung; hier richtet sich die Befugnis zur Löschung nach § 142 bzw. §§ 144 Abs. 1 und 144a FGG. Die Rechtsfolgen einer Feststellung der Nichtigkeit durch das Registergericht sind unterschiedlich: In den zuletzt genannten Fällen wird die Gesellschaft von Amts wegen mit der Rechtskraft des feststellenden Beschlusses aufgelöst und ist grundsätzlich19 abzuwickeln, während im Falle des § 144 Abs. 2 FGG nicht die Gesellschaft selbst, sondern nur der als nichtig festgestellte Beschluss gelöscht wird.
__________
15 S. dazu BGHZ 9, 157 (162 f.); BGHZ 116, 359 (369); im Einzelnen zum Austritts-
recht Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Anh. § 34 Rz. 44 ff. 16 Vgl. nur Hüffer in MünchKomm.AktG, § 242 Rz. 3 m. w. N. auch zu der noch herr-
schenden Gegenmeinung; ausführlich Casper, Die Heilung nichtiger Beschlüsse im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 140 ff. 17 BGHZ 9, 157 (158, 163). 18 Das gilt jedenfalls, solange die Löschung nicht gerade auf das Fehlen eines Gesellschafterbeschlusses gestützt wird; vgl. dazu z. B. BayObLG, DB 1991, 1976. 19 Soweit nicht der Mangel doch noch behoben wird, vgl. Winkler in Keidel/Kuntze/ Winkler, FGG, § 144 Rz. 13 ff., oder ein wirksamer Fortsetzungsbeschluss gefasst wird, vgl. etwa Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 76 Rz. 7 f.
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Dieses Amtslöschungsverfahren, auf dessen Durchführung auch ein Gesellschafter im Sinne einer Anregung hinwirken kann, wird wegen der beschriebenen einschneidenden Folge der Löschung der Gesellschaft bei Mängeln der Ursprungssatzung regelmäßig den Gesellschafterinteressen nicht entsprechen. Denn dem einzelnen Gesellschafter, der sich mit der „Heilung“ einer nichtigen Satzungsbestimmung nicht abfinden mag, geht es doch nur um die Ersetzung dieser Regelung durch eine mit der Rechtsordnung in Übereinstimmung stehende Vorschrift. So wenig für ihn der Austritt aus der GmbH eine adäquate Lösung ist, so wenig wird er durch die Einschaltung des Registergerichts das gemeinsam geschaffene Unternehmen gefährden wollen. Soweit es um die Amtslöschung nichtiger Beschlüsse nach § 144 Abs. 2 FGG geht, besteht zwar nicht die Gefahr der Löschung der Gesellschaft selbst; der durch ein eingeleitetes Verfahren erzeugte Druck mag die Mitgesellschafter eher dazu bewegen, von sich aus die „geheilte“ nichtige Regelung durch eine andere zu ersetzen, eine hinreichende Gewähr für den Erfolg seines Vorgehens hat aber der das Löschungsverfahren anregende Gesellschafter auch in diesem Fall nicht. Auch hier gilt, dass das von den Registergerichten mit guten Gründen beanspruchte Aufgreif- und Löschungsermessen, die gegenüber bewirkten Eintragungen nur eingeschränkte Prüfungspflicht – sowie zusätzlich bei der Löschung von Gesellschafterbeschlüssen – das Erfordernis, die Nichtigkeit von Beschlüssen nur dann festzustellen, wenn die Nichtigkeit „zweifelsfrei“ ist20, ein solches Verfahren als oftmals wenig aussichtsreich erscheinen lassen. Das gilt vor allem in den hier untersuchten Fallgestaltungen, in denen der nichtige Beschluss in das Handelsregister eingetragen worden und danach für mindestens drei Jahre nicht angegriffen worden ist. Schließlich wird die Bestandskraft einer bestehenden Eintragung noch dadurch verstärkt, dass nicht jeder nichtige, sondern nur ein solcher Beschluss gelöscht werden kann, der kumulativ seinem Inhalt nach gegen zwingende Vorschriften des Gesetzes verstößt und dessen Beseitigung im öffentlichen Interesse erforderlich erscheint. Ob z. B. diese besonderen Voraussetzungen von den Registergerichten bei einer sittenwidrigen Abfindungsklausel wie im Ausgangsfall, bei der es nicht um den Schutz der Gläubiger der Gesellschaft21, sondern derjenigen eines Gesellschafters geht, bejaht würden, ist keineswegs ausgemacht22. Anders wird dies – und zwar auch dann, wenn bereits nicht nur drei Jahre, sondern eine längere Frist seit der Eintragung verstrichen ist, weil es hier nicht um einen in der Vergan-
__________ 20 Vgl. Nachw. in Fn. 6; für eine besonders restriktive Löschungspraxis nach Ablauf
der Dreijahresfrist schon Schlegelberger/Quassowski/Herbig/Geßler/Hefermehl, AktG, 1937, § 196 Rz. 5; ähnlich Weipert in Gadow/Heinichen u. a., AktG, 1939, § 196 Anm. 13. 21 S. Winkler in Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, § 144 Rz. 23, 28. 22 Vgl. die Beispiele bei Winkler in Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, § 144 Rz. 26.
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genheit abgeschlossenen Sachverhalt geht23 – zu beurteilen sein, wenn durch Satzungsänderung die Kapitalaufbringungs- oder -erhaltungsvorschriften suspendiert oder entgegen den zwingenden Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes eine abweichende Besetzung des Aufsichtsrates statuiert wird. 4. Satzungsänderung und Zustimmungspflicht Der Gesellschafter, der sich mit einer „an sich“ nichtigen, aber wegen Eintragung und Zeitablauf „geheilten“ Satzungsbestimmung – mag diese schon in der Ursprungssatzung enthalten gewesen oder erst nachträglich eingeführt worden sein – konfrontiert sieht und weder die Gesellschaft verlassen noch sie wegen der ihm unangemessen erscheinenden Folgen und/oder des ungewissen Ausgangs des Verfahrens der registergerichtlichen Prüfung nach den §§ 142 ff. FGG unterwerfen will, ist danach darauf verwiesen, auf eine Änderung der Satzung derart hinzuwirken, dass die beanstandenswürdige Bestimmung durch eine rechtlich einwandfreie ersetzt wird. Grundlage dafür ist die die Gesellschafter auch einer GmbH verbindende Treuepflicht24. Dass eine solche Pflicht auch im Kapitalgesellschaftsrecht ihren Platz hat, ist allgemein anerkannt; erst jüngst25 hat der II. Zivilsenat unter dem Vorsitz des Jubilars ausgesprochen, dass die Mitgesellschafter aus dem Gesichtspunkt der gesellschafterlichen Treuepflicht gehalten sein können, einer eine verdeckte Sacheinlage „heilenden“ Satzungsänderung zuzustimmen. Nach der üblicherweise verwandten Formel, dass eine Zustimmungspflicht nicht schlechthin besteht, sondern dass sie nur in Betracht kommt, wenn die Vertragsänderung dem Gesellschafter zuzumuten ist und wenn sie mit Rücksicht auf das bestehende Gesellschaftsverhältnis dringend erforderlich ist26, also eine Zumutbarkeitsabwägung stattzufinden hat27, sind nicht nur solche Satzungsänderungswünsche durchsetzbar, bei denen es um die Wiederherstellung zwingenden Gesetzesrechts aus dem Bereich der im Interesse der Gesellschaftsgläubiger erlassenen Vorschriften des Kapitalaufbringungsoder -erhaltungsrechts, des Mitbestimmungsrechts oder der Vorschriften
__________
23 Die gegenteiligen in Fn. 20 nachgewiesenen Literaturstimmen sind vor dem Hin-
24
25 26 27
tergrund der seinerzeit zur Einführung des damaligen § 196 AktG 1937 Anlass gebenden Fallgestaltungen zu lesen, s. dazu noch unten III.2. Vgl. dazu grundlegend Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, zur positiven Stimmpflicht dort S. 353 f.; M. Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbHRecht, 1988, S. 175 ff.; aus der Sicht der Rechtsprechung Röhricht in Hommelhoff/ Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 513 (531 ff.); zum Aktienrecht s. K. Schmidt in Großkomm.AktG, § 242 Rz. 8; ferner Goette in Ebenroth/ Boujong/Joost, HGB, 2001, § 119 Rz. 26 f. m. zahlreichen Nachw. BGHZ 155, 329. Vgl. BGHZ 44, 40 (41 f.); BGHZ 64, 253 (257); BGHZ 98, 276 (279). Goette in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 119 Rz. 26.
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über die öffentliche Pflichtenbindung der Geschäftsführer geht; ein entsprechender, auf die Wiederherstellung gesetzmäßiger Zustände gehender Zustimmungsanspruch besteht auch hinsichtlich solcher Gegenstände, bei denen möglicherweise das öffentliche Interesse im Sinne von § 144 Abs. 2 FGG verneint werden kann, der Gesellschafter aber im Kern seines Mitgliedschaftsrechts betroffen ist. Das gilt beispielsweise für die Wiederherstellung eines auf dem Wege über § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG abgeschafften Austrittsrechts aus wichtigem Grund, für das Minderheitenrecht nach § 50 GmbHG, für das in § 51a GmbHG niedergelegte Informationsrecht oder wenn durch arglistige Täuschung eine Satzungsänderung beschlossen worden ist, durch welche das Sonderrecht auf Benennung eines Geschäftsführers für eine Gesellschaftergruppe abgeschafft worden ist28. In all diesen Fällen ist kein rechtfertigender Grund dafür ersichtlich, warum die Mitgesellschafter den „an sich“ nichtigen Satzungsbestand erhalten wollen. Entsprechendes muss man auch für gläubigerdiskriminierende Abfindungsregeln, wie sie im Ausgangsfall zu beurteilen waren, annehmen; denn der Wunsch der in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter, das Gesellschaftsvermögen möglichst weitgehend zu schonen, wenn einer der Mitgesellschafter ausscheidet, rechtfertigt weder die Schlechterstellung des Gesellschaftergläubigers noch die des Gesellschafters, der auf diese Weise – gerade in einer Notsituation – sich einen Teil des ihm zugewiesenen Vermögens durch seine Mitgesellschafter nehmen lassen muss. Die zwischenzeitlich nach § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG eingetretene Heilung steht diesem Begehren nicht entgegen. Das gilt selbst dann, wenn man entgegen der h. M. annimmt29, die Eintragung, verbunden mit dem Zeitablauf, ändere die materielle Rechtslage. Denn an dem Fortbestand dieser Situation besteht kein berechtigtes Interesse der anderen Gesellschafter, sofern man überhaupt anerkennt, dass trotz der Versäumung der Anfechtungsfristen das Anliegen des Antragstellers nach einer (Wieder-)Herstellung ordnungsgemäßer Verhältnisse berechtigt ist. 5. Zwischenergebnis Die durch die analoge Anwendung des § 242 Abs. 2 Satz 2 AktG auf das GmbH-Recht eintretende Wirkung der „Heilung“ wird konterkariert. Rechtssicherheit und Rechtsfriede sind also nur vorläufig, nicht aber dauerhaft eingetreten, vielmehr müssen die Gerichte notwendig oder mit großer Wahrscheinlichkeit erneut angerufen werden: Entweder wird das registergerichtliche Verfahren nach §§ 142, 144, 144a FGG angeregt oder es wird eine Entscheidung der Gesellschafterversammlung herbeigeführt, welche nach dem
__________ 28 Vgl. den durch Nichtannahmebeschluss erledigten Teil des Verfahrens II ZR
194/90 bei Goette, DStR 1991, 1500. 29 S. Fn. 16.
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typischen Geschehensablauf von der Seite, die sich nicht durchgesetzt hat, auf dem Wege der einfachen Anfechtungs- oder der kombinierten Anfechtungs- und positiven Beschlussfeststellungsklage vor die ordentlichen Gerichte gebracht wird. Ist wie im Ausgangsfall die Klage mit der Begründung abgewiesen worden, die „an sich“ nichtige Satzungsklausel sei wegen Eintragung in das Handelsregister und Zeitablauf „geheilt“, so kommt es also zu einem weiteren gerichtlichen Verfahren.
III. Zur ratio des § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG Dieser Befund gibt Anlass, die am Eingang übergangene Frage zu stellen, ob denn § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG nach seiner ratio überhaupt einer entsprechenden Anwendung im GmbH-Recht zugänglich ist und ob dies vor allem auch für gravierende Mängel der Ursprungssatzung gelten muss. 1. Entstehungsgeschichte Ausgehend von der Vorstellung, dass es Beschlüsse der Hauptversammlung gibt, die an so schweren Fehlern leiden, dass sie von der Rechtsordnung nicht hingenommen werden können und per se nichtig sind, hatte der historische Gesetzgeber des Aktienrechts30 keine Notwendigkeit gesehen, diese Fälle eigens in dem Abschnitt über das Beschlussmängelrecht zu behandeln. Nach allgemeinen Regeln war ohnehin klar, dass die bestehende Nichtigkeit jederzeit, vor allem ohne zeitliche Beschränkung gerichtlich festgestellt werden konnte (§ 256 ZPO). Regelungsbedürftig waren demgemäß allein die Fälle weniger schwerwiegender Mängel von Hauptversammlungsbeschlüssen, bei denen es in die Hand der anfechtungsberechtigten Personen gelegt sein sollte, ob sie den zunächst schwebend unwirksamen Beschluss binnen knapper Frist durch Anrufung der Gerichte angreifen oder ihn als dauerhafte Regelung hinnehmen wollten. Die Kriterien zu entwickeln, welche Fallgestaltungen der einen oder der anderen Kategorie zugeordnet werden sollen, oblag folglich Rechtsprechung und Rechtswissenschaft und beschwor zwangsläufig die für die Aktiengesellschaften schwer erträgliche Unsicherheit herauf, ob ein zwischenzeitlich umgesetzter Hauptversammlungsbeschluss auch nach langer Zeit noch als ex tunc nichtig festgestellt und der getroffenen Maßnahme damit die legitimierende Grundlage genommen werde. Dieser Umstand hat in den Diskussionen während der Weimarer Republik31 die Vertreter der Wirtschaft auf den Plan gerufen, indessen weder zu der angeregten Aufgabe der Unterscheidung zwischen nichtigen und lediglich anfechtbaren Beschlüssen noch wenigstens zu einer Heilung nichtiger Be-
__________ 30 Vgl. Amtliche Begründung zum AktG 1937 bei Matthes, Aktienrecht, 1937, S. 225. 31 Vgl. näher Schubert/Hommelhoff, Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer
Republik, 1987.
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schlüsse durch Zeitablauf geführt32. Vielmehr hat sich das Reichsjustizministerium in dem die Diskussionen der zurückliegenden Jahre zusammenfassenden und bewertenden Entwurf II des Jahres 1931 lediglich dazu verstanden, die Nichtigkeitsgründe – einschränkend formuliert – gesetzlich zu regeln33. In den nachfolgenden Diskussionen im Ausschuss für Aktienrecht der Akademie für Deutsches Recht34 ist dieses Problem von den Unternehmensvertretern abermals vorgetragen und geltend gemacht worden, nicht allein das Anfechtungsrecht werde von „Quertreibern, Stänkern und Erpressern missbraucht“35, ähnliche „Spezialisten eines blühenden Erpressergewerbes“36 instrumentalisierten auch die unbefristete Nichtigkeitsfeststellungsklage für ihre unternehmensschädlichen Aktivitäten, so dass auch „bei nichtigen Beschlüssen eine Frist für die Geltendmachung der Nichtigkeit“ eingeführt werden müsse, „nach deren Ablauf die Dinge nicht mehr vor Gericht diskutiert werden können“37. Vor allem dem in diesem Zusammenhang vorgetragenen Argument, die Rechtssicherheit erfordere eine kurze Befristung, ist der Vertreter des Ministeriums38 mit dem dictum entgegengetreten, genauso gut könne man auch sagen, die Befristung diene der „Sicherheit des Unrechts“, hat dann aber in Aussicht gestellt, nach Möglichkeiten zu suchen, „ob und wie man verhindern kann, dass mit der Geltendmachung der Nichtigkeit Missbrauch getrieben wird“39. Diesem Ansatz entsprechend ist in §§ 195, 196 AktG 1937 eine – wie es in der amtlichen Begründung heißt40 – „mittlere Linie“ eingeschlagen worden: Das Gesetz behält die Unterscheidung von nichtigen und nur befristet anfechtbaren Beschlussmängeln bei, beschränkt und definiert aber in § 195 die Nichtigkeitsgründe, „um so einen festen Boden für die Wirtschaft schon nach Ablauf der Anfechtungsfrist zu schaffen“41. Flankiert wird dies durch die neu eingeführte, im Wesentlichen dem jetzigen § 242 Abs. 2 AktG entsprechende Bestimmung des § 196 AktG 1937, welche für die Nichtigkeitsgründe, die nicht in einem bloßen Beurkundungsmangel liegen, „im begrenzten Umfang“ ein Heilung zulässt, wenn der Beschluss in das Handels-
__________ 32 S. Schubert/Hommelhoff (Fn. 31), S. 918 i. V. m. S. 875, wo der Text der §§ 136 f.
des Entwurfs II abgedruckt ist. 33 § 136 des Entwurfs II bei Schubert/Hommelhoff (Fn. 31), S. 875. 34 Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945, Protokolle der Aus-
schüsse, 1986. 35 Vgl. Protokolle bei Schubert (Fn. 34), z. B. S. 257, 260, 261, 262. 36 Protokolle bei Schubert (Fn. 34), S. 268. 37 Klausing in Protokolle bei Schubert (Fn. 34), S. 268, ihm zustimmend Heymann, 38 39 40 41
ebenda S. 269 und Ebbecke, ebenda S. 269. Schlegelberger in Protokolle bei Schubert (Fn. 34), S. 269. S. Protokolle bei Schubert, S. 270. Bei Matthes (Fn. 30), S. 225. S. bei Matthes (Fn. 30), S. 226.
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register eingetragen worden und seitdem drei Jahre verstrichen sind42. Dann soll die Gesellschaft vor Nichtigkeitsklagen geschützt sein, weil niemand mehr befugt ist, den Beschlussmangel geltend zu machen; allein das Registergericht soll als Wächter des öffentlichen Interesses einen solchen Beschluss von Amts wegen nach § 144 Abs. 2 FGG löschen dürfen. Damit sollte eine Vorkehrung43 dagegen getroffen werden, dass sich die Hauptversammlung über alle rechtlichen Schranken hinwegsetzt, die Verwaltung entgegen ihrer Pflicht, für rechtmäßige Verhältnisse zu sorgen44, den Beschluss zur Eintragung anmeldet und niemand innerhalb der dreijährigen Frist den Mangel gerichtlich geltend macht. 2. Teleologische Betrachtung Der Blick auf die Entstehungsgeschichte der Heilungsvorschrift belegt zwar, dass sich der Gesetzgeber von dem Wunsch nach Rechtssicherheit hat leiten lassen, dieses Ziel aber nicht allumfassend, sondern nur in einem eingeschränkten Maße verfolgt worden ist. Nach Wortlaut und systematischer Stellung der Norm sollen von der Heilung ausschließlich Hauptversammlungsbeschlüsse erfasst werden und dies auch nur dann, wenn sie in das Handelsregister eingetragen und danach nicht binnen einer Frist von drei Jahren angegriffen worden sind. Dass nicht die Rechtssicherheit als Hauptzweck Antrieb für den Gesetzgeber war, folgt schon aus den weiterhin bestehenden registerrechtlichen Befugnissen; vor allem zeigen die Diskussionen zwischen den beiden Weltkriegen und die fortwährenden Demarchen der Vertreter der Wirtschaft in den Gremien, dass man Sicherheit nicht für jedweden Beschluss der Hauptversammlung erstrebte, sondern dass es darum ging, bestimmte, das weitere Handeln der Unternehmensorgane legitimierende Entscheidungen der Hauptversammlung spätestens nach Ablauf der einmonatigen Anfechtungsfrist umsetzen zu können, ohne Gefahr zu laufen, Jahre später all die getroffenen Maßnahmen rückabwickeln oder aber auf die nicht hehren Wünsche der so genannten „Spezialisten“45 eingehen zu müssen; mit anderen Worten: Der Missbrauch der Nichtigkeitsklage gegenüber dieser Art von Hauptversammlungsbeschlüssen sollte unterbunden werden. Für Regelungen der Ursprungssatzung – fokussiert man den Blick nicht isoliert auf den Gedanken der Herstellung von Rechtssicherheit – spielt diese Zielsetzung keine Rolle; hier kann es allenfalls darum gehen, durch eine Absenkung des Niveaus der präventiven Registerkontrolle für eine schnellere
__________ 42 Eine in diese Richtung gehende Anregung hat im Aktienrechtsausschuss der Aka-
demie für Deutsches Recht Berckemeyer bei Schubert (Fn. 34), S. 270, gegeben. 43 S. bei Matthes (Fn. 30), S. 226. 44 Vgl. Hopt in Großkomm.AktG, § 93 Rz. 98 m. w. N.; Goette in Hommelhoff/
Hopt/v. Werder (Fn. 24), S. 756 (761). 45 S. oben bei Fn. 35, 36.
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Eintragung der Gesellschaft und damit für deren Entstehen „als solche“ zu sorgen46. Bei teleologischer Betrachtung der Heilungsvorschrift besteht auch kein Anlass47, sie – dem nicht differenzierenden Text der Norm folgend – unterschiedslos auf sämtliche eingetragenen Beschlüsse, vor allem für alle satzungsändernden Regelungen anzuwenden. Gerade solche Beschlüsse, die nicht in erster Linie punktuell wirken und in ihren Folgen nur schwer rückgängig zu machen sind, sondern auf Dauer das Zusammenwirken der Organe der Gesellschafter und ihrer Mitglieder bestimmen, wie dies z. B. für organisationsrechtliche Vorschriften der Satzung gilt, verdienen – auch nach Fristablauf – nicht die Privilegierung des § 242 Abs. 2 AktG. Bei der gesetzestypisch strukturierten GmbH wird dies für die übergroße Zahl in das Handelsregister eingetragener Gesellschafterversammlungsbeschlüsse gelten. 3. Die registergerichtlichen Befugnisse im Eintragungsverfahren Der Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1937 konnte trotz der von Regierungsvertretern in den vorangehenden Diskussionen geäußerten Bedenken48 mit der Einstellung der Heilungsvorschrift den Wünschen der Wirtschaft um so eher entgegenkommen, als er sich auf die bewährte und regelmäßig treffsicher arbeitende registergerichtliche Prüfung im Eintragungsverfahren verlassen konnte49. Untragbare, nämlich im öffentlichen Interesse nicht hinnehmbare Ausreißer konnten zudem im Amtslöschungsverfahren nach den §§ 142 ff. FGG von Amts wegen korrigiert werden, so dass selbst bei einem Versagen der innergesellschaftlichen Kontrolle über einen Zeitraum von drei Jahren hin nur ein schmaler Anwendungsbereich für die neue Vorschrift blieb. Für das Prüfungsverfahren bei der erstmaligen Eintragung einer Aktiengesellschaft (§ 38 Abs. 3 AktG50) oder GmbH (§ 9c Abs. 2 GmbHG51) hat der Gesetzgeber mit dem Handelsrechtsreformgesetz vom 22.6.1998 die Intensität der registergerichtlichen Kontrolle abgesenkt, während er es für Eintragungen von Satzungsänderungen (§ 181 AktG52 bzw. § 57a GmbHG53) bei der bisherigen Prüfungstiefe belassen hat. Er hat indessen keinen Anlass
__________ 46 S. dazu Entwurf des Handelsrechtsreformgesetzes bei Schumacher (Fn. 5) zu Art. 10
Nr. 4 S. 195 ff. 47 Anders BGHZ 99, 211 (217). 48 S. Fn. 38. 49 Auf den Zusammenhang mit der Prüfungspflicht des Registerrichters besonders
hinweisend Weipert in Gadow/Heinichen u. a. (Fn. 20), § 196 Anm. 4 und 13. 50 Dazu z. B. Pentz in MünchKomm.AktG, Bd. 1, 2. Auf. 2000, § 38 Rz. 66 ff. 51 Kritisch zu der Differenzierung zwischen Erst- und Änderungseintragung z. B.
Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 9c Rz. 14. 52 Vgl. Wiedemann in Großkomm.AktG, § 181 Rz. 21–23; Stein in MünchKomm.
AktG, Bd. 6, 2. Aufl. 2005, § 181 Rz. 38 ff.; Zöllner in KölnKomm.AktG, Bd. 5/1, 2. Aufl. 1995, § 181 Rz. 31, 34. 53 Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 9c Rz. 14.
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gesehen, in diesem Zusammenhang auch die Heilungsvorschrift des § 242 Abs. 2 AktG zu ändern, vor allem etwa anzuordnen, dass sie in gleicher Weise auch auf Mängel der Ursprungssatzung anzuwenden sei. Man wird angesichts der Intensität der dem Reformvorhaben vorangegangenen Erörterungen nicht annehmen dürfen, dass dies seinen Grund darin findet, dass die Heilungsvorschrift im Siebenten, die Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen regelnden Teil des Gesetzes steht und deswegen bei der Änderung von Vorschriften des Zweiten Teils übersehen worden ist. Vielmehr ist ein bewusstes Handeln des Gesetzgebers zu unterstellen, denn eine Erstreckung der Heilung durch Eintragung und Fristablauf auch auf die Ursprungssatzung wäre gerade nach der „Liberalisierung“ des Prüfungsumfangs bei der Ersteintragung alles andere als sachgerecht gewesen: Die genannte – mit guten Gründen in ihrem Gerechtigkeitsgehalt angezweifelte54 – Vorschrift über die Heilung wird um so bedenklicher, je oberflächlicher die präventiv angestellte registergerichtliche Prüfung ist. Hintergrund der gesetzlichen Regelung, nur in das Handelsregister eingetragene und dort für drei Jahre unbeanstandet stehen gebliebene Beschlüsse dem Einwand der Nichtigkeit zu entziehen, war ja gerade der Gedanke, dass eingetragene Beschlüsse eine registergerichtliche Prüfung durchlaufen haben und deswegen eine hohe Gewähr dafür besitzen, nicht nichtig zu sein. Haupt- bzw. Gesellschafterversammlungsbeschlüsse erfüllen auch nach In-Kraft-Treten des Handelsrechtsreformgesetzes diese für die Anwendbarkeit des § 242 Abs. 2 AktG unerlässliche Voraussetzung; die Beibehaltung dieser Vorschrift ist also – wenn man überhaupt den Lösungsweg des Aktiengesetzgebers von 1937 für sachgerecht hält – ebenso folgerichtig wie die unterbliebene Übertragung der Vorschrift auf Mängel der Ursprungssatzung.
IV. Ergebnis § 242 Abs. 2 AktG ist restriktiv auszulegen. Wie sich aus Wortlaut, systematischer Stellung, Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Norm ergibt, kommt eine Heilung von Mängeln der Ursprungssatzung nach dieser Vorschrift überhaupt nicht in Betracht. Das gilt folgerichtig auch für das GmbHRecht. Dies korrespondiert mit den nach novelliertem Recht unterschiedlich weitgehenden Prüfungsbefugnissen des Registergerichts bei der Ersteintragung der GmbH bzw. bei der Eintragung von Beschlüssen während des Bestehens der Gesellschaft. Nicht alle Beschlüsse der Gesellschafterversammlung sind „heilungsfähig“, sondern nur solche, bei denen im Interesse der Gesellschaft ein in das Handelsregister eingetragener Beschluss unabänderlich sein muss, weil anderenfalls unzuträgliche Rückabwicklungsverhältnisse eintreten. So wird ein Tätigwerden des Registergerichts im Amtslöschungsverfahren vermieden und der Gesellschafter wird des Zwangs ent-
__________ 54 S. Zöllner, DNotZ 2001, 872 (874 f.).
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hoben, seine Mitgesellschafter auf Zustimmung zu einer materiell rechtmäßige Verhältnisse wiederherstellenden Satzungsänderung – notfalls gerichtlich – in Anspruch nehmen zu müssen. Die gläubigerdiskriminierende Abfindungsklausel im Ausgangsfall hätte danach, dem petitum des Klägers folgend, als nichtig festgestellt werden sollen.
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Rechtsmissbräuchliche Umwandlungen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Beschränkung des Rechtsschutzes im Bereich der Beschlussmängelklage 1. Keine sachliche Rechtfertigung 2. Keine Beschlussmängelklage wegen abfindungsbezogener Rügen 3. Freigabeverfahren III. Missbrauchskontrolle
1. Ausgangslage 2. Fallgestaltungen a) Besondere Schwere der Rechtsbeeinträchtigung b) Instrumentalisierung der Umwandlung zur Erreichung sachfremder Ziele IV. Zusammenfassung
I. Einleitung Es liegt nicht im Trend, Rechtsschutzmöglichkeiten für von Umwandlungen betroffene Anteilseigner zu entwickeln. Im Gegenteil: Literatur, Judikatur und Gesetzgeber wetteifern darum, die entsprechenden Rechtsbehelfe einzuschränken. Dies gilt ganz besonders für die Beschlussmängelklagen im Rahmen von Umwandlungen, um die es im weiteren Verlauf gehen wird. Doch muss es auch insoweit eine Grenze geben, von der ab ein eigentlich ausgeschlossener Rechtsbehelf, der sich gegen den Umwandlungsbeschluss richtet, dann doch wieder erfolgreich sein wird. Diese Grenze festzulegen, ist Ziel des folgenden Beitrags.
II. Beschränkung des Rechtsschutzes im Bereich der Beschlussmängelklage 1. Keine sachliche Rechtfertigung Zu Recht entspricht es der ganz herrschenden Meinung, dass eine Kontrolle des Umwandlungsbeschlusses unter dem Gesichtspunkt, ob die Umwandlung sachlich gerechtfertigt ist, weder auf der Ebene des übertragenden noch auf der Ebene des übernehmenden Rechtsträgers stattfindet1. Der Schutz überstimmter Anteilseigner erfolgt durch hohe Mehrheitserfordernisse, eine
__________ 1
OLG Düsseldorf, DB 2003, 1318 (1319); Binnewies, GmbHR 1997, 727; Decher in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 193 Rz. 12; Feddersen/Kiem, ZIP 1994, 1078; Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 31 ff.; Gehling in Semler/Stengel, UmwG, 2003, § 13 Rz. 36; Zimmermann in Kallmeyer, UmwG, 2. Aufl. 2001, § 13 Rz. 12; offen Hommelhoff, ZGR 1990, 447 (460).
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Verschmelzungsprüfung, Zustimmungsrechte und gegebenenfalls durch ein Austrittsrecht gegen Barabfindung. Hinzu kommt, dass die vom Gesetzgeber angestrebte Flexibilität bei der Umstrukturierung von Unternehmen kaum zu erreichen wäre, wenn eine Beschlussmängelklage darauf gestützt werden könnte, dass der Umwandlungsbeschluss nicht „verhältnismäßig“, also nicht erforderlich und angemessen zur Erreichung des angestrebten Zieles ist. Diese Kriterien sind auf Umwandlungsvorgänge nicht übertragbar2. Für abhängigkeitsbegründende Verschmelzungen wird teilweise dann doch wieder eine materielle Beschlusskontrolle verlangt3. Doch sollte man dem nicht folgen. Auch eine solche Verschmelzung setzt voraus, dass eine entsprechende Anzahl von Anteilseignern für die Umstrukturierung gestimmt hat. Waren dies im Wesentlichen die Stimmen des nunmehr herrschenden Unternehmens, so war die Abhängigkeit zumindest faktisch schon so vorgegeben. Waren es außenstehende Aktionäre, so wurden diese überzeugt. Für Extremfälle bleibt die Missbrauchskontrolle. 2. Keine Beschlussmängelklage wegen abfindungsbezogener Rügen Nach § 14 Abs. 2 UmwG kann eine Klage gegen die Wirksamkeit des Verschmelzungsbeschlusses eines übertragenden Rechtsträgers nicht darauf gestützt werden, dass das Umtauschverhältnis zu niedrig bemessen oder sonst die Mitgliedschaft bei dem übernehmenden Rechtsträger kein ausreichender Gegenwert für die Anteile an dem übertragenden Rechtsträger ist. § 32 UmwG und § 210 UmwG legen fest, dass eine solche Klage auch nicht damit begründet werden kann, dass ein Abfindungsangebot nach § 29 UmwG bzw. nach § 207 UmwG zu niedrig bemessen bzw. die Barabfindung nicht ordnungsgemäß angeboten worden ist. Bekanntermaßen hat der BGH diese Normen so verstanden, dass damit auch sämtliche Verstöße gegen Informations- und Mitteilungspflichten der Rechtsträger im Zusammenhang mit der Barabfindung eine Beschlussmängelklage nicht rechtfertigen4. Diese Judikatur ist zwar nicht unumstritten5. Sie hat aber gleichwohl dazu geführt, dass der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und
__________ OLG Düsseldorf, DB 2003, 1318 (1319); Decher in Lutter, UmwG, § 193 Rz. 12; Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 37. 3 Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 38; für „qualifizierte Abhängigkeit“ auch Binnewies, GmbHR 1997, 727 (730). 4 BGHZ 146, 179 (181) (MEZ); BGH, NJW 2001, 1428 (Aqua Butzke). 5 Befürwortend: Hasselbach in KölnerKomm.WpÜG, 2003, § 327 f. AktG Rz. 4; Henze, ZIP 2002, 97 (103); Kleindiek, NZG 2001, 552; Klöhn, AG 2002, 443; Vetter in FS Wiedemann, 2002, S. 1323 (1328); Weißhaupt, Kompensationsbezogene Informationsmängel in der Aktiengesellschaft, 2003, S. 241 ff.; kritisch: Bärwaldt in Semler/Stengel, UmwG, § 210 Rz. 5; Decher in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 131 Rz. 65 b; Mülbert in FS Ulmer, 2003, S. 433 (443); offen: Hoffmann-Becking, Gesellschaftsrecht 2001, 2001, S. 54 ff. 2
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Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)6 eine Regelung mit vergleichbarem Inhalt für alle Beschlüsse einer Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft vorsieht, bezüglich derer Bewertungsrügen in ein Spruchverfahren verwiesen werden. Eine Anfechtung soll nur bei einer Totalverweigerung von Informationen oder weitreichenden Fehlangaben möglich sein7. Diese letzte Bastion des Anfechtungsrechts soll sicherstellen, dass die Informationsrechte nicht in gravierendem Ausmaß und bewusst missachtet werden. 3. Freigabeverfahren Sofern doch eine Klage gegen den Umwandlungsbeschluss erhoben wurde, blockiert diese die Eintragung der Umwandlung nur, wenn nicht das Gericht durch rechtskräftigen Beschluss festgestellt hat, dass die Klage entweder wegen Unzulässigkeit oder wegen offensichtlicher Unbegründetheit oder wegen Vorrangs der Interessen des Rechtsträgers der Eintragung nicht entgegensteht (§ 16 Abs. 3 UmwG). Auch dieses Modell soll durch das UMAG auf andere Beschlussgegenstände in der Aktiengesellschaft (Kapitalbeschaffung, Kapitalherabsetzung, Unternehmensverträge) übertragen werden.
III. Missbrauchskontrolle 1. Ausgangslage Die genannten Restriktionen der Beschlussmängelklage werden ihrerseits auch wieder eingeschränkt. So wird zwar – wie geschildert – allenthalben betont, dass der Umwandlungsbeschluss keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf. Zugleich wird aber auch hervorgehoben, dass eine Missbrauchskontrolle stattfindet8. Unklar ist, ob die ebenfalls propagierte Beschlusskontrolle unter Berufung auf die Treuepflicht9 hierüber noch hinausgeht10. Im Bereich von abfindungsbezogenen Informationsmängeln wird die Missbrauchsschranke zwar nicht konkret diskutiert11. Der geschilderte Regierungsentwurf hat aber wohl durchaus eine vergleichbare Grenze vor Augen,
__________ 6 www.bmj.bund.de. 7 S. Begründung zum Regierungsentwurf www.bmj.bund.de S. 57; dazu Kritik des
Handelsrechtsausschusses des DAV, NZG 2004, 555 (563). 8 Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 39; Decher in Lutter, UmwG, § 193
Rz. 12; Meyer-Landrut/Kiem, WM 1997, 1361 (1365). 9 Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 39; Zimmermann in Kallmeyer, UmwG,
§ 13 Rz. 12. 10 So wohl Happ in Lutter, UmwG, § 233 Rz. 56. 11 Erwähnt bei Kalss, Verschmelzung, Spaltung, Umwandlung, 1997, § 225 b Österr-
AktG Rz. 3.
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wenn er die Anfechtung dann doch wieder zulassen will, wenn die Informationen total verweigert werden bzw. extreme Fehlangaben erfolgen12. Bei der Interessenabwägung innerhalb des Freigabeverfahrens nach § 16 Abs. 3 UmwG wird maßgeblich auf die Schwere der Rechtsverletzung abgestellt13. Dies heißt zugleich, dass bei einer rechtsmissbräuchlichen Umwandlung mit einer Freigabe nicht zu rechnen ist. 2. Fallgestaltungen Damit rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung die Frage, wann von einer missbräuchlichen Umwandlung gesprochen werden kann. Hier gilt es zwei Grundrichtungen zu unterscheiden. Zum einen kann der Missbrauch in der Schwere der Rechtsbeeinträchtigung liegen und zum anderen in der Instrumentalisierung der Umwandlung zur Erreichung von Zielen, die nicht auf eine Umstrukturierung gerichtet sind14. Beide Ausprägungen des allgemeinen Verbotes missbräuchlichen Verhaltens lassen sich aber nur handhaben, wenn man einzelne Fallgruppen nennt. a) Besondere Schwere der Rechtsbeeinträchtigung Der Ausschluss der Beschlussmängelklage im Zusammenhang mit Umwandlungsbeschlüssen wegen Informationsmängeln soll nach dem Regierungsentwurf zum UMAG in Extremfällen nicht greifen. Was damit gemeint ist, ist zwar nicht ganz klar. Vor dem Hintergrund der Missbrauchslehre ist dies aber doch wohl so zu verstehen, dass ein Informationsmangel dann weitreichend ist, wenn er den Anteilseigner schwerwiegend belastet. Eine solche erhebliche Belastung ist gegeben, wenn ein Ausgleich für die Rechtsverletzung im Spruchverfahren nicht zu erreichen ist. Denn die Rechtsbehelfe nach dem Spruchverfahrensgesetz sollen den Anteilseigner absichern. Dies gilt auch für die dem Regierungsentwurf zu Grunde liegende Judikatur des BGH. Denn auch diese Rechtsprechung beruht auf dem Gedanken, dass eine Beschlussmängelklage in den Fällen nicht der angemessene Rechtsbehelf ist, in denen dem Anteilseigner im Spruchverfahren mit einer geringeren Belastung für die betroffene Gesellschaft geholfen werden kann. Allein der Hinweis darauf, dass bei weiter gehenden Informationen andere Anteilseigner möglicherweise ebenfalls gegen die Umwandlung gestimmt hätten, reicht für die Annahme eines solchen Missbrauchs regelmäßig nicht
__________
12 Begründung (Fn. 7), S. 57. 13 Marsch/Barner in Kallmeyer, UmwG, § 16 Rz. 44; Volhard in Semler/Stengel,
UmwG, § 16 Rz. 37. 14 Zu beiden Ausprägungen im Zusammenhang mit der missbräuchlichen Anfech-
tungsklage Hüffer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2001, § 245 Rz. 53; zu nicht durch Umwandlungen veranlasste Belastungen Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 39; zum Formwechsel Meyer-Landrut/Kiem, WM 1997, 1361 (1365).
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aus. Die Mehrheitsverhältnisse sind nahezu stets eindeutig und eine solche Argumentation daher rein fiktiv. Auch würde die angestrebte Eindämmung von Beschlussmängelklagen nicht erreicht, wenn allein der Hinweis auf eine solche Möglichkeit die Klage rechtfertigen würde. Nur wenn die Beschlussfassung ausnahmsweise wirklich auf der Kippe steht, kann eine solche Argumentation Erfolg haben. Ein Beispiel für eine auf missbräuchliches Verhalten gestützte Anfechtungsklage im Rahmen einer Bewertungsrüge ist evtl. der Fall der Verschmelzung der Balcke Dürr AG auf die Babcock Borsig AG. Nach Schilderungen in der Literatur15 hielt die Babcock Borsig AG 67 % der Aktien der Balcke Dürr AG. Die von der Babcock Borsig AG vorausgewählten Verschmelzungsprüfer bewerteten die Babcock Borsig AG mit ca. 1 Milliarde Euro, die Balcke Dürr AG mit 0,5 Milliarden Euro. Wie sich später herausstellte, war die Babcock Borsig AG zum Bewertungsstichtag bereits seit langem überschuldet. Die Hauptversammlung der Balcke Dürr AG beschloss gleichwohl mit den Stimmen der Babcock Borsig AG und gegen die Stimmen zahlreicher außenstehender Aktionäre die Verschmelzung. Es liegt auf der Hand, dass in einem solchen Fall ein Spruchstellenverfahren den überstimmten Anteilseignern nicht hilft. Denn auch die Zuteilung von weiteren (wertlosen) Aktien an der Babcock Borsig AG schützt die Aktionäre der Balcke Dürr AG ersichtlich nicht. Denn eine hohe Beteiligung an einer überschuldeten Aktiengesellschaft ist nicht viel mehr wert als eine niedrige Beteiligung. Eine Beschlussmängelklage muss in diesem Fall also möglich sein, obgleich im Grundsatz geltend gemacht wird, dass die Mitgliedschaft bei dem übernehmenden Rechtsträger kein ausreichender Gegenwert für Anteile an dem übertragenden Rechtsträger ist und § 14 Abs. 2 UmwG genau für diesen Fall die Beschlussmängelklage ausschließt. Die Berufung auf § 14 Abs. 2 UmwG gegenüber einer entsprechend begründeten Bewertungsrüge wäre also rechtsmissbräuchlich16. Dieses Ergebnis ist auch für die betroffenen Rechtsträger akzeptabel. Denn nur wenn zumindest Anhaltspunkte für eine völlige Entwertung der Anteile gegeben sind, kann die Anfechtung Erfolg haben. Ein unerträgliches Maß an Rechtsunsicherheit wird so nicht geschaffen. In einem solchen Fall müssten dann aber auch entsprechende Informationen in der Hauptversammlung verlangt werden können. Denn der Verweis der Informationsrüge in das Spruchverfahren ist nur so lange zielführend, wie ein verbessertes Umtauschverhältnis den Interessen der Anteilseigner auch Rechnung trägt. Zugleich führt
__________ 15 Meilicke/Heidel, BB 2003, 1805. 16 Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 40; auf diese Weise kann auch den Be-
denken von Meilicke/Heidel, BB 2003, 1805 (kein effektiver Rechtsschutz) Rechnung getragen werden.
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die Geltendmachung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens wie geschildert dazu, dass auch die Eintragung im Register nicht freigegeben werden wird. Sofern ein überschuldeter Rechtsträger auf einen solventen Rechtsträger verschmolzen wird, gilt im Ergebnis nichts anderes17. Diese Fallgestaltung ist nur deshalb weniger problematisch, weil Bewertungsrügen auf der Ebene des aufnehmenden Rechtsträgers nicht in das Spruchverfahren verwiesen werden. Auch insofern gilt, dass die Sanierung einer Gesellschaft auf Kosten der Anteilseigner eines anderen Rechtsträgers nicht hingenommen werden muss. b) Instrumentalisierung der Umwandlung zur Erreichung sachfremder Ziele Eine Beschlussmängelklage gegen eine Umwandlung ist möglich, wenn die Umwandlung zur Erreichung von Zielen dienen soll, die mit der Umstrukturierung eines Unternehmens nichts zu tun haben. Dies darf nicht so verstanden werden, als müssten nun Anlass und Intention der Umstrukturierung erläutert werden, was dann doch wieder auf eine materielle Beschlusskontrolle hinauslaufen würde. Aber wenn es nur vordergründig um eine Umwandlung, in Wirklichkeit aber um die Entrechtung der Anteilseigner geht, ist die Umwandlung rechtsmissbräuchlich und eine Beschlussmängelklage wird erfolgreich sein. Im Zusammenhang mit der Einfügung einer Mehrheitsklausel für einen Formwechsel im Gesellschaftsvertrag einer Kommanditgesellschaft hat der BGH vor In-Kraft-Treten des Umwandlungsgesetzes demgemäß entschieden, dass ein Formwechsel von der Mehrheit nicht dazu ausgenutzt werden darf, Veränderungen in die Wege zu leiten, die mit der Umwandlung nichts zu tun haben18. Zu dieser Fallgruppe zählt auch eine Entscheidung des OLG Düsseldorf19. Es ging um den Formwechsel einer Publikums-AG in eine Kommanditgesellschaft. Die Anfechtungsklage richtete sich weniger gegen den Formwechsel als solchen als gegen die Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrages der KG. Persönlich haftender Gesellschafter sollte nämlich eine GmbH werden. Die Anteile an dieser GmbH hielt die Mehrheitsaktionärin, die ansonsten wie alle ehemaligen Aktionäre im gleichen Verhältnis an der KG beteiligt war wie zuvor an der AG. Die Minderheitsgesellschafter sahen in der Beteiligung der der Mehrheitsaktionärin gehörenden GmbH an der KG eine durch den Formwechsel nicht veranlasste Aufteilung der Kommanditisten in zwei Klassen, nämlich in eine solche mit und in eine solche ohne Einfluss auf die GmbH. Das OLG ist dem nicht gefolgt. Schon zuvor – so das Urteil – sei der Einfluss der Minderheitsaktionäre auf die Geschäfte der AG marginal gewesen. Durch die Umwandlung habe sich dies nicht geändert. Auch habe eine andere Komplementärin nicht zur Verfügung gestanden.
__________ 17 LG Mühlhausen, DB 1996, 1967. 18 BGHZ 85, 350 (360). 19 DB 2003, 1318.
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Rechtsmissbräuchliche Umwandlungen
Dieses Urteil überzeugt. Die Rechtsstellung der Anteilseigner ist je nach Gesellschaftsform verschieden. Wer Kommanditist ist, muss sich mit einem Komplementär abfinden. Wie dieser ausgestaltet wird, kann weitgehend frei vereinbart werden20. Nur dann wenn eine quotale Beteiligung der Aktionäre an der Komplementär-GmbH problemlos möglich ist, kann sie, sofern die Gesellschafter vor der Umwandlung Einfluss auf die Geschäftsführung hatten (etwa bei einer Familien-AG mit weniger Aktionären), verlangt werden. Wenn dann nur einige Gesellschafter ohne besonderen Grund keine GmbHAnteile erhalten, verstößt dies sowohl gegen das Verbot des Rechtsmissbrauchs wie auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Dann kann der Umwandlungsbeschluss angefochten werden, da er die Entrechtung der Gesellschafter unumkehrbar einleitet und der Gesellschaftsvertrag zu dem nahezu stets Bestandteil des Beschlusses ist21. In dem Fall des OLG Düsseldorf war dies ersichtlich nicht so. Hätte es sich aber um eine Aktiengesellschaft mit nur wenigen Aktionären gehandelt, wäre die Sachlage anders. Eine Anfechtbarkeit wegen Instrumentalisierung der Umwandlung zu sachfremden Zwecken liegt beispielsweise auch vor, wenn die Rechtsform der Aktiengesellschaft durch Formwechsel einzig mit dem Ziel angestrebt wird, einen Squeeze-out durchzuführen22. Gleich steht der Fall einer Verschmelzung auf eine AG zu dem Zweck, die Quote der außenstehenden Aktionäre unter 5 % zu drücken, um dann einen Squeeze-out durchführen zu können23. Dagegen führt allein der Abbau von Mitbestimmungsmöglichkeiten (etwa bei einem Formwechsel aus der Aktiengesellschaft in eine GmbH) oder von besonderen Informationsrechten (etwa bei einem Formwechsel einer GmbH in eine AG) nicht zu der Annahme, es liege ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vor. Diese Veränderung ist zwangsläufige Folge der nunmehr andersartigen Struktur des Rechtsträgers24. Gleiches gilt für den Formwechsel aus einer Aktiengesellschaft zur Erreichung eines Delisting, zumal der mit einem Formwechsel verbundene Schutz dissentierender Aktionäre nicht
__________ 20 S. Zöllner in FS Claussen, 1997, S. 423 (434 ff.). 21 Decker in Lutter, UmwG, § 195 Rz. 36; a. A. Fuhrmann/Linnerz, ZIP 2004, 2306
(2308). 22 Gesmann-Nuissl, WM 2002, 1205 (1211); Grunewald in MünchKomm.AktG,
2. Aufl. 2004, § 327a Rz. 5; Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 3. Aufl. 2003, § 327a Rz. 28; Krieger, BB 2002, 53 (61); a. A. Angerer, BKR 2002, 260 (267); Decker in Lutter, UmwG, § 195 Rz. 23; Markwardt, BB 2004, 277 (283); nach Hamann, Minderheitenschutz beim Squeeze-out-Beschluss, 2003, S. 177 ist Anfechtbarkeit gegeben, wenn eine „Rückumwandlung“ erfolgen soll; generell skeptisch gegenüber der Annahme, es liege ein Missbrauch vor, Hasselbach in KölnerKomm. WpÜG, § 327a AktG Rz. 56. 23 S. Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 30. 24 OLG Naumburg, DB 1997, 466 (467); Henssler, ZFA 2000, 241 (244 ff.); Lutter/ Drygala in Lutter, UmwG, § 13 Rz. 39: alle zur Abschwächung und zum Wegfall der Mitbestimmung.
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hinter dem mit einem Delisting-Verfahren einhergehenden Minderheitenschutz zurückbleibt25. Hier liegt kein Fall des Rechtsmissbrauchs vor26.
IV. Zusammenfassung 1. Umwandlungsbeschlüsse bedürfen keiner sachlichen Rechtfertigung. Sie sind aber anfechtbar, wenn sie rechtsmissbräuchlich gefasst werden. 2. Rechtsmissbräuchliche Beschlussfassungen kommen in zweierlei Ausprägungen vor. Zum einen kann der Missbrauch in der Schwere der Rechtsbeeinträchtigung liegen und zum anderen in der Instrumentalisierung der Umwandlung zur Erreichung von Zielen, die nicht auf eine Umstrukturierung gerichtet sind. 3. Eine missbräuchliche Beschlussfassung liegt beispielsweise dann vor, wenn Bewertungsmängel so gravierend sind, dass sie in einem Spruchverfahren nicht mehr ausgeglichen werden können. In diesem Fall ist die Anfechtung auch dann nicht ausgeschlossen, wenn geltend gemacht wird, dass Informationen zur Feststellung dieser Bewertungsmängel erforderlich sind. Ein Formwechsel ist dann rechtsmissbräuchlich, wenn mit ihm in erster Linie der Ausschluss einer Minderheit ermöglicht werden soll (beispielsweise durch Herbeiführung einer Squeeze-out-Situation).
__________ 25 Grunewald, ZIP 2004, 542 (544); Meyer-Landrut/Kiem, WM 1997, 1361 (1369). 26 Decker in Lutter, UmwG, § 195 Rz. 20; Meyer-Landrut/Kiem, WM 1997, 1361
(1369).
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Der Rangrücktritt* Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zum Begriff des Rangrücktritts III. Behandlung der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterleistungen im Überschuldungsstatus der Gesellschaft 1. Die Lehre von der Passivierungspflicht bis zum bedingten Forderungsverzicht 2. Die Lehre vom nicht zu passivierenden Eigenkapitalersatz 3. Die Lehre von der Passivierungspflicht bis zur Vereinbarung des Rangrücktritts
IV. Erforderliche Rangtiefe zur Vermeidung der Überschuldung 1. Rangtiefe des § 199 Satz 2 InsO 2. Rangtiefe des § 39 Abs. 2 InsO 3. Rangtiefe des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO 4. Stellungnahme V. Innenverhältnis der Gesellschafter VI. Aufhebung des Rangrücktritts VII. Rangrücktritt in der Handels- und Steuerbilanz VIII. Steuerliche Behandlung des Rangrücktritts IX. Ergebnisse
I. Einleitung Die Frage der Behandlung kapitalersetzender Leistungen im Überschuldungsstatus der Kapitalgesellschaft war lange Zeit im Schrifttum umstritten. Mit Urteil vom 8.1.2001 stellte der Bundesgerichtshof klar, dass auch eigenkapitalersetzende Leistungen, soweit für sie keine Rangrücktrittserklärung abgegeben wurde, in der Überschuldungsbilanz der Gesellschaft zu passivieren seien1. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, an der auch der Jubilar als Vorsitzender des II. Zivilsenats maßgeblich beteiligt war, stellt einen Meilenstein in der Entwicklung des Rechts der eigenkapitalersetzenden Leistungen dar. Trotz der seitens des Gesetzgebers unternommenen Versuche, die Rechtsprechungsregeln zu kodifizieren, war und ist das Recht des Eigenkapitalersatzes eine Domäne des Richterrechts. Dies mag insbesondere mit der Funktion der Regeln über den Eigenkapitalersatz zusammenhängen, Umgehungen im Hinblick auf die ordnungsgemäße Kapitalisierung der Kapitalgesellschaft zu sanktionieren. Solche Umgehungen lassen sich vom Gesetzgeber wenn überhaupt nur generalklauselartig erfassen und bedürfen stets
__________ * Ich danke Herrn Dr. Siddhartha Schwenzer für die Mitwirkung an diesem Beitrag. 1 BGHZ 146, 264 = BGH, NJW 2001, 1280.
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der Ausfüllung durch die Judikative. In das Prokrustesbett subsumtionsfähiger Tatbestände lassen sich Umgehungen regelmäßig nur schwer zwängen. Die Frage, ob eigenkapitalersetzende Leistungen im Überschuldungsstatus zu passivieren sind, ist von eminenter Bedeutung, da hiervon letztlich abhängig sein kann, ob der Rubikon der Überschuldung überschritten wurde und damit der mit dem Eintritt in das Insolvenzverfahren einhergehende Paradigmenwechsel einsetzt2. Vor diesem Hintergrund sollen die wesentlichen Leitlinien der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aufgezeigt werden und Antworten auf bislang wenig geklärte Fragen im Zusammenhang mit dem Rangrücktritt gesucht werden.
II. Zum Begriff des Rangrücktritts Entgegen dem Anschein, den der Begriff der Rangrücktrittserklärung erwecken könnte, handelt es sich bei dem Rangrücktritt nicht um eine einseitige Willenserklärung des Gläubigers. Vielmehr entspricht es allgemeiner Auffassung, dass der Rangrücktritt einen schuldändernden Vertrag zwischen der überschuldeten Gesellschaft und dem zurücktretenden Gläubiger darstellt. Allerdings ist zu beachten, dass eine entsprechende Rangrücktrittsvereinbarung nach § 151 BGB regelmäßig auch ohne Erklärung der Annahme gegenüber dem Gläubiger zu Stande kommt3. Inhaltlich handelt es sich bei der Rangrücktrittsvereinbarung um einen schuldändernden Vertrag, durch den die Parteien vereinbaren, dass der Gläubiger mit seiner Forderung erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und – bis zur Abwendung der Krise – auch nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagenrückgewähransprüchen der (Mit-)Gesellschafter berücksichtigt wird4. Des Weiteren muss im Hinblick auf eine Befriedigung außerhalb der Krise vereinbart werden, dass die Tilgung der zurückgetretenen Forderungen erst nach Beseitigung der Überschuldungsgefahr aus künftigen Gewinnen, sonstigem, die anderen Schulden der Gesellschaft übersteigenden Vermögen oder aus einem Liquidationsüberschuss verlangt werden kann5. Im Gegensatz zu einem Forderungsverzicht bleiben mit der Forderung trotz des Rangrücktritts auch die für sie bestellten Sicherheiten erhalten6. Eine abgesonderte Befriedigung aus Sicherheiten der schuldenden Gesellschaft ist allerdings nicht zulässig. Insofern gelten die Grundsätze für kapitalersetzende Darlehen entsprechend. Anders ist die Rechtslage, sofern die Sicherheiten
__________
Vgl. hierzu Paulus, ZGR 2002, 320 (322). Wittig, NZI 2001, 169 (171). BGH, NJW 2001, 1280 (1281). BGH, NJW 1987, 1697; OLG Düsseldorf, NJW-RR 1996, 1443; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, §§ 32a, 32b Rz. 63. 6 Peters, WM 1988, 685 (689). 2 3 4 5
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Der Rangrücktritt
von einem Dritten bestellt wurden. In diesem Fall ist der Gläubiger durch den Rücktritt nicht an einer Verwertung der Sicherheiten gehindert, da nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens der mit dem Rangrücktritt verfolgte Zweck nicht mehr zu erreichen ist. Zu beachten ist allerdings, dass mit der Inanspruchnahme der Sicherheit der Sicherungsgeber einen Rückgriffsanspruch gegen die Gesellschaft hat. Dieser folgt zum einen regelmäßig aus der auf ihn übergehenden, im Rang zurückgetretenen Forderung; daneben besteht regelmäßig aber auch ein entsprechender Anspruch aus dem Rechtsverhältnis zwischen dem Sicherungsgeber und der Gesellschaft. Jedenfalls hinsichtlich des Regressanspruches, der aus dem Rechtsverhältnis zwischen der schuldenden Gesellschaft und dem Sicherungsgeber besteht, dürfte es erforderlich sein, dass der Dritte auch hinsichtlich des Regressanspruches einen Rangrücktritt vereinbart, um die Überschuldung der Gesellschaft zu beseitigen7. Ebenso wie die Sicherheit bleibt auch eine Zinspflicht von der Rangrücktrittsvereinbarung im Grundsatz unberührt, das heißt, auch für den Zeitraum, in dem eine Zahlung aufgrund der Rangrücktrittsvereinbarung nicht verlangt werden kann, besteht die Zinspflicht fort. Allerdings wird auch der Zinsanspruch von der Rangrücktrittsvereinbarung erfasst, so dass Zinsen erst dann rückwirkend geltend gemacht werden können, wenn und soweit das Aktivvermögen der zu sanierenden Gesellschaft die Verbindlichkeiten übersteigt8. Abzugrenzen von der Rangrücktrittsvereinbarung im insolvenzrechtlichen Sinne sind relative Rangrücktrittsvereinbarungen einerseits und Forderungsverzichte mit Besserungsschein andererseits. Bei der relativen Rangrücktrittsvereinbarung vereinbaren die Gläubiger lediglich untereinander, dass die Forderung eines Gläubigers hinter die Forderungen eines anderen Gläubigers zurücktreten soll. Zweck solcher relativer Rangrücktrittsvereinbarungen ist, dass dem begünstigten Gläubiger ein vorrangiges Befriedigungsrecht zukommt. Ein solcher lediglich relativer Rangrücktritt lässt den Charakter der zurücktretenden Forderung aus Sicht der schuldnerischen Gesellschaft und der nicht an der Rangrücktrittsvereinbarung beteiligten Gläubiger unberührt. Im Gegensatz zu einer Rangrücktrittsvereinbarung im insolvenzrechtlichen Sinne, die im Hinblick auf die Gesellschaftsgläubiger keinen anspruchsbegründenden Charakter hat, entfaltet eine relative Rangrücktrittsvereinbarung unmittelbar begünstigende Wirkung hinsichtlich des jeweiligen Vertragspartners9. Bei einem Forderungsverzicht mit Besserungsschein handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen Schuldner und Gläubiger, durch die der Gläubiger
__________
Wittig, NZI 2001, 169 (171). K. Schmidt, GmbHR, 1999, 9 (11); Teller/Steffan, Rangrücktrittsvereinbarungen zur Vermeidung der Überschuldung bei der GmbH, 3. Aufl. 2003, Rz. 355 ff. 9 Teller/Steffan (Fn. 8), Rz. 23 ff.; Wittig, NZI 2001, 169 (171). 7 8
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auf seine Forderung ganz oder wenigstens teilweise verzichtet, um sie bei einer späteren Besserung der Vermögensverhältnisse des Schuldners wieder geltend zu machen. Der Forderungsverzicht mit Besserungsschein ist ein Erlassvertrag, der unter einer auflösenden Bedingung steht, so dass der Forderungserlass bei Besserung der Vermögensverhältnisse entfällt10. Unabhängig von der mit dem Besserungsschein vereinbarten auflösenden Bedingung hat der Forderungsverzicht ein Erlöschen der Forderung zur Folge. Daraus folgt, dass akzessorische Sicherheiten automatisch frei werden und nicht akzessorische Sicherheiten freizugeben sind11. Eine Zinspflicht endet, sofern die Parteien nicht ausdrücklich anderes vereinbart haben12.
III. Behandlung der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterleistungen im Überschuldungsstatus der Gesellschaft Bereits unter der Geltung der Konkursordnung war die Frage der Behandlung eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen im Überschuldungsstatus umstritten. Lediglich im Ausgangspunkt bestand Einigkeit, dass eigenkapitalersetzende Darlehen mit Rangrücktritt in der Überschuldungsbilanz nicht zu berücksichtigen waren. Die Behandlung eigenkapitalersetzender Darlehen ohne Rangrücktritt in der Überschuldungsbilanz war hingegen streitig13. Der Meinungsstreit wurde durch die Insolvenzordnung nicht geklärt, allerdings finden sich in der Insolvenzordnung zwei Bestimmungen, die eigenkapitalersetzende Darlehen und den Rangrücktritt zum Gegenstand haben. Nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO werden Forderungen auf Rückgewähr des kapitalersetzenden Darlehens eines Gesellschafters oder gleichgestellte Forderungen erst im letzten Rang der nachrangigen Gläubiger berücksichtigt. Bei der Vorschrift des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO handelt es sich um die Bestimmung der Rangklasse kapitalersetzender Darlehen. Daneben sieht § 39 Abs. 2 InsO vor, dass Forderungen, für die zwischen Gläubiger und Schuldner der Nachrang im Insolvenzverfahren vereinbart worden ist, im Zweifel nach den sonstigen Forderungen nachrangiger Insolvenzgläubiger einschließlich der Forderungen der Rangklasse nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO berichtigt werden. Bei der Bestimmung des § 39 Abs. 2 InsO handelt es sich um eine Auslegungsregel. Auch nach der Verabschiedung der InsO blieb die Frage umstritten, unter welchen Voraussetzungen eine Passivierungspflicht eigenkapitalersetzender Darlehen im Überschuldungsstatus entfällt.
__________ 10 Wittig, NZI 2001, 169 (170). 11 K. Schmidt, GmbHR 1999, 9, 11; Wittig, NZI 2001, 169 (170). 12 Herlinghaus, Forderungsverzichte und Besserungsvereinbarungen zur Sanierung
von Kapitalgesellschaften, 1994, S. 136 f.; Wittig, NZI 2001, 169 (170). 13 Vgl. hierzu Fleischer, ZIP 1996, 773 (774); Lutter, ZIP 1999, 641 (645).
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Der Rangrücktritt
1. Die Lehre von der Passivierungspflicht bis zum bedingten Forderungsverzicht Nach Verabschiedung der Insolvenzordnung wurde die Ansicht vertreten, auch ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen müsse als nachrangige Verbindlichkeit der Gesellschaft in jedem Fall in der Überschuldungsbilanz passiviert werden, da die Klassifizierung kapitalersetzender Darlehen als Forderung nachrangiger Insolvenzgläubiger nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO die Einordnung als Verbindlichkeit der Gesellschaft notwendig voraussetze. Daher sei auch ein bloßer Rangrücktritt nicht ausreichend, die Passivierungspflicht im Überschuldungsstatus aufzuheben. Zur Abwendung einer Überschuldung bedürfe es eines bedingten Verzichts des Gesellschafters auf den Rückzahlungsanspruch14. Eine Berücksichtigung eigenkapitalersetzender Darlehen mit Rangrücktritt im Überschuldungstatut ergebe sich aus der Begründung zu § 23 RegE (§ 19 Abs. 1 InsO), wonach auch nachrangige Verbindlichkeiten i. S. d. § 46 des Entwurfs (§ 39 InsO) auf der Passivseite des Überschuldungsstatus zu berücksichtigen sind. Des Weiteren heißt es in der Regierungsbegründung, dass dem praktischen Bedürfnis, durch den Rangrücktritt eines Gläubigers eine Überschuldung zu vermeiden, in der Weise Rechnung getragen werden könne, dass die Forderung des Gläubigers für den Fall der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens erlassen werde15. Zudem bestehe die Notwendigkeit des Forderungsverzichts mit Rücksicht auf die Einbeziehung der nachrangigen Gläubiger in Insolvenzplanleistungen (vgl. §§ 222, 225 InsO). Nur ein Forderungsverzicht schaffe insofern die notwendige Transparenz, ob die Forderung des Kapitalersatzgebers durch den Insolvenzplan erfasst werde oder nicht16. 2. Die Lehre vom nicht zu passivierenden Eigenkapitalersatz Nach der Gegenansicht sollten kapitalersetzende Darlehen nicht zu passivieren sein, unabhängig davon, ob bezüglich der Darlehen ein Rangrücktritt bestand oder nicht. Ansprüche aus kapitalersetzenden Leistungen nähmen nicht am Konkursverfahren teil17, sondern seien ex iure in Eigenkapital-
__________ 14 Hess, InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2001, § 19 Rz. 43; Hess/Weis, InVo 1999, 33; Kling, NZG
2000, 872 ff.; Ehlers, DStR 1998, 1756 (1758); Reck, GmbHR 1999, 267 (274); Beintmann, Eigenkapitalersetzende Darlehen im Überschuldungsstatus, 1998, S. 227 f.; a. A. Hirte, DStR 2000, 1829 (1831). 15 BT-Drucks. 12/2443, S. 115. 16 Hess/Weiß, InVo 1999, 33 (35). 17 OLG Düsseldorf, GmbHR 1997, 699; OLG Stuttgart, NZG 1998, 308; Fleischer, ZIP 1996, 773 (778); für die Rechtslage nach In-Kraft-Treten der InsO vgl. Hirte, DStR 2000, 1829 (1830 f.).
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Wilhelm Haarmann
ersatz umqualifiziert18. Nach der Rechtsprechung seien eigenkapitalersetzende Darlehen gemäß §§ 30, 31 GmbHG wie gebundenes Eigenkapital zu behandeln und dürften vom Geschäftsführer auch nicht auf Weisung der Gesellschafter zurückgezahlt werden. Folglich handele es sich auch aus diesem Grund nicht um eine von der Gesellschaft zu erfüllende Verbindlichkeit19. Bei der Regelung des § 39 InsO handele es sich insoweit um einen Irrtum des Gesetzgebers, als dieser kapitalersetzende Darlehen als Drittforderungen behandele20. Es gebe keinen Grund dafür, den vom Insolvenzantrag absehenden Geschäftsführer in die Haftung zu nehmen, wenn die Gesellschaft noch über genügend Aktiva verfüge, um sämtliche Gläubiger zu befriedigen21. Sinn und Zweck der Überschuldungsbilanz sei es, die von dem jeweiligen Bestand des Gesellschaftsvermögens ausgehende Gefährdung der Gläubigerpositionen anzuzeigen22. Da eigenkapitalersetzende Forderungen jedoch nur nachrangig zu bedienen seien, führten diese nicht zur Verschärfung des Verteilungskonflikts unter den Gläubigern. Die Gesellschaft könne nicht in die Insolvenz getrieben werden, nur weil ein Gesellschafter („als Zünglein an der Waage“) eine Forderung gegen die Gesellschaft habe und sich weigere, einen Rangrücktritt zu erklären23. Dem Einwand, dass nicht immer klar zu ermitteln sei, ob es sich bei der Gesellschafterleistung um Eigenkapitalersatz handelt, begegnet diese Lehre mit dem Argument, dass bei Zweifeln des Geschäftsführers über den kapitalersetzenden Charakter der Leistung gegebenenfalls eine Rückstellung erfolgen könne und müsse24. 3. Die Lehre von der Passivierungspflicht bis zur Vereinbarung des Rangrücktritts Der Bundesgerichtshof hat sich in seiner Entscheidung vom 8.1.200125 keiner der vorgenannten Ansichten angeschlossen, sondern vielmehr die ver-
__________ 18 Fleischer, ZIP 1996, 773 (775); Hommelhoff in FS Döllerer, 1988, S. 245 (257);
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Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 15. Aufl. 2000, § 64 Rz. 17c; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Bd. 3, 8. Aufl. 1997, § 63 Rz. 46a. OLG München, NJW 1994, 3112; Wolf, DB 1997, 1833 (1835). Lutter/Hommelhoff, GmbH, § 64 Rz. 17b. Lutter/Hommelhoff, GmbH, § 64 Rz. 17d. Haas, NZI 1999, 209 (210). OLG München, NJW 1994, 3112; OLG Düsseldorf, GmbHR 1997, 699; SchulzeOsterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 63 Rz. 15; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 63 Rz. 46a; Noack in RWS-Forum 9, 1997, S. 195 (208 f.); Brüggemann, NZG 1999, 811 (813); Fleischer, ZIP 1996, 773 (777 ff.). Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 63 Rz. 15; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 63 Rz. 46a; Noack (Fn. 23), S. 195, 209; Hommelhoff (Fn. 18), S. 245, 253; Hirte, DStR 2000, 1829 (1831); Fleischer, ZIP 1996, 773 (777). BGH, NJW 2001, 1280 (1281 f.); zur KO bereits BGH, NJW 1994, 274.
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Der Rangrücktritt
mittelnde Ansicht26 für richtig befunden, nach der es einer schuldrechtlichen Rangrücktrittsvereinbarung bedarf, um eine Passivierung eigenkapitalersetzender Gesellschafterleistungen zu vermeiden. Der Bundesgerichtshof geht grundsätzlich davon aus, dass für die Ermittlung des Überschuldungsstatus die Passivierung der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterforderungen erforderlich ist27. Unter Berufung auf eine bereits gefestigte Rechtsprechung28 führte der II. Zivilsenat aus, dass solche Gesellschafterforderungen in der Krise ihren Charakter als Verbindlichkeiten nicht verlieren, auch wenn sie während der Dauer der Krise nicht durchsetzbar sind, weil sie den Eigenkapitalersatzregeln unterfallen. Die mangelnde Durchsetzbarkeit solcher Forderungen führe aber noch nicht dazu, dass diese als statutarisches Eigenkapital anzusehen seien. Schließlich sei der Gesellschafter als Drittgläubiger nach Überwindung der Krise nicht gehindert, seine Rechte gegen die Gesellschaft – und zwar auch hinsichtlich der Rückstände – zu verfolgen29. Im Verhältnis zu seinen Mitgesellschaftern verliere er auch im Falle der Insolvenz der Gesellschaft diese Stellung als Gesellschaftsgläubiger nicht und könne deswegen – sofern nach Befriedigung aller anderen Gläubiger der Gesellschaft ein zu verteilender Betrag verbleibt – die bis dahin in der Durchsetzung gehemmten Ansprüche mit Vorrang vor den Forderungen der Mitgesellschafter bei der Verteilung des Liquidationserlöses geltend machen. Diese Gründsätze seien nun durch § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO bestätigt30. Auch gebühre dem Gesellschafterinteresse an der Erhaltung der Gesellschaft nicht der Vorrang vor dem Gläubigerinteresse an einer auf rechtssicherer Grundlage getroffenen Entscheidung über die Insolvenzreife der Gesellschaft. Durch Abgabe einer Rangrücktrittserklärung hätten es die Gesellschafter in der Hand, deutlich zu machen, dass sie jedenfalls zeitweilig auf ihre Position als Drittgläubiger verzichten, und somit auf das Überschuldungsmaß einzuwirken31. Eine solche Finanzierungsentscheidung begründe zudem eine zweifelsfreie und rechtssichere Grundlage für die vom Geschäftsführer zu treffende Entscheidung, ob die Gesellschaft überschuldet ist und er den Insolvenzantrag stellen muss. Trotz der ausgedehnten Rechtsprechung zum Eigenkapitalersatzrecht sei die Frage der Eigenkapitalzugehörigkeit von Gesellschafterdrittleistungen schwierig zu beurteilen. Durch eine
__________ 26 K. Schmidt, GmbHR 1999, 9 (11); ders. (Fn. 5), §§ 32a, 32b Rz. 27; Altmeppen in
27 28 29 30 31
Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 63 Rz. 17; Fischer, GmbHR 2000, 66 (68); Lenz, GmbHR 1999, 283 (284). BGH, NJW 2001, 1280 (1281). Vgl. BGHZ 140, 147 (153) m. w. N. Vgl. auch schon BGHZ 140, 147 (153). BGH, NJW 2001, 1280 (1282). BGH, NJW 2001, 1280 (1282).
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Aufforderung des betreffenden Gesellschafters zur Abgabe einer Rangrücktrittserklärung könne der Geschäftsführer aber klare Verhältnisse schaffen. Mit dem Rangrücktritt erkläre der betreffende Gesellschafter sinngemäß, er wolle wegen der genannten Forderungen erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und – bis zur Abwendung der Krise – auch nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen seiner Mitgesellschafter berücksichtigt, also so behandelt werden, als handele es sich bei seiner Gesellschafterleistung um statutarisches Kapital. Stelle sich der Gesellschafter in dieser Weise wegen seiner Ansprüche aus einer in funktionales Eigenkapital umqualifizierten Drittleistung auf dieselbe Stufe, auf der er selbst und seine Mitgesellschafter hinsichtlich ihrer Einlagen stehen, bestünde keine Notwendigkeit, diese Forderungen in den Schuldenstatus der Gesellschaft aufzunehmen32. Einer darüber hinausgehenden Erklärung des Gesellschafters, insbesondere eines Forderungsverzichts, bedürfe es ebenfalls nicht. Die Rangrücktrittserklärung sei für sich schon ausreichend, um sowohl die Interessen der außenstehenden Gläubiger als auch die der Gesellschafter, die auf den Erhalt der GmbH gerichtet sind, zu wahren. Ein zusätzlicher Verzicht bewirke nur eine zusätzliche Begünstigung der Mitgesellschafter für den Fall der Überwindung der Krise oder des Vorhandenseins eines Liquidationsüberschusses33.
IV. Erforderliche Rangtiefe zur Vermeidung der Überschuldung Die Frage, in welchen Rang die Forderung zurücktreten muss, damit sie im Überschuldungsstatus nicht mehr zu passivieren ist, hat der Bundesgerichtshof nicht ausdrücklich angesprochen. Insofern kommen drei Rangklassen in Betracht: ein Rücktritt in den Rang kapitalersetzender Darlehen nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, ein Rücktritt in den Rang nach den Forderungen aus § 39 Abs. 1 (§ 39 Abs. 2 InsO) sowie schließlich ein Rücktritt in den letzten Rang des § 199 Satz 2 InsO. 1. Rangtiefe des § 199 Satz 2 InsO Die ganz überwiegende Auffassung in der Literatur versteht die Ausführungen des Bundesgerichtshofs zum Inhalt der Rücktrittsvereinbarung dahin, ein Rücktritt in den Rang des § 199 Satz 2 InsO sei erforderlich, um eine Passivierung im Überschuldungsstatus zu vermeiden34. Hierfür spreche ins-
__________ 32 BGH, NJW 2001, 1280 (1281). 33 BGH, NJW 2001, 1280 (1281). 34 So in der Tat Goette, DStR 2001, 179; Priester, EWiR 2001, 329 (330); ebenso das
Verständnis der Entscheidung von Paulus, ZGR 2002, 320 (327 f.) (wenngleich er die Entscheidung insofern ablehnt); dagegen aber Altmeppen, ZIP 2001, 240 (241); Wittig, NZI 2001, 169 (173).
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besondere die Formulierung des Bundesgerichtshofes, dass der betreffende Gesellschafter erklären müsse, er wolle wegen seiner zurücktretenden Forderung erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftergläubiger und nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagenrückgewähransprüchen seiner Mitgesellschafter berücksichtigt, also so behandelt werden, als handele es sich bei seiner Gesellschafterleistung um statutarisches Kapital. Nur wenn sich ein Gesellschafter in dieser Weise wegen seiner Ansprüche aus einer in funktionales Eigenkapital umqualifizierten Drittleistung auf dieselbe Stufe stelle, auf der er selbst und seine Mitgesellschafter hinsichtlich ihrer Einlagen stünden, bestünde keine Notwendigkeit, diese Forderung in den Schuldenstatus der Gesellschaft aufzunehmen. 2. Rangtiefe des § 39 Abs. 2 InsO Nach anderer Auffassung soll die Rangrücktrittserklärung zum Inhalt haben müssen, dass der Gläubiger in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO zurücktrete35. Die Formulierungen des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit der Rangtiefe seien insofern missverständlich. Gläubiger, die einen Rangrücktritt vereinbart hätten, wollten erst letztrangig befriedigt werden, um der Gesellschaft in der Krise die Fortsetzung zu ermöglichen. Nur durch eine entsprechende Erklärung, hinter sämtliche Gläubiger i. S. d. § 39 Abs. 1 InsO zurückzutreten, könne der Gesellschafter-Kreditgeber die Insolvenzantragspflicht abwenden. Nur wegen einer solchermaßen verstandenen Rangfolge sei der Gesellschafter-Kreditgeber einerseits im Schutzbereich der Insolvenzantragspflicht und andererseits zugleich in der Lage, die Insolvenzantragspflicht durch den Rangrücktritt abzuwenden. Daher sei auch allein die Lehre richtig, die zur Abwendung der Insolvenzantragspflicht im Hinblick auf das eigenkapitalersetzende Darlehen eine Rangrücktrittserklärung fordere. 3. Rangtiefe des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO Nach der gegenteiligen Auffassung soll aus den Ausführungen des Bundesgerichtshofs hingegen nicht folgen, dass ein Rangrücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zur Entlastung des Überschuldungsstatus nicht ausreichend wäre36. Der Bundesgerichtshof habe zwar entschieden, dass eigen-
__________ 35 Altmeppen, ZIP 2001, 240 (241); Felleisen, GmbHR 2001, 195 (196); Obermüller,
Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 6. Aufl. 2002, Rz. 1.1023 f.; Teller/Steffan (Fn. 8), Rz. 284 ff.; wohl auch Westermann, DZWiR 2001, 207 (209). 36 Fischer, GmbHR 2000, 66 (69); Fleischer, JZ 2001, 1191 (1193); Habersack/Mayer, NZG 2001, 365 (366); Rasner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 63 Rz. 68; Haas, NZI 2002, 457 (463); Kleindiek, WuB II C. § 32a GmbHG 5.01 sub. 3; Wittig in K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2003, Rz. 518; ders., NZI 2001, 169 (173 f.); K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, vor § 64 Rz. 32; Uhlenbruck in K. Schmidt/Uhlenbruck,
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kapitalersetzende Darlehen im Überschuldungsstatus weiter als Verbindlichkeiten berücksichtigt würden, obwohl sie kraft Gesetzes in der Krise und Insolvenz ohnehin in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zurückgestuft seien. Entscheidend sei aber nicht, dass ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO grundsätzlich unzureichend sei, um die Passivierungspflicht für die zurückgetretenen Forderungen entfallen zu lassen. Tragender Grund für das Erfordernis einer Rangrücktrittserklärung auch für kapitalersetzende Gesellschafterdarlehen sei, dass die Entscheidung über die Insolvenzreife auf zweifelsfreier und rechtssicherer Grundlage getroffen werden müsse. Deshalb sei es auch erforderlich, dass die Gesellschafter, denen an der Erhaltung ihrer Gesellschaft gelegen sei, durch Abgabe der Rangrücktrittserklärung deutlich machen, dass sie jedenfalls für die Dauer der Krise auf ihre Position als Drittgläubiger verzichtet hätten. 4. Stellungnahme Dem Gesetz lassen sich keine unmittelbaren Aussagen zur erforderlichen Rangtiefe zur Vermeidung einer Passivierung im Überschuldungsstatus entnehmen. Bei der Regelung des § 39 Abs. 2 InsO handelt es sich lediglich um eine Auslegungsregel. Weshalb aufgrund der Bestimmung eine abweichende vertragliche Regelung der Rangtiefe unzulässig sein sollte, ist nicht ersichtlich, zumal die Begründung zu § 39 InsO ausdrücklich hervorhebt, dass eine Forderung, deren Nachrang vertraglich vereinbart ist, im Verhältnis zu den übrigen Forderungen grundsätzlich mit dem vereinbarten Rang berichtigt wird37. Die Gründe, die den Bundesgerichtshof zu einer anderen Beurteilung bewogen haben, liegen auf der Hand. Nach der gesetzgeberischen Konzeption sollten eigenkapitalersetzende Darlehen und gleichgestellte Forderungen, hinsichtlich deren ein Rangrücktritt nicht vereinbart wurde, als nachrangige Insolvenzforderungen gelten (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) und unter den Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 InsO zur Insolvenztabelle angemeldet werden können. Dies legt es in der Tat nahe, auch kapitalersetzende Leistungen in der Insolvenz zunächst als Drittforderungen zu behandeln und nur unter der Voraussetzung einer ausdrücklichen Rangrücktrittsvereinbarung im Überschuldungsstatut unberücksichtigt zu lassen. Dieser Umstand zwingt indes keineswegs zu der Annahme, ein Rangrücktritt, in dem ausdrücklich die Rangtiefe des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO vereinbart wird, sei nicht ausreichend, um eine Passivierungspflicht im Überschuldungsstatus zu vermeiden. Gedanklich setzt dies freilich eine Binnen-
__________ Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 919; ders. in Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 19 Rz. 72; wohl auch Paulus, ZGR 2002, 327 ff. Vor dem BGHUrteil: K. Schmidt, GmbHR 1999, 9 (12 f.); ders., ZIP 1999, 1241 (1247). 37 Vgl. Kraemer, Das neue Insolvenzrecht, 1995, S. 148.
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differenzierung im Rahmen des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO in eigenkapitalersetzende Leistungen ohne Rangrücktritt, eigenkapitalersetzende Leistungen mit Rangrücktritt und Drittleistungen mit Rangrücktritt voraus. Eine solche Binnendifferenzierung mag ästhetischem Empfinden widersprechen, das geneigt ist, die Linie zwischen in der Überschuldungsbilanz zu berücksichtigenden Drittforderungen und als darlehensweise überlassenem Eigenkapital zwischen § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO und § 39 Abs. 2 InsO zu ziehen, ist jedoch zwingende Konsequenz der gerade auch vom Gesetzgeber eingeräumten Möglichkeit, die Rangtiefe privatautonom zu vereinbaren. Dies muss insbesondere dann gelten, wenn übergeordnete Gerechtigkeitsgesichtspunkte für eine solche Auslegung sprechen. Zum einen gilt es hierbei das Interesse der sonstigen Gläubiger zu berücksichtigen. Diese erfahren aber keine Benachteiligung, wenn man einen Rangrücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO für ausreichend hält, da sie sämtlich vorrangigen Rangklassen angehören. Beeinträchtigt werden ausschließlich die Gläubiger kapitalersetzender Leistungen, die aber ihrerseits nicht schutzwürdig sind. Auch das vom Bundesgerichtshof zu Recht betonte Erfordernis einer zweifelsfreien und rechtssicheren Grundlage, auf der die Geschäftsführer ihre Entscheidung über das Erfordernis eines Insolvenzantrags treffen können, wird durch eine solche Einordnung nicht beeinträchtigt. Entscheidend dafür, dass ein Rangrücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO ausreichend ist, dürfte der Gesichtspunkt der horizontalen Gerechtigkeit zwischen den Gesellschaftern und sonstigen Gläubigern sein. Wollte man nur eine Rangrücktrittserklärung in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO oder des § 199 Satz 2 InsO für ausreichend erachten, so würde dies zu einer Bevorzugung solcher Gesellschafter führen, die zwar eigenkapitalersetzende Leistungen erbracht haben, aber zu einem weiter gehenden Sanierungsbeitrag nicht bereit sind. Ein Ergebnis, das offensichtlich auch nicht dem Bundesgerichtshof vorgeschwebt hat, wenn er im Hinblick auf die Entbehrlichkeit eines Verzichts ausführt, dass ein solcher ausschließlich die Mitgesellschafter begünstigt, während die Interessen der Gesellschaftsgläubiger durch eine Rangrücktrittserklärung hinreichend geschützt seien38. Eine solche Benachteiligung wird dem kooperationswilligen Gesellschafter regelmäßig auch nur schwer vermittelbar sein. Gänzlich unverständlich wird einem Drittgläubiger sein, weshalb sein Sanierungsbeitrag gegenüber eigenkapitalersetzenden Leistungen ohne Rangrücktritt diskriminiert wird. Bislang wenig beachtet wurde jedoch ein Folgeproblem, das sich aus der Auslegungsregel des § 39 Abs. 2 InsO ergibt. Diese hat nämlich zur Konsequenz, dass Rangrücktrittsvereinbarungen, die eine ausdrückliche Bestimmung hinsichtlich der Rangtiefe nicht enthalten, gegenüber den Forderungen nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nachrangig sind. Die herrschende Meinung behilft
__________ 38 BGH, NJW 2001, 1280 (1281).
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sich insofern damit, dass bei Gesellschafterdarlehen die Vermutungsregel des § 39 Abs. 2 InsO keine Anwendung finden soll, sondern es sich im Zweifel um einen Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO handeln soll39. Dieser Ansicht ist zweifelsohne zuzustimmen, wenn es sich bei den Gläubigern ausschließlich um Gesellschafter handelt; problematisch wird sie jedoch dann, wenn auch Drittgläubiger einen Rangrücktritt erklärt haben. Weshalb in solchem Fall Gesellschafter vorrangig vor den Drittgläubigern befriedigt werden sollen, entbehrt der sachlichen Rechtfertigung. Auf eine entsprechende Rangrücktrittsvereinbarung sollten sich Drittgläubiger daher nur dann einlassen, wenn gewährleistet ist, dass auch sämtliche Gesellschafter mit ihren Forderungen gegen die Gesellschaft in mindestens denselben Rang zurücktreten wie die betroffenen Drittgläubiger. In der gegenwärtigen Praxis dürfte dies ohnehin keine allzu große Rolle spielen, da aufgrund der hinsichtlich der Rangtiefe bestehenden Rechtsunsicherheit regelmäßig ein Rücktritt in den Rang des § 199 Satz 2 InsO vereinbart werden wird.
V. Innenverhältnis der Gesellschafter Die hier vertretene Ansicht, lediglich ein Rangrücktritt in die Rangklasse des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO sei erforderlich, hat zur Konsequenz, dass eigenkapitalersetzende Gesellschafterleistungen mit und ohne Rangrücktritt gleich zu behandeln sind. Dies gilt nach herrschender Meinung nicht nur dann, wenn für den Rangrücktritt ausdrücklich die Rangtiefe des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO vereinbart wurde, sondern auch dann, wenn lediglich ein unspezifischer Rangrücktritt vereinbart wurde. Folgt man der hier vertretenen Ansicht, wonach ein Rangrücktritt hinsichtlich eigenkapitalersetzender Leistungen lediglich deklaratorische Bedeutung hat, liegt es nahe, unter Treuepflichtgesichtspunkten eine Verpflichtung des Gesellschafter-Gläubigers anzunehmen, eine entsprechende Rangrücktrittserklärung abzugeben, sofern diese geeignet ist, den Fortbestand der Gesellschaft zu gewährleisten. Eine Verpflichtung zum Abschluss einer deklaratorischen Rangrücktrittsvereinbarung besteht insbesondere dann, wenn sie einer sinnvollen und mehrheitlich angestrebten Sanierung der Gesellschaft dient40. Eine entsprechende Verpflichtung bedarf aber der Einschränkung. Zum einen dürfen nicht begründete Zweifel bestehen, ob die Leistung überhaupt Eigenkapitalersatzfunktion hat, da im anderen Fall der Rangrücktrittsvereinbarung nicht lediglich deklaratorische Funktion zukäme und der Gesellschafter berechtigte Hoffnung hegen könnte, wenigstens in Höhe der Quote befriedigt zu wer-
__________
39 Heidinger in Michalski, GmbHG, Bd. 1, 2002, §§ 32a, 32b Rz. 402; Hueck/Fastrich
in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 32a Rz. 55; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 100. 40 Vgl. BGH, NJW 1995, 1739 ff. (Girmes) zur Ausübung des Stimmrechts bei der Kapitalherabsetzung zur Sanierung der AG.
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den. Zum anderen wird man dem Gesellschafter die Verweigerung eines entsprechenden Rangrücktritts konzedieren müssen, wenn überwiegende Gründe für eine „Liquidation“ der Gesellschaft sprechen. Nimmt man hingegen – entgegen der hier vertretenen Ansicht – an, die Rangrücktrittsvereinbarung begründe konstitutiv eine Veränderung der Rangtiefe, sei es in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO, sei es in den Rang des § 199 Satz 2 InsO, so erfordert die Annahme einer Zustimmungspflicht einen ungleich höheren Begründungsaufwand. Eine Verpflichtung zur Abgabe einer Rangrücktrittserklärung wird man vor diesem Hintergrund allenfalls dann annehmen können, wenn die betroffene Forderung aufgrund ihres Ranges in der Insolvenz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausfallen wird und andererseits die Sanierung der Gesellschaft als ganz überwiegend wahrscheinlich erscheint, sofern der betreffende Gesellschafter den Rangrücktritt erklärt. Jedoch bestehen auch in diesem Fall noch erhebliche Bedenken gegen eine entsprechende Treuepflicht, da sie in der Sache zur Begründung einer Leistungspflicht ohne satzungsmäßige Grundlage führen würde.
VI. Aufhebung des Rangrücktritts Nach allgemeiner Auffassung soll es möglich sein, dass die Vereinbarung über den Rangrücktritt eine Bestimmung dahin gehend enthält, dass die Tilgung der eigenkapitalersetzenden Leistung nach Beseitigung der Überschuldungsgefahr aus künftigen Gewinnen, sonstigem, die anderen Schulden der Gesellschaft übersteigenden Vermögen oder aus einem Liquidationsüberschuss erfolgen muss41. Eine solche Bestimmung hat die automatische Entsperrung der Rangrücktrittsvereinbarung für den Fall der Überwindung der Krise zur Folge. Auch die Balsam/Procedo-Entscheidung42 des Bundesgerichtshofs ändert nichts an der Zulässigkeit einer solchen automatischen Entsperrung, da die Entscheidung lediglich zum Gegenstand hatte, ob ein Erstattungsanspruch nach §§ 30, 31 GmbHG infolge der Überwindung der Krise erlischt und nicht auf die Entsperrung kapitalersetzender Leistungen übertragbar ist43. Selbst wenn die Gesellschaft die Krise nachhaltig überwunden haben sollte, sich nach einer Übergangszeit jedoch erneut eine Krise einstellt, hat dies zur Folge, dass die Forderung mit dem Rangrücktritt behaftet bleibt. Insbesonde-
__________ 41 OLG Düsseldorf, NJW 1997, 1455; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b
Rz. 102; Herlinghaus (Fn. 12), S. 86 ff.; Wittig, NZI 2001, 169 (174). 42 BGH, NJW 2000, 2577 ff. 43 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 32a Rz. 49; Bormann, DB 2001, 907
(908 f.); Kort, ZGR 2001, 615 (641 f.); K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 54; Willemsen/Coenen, DB 2001, 910 (912); a. A. Kurth/Delhaes, DB 2000, 2577 (2581).
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re Drittkreditgeber, aber auch ausscheidende Gesellschafter werden ein Interesse daran haben, dass nach einer nachhaltigen Überwindung der Krise der vereinbarte Rangrücktritt endet. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine vertragliche Aufhebung der Rangrücktritts zulässig ist. Nach einer von Habersack vertretenen Mindermeinung soll die Aufhebung einer Rangrücktrittsvereinbarung insbesondere dann, wenn der Rangrücktritt im Jahresabschluss offen gelegt wurde, generell unzulässig sein44. Die herrschende Auffassung hingegen nimmt zutreffenderweise an, die Aufhebung einer Rangrücktrittsvereinbarung sei nicht generell ausgeschlossen45. Im Gegensatz zu einer relativen Rangrücktrittsvereinbarung, die unmittelbar und ausschließlich Ansprüchen der vertragschließenden Mitgläubiger begründet, entstehen aufgrund der Rangrücktrittsvereinbarung mit der Gesellschaft keine unmittelbaren Ansprüche Dritter. Auch handelt es sich bei der Rangrücktrittsvereinbarung nicht um einen Vertrag zu Gunsten Dritter, weil die Rangrücktrittsvereinbarung lediglich eine Begünstigung der schuldnerischen Gesellschaft intendiert und es sich um eine gänzlich unbestimmte, ständigen Änderungen unterliegende Zahl an Gläubigern handelt46. Einschränkungen hinsichtlich der Zulässigkeit entsprechender Aufhebungsvereinbarung ergeben sich indes aus den allgemeinen insolvenzrechtlichen Bestimmungen. Eine vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vereinbarte Aufhebung kann, sofern die übrigen Voraussetzungen eines Anfechtungstatbestandes erfüllt sind, nach §§ 129 ff. InsO angefochten werden. Nach Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbotes im Vorverfahren, spätestens aber nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist eine Aufhebungsvereinbarung zwischen dem Gläubiger und der insolventen Gesellschaft gemäß §§ 24 Abs. 1, 81 Abs. 1 InsO unwirksam47. Zudem ist bei Rangrücktritten im Hinblick auf eigenkapitalersetzende Gesellschafterleistungen zu beachten, dass eine Aufhebung der Rangrücktrittsvereinbarung im Hinblick auf die Rangtiefe der Gesellschafterleistung keine Auswirkungen hat. Schließlich kann eine Aufhebungsvereinbarung in der Krise unzulässig sein, wenn es sich um finanzplanmäßige Rangrücktritte handelt48.
VII. Rangrücktritt in der Handels- und Steuerbilanz Bei einem Forderungsverzicht mit Besserungsschein ist die Verbindlichkeit bis zum Zeitpunkt des Bedingungseintritts nicht zu passivieren, sondern
__________
44 Habersack, ZGR 2000, 384 (405). 45 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 101; ders., ZIP 1999, 1241 (1247);
Teller/Steffan (Fn. 8), Rz. 318 ff.; Wittig, NZI 2001, 169 (175). 46 Teller/Steffan (Fn. 8), Rz. 387; Wittig, NZI 2001, 169 (175). 47 Teller/Steffan (Fn. 8), Rz. 382; Wittig, NZI 2001, 169 (175). 48 Wittig, NZI 2001, 169 (175 f.).
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gewinnbringend aufzulösen, da sie infolge des Erlasses rechtlich nicht mehr existiert. Auch die mit dem Besserungsschein verbundene auflösende Bedingung führt insofern zu keiner anderen Beurteilung49. Die Besserungsverpflichtung ist aber im Bilanzanhang aufzuführen. Für die Aktiengesellschaft folgt dies aus der ausdrücklichen Bestimmung des § 160 Abs. 1 Nr. 6 AktG; für die GmbH und die anderen bilanzierungspflichtigen Gesellschaften ergibt sich eine entsprechende Angabepflicht im Anhang gemäß § 285 Nr. 3 HGB aus dem Gebot des true and fair view (§ 264 Abs. 2 HGB)50. Ein Rangrücktritt ändert hingegen nichts daran, dass die Forderung sowohl in der Handels- als auch in der Steuerbilanz weiterhin als Verbindlichkeit auszuweisen ist, wobei ein entsprechender klarstellender Ausweis im Bilanzanhang oder durch einen Vermerk erfolgen kann51. Eine Verpflichtung, den Rangrücktritt im Rahmen der Handels- und Steuerbilanz ebenso auszuweisen wie im Überschuldungsstatus, besteht nicht, da es sich bei dem Überschuldungsstatus um eine von der Handels- und Steuerbilanz unabhängige Sonderbilanz handelt52.
VIII. Steuerliche Behandlung des Rangrücktritts Seit der Abschaffung des steuerlichen Sanierungsprivilegs in § 3 Nr. 66 a. F. EStG sind Sanierungsgewinne nicht mehr steuerbefreit. Dies hat zur Folge, dass Buchgewinne, die infolge eines Forderungsverzichts entstehen, steuerpflichtig sind. Auch die Vereinbarung eines Besserungsscheins ändert an der steuerlichen Ausgangssituation nichts53. Abhängig vom Zeitpunkt, in dem der Buchgewinn entsteht, kann eine hierauf entfallende Steuer sogar Masseverbindlichkeit sein, so dass der Insolvenzverwalter hierfür unter Umständen haftet54. Der Gläubiger hat seine auflösend bedingt erlassene Forderung, sofern sie nicht bereits zuvor teilwertberichtigt war, gewinnmindernd auszubuchen55. Grundsätzlich ist die Forderung erst mit ihrem rechtlichen Wiederaufleben erneut einzubuchen.
__________ 49 BFH, NJW 1990, 535; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der
50 51 52 53 54 55
Unternehmen, 6. Aufl. 1995, § 246 HGB Rz. 145; Groh, BB 1993, 1882 (1884); Gross/Fink, BB 1991, 1379; Wittig, NZI 2001, 169 (176); a. A. Herlinghaus (Fn. 12), S. 147 ff. Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 49), § 246 HGB Rz. 156; Wittig, NZI 2001, 169 (176). BFH, NJW, 1990, 535; Groh, BB 1993, 1882 (1884); Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 49), § 246 HGB Rz. 140 ff. BFH, NJW 1990, 535; K. Schmidt, GmbHR 1999, 9 (10); Wittig, NZI 2001, 169 (176). Teller/Steffan (Fn. 8), Rz. 621. Leibner, DStZ 2002, 679 (680); Maus, NZI 2000, 449 (451 f.). Rautenberg/Schaufenberg, DB 95, 1345; Schreiber in Blümich, EStG, Loseblatt, § 5 Rz. 740 (Besserungsscheine).
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Demgegenüber führt nach ganz herrschender Auffassung ein Rangrücktritt nicht zu einem steuerbaren Buchgewinn56. Diese Ansicht könnte jedoch aufgrund der Neufassung des § 5 Abs. 2a EStG durch das StBereinG 1999 zweifelhaft geworden sein. Nach § 5 Abs. 2a EStG können Verbindlichkeiten, die ausschließlich aus zukünftigen Gewinnen oder Einnahmen zu erfüllen sind, nur dann als Verbindlichkeiten steuerlich berücksichtigt werden, wenn die Gewinne oder Einnahmen tatsächlich anfallen und auch erst zu diesem Zeitpunkt. Da die Tilgung der zurückgetretenen Forderungen erst nach Beseitigung der Überschuldungsgefahr aus künftigen Gewinnen, sonstigem, die anderen Schulden der Gesellschaft übersteigenden Vermögen oder aus einem Liquidationsüberschuss verlangt werden kann, könnte man annehmen, § 5 Abs. 2a EStG sei auf Rangrücktritte anwendbar. Gegen eine Anwendbarkeit spricht jedoch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Die Vorschrift soll Fälle erfassen, in denen der Schuldner Mittel (insbesondere Fördermittel) erhält, die er nur unter bestimmten Umständen wieder zurückzahlen muss. Bei den Forderungen, die mit einem Rangrücktritt behaftet sind, handelt es sich hingegen um rückzahlbare Forderungen, die nur unter bestimmten Umständen nicht zurückzuzahlen sind. Während es sich demnach bei den von § 5 Abs. 2a EStG erfassten Verpflichtungen nur um bedingt entstehende Verbindlichkeiten handelt, sind Verbindlichkeiten, hinsichtlich deren ein Rangrücktritt vereinbart wurde, bereits wirksam entstandene Verbindlichkeiten. Die Bestimmung des § 5 Abs. 2a EStG findet auf Rangrücktrittsvereinbarungen daher keine Anwendung57. Diese Sichtweise wird im Grundsatz auch vom Bundesministerium der Finanzen (BMF)58 und dem BFH59 geteilt. Allerdings ist es sowohl nach Auffassung des BMF als wohl auch nach Auffassung des BFH obiter dicta nicht ausreichend, dass die Verbindlichkeit des Gesellschafters nur aus künftigen Einnahmen oder Gewinnen zu befriedigen ist, sondern es soll erforderlich sein, dass die Verbindlichkeit auch aus einem die sonstigen Verbindlichkeiten übersteigenden Vermögen zu bedienen ist, um eine Anwendbarkeit des § 5 Abs. 2a EStG auszuschließen. Diese einschränkende Auffassung des BMF und BFH dürfte aus den oben ausgeführten Gründen indes nicht zutreffend sein60.
__________ 56 Huntermann/Richthammer, StuB 2004, 446 (447); Teller/Steffan (Fn. 8), Rz. 593. 57 Huntermann/Richthammer, StuB 2004, 446 (447); Weber-Grellet in Schmidt,
EStG, 23. Aufl. 2004, § 5 Rz. 315. 58 BMF v. 18.8.2004, IV A 6 – S 2133 – 2/04, BStBl. I 2004 S. 850. 59 BFH, DStR 2005, 186. 60 So auch Schildknecht, DStR 2005, 181 (182 f.).
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Der Rangrücktritt
IX. Ergebnisse Kapitalersetzende Leistungen sind grundsätzlich im Überschuldungsstatus zu passivieren. Eine Passivierungspflicht entfällt nur dann, wenn der Gläubiger der Leistung mit der Gesellschaft eine Rangrücktrittsvereinbarung schließt. Bei der Rangrücktrittsvereinbarung handelt es sich nach Auffassung der Rechtsprechung um einen schuldändernden Vertrag zwischen der Gesellschaft und dem Gläubiger, durch den die Parteien vereinbaren, dass die Forderung erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und – bis zur Abwendung der Krise – auch nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagenrückgewähransprüchen der (Mit-)Gesellschafter berücksichtigt wird und eine Befriedigung außerhalb der Krise erst nach Beseitigung der Überschuldungsgefahr aus künftigen Gewinnen, sonstigem, die anderen Schulden der Gesellschaft übersteigenden Vermögen oder aus einem Liquidationsüberschuss verlangt werden kann. Zur Vermeidung der Passivierungspflicht ist ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO ausreichend. Nur eine solche Auslegung vermeidet eine sachlich nicht zu rechtfertigende Privilegierung der Gläubiger kapitalersetzender Leistungen ohne Rangrücktritt. Der Rangrücktritt hat, sofern er von Gläubigern kapitalersetzender Leistungen erklärt wird, lediglich deklaratorischen Charakter. Sofern ein mehrheitlich getragenes und erfolgversprechendes Sanierungskonzept besteht, wird man den Gesellschafter-Gläubiger einer kapitalersetzenden Leistung unter Treuepflichtgesichtspunkten regelmäßig als verpflichtet ansehen, eine Rangrücktrittserklärung abzugeben. Der Rangrücktritt hat keinerlei Auswirkungen auf die Handels- und Steuerbilanz. In beiden Bilanzen besteht trotz Rangrücktritts die Passivierungspflicht fort. Insofern kann der Rangrücktritt auch nicht zu einem steuerbaren Gewinn führen. § 5 Abs. 2a EStG ist auf den Rangrücktritt nicht anwendbar. Dies sollte unabhängig von der im Einzelfall gewählten Formulierung des Rangrücktritts gelten.
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Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs – Überlegungen zu Zweck und Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Zweck des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG im Lichte des höchstrichterlich anerkannten Verbots der Kreditgewährung an Aktionäre 1. Fragestellung 2. Schutz vor Umgehungen des § 71 AktG? 3. Absicherung und Ergänzung des Grundsatzes der Kapitalerhaltung? a) Die in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Unterstützungshandlungen als Anwendungsfälle des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG b) Der Erwerber der Aktien als „Aktionär“ im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG c) Rechtsfolgen der §§ 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, 71a Abs. 1 Satz 1 AktG d) Folgerungen 4. Zwischenergebnis
III. Unanwendbarkeit des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auf nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AktG freigestellte Aktienerwerbe 1. Fragestellung und Meinungsstand 2. Stellungnahme IV. Zur Frage der analogen Anwendung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG, dargestellt am Beispiel von Verschmelzungssachverhalten 1. Zulässigkeit und Grenzen einer erweiternden Auslegung im Allgemeinen 2. Die einschlägigen Fallgestaltungen 3. Die Zustimmung zur Schuldübernahme 4. Gesamtrechtsnachfolge in das Vermögen der Zielgesellschaft a) Rechtslage bei externer Finanzierung des Aktienerwerbs b) Rechtslage bei Übernahme einer Verbindlichkeit des Veräußerers c) Ergebnis V. Resümee
I. Einleitung Nach § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ist ein Rechtsgeschäft, das die Gewährung eines Vorschusses oder eines Darlehens oder die Leistung einer Sicherheit durch die Gesellschaft an einen anderen zum Zweck des Erwerbs von Aktien dieser Gesellschaft zum Gegenstand hat, nichtig. Das in dieser Vorschrift verkörperte Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs, das zumindest seiner amtlichen Überschrift zufolge bezweckt, das in § 71 AktG geregelte, durch Einfügung des Abs. 1 Satz 1 Nr. 81 ganz erheblich relativier-
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Durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich v. 27.4.1998, BGBl. I S. 786; näher zu den durch das KonTraG erfolgten Änderungen des § 71 AktG Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 71 Rz. 2, 19c ff.; Oechsler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 1999 ff., § 71 Rz. 37 f., 169 ff.
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te Verbot des Erwerbs eigener Aktien gegen Umgehungen zu sichern, war bislang nur vereinzelt Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen2. Auch im Schrifttum ist es um die Vorschrift, die auf Art. 23 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie zurückgeht und durch das am 1.7.1979 in Kraft getretene Durchführungsgesetz in das AktG eingefügt worden ist3, ruhiger geworden4. Ein jüngst erschienener Beitrag5 hat indes am Beispiel des Verkaufs der Anteile an der Howaldtswerke-Deutsche Werft AG durch die Babcock Borsig AG darauf aufmerksam gemacht, dass Zweck und Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG keineswegs geklärt sind und dieser Umstand Finanzierungsgeschäfte mit erheblichen Risiken belastet. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass eine unter dem Vorsitz Volker Röhrichts ergangene Grundsatzentscheidung des II. Zivilsenats, wiewohl zum Recht der GmbH ergangen, den Tatbestand des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG in neuem Licht erscheinen lässt und das bislang der Vorschrift gewidmete Schrifttum deshalb nur noch unter Vorbehalt herangezogen werden kann. Die Rede ist von der Entscheidung vom 24.11.20036, in der der Senat ausgesprochen hat, dass die Gewährung eines Kredits durch eine GmbH an einen ihrer Gesellschafter, die nicht aus Rücklagen oder Gewinnvorträgen, sondern zu Lasten des gebundenen Vermögens erfolgt, selbst dann eine grundsätzlich verbotene Auszahlung im Sinne des § 30 Abs. 1 GmbHG ist, wenn der Rückzahlungsanspruch gegen den Gesellschafter im Einzelfall vollwertig sein sollte. Diese Erkenntnis lässt sich, wie an anderer Stelle7 näher ausgeführt worden ist, auf das Aktienrecht mit der Maßgabe übertragen, dass nicht nur zu Lasten des Grundkapitals und der gesetzlichen Rück-
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An veröffentlichten Entscheidungen liegen, soweit ersichtlich, bislang nur vor: OLG Frankfurt/M., AG 1992, 194; LG Göttingen, WM 1992, 1373. Gesetz zur Durchführung der Zweiten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts vom 13.12.1978 (BGBl. I S. 1959); dazu Ganske, DB 1978, 2461 ff.; Hüffer, NJW 1979, 1065 ff.; W. Müller, WPg. 1978, 565 ff.; zur Kapitalrichtlinie s. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, Rz. 135 ff. mit Abdruck der Richtlinie in Rz. 206; Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rz. 566 ff. – Zum gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG s. noch unter III. 2. Neben den gängigen Kommentaren sind insbesondere zu verzeichnen: Schroeder, Finanzielle Untersützung des Aktienerwerbs, 1995; Fleischer, AG 1996, 494; Lutter/Wahlers, AG 1989, 1; zu § 71a Abs. 1 Satz 2 AktG s. ferner Singhof, NZG 2002, 745. Kerber, DB 2004, 1027. BGH, NZG 2004, 233 = NJW 2004, 1111; krit. hierzu Cahn, Konzern 2004, 235 (238 ff.); Wessels, ZIP 2004, 793 (794 f.); Helmreich, GmbHR 2004, 457; Haidenhain, LMK 2004, 68; gegen die dogmatische Konzeption auch Bähr/Hoos, GmbHR 2004, 304 (305); dem BGH zustimmend jedoch Saenger/Koch, NZG 2004, 271; zu den Folgen für das konzernweite Cash Management s. Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689 ff. Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689 (690) m. w. N.; s. dazu noch unter II. 3.
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lage ausgezahlte Darlehen, sondern Darlehen an Aktionäre schlechthin verboten sind. Berücksichtigt man weiter, dass es in der Konsequenz des Urteils vom 24.11.2003 liegt, in der Bestellung einer schuldrechtlichen oder dinglichen Sicherheit für die Verbindlichkeit eines Aktionärs eine nach § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG verbotene Auszahlung zu erblicken8, so ist das Programm der vorliegenden Untersuchung schon zu einem Gutteil vorgezeichnet. Zunächst gilt es, den Zweck des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zu präzisieren. Dabei wird insbesondere auf das Verhältnis zwischen § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG und § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG einzugehen sein. Sodann ist der Frage nachzugehen, ob § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auch auf die Unterstützung solcher Aktiengeschäfte Anwendung findet, die der Gesellschaft nach § 71 Abs. 1 AktG erlaubt wären. In einem weiteren Schritt ist zu klären, ob § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG einen abschließenden Katalog verbotener Unterstützungsgeschäfte enthält oder der analogen Anwendung auf nicht ausdrücklich genannte Geschäfte zugänglich ist. Dies soll am Beispiel von Verschmelzungssachverhalten geschehen.
II. Der Zweck des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG im Lichte des höchstrichterlich anerkannten Verbots der Kreditgewährung an Aktionäre 1. Fragestellung Was die Frage des Schutzzwecks des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG betrifft, so herrscht im Schrifttum wenig Klarheit. Immerhin dürfte noch Einvernehmen darüber bestehen, dass § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG jedenfalls auch bezweckt, das in § 71 Abs. 1 und 2 AktG geregelte grundsätzliche Verbot des Erwerbs eigener Aktien durch die Gesellschaft gegen Umgehungen zu schützen9. Hierauf deutet in der Tat die Amtliche Überschrift der Vorschrift – „Umgehungsgeschäfte“ – hin. Umstritten ist dagegen, ob sich der Normzweck hierin erschöpft. Vom LG Göttingen und einem Teil des Schrifttums wird dies bejaht10. Demgegenüber sieht eine neuere, mittlerweile wohl herrschende Ansicht in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zusätzliche Schutzzwecke verwirklicht11. So soll nach einer namentlich von Schroeder begründeten
__________ 8 Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689 (695 f.) m. w. N.; s. dazu noch unter II. 3. 9 Vgl. Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 3 f.; Lutter in KölnerKomm.AktG,
2. Aufl. 1986 ff., § 71a Rz. 2; Hüffer, AktG, § 71a Rz. 1, 3; Wiesner in MünchHdb. GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 15 Rz. 25. 10 So LG Göttingen, WM 1992, 1373 (1375); Lutter in KölnerKomm.AktG, § 71a Rz. 2; Wiesner (Fn. 9), § 15 Rz. 25. 11 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 4; Hüffer, AktG, § 71a Rz. 1, 3; Block in Heidel (Hrsg.), Anwaltkommentar Aktienrecht, 2003, § 71a AktG Rz. 1; eingehend Schroeder (Fn. 4), S. 107 ff.; Nuyken, ZIP 2004, 1893 (1894).
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Ansicht § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG allgemein die Heranziehung des Gesellschaftsvermögens zur Erwerbsfinanzierung außerhalb der legalen Gewinnausschüttung und der förmlichen Kapitalherabsetzung unterbinden und den Grundsatz der Kapitalerhaltung in Fällen der Veränderung der Aktionärsstruktur absichern12. Oechsler zufolge umschreibt § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG den typischen Tatbestand des Leveraged Buyout, bei dem der Bieter eine Zwischenfinanzierung eingeht, endgültig aber seine Schulden durch (Teil-) Liquidation bzw. Belastung des Vermögens der Zielgesellschaft abgilt13. So gesehen liege der Norm ein Doppelzweck zugrunde: Sie wolle Umgehungen von § 71 Abs. 1 und 2 AktG verhindern und verbiete eine bestimmte Art der Finanzierung bei der Unternehmensübernahme. 2. Schutz vor Umgehungen des § 71 AktG? Die Stellungnahme muss zunächst den Schutzzweck des Verbots des Erwerbs eigener Aktien in Erinnerung rufen. Ungeachtet der mit Einfügung des § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AktG vollzogenen Liberalisierung erblickt das AktG, wie sich seinem § 57 Abs. 1 S. 2 unmissverständlich entnehmen lässt, in dem verbotenen, d. h. nicht durch § 71 AktG gedeckten Rückerwerb eigener Aktien eine unzulässige Einlagenrückgewähr14. Die Vorschriften über den derivativen15 Erwerb eigener Aktien sind denn auch vor allem im Zusammenhang mit dem aktienrechtlichen Grundsatz der Vermögensbindung zu sehen. Zweifelsohne liegt nämlich in dem Rückerwerb eine Einlagenrückgewähr im eigentlichen Sinne: Der Aktionär gibt seine Aktie gegen Zahlung einer „Abfindung“ aus dem Gesellschaftsvermögen zurück und wird so aus dem unternehmerischen Risiko entlassen. Hierin erschöpft sich die Problematik indes nicht. Für den Gläubiger besteht nämlich die zusätzliche Gefahr, dass sich eine etwaige Krise der Gesellschaft nicht nur wie üblich im Gesellschaftsvermögen bemerkbar macht, sondern, weil das Gesellschaftsvermögen eben auch aus eigenen Anteilen besteht, zum Wertverlust auch dieses Vermögensgegenstands führt. Diesem „Doppelrisiko“ soll durch die nach § 272 Abs. 4 HGB zu bildende Rücklage Rechnung getragen werden. Es kommt hinzu, dass der Erwerb eigener Aktien zu einer Störung der Kompetenzverteilung innerhalb der AG führt: Könnte die AG, handelnd durch ihren Vorstand, unbegrenzt eigene Aktien erwerben, würde dies die Befugnisse der „eigentlichen“ Aktionäre empfindlich beschneiden. § 71b AktG bestimmt deshalb, dass die AG aus ihren eigenen Aktien keine mitglied-
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12 Schroeder (Fn. 4), S. 107 ff.; so oder ähnlich Hüffer, AktG, § 71a Rz. 3 („zumindest
auch um eigenständigen Kapitalschutz“); ebenso wohl Block in Heidel, § 71a AktG Rz. 1. 13 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 4. 14 Vgl. nur Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl. 2001, § 19 Rz. 13, K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 894 f. 15 Die Zeichnung eigener Aktien ist der Gesellschaft nach § 56 Abs. 1 AktG strikt verboten.
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schaftlichen Rechte hat. Darüber hinaus bergen der Erwerb und die Veräußerung eigener Aktien kapitalmarktrechtliche Probleme, derer sich vor allem das in § 20a WpHG geregelte Verbot der Kurs- und Marktpreismanipulation und die EG-Verordnung vom 22.12.200316 annehmen. Schließlich sind Erwerb und Veräußerung eigener Aktien ein Problem des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Für den Erwerb ist dies evident, wird doch der Veräußerer, wie erwähnt, aus dem unternehmerischen Risiko entlassen und ihm eine so auf dem Markt nicht bestehende Veräußerungschance eingeräumt. Aber auch die Veräußerung durch die AG kann einzelne Aktionäre bevorzugen, insbesondere, wenn sie unter dem Marktpreis erfolgt; es kommt hinzu, dass die Beteiligungsabgabe an einzelne Aktionäre – insoweit einer Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss ähnlich – zu einer Verschiebung der Beteiligungsverhältnisse führt. Diesen Gefahren soll die Bindung der Gesellschaft an den allgemein in § 53a AktG geregelten, in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 3 AktG noch einmal in Erinnerung gerufenen und präzisierten Grundsatz der Gleichbehandlung Rechnung tragen17. Er soll zugleich verhindern, dass die Gesellschaft gezielt auf die Beteiligungsstruktur einwirkt, indem sie von bestimmten Aktionären erwirbt oder erworbene Aktien an bestimmte Aktionäre abgibt18. Soweit behauptet wird, dass § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zumindest auch den Zweck verfolge, § 71 Abs. 1 und 2 AktG gegen Umgehungen abzusichern, dürfte dies in dem Sinne zu verstehen sein, dass die Vorschrift über diesen ihren Zweck den Zweck der geschützten Norm in sich aufnehmen und Maßnahmen, die dem Erwerb eigener Aktien durch die Gesellschaft vergleichbar sind, unterbinden soll. Die geschilderten Gefahren für das Kapital der Gesellschaft scheinen denn auch in ähnlicher Form bei der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs durch Dritte zu begegnen. Nimmt man die Hingabe eines Darlehens an den Erwerber als pars pro toto, so liegt namentlich das „Doppelrisiko“ darin begründet, dass das Vermögen des Erwerbers zu einem gewissen Teil aus Aktien der Gesellschaft besteht, weshalb ein Kursverfall dazu führen kann, dass der Erwerber das ihm überlassene Darlehen nicht mehr zurückzahlen kann und auch ein zwangsweiser Zugriff der Gesellschaft auf ihre Aktien19 nicht zur Befriedigung führt, die Gesellschaft also in ihrer Krise „doppelt betroffen“ wäre20. Freilich ist dieses
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16 Verordnung (EG) Nr. 2273/2003 vom 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie
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2003/6/EG – Ausnahmeregelungen für Rückkaufprogramme und Kursstabilisierungsmaßnahmen, ABl. Nr. 336/33 vom 23.12.2003. Zu dem hieraus herzuleitenden Andienungs- und Erwerbsrecht der Aktionäre s. Habersack, ZIP 2004, 1121 ff. Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71 Rz. 22, § 71a Rz. 4; zur Frage eines Andienungs- und Erwerbsrechts der Aktionäre s. Nachw. in Fn. 17. Zur Zulässigkeit der Vollstreckung in eigene Aktien s. Oechsler in MünchKomm. AktG, § 71 Rz. 84 m. w. N. Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 4; Lutter in KölnerKomm.AktG, § 71a Rz. 1.
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„Doppelrisiko“ auch den Fällen des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG immanent, soweit diese Vorschrift zu einem vorübergehenden Zweck erfolgende „Auszahlungen“ (wie insbesondere Darlehen) an Aktionäre verbietet21; dann nämlich trägt die Gesellschaft nicht nur das allgemeine Ausfallrisiko eines Darlehensgläubigers, sondern das zusätzliche Risiko, dass sich das Vermögen des Empfängers auch aus Aktien der Gesellschaft zusammensetzt und diese durch eine Krise der Gesellschaft in Wertverfall geraten können. Der so verstandene Umgehungsschutz wird mit anderen Worten bereits durch die allgemeinen Regeln über die Vermögensbindung besorgt. Nachdem in den Fällen des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG eine Störung der Kompetenzordnung durch Ausübung mitgliedschaftlicher Teilhaberechte durch die Gesellschaft schon deshalb nicht zu befürchten ist, weil der Dritte die Aktien auf eigene Rechnung erwirbt, bleibt die Erwägung, dass die Gesellschaft dadurch, dass sie bestimmte Erwerber unterstützt, auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises und auf den Kurs der Aktie Einfluss nehmen kann. Insoweit entsprechen sich zwar der Schutzzweck des § 71 AktG und derjenige des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG. Auch ein so verstandener Schutzzweck des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG kann der Gesellschaft freilich nicht verbieten, was ihr andere Vorschriften ausdrücklich erlauben: Handelt es sich etwa um vinkulierte Namensaktien, so darf die Gesellschaft nach Maßgabe des § 68 Abs. 2 AktG auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises Einfluss nehmen. Des Weiteren sind der Gesellschaft, wenn sie durch ein Übernahmeangebot betroffen ist, Abwehrmaßnahmen nach Maßgabe des § 33 Abs. 1 und 2 WpÜG erlaubt. Soweit diese oder andere Erlaubnisnormen reichen, vermag deshalb auch § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG die Unzulässigkeit nicht allein deshalb zu begründen, weil mit der fraglichen Maßnahme eine Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises verbunden ist. Für die Annahme, § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG wolle Umgehungen des § 71 Abs. 1, 2 AktG verhindern, ist deshalb unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises allenfalls insoweit Raum, als der Gesellschaft eine Erlaubnisnorm nach Art des § 68 Abs. 2 AktG nicht zur Verfügung steht; und selbst insoweit dürfte, wie sogleich unter 3. darzulegen sein wird, bereits § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG (der selbstredend auch bei der Unterstützung des Erwerbs vinkulierter Aktien und in der Übernahmesituation zu beachten ist) die meisten Unterstützungshandlungen verbieten.
__________ 21 Dazu sogleich unter 3. a).
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3. Absicherung und Ergänzung des Grundsatzes der Kapitalerhaltung? a) Die in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Unterstützungshandlungen als Anwendungsfälle des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG Die Frage, ob § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bezweckt, die Heranziehung des Gesellschaftsvermögens zur Erwerbsfinanzierung außerhalb der legalen Gewinnausschüttung und der förmlichen Kapitalherabsetzung zu unterbinden und damit den Grundsatz der Kapitalerhaltung in Fällen der Veränderung der Aktionärsstruktur abzusichern22, ist im Lichte der eingangs erwähnten Entscheidung des II. Zivilsenats vom 24.11.2003 zu sehen. Alle drei in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ausdrücklich genannten Tatbestände – Darlehen, Vorschuss, Sicherheitenbestellung – sind nämlich dadurch gekennzeichnet, dass es auf Seiten der Gesellschaft zu einem Liquiditätsabfluss kommt, dem die Erlangung einer Forderung oder – im Fall des Vorschusses – die Befreiung von einer Verbindlichkeit gegenübersteht. Im Fall des Darlehens ist dies ebenso evident wie im Fall des Vorschusses. Bei der Bestellung von Sicherheiten trifft das Gesagte zwar nur auf dingliche Sicherheiten zu; der dinglichen Belastung des Gesellschaftsvermögens entspricht hier der schuldrechtliche Rückgriffsanspruch gegen den Hauptschuldner. Demgegenüber ist bei Begründung einer schuldrechtlichen Sicherheit ein Vermögensabfluss nicht zu verzeichnen. Doch entspricht die Übernahme einer solchen (Eventual-)Verbindlichkeit, wie nicht zuletzt auch § 32a Abs. 2 GmbHG klar zum Ausdruck bringt, wirtschaftlich sehr wohl der Hingabe eines Darlehens. Den in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Tatbeständen ist damit gemeinsam, dass sie Rechtsgeschäfte betreffen, die, werden sie mit einem Aktionär getätigt, zumindest auf der Grundlage des BGH-Urteils vom 24.11.2003 bereits unter § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG fallen und damit grundsätzlich unzulässig sind. Der Austausch liquider Mittel gegen eine zeitlich hinausgeschobene schuldrechtliche Forderung verschlechtere nämlich, so der II. Zivilsenat, die Vermögenslage der Gesellschaft und sei auch deswegen bedenklich, weil durch die Darlehenshingabe die Gläubiger des Gesellschafters zum Nachteil der Gesellschaftsgläubiger einen vorrangigen Zugriff auf die Vermögenswerte der Gesellschaft erhielten. Soweit der Senat eine Ausnahme für den Fall erwägt, dass die Darlehensvergabe im Interesse der Gesellschaft liegt, die Darlehensbedingungen einem Drittvergleich standhalten und die Kreditwürdigkeit des Gesellschafters selbst bei Anlegung strengster Maßstäbe außer Zweifel steht oder die Rückzahlung des Darlehens durch werthaltige Sicherheiten voll gewährleistet ist23, dürfte dem vor allem für die Vergabe eines gesicherten Darlehens praktische Bedeutung zukommen24.
__________ 22 In diesem Sinne die in Fn. 12 f. Genannten. 23 BGH, NZG 2004, 233 (235) = NJW 2004, 1111. 24 Vgl. für die AG neben den Nachw. in der nachfolgenden Fn. noch Hüffer, AG 2004,
416 (419 f.); Cahn, Der Konzern 2004, 235 (243 ff.).
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Das Urteil ist zwar, wie erwähnt, zum GmbH-Recht ergangen, liegt jedoch auf einer Linie mit der im Aktienrecht ohnehin ganz herrschenden, wenngleich bislang noch nicht höchstrichterlich bestätigten Meinung25. Dies gilt nicht nur für die Gewährung eines Darlehens oder eines Vorschusses, sondern auch für die Bestellung von Sicherheiten. Insoweit besteht seit jeher Einigkeit darüber, dass die Besicherung bei wirtschaftlicher Betrachtung eine für das Kapitalerhaltungsrecht relevante Leistung an den begünstigten Gesellschafter darstellt, mag auch der Sicherungsnehmer Nutznießer der Erlöse aus der Verwertung der Sicherheit sein26. Weiterhin soll in der AG nach ganz herrschender Auffassung bereits die Bestellung und nicht erst die spätere Verwertung als Leistung an den Gesellschafter zu bewerten sein27. Ein Unterschied zwischen schuldrechtlichen und dinglichen Sicherheiten wird dabei nicht gemacht. Auch soll die Zahlung einer angemessenen Avalprovision nicht zur Annahme eines neutralen Drittgeschäfts führen, da diese das „Klumpenrisiko“, das sich nur von Kreditinstituten über eine große Zahl ähnlicher Geschäfte ausgleichen lasse, nicht beseitigen könne28. All dies sieht sich nun durch das Urteil vom 24.11.2003 bestätigt, und zwar auch in Bezug auf schuldrechtliche Sicherheiten29. Bereits mit dem Zustandekommen der schuldrechtlichen Sicherheit verbessert nämlich der Gläubiger des Gesellschafters seine Rechtsstellung, indem er den „strukturellen Nachrang“, in dem er sich im Allgemeinen befindet, aufhebt und in die par conditio creditorum eintritt mit der Folge, dass sein Anspruch die Haftungsmasse der GmbH quotal belastet. b) Der Erwerber der Aktien als „Aktionär“ im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG Der Anwendbarkeit des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG auf die in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Unterstützungshandlungen steht es auch nicht entgegen, dass der Erwerber als der Begünstigte dieser Handlungen bei deren Vornahme bisweilen noch gar nicht Aktionär ist. Denn es dürfte unbestritten sein, dass § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG auch Leistungen an
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25 OLG Hamm, ZIP 1995, 1263 (1270); Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1992 ff.,
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§ 57 Rz. 49; Bayer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 1999 ff., § 57 Rz. 81; Lutter in KölnerKomm.AktG, § 57 Rz. 28. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 30 Rz. 18. OLG Hamburg, AG 1980, 275 (278); Hüffer, AktG, § 57 Rz. 12; Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 84; Henze in Großkomm.AktG, § 57 Rz. 51; krit. aber K. Schmidt (Fn. 14), S. 891. Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 85; Schön, ZHR 159 (1995), 351 (367); Mülbert, ZGR 1995, 578 (590); Peltzer/Bell, ZIP 1993, 1757 (1764); nicht eindeutig Henze in Großkomm.AktG, § 57 Rz. 51. Näher dazu sowie zu den Folgen für die Sicherheitenbestellung im GmbH-Recht Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689 (695 f.); a. A. Wessels, ZIP 2004, 793 (797); ebenfalls für Differenzierung zwischen schuldrechtlichen und dinglichen Sicherheiten bereits Meister, WM 1980, 390 (392 ff.).
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einen ehemaligen oder künftigen Aktionär erfasst, wenn zwischen der Aufgabe oder Erlangung der Aktionärsstellung und der Vornahme der Leistung ein enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht30. Hiervon kann in den Fällen des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ohne jeden Zweifel ausgegangen werden. Nur am Rande sei bemerkt, dass es in den Kommentierungen zu § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bisweilen heißt, dass der Begünstigte der Unterstützungshandlung bei deren Vornahme schon Aktionär gewesen sein müsse31. Das Verbot des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bliebe danach in subjektiver Hinsicht deutlich hinter demjenigen des § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG zurück – ein Ergebnis, das der These von der ergänzenden Kapitalschutzfunktion des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG diametral zuwiderläuft. c) Rechtsfolgen der §§ 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, 71a Abs. 1 Satz 1 AktG Was die Rechtsfolgen des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG einerseits und des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG andererseits betrifft, so ergibt sich ein ähnliches Bild. Nach (soweit ersichtlich) einhelliger Ansicht des Schrifttums bezieht sich die in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG vorgesehene Nichtigkeitssanktion allein auf das Kausalgeschäft, nicht dagegen auf das Erfüllungsgeschäft32. Bei Gewährung eines Darlehens ist also der Darlehensvertrag, nicht dagegen die Hingabe der Darlehensvaluta, bei Leistung einer Sicherheit die Sicherungsabrede, nicht dagegen das eigentliche Bestellungsgeschäft nichtig33. Anders ist die Ausgangslage bei nach § 57 AktG verbotenen Geschäften. Hier soll ein Verstoß nach bislang herrschender Meinung nicht nur den Rückgewähranspruch aus § 62 Abs. 1 AktG begründen, sondern – zumindest bei offenen Verstößen – zugleich die Nichtigkeit des Verpflichtungs- und des Verfügungsgeschäfts nach sich ziehen34. Leistungen an Dritte werden dagegen, da sich das Verbot des § 57 AktG nur an Aktionäre richtet, von der Nichtigkeitssanktion ausgenommen35. Demgegenüber soll § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG die Nichtigkeit auch solcher Rechtsgeschäfte begründen, die mit außenstehenden Dritten geschlossen sind; hiervon betroffen wären vor allem die Gewährung schuldrechtlicher Sicherheiten sowie zur Leistung dinglicher Sicher-
__________ 30 Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 51; Hüffer, AktG, § 57 Rz. 14, jew. m. w. N. 31 Lutter in KölnerKomm.AktG, § 71a Rz. 8; Hüffer, AktG, § 57 Rz. 4. 32 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 31; Lutter in KölnerKomm.AktG, § 71a
Rz. 8; Hüffer, AktG, § 71a Rz. 4. 33 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 31; zur besonderen Problematik des mit
einem Dritten getätigten Finanzierungsgeschäfts, insbesondere der Leistung von Sicherheiten an Dritte, s. Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 24 m. w. N. 34 Hüffer, AktG, § 57 Rz. 23 m. w. N.; beachtliche Kritik hieran bei Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 144 ff. 35 Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 149; Hüffer, AktG, § 57 Rz. 24; vgl. für § 30 Abs. 1 GmbHG auch BGHZ 138, 291 (298 ff.): Einseitiger Verstoß der Gesellschaft gegen Kapitalerhaltungsregeln begründet noch nicht Sittenwidrigkeit des Sicherungsgeschäfts.
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heiten verpflichtende Sicherungsabreden zwischen Gesellschaft und Sicherungsnehmer36. d) Folgerungen Nach den unter a) gewonnenen Erkenntnissen lässt sich festhalten, dass die in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Unterstützungsmaßnahmen zu einer Beeinträchtigung oder zumindest Gefährdung des Gesellschaftsvermögens führen und, wenn sie (wie typischerweise) im Hinblick auf die gegenwärtige oder zu erwartende Aktionärsstellung vorgenommen werden, eine unzulässige Auszahlung im Sinne des § 57 Abs. 3 AktG darstellen. Eine Ausnahme gilt allenfalls für die Gewährung eines hinreichend gesicherten Darlehens oder Vorschusses. In diesem Fall dürfte auch nach Ansicht des II. Zivilsenats ein Verstoß gegen § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG ausscheiden37. § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bleibt dagegen zumindest insoweit anwendbar, als ihm auch die Funktion zukommt, einer Einflussnahme der Gesellschaft auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises zu begegnen38; denn dieser Normzweck ist auch dann betroffen, wenn das Darlehen gegen Sicherheiten gewährt wird. Ob Art. 23 Kapitalrichtlinie, dessen Wortlaut nicht zwischen gesicherten und ungesicherten Darlehen und Vorschüssen unterscheidet, die Anwendbarkeit auch jenseits dieses Umgehungsbereichs gebietet39, erscheint angesichts der Tatsache, dass die Richtlinie über ihren Art. 15 für den Schutz des Gesellschaftsvermögens sorgt, immerhin zweifelhaft. Was die Rechtsfolgen betrifft, so bleibt § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG einerseits insoweit hinter § 57 AktG zurück, als er stets nur das Verpflichtungsgeschäft betrifft. Andererseits geht er insoweit über § 57 AktG hinaus, als er – zumindest auf der Grundlage einer im Schrifttum vertretenen Ansicht40 – auch die Unwirksamkeit der Sicherungsabrede zwischen der Gesellschaft und dem Sicherungsnehmer zu begründen vermag. Vorbehaltlich dieser Ausnahmen lässt sich damit ein nahezu vollständiger Gleichlauf zwischen § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG verzeichnen. Man mag bezweifeln, dass der Gesetzgeber bei Einfügung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG diesen Zusammenhang mit § 57 AktG gesehen hat41, zumal die Frage der Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf die Hingabe von Darlehen und die Bestellung von Sicherheiten erst in jüngerer Vergangenheit größere Aufmerksamkeit erfahren hat. Auch mag man sich fragen,
__________ 36 Vgl. Fn. 33; eingehend Schroeder (Fn. 4), S. 116 (232 ff.). 37 Vgl. unter II. 3. a) mit Nachw. in Fn. 23 ff. 38 Vgl. unter II. 2.; auf abweichender konzeptioneller Grundlage auch Schroeder (Fn. 4),
S. 166 ff. 39 So Schroeder (Fn. 4), S. 166 ff. 40 S. dazu noch unter V. 41 S. dazu Fn. 3 sowie noch unter V.; zum gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund des
§ 71a Abs. 1 Satz 1 AktG s. auch unter III. 2.
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Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs
ob es die Existenz des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG nicht nahe legt, im Zusammenhang mit einem Aktiengeschäft erfolgende Leistungen der Gesellschaft an einen künftigen Aktionär dem Anwendungsbereich des (seinem Wortlaut nach ohnehin nicht einschlägigen) § 57 AktG zu entziehen und stattdessen ausschließlich nach § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zu würdigen, ferner, ob nicht dem Gleichlauf des (sachlichen und persönlichen) Anwendungsbereichs beider Vorschriften ein Gleichlauf auch der Rechtsfolgen entsprechen sollte. All dies muss hier aus Raumgründen ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG den § 57 AktG verdrängt (oder beide Vorschriften nebeneinander zur Anwendung gelangen)42 und § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG seinerseits – ebenso wie § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG43 – durch §§ 291 ff., 311 ff. AktG verdrängt wird44. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass die im neueren Schrifttum anzutreffende Behauptung, § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bezwecke, die Heranziehung des Gesellschaftsvermögens zur Erwerbsfinanzierung zu unterbinden und damit den Grundsatz der Kapitalerhaltung in Fällen der Veränderung der Aktionärsstruktur abzusichern, vor dem Hintergrund des nahezu vollständigen Gleichlaufs zwischen §§ 57 Abs 1 Satz 1, 3 und 71a Abs. 1 Satz 1 AktG allein mit Blick auf die Gewährung gesicherter Darlehen und Vorschüsse berechtigt ist und damit nur für einen kleinen Teil des sachlichen Anwendungsbereichs der Vorschrift zutrifft. 4. Zwischenergebnis Die Bestimmung des Schutzzwecks des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bereitet nach allem Schwierigkeiten. Als nicht überzeugend hat sich die These erwiesen, § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG wolle die Heranziehung von Gesellschaftsvermögen zur Erwerbsfinanzierung unterbinden und dadurch den Grundsatz des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG absichern: Zumindest die in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Unterstützungshandlungen sind – von der Gewährung gesicherter Darlehen oder Vorschüsse abgesehen – bereits nach § 57 AktG unzulässig, so dass es einer „Absicherung“ oder Ergänzung dieser Vorschrift durch das Verbot des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG nicht bedarf. Was die Gefahr einer Umgehung des § 71 Abs. 1, 2 AktG betrifft, so begegnet das den Erwerb eigener Aktien prägende „Doppelrisiko“, dass sich die Krise der Gesellschaft im Wert der Aktie niederschlägt und damit die
__________ 42 Für Vorrang des § 71a AktG Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 5; Schroeder
(Fn. 4), S. 115 f.; Kerber, DB 2004, 1027 (1028); für parallele Anwendung ersichtlich Wiesner (Fn. 9), § 15 Rz. 25; W. Müller, WPg. 1978, 565 (572); Lutter/Wahlers, AG 1989, 1 (8 f.). 43 Kropff in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 1999 ff., § 311 Rz. 31; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 3. Aufl. 2003, § 311 AktG Rz. 2 m. Nachw. auch zur Gegenansicht. 44 So zu Recht Schroeder (Fn. 4), S. 278 ff.; Fleischer, AG 1996, 494 (505 ff.); a. A. – für Geltung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auch im Vertragskonzern – Lutter/Wahlers, AG 1989, 1 (9).
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Durchsetzbarkeit der gegen den Aktionär gerichteten Forderung erschwert oder vereitelt, nicht nur im Rahmen des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG; es ist vielmehr dem § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG immanent, soweit er zu einem vorübergehenden Zweck erfolgende Zahlungen an Aktionäre verbietet. Soweit durch das Verbot des Erwerbs eigener Aktien verhindert werden soll, dass die Gesellschaft auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises und auf den Kurs der Aktie Einfluss nimmt, steht dieser Schutzzweck im Rahmen des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG unter dem Vorbehalt entsprechender Erlaubnisnormen nach Art des § 68 Abs. 2 AktG; im Übrigen (und wiederum vorbehaltlich der Gewährung eines gesicherten Darlehens oder Vorschusses) sorgt bereits das Verbot des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG dafür, dass sich der Vorstand der Vornahme der in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Unterstützungshandlungen enthält. Von der Gewährung eines gesicherten Darlehens oder Vorschusses abgesehen und vorbehaltlich der analogen Anwendung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auf nicht ausdrücklich geregelte Unterstützungshandlungen lässt sich somit festhalten, dass das Verbot der finanziellen Unterstützung neben demjenigen des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG weitgehend funktionslos und überflüssig ist45.
III. Unanwendbarkeit des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auf nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AktG freigestellte Aktienerwerbe 1. Fragestellung und Meinungsstand Die soeben getroffene Feststellung gibt Anlass zu der Frage, ob § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auch solche Erwerbsgeschäfte erfasst, die, würden sie von der Gesellschaft getätigt, aktienrechtlich unbedenklich wären. Im Zusammenhang mit den in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ausdrücklich genannten Unterstützungshandlungen kommt dem zwar keine praktische Bedeutung zu. Denn selbstredend würde es auch im Rahmen erlaubter Unterstützungshandlungen bei dem Kapitalschutz nach Maßgabe des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG bewenden, der wiederum, wie im Einzelnen unter II. 3. dargelegt worden ist, sowohl die Gewährung eines ungesicherten Darlehens oder eines Vorschusses als auch die Bestellung einer Sicherheit durch die Gesellschaft verbietet. Von Bedeutung wäre der Gleichlauf von §§ 71, 71a AktG freilich bei Gewährung eines gesicherten Darlehens oder Vorschusses sowie für den Fall, dass § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG keine abschließende Aufzählung verbotener Unterstützungshandlungen enthalten, sondern der analogen Anwendung auf sonstige Handlungen zugänglich sein sollte. Die ganz herrschende Meinung bejaht freilich die Anwendbarkeit des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auf die Unterstützung von Erwerbsgeschäften, die, würden sie unmittelbar durch die AG vorgenommen, aktienrechtlich unbedenk-
__________ 45 Zu den Unterschieden in den Rechtsfolgen vgl. noch unter V.
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lich wären46. Auch die Materialien zu § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG deuten in diese Richtung; danach sah sich der Gesetzgeber mit Blick auf Art. 23 der Kapitalrichtlinie gezwungen, § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG in einem umfassenden, auch die Erlaubnistatbestände des § 71 Abs. 1 Satz 1 AktG umfassenden Sinne zu fassen47. Gänzlich unumstritten ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG einerseits und § 71 AktG andererseits freilich nicht. So hat sich namentlich Werner für eine teleologische Reduktion des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ausgesprochen und dafür plädiert, die Unterstützung von Erwerbsgeschäften, die der Gesellschaft erlaubt wären, nicht mit der Nichtigkeitssanktion zu belegen48. Westermann folgt dem unter Hinweis darauf, dass diese (von ihm geteilte) Ansicht im Sinne des Paradigmenwechsels, wie er mit Einfügung des § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG durch das KonTraG49 vollzogen worden ist, liege und die Einfügung des § 71a AktG auf einer besonderen Abneigung gegenüber dem Erwerb eigener Aktien beruhte, die heute überholt sei50. In die gleiche Richtung dürfte eine Entscheidung des OLG Frankfurt/M. vom 30.1.1992 gehen, in der eine Kurspflegevereinbarung unter Hinweis auf § 71 Abs. 1 Nr. 1 AktG dem Verbotstatbestand des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG entzogen wird51. 2. Stellungnahme Eine ausschließlich an der Systematik des nationalen Rechts ausgerichtete Interpretation sollte in der Tat zu einem Gleichlauf von §§ 71 Abs. 1, 71a Abs. 1 Satz 1 AktG gelangen und das Verbot finanzieller Unterstützung auf solche Erwerbsgeschäfte beschränken, die, würden sie von der Gesellschaft getätigt, aktienrechtlich unzulässig wären. Hierfür spricht nicht zuletzt die weitgehende Funktionslosigkeit des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG: Die dem § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG von der neueren Ansicht zugedachte Funktion eines besonderen Kapitalschutzes wird, wie im Einzelnen unter II. dargelegt worden ist, vollumfänglich durch das in § 57 AktG geregelte Prinzip der umfassenden Vermögensbindung besorgt, und zwar in einer Weise, die bei entsprechendem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen Leistung der Gesellschaft und Aktienübertragung sowohl Leistungen an den Veräußerer als auch solche an den Erwerber zu erfassen vermag, mithin nicht hinter § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zurückbleibt. Und soweit § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG
__________ 46 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 30; Lutter in KölnerKomm.AktG, § 71a
47 48 49 50 51
Rz. 6; Hüffer, AktG, § 71a Rz. 3; Block in Heidel, § 71a AktG Rz. 1; Schroeder (Fn. 4), S. 109, 226 ff.; vgl. ferner Singhof, NZG 2002, 745 (750), der zu Recht auf den mit § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG eingeleiteten Paradigmenwechsel hinweist, gleichwohl an der „Eigenständigkeit“ des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG festhält. Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 8/1678, S. 16; Ganske, DB 1978, 2461 (2464). Werner, AG 1990, 1 (14). S. Fn. 1. Westermann in FS Peltzer, 2001, S. 613 (625 f.). OLG Frankfurt/M., AG 1992, 194 (196).
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die Funktion eines eigenständigen Umgehungsschutzes zukommt, vermag dieser Zweck nur solche Geschäfte zu unterbinden, die nach der gegen Umgehungen geschützten Norm verboten wären. Es bleibt allerdings die Frage, ob diese Auslegung im Einklang mit Art. 23 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie steht oder ob das Gebot einer richtlinienkonformen Auslegung zu einer – der Systematik des AktG an sich zuwiderlaufenden – Einbeziehung von der Gesellschaft erlaubten Erwerbsgeschäften zwingt52. Insoweit ist die Entstehungsgeschichte des Art. 23 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie durchaus aufschlussreich. Sie zeigt nämlich, dass Art. 23 Abs. 1 – ebenso wie Art. 39 der Kapitalrichtlinie – auf die im Zuge des Beitritts des Vereinigten Königreichs geführten Verhandlungen über eine Korrektur der schon weithin ausgehandelten Kapitalrichtlinie zurückgeht53. Hintergrund war, dass der seinerzeit geltende sec. 54 para.1 Companies Act 1948 den Gesellschaften jegliche finanzielle Unterstützung verboten hatte. Dies wiederum ging Hand in Hand mit dem bis in die jüngste Vergangenheit hineinreichenden Verbot des Erwerbs und des Haltens eigener Aktien54. Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs Dritter wurde in diesem Zusammenhang als Umgehung des Verbots des Erwerbs durch die Gesellschaft betrachtet55. Die im Dezember 2003 in Kraft getretenen Änderungen des Companies Act56, durch die englischen Gesellschaften erstmals der Erwerb so genannter „Treasury Shares“, mithin der Rückerwerb und das Halten eigener Aktien, erlaubt worden ist, haben zwar die sections 151 ff. Companies Act betreffend die finanzielle Unterstützung unverändert gelassen. Seit jeher sehen aber sections 153, 154 Companies Act eine Reihe von Ausnahmen von dem Verbot der finanziellen Unterstützung vor, die das englische Recht im Vergleich zu § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG als weitaus weniger streng erscheinen und zudem erkennen lassen, dass der auf Drängen des Vereinigten Königreichs eingefügte Art. 23 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie niemals in dem strikten Sinne verstanden und praktiziert wurde, wie es nunmehr der Wortlaut der Richtlinie zum Ausdruck zu bringen scheint57. Es kommt hinzu, dass auch
__________
52 Zum gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG s. unter
53 54
55 56
57
I. m. Nachw. in Fn. 3; zur Methode der richtlinienkonformen Auslegung s. Habersack (Fn. 3), Rz. 34 ff. m. w. N. Eingehend Schroeder (Fn. 4), S. 16 ff.; zu Art. 39 der Richtlinie s. Habersack in FS Lutter, 2000, S. 1329 ff. Näher dazu sowie zu den in aller Schärfe in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzenden Reformbestrebungen Habersack/Mayer, The Company Financial and Insolvency Law Review, 2000, S. 330 ff. Lutter in KölnerKomm.AktG, § 71a Rz. 1. The Companies (Acquisition of Own Shares) (Treasury Shares) Regulations 2003 (SI 2003/1116) and The Companies (Acquisition of Own Shares) (Treasury Shares) No. 2 Regulations 2003 (SI 2003(3031). So erlaubt etwa sec. 151 para. 1 Companies Act Unterstützungshandlungen, mit denen ein über den Anteilserwerb hinausgehender Zweck verfolgt wird; sec. 151 para 3 Companies Act erlaubt die finanzielle Unterstützung bei Ausgabe von Bonusaktien.
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die so genannte „SLIM“-Initiative, deren Umsetzung Teil des Aktionsplans der EG-Kommission „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ ist, eine deutliche Lockerung der Vorschriften der Kapitalrichtlinie über den Erwerb eigener Aktien und des in Art. 23 Abs. 1 geregelten Verbots der finanziellen Unterstützung erwarten lässt58. Bemerkenswert hieran ist, dass die Forderungen, Art. 23 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie aufzuheben oder jedenfalls zu lockern, vor allem vom Vereinigten Königreich ausgehen, mithin dem Mitgliedstaat, der seinerzeit auf die Einfügung der Vorschrift gedrungen hatte59. Zwar lässt sich hieraus für die gegenwärtige Fassung des Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie unmittelbar nichts herleiten. Bedenkt man allerdings, dass auch die Auslegung von Richtlinien nicht allein den Wortlaut, sondern neben der Entstehungsgeschichte auch und vor allem die Systematik und den telos der jeweiligen Vorschrift zu berücksichtigen hat60, ferner, dass in diese Auslegung auch die „Politik“ der jeweiligen Vorschrift und damit deren rechtspolitisches Umfeld einfließt, dann sollte eine Auslegung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG, die Erwerbsgeschäfte, die der Gesellschaft erlaubt wären, vom Verbot der finanziellen Unterstützung ausnimmt, sehr wohl durch Art. 23 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie gedeckt sein. Zumal vor dem Hintergrund, dass Art. 15 der Richtlinie eine dem § 57 AktG vergleichbare Ausschüttungssperre vorsieht und der Kapitalschutz somit auch in der Richtlinie gesondert geregelt ist, erscheint es aus systematischen Gründen nachgerade geboten, Art. 23 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie im Lichte der Art. 19 ff. der Richtlinie und damit einschränkend auszulegen61.
IV. Zur Frage der analogen Anwendung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG, dargestellt am Beispiel von Verschmelzungssachverhalten 1. Zulässigkeit und Grenzen einer erweiternden Auslegung im Allgemeinen Die Frage, ob § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG die verbotenen Unterstützungshandlungen abschließend aufzählt oder der erweiternden Auslegung zugänglich ist, steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach dem Zweck der Vor-
__________ 58 Abdruck des Aktionsplans in NZG 2003, Beil. zu Heft 13; Abdruck des SLIM-
Vorschlags betreffend die 2. Richtlinie in ZIP 1999, 1944 (1946 ff.); eingehend zur bevorstehenden Reform der Kapitalrichtlinie im Allgemeinen und den vorstehenden Änderungen zu eigenen Aktien und finanzieller Unterstützung im Besonderen Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 42 ff., 132 ff., 192 ff. 59 Baldamus (Fn. 58), S. 194. 60 Vgl. EuGH, Slg. 1974, 1201 (1207), Tz. 6; EuGH, Slg. 1996, 6017, (6035 f.), Tz. 19 ff. 61 Näher zu Art. 15 der Kapitalrichtlinie Mülbert in FS Lutter, 2000, S. 535 (544 ff.); Schön in FS Kropff, 1997, S. 285 (293 f.); Leinekugel, Die Sachdividende im deutschen und europäischen Aktienrecht, 2001, S. 18 ff.; Habersack (Fn. 3), Rz. 164 ff.; Schwarz (Fn. 3), 2000, Rz. 595 ff.
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schrift. Es kann deshalb nicht überraschen, dass die Einbeziehung „ungeschriebener“ Unterstützungshandlungen insbesondere von denjenigen Autoren befürwortet wird, denen zufolge § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG nicht nur Umgehungen des § 71 AktG verhindern, sondern zusätzlich die Heranziehung des Gesellschaftsvermögens unterbinden soll62. Auch derjenige, der der These von der Kapitalschutzfunktion des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG widerspricht63, kommt zwar nicht umhin, die Anwendung dieser Vorschrift nicht an dem zivilrechtlichen Charakter der fraglichen Finanzierungsmaßnahme, sondern an deren wirtschaftlichem Gehalt und ihrer etwaigen Vergleichbarkeit insbesondere mit der Gewährung eines Darlehens auszurichten64. Der Kreis der Unterstützungshandlungen, die nicht ausdrücklich in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG genannt, aufgrund teleologischer Auslegung gleichwohl erfasst sind, ist jedoch umso größer, je weiter der telos des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG verstanden wird. Auf der Grundlage der hier vertretenen Ansicht, der zufolge § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG weitgehend funktionslos ist, liegt es deshalb fern, Austauschverträge ohne wirtschaftliches Eigeninteresse der Gesellschaft und zu unangemessenen Konditionen oder verlorene Zuschüsse unter § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zu subsumieren65. Derlei Leistungen sind unzweifelhaft nach § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG verboten, und zwar auch dann, wenn der Begünstigte noch nicht Aktionär der Gesellschaft ist, sofern nur die Leistung im Hinblick auf die künftige Aktionärsstellung erfolgt66. Die analoge Anwendung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ist insoweit schon in Ermangelung einer Regelungslücke ausgeschlossen; im praktischen Ergebnis bliebe sie zudem folgenlos. Überdies geht es nicht an, eine Verbotsnorm nach Art des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG, die immerhin die Nichtigkeit der ihrem Anwendungsbereich unterliegenden Rechtsgeschäfte anordnet, ohne Not und damit unabhängig von einer Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange der Gesellschaft oder ihrer Gläubiger erweiternd auszulegen. Der von § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG ausgehende Schutz der Gesellschaft und ihrer Gläubiger reicht indes so weit, dass Anwendungsfälle einer analogen Anwendung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG nur schwer vorstellbar sind. Die Problematik tritt am Beispiel von Verschmelzungssachverhalten deutlich zutage.
__________ 62 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 14; Block (Fn. 9), § 71a Rz. 7; Schroeder
63 64 65 66
(Fn. 4), S. 174 ff., 186 f.; s. ferner Singhof, NZG 2002, 745 (746); Nuyken, ZIP 2004, 1893 (1894 ff.). Wie der Verfasser dieses Beitrags, s. unter II. So zu Recht Singhof, NZG 2002, 745 (746). So aber Schroeder (Fn. 4), S. 188 f.; Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 15; dagegen konsequenterweise Lutter in KölnerKomm.AktG, § 71a Rz. 19. Vgl. die Nachw. in Fn. 30.
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Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs
2. Die einschlägigen Fallgestaltungen In der Praxis des finanzierten Anteilserwerbs spielt die Verschmelzung der Zielgesellschaft auf die anteilserwerbende Gesellschaft seit jeher eine große Rolle67. Im Grundfall verhält es sich so, dass die Zielgesellschaft auf die erwerbende Gesellschaft – zumeist handelt es sich bei dieser um eine von den Anteilskäufern errichtete spezielle Übernahmegesellschaft – verschmolzen wird. Die erwerbende Gesellschaft sieht sich sodann imstande, das im Wege der Gesamtrechtsnachfolge erworbene Vermögen der Zielgesellschaft zur Besicherung oder Erfüllung der für die Finanzierung des Anteilserwerbs eingegangenen Verbindlichkeiten gegenüber außenstehenden Gläubigern einzusetzen. Die bereits einleitend erwähnte Veräußerung der Anteile an der Howaldtswerke-Deutsche Werft AG (HDW) durch die Babcock Borsig AG, bei der nach Ansicht von Kerber gleich mehrfach gegen § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG verstoßen worden sei68, weist dagegen eine Besonderheit aus. Ausweislich des in DB 2004, 1027 mitgeteilten Sachverhalts ist der Erwerb der Anteile durch eine von One Equity Partners eingeschaltete Erwerbsgesellschaft in der Rechtsform der GmbH erfolgt. Diese Erwerbsgesellschaft hat als Gegenleistung für die HDW-Anteile unter anderem eine aus dem konzernweiten Cash Management stammende Verbindlichkeit der (die Anteile veräußernden) Babcock Borsig AG gegenüber der Zielgesellschaft (HDW) übernommen. Die Zielgesellschaft hat dieser Schuldübernahme nach § 415 Abs. 1 Satz 1 BGB zugestimmt. Nach Erwerb der Anteile an und der Verbindlichkeit gegenüber der Zielgesellschaft ist es zu deren „Verschmelzung“ auf die erwerbende Gesellschaft gekommen. Dabei hat man auf die Methode der „anwachsenden Verschmelzung“ zurückgegriffen. Zu diesem Zweck ist zunächst die Zielgesellschaft im Wege des Formwechsels nach §§ 190 ff. UmwG in eine GmbH & Co. KG umgewandelt worden, wobei die erwerbende Gesellschaft – nach formwechselnder Umwandlung in eine AG – einen Kommanditanteil und eine weitere Zweckgesellschaft einen vermögenslosen Komplementäranteil erworben haben. Sodann ist die Komplementärin ersatzlos aus der KG ausgeschieden mit der Folge, dass die erwerbende Gesellschaft das gesamte Vermögen der Zielgesellschaft im Wege der Gesamtrechtsnachfolge erworben hat69. In der Folge dieser Gesamtrechtsnachfolge ist es zur Vereinigung von Gläubiger und Schuldner und damit zum Erlöschen der übernommenen Verbindlichkeiten durch Konfusion gekommen; der Untergang der Forderung ist durch Aktivierung des Firmen-
__________ 67 Zur US-amerikanischen und zur deutschen Praxis s. Lutter/Wahlers, AG 1989, 1
(3, 12). 68 Kerber, DB 2004, 1027 (1028 ff.). 69 Dazu sowie zu der (vorbehaltlich der §§ 25, 171 f. HGB) auf das übernommene
Vermögen beschränkten Haftung des verbleibenden Kommanditisten s. BGH, ZIP 2004, 1047 (1048) m. w. N.; näher dazu unter IV. 4. a).
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werts nach § 255 Abs. 4 HGB ausgeglichen worden. Kerber zufolge handelt es sich sowohl bei der Zustimmung zur Schuldübernahme als auch bei der nachfolgenden „anwachsenden Verschmelzung“ um eine verbotene finanzielle Unterstützung im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG70. 3. Die Zustimmung zur Schuldübernahme Was zunächst die von der Zielgesellschaft erklärte Zustimmung zur Übernahme der Schuld der Anteilsverkäuferin durch die Erwerbsgesellschaft betrifft, so soll eine Unterstützung des Aktienerwerbs bereits in dem mit der Schuldübernahme verbundenen Stundungseffekt liegen. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Zustimmung zur Übernahme der Verbindlichkeit der Anteilsverkäuferin unterscheidet sich von den in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG geregelten Unterstützungshandlungen schon im Ansatz dadurch, dass mit ihr ein Abfluss von Aktiva oder auch nur ein Liquiditätsverlust, wie er der Gewährung eines Darlehens oder eines Vorschusses und der Bestellung einer dinglichen Sicherheit eigen ist, gerade nicht verbunden ist. Auch kommt es nicht zur Begründung einer neuen (zusätzlichen) Verbindlichkeit, wie dies bei der von § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG unzweifelhaft erfassten Bestellung einer schuldrechtlichen Sicherheit der Fall ist. Die Zustimmung nach § 415 Abs. 1 BGB hat vielmehr nur einen Schuldnerwechsel und damit die Übernahme des Risikos einer Insolvenz des Übernehmers der Schuld unter gleichzeitiger Aufgabe des Risikos einer Insolvenz der Anteilsverkäuferin bewirkt. Auch unter Berücksichtigung des BGH-Urteils vom 24.11.2003, dem zufolge die Gewährung eines Darlehens oder Vorschusses sowie die Bestellung einer Sicherheit per se und unabhängig von einer konkreten Vermögensgefährdung als unzulässige Einlagenrückgewähr anzusehen sind71, kann deshalb in der Erteilung einer Zustimmung nach § 415 Abs. 1 BGB allenfalls bei Vorliegen einer konkreten Vermögensgefährdung eine unzulässige Unterstützungshandlung gesehen werden72. Eine solche Vermögensgefährdung kann insbesondere nicht darin erblickt werden, dass die Zielgesellschaft mit Erteilung der Zustimmung das von §§ 71 Abs. 1, 71a Abs. 1 Satz 1 AktG missbilligte „Doppelrisiko“, nämlich das Risiko, dass die Gesellschaft mit ihrer Forderung gerade wegen des Kursverlusts der vom Schuldner gehaltenen Aktien ausfällt, perpetuiert habe, indem sie dafür gesorgt habe, dass die Verbindlichkeit nicht bei der Anteilsverkäuferin geblieben, sondern auf den neuen Aktionär übergegangen sei. Denn ein Auseinanderfallen von Aktionärs- und Schuldnerstellung dürfte ohnehin ausgeschlossen gewesen sein: Die Zielgesellschaft hätte zwar die Zustimmung verweigern können; doch wäre es dann wohl kaum zum Er-
__________
70 Kerber, DB 2004, 1027 (1028 ff.). 71 BGH, NZG 2004, 233 = NJW 2004, 1111; näher dazu unter II. 3. 72 A. A. – allerdings ohne jede Problemvertiefung – Kerber, DB 2004, 1027 (1028); im
Ergebnis wie hier dagegen Nuyken, ZIP 2004, 1893 (1896 ff.).
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Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs
werb der Aktien gekommen, so dass die Verkäuferin weiterhin Aktionär und Schuldner der Verbindlichkeit geblieben wäre und das „Doppelrisiko“ fortbestanden hätte. In der Zustimmung zur Schuldübernahme wird man deshalb allenfalls dann eine finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs erblicken können, wenn sich hierdurch das Risiko eines Ausfalls mit der Forderung erhöht und damit eine unter dem Gesichtspunkt des „Doppelrisikos“ auch im Rahmen des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG relevante Gefährdung des Gesellschaftsvermögens verbunden hätte. Hierzu kann in Ermangelung näherer Angaben zum Sachverhalt nichts gesagt werden73. Gänzlich irrelevant ist jedenfalls, dass die erwerbende Gesellschaft als Folge der Anrechnung der übernommenen Schuld auf den Kaufpreis von der Leistung liquider Mittel an die Anteilsveräußerin verschont worden ist und auch im Verhältnis zum Gläubiger (Zielgesellschaft) in den Genuss der die übernommene Schuld betreffenden Fälligkeitsvereinbarung gelangt: Es liegt in der Natur der Sache und wird durch § 417 Abs. 1 BGB bestätigt, dass sich der neue Schuldner auf eine zwischen Gläubiger und ursprünglichem Schuldner vereinbarte Fälligkeitsbestimmung berufen kann. Eine finanzielle Unterstützung könnte deshalb – von der bereits erwähnten Bonitätsverschlechterung abgesehen – allenfalls in dem Fall angenommen werden, dass sich die Zielgesellschaft als Gläubiger der übernommenen Schuld im Zusammenhang mit dem Anteilsverkauf und der Zustimmung zur Schuldübernahme auf eine ihr nachteilige Änderung der Darlehenskonditionen eingelassen hätte74; doch läge dann die finanzielle Unterstützung nicht in der Zustimmung nach § 415 Abs. 1 Satz 1 BGB, sondern allenfalls in dieser zusätzlichen Abrede mit dem Erwerber. 4. Gesamtrechtsnachfolge in das Vermögen der Zielgesellschaft Es bleibt zu fragen, ob die Verschmelzung der Zielgesellschaft auf die erwerbende Gesellschaft, sei es nach §§ 2 ff. UmwG oder unter Rückgriff auf das dem Personengesellschaftsrecht eigene Prinzip der Anwachsung, die Anwendbarkeit des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zu begründen vermag. Zu diesem Zweck soll zwischen der typischen und im Schrifttum zu § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bereits gewürdigten externen Finanzierung des Aktienerwerbs und der den HDW-Fall kennzeichnenden, das konfusionsbedingte Erlöschen der übernommenen Verbindlichkeit herbeiführenden Form der internen Finanzierung unterschieden werden.
__________ 73 Immerhin dürfte der Umstand, dass Babcock Borsig AG als befreite Schuldnerin
insolvent ist, während die Erwerber der HDW-Anteile HDW mit den beiden Thyssen-Krupp-Werften verschmolzen haben, die Annahme einer mit der Zustimmung zur Schuldübernahme einhergehenden Bonitätsverschlechterung nicht eben nahe legen. 74 Was sich aus dem von Kerber (DB 2004, 1027 f.) mitgeteilten Sachverhalt nicht ergibt.
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Mathias Habersack
a) Rechtslage bei externer Finanzierung des Aktienerwerbs aa) Die Frage, ob in einer auf den Anteilserwerb folgenden Verschmelzung eine finanzielle Unterstützung im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG gesehen werden kann, wird, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung überhaupt nicht und im Schrifttum – von dem erwähnten Beitrag Kerbers abgesehen – nur für die Verschmelzung nach dem UmwG erörtert75. Ganz überwiegend wird die Anwendbarkeit des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auf Verschmelzungssachverhalte abgelehnt. Insbesondere sei der Umstand, dass das Vermögen der Zielgesellschaft infolge der Verschmelzung auch für die zum Zwecke des Anteilserwerbs aufgenommenen Verbindlichkeiten der aufnehmenden Gesellschaft gegenüber Dritten (insbesondere finanzierenden Banken) haftet, als solcher nicht geeignet, die Anwendbarkeit des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zu begründen, da das UmwG für den Schutz sowohl der Gläubiger als auch der Aktionäre der übernommenen Gesellschaft sorge76. Zudem wird namentlich von Oechsler auf die Vorschrift des § 71 Abs. 1 Nr. 5 AktG verwiesen, nach deren ratio das Verbot des Erwerbs eigener Aktien nicht einer umwandlungsbedingten Gesamtrechtsnachfolge entgegenstehen solle77. Dies ist um so bemerkenswerter, als sich Oechsler an anderer Stelle dafür ausspricht, § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auch insoweit zur Anwendung zu bringen, als es um der Gesellschaft erlaubte Erwerbsgeschäfte geht78. Auf der Grundlage der hier79 vertretenen Ansicht, wonach § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG keine Anwendung auf Erwerbsgeschäfte findet, die der Gesellschaft erlaubt wären, ist diesen Stimmen ohne Einschränkung zuzustimmen: Da es der Gesellschaft nach § 71 Abs. 1 Nr. 5 AktG erlaubt wäre, eigene Aktien im Wege der Gesamtrechtsnachfolge und damit insbesondere qua Verschmelzung zu erwerben, kann in der Aufnahme der Zielgesellschaft schwerlich eine unzulässige finanzielle Unterstützung des vorangegangenen Aktienerwerbs erblickt werden, und zwar ungeachtet der mit der Verschmelzung verbundenen Indienstnahme des Vermögens der Zielgesellschaft für die Bedienung der zum Zwecke des Aktienerwerbs begründeten Verbindlichkeiten der aufnehmenden Gesellschaft. Der Schutz der Gläubiger und etwaiger Minderheitsaktionäre wird in diesem Fall durch die einschlägigen Vorschriften des UmwG besorgt. bb) Für die „anwachsende Verschmelzung“ kann nichts anderes gelten. Sie beruht auf dem – dem Personengesellschaftsrecht eigenen und zwingenden –
__________ 75 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 21; Fleischer, AG 1996, 494 (501 ff.,
76 77 78 79
504 ff.) mit umf. Nachw. zum italienischen Recht, das nach dort h. M. in der Verschmelzung keine unzulässige finanzielle Unterstützung erblickt. Fleischer, AG 1996, 494 (505); Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 21; s. ferner Lutter/Wahlers, AG 1989, 1 (12 f.); Nuyken, ZIP 2004, 1893 (1897 ff.). Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 21. Oechsler in MünchKomm.AktG, § 71a Rz. 30; dazu unter III. Unter III.
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Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs
Prinzip der Anwachsung und erklärt sich schlicht daraus, dass mit Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters die Vertragsgrundlage der Personengesellschaft entfällt und für eine Abwicklung oder sonstige Auseinandersetzung der Gesellschaft kein Raum ist80. Die Schutzvorschriften des UmwG sind in diesem Fall zwar unanwendbar. Der Schutz der Gläubiger der erloschenen Gesellschaft wird indes durch die Haftung des übernehmenden Gesellschafters besorgt. Für einen Schutz der Minderheitsgesellschafter ist dagegen – nach Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters – schon im Ansatz kein Raum, vielmehr stellt sich allein die Frage, ob der verbleibende Kommanditist unbeschränkt oder beschränkt auf das übernommene Vermögen für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet81. Zumal mit Blick auf § 71 Abs. 1 Nr. 5 AktG, der allgemein den Erwerb durch Gesamtrechtsnachfolge erlaubt, und auf der Grundlage des hier befürworteten Gleichlaufs von §§ 71 Abs. 1 und 71a Abs. 1 Satz 1 AktG kann deshalb in dem Umstand, dass das Vermögen der Zielgesellschaft infolge der „anwachsenden Verschmelzung“ für die von der Erwerberin zum Zwecke des Aktienerwerbs eingegangenen Verbindlichkeiten haftet, keine finanzielle Unterstützung im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG gesehen werden. Von Kerber wird allerdings mit Vehemenz die gegenteilige Ansicht vertreten82. So wird ausgeführt, dass, „wenn die Wahl der Form der gesellschaftsrechtlichen Verschmelzung durch Anwachsung … ausschließlich durch die Umgehung der transaktionshemmenden Vorschriften der UmwG-Verschmelzung motiviert wird, … hierin ein Institutionenmissbrauch und ggf. ein Fall von Sittenwidrigkeit“ gesehen werden könne, der überdies nicht nur das Kausal-, sondern auch das Verfügungsgeschäft betreffe. Und weiter: „Die komplizierten gesellschaftlichen Vorgänge hatten nur ein Ziel: die essentielle Kaufpreisverpflichtung (Übernahme der 524 Mio. Euro Verbindlichkeit) durch eine Form der Verschmelzung von Erwerber- und Zielgesellschaft zu eliminieren, die alle Schutzmechanismen der Verschmelzung nach UmwG ausschaltet. Dies ist ein krasser Fall von Institutionenmissbrauch. Demnach ist zweifelhaft, ob die Erwerbergesellschaft jemals rechtswirksam Eigentümer der Zielgesellschaft (Werft) geworden ist“83. Auch abgesehen davon, dass § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG nicht die Nichtigkeit des Erwerbsgeschäfts über die Aktien, sondern allein die Nichtigkeit des Finanzierungsgeschäfts zur Folge hat, weshalb sich die Frage einer Rückforderung der Aktien (oder gar der Nichtigkeit des Erfüllungsgeschäfts) über-
__________ 80 Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2003, § 730 Rz. 11; zum zwingenden Charak-
ter s. dens., § 738 Rz. 8, 13. 81 Zu der (vorbehaltlich der §§ 25, 171 f. HGB) auf das übernommene Vermögen be-
schränkten Haftung des verbleibenden Kommanditisten s. BGH, ZIP 2004, 1047 (1048) m. w. N. 82 Kerber, DB 2004, 1027 (1029). 83 Kerber, DB 2004, 1027 (1029) (Hervorhebung im Original).
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Mathias Habersack
haupt nicht stellt84, ist der Vorwurf eines – gar Sittenwidrigkeit der Übereignung der Aktien begründenden – „Institutionenmissbrauchs“ unberechtigt. Es dürfte unbestritten sein, dass das UmwG die sich aus dem allgemeinen Gesellschaftsrecht ergebende Möglichkeit der Umstrukturierung von Gesellschaften nicht antastet85. So bleibt es Gesellschaften unbenommen, unter Vermeidung der „transaktionshemmenden“ Vorschriften des UmwG über die Spaltung Ausgliederungen im Wege der Einzelrechtsnachfolge zu vollziehen86. Auch lassen sich Verschmelzungseffekte dadurch erzielen, dass Aktiva und Passiva in einen anderen Rechtsträger gegen Anteile an diesem eingebracht werden. Und selbstverständlich lässt das UmwG das – dem Personengesellschaftsrecht eigene und zwingende – Prinzip der Anwachsung unberührt87. Der Gesetzgeber hat diese Selbstbeschränkung sogar ausdrücklich im Wortlaut des § 1 Abs. 2 UmwG zum Ausdruck gebracht, indem es dort heißt, dass eine Umwandlung „im Sinne des Absatzes 1“ nur bei entsprechender Gestattung durch Gesetz zulässig ist88. Lutter bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt, dass das UmwG „nur ein Angebot des Gesetzgebers an die Gestaltungspraxis (ist), die hiervon Gebrauch machen kann, aber nicht muß“89. Im Fall der HDW-Übernahme hat die erwerbende Gesellschaft denn auch von dem Angebot des Gesetzgebers Gebrauch gemacht und die Zielgesellschaft zunächst nach Maßgabe der §§ 190 ff. UmwG in eine GmbH & Co. KG umgewandelt. Die Gläubiger sind hierbei nach §§ 204, 22 UmwG in den Genuss eines Anspruchs auf Sicherheitsleistung gekommen; die Frage eines Schutzes von Minderheitsaktionären hat sich in Ermangelung solcher Aktionäre nicht gestellt. Nach dem Formwechsel stand es sodann im Belieben der Gesellschafter, einvernehmlich das Ausscheiden eines von ihnen und den damit verbundenen Erwerb sämtlichen Aktiv- und Passivvermögens durch den verbleibenden Alleingesellschafter zu verabreden90. Mit einem „Institutionenmissbrauch“ hat dies auch nicht ansatzweise etwas zu tun. b) Rechtslage bei Übernahme einer Verbindlichkeit des Veräußerers aa) Es bleibt die Frage, ob eine abweichende Beurteilung geboten ist, wenn die Zielgesellschaft auf den Erwerber „verschmolzen“ wird, nachdem sie der Übernahme einer ihr gegenüber bestehenden Verbindlichkeit des Veräußerers durch den Erwerber zugestimmt hat. Auch dies ist – zumal auf der Grundlage des hier befürworteten Gleichlaufs zwischen §§ 71, 71a Abs. 1
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84 Näher zu den Rechtsfolgen des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG unter II. 3. 85 Statt aller Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 1 Rz. 34; aus der Rechtsprechung OLG
Frankfurt/M., ZIP 2004, 1458 (1459). 86 Näher Habersack (Fn. 43), vor § 311 Rz. 33 ff., 40; zuletzt BGH, ZIP 2004, 993. 87 Lutter, UmwG, § 1 Rz. 19; zum zwingenden Charakter s. Nachw. in Fn. 80. 88 Vgl. Begr. RegE, bei Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl. 1995, S. 43 (44); Lutter,
UmwG, § 1 Rz. 34; Bayer, ZIP 1997, 1613 (1615). 89 Lutter, UmwG, § 1 Rz. 34. 90 Vgl. OLG Frankfurt/M., ZIP 2004, 1458 (1459).
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Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs
Satz 1 AktG und mit Blick auf § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AktG – zu verneinen. Zwar läuft die Verschmelzung der Zielgesellschaft auf die erwerbende Gesellschaft bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise angesichts des mit ihr verbundenen Erlöschens der übernommenen Verbindlichkeit darauf hinaus, dass die Zielgesellschaft ihr Vermögen zur Finanzierung des Anteilserwerbs einsetzt. Rechtlich bestehen indes zwischen den nach § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG verbotenen Unterstützungshandlungen und einer Verschmelzung keine Gemeinsamkeiten. Während nämlich die Zielgesellschaft bei Heranziehung ihres Vermögens zum Zwecke der Erwerbsfinanzierung als selbständiger Rechtsträger bestehen bleibt und selbstredend den Kapitalerhaltungsregeln und den §§ 71 ff. AktG unterliegt (weshalb eine solche Entnahme vorbehaltlich konzernrechtlicher Besonderheiten91 eindeutig unzulässig wäre), ist die Ausgangslage in den Verschmelzungsfällen eine gänzlich andere. Geht man mit der ganz herrschenden Ansicht davon aus, dass im Grundfall der Verschmelzung (d. h. bei externer Finanzierung des Aktienerwerbs) § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG nicht anwendbar ist, dann setzt die Anwendung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auf den Fall der Übernahme einer Verbindlichkeit des Veräußerers mit anschließender Verschmelzung voraus, dass sich beide Sachverhalte in rechtlich erheblicher Weise unterscheiden. Hieran fehlt es: Weder aus Sicht der Zielgesellschaft noch aus Sicht der Gläubiger oder Aktionäre macht es einen Unterschied, ob die aufnehmende Gesellschaft zum Zwecke des Anteilserwerbs ein Drittdarlehen aufgenommen hat, für das nun das nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG erworbene Vermögen der Zielgesellschaft haftbar wird, oder ob die Verschmelzung zum Erlöschen einer von der aufnehmenden Gesellschaft übernommenen und auf den Kaufpreis angerechneten Forderung der Zielgesellschaft führt. Die Gläubiger der Zielgesellschaft sehen sich in beiden Fällen den nämlichen Risiken ausgesetzt; den Interessen der Aktionäre wird in beiden Fällen dadurch Rechnung getragen, dass die Darlehensverbindlichkeit der aufnehmenden Gesellschaft bei Bemessung des Umtauschverhältnisses berücksichtigt wird. § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ist – ebenso wie das Verbot des Erwerbs eigener Aktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 5 AktG !) – in keinem der beiden Fälle anwendbar: Er setzt die Existenz der Zielgesellschaft voraus und hat nicht die Funktion, Verschmelzungen zu unterbinden. Eine einfache Kontrollüberlegung bestätigt die hier vertretene Ansicht. Gesetzt den Fall, die erwerbende Gesellschaft hätte sich gegenüber der Anteilsverkäuferin verpflichtet, die Verbindlichkeit gegenüber der Zielgesellschaft abzulösen, ohne dieselbe zu übernehmen (sei es, dass eine Übernahme nicht gewollt war oder es an der Zustimmung nach § 415 Abs. 1 Satz 1 BGB fehlt), so wäre § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG, da die Zielgesellschaft an der Erfüllungsübernahme nicht beteiligt ist, unzweifelhaft nicht anwendbar. Auch in diesem Fall wäre allerdings die Verpflichtung der Anteilserwerberin gegenüber
__________ 91 Vgl. § 291 Abs. 3 AktG sowie zu § 311 AktG die Nachw. in Fn. 43.
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Mathias Habersack
der Verkäuferin zur Ablösung der Forderung der Zielgesellschaft durch Verschmelzung derselben auf die Erwerberin entfallen, und zwar wiederum „auf Kosten“ der Zielgesellschaft. Zwar wäre es in diesem Fall nicht zur Konfusion gekommen; denn Schuldner wäre ja weiterhin die Anteilsverkäuferin geblieben. Doch wäre die Forderung der Zielgesellschaft auf die Erwerberin übergegangen, die die gegen die Verkäuferin gerichtete Forderung nicht hätte geltend machen können, weil die Verkäuferin den Einwand der Erfüllungsübernahme gehabt hätte; ihrer Verpflichtung zur Erfüllungsübernahme hätte die Erwerberin zudem durch Erlass der Forderung und damit ohne Einsatz weiterer Mittel nachkommen können. bb) Erneut gilt, dass es für die „anwachsende Verschmelzung“ bei den für die Verschmelzung nach dem UmwG getroffenen Feststellungen zu bewenden hat. Für den Vorwurf eines „Institutionenmissbrauchs“ ist insoweit kein Raum, zumal sich an dem wirtschaftlichen Ergebnis – nämlich dem Erlöschen der übernommenen Verbindlichkeit – rein gar nichts geändert hätte, hätte sich die erwerbende Gesellschaft – was für sie, nachdem ohnehin ein Formwechsel erfolgt war, mit keinen weiter gehenden Gläubigerschutzmechanismen verbunden gewesen wäre – für eine Verschmelzung nach dem UmwG entschieden. Auch in diesem Fall hätte die erwerbende Gesellschaft das gesamte Vermögen der Zielgesellschaft im Wege der Gesamtrechtsnachfolge erworben (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG), so dass es zur Konfusion und damit zum Erlöschen der Verbindlichkeit gekommen wäre92. c) Ergebnis Nach allem kann festgehalten werden, dass § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG auf die Verschmelzung der Zielgesellschaft auf den Erwerber in keinem Fall anwendbar ist. Unerheblich ist, ob der Erwerber zum Zwecke des Erwerbs ein Darlehen aufgenommen hat, für das nun das Vermögen der Zielgesellschaft haftbar gemacht wird, oder ob der Erwerber mit Zustimmung der Zielgesellschaft eine gegenüber dieser bestehende Verbindlichkeit des Veräußerers übernommen hat, die infolge der Verschmelzung erlischt. Unerheblich ist auch, ob es sich um eine Verschmelzung nach dem UmwG oder um eine „anwachsende Verschmelzung“ handelt.
V. Resümee Auf der Grundlage heutiger Erkenntnisse bildet die Vorschrift des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ein Beispiel wenig geglückter Gesetzgebung. Sie dient der Umsetzung des Art. 23 der Kapitalrichtlinie, der wiederum auf Drängen des Vereinigten Königreichs in die Richtlinie aufgenommen wurde und auf einen „situativen“ Gläubigerschutz zielt. Der Systematik des deutschen
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92 Ersichtlich verkannt von Kerber, DB 2004, 1027 (1029).
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Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs
Aktienrechts – wie im Übrigen auch der Systematik der Kapitalrichtlinie selbst – läuft eine solche Regelung zuwider. In den Materialien zu § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG findet sich denn auch die ein gewisses Unbehagen zum Ausdruck bringende (und auf zahlreiche weitere Maßnahmen der Rechtsangleichung übertragbare) Bemerkung, dass durch die Beteiligung der neuen Mitgliedstaaten – darunter namentlich des Vereinigten Königreichs – an den Verhandlungen im Rat Elemente in die Diskussion hineingekommen seien, die auf teilweise völlig anderen rechtlichen Gegebenheiten beruhten; dem habe seitens der sechs Gründungsstaaten Rechnung getragen werden müssen, um die Harmonisierung des Gesellschaftsrechts in der EG zu fördern93. In der Tat ist der Verbotstatbestand spätestens mit dem Urteil des II. Zivilsenats des BGH vom 24.11.2003, wonach die Gewährung eines Darlehens oder eines Vorschusses sowie die Bestellung einer Sicherheit dem Verbot des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG zuwiderlaufen, weitgehend funktionslos geworden. Ein gewisser Vorbehalt ist zwar für die Gewährung gesicherter Darlehen und Vorschüsse sowie hinsichtlich der Rechtsfolgen anzubringen. Doch dürfte jedenfalls die von der herrschenden Meinung befürwortete Nichtigkeit auch solcher Rechtsgeschäfte, an denen nicht nur (frühere oder künftige) Aktionäre, sondern außenstehende Dritte beteiligt sind, überschießend sein94; Art. 23 der Kapitalrichtlinie jedenfalls gebietet diese Rechtsfolge nicht. Das Verbot des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG wiederum reicht mittlerweile so weit, dass für eine analoge Anwendung des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG Anlass kaum bestehen dürfte. In Betracht kommt die analoge Anwendung etwa für den Fall, dass die Zielgesellschaft der Übernahme einer ihr gegenüber bestehenden Verbindlichkeit des Veräußerers durch den Erwerber zustimmt und sich mit diesem Schuldnerwechsel eine Bonitätsverschlechterung verbindet. Verschmelzungssachverhalte sind dagegen dem Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG entzogen.
__________ 93 Begr. RegE, BT-Drucks. 8/1678, S. 9. 94 Die in BGHZ 138, 291 (298 ff.) angestellten Erwägungen lassen sich auf § 71a Abs. 1
Satz 1 AktG ohne weiteres übertragen.
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Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA Inhaltsübersicht I. Extraterritoriale regulatorische Effekte und die Schwächen der traditionellen Lösungsansätze II. Der Sarbanes-Oxley Act als katalytischer Wendepunkt und die Überlegungen der GD Binnenmarkt III. Der neue Lösungsansatz: Regulatorischer Dialog 1. Erstes Element: Gegenseitiges Verständnis bestehender Regelungen 2. Zweites Element: Information und Transparenz bei neuen Regelungen 3. Drittes Element: Konvergenz der Regelungen
4. Viertes Element: Äquivalenz der Regelungen IV. Bisherige Einzelthemen im regulatorischen Dialog 1. SEC Standards of Professional Conduct of Attorneys 2. Vorschlag einer Abschlussprüfungsrichtlinie 3. Rechnungslegungsgrundsätze 4. International Audit Standards 5. Weitere regulatorische Maßnahmen mit Dialogrelevanz 6. Transatlantischer Dialog keine Einbahnstraße V. Schlussbemerkungen
Wann immer ich Volker Röhricht bei der Arbeit erlebt habe, als Richter oder Schiedsrichter, als Referent oder Diskussionsteilnehmer auf wissenschaftlichen Tagungen, stets hat mich sein Sinn für die Praxis beeindruckt. Deshalb sei ihm der folgende Tatsachenbericht aus der Praxis gewidmet über Entwicklungen, die außerhalb der unmittelbar Beteiligten bisher weitgehend unbekannt sind und die mich, als ich sie bei meiner Tätigkeit im Rat der Anwaltschaften der Europäischen Union (CCBE) kennen lernte, geradezu fasziniert haben1.
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Danken möchte ich EU-Kommissar Frits Bolkestein, seinem Generaldirektor Dr. Alexander Schaub und ihren Mitarbeitern in der Generaldirektion Binnenmarkt dafür, dass sie mich in den letzten Jahren immer wieder über diese Entwicklungen informiert und mich hin und wieder als Sparringspartner in ihre Überlegungen einbezogen haben. Dank sagen möchte ich auch Meyer Eisenberg, Deputy General Counsel, und seinen Kollegen von der US Securities and Exchange Commission. In vielen Gesprächen mit ihnen habe ich meine Brüsseler Beobachtungen überprüfen und dabei feststellen können, dass die Art, wie der Transatlantische Dialog auf beiden Seiten gesehen wird, übereinstimmt. Das Manuskript hat den Stand 30.9.2004
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Hans-Jürgen Hellwig
I. Extraterritoriale regulatorische Effekte und die Schwächen der traditionellen Lösungsansätze Dass nationale Gesetze, zumal im Wirtschaftsrecht, unabsichtlich oder absichtlich extraterritoriale Effekte haben, ist spätestens seit den heftigen Kontroversen zwischen Brüssel und Washington im Bereich der Fusionskontrolle2 in Europa politisches Allgemeingut. Mit der ständig wachsenden Internationalisierung, ja Globalisierung des gesamten Wirtschaftslebens nehmen diese Effekte an Zahl und Bedeutung zu. Das Beispiel der Fusionskontrolle zeigt, dass praktikable Lösungen extrem schwierig sind, wenn die entsprechenden Rechtsvorschriften erst einmal in Kraft sind. Wenn keine der beiden Seiten nachgibt, sind vor allem die Unternehmen die Leidtragenden. Im Bereich des Welthandels kann die Welthandelsorganisation (WHO) in Einzelfällen den regulatorischen Konflikt lösen oder lösen helfen. Der HelmsBurton Act von 1996 eröffnete US-Bürgern die Möglichkeit, mit Schadensersatzklagen gegen ausländische Gesellschaften vorzugehen, die auf Kuba in enteignetes früheres US-Vermögen investierten, und verpflichtete die amerikanischen Behörden, diese ausländischen Gesellschaften mit Sanktionen zu belegen, insbesondere ihrem Führungspersonal und ihren Aktionären sowie deren Familienangehörigen die Einreise in die USA zu verbieten. Nach dem Iran-Libya Sanctions Act von 1996 mussten die amerikanischen Behörden ausländische Gesellschaften mit Sanktionen belegen, die im Iran oder in Libyen in die Förderung von Erdöl oder Erdgas investierten. Diese Gesetze hatten also das bewusste Ziel, das Verhalten von Ausländern in bestimmten Drittstaaten zu regeln. Die EU-Kommission antwortete noch im selben Jahr mit einem Antrag auf Einleitung eines förmlichen Verfahrens vor der WHO. Unter dem Druck dieses Antrags trat die amerikanische Regierung in Verhandlungen ein, die schließlich am 11.5.1998 zur Unterzeichnung eines Memorandum of Understanding führten. Darin erklärte sich die EU-Kommission mit der Suspendierung des Verfahrens vor der WHO einverstanden, vorausgesetzt, dass die amerikanische Regierung EU-Gesellschaften und -Personen nicht mit Maßnahmen nach dem Helms-Burton Act belegt und von dem Iran-Libya Sanctions Act gänzlich freistellt. Erst als etliche Jahre später nach weiteren, mühsamen Verhandlungen die erforderlichen Detailregelungen vereinbart werden konnten, war der Konflikt zwischen der EU und den USA über die extraterritorialen Effekte der beiden Gesetze gelöst. Außerhalb des Welthandelsbereiches fehlt es, sieht man von den eng begrenzten Zuständigkeiten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag ab, durchweg an einer entscheidungszuständigen Stelle. Diesem Mangel können die Beteiligten begegnen, indem sie die extraterritorialen Effekte durch völkerrechtlichen Vertrag beseitigen, etwa des Inhalts, dass auf die extra-
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Als Beispiel seien genannt die äußerst kontroversen Fälle Boeing/McDonell Douglas und General Electric/Honeywell.
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Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA
territorialen Effekte aus welchen Gründen auch immer verzichtet wird, etwa weil die beiderseitigen Regelungen für hinreichend gleichwertig befunden werden. Voraussetzung ist jedoch, dass beide Seiten zu einem solchen völkerrechtlichen Vertrag bereit sind. Daran dürfte es in der Regel fehlen, wenn und solange es Regelungen mit extraterritorialen Effekten nur auf einer der beiden Beteiligtenseiten gibt. Der Hauptschwachpunkt aller dieser Lösungsansätze ist, dass sie post festum ansetzen. Bis die Lösung gefunden ist, greifen die extraterritorialen Wirkungen.
II. Der Sarbanes-Oxley Act als katalytischer Wendepunkt und die Überlegungen der GD Binnenmarkt Der Sarbanes-Oxley Act von 2002, der nach vielen Skandalen in den USA, beginnend mit Enron und Andersen, zum Schutz der amerikanischen Finanzmärkte zahlreiche, teilweise geradezu radikale Bestimmungen brachte, ist ein weiteres typisches Gesetz mit extraterritorialen Wirkungen. Der persönliche Anwendungsbereich ist im Gesetz nicht allgemein bestimmt, sondern richtet sich nach der jeweiligen Einzelvorschrift. Die meisten Vorschriften sind auf issuers anwendbar3, d.h. insbesondere auf alle amerikanischen oder ausländischen Gesellschaften, die an einer US-amerikanischen Börse notiert sind. Bereits im Gesetzgebungsverfahren sind die sich aus dieser Anknüpfung ergebenden extraterritorialen Wirkungen von europäischer Seite – Unternehmen, EU-Kommission und nationale Regierungen – kritisiert worden, insbesondere die Bestimmungen betreffend das audit committee, betreffend die independence of directors und betreffend die von dem Gesetz besonders hart herangenommenen Abschlussprüfer, die einer Pflicht zur Registrierung und einem weitgehenden Verbot prüfungsnaher Dienstleistungen unterworfen wurden4. Die europäische Kritik an den neuen Vorschriften und ihrer extraterritorialen Wirkung war teilweise unbegründet oder überzogen. Unbegründet war der Vorwurf, die USA hätten überhaupt nicht das Recht, mit ihren Gesetzen interne Angelegenheiten europäischer Emittenten, Abschlussprüfer etc. zu regeln. Dieser Vorwurf übersah, dass es um die Regelung von Aspekten mit zumindest möglicher Wirkung auf die amerikanischen Finanzmärkte ging, und diesen Wirkungen dürfen die USA nach unbestrittenen Regeln des Völkerrechts mit extraterritorial wirkenden Gesetzen begegnen. Dasselbe Recht nimmt umgekehrt die EU-Kommission in Anspruch, insbesondere und schon seit längerem auf dem oben erwähnten Gebiet der Fusions-
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Section 2 (7) Sarbanes-Oxley Act. Vgl. Gruson/Kubicek, Der Sarbanes-Oxley Act, Corporate Governance und das deutsche Aktienrecht, AG 2003, 337 ff. und 393 ff., und Block, Neue Regelungen zur Corporate Governance gemäß Sarbanes-Oxley Act, BKR 2003, 774 ff.
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Hans-Jürgen Hellwig
kontrolle. Überzogen war die medienwirksame Kritik in Deutschland am sog. Bilanzeid, den in Zukunft der principal executive officer und der principal financial officer eines an einer amerikanischen Börse gelisteten Emittenten zu leisten haben, indem sie insbesondere die Richtigkeit des Jahresabschlusses zu bestätigen haben5. Hier wurde völlig verdrängt, dass nach deutschem Recht alle Vorstandsmitglieder den Jahresabschluss unterzeichnen müssen und für dessen Unrichtigkeit gegebenenfalls persönlich haften6. Nicht sachgerecht war auch der vielfach zu hörende Vorwurf, das Gesetz sei ohne ausreichende Vorbereitung und Erörterung im „Hauruckverfahren“ durch den US Congress „gepeitscht“ worden. Richtig ist, dass die parlamentarischen Beratungen am 23.1.2002 begannen und dass das Gesetz am 30.7.2002 vom amerikanischen Präsidenten ausgefertigt wurde. Tatsache ist aber auch, dass der Gesetzentwurf und das Verfahren im Senat und Repräsentantenhaus auf umfangreichen Vorarbeiten beider Häuser sowie der US Securities and Exchange Commission (SEC) insbesondere unter ihrem früheren Chairman Arthur Levitt aufbauten. Mit Rückendeckung der Regierungen der Mitgliedstaaten hatte EU-Kommissar Bolkestein schon im Gesetzgebungsverfahren in Reden und Interviews, vor allem aber in persönlichen Gesprächen in Washington seine Kritik an bestimmten Vorschriften des Gesetzentwurfs vorgebracht und deren extraterritoriale Wirkungen für europäische Betroffene aus Gründen des hiesigen Rechts als unerfüllbar oder unzumutbar bezeichnet. Im Mai 2002 empfing Kommissar Bolkestein den CCBE zu einem langen Gespräch, in dem er seine grundsätzlichen Befürchtungen ob der Entwicklung in den USA darlegte. Er war besorgt, dass europäische Unternehmen, die auf den amerikanischen Finanzmarkt als den ergiebigsten der Welt angewiesen sind, voll in die regulatorische Abhängigkeit von den USA geraten. Man müsse deshalb mit den USA reden. Diese Aufgabe könne nicht den einzelnen Mitgliedstaaten der EU überlassen werden. Diese seien nämlich von vornherein gegenüber der amerikanischen Regierung zu schwach. Auch bestehe die Gefahr, dass derartige nationale Alleingänge den europäischen Binnenmarkt beschädigen. Die Aufgabe, mit den USA zu reden, liege deshalb bei der Kommission. Diese müsse, um als Gesprächspartner ernst genommen zu werden, aus einer gesamteuropäischen Position heraus sprechen können. Das Zusammenwachsen der Finanzmärkte der einzelnen Mitgliedstaaten zu einem einzigen europäischen Finanzmarkt habe seit dem Sarbanes-Oxley Act Bedeutung nicht nur für den europäischen Binnenmarkt, sondern auch für den durch dieses Gesetz notwendig gewordenen Dialog mit den USA. Wer diese Sicht Bolkesteins kennt, die er selbst und GD Dr. Schaub in der Folgezeit im Europäischen Parlament und in öffentlichen Reden außerhalb
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Section 302 Sarbanes-Oxley Act. Aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 400 Abs. 1 Satz 1 AktG, s. BGHZ 149, 10 (20 ff.) (Bremer Vulkan).
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Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA
Deutschlands, insbesondere in Brüssel und London, mehrfach vorgetragen haben, für den erscheinen alle Entwicklungen in einem zusätzlichen Licht, die sich seit Sommer 2002 im Bereich des EU Financial Services Action Plan von 1999 und im Bereich des EU Company Law Action Plan von 2003 (einschließlich des Bereichs Corporate Governance) ereignet haben und noch ereignen werden: Es geht nicht mehr nur um den europäischen Binnenmarkt, sondern auch um die „Satisfaktionsfähigkeit“ im Transatlantischen Dialog mit den USA. Bei dem Gespräch mit Kommissar Bolkestein wurde noch ein zweiter Aspekt angeschnitten, der ebenfalls später Eingang in öffentliche Reden gefunden hat, wenn auch meist nur ansatzweise. Die gesamteuropäische Position allein kann den Erfolg des Gesprächs mit den USA nicht sicherstellen. Gegebenenfalls ist es erforderlich, dass die EU regulatorisch in etwa „auf Augenhöhe“ mit den USA kommt. Man könnte insoweit von einer „regulatorischen Nachrüstung“ mit extraterritorialen Wirkungen gegenüber den USA sprechen. Von dieser Position aus kann dann „regulatorisch abgerüstet“ werden, indem beide Seiten die extraterritorialen Wirkungen zurücknehmen.
III. Der neue Lösungsansatz: Regulatorischer Dialog Der Ausgangspunkt für den neuen Ansatz der GD Binnenmarkt war ein doppelter. Zum einen die Tatsache, dass viele Bestimmungen des an sich sehr ausführlichen Sarbanes-Oxley Act mit seinen extraterritorialen Wirkungen nur Rahmenbestimmungen sind, die von der SEC und dem neuen US Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB) auszufüllen sind, und zum anderen, dass angesichts der Skandale zunächst in den USA, dann aber auch in Europa auch die EU-Kommission (ebenso wie die nationalen Regierungen) regulatorische Maßnahmen – gegebenenfalls auch mit extraterritorialen Wirkungen – für erforderlich hielt. Der sich daraus ergebende neue Lösungsansatz besteht darin, dass seit dem Sommer 2002 die Europäische Kommission einerseits und das US Treasury Department, die US Securities and Exchange Commission und der US Federal Reserve Board andererseits zu den jeweiligen regulatorischen Aktivitäten einen ständigen Dialog miteinander führen. Die Grundprinzipien dieses „Financial Markets Regulatory Dialogue“, die bisher im Wesentlichen nur Insidern bekannt waren, hat GD Dr. Schaub am 13.5.2004 in einer Anhörung des Financial Services Committee des US House of Representatives7 und am 15.5.2004 in einer Rede auf der Vollversammlung des CCBE8 in Brüssel umfassend dargelegt. Wenn dieser Dialog als „Regulatory Dialogue“ bezeichnet wird, hat
__________ http://europa.int/comm/internal_market/finances/docs/general/2004-05-13testimony_en.pdf. 8 Unveröffentlicht. 7
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dies doppelte Bedeutung. Zum einen geht es um die Regulierung der Finanzmärkte, zum anderen sind Partner des Dialoges die Regulierungsbehörden, also die Exekutive, nicht aber die Parlamente als Legislative. Die EU-Mitgliedstaaten sind intern eingebunden. Parallel zu dem Transatlantischen Dialog findet der von der Kommission initiierte Dialog der nationalen Regulierungs- und Aufsichtsbehörden für die Finanzmärkte der 25 Mitgliedstaaten der EU statt. Gesprächspartner bei der SEC bestätigen, dass die in diesem internen europäischen Dialog erreichten Fortschritte bei der Schaffung eines einheitlichen europäischen Finanzmarktes für den Transatlantischen Dialog eine große Erleichterung, ja letztlich eine unerlässliche Voraussetzung sind. Für den Transatlantischen Dialog werden keine konkreten Ziele vorgegeben. Der Weg ist vielmehr das eigentliche Ziel. Wenn es sie überhaupt gibt, dann bleiben die Zielvorgaben sehr allgemein. Jedes Jahr legen beide Seiten auf einem „Gipfeltreffen“ die Dialogthemen fest und wie sie abgearbeitet werden sollen. Das letzte derartige „Gipfeltreffen“ zwischen der Kommission, der Treasury, der SEC und dem Federal Reserve Board fand am 25./26.6.2004 statt. Die abgestimmte Presseerklärung9 der Teilnehmer berichtet für die EU von den Aktivitäten innerhalb des Financial Services Action Plan sowie den Gesetzgebungsvorhaben betreffend Corporate Governance, Gesellschaftsrecht, Rechnungslegung und Abschlussprüfung und vermerkt, dass die USA diese Maßnahmen mit dem Ziel einer Schaffung eines integrierten europäischen Kapitalmarkts begrüßen. Die Erklärung berichtet weiter, dass die USA ihre Arbeit an verschiedenen Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens der Kapitalanleger auf der Grundlage des Zehn-Punkte-Plans des amerikanischen Präsidenten und des Sarbanes-Oxley Act fortsetzen und dass die EU den zugrunde liegenden Zielsetzungen zustimmt, von denen viele sich in laufenden Gesetzgebungsvorhaben der EU wiederfinden. Sodann heißt es wörtlich: „The United States and the European Union have different legal, cultural and historical traditions in the financial sphere. Thus, actions by each can have unintended spillover effect for the other. The Dialogue is an important component in the effective management of these spillover effects. – European concerns over the Sarbanes-Oxley legislation have been taken into account through strong engagement, while the letter and spirit of the law have been fully met. – US concerns that European legislation might not allow for full US participation in European capital markets are being substantially addressed. The United States and the EU will intensify their cooperation through the Dialogue and have agreed procedural steps to be taken over the coming year to take this for-
__________ 9
http://europa.eu.int/comm/internal_market/finances/docs/general/eu-us-dialoguereport_en.pdf.
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Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA ward. Together, both sides will encourage work: maintain the highest standards of investor protection; promote international convergence of accounting standards, including their consistent application, implementation and enforcement; strengthen corporate governance on each side of the Atlantic; and lower transaction costs of cross-border business. In doing so, participants in the Dialogue intend to consult with and encourage more input from the private and academic sectors.“
Der Entscheidung, welche Themen in den Dialog „eingestellt“ werden, liegen keinerlei systematische Erwägungen zugrunde. Dialogteilnehmer auf beiden Seiten erklären, dass systematische Einordnungen, die zwischen den USA einerseits und der EU und innerhalb der EU andererseits häufig recht unterschiedlich sind, keine Rolle spielen. Wenn die eine Seite aus Sachgründen ein bestimmtes Thema erörtern möchte, wird es völlig losgelöst von der systematischen Einordnung in den Dialog eingestellt. Bestandteil des Dialogs ist, ständig zu überprüfen, wie der Dialog verbessert werden kann. Dies hat dazu geführt, dass Einzelthemen von nachgeordneten Behörden und Stellen behandelt werden, auf europäischer Seite insbesondere dem International Accounting Standards Board (IASB) und auf amerikanischer Seite dem Financial Accounting Standards Board (FASB) und dem PCAOB. Der Dialog besteht aus insgesamt vier Elementen, die im Folgenden dargestellt werden. 1. Erstes Element: Gegenseitiges Verständnis bestehender Regelungen Erstes Ziel des Dialogs ist es, die bestehenden beiderseitigen Regelungen jenseits und diesseits des Atlantiks so gut wie möglich zu verstehen, vom grundsätzlichen Ziel und Ansatz der Regelung bis hin zu einzelnen Detailbestimmungen, und die gelernten Erkenntnisse immer wieder in Gesprächen across the Atlantic zu überprüfen. Die beiderseitigen Regelungen werden dabei nicht nur im Sinne einer bloßen Bestandsaufnahme verglichen, sondern immer mit der gedanklichen Frage im Hinterkopf, ob etwaige Regelungsunterschiede notwendig sind und wie sie gegebenenfalls beseitigt werden könnten. 2. Zweites Element: Information und Transparenz bei neuen Regelungen Der vorgenannte Verständnisdialog ist Grundlage für das zweite Element des Transatlantischen Dialogs. Bei der Einführung neuer Regelungen oder gar neuer Regelungsziele und -ansätze gilt das Prinzip der frühzeitigen Information und der Transparenz, und zwar weit über die allgemeinen Möglichkeiten im Rahmen des Internet hinaus. Die am Dialog Beteiligten stellen sicher, dass sie über relevante Entwicklungen bei nachgeordneten Behörden und Stellen einschließlich der Gliedstaaten unterrichtet sind, damit sie ihren externen Pflichten across the Atlantic gerecht werden können. Die 187
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Dialogpartner auf der Ebene Kommission einerseits und Treasury, SEC und Federal Reserve Board andererseits fungieren also als Transparenz- und Informationsscharniere. Die Pflicht, sich über die Entwicklungen in den Gliedstaaten informiert zu halten, um die externen Informations- und Transparenzpflichten erfüllen zu können, betrifft in erster Linie die Kommission, denn in den USA ist das Recht der Finanzmärkte weitgehend Bundesrecht und nicht Recht der Einzelstaaten. Wie gut die beiden vorgenannten ersten Elemente des Dialogs (Verständnis bestehender Regelungen sowie Information und Transparenz bezüglich neuer Regelungen) in der Dialogrichtung von Europa in die USA funktionieren, habe ich bei Diskussionen mit Mitarbeitern der SEC wiederholt erlebt. Sie waren hervorragend informiert über geltende Regelungen und rechtspolitische Überlegungen und Vorschläge nicht nur auf der Brüsseler Ebene, sondern auch auf der nationalen Ebene (etwa die bereits erwähnte Entscheidung des BGH zur persönlichen Haftung von Vorstandsmitgliedern für einen unrichtigen Jahresabschluss10 und das Zehn-Punkte-Programm der deutschen Bundesregierung vom 25.2.2003 und zuvor den Zehn-Punkte-Katalog von Finanz- und Justizministerium von 2002 und deren Umsetzung durch eine Reihe von Einzelgesetzgebungsvorhaben11). 3. Drittes Element: Konvergenz der Regelungen Das vereinbarte Prinzip der frühzeitigen Information und Transparenz verhindert, dass die eine Seite die andere mit fertigen Regelungen überrascht, wie es beim Sarbanes-Oxley Act der Fall gewesen war, mehr aber nicht. Das Problem der extraterritorialen Effekte bleibt, denn es ist ein Problem des Regelungsinhalts. Deshalb sind beide Dialogpartner darum bemüht, dass Neuregelungen schon im Entwurfsstadium in Regelungsziel und Regelungsansatz auf beiden Seiten des Atlantik konvergieren. Die beiden ersten Elemente des Dialogs – gegenseitiges Verständnis bestehender Regelungen sowie Information und Transparenz bei neuen Regelungen – schaffen dafür die Grundlage. Je besser man die gegenwärtige und etwaige künftige Regelung auch des anderen kennt, umso besser ist man vorbereitet, um unnötige extraterritoriale Wirkungen (sog. spillover effects) von Regelungen zu vermeiden.
__________ 10 S. o. Fn 6. 11 Etwa das Transparenz- und Publizitätsgesetz (TransPuG), das Gesetz zur Unter-
nehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), das Anlegerschutzverbesserungsgesetz (AnSVG), das Bilanzrechtsreformgesetz (BilReG) und das Bilanzkontrollgesetz (BilKoG), das Abschlussprüferaufsichtsgesetz (APAG) und der angekündigte Vorschlag für das Kapitalmarktinformationshaftungsgesetz (KapInHaG, ob der als zu niedrig empfundenen Haftungsobergrenzen, die in der Presse vorab berichtet wurden, ironisch „Kapitalisteninhaftierungsgesetz“ genannt).
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Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA
4. Viertes Element: Äquivalenz der Regelungen Konvergenz bedeutet nicht Übereinstimmung in allen Einzelheiten. Eine derartige Übereinstimmung wäre als Ziel unrealistisch und ist auch nicht erforderlich. Äquivalenz der Regelungen reicht aus, um nach dem Maßstab der Vernunft (rule of reason) auf nicht erforderliche extraterritoriale Wirkungen verzichten zu können. Warum sollte die eine Seite des Dialogs nur deshalb auf der extraterritorialen Wirkung ihrer Regelungen beharren, weil die andere Seite eine vergleichsweise unwesentliche Detailfrage anders regelt oder einen systematisch unterschiedlichen Regelungsansatz hat, mit ihrer Regelung aber dasselbe Ziel verfolgt und dieselben oder weitgehend dieselben Wirkungen erreicht? Vernünftigerweise ist funktionale Äquivalenz ausreichend. Identität oder Äquivalenz der Regelungen – der Sache nach geht es hier im Transatlantischen Dialog um dieselbe Frage, die sich auch bei der Rechtsangleichung in der EU, zumal im Binnenmarkt, gestellt hat und immer wieder stellt. Wir sind in Europa schon lange von dem früheren überambitionierten Ziel einer Normenidentität durch Vollharmonisierung abgegangen, weil wir zu der Erkenntnis gelangt sind, dass eine Vollharmonisierung politisch nicht durchsetzbar ist und eine Konvergenz der Regelungen hin zur Äquivalenz ausreicht. Es war für mich beeindruckend zu sehen, dass meine Gesprächspartner bei der SEC diese innereuropäische Entwicklung genau kannten und als Beleg für die Elemente Konvergenz und Äquivalenz im Transatlantischen Dialog angeführt haben. Das Ziel der Äquivalenz im Transatlantischen Dialog gilt nicht nur für den Regelungsinhalt, sondern auch für das sog. enforcement. Dies wird von amerikanischer Seite immer wieder betont. Aus dortiger Sicht wäre eine Äquivalenz-Konvergenz, die sich auf europäischer Seite auf den Regelungsinhalt beschränken und das enforcement ausklammern würde, keine ausreichende Grundlage, um gegebenenfalls auf die extraterritorialen Wirkungen der eigenen Regelungen, bei denen es eben auch um das enforcement geht, verzichten zu können. Gewünscht wird vielmehr, dass auch und gerade im Bereich des enforcement auf europäischer Seite in der Person der Kommission ein einziger Ansprechpartner zur Verfügung steht, der im Innenverhältnis zu den Enforcement-Behörden und -stellen der einzelnen Mitgliedstaaten ausreichende Befugnisse hat.
IV. Bisherige Einzelthemen im regulatorischen Dialog 1. SEC Standards of Professional Conduct of Attorneys Nach Section 307 Sarbanes-Oxley Act musste die SEC bis zum 26.1.2003 für das Verhalten von Anwälten, die Emittenten vor der SEC vertreten, Mindeststandardregeln erlassen, die mindestens eine gesellschaftsinterne Be189
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richtspflicht bei bestimmten Verstößen vorzusehen hatten (up the ladder reporting). Nach den massiven Vorwürfen aus Europa, beim Sarbanes-Oxley Act sei im Gesetzgebungsverfahren überhaupt kein Bedacht auf ausländische Emittenten, Abschlussprüfer etc. genommen, sondern ein fait accompli geschaffen worden, ging die SEC bei der Regulierung der Anwälte bewusst anders vor. Am 6.11.2002, als die internen Formulierungsarbeiten noch gar nicht abgeschlossen waren, veröffentlichte die SEC in einer Presseerklärung vorab die Grundzüge der vorgesehenen Rule „Implementation of Standards of Professional Conduct for Attorneys“. Vorgeschlagen wurden insbesondere eine weite Definition für den Begriff des vor der SEC tätigen Anwalts und bei bestimmten Verstößen neben einer stringenten internen Berichtspflicht up the ladder bis hoch zum Board of Directors auch die Pflicht, notfalls das Mandat niederzulegen und dies der SEC extern zu melden (sog. noisy withdrawal)12. Die in Aussicht genommenen Regelungen sollten auch für ausländische und im Ausland tätige amerikanische Anwälte gelten. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung dieser Grundzüge schickte die SEC einen Emissär nach Europa, der in Einzelgesprächen u. a. mit der Kommission und dem CCBE die Überlegungen der SEC erläuterte. Diesem Emissär wurde vom CCBE erklärt, dass die Definition des vor der SEC tätigen Anwalts mit Blick auf ausländische Anwälte viel zu weit sei, dass die Schwellenkriterien für die Berichtspflicht nicht präzise genug seien und dass die vorgesehene externe Meldepflicht gegenüber der SEC nach amerikanischem Recht für ausländische Anwälte zu unlösbarem Widerspruch mit ihrer Verschwiegenheitspflicht nach ihrem Heimatrecht führen würde. In diese Richtung äußerten sich auch die anschließenden schriftlichen Stellungnahmen der Kommission und des CCBE. Die SEC ging noch einen Schritt weiter: Am 17.12.2002 führte sie zur Frage der Einbeziehung ausländischer Anwälte in Washington ein Round-TableGespräch durch. Die Vertreter ausländischer und internationaler Anwaltsorganisationen und Kanzleien brachten dort ebenfalls die vorgenannten Kritikpunkte vor. Dieser intensive Dialog führte dazu, dass die Ende Januar verabschiedete Endfassung der Rule von den am 6.11.2002 veröffentlichten Grundzügen und der am 21.11.2002 veröffentlichten Entwurfsfassung erheblich abweicht. Durch die Schaffung einer neuen definitorischen Kategorie des sog. nonappearing foreign attorney (Section 205.2 (j)) sind nunmehr praktisch die allermeisten ausländischen Anwälte von der Rule ausgenommen. Die die Meldepflicht auslösenden Kriterien sind verobjektiviert worden (Section 205.2 (e)). Im Ausland tätige Anwälte sind zur Einhaltung der Rule nicht verpflichtet, wenn sie dadurch gegen ausländisches Recht verstoßen würden
__________ 12 Vgl. Hellwig, Die amerikanische SEC will ausländische Anwälte regulieren, Edito-
rial NJW 2003, Heft 4.
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Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA
(Section 205.6 (d)). Die Verabschiedung der externen Meldepflicht gegenüber der SEC (noisy withdrawal) wurde – dies vor allem auch auf Druck der amerikanischen Anwaltschaft – zurückgestellt. Stattdessen stellte die SEC alternativ zur Diskussion, dass, wenn das interne up the ladder reporting nicht hilft, der Anwalt zwar sein Mandat niederlegen muss, aber nicht der Anwalt, sondern der Emittent die Mandatsniederlegung der SEC zu melden hat. Mit dieser Alternativlösung haben sich Kommission und CCBE einverstanden erklärt. Aus heutiger Sicht ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Pflicht zum noisy withdrawal jemals von der SEC verabschiedet wird. Insgesamt ist festzustellen, dass bei den SEC Standards of Professional Conduct for Attorneys die ersten beiden der oben genannten Elemente des regulatorischen Dialogs über den Atlantik (gegenseitiges Verständnis bestehender Regelung, Information und Transparenz bei neuen Regelungen) erfolgreich praktiziert worden sind. Elemente 3 und 4 (Konvergenz und Äquivalenz) waren nicht einschlägig, denn vergleichbare Regelungen gibt es in Europa nicht und sind in der GD Binnenmarkt auch nicht angedacht. Stattdessen hat die SEC die aus europäischer Sicht inakzeptablen extraterritorialen Effekte einseitig weitgehend zurückgenommen. Entscheidend ist dies, wie Vertreter der SEC im Gespräch erklärt haben, auf die Stellungnahme der EU-Kommission zurückzuführen, die von allen 44 bei der SEC eingegangenen Stellungnahmen das größte politische Gewicht hatte. 2. Vorschlag einer Abschlussprüfungsrichtlinie Neben der Pflicht zur Registrierung beim PCAOB nach Section 102 enthält der Sarbanes-Oxley Act in Section 211 ff. zahlreiche detaillierte Regelungen, mit denen die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers besser geschützt werden soll (weitgehendes Verbot bzw. für wenige Ausnahmen vorherige Genehmigungspflicht für prüfungsnahe Beratungsleistungen, Rotation des Prüfungsleiters, Berichtspflicht gegenüber dem Audit Committee, Sperrfrist von einem Jahr für den Wechsel von der Prüfungsgesellschaft in bestimmte Positionen beim geprüften Unternehmen). Letzere Regelungen sind durch die SEC Rule „Strengthening the Commission’s Requirements regarding Auditors’ Independence“ vom 18.3.2003 verfeinert und ergänzt worden. Vorausgegangen war ein Entwurf vom 2.12.2002, gegen den von europäischer Seite, insbesondere der Kommission und dem Berufsstand der Wirtschaftsprüfer, in schriftlichen Stellungnahmen und in einem zu diesem Thema einberufenen Round-Table-Gespräch, das wie der round table mit der Anwaltschaft am 17.12.2002 stattfand, Einwendungen vorgebracht worden, denn die Regeln zur Unabhängigkeit sollten auch weiterhin für ausländische Prüfungsgesellschaften gelten. Anders als bei der Attorneys’ Conduct Rule war die SEC jedoch bei der Auditors’ Independence Rule zu wesentlichen Änderungen des ursprünglichen Entwurfs insbesondere in der Frage der extraterritorialen Wirkungen nicht bereit. 191
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Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung auf der europäischen Ebene zu sehen. Am 16.3.2004 (d.h. zwei Tage vor der Auditors’ Independence Rule der SEC) hat die Kommission den Vorschlag einer Abschlussprüfungsrichtlinie vorgelegt, der inhaltlich über die bisherige 8. gesellschaftsrechtliche Richtlinie weit hinausgeht. Es ist hier nicht der Ort für eine Darstellung der Grundzüge dieses Richtlinienvorschlags. Mit Blick auf den Transatlantischen Dialog ist jedoch festzustellen, dass Art. 21 und 22 Vorgaben für die einzuhaltenden Berufsgrundsätze (insbesondere Gesamtverantwortung gegenüber der Öffentlichkeit, Integrität, Unparteilichkeit, Fachkompetenz und Sorgfalt), die Schweigepflicht und das Berufsgeheimnis enthalten. Schweigepflicht und Berufsgeheimnis müssen dabei gegenüber dem enforcement der Rechnungslegung und dem Informationsaustausch zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten zurücktreten. Diese Einschränkungen der Berufsverschwiegenheit eines Abschlussprüfers sind im amerikanischen Recht seit je anerkannt. Nach Art. 23 muss der Abschlussprüfer unabhängig und darf nicht in irgendeiner Weise an Entscheidungen der Leitung des zu prüfenden Unternehmens beteiligt sein. Prüfungen „sollten nicht“13 durchgeführt werden, wenn zu dem zu prüfenden Unternehmen „eine finanzielle oder geschäftliche Beziehung, ein Beschäftigungsverhältnis oder eine sonstige Verbindung – wozu auch die Erbringung zusätzlicher Leistungen zählt – besteht, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnte.“ Insoweit beschränkt sich der Vorschlag auf einen Grundsatz, der den Detailregelungen von Section 201 ff. Sarbanes-Oxley Act und der Auditors’ Independence Rule der SEC entspricht. Die Grundsätze für die öffentliche Prüferaufsicht auf der Ebene der Mitgliedstaaten werden in Art. 31 und die Zusammenarbeit zwischen den für die Aufsicht zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten auf Gemeinschaftsebene wird in Art. 32 geregelt. Dies ist die oben erwähnte Mindestverankerung des enforcement bei der Abschlussprüfung auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts, um aus amerikanischer Sicht von ausreichender Äquivalenz sprechen zu können. Die Pflicht zur Prüferregistrierung auf mitgliedstaatlicher Ebene gemäß Art. 15 und 20 gilt nach Art. 45 auch für Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften aus Drittländern, wenn sie u. a. Abschlüsse eines ausländischen Emittenten prüfen und bestätigen, dessen Wertpapiere in dem betreffenden Mitgliedstaat zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind. Derartige ausländische Prüfungsgesellschaften unterliegen nach Art. 45 ferner der Aufsicht, den Qualitätssicherungssystemen und den Enforcement-Systemen des EU-Mitgliedstaates, bei dem sie registriert sind. Mit dieser Regelung werden amerikanische (und sonstige ausländische) Prüfungsgesellschaften einer hiesigen Registrierungspflicht und hiesigen
__________ 13 Die englische Fassung spricht von shall not, d. h. „dürfen nicht“.
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Rechtsvorgaben unterstellt, genau so, wie es in den USA der Sarbanes-Oxley Act und die Auditors’ Independence Rule der SEC für europäische (und sonstige ausländische) Prüfungsgesellschaften tun. Nach Art. 46 können die Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit von der Anwendung der Registrierungspflicht und der genannten Systeme gemäß Art. 45 gegenüber Prüfungsgesellschaften aus Drittländern absehen, wenn die Prüfungsgesellschaften in ihrem Heimatstaat einer öffentlichen Aufsicht, einem Qualitätssicherungssystem sowie Untersuchungen und Sanktionen unterliegen, die den Vorgaben der Richtlinie gleichwertig sind. Ob die Äquivalenz gegeben ist, wird von der Kommission zusammen mit den Mitgliedstaaten beurteilt und von der Kommission nach Art. 49 Abs. 2 festgestellt. Dies gibt der Kommission die Möglichkeit, im Transatlantischen Dialog mit den USA die Äquivalenz der beiderseitigen Regelungen festzustellen, mit der Folge, dass europäische Prüfungsgesellschaften von der Registrierungspflicht und der Einhaltung der genannten Vorschriften in den USA und umgekehrt amerikanische Prüfungsgesellschaften von der Registrierungspflicht und der Einhaltung der genannten Vorschriften in Europa freigestellt werden können. Aus der Sicht der USA ist unter dem Blickwinkel der Äquivalenz ferner von Bedeutung Art. 47, der die Zusammenarbeit mit zuständigen Stellen in Drittländern und insbesondere die Übergabe von Arbeitspapieren etc. eines Abschlussprüfers an die zuständigen Stellen von Drittländern regelt. Eine von mehreren Voraussetzungen ist dabei, dass die zuständige Stelle im Drittland die Anforderungen erfüllt, die nach Abs. 3 von der Kommission gemäß Art. 49 Abs. 2 für angemessen erklärt wurden. Die Einschätzung der Angemessenheit wird in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten vorgenommen, basierend auf den Anforderungen von Art. 34 (betreffend die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten) oder auf im Wesentlichen gleichwertigen funktionalen Ergebnissen. Ob ausländische Aufsichtsstellen für die Entgegennahme von Arbeitspapieren etc. qualifizieren, hängt also von der funktionalen Äquivalenz ab. Entscheidende Bedeutung aus der Sicht der USA hat in diesem Zusammenhang der in Art. 49 vorgesehene Regelungsausschuss „Abschlussprüfung“, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten unter Vorsitz der Kommission zusammensetzt. Aus der Sicht der USA ist es dieser Ausschuss, der die erforderliche Zusammenfassung der Aufsicht- und Enforcementaktivitäten der Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene gewährleistet. Die inhaltliche Parallelität und Verzahnung zwischen dem Richtlinienvorschlag und den amerikanischen Rechtsvorschriften, vorstehend für einige Eckpunkte kurz skizziert, ist kein Zufall. Sie beruht vielmehr auf intensiven Gesprächen von fast einem Jahr Dauer zwischen der Kommission und dem PCAOB. Die Kommission hatte erfahren müssen, dass der amerikanische Gesetzgeber beim Sarbanes-Oxley Act und die SEC bei der Auditors’ Inde193
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pendence Rule zu wesentlichen Abstrichen von den extraterritorialen Wirkungen ihrer Regelungen zum besseren Schutz der Unabhängigkeit der Abschlussprüfung angesichts der bestehenden Rechtslage in Europa nicht bereit war. Daraus ergab sich für die Kommission das Ziel, durch eine neue Richtlinie „auf Augenhöhe“ mit den USA zu kommen, um auf dieser Grundlage in den als besonders gravierend empfundenen Punkten die extraterritoriale Wirkung des Sarbanes-Oxley Act beseitigen zu können. Dafür war es erforderlich, den Richtlinienvorschlag inhaltlich und im sog. enforcement hinreichend nahe am amerikanischen Recht auszurichten und auch ausländische Wirtschaftsprüfungsgesellschaften grundsätzlich dem europäischen Recht zu unterwerfen („regulatorische Nachrüstung“), damit dann auf dieser Grundlage die extraterritorialen Wirkungen beiderseits durch Freistellung zurückgenommen werden können („regulatorische Abrüstung“). Insofern ist der neue Richtlinienvorschlag ein Musterbeispiel für den Transatlantischen Dialog. Zwar saß die amerikanische Seite durch den bereits erfolgten Erlass des Sarbanes-Oxley Act und der Auditors’ Independence Rule zeitlich gesehen in der Vorhand, weshalb sich das Element der Konvergenz auf die europäische Seite – bei der Formulierung des Richtlinienvorschlags – beschränkte. Inhaltlich hat sich dies jedoch nicht weiter ausgewirkt, denn die in den USA einerseits und in den europäischen Ländern andererseits nach den vielfältigen Skandalen der Finanzmärkte drüben wie hüben angestellten regulatorischen Überlegungen stimmten von Anfang, d.h. schon vor Beginn des Transatlantischen Dialogs, weitgehend überein. Nach meinem Eindruck aus Gesprächen in Brüssel und Washington ist im Rahmen des Transatlantischen Dialogs nicht nur der Inhalt des Richtlinienvorschlags vorbesprochen worden, sondern auch, dass nach In-Kraft-Treten der Abschlussprüfungsrichtlinie – die Verabschiedung ist für Juni 2005 geplant – die Äquivalenz der beiderseitigen Regelungen festgestellt wird und die beiderseitigen extraterritorialen Wirkungen beseitigt werden, indem europäische Prüfungsgesellschaften von der Registrierungspflicht und den genannten Vorschriften in den USA freigestellt werden, während es umgekehrt zu einer entsprechenden Freistellung für amerikanische Prüfungsgesellschaften in Europa kommt. Mit Blick auf den Transatlantischen Dialog ist ferner von Interesse Art. 26 des Richtlinienvorschlags, wonach Abschlussprüfungen gemäß von der Kommission nach Art. 49 Abs. 2 angenommenen International Audit Standards durchzuführen sind. Hierauf wird unten näher eingegangen. 3. Rechnungslegungsgrundsätze Bekanntlich divergieren die US Generally Accepted Accounting Principles (US GAAP) und die europäischen International Accounting Standards (IAS)14
__________ 14 Heute International Financial Reporting Standards genannt.
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Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA
in vielen Punkten. Der International Accounting Standards Board (IASB)15 und der US Financial Accounting Standards Board (FASB) sind deswegen sehr früh in den Transatlantischen Dialog einbezogen worden. Beide haben in einem Memorandum of Understanding die Konvergenz der beiderseitigen Regelwerke zum Ziel erklärt. Die diesbezüglichen Arbeiten schreiten kontinuierlich voran. Die einmal erreichte Konvergenz soll sodann durch ständige Kooperation zwischen IASB und FASB erhalten bleiben. Zur Frage der Äquivalenz zwischen IAS und US GAAP hat auf europäischer Seite das Committee of the European Securities Regulators (CESR) der Kommission bis 30.6.2005 einen Bericht zu erstatten. Es geht hier um die Äquivalenz nicht nur zu den USA, sondern auch zu Kanada und Japan, deren Rechnungslegung weitgehend den US GAAP folgt. Nach der neuen Prospektrichtlinie und nach der vorgeschlagenen Transparenzrichtlinie müssen in der EU börsennotierte ausländische Emittenten nach IAS Rechnung legen. Dieses Erfordernis ist von den USA, Kanada und vor kurzem Japan kritisiert worden. Der Bericht des CESR hat zu klären, ob und gegebenenfalls welche Änderungen bei den IAS erforderlich sind, um von Äquivalenz mit den US GAAP (einschließlich der geringfügigen Abweichungen in Kanada und Japan) sprechen zu können, auf deren Grundlage Emittenten aus diesen Ländern bei einer Börsennotierung in Europa von dem hiesigen Erfordernis der IAS befreit werden können, während umgekehrt in den USA, Kanada oder Japan börsennotierte Unternehmen von der Einhaltung der dortigen Rechnungslegungsvorschriften befreit werden16. 4. International Audit Standards Kommissar Bolkestein hat in letzter Zeit in öffentlichen Reden erklärt, dass für die Kommission International Audit Standards genauso wichtig sind wie International Accounting Standards17. Diese International Audit Standards sind, wie bereits erwähnt, nach Art. 26 und 49 des Richtlinienvorschlags zur Abschlussprüfung von dem neuen Regelungsausschuss „Abschlussprüfung“ zu erarbeiten und von der Kommission zu verabschieden. Auch dies ist ein Thema für den Transatlantischen Dialog, denn, wie Bolkestein ausgeführt hat, es geht dabei auch um die Frage, wieweit der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer Audit Standards, die auf öffentliche Interessen gebührend Rücksicht nehmen müssen, im Wege der selfregulation erlassen kann. Auf der einen Seite steht das Modell des PCAOB, d.h. eines völlig unabhängigen Board, der von fachkundigen Prüfern beraten wird, auf der anderen Seite ste-
__________ 15 Heute International Financial Reporting Standards Board genannt. 16 S. zu diesen Ausführungen www.europa.eu.int/comm/internal_market/securities/
cesr/index_eu.htm. 17 Z. B. Rede beim International Annual Symposium on Audit Research, Maastricht
2.7.2004; www.europa.eu.int/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/04/ 346&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=eng.
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hen Strukturen, bei denen fachkundige Prüfer bei der Festlegung der Standards in der einen oder anderen Weise mitentscheidend beteiligt sind, wobei jedoch eine gewisse übergeordnete Aufsicht aus Gründen des öffentlichen Interesses stattfindet. Es kann kaum einen Zweifel geben, dass diese europäischen Arbeiten an International Audit Standards zu gegebener Zeit in den Transatlantischen Dialog einfließen werden. 5. Weitere regulatorische Maßnahmen mit Dialogrelevanz Im Bereich der Corporate Governance, wie sie in Deutschland verstanden wird, sind wohl alle derzeitigen regulatorischen Vorhaben der Kommission von Relevanz für den Transatlantischen Dialog. Als Beispiel sind zu nennen das Konsultationsverfahren betreffend die Verantwortlichkeit von Mitgliedern der Verwaltungsorgane und zur Verbesserung von Finanzinformationen und der Corporate Governance und das Konsultationsverfahren zur Rule of Independent Directors. 6. Transatlantischer Dialog keine Einbahnstraße Es ist zwar richtig, dass sich die europäische Seite beim Themenkreis Abschlussprüfung inhaltlich an den Vorstellungen der amerikanischen Seite ausrichtet. Es wäre jedoch falsch, daraus zu folgern, dass der Transatlantische Dialog eine Einbahnstraße ist. Vielmehr war es so, dass die europäische Seite schon vor Beginn des Transatlantischen Dialoges, wie bereits ausgeführt, zu dem Ergebnis gekommen war, dass die regulatorischen Regelungen in Europa unzureichend und inhaltlich in Richtung des Sarbanes-Oxley Act zu überarbeiten waren. Bei der Attorneys’ Conduct Rule hat sich zudem die SEC eindeutig auf die europäischen Vorstellungen hinbewegt. Bei zahlreichen Einzelfeldern, etwa bei den hedge funds, übernimmt die SEC regulatorische Überlegungen aus Europa und auf dem Gebiet der Rechnungslegung bewegen sich beide Seiten aufeinander zu.
V. Schlussbemerkungen Der Transatlantische Dialog ist nicht auf die Finanzmärkte beschränkt. Auch auf den Gebieten Datenschutz, öffentliches Beschaffungswesen, Informationstechnologie und Dienstleistungen ist es zum Dialog zwischen EU und USA gekommen. Bei den Finanzmärkten war der Dialog allerdings am intensivsten. Der Dialog ist nicht auf die USA beschränkt. Bei Einzelthemen steht die Kommission in ähnlicher Weise im Dialog mit Kanada und der Schweiz und Dr. Schaub hat in seiner Rede vor dem CCBE vom 15.5.2004 die Absicht der Kommission mitgeteilt, in Bälde auch mit China zu bestimmten Fragen in einen regulatorischen Dialog einzutreten. 196
Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA
Dafür, wie ein regulatorischer Dialog der geschilderten Art einzuleiten und zu führen ist, gibt es kein allgemeingültiges Modell. Jeder Fall liegt anders. Dies liegt nicht nur an den einzelnen Themen, sondern vor allem auch an den regulatorischen und kulturellen Unterschieden auf Seiten der jeweiligen Dialogpartner. Wer als Anwalt ausländische Mandanten aus verschiedenen Ländern beraten und gar über regulatorische Fragen mit Anwaltsorganisationen in anderen Ländern Gespräche und Verhandlungen geführt hat, weiß, welch große Bedeutung den häufig sehr unterschiedlichen soziologischen und kulturellen Gegebenheiten zukommt, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass unter einem bestimmten äußerlich übereinstimmenden Fachbegriff häufig etwas ganz Verschiedenes verstanden wird. Im Fahrersitz des regulatorischen Dialoges sitzt in allen Fällen die Exekutive, nicht die Legislative. Das Tempo der Internationalisierung, ja Globalisierung des Wirtschaftslebens ist für den normalen Gesetzgebungsprozess zu schnell. Dieses Phänomen hat sich bekanntlich bereits innerhalb der EU gezeigt und dazu geführt, dass für bestimmte Regelungsbereiche ein sog. Fast-Track-Verfahren eingeführt worden ist, bei dem für das Europaparlament im Verhältnis zu Kommission und Rat neben der Befugnis zur Letztentscheidung nur noch eine geringe Möglichkeit der inhaltlichen Einflussnahme gewahrt bleibt. Ob die in den Dialogszenarien außerhalb der EU festzustellende Entwicklung unserem herkömmlichen Verständnis von der Gewaltenteilungslehre entspricht, dürfte wohl von Fall zu Fall unterschiedlich zu beurteilen sein. Der im Dialog mit den USA erarbeitete Vorschlag der Abschlussprüfungsrichtlinie unterliegt zweifelsfrei der Letztentscheidung des europäischen Gesetzgebers. Diesem stehen Änderungen frei, selbst dann, wenn sie die ausverhandelte Äquivalenz tangieren sollten. Schließlich kann auch ein paraphierter völkerrechtlicher Vertrag vom Parlament abgelehnt werden. Mit der wachsenden Zahl und der zunehmenden Detaillierung der Dialogthemen wird jedoch die Zahl der Fälle zunehmen, in denen der Spielraum der Legislative rechtlich und faktisch immer enger wird. Die USA können als Dialogpartner diese Frage um einiges gelassener sehen, denn bei ihnen hat die Exekutive im Vergleich zur Legislative wesentlich mehr Handlungsbefugnisse als bei uns. Insofern kann man sehr wohl formulieren, dass der Dialog nicht nur zu einer Konvergenz der Regelungsinhalte und des enforcement führt, sondern auch zu einer gewissen Konvergenz der kompetentiellen Regulierungsprozesse. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass inzwischen das Europaparlament und das US House of Representatives über ihre zuständigen Ausschüsse in den Financial Markets Regulatory Dialogue eingebunden sind. Des Nachdenkens wert ist auch die inhaltliche Seite der Konvergenz. Ob der Dialog dazu führt, dass der eine Partner sein Regulierungsniveau anhebt oder der andere es absenkt, ist eine Frage der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Wie auch immer der Dialog in dieser Hinsicht ausgeht, 197
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er führt gegebenenfalls dazu, dass Wettbewerbsverzerrungen durch regulatorische Unterschiede wegfallen. Dies verstärkt den Wettbewerb der Marktteilnehmer. Welche Auswirkungen sich daraus ergeben können, hat sich bei der – wenn auch nur begrenzten – Deregulierung des Welthandels durch das frühere GATT (General Agreement on Trade and Tariffs) und das heutige GATS (General Agreement on Trade and Services) gezeigt. Dort hat der stärkere Wettbewerb in den Bereichen GATT und GATS vielfach dazu geführt, dass es beim Marktverhalten der Wettbewerbsteilnehmer zu einem race to the bottom gekommen ist. Die Zahl der global tätigen Unternehmen, bei denen in Drittländern, zumal in Entwicklungsländern, Bestechung von Regierungsstellen, Kinderarbeit etc. festzustellen sind, hat zugenommen18. Diese Entwicklung hat zu der Frage geführt, ob die wettbewerbliche Effizienz alleiniger Beurteilungsmaßstab sein sollte. Weil diese Frage von vielen verneint wird, kommt es zu gegenläufigen Bewegungen. So hat Transparency International (Berlin), die sich den weltweiten Kampf gegen Bestechung zum Ziel gesetzt hat, inzwischen mit etwa 100 international oder global tätigen Unternehmen sog. Integrity Pacts abgeschlossen19. In zahlreichen nationalen und internationalen Unternehmens- und Anwaltsorganisationen werden Fragen der Corporate Social Responsibility erörtert und diesbezügliche Codes of Conduct ausgearbeitet, die vom Regelungsansatz her den Corporate Governance Codes vergleichbar sind20. In diesem Sinne haben die vier führenden Unternehmen der internationalen Kaffeebranche sich kürzlich in einem Verhaltenskodex verpflichtet, die Arbeitsbedingungen der Kaffeeanbauer zu verbessern und die Umweltnormen in den Entwicklungsländern einzuhalten21. Die weltweite Indexagentur Dow Jones hat inzwischen einen Sustainability Index eingeführt, in den Unternehmen aufgenommen werden, die eine Vorreiterrolle im ethischen Management ihres Konzerns einnehmen22. Angesichts der Tatsache, dass große Unternehmen wirtschaftlich mehr Macht haben als manche Staaten, in denen sie tätig sind, wird zudem im Völker-
__________ 18 Selbst im Bereich der Anwaltschaft hat die seit längerem stattfindende Deregulie-
19 20 21 22
rung auf nationaler, europäischer und internationaler (GATS) Ebene nach der Beobachtung von Verf. beim anwaltlichen Wettbewerbsverhalten zu einem gewissen Race to the Bottom geführt, bei dem die traditionell wenig regulierte englische Berufspraxis nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch im außereuropäischen Ausland, insbesondere auch in Japan, prägend gewesen ist. Vgl. Hellwig, Der Rechtsanwalt – Organ der Rechtspflege oder Kaufmann?, AnwBl 2004, 213 ff. Prof. Dr. Peter Eigen, Chairman von Transparency International, auf der 21. Konferenz der International Law Association am 17.8.2004 in Berlin. Vgl. etwa CCBE, Corporate Social Responsibility and the Role of the Legal Profession, September 2003 m. w. N., www.ccbe.org/doc/En/guidelines_csr_en.pdf. Vgl. Financial Times Deutschland v. 10./11./12.9.2004, S. 1. Vgl. FAZ v. 7.9.2004, S. 21 („Ethische Unternehmensführung zählt“).
198
Der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA
recht vermehrt die Frage aufgeworfen, ob die Menschenrechtsverpflichtungen des Völkerrechts nicht nur für Staaten, sondern auch unmittelbar für Unternehmen verbindlich sind. Zu dieser Frage erstellt der High Commissioner to the United Nations Commission on Human Rights derzeit einen Bericht23. Ziel ist es auch hier, zu konkreten und bindenden unternehmerischen Verhaltenspflichten zu kommen. In gewissem Umfang, nämlich dort, wo dies in völkerrechtlichen Verträgen ausdrücklich vorgesehen ist, sind schon heute Unternehmen unmittelbaren Pflichten im Bereich der Menschenrechte unterworfen. Die Entwicklung scheint dahin zu gehen, zu einer solchen unmittelbaren Unterworfenheit auf Grund allgemeinen Völkerrechts zu kommen. All dies belegt eine zunehmende Fokussierung auf inhaltliche Fragen der Unternehmensführung. Eine, wahrscheinlich die entscheidende Kraft hinter dieser Entwicklung sind die NGO (Non-Governmental Organizations), die sich zunehmend des Bedarfs an nicht-ökonomischer Regelung annehmen, der aus der Deregulierung im herkömmlichen Sinne erwächst. Der politische Einfluss dieser NGO kann kaum hoch genug veranschlagt werden. So geht etwa die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag entscheidend auf Initiativen von NGO bei den Vereinten Nationen zurück. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, dass der Financial Markets Regulatory Dialogue zwischen EU und USA, ebenso wie jeder andere vergleichbare Dialog, zu einem verschärften wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den Unternehmen führen wird. Der vorstehend skizzierte Trend wird dadurch verstärkt werden. Die hier bestehenden Interdependenzen zu analysieren und zu bewerten, insbesondere mit Blick auf die Frage nach der künftigen Rolle des Gesetzgebers bei der Einführung von Verhaltenspflichten für Unternehmen, ist eine neue Aufgabe auch für die Rechtswissenschaft.
__________ 23 Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, http://
www.ohchr.org.english/issues/globalization/business/reportbusiness.htm.
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Hartwig Henze
Aspekte des Verbraucherschutzes in der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Einwendungs- und Rückforderungsdurchgriff beim kreditfinanzierten Beitritt zu geschlossenen Immobilienfonds 1. Finanzierung der Beteiligung an einer Anlagegesellschaft als verbundenes Geschäft? 2. Voraussetzungen des verbundenen Geschäftes 3. Einwendungs- und Rückforderungsdurchgriff (§ 9 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG)
III. Treuhandvollmacht und verbundenes Geschäft: Nichtigkeit und Heilung 1. Nichtigkeit der Treuhandvollmacht und ihre Heilung 2. Formnichtigkeit des Darlehnsvertrages und ihre Heilung IV. Zurechenbarkeit von Haustürwiderrufssituationen bei Einbindung der Bank in das Vertriebssystem des Fonds 1. Die Zurechenbarkeit in der BGHRechtsprechung 2. Ansprüche bei Widerruf oder Nichtigkeit
I. Einleitung Dr. h.c. Volker Röhricht hat die Leitung des II. Zivilsenates im Jahre 1996 übernommen. Lässt man die Rechtsprechung dieses Senates, die den Zeitraum von 1996 bis zum Jahre 2004 umfasst, einmal Revue passieren, stellt man fest, dass eine Fülle kleiner und großer Akzente gesetzt worden ist, in denen sich das Bestreben widerspiegelt, der Einzelfallgerechtigkeit Rechnung zu tragen, ohne die große Linie aus den Augen zu verlieren. Darüber hinaus hat es ganz große Akzente gegeben, die man besser mit Würfen vergleicht, mit denen das Recht nicht nur gestaltet, sondern gestaltend fortgebildet worden ist und die dem Gesetzgeber Veranlassung gegeben haben, die von der Rechtsprechung entwickelten Gedanken in Gesetzentwürfe aufzunehmen, um sie in Gesetzesform zu gießen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an ARAG1, ein Urteil, das den Gesetzgeber gleich in zwei Richtungen hat aktiv werden lassen: Neugestaltung der Haftungsnorm des § 93 AktG durch Integration der wesentlichen Gedanken der business judgement rule in die Regelung über die Pflichtverletzung, wobei sich begriffstechnisch die Überlegung Röhrichts durchgesetzt hat, an die Stelle des für das Wirtschaftsrecht wenig glücklichen Ausdrucks „Entscheidungsbzw. Handlungsermessen“ die Begriffe des „unternehmerischen Freiraumes“,
__________ 1
BGHZ 135, 244.
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Hartwig Henze
des „unternehmerischen Handlungs- und Entscheidungsspielraumes“, also Formulierungen zu setzen, die zum Ausdruck bringen, dass dem Unternehmensleiter das Recht zugestanden werden muss, bewusst geschäftliche Risiken einzugehen und sich damit der Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen auszusetzen, ohne dafür haften zu müssen. Der zweite grundlegende Gedanke dieses Urteils bestand darin, die Pflicht des Aufsichtsrates, seine Aufgaben wahrzunehmen, in Form der „nachwirkenden Kontrolle“ zu verschärfen. Der Gesetzgeber hat das einmal zum Anlass genommen, die Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder schärfer zu regeln, zum anderen sucht er einen Weg, durch Änderung und Ergänzung des § 147 AktG die Rechte der Aktionäre gegenüber dem Vorstand zu stärken, wobei die Frage der Durchbrechung des Innenhaftungsgrundsatzes letztlich wieder offen ist. Der Jubilar scheute auch nicht davor zurück, Entscheidungen mit zu tragen, bei denen vorher zu sehen war, dass sich der Senat mit ihnen Kritik und Urteilsschelte renommierter Vertreter der Wissenschaft einhandeln würde. Siemens v. Nold2 befreite das Institut des genehmigten Kapitals von dogmatischen Zwängen, die ihm durch Holzmann auferlegt worden waren und die dazu geführt hatten, dass es in der Praxis bedeutungslos geworden war. Das soll keine Kritik an der Dogmatik sein; Holzmann3 hätte sicherlich auch in der Rechtsprechungspraxis zu einer Gestaltung führen können, die einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen Unternehmen, Mehrheits-(Unternehmens-)aktionär und Minderheits-(Anlage-)aktionären gewährleistet hätte. Aber das hemmungslose Verhalten der von Lutter so trefflich als „räuberische Aktionäre“ bezeichneten Personen und ihrer Mitläufer haben eine solche an Vernunft und Verantwortung ausgerichtete Entwicklung verhindert. Auf diesen groben Klotz gehörte notwendigerweise ein grober Keil, wobei der Senat stets im Hinterkopf hatte – und seine Mitglieder, insbesondere auch Röhricht, haben den Rechtsberatern der Unternehmenslenker diesen Gedanken immer wieder vermittelt –, dass dieses Urteil zugleich ein Appell an die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein der Vorstände und Aufsichtsräte war, der Appell, von Kapitalerhöhungen im Wege des genehmigten Kapitals sowie dem Ausschluss des Bezugsrechts der Aktionäre mit Augenmaß und allein im wohlverstandenen Interesse des Unternehmens Gebrauch zu machen. Diese Betrachtungen ließen sich fortsetzen, um die fruchtbare Zusammenarbeit im Senat zu dokumentieren. Aber ich glaube, dem Vorsitzenden des II. Zivilsenates und den ihm wohl gesonnenen ehemaligen und gegenwärtigen Senatsmitgliedern stehen die Entwicklung der Rechtsprechung, das Ringen um Entscheidungen, deren Hintergründe und Aussagen ebenso klar vor Augen, wenn nur die Stichworte zu den Rechtsgebieten oder Entscheidungen fallen, mit denen Akzente gesetzt oder gelungene Würfe gewagt worden
__________ 2 3
BGHZ 136, 133. BGHZ 83, 319.
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Aspekte des Verbraucherschutzes in der neuesten Rechtsprechung des BGH
sind. Der aus Senatssicht außen stehende, mit gesellschaftsrechtlichen Fragen befasste Betrachter vermag die Bedeutung der Entscheidungen und die durch sie angestoßene oder vollzogene Rechtsentwicklung auch ohne Begleitkommentar zutreffend einzuschätzen: Das Gesicht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist mit wenigen Entscheidungen nachdrücklich verändert worden4. Die Errichtung des Gebäudes der Unterbilanz- und Verlustdeckungshaftung wurde abgeschlossen5. Die Grundsätze zur Kapitalaufbringung bei Gründung und Kapitalerhöhung sind konkretisiert6 und verschärft worden7. Die Verwendung von Vorrats- und alten Gesellschaftsmänteln sind an den Kapitalaufbringungsgrundsätzen einschließlich der Unterbilanzhaftung gemessen worden8. Die Grundsätze zur Kapitalerhaltung in der GmbH wurden teilweise abgeändert9, teilweise präzisiert und verschärft10. Die Haftung im qualifiziert faktischen GmbHKonzern11 war im Grundsatz schon mit TBB12 aufgegeben worden. Diese Klarstellung und die Entwicklung des Bestandsschutzes der GmbH aufgrund Durchgriffshaftung bei Existenz vernichtendem Eingriff folgten während des Vorsitzes des Jubilars13, der diesen Gedanken in dem Beitrag „Die GmbH im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Dispositionsfreiheit ihrer Gesellschafter und Gläubigerschutz“ aufgegriffen und weiterentwickelt hatte14. Schließlich gab es noch einen großen Schritt in Richtung Schiedsfähigkeit von Rechtsstreitigkeiten über die Wirksamkeit der Aufbringung des Stammkapitals15. Im Handels- bzw. Aktienrecht vermied es der Senat, die Existenz der Wirtschaftsprüfer zu gefährden16. Grundlegende Fragen zur Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage haben ihn immer wieder beschäftigt. Das prozessuale Verhältnis von Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage im Aktien- und GmbHRecht ist überdacht worden17. Eine Einschränkung des Anfechtungsrechts
__________ 4 BGHZ 142, 315; BGHZ 146, 341; BGHZ 148, 291; BGH, ZIP 2002, 614; auch BGHZ
151, 204; BGHZ 154, 88. 5 BGHZ 134, 333; BGHZ 149, 273 (Vorgenossenschaft); BGH, GmbHR 2003, 97; zur
Aktiengesellschaft vgl. BGH, ZIP 2004, 1409. 6 BGHZ 144, 290 (adidas); BGH, ZIP 2000, 2021 (2024); BGH, GmbHR 2002, 1193; 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
BGH, GmbHR 2003, 39; BGH, ZIP 2003, 1540. BGHZ 145, 150; BGH, GmbHR 2003, 231; BGH, DB 2004, 1036. BGH, GmbHR 2003, 227; BGH, DB 2003, 2055. BGH, GmbHR 2002, 1197; BGHZ 144, 336. BGHZ 146, 105; BGHZ 150, 61; BGH, DB 2003, 2481; BGH, ZIP 2004, 263. BGHZ 95, 330 (Autokran); BGHZ 107, 7 (Tiefbau); BGHZ 115, 187 (Video). BGHZ 122, 123 (TBB). BGHZ 149, 10 (Bremer Vulkan); BGHZ 150, 61 (Ausfallhaftung); BGHZ 151, 181 (KBV); vgl. auch BGH, ZIP 2004, 2138. Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 83. BGH, ZIP 2004, 1616. BGHZ 135, 260 (Allweiler). BGHZ 134, 364; BGH, DB 2002, 2040.
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Hartwig Henze
hielt der Senat dann für angemessen, wenn dadurch erhebliche Nachteile von der Gesellschaft abgewandt und die Belange der Minderheitsaktionäre durch die Wahrnehmung ihrer Rechte im Spruchverfahren gewahrt werden konnten18. Die GmbH & Co. KG bekam im Aktienrecht ihr Pendant in Form der GmbH & Co. KGaA19. Die Reichweite von Holzmüller20 konnte endlich einmal aus der Sicht des Senates klargestellt und damit den Spekulationen im Schrifttum Einhalt geboten und für die Praxis ein gewisses Maß an Rechtssicherheit geschaffen werden21. Der Übergang zur Relevanztheorie bei der Verletzung von Teilnahme- und Mitwirkungsrechten beseitigte die im Anfechtungsrecht zur Frage der – hypothetischen – Kausalität aufgetretene Rechtsunsicherheit22. Die Entscheidung zur Blockabstimmung bei zusammenhängenden Sachfragen23 könnte bereits als Weichenstellung zu der die Praxis beschäftigenden Frage der Block- oder Einzelabstimmung bei der Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat sein. Die Möglichkeit der Entlastung hat der Senat bereits eingeschränkt24. Auf die grundsätzliche Klärung von Umfang und Wirkung des Bestätigungsbeschlusses25 könnten noch weitere Entscheidungen – z. B. zur Bestätigung eines Beschlusses, dessen Feststellung auf der Unrichtigkeit der Stimmrechtsverhältnisse beruht – folgen. Die Entscheidung über die Ablehnung von Aktienoptionsprogrammen für Aufsichtsratsmitglieder26 war ebenso spektakulär wie die Urteile über die Haftung von Vorstandsmitgliedern für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen27. Auch im Aktienkonzernrecht ist eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen entschieden worden28. Davon hat der an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgerichtete Beschluss über die Berücksichtigung des Börsenwertes bei der Bemessung der Abfindung außen stehender Aktionäre Praxis und Wissenschaft wohl mit am stärksten beschäftigt29. Die Zuständigkeit des Senats für das Personengesellschaftsrecht führt dazu, dass er auch über die Rechtsverhältnisse der geschlossenen Immobilienfonds zu entscheiden hat. Da die Beitrittserklärung in der Regel in einer „Haustürsituation“ abgegeben, der Beteiligungserwerb durch Darlehn finanziert und im Rahmen von Beitritt und Abwicklung ein Treuhänder eingeschaltet
__________ 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
BGHZ 146, 179 (MEZ); BGHZ 153, 47 (Macrotron). BGHZ 134, 392. BGHZ 83, 122. BGH, DB 2004, 1200 (Gelatine); vgl. dagegen noch die Zurückhaltung in BGHZ 146, 288 (Altana/Milupa). BGHZ 149, 148; BGH, ZIP 2004, 2186. BGHZ 156, 38. BGHZ 153, 47. BGHZ 157, 206. BGH, DB 2004, 696. BGH, ZIP 2004, 1593 (1599, 1604). BGHZ 135, 107 (VW); BGHZ 138, 136; BGHZ 138, 204; BGHZ 152, 29; BGHZ 155, 110; BGHZ 156, 57; BGH, ZIP 2004, 164. BGHZ 147, 108 (DAT/Altana).
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wird, muss sich der Senat häufiger mit den Regelungen über die Haustürgeschäfte, den Verbraucherkredit und mit dem Rechtsberatungsgesetz befassen. Da auch andere Senate, insbesondere der XI. Zivilsenat, mit diesen Rechtsmaterien befasst sind, kommt es teils zu übereinstimmenden, teils zu unterschiedlichen rechtlichen Wertungen. Einigen dieser Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.
II. Einwendungs- und Rückforderungsdurchgriff beim kreditfinanzierten Beitritt zu geschlossenen Immobilienfonds 1. Finanzierung der Beteiligung an einer Anlagegesellschaft als verbundenes Geschäft? Nach § 9 Abs. 4 VerbrKrG gilt die Regelung für die Finanzierung des Kaufs einer Sache entsprechend für Kredite, die zur Finanzierung des Entgelts für eine andere Leistung gewährt werden30. Dazu hat der II. Senat entschieden, dass der Gedanke des verbundenen Geschäftes auf einen Kredit zur Finanzierung der Beteiligung an einer Anlagegesellschaft Anwendung findet31. Der Beitritt zu einer Anlagengesellschaft sei zwar kein auf eine entgeltliche Leistung gerichtetes Geschäft; er sei aber aufgrund des wirtschaftlichen Zwecks und der Schutzbedürftigkeit des Anlegers einem Vertrag über eine entgeltliche Leistung gleichzustellen. Ähnlich hatten der II. und XI. Senat bereits zum HaustürWG argumentiert: Es handele sich um einen Vertrag über eine entgeltliche Leistung, weil sich der Anleger in der Hoffnung auf Gewinnerzielung zur Entgeltzahlung für den Erwerb eines Gesellschaftsanteils verpflichte, nicht aber ein dem Beitritt zu einem Verein oder einer Genossenschaft vergleichbares organisationsrechtliches Geschäft32. Diese Begründung muss man mit Nachsicht behandeln. Auch dieses Geschäft enthält wie jeder Beitritt zu einem Verein oder einer Gesellschaft ein über das Schuldrecht hinausgehendes organisationsrechtliches Element33. Dass die Rechtsprechung in diesem Punkte nicht beim Wort genommen werden kann, zeigt schon der Umstand, dass sie auf den fehlerhaften Beitritt die Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft bzw. den fehlerhaften Beitritt anwendet. Gäbe es bei der Publikumsaktiengesellschaft nicht das mittelbare Bezugsrecht34 und müssten die Anlageaktionäre im Rahmen einer Kapitalerhöhung das unmittelbare Bezugsrecht ausüben, um das relative Beteiligungsverhältnis und seinen finanziellen Wert aufrechtzuerhalten, käme wohl niemand
__________ 30 Vgl. § 358 BGB n. F., der die Regelung beibehält, sie aber neu fasst. 31 BGH, ZIP 2003, 1592 (1593 f.); BGH, ZIP 2004, 1402 (1405); BGH, ZIP 2004, 1407;
BGH, ZIP 2004, 1394. 32 BGHZ 133, 254 (261 f.); BGHZ 148, 201 (203); BGH, DB 1997, 672. 33 Vgl. dazu Ulmer, Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Partnerschaftsgesellschaft,
4. Aufl. 2004, § 705 BGB Rz. 158. 34 § 186 Abs. 5 AktG.
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auf die Idee, den organisationsrechtlichen Charakter dieses Erwerbs in Frage zu stellen, wenn er mit einem Darlehn finanziert würde. Als Ansatz für die Anwendung des § 9 Abs. 4 VerbrKrG sollte eine andere Überlegung gewählt werden: Der Wortlaut der Bestimmung – „Entgelt für eine andere Leistung“ – ergibt nicht zwingend, dass sie nur eine andere schuldrechtliche Leistung als die aus einem Kaufvertrag erfasst. Das kann auch der Erwerb einer Beteiligung durch Beitritt zu einer Gesellschaft sein. Soweit sich aus dem Gesetz keine Anhaltspunkte ergeben, die gegen ein solches Verständnis der Vorschrift sprechen, benötigt man den Notbehelf der Rechtsprechung nicht, mit dem aus der Absicht des Erwerbers abgeleiteten Vertragsziel das organisationsrechtliche Element aus dem Beteiligungserwerb zu eliminieren. 2. Voraussetzungen des verbundenen Geschäftes Dient ein Kredit der Finanzierung des Kaufpreises, sind Kauf- und Kreditvertrag als ein „verbundenes Geschäft“ anzusehen, wenn beide Verträge eine wirtschaftliche Einheit bilden35. Als Grundsatz gilt nach der Rechtsprechung des XI. Senates, dass die Verbindung so eng sein muss, dass sich die beiden Verträge als Teilstücke einer rechtlichen, zumindest aber einer wirtschaftlich-tatsächlichen Einheit einander eng ergänzen36. Als Indizien kommen ein zeitgleicher Abschluss37 von Kauf- und Kreditvertrag, formularmäßig einheitliche Ausgestaltung, konkrete wechselseitige Hinweise auf den jeweils anderen Vertrag oder Festlegung der Zweckbindung der Darlehnsvaluta im Darlehnsvertrag in Betracht. Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der XI. Senat für den Beitritt zu einer Gesellschaft und seiner Finanzierung durch Darlehn entschieden, dass beide Rechtsgeschäfte zu einer wirtschaftlichen Einheit verbunden werden, wenn Bank und Gründungsgesellschafter ein gemeinsames Konzept entwickeln, nach dem das Darlehn ausschließlich der Finanzierung der Gesellschaftsbeteiligung dienen soll, so dass keiner der beiden Verträge ohne den anderen abgeschlossen worden wäre38. Im Immobilienbereich begreift der XI. Senat die wirtschaftliche Einheit zwischen Immobilien- und Kreditgeschäft allerdings als Ausnahme. Die Regelung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG, nach der die Grundsätze über das verbundene Geschäft i. S. d. § 9 VerbrKrG auf das Realkreditgeschäft keine Anwendung finden, versteht er als einen in Gesetzesform gegossenen Teil seiner früheren Rechtsprechung, nach der Immobilienkredite und das jeweils finanzierte Grundstücksgeschäft grundsätzlich nicht als Geschäfte angese-
__________ 35 § 9 Abs. 1 Satz 1 VerbrKrG; vgl. § 358 Abs. 3 Satz 1 BGB n. F. 36 BT-Drucks. 11/5462, S. 23; BGH, ZIP 2003, 2111 (2113) unter Bezugnahme auf
BGH, WM 1980, 159 (160). 37 BGH, ZIP 2003, 894 (895). 38 BGHZ 133, 254 (259); BGHZ 150, 248 (263).
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hen werden können, die zu einer wirtschaftlichen Einheit verbunden sind, weil bei einem Immobilienkauf auch der rechtsunkundige und geschäftsunerfahrene Laie wisse, dass Kreditgeber und Immobilienverkäufer in der Regel verschiedene Personen seien39. Von diesem Trennungsgrundsatz geht er nach wie vor als Regelfall aus. Ausnahmslos gelte der Grundsatz dann, wenn ein Realkreditvertrag i. S. d. § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG vorliege40. Diese Regelung versteht er als abschließend, so dass ein verbundenes Geschäft auch nicht nach den von der Rechtsprechung gemäß § 242 BGB zum Abzahlungsgesetz entwickelten und später auf fremdfinanzierte Geschäfte anderer Art erweiterten Grundsätzen41 angenommen werden könne42. Soweit er in einem Urteil43 ausführt, auch ein finanziertes Immobiliengeschäft könne mit dem der Finanzierung dienenden Verbraucherkreditvertrag ein verbundenes Geschäft bilden, wenn der Kreditvertrag dem Verbraucherkreditgesetz unterfalle und die Ausnahmeregelung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG nicht eingreife, kann man das kaum als Trendwende verstehen. Es zielt auf die nachfolgende Rechtsprechung des II. Zivilsenates zu den tatsächlichen Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 VerbrKrG ab44. Nach dieser Bestimmung ist das Merkmal der wirtschaftlichen Einheit insbesondere dann erfüllt, wenn sich der Kreditgeber bei Vorbereitung oder Abschluss des Kreditvertrages der Mitwirkung des Verkäufers – bzw. im vorliegenden Falle der Initiatoren des Fonds – bedient45. Diese – eine unwiderlegliche Vermutung aufstellende46 – Voraussetzung hat der II. Zivilsenat dann als gegeben angesehen, wenn Bank und Initiatoren des Fonds dieselbe Vertriebsorganisation einschalten47 bzw. das Kreditinstitut dem von den Fondsinitiatoren eingeschalteten Vermittlungsunternehmen seine Vertragsformulare überlässt48. Derselben Vertriebsorganisation bedienen sich Fondsgesellschaft und Bank auch dann, wenn der Anlagevermittler die Finanzierung nicht selbst vermittelt, sondern dazu einen Finanzierungsvermittler einschaltet, dem die erforderlichen Kundendaten überlassen werden und der sodann die von dem Anleger gewünschte Finanzierung in die Wege leitet49. Der XI. Senat nimmt demgemäß bei einem finanzierten Immobiliengeschäft unter Übernahme der Rechtsprechung des II. Senates eine wirtschaftliche
__________ 39 BGH, ZIP 2003, 2111 (2112 f.) m. w. N. aus der Rechtsprechung. 40 BGH, ZIP 2003, 1741 (1743); tendenziell auch BGHZ 150, 248 (263). 41 Vgl. dazu Emmerich in Graf v. Westphalen/Emmerich/v. Rottenburg, VerbrKrG, 42 43 44 45 46 47 48 49
2. Aufl. 1996, § 9 Rz. 28. BGH, ZIP 2004, 606 (608 f.). BGH, ZIP 2003, 2111 (2112 f.). BGH, ZIP 2003, 1592 (1594). § 9 Abs. 1 Satz 1 VerbrKrG; vgl. § 358 Abs. 3 Satz 2 BGB n. F. BGH, ZIP 2003, 1592 (1594); BGH, ZIP 2003, 2111 (2113). BGH, WM 2004, 1536; BGH, ZIP 2004, 1407; BGH, ZIP 2004, 1394. BGH, WM 2004, 1518; BGH, ZIP 2004, 1402. BGH, ZIP 2004, 1543.
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Einheit von Erwerbs- und Kreditgeschäft an, wenn der Vertriebsbeauftragte des Anlagevertreibers dem Interessenten mit den Anlageunterlagen zugleich einen Kreditantrag einer Bank vorlegt, die sich zuvor dem Anlagevertreiber gegenüber zur Finanzierung bereit erklärt hatte50. Im konkreten Fall hatte sich die Bank gegenüber der Vertriebsgesellschaft nicht nur zur Finanzierung bereit erklärt, sondern zahlte ihr auch Vermittlungsprovision und hatte ihr Kreditantragsformulare überlassen. Der XI. Senat hat bisher nur über Fälle zu entscheiden gehabt, in denen Immobilienerwerb und Bestellung des Grundpfandrechtes durch den Verbraucher in einem Zuge vorgenommen worden sind. Der II. Zivilsenat hatte beim Anteilserwerb demgegenüber einen Fall zu entscheiden, in dem das der Sicherung des Kredites dienende Grundpfandrecht nicht im Zusammenhang mit der Darlehnsgewährung, sondern bereits zur Sicherung der Zwischenfinanzierung ohne Beteiligung des Verbrauchers bestellt worden war51. Er legt § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG52 restriktiv aus: Richtlinie und Gesetz bezweckten einen umfassenden Schutz des Verbrauchers. Davon seien nur die durch Grundpfandverträge gesicherten Kredite ausgenommen. Diese Ausnahme sei deswegen gerechtfertigt, weil die grundpfandrechtliche Sicherung eine mit besonderen Schutzvorkehrungen verbundene Beurkundung voraussetze. In Deutschland sei das die Beurkundung durch einen Notar mit entsprechender Belehrung nach § 17 BeurkG. Der auf diese Weise geschützte Verbraucher bedürfe nicht noch zusätzlich des Schutzes durch das Recht des Verbraucherkredites. Im vorliegenden Fall werde jedoch ein Notartermin unter Beteiligung des Anlegers oder einer Person seines Vertrauens nicht durchgeführt; vielmehr werde die Grundschuld nur aufgrund der formlosen Zweckerklärung zum Sicherungsmittel für den Endfinanzierungskredit. Die Regeln des verbundenen Geschäftes seien daher anwendbar. Diese Gründe aus den neueren Entscheidungen der beiden Senate zeigen zur Auslegung des § 9 Abs. 1 Satz 2 VerbrKrG Übereinstimmung. Offen ist, ob sich der II. Senat darüber hinaus für die Immobilienfonds dem Verständnis des Begriffes der wirtschaftlichen Einheit beim Immobiliengeschäft durch den XI. Senat anschließen wird. Das glaube ich nicht. Angesichts der Neuregelung dieser Fragen in § 358 BGB n. F. wird er die Definition der wirtschaftlichen Einheit – von der Einschaltung derselben Vertriebsorganisation
__________ 50 BGH, ZIP 2003, 2111 (2113). 51 BGH, ZIP 2004, 1402; OLG Naumburg, Urt. v. 29.4.2004 – 2 U 45/03, veröffentlicht
unter https://secure.jurion.de. 52 Der Vorschrift liegt die Richtlinie 87/102/EWG v. 22.12.1986 zur Angleichung der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (Verbraucherkreditrichtlinie, Abl. EG 1987 Nr. 42, S. 48) in der Fassung der Änderungsrichtlinie 90/88/EWG des Rates v. 22.2.1990 (Abl. EG Nr. L 61, S. 14) zugrunde.
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abgesehen – voraussichtlich so definieren, wie es der XI. Senat für die von ihm entschiedenen Fälle des Anteilserwerbs an Fonds getan hat. Da auch der finanzierte Erwerb von Grundstücken neu definiert worden ist, wird das bisherige Verständnis des XI. Senates von der wirtschaftlichen Einheit bei finanzierten Immobiliengeschäften seine Bedeutung verlieren. 3. Einwendungs- und Rückforderungsdurchgriff (§ 9 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG) Wenn der Verkäufer das Darlehn bereits erhalten hat, tritt der Darlehnsgeber für die sich aus dem Widerruf ergebenden Rechtsfolgen gegenüber dem Verbraucher in die Rechte und Pflichten des Verkäufers aus dem Kaufvertrag ein (Rückforderungsdurchgriff)53. Ohne Beschränkung auf den Widerruf bestimmt das Gesetz, dass der Verbraucher die Rückzahlung des Kredites ablehnen kann, wenn ihm gegenüber dem Verkäufer Einwendungen aus dem (verbundenen) Kaufvertrag zustehen, die ihn zur Verweigerung seiner Leistung berechtigen würden (Einwendungsdurchgriff)54. Der II. Senat hat sich schon vor ca. einem Jahr mit der Frage befasst, ob diese Regelung abschließend ist oder ob es einen Rückforderungsdurchgriff auch bei anderen Fallkonstellationen als dem Widerruf des verbundenen Geschäftes (Nichtigkeit, Anfechtung wegen arglistiger Täuschung) gibt. Er hat das mit der Begründung bejaht, nach der historischen Entwicklung sei § 9 Abs. 3 VerbrKrG als offene Vorschrift zu verstehen, durch die der Gesetzgeber die Frage des Rückforderungsdurchgriffs bewusst Rechtsprechung und Lehre überlassen habe. Ist das verbundene Geschäft wirksam widerrufen worden55, ist es nichtig56; oder ficht es der Anleger wegen arglistiger Täuschung über die Bedingungen der Fondsanlage an, treffen Verbraucher und Bank folgende Pflichten: Der Verbraucher –
schuldet der Bank weder die Darlehnsvaluta noch Ersatz für die Nutzung des Kredites57. Im Rahmen der als wirtschaftliche Einheit anzusehenden beiden Rechtsgeschäfte erlangt er letztlich nicht die Darlehnsvaluta, sondern die Fondsbeteiligung. Diese muss er der Bank abtreten.
–
Ist der Anleger bei dem Beitritt über die Bedingungen der Fondsanlage getäuscht worden, kann er seine Gesellschaftsbeteiligung kündigen und der Bank seinen Abfindungsanspruch abtreten. Das Kündigungsrecht kann auch dadurch ausgeübt werden, dass er der Bank mitteilt, er sei durch
__________ 53 54 55 56 57
§ 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG; vgl. § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB n. F. § 9 Abs. 3 Satz 1VerbrKrG; vgl. § 359 BGB n. F. § 7 VerbrKrG; vgl. § 355 BGB n. F. Vgl. dazu die Urteile des BGH, ZIP 2004, 1394 und BGH, WM 2004, 1536. Nach §§ 812 bzw. 818 Abs. 1 BGB.
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Täuschung zu dem Fondsbeitritt veranlasst worden. In diesem Falle muss er der Bank den Fondsanteil anbieten58. –
Stehen dem Anleger Schadenersatzansprüche gegen die Prospektverantwortlichen und Gründungsgesellschafter zu, muss er der Bank auch diese Ansprüche abtreten.
–
Vorteile wie Zinsen oder Gewinne, die er aus der Beteiligung gezogen hat, muss er der Bank überlassen bzw. sich ebenso wie erlangte Steuervorteile, denen keine Nachzahlungsansprüche des Finanzamtes gegenüberstehen, auf seine Forderungen gegen die Bank anrechnen lassen. Sind damit Zins- und Tilgungsraten auf das Darlehn geleistet worden, steht ihm kein Anspruch auf deren Erstattung zu.
–
Ist der Gesellschaftsbeitritt nur teilweise finanziert worden und hat der Anleger einen Teil als Eigenkapital eingezahlt, kann die Bank die Abtretung des Fondsanteils nur Zug um Zug gegen Erstattung des mit eigenen Mitteln finanzierten Anteils verlangen.
Die Bank –
hat dem Verbraucher die von ihm aus eigenem Vermögen entrichteten Zinsen und Tilgungsbeiträge zu erstatten sowie abgetretene Rechte – etwa Rechte aus einer Lebensversicherung – zurückzugewähren.
–
Steht dem Anleger ein Schadenersatzanspruch gegen Fondsinitiatoren bzw. -betreiber zu, kann er von der Bank Zahlung des Betrages verlangen, den ihm die Prospektverantwortlichen und Gründungsgesellschafter als Schadenersatz schulden. Das gilt auch dann, wenn der Darlehnsvertrag wegen eines Formmangels nichtig oder wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz nicht wirksam zustande gekommen ist.
Diese Auslegung des Gesetzes entspricht den Vorstellungen der Kommission, die sie in einem vor dem EuGH rechtshängigen Verfahren entwickelt hat59. Sie hat dort die Auffassung vertreten, das im Zuge der Richtlinienumsetzung geschaffene nationale deutsche Recht erlaube eine Auslegung dahin, dass der Verbraucher bei Widerruf seiner auf Abschluss eines Darlehnsvertrages gerichteten Erklärung nicht die Rückzahlung der Darlehnsvaluta, sondern die Herausgabe des mit dem Darlehn finanzierten Vermögenswertes schulde. Der II. Senat betont, dass seine Rechtsprechung mit dieser Ansicht der Kommission in Übereinstimmung stehe. Das hat er mit seiner Formulierung klargestellt, der Anleger müsse von der Bank so gestellt werden, als sei
__________ 58 BGH, ZIP 2004, 1394; BGH, ZIP 2004, 1407; BGH, WM 2004, 1536; BGH, WM
2004, 1536. 59 Rechtssache Schulte ./. Deutsche Bausparkasse Badenia, NJW 2004, Heft 11,
S. XXX f. (XXXIV) und Vorlagebeschluss des LG Bochum, NJW 2003, 281; vgl. zur Problematik ferner Vorlagebeschluss des OLG Bremen, ZIP 2004, 1253 und das ihm zugrunde liegende Urteil des BGH, ZIP 2004, 606.
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Aspekte des Verbraucherschutzes in der neuesten Rechtsprechung des BGH
er dem Fonds nicht beigetreten und als hätte er die Darlehnsverträge nicht abschließen lassen60. In einem Urteil, das knapp ein Jahr vor dem Entscheidungsreigen aus dem Jahre 2004 ergangen ist, hatte der II. Zivilsenat noch ausgeführt, der Anleger müsse die Differenz tragen, die sich aus einem höheren Darlehnsbetrag und einem niedrigeren Abfindungsbetrag aus dem Fondsanteil ergebe, weil ihm das Anlagerisiko nicht abgenommen werden könne. Er dürfe im Verhältnis zu einem Anleger, der die Anlage aus eigenen Mitteln finanziert habe, nicht besser gestellt werden61. Diesen Differenzvorbehalt hat der II. Senat – ein wenig verklausuliert – somit aufgegeben und ist sich damit nicht nur des Wohlwollens der Kommission sicher, sondern hat auch den Schulterschluss mit der Rechtsprechung des XI. Senates zu den als wirtschaftliche Einheit anzusehenden Verträgen gefunden, wie er ebenfalls betont62. Zu der Problematik, in der das LG Bochum und das OLG Bremen dem XI. Senat die Gefolgschaft versagen und die ihm im Schrifttum deutliche Kritik eingebracht hat, nämlich ob der Anleger beim Realkreditvertrag bzw. der Abwicklung eines finanzierten Kaufvertrages nach § 3 HaustürWG verpflichtet ist, der Bank das Darlehn zurückzuzahlen, oder ob er das Kreditinstitut auf den mit dem Darlehn geschaffenen Vermögenswert verweisen kann, hat der II. Senat noch keine Stellung bezogen. Nach Ansicht des XI. Senates steht der Bank ein Anspruch auf Rückzahlung des Darlehns zu, weil die Auszahlung der Valuta an den vertraglich einbezogenen Treuhänder als Dritten unter dem Aspekt der §§ 362 Abs. 2, 185 BGB als Empfang einer Leistung i. S. d. § 3 Abs. 1 HaustürWG anzusehen sei63. Ferner werde eine solche Rechtsfolge von dem Schutzzweck des HaustürWG nicht umfasst. Dieses Gesetz verfolge den Zweck, die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit des Kunden dadurch zu gewährleisten, dass es ihm die Möglichkeit einräume, sich von einem in einer Haustürsituation geschlossenen Vertrag zu lösen. Bei einem Darlehnsvertrag diene das Widerrufsrecht nicht dem Ziel, das wirtschaftliche Risiko der Verwendung des Darlehns vom Darlehnsnehmer auf den Darlehnsgeber abzuwälzen. Das Verwendungsrisiko verbleibe vielmehr beim Darlehnsnehmer. Anderenfalls stünde er besser da als ein Anleger, der den Immobilienerwerb aus eigenen Mitteln finanziert habe64. Diese Rechtsprechung des XI. Senates beruht auf den Entscheidungen65, die der Senat zu § 5 Abs. 2 HaustürWG unter Umsetzung des zu den Verbraucherschutzrichtlinien ergangenen Urteils des EuGH66 erlassen hat. Danach griff die Subsidiaritätsklausel nur dann, wenn ein Geschäft i. S. d. § 1
__________ 60 61 62 63 64 65 66
BGH, ZIP 2004, 1394 (1400) und BGH, WM 2004, 1536. BGH, ZIP 2003, 1592 (1595 f.). BGH, ZIP 2004, 1394 (1399) und BGH, WM 2004, 1536. BGHZ 152, 331 (336 f.). BGH, ZIP 2004, 606 (609). Vgl. u. a. BGH, ZIP 2002, 1075 = DB 2002, 1262; BGH, ZIP 2003, 22 (24 f.). EuGH, DB 2001, 2710 (G. und H. Heininger ./. Bayerische Hypo- und Vereinsbank).
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Abs. 1 HaustürWG a. F. zugleich die Voraussetzungen eines Geschäftes nach dem VerbrKrG erfüllte. Auf die Regelung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG bezogen heißt das, dass es bei der Anwendbarkeit des § 1 Abs. 1 HaustürWG a. F. bleibt, weil das Widerrufsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 und § 7 VerbrKrG a. F. für Realkreditverträge ausgeschlossen ist. Die Rückabwicklung erfolgt also nach § 3 Abs. 1 HaustürWG. Gegen die Rechtsauffassung des XI. Zivilsenates, bei der Rückabwicklung von den unter dem Eindruck einer Haustürsituation abgeschlossenen finanzierten Kaufverträgen müsse der Käufer und Darlehnsnehmer bei Widerruf die Darlehnsvaluta zurückzahlen, sind von der Kommission Bedenken erhoben worden. Diese setzen einmal bei dem Verständnis des Begriffs „empfangene Leistung“ ein und stellen in Frage, ob von dem Empfang einer Leistung gesprochen werden kann, wenn das Darlehn bestimmungsgemäß sofort dem Verkäufer der Immobilie ausgezahlt wird. Zum anderen seien die Gerichte zu einer gemeinschaftsfreundlichen Anwendung und Auslegung des in nationales Recht umgesetzten Richtlinienrechts verpflichtet. Das liege auf der Linie der verbraucherfreundlichen Gestaltung des § 3 HaustürWG, der einen Widerruf selbst dann nicht ausschließe, wenn dem Verbraucher die Herausgabe des empfangenen Gegenstandes unmöglich geworden sei. Es dränge sich daher auf, den Verbraucher von der Pflicht der Darlehnsrückzahlung freizustellen, weil ihm das durch Auszahlung des Betrages an den Verkäufer zwischenzeitlich unmöglich geworden sei, er eine wertlose Immobilie erhalten habe und über keinen Vermögensstamm verfüge, aus dem er das Darlehn bezahlen könne. Gehe man von dieser wirtschaftlichen Unmöglichkeit aus, könne der Rechtsgedanke des § 3 HaustürWG über die Freistellung von der Rückzahlungspflicht bei unverschuldeter Unmöglichkeit zur Leistung angewandt und der Verbraucher nach Bereicherungsrecht verpflichtet werden, den mit dem Darlehn erworbenen Gegenstand an die Bank herauszugeben67. Das OLG Bremen68 vertritt den wesentlich strengeren Standpunkt, das Ob der Rückgewähr sei in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie geregelt, die mit dem Widerruf jegliche Verpflichtung aus dem Haustürgeschäft entfallen lasse, das Wie müsse der nationale Gesetzgeber regeln. Zudem sei der nationale Gesetzgeber verpflichtet, darauf zu achten, dass mit den Rechtsfolgen des Widerrufs nicht der durch das Widerrufsrecht gewährte Schutz des Verbrauchers vor der Überrumpelung in der Haustürsituation unterlaufen werde. Wenn der Verbraucher in der Haustürsituation bei Abschluss des Darlehnsvertrages in irreversibler Weise bewogen werde, den Darlehnsbetrag ohne weiteres Dispositionsrecht an einen Dritten fließen zu lassen, müsse ihm das Recht eingeräumt werden, die Rückzahlung des Darlehnsbetrages abzulehnen.
__________ 67 Stellungnahme der Europäischen Kommission in der Rechtssache Schulte ./. Deut-
sche Bausparkasse Badenia, NJW 2004, Heft 11, S. XXX f. (XXXIV). 68 OLG Bremen, ZIP 2004, 1253 (1256).
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Aspekte des Verbraucherschutzes in der neuesten Rechtsprechung des BGH
Das OLG Bremen misst der Richtlinie einen Inhalt bei, den ihr nicht einmal die Kommission gibt. Es ist zweifelhaft, ob der EuGH dem folgen wird. Die vom XI. Senat vertretene Ansicht ist mit Wortlaut und Inhalt der Richtlinie vereinbar; sie entspricht den Grundsätzen des deutschen Schuld- und Erfüllungsrechts. Nach Ansicht des Generalanwaltes ist die Haustürgeschäfterichtlinie auf Immobilienkäufe nicht anwendbar. Widerrufen werden könne nur das Kreditgeschäft. Eine solche Auslegung mag, wie die Kommission ausführt, dem Geist der Richtlinie widersprechen. Das ist ein Gesichtspunkt, der allenfalls im Rahmen der Billigkeit oder von Treu und Glauben berücksichtigt werden kann. Dazu war der XI. Senat bislang nicht bereit. Ob der II. Zivilsenat dazu neigt, die Fallkonstellation unter den Aspekten von Treu und Glauben oder der Billigkeit zu entscheiden, kann nicht vorhergesagt werden.
III. Treuhandvollmacht und verbundenes Geschäft: Nichtigkeit und Heilung 1. Nichtigkeit der Treuhandvollmacht und ihre Heilung In den letzten Jahren haben einige Zivilsenate des BGH eine ständige Rechtsprechung entwickelt, nach der bestimmte Treuhändervollmachten und die ihnen zugrunde liegenden Geschäftsbesorgungsverträge gegen Art. 1 § 1 RBerG verstoßen und damit nach § 134 BGB nichtig sind. Ob und unter welchen Voraussetzungen dieser Mangel geheilt werden kann, wird von ihnen jedoch unterschiedlich gesehen. Der II. Zivilsenat hat zu diesen Fragen vor dem Hintergrund folgendes Falles dazu Stellung genommen69: K beauftragte T, für ihn den Beitritt zu einer bestimmten Fondsgesellschaft zu bewirken. Er bot T den Abschluss eines Treuhandvertrages an. In dem dazu von ihm unterschriebenen „Zeichnungsschein“ bevollmächtigte er T, die erforderlichen Kredite aufzunehmen, Konten zu eröffnen und über Eigen- und Fremdmittel zu verfügen. Die Einlage sollte über einen Kredit mit Tilgung über eine Kapitallebensversicherung geleistet werden. Dazu erteilte K auf einem ihm von der Vertriebsgesellschaft überlassenen Formular eine Selbstauskunft. Die Unterschrift unter einer weiteren von K dem T erteilten Vollmacht wurde notariell beglaubigt. T gab aufgrund der Vollmacht des K gegenüber Bank B ein notariell beurkundetes Schuldversprechen ab und unterwarf ihn der sofortigen Zwangsvollstreckung. Anschließend schloss T einen Darlehnsvertrag ab. Die Valuta wurde auf ein von T geführtes Konto überwiesen. Das Fondsobjekt konnte jedoch nicht kostendeckend betrieben werden, so dass K die Fehlbeträge zahlte. Er verlangt von B Freistellung von seinen Verpflichtungen und Ersatz der von ihm aufgewandten Beträge.
Der Bundesgerichtshof hält den Treuhandvertrag und die T erteilte Vollmacht wegen Verstoßes gegen Art. 1 § 1 RBerG für nichtig, weil T nicht nur
__________ 69 BGH, ZIP 2004, 1394 (1395 ff.); BGH, WM 2004, 1536.
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die wirtschaftlichen Belange von K wahrgenommen, sondern für ihn auch die erforderlichen Verträge abgeschlossen hat. Offen gelassen hat er, ob die Nichtigkeit auch den abgeschlossenen Darlehnsvertrag erfasst. Diese Frage wird vom XI. Senat verneint70. Der II. Zivilsenat geht auf jeden Fall von der Unwirksamkeit aus, weil T keine wirksame Vollmacht gehabt hat. Der IV. und der XI. Senat bejahen die Anwendbarkeit der §§ 171, 172 BGB sowie der Grundsätze der Duldungs- und Anscheinsvollmacht auf die nach Art. 1 § 1 RBerG nichtige Vollmacht71. Der II. Zivilsenat erhebt dagegen obiter dictum Bedenken und lässt erkennen, dass er sich dieser Meinung nicht anschließen könne. Eine Rechtsscheinhaftung werde dem Umstand nicht gerecht, dass Beitritt und Finanzierung ein verbundenes Geschäft darstellten und der Treuhänder als Vertreter des Anlageinteressenten von den Gründern und Initiatoren in Kenntnis der Bank eingeschaltet werde. Die Bank gliedere sich bewusst in die Vertriebsorganisation ein, soweit sie ihre Vertragsformulare der von den Initiatoren eingeschalteten Vertriebsgesellschaft überlasse oder sich der Selbstauskunftsformulare des Vertriebsunternehmens bediene und den Darlehnsvertrag nicht mit den Interessenten, sondern dem Treuhänder schließt. Da die Bank sich des von den Fondsinitiatoren bestimmten und vorgegebenen Modells zur Verwirklichung ihrer Geschäftschancen bediene, könne sie nicht wie ein gutgläubiger Dritter behandelt werden, der im Hinblick auf einen in diesem Vertriebskonzept entstandenen Vertrauenstatbestand schutzwürdig sei. Es erscheine daher unangemessen, die mit dem Vertriebskonzept verbundenen Risiken allein auf den Anleger abzuwälzen. Letztlich konnte der II. Senat die Entscheidung der Frage offen lassen, weil die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung der §§ 171, 172 BGB bzw. der Duldungs- und Anscheinsvollmacht nicht gegeben waren. 2. Formnichtigkeit des Darlehnsvertrages und ihre Heilung Der BGH hat die Nichtigkeit des Darlehnsvertrages nach § 6 Abs. 1 VerbrKrG72 angenommen, weil –
der auf den Anleger entfallende Nettokreditbetrag73 und
–
die Kosten der von dem Anleger abgeschlossenen Kapitallebensversicherung74
im Darlehnsvertrag fehlten.
__________ 70 71 72 73 74
Vgl. zuletzt BGH, ZIP 2004, 1188 (1191). Vgl. zuletzt BGH, WM 2004, 922 (923 f.); BGH, WM 2004, 1227 (1228 f.). § 494 Abs. 1 BGB n. F. § 4 Abs. 1 Satz 5 Nr. 1 lit. a VerbrKrG. § 4 Abs. 1 Satz 5 Nr. 1 lit. f VerbrKrG.
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Eine Heilung der Nichtigkeit des Darlehnsvertrages nach § 6 Abs. 2 Satz 1 VerbrKrG durch Auszahlung der Valuta an Verbraucher K hat der II. Senat mit Rücksicht auf das Vorliegen eines verbundenen Geschäftes verneint. Insoweit schließt er sich der Rechtsprechung des XI. Senates an. Dieser Senat lässt auch die Auszahlung an einen Dritten als Empfang des Geldes durch den Darlehnsnehmer gelten, wenn der Dritte überwiegend im Interesse des Darlehnsnehmers tätig wird. Der Darlehnsnehmer braucht sich jedoch einen Geldempfang durch den Dritten dann nicht zurechnen zu lassen, wenn dieser überwiegend im Interesse des Darlehnsgebers, also gleichsam als dessen verlängerter Arm tätig wird75. Für das verbundene Geschäft lehnt der XI. Senat die Heilung eines nichtigen Darlehnsvertrages durch Auszahlung der Valuta ab. Bilden Darlehns- und Beteiligungsvertrag eine wirtschaftliche Einheit, erfordert der Schutzzweck der gesetzlichen Widerrufsregelung eine Auslegung, die dem Darlehnsgeber nach erfolgtem Widerruf keinen Zahlungsanspruch gegen den Darlehnsnehmer in Höhe des Darlehnskapitals belässt76. Diese Überlegung gilt auch für den Fall der Nichtigkeit eines solchen als wirtschaftliche Einheit zu wertenden Geschäftes.
IV. Zurechenbarkeit von Haustürwiderrufssituationen bei Einbindung der Bank in das Vertriebssystem des Fonds 1. Die Zurechenbarkeit in der BGH-Rechtsprechung II. und XI. Zivilsenat gehen in Anlehnung an die amtliche Begründung des Haustürwiderrufsgesetzes77 und mit der nahezu einhelligen Meinung78 davon aus, dass bei dem Darlehnsgeschäft eine Haustürsituation bei einem Tätigwerden Dritter der Bank nach den Grundsätzen zuzurechnen ist, die für die Zurechnung einer arglistigen Täuschung nach § 123 Abs. 2 BGB entwickelt worden sind79. Das Handeln des Dritten kann der Bank demnach nur dann zugerechnet werden, wenn sie die Umstände des Handelns kannte oder kennen musste. Nach der Rechtsprechung des XI. Senates reicht es nicht aus, dass die Bank Kenntnis davon hat, dass das Immobilienobjekt nicht von einer Privatperson, sondern von einer gewerblich tätigen Bauträgergesellschaft und über einen Vermittler verkauft und der Darlehnsvertrag über ihn vermittelt worden ist. Dieser Umstand lasse keinen Rückschluss darauf zu, dass die Erklärungen zum Darlehnsvertrag von dem Kunden in einer mündlichen Verhandlung ohne vorherige Bestellung an seinem Arbeitsplatz oder seiner Privatwohnung abgegeben worden sind. Er verpflichtet die Bank auch
__________ 75 76 77 78 79
BGHZ 152, 331 (336 f.); vgl. BGH, ZIP 2004, 1394 (1398); BGH, WM 2004, 1536. BGHZ 133, 254 (259); BGHZ 152, 331 (337). BT-Drucks. 10/2876, S. 1. Vgl. dazu BGH, ZIP 2003, 22 (25). BGH, ZIP 2003, 22; BGH, DB 2004, 647; BGH, ZIP 2004, 1402.
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nicht ohne weiteres zu einer Nachfrage über die Umstände der Vertragsanbahnung80. Der vom II. Zivilsenat in zwei Fällen81 entschiedene Sachverhalt unterschied sich davon deutlich: Nach dem Leitsatz der beiden Entscheidungen hatte die Bank dem Vermittler nicht nur die Anbahnung des Kreditvertrages überlassen, sondern bei der Rückkunft der Kreditunterlagen auch nicht bemerkt, dass der Sitz des Vermittlers und der Verhandlungsort verschieden waren. Nach den Gründen der Entscheidungen hatte die Bank dem Vermittler ihre Formulare überlassen. Die Vermittlungsgesellschaft hatte ihren Sitz in dem Ort A., die Anleger wohnten aber in dem Ort S. Aus dem Darlehnsvertrag ergab sich, dass sie ihre Unterschrift in S. geleistet hatten. Im zweiten Fall hatte die Bank die Vertragsformulare dem Vermittler nicht nur überlassen, sondern das für die Darlehnsnehmer bestimmte Formular bereits gegengezeichnet. Der II. Senat zog daraus die Schlussfolgerung, dass die Bank hier die Verpflichtung traf, sich bei den Initiatoren oder dem Vermittler nach den Umständen der Vertragsverhandlungen zu erkundigen. Da sie das nicht getan habe, sei ihr die Haustürsituation zuzurechnen. Hier war die Grenze überschritten, die in den Sachverhaltsgestaltungen, die dem XI. Senat vorlagen, nicht erreicht worden war. Es liegen also keine einander widersprechenden Entscheidungen der beiden Senate vor. 2. Ansprüche bei Widerruf oder Nichtigkeit Wird ein Haustürgeschäft widerrufen oder ist es – gleichgültig aus welchen Gründen – nichtig, kommen im Wesentlichen die gleichen Abwicklungsund Ausgleichsansprüche in Betracht wie beim Eingreifen der Verbraucherschutzbestimmungen. Der II. Zivilsenat hat überraschend offen gelassen, ob bei Widerruf einer Beitrittserklärung nach dem HaustürWG nach dem Schutzzweck dieses Gesetzes eine Ausnahme von den Grundsätzen des fehlerhaften Gesellschaftsverhältnisses geboten ist. Das hat er in einer neueren Entscheidung nunmehr wieder bejaht82. Er geht jedoch davon aus, dass sich die Einwendungen des Anlegers nicht in dem Anspruch auf Zahlung des Abfindungsguthabens gegen die Gesellschaft erschöpfen, sondern auch die Gründer und Initiatoren und sonstigen Prospektverantwortlichen als Verkäufer anzusehen sind. Die Schadenersatzansprüche, die dem Anleger gegen diesen Personenkreis zustehen, kann er gegenüber der Bank gegen Abtretung der Ansprüche geltend machen83.
__________ 80 BGH, DB 2004, 647 (648); BGH, ZIP 2003, 22 (25); BGH, ZIP 2003, 432 (433 f.);
BGH, ZIP 2003, 1741 (1743). 81 BGH, ZIP 2004, 1402 sowie BGH, WM 2004, 1527. 82 BGH, Urt. v. 18.10.2004 – II ZR 352/02, veröffentlicht unter www.bundesgerichts
hof.de. 83 BGH, ZIP 2004, 1402 (1406); BGH, Urt. v. 14.6.2004 – II ZR 392/01, veröffentlicht
unter www.bundesgerichtshof.de.
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Heribert Hirte
Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtslage bei Schweigen des Gesellschaftsvertrages 1. Recht zur Hinzuziehung 2. Pflicht zur „Vertretung“ durch Sachverständige? 3. Anforderung an den Sachverständigen und seine Auswahl III. Zulässigkeit von Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag oder in der Satzung
1. Unverzichtbarer Kernbereich der Informationsrechte 2. Eingriff in den Kernbereich durch Verweis auf Sachverständige? IV. Querbezüge zum aktienrechtlichen Informationsrecht V. Kostentragung bei Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts durch Sachverständige aufgrund gesellschaftsvertraglicher Bestimmung VI. Zusammenfassung
I. Einleitung In zwei im Jahr 2000 und 2001 ergangenen Entscheidungen hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs unter dem Vorsitz von Volker Röhricht zu der bis dahin kontrovers diskutierten Frage Stellung bezogen, welche Rechtsfolgen die Verletzung von Informationspflichten einer Aktiengesellschaft nach sich zieht1. In beiden Urteilen verneinte der Senat die Möglichkeit, formwechselnde Beschlüsse wegen der Verletzung bewertungsrelevanter Informations-, Auskunfts- und Berichtspflichten anzufechten. Das Gericht verwies die klagenden Aktionäre stattdessen auf das Spruch(stellen)verfahren als einzige Rechtsschutzmöglichkeit und lehnte unter Verweis auf § 210 UmwG grundsätzlich die Anfechtbarkeit wegen Informationsmängeln im Zusammenhang mit der gemäß § 207 UmwG anzubietenden Barabfindung ab und gab damit seine frühere gegenteilige Rechtsauffassung auf. Beide Entscheidungen sind charakteristisch für die Art des Ausgleichs von Interessen, wie sie der II. Zivilsenat in seiner Rechtsprechung unter dem Vorsitz von Volker Röhricht in jüngerer Zeit häufiger vorzunehmen hatte: Sie betonen einerseits den hohen Stellenwert der Aktionärsrechte, hier in
__________ 1
BGHZ 146, 179 (MEZ); bestätigt in BGH, ZIP 2001, 412 (Aqua Butzke-Werke); dazu die Besprechung durch Hirte, ZHR 167 (2003), 8.
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Heribert Hirte
Form des (heute) auch verfassungsrechtlich garantierten2 Informationsrechts des Gesellschafters, wollen aber andererseits den Interessen der Unternehmen Rechnung tragen, durch die Geltendmachung von Gesellschafterrechten nicht über Gebühr belastet zu werden. Hiermit geben sie Anlass, über eine ganz ähnlich gelagerte Konfliktlage nachzudenken, wie sie sich im Bereich der Personengesellschaften und der GmbH nicht selten präsentiert. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung soll nämlich die Frage stehen, inwieweit Informationsrechte von Gesellschaftern durch Gesellschaftsvertrag auf eine Ausübung unter Zuhilfenahme von Sachverständigen unter gleichzeitigem Verbot persönlicher Ausübung beschränkt werden können3. Zugleich soll auch dem spiegelbildlichen Problem nachgegangen werden, unter welchen Voraussetzungen der Gesellschafter berechtigt ist, einen Sachverständigen mit der Ausübung seiner persönlichen Informationsrechte zu betrauen oder einen solchen wenigstens hinzuzuziehen. Dabei soll versucht werden, eine Lösung zu finden, die bei allen Gesellschaftsformen gleichermaßen Gültigkeit hat. Allein die Rechtsform einer Gesellschaft kann nämlich kaum als Grund angesehen werden, Umfang oder Einschränkbarkeit von Informationsrechten verschieden auszugestalten. Hier muss vielmehr eine harmonische Gesamtbetrachtung Platz greifen, die dem Ziel einer Einheit der Rechtsordnung Rechnung trägt4. Dabei handelt es sich um eine im gesamten Gesellschaftsrecht immer mehr Zustimmung findende Erkenntnis: Weniger die Rechtsform als vielmehr die „konkrete Realstruktur“5, das „charakteristische Gepräge“6 oder die „gesellschaftsrechtliche Geschäftsgrundlage“7 entscheiden über die Gültigkeit nicht kodifizierter gesellschaftsrechtlicher Rechtssätze bzw. sind bei der Auslegung des geschriebenen Rechts zu berücksichtigen. Das Recht der Aktiengesellschaft muss freilich zunächst aus der Betrachtung im Detail ausgenommen werden, weil das Informationsrecht des Aktionärs dort auf die „Auskunft“ (also unter Ausschluss der Einsichts- und Prüfungsmöglichkeit; für Letztere siehe lediglich §§ 142 ff. AktG) beschränkt (§ 131 Abs. 1 AktG) und es andererseits zwingend ausgestaltet ist (§ 23 Abs. 5 AktG). Die gesellschaftsformneutrale Institutionenbildung8 im Bereich der Informationsrechte kann davon nicht unberührt bleiben.
__________ 2
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5 6 7 8
Zum verfassungsrechtlichen Rang des aktienrechtlichen Informationsrechts BVerfG, ZIP 1999, 1798 = NJW 2000, 349 = EWiR § 131 AktG 3/99, 1035 (Bork) (Wenger/ Daimler Benz); dazu Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2003, Rz. 4.25. Dazu früher bereits – freilich unter ganz anderen Vorzeichen – Hirte, BB 1985, 2208 ff. Vgl. K. Schmidt, Informationsrechte in Gesellschaften und Verbänden, 1984, S. 1 f., 68 ff.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, Grundlagen, 1980, § 7 Il 2 a bb, S. 376 f. Vgl. Lutter, AcP 180 (1980), 84 (106 ff.); Lutter/Timm, NJW 1982, 409 (418 f.). Vgl. Eckard Rehbinder in FS Coing, Bd. II, 1982, S. 423 (434). Vgl. Wiedemann (Fn. 4), § 8 IV 3 b, S. 470 ff. Zu deren Notwendigkeit bereits K. Schmidt (Fn. 4), S. 13 f.
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Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige
Inhaltlich ergibt sich das Problem einer gesellschaftsvertraglichen Beschränkung des Informationsrechts vor allem bei den Einsichts- und Prüfungsrechten. Bei der Auskunft, die sich als weitere Ausprägung eines einheitlichen Informationsrechts darstellt9, taucht die Frage mangels zu vermeidender Interessenkonflikte zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern nicht auf10: Die Person des Fragers ist bei der Erteilung einer Auskunft ohne Bedeutung11, da der inhaltliche Umfang der Antwort weiterhin von der Gesellschaft bestimmt wird12. Bei Einsichts- und Prüfungsrechten erlangt die Person des Einsicht begehrenden Gesellschafters demgegenüber große Bedeutung, da die Gefahr besteht, dass wegen der dem Gesellschafter eröffneten Nachforschungsmöglichkeit Informationen, die nicht für Dritte bestimmt sind, aus der Gesellschaft hinausgelangen. Umgekehrt kann aber auch die Nichthinzuziehung eines Sachverständigen die Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts für den betreffenden Gesellschafter erheblich erschweren, nämlich dann, wenn dieser nicht über ausreichenden eigenen Sachverstand in den Angelegenheiten der Gesellschaft oder in Fragen der Rechnungslegung verfügt13. Im Ergebnis nichts anderes gilt auch dann, wenn der Gesellschafter zwar grundsätzlich über den notwendigen Sachverstand verfügt, er sich aber erst intensiv mit den verfügbaren Informationen auseinander setzen müsste, der dazu erforderliche Aufwand wegen der Fülle der bereitstehenden Unterlagen unter ökonomischen Gesichtspunkten für ihn unrentabel erscheint (Stichwort: Informationsüberfluss)14. Will der Gesellschafter dagegen von sich aus einen Sachverständigen mit der Wahrnehmung
__________ 9 Ausführlich zur Einheit der Informationsrechte G. Roth, Die These vom einheitli-
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chen Recht auf Information, Diss. Hamburg 2004, S. 179 ff.; früher bereits ähnlich in der Terminologie Wiedemann (Fn. 4), § 7 II 2, S. 374. Kritisch zur allgemein vorgenommenen Differenzierung bei der Bewältigung des Konfliktpotentials nach den verschiedenen Informationsmitteln (Auskunft, Einsicht, Prüfung) G. Roth (Fn. 9), S. 168 ff.; Stürner, Die Aufklärungspflichten der Parteien im Zivilprozeß, 1976, S. 340 ff. Zur Bedeutung des Fragestellers für den Inhalt der zu erteilenden Auskunft G. Roth (Fn. 9), S. 58, 64 ff.: Danach ist ein zentrales Kriterium der Inhaltsbestimmung einer Informationspflicht der so von G. Roth bezeichnete maßgebliche Empfängerhorizont (vgl. S. 51, 251). Kritisch dazu G. Roth (Fn. 9), S. 87 f., 248 f.: Der inhaltliche Umfang wird nicht – willkürlich – durch den Schuldner, hier also durch die Gesellschaft, festgelegt. Der Informationsumfang folgt vielmehr – unabhängig vom konkreten Informationsmittel – allein aus dem durch den jeweiligen Informationsanspruch rechtlich anerkannten Informationsbedürfnis des Informationsgläubigers. Andeutend bereits Stürner (Fn. 10), S. 329 ff. und Winkler von Mohrenfels, Abgeleitete Informationsleistungspflichten im deutschen Zivilrecht, 1986, S. 51 f., 118, 156 ff. G. Roth (Fn. 9), S. 147. Vgl. dazu G. Roth (Fn. 9), S. 147 f.; allgemein zu den Kosten einer wohl informierten Entscheidung Baums/v. Randow, AG 1995, 145 (147); Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht: eine rechtsvergleichende und interdisziplinäre Abhandlung zu Reichweite und Grenzen vertragsschlußbezogener Aufklärungspflichten, 2001, S. 134 ff.
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seiner Informationsrechte betrauen, stellt sich die Zulässigkeitsfrage unter dem Gesichtspunkt der Höchstpersönlichkeit der Informationsrechte15. Für die Zulässigkeit gesellschaftsvertraglicher Regelungen, nach denen Einsichts- und Prüfungsrechte nur (von dem Gesellschafter entsandten) Sachverständigen zustehen bzw. den Gesellschaftern ein entsprechendes fakultatives Entsendungsrecht zusteht (dazu unter III.), ist zunächst die Rechtslage beim Fehlen ausdrücklicher Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag bzw. der Satzung von Bedeutung (dazu unter II.). Anschließend wird der Möglichkeit des Einsatzes sachverständiger Dritter zur Bewältigung informationsrechtlicher Konfliktlagen auch im Aktienrecht nachgegangen (dazu unter IV.). Schließlich ist auf die Frage einzugehen, wer die mit Entsendung bzw. Hinzuziehung eines Sachverständigen verbundenen Kosten trägt (dazu unter V.).
II. Rechtslage bei Schweigen des Gesellschaftsvertrages Sofern der Gesellschaftsvertrag keine besonderen Regelungen vorsieht, steht das Einsichts- und Prüfungsrecht nach dem Gesetz den Gesellschaftern persönlich zu. Dies ergibt sich für die GmbH aus § 51a Abs. 1 GmbHG, für die Kommanditgesellschaft und die stille Gesellschaft aus §§ 166, 233 HGB und für den von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Gesellschafter einer Offenen Handelsgesellschaft, bei dem im Bereich der Offenen Handelsgesellschaft der Umfang von Informationsrechten allein Bedeutung gewinnt, aus § 118 HGB. Für die Partnerschaftsgesellschaft findet gemäß § 6 Abs. 3 PartGG die Norm des § 118 HGB entsprechend Anwendung, soweit nicht vertraglich ein anderes vereinbart ist. Vor dem Hintergrund dieser Gesetzeslage hat die Rechtsprechung bisher zwei Fragen angeschnitten: 1. Recht zur Hinzuziehung Zum einen hat sie einen Gesellschafter, der nach der gesetzlichen Lage nur persönlich zur Ausübung seines Einsichts- und Prüfungsrechts berechtigt war, für berechtigt gehalten, bei der Prüfung einen Sachverständigen hinzuzuziehen16. Sie hat allerdings – von bisher wenigen Ausnahmen abgesehen –
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15 Vgl. dazu G. Roth (Fn. 9), S. 267 f. m. w. N. 16 ROHGE 7, 69 (75) (OHG); RGZ 25, 88 (OHG); RGZ 148, 278 (280) (BGB-
Gesellschaft); RGZ 170, 392 (395) (KG); RG, JW 1907, 523 (OHG); RG, HRR 1942 Nr. 116 (GmbH): vorbehaltlich entgegenstehender Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages; RG, SeuffA 29, 28 (30 f.) (GmbH); BGHZ 25, 115 (123) (KG); BGH, BB 1962, 899 (900) (OHG); BGH, WM 1984, 807 (808) (stille Gesellschaft); BGH, NJW 1995, 194 (196); OLG Hamm, BB 1970, 104 (KG); OLG Frankfurt, NJW-RR 1996, 415 (416); BayObLG, NJW-RR 1991, 1444 f.; zustimmend Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 118 Rz. 8, § 166 HGB Rz. 6; Schilling in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1987, § 166 Rz. 10; K. Schmidt (Fn. 4), S. 25; Goerdeler in FS Stimpel, 1985, S. 125 (128 f.); Hirte, BB 1985, 2208 (2209); Ivens, GmbHR 1989, 273 (276 f.); mit der Einschränkung, dass der hinzugezogene Sachverständige berufsrechtlich zur Ver-
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nur die Hinzuziehung des Sachverständigen (= bei gleichzeitiger Anwesenheit des Gesellschafters selbst), nicht auch die Entsendung eines Sachverständigen stellvertretend für einen Gesellschafter zugelassen. Die Zulässigkeit der Bevollmächtigung eines Dritten wird ganz überwiegend unter Verweis auf die höchstpersönliche Natur des Informationsrechts und auf das Abspaltungsverbot (§ 717 BGB) grundsätzlich verneint17. Eine Ausnahme soll nur gelten, wenn der Einsicht begehrende Gesellschafter erkrankt ist18, wenn – was selbstverständlich ist – die übrigen Gesellschafter einverstanden sind19 oder für den in einer anonymen Publikumsgesellschaft Einsicht begehrenden Kommanditisten20; in dieser letzten Fallgruppe klingt der auch sonst das Personengesellschaftsrecht bestimmende Gedanke an, dass bei Publikums-Personengesellschaften – ähnlich wie im Aktienrecht – die persönlichen Beziehungen der Gesellschafter zueinander weniger im Vordergrund stehen. Die bloße Hinzuziehung eines Sachverständigen wurde vor allem mit der Begründung zugelassen, jedenfalls bei dem nicht über genügend eigene Sachkunde verfügenden Gesellschafter würde das Einsichts- und Prüfungsrecht sonst leerlaufen21. Vereinzelt wurde daher früher das Fehlen eigenen Sachverstands auch als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Hinzuziehung
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schwiegenheit verpflichtet ist, auch Ensthaler in GK HGB, 6. Aufl. 1999, § 118 Rz. 10; Enzinger in MünchKomm.HGB, Bd. 2, 2004, § 118 Rz. 23; G.H. Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 51a Rz. 15; sowie K. Schmidt in Scholz, GmbHG, Bd. 2, 9. Aufl. 2002, § 51a Rz. 27. Nur ausnahmsweise soll die Hinzuziehung von Sachverständigen gestattet sein nach KG, KGJA 121, 123 f. (stille Gesellschaft): nur bei Fehlen eigener Sachkunde; BayObLG, SeuffA 69, 327 (stille Gesellschaft): wenn die Verweigerung der Hinzuziehung eines Sachverständigen gegen Treu und Glauben verstoßen würde; OLG München, BB 1954, 669 (stille Gesellschaft): erst bei konkreten Schwierigkeiten. Gänzlich ablehnend OLG Düsseldorf, JW 1929, 2669: Hinzuziehung von Sachverständigen nur im Verfahren nach § 338 Abs. 3 HGB (entspricht § 233 Abs. 3 HGB n. F.); a. A. für Personengesellschaften – anders als bei der GmbH – in der Regel jegliche Beteiligung Dritter ablehnend Hüffer in Hachenburg, GmbHG, Bd. 2, 8. Aufl. 1997, § 51a Rz. 16. Emmerich in Heymann, HGB, Bd. 2, 2. Aufl. 1996, § 118 Rz. 6; Ensthaler in GK HGB, § 118 Rz. 8. Die Grenze zwischen bloßer Hinzuziehung und Bevollmächtigung bzw. Entsendung ist allerdings schwer zu ziehen. Der Gesellschafter ist nämlich nach bestrittener Auffassung auch bei der Hinzuziehung nicht zur ständigen persönlichen Anwesenheit während der Ausübung des Einsichtsrechts verpflichtet (zum Meinungsstand Ulmer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1999, § 118 Rz. 31. So bzw. allgemein bei Vorliegen besonderer Hinderungsgründe einer persönlichen Einsichtnahme: Enzinger in MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 20; ähnlich Grunewald in MünchKomm.HGB, Bd. 3, 2002, § 166 Rz. 21; Ulmer in Großkomm.HGB, § 118 Rz. 33. Vgl. BGH, WM 1961, 1329 (OHG); Enzinger in MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 22; Ulmer in Großkomm.HGB, § 118 Rz. 33. OLG Celle, BB 1983, 1451 (KG); Baumbach/Hopt, HGB, § 177a Anh. B Rz. 72. Vgl. BGHZ 25, 115 (123) (KG).
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eines Sachverständigen angesehen22. Heute ist die Hinzuziehung eines sachverständigen Dritten dagegen generell gestattet und nur ausnahmsweise für den Fall ausgeschlossen, dass eine Unterstützung des Gesellschafters offenkundig nicht erforderlich ist23. 2. Pflicht zur „Vertretung“ durch Sachverständige? Von der Frage eines Rechts zur Zuziehung eines Sachverständigen abgesehen hat die Rechtsprechung die Frage aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen ein Gesellschafter, dem nach der gesetzlichen Lage – bzw. dem mit dieser übereinstimmenden Gesellschaftsvertrag – ein persönliches Einsichtsund Prüfungsrecht zusteht, verpflichtet sein kann, sich zur Ausübung dieses Rechts eines Sachverständigen zu bedienen und auf seine persönliche Ausübung zu verzichten. Dies hat die Rechtsprechung bisher vor allem für den Fall angenommen, dass der Einsicht begehrende Gesellschafter Wettbewerber der Gesellschaft ist24. Allgemeiner soll eine solche Beschränkung trotz grundsätzlich weiterbestehenden persönlichen Informationsrechts immer dann zulässig sein, wenn sie zur Wahrung der Belange des Unternehmens erforderlich ist25. Hier kann der Einsatz des Sachverständigen als „Informationsschleuse“26 zur Vermeidung von Interessenkonflikten dienen, die andernfalls wegen schutzwürdiger Belange der Gesellschaft dieser ein Informationsverweigerungsrecht eröffnen würden27. Vor dem Hintergrund der Stellung des Informationsrechts als zentralen Mitverwaltungsrechts darf freilich nicht jede Interessengefährdung der Gesellschaft derartige Konsequenzen nach sich ziehen28. Ein Konfliktpotential liegt nämlich in der Natur der Sache: Die Gesellschaft will – aus ihrer Sicht
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22 KG, KGJ A 121, 123 f. (stille Gesellschaft). 23 Mayen in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 118 Rz. 21, 23; Enzinger in
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MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 24; Baumbach/Hopt, HGB, § 118 Rz. 9; Ulmer in Großkomm.HGB, § 118 Rz. 31. RGZ 103, 71 (72 f.) (BGB-Gesellschaft); BGHZ 14, 53 (59) (GmbH); BGH, BB 1970, 187 (BGB-Gesellschaft); BGH, WM 1979, 1061 (KG); Baumbach/Hopt, HGB, § 166 Rz. 7; Enzinger in MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 21; Grunewald in MünchKomm.HGB, § 166 Rz. 19; Schilling in Großkomm.HGB, § 166 Rz. 10. Schilling in Großkomm.HGB, § 166 Rz. 10. Nach G. Roth (Fn. 9), S. 267 soll dies nur dann der Fall sein können, wenn die Gesellschaft gegenüber dem Gesellschafter ein schutzwürdiges (legitimes) Geheimhaltungsinteresse hat; anderenfalls braucht sich der Gesellschafter nicht auf die Wahrnehmung seiner Rechte durch Dritte verweisen zu lassen. Zu dieser Terminologie G. Roth (Fn. 9), S. 264. OLG Frankfurt, NJW-RR 1996, 415 (416); Hüffer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 810 Rz. 10; G. Roth (Fn. 9), S. 266; Wohlleben, Informationsrechte des Gesellschafters, 1989, S. 210. Zur Bedeutung der Informationsrechte als Mitgliedschaftsrecht BGH, NJW 1995, 194; Mayen in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 118 Rz. 33; Wiedemann (Fn. 4), § 7 II 2 a aa, S. 374 f. spricht zutreffend vom „mitgliedschaftlichen Grundrecht“ auf Information.
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verständlich – möglichst wenig Information preisgeben, der Gesellschafter dagegen möglichst viel Information erlangen. Aber immer dann, wenn ein Gesellschafter sein Informationsrecht gegenüber der Gesellschaft nachdrücklich einfordern muss, werden bereits tendenziell Spannungen innerhalb der Gesellschaft bzw. des Gesellschafterkreises bestehen, die diesen Interessenwiderspruch weiter verschärfen. Unter bloßem Verweis darauf ließe sich eine Interessengefährdung in der Mehrzahl der Fälle begründen. Dass dies zur Einschränkung der persönlichen Wahrnehmung des Informationsrechts nicht ausreichend ist, versteht sich von selbst29. In Anlehnung an § 51a Abs. 2 GmbHG und § 131 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 5 AktG, die einen allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Grundsatz formulieren30, ist vielmehr erforderlich, dass die Befriedigung des Informationsbegehrens eine vorhersehbare Schädigung der Gesellschaft befürchten lässt31. Ist eine Schädigung der Gesellschaft durch das Informationsbegehren zu besorgen, führt die Pflicht zur Wahrnehmung des Informationsrechts durch einen Sachverständigen gleichwohl nur in einigen Fällen zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen. Der sachverständige Dritte kann als neutrale „Informationsschleuse“ nur dienen, wenn bereits erteilte Auskünfte oder anderweitig bereitgestellte Informationen – vor allem durch Einsichtnahme in die Unternehmensunterlagen – zu verifizieren sind32. Er prüft die Vollständigkeit und Richtigkeit der anderweitig erteilten Information und teilt dem Gesellschafter lediglich das Prüfungsergebnis, nicht aber dessen Grundlagen mit33. Dieser erfährt also nur, ob seine Informationen vollständig und richtig sind, ohne dass der Inhalt der geprüften Unterlagen Gegenstand des Prüfungsberichts des Sachverständigen wird34. Der Verifikationszweck steht gleichfalls im Vordergrund, wenn der Dritte dazu eingesetzt werden soll, (gemeinsam mit der Gesellschaft) die offenlegungspflichtigen von den nicht offenlegungspflichtigen Gesellschaftsunterlagen zu separieren35. Ist dagegen nicht die Verifikation sondern allgemein die Informationserlangung Ansin-
__________ 29 Entgegen OLG Celle, BB 1983, 1450 (Publikums-KG) scheiden damit auch bloße
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Praktikabilitätserwägungen zur Versagung der persönlichen Ausübung des Informationsrechts (im entschiedenen Falls des Kontrollrechts) aus. So Weipert in MünchHdb.GesR, Bd. 1: BGB-Ges./OHG, 2. Aufl. 2004, § 8 Rz. 19. BGH, BB 1979, 1315 (1316); OLG München, BB 1995, 143: Es muss „ein nicht unerheblicher Nachteil zu besorgen“ sein; Weipert (Fn. 30), § 8 Rz. 19 f.; Mayen in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 118 Rz. 20 spricht von „überragenden Interessen der Gesellschaft“ und nennt als Beispiel den im Wettbewerb mit der Gesellschaft stehenden Gesellschafter; Enzinger in MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 21 („besonderes Schutzinteresse“ der Gesellschaft erforderlich); in der Sache genauso Grunewald in MünchKomm.HGB, § 166 Rz. 19. Ausführlich dazu G. Roth (Fn. 9), S. 264 ff. Eine gesetzliche Umsetzung dieses Gedankens findet sich beispielsweise in § 12 UmwG. G. Roth (Fn. 9), S. 264. Vgl. dazu auch G. Roth (Fn. 9), S. 170.
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nen des Gesellschafters, etwa weil er den Verdacht unsauberen Geschäftsgebarens hegt, sind die Einsatzmöglichkeiten zur Verschwiegenheit verpflichteter Dritter zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen beschränkt36. Der eingesetzte Sachverständige kann hier nämlich nicht mehr als „Informationsschleuse“ fungieren. Genügt bei der Verifikation ein schlichtes „Ja“ oder „Nein“ hinsichtlich der Vollständigkeit der bereits erteilten Information, geht es in den übrigen Fällen gerade darum, überhaupt (erst einmal) entsprechende Informationen zu erlangen, die dann später gegebenenfalls zu verifizieren sind. Bei der Informationserteilung als solcher muss zwangsläufig das eine Interesse (Informationsinteresse des Gesellschafters oder Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft) gegenüber dem anderen zurücktreten. Der Gesellschafter kann nicht umfänglich informiert werden unter gleichzeitiger Wahrung eines allumfassenden Geheimhaltungsinteresses der Gesellschaft. Daran vermag auch der Einsatz eines Sachverständigen im Grundsatz nichts zu ändern, wenn er statt des Gesellschafters informiert wird. Denn entweder gibt er die erlangten Informationen an den Gesellschafter weiter oder geht stellvertretend für den Gesellschafter gegen die Gesellschaft vor37. In beiden Fällen wird dem Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft nur bedingt Rechnung getragen38. Der Sachverständigeneinsatz läuft dann vornehmlich auf einen bloßen Austausch des Informationsgläubigers hinaus, ohne dass damit der Gesellschaft geholfen wäre39. Gibt der Sachverständige die neuen Informationen dagegen nicht an den Gesellschafter weiter, bleibt dessen Informationsbedürfnis unbefriedigt. Im Ergebnis ist daher eine Pflicht zur Entsendung bzw. Hinzuziehung eines Sachverständigen nur zu bejahen, wenn erstens die Befriedigung des Informationsbegehrens eine vorhersehbare Schädigung der Gesellschaft befürchten lässt, der Gesellschaft daher sonst ein Informationsverweigerungsrecht zustehen würde und zweitens Kontrollrechte durch den Sachverständigen – also vornehmlich Verifikationsaufgaben – wahrgenommen werden sollen.
__________ 36 Dazu ausführlich G. Roth (Fn. 9), S. 264 f.; Martens in Schlegelberger, HGB, Band
III/1, 5. Aufl. 1992, § 118 Rz. 26, spricht davon, dass das Informationsinteresse des Gesellschafters nur noch mittelbar gewahrt bleibt. 37 Dann würde seine Stellung derjenigen des „besonderen Vertreters“ zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen im Aktienrecht (§ 147 Abs. 2 AktG) ähneln. 38 Dem Geheimhaltungsinteresse wird in zweierlei Hinsicht gegenüber der unmittelbaren Einsicht durch den Gesellschafter mehr Rechnung getragen: Zum einen bei der Bestimmung einsichtspflichtiger und nicht einsichtspflichtiger Unterlagen, zum anderen in Wettbewerbssituationen, in denen der Gesellschafter die erlangten Informationen nicht nur gegen die Gesellschaft, sondern auch zu gesellschaftsfremden Wettbewerbszecken verwenden könnte. Hierbei stellt sich freilich das praktische Problem, wie ein derartiger Prozess durch den Sachverständigen als Vertreter des Gesellschafters geführt werden soll, ohne dass der Gesellschafter entsprechende Kenntnis von den Informationen erlangt. 39 So bereits BGH, NJW 1995, 194 (196); G. Roth (Fn. 9), S. 264 f.
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Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige
3. Anforderung an den Sachverständigen und seine Auswahl Soweit danach die Hinzuziehung bzw. Entsendung eines Sachverständigen sinnvoll zur Konfliktbewältigung beitragen kann, muss dessen Auswahl die Gewähr dafür bieten, dass die Belange der Gesellschaft nicht durch seine Kenntnis von gesellschaftsinternen Sachverhalten beeinträchtigt werden. Dies kann in der Regel nur bei einem beruflich zur Verschwiegenheit verpflichteten Dritten angenommen werden40. Nur so ist eine „Neutralisierung“ der Interessengegensätze zu erzielen41. Prädestiniert sind somit vor allem Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Notar und Rechts- oder Patentanwalt42. Hält die Gesellschaft diese Voraussetzung nicht für gegeben, so kann sie den Sachverständigen ablehnen43. Sie trägt dann allerdings die Darlegungs- und Beweislast für die Gefährdung der Gesellschaftsinteressen durch die Person des hinzugezogenen Prüfers44. Neben der beruflichen Verschwiegenheitspflicht muss der Dritte auch den notwendigen Sachverstand für das jeweilige Themengebiet aufweisen45. Dadurch wird eine unnötige Belastung der Gesellschaft vermieden und die Qualität der Verifikationsmaßnahme kann gesteigert werden, insbesondere wenn der Gesellschafter selbst nicht über den notwendigen Sachverstand verfügt46. Bei der Auswahl des Sachverständigen ist weiter auf seine Neutralität zu achten, damit er für beide Seiten vertrauenswürdig ist. Fehlt es an einem gesetzlich oder vertraglich geregelten Auswahlverfahren, muss die Auswahl durch eine neutrale Stelle erfolgen47. Dies kann in entsprechender Anwen-
__________ 40 BGH, BB 1962, 899 (900); BGH, WM 1979, 1061 (1062); BGH, WM 1984, 807 (808);
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BGH, NJW 1995, 194 (196); Ulmer in Großkomm.HGB, § 118 Rz. 31, Goerdeler (Fn. 16), S. 125 (135); Ivens, GmbHR 1989, 273 (276); G. Roth (Fn. 9), S. 268; Weipert (Fn. 30), § 8 Rz. 20; lediglich eine Verschwiegenheitspflicht fordernd Krüger in MünchKomm.BGB, Bd. 2a, 4. Aufl. 2003, § 259 Rz. 31. Ivens, GmbHR 1989, 273 (276). BGH, WM 1962, 883; ausführlich hierzu OLG München, BB 1995, 143; Enzinger in MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 23, Mayen in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 118 Rz. 21; Ulmer in Großkomm.HGB, § 118 Rz. 31. Zur gerichtlichen Kontrollmöglichkeit: BGH, BB 1962, 899 (900); BayObLG, NJWRR 1991, 1444 f.; Goerdeler (Fn. 16), S. 125 (135); Mayen in Ebenroth/Boujong/ Joost, HGB, § 118 Rz. 22. RGZ 25, 88 (OHG); RG, SeuffA 29, 28 (30 f.) (GmbH); BGH, BB 1962, 899 (900) (OHG): angenommen für den Fall, dass der Sachverständige früher schon einmal „Störenfried“ in der Gesellschaft war; BGH, WM 1979, 1061 (KG): für den entsprechenden Fall des Prüfungsumfangs; OLG Hamm, BB 1970, 104 (KG); noch offen in ROHGE 7, 69 (75) (OHG); Baumbach/Hopt, HGB, § 118 Rz. 9; Enzinger in MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 24. BGH, BB 1962, 899 (900); BGH, WM 1979, 1061 (1062); Ivens, GmbHR 1989, 273 (276 f.). G. Roth (Fn. 9), S. 268. OLG Frankfurt, NJW-RR 1996, 415 (416); Ivens, GmbHR 1989, 273 (277).
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dung des § 145 FGG das Amtsgericht sein48. Ebenso kommt aber die Industrie- und Handelskammer49 oder allgemein ein Dritter50 in Betracht.
III. Zulässigkeit von Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag oder in der Satzung Ob über die geschilderten Fälle hinaus eine (allgemeine) Verpflichtung der Gesellschafter zum Unterlassen eigener Einsichtnahme und zur Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts durch einen sachverständigen Dritten in Gesellschaftsvertrag oder Satzung begründet werden kann, ist damit noch nicht beantwortet. Keine Bedenken gegen eine derartige Regelung bestehen im Bereich des ordentlichen Informationsrechts des Kommanditisten oder stillen Gesellschafters (§§ 166 Abs. 1, 233 Abs. 1 HGB)51. Für die GmbH wurde bis zum In-Kraft-Treten der GmbH-Novelle im Jahre 1980 Entsprechendes angenommen52. Ein gesellschaftsvertraglicher Ausschluss des persönlichen Einsichts- und Prüfungsrechts kann allerdings nur sinnvoll sein, wenn er auch für die – nach allgemeiner Meinung zwingenden53 – außerordentlichen Informationsrechte der Gesellschafter Wirkung entfaltet (vgl. §§ 166 Abs. 3, 233 Abs. 3 HGB). Für die GmbH stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit solcher Gestaltungen in der Satzung seit der GmbH-Reform von 1980 in noch schärferer Form: § 51a Abs. 3 GmbHG gestaltet nämlich den gesamten Umfang der in § 51a GmbHG geregelten Auskunfts- und Einsichtsrechte zwingend aus und geht damit über die in §§ 166 Abs. 3, 233 Abs. 3 HGB getroffenen Regelungen weit hinaus. Eine Regelung, durch die das persönliche Einsichts- und Prüfungsrecht von Gesellschaftern ausgeschlossen wird, muss daher vor allem daraufhin überprüft werden, ob sie nicht mit diesen, einen zwingenden Umfang von Informationsrechten anordnenden Vorschriften in Konflikt gerät.
__________ 48 BGHZ 10, 385 (388); BGH, BB 1970, 187; OLG Frankfurt, NJW-RR 1996, 415 (416);
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BayObLG, WM 1989, 371 (374); Ivens, GmbHR 1989, 273 (277); Mayen in Ebenroth/ Boujong/Joost, HGB, § 118 Rz. 22; Martens in Schlegelberger, HGB, § 118 Rz. 25. OLG Frankfurt, NJW-RR 1996, 415 (416); Ivens, GmbHR 1989, 273 (277); vgl. aber auch BGHZ 44, 158. OLG Frankfurt, NJW-RR 1996, 415 (416); Ivens, GmbHR 1989, 273 (277). Zur grundsätzlichen Disponibilität BGH, WM 1984, 807 (808) (stille Gesellschaft); Martens in Schlegelberger, HGB, § 116 Rz. 40; Bark, WPg. 1968, 606; Schilling in Großkomm.HGB, § 166 Rz. 16; nicht jedoch für den Bereich des außerordentlichen Informationsrechts, vgl. Rz. 15. Auch der Jahresabschluss ist den Gesellschaftern immer unmittelbar mitzuteilen; vgl. RG, JW 1906, 144 (KG). Schilling in Hachenburg, GmbHG, Bd. 2, 7. Aufl. 1979, § 45 Rz. 25, 27: Modifikation wie nach § 142 AktG möglich, dass Einsichtnahme und Prüfung nur durch Sachverständige erfolgen, dies sogar für das Einsichtsrecht aus wichtigem Grund; wohl auch K. Schmidt in Scholz, GmbHG, Anh. § 51 Rz. 22 ff. Vgl. nur OLG Hamm, BB 1970, 509 (KG); Baumbach/Hopt, HGB, § 166 Rz. 19; Schilling in Großkomm.HGB, § 166 Rz. 15; Grunewald in MünchKomm.HGB, § 166 Rz. 48; zustimmend K. Schmidt in MünchKomm.HGB, Bd. 3, 2002, § 233 Rz. 25.
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Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige
Diese Frage wurde von der Rechtsprechung bisher noch nicht entschieden54. Die Literatur steht einem Ausschluss des persönlichen Einsichtsrechts unter Verweis auf die Wahrnehmung durch sachverständige Dritte teils zustimmend55, teils ablehnend56 gegenüber, bleibt jedoch eine sachliche Herleitung des jeweils vertretenen Standpunktes weitgehend schuldig. Wohl einhellig anerkannt ist, dass die Regelung des § 51a GmbHG trotz ihres zwingenden Charakters einer verfahrensmäßigen Konkretisierung im Gesellschaftsvertrag zugänglich ist57. Unklarheiten treten freilich bei der Frage auf, wo die Grenze zwischen einer zulässigen Verfahrensregelung und einer unzulässigen materiellen Beschränkung zu ziehen ist. 1. Unverzichtbarer Kernbereich der Informationsrechte Ob ein gesellschaftsvertraglich oder satzungsmäßig begründetes Verbot persönlicher Ausübung von Einsichts- und Prüfungsrechten wirksam ist, hängt damit davon ab, ob es sich dabei um eine Beschränkung des in §§ 166 Abs. 3, 233 Abs. 3 HGB, § 51a Abs. 1 und 3 GmbHG zwingend ausgestalteten Umfangs des Informationsrechts handelt. Ausgangspunkt dabei ist die in den letzten Jahren in Rechtsprechung58 und Lehre59 verfestigte Einsicht von der Unantastbarkeit eines zwingenden Kernbereichs mitgliedschaftlicher Informationsrechte (vgl. dazu § 716 Abs. 2 BGB, § 118 Abs. 2 HGB, § 51a Abs. 2 GmbHG), zu denen auch die außerordentlichen Kontrollrechte des Kommanditisten (§ 166 Abs. 3 HGB)60 und des stillen Gesellschafters (§ 233 Abs. 3 HGB) gerechnet werden. Die Anerkennung des aktienrechtlichen Auskunftsrechts als in seinem Kern durch die Verfassung geschützt trägt dem Rechnung61. Auf den ersten Blick scheint die Antwort damit eindeutig: Ein Gesellschafter, der das ihm zustehende Einsichts- und Prüfungsrecht nicht mehr persönlich ausüben kann, ist in der Ausübung seiner Rechte beschränkt mit der Folge, dass die entsprechende Bestimmung von Gesellschaftsvertrag oder Satzung insoweit unwirksam ist, als sie die persönliche
__________ 54 Angedeutet, aber letztlich offen gelassen in BGH, WM 1984, 807 (808) (stille Ge-
sellschaft). 55 Hüffer in Hachenburg, GmbHG, § 51a Rz. 68; Schiessl in MünchHdb. GesR, Bd. 3:
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GmbH, 2. Aufl. 2003, § 33 Rz. 28; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 51a Rz. 3; nur für Ausnahmesituationen zustimmend K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 51a Rz. 51. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 51a Rz. 34; Meyer-Landrut in Meyer-Landrut/Miller/Niehus, GmbHG, 1987, § 51a Rz. 7; Römermann in Michalski, GmbHG, Bd. II, 2002, § 51a Rz. 247. BayObLG, WM 1988, 1789 (1790); OLG Köln, GmbHR 1986, 385; OLG Hamm, ZIP 2000, 1013 (1014); Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 51a Rz. 30. Vgl. nur BGH, NJW 1995, 194 (195). Grunewald in MünchKomm.HGB, § 166 Rz. 53. Martens in Schlegelberger, HGB, § 166 Rz. 46 (Abs. 3 bildet eine absolute Schranke für die Mediatisierung der Überwachungsrechte). Hierzu oben Fn. 2.
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Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts auch im Bereich des außerordentlichen Informationsrechts (bzw. bei der GmbH insgesamt) verbietet. 2. Eingriff in den Kernbereich durch Verweis auf Sachverständige? Ob dieses Ergebnis so zwingend ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, ist allerdings fraglich: Denn soweit der Einsatz von Sachverständigen zur Beilegung von informationsrechtlichen Interessenkonflikten überhaupt sinnvoll möglich ist62, sollte der Gesellschafter nicht mehr, aber auch nicht weniger an Information erhalten, als er bei persönlicher Wahrnehmung seines Einsichts- und Kontrollrechts rechtmäßigerweise erlangen würde. Zudem hängt die Feststellung eines Eingriffs in den Kernbereich gerade bei den Informationsrechten erheblich von den Fähigkeiten des Gesellschafters ab. Für einen Gesellschafter, der in Fragen der Rechnungslegung oder auf dem Tätigkeitsfeld der Gesellschaft über keine eigene Sachkunde verfügt, stellt nämlich die Möglichkeit, sich bei der Ausübung des Informationsrechts eines Sachverständigen bedienen zu dürfen, eine ausgesprochene Begünstigung dar. Sein Recht auf Information wird durch eine entsprechende Pflicht also nicht beschränkt, sondern sogar „erweitert“63. Er kann ohne die bestehenden Beschränkungen (dazu oben II.1) auf einen sachverständigen Dritten zurückgreifen. Dies wird besonders deutlich an der großen Zahl der Entscheidungen64, in denen sich Gesellschafter das Recht erstritten haben, bei der Ausübung ihres Einsichts- und Prüfungsrechts einen Sachverständigen hinzuzuziehen, während die Gesellschaften jeweils umgekehrt das Interesse hatten, die Heranziehung eines erfahrenen Sachverständigen zu verhindern – eine aus der Sicht der Gesellschaften nur allzu verständliche Vorgehensweise, müssen sie doch nur so mit der Aufdeckung pflichtwidriger Vorgänge rechnen. Dabei wird offensichtlich als selbstverständlich angesehen, dass das Bestimmungsrecht für einen solchen hinzugezogenen Sachverständigen bei dem Gesellschafter liegt, der Einsichtnahme oder Prüfung begehrt65. Eine Belastung stellt die Pflicht zur Ausübung des Informationsrechts durch einen Dritten daher dagegen in den Fällen dar, in denen der Gesellschafter entweder das Informationsrecht zu gesellschaftsfremden Zwecken ausnut-
__________ 62 Vgl. dazu bereits ausführlich unter II. 2. Allein auf diesen begrenzten Einsatzbe-
reich sachverständiger Dritter kann sich eine gesellschaftsvertragliche oder statutarische Pflicht beziehen. 63 Der Inhalt des Informationsanspruchs wird freilich nicht erweitert. Erweitert werden vielmehr nur die praktischen Möglichkeiten, vom Recht auf Information umfänglich Gebrauch zu machen. 64 Vgl. u. a. Fn 16. 65 BGH, BB 1962, 899 (900); implizit wohl auch BGHZ 25, 115 (123); BGH, NJW 1995, 194 (196); vgl. auch Ulmer in Großkomm.HGB, § 118 Rz. 31; Enzinger in MünchKomm.HGB, § 118 Rz. 23 jeweils m. w. N.; zur Auswahl des Sachverständigen s. schon oben II.3. a. E.
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Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige
zen will oder er selbst über ausreichende Sachkunde verfügt. Für die Frage nach einem Eingriff in den Kernbereich kann die Ausübung des Einsichtsoder Prüfungsrechts in persona bei der Gefahr gesellschaftsschädlicher Ausnutzung der bei der Prüfung zu erlangenden Informationen freilich unberücksichtigt bleiben. In diesen Fällen ist dem Gesellschafter nämlich sein Recht auf Einsicht – und allgemein sein Informationsrecht – auch dann versagt, wenn der Gesellschaftsvertrag ein persönliches Einsichts- und Prüfungsrecht vorsieht (oben II.2). Von einem (subjektiven) Eingriff in den zwingenden Kernbereich des (außerordentlichen) Informationsrechts könnte daher nur im Falle eines Einsicht oder Prüfung begehrenden Gesellschafters die Rede sein, der über eigene Sachkunde verfügt. Wie aber gezeigt, führt der auf Verifikationsaufgaben beschränkte Einsatzbereich des Sachverständigen zu keiner inhaltlichen Beschränkung des Informationsbegehrens und damit des (außerordentlichen) Informationsrechts. Ein Eingriff jedenfalls in den zwingenden Kernbereich erfolgt somit nicht. Schließlich kommt noch eine weitere Funktion der Delegation des Prüfungsrechts auf Dritte hinzu. Eine solche Mediatisierung dient nämlich (auch) dazu, unmittelbare, persönliche Konflikte zwischen den Gesellschaftern anlässlich einer Prüfung zu vermeiden. Diese streitschlichtende Funktion einer Prüfung durch sachverständige Dritte führt damit auch zur Erhöhung der Prüfungsqualität, was sowohl der Gesellschaft als auch dem die Prüfung beantragenden Gesellschafter zugute kommt66. Dies spricht dafür, das Verbot, eine Prüfung selbst durchzuführen, auch im Fall eigener Sachkunde der Einsichtnahme oder Prüfung begehrenden Gesellschafter nicht als unzulässige Beschränkung, sondern als erlaubte Modifizierung des (außerordentlichen) Informationsrechts anzusehen. Es handelt sich mithin hier – von Ausnahmefällen abgesehen67 – nur um eine Festschreibung des Prüfungsverfahrens, die nicht zu einer inhaltlichen Beschränkung des zwingend festgelegten Prüfungsumfangs führt68.
__________ 66 Gerade vor dem Hintergrund, dass bei Information als Leistungsgegenstand der
Gläubiger die Vollständigkeit der Leistung nicht oder nur sehr schwer überprüfen kann, ist der Gesichtspunkt der Konfliktvermeidung von nicht unerheblicher Bedeutung. 67 Unzulässig könnte das Verbot persönlicher Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts (soweit es den zwingenden Umfang des Informationsrechts berührt) etwa bei Beteiligung eines Wirtschaftsprüfers oder Steuerberaters sein. Auch hier wird man aber im Regelfall wegen der immer vorhandenen streitschlichtenden Funktion des Verbots nur in Ausnahmefällen eine unzulässige Beschränkung des (außerordentlichen) Informationsrechts annehmen können, vor allem wenn die Regelungen bezüglich der Kostentragung bei Heranziehung eines Sachverständigen den unter V. aufgestellten Anforderungen entspricht. 68 Ähnlich für die Frage, ob im Rahmen von § 166 Abs. 3 HGB eine Schiedsgerichtsvereinbarung zulässig ist, durch die die gerichtliche Prüfung ersetzt wird: BayObLG, DB 1978, 2405 (KG); Baumbach/Hopt, HGB, § 166 Rz. 19; Schilling in Großkomm.HGB, § 166 Rz. 15.
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Heribert Hirte
Umgekehrt folgt aus dem Vorstehenden die grundsätzliche Unzulässigkeit einer zwingenden Delegation der unabdingbaren Informationsrechte für Informationsbegehren, die durch Einschaltung eines Sachverständigen als „Informationsschleuse“ nicht ohne Informationsverlust für den Gesellschafter befriedigt werden können. Namentlich ist dies der Fall bei Auskunftsund Aufklärungsverlangen, die – insbesondere auf der Grundlage spezifischer Insiderkenntnisse eines Gesellschafters – häufig erst den Boden bereiten für die Inanspruchnahme weiter gehender Informationsrechte. Auch hier kann sich – und insoweit bildet dies den Übergang zum folgenden Kapitel – aber eine Grenze dann ergeben, wenn wie typischerweise bei einer Publikumsgesellschaft die schiere Größe der Gesellschaft einer persönlichen Ausübung des Informationsrechts entgegensteht69; freilich wird dann, etwa durch vertragliche Statuierung eines (mindestens) den §§ 142 ff. AktG entsprechenden Verfahrens, ein Ausgleich geschaffen werden müssen.
IV. Querbezüge zum aktienrechtlichen Informationsrecht Das aktienrechtliche Informationsrecht des § 131 AktG war aus den bisherigen Überlegungen zunächst, vor allem in Bezug auf seinen zwingenden Charakter (§ 23 Abs. 5 AktG), bewusst ausgeklammert worden. Je stärker allerdings allgemeine Prinzipien des Informationsrechts entwickelt werden, desto stärker drängt sich auch die Frage auf, ob bzw. in welcher Weise diese Überlegungen auf das Aktienrecht übertragbar sind. Zuvor aber bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob und inwieweit der zwingende Charakter der aktienrechtlichen Regelung (§ 23 Abs. 5 AktG) solchen Überlegungen entgegensteht. Denn dies hindert – zumindest auf den ersten Blick – sowohl ein von der Kodifikation der §§ 131, 132 AktG abweichendes Informationsregime im Einzelfall wie auch (und erst recht) eine davon abweichende Satzungsgestaltung oder Regelung in der Geschäftsordnung der Hauptversammlung70. Dem hat der Verfasser freilich bezüglich der Möglichkeit der Satzungsgestaltung schon früher widersprochen: § 23 Abs. 5 AktG sei eine Art anlegerschützende Regelung (ähnlich § 307 BGB, dem früheren § 9 AGBG) und stehe deshalb vom Gesetz abweichenden Satzungsgestaltungen nicht entgegen, wenn sie die Rechte des Aktionärs erweiterten oder ihn – auch bei anderer technischer Ausgestaltung – in vergleichbarer Weise schützten71. Das bedarf hinsichtlich dieser Begründung hier keiner erneuten Vertiefung. Die Entwicklung der letzten Jahre hat diesen
__________
69 Angedeutet bei BGH, WM 1984, 807 (808) (stille Gesellschaft). 70 So aus jüngerer Zeit insbesondere Decher in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 131
Rz. 18 (bzgl. der Geschäftsordnung der Hauptversammlung Rz. 19). 71 Vgl. Hirte in Gestaltungsfreiheit im Gesellschaftsrecht, 11. ZGR-Symposion
„25 Jahre ZGR“, ZGR-Sonderheft 13, 1998, S. 61 (71 ff.); ders. (Fn. 2), Rz. 2.49; in dieselbe Richtung jetzt Kubis in MünchKomm.AktG, Bd. 4, 2. Aufl. 2004, § 131 Rz. 158 ff.; noch kritischer zu § 23 Abs. 5 AktG Spindler, AG 1998, 53.
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Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige
Ansatz aber insoweit weiter unterstützt, als insbesondere im Kapitalmarktrecht zahlreiche weitere Informationspflichten geschaffen wurden, die – und das ist entscheidend – zudem kontinuierlich erfüllt werden müssen72; das betrifft etwa die Mitteilungspflichten hinsichtlich der Änderung von Beteiligungsverhältnissen in den §§ 21 ff. WpHG, aber auch den Deutschen Corporate Governance Kodex (insbesondere mit seiner kontroversen Empfehlung zur individuellen Offenlegung der Vergütung von Organmitgliedern). Es ist schwer vorstellbar, dass Gesellschaften, die nicht börsennotiert sind und damit den genannten Regelungen nicht unterfallen, ein entsprechendes Informationsregime nicht qua Gesellschaftsrecht in ihrer Satzung sollen verankern dürfen. Sie werden daher auch – entsprechend dem GmbH-Recht – ein Auskunftsrecht außerhalb der Hauptversammlung in ihrer Satzung statuieren dürfen, vorausgesetzt freilich, die Aktionäre werden insoweit gleich behandelt (arg. § 131 Abs. 4 Satz 1 AktG)73. Ebenso dürfte es zulässig sein, das Auskunftsrecht satzungsmäßig auf ein Einsichts- und wohl auch ein Prüfungsrecht zu erweitern, wenn diese Rechte nach den vorstehend entwickelten Maßgaben durch Sachverständige auszuüben sind und damit den divergierenden Interessen von Aktionär und Gesellschaft Rechnung getragen wird. Dafür spricht letztlich auch, dass das Aktienrecht bei besonders schweren Eingriffen in die Rechte von Aktionären zwingend die Einschaltung von Sachverständigen zur Aufbereitung der den Aktionären zu gebenden Informationen vorschreibt (vgl. § 9 UmwG). Die vorstehenden Überlegungen haben aber vor allen Dingen deutlich gemacht, dass hinter den verschiedenen Wegen der Informationsgewährung (Auskunft – Einsicht – Prüfung) ein einheitliches Ziel steht, nämlich das Informationsinteresse des Gesellschafters zu befriedigen74. Es ist andererseits abzuwägen gegen das (berechtigte) Interesse der Gesellschaft, Informationen nicht herauszugeben oder durch die Erteilung von Informationen nicht unzumutbar ihren Geschäftsbetrieb gestört zu bekommen. Vor diesem Hintergrund mag die Beschränkung des Informationsrechts auf das Auskunftsrecht (unter Ausschluss von Einsichts- und Prüfungsrechten) zwar die typische Konfliktlage der großen (börsennotierten) Aktiengesellschaft reflektieren. Das lässt es zunächst – und zwar auch ohne Satzungsregelung – als zulässig erscheinen, wenn ein Aktionär, auch ohne einen Dritten zu bevollmächtigen75, einen Sachverständigen bei der Auskunftserteilung heranzieht. Weiter wird man dem Aktionär aber – wiederum auch ohne Satzungsrege-
__________ 72 Zur Aktualisierungspflicht beim DCGK Hirte, Das Transparenz- und Publizitäts-
gesetz, 2003, S. 18 f. 73 Hierzu im Übrigen Hirte (Fn. 2), Rz. 4.27; Kubis in MünchKomm.AktG, § 131
Rz. 158. 74 Gegen ein formales Stufenverhältnis der verschiedenen Informationsmittel G. Roth
(Fn. 9), S. 158 ff. 75 Zur Zulässigkeit der (verdrängenden) Bevollmächtigung Decher in Großkomm.
AktG, § 131 Rz. 87.
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Heribert Hirte
lung – einen Anspruch auf Einsicht und/oder Prüfung zugestehen können, wenn dieser dazu dient, die Richtigkeit einer erteilten Auskunft zu überprüfen (Verifikation)76. Spiegelbildlich wird die Gesellschaft eine solche Überprüfungsmöglichkeit anbieten dürfen, auch um damit dem Eindruck einer zu Unrecht verweigerten Information (mitsamt den daran anknüpfenden Rechtsfolgen) entgegentreten zu können. Vor allen Dingen hier wird die Zulässigkeit dieses Vorgehens durch die Möglichkeit beeinflusst, einen Sachverständigen als „Informationsschleuse“ einzusetzen und damit die Interessen der Gesellschaft zu wahren. Die aktienrechtliche Regelung über die Sonderprüfung in den §§ 142 ff. AktG steht einem solchen Vorgehen nicht entgegen: Denn dort geht es um die (primäre) Informationserlangung, hier (nur) um die Prüfung bereits erteilter Informationen; hinzu kommt, dass diese nach dem hier vertretenen Ansatz ebenfalls zumindest durch Satzungsregelung erweiterungsfähig ist.
V. Kostentragung bei Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts durch Sachverständige aufgrund gesellschaftsvertraglicher Bestimmung Die Frage der Kostentragung für einen mit der Einsichtnahme oder Prüfung beauftragten Sachverständigen ist bei einem gesellschaftsvertraglichen Verbot, das Einsichts- und Prüfungsrecht persönlich auszuüben, von entscheidender Bedeutung, will man eine – indirekte – Beschränkung des Informationsrechts durch die auf einen Einsicht oder Prüfung begehrenden Gesellschafter zukommende Kostenlast vermeiden. Die Gesellschaft ist daher nicht nur dann zur Tragung der mit der Heranziehung eines Sachverständigen verbundenen Kosten verpflichtet, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass seine Heranziehung, etwa wegen mangelhafter Buchführung77, objektiv gerechtfertigt war78. Vielmehr zieht das gesellschaftsvertragliche oder satzungsmäßige Verbot, das Einsichts- und Prüfungsrecht persönlich auszuüben, die Pflicht der Gesellschaft zur Tragung der für die Heranziehung eines Sachverständigen erforderlichen Kosten automatisch nach sich. Andernfalls wäre nämlich, soweit Informationsrechte zwingend garantiert sind, eine Beschränkung dieser Informationsrechte zwar noch nicht, wie oben (III.2) ausgeführt wurde, durch das Verbot persönlicher Ausübung von Einsichts- und Prüfungsrecht begründet, wohl aber durch die mit diesem Verbot verbundene Kostenlast,
__________ 76 In diese Richtung auch schon G. Roth (Fn. 9), S. 190. 77 Vgl. OLG München, BB 1954, 669 (stille Gesellschaft). 78 Baumbach/Hopt, HGB, § 118 Rz. 5; v. Gerkan in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB,
2. Aufl. 2001, § 118 Rz. 14; im Ergebnis ähnlich K. Schmidt in MünchKomm.HGB, § 233 Rz. 7: Erstattung durch die Gesellschaft nur unter Schadenersatzgesichtspunkten.
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Die Ausübung der Informationsrechte von Gesellschaftern durch Sachverständige
wenn ein Gesellschafter die Kosten des von ihm entsandten Sachverständigen selbst tragen muss79. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dem Gesellschafter durch das satzungsmäßige Verbot der persönlichen Ausübung des Einsichtsund Prüfungsrechts Kosten entstehen, die anderenfalls nicht entstanden wären.
VI. Zusammenfassung Durch den Einsatz Sachverständiger als „Informationsschleuse“ können in bestimmten Konstellationen informationsrechtliche Interessenkonflikte zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern geschlichtet werden. In Satzung oder Gesellschaftsvertrag kann vorgesehen werden, dass der Gesellschafter zur Wahrnehmung seines Einsichts- und Prüfungsrechts zur Hinzuziehung eines beruflich zur Verschwiegenheit verpflichteten Sachverständigen sowohl berechtigt als auch verpflichtet ist. Die Pflicht zur Ausübung des Informationsrechts in dieser Art und Weise stellt dann keinen Eingriff in den unentziehbaren Kernbereich des mitgliedschaftlichen Informationsrechts dar, wenn der Einsatz eines Sachverständigen lediglich zu Verifikationszwecken erfolgt. In diesen Fällen ist nämlich mit der bloß mittelbaren Wahrnehmung des Informationsrechtes kein – unrechtmäßiger – Informationsverlust verbunden. Geht es dagegen nicht um Verifikation bereits erlangter Information, sondern überhaupt erst einmal um Erlangung von Information, ist der Einsatz beruflich zur Verschwiegenheit verpflichteter Sachverständiger nicht geeignet, den Interessenkonflikt zwischen Gesellschaft und Gesellschafter zu lösen. Hier verbietet sich eine (allgemeine) Verpflichtung der Gesellschafter zum Unterlassen eigener Einsichtnahme und zur Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts durch einen sachverständigen Dritten. Bestehende Interessenkonflikte sind in diesen Fällen nach den allgemeinen Regeln zugunsten des einen oder anderen Interesses aufzulösen.
__________ 79 Anders in der Begründung BGH, BB 1970, 187 (BGB-Gesellschaft), wonach die Ge-
sellschaft die Kosten zu tragen hat, weil das Verbot persönlicher Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts eine Beschränkung des gesetzlichen Umfangs des Informationsrechts darstellt.
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Europäisches Gesellschaftsrecht – Der Aktionsplan und die ersten Durchführungsmaßnahmen* Inhaltsübersicht I. Überblick über den Aktionsplan der Europäischen Kommission vom 21.5.2003 1. Umfang und Reichweite der Maßnahmen 2. Corporate Governance und andere Maßnahmen 3. Kapitalerhaltung und Kapitaländerung 4. Unternehmensgruppen und Unternehmenspyramiden 5. Unternehmensumstrukturierung und Unternehmensmobilität 6. Die Europäische Privatgesellschaft und andere EU-Unternehmensrechtsformen
II. Die Maßnahmen des Aktionsplans zur Corporate Governance (2003– 2005, 2006–2008) 1. Überblick über die Maßnahmen 2. Der Entwurf einer Empfehlung der Europäischen Kommission über die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften 3. Die Empfehlung zu den Aufgaben der nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Aufsichtsratsmitglieder und den Ausschüssen des Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrats 4. Auswirkungen von Entscheidungen des Europäischen Gerichthofes auf die Corporate Governance
Die Europäische Kommission hat nach langen Jahren der Stagnation und nachgerade Krise des europäischen Gesellschaftsrechts1 am 21.5.2003 einen umfangreichen Aktionsplan über „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ vorgelegt2. Dieser Aktionsplan geht auf den zweiten Bericht der von der Kommission eingesetzten, siebenköpfigen High Level Group of Company Law Experts vom 4.11.20023 zurück, der der Verfasser als deutsches Mitglied
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* Der Beitrag ist Teil einer weiter ausgreifenden, aktualisierten, Volker Röhricht gewidmeten Abhandlung in ZIP 2005, 461 ff. 1 Zur Entwicklung statt vieler Hopt, ZGR 1992, 265; ders., ZIP 1998, 96; zuletzt Bayer, BB 2004, 1; Drygala, ZEuP 2004, 337; Habersack, NZG 2004, 1; Merkt, RIW 2004, 1 und vor allem Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004. Textsammlung mit Rechtsprechung in Hopt/Wymeersch (eds.), European Company and Financial Law, Texts and Leading Cases, 3d ed., Oxford 2004. 2 Europäische Kommission, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament, Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union – Aktionsplan, Brüssel, 21.5.2003, KOM (2003) 284 endg. (zit: Aktionsplan). Dazu Überblick van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484. 3 A Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe, Report of the High Level Group of Company Law Experts, European Commission, Brussels, 4 November 2002, 161 p. (zit. High Level Group Report II), auch abgedr. in Ferrarini/Hopt/
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Klaus J. Hopt
angehört hat. Die dort ausgesprochenen Empfehlungen sind weitestgehend in den Aktionsplan eingegangen. Die Idee eines Aktionsplans über Gesellschaftsrecht und Corporate Governance in Europa stammt von dem im Herbst 2004 verabschiedeten Kommissar Bolkestein, der damit ganz bewusst an den Erfolg des Financial Services Action Plan anschließen und den dort stürmisch in Richtung Europa treibenden Wind auch für das Aktienrecht und die Corporate Governance nutzen wollte4. Diese Rechnung ist offenbar voll aufgegangen. Der Aktionsplan hat wie schon der vorangegangene Bericht der High Level Group in allen Mitgliedstaaten breite Aufmerksamkeit erweckt, dort nationale Reformen beflügelt und die Kommission unter einen selbst gewählten Aktionszwang gesetzt. Zwei Empfehlungen zur Corporate Governance aus dem Aktionsprogramm sind am 6.10.2004 bereits mehr oder weniger finalisiert vorgelegt worden5, weitere Maßnahmen zur Corporate Governance6, zur Deregulierung der Vorschriften über Kapitalerhaltung und Kapitaländerung7 und zum Ausschluss- und Andienungsrecht (Squeeze-out und Sell-out)8 befinden sich in der Konsultationsphase oder bereits im Abstimmungsprozess. Im Folgenden gilt es, zunächst einen Überblick über den Aktionsplan zu geben (I.). Dann werden die zehn zur Corporate Governance geplanten Maßnahmen erläutert; dabei ist besonders auf die zwei Empfehlungen der Kommission über Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung und über unabhängige Aufsichtsratsmitglieder einzugehen (II. 1–3). Die neuesten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, die jedenfalls mittelbar auch für die Corporate Governance relevant sind, sind in der deutschen Literatur so breit wie nirgends sonst in der Europäischen Union diskutiert worden. Sie werden deshalb hier nur ganz kurz erwähnt (II. 4).
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Winter/Wymeersch (eds.), Reforming Company and Takeover Law in Europe, Oxford 2004, Annex 3, p. 925 et seq. Der erste Bericht hat maßgeblich die 13. Richtlinie über Übernahmeangebote beeinflusst, siehe Report on Issues Related to Takeover Bids, Report of the High Level Group of Company Law Experts, European Commission, Brussels, 10 January 2002, 96 p. (zit. High Level Group Report I), auch abgedr. in Ferrarini et al., idem, Annex 2, p. 825 et seq. Der Sammelband enthält zahlreiche Beiträge, die sich mit den beiden Reports befassen, und ist in gewisser Hinsicht ein erster Kommentar dazu. Näher Hopt, Kapitalmarktorientierte Gesellschaftsrechtsentwicklung in Europa – Zur Arbeit der High Level Group of Company Law Experts, in Nobel (Hrsg.), Internationales Gesellschaftsrecht einschließlich internationales Kapitalmarktrecht, Bern 2004, S. 73. Unten II. 2, 3. Unten II. 1 am Ende. Unten I. 3. Dazu FAZ Nr. 252 v. 28.10.2004, S. 14. Unten I. 5. Dazu FAZ Nr. 252 v. 28.10.2004, S. 14.
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Europäisches Gesellschaftsrecht
I. Überblick über den Aktionsplan der Europäischen Kommission vom 21.5.2003 1. Umfang und Reichweite der Maßnahmen Der Aktionsplan über Gesellschaftsrecht und Corporate Governance enthält, wie in seinem Anhang ausgewiesen, 24 Maßnahmen. Doch spricht eine Fußnote verräterisch davon, dass die in der Auflistung genannten Maßnahmen so weit wie möglich zusammengefasst werden, um eine zu große Zahl von Legislativinitiativen zu vermeiden9. Tatsächlich zeigt die Erläuterung des Aktionsplans selbst eine sehr viel differenziertere Palette von Maßnahmen auf, und wenn die Empfehlungen der High Level Group mitgelesen werden, ähnelt der Aktionsplan auch insoweit dem Financial Services Action Plan. Hinzu kommt die Ausdifferenzierung der einzelnen Maßnahmen in den jeweils vorzulegenden europäischen Rechtsakten. Anschauungsunterricht dazu geben die dürren Worte im Aktionsplan über die beabsichtigte „Stärkung der Rolle von unabhängigen nicht geschäftsführenden Direktoren und Aufsichtsräten“ und die diese umsetzende Empfehlung (im technischen Sinne des Art. 249 EG) vom 6.10.2004. Diese Empfehlung betrifft die Rolle von nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Mitgliedern des Aufsichtsrats sowie die Ausschüsse des Board bzw. Aufsichtsrats10 und umfasst eng gedruckte 21 Seiten. Anhang II der Empfehlung beschreibt das Profil von unabhängigen nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Mitgliedern des Aufsichtsrats und listet dazu nicht weniger als neun, umfänglich beschriebene Mindestkriterien für fehlende Unabhängigkeit auf. Bei buchstabengetreuer Umsetzung kämen diese Kriterien für die durch Konzerne und Mitbestimmung geprägte deutsche Aktienrechtspraxis einer Revolution gleich. Darauf ist zurückzukommen. Was die Regulierungsdichte angeht, muss man sich bei der Einschätzung des Aktionsplans und der Maßnahmen zur Corporate Governance aber auch klarmachen, dass damit für die nächsten 8–10 Jahre ein Gesamtpaket vorgestellt wird, das an die Stelle vielfältiger Richtlinienvorschläge und -überlegungen tritt. So ist beispielsweise jetzt endgültig klar, dass die Fünfte und die Neunte Richtlinie, also Strukturrichtlinie und Konzernrechtsrichtlinie11, nicht mehr kommen werden. Karel van Hulle, bis vor kurzem der dafür Zuständige in der Kommission, hat auf dem ZGR-Symposium im Januar 200412 zum ersten Mal ausdrücklich erklärt, dass die Fünfte Richtlinie „tot“ sei; bei der Neunten war das schon vorher abzusehen. Das ist ein doppelter Fortschritt: Zum einen wissen die Betroffenen (Mitgliedstaaten, Industrie, Aktio-
__________ 9 Aktionsplan (Fn. 2), Anhang 1, S. 28 Fn. 26. 10 Unten II. 3. 11 Diese wurde nie offiziell vorgeschlagen, es gab aber einen Entwurf vom Dezember
1984, über den sich der Aktionsplan (Fn. 2), sehr deutlich äußert, S. 22 Fn. 21. 12 ZGR 2004, Heft 3/4.
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Klaus J. Hopt
näre) jetzt, womit sie an Europäischem Gesellschaftsrecht und Corporate Governance zu rechnen haben, ein Gewinn an Rechtssicherheit. Zum anderen beschränkt sich der Aktionsplan auf die Kernpunkte, die im europäischen Binnenmarkt einheitlich sein sollten, und will das überwiegend durch Transparenzvorschriften, Rahmenrichtlinien und Empfehlungen regeln. Die Konzeption ist also ein europäisches Kerngesellschaftsrecht mit flexiblen Vorgaben und mit Vorrang von Information und Offenlegung. Diese Regelungsphilosophie geht auf die High Level Group zurück13. Sie entspricht nicht nur dem Subsidiaritätsprinzip, sondern auch der modernen ökonomischen Regulierungstheorie14. 2. Corporate Governance und andere Maßnahmen Der Aktionsplan listet eine stattliche Reihe von Maßnahmen auf, die die Kommission kurz-, mittel- und langfristig verwirklichen will, also 2003–2005, 2006–2008 und ab 200915. Diese Maßnahmen verteilen sich auf zwei große Maßnahmenbündel16: die Corporate Governance und die übrigen Maßnahmen. An erster Stelle, auch nach Inhalt und Umfang, steht für die Kommission offenbar die Corporate Governance mit zehn konkreten Maßnahmen, auf die noch einzugehen ist (unten II.). Die übrigen Maßnahmen betreffen Kapitalerhaltung und Kapitaländerung; Unternehmensgruppen und -pyramiden; Unternehmensumstrukturierung und -mobilität; und die Europäische Privatgesellschaft nebst der Europäischen Genossenschaft und anderen EURechtsformen für Unternehmen einschließlich verbesserter Offenlegung für nationale Unternehmensrechtsformen. 3. Kapitalerhaltung und Kapitaländerung Kapitalerhaltung und Kapitaländerung sind durch die Zweite Richtlinie von 1976 im Wesentlichen nach dem Muster des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts festgeschrieben. 1999 hat die so genannte SLIM-Gruppe unter der Leitung des Belgiers Eddy Wymeersch dazu eine Reihe von Vereinfachungen empfohlen17. Eine grundsätzlichere Überprüfung hat 2002 die High Level
__________ 13 High Level Group Report II, ch. II.3: Disclosure of Information as a Regulatory
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17
Tool; auch schon High Level Group Report I, ch. I.3: General Application of Guiding Principles, Duty to Disclose. Einführend m. w. N. Hopt, ZIP 1998, 96 (98 f.). S. dazu Anhang zum Aktionsplan (Fn. 2). Das wird nicht aus dem Anhang, sondern nur aus der Einteilung des Textes des Aktionsplans selbst ersichtlich, vgl. Aktionsplan (Fn. 2) unter Ziffer 3. Ein EUAktionsplan, dort unter Ziffer 3.1 mit vier Unterteilungen und Ziffer 3.2–3.7 ohne solche Unterteilungen. Auch der Umfang der beiden Maßnahmenbündel ist in etwa gleich. SLIM (Simpler Legislation for the Internal Market), 4.2.2000, Kom (2000) 56 endg.; dazu Drygala, AG 2001, 291 (292 f.). Zur 2. Richtlinie Grundmann (Fn. 1), § 10.
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Europäisches Gesellschaftsrecht
Group auf der Basis von ökonomischen Einwänden und rechtsvergleichenden Befunden aus den USA und Großbritannien gefordert18. Die Europäische Kommission hat sich in weiser Voraussicht des Widerstandes aus Deutschland auf ein vorsichtiges Dreistufenprogramm beschränkt: kurzfristig Umsetzung der SLIM-Empfehlungen, mittelfristig Studie über ein Alternativkonzept und langfristig je nach dem Ergebnis der Durchführbarkeitsstudie Umsetzung durch eine Änderungsrichtlinie. In England hat sich mittlerweile bereits eine umfangreiche Untersuchung aus der Londoner Praxis dezidiert für Änderung ausgesprochen19. In Deutschland ist das Bild gemischt. Zustimmung signalisieren Stimmen aus dem Kapitalmarkt- und Insolvenzrecht, der Rechtsvergleichung und der Ökonomie20. Dagegen gibt es Widerstand von Gesellschaftsrechtlern und -praktikern. Auch aus dem Steuerrecht gibt es skeptische Stimmen21. Ein eigener Arbeitskreis soll diesen Widerstand bündeln22. Das Thema rührt so stark an die deutsche Dogmatik und Rechtsprechung zum Kapitalgesellschaftsrecht, dass es für den Deutschen Juristentag 2006 als eigene Abteilung vorgesehen ist23. Aus europäischer Sicht geht es allerdings nicht darum, das bisherige System abzuschaffen, sondern es möglicherweise zu öffnen. Die entscheidende europäische Frage lautet dann: Gibt es gute Gründe, alle anderen Mitgliedstaaten auf dieses System festzulegen? 4. Unternehmensgruppen und Unternehmenspyramiden Bei den Unternehmensgruppen geht es um drei Reformmaßnahmen, von denen zwei auf das Forum Europaeum Konzernrecht und eine, die über Unternehmenspyramiden, wesentlich auf italienische Erfahrungen in der High Level Group zurückgehen. Zum einen sollen die Finanz- und andere Informationen über die Gruppenstruktur und gruppeninterne Beziehungen ver-
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18 High Level Group Report II, ch. IV: Capital Formation and Maintenance. Aus
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ökonomischer Sicht vor allem Enriques/Macey, Creditors versus Capital Formation: The Case Against the European Legal Capital Rules, 86 Cornell Law Review 1166 (2001). Rickford (ed.), Reforming Capital, Report of the Interdisciplinary Group on Capital Maintenance, European Business Law Review 2004, 919–1027. Zuvor z. B. Ferran, Legal Capital Rules and Modern Securities Markets – the Case for Reform, as Illustrated by the U.K. Equity Markets, in Hopt/Wymeersch (eds.), Capital Markets and Company Law, Oxford 2003, p. 115. Auch Bericht Micheler, ZGR 2004, 324. Z. B. Kübler, The Rules of Capital Under Pressure of the Securities Markets, in Hopt/Wymeersch (Fn. 19), p. 95; Mülbert/Birke, European Business Organization Law Review (2002) 3, 695; Hirte, ZInsO 2003, 833 (835); Merkt, ZGR 2004, 305. Editorial Schön, ZHR 166 (2001), 1. Angeregt und geleitet von Marcus Lutter, der sich um dieses Thema seit seiner Habilitationsschrift verdient gemacht hat. Vgl. Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, 1964. DJT Suttgart 19.–22.9.2006, Abteilung Wirtschaftsrecht „Reform des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes“.
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bessert werden. Die Siebte Richtlinie (ab 2005 die IAS/IFRS) regelt zwar die Konzernrechnungslegung, der gegenüber die Einzelabschlüsse in der Konzernpraxis zu Recht weitestgehend zurücktreten. Aber die Konzerneingebundenheit der Tochter und die daraus resultierenden Gefährdungen für ihre Minderheitsaktionäre und Gläubiger gehen aus dem jeweiligen Einzelabschluss nicht hinreichend hervor24. Zum anderen soll die Konzernleitung mittels einer abgestimmten Konzernpolitik erleichtert werden, sofern die Interessen der Minderheitsaktionäre und Gläubiger der Töchter gewahrt bleiben. Hintergrund ist, dass nach dem Gesellschaftsrecht verschiedener Mitgliedstaaten die Vorstände der Tochtergesellschaften ausschließlich deren Interessen verfolgen dürfen und sich sonst sogar strafbar machen. Die Einbindung in einen Konzern geschieht zwar in der Konzernpraxis auch dort, steht aber immer unter einem Damoklesschwert, das vor allem die mit den dortigen Gepflogenheiten nicht so vertrauten Ausländer abzuschrecken droht. Für den europäischen Binnenmarkt ist das ein Hindernis25. Bei Unternehmenspyramiden26 beherrscht ein Großaktionär die mehreren Stufen der Pyramide mit dem Einsatz von zum Teil deutlich weniger an Kapital als 51 %. Häufig bleibt das intransparent. Wenn eine Tochter- oder Enkelgesellschaft neben der Mutter börsennotiert ist, kann es nach den Erfahrungen in einigen Mitgliedstaaten zu Risiken für die Aktionäre der Töchter und auch der Mutter kommen. Besondere Maßnahmen gegenüber Unternehmenspyramiden wurden innerhalb der High Level Group und in den von dieser und später von der Kommission veranstalteten Konsultationen als problematisch bezeichnet, da sie nur einen Ausschnitt aus der Konzernproblematik insgesamt darstellten. Der Aktionsplan reagiert deshalb vorsichtig mit Offenlegung und mit dem Verbot nur von solchen Konzernteilnotierungen, die sich als missbräuchlich darstellen. Fälle, in denen der wirtschaftliche Wert der Börsenzulassung eindeutig nachgewiesen wird, sollen nicht darunter fallen.
__________ 24 Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672 (698 ff.); High Level Group Report
II, ch. V.2 Transparency of Group Structure and Relations; Hopt, Konzernrecht für Europa – Zur Diskussion um die Vorschläge des Forum Europaeum Konzernrecht –, in Basedow u. a. (Hrsg.), Aufbruch nach Europa, 75 Jahre Max-Planck-Institut für Privatrecht, 2000, S. 17 (23 f.). 25 Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672 (704 ff.); High Level Group Report II, ch. V.3 Problems for the Creation and Functioning of Groups of Companies; Hopt in 75 Jahre Max-Planck-Institut, S. 17 (24 ff.). 26 High Level Group Report II, ch.V.4 Pyramids. Näher Bianchi/Bianco/Enriques, Pyramidal Groups and the Separation Between Ownership and Control in Italy, in Barca/Becht (eds.), The Control of Corporate Europe, Oxford 2001, p. 154.
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5. Unternehmensumstrukturierung und Unternehmensmobilität Ziel ist hier die Erleichterung von grenzüberschreitenden Unternehmenszusammenschlüssen, von Sitzverlegungen von einem Mitgliedstaat in den anderen und weiteren Erleichterungen etwa bei der Verschmelzung und Spaltung von Aktiengesellschaften und beim Squeeze-out für die Mehrheitsaktionäre und dem Sell-out für die Minderheitsaktionäre, die beiden Letzteren unabhängig von einem vorangegangenen erfolgreichen Übernahmeangebot27. Damit wird die Diskussion um die Zehnte Richtlinie über grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse28, die Vierzehnte Richtlinie über die grenzüberschreitende Verlegung des Gesellschaftssitzes29 und die Einführung eines Squeeze-out und Sell-out zumindest für börsennotierte Gesellschaften ab einer gewissen Schwelle aufgenommen30. Der Streit um die deutsche quasiparitätische Mitbestimmung, der den Erlass der Zehnten und Vierzehnten Richtlinie jahrzehntelang blockiert hat, könnte nach Signalen aus Brüssel in absehbarer Zeit beigelegt werden. Hoffentlich geht die Lösung nicht wie bei der Europäischen Aktiengesellschaft dahin, dass sich einfach letztlich das mitbestimmungsfreundlichste Modell als Auffanglösung durchsetzt, sondern etwa bei der Zehnten Richtlinie grundsätzlich höchstens Drittelparität gilt und im Übrigen das Recht des Landes Anwendung findet, in dem das fusionierte Unternehmen seinen Sitz hat31. Bei der Europäischen Aktiengesellschaft hat sich bekanntlich die deutsche Regierung mit der nahezu völligen Sicherung des status quo der deutschen Mitbestimmung auch für die Bildung von SE unter deutscher Beteiligung durchgesetzt, allen Warnungen von ökonomischer und juristisch-internationaler Seite taub. Wie in der Sache verständlich und allenfalls in der Form ungewöhnlich, haben die Spitzenverbände der deutschen Industrie, der Ban-
__________ 27 Vgl. Art. 15 (Ausschluss von Minderheitsaktionären) und Art. 16 (Andienungs-
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recht) der 13. Richtlinie über Übernahmen v. 21.4.2004, Abl. EG L 142/12 v. 30.4.2004; diese gehen auf britisches Vorbild zurück, das diese Rechte mit öffentlichen Übernahmeangeboten verknüpft. Vorschlag einer (10.) Richtlinie über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, KOM(2003) 703 v. 18.11.2003. Dazu z. B. Maul/ Teichmann, BB 2003, 2633; Grundmann (Fn. 1), § 26. Vorentwurf einer 14. Richtlinie über die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat mit Wechsel des für die Gesellschaft maßgebenden Rechts v. 20.4.1997, abgedr. in ZIP 1997, 1721, ZGR 1999, 157. Dazu K. Schmidt, ZGR 1999, 20; Hoffmann, ZHR 164 (2000), 43; Frowein, Grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften – Sachrecht, Kollisionsrecht, Reform, 2001; Grundmann (Fn. 1), § 24; Leible, ZGR 2004, 563. Zum Squeeze-out rechtsdogmatisch, rechtsvergleichend und ökonomisch Rühland, Der Ausschluss von Minderheitsaktionären aus der Aktiengesellschaft (Squeezeout), 2004. Mitbestimmung wird nicht exportiert, EU-Partner sträuben sich gegen Berlins Versuch, bei Firmen-Fusionen das deutsche Modell durchzusetzen, Handelsblatt 1.–3.10.2004, Nr. 191, S. 6.
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ken, des Handels und der Versicherungswirtschaft in einer gemeinsamen Stellungnahme erklärt, die Europa AG komme für deutsche Firmen (auch) aus diesem Grund nicht in Betracht. 6. Die Europäische Privatgesellschaft und andere EU-Unternehmensrechtsformen Die Diskussion um die Europäische Privatgesellschaft ist in Deutschland durch die Vorarbeiten, die von der Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Pariser Chambre de Commerce (dort CREDA) geleistet worden sind32, bekannt. Diese neue europäische Gesellschaftsform wäre eine Art Europäische GmbH, nachdem die Europäische Aktiengesellschaft seit 8.10.2004 (vorbehaltlich der nationalen Umsetzungsgesetze)33 zur Verfügung steht. Stimmen aus der französischen und deutschen Praxis, auch schon in den Konsultationen der High Level Group und der Europäischen Kommission, befürworten eine solche europäische Rechtsform. Die High Level Group hat sich nur deshalb nicht prioritär für sie ausgesprochen, weil die Ausarbeitung eines Statuts für sie nach den Erfahrungen mit der Europäischen Aktiengesellschaft in der Kommission selbst und im politischen Prozess der Normierung ganz erhebliche Kräfte binden wird, die an anderer Stelle des Aktionsplans dringender gebraucht werden34. Die Kommission will dazu erst noch eine Durchführbarkeitsstudie in Auftrag geben und dann je nach deren Ergebnis mittelfristig entscheiden. Das Statut über die Europäische Genossenschaft liegt vor35. Die Vorschläge für ein Statut des Europäischen Vereins36 und der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaften37 wurden bei der Konsultation überwiegend als nützlich bezeichnet. Die Kommission will daran kurzfristig weiterarbeiten. Den Be-
__________ 32 Boucourechliev/Hommelhoff (Hrsg.), Vorschläge für eine Europäische Privatgesell-
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schaft, 1999; Bachmann, ZGR 2001, 351; Ehricke, RabelsZ 64 (2000), 497; Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001; auch Krause, EuZW 2003, 747 (750 f.). Dazu demnächst das SEEG. High Level Group Report II, Ch. IX: medium term. Verordnung (EG) über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE, Societas Cooperativa Europaea) Abl. EG Nr. L 207/1 v. 18.8.2003; Richtlinie zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, Abl. EG Nr. L 207/25 v. 18.8.2003. Näher Schulze, Europäische Genossenschaft (SEC), 2004; ders., NZG 2004, 792. Geänderter Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut des Europäischen Vereins v. 6.7.1993, KOM(93) 252 endg., Abl. EG C 236/1 v. 31.8.1993; Vorschlag einer Mitbestimmungs-Ergänzungsrichtlinie v. 6.7.1993, KOM(93) 252 endg., Abl. EG C 236/14 v. 31.8.1993. Dazu Wagner, Der Europäische Verein, 2000. Geänderter Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft v. 6.7.1993, KOM(93) 242 endg., Abl. EG C 236/40 v. 31.8.1993; Europäische Kommission, Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem erweiterten Europa, Konsultationsdokument, 3.10.2003.
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darf an anderen EU-Rechtsformen, insbesondere an einer Europäischen Stiftung38, will sie mittelfristig prüfen. Die Ergebnisse der von der BertelsmannStiftung und befreundeten ausländischen Stiftungen geförderten Untersuchung über „Die Europäische Stiftung“ gehen eindeutig dahin, dass ein solcher Bedarf besteht und auch vernünftig befriedigt werden kann. Ein dementsprechender Vorschlag wird demnächst veröffentlicht39. Schließlich denkt die Kommission an elementare Offenlegungsvorschriften für alle juristischen Personen mit beschränkter Haftung, auch solche ohne Gewinnerzielungsabsicht, allerdings erst nach weiterer Untersuchung. Das hatte die High Level Group im Interesse des Verkehrsschutzes vorgeschlagen40.
II. Die Maßnahmen des Aktionsplans zur Corporate Governance (2003–2005, 2006–2008) 1. Überblick über die Maßnahmen Corporate Governance ist ein Begriff, den es in der deutschen Aktienrechtsdiskussion vor zehn Jahren noch gar nicht gab41. Mittlerweile ist er jedenfalls mittelbar gesetzlich anerkannt, nämlich in § 161 AktG, der seit 2002 vorschreibt, dass Vorstand und Aufsichtsrat der börsennotierten Gesellschaft jährlich erklären müssen, dass den Empfehlungen der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex „entsprochen wurde oder wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet werden“, eine Formulierung, deren rechtliche Tragweite hoch streitig ist42. In Europa stammt die Code of Conduct-Bewegung aus England, wo 1992 das Committee on the Financial Aspects of Corporate Governance den nach seinem Chairman benannten Cadbury-Report vorgelegt hat. Die erste große, internationale und interdisziplinäre Konferenz zur Comparative Corporate Governance fand am Ham-
__________ 38 Zur Idee einer Europäischen Stiftung Hopt, Stiftungsrecht in Europa?, in Kötz/
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42
Rawert/K. Schmidt (Hrsg.), Bürgersinn – Stiftungssinn – Gemeinsinn, 2001, S. 35; ders., Stiftungsrecht in Europa, Festvortrag zur 58. Jahrestagung, in Bundesverband Deutscher Stiftungen (Hrsg.), Stiftungen in der Wissensgesellschaft, 2003, S. 417; von Hippel, Zeitschrift für Stiftungsrecht (ZSt) 2004, 120. Hopt/Walz/von Hippel/Then (Hrsg.), The European Foundation – A New Legal Instrument (im Druck). High Level Group Report II, ch. VIII.2: General Rules for Enterprises (Transparenz für alle juristische Personen mit Haftungsbeschränkung). Zur Entwicklung Frentrop, A History of Corporate Governance 1602–2002, Brussels et al. 2003; Hopt, Corporate Governance: Aufsichtsrat oder Markt? – Überlegungen zu einem internationalen und interdisziplinären Thema, in Hommelhoff/ Rowedder/Ulmer (Hrsg.), Max Hachenburg, Dritte Gedächtnisvorlesung 1998, 2000, S. 9. Ulmer, ZHR 166 (2002), 150 (166 ff.); Seibt, AG 2002, 249 (253 ff.); Hopt, Unternehmensführung, Unternehmenskontrolle, Modernisierung des Aktienrechts – Zum Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, in Hommelhoff/ Lutter/K. Schmidt/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance, 2002, S. 27 (55 ff.).
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burger Max-Planck-Institut 1997 statt und hat ihren Niederschlag in einem 1998 bei Oxford University Press veröffentlichten Band gefunden43. Der Aktionsplan sieht auf dem Gebiet der Corporate Governance zehn Maßnahmen vor, sechs kurzfristige und vier mittelfristige. Die kurzfristig 2003– 2005 geplanten Maßnahmen betreffen: – – – – – –
Mehr Offenlegung über Vorstand und Aufsichtsrat (Änderungsrichtlinie) Erleichterte Information und Beschlussfassung der Aktionäre (Richtlinie) Unabhängige nicht geschäftsführende Aufsichtsräte (Empfehlung) Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat (Empfehlung) Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat für den Jahresabschluss (Änderungsrichtlinie) Europäisches Corporate Governance-Forum (Kommissionsinitiative).
Die mittelfristig 2006–2008 geplanten Maßnahmen beinhalten: – – – –
Offenlegung von Anlage- und Abstimmungsstrategien institutioneller Anleger (Richtlinie) Wahl zwischen dem dualistischen und monistischen System (Richtlinie) Sonderprüfung, Insolvenzverschleppungshaftung, Tätigkeitsverbote (Richtlinie) Untersuchung zur Aktionärsdemokratie: ein Anteil/eine Stimme (Studie).
Das ist ein ganzes Bündel von Corporate Governance-Maßnahmen, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden können. Zu verweisen ist insoweit auf den Aktionsplan selbst, die Begründung im Bericht der High Level Group und eine ausführliche Abhandlung dazu44. Seit dem Aktionsplan vom Mai 2003 hat sich die Kommission jedoch plangemäß an die Umsetzungsarbeiten gemacht. Mittlerweile liegen zwei mehr oder weniger finalisierte Empfehlungen der Kommission vom 6.10.2004 vor, auf die näher einzugehen ist: die eine über die Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Gesellschaften (dazu unten II. 2), die andere zu den nicht geschäftsführenden Direktoren- bzw. Aufsichtsratsmitgliedern sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrats (unten II. 3). Außerdem sei erwähnt, dass sich bereits zwei weitere Maßnahmen im Konsultationsstadium befinden.
__________
43 Hopt/Kanda/Roe/Wymeersch/Prigge (eds.), Comparative Corporate Governance,
The State of the Art and Emerging Research, Oxford 1998; auch McCahery/ Moerland/Raaijmakers/Renneboog (eds.), Corporate Governance Regimes – Convergence and Diversity, Oxford 2002. 44 Aktionsplan (Fn. 2) unter Ziffer 3.1 (S. 12–20); High Level Group Report II, ch. III, p. 43–77; Hopt, Modern Company and Capital Market Problems: Improving European Corporate Governance After Enron, Journal of Corporate Law Studies (Cambridge/UK) 3 (2003), 221–268. Einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung in der Mitgliedstaaten der EU findet sich in dem Bericht der Mitglieder der High Level Group für die European Corporate Governance Conference am 18.10.2004 in Den Haag: European Corporate Governance in Company Law and Codes.
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Die eine betrifft die Verantwortlichkeit der Direktoren und die Verbesserung von finanziellen Informationen (im Konzern) sowie die Corporate Governance-Erklärung. Die andere zielt auf die Stärkung der Rechte der Aktionäre ab. Beide sollen zu Richtlinien führen, ihr genauer Inhalt ist derzeit noch nicht abzusehen. 2. Der Entwurf einer Empfehlung der Europäischen Kommission über die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften Der Aktionsplan sieht die „Förderung eines angemessenen Systems für die Vergütung von Direktoren“ in der Rechtsform einer Empfehlung vor. Der Entwurf einer solchen Empfehlung vom 6.10.2004 beschränkt sich auf börsennotierte Gesellschaften. Das allgemeine Konzept der Vergütung soll offengelegt werden (so genannte Vergütungserklärung, Ziffer 3). Die Hauptversammlung soll darüber beraten und Beschluss fassen (Ziffer 4). Die Bezüge der einzelnen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder sollen individualisiert offen gelegt werden (Ziffer 5) und Vergütungen in Form von Aktien, Aktienoptionen oder in Abhängigkeit vom Aktienkurs sollen von der Hauptversammlung beschlossen werden (Ziffer 6). Was auf den ersten Blick sehr weitgehend zu sein erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als maßvoll. So ist bei der Offenlegung des allgemeinen Konzepts der Vergütung zu beachten, dass das nicht unbedingt im Jahresabschluss oder Anhang zu diesem geschehen muss, sondern in einem eigenständigen Vergütungsbericht erfolgen kann. Wäre das nicht so, müssten die Erklärungen vom Abschlussprüfer voll mitgeprüft werden, was von Unternehmen und Wirtschaftsprüfern als belastend abgelehnt wird. Bei dem Beschluss der Hauptversammlung ist der entscheidende Punkt, dass er auch bloß beratend sein kann (Ziffer 4.2). Das entspricht der englischen Regelung, die der High Level Group als Vorbild gedient hat. Was die individuelle Offenlegung angeht, müssen die Mitgliedstaaten auch diesbezüglich nur geeignete Maßnahmen treffen, dass die Unternehmen die Empfehlung befolgen (Ziffer 1.1). Das braucht wohl nicht unbedingt gesetzlich zwingend vorgeschrieben zu werden, sondern kann auch über bloße Kodex-Regelungen erfolgen. Das steht allerdings nicht ausdrücklich im Empfehlungstext, insoweit anders als im Entwurf einer Empfehlung zu nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Aufsichtsratsmitgliedern. Hinsichtlich der aktienkursorientierten Vergütung ist für Deutschland neu, dass die Hauptversammlung nicht bloß über Aktienrückkäufe und Aktienoptionen beschließen muss, sondern allgemeiner über aktienkursabhängige Vergütungen. Damit dürfte auch bloßer phantom stock erfasst sein. Interessant ist, dass die Empfehlung, was die Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern angeht, nicht so weit geht wie die (umstrittene) Mobilcom-Entschei245
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dung des Bundesgerichtshofes vom 16.2.200445. Leicht übersehen wird dabei allerdings die Empfehlung zu unabhängigen Board- bzw. Aufsichtsratsmitgliedern. Nach deren Anhang II gilt ein Aufsichtsratsmitglied als nicht unabhängig, wenn es von der Gesellschaft zusätzliche Vergütungen in bedeutendem Umfang erhält. Darunter sollen insbesondere auch stock options und andere erfolgsbezogene Vergütungen fallen46. 3. Die Empfehlung zu den Aufgaben der nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Aufsichtsratsmitglieder und den Ausschüssen des Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrats Der Aktionsplan sieht die „Stärkung der Rolle von unabhängigen nicht geschäftsführenden Direktoren und Aufsichtsräten“ durch eine Empfehlung vor. Betroffen sind also nicht die Vorstandsmitglieder allgemein, sondern die non-executive directors im unitary board bzw. die Aufsichtsratsmitglieder im zweistufigen System. Der Entwurf der Empfehlung ebenfalls vom 6.10.2004 betrifft nur börsennotierte Gesellschaften. Er lässt, wie schon gesagt, die Umsetzung durch eine Kodexregelung, also comply or explain, ausdrücklich zu (Ziffer 1.1). Die empfohlenen Einzelregelungen sind sehr flexibel. Das gilt für die Zahl von Aufsichtsratsmitgliedern absolut und im Verhältnis zur Zahl der Vorstandsmitglieder (Ziffer 3.1, 4), für die Einrichtung, Zusammensetzung und Aufgaben der drei Kernausschüsse (nomination, remuneration and audit, Ziffern 5–7), für die Selbst- oder Fremdevaluation des Aufsichtsrats (Ziffer 8) und für das Profil der Aufsichtsratsmitglieder. Zu diesem Profil gehören Regeln über die Bestellung und den Widerruf (Ziffer 10), die Qualifikation und Mandatszahl (Ziffern 11, 12) und die Unabhängigkeit (Ziffer 13). Wichtig ist für Deutschland besonders Folgendes: Zum einen wird als Normalfall empfohlen, dass der ausscheidende Vorstandsvorsitzende nicht unmittelbar Aufsichtsratsvorsitzender wird (Ziffer 3.2). Davon kann zwar abgewichen werden, aber das sollte begleitet sein von Informationen über die getroffenen Schutzvorkehrungen. Das ist gar nicht so einfach darzustellen und wird die bisherige Praxis in Deutschland in Bedrängnis bringen. Sodann sind als Norm drei Ausschüsse mit den Kernaufgaben Nominierung, Vergütung und Rechnungslegung vorgesehen. Auch hiervon kann abgewichen werden, insbesondere bei kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) bzw. wenn der Aufsichtsrat zahlenmäßig klein ist (Ziffer 7.2). Auf jeden Fall muss aber die ordentliche Erfüllung dieser drei Kernaufgaben gewährleistet sein (Ziffer 7.1 Satz 1). Einzelheiten sind offen zu legen (Ziffer 9). Wichtig ist, dass die Ausschüsse nicht, wie teilweise im one-tier-System vorgesehen, an
__________ 45 BGH, ZIP 2004, 613; dazu z. B. Habersack, ZGR 2004, 721; Vetter, AG 2004, 234. 46 Empfehlung über Aufsichtsratsmitglieder und Ausschüsse, 6.10.2004, Anhang II
Ziffer 1.(c).
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die Stelle des board bzw. hier des Aufsichtsratsplenums treten, sondern nur durch Vorbereitung und Empfehlungen dessen Arbeit erleichtern sollen (Ziffer 6.1). Besondere Aufmerksamkeit verdienen zum anderen die Unabhängigkeitsregeln, weil nach dem Entwurf die Mehrheit in den drei wichtigen Kernausschüssen unabhängig sein soll47. Die Abwiegelung in der deutschen Öffentlichkeit – die deutsche Lobby habe in Brüssel erreicht, was sie wollte – ist unbegründet und nachgerade gefährlich. Sie verkennt die Regulierungslogik der Europäischen Kommission. Schon der beruhigende Hinweis, es handele sich doch um eine bloße Empfehlung, ist ein grobes Missverständnis. Natürlich sind europäische Empfehlungen nicht bindend, aber wenn sie nicht befolgt werden, droht auf Dauer eine Richtlinie. Die Kommission praktiziert insoweit seit vielen Jahren eine Art Salamitaktik. In ähnliche Richtung drängt die aufgeregte Diskussion in Deutschland über die Nichteinhaltung der Kodexempfehlung über die individuelle Offenlegung von Vergütungen. Sodann wird darauf hingewiesen, es sei ja der Aufsichtsrat selbst, der letztlich darüber entscheidet, was Unabhängigkeit ist (Ziffer 13.2 Satz 2). Aber das gilt nur „grundsätzlich“. Der Aufsichtsrat kann, so heißt es anschließend, einen Kandidaten auch dann für nicht unabhängig erklären, wenn er an sich die vorgeschriebenen Kriterien für die Unabhängigkeit erfüllt (und umgekehrt). Ob und warum eine Person als unabhängig angesehen wird, ist im Einzelnen offen zu legen und die betreffenden Aufsichtsratsmitglieder sollen der Gesellschaft ihre Unabhängigkeit regelmäßig bestätigen (näher Ziffer 13.3–5). Vor allem aber muss man sich die Definition von Unabhängigkeit genau ansehen (Ziffer 13.1): „Ein Mitglied der Unternehmensleitung gilt als unabhängig, wenn es in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu der Gesellschaft, ihrem Mehrheitsaktionär oder deren Geschäftsführung steht, die einen Interessenkonflikt begründet, der sein Urteilsvermögen beeinflussen könnte.“ Das geht weit über das hinaus, was in Deutschland gilt. Anhang II zur Richtlinie enthält eine zweiseitige Liste, die als Leitlinien „zusätzliche Hinweise für die Auslegung der in der Empfehlung niedergelegten Grundsätze“ (vor Anhang I) geben soll. Darin werden unter anderem folgende Situationen bzw. Kriterien aufgeführt, die „normalerweise“ gegen Unabhängigkeit sprechen: – –
Vorstandsmitglieder in Mutter oder Tochter innerhalb der letzten fünf Jahre; Mitarbeiter innerhalb der letzten drei Jahre, außer im Rahmen der Mitbestimmung und auch dann nicht bei leitenden Angestellten;
__________ 47 Empfehlung über Aufsichtsratsmitglieder und Ausschüsse, 6.10.2004, Anhang I
Ziffer 2.1.2 Satz 1 (Nominierungsausschuss), 3.1.2 Satz 2 (Vergütungsausschuss), 4.1 Satz 2 (Prüfungsausschuss). Dazu kritisch Habersack, ZHR 168 (2004), 373.
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– – –
– – – –
umfangmäßig bedeutende zusätzliche Vergütungen von Mutter oder Töchtern, insbesondere über stock options; Repräsentanten der Mutter; umfangmäßig bedeutendes Geschäftsverhältnis mit Mutter oder Tochter, und zwar direkt oder als Partner, Anteilseigner, Direktor oder leitender Angestellter eines Unternehmens oder einer Organisation mit einem solchen Geschäftsverhältnis; interlocking directorates; Abschlussprüfer oder dessen Partner oder Angestellter innerhalb der letzten drei Jahre; Aufsichtsratsmitglied seit drei Wahlperioden sowie enge Familienangehörige.
In Industrie und Wirtschaftspresse ist es als Erfolg gefeiert worden, dass diese Liste nur im Anhang steht und bloße zusätzliche guidance gebe. Indessen weiß man offenbar nicht, was in der englischen Börsen- und Aufsichtspraxis „guidance“ bedeutet. Auf den Punkt gebracht: Die Empfehlungen zur Unabhängigkeit basieren auf angloamerikanischen Vorstellungen und schreiben diese zumindest als Leitbild fest. Wenn Deutschland davon abweicht, ist das gewiss keine Vertragsverletzung, aber die Empfehlung wird dann der Sache nach nicht befolgt (die Engländer sprechen insoweit vom spirit der rules, die Franzosen und Belgier von déontologie). Vor allem aber gelten dann deutsche Aufsichtsräte international eben als nicht bzw. nicht hinreichend unabhängig und als für angloamerikanische und vielleicht andere europäische Börsen nicht akzeptabel. Das sollte Konsequenzen für die Diskussion um die deutsche Mitbestimmung haben. 4. Auswirkungen von Entscheidungen des Europäischen Gerichthofes auf die Corporate Governance An sich wären zur europäischen Corporate Governance-Diskussion noch die jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Centros48, Überseering49 und Inspire Art50 und zur steuerrechtlichen Behandlung des Wegzugs Hughes de Lasteyrie du Saillant51 zu nennen, die der deutschen Sitztheorie jedenfalls innerhalb der Europäischen Union den Garaus gemacht haben. Die strittigste Frage dazu ist derzeit, ob das auch für die deutsche Mitbestimmung im Aufsichtsrat gilt, also ob nach Europarecht auslän-
__________ 48 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999, I-1459. 49 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 (Überseering), ZIP 2002, 2037. 50 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art), ZIP 2003, 1885. Jüngste Überblicke
bei Bayer, BB 2003, 2357 und AG 2004, 534; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159; Götz, Der Konzern 2004, 449; Kieninger, ZEuP 2004, 685; Ulmer, NJW 2004, 1201. 51 EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02, ZIP 2004, 662; dazu Franz, EuZW 2004, 270; Kraft/Müller, RIW 2004, 366.
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dische Gesellschaften ihren Sitz nach Deutschland verlegen können, ohne mitbestimmungspflichtig zu werden52. Aufmerksamkeit verdienten auch die verschiedenen golden share-Urteile53. Denn die Kommission hat noch vor ihrem Amtsende nach langem Zögern nunmehr doch Klage gegen Deutschland wegen des Volkwagengesetzes erhoben – böse Zungen sagen: als Abschiedsgeschenk an Kommissar Bolkestein und Revanche für die deutsche Schaukelpolitik54 in Sachen Übernahmerichtlinie. Ob das Volkswagengesetz der Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof standhalten wird, ist durchaus offen, aber von Prestigefragen abgesehen für Deutschland auch nicht wichtig. Viel interessanter ist dabei die weit grundsätzlichere Frage, ob auch privatrechtliche Abschottungsmaßnahmen die Freiheiten des EG-Vertrags beeinträchtigen können55. Das wäre europarechtlich noch bedeutsamer als in Deutschland die Drittwirkung der Grundrechte.
__________ 52 Bejahend dazu die ü.L., z. B. Veit/Wichert, AG 2004, 14 (Mitbestimmung), m. w. N
dazu, selbst jedoch das zwingende Allgemeininteresse bejahend Bayer, AG 2004, 534 (Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung), ebenso Thüsing, ZIP 2004, 381. Aber oben I. 3. 53 EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-367/98, C-483/99 und C-503/99, ZIP 2002, 1085 (1090); EuGH v. 13.5.2003 – Rs. C-463/00 und C-98/01, ZIP 2003, 991 (995). Dazu unter vielen Bayer, BB 2002, 2289; Grundmann/Möslein, BKR 2002, 758; dies., ZGR 2003, 317; dies., ZVerglRWiss 102 (2003), 289. 54 Ausführliche Kritik bei Hopt, La treizième directive sur les OPA/OPE et le droit allemand, Mélanges en l’honneur de Yves Guyon, Paris 2003, p. 529. 55 Sehr str., befürwortend Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 (330 ff., 365): Ausstrahlwirkung ins allgemeine Gesellschaftsrecht; ausführlich Kainer, Unternehmensübernahmen im Binnenmarktrecht, Zugleich ein Beitrag zur Privatrechtswirkung der Grundfreiheiten, 2004; vgl. schon Hopt, ZHR 161 (1997), 368 (414 ff.).
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Der herrschende Aktionär – Adressat eines ungeschriebenen Wettbewerbsverbots? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundlagen 1. Gesetzliche Ausgangsbasis 2. Die Heumann/Ogilvy-Entscheidung a) Sachverhalt b) Ergebnis und Begründung 3. Zum Stand der Diskussion a) Mehrheitsgesellschafter einer GmbH b) Problematik des Wettbewerbsverbots im Aktienrecht III. Unvereinbarkeit eines Wettbewerbsverbots zu Lasten des (herrschenden) Aktionärs mit der aktien- und konzernrechtlichen Gesetzeskonzeption 1. Vorüberlegung 2. Konzernoffenheit der AG a) Funktionslosigkeit eines Wettbewerbsverbots b) Kein Wettbewerbsverbot kraft mitgliedschaftlicher Treupflicht c) Kein Wettbewerbsverbot kraft gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung d) Konkurrenz als Steigerung der abhängigkeitsbedingten Gefährdungslage? 3. Die Regelung des Pflichtangebots im WpÜG 4. Rückschluss aus § 55 AktG 5. Zwischenergebnis zu III. IV. Weisungsfreiheit des Vorstands im faktischen Aktienkonzern
1. Vorüberlegung 2. Die tatsächliche Vermutung faktischer Geschäftsführung im Heumann/Ogilvy-Urteil 3. Eigenverantwortliche Leitung der abhängigen Aktiengesellschaft 4. Keine tatsächliche Vermutung faktischer Geschäftsführung allein wegen konzernrechtlicher Beherrschungsmittel 5. Zwischenergebnis zu IV. V. Annex: Die Heumann/Ogilvy-Doktrin als unkritische Verallgemeinerung eines auf Mitunternehmer zugeschnittenen Gefährdungstatbestands 1. Vorüberlegung 2. Verhältnis des Wettbewerbsverbots zur mitgliedschaftlichen Treupflicht a) Zum Diskussionsstand b) Die beiden Treupflichtkonzeptionen c) Das Wettbewerbsverbot als Schutz vor vertrauensgefährdenden Konfliktlagen 3. Kein Gefährdungstatbestand bei bloßer Einwirkungskontrolle 4. Grenzen für die analoge Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB a) Keine Regelungslücke b) Keine Planwidrigkeit c) Folgerungen für die Bewertung des Heumann/Ogilvy-Urteils 5. Zwischenergebnis zu V. VI. Schlussbemerkung
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I. Einleitung Mit Wettbewerbsverboten gegen Gesellschafter ist der Gesetzgeber in § 112 Abs. 1 HGB und § 284 AktG vorsichtig umgegangen. Das hat jedoch nicht verhindern können, dass solche Verbote im Anschluss an das Heumann/ Ogilvy-Urteil des II. Zivilsenats1 weit über den Gesetzeswortlaut hinaus angenommen oder wenigstens erwogen werden. Sie sollen sich auch auf Kapitalgesellschaften erstrecken und nach einer Mindermeinung sogar gegen den mehrheitlich (§ 16 AktG) beteiligten Aktionär richten; insoweit soll das Verbot einen Konzerneingangsschutz bewirken2. Gemeint ist der Fall, dass der Aktionär, der schon über eine Mehrheitsbeteiligung verfügt, durch den Wettbewerb nachträglich die Unternehmenseigenschaft erwirbt, ohne für seine anderweitige Betätigung eines zustimmenden Beschlusses der Hauptversammlung zu bedürfen (extern verursachte Abhängigkeitslage)3. Der Umkehrfall, dass der Wettbewerb dem Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung vorausgeht, sollte aus einer seriösen Diskussion ungeschriebener Wettbewerbsverbote von vornherein ausscheiden. Der Beitrag gilt der Frage, ob der Mehrheitsaktionär von Rechts wegen einem ungeschriebenen Wettbewerbsverbot unterliegt, wie das ein Teil des Schrifttums für richtig hält. Er wird diese Frage verneinen und sieht sich in dieser Beurteilung durch den aktuellen Beitrag von Volker Röhricht bestätigt, der einer Konzerneingangskontrolle kraft mitgliedschaftlicher Treubindung grundsätzlich ablehnend gegenübersteht4 und damit auch dem angeblichen Wettbewerbsverbot als dem Medium einer solchen Kontrolle eine prinzipielle Absage erteilen muss. Die Bestätigung ist auch Ermutigung, die Festschrift für Volker Röhricht als das geeignete Diskussionsforum anzusehen, obwohl die Untersuchung des Wettbewerbsverbots auch einige kritische Anmerkungen zum Heumann/Ogilvy-Urteil nach sich ziehen muss. In Kürze zu rekapitulieren ist zunächst der bisherige „Stand der Dinge“ (II.). Sodann ist darzustellen, dass das Wettbewerbsverbot jedenfalls im Aktienrecht keinen Platz hat (III. und IV.). Auf dieser Grundlage ergeben sich die schon angesprochenen kritischen Anmerkungen zur – freilich auch schon rund 20 Jahre zurückliegenden – Entscheidung des II. Zivilsenats (V.).
__________ BGHZ 89, 162 = NJW 1984, 1351; vgl. noch II. 2; dazu Rezension: Wiedemann/ Hirte, ZGR 1986, 163. 2 Vgl. zum Meinungsstand II. 3. 3 S. dazu vor allem Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Bd. 3, 8. Aufl. 1994, Anh. § 77 Rz. 58 ff.; ferner Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 3. Aufl. 2003, Vor § 311 AktG Rz. 6; Henze, BB 1996, 489 (497) nach Fn. 96 und bei Fn. 101. 4 Röhricht in Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 513 (531). 1
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II. Grundlagen 1. Gesetzliche Ausgangsbasis Ein gesellschaftsrechtliches Wettbewerbsverbot gibt es nach §§ 112 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB, § 284 AktG nur für die Gesellschafter einer OHG und für die Komplementäre einer KG bzw. einer KGaA. Schon die Kommanditisten sind durch § 165 HGB vom Wettbewerbsverbot ausgenommen, woraus deutlich wird, dass ein solches Verbot nach der gesetzlichen Konzeption nur für die Gesellschafter gelten soll, die sich in der Rolle von Mitunternehmern befinden, wobei es entscheidend auf die gesetzliche Ordnung der Geschäftsführungszuständigkeit ankommt. Damit harmoniert es, dass es für ein Wettbewerbsverbot gegen die Gesellschafter einer GmbH oder gar gegen Aktionäre keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage gibt. Mit dieser Feststellung ist das Thema freilich noch nicht erledigt. Vielmehr geht es darum, ob und in welchen Grenzen sich ein Wettbewerbsverbot durch analoge Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB begründen oder aus allgemeinen Grundsätzen ableiten lässt. 2. Die Heumann/Ogilvy-Entscheidung a) Sachverhalt Die einschlägige Diskussion geht vor allem von der Heumann/Ogilvy-Entscheidung des BGH aus, die allerdings im Süssen-Urteil5 einen gewissen Vorläufer findet. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Parteien waren an einer GmbH & Co. KG beteiligt, und zwar die Klägerinnen mit 20 % des Kommanditkapitals und des Stammkapitals der Komplementär-GmbH. Die Beklagte hielt mittelbar durch eine Tochtergesellschaft (die darin liegende Sonderproblematik bleibt im Folgenden unberücksichtigt) die jeweils verbleibenden 80 %. 15 Jahre nach ihrem Mehrheitserwerb ging die Beklagte zu Maßnahmen über (Abgabe einer Beteiligungsquote; Errichtung einer neuen GmbH), die von den Klägerinnen als unzulässiger Wettbewerb eingestuft wurden. Sie begehrten im Wege der actio pro socio Unterlassung und Anteilsabtretung, insoweit hilfsweise Gewinnherausgabe. Der Entscheidungsrezension durch Wiedemann/Hirte ist ergänzend zu entnehmen, dass die Beklagte schon vor der Gründung der Konkurrenzunternehmen versucht hatte, die Klägerinnen gegen Erwerb ihrer Anteile aus der Gesellschaft auszuschließen. Erst nachdem dieser Versuch mangels wichtigen Grundes gescheitert war, wurden die beiden Konkurrenzunternehmen gegründet, von denen nun in nachvollziehbarer Weise befürchtet wurde, dass die Geschäfts- und Gewinnchancen der GmbH & Co. KG auf sie umgeleitet werden sollten6.
__________ 5 6
BGHZ 89, 162 (Heumann/Ogilvy; Fn. 1); BGHZ 80, 69 = NJW 1981, 1512 (Süssen). Wiedemann/Hirte, ZGR 1986, 163 (169 f.).
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b) Ergebnis und Begründung Der II. Zivilsenat bejahte ein Wettbewerbsverbot gegen die Mehrheitsgesellschafterin der GmbH & Co. KG und erstreckte es auch auf die Beklagte. Hinsichtlich der Unterlassungspflicht und der Gewinnherausgabe führte die Revision der Klägerinnen deshalb zur Aufhebung des abweisenden Berufungsurteils und zur Zurückverweisung. Zur Begründung führte das Gericht aus7, das gesetzlich niedergelegte Wettbewerbsverbot folge aus der mitgliedschaftlichen Treupflicht und könne mit dieser bei bestimmten Fallgestaltungen auch auf Kommanditisten und Gesellschafter einer GmbH zu erstrecken sein. So sei es insbesondere, wenn ein maßgeblicher Einfluss auf die Geschäftsführung bestehe. Für die Gesellschaft entstehe eine besondere Gefährdungslage, wenn ein mehrheitlich beteiligter Gesellschafter außerhalb der Gesellschaft unternehmerisch tätig werde. Dabei könne dahinstehen, ob für die Anwendung des § 112 HGB die bloße Möglichkeit eines beherrschenden Einflusses genüge. Könne ein Unternehmen aufgrund seiner Mehrheitsbeteiligung einen beherrschenden Einfluss ausüben, so begründe die Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung zugunsten der Einflussausübung. Zur Widerlegung dieser tatsächlichen Vermutung habe die Beklagte nichts vorgetragen. Obwohl das referierte Urteil eine GmbH & Co. KG betraf, hat der BGH in den Entscheidungsgründen mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass seine Erwägungen zum Wettbewerbsverbot auch für die GmbH gelten sollen8. Das Urteil wird daher allgemein als Leitentscheidung zum Wettbewerbsverbot auch in der Kapitalgesellschaft angesehen9. In den Einzelheiten gehen die Meinungen allerdings deutlich auseinander. 3. Zum Stand der Diskussion a) Mehrheitsgesellschafter einer GmbH Mit der Heumann/Ogilvy-Entscheidung nimmt auch das Schrifttum an, dass der Gesellschafter einer GmbH einem Wettbewerbsverbot unterliegen kann10. Diese grundsätzliche Zustimmung kann allerdings nicht verbergen, dass die
__________ 7 Vgl. BGHZ 89, 162 (165 f.) (Fn. 1). 8 BGHZ 89, 162 (165 f.) (Fn. 1); vgl. auch Raiser in FS Stimpel, 1985, S. 854 (855 f.);
M. Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 245. 9 Folgerechtsprechung: BGH, GmbHR 1987, 302 (303); BGHZ 104, 246 (251) = NJW
1988, 2737; OLG Frankfurt a. M., DB 1992, 2489 (2490); OLG Karlsruhe, GmbHR 1999, 539 f.; OLG Köln, NJW-RR 1991, 1316 f. 10 Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, Schlussanh. I Rz. 70; Raiser in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1989, § 14 Rz. 64; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Anh. § 77 Rz. 63 f.; Winter in Scholz, GmbHG, Bd. I, 9. Aufl. 2000, § 14 Rz. 59; Raiser (Fn. 8), S. 854 (855 ff.); Röhricht, WPg. 1992, 766 (771 ff.); Wiedemann/Hirte, ZGR 1986, 163 ff.; M. Winter (Fn. 8), S. 244 ff.; vgl. auch die folgenden Fn.
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genauen Voraussetzungen des Verbots umstritten sind. Als unklar erweist sich dabei insbesondere, welche Bedeutung dem beherrschenden Einfluss eines Gesellschafters und der Realstruktur der GmbH zukommt. Insgesamt begegnen nicht weniger als vier Ansichten: Teils wird angenommen, dass der beherrschende Einfluss eines Mehrheitsgesellschafters ohne Rücksicht auf die Realstruktur ausreicht, um ihn einem Wettbewerbsverbot zu unterwerfen11. Nach der Gegenansicht kommt es umgekehrt auf die personalistische Struktur der GmbH an; liegt sie vor, so sollen die Gesellschafter unabhängig von der Höhe ihrer Beteiligung einem Wettbewerbsverbot unterliegen12. Die dritte Ansicht stellt alternativ auf das eine oder das andere ab13. Deutlich strenger ist schließlich die vierte Ansicht. Sie fordert nämlich, dass Mehrheitsbeteiligung und personalistische Struktur zusammentreffen, wenn ein Wettbewerbsverbot bestehen soll14. Ungeachtet der Zustimmung im Prinzipiellen steht das Wettbewerbsverbot gegen den Gesellschafter einer GmbH also nicht auf festem Boden. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in dem ungeklärten materiell-rechtlichen Verhältnis zwischen Beherrschung i. S. d. § 17 AktG und faktischer Geschäftsführung, über das der BGH, was häufig übersehen wird, mit Hilfe einer tatsächlichen Vermutung hinweggegangen ist15. b) Problematik des Wettbewerbsverbots im Aktienrecht Während das Wettbewerbsverbot für den GmbH-Bereich immerhin im Prinzip weitgehend anerkannt ist, wird ein solches Verbot im Aktienrecht – soweit die Frage überhaupt Erwähnung findet – von der herrschenden Auffassung schlechthin abgelehnt16.
__________ 11 Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), Anh. § 318 AktG Rz. 17; Roth/
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Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, Anh. § 13 Rz. 124; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Anh. § 77 Rz. 64; M. Winter (Fn. 8), S. 251 f. Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, Schlussanh. I Rz. 70; Lutter, AcP 180 (1980), 84 (112); Lutter/Timm, NJW 1982, 409 (419) li. Sp.; ausdrücklich dagegen OLG Karlsruhe, GmbHR 1999, 539 (540). Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 14 Rz. 24; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2004, § 13 Rz. 89; Röhricht, WPg. 1992, 766 (772 f.). Schiessl in MünchHdb.GesR, Bd. 3: GmbH, 2. Aufl. 2003, § 34 Rz. 6; Mertens/Cahn in FS Heinsius, 1991, S. 544 (555 ff.); Raiser (Fn. 8), S. 854 (864 f.). Vgl. unten IV. 2 bis 4. Kropff in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, Vor § 311 Rz. 62 ff.; Krieger in MünchHdb.GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 69 Rz. 17 a. E.; Binnewies, Die Konzerneingangskontrolle in der abhängigen Gesellschaft, 1996, S. 340 ff.; Bouchon, Konzerneingangsschutz im GmbH- und Aktienrecht, 2002, S. 203 f.; Immenga, JZ 1984, 578 (579 f.); Uwe H. Schneider, BB 1981, 249 (258) li. Sp.; Uwe H. Schneider, BB 1995, 365 (367 f.); Seydel, Konzernbildungskontrolle bei der Aktiengesellschaft, 1995, S. 175 ff.; Tröger, Treupflicht im Konzernrecht, 2000, S. 241 ff.
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Das Thema ist jedoch auch für das Aktienrecht umstritten. In einigen Stellungnahmen wird nämlich in Übereinstimmung mit der ersten Ansicht zur GmbH die Meinung vertreten, dass auch den Mehrheitsaktionär ohne Rücksicht auf eine personalistische Struktur ein Wettbewerbsverbot treffen kann17. Insbesondere könne durch dieses Verbot eine Konzerneingangskontrolle in das Aktienrecht eingeführt werden18. Der gedankliche Zusammenhang mit § 112 Abs. 1 HGB und der Heumann/Ogilvy-Entscheidung ergibt sich für die Vertreter dieser Mindermeinung durch die mitgliedschaftliche Treupflicht als Bindeglied. Hierzu ist es seit der Linotype-Entscheidung19 kein Thema mehr, dass auch der Aktionär einer solchen Treupflicht unterliegt20. Weil das Wettbewerbsverbot in der OHG ungeachtet seiner historisch weit zurückreichenden gesetzlichen Verankerung in § 112 Abs. 1 HGB21 aus der Treupflicht abgeleitet wird22 und die Treubindungen auch den Aktionär erfassen, stellt sich für die Mindermeinung der Gedanke ein, dass es auch insoweit ein Wettbewerbsverbot geben müsse. Schließlich begegnet noch eine dritte Meinungsgruppe, die der vierten Ansicht zur GmbH entspricht. Sie hält nämlich ein Wettbewerbsverbot gegen den herrschenden Aktionär für grundsätzlich möglich, verlangt aber neben der Beherrschung noch eine personalistische Struktur der AG23. Sie wird dann angenommen, wenn zwischen den Aktionären eine enge Bindung im Sinne einer personenbezogenen Mitunternehmergemeinschaft besteht. Diese Bindung soll namentlich durch eine Vinkulierung der Aktien gemäß § 68 Abs. 2 AktG zum Ausdruck kommen. Soweit die Anteile dagegen an einem öffentlichen Kapitalmarkt gehandelt werden, soll sich darin zeigen, dass es nicht auf die Person des einzelnen Gesellschafters, sondern auf den der Aktie
__________ 17 Wohl als erster Salfeld, Wettbewerbsverbote im Gesellschaftsrecht, 1987, S. 178 ff.;
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ebenso Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), Vor § 311 AktG Rz. 7 f.; § 311 Rz. 90; Burgard in FS Lutter, 2000, S. 1033 ff.; Geiger, Wettbewerbsverbote im Konzernrecht, 1996, S. 75 ff. (146 ff.); Henze, BB 1996, 489 (497). Vgl. zu diesem zentralen Punkt Burgard (Fn. 17), S. 1033 (1034); Geiger (Fn. 17), S. 146 ff.; Henze (Fn. 17). BGHZ 103, 184 = NJW 1988, 1579. BGH, NJW 1992, 3167 (3171) li. Sp.; BGHZ 127, 107 (111) = NJW 1994, 3094; BGHZ 129, 136 (142 f.) = NJW 1995, 1739; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 53a Rz. 14; Röhricht (Fn. 4), S. 523 ff.; Henze in FS Kellermann, 1991, S. 141 (143 ff.). S. noch V. 2. c). Vgl. etwa BGH, WM 1957, 1128 (1129) re. Sp.; BGHZ 70, 331 (335) = NJW 1978, 1001; BGHZ 89, 162 (165 f.) (Fn. 1); Goette in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Bd. 1, 2001, § 112 Rz. 1; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 20 V 1 b; A. Hueck, Das Recht der offenen Handelsgesellschaft, 4. Aufl. 1971, § 13 II (S. 195); M. Winter (Fn. 8), S. 21. Liebscher in BeckHdb.AG, 2004, § 14 Rz. 36; Liebscher, Konzernbildungskontrolle, 1995, S. 388 f.; Doralt, ZGR 1991, 252 (269 f.); Lutter, AcP 180 (1980), 84 (112 f.); Lutter, ZHR 162 (1998), 164 (172 ff.); Raiser (Fn. 8), S. 854 (864 f.); wohl auch Hennrichs, AcP 195 (1995), 221 (253).
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zugrunde liegenden Vermögensbeitrag ankommt, so dass hier eine personalistische Struktur abgelehnt wird24.
III. Unvereinbarkeit eines Wettbewerbsverbots zu Lasten des (herrschenden) Aktionärs mit der aktien- und konzernrechtlichen Gesetzeskonzeption 1. Vorüberlegung Die Vielzahl der Meinungen ist ein Indiz dafür, dass die gedanklichen Grundlagen eines über den Wortlaut der §§ 112 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB, § 284 AktG hinausgehenden Wettbewerbsverbots ungesichert sind. Das wiederum legt die Frage nahe, ob die Heumann/Ogilvy-Doktrin überhaupt das Richtige trifft. Der engeren Problemstellung dieses Beitrags entspricht es jedoch, zunächst die aktienrechtliche Lage unter der Prämisse zu untersuchen, dass die Übertragung des Wettbewerbsverbots in das Recht der Kapitalgesellschaften grundsätzlich möglich sein sollte. Ob diese Übertragung überhaupt rechtens ist, soll erst später angesprochen werden25. 2. Konzernoffenheit der AG a) Funktionslosigkeit eines Wettbewerbsverbots Mit der herrschenden Meinung26 ist ein gegen Aktionäre gerichtetes Wettbewerbsverbot schlechthin abzulehnen. Es fehlt ihm nicht nur eine aktienrechtliche Grundlage, sondern es widerspricht der gesetzlichen Konzeption. Das zentrale Argument gegen ein Wettbewerbsverbot im Aktienrecht liegt in der Konzernoffenheit der Aktiengesellschaft. Weil es nicht verboten ist, die Gesellschaft in ein Beherrschungsverhältnis einzubinden (§ 17 AktG), auch nicht, sie unter die Leitung des herrschenden Unternehmens zu stellen (§ 18 Abs. 1 AktG), hat eine Konzernbildungskontrolle im Aktienrecht keinen nachvollziehbaren Sinn. Weil das Wettbewerbsverbot gerade auf eine solche Konzernbildungskontrolle abzielt, erweist es sich als funktionslos. Was die angesprochene Konzernoffenheit der AG bedeutet, hat der BGH in die ebenso treffenden wie lapidaren Worte gefasst27: „Die Einbindung eines Unternehmens in eine Konzernherrschaft ist nach geltendem Recht von den außenstehenden Aktionären grundsätzlich hinzunehmen.“
__________
24 Binnewies (Fn. 16), S. 344 f.; Lutter/Timm, NJW 1982, 409 (419 li. Sp.); Röhricht
(Fn. 4), S. 526; M. Winter (Fn. 8), S. 188 f. 25 Vgl. unten V. 26 S. oben II. 3. b). 27 BGHZ 119, 1 (7) = NJW 1992, 2760; s. auch Hüffer, AktG, § 18 Rz. 4; Kropff in
MünchKomm. AktG, Vor § 311 Rz. 6 ff.; Geßler in FS Westermann, 1974, S. 145 (148 f.); Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, S. 451 ff.; Uwe H. Schneider, AG 1990, 56 (61 f.).
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Was von den außenstehenden Aktionären grundsätzlich hinzunehmen ist, kann auch nicht, so bleibt zu wiederholen, durch die gesetzesferne Konstruktion eines Wettbewerbsverbots zu einem unzulässigen Verhalten gemacht werden. Vielmehr bleibt zu akzeptieren, dass das Gesetz Abhängigkeit und faktische Konzernierung als zulässige Formen der Unternehmensverbindung ansieht und den Konzerngefahren nicht durch eine präventive Kontrolle, sondern durch die verhaltensorientierte Regelung der §§ 311 ff. AktG entgegenwirkt28. b) Kein Wettbewerbsverbot kraft mitgliedschaftlicher Treupflicht aa) Schon die Aufarbeitung des Diskussionsstandes hat gezeigt, dass auch die Aktionäre Treubindungen unterworfen sind und dass ein Wettbewerbsverbot gegen den Aktionär, der auch herrschendes Unternehmen ist, gerade aus solchen Treubindungen abgeleitet wird29. Das entspricht den aus dem Recht der Personengesellschaften und der GmbH geläufigen Gedankengängen. Sieht man von dem allerdings gravierenden Einwand ab, dass ein Wettbewerbsverbot eine präventive Maßnahme darstellt und daher wohl aus einem gesetzlichen Gefährdungstatbestand wie § 112 Abs. 1 HGB, aber schlecht aus bloßen Treubindungen abgeleitet werden kann30, so ergibt sich hier ein dogmatisch grundsätzlich tauglicher Ansatz für die Entwicklung eines Wettbewerbsverbots. Klammert man den präventiven Charakter des Verbots aus, so könnte in diesem Sinne auch hier etwa argumentiert werden, dass der Aktionär, der herrschendes Unternehmen ist, gegenüber der abhängigen Gesellschaft über ein gesteigertes Einwirkungspotential verfügt, welches der treupflichtgestützten Kontrolle bedarf31. Zu prüfen bleibt indessen, ob sich der Treupflichtansatz mit der positiven Regelung der §§ 311 ff. AktG in Einklang bringen lässt. bb) Zum Verhältnis von Treupflicht und Aktienkonzernrecht habe ich mich unter Auseinandersetzung mit einem Beitrag von Zöllner32 skeptisch geäußert, soweit die Treupflicht dazu dienen soll, die §§ 311 ff. AktG mehr oder minder deutlich durch eine andere Konzeption zu verdrängen33. Diese Grundsatzposition ist dahin zu konkretisieren, dass Treubindungen des Aktionärs auch dann bestehen, wenn er der abhängigen Gesellschaft als herrschendes Unternehmen gegenübertritt, dass sie auch zum Ausbau der konzernrechtlichen Pflichtenlage grundsätzlich geeignet sind, wobei nament-
__________ Vgl. etwa Kropff in MünchKomm.AktG, Vor § 311 Rz. 65; Röhricht (Fn. 4), S. 531. Vgl. oben II. 3. b). Dazu unten V. 3. Hüffer, AktG, § 53a Rz. 13 ff.; Hüffer in FS Steindorff, 1990, S. 59 (74 f.); M. Winter (Fn. 8), S. 16 ff. 32 Zöllner, ZHR 162 (1998), 235 ff.; vgl. auch Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, Schlussanh. I Rz. 53 ff., 68 ff. 33 Hüffer, AktG, § 53a Rz. 20. 28 29 30 31
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lich an die Fälle der früher so genannten qualifizierten faktischen Konzernierung zu denken wäre, wenn die Rechtsprechung nicht – aus wiederum nachvollziehbaren Gründen – zu einer Außenhaftung übergegangen wäre34, dass jedoch die §§ 311 ff. AktG nicht durch das Treupflichtkonzept derogiert oder in ihren Kernaussagen modifiziert werden können. So ist es, weil die Pflicht zu gesellschaftstreuem Verhalten eine richterrechtliche Generalklausel darstellt35, die zwar die konkretisierende Bildung weiterer Rechtssätze erlaubt und fordert, aber die Beziehungen des Aktionärs zu „seiner“ AG doch nur insoweit ordnen kann, als nicht schon anderweitige gesetzliche Vorgaben bestehen. Danach sind die §§ 311 ff. AktG zwar ergänzungsfähig. Sie lassen sich aber schon nach allgemeinen Grundsätzen und überdies nach dem Rechtsgedanken des § 23 Abs. 5 Satz 1 AktG nicht in dem Sinne umgestalten, dass die Konzernoffenheit der AG verloren ginge. Zu Recht wendet sich deshalb Kropff dagegen36, „die Treupflicht zu einer das Gesetz übersteigenden Allzweckwaffe zu entwickeln.“
Durchaus wie hier und ohne weiteres zustimmungsfähig äußert sich auch Röhricht37: „Mehr als zweifelhaft ist es jedoch, ob man die Spezialität der §§ 311 ff. AktG gegenüber dem Treupflichtgedanken in Frage stellen kann, mit der Folge, dass Minderheitsgesellschafter unter Berufung auf die Treupflichtbindung die Ausrichtung der Tochtergesellschaft auf ihre Muttergesellschaft (oder deren Konzerninteressen) verhindern könnten.“
Danach kann festgehalten werden, dass sich eine Konzernbildungskontrolle mittels eines aus dem Treupflichtgedanken abgeleiteten Wettbewerbsverbots im Aktienrecht nicht etablieren lässt. Sie scheitert an der Spezialität der §§ 311 ff. AktG, weil Ausgleichsmodell und Konzernverhinderung nicht in Einklang zu bringen wären. c) Kein Wettbewerbsverbot kraft gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung Gegen den nahe liegenden Rückschluss aus §§ 311 ff. AktG wird vereinzelt eingewandt, die Vorschriften seien missglückt und deshalb im Wege der Rechtsfortbildung zu korrigieren38. Die darin liegende Kritik ist jedoch deutlich überzogen39. Selbst wenn ihr in der vorgebrachten Form gefolgt werden könnte, ließe sich aus den angeblichen Defiziten der gesetzlichen Regelung
__________ 34 35 36 37 38 39
Vgl. dazu BGHZ 151, 181 (186 ff.) = NJW 2002, 3024; Hüffer, AktG, § 1 Rz. 22 ff. Ausführlich Hüffer (Fn. 31), S. 59 (68 ff.). Kropff in MünchKomm.AktG, Vor § 311 Rz. 19. Röhricht (Fn. 4), S. 530. Burgard (Fn. 17), S. 1033 (1044); ähnlich bereits Salfeld (Fn. 17), S. 180. Vgl. dazu Hüffer, AktG, § 311 Rz. 9; Kropff in MünchKomm.AktG, Vor § 311 Rz. 28 f.; Habersack in FS Peltzer, 2001, S. 139 (141); Kropff in FS Kastner, 1992, S. 279 (283 ff., 286); Lutter, ZHR 151 (1987), 444 (460); Rittner, ZGR 1990, 203 (211 ff.).
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noch nicht ableiten, dass für eine Rechtsfortbildung Raum besteht, nach welcher das herrschende Unternehmen gegenüber der abhängigen Gesellschaft einem Wettbewerbsverbot unterläge. Weil damit die Konzernoffenheit grundsätzlich beseitigt würde, läge nicht eine Fortbildung der §§ 311 ff. AktG vor, sondern die Entwicklung einer neuen konzernrechtlichen Konzeption. Es spricht vieles dafür, dass damit die Grenzen einer zulässigen Rechtsfortbildung deutlich überschritten wären. Zumindest müsste sich aber belegen lassen, dass der Konzeptionswechsel durch ein unabweisbares Bedürfnis gefordert wird40. Danach müssten die §§ 311 ff. AktG auch einer systemimmanenten Korrektur nicht zugänglich, also irreparabel unzureichend sein. Ein solcher Befund ist bis heute nicht erhoben worden und kann auch nicht erhoben werden. Auch durch Rechtsfortbildung lässt sich also ein Wettbewerbsverbot nicht begründen. d) Konkurrenz als Steigerung der abhängigkeitsbedingten Gefährdungslage? Im Schrifttum findet sich schließlich noch ein letzter Versuch, trotz der §§ 311 ff. AktG ein Wettbewerbsverbot gegen den Mehrheitsaktionär zu begründen. Der gesetzlichen Regelung soll danach deshalb keine Sperrwirkung gegen einen Konzerneingangsschutz zukommen, weil der Gesetzgeber die Problemlage nur unvollständig erfasst habe. Geregelt sei nämlich nur eine beliebige anderweitige unternehmerische Interessenbindung, nicht dagegen die Intensivierung des Problems durch Aufnahme einer Konkurrenztätigkeit41. Diese Ansicht findet aber weder im Gesetz noch in den Gesetzesmaterialien eine Stütze. Sie ist auch der Sache nach nicht plausibel, weil die Beherrschung oder Konzernierung einer Gesellschaft, die in demselben Geschäftszweig sowie auf derselben Wirtschaftsstufe und mithin im Konkurrenzbereich tätig ist, nicht etwa eine Ausnahmeerscheinung darstellt, sondern einen häufigen, wenn nicht schon den regelmäßigen Fall einer Unternehmensverbindung bildet, wobei insbesondere an Unternehmensübernahmen zu denken ist42. Deshalb ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber ausgerechnet das Konkurrenzproblem übersehen hat. Vielmehr ist nahe liegend, dass er auch insoweit die §§ 311 ff. AktG für ausreichend hielt und hält.
__________ 40 Statt aller Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, 9. Aufl. 2004, § 4 Rz. 83. 41 Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), Vor § 311 AktG Rz. 7 a. E.; Burgard
(Fn. 17), S. 1033 (1040 f., 1044 f.). 42 Zahlen bei Bühner/Spindler, DB 1986, 601 li. Sp.; vgl. auch Seydel (Fn. 16), S. 175.
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3. Die Regelung des Pflichtangebots im WpÜG Ein zusätzliches Argument gegen ein Wettbewerbsverbot des Mehrheitsaktionärs kann nach dem In-Kraft-Treten des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) vom 20.12.200143 auch aus § 35 Abs. 1 i. V. m. § 29 Abs. 2 WpÜG hergeleitet werden. Nach diesen Vorschriften hat ein Aktionär, der mehr als 30 % der Stimmrechte erlangt, den übrigen Aktionären innerhalb von vier Wochen ein Angebot auf Übernahme ihrer Anteile zu unterbreiten. Dadurch soll den Aktionären einer abhängigen Aktiengesellschaft die Möglichkeit eröffnet werden, einer befürchteten missbräuchlichen Einflussnahme durch den Großaktionär zu entgehen44. Auch wenn diese Vorschrift die verbleibenden Aktionäre nicht vor einer missbräuchlichen Einwirkung durch den Mehrheitsaktionär zu schützen vermag45, zeigt sie doch, dass der Gesetzgeber sich der Gefahr einer Benachteiligung der Minderheitsaktionäre durch den Mehrheitsaktionär bewusst war, dass er ihr aber nicht durch ein grundsätzliches Konzernierungsverbot begegnen wollte, sondern indem er den Minderheitsaktionären die Möglichkeit zur geregelten Aufgabe ihrer Mitgliedschaft durch Verkauf ihrer Anteile zu fairen und gleichen Konditionen einräumte46. Auch diese Regelung widerlegt die behauptete Lückenhaftigkeit der konzernrechtlichen Regelung in §§ 311 ff. AktG und versperrt damit eine Rechtsfortbildung durch die entsprechende Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB im Aktienrecht. Sachlich ist der Gedanke allerdings nicht ganz neu. Schon früher wurde nämlich ein ähnliches Argument aus dem Umstand abgeleitet, dass sich die Aktionäre zumindest bei börsennotierten Gesellschaften ohne weiteres durch die Veräußerung ihrer Aktien von der Gesellschaft lösen können, um ihre Vermögensinteressen durch Reinvestition der in der Gesellschaft gebundenen Mittel anderweitig zu verfolgen47. Wenngleich die Konzernoffenheit der Aktiengesellschaft das Hauptargument gegen ein Wettbewerbsverbot bleibt, zeigt die Möglichkeit eines anderweitigen Interessenschutzes doch, dass die gesetzliche Regelung nicht als bloße Einseitigkeit diskreditiert werden darf. Vielmehr werden andere Grundentscheidungen als etwa für die GmbH deutlich, bei der die Desinvestition durch § 15 GmbHG erschwert ist, um gerade keine marktgängigen Geschäftsanteile als Konkurrenz zu Aktien zu haben. Daraus mag es sich rechtfertigen, im Gegenzug bei der GmbH einen strengeren Konzerneingangsschutz zu etablieren, als dies im Aktienrecht geschehen ist.
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43 BGBl. I S. 3822. 44 v. Bülow in KölnerKomm.WpÜG, 2003, § 35 Rz. 3 ff.; Hommelhoff/Witt in Haar-
mann/Riehmer/Schüppen, Öffentliche Übernahmeangebote, 2002, Vor §§ 35–39 Rz. 26 ff. 45 So der Einwand von Burgard (Fn. 17), S. 1033 (1045). 46 Ekkenga/Schulz in Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, 2003, § 35 Rz. 2. 47 Vgl. etwa Binnewies (Fn. 16), S. 343; Lutter, ZHR 162 (1998), 164 (173); Raiser (Fn. 8), S. 854 (865).
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Uwe Hüffer
4. Rückschluss aus § 55 AktG Die aktienrechtliche Konzeption kann schließlich auch aus § 55 AktG abgelesen werden. Die Vorschrift lässt Nebenverpflichtungen der Aktionäre nämlich nur zu, soweit sie sich aus vinkulierten Namensaktien ergeben, und verlangt überdies wiederkehrende im Unterschied zu andauernden Leistungen. Weil ein Wettbewerbsverbot eine auf Dauer angelegte Unterlassungspflicht begründet, kann es nach herrschender Meinung selbst bei vinkulierten Namensaktien nicht statutarisch festgelegt werden48. Im Wege des Erstrecht-Schlusses wird daraus abgeleitet, dass sich ein Wettbewerbsverbot schon gar nicht aus der bloßen Treupflicht ergeben kann49. Dieser Ansicht ist beizutreten, so dass sich zwar nicht ein zentrales, wohl aber ein ergänzendes aktienrechtliches Argument gegen die Annahme ergibt, dass Aktionäre einem Wettbewerbsverbot unterliegen. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass es sich dabei um ein gesetzliches Verbot handele, das von § 55 AktG ohnehin nicht erfasst werde50. Die mitgliedschaftlichen Treubindungen, aus denen das Wettbewerbsverbot des Aktionärs allenfalls abgeleitet werden kann, werden nämlich von der herrschenden Meinung gerade auf den Organisationsvertrag der Gründer gestützt und sind deshalb nicht gesetzlichen, sondern vertraglichen Ursprungs51, so dass der dargestellte Erst-recht-Schluss greift: Wenn die Aktionäre ein Wettbewerbsverbot nicht einmal zum Gegenstand einer Satzungsklausel machen können, dann kann es erst recht nicht als ungeschriebene Verpflichtung aus der ebenfalls organisationsvertraglich begründeten Treupflicht abgeleitet werden. 5. Zwischenergebnis zu III. Zieht man ein erstes Fazit, so zeigt sich, dass die Annahme eines Wettbewerbsverbots gegen den herrschenden Aktionär schon an der aktien- und konzernrechtlichen Gesetzeskonzeption scheitert. Im Vordergrund steht dabei die Konzernoffenheit der AG bei gleichzeitiger Begründung von Desinvestitionsmöglichkeiten für die außenstehenden Aktionäre. Andere Gesichtspunkte treten hinzu, etwa die Unzulässigkeit von Dauerverpflichtungen der Aktionäre ohne gesetzliche Grundlage. Diese Argumente lassen sich im folgenden Abschnitt noch ergänzen, indem die Organisationsverfassung der abhängigen und auch der faktisch konzernierten AG in die Betrachtung einbezogen wird.
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48 Unstr., vgl. KG, OLGR 27, 345 (346); Hüffer, AktG, § 55 Rz. 4; Binnewies (Fn. 16),
S. 315 ff. 49 Binnewies (Fn. 16), S. 348; Bouchon (Fn. 16), S. 203 f.; Seydel (Fn. 16), S. 173 (180). 50 So aber Burgard (Fn. 17), S. 1033 (1046) Fn. 58; Eckert, Konzerneingangsschutz im
Aktienkonzernrecht auf der Ebene der Untergesellschaft, 1998, S. 124; Friedewald, Die personalistische Aktiengesellschaft, 1991, S. 142 f. 51 Vgl. Hüffer, AktG, § 53a Rz. 15; Henze, BB 1996, 489 (492 li. Sp.); Hüffer (Fn. 31), S. 59 (64 ff.); M. Winter (Fn. 8), S. 63 ff.
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IV. Weisungsfreiheit des Vorstands im faktischen Aktienkonzern 1. Vorüberlegung Um die aktienrechtliche Organisationsverfassung für das Thema fruchtbar zu machen, sind drei Schritte erforderlich. Herauszuarbeiten ist zunächst, dass Wettbewerbsverbote außerhalb der tatbestandlichen Grenzen des § 112 Abs. 1 HGB in einer zumindest faktischen Führung der Gesellschaftsgeschäfte durch den Verbotsadressaten wurzeln (2.). Sodann ist zu zeigen, dass abhängige und auch faktisch konzernierte Gesellschaften unter der rechtlich unveränderten eigenverantwortlichen Leitung ihres Vorstands stehen (3.). Im dritten Schritt ist eine tatsächliche Vermutung zurückzuweisen, nach der es bei Abhängigkeit oder faktischer Konzernierung entgegen der Gesetzeslage zur faktischen Geschäftsführung durch das herrschende Unternehmen käme (4.). 2. Die tatsächliche Vermutung faktischer Geschäftsführung im Heumann/Ogilvy-Urteil Die §§ 112 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB, § 284 AktG sprechen Wettbewerbsverbote nur gegen die Gesellschafter aus, die an der jeweiligen Gesellschaft unternehmerisch beteiligt sind. Damit ist gemeint, dass sie nicht nur eine Vermögensbeteiligung halten, sondern auch kraft Gesetzes zur Geschäftsführung berufen sind52. Das lässt sich durch analoge Anwendung erweitern, soweit Gesellschafter zwar nicht nach ihrer gesetzlichen Stellung, wohl aber kraft Gesellschaftsvertrags für die Geschäftsführung zuständig sind; das Standardbeispiel dafür ist der Kommanditist mit vertraglicher Geschäftsführungsbefugnis (§§ 163, 164 HGB). Folgt man dem Heumann/Ogilvy-Urteil des BGH53, so genügt für die analoge Anwendung auch die faktische Geschäftsführung durch den Mehrheitsgesellschafter einer GmbH, insbesondere durch die Ausübung entsprechender Weisungsrechte der von ihm dominierten Gesellschafterversammlung54. Ob eine solche faktische Geschäftsführung materiell-rechtlich auch erforderlich ist, hat der II. Zivilsenat nicht entschieden. Vielmehr überbrückt das Gericht die materiell-rechtlichen Untiefen zwischen Konzernbeherrschung und faktischer Geschäftsführung, indem es dem Gesellschafter durch eine tatsächliche Vermutung abverlangt, darzulegen und unter Beweis zu stellen, dass er von seinem Einflusspotential keinen Gebrauch macht. Hierzu heißt es55:
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52 Vgl. schon II. 1. 53 BGHZ 89, 162 (Fn. 1). 54 Vgl. zur Weisungsbefugnis der Gesellschafterversammlung in Fragen der Geschäfts-
führung Hüffer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1991, § 46 Rz. 118; Mertens ebda., 8. Aufl. 1997, § 37 Rz. 14 ff. 55 BGHZ 89, 162 (167) (Fn. 1).
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Uwe Hüffer „Es kann dahingestellt bleiben, ob für die Anwendung des § 112 HGB die bloße Möglichkeit eines beherrschenden Einflusses genügt. Kann ein Unternehmen aufgrund seiner Mehrheitsbeteiligung unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluß auf ein anderes Unternehmen ausüben, so begründet jedenfalls die Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung dafür, daß von den bestehenden Einflußmöglichkeiten tatsächlich Gebrauch gemacht wird (vgl. auch § 17 Abs. 2, § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG).“
Wenn der Verweis auf die aktienrechtlichen Vorschriften, die gesetzliche Vermutungen enthalten, die tatsächliche Vermutung legitimieren soll, dass der Kommanditist, der auch Mehrheitsgesellschafter der Komplementär-GmbH ist, sein Einflusspotential in der GmbH im Sinne einer faktischen Geschäftsführung ausüben wird, kann der zitierten Urteilspassage zugestimmt werden. Es zeigt sich dann allerdings, dass das Heumann/Ogilvy-Urteil entgegen verbreiteter Lesart für eine Konzernbildungskontrolle nicht in Anspruch genommen werden sollte. Eher liegt eine Schwäche der Entscheidung darin, faktische Geschäftsführung zu meinen, diese aber teilweise in konzernrechtlicher Terminologie zu umschreiben56. Auch nach dem Urteilstatbestand57 dürfte die Beherrschung im Sinne des § 17 AktG der Aufnahme von Wettbewerb deutlich vorausgegangen sein. Unter dieser sehr nahe liegenden Prämisse geht es im Heumann/Ogilvy-Fall um faktische Geschäftsführung mit der einzigen Besonderheit, dass sich der BGH bereit findet, diese aufgrund der konzernrechtlichen Beherrschung tatsächlich zu vermuten. 3. Eigenverantwortliche Leitung der abhängigen Aktiengesellschaft Die Annahmen des Heumann/Ogilvy-Urteils und der ihm zustimmenden Meinungsgruppe58 lassen sich nur dann in das Aktienrecht übertragen, wenn auch dem herrschenden Aktionär gegenüber der von ihm abhängigen Gesellschaft entsprechende auf eine faktische Geschäftsführung hinauslaufende Einwirkungsmöglichkeiten zustehen. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr gilt auch bei Abhängigkeit oder faktischer Konzernierung die allgemeine Vorschrift des § 76 Abs. 1 AktG, wonach der Vorstand die Aktiengesellschaft unter eigener Verantwortung leitet, also auch frei von Weisungen des herrschenden Unternehmensaktionärs. Diese Regelung wird durch § 311 AktG nicht außer Kraft gesetzt. Vielmehr kann das herrschende Unternehmen nach der gesetzlichen Konzeption seine Leitungsvorstellungen ausschließlich auf dem durch die Verfassung der abhängigen Gesellschaft vorgegebenen Weg verwirklichen59.
__________ 56 Wohl a. A. Kleindiek, Strukturvielfalt im Personengesellschafts-Konzern, 1991,
S. 255 f.; Liebscher (Fn. 23), S. 315 ff. 57 BGHZ 89, 162 f. (Fn. 1). 58 Vgl. oben II. 3. b). 59 Allg. Auffassung, vgl. Bayer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 1999, § 18 Rz. 20;
Hüffer, AktG, § 311 Rz. 8; Geßler (Fn. 27), S. 145 (156).
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Das herkömmliche Instrument, das ihm zu diesem Zweck zur Verfügung steht, ist die Ausübung seines Stimmrechts in der Hauptversammlung. Da die Hauptversammlung aber gemäß § 119 AktG gerade in Fragen der Geschäftsführung kaum Zuständigkeiten besitzt, ist der Einfluss des Mehrheitsgesellschafters auf die Geschäftsführung nach der rechtlichen Struktur der Aktiengesellschaft im Vergleich zu anderen Gesellschaftsformen deutlich beschränkt60. Anders als der Mehrheitsgesellschafter einer GmbH verfügt der Mehrheitsaktionär insbesondere nicht über ein Weisungsrecht gegenüber der Geschäftsführung der Aktiengesellschaft61. Auch ein Auskunftsund Einsichtsrecht, wie es etwa in § 51a GmbHG vorgesehen ist, steht ihm nicht zu. Vielmehr kann er lediglich das allgemeine Auskunftsrecht nach § 131 AktG in der Hauptversammlung geltend machen. Danach ist klar, dass es bei der eigenverantwortlichen Leitung der abhängigen Gesellschaft durch ihren Vorstand verbleibt; die aktienrechtliche Leitungsstruktur lässt die tatsächliche Vermutung faktischer Geschäftsführung nicht zu. 4. Keine tatsächliche Vermutung faktischer Geschäftsführung allein wegen konzernrechtlicher Beherrschungsmittel Das typische Beherrschungsmittel gegenüber abhängigen Gesellschaften liegt in der Personalkompetenz des Aufsichtsrats (§ 84 AktG), auf dessen Besetzung der Mehrheitsaktionär maßgebenden Einfluss ausüben kann und auszuüben pflegt. Daraus ergibt sich eine Verschiebung der innerkorporativen Machtbalance62 und als deren Folge, dass der Vorstand vielfach bereit sein wird, einer Einflussnahme des herrschenden Unternehmens nachzukommen, wenn dies im Rahmen des Ausgleichsmodells der §§ 311 ff. AktG rechtlich möglich ist, und überdies in der Gefahr steht, einer nachteiligen Veranlassung auch pflichtwidrig zu folgen63. Die Personalkompetenz des vom herrschenden Unternehmen dominierten Aufsichtsrats und die daran geknüpften Möglichkeiten zur Einflussnahme führen aber nicht zur tatsächlichen Vermutung faktischer Geschäftsführung, sondern zur (ihrerseits nicht gänzlich geklärten) Veranlassungsvermutung64 und über sie zum Rechtsfolgensystem der §§ 311 ff. AktG. Das Gesetz vertraut also auf den Einzelausgleich und notfalls auf Schadensersatzpflichten gegen die Verantwortlichen im Einzelfall. Damit wäre es unvereinbar, über
__________ 60 Röhricht (Fn. 4), S. 527. 61 Vgl. zum Weisungsrecht gegenüber dem Geschäftsführer etwa BGHZ 31, 258 (278)
= NJW 1960, 258; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 37 Rz. 10; zur dogmatischen Grundlage Zöllner, ZGR 1992, 173 (178). 62 Bayer in MünchKomm.AktG, § 17 Rz. 21. 63 Bayer in MünchKomm.AktG, § 18 Rz. 20; Röhricht (Fn. 4), S. 527; vgl. auch Henze, BB 1996, 489 (497 re. Sp.). 64 Hüffer, AktG, § 311 Rz. 20 f. m. w. N.
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die Annahme faktischer Geschäftsführung zu einem Wettbewerbsverbot und damit zu einer präventiven Lösung zu gelangen, nach der sich nachteilige Veranlassungen gar nicht erst ergeben könnten. Weil sich faktische Geschäftsführung im aktienrechtlichen Unternehmensverbund nicht vermuten lässt, stellt sich abschließend und der Vollständigkeit halber noch die Frage, ob „für die Anwendung des § 112 HGB die bloße Möglichkeit eines beherrschenden Einflusses genügt“65.
Dies mag für die Kommanditgesellschaft oder für die GmbH mangels gesetzlicher Ordnung ihres Konzernrechts diskutabel sein, erledigt sich aber für den Aktienkonzern aus den dargestellten Gründen; insoweit führt die bloße Möglichkeit eines beherrschenden Einflusses nämlich zu §§ 311 ff. AktG, aber nicht zu einem außergesetzlichen Wettbewerbsverbot. 5. Zwischenergebnis zu IV. Unterstellt man die Heumann/Ogilvy-Entscheidung für die Gesellschaftsformen als richtig, auf die sie sich bezieht – das sind Kommanditgesellschaft und GmbH –, so ergibt sich die Frage, ob auch der Mehrheitsaktionär, der nach dem Erwerb seiner konzernrechtlichen Beherrschungsmittel den Wettbewerb aufnimmt, einem Verbot analog § 112 Abs. 1 HGB oder kraft mitgliedschaftlicher Treubindung unterliegen kann. Das ist jedoch zu verneinen, weil sich ein Wettbewerbsverbot mit der aktien- und konzernrechtlichen Gesetzeskonzeption nicht verträgt und es auch im faktischen Aktienkonzern bei der eigenverantwortlichen Leitung (§ 76 Abs. 1 AktG) der abhängigen Gesellschaft durch ihren Vorstand verbleibt. Auf dieser Grundlage gibt es keine Vermutung faktischer Geschäftsführung durch das herrschende Unternehmen und die bloße Möglichkeit eines beherrschenden Einflusses führt zu den §§ 311 ff. AktG, nicht zu einem präventiv angelegten Wettbewerbsverbot.
V. Annex: Die Heumann/Ogilvy-Doktrin als unkritische Verallgemeinerung eines auf Mitunternehmer zugeschnittenen Gefährdungstatbestands 1. Vorüberlegung Weil die Annahme eines gegen den Mehrheitsaktionär gerichteten Wettbewerbsverbots schon aus aktienrechtlichen Gründen scheitert (III. und IV.), muss sich die Abhandlung der bisher offen gelassenen Grundsatzfrage nach der allgemeinen Tragfähigkeit der Heumann/Ogilvy-Doktrin nicht in ganzer
__________ 65 Dahinstellend BGHZ 89, 162 (167) (Fn. 1).
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Breite stellen. Es sollte aber auch nicht der Eindruck entstehen, dass sich speziell das Aktienrecht von einer im Übrigen voll anerkannten und begrüßenswerten Rechtsentwicklung abkoppelt. Darin läge nämlich die Gefahr einer gesellschaftsrechtlichen Institutionenbildung, die auf Minimierung der aktienrechtlichen Besonderheiten hinausliefe. Im Folgenden ist deshalb wenigstens in groben Zügen zu zeigen, dass eine mehr oder minder flächendeckende Annahme von Wettbewerbsverboten nicht zu überzeugen vermag. Dazu muss zunächst das Verhältnis des § 112 Abs. 1 HGB zur mitgliedschaftlichen Treupflicht aufgearbeitet werden (2.). Sodann ist zu belegen, dass mitgliedschaftliche Treubindungen als Korrelat eines Einwirkungspotentials nicht zu einem generellen Tätigkeitsverbot führen (3.). Schließlich sind noch die Grenzen anzusprechen, die einer analogen Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB gezogen sind (4.). 2. Verhältnis des Wettbewerbsverbots zur mitgliedschaftlichen Treupflicht a) Zum Diskussionsstand Geht man Rechtsprechung und Schrifttum durch, so zeigen sich erhebliche Unsicherheiten schon in der Frage nach der Rechtsgrundlage eines Wettbewerbsverbots. Davon ist auch das Heumann/Ogilvy-Urteil nicht frei, weil der II. Zivilsenat in der oben wiedergegebenen Begründung66 wechselnd auf eine entsprechende Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB und auf die mitgliedschaftliche Treupflicht zurückgreift, aber weder die Voraussetzungen einer analogen Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB prüft noch die Voraussetzungen und namentlich die Rechtsfolgen eines Treupflichtverstoßes eingehender untersucht. Dieser Vorgehensweise liegt augenscheinlich eine auch im Schrifttum weitgehend geteilte Überzeugung zugrunde, dass nämlich das Wettbewerbsverbot des § 112 HGB keine singuläre Norm sei, die einen Gegenschluss für andere Gesellschaften erlaube, sondern eine für andere Gesellschaftsformen verallgemeinerungsfähige spezialgesetzliche Ausprägung der Treupflicht, die immer dann eingreife, wenn die Treubindung eine hinreichende Intensität aufweise67. Aus diesem Grund wird auch von den meisten Befürwortern eines Wettbewerbsverbots die rechtliche Grundlage nicht weiter erörtert, sondern – ähnlich wie in der Heumann/Ogilvy-Entscheidung – in einer Art Kombinationslösung sowohl auf § 112 Abs. 1 HGB als auch auf die mitgliedschaftliche Treubindung verwiesen. Dabei wird als unmittelbare Rechtsgrundlage wohl überwiegend die Treupflicht angesehen, deren Voraussetzungen und Rechtsfolgen aber in weitgehender Anlehnung an § 112 Abs. 1 HGB ermittelt werden68.
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66 Oben II. 2. b). 67 Nachw. oben II. 3. b). 68 OLG Karlsruhe, GmbHR 1999, 539 re. Sp.; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG,
Schlussanh. I Rz. 70; Burgard (Fn. 17), S. 1033 (1035 ff.); deutlich für Analogie zu § 112 HGB dagegen OLG Frankfurt a. M., BB 1982, 1383 f.; Ulmer in Staub, HGB,
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Diese Verwurzelung des Wettbewerbsverbotes in der Treupflicht ist heute nahezu allgemein anerkannt, weshalb es auch der BGH nicht für nötig befunden haben mag, sie näher zu begründen. Es begegnen allerdings auch abweichende Stimmen. So heißt es in der Kommentierung von Ulmer im Staub’schen Kommentar zum HGB, dass den §§ 112, 113 HGB gegenüber der Treupflicht eigenständige Bedeutung zukomme. Namentlich gehe der positiv-rechtlich als Gefährdungstatbestand ausgestaltete Anwendungsbereich des § 112 Abs. 1 HGB über dasjenige hinaus, was einem Gesellschafter schon kraft Treupflicht untersagt wäre69. Diese differenzierende Sichtweise gibt Anlass, den Zusammenhang von Wettbewerbsverbot und Treupflicht näher zu untersuchen. b) Die beiden Treupflichtkonzeptionen aa) Während im Prinzip klar ist, was ein Wettbewerbsverbot bedeutet, lässt sich das für die mitgliedschaftliche Treupflicht nicht feststellen. Vielmehr gibt es zwei Treupflichtkonzeptionen. Die ursprünglich allein anerkannte Variante stellte auf die besonders enge persönliche Verbundenheit der Gesellschafter einer Personengesellschaft und auf das daraus resultierende Vertrauensverhältnis ab70. Vor diesem Verständnishintergrund war es folgerichtig, auch das – nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers71 ebenfalls vertrauensgestützte – gegen die OHG-Gesellschafter gerichtete Wettbewerbsverbot als spezialgesetzlich geregelte Ausprägung der Treupflicht aufzufassen72. bb) Inzwischen haben sich für Zweck und Rechtsgrund der Treupflicht wesentliche Veränderungen ergeben. Im Vordergrund steht nicht mehr das besondere Vertrauensverhältnis der Gesellschafter untereinander. Vielmehr wird die Treupflicht nicht nur, aber vor allem als ein ausgleichendes Gegengewicht zu der Möglichkeit aufgefasst, auf fremde Rechte oder rechtlich geschützte Interessen der Gesellschaft selbst oder ihrer Mitglieder einzuwirken, wobei sich diese Möglichkeit besonders aus den mitgliedschaftlichen Befugnissen der anderen Gesellschafter ergibt73.
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4. Aufl. 1989, § 112 Rz. 3; Mertens/Cahn (Fn. 14), S. 553 ff.; deutlich für Treupflicht z. B. Hirte, Bezugsrechtsausschluß und Konzernbildung, 1986, S. 192; Wiedemann/ Hirte, ZGR 1986, 163 (166 ff.). Ulmer in Staub, HGB, § 112 Rz. 3; ähnlich auch Salfeld, (Fn. 17), S. 97 ff. Vgl. statt vieler Rob. Fischer in Großkomm.HGB, 3. Aufl. 1967, § 105 Anm. 31 ff.; Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen, 1950, S. 15 ff. (29 ff., 64); A. Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht, 1947, S. 12 ff. Vgl. unten V. 2. c). Ausführlich zu dieser Gleichsetzung aus damaliger Sicht Kardaras, Das Wettbewerbsverbot in den Personengesellschaften, 1967, S. 14 ff. (19 ff.). Grundlegend Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 339 ff.; ferner Hüffer, AktG, § 53a Rz. 17; Hüffer (Fn. 31), S. 59 (73 f.); ausführlich M. Winter (Fn. 8), S. 16 ff.
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Durch diesen Anschauungswandel wurde der Geltungsbereich der Treupflichten erheblich erweitert. Insbesondere wurde es dadurch möglich, sie auch im Recht der Kapitalgesellschaften fruchtbar zu machen, von dem man früher angenommen hatte, dass die überindividuelle Verbandsnatur der Anerkennung von Treupflichten entgegenstehe. Für die GmbH markiert die ITT-Entscheidung des BGH den Wendepunkt zum neueren Treupflichtverständnis74. Bei der Aktiengesellschaft wurde eine Treupflicht hingegen in der Rechtsprechung zunächst noch abgelehnt, da man meinte, die rechtlich durchgebildete, von den Aktionären als Einzelpersonen weitgehend unabhängige und durch die Satzung kaum veränderbare (§ 23 Abs. 5 AktG) Organisationsstruktur lasse für die Entstehung einer Treupflicht keinen Raum75. Nachdem man die Treupflicht aber vornehmlich als Gegengewicht zu den mitgliedschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten des Gesellschafters betrachtete, konnte und kann sie auch im Rahmen der Aktiengesellschaft als Schutzinstrument eingesetzt werden, etwa gegen das dem Mehrheitsaktionär grundsätzlich zukommende Stimmgewicht, soweit es um wesentliche, in die mitgliedschaftlichen Belange der Minderheitsaktionäre eingreifende Entscheidungen geht. Diesen Schritt hat der BGH schließlich im Jahr 1988 in der Linotype-Entscheidung vollzogen76, so dass die Treupflicht nunmehr als ein für sämtliche Gesellschaftsformen geltender Grundsatz anerkannt ist. c) Das Wettbewerbsverbot als Schutz vor vertrauensgefährdenden Konfliktlagen Die hier nur in Kurzform dargestellte Entwicklung des Treupflichtgedankens, namentlich seine Instrumentalisierung als Einwirkungskontrolle im Recht der Kapitalgesellschaften, ist zwar grundsätzlich zu begrüßen77, bietet aber Veranlassung, die bislang übliche mehr oder minder unstrukturierte Einordnung des gesetzlichen Wettbewerbsverbots (§ 112 Abs. 1 HGB) in das Treupflichtkonzept78 kritisch zu hinterfragen. Die Gesetzgebungsgeschichte erweist sich dabei als aufschlussreich. Das Wettbewerbsverbot in § 112 HGB lässt sich bis auf den preußischen HGB-Entwurf von 1857 zurückverfolgen, in dessen Begründung es heißt79: „Der Gesellschaftsvertrag beruht vor allen anderen Verträgen auf dem ganz besonderen gegenseitigen Vertrauen, daß jedes Mitglied die Interessen der Gesellschaft wie
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74 BGHZ 65, 15 ff. = NJW 1976, 191. 75 Vgl. dazu statt vieler Röhricht (Fn. 4), S. 521 ff. 76 BGHZ 103, 184 (189 ff.) = BGH, NJW 1988, 1579; vgl. seither BGHZ 127, 107 (111) =
NJW 1994, 3094; BGHZ 129, 136, (142 f.) = NJW 1995, 1739. 77 Vgl. dazu bereits Hüffer (Fn. 31), S. 59 ff. 78 Oben V. 2. b). 79 Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten nebst Motiven,
Zweiter Teil: Motive, 1857, S. 55 f.
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Uwe Hüffer seine eigenen wahrnehmen werde. Hiermit ist es unverträglich, daß ein Gesellschafter in demselben Handelszweige, welchen die Gesellschaft betreibt, für eigene Rechnung Geschäfte macht. Selbst wenn er von der Geschäftsführung ausgeschlossen wäre, in welchem Falle ihm das Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 8. § 636.) den freien Handelsbetrieb gestattet, würde seine Kenntniß der Bücher und Verbindungen der Gesellschaft ihn immerhin zu einem gefährlichen Konkurrenten derselben machen. Das Verbot des vorliegenden Artikels ist deshalb auf jeden Gesellschafter erstreckt, ohne Unterschiede, ob er an der Geschäftsführung Theil hat oder nicht, ob er Kapital einlegt oder blos seine Industrie beisteuert.“
Im Anlehnung an diese inhaltlich noch heute aktuell wirkende Begründung bestand in den folgenden Jahrzehnten weitgehende Einigkeit darüber, dass das Wettbewerbsverbot der OHG-Gesellschafter seinen Ursprung vornehmlich in dem besonderen gegenseitigen Vertrauen der Gesellschafter finde. Als personalistisch ausgestaltete „Arbeits- und Haftungsgemeinschaft“ sei die OHG nur dann funktionsfähig, wenn sich der Gesellschafter darauf verlassen könne, dass jeder Mitgesellschafter mit ungeteiltem Engagement den gemeinsamen Zweck verfolge und seine Möglichkeiten zur Einwirkung auf die Geschäfte der Gesellschaft nicht zum eigenen Vorteil ausnutze80. Danach kann nicht fraglich sein, dass das kodifizierte Wettbewerbsverbot der auf den Schutz von Vertrauensverhältnissen gerichteten Treupflichtkonzeption zuzuordnen ist. Wenn man die zitierten Erwägungen des historischen Gesetzgebers „modernisieren“ wollte, könnte man als ihre Substanz festhalten, dass Gesellschafter, die Mitunternehmer sind oder es nach der Gesetzeslage sein könnten, sich nicht in eine Konkurrenzsituation begeben dürfen, damit die Vertrauensgrundlagen des Gesellschaftsverhältnisses präventiv vor den mit einem Wettbewerb einhergehenden Gefährdungen geschützt werden. Wenn man das so sagen darf: Das Wettbewerbsverbot dient der Hygiene in den gemeinsamen Verhältnissen der Gesellschafter81. Zieht man aus dem erhobenen Befund eine erste Folgerung, so betrifft sie die begrenzte Aussagekraft, die einer Zuordnung des gesellschaftsrechtlichen Wettbewerbsverbots zur mitgliedschaftlichen Treupflicht zukommt. Diese Zuordnung ist zwar richtig, soweit es um den Schutz der Vertrauensgrundlagen geht („hygienische Maßnahme“). Die damit vorausgesetzte Mitunternehmerbeziehung begrenzt aber auch die Reichweite des Verbots. Wo sie fehlt, was jedenfalls bei der börsennotierten AG und weitergehend schon bei Gesellschaften ohne vinkulierte Aktien anzunehmen ist, kann ein Wettbewerbsverbot auch nicht aus dem Treupflichtgedanken abgeleitet werden.
__________ 80 Ausführliche Darstellung bei Kardaras (Fn. 72), S. 14 ff. (19 ff.). 81 Vgl. Goette in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 112 Rz. 1 f.; Ulmer in Staub, HGB,
§ 112 Rz. 1; Kardaras (Fn. 72), S. 14 ff. (19 ff.); Lutter, AcP 180 (1980), 84 (112); Mertens/Cahn (Fn. 14), S. 545 (555 ff.).
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3. Kein Gefährdungstatbestand bei bloßer Einwirkungskontrolle Die bisherigen Feststellungen lassen es noch zu, die Einwirkungskontrolle als zweite und heute eher im Vordergrund stehende Normfunktion als betroffen anzusehen, weil es insoweit auf eine Mitunternehmerbeziehung nicht ankommt82. Eine allgemeine Pflicht zur Unterlassung von Wettbewerb folgt aber nicht aus dem Rechtsgedanken der Einwirkungskontrolle. Wenngleich die Unterlassungspflicht in § 113 HGB nicht eigens ausgesprochen ist, ist allerdings zu Recht unstreitig, dass sie unter den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 112 Abs. 1 HGB besteht83. So ist es, weil § 112 Abs. 1 HGB als Gefährdungstatbestand ausgelegt ist, der einer Störung der Vertrauensgrundlagen der Gesellschaft vorbeugen soll. Diese Präventionsfunktion erfordert es geradezu, gegen ein normwidriges Wettbewerbsverhalten auch einen Unterlassungsanspruch zu gewähren. Die Einwirkungskontrolle setzt das beanstandete Verhalten jedoch als grundsätzlich zulässig voraus und beurteilt es nur deshalb als treuwidrig, weil die mitgliedschaftlichen Befugnisse im Einzelfall zweckwidrig eingesetzt oder in anderer Weise überschritten worden sind. Die jeweilige Maßnahme ist also nicht von vornherein, sondern erst aufgrund der Umstände der Rechtsausübung unzulässig, namentlich, weil sie einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht standhält. Bei einem präventiven Verbot erhält der Gesellschafter aber von vornherein keine Möglichkeit, auf die Belange der Gesellschaft und seiner Mitgesellschafter Rücksicht zu nehmen, weil ihm jede Tätigkeit untersagt ist, die auch nur potentiell als unverhältnismäßige Rechtsausübung in Betracht kommt84. Vom Rechtsgedanken einer treupflichtgestützten Einwirkungskontrolle führt also kein Weg zum Anspruch auf Unterlassung von Wettbewerb85. Danach steht fest, dass die mitgliedschaftliche Treupflicht insgesamt nicht geeignet ist, die angebliche Unterlassungspflicht zu begründen: Ihre ursprüngliche Variante mag zu Unterlassungsansprüchen führen, liegt aber tatbestandlich nicht vor. Ihre jüngere Funktion als Gegengewicht bei der Ausübung mitgliedschaftlicher Rechte begründet keine Unterlassungsansprüche, weshalb offen bleiben kann, ob die Voraussetzungen einer Einwirkungskontrolle gegeben sind.
__________ 82 83 84 85
Vgl. V. 2. b) bb). BGHZ 89, 162 (170 f.) (Fn. 1); Ulmer in Staub, HGB, § 112 Rz. 37 f. Insoweit kritisch auch Wiedemann/Hirte, ZGR 1986, 163 (170). So oder ähnlich auch Ulmer in Staub, HGB, § 112 Rz. 3; Immenga, JZ 1984, 578 (579 f.); Tröger (Fn. 16), S. 241 f.
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4. Grenzen für die analoge Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB a) Keine Regelungslücke Weil sich ein präventiv wirkendes Wettbewerbsverbot nicht schon aus den allgemeinen Treubindungen ableiten lässt86, kann es nur noch durch eine analoge Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB begründet werden. Das setzt eine planwidrige Regelungslücke und die Möglichkeit voraus, diese Lücke unter Rückgriff auf eine gesetzliche Regelung zu schließen, die nach Normzweck und Interessenlage auch auf den ungeregelten Sachverhalt übertragen werden kann87. Soweit es um den Mehrheitsaktionär geht, ist schon die Existenz einer Regelungslücke bisher in Rechtsprechung und Schrifttum nicht aufgezeigt worden. Eine solche Lücke ist auch nicht ersichtlich. Aufgezeigt worden ist sie nicht, weil die ein Wettbewerbsverbot befürwortende Mindermeinung88 § 112 Abs. 1 HGB mehr oder minder pauschal mit der Treupflicht identifiziert und deshalb schon aus dem rechtsformübergreifenden Charakter der Treupflicht auf ein ebenfalls rechtsformübergreifendes Wettbewerbsverbot schließt89. Nachdem sich gezeigt hat, dass diese Betrachtungsweise jedenfalls für die bei den Kapitalgesellschaften ohne Mitunternehmerstatus allein in Betracht kommende Einwirkungskontrolle nicht gerechtfertigt ist90, lässt sich auf diese Weise auch keine Regelungslücke aufzeigen. Ob die Lücke besteht, richtet sich nach Vorhandensein oder Fehlen einer der OHG vergleichbaren Mitunternehmergemeinschaft bei Gesellschaften anderer Rechtsform. Das ist für den geschäftsführenden Kommanditisten zu bejahen und im Übrigen, also für die Gesellschafter einer GmbH, soweit sie in ähnlicher Weise als faktische Geschäftsführer tätig werden91. Dagegen folgt aus bloßen Beherrschungsverhältnissen (§ 17 AktG) noch keine der OHG wenigstens vergleichbare Mitunternehmergemeinschaft, sondern nur ein Anknüpfungspunkt für die Einwirkungskontrolle, die aber wiederum aus den dargelegten Gründen keine Unterlassungspflicht trägt. Weil es in der Aktiengesellschaft eine faktische Geschäftsführung durch den Mehrheitsaktionär schon wegen der in §§ 76 Abs. 1, 119 AktG getroffenen Zuständigkeitsregelung nicht geben kann, lässt sich keine mit der GmbH vergleichbare Lage und damit auch keine Regelungslücke feststellen.
__________ 86 Vgl. auch oben III. 2. c) zur gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung. 87 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S. 24 f.; Larenz, Methoden-
lehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 370 ff. 88 Oben II. 3. b). 89 Repräsentativ etwa Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), Vor § 311 AktG
Rz. 7. 90 Vgl. V. 3. 91 Oben IV. 2.
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b) Keine Planwidrigkeit Wollte man entgegen den dargelegten Gründen eine Regelungslücke für bloße Beherrschungsverhältnisse (§ 17 AktG) bejahen, so wäre sie jedenfalls nicht planwidrig im Sinne unvollständiger Durchführung eines weiter reichenden gesetzlichen Gesamtkonzepts. Vielmehr ergibt sich schon aus den Gesetzesmaterialien92 unzweideutig, dass der Präventionsschutz des § 112 Abs. 1 HGB an das Vorliegen einer gesetzlich fundierten Mitunternehmergemeinschaft geknüpft sein soll. Das ist, wie geschäftsführende Kommanditisten und faktisch geschäftsführende GmbH-Gesellschafter verdeutlichen, zwar etwas kurz gesehen, trägt aber nicht den Schluss auf eine Vielzahl von Regelungslücken93, sondern zeigt, dass der Gesetzgeber das aus der Herrschaftsmöglichkeit resultierende Konfliktpotential grundsätzlich hingenommen und nur insoweit von vornherein unterbunden hat, als jeder Gesellschafter nach der rechtlichen Eigenart des Verbandes auf das uneingeschränkte Engagement seiner Mitgesellschafter vertrauen können muss. Weil die zahlreichen handels- und gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, die sich mit dem Wettbewerbsproblem befassen (vgl. etwa §§ 60 Abs. 1, 74, 74a, 82a, 90, 112 Abs. 1, 165 HGB, §§ 88, 105 Abs. 2 Satz 4, 268 Abs. 3, 284 AktG, § 68 Abs. 1 GenG), zeigen, dass der Gesetzgeber für dieses Thema grundsätzlich sensibilisiert war, drängt sich diese § 112 Abs. 1 HGB nur behutsam erweiternde Lesart geradezu auf. c) Folgerungen für die Bewertung des Heumann/Ogilvy-Urteils Insgesamt zeigt sich, dass die Entscheidung des II. Zivilsenats ungeachtet der verbreiteten Zustimmung, die sie im Ergebnis gefunden hat, durchgreifenden Einwänden ausgesetzt ist. Nachvollziehbar dürfte zwar das Ergebnis sein, zu dem das Gericht zumal bei bloßer Aufhebung und Zurückverweisung gelangt ist; die Gründe dafür finden sich in der Vorgeschichte des Rechtsstreits, namentlich in dem vorgängigen Versuch der Mehrheitsgesellschafterin, die Minderheit aus ihren Beteiligungen zu verdrängen94. Nicht überzeugend ist jedoch die vom II. Zivilsenat gefundene Begründung. Der Senat hat, um einen unglücklich gelagerten Sachverhalt angemessen zu lösen, die verbreitete Herleitung eines präventiv wirkenden Wettbewerbverbotes aus der Treupflicht nicht hinreichend hinterfragt und deshalb vorschnell namentlich auf die GmbH übertragen. Trennt man die beiden Rechtsgrundlagen dogmatisch sauber voneinander, so zeigt sich, dass ihre Voraussetzungen nicht vorliegen: Auf der Tatbestandsseite vermeidet der BGH eine nähere Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen eines Analogieschlusses zu § 112 Abs. 1 HGB, indem er sich kurzerhand auf die mitglied-
__________ 92 Abdruck oben V. 2. c). 93 So Burgard (Fn. 17), S. 1033 (1036). 94 Wiedemann/Hirte, ZGR 1986, 163 (169 f.).
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schaftliche Treupflicht beruft; auf der Rechtsfolgenseite verzichtet er aber auf die Ableitung der speziellen Rechtsfolge eines präventiven Wettbewerbsverbots aus der Treupflicht unter Hinweis auf die angeblich verallgemeinerungsfähige Vorschrift des § 112 Abs. 1 HGB. Durch diese Kombinationslösung überdehnt er den begrenzten Normzweck des § 112 Abs. 1 HGB, ohne sich dafür auf das Treupflichtkonzept stützen zu können. 5. Zwischenergebnis zu V. Die Analyse der Heumann/Ogilvy-Doktrin zeigt, dass sie einen teilweise bedenklichen Mix des gesetzlichen Gefährdungstatbestands (§ 112 Abs. 1 HGB) mit den Treupflichten der Gesellschafter darstellt. Die Fallgruppen der mitgliedschaftlichen Treupflicht liegen im Schutz von Vertrauensverhältnissen einerseits und in einer Einwirkungskontrolle andererseits, die das Korrelat mitgliedschaftlicher Befugnisse darstellt, auch auf wesentliche Belange der Mitgesellschafter einzuwirken. Das Wettbewerbsverbot des § 112 Abs. 1 HGB gehört in die erste Fallgruppe. Deren tatbestandliche Voraussetzungen liegen jedoch bei Aktiengesellschaften zumindest in der Regel nicht vor; eine Ausnahme kann nur für vinkulierte Aktien erwogen werden. In der zweiten Fallgruppe, an die auch bei der AG gedacht werden könnte, gibt es keinen vorbeugenden Unterlassungsanspruch; denn damit würde dem Mehrheitsgesellschafter schon die Chance genommen, seine geschäftlichen Aktivitäten unter Wahrung seiner Treupflichten zu betreiben. Methodisch kann danach nicht an Ableitungen aus einem allgemeinen verbandsrechtlichen Prinzip, sondern nur an die analoge Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB gedacht werden. Dafür fehlt es aber schon an der vorausgesetzten Regelungslücke, soweit sich Gesellschafter nicht wenigstens durch faktische Geschäftsführung als Mitunternehmer betätigen. Bei bloßen Beherrschungsverhältnissen (§ 17 AktG) bedarf es keiner vorbeugenden Pflicht zur Unterlassung von Wettbewerb.
VI. Schlussbemerkung Die Untersuchung führt zu folgenden wesentlichen Aussagen: –
Ein gegen den Mehrheitsaktionär gerichtetes Wettbewerbsverbot ist im Gesetz an keiner Stelle ausgesprochen und wird von der herrschenden Meinung auch abgelehnt.
–
Entgegen der im Schrifttum auch vertretenen abweichenden Ansicht ist ein an den Mehrheitsaktionär gerichtetes Wettbewerbsverbot nicht begründbar. Ihm stehen vor allem die Konzernoffenheit der AG und die Weisungsfreiheit des Vorstands auch im faktischen Aktienkonzern entgegen. Letztere schließt es vor allem aus, von einer faktischen Geschäftsführung durch das herrschende Unternehmen auszugehen. Die bloße Be-
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herrschung (§ 17 AktG) führt aber zu §§ 311 ff. AktG, nicht zu einer vorbeugenden Unterlassungspflicht. –
Mit der Verneinung eines Wettbewerbsverbots gerät das Aktienrecht nicht in eine Sonderrolle gegenüber den anderen Gesellschaftsformen. Vielmehr ist das Wettbewerbsverbot auch sonst auf die Gesellschafter einer OHG und auf geschäftsführende Kommanditisten beschränkt. Die Gesellschafter einer GmbH können nur dann einbezogen werden, wenn sie faktisch die Geschäftsführung übernehmen. Weiter gehende Handlungsschranken lassen sich weder aus der mitgliedschaftlichen Treupflicht noch aus einer analogen Anwendung des § 112 Abs. 1 HGB herleiten.
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Der Verkauf von Teilnahme- und Stimmrechten über das Internet und die zahlenmäßige Begrenzung der Übertragbarkeit von Teilnahme- und Stimmrechten Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Verkauf und Kauf von Teilnahme- und Stimmrechten III. Das Teilnahmerecht und seine Übertragbarkeit 1. Wesen des Teilnahmerechts 2. Übertragbarkeit des Teilnahmerechts IV. Das Stimmrecht und seine Übertragbarkeit V. Anzahl der zur Teilnahme Bevollmächtigten
1. Meinungsstand 2. Stellungnahme VI. Anzahl der Stimmrechtsbevollmächtigten 1. Meinungsstand 2. Stellungnahme VII. Beschränkung durch Satzungsbestimmungen VIII. Die zahlenmäßige Begrenzung der Übertragbarkeit von Teilnahmeund Stimmrechten aufgrund der aktienrechtlichen Treupflicht IX. Zusammenfassung
I. Einleitung Die Stärkung der Rechte der Aktionäre ist in aller Munde. Fast täglich erscheinen hierzu Artikel in der allgemeinen Tagespresse und Aufsätze in den einschlägigen Fachzeitschriften. Vor dem Hintergrund des kontinuierlichen Rückgangs der Präsenz auf Hauptversammlungen wird das verminderte Interesse der Aktionäre, ihre Rechte auf den Hauptversammlungen auszuüben, mit Sorge beobachtet1. In der letzten Hauptversammlungssaison konnte jedoch ein Phänomen beobachtet werden, dass es – soweit ersichtlich – in der Vergangenheit in dieser Form und in diesem Ausmaße noch nicht gegeben hat. So wurden über das Internet-Auktionshaus eBay von Aktionären Teilnahmerechte an Hauptversammlungen von deutschen Aktiengesellschaften zum Verkauf angeboten2.
__________ Vgl. z. B. Handelsblatt v. 13.7.2004, „Die Stimme versagt“. Danach machten in der abgelaufenen Hauptversammlungssaison nur noch rund 46 % der Aktionäre von ihrem Stimmrecht Gebrauch, während dies im Jahre 1998 immerhin noch über 60 % waren. 2 In dem untersuchten Zeitraum Anfang April bis Ende Mai 2004 wurden 92 Angebote über den Erwerb von Teilnahme- und Stimmrechten bei eBay festgestellt. Hiervon führten 49 Angebote auch zu einem Verkauf. 1
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In den allermeisten Fällen wurde der Verkauf von Teilnahmerechten hervorgehoben. Der Verkauf von Stimmrechten bzw. die Übertragung von Stimmrechten wurde hierbei nur am Rande erwähnt. Vielmehr wurde mit der besonderen Atmosphäre einer Hauptversammlung und der Bewirtung „geworben“3. In einigen Fällen wurde, um einen möglichst hohen Preis zu erzielen, damit geworben, dass die betreffende Aktiengesellschaft den teilnehmenden Aktionären einen Fahrschein für die Nahverkehrsmittel zur Verfügung stellt4. Mag diese Art der Suche nach Vertretern für die Teilnahme und Bevollmächtigte zur Ausübung des Stimmrechts zurzeit noch mit einem gewissen Schmunzeln begleitet werden, so könnte diese Form des Marktes für die Übertragung von Rechten der Aktionäre für die Aktiengesellschaften zu einem nicht unbedeutenden Problem in der Zukunft werden, falls sich dieser Handel ausbreiten sollte, insbesondere dann, wenn die Teilnahme- oder Stimmrechte pro Aktionär nicht nur an eine Person, sondern auf eine Vielzahl von Bevollmächtigten übertragen werden. Diese Beobachtungen geben Anlass, nicht nur die Zulässigkeit des Verkaufs und Erwerbs von Rechten aus Aktien, sondern auch die zahlenmäßige Beschränkbarkeit von Bevollmächtigungen für die Ausübung von Teilnahmeund Stimmrechten im Allgemeinen zu untersuchen. Bekanntlich ist die Organisation und Durchführung der Hauptversammlung zumindest von großen Publikumsaktiengesellschaften mit einem erheblichen Aufwand für die Gesellschaft verbunden5. Im Jahr 2001 wurden die Kosten der Gesellschaften für die Durchführung der Hauptversammlung pro teilnehmenden Aktionär auf 700 DM bis über 900 DM geschätzt6. Es ist an-
__________ Z. B. Angebot v. 1.5.2004 zum Erwerb von zwei Eintrittskarten für die Hauptversammlung der Deutschen Telekom AG: „Stimmen Sie mit oder schauen Sie sich ganz einfach nur die Atmosphäre an und lassen Sie es sich an dem von der Deutschen Telekom AG gesponserten Essen und Trinken gut gehen oder sammeln Sie nur die Werbegeschenke der ehemaligen Volksaktie ein.“ Angebot zum Erwerb einer „Vollmacht“ v. 25.4.2004 für die Hauptversammlung der SAP AG: „Mit meiner Vollmacht erhalten Sie dort Speisen und Getränke so viel Sie wollen und ein Rederecht, wenn Sie denn wollen. (Heizen Sie denen mal richtig ein…). Sie können Untervollmachten ausstellen und so auch anderen diese ‚Show’ zeigen.“ 4 Z. B. Angebot v. 18.5.2004 zum Erwerb einer Eintrittskarte für die Hauptversammlung der Metro AG: „… inklusive Essen und Trinken soviel Sie wollen und können und als Extra 1 Kombitagesticket des VRR für beliebig viele Fahrten im VRRBereich…Das Tagesticket ist frei übertragbar!“ Angebot auf Erwerb einer Eintrittskarte zur Hauptversammlung der BMW AG v. 14.4.2004: „Ebenfalls ist ein MVVTicket beigefügt. Allein dieses Ticket kostet sonst EUR 9,00.“ Ähnliche Hinweise finden sich bei den Angeboten zur Veräußerung von Teilnehmerrechten für die Hauptversammlungen der Allianz AG, der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG, der Commerzbank AG, der Deutschen Bank AG, der Lufthansa AG, der Deutschen Telekom AG, der Post AG, der Fraport AG, der Fresenius Medical Care AG und der MAN AG. 5 Vgl. Kubis in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 118 Rz. 16. 6 Fleischhauer, ZIP 2001, 1133 (1136). 3
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zunehmen, dass sich dieser Betrag im Laufe der letzten drei Jahre erhöht hat. Die oben erwähnte Beobachtung, dass Aktionäre im Rahmen einer InternetAuktion ihre Teilnahme- und Stimmrechte an den Meistbietenden veräußern, lässt vermuten, dass sich für die Übertragung dieser Rechte ein eigener Markt entwickeln wird7. Gehen die anbietenden Veräußerer in Zukunft zudem dazu über, ihre Rechte nicht nur an eine Person zu übertragen, sondern ihre Rechte nach Anzahl der von ihnen gehaltenen Aktien auf eine entsprechend große Anzahl von Bevollmächtigten zu delegieren, besteht die Gefahr, dass die Organisation einer Hauptversammlung in Zukunft für die Gesellschaften in hohem Maße erschwert wird. Die Räumlichkeiten für die Abhaltung von Hauptversammlungen muss von den größeren Publikumsgesellschaften in den meisten Fällen schon Jahre im Voraus gebucht werden, da entsprechende Veranstaltungsorte begrenzt sind. Die Gesellschaften haben in der Vergangenheit Erfahrungswerte über die Anzahl der auf der Hauptversammlung tatsächlich erscheinenden Aktionäre sammeln können, die Grundlage für die Auswahl und Buchung von Räumlichkeiten sind. Zutreffend hat Than darauf hingewiesen, dass die persönliche Teilnahme eines Großteils der Aktionäre der Gesellschaft an der Hauptversammlung für den Organisator der Hauptversammlung einer großen Publikumsgesellschaft mit mehreren 100000 Aktionären ein Alptraum wäre8. Es gilt daher zu untersuchen, inwieweit das öffentliche Anbieten von Teilnahme- und Stimmrechten gegen Entgelt und der Erwerb dieser Rechte überhaupt rechtlich statthaft ist. Es fragt sich also, ob, wie in einigen Fällen vom anbietenden Aktionär hervorgehoben, diese Art der Übertragung von Teilnahme und Stimmrechten tatsächlich „absolut legal ist“9. Darüber hinaus ist in einem weiteren Schritt zu untersuchen, inwieweit der Teilnehmerund der Stimmrechtsbevollmächtigtenkreis quantitativ eingeschränkt ist.
II. Der Verkauf und Kauf von Teilnahme- und Stimmrechten Bei den oben dargestellten Auktionen wurde die Übertragung von Teilnahme- und Stimmrechten zum Kauf angeboten. Tatsächlich kam es in dem für den beobachteten Zeitraum von Anfang April bis Ende Mai 2004 bei insgesamt 92 Auktionen in 49 Fällen zum Abschluss eines entsprechenden Kaufvertrages. Der Kaufpreis betrug dabei zwischen 1,00 und 9,55 Euro. Damit haben die „verkaufenden“ Aktionäre anderen (den Käufern) zur Ausübung von Rechten in der Hauptversammlung Aktien gegen Gewähren eines Vor-
__________ Dieses Phänomen ist nicht mit dem sog. „Proxy-Contest“ zu verwechseln, bei dem um die Übertragung von Stimmrechten geworben wird. Vgl. hierzu Bachmann, AG 2001, 635 ff. 8 Than, ZHR 157 (1993), 125 (127). 9 Z. B. Angebot zum Erwerb einer Eintrittskarte zur Hauptversammlung der Deutschen Telekom AG v. 9.5.2004: „Das Ganze ist absolut legal!“. 7
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teils überlassen. Dies könnte gemäß § 405 Abs. 3 Ziff. 3 AktG eine Ordnungswidrigkeit darstellen. Eine Ordnungswidrigkeit könnte ebenfalls im Verhalten der Käufer liegen, die durch Gewähren eines Vorteils sich zur Ausübung von Rechten in der Hauptversammlung Aktien verschafft haben (§ 405 Abs. 3 Ziff. 2 AktG). Ob mit dem Verkauf und dem Kauf der Teilnahme- und Stimmrechte eine Benachteiligung der Gesellschaft oder ihrer Aktionäre gewollt ist, ist für die Erfüllung dieser Tatbestände unbeachtlich. Vielmehr sollen von § 405 Abs. 3 AktG alle Fälle erfasst werden, die ihrem äußeren Anschein nach suspekt sein könnten10. Eine Vereinbarung zwischen Verkäufer und Käufer darüber, wie das Stimmrecht ausgeübt werden soll, gehört nicht zum Tatbestandsmerkmal von § 405 Abs. 3 Ziff. 2 u. 3 AkG. Zum einen spricht der Gesetzeswortlaut nur von dem bloßen Ausüben von Rechten, zum anderen ist in § 405 Abs. 3 Ziff. 6 u. 7 AktG die Absprache über die Abstimmung in der Hauptversammlung gesondert normiert. Der materielle Wert des Vorteils ist hierbei grundsätzlich unbeachtlich, soweit er nicht so geringfügig ist, dass er nur als Gefälligkeit oder Aufmerksamkeit anlässlich der Hergabe der Aktien angesehen werden kann11. Allerdings setzen die Tatbestände der § 405 Abs. 3 Ziff. 2 und 3 AktG voraus, dass Aktien verkauft bzw. überlassen worden sind. Es geht hierbei also um eine Aktienleihe als Umgehungsmöglichkeit, um damit Rechte in der Hauptversammlung auszuüben12. In den hier untersuchten Fällen wird jedoch nicht die Aktie selbst überlassen, sondern nur die aus der Aktie resultierenden Teilnahme- und Stimmrechte. Da es sich bei den in § 405 Abs. 3 Ziff. 2 und 3 AktG aufgeführten Tatbeständen um Ordnungswidrigkeiten handelt, sind diese eng am Wortlaut auszulegen. Eine eventuelle Analogie verbietet sich13. Damit ist die bloße entgeltliche Übertragung von Teilnahme und Stimmrechten nicht als Ordnungswidrigkeit gem. § 405 Abs. 3 AktG und damit nicht als unzulässig einzustufen. Es bleibt daher zu untersuchen, ob nicht die Bevollmächtigung einer Vielzahl von Personen zur Ausübung des Teilnahme- oder Stimmrechts aus anderen Gründen unzulässig ist.
__________ 10 Meyer, AG 1966, 109 (113). 11 Otto in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1997, § 405 Rz. 80. 12 Geilen in KölnKomm.AktG, 1. Aufl. 1985, § 405 Rz. 95, 96; Otto in Großkomm.
AktG, § 405 Rz. 77. 13 Rogall in KarlsruherKomm.OWiG, 2. Aufl. 2000, § 3 Rz. 51 ff.; Göhler, Gesetz über
Ordnungswidrigkeiten, 13. Aufl. 2002, § 3 Rz. 9.
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III. Das Teilnahmerecht und seine Übertragbarkeit 1. Wesen des Teilnahmerechts Obwohl im AktG nicht ausdrücklich normiert, stellt das Teilnahmerecht an der Hauptversammlung ein eigennütziges Mitgliedschaftsrecht des Aktionärs dar14. Das Teilnahmerecht ist wichtig, da es sich bei der Hauptversammlung nicht um eine öffentliche Veranstaltung handelt15 und die Teilnahme den Aktionären ermöglicht, die Berichte der Verwaltung entgegenzunehmen, Fragen und Anträge noch in der Hauptversammlung zu stellen und die Stimmrechte auszuüben. Dass das Teilnahmerecht unbedingt nötig ist, um eine Stimmabgabe zu den einzelnen Beschlussgegenständen der Tagesordnung der Hauptversammlung zu ermöglichen, trifft nur bei einer Bevollmächtigung nach § 134 Abs. 3 AktG zu, ist sonst allerdings in dieser Allgemeinheit so nicht richtig. So kann das Stimmrecht einem für den Aktionär depotführenden Kreditinstitut gemäß § 135 Abs. 1 AktG mittels Bevollmächtigung übertragen werden. Auch können gemäß § 135 Abs. 9 AktG Vereinigungen von Aktionären oder geschäftsmäßig Handelnde mittels Bevollmächtigung das Stimmrecht ausüben. Sollte sich das Kreditinstitut nicht erbieten, Stimmrechtsbevollmächtigungen entgegenzunehmen, so besteht immerhin noch die Möglichkeit, Aktionärsvereinigungen zur Stimmabgabe in der Hauptversammlung zu bevollmächtigen. Mit dem durch das am 25.1.2001 in Kraft getretene NaStraG neu gefassten § 134 Abs. 3, Satz 2 und 3 AktG ist zudem den Gesellschaften das Recht eingeräumt worden, Stimmrechtsvertreter zu ernennen, die von den Aktionären zur Stimmabgabe bevollmächtigt werden können. Diese Möglichkeit wird von den Gesellschaften in zunehmendem Maße ihren Aktionären angeboten. Für den Aktionär steht somit eine weitere Alternative zur Verfügung, sein Stimmrecht auszuüben, ohne selbst an der Hauptversammlung teilnehmen zu müssen. Allerdings ist zuzugestehen, dass es Aktionäre gibt, die nicht Dritte zur Abgabe ihrer Stimmrechte bevollmächtigen möchten, weil sie sich nicht schon im Vorhinein zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten durch Weisung an die Bevollmächtigten binden möchten, sondern erst anhand der Aussprache oder den von ihnen oder anderen Aktionären gestellten Anträgen und von der Verwaltung beantworteten Fragen ihr Stimmverhalten abhängig machen wollen. Somit bleibt festzuhalten, dass jeder Aktionär teilnahmeberechtigt ist und die Verletzung des Teilnahmerechtes eine Anfechtbarkeit der in der Haupt-
__________ 14 Henze, BB 1996, 489 (492). 15 Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 118 Rz. 16; Semler in MünchHdb. GesR, Bd. 4: AG,
2. Aufl. 1999, § 36 Rz. 24; Zöllner in KölnKomm.AktG, Bd. 1, 1. Aufl. 1985, § 118 Rz. 29.
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versammlung beschlossenen Beschlüsse gemäß § 245 Nr. 2 Alt. 1 AktG begründet16. 2. Übertragbarkeit des Teilnahmerechts Das Teilnahmerecht ist kein höchstpersönliches Recht. Es kann daher auch auf Vertreter des Aktionärs (generell auch an Nichtaktionäre) übertragen und von diesen ausgeübt werden17. Die Übertragung erfolgt durch Erteilung einer Vollmacht analog § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG18.
IV. Das Stimmrecht und seine Übertragbarkeit Um Dritten die Teilnahme an der Hauptversammlung zu ermöglichen, wird in den meisten Fällen jedoch das Teilnahmerecht nicht isoliert übertragen. Vielmehr erfolgt eine Stimmrechtsübertragung gemäß § 134 Abs. 3 AktG. Insbesondere ist das Stimmrecht kein Bestandteil des Teilnehmerrechts19. Dies beweist allein schon der Befund, dass auch Inhaber von stimmrechtslosen Vorzugsaktien ein Teilnahmerecht haben20. Wie bei dem Teilnahmerecht handelt es sich bei dem Stimmrecht nicht um ein höchstpersönliches Recht. Zudem ist die Stimmrechtsübertragung in § 134 Abs. 3 AktG ausdrücklich vorgesehen.
V. Anzahl der zur Teilnahme Bevollmächtigten 1. Meinungsstand Umstritten ist jedoch die Frage, wie viele Personen ein Aktionär zur Teilnahme bevollmächtigen darf. Während ein Aktionär, der nur eine Aktie besitzt, auch nur eine Person zur Teilnahme bevollmächtigen kann21, bejaht die wohl herrschende Meinung die Möglichkeit einer Bevollmächtigung von mehreren Personen, soweit der Aktionär auch mehrere Aktien hält22. Begründet wird dies mit der kapitalistischen Struktur der Aktiengesellschaft,
__________ 16 Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 37 und Rz. 71; Hüffer, AktG, § 118 Rz. 12. 17 Hüffer, AktG, § 118 Rz. 14; Mülbert in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 118
Rz. 52. 18 Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 65; Butzke in Obermüller/Werner/
Winden, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 4. Aufl. 2001, C Rz. 12. 19 Ganz h. M., vgl. Hüffer, AktG, § 118 Rz. 9; Kubis in MünchKomm.AktG, § 118
Rz. 37. 20 Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 37. 21 Großfeld/Spennemann, AG 1979, 128 (130); a. A. Bärwaldt in Semler/Volhard, Ar-
beitshandbuch für die Hauptversammlung, 2. Aufl. 2003, § 10 Rz 30. 22 Semler in MünchHdb. GesR (Fn. 15), § 36 Rz. 14; Volhard in MünchKomm.AktG,
2. Aufl. 2004, § 134 Rz. 45; Mülbert in Großkomm.AktG, § 118 Rz. 53; Bärwaldt in Semler/Volhard (Fn. 21), § 10 Rz. 30.
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bei der die jeweiligen Rechte durch je eine Aktie vermittelt werden23. Im Extremfall könnte damit ein einzelner Aktionär sein Teilnahmerecht auf so viele Personen übertragen, wie er Aktien an der Gesellschaft hält. Hüffer und andere Autoren vertreten jedoch die Auffassung, dass es sich bei dem Teilnahmerecht lediglich um ein personenbezogenes (Hilfs)Recht unabhängig von der Aktienanzahl handelt24, da es dem Aktionär lediglich die Möglichkeit eröffnen soll, in der Hauptversammlung die Berichte der Verwaltung entgegenzunehmen, Fragen und Anträge zu stellen und das Stimmrecht auszuüben. 2. Stellungnahme Die Ansicht der in Fn. 24 Genannten, dass das Teilnahmerecht nur auf eine einzelne Person übertragen werden kann, ist vorzugswürdig, allerdings mit der Einschränkung, dass die Bevollmächtigung einer einzelnen weiteren Person insoweit ebenfalls statthaft sein muss, wenn der Aktionär selbst sein Teilnahmerecht ausübt. Zum Teilnahmerecht des Aktionärs bzw. eines Bevollmächtigten sagt das Aktiengesetz nichts, im Gegensatz zu der in § 118 Abs. 2 AktG für die Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrates und in § 176 Abs. 2 AktG für den Abschlussprüfer normierten Pflicht, bei den Hauptversammlungen anwesend zu sein. Wie oben erwähnt (Abschnitt III.1.), muss das Teilnahmerecht des Aktionärs jedoch als selbstverständlich vorausgesetzt werden, da es der Ausübung seiner Rechte in der Hauptversammlung (Entgegennahme des Berichts des Vorstandes, Rede-, Frage- und Antragsrecht) dient. Würde man das Ausmaß der Teilnahmerechte aus der Anzahl der von einem Aktionär gehaltenen Aktien herleiten, müsste man konsequenterweise allerdings auch (bei einer vom Versammlungsvorsitzenden angeordneten rechtmäßigen Redezeitbeschränkung) Großaktionären eine längere Redezeit einräumen25. Die Teilnahme ist somit nur bloße Voraussetzung für die Ausübung anderer Rechte des Aktionärs in der Hauptversammlung. Somit ist es ein personenbezogenes Hilfsrecht, das von der Anzahl der von einem Aktionär gehaltenen Aktien unabhängig ist. Für den Aktionär besteht – mit einer Ausnahme – kein sachlich gerechtfertigter Grund, sein Teilnahmerecht auf mehrere Bevollmächtigte zu übertragen. Eine Ausnahme ist dahin gehend zu machen, dass der Aktionär sich von einem fachkundigen Berater in die Hauptversammlung begleiten lassen darf, um unterstützt durch dessen spezielle
__________ 23 Heckelmann, AcP 170 (1970), 306 (329); Großfeld/Spennemann, AG 1979, 128
(131). 24 Hüffer, AktG, § 53a Rz. 7, § 134 Rz. 27; Schaaf, Die Praxis der Hauptversammlung,
2. Aufl. 1999, Kap. D Rz. 220a; Butzke in Obermüller/Werner/Winden (Fn. 18), Kap. C Rz. 15; Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 65. 25 So auch Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 65; a. A. wohl Hüffer, AktG, § 53a Rz. 7.
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Kenntnisse, Anträge und Fragen zu stellen und ggf. seine Rechte auf eine spätere Anfechtungsklage durch die Erklärung eines Widerspruchs zur Niederschrift gegen einen von der Hauptversammlung gefassten Beschluss (§ 245 Ziff. 1 AktG) zu wahren. Diese Ausnahme ist sachgerecht, da nicht von jedem Aktionär entsprechendes Sachwissen verlangt werden kann. Die Ausnahme, zumindest eine weitere Person zur Hauptversammlung mitnehmen zu dürfen, besteht jedoch nur dann, wenn der Aktionär selbst zur Hauptversammlung erscheint. Kann oder möchte er an der Hauptversammlung nicht selbst teilnehmen, kann er sein Stimmrecht auf einen entsprechenden Berater übertragen, der dann in seiner Eigenschaft als Stimmrechtsvertreter die entsprechenden Rechte wahrnehmen kann. Einer Übertragung des Teilnahmerechts auf eine weitere Person bedarf es dann hingegen nicht.
VI. Anzahl der Stimmrechtsbevollmächtigten 1. Meinungsstand Die Frage, ob die Anzahl der Bevollmächtigten eingeschränkt werden kann, ist auch bei der Frage der Stimmrechtsübertragung umstritten. Auch hier hält die wohl herrschende Meinung die Übertragung der Stimmrechte auf eine Mehrzahl von unterschiedlichen Bevollmächtigten, die der Anzahl der von einem Aktionär gehaltenen Aktien entspricht, für rechtlich zulässig. Eine Begrenzung der Anzahl, zumindest ohne entsprechende Satzungsbestimmung, wird abgelehnt. Begründet wird dies damit, dass ein Aktionär nicht gezwungen werden dürfe, seine Stimmen einheitlich pro Beschlussgegenstand abzugeben. Das Recht zur uneinheitlichen oder gesplitteten Stimmabgabe wird von der ganz herrschenden Meinung angenommen26. So kann ein Aktionär mit einem Teil seiner aus den einzelnen Aktien resultierenden Stimmrechte für den zur Abstimmung gestellten Antrag und mit einem anderen Teil gegen den Antrag stimmen und sich schließlich mit einem noch verbleibenden Anteil auch der Stimme enthalten. Aus dieser Möglichkeit der Stimmenverteilung für jeden einzelnen Aktionär wird gefolgert, dass es auch möglich sein muss und nicht verboten werden darf, dass ein einzelner Aktionär die aus den von ihm gehaltenen Aktien resultierenden Stimmrechte auf unterschiedliche Bevollmächtigte verteilen darf27. Als weiteres Argument wird angeführt, dass ein Aktionär schon deshalb mehrere Bevollmächtigte mit der Ausführung seines Stimmrechtes betrauen darf, weil er seine Aktien auch auf verschiedenen Depots bei unterschiedlichen Kreditinstituten verteilen kann28. Könnte der Aktionär nicht mehrere Bevollmächtigte
__________ 26 Großfeld/Spennemann, AG 1979, 128 (130); Hüffer, AktG, § 133 Rz. 21; Zöllner in
KölnKomm.AktG, § 133 Rz. 49. 27 Großfeld/Spennemann, AG 1979, 128 (131); Steiner, Die Hauptversammlung der
Aktiengesellschaft, 1995, § 13 Rz. 41. 28 Großfeld/Spennemann, AG 1979, 128 (131).
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einsetzen, könnte er in diesem Fall seine Stimmrechte aus einem Teil seiner Aktien nicht ausüben. 2. Stellungnahme Die vorgetragenen Gründe sind gewichtig, aber nicht zwingend. Will der Aktionär nämlich seine Stimmrechte in der Hauptversammlung selbst uneinheitlich ausüben, so muss er nicht notwendigerweise seine Stimmrechte auf andere Bevollmächtigte übertragen. Der Aktionär kann stattdessen bei seiner Gesellschaft bzw. den depotführenden Kreditinstituten mehrere Eintrittskarten auf seinen Namen beantragen. Hintergrund hierfür ist aber nicht die Schaffung von Teilnahmerechten für mehrere Personen, sondern lediglich eine verwaltungstechnische Notwendigkeit, da bei den Hauptversammlungen pro Eintrittskarte dem Aktionär ein Stimmkartenblock zur Verfügung gestellt wird. Die Eintrittskarte wird bei der Einlasskontrolle gegen einen Stimmkartenblock ausgetauscht, auf dem die Anzahl der aus den von dem Aktionär gehaltenen Aktien resultierenden Stimmrechte kodiert ist. Der Aktionär hat dann die Möglichkeit, bei jedem Beschlussgegenstand mit Ja, Nein oder Enthaltung abzustimmen, und zwar insgesamt für alle seine Aktien. Es ist also von der Organisation und der Technik der Hauptversammlung nicht vorgesehen, dass die auf dem Stimmkartenblock eingetragenen Stimmrechte pro Beschlussgegenstand auch noch unterschiedlich ausgeübt werden, wie oben beschrieben. Der Aktionär muss sich also schon mit der Eintrittskartenbestellung die Möglichkeit eröffnen, in den Abstimmungen uneinheitlich seine Stimme abzugeben, indem er eine entsprechend große Anzahl von Eintrittskarten bestellt. Nichts anderes kann aber gelten, wenn der Aktionär nicht selbst sein Stimmrecht ausüben kann oder möchte, sondern seine Stimmrechte auf einen Bevollmächtigten überträgt. Auch hier müssen nicht mehrere Personen mit der Ausübung des Stimmrechts beauftragt werden, wenn der Aktionär seine Stimmrechte uneinheitlich ausüben lassen möchte. Vielmehr genügt es auch hier, dass für einen einzigen Bevollmächtigten eine genügend große Anzahl von Eintrittskarten ausgestellt wird, damit dieser eine entsprechende Anzahl von Stimmkartenblöcken erhält29. Auch die von Großfeld/Spennemann angeführte Argumentation, dass § 12 Abs. 1 Satz 1 AktG bestimmt, dass jede Aktie das Stimmrecht gewährt30, ist nicht zwingend. Die Vorschrift sagt nichts über die Anzahl der Bevollmächtigten, sondern statuiert nur den Grundsatz, dass es pro Aktie ein Stimmrecht gibt (vorbehaltlich stimmrechtsloser Vorzugsaktien gem. § 12 Abs. 1 Satz 2 AktG).
__________
29 Dies ist bei den Banken, die ihre Depotkunden in den Hauptversammlungen ver-
treten, ohnehin bereits Praxis. Hier wird der Bestand aufgesplittet, um unterschiedlichen Weisungen nachzukommen; vgl. Than, ZHR 157 (1993), 125 (130), Fn. 11. 30 Großfeld/Spennemann, AG 1979, 128 (131).
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Es bleibt das Argument, dass der Aktionär verschiedene Bevollmächtigte einsetzen muss, wenn er seine Aktien auf verschiedene Depots übertragen hat. Will der Aktionär seine Stimmrechte in der Hauptversammlung selbst ausüben, stellt sich dieses Problem aber auch nicht, da er über das jeweils depotführende Kreditinstitut auf seinen Namen Eintrittskarten bestellen kann, oder wenn der Aktionär an der Hauptversammlung nicht selbst teilnehmen kann oder will, andere Möglichkeiten bestehen. Zunächst kann der Aktionär das jeweilige Kreditinstitut gemäß § 135 Abs. 1 AktG mit der Ausübung seiner Stimmrechte beauftragen. Die oben dargestellte Gefahr der übermäßigen Kostenerhöhung für die Gesellschaft oder die Erschwerung der Organisation und Durchführung der Hauptversammlung tritt hier nicht ein, da die Kreditinstitute eine Vielzahl von Aktionären vertreten und ihre Angestellten die Hauptversammlung ohnehin besuchen. Das Gleiche gilt für die ebenfalls mögliche Übertragung der Stimmrechte auf Aktionärsvereinigungen oder geschäftsmäßig Handelnde gemäß § 135 Abs. 1 und 9 AktG. Sollte der Aktionär von dieser Stimmrechtsübertragung keinen Gebrauch machen wollen oder können31, so bleibt dem Aktionär immer noch die Möglichkeit, den Kreditinstituten ein und denselben Bevollmächtigten für die Ausübung seiner Stimmrechte zu benennen.
VII. Beschränkung durch Satzungsbestimmungen Immerhin befürwortet auch die ganz herrschende Meinung eine Begrenzung der Teilnahme- und Stimmrechtsbevollmächtigten durch eine entsprechende Satzungsvorschrift32, wobei jedoch Volhard zumindest im Hinblick auf die Stimmrechtsvertretung der Auffassung ist, dass die Satzung die Stimmrechtsvertretung nicht auf eine Person beschränken dürfe33, da es dem Aktionär freistehe, aus verschiedenen von ihm gehaltenen Aktien auch uneinheitlich abzustimmen. Die Gegenmeinung hält auch die Beschränkung auf nur einen Bevollmächtigten für zulässig, da sie das Teilnahmerecht als bloßes Hilfsrecht zur Mitgliedschaft und damit auf die Person des Aktionärs bezogen ansieht34. Obwohl die herrschende Meinung von solch einer satzungsmäßigen Begrenzung der Anzahl der Bevollmächtigten ausgeht, haben zumindest die Dax-Unternehmen eine solche Beschränkung bislang nicht in
__________ 31 Von einigen Kreditinstituten wird der Service der Stimmrechtsausübung nicht
mehr angeboten; vgl. auch Hansen, AG 2003, R 128. 32 Zöllner in KölnKomm.AktG, § 134 Rz. 80; Mülbert in Großkomm.AktG, § 118
Rz. 66; Steiner (Fn. 27), § 13 Rz. 41; Schaaf (Fn. 24), D. Rz. 220a; Semler in Semler/ Volhard (Fn. 21), § 10 Rz. 30; ders. in MünchHdb. GesR (Fn. 15), § 36 Rz. 13; Pentz in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 23 Rz. 161; BGH, WM 1989, 63 (65) (zur GmbH). 33 Volhard in MünchKomm.AktG, § 134 Rz. 45. 34 S. die in Fn. 24 Genannten.
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ihre Satzung aufgenommen35. Die nachträgliche Aufnahme einer solchen Satzungsbestimmung ist mit satzungsändernder Mehrheit möglich. Eine Zustimmung aller Aktionäre ist nicht erforderlich, da sowohl das Teilnahmeals auch das Stimmrecht als mit jeder Aktie verbundenes Verwaltungsrecht kein Sonderrecht darstellt36.
VIII. Die zahlenmäßige Begrenzung der Übertragbarkeit von Teilnahme- und Stimmrechten aufgrund der aktienrechtlichen Treupflicht Die Möglichkeit, die Anzahl von zur Teilnahme bevollmächtigten Personen einzuschränken, ist auch mit der aktienrechtlichen Treupflicht des Aktionärs begründbar. Die Treupflichten treffen alle Aktionäre, also sowohl Mehrheits- als auch Minderheitsaktionäre37. Bei dem Institut der mitgliedschaftlichen Treupflichten handelt es sich bekanntermaßen um eine rechtliche Generalklausel, die auch zur Regulierung der Beziehung zwischen den Aktionären dient. Hiernach besteht die Pflicht zur Förderung des gemeinsamen Zweckes der Gesellschaft und dem Verbot zur Schädigung des Unternehmens und der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitaktionäre als auch die Pflicht, die Rechte und Einflussmöglichkeiten, welche die Mitgliedschaft in der Gesellschaft gewährt, verantwortungsvoll auszuüben38. Der Missbrauch bei der Rechtsausübung wird überwiegend im Zusammenhang mit dem Abstimmungsverhalten, der Blockierung der Umsetzung be-
__________ 35 In den Satzungen findet sich entweder die Bestimmung, dass das Stimmrecht auch
durch Bevollmächtigte ausgeübt werden kann (Satzungen der BMW AG, MAN AG, Commerzbank AG, Continental AG, Deutsche Bank AG, Lufthansa AG, Eon AG, Infinion AG, Linde AG, RWE AG, SAP AG, Siemens AG, Thyssen Krupp AG, Altana AG) oder dass das Stimmrecht (auch) durch einen Bevollmächtigten ausgeübt werden kann (Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG, DaimlerChryssler AG, Henkel AG, Metro AG, Münchener Rück Versicherungs AG, TUI AG). Die Satzungen der zuletzt genannten Unternehmen bestimmen, dass das Stimmrecht durch einen Bevollmächtigten ausgeübt werden kann. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es sich hierbei nicht um eine bewusste Beschränkung auf nur eine Person handelt. Zum einen wird damit nur der Gesetzwortlaut von § 134 Abs. 3 Satz 1 AktG wiedergegeben, zum anderen greifen die einschlägigen Formularbücher, die eine gleich lautende Bestimmung in den Mustersatzungen aufweisen (z. B. Pühler in Happ, Aktienrecht, 2. Aufl. 2004, Muster 1.01; Hölters in MünchVertragshdb., Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Muster V.38), dieses Thema in ihren Erläuterungen jedenfalls nicht auf. 36 So auch zur nachträglichen Einführung von Höchststimmrechten Volhard in MünchKomm.AktG, § 134 Rz. 22; zur zulässigen nachträglichen Einschränkung des Teilnahmerechts bei einer GmbH BGH, WM 1989, 63 (65); ebenfalls zur GmbH Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 47 Rz. 8. 37 Bungeroth in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, vor § 53a Rz. 21; BGHZ 103, 184 (Linotype); BGHZ 129, 136 (Girmes). 38 Raiser, Recht der Aktiengesellschaften, 3. Aufl. 2001, § 12 Rz. 47.
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stimmter Beschlüsse, dem Rede-, Auskunfts- und Antragsrecht diskutiert39. Bei dem Teilnahmerecht handelt es sich um ein so genanntes eigennütziges Mitgliedsrecht, dessen Ausübung erst bei einer willkürlichen oder unverhältnismäßigen Rechtsausübung beschränkt werden darf40. Das Stimmrecht ist ein uneigennützliches Mitgliedsrecht41, bei dessen Wahrnehmung Gesellschaftsbelange nicht entgegenstehen dürfen42. Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Versuche, Teilnahme- und Stimmrechte über das Internet anzubieten und auf Dritte zu übertragen, ist die zahlenmäßige Beschränkung von Teilnahmeberechtigten, die ihr Recht von einem einzigen Aktionär ableiten, sachgerecht und sogar notwendig. Dies trifft auch für die Übertragung von Stimmrechten zu, soweit damit in erster Linie die Teilnahme an der Hauptversammlung bezweckt wird. Wie Steiner mit Recht ausführt, ist die Bestellung von mehreren Vertretern für die Ausübung einzelner Mitverwaltungsrechte nicht oder nur ganz ausnahmsweise vertretbar, da ansonsten der räumliche Rahmen gesprengt und ein reibungsloser Ablauf der Hauptversammlung gefährdet sein könnte43. Sollten in Zukunft Aktionäre, die über mehrere Aktien (vielleicht sogar jeweils über hunderte von Aktien44) verfügen, die Teilnahmerechte pro gehaltener Aktie an Dritte weitergeben, so müssen die Gesellschaften mit einem massenhaften Andrang von Teilnehmern bei ihren Hauptversammlungen rechnen. Dieser Zuspruch steht jedoch in keinem Zusammenhang mit der „Aktionärsdemokratie“, da eben gerade nicht Aktionäre der Gesellschaft an den Hauptversammlungen teilnehmen wollen, sondern dritte, nicht zum Gesellschafterkreis gehörende Personen. Dabei stehen nicht die erhöhten Kosten für die üblicherweise angebotene kostenlose Bewirtung im Vordergrund, da die Verpflegung nicht unentgeltlich erfolgen muss45. Vielmehr dürfte die Organisation und Durchführung von Hauptversammlungen größerer Publikumsgesellschaften höchste Schwierigkeiten verursachen. Neben dem bereits o.g. Problem, einen geeigneten Veranstaltungsraum zu finden, muss auch für eine ausreichende (wenn auch nicht unentgeltliche) Verpflegung und für ausreichende Hygieneräume gesorgt werden46. Zudem sind viele Aktiengesellschaften aufgrund der terroristischen Gefahrenlage dazu übergegangen, umfangreiche Sicherheitskontrollen beim Einlass der
__________ 39 Vgl. grundlegend Henze, BB 1996, 489; Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 18;
Kallmeyer, AG 1998, 123 (124). 40 Hüffer, AktG, § 53a Rz. 16; Henze, BB 1996, 489 (494); Wiesner in MünchHdb.
GesR (Fn. 15), § 17 Rz. 5; Kallmeyer, AG 1998, 123 (125). Wiesner in MünchHdb. GesR (Fn. 15), § 17 Rz. 6; Henze, BB 1996, 489 (492). Henze, BB 1996, 489 (493 f.). Steiner (Fn. 27), § 13 Rz. 41. Bei den beobachteten Internetauktionen wurden Rechte für bis zu 320 Aktien von einem Aktionär einer Gesellschaft angeboten. 45 Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 55. 46 Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 55. 41 42 43 44
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Der Verkauf von Teilnahme- und Stimmrechten über das Internet
Hauptversammlungsteilnehmer durchzuführen, die nicht unerhebliche Zeit in Anspruch nehmen47. Bei einem Andrang von vielleicht bald 10000 Aktionären48 müssten die Teilnehmer schon Stunden vor Beginn der Hauptversammlung anreisen, um sicherzustellen, dass die Hauptversammlung pünktlich beginnen kann. Es bestünde ein erhebliches Anfechtungsrisiko, sollte die Hauptversammlung begonnen werden, obwohl nicht alle Teilnehmer präsent sind, obwohl sie sich in einer angemessenen Zeit vor den Zutrittskontrollen eingefunden haben (ein Erscheinen bereits eine Stunde vor Hauptversammlungsbeginn dürfte von den meisten Aktionären zu Recht wohl nicht mehr als angemessen angesehen werden)49. Es ist daher zu fragen, ob in Zukunft die Hauptversammlungen von großen Publikumsgesellschaften das Risiko in sich bergen, von einer großen Anzahl von Teilnehmern „überlaufen“ zu werden, denen nicht an der Ausübung der ihnen übertragenen Aktionärsrechte, sondern an einer großen „Show“ mit kostenloser Bewirtung gelegen ist. Mülbert begründet seine ablehnende Haltung gegenüber einer Beschränkung der Teilnahmeberechtigung damit, dass er keine durchgreifenden Sachgründe hierfür sehe50. Bei der hier dargestellten Problematik geht es jedoch nicht mehr um die früher immer wieder geführte Diskussion, ob ein Aktionär über eine Teilnahmeberechtigungsübertragung auch noch ein oder zwei Begleitpersonen mit in die Hauptversammlung nehmen darf, sondern um ganz neue Dimensionen, die erst durch das Anbieten von Teilnahmerechten über das Internet zur Wirklichkeit werden könnten. Der Aktionär wird durch die Begrenzung der Anzahl der von ihm zur Teilnahme Bevollmächtigten in seinen Rechten auch nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Er kann sein Teilnahmerecht nach wie vor auf einen Bevollmächtigten übertragen, der dann in der Hauptversammlung Fragen und Beschlussanträge stellen kann. Dass der Aktionär im Extremfall für jede von ihm gehaltene Aktie eine andere Person bevollmächtigen können muss, ist nicht zwingend notwendig. Die Übertragung von Teilnahmerechten an eine Großzahl von Personen durch einen Einzelaktionär schädigt aber nicht nur das Unternehmen (höhere Kosten), sondern stellt auch eine Verletzung der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitaktionäre dar. Diesen Mitaktionären ist daran gelegen, in einer geordnet verlaufenden Hauptversammlung der Ausführung der Verwaltung folgen und Fragen an die Verwaltung stellen zu können. Mit der Übertragung von Teilnahmerechten an eine große Anzahl von Bevollmäch-
__________ 47 Zu dem Umfang möglicher Sicherheitskontrollen vgl. Kubis in MünchKomm.
AktG, § 119 Rz. 123. 48 Die letzte Hauptversammlung der Deutschen Telekom AG und der SAP AG wurde
von ca. 7600 bzw. ca. 4500 Teilnehmern besucht. 49 Vgl. auch Kubis in MünchKomm.AktG, § 118 Rz. 53: „Zum ungehinderten Zugang
gehört auch die Möglichkeit, ohne überlange Wartezeiten am Eingang, den Versammlungsraum betreten zu können.“ 50 Mülbert in Großkomm.AktG, § 118 Rz. 53.
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tigten handelt der Aktionär rechtsmissbräuchlich, da diese Bevollmächtigungen nicht der sachgerechten Wahrnehmung seiner Aktionärsrechte dienlich sind51. Ein Rechtsmissbrauch stellt jedoch auch immer eine Treupflichtverletzung dar52.
IX. Zusammenfassung 1. Der Verkauf und Kauf von Teilnahme- und Stimmrechten stellt keine Ordnungswidrigkeit i. S. d. § 405 Abs. 3 Ziff. 2 und 3 AktG dar und ist daher nach diesen Bestimmungen nicht unzulässig. 2. Das Teilnahmerecht ist ein bloßes Hilfsrecht und gestattet dem Aktionär nicht, das Teilnahmerecht auf eine beliebige Anzahl von Personen zur Teilnahme zu übertragen. Nur wenn der Aktionär an der Hauptversammlung selbst teilnimmt, kann er auch ein Teilnahmerecht auf eine Person als Berater übertragen. Das Gleiche gilt für die Übertragung von Stimmrechten. 3. Zumindest ist eine (auch nachträglich eingeführte) Satzungsregelung zulässig, wonach die Anzahl der Bevollmächtigten für die Wahrnehmung von Teilnahme- oder Stimmrechten eingeschränkt werden kann. 4. Die hier vorgeschlagene zahlenmäßige Begrenzung von Teilnahme- und Stimmrechtsbegrenzungen ist insbesondere nicht konträr zu den Bestrebungen, die Präsenz auf Hauptversammlungen zu erhöhen, da die Bevollmächtigung nicht erschwert wird. Den Aktionären bleibt es unbenommen, sich in den Hauptversammlungen vertreten zu lassen.
__________ 51 Martens, Leitfaden für die Leitung der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft,
3. Aufl. 2003, S. 34. 52 Henze, BB 1996, 489 (494).
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Zur Gesellschafterhaftung in der Vor-GmbH – BGH-Urt. v. 27.1.1997 – II ZR 123/94 BGHZ 134, 133 Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Entscheidung des BGH für die Innenhaftung und Pro-rata-Haftung III. Das neue Haftungsmodell des BGH in der Literatur 1. Die unbeschränkte Haftung
2. Der Innenregress mit anteiliger Haftung a) Ausgangspunkt und Grundsätze b) Fragen zur Zumutbarkeit c) Weitere Einwendungen gegen die Innen- und Pro-rata-Haftung IV. Ausblick
I. Einführung Die gesetzlich nicht geregelte Vor-GmbH und Haftung der Gesellschafter in der Vor-GmbH haben Rechtsprechung und Wissenschaft immer wieder vor schwierige Entscheidungen gestellt. Die vielfachen und vielseitigen Probleme veranlassten Herbert Wiedemann schon im Jahre 1970 einem Beitrag die Überschrift „Das Rätsel Vorgesellschaft“ zu geben1. Der Bundesgerichtshof versuchte, die Lösung im Wege der Rechtsfortbildung zu finden. Wichtige Schritte hierzu sind insbesondere die Urteile vom 12.7.19562 und vom 9.3.19813. Mit und seit dem Urteil vom 12.7.1956 kann es als gesichert angesehen werden, dass die GmbH-Vorgesellschaft eine eigenständige Organisationsform darstellt; der Leitsatz lautet: „Die im Werden begriffene Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist keine bürgerlichrechtliche Gesellschaft, sondern eine Organisationsform, die einem Sonderrecht untersteht, das aus den im Gesetz und im Gesellschaftsvertrag gegebenen Gründungsvorschriften und dem Recht der rechtsfähigen Gesellschaft, soweit es nicht die Eintragung voraussetzt, besteht.“ Im Urteil vom 9.3.1981 hat der Bundesgerichtshof die Vor-GmbH wiederum als eigenständige Organisationsform anerkannt und – soweit es hier interessiert – ausgesprochen, dass a) sie im Rechtsverkehr als Träger von Rechten und Pflichten auftreten kann, b) sie durch Geschäfte, die ihr Geschäftsführer mit Ermächtigung aller Gesellschafter im Namen aller Gesellschafter abschließt, allgemein verpflichtet wird,
__________ 1 2 3
JurA 1970, 339. BGHZ 21, 242 unter Hinweis auf BGHZ 20, 281. BGHZ 80, 129 = ZIP 1981, 394.
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c) die Rechte und Pflichten aus solchen Geschäften mit der Eintragung der GmbH voll auf diese übergehen (kein sog. Vorbelastungsverbot mehr), d) die Vorgesellschaft mit der Eintragung der GmbH in dieser aufgeht (Gesamtrechtsnachfolge). Die Gesellschafter der Vor-GmbH haften danach anteilig für die Differenz, die sich aus solchen Vorbelastungen zwischen dem Stammkapital und dem Wert des Gesellschaftsvermögens im Zeitpunkt der Eintragung ergibt, was gegebenenfalls die Ausfallhaftung gem. § 24 GmbHG einschließt; die Haftung der Gründer aus Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft beschränkt sich nach diesem Urteil noch auf die Höhe der Einlage4. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang die Aussage, dass die Vorgesellschaft als ein auf die künftige juristische Person hin angelegtes Rechtsgebilde bereits körperschaftlich strukturiert ist.
II. Die Entscheidung des BGH für die Innenhaftung und Pro-rata-Haftung Mit dem hier zu besprechenden Urteil vom 27.1.19975 wollte der Bundesgerichtshof ersichtlich die Rechtsfortbildung zur Haftung in der Vor-GmbH abschließen und das Haftungsmodell begradigen und von Ungereimtheiten befreien. Die Leitsätze lauten: 1. Die Gesellschafter einer Vor-GmbH haften für die Verbindlichkeiten dieser Gesellschaft unbeschränkt. Es besteht eine einheitliche Gründerhaftung in der Form einer bis zur Eintragung der Gesellschaft andauernden Verlustdeckungshaftung und einer an die Eintragung geknüpften Vorbelastungshaftung (Unterbilanzhaftung)6. 2. Die Verlustdeckungshaftung ist ebenso wie die Vorbelastungs-(Unterbilanz-)haftung eine Innenhaftung7.
Der Bundesgerichtshof hat die Änderung seiner Rechtsprechung ausführlich begründet. Als „gewichtige Gründe“ für die Ausgestaltung der Verlustdeckungshaftung als Innen- und Pro-rata-Haftung führt er an: Aufgrund ihrer Nähe zur rechtsfähigen GmbH sei die Innenhaftung für die Gesellschafter der Vor-GmbH typischer als die für die OHG und KG in den Grenzen des § 176 HGB maßgebende gesamtschuldnerische Außenhaftung der Gesellschafter. Das spreche dafür, die Haftungsverfassung der Vor-GmbH für Anlaufverluste den für die eingetragene GmbH geltenden Haftungsgrundsätzen anzupassen. Auch die an die Eintragung der GmbH geknüpfte Vorbelastungshaftung (Unterbilanzhaftung) sei folgerichtig stets unter dem
__________ Vgl. hierzu auch BGHZ 80, 182 (184) = ZIP 1981, 516. BGHZ 134, 333 = ZIP 1997, 679. Teilweise Aufgabe von BGHZ 80, 129 (144) = ZIP 1981, 394; BGHZ 91, 148 (152) = ZIP 1984, 950). 7 Aufgabe von BGHZ 65, 378; BGHZ 72, 45 (50). 4 5 6
292
Zur Gesellschafterhaftung in der Vor-GmbH
Blickpunkt der internen Haftung der Gesellschafter gesehen worden. Der weitgehende Gleichlauf der Verlustdeckungshaftung mit der damit im engen Zusammenhang stehenden Vorbelastungshaftung spreche somit nachdrücklich dafür, auch dieses Rechtsinstitut als Innenregress mit anteiliger Haftung auszuformen. Die damit verbundene Beeinträchtigung des Gläubigerschutzes (Erschwerung bei der Durchsetzung der Ansprüche durch die Notwendigkeit, aus einem gegen die Vorgesellschaft erwirkten Titel die gegen die Gründergesellschafter gerichteten Einzelansprüche zu pfänden, Teilschulden einzuklagen und bei deren Uneinbringlichkeit die Ausfallhaftung geltend zu machen) sei angesichts der in diesem Zusammenhang gebotenen Abwägung der Interessen der Gläubiger einerseits und der Gesellschafter andererseits nicht unzumutbar.
III. Das neue Haftungsmodell des BGH in der Literatur 1. Die unbeschränkte Haftung Das neue Haftungsmodell des Bundesgerichtshofes hat allgemein Zustimmung gefunden, soweit es die unbeschränkte Haftung der Gründergesellschafter für die Verbindlichkeiten der Vor-GmbH bejaht. Selbst Kritiker der Neuausrichtung des Bundesgerichtshofes sind in diesem Punkt mit der Rechtsprechung einverstanden8. Karsten Schmidt9, der im Übrigen erhebliche Bedenken gegen das Urteil vom 27.1.1997 geltend macht, begrüßt insoweit das Ergebnis unter der Überschrift „Eine längst fällige Bereinigung der Rechtsprechung“: „Mit Recht und in anerkennungswerter Konsequenz löst sich der II. Senat von der bisherigen Praxis, nach der die Vorgesellschafter nur beschränkt für die Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft haften, im Augenblick der Eintragung dagegen eine Verpflichtung zum vollen Ausgleich einer zu diesem Zeitpunkt bestehenden Unterbilanz entsteht. § 13 Abs. 2 GmbHG ist, wie der Bundesgerichtshof treffend bemerkt, nur auf die eingetragene GmbH anwendbar, die Risikobegrenzung auf die Summe der Stammeinlagen erst mit der die Prüfung der gesetzlichen Normativbestimmungen dokumentierenden Eintragung verdient. Richtig erscheint auch der Hinweis auf die überholte Rechtsprechung zum ‚weiten Handelndenbegriff‘ im Rahmen des § 11 Abs. 2 GmbHG, die im Ergebnis – nur auf der falschen dogmatischen Basis – genau das Richtige, nämlich eine unbeschränkte Außenhaftung in der werbend tätigen Vor-GmbH wollte. Überzeugend ist schließlich die Abstimmung mit der Vorbelastungshaftung, die zu einer unbeschränkten Gesellschafterhaftung für alle zwischen Gründung und Eintragung anfallenden Anlaufverluste vor und nach der Eintragung führen muß.“
__________ 8 9
Zöllner in FS Wiedemann, 2002, S. 1383 (1405). ZIP 1997, 671.
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2. Der Innenregress mit anteiliger Haftung Dagegen folgt nur ein Teil – allerdings der überwiegende Teil – des Schrifttums dem Bundesgerichtshof, soweit er die Haftung der Gründer als beteiligungsproportionale Innenhaftung gestaltet hat. Besonderen Ausdruck haben die Stimmen, die insoweit die Rechtsprechung ablehnen, in dem Festschriftbeitrag von Zöllner aus dem Jahr 2002 gefunden10. Ausführlich und unter Ablehnung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes werden die Fragen auch in der 2003 erschienenen Dissertation von Nordhues behandelt11. Diese Schriften und die dort angeführte Literatur zeigen, dass sich – bisher – die Hoffnung nicht erfüllt hat, Praxis und Rechtsprechung werden das neue Haftungsmodell anerkennen12. Die Festschrift für Volker Röhricht erscheint deshalb in besonderer Weise geeignet, einen Beitrag aufzunehmen, der das unter seinem Vorsitz ergangene rechtsfortbildende Urteil des II. Zivilsenats über die Gesellschafterhaftung in der Vor-GmbH unter dem Blickpunkt der Innen- und Pro-rata-Haftung behandelt. Im Vordergrund müssen dabei die jüngst erschienenen Ausführungen von Zöllner stehen13, der die Problematik um das „Rätsel Vor-GmbH“ umfassend angegangen ist und in allen Verästelungen unter Einbeziehung der Argumente erörtert hat, die vor und nach dem Urteil vom 27.1.1997 in der Literatur Niederschlag gefunden haben. Die gebotene Beschränkung dieses Beitrages schließt es aus, auf das neu entwickelte Haftungsmodell von Baumann14 näher einzugehen, es kann stichwortartig als modifiziertes Konzept der Innenhaftung gekennzeichnet werden. Gleiches gilt für Sandbergers Beitrag15, der das Umwandlungsgesetz zum Anlass nimmt, ein neues Haftungsmodell zu begründen. Schließlich zwingt die notwendige Konzentration auch zum Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit den von WulfHenning Roth entwickelten Haftungsgrundsätzen16; er befürwortet im Grundsatz die unbeschränkte Außenhaftung der Gründergesellschafter, die aber nur subsidiär – nach Haftung der Vorgesellschaft – eingreifen soll. a) Ausgangspunkt und Grundsätze Zöllner17 bezeichnet es als hochproblematisch, dass die neue höchstrichterliche Rechtsprechung die Gründerhaftung nur als Innenhaftung im Sinne einer Deckungshaftung konzipiert hat. Die Innenhaftung stehe in Widerspruch zur Begründung des Bundesgerichtshofes für die Haftung mit allge-
__________ 10 11 12 13 14 15 16 17
Fn. 8, S. 1405 mit Literaturnachw. in Fn. 55. Gesellschafterhaftung in der Vor-GmbH und Vorgründungsgesellschaft, 2003. Goette, EWiR 1997, 849. Vgl. Fn. 8. JZ. 1998, 597. In FS Fikentscher, 1998, S. 389. ZGR 1984, 626. In FS Wiedemann (Fn. 8), S. 1405 ff.
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meinen Grundsätzen des Zivil- und Handelsrechts, nach denen derjenige, der als Einzelperson oder in Gemeinschaft mit anderen Geschäfte betreibt, für die daraus entstehenden Verpflichtungen mit seinem ganzen Vermögen haftet. Daraus könne sich nur eine direkte Außenhaftung ergeben. Wenn der Bundesgerichtshof sogar der BGB-Gesellschaft eine akzessorische Haftung zumesse, die auch durch entsprechende Firmierung („GbR mbH“) nicht auszuschließen sei, sei kaum verständlich, warum für die Vorgesellschaft einer Kapitalgesellschaft etwas anderes gelten soll. Dem ist entgegenzuhalten, dass einer Anwendung dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze die Besonderheiten der Vor-GmbH entgegenstehen: Der von Zöllner angeführte Grundsatz des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts gilt nur mit der Einschränkung, dass der die Geschäfte Betreibende für die daraus entstehenden Verpflichtungen mit seinem gesamten Vermögen nur haftet, „solange sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt oder mit dem Vertragspartner keine Haftungsbeschränkung vereinbart wird“. Ersteres ist nach der hergebrachten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes für die VorGmbH anzunehmen. Wie eingangs ausgeführt18 stellt sich die Vor-GmbH als eigenständige Organisationsform dar, die bereits auf die künftige juristische Person hin körperschaftlich strukturiert ist. Es ist deshalb überzeugend, wenn auf die Vorgesellschaft die Normen des GmbH-Rechts angewandt werden, soweit sie nicht die Eintragung voraussetzen. Dieser allgemeine – allerdings ausfüllungsbedürftige – Rechtsgrundsatz kann auch als gefestigt erachtet werden, zumal er schon vor dem die Vor-GmbH betreffenden Urteil vom 12.7.1956 am 23.4.1956 für die Genossenschaft aufgestellt worden ist19 und letztlich auf frühere Vorüberlegungen des Reichsgerichts zurückgeht20. Angesichts dieser Grundlegungen erscheint es gerechtfertigt und geboten, das im GmbHG vorgegebene Haftungsmodell im Grundsatz auf die VorGmbH zu übertragen und die Rechtsfortbildung dahin zu ergänzen und abzurunden, dass das Binnenhaftungsprinzip des GmbH-Rechts auch im Hinblick auf die Gründerhaftung in der Vor-GmbH anerkannt und die Verlustdeckungshaftung im Gleichlauf mit der – stets als Innenhaftung gestalteten – Vorbelastungshaftung (Unterbilanzhaftung) als Innenregress mit anteiliger Haftung ausgeformt wird. Goette21 verdeutlicht die Probleme und ihre Lösung, indem er die aus dem Gesetz folgenden Verpflichtungen darstellt: In der Phase zwischen dem Abschluss des notariellen Gesellschaftsvertrages und der Eintragung der GmbH erwirtschaftete Verluste lösen die Verpflichtung der Gründer gegenüber der Gesellschaft aus, dafür zu sorgen, dass der GmbH-rechtliche Unversehrtheitsgrundsatz beachtet wird. Dies geschieht dadurch, dass die Gesellschaf-
__________ 18 19 20 21
Vgl. die Ausführungen unter I. Vgl. BGHZ 20, 281 (285). RGZ 39, 29; vgl. auch BGHZ 17, 385 (389). Die GmbH, 2. Aufl. 2002, § 1 Rz. 80.
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ter für die Auffüllung des ausgehöhlten Vermögens der Gesellschaft sorgen und dieselbe dadurch in die Lage versetzen, ihren Verbindlichkeiten gegenüber den Gläubigern nachkommen zu können. b) Fragen zur Zumutbarkeit Erheblich mehr Probleme werfen die Ausführungen auf, die in dem Urteil vom 27.1.1997 unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit und des Übermaßes an Gläubigerschutz erfolgt sind. aa) Der Bundesgerichtshof meint, den Gläubigern entstünden keine unzumutbaren Nachteile, weil sie im Wege der Pfändung den Verlustausgleichsanspruch der Vor-GmbH gegen die Gründer verwerten könnten. Es sei zwar unbestreitbar, dass der aus der Innenhaftung und Pro-rata-Haftung folgende Zwang, aus einem gegen die Vor-GmbH erwirkten Titel die gegen die Gründergesellschafter gerichteten Ansprüche zu pfänden, Teilschulden einzuklagen und bei deren Uneinbringlichkeit die Ausfallhaftung geltend zu machen, den Gläubigern im Vergleich zu einer gesamtschuldnerischen Außenhaftung die Durchsetzung ihrer Ansprüche erschweren könnte. Die in diesem Zusammenhang gebotene Abwägung der Interessen der Gläubiger und der Gesellschafter ergebe aber, dass die Erschwernisse für die Gläubiger nicht unzumutbar seien22. Diese Wertung hält der Kritik stand, wenn – wie geboten – bei der Interessenabwägung berücksichtigt wird, dass die Vor-GmbH als eigenständiges Rechtsgebilde anerkannt ist, auf das die Regeln des GmbH-Rechts grundsätzlich anzuwenden sind. Die Erschwernisse sind Ausfluss des Gesetzes und treffen im Kern auch die Gläubiger der eingetragenen GmbH. Sie können und müssen auf dem Weg überwunden werden, den das Gesetz vorsieht. Angesichts der materiellen Rechtslage fällt es nicht entscheidend ins Gewicht, dass die Ermittlung der Verhältnisse in der Vor-GmbH auf größere Schwierigkeiten stößt; in Grenzfällen bieten das materielle Recht und das Prozessrecht Lösungsmöglichkeiten an. bb) Im Hinblick auf die Gesellschafter der Vorgesellschaft legt der Bundesgerichtshof dar, ihnen könne kaum zugemutet werden, sich einer der Höhe nach unbegrenzten gesamtschuldnerischen Haftung anstelle einer durch die Anlaufverluste begrenzten anteiligen Verlustdeckungs- und Vorbelastungshaftung auszusetzen. Das betreffe insbesondere die kleinen und mittleren Gesellschafterbeteiligungen. Zudem könne es durchaus Fälle geben, in denen die Vorgesellschaft bei Zahlungsfähigkeit die Zahlung aus guten Gründen ablehnt. Hier würde es insbesondere den unternehmerisch nicht beteiligten Gesellschafter unzumutbar belasten, sich die für die Rechtsverteidigung erforderlichen Informationen zuvor bei der Vor-GmbH beschaffen zu müssen,
__________ 22 BGH (Fn. 5), Entscheidungsgründe zu III. 2. a).
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die dem Anspruchsbegehren des Gläubigers selbst ohne derartige Erschwernisse entgegentreten könnte. Den hiergegen gerichteten Argumenten – insbesondere von Karsten Schmidt23 – kann an sich die Berechtigung nicht abgesprochen werden. Schon nach Goette24 hat das Argument der Überforderung der Gesellschafter „weniger Gewicht“; denn angesichts der jedem Gesellschafter drohenden Ausfallhaftung nach § 24 GmbHG müsse er ohnehin damit rechnen, im schlimmsten Falle die entstehenden Verluste allein zu tragen. Es sei auch schwer einzusehen, warum der Gesellschafter, der zusammen mit den übrigen Gründern der sofortigen Geschäftsaufnahme zugestimmt hat, gegenüber den Gläubigern besonderen Schutz verdienen soll. Karsten Schmidt25 weist überdies zu Recht auf die Gegenposition des Gesellschaftsgläubigers hin: „Wer sie auf den mühseligen Weg verweist, aus einem gegen die Vor-GmbH gerichteten (regelmäßig also erst auszuklagenden!) Titel diese Einzelansprüche zu pfänden, Teilschulden einzuklagen und bei deren Uneinbringlichkeit schließlich die Ausfallhaftung geltend zu machen, türmt Hindernisse auf, die ... gravierende Folgen für den Gläubigerschutz hätten.“ Letztlich gilt aber auch hier, dass die Frage der Unzumutbarkeit entsprechend den seit 1956 anerkannten Rechtsgrundsätzen, dass die Vor-GmbH eine eigenständige körperschaftlich strukturierte Organisationsform darstellt, auf die weitgehend die Regeln des GmbH-Rechts anzuwenden sind, vom Gesetz grundsätzlich entschieden worden ist. Auch diese Schwierigkeiten können und müssen im Rahmen des Gesetzes gemeistert werden. c) Weitere Einwendungen gegen die Innen- und Pro-rata-Haftung Mehrere Argumente führt Zöllner gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes unter dem Gesichtspunkt an, die Ausbildung der Haftung im Vorgesellschaftsstadium sei auch „höchst unzweckmäßig“26. Seine Ausführungen betreffen zum Teil die vorstehend behandelten Probleme. Darüber hinaus verweist er auf die Schwierigkeiten der Gläubiger bei der Anspruchsverwertung, die sich daraus ergäben, dass der Verlustdeckungsanspruch erst mit dem Scheitern der Eintragung entstehe. Weiter heißt es: Auch wenn man den Deckungsanspruch der Gesellschaft gegen die Gründer früher entstehen und fällig sein lasse, sei die Ausgestaltung der Haftung im Vorgesellschaftsstadium als Innenhaftung für die Gläubiger mit erheblichen Nachteilen verbunden. Der wichtigste sei, dass die Gläubiger keine Möglichkeit hätten, überhaupt das Vorhandensein oder gar die Höhe des Aktivvermögens festzustellen. Er wendet sich auch gegen die Argumentation, die Möglichkeit
__________ 23 24 25 26
ZIP 1997, 671 (672) i. V. m. ZIP 1996, 353 (357). Die GmbH (Fn. 21), § 1 Rz. 82. ZIP 1997, 671 (672) i. V. m. ZIP 1996, 353 (357). In FS Wiedemann (Fn. 8), S. 1407 ff.
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des laufenden Zugriffs der Gläubiger auf die Gesellschafter der Vor-GmbH sei kaum akzeptabel27 und die Außenhaftung begründe ein Übermaß an Gläubigerschutz28. Die „wichtigste Überlegung“ Zöllners ist, „daß es im Vorgesellschaftsstadium richtigerweise gar nicht um die Haftung für Verluste geht“; er lehnt deshalb die Begriffe Verlustausgleich und Verlustdeckung als „schief und irreführend“ ab29. In der Phase vor Eintragung der GmbH gehe es beim Scheitern der Vorgesellschaft nur darum, den für die Gläubigerbefriedigung in diesem Zeitpunkt erforderlichen Betrag zu ermitteln. Dieser ergebe sich aus dem Schuldenstand und dem zur Gläubigerbefriedigung verfügbaren Aktivbestand des Vermögens. Mit Verlustermittlung habe dies nichts zu tun. Nach der Eintragung sei ebenfalls kein Verlust zu ermitteln und auszugleichen, sondern nur der zur Auffüllung des Vermögensbestandes (Unterbilanz) zum Zeitpunkt der Eintragung erforderliche Betrag. Eine Parallelität der vor der Eintragung eingreifenden Verlustausgleichshaftung im Sinne der BGH-Rechtsprechung mit der Unterbilanzhaftung nach Eintragung bestehe in Wahrheit nicht; es müsse schlicht die Berichtigung von Verbindlichkeiten der Vor-GmbH erfolgen. Welche Verluste die Gesellschaft gemacht habe, könne nur insofern interessieren, als man damit errechnen wolle, in welcher Höhe Gesellschaftsvermögen vorhanden ist und benötigt wird, um Gläubiger zu befriedigen. Was den ersten Teil der Einwendungen angeht – die für den Gläubiger bestehenden Schwierigkeiten bei der Feststellung des Ausgleichsanspruchs der Vor-GmbH gegen die Gründergesellschafter –, kann auf die obigen Ausführungen und die Argumente des Bundesgerichtshofes verwiesen werden, dass sie auf der Grundlage der für die GmbH geltenden Normen zu überwinden sind. Das gilt auch für die „an sich“ als berechtigt anerkannten Einwendungen zum „Übermaß an Gläubigerschutz“ und hinsichtlich der Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Gläubigerforderungen. Das „wichtigste“ Argument Zöllners richtet sich letztlich gegen die Verwendung der Begriffe Verlustdeckung und Verlustausgleich. Ihm muss im Ergebnis auch insoweit ein Erfolg versagt bleiben. Der beanstandete Ausdruck mag Verständnisprobleme herbeiführen. Das Gewollte ist klar: Die Gründer, die mit der Aufnahme der Geschäfte durch die Vor-GmbH einverstanden waren, haften für die vor Eintragung der GmbH entstandenen Verbindlichkeiten und können nicht geltend machen, nur die Verpflichtung zur Leistung einer bestimmten Einlage übernommen zu haben. Verlustdeckungshaftung bedeutet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, dass die Gesellschafter der Vorgesellschaft verpflichtet sind, das an Mitteln zur Ver-
__________ 27 So Dauner-Lieb, GmbHR 1996, 91. 28 So Ulmer, ZIP 1996, 733 (735). 29 In FS Wiedemann (Fn. 8), S. 1441 (1391, 1392).
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fügung zu stellen, dass die in der Gründungsphase entstandenen Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern erfüllt werden können30. Die Höhe des Betrages richtet sich nach den von Zöllner angeführten Grundsätzen31. Das Ergebnis wird weitgehend von den Vermögensminderungen bestimmt sein, die durch „Verluste“ entstanden sind; darauf ist ersichtlich auch der Begriff „Verlustdeckungshaftung“ zurückzuführen. Ob darunter allein operative Verluste der Vorgesellschaft zu verstehen sind oder auch Vermögensminderungen anderer Art, wie sie Zöllner beschreibt, ist für die Frage, die hier allein zu entscheiden ist, ob den Vorgesellschafter eine Außenhaftung oder eine beteiligungsproportionale Binnenhaftung trifft, ohne Bedeutung. Die von Zöllner vermisste Parallelität zwischen Ausgleichshaftung (= Verlustdeckungshaftung) und Unterbilanzhaftung besteht darin, dass in beiden Fällen die Gründergesellschafter die für die Schuldtilgung erforderlichen Summen aufbringen müssen. Darauf beschränkt sich allerdings die Verlustdeckungshaftung; die Unterbilanzhaftung verlangt darüber hinaus Leistung zur Deckung der Stammkapitalziffer. Schließlich darf im Hinblick auf die geltend gemachten praktischen Schwierigkeiten nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Anwendungsbereich der Innenhaftung begrenzt ist. Nach Goette32 zeigen die praktischen Fälle, dass die Gründergesellschafter den Gläubigern der Vor-GmbH sehr häufig unmittelbar, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch haften, „wenn nämlich die Geschaftstätigkeit nicht sofort beendet wird, wenn sich das Scheitern der Gründung herausstellt“. Dann greifen die Grundsätze der „unechten Vorgesellschaft“ ein. Der Bundesgerichtshof weist ferner im Urteil vom 27.1.1997 darauf hin, dass dem Gläubiger der unmittelbare Zugriff auf den Gründergesellschafter gestattet ist, wenn es sich um eine Einmann-GmbH handelt und wenn die Vor-GmbH vermögenslos ist oder keinen Geschäftsführer mehr hat und weitere Gläubiger nicht vorhanden sind.
IV. Ausblick Der Bundesgerichtshof ist mit dem Urteil vom 27.1.1997 den Weg der Rechtsfortbildung zur Lösung der mit der Gründerhaftung in der Vor-GmbH verbundenen Probleme konsequent weitergegangen. Es hat sich mit der umfangreichen Literatur der letzten Jahrzehnte gründlich auseinander gesetzt und das Für und Wider der für die Außenhaftung einerseits und die Innenhaftung andererseits sprechenden Argumente abgewogen. Das Ergebnis, die
__________ 30 Vgl. Goette, Die GmbH (Fn. 21), Rz. 77, 78. 31 In FS Wiedemann (Fn. 8), S. 1391 (1392): Zur Phase vor Eintragung heißt es:
... anders meint es der BGH, wenn ich recht sehe, nicht. Zur Phase nach Eintragung führt er aus: Auch das ist in der Sache der Standpunkt des BGH, wenn er die Berechnung der Unterbilanzhaftung erläutert. 32 Die GmbH (Fn. 21), § 1 Rz. 83.
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Anerkennung der beteiligungsproportionalen Innenhaftung und Ablehnung der gesamtschuldnerischen Außenhaftung, ist schlüssig begründet. Es wird im Kern von dem altbewährten Rechtsgrundsatz getragen, dass die VorGmbH kein personengesellschaftsrechtliches Gebilde ist, sondern eine eigenständige Organisationsform darstellt, die als Durchgangsstation zur GmbH die Anwendung der Regeln des GmbH-Rechts fordert, die nicht die Eintragung der Gesellschaft voraussetzen. Angesichts der mehrfachen Änderungen der Rechtsprechung und der – auch im Zeitverlauf – unterschiedlichen Auffassungen in der Rechtswissenschaft wäre es zu begrüßen, wenn das neue Haftungsmodell – trotz gewisser Schwächen im Hinblick auf die Durchsetzung der Gläubigeransprüche – im Interesse der Rechtssicherheit anerkannt würde und auf dieser Basis die noch offenen Probleme einer Lösung zugeführt würden.
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Einlagengeschäft und Gesellschaftsrecht – Eine Skizze zu § 1 KWG Inhaltsübersicht I. Das KWG als Schranke der Gestaltungsfreiheit im Gesellschaftsrecht II. Die wesentlichen Merkmale des Einlagengeschäfts nach § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG III. Entwicklung der Rechtsprechung zum Einlagengeschäft und Kritik 1. Stille Gesellschaftsbeteiligung kein Einlagengeschäft 2. Verfassungsrechtliche Determinanten 3. Vermögensverwaltung kein Einlagengeschäft
4. Geschäftsbesorgung kein Einlagengeschäft a) Traditionelle Begriffsmerkmale des Einlagengeschäfts b) Untauglichkeit dieser Merkmale c) Beschränkende Wirkung des Tatbestandsmerkmals „als Einlage“ d) Begrenzter Schutzzweck des KWG 5. Beteiligung an Publikumsgesellschaft als Einlage? 6. Fremdnützige Treuhand kein Einlagengeschäft IV. Fazit
I. Das KWG als Schranke der Gestaltungsfreiheit im Gesellschaftsrecht Das Gesellschaftsrecht unterliegt in verschiedener Hinsicht den Vorgaben des Kreditwesengesetzes, so etwa bei der Rechtsformwahl (§ 2a KWG), beim Organkredit (§ 15 KWG), oder bei der Festlegung des bilanziellen Eigenkapitals (§ 10 KWG) samt dessen Konzerndimensionalität (§ 10a KWG). Die einschneidendste Beschränkung gesellschaftsrechtlicher Gestaltungsfreiheit ergibt sich nach Auffassung einiger Stimmen in Literatur und Rechtsprechung aber aus § 1 KWG. Danach ist u. a. das Einlagengeschäft (§ 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG) erlaubnispflichtig (§§ 32, 37 KWG), in bestimmten Fällen sogar verboten (§ 3 KWG). Wer sich nicht daran hält, wird bestraft (§ 54 KWG). Hinzu kommt, dass sich Organmitglieder einer Pflichtverletzung (§ 93 AktG, § 43 GmbHG) schuldig machen, wenn sie namens der Gesellschaft Einlagengeschäfte tätigen, die gegen § 1 KWG verstoßen. Die nachfolgenden Überlegungen, die dem Jubilar in fachlicher Hochschätzung gewidmet sind, leuchten die Konturen dieses kreditwesenrechtlichen Tätigkeitsverbotes und seine Bedeutung für das Gesellschaftsrecht aus.
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II. Die wesentlichen Merkmale des Einlagengeschäfts nach § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG Das Gesetz versteht unter einem Einlagengeschäft „die Annahme fremder Gelder als Einlagen oder anderer rückzahlbarer Gelder des Publikums, sofern der Rückzahlungsanspruch nicht in Inhaber- oder Orderschuldverschreibungen verbrieft wird, ohne Rücksicht darauf, ob Zinsen vergütet werden (Einlagengeschäft), …“ (§ 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG). Zu den einzelnen Merkmalen dieser Begriffsbestimmung liegt eine Fülle von Rechtsprechung1 und Literatur2 vor. Der Grund hierfür ist, dass das KWG die zentrale Frage, unter welchen Voraussetzungen Gelder „als Einlage“ angenommen werden, nicht beantwortet3. Die Frage, welche Tätigkeiten unter den Begriff des Einlagengeschäfts fallen, ist „von einer abschließenden Klärung weit entfernt“4. Die Praxis behilft sich deshalb mit einer Indizienliste, die sich auf die „bankwirtschaftliche Verkehrsauffassung“ stützt. Indizien für eine „Einlage“ sind danach5: –
– –
die Entgegennahme von Geldern von einer Vielzahl von Geldgebern aufgrund typisierter Verträge als Darlehen oder in ähnlicher Weise (d. h. unter Vereinbarung der Rückzahlbarkeit an die Geldgeber), das Fehlen einer banküblichen Besicherung und die Absicht der Mittelverwendung für eigene Zwecke.
III. Entwicklung der Rechtsprechung zum Einlagengeschäft und Kritik Zum Verständnis dieses Indizienkatalogs ist es erforderlich, die Entwicklung der hierzu ergangenen Rspr. nachzuzeichnen: 1. Stille Gesellschaftsbeteiligung kein Einlagengeschäft Grundlegende Aussagen zum Einlagengeschäft finden sich zunächst in einem BGH-Urteil v. 15.3.19846. Im dort entschiedenen Fall hatte der Kläger beim
__________ 1
2
3 4 5 6
Zuletzt BGH, ZIP 2001, 1503 (1504 f.) = NJW-RR 2001, 1639 m. umfangr. N.; nachfolgend OLG Schleswig, NZG 2003, 1059 (1064) = ZIP 2002, 1244 (1249) m. abl. Anm. Hey/Dörre, BB 2002, 2034. Fülbier in Boos u. a. (Hrsg.), KWG, 2000, § 1 Rz. 32 ff.; Thessinga in Ebenroth/ Boujong/Joost, HGB, 2001, BankR III Rz. 1 ff., S. 1917 ff.; Schimansky u. a. (Hrsg.), Bankrechtshandbuch, 2. Aufl. 2001, § 69, S. 1751 ff., § 111 Rz. 6, § 27 Rz. 10; Schäfer/ Schwintowski, Bank- und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2003, § 4, S. 91 ff.; Loritz, ZIP 2001, 309 ff.; Demgensky/Erm, WM 2001, 1445 ff. BGH, ZIP 2001, 1503 (1504). Demgensky/Erm, WM 2001, 1445. BGH, ZIP 2001, 1503 (1504 f.); vgl. auch Fülbier in Boos, KWG, § 1 Rz. 36; Fischer in Schimansky (Fn. 2), § 127 Rz. 10; Gößmann in Schimansky (Fn. 2), § 69 Rz. 65. BGHZ 90, 310 = NJW 1984, 2691.
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Zusammenbruch der Spar- und Kreditbank-GmbH Stuttgart (SKB) durch den Verlust seiner Einlage als stiller Gesellschafter dieser Bank einen Schaden erlitten. Diesen Schaden sollte ihm die Bundesrepublik Deutschland ersetzen, weil das damalige Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred.) seiner Aufsichtspflicht gegenüber der SKB nicht hinreichend nachgekommen sei. Der BGH verneinte einen derartigen Anspruch, weil die SKB im Verhältnis zu ihren stillen Gesellschaftern überhaupt keine Bankgeschäfte betreibe: In Betracht kam hier in der Tat nur das „Einlagengeschäft“ i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG. Der Prüfung dieses Tatbestands schickte das Gericht eine grundsätzliche Feststellung über den Zweck des KWG voraus. Es solle: – –
die Funktionsfähigkeit des Kreditapparats bewahren und die Gläubiger der beaufsichtigten Kreditinstitute nach Möglichkeit vor Verlusten schützen.
Mit Blick auf den Gläubigerschutz stellte der BGH klar, dass es hier allein um den Schutz der „Einlagegläubiger“ gehen könne (i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG). Dazu zählt der BGH freilich nur Personen, die den Kreditinstituten als Außenstehende Vermögenswerte anvertrauen. Wer dagegen eine Bank mit Kapital ausstatte, trete in eine Innenbeziehung zu ihr und nehme an deren Gewinn und Verlust teil (§§ 335 ff. HGB a. F., seit 1985 §§ 230 ff. HGB). Deshalb – so der BGH weiter – fielen gesellschaftsrechtliche Einlagen nicht unter die „Annahme fremder Gelder als Einlage“ i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG. Diese Aussage sieht der BGH völlig zu Recht durch die typische Interessenlage beim Gesellschaftsvertrag bestätigt: Diese unterscheide sich ganz wesentlich von der beim Darlehen. Während Gesellschafter eine Zweckgemeinschaft bildeten, verfolge ein außenstehender Kreditgeber lediglich seine eigenen Interessen, die von denen des Geschäftsinhabers verschieden sind. Ob der Betrag in das Vermögen des Geschäftsinhabers übergehe, sei vor diesem Hintergrund nicht ausschlaggebend für den Tatbestand des Einlagengeschäfts. Dieses Urteil wird bis heute dafür zitiert, dass Gesellschaftereinlagen keine Einlagen i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG sind7.
__________ 7
Fischer in Schimansky (Fn. 2), § 127 Rz. 10 mit Fn. 109, S. 4423; Thessinga in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Bankrecht III Rz. 6; Schäfer/Schwintowski (Fn. 2), § 4 Rz. 4, die aber bei Konditionen, die dem bankmäßigen Einlagengeschäft angeglichen sind (Mindestverzinsung, keine Verlustbeteiligung), trotzdem das KWG anwenden wollen, ebenso das BAKred. in den Pressemitteilungen v. 1.8.2000 und v. 10.11.1999, abrufbar unter www.bafin.de.
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2. Verfassungsrechtliche Determinanten Im Urteil v. 27.3.19848 definierte das BVerwG die subjektive Seite des Einlagengeschäfts: Erforderlich ist danach, „dass fremde Gelder zwecks Finanzierung des Aktivgeschäfts des annehmenden Unternehmens, d. h. mit der Intention entgegengenommen werden, durch eine positive Differenz zwischen den Bedingungen der Geldannahme einerseits, des Aktivgeschäfts andererseits, Gewinn zu erzielen.“ Dieser Grundsatz entspricht dem dritten Punkt in der oben II. wiedergegebenen Indizienliste. In dem entschiedenen Sachverhalt hatte das BAKred. die Ausgabe von Namensgewinnschuldverschreibungen (§ 221 AktG) durch eine AG beanstandet. Dabei handelte es sich um einen Automobilhersteller9. Die Maßnahme sollte – ähnlich wie bei Belegschaftsaktien – zur Vermögensbildung der Arbeitnehmer und zur stärkeren Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenserfolg beitragen. Die Beanstandung stützte sich auf die durch Schreiben des BAKred. v. 24.4.1968 eingeführte und seitdem von der Behörde benutzte Umschreibung, Einlagen i. S. des KWG lägen schon immer dann vor, wenn (1) von einer Vielzahl von Geldgebern aufgrund typisierter Verträge darlehensweise oder in ähnlicher Weise – d. h. mit Rückzahlungsverpflichtungen – Gelder entgegengenommen und (2) den Geldgebern nicht bankübliche Sicherheiten bestellt würden10. Diese behördliche Begriffsbestimmung hat das BVerwG ausdrücklich als viel zu weit verworfen11: „Beide Umschreibungen12 reichen nicht aus, um das Einlagengeschäft als Bankgeschäft von der den Vorschriften des KWG nicht unterliegenden Annahme sonstiger Fremdgelder verlässlich unterscheiden zu können.“ Die Feststellung ist in ihrer Tragweite vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben für grundrechtsbeschränkende Vorschriften des Verwaltungsrechts und des Strafrechts gar nicht hoch genug zu veranschlagen. So betont das BVerwG in ständiger Rechtsprechung das Gebot der Normenklarheit: Jede Grundrechtsbeschränkung (hier: der Gewerbefreiheit) bedarf einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkung klar und für den Bürger erkennbar ergeben13. Und
__________ 8 BVerwGE 69, 120 = NJW 1985, 929. 9 Vgl. Canaris, BB 1978, 227. 10 Das Schreiben v. 24.4.1968 liegt der Praxis der BaFin – als Nachfolgeorganisation
zum BAKred. – offenbar noch heute zugrunde, vgl. Gößmann in Schimansky (Fn. 2), § 69 Rz. 5 Fn. 9; s. auch die gleich lautende Begriffsbestimmung im BAKred.Schreiben v. 3.7.1975, zit. bei Fülbier in Boos, KWG, § 1 Rz. 36. 11 BVerwG, NJW 1985, 929 (930). 12 Auch die des Berufungsgerichts im entschiedenen Fall, Anm. d. Verf. 13 BVerwG, NJW 2004, 1191 (1192 f.) m. zahlr. N.; für das KWG schon Canaris, BB 1978, 227 (228) mit Fn. 16–17; Demgensky/Erm, WM 2001, 1445 (1454 l. Sp.); Fischer, BKR 2002, 1084 (1087).
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das BVerfG verlangt in st. Rspr., dass ein strafrechtlicher Schuldvorwurf – hier: nach § 54 KWG – nur zulässig ist, wenn der Maßstab der Entscheidung von vornherein eindeutig gesetzlich festgelegt ist14. Das BVerwG betont deshalb aus Gründen der Rechtsklarheit, dass nicht jeder Rückzahlungsgläubiger als Einlagengläubiger i. S. des KWG schutzwürdig ist. Nach der bankwirtschaftlichen Verkehrsauffassung diene das Einlagengeschäft der kontinuierlichen Ansammlung und Bereithaltung liquiden Kapitals für die laufende Finanzierung des Aktivgeschäfts. Daraus erkläre sich die eingangs beschriebene Zweckverfolgung bei der Hereinnahme von Geldern. Im vorliegenden Fall war anhand der Ausgabebedingungen der Namensgewinnschuldverschreibungen eindeutig zu belegen, dass ein solcher Zusammenhang nicht bestand, und zwar auch wegen des „gesellschaftsrechtlichen Einschlags“ der Maßnahme15. Zugleich warnte das BVerwG vor einem Ausbau des KWG zu einem Instrument des „allgemeinen Schutzes von Rückzahlungsgläubigern“. Dafür biete schon die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Regelung des Bankwesens (Art. 74 Nr. 11 GG), auf der das KWG beruht, keinen Raum16. Das Schrifttum sieht die Gefahr einer Ausuferung der Bankenaufsicht ebenso17. 3. Vermögensverwaltung kein Einlagengeschäft Gut zehn Jahre später hatte sich erneut der BGH – dieses Mal der II. Zivilsenat – mit dem Begriff des Einlagengeschäfts nach dem KWG zu beschäftigen. Im Urteil v. 13.4.199418 ging es um die Haftung einer GmbH-Geschäftsführerin. Die Klägerin hatte mit der GmbH einen „Vermögensverwaltungsvertrag“ abgeschlossen. Darin hatte sie die GmbH beauftragt und bevollmächtigt, mit den ihr zur Verfügung gestellten Geldmitteln Anlagegeschäfte zu tätigen. Von den der GmbH überlassenen 453 000 DM hatte die Klägerin am Ende nur 130 000 DM zurückerhalten. Der II. Zivilsenat verneinte eine Haftung der GmbH-Geschäftsführerin u. a. mit dem Hinweis, ein Verstoß gegen das KWG sei hier nicht ersichtlich19. Zwar legte das Gericht hier noch einmal die vom BVerwG beanstandete weite Definition des Einlagengeschäfts zugrunde; dieser Tatbestand sei schon dann gegeben, „wenn von einer Vielzahl von Geldgebern auf der Grundlage
__________ 14 BVerfG, NJW 2004, 739 (745). 15 BVerwG, NJW 1985, 929 (930 f.); so auch Canaris, BB 1978, 227 (231): „Eine gesell-
schaftsrechtliche Komponente ist dem Einlagengeschäft völlig fremd.“ 16 BVerwG, NJW 1985, 929 (931 a. E.), in Abgrenzung zu BGHZ 74, 144 (154) = NJW
1979, 1354. 17 Canaris, BB 1978, 227 (232 unter 3 a a. E.); Demgensky/Erm, WM 2001, 1445 (1449):
„Das KWG ist nicht als eine Norm zur Prävention gegen das allg. Insolvenzrisiko konzipiert.“ 18 BGHZ 125, 366 = NJW 1994, 1801. 19 BGHZ 125, 366 (379 ff.).
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typisierter Verträge in Form von Darlehen oder in ähnlicher Weise laufend Gelder entgegengenommen werden, die nicht banküblich gesichert sind“20. Gleichzeitig schloss das Gericht aber nicht aus, dass die von der Beklagten geführte GmbH die hereingenommenen Gelder ihrerseits auf ein für den jeweiligen Anleger eingerichtetes Konto bei einer Bank weitergeleitet habe, um es anschließend im Namen des Anlegers zum Kauf von Wertpapieren zu verwenden21. In diesem Fall sei das Vorliegen eines Einlagengeschäfts „zumindest fraglich“. Der Sache nach entspricht dies der Linie des BVerwG: Es fehlte nämlich bereits an einem eigenen Aktivgeschäft des Empfängers der Fremdgelder. 4. Geschäftsbesorgung kein Einlagengeschäft Gelegenheit zur Fortsetzung dieser restriktiven Linie fand der III. Zivilsenat des BGH wenig später im Urteil v. 9.3.199522. Dort ging es um einen Geschäftsbesorgungsvertrag, wonach der Kl. über den Bekl. eine Kapitalanlage in Höhe von 22 500 DM tätigen werde. Der BGH sah den Vertrag als wirksam an. Ein verbotenes Einlagegeschäft i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG i. V. mit § 3 KWG liege nicht vor. Bei der Begründung dieses Ergebnisses ging der Senat in vier Schritten vor23: a) Traditionelle Begriffsmerkmale des Einlagengeschäfts Zunächst werden die traditionellen Begriffsmerkmale des Einlagengeschäfts referiert, nämlich: – – –
die Entgegennahme von Geldern von einer Vielzahl von Geldgebern aufgrund typisierter Verträge, darlehensweise oder in ähnlicher Weise, die fehlende bankübliche Sicherung der entgegengenommenen Beträge, „laufende“ Entgegennahme von Geldern.
Dies entspricht der Begriffsbestimmung durch das BAKred und die Bundesbank. b) Untauglichkeit dieser Merkmale Unter Berufung auf die oben unter 2. wiedergegebene Entscheidung des BVerwG v. 27.3.1984 distanzierte sich jedoch auch der III. Zivilsenat des BGH von dieser Formel24. Denn sie laufe darauf hinaus, „jede Annahme von fremden Geldern“ als Einlagengeschäft anzusehen. Dies sei mit der bankwirtschaftlichen Verkehrsauffassung unvereinbar. Kennzeichnend für das
__________ 20 21 22 23 24
BGHZ 125, 366 (380). BGHZ 125, 366 (380). BGHZ 129, 90 = NJW 1995, 1494. BGHZ 129, 90 (92 ff.). BGHZ 129, 90 (94).
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Einlagengeschäft und Gesellschaftsrecht
bankmäßige Einlagengeschäft sei nämlich, dass die Geschäfte über Konten abgewickelt und angemessen verzinst werden. Damit sei der – hier beabsichtigte – Einsatz des Geldes zu Spekulationszwecken unvereinbar. c) Beschränkende Wirkung des Tatbestandsmerkmals „als Einlage“ Dieses Tatbestandsmerkmal ist so zu verstehen, dass das unternehmerische Bestreben gerade zielgerecht auf die Durchführung eines Einlagengeschäfts angelegt sein muss. Im Anschluss an die Bundesverwaltungsgerichts-Entscheidung v. 27.3.1984 – oben 2. – betonte der BGH hier den Charakter des Einlagengeschäfts als bloße Vorstufe zum eigenen Aktivgeschäft des Zahlungsempfängers25. Daran fehle es, wenn ein Unternehmen den Betrag mit der Absicht und der Verpflichtung entgegennehme, ihn im Interesse des Einzahlenden möglichst ertragreich anzulegen und zu vermehren26. Dass die Einzahlung nicht die Vornahme von Aktivgeschäften des Zahlungsempfängers ermöglichen sollte, schloss der BGH aus folgenden Regelungen im Geschäftsbesorgungsvertrag27: – – –
Informationsrecht der Anleger, außergewöhnliche Höhe der in Aussicht gestellten Gewinne, Mitwirkungspflicht der Anleger.
d) Begrenzter Schutzzweck des KWG Wie auch das BVerwG wendet sich der BGH im Urteil v. 9.3.1995 gegen den Ausbau des KWG zu einer Allzweckwaffe bei der Bekämpfung angeblicher Missstände im Kreditwesen im weitesten Sinne. Das KWG wolle zwar das breite Publikum vor Verlusten bei der Anlage seiner Mittel bewahren. Wer indessen Anlagen in der Absicht tätige, höchstmögliche Gewinne zu erzielen, sei von diesem Schutzzweck nicht erfasst. Geschützt sei nur der typische Sparer, der eine gewisse Verfügbarkeit und das Vorhandensein einer relativen Sicherheit erwarte. Dies sei hier aber nicht einmal im Hinblick auf die Gewinngarantie gegeben, da deren Wert allein von der Vermögenslage des Unternehmens abhänge28. 5. Beteiligung an Publikumsgesellschaft als Einlage? Eine gegenläufige Tendenz lässt sich einem Urteil des VG Berlin v. 22.2.1999 entnehmen29. Dort ging es um eine Publikumsgesellschaft30, die von ihr vor-
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BGHZ 129, 90 (95). BGHZ 129, 90 (95 f.); bestätigt in BGH, ZIP 2001, 1503 (1505). BGHZ 129, 90 (96). BGHZ 129, 90 (96 f.). VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 = DB 1999, 1377. VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 (644 l. Sp.).
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gefertigte Angebote zum Abschluss eines Gesellschaftsvertrages als stiller Gesellschafter in großer Zahl und regelmäßig anbot. Der Gesellschaftsvertrag enthielt eine Mindestgewinngarantie und den Ausschluss einer Verlustbeteiligung. Die Kernaussagen dieses Urteils lauten wie folgt: 1. Ein Unternehmen nimmt fremde Gelder als Einlage entgegen, wenn es in einer dem Einlagengeschäft der Banken wirtschaftlich adäquaten Weise Geldanlagemöglichkeiten für das breite Publikum bietet. 2. Der vom Einlagenbegriff beabsichtigte Schutzbereich ist dort eröffnet, wo die Anleger gerade unter Herausstellung der dem Einlagengeschäft der Banken adäquaten Anlagekonditionen zur Hingabe ihrer Gelder veranlasst werden. 3. Insbesondere die Vereinbarung eines garantierten Mindestgewinnes unter Ausschluss einer Verlustbeteiligung entspricht bei wirtschaftlicher Betrachtung einer banküblichen Festzinsvereinbarung und ist damit prägendes Merkmal für den Einlagecharakter der Anlageform. 4. Der gesellschaftsrechtliche Einlagenbegriff steht – wie auch der zivilrechtliche Darlehensbegriff – neben dem Begriff der Einlage i. S. des Kreditwesengesetzes. Hierdurch werden verschiedene rechtliche Bereiche erfasst, so dass die Begriffe sich nicht notwendig gegenseitig ausschließen und Überschneidungen denkbar erscheinen. Schon bei der ersten Lektüre dieser Grundsätze fällt auf, dass das Gericht mit dem von ihm gewählten, kaum fassbaren Kriterium der „wirtschaftlichen Adäquanz“ offenbar weder die dem KWG vorgelagerte Gewerbefreiheit (§ 1 GewO) mit samt ihrer verfassungsrechtlichen Grundlage (Art. 12 GG – Berufsfreiheit)31 noch das strafrechtliche Analogieverbot (§ 1 StGB; Art. 103 Abs. 2 GG)32 ernst zu nehmen scheint33. Dieser Eindruck wird durch eine Analyse der Urteilsgründe bestätigt: Kennzeichnend sei für das Einlagengeschäft – hier gibt das VG die von der Behördenpraxis verwendete Definition wieder –, dass von einer Vielzahl von Geldgebern auf der Grundlage typisierter Verträge darlehensweise oder in ähnlicher Weise Gelder entgegengenommen werden, wobei bankübliche Sicherheiten fehlen34. Sodann räumt das VG ein, dass das BVerwG im Urteil v. 27.4.1984 – oben 2. – diese Formel in zweifacher Hinsicht einschränkend auslegt: im Lichte der bankwirtschaftlichen Verkehrsauffassung und im Hin-
__________ 31 Hierzu nur Schlette, JuS 2001, 1151; BVerwG, NJW 1982, 2681; Regnery, Banken-
aufsicht, 1994, S. 9, zit. bei Böcking/Bierschwale, BB 1999, 2235. 32 Dazu z. B. Fischer, BKR 2002, 1084 ff. unter V. (zum Kreditbegriff); zum Ganzen
auch oben 1. 33 Dennoch hat das BAKred. diese Grundsätze des VG Berlin übernommen, vgl. die
zitierte Pressemitteilung v. 1.8.2000, betreffend Gesellschaftsbeteiligungen gegen Mindestzins und Ausschluss der Verlustbeteiligung (real direct AG). 34 VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 (643).
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Einlagengeschäft und Gesellschaftsrecht
blick auf die dienende Funktion des Einlagengeschäfts gegenüber dem Aktivgeschäft des kapitalnehmenden Unternehmens. Überraschenderweise beschränkt das VG nun aber den vom BVerwG – und von der st. Rspr. des BGH35 – verlangten funktionalen Bezug des Einlagengeschäfts zu den sonstigen Geldgeschäften des kapitalnehmenden Unternehmens auf die Praxis der zugelassenen Unternehmen. Überraschend ist dies deshalb, weil das Merkmal in den bis dahin entschiedenen Fällen stets nur bei nicht zugelassenen Unternehmen geprüft wurde, und zwar auch in dem Urteil des BVerwG v. 27.3.1984, dem das VG zu folgen vorgibt. Überraschend ist die vom VG Berlin vorgenommene Unterscheidung aber vor allem deshalb, weil der Einlagenbegriff nur bei der Frage bedeutsam ist, ob eine Nichtbank ein verbotenes Einlagengeschäft betreibt36. Selbst bei den nicht zugelassenen Unternehmen – so das VG weiter – sei der funktionale Bezug aber nicht kennzeichnend für das Einlagengeschäft. Denn letztlich sei die Absicht, durch den Einsatz entgegengenommener Fremdgelder Gewinne zu erzielen, jeglicher geschäftlichen Betätigung immanent. Damit ist die vom BVerwG verlangte Absicht der Mittelverwendung für eigene Zwecke als verfassungskonformes Abgrenzungskriterium für das Einlagengeschäft völlig verwässert37. Entscheidend sei ganz allgemein, ob „nach ihrem wirtschaftlichen Gehalt Anlagemöglichkeiten zu banküblichen Bedingungen angeboten werden. Der vom Einlagenbegriff beabsichtigte Schutzbereich (sei) folglich dort eröffnet, wo die Anleger gerade unter Herausstellung der dem Einlagengeschäft der Banken adäquaten Anlagekonditionen zur Hingabe ihrer Gelder veranlasst werden“38. Hinzukommen müsse – und mit dieser Formel verlässt das VG endgültig das strafrechtliche (§ 54 KWG!) Bestimmtheitsgebot – „die funktionale Einbindung der unternehmerischen Betätigung im Finanzmarktbereich im weitesten Sinne“39. Der Ausbau des KWG zu einem Allzweckinstrument im Dienste des Gläubigerschutzes im weitesten Sinne, vor dem das BVerwG mit Recht gewarnt hat, wäre damit vollzogen. Für die Einstufung des zur Prüfung stehenden Modells als Einlagengeschäft sprachen nach Auffassung des VG Berlin40: – –
eine bankübliche Angebotsvielfalt der frei wählbaren Anlagegeschäfte, Sparformen und Laufzeiten, die kapitalmarktorientierten Zinskonditionen,
__________
35 Zuletzt in BGH, ZIP 2001, 1503 (1504). 36 So ausdrücklich Gößmann in Schimansky (Fn. 2), § 69 Rz. 6 a. E. 37 Harsche Kritik hierzu deshalb mit Recht bei Loritz, ZIP 2001, 309 (311): Das VG
verkenne „völlig die Bedeutung dieses Merkmals“. 38 VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 (643 f.). 39 VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 (644), Hervorh. durch den Verf.; zust. aber Schäfer/
Schwintowski (Fn. 2), § 4 Rz. 4. 40 VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 (644).
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– –
die bankübliche Festzinsvereinbarung, die Bezeichnung der Anlage in der Werbung als „Sparvorschlag“.
Zwar unterfielen gesellschaftsrechtliche Einlagen grundsätzlich nicht dem KWG; dies gelte aber nur, wenn dem Anleger die Teilnahme am unternehmerischen Risiko verdeutlicht wird, und damit der Vorstellung des Anlegers, er wähle eine bankähnliche Anlagemöglichkeit, gezielt entgegengewirkt wird41. Dies sei bei Publikumsgesellschaften „nicht zwingend“42. Hier liege wegen des Ausschlusses der Verlustbeteiligung in Wirklichkeit gar kein Gesellschaftsverhältnis vor43. 6. Fremdnützige Treuhand kein Einlagengeschäft Die nachfolgende obergerichtliche Rspr. hat dieses Urteil nicht mehr berücksichtigt. Dies zeigt das BGH-Urteil v. 29.3.2001 zur Treuhänderschaft bei der Durchführung von Anlagegeschäften44. Zum Begriff des Bankgeschäfts heißt es dort: „Ein Anlagegeschäft stellt dann ein Bankgeschäft dar, wenn fremde Gelder als rückzahlbare Anlagen angenommen werden, sofern der Rückzahlungsanspruch nicht in Inhaber- oder Orderschuldverschreibungen verbrieft wird und diese Einlagen für eigene Zwecke genutzt werden sollen“45. Im dort entschiedenen Sachverhalt hatten Anleger sich zu einer GbR zusammengeschlossen, die über einen Treuhänder ein Darlehen in Höhe von 6 Mio. DM an eine Bauträger-GmbH gewährte. Nach Insolvenz des Bauträgers verlangte ein Anleger von dem Treuhänder – einem Notar – Rückzahlung des Anlagebetrages. Der Treuhänder habe seine Amtspflichten als Notar verletzt, weil die Hereinnahme der Gelder ein erlaubnispflichtiges Einlagengeschäft i. S. des KWG sei. Dem wollte der BGH so pauschal nicht folgen46: Nach einer Wiedergabe des Gesetzeswortlauts des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG47 führte er zunächst die oben unter II. genannten drei Indizien des Einlagengeschäfts auf. Zur Prüfung dieser Indizien verwies der BGH die Sache noch einmal an die Vorinstanz zurück, und stellte dabei eine – nicht abschließende – Negativliste auf, d. h. Gesichtspunkte, die gegen das Vorliegen einer Einlage i. S. der genannten KWG-Vorschrift sprechen:
__________ 41 VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 (644 a. E.). 42 VG Berlin, NJW-RR 2000, 642 (645). 43 Zust. auch insoweit Schäfer/Schwintowski (Fn. 2), § 4 Rz. 4; i.E. auch Fischer in 44 45 46 47
Schimansky (Fn. 2), § 127 Rz. 10 nach Fn. 9. BGH, ZIP 2001, 1503 (1504) = NJW-RR 2001, 1639. LS der ZIP-Redaktion. BGH, ZIP 2001, 1503 (1504 f. unter I. 1. b) aa)). I. d. F. der Bekanntmachung v. 9.9.1998, d. h. mit der Erweiterung des Tatbestands auf die „Annahme … anderer rückzahlbarer Gelder des Publikums“ im Zuge der 6. KWG-Novelle von 1997, Gesetz v. 22.10.1997, BGBl. I, 2158.
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Einlagengeschäft und Gesellschaftsrecht
–
wenn die fremden Gelder nicht in der Absicht entgegengenommen werden, sie für die eigenen Zwecke zu nutzen, vielmehr das Kapital im Interesse des Anlegers möglichst ertragreich woanders angelegt wird (letztlich nur eine Umkehrung des positiven Merkmals der Absicht der Mittelverwendung für eigene Zwecke)48,
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wenn das Kapital der Vermögensbildung der Betriebsangehörigen und deren Beteiligung am Unternehmenserfolg dienen soll49, oder
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wenn es sich um ein erkennbar risikobehaftetes Spekulationsgeschäft handelt50.
Dieses Urteil ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst findet sich hier keine Bezugnahme auf die oben unter 5. berichtete Entscheidung des VG Berlin mit dem dort postulierten weiten Begriff des Einlagengeschäfts. Insbesondere übernimmt der BGH nicht die vom VG aufgestellte Regel (dort Leitsätze 1 und 2), schon jedes einem Bankgeschäft „wirtschaftlich adäquate“ Geschäft unterfalle dem KWG. In der Tat führt eine derart weit gefasste Formel dazu, dass das Eingreifen der Bankenaufsicht für die Unternehmen völlig unvorhersehbar wird. Darin liegt ein evidenter Verstoß gegen das strafrechtliche Analogieverbot und die Bestimmtheitsanforderungen an grundrechtsbeschränkende Gesetze („Gebot der Normenklarheit“), oben 2. Mit Recht greift der BGH auch die Aussage des VG Berlin nicht auf, bei nicht als Bank zugelassenen Personen sei für das Vorliegen des Einlagengeschäfts ein funktionaler Bezug zum Aktivgeschäft verzichtbar. Vielmehr folgt der BGH dem BVerwG. Danach ist das Einlagengeschäft als Passivgeschäft nur die Vorstufe zum Eigengeschäft (Aktivgeschäft) der Bank. Der Gewinn der Bank liegt klassischerweise in der Marge zwischen Passiv- und Aktivgeschäft. Der insoweit zutreffenden Begründung des BVerwG ist hier nichts hinzuzufügen. Weiterhin findet sich in dem BGH-Urteil v. 29.3.2001 kein Hinweis auf den vom VG (dort LS 3) angenommenen Automatismus, wonach bei Vorliegen eines Mindestzinses sowie des Ausschlusses einer Verlustbeteiligung stets der Tatbestand des Einlagengeschäfts erfüllt sei. Tatsächlich sind derartige Klauseln etwa auch im Personengesellschaftsrecht völlig üblich und zulässig51.
__________ 48 49 50 51
Hier verweist das Gericht auf BGHZ 129, 90 (95 f.), oben 4. Hier Verweis auf BVerwG, WM 1984, 1364 (1367) = BVerwGE 69, 120, oben 2. Hier Verweis auf BGHZ 129, 90 (96 f.), oben 4. und auf BGH, NStZ 2000, 37 (38). Vgl. nur Ehricke in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 121 Rz. 17 (feste, gewinnunabhängige Verzinsung des Kapitalanteils) und Rz. 19 (vollkommener Ausschluss der Verlustbeteiligung); ausdrücklich § 231 Abs. 2 HGB (gesellschaftsvertragliche Bestimmung, dass der stille Gesellschafter nicht am Verlust beteiligt ist).
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Vor diesem Hintergrund verwundert es schließlich nicht, dass der BGH mit keinem Wort auf die vom VG (dort LS 4) angenommene Überschneidung der Einlagenbegriffe des Gesellschaftsrechts und des Bankaufsichtsrechts eingeht. Tatsächlich scheidet eine solche Überschneidung auch aus, denn ein Vertrag ist entweder Interessenvereinigungsvertrag (dann Gesellschaftsrecht) oder Austauschvertrag (dann bankrechtliches Einlagengeschäft). Das VG verkennt die Grundlagen der Typenlehre des deutschen Vertragsrechts52. Das BGH-Urteil ist aber noch unter einem zweiten Gesichtspunkt bemerkenswert: Die Worte „oder anderer rückzahlbarer Gelder des Publikums, sofern der Rückzahlungsanspruch nicht in Inhaber- oder Orderschuldverschreibungen verbrieft wird“ sind erst mit der 6. KWG-Novelle v. 22.10.199753 in den Tatbestand des Einlagengeschäfts aufgenommen worden. Diese Neuregelung beruht auf Art. 3 der Zweiten Bankrechtskoordinierungs-Richtlinie der EWG v. 15.12.198954. Die Bestimmung ist nunmehr in Art. 3 der neuen Bankrechtskoordinierungs-Richtlinie v. 20.3.200055 enthalten. Art. 3 Satz 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten untersagen Personen oder Gesellschaften, die keine Kreditinstitute sind, die Tätigkeit der Entgegennahme von Einlagen oder anderen rückzahlbaren Geldern des Publikums gewerbsmäßig zu betreiben.“ Mit der Umsetzung dieser Richtlinie – so eine im Jahre 2000 erschienene Kommentierung – sei die „Annahme rückzahlbarer Gelder des Publikums“ als Auffangtatbestand zum bisherigen Einlagenbegriff hinzugekommen56. Daraus soll sich namentlich ergeben, dass seit 1.1.1998 die Zweckrichtung bei der Annahme der Mittel entgegen dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts v. 27.3.1984 – oben 2. – und dem Urteil des BGH v. 9.3.1995 – oben 4. – keine Rolle mehr spiele; denn für den Begriff der „rückzahlbaren Gelder des Publikums“ komme es auf die Zweckrichtung nicht mehr an57. Deshalb sei seither auch die Hereinnahme fremder Gelder, die im Namen des Einlegers bei Dritten platziert werden, als Einlagengeschäft anzusehen58.
__________ Vgl. nur Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 20. Aufl. 2003, § 6 Rz. 3. BGBl. I S. 2158. Richtlinie 89/646/EWG, ABl. EWG Nr. L 386/1. Richtlinie 2000/12/EG über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute v. 20.3.2000, ABl. EG Nr. L 126/1 = Beck’sche Textausgabe Europäisches Wirtschaftsrecht, Nr. 320. 56 Fülbier in Boos, KWG, § 1 Rz. 32; Weber, NJW 2000, 3461 (3467 a. E.). 57 Fülbier in Boos, KWG, § 1 Rz. 38 mit Verweis auf die Regierungsbegründung; Schlette, JuS 2001, 1151 (1152 mit Fn. 11 „ohne Rücksicht auf die Intention des Annehmenden“). 58 Fülbier in Boos, KWG, § 1 Rz. 42, Hervorhebung durch den Verf. 52 53 54 55
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Einlagengeschäft und Gesellschaftsrecht
Andere Literaturstellen haben diese Schlussfolgerung mit Recht aus der 6. KWG-Novelle nicht gezogen59. Und auch der BGH hält im zitierten Urteil v. 29.3.2001 an dem subjektiven Erfordernis fest. Über die schon bisher angeführten Gründe hinaus – oben 2. – spricht dafür sogar der neue Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG: Denn auch die hinzugefügte zweite Tatbestandsvariante („oder anderer rückzahlbarer Gelder des Publikums“) fällt unter die Klammerdefinition des „Einlagengeschäfts“ (Nr. 1 a. E.). Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht ernsthaft vertreten, die „anderen Gelder“ müssten nicht als Einlage hereingenommen werden60. Ein Geldbetrag, der nicht „als Einlage“ hereingenommen wird, ist schon begrifflich keine Einlage, wenn man einmal das methodische Prinzip zugrunde legt, dass Grenze der Gesetzesauslegung stets der mögliche Wortsinn einer Norm ist. Die gegenteilige Auffassung führt zu einem Norminhalt, der wegen sprachlicher Perplexität die Nichtigkeit des neuen § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG bedeuten würde. Wenn aber – wie gezeigt – das Erfordernis der Hereinnahme von Zahlungen „als Einlage“ auch für die zweite Tatbestandsvariante des Einlagengeschäfts gilt, dann sind die von der Rechtsprechung hierfür entwickelten subjektiven Merkmale („Absicht der Mittelverwendung für eigene Zwecke“) auch insoweit maßgeblich.
IV. Fazit In der Summe bleibt festzuhalten, dass gesellschaftsrechtliche Gestaltungen im Regelfall nicht als Einlagengeschäft i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG anzusehen sind. Denn Gesellschafter vertrauen ihrer Gesellschaft nicht als Außenstehende Vermögenswerte an, sondern nehmen am unternehmerischen Risiko ihrer Gesellschaft teil; der Gesellschaftsvertrag ist Interessenvereinigungsvertrag, nicht Austauschvertrag. Diese Grundregel gilt auch nach der Erweiterung des Tatbestands des Einlagengeschäfts durch die sechste KWGNovelle von 1997.
__________ 59 Gößmann in Schimansky (Fn. 2), § 69 Rz. 8 (mit ausdrücklicher Billigung des Bun-
desverwaltungsgerichts-Urteils v. 27.3.1984, auch unter dem neuen Einlagenbegriff), § 127 Rz. 10; Thessinga in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Bankrecht III Rz. 5: „Funktionaler Einlagenbegriff“ (S. 1918); Hey/Dörre, BB 2002, 2034 (2035), die – unter anderem – mit Recht betonen, dass die Kapitaleinlagen der Investoren (1) nicht fremde Gelder, sondern gesellschaftsrechtliche Einlagen sind (weshalb auch das Bundesverwaltungsgerichtsurteil v. 27.3.1984 (Fn. 8) einen Bezug zum Aktivgeschäft abgelehnt hatte) und (2) nicht unbedingt rückzahlbar seien (wegen der Teilnahme am Verlust); diese Autoren berufen sich ausdrücklich auf die Begründung zum Dritten Finanzmarktförderungsgesetz v. 24.3.1998, BT-Drucks. 13/8933, S. 62. 60 So aber Fülbier in Boos, KWG, § 1 Rz. 38, 42.
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Eintrittshaftung in der BGB-Gesellschaft Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Entscheidung des IX. Zivilsenats vom 22. Januar 2004 III. Die Spruchpraxis des II. und des XI. Zivilsenats IV. Legitimationsgrundlagen des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB V. Interessenlage bei Gründung einer BGB-Gesellschaft 1. Vollstreckungsinteresse der Altgläubiger und Bestandsinteresse der Gesellschaft 2. Zum Vergleich: Haftung bei Eintritt in eine bestehende BGBGesellschaft
a) Die Argumentation des IX. Zivilsenats im Urteil vom 22. Januar 2004 b) Zum „Ergänzungsverhältnis“ zwischen § 130 Abs. 1 HGB und § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB c) Zur Legitimation der Eintrittshaftung analog § 130 HGB d) Wertungen 3. Schutz der Gesellschafterinteressen durch § 28 Abs. 2 HGB VI. Besonderheiten bei Gründung einer Anwaltssozietät?
I. Einleitung Das deutsche Gesellschaftsrecht entwickelt sich dynamisch fort. Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat diese Entwicklung unter dem Vorsitz Volker Röhrichts aktiv und umsichtig mitgestaltet. Die Neuorientierung im Recht der BGB-Gesellschaft ist hierfür ein prominentes Beispiel. In seinem Urteil vom 29.1.20011 hat der Senat die Rechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft anerkannt und die Gesellschafterhaftung in der GbR als akzessorische Haftung für die Gesellschaftsverbindlichkeiten gedeutet. Soweit der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft bürgerlichen Rechts persönlich hafte, entspreche das Verhältnis zwischen der Verbindlichkeit der Gesellschaft und der Haftung des Gesellschafters derjenigen bei der OHG. Damit führte der Senat seine Leitentscheidung vom 27.9.19992 fort, in der er die Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts – unter Abkehr von der bislang verfochtenen „Doppelverpflichtungstheorie“ – einer „kraft Gesetzes“ bestehenden persönlichen Haftung für die im Namen der Gesellschaft begründeten Verbindlichkeiten unterworfen hatte.
__________
BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056; dazu Röhricht in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2001, 2002, S. 3 (4 ff.). 2 BGHZ 142, 315 = NJW 1999, 3483; dazu Röhricht in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1999, 2000, S. 3 (26 ff.). 1
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Zunächst noch offen blieb die Reichweite dieser akzessorischen Gesellschafterhaftung, insbesondere im Fall des Eintritts in eine BGB-Gesellschaft. Unter dem Datum des 7.4.20033 urteilte der II. Zivilsenat jedoch, dass der in eine bestehende Gesellschaft bürgerlichen Rechts eintretende Gesellschafter entsprechend § 130 HGB für vor seinem Eintritt begründete Verbindlichkeiten der Gesellschaft grundsätzlich auch persönlich und als Gesamtschuldner mit den Altgesellschaftern hafte. Im entschiedenen Fall ging es um die Haftung eines in eine Anwaltssozietät eingetretenen Rechtsanwalts für eine – vor seinem Eintritt – rechtsgeschäftlich begründete Verbindlichkeit der Gesellschaft. Die Haftung für Altverbindlichkeiten entsprechend § 130 HGB treffe, so der BGH, im Grundsatz auch Gesellschaften bürgerlichen Rechts, in denen sich Angehörige freier Berufe zu gemeinsamer Berufsausübung zusammengeschlossen hätten. Ob für Verbindlichkeiten aus beruflichen Haftungsfällen solcher Gesellschaften eine Ausnahme zu machen sei, ließ die Entscheidung offen. Das Bekenntnis des BGH zur analogen Anwendung des § 130 HGB im Recht der BGB-Gesellschaft hat schnell die Frage aufgeworfen, ob Entsprechendes auch für § 28 HGB zu gelten hat. Jene Bestimmung betrifft den Eintritt als persönlich haftender Gesellschafter oder als Kommanditist in das Geschäft eines Einzelkaufmanns, also die Einbringung eines einzelkaufmännischen Unternehmens in eine (neu gegründete) OHG oder KG. § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB ordnet die Haftung der Gesellschaft für die Altverbindlichkeiten des (bisherigen) Einzelkaufmanns an. Würde auch die Gründung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts unter Einbringung eines Einzelunternehmens eine entsprechende Gesellschaftsschuld begründen, so hätte dies zugleich die akzessorische Haftung aller Gesellschafter entsprechend § 128 HGB zur Folge. Der eintretende BGB-Gesellschafter müsste, wo keine haftungsvermeidende Vorsorge (entsprechend § 28 Abs. 2 HGB) getroffen wurde, persönlich für die Altverbindlichkeiten des bisherigen Einzelunternehmers einstehen. Mit eben dieser Frage hat sich der (für das Anwaltshaftungsrecht zuständige) IX. Zivilsenat des BGH mittlerweile befassen müssen. Seiner Entscheidung vom 22.1.20044 lag die Gründung einer Anwaltssozietät zugrunde, in welche die Kanzlei eines Einzelanwalts eingebracht worden war. Der BGH verneinte eine Haftung der eintretenden Sozien für die Verbindlichkeiten dieser Kanzlei: Schließe sich ein Rechtsanwalt mit einem bisher als Einzelanwalt tätigen Rechtsanwalt zur gemeinsamen Berufsausübung in einer Sozietät in der Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammen, so hafte er nicht entsprechend § 28 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 128 Satz 1 HGB für die im Betrieb des bisherigen Einzelanwalts begründeten Verbindlichkeiten.
__________ BGHZ 154, 370 = NJW 2003, 1803; dazu Röhricht in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2003, 2004, S. 1 (5 ff.). 4 BGHZ 157, 361 = NJW 2004, 836. 3
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Eintrittshaftung in der BGB-Gesellschaft
Der IX. Zivilsenat hat diese Feststellungen aus den Besonderheiten des anwaltlichen Mandatsverhältnisses heraus zu begründen versucht und sich einer verallgemeinernden Aussage zur (Nicht-)Anwendbarkeit des § 28 HGB auf die Gründung sonstiger BGB-Gesellschaften enthalten. Der hier unternommene Versuch einer kritischen Wertung jener Entscheidung geht zunächst der Frage nach, ob § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB für die BGB-Gesellschaft generell analogiefähig ist. Nur dann lässt sich ermessen, ob für die Gründung einer Anwaltssozietät ggf. Besonderheiten zu gelten haben. Doch zunächst soll die Argumentation des IX. Zivilsenats etwas näher referiert werden5.
II. Die Entscheidung des IX. Zivilsenats vom 22. Januar 2004 Der Kläger hatte einen titulierten Schadensersatzanspruch gegen seinen anwaltlichen Berater wegen Veruntreuung von Mandantengeldern. Das (Dauer-) Beratungsmandat war zu einem Zeitpunkt zustande gekommen, als jener noch als Einzelanwalt tätig war. Die den Schadensersatzanspruch auslösenden Pflichtverletzungen waren dem Berater unterlaufen, nachdem er sich mit einem Partner (dem Beklagten) zur gemeinsamen Berufsausübung in einer (später wieder aufgelösten) Anwaltssozietät in der Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammengeschlossen hatte. Der Kläger nahm den ehemaligen Sozius seines Beraters mit der Begründung in Anspruch, dieser hafte gesamtschuldnerisch für die von seinem Partner während des Bestehens der Sozietät begangenen Pflichtverletzungen. Weil eine vertragliche Einbeziehung des Beklagten in das vor Gründung der Sozietät geschlossene Vertragverhältnis nicht feststellbar war, sah es der IX. Zivilsenat für den Erfolg der Klage als entscheidend an, ob der Beklagte „kraft Gesetzes infolge der Gründung der Sozietät in das bereits bestehende Mandatverhältnis einbezogen“ und in entsprechender Anwendung der §§ 28 Abs. 1 Satz 1, 128 Satz 1 HGB haftbar zu machen sei6. Das wurde im Ergebnis verneint. Nach seinem Wortlaut und nach der (bisherigen) Rechtsprechung des BGH setze § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB voraus, dass jemand in das Geschäft eines Einzelkaufmanns eintrete; der Einzelanwalt sei aber gerade kein Einzelkaufmann, da er kein Gewerbe betreibe. Ob § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB in dem Sinne erweiternd auszulegen ist, dass auch die Einbringung eines nichtkaufmännischen Unternehmens in eine (unternehmenstragende) BGB-Gesellschaft genügt, lässt der IX. Senat ebenso dahinstehen wie die Frage, ob § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB nur die Mithaftung der neu entstandenen Gesellschaft für die einzelnen Verbindlichkeiten des früheren Geschäftsinhabers begründet oder auch zum Übergang ganzer Rechtsverhältnisse auf den neuen Unter-
__________ 5 6
S. hierzu auch den Besprechungsaufsatz von Karsten Schmidt, BB 2004, 785. BGHZ 157, 361 (364) = NJW 2004, 836 (837).
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nehmensträger führt7. Denn jedenfalls für die in casu in Rede stehenden Verpflichtungen aus dem zwischen dem (seinerzeitigen) Einzelanwalt und dem Kläger begründeten Vertragsverhältnis komme ein Übergang der Haftung auf die (später gegründete) Sozietät wegen der besonderen Ausgestaltung des zwischen einem (Einzel-)Anwalt und seinem Mandanten bestehenden Rechtsverhältnisses nicht in Betracht: Dieses Rechtsverhältnis sei in erster Linie durch die persönliche und eigenverantwortliche anwaltliche Dienstleistung geprägt. Jedenfalls der Einzelanwalt werde in der maßgeblichen Sicht des Rechtsverkehrs „als Person und nicht als Unternehmen“ zum unabhängigen Berater und Vertreter des Mandanten in Rechtsangelegenheiten berufen8. Wenn aber das Vertragsverhältnis nach dem Willen der Vertragsparteien persönlicher Art sein solle, dann greife der Gedanke einer auf die Kontinuität eines Unternehmens gestützten Haftungserstreckung nicht. Da die persönliche Leistungserbringung die berufliche Tätigkeit des Einzelanwalts insgesamt charakterisiere, seien nicht etwa nur einzelne Rechtsverhältnisse oder Verbindlichkeiten von einem Übergang der Haftung auszunehmen, sondern es sei eine entsprechende Anwendung des § 28 Abs. 1 HGB auf den Eintritt in das „Geschäft“ eines Einzelanwalts grundsätzlich zu verneinen. Darüber hinaus weist der IX. Zivilsenat darauf hin, dass die Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf den Zusammenschluss von bisher als Einzelanwälten tätigen Rechtsanwälten zu einer Anwaltssozietät auch deshalb abzulehnen sei, weil ihnen nicht wie den Gesellschaftern einer offenen Handelsgesellschaft die (von § 28 Abs. 2 HGB gewährte) Möglichkeit offen stehe, einer abweichenden Vereinbarung durch Eintragung in das Handelsregister Dritten gegenüber Geltung zu verleihen. Würde man § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB gleichwohl zur Anwendung bringen, wären Nichtkaufleute schlechter gestellt als Kaufleute9. Mit diesem ergänzenden Begründungsansatz verlässt der IX. Zivilsenat freilich seinen zuvor gesteckten – ganz auf die Besonderheiten des anwaltlichen Mandatsverhältnisses abstellenden – Argumentationsrahmen. So gesehen deutet wenig darauf hin, dass der Senat im Zusammenhang nichtanwaltlicher BGB-Gesellschaften zu einem andern Ergebnis gelangen würde. In der Tendenz streiten die Entscheidungsgründe vielmehr generell gegen die analoge Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Gründung einer BGB-Gesellschaft.
__________ Über den Meinungsstand zur zweiten Frage informieren etwa Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 25 Rz. 59 ff., § 28 Rz. 29. 8 BGHZ 157, 361 (367) = NJW 2004, 836 (837 f.). 9 BGHZ 157, 361 (367) = NJW 2004, 836 (838). 7
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Eintrittshaftung in der BGB-Gesellschaft
III. Die Spruchpraxis des II. und des XI. Zivilsenats Zumindest der Wortlaut des § 28 HGB bestätigt jene Zurückhaltung. § 28 Abs. 1 HGB knüpft an den Eintritt eines persönlich haftenden Gesellschafters oder eines Kommanditisten in das Geschäft eines Einzelkaufmanns an, womit die Einbringung des einzelkaufmännischen Geschäfts in eine (neu gegründete) OHG oder KG gemeint ist. Vom Wortlaut der Vorschrift ist also nicht schon jede Gesellschaftsgründung unter Einbringung des schon bestehenden Unternehmens eines ihrer Gründer erfasst, sondern nur die Gründung einer Personenhandelsgesellschaft. Und dabei genügt nicht etwa schon die Einbringung irgendeines Unternehmens, sondern nur die eines einzelkaufmännischen Unternehmens. Nach altem Recht – bis zur Handelsrechtsreform 1998 – wurde zwar die Einbringung eines minderkaufmännischen Unternehmens als ausreichend angesehen, das mit der Gesellschaftsgründung zum Vollhandelsgewerbe erstarkte10. Die Einbringung eines nichtkaufmännischen Einzelunternehmens fällt aber jedenfalls nicht mehr unter den Wortlaut des § 28 Abs. 1 HGB. Dementsprechend hatte der II. Zivilsenat des BGH in seiner früheren Rechtsprechung die Anwendung des § 28 HGB auf die Einbringung eines nichtkaufmännischen Gewerbeunternehmens abgelehnt11. Und ebenso hatte er die Geltung der Vorschrift verneint, wo ein (minder-)kaufmännisches Unternehmen in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts eingebracht worden war12. In einer Entscheidung vom 18.1.2000 hielt der XI. Zivilsenat des BGH13 an dieser Linie jedenfalls für solche Fälle ausdrücklich fest, in denen ein Einzelunternehmen in eine neu gegründete GmbH oder Aktiengesellschaft eingebracht wird: Nach ihrem eindeutigen Wortlaut erfordere die Vorschrift des § 28 HGB eine Personengesellschaft. Auch die Gründung einer Vor-GmbH genüge demnach nicht. Eine entsprechende Anwendung des § 28 HGB im Wege richterlicher Rechtsfortbildung könne nicht in Betracht kommen14. Wie nicht nur der eng gefasste Gesetzeswortlaut, sondern auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift deutlich zeigten, habe der Gesetzgeber für juristische Personen im Bereich des nur einen Sonderfall regelnden § 28 HGB
__________ 10 S. nur BGH, WM 1960, 259 (VIII. Zivilsenat, Urt. v. 17.12.1959); BGH, NJW 1966,
11 12 13 14
1917 (VIII. Zivilsenat, Urt. v. 6.7.1966); Hüffer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1983, § 28 Rz. 17 m. w. N. BGHZ 31, 397 (400 f.) (Urt. v. 7.1.1960) für den Fall eines sollkaufmännischen Unternehmens nach § 2 HGB a. F. BGH, WM 1972, 21 (22) (Urt. v. 29.11.1971); bestätigend BGH, WM 1973, 896 (899) (Urt. v. 25.6.1973). BGHZ 143, 314 (318) = NJW 2000, 1193; hierzu krit. Lieb, JZ 2000, 1010 f.; Karsten Schmidt, NJW 2000, 1521. BGHZ 143, 314 (318) gegen Hüffer in Großkomm.HGB, § 28 Rz. 30; Lieb in MünchKomm.HGB, 1996, § 28 Rz. 5.
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bewusst keine Haftungsanordnungen getroffen und eine sich daraus möglicherweise ergebende Benachteiligung der betroffenen Gläubiger billigend in Kauf genommen. Inwieweit all das auch noch in den Fällen der Einbringung eines Einzelunternehmens in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts zu gelten hat, ließ der XI. Zivilsenat hingegen offen. Er referierte lediglich die von Teilen des Schrifttums15 geübte Kritik an der restriktiven Linie in den älteren Entscheidungen des II. Zivilsenats. Ob § 28 HGB – im Sinne jener Literaturstimmen – einen analogiefähigen allgemeinen Rechtsgedanken enthalte, der es rechtfertige, die Haftung für die Altschulden des einbringenden Gesellschafters auf eine entstehende Gesellschaft bürgerlichen Rechts zu erstrecken, könne dahingestellt bleiben16. Was die Analogiefähigkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB im Recht der BGBGesellschaft betrifft, hat sich der XI. Senat damit selbst in der Tendenz deutlich weniger festgelegt als der IX. Zivilsenat in seinem referierten Urteil vom 22.1.200417. Beide Entscheidungen schärfen aber den Blick für die zentrale, jeweils unbeantwortet gebliebene Frage: Rechtfertigt der Normzweck des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB – ungeachtet des klar engeren Wortlauts der Vorschrift – die Ausdehnung der dort angeordneten Haftungsfolge auf die Gründung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts unter Einbringung des Einzelunternehmens eines ihrer Gründer? Und diese Frage stellt sich – um wiederum eine Formulierung des IX. Zivilsenats in seiner aktuellen Entscheidung vom Jahresanfang 2004 aufzugreifen – „wegen der Annäherung des Haftungsrechts der Gesellschaft bürgerlichen Rechts an dasjenige der offenen Handelsgesellschaft durch die jüngere Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH“18 in durchaus neuem Licht.
IV. Legitimationsgrundlagen des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB Der „Normzweck“, die ratio legis der in § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB angeordneten Haftungserstreckung auf die neu gegründete Gesellschaft war und ist bekanntlich ebenso Gegenstand kontroverser – und „theoriebeladener“ – Diskussion wie die parallele Fragestellung zu § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB. Die Debatte zu § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB ist hier nicht näher nachzuzeichnen, zumal sich keiner der im Schrifttum unternommenen Ableitungsversuche hat
__________ 15 Genannt werden: Lieb in FS H. Westermann, 1974, S. 309 (315 ff.); Lieb in Münch-
Komm.HGB, § 28 Rz. 8 ff.; Möschel in FS Hefermehl, 1976, S. 171 (182 f.); Hüffer in Großkomm.HGB, § 28 Rz. 28; Ulmer in MünchKomm.BGB, Bd. 5, 3. Aufl. 1997, § 714 Rz. 66; Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 8 III 1 a bb, S. 256 f.; ders., ZHR 145 (1981), 2 (21 ff.). 16 BGHZ 143, 314 (318). 17 S. oben II. 18 So BGHZ 157, 361 (365 f.) = NJW 2004, 836 (837).
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durchsetzen können19. Zieht man die Gesetzesmaterialien zum heutigen § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB zu Rate, so soll die Vorschrift dem Schutz einer (wenn auch rechtsirrigen) Erwartung des Verkehrs Rechnung tragen, wonach der jeweilige Firmeninhaber für eine Verbindlichkeit ohne Rücksicht darauf haftet, gegen welchen Rechtsträger sie begründet worden ist. In der Denkschrift zum Entwurf eines HGB heißt es in diesem Sinne20: „Im Verkehr wird vielfach die Firma ohne Rücksicht auf die Person ihres Inhabers als Eigentümerin des Handelsvermögens, als Trägerin der durch den Handelsbetrieb begründeten Rechte und Pflichten angesehen. Diese Auffassung ist rechtlich allerdings nicht zutreffend, nichtsdestoweniger erscheint es gerechtfertigt, der Verkehrsauffassung, nach welcher der jeweilige Inhaber der Firma als Berechtigter und Verpflichteter angesehen wird, in Bezug auf die Frage des Übergangs entgegenzukommen. Denn der Erwerber eines Geschäfts, der die Firma … fortführt, erklärt dadurch seine Absicht, in die Geschäftsbeziehungen des früheren Geschäftsinhabers so weit als möglich einzutreten“21. Auch frühe Entscheidungen des BGH haben den Normzweck des § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB aus dieser Verkehrsauffassung abgeleitet22, welche wiederum die Grundlage für die Annahme bilde, dass der Erwerber eines Handelsgeschäfts durch die Fortführung des Unternehmens unter der bisherigen Firma in der Öffentlichkeit den Rechtsschein erwecke, er sei zur Übernahme der Verbindlichkeiten des früheren Inhabers bereit23. An Haftungserwartungen des Verkehrs knüpfen auch die Gesetzesmaterialien zum heutigen § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB an, wenn es dort heißt: „Die Gläubiger des bisherigen Einzelkaufmanns dürfen voraussetzen, dass sie sich an das Gesellschaftsvermögen halten können“24. Freilich scheidet die Fortführung der bisherigen Firma als Anknüpfungspunkt entsprechender Verkehrserwartungen hier aus, da bei § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB die Firmenfortführung gerade keine Tatbestandsvoraussetzung ist25. An ihre Stelle tritt die
__________ 19 Darstellung und Kritik etwa bei Canaris, Handelsrecht, 23. Aufl. 2000, § 7 Rz. 6 ff.;
20
21 22
23 24 25
Lieb in MünchKomm.HGB, § 25 Rz. 8 ff.; Karsten Schmidt (Fn. 15), § 8 I 2, S. 215 ff.; Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 25 Rz. 2 ff. Reichstags-Vorlage, 9. Legislatur-Periode, IV. Session 1895/97, Nr. 632, S. 36; abgedr. u. a. bei Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 6. Bd. 1897, S. 219; zum rechtshistorischen Hintergrund der Vorschrift instruktiv Huber in FS Raisch, 1995, S. 85 (90 ff.). Zum Ganzen instruktiv Canaris (Fn. 19), § 7 Rz. 17: „Schutz des guten Glaubens an eine falsche Rechtsansicht“. S. schon BGHZ 29, 1 (3) (II. Zivilsenat, Urt. v. 1.12.1958) im Anschluss an RGZ 145, 278; bestätigend BGH, NJW 1961, 1765 (1766) (VIII. Zivilsenat, Urt. v. 14.6.1961). BGH, NJW 1961, 1765 (1766) m. w. N. Denkschrift S. 39, bei Hahn/Mugdan (Fn. 20), S. 221. Deshalb handelt es sich bei § 28 HGB – entgegen Henssler, LMK 2004, 118 (119) – nicht um eine firmenrechtliche Vorschrift; s. schon BGH, NJW 1966, 1917 f.
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Einbringung des einzelkaufmännischen Geschäfts unter Erwerb der Mitgliedschaft des ehemaligen Einzelkaufmanns in der (neu gegründeten) Gesellschaft als dem aktuellen Unternehmensträger26. Wenn der frühere Geschäftsinhaber, so heißt es in der Denkschrift, das Geschäft als Teilhaber weiterbetreibe, so werde selbst bei Annahme einer neuen Firma die Absicht der Parteien kaum jemals auf eine Trennung der alten und der neuen Geschäftsschulden und Forderungen mit Wirkung nach außen gerichtet sein27. – Im Weiterbetreiben des Geschäfts, wenn auch nunmehr als Teilhaber der neu gegründeten Gesellschaft, und dem damit typischerweise verknüpften Willen der Gesellschaftsgründer, das Gesellschaftsvermögen der Haftung für die Altverbindlichkeiten zu unterwerfen, wurde also die Berechtigung für eine entsprechende Verkehrserwartung gesehen, der § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB Rechnung zu tragen sucht28. Unter dieser Prämisse erschließt sich zugleich der Sinn des § 28 Abs. 2 HGB, der gewissermaßen für „klare Verhältnisse“ sorgen soll: Ein der Schuldübernahme entgegenstehender Wille der Gesellschafter ist im Außenverhältnis nur beachtlich, wenn er durch Registereintragung und Bekanntmachung öffentlich kundgetan oder dem betroffenen Dritten unmittelbar mitgeteilt worden ist. Der in den Materialien herausgestrichene Gesichtspunkt des „Weiterbetreibens als Teilhaber“ erklärt zwar die (eher „schiefe“) Formulierung des Gesetzes vom „Eintritt eines persönlich haftenden Gesellschafters oder Kommanditisten in das Geschäft eines Einzelkaufmanns“. Eine überzeugende Rechtfertigung der im Gesetz angeordneten Haftungserstreckung auf die neu gegründete Gesellschaft gelingt damit indes noch nicht. Die vermeintliche „Absicht der Parteien“, der Gesellschaft die Haftung auch für Altverbindlichkeiten des früheren Einzelkaufmanns aufzuerlegen, läuft (angesichts ganz unterschiedlicher Gestaltungen in der Praxis) auf eine bloße Unterstellung hinaus; spätestens wenn sich im Einzelfall ein entgegenstehender Wille nachweisen lässt, ist ihr der Boden entzogen. Der Gedanke des „Weiterbetreibens des Geschäfts als Teilhaber“ ist auch keine hinreichend tragfähige Grundlage für die – nur nach Maßgabe von § 28 Abs. 2 HGB zu widerlegende – Vermutung eines entsprechenden Parteiwillens zur Schuldübernahme, zumal für die Haftungsfolge des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB völlig unerheblich ist, ob der bisherige Unternehmensinhaber auch im neuen Unternehmensträger (der Gesellschaft) die Zügel in der Hand behält. Und das „Informationsinteresse“ der Gläubiger an unverzüglicher Unterrichtung über die ggf. nicht übernommene Haftung kann – wenn die Gesellschaftsgründer entsprechende Informationen schuldig bleiben – die „Sanktion der Haftung“ ebenso
__________ 26 Canaris (Fn. 19), § 7 Rz. 82; Hüffer in Großkomm.HGB, § 28 Rz. 5; Lieb in FS
Börner, 1992, S. 747 (754). 27 Denkschrift S. 39, bei Hahn/Mugdan (Fn. 20), S. 221. 28 Ebenso heute etwa Huber (Fn. 20), S. 85 (100 f.); Hüffer in Großkomm.HGB, § 28
Rz. 5; Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 28 Rz. 12.
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Eintrittshaftung in der BGB-Gesellschaft
wenig schlüssig erklären29. Die Einbringung „des Handelsgeschäfts“ in die Gesellschaft begründet, weil die Praxis ganz unterschiedliche Gestaltungsoptionen kennt, noch nicht den Rechtsschein einer Haftungsübernahme durch die Gesellschaft. Die innere Berechtigung der in § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB normierten Haftungserstreckung auf die Gesellschaft erschließt sich jedoch, wenn man die Gläubigerinteressen auf einer tieferen Ebene würdigt. Denn ohne diese Haftungserstreckung könnten die Altgläubiger des ehemaligen Einzelkaufmanns – weil sie den nach § 124 Abs. 2 HGB notwendigen Titel gegen die Gesellschaft nicht erwerben könnten – nicht in die Gegenstände des Gesellschaftsvermögens, sondern nur in den Gesellschaftsanteil ihres Schuldners vollstrecken. Dieser Legitimationsgrund des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB ist schon sehr früh von Oskar Pisko herausgearbeitet30, später vom VIII. Zivilsenat des BGH aufgegriffen31 und sodann im Schrifttum vertiefend entfaltet worden32: Stünde den Altgläubigern nur der Vollstreckungszugriff in den Gesellschaftsanteil offen, müssten sie sich auf die Kündigung der Gesellschaft (§ 135 HGB) und das nach der Berichtigung aller Gesellschaftsschulden verbleibende Auseinandersetzungsguthaben des Gesellschafters (ihres Schuldners) verweisen lassen (§ 105 Abs. 3 HGB i. V. m. §§ 733 ff. BGB). Die Haftungserstreckung auf die Gesellschaft wirkt dem entgegen und sucht insoweit dem wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen den übertragenen Aktiva des Handelsgeschäfts und seinen Passiva Rechnung zu tragen. Denn im Fall des § 28 HGB gehen sowohl das Geschäftsvermögen des bisherigen Einzelkaufmanns als auch die Einlageleistung des Eintretenden in das Gesellschaftsvermögen des neuen Unternehmensträgers über. Dabei fließt dem bisherigen Geschäftsinhaber – anders als in den Konstellationen des § 25 Abs. 1 HGB – nicht ein Kaufpreis als Gegenleistung zu, auf den seine Gläubiger zur Befriedigung ihrer Forderungen zugreifen könnten; er erhält vielmehr den Gesellschaftsanteil an der neu gegründeten Gesellschaft. Im Interesse der Altgläubiger soll die in § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB angeordnete Mithaftung der Gesellschaft den Zugriff auf die nunmehr der Gesellschaft zugeordneten Vermögensgegenstände ermöglichen. Wenn die Haftung des Gesellschaftsvermögens dabei nicht auf die vom bisherigen Geschäftsinhaber übernommenen Gegenstände beschränkt worden ist, sondern das gesamte aktuelle Gesellschaftsvermögen umfasst, so ist dies vom BGH zu Recht aus den ge-
__________ 29 30 31 32
Entgegen Huber (Fn. 20), S. 85 (90, 100). Pisko in Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 2, 1914, § 35 III. BGH, NJW 1966, 1917 (1919) unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Pisko. Insbesondere durch Lieb (Fn. 15), S. 309 (315); ders. (Fn. 26), S. 747 (749 f.); zusammenfassend Lieb in MünchKomm.HGB, § 28 Rz. 3; zustimmend etwa Möschel (Fn. 15), S. 171 (182 f.); Beuthien, NJW 1993, 1737 (1740 f.); Canaris (Fn. 19), § 7 Rz. 83; Ammon in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, 2. Aufl. 2001, § 28 Rz. 3; Bülow, Handelsrecht, 4. Aufl. 2001, S. 71 f.; Dauner-Lieb in FS Ulmer, 2003, S. 73 (84).
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steigerten Bedürfnissen nach Klarheit und Rechtssicherheit im Handelsverkehr abgeleitet worden33: In der Folge raschen Warenumschlags sei es schon nach kurzer Zeit nicht mehr feststellbar, welche Vermögensgegenstände von der Gesellschaft übernommen worden seien und was aus ihnen geworden sei. Eine Beschränkung der Haftung auf das übernommene Vermögen würde sich für die Altgläubiger des bisherigen Geschäftsinhabers deshalb höchst nachteilig auswirken. Neben dem so umrissenen Gläubigerschutz dient § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB freilich zugleich dem Bestandsinteresse der Gesellschaft selbst, weil die Altgläubiger des ehemaligen Einzelunternehmers nicht auf die Kündigung der Gesellschaft (§ 135 HGB) angewiesen sind34. Bei Licht besehen liegt der in § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB angeordneten Haftungserstreckung auf die Gesellschaft also ein mehrdimensionaler Normzweck zugrunde, der neben den Vollstreckungsinteressen der Altgläubiger auch dem Bestandsinteresse der Gesellschaft gerecht zu werden versucht. Die über § 28 Abs. 2 HGB eröffnete Disponibilität jener Gesellschaftshaftung ist mit der vollstreckungsrechtlichen Ableitung allerdings – das sei eingeräumt – schwer zu vereinbaren35. Der historische Gesetzgeber hatte diese Implikationen des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB noch nicht im Blick. § 28 Abs. 2 HGB deshalb heute als „sinnwidrig außer acht lassen“ zu wollen36, kann zwar nicht angehen. Der Rechtsanwender ist aber keineswegs gehindert, die innere Rechtfertigung einer Norm (hier des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB) im Sinne besserer Erkenntnis auf Ableitungen zu stützen, die sich dem historischen Normgeber noch nicht erschlossen hatten37. Das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser38.
V. Interessenlage bei Gründung einer BGB-Gesellschaft Für den Fall der Gründung einer BGB-Gesellschaft unter Einbringung des bisherigen Einzelunternehmens eines Gründers kommt es darauf an, ob die hier betroffenen Gläubiger-, Gesellschafts- und Gesellschafterinteressen die analoge Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB rechtfertigen.
__________ 33 BGH, NJW 1966, 1917 (1919). 34 Lieb (Fn. 15), S. 309 (321); Möschel (Fn. 15), S. 171 (182); Zimmer/Scheffel in Eben-
roth/Boujong/Joost, HGB, § 28 Rz. 6. 35 Zu Recht kritisch schon BGH, NJW 1966, 1917 (1918, 1919), wiederum im An-
schluss an Pisko (Fn. 30); Lieb (Fn. 15), S. 309 (322); Lieb in MünchKomm.HGB, § 28 Rz. 35. 36 So noch Lieb (Fn. 15), S. 309 (324). 37 Anders wohl Huber (Fn. 20), S. 85 (101 f.). 38 Dazu Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 207.
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Eintrittshaftung in der BGB-Gesellschaft
1. Vollstreckungsinteresse der Altgläubiger und Bestandsinteresse der Gesellschaft Das Vollstreckungsinteresse der Gläubiger eines nichtkaufmännischen Einzelunternehmens, das in eine neu gegründete BGB-Gesellschaft eingebracht wird, unterscheidet sich nicht von den entsprechenden Interessen der Altgläubiger des Einzelkaufmanns, dessen Handelsgeschäft in einer OHG oder KG aufgeht. Auch für die BGB-Gesellschaft hat der Gesetzgeber (mit §§ 718– 720 BGB) die rechtliche Absonderung des Gesellschaftsvermögens vom Privatvermögen der Gesellschafter angeordnet; auch hier ist dem Gläubiger nur eines Gesellschafters die Vollstreckung in das Gesellschaftsvermögen verwehrt (§ 736 ZPO). Ließe sich eine gesetzliche Haftung der Gesellschaft für die im Betrieb des (früheren) Einzelunternehmens eingegangenen Verbindlichkeiten nicht begründen, bliebe den Altgläubigern des Einzelunternehmers nur der Zugriff auf dessen Anteil an der neu entstandenen Gesellschaft (§ 859 Abs. 1 ZPO). Sie wären auf die Kündigung der Gesellschaft (§ 725 BGB) und das nach der Berichtigung aller Gesellschaftsschulden verbleibende Auseinandersetzungsguthaben des Gesellschafters (ihres Schuldners) verwiesen (§§ 733 ff. BGB), womit zugleich das Bestandsinteresse der Gesellschaft nachhaltig tangiert wäre. Vor diesem Hintergrund ist mit guten Gründen schon vorzeiten die analoge Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Gründung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts befürwortet worden39. Seit der Neuorientierung des BGH im Recht der BGB-Gesellschaft ist diese Forderung um so mehr berechtigt. Denn mit seinen Entscheidungen vom 27.9.1999 und 29.1.200140 hat der II. Zivilsenat der (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts Rechtsfähigkeit wie der OHG zuerkannt und ihre Gesellschafter derselben akzessorischen Haftung (analog §§ 128 f. HGB) unterworfen, der auch die Mitglieder einer OHG unterliegen. Den Altgläubigern eines OHG-Gründers, der sein bislang einzelkaufmännisches Unternehmen in die Gesellschaft einbringt, die aus § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB resultierenden Zugriffsmöglichkeiten auf das Gesellschaftsvermögen zu gewähren, Entsprechendes aber zu versagen, wo der Gründer einer BGB-Gesellschaft sein nichtkaufmännisches Unternehmen einbringt, wäre jedenfalls aus Gläubigersicht wertungswidersprüchlich. Der durch die Haftungsverfassung beider Gesellschaftsformen vermittelte Gläubigerschutz gestaltet sich heute weitgehend parallel; die unterschiedliche Zwecksetzung von OHG und BGB-Gesellschaft (kaufmännischer Geschäftsbetrieb hier, nichtkaufmännisches Unternehmen dort) spielt insoweit
__________ 39 Lieb (Fn. 15), S. 309 (315 ff.); ders. (Fn. 26), S. 747 (752); Lieb in MünchKomm.HGB,
§ 28 Rz. 8 ff.; Möschel (Fn. 15), S. 171 (182); Karsten Schmidt, DB 1973, 703 (704); ders., JZ 1974, 119 (220); ders. (Fn. 15), § 8 III 1 a, S. 256 ff.; die Analogie befürwortend auch Ulmer in MünchKomm.BGB, § 714 Rz. 75 m. w. N. 40 BGHZ 142, 315; 146, 341; s. dazu oben I.
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gerade keine Rolle mehr41. Demgegenüber würde die entsprechende Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Gründung einer BGB-Gesellschaft zwar zur Privilegierung der Geschäftsgläubiger des (bisherigen) Einzelunternehmers gegenüber seinen Privatgläubigern führen. Aber diese Differenzierung ist dem Regelungsgehalt des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB immanent. Sie betrifft die Gläubigergruppen des Einzelkaufmanns, der sein Unternehmen in eine neu gegründete OHG einbringt, in gleicher Weise. 2. Zum Vergleich: Haftung bei Eintritt in eine bestehende BGB-Gesellschaft Vollstreckungsinteresse der Altgläubiger und Bestandsinteresse der Gesellschaft streiten mithin für die analoge Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die neu gegründete Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Möglicherweise wird dieses Zwischenergebnis durch einen vergleichenden Blick auf die Haftungsfolgen des Eintritts in eine bestehende BGB-Gesellschaft bestätigt und bestärkt. Denn nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH haftet der Neugesellschafter entsprechend § 130 HGB für vor seinem Eintritt begründete Verbindlichkeiten der Gesellschaft bürgerlichen Rechts grundsätzlich auch persönlich und als Gesamtschuldner mit den Altgesellschaftern42. Die Anwendung des § 130 HGB lege es – so ist der eingangs referierten Entscheidung des IX. Zivilsenats vom 22.1.200443 kritisch entgegengehalten worden – nahe, auch § 28 Abs. 1 HGB analog anzuwenden, da es wertungsmäßig keinen Unterschied mache, ob eine Partei einer Gesellschaft beitrete oder sie mitgründe44. a) Die Argumentation des IX. Zivilsenats im Urteil vom 22. Januar 2004 Der IX. Zivilsenat sieht freilich keinen Wertungswiderspruch. Es sei schon fraglich, ob die analoge Anwendbarkeit des § 130 Abs. 1 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts die entsprechende Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB zur Folge haben müsse. Denn § 130 Abs. 1 HGB betreffe die Haftung des in eine bestehende Gesellschaft Eintretenden, während bei § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB erst mit dem Eintritt in das Geschäft des früheren Einzelunternehmens eine Gesellschaft entstünde45. Letztlich lässt es der Senat aber dahinstehen, ob beide Vorschriften rechtsähnliche Bestimmungen seien oder ob ihnen unterschiedliche Normzwecke zugrunde lägen46. Jedenfalls für die zu entscheidende Fallgestaltung des Zusammenschlusses eines Rechts-
__________
Dauner-Lieb (Fn. 32), 2003, S. 73 (79). BGHZ 154, 370 (372 ff.). BGHZ 157, 361 = NJW 2004, 836; s. oben II. So Grunewald, JZ 2004, 683 unter Hinweis auf Karsten Schmidt, NJW 2003, 1897 (1903); s. auch schon Dauner-Lieb (Fn. 32), S. 73 (84). 45 BGHZ 157, 361 (368) = NJW 2004, 836 (838). 46 S. zum Meinungsstand Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 28 Rz. 7 m. w. N. 41 42 43 44
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anwalts mit einem bisher als Einzelanwalt tätigen anderen Rechtsanwalt zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts sei – wiederum wegen des von persönlicher und eigenverantwortlicher Dienstleistung geprägten Rechtsverhältnisses zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten – eine unter dem Gesichtspunkt der Unternehmens- und Haftungskontinuität vergleichbare Lage nicht gegeben. Schon aus diesem Grunde könne aus der entsprechenden Anwendung des § 130 HGB auf den Eintritt in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts eine Analogie zu § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB beim Eintritt eines Rechtsanwalts in das von einem anderen bisher als Einzelanwalt betriebene Geschäft nicht hergeleitet werden47. b) Zum „Ergänzungsverhältnis“ zwischen § 130 Abs. 1 HGB und § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB Blendet man die (vermeintlichen) Besonderheiten des anwaltlichen Mandatsverhältnisses zunächst einmal aus48, so ist gewiss einzuräumen, dass sich beide Vorschriften sowohl in ihrer tatbestandlichen Anknüpfung als auch in den angeordneten Rechtsfolgen unterscheiden: Während § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB – in den erfassten Fällen des Unternehmensträgerwechsels – die Haftungserstreckung auf den neuen Rechtsträger (die unter Einbringung des bisherigen Einzelunternehmens gegründete Gesellschaft) anordnet, geht es bei § 130 Abs. 1 HGB um die haftungsrechtliche Gleichstellung des eintretenden Neugesellschafters mit den Altgesellschaftern für die vor dem Eintritt begründeten Verbindlichkeiten der schon bestehenden Gesellschaft. Freilich ist die Gesellschafterhaftung des in die neu entstehende Gesellschaft „Eintretenden“ zwar nicht Regelungsgegenstand des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB, immerhin aber (über § 128 HGB) dessen „natürliche Folge“49. In der Denkschrift zum HGB-Entwurf50 heißt es ganz in diesem Sinne, die Haftung der eingetretenen Gesellschafter (für die nach § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB begründeten Gesellschaftsverbindlichkeiten) ergebe sich „von selbst“. Da § 130 HGB nur den Beitritt eines neuen Gesellschafters in eine schon bestehende Gesellschaft erfasst, liegt es keineswegs völlig fern, die in § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB angeordnete Einstandspflicht der neu entstandenen Gesellschaft als „Ergänzung“ des § 130 Abs. 1 HGB zu bewerten. Der VIII. Zivilsenat des BGH hatte dies in seiner schon oben erwähnten51 Entscheidung vom 6.7.1966 getan und geltend gemacht: Ob bereits eine Gesellschaft bestehe, in die ein neuer Gesellschafter eintrete, oder ob sie erst dadurch entstehe, dass ein Einzelkaufmann einen Teilhaber aufnehme, könne für die Frage der Haf-
__________ 47 48 49 50 51
BGHZ 157, 361 (368) = NJW 2004, 836 (838). Dazu später VI. S. dazu noch unten im Text zu V 2 d. Denkschrift S. 38, bei Hahn/Mugdan (Fn. 20), S. 221. S. oben IV.
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tung des Eintretenden keinen Unterschied machen52. Die Denkschrift zum HGB-Entwurf sah dies ganz ähnlich, obwohl die unterschiedlichen „Schwerpunkte“ beider Vorschriften (Bestimmung der Gesellschaftsschulden einerseits, Anordnung der Gesellschafterhaftung für die Gesellschaftsschuld andererseits) klar erkannt wurden53. In beiden Fällen, d. h. bei Eintritt in eine schon bestehende Gesellschaft wie bei Eintritt eines Partners in das Geschäft eines Einzelkaufmanns, seien „die Verhältnisse in Wirklichkeit so ähnlich, dass sich eine grundsätzlich verschiedene Behandlung sachlich nicht rechtfertigen lässt“54. Und doch ist das „Ergänzungsverhältnis“ zwischen beiden Vorschriften allenfalls mittelbarer Natur. Es kann sich nur aus den Haftungsfolgen für den eintretenden Gesellschafter ergeben, die im Blick auf § 130 Abs. 1 HGB Regelungsgegenstand jener Norm, bezogen auf § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB hingegen nur die weitere Folge der dort allein angeordneten Haftungserstreckung auf die Gesellschaft sind. Gleichwohl lohnt allemal ein Blick auf die Begründung, die der BGH in seiner Entscheidung vom 7.4.200355 für die analoge Geltung des § 130 HGB im Recht der BGB-Gesellschaft gegeben hat. c) Zur Legitimation der Eintrittshaftung analog § 130 HGB Der II. Zivilsenat ließ dahinstehen, ob die Haftung des neu eintretenden Gesellschafters für Altverbindlichkeiten einer BGB-Gesellschaft bereits daraus folge, dass der Gesellschafter im Grundsatz stets wie die Gesellschaft hafte (Akzessorietätsprinzip). Denn jedenfalls entspreche die Haftung des Neugesellschafters sowohl dem „Wesen der Personengesellschaft“ als auch – damit innerlich zusammenhängend – einer im Verkehrsschutzinteresse zu Ende gedachten Akzessorietät der Haftung. Die Personengesellschaft besitze kein eigenes, zugunsten ihrer Gläubiger gebundenes, garantiertes Haftkapital. Ihr Gesellschaftsvermögen stehe dem Gesellschafterzugriff jederzeit uneingeschränkt und sanktionslos offen. Die persönliche Haftung ihrer Gesellschafter für die Gesellschaftsverbindlichkeiten sei vor diesem Hintergrund nicht nur die alleinige Grundlage für die Wertschätzung und Kreditwürdigkeit der Gesellschaft, sondern das notwendige Gegenstück zum Fehlen jeglicher Kapitalerhaltungsregeln. Dabei dürfe nicht bei einer Haftung nur der Altgesellschafter Halt gemacht werden, weil auch ein neu eintretender Gesellschafter mit dem Erwerb seiner Gesellschafterstellung dieselben Zugriffsmöglichkeiten auf das Gesellschaftsvermögen wie die Altgesellschafter erlange. Nicht selten werde zudem die Altverbindlichkeit, für die der neu eingetretene Gesellschafter mithaften solle, exakt einem Aktivum der Ge-
__________ 52 53 54 55
BGH, NJW 1966, 1917 (1918). Denkschrift S. 39 bei Hahn/Mugdan (Fn. 20), S. 221. Denkschrift S. 38, bei Hahn/Mugdan (Fn. 20), S. 220 f. BGHZ 154, 370.
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sellschaft als Gegenleistung zuzuordnen sein, an dem der Eintretende für sich eine Mitberechtigung reklamiere. Nur bei Mithaftung des neu eingetretenen Gesellschafters sei zudem sicherzustellen, dass sich der Gläubiger nicht auf einen, gerade in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts in Ermangelung jedweder Registerpublizität unter Umständen besonders heiklen Streit über die Zeitpunkte des Entstehens seiner Forderung und der Mitgliedschaft des in Anspruchs genommenen Gesellschafters einlassen müsse56. Der in § 130 Abs. 1 HGB kodifizierte Gedanke beruhe deshalb, so der BGH, keineswegs auf Besonderheiten gerade des handelsrechtlichen Geschäftsverkehrs. Er finde seine Begründung und Rechtfertigung vielmehr in den Eigenheiten rechtsfähiger Personengesellschaften mit auf dem Prinzip der Akzessorietät aufbauender Haftungsverfassung. Die Annahme der Mithaftung auch des neu eingetretenen Gesellschafters einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts für Altverbindlichkeiten ergänze damit in rechtspraktischer und methodisch folgerichtiger Weise die Rechtsprechung des Senats, wonach bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts die persönliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeit der Gesellschaft derjenigen bei der OHG entspreche57. d) Wertungen Man kann den Kern jener Überlegungen des II. Zivilsenats in die (überzeugende) These kleiden, dass mit der Haftung des neu eintretenden Gesellschafters aus § 130 HGB eine Arrondierung der akzessorischen Gesellschafterhaftung nach §§ 128 f. HGB erreicht werden soll: Als Kompensation für die fehlende Kapitalbindung in der Personengesellschaft und getragen von der Erkenntnis, dass auch der Neugesellschafter – nicht anders als die Altgesellschafter – jederzeit auf Bestand und Entwicklung des Gesellschaftsvermögens einwirken kann58. Während § 130 HGB von einer existenten Gesellschaftsschuld ausgeht und aus den skizzierten Gründen die Haftung auch des Neugesellschafters anordnet, zielt § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Begründung der Gesellschaftsschuld: um den Altgläubigern des bisherigen Einzelunternehmers, dessen Geschäft in die Gesellschaft eingebracht wird, den Vollstreckungszugriff auf das Gesellschaftsvermögen zu sichern59. Beiden Vorschriften liegen also je eigenständige Zwecke zugrunde. Die den Normzweck des § 130 HGB umschreibenden Erwägungen lassen sich lediglich als ein unterstützendes Argument dafür anführen, dass für die aus § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB begründeten Gesellschaftsschulden auch alle Gesellschafter (nach § 128 HGB) persönlich
__________ 56 57 58 59
BGHZ 154, 370 (372 ff.). BGHZ 154, 370 (376). Ganz ähnlich schon die Überlegungen bei Möschel (Fn. 15), S. 171 (177). S. oben IV.
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einstandspflichtig sind; denn sie können auf Bestand und Entwicklung des dem Gläubigerzugriff unterworfenen Gesellschaftsvermögens Einfluss nehmen. Die Gesellschafterhaftung für die nach § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB begründeten Gesellschaftsschulden entspricht denn auch der Konzeption des historischen Gesetzgebers60 und der nach wie vor ganz herrschenden Meinung61. Die Gegenposition62 hat sich zu Recht nicht durchzusetzen vermocht. Insbesondere lässt sich nicht überzeugend geltend machen, § 130 HGB hätte keinen eigenständigen Anwendungsbereich, wenn sich die Haftung für Altschulden schon aus § 128 HGB ergäbe63. Die Haftung der Gesellschafter für nach § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB begründete Gesellschaftsschulden ist keine Haftung für Alt-, sondern für Neuverbindlichkeiten64: Als Verbindlichkeiten der Gesellschaft sind sie nicht schon vor dem „Eintritt“ in diese, sondern zeitgleich mit der Gesellschaftsgründung entstanden. Doch muss dies hier nicht weiter vertieft werden. Die Skepsis des IX. Zivilsenats65 hat sich jedenfalls bestätigt: Die analoge Anwendbarkeit des § 130 Abs. 1 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts muss noch nicht zwingend auch die entsprechende Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB zur Folge haben66. Die analoge Geltung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB bei Gründung einer BGB-Gesellschaft unter Einbringung eines Einzelunternehmens ist vielmehr (durchaus unabhängig von § 130 HGB) aus der inneren Berechtigung jener Vorschrift abzuleiten: Das Vollstreckungsinteresse der Altgläubiger des bisherigen Einzelunternehmens und das Bestandinteresse der Gesellschaft selbst sind bei Gründung einer BGB-Gesellschaft nicht anders gelagert als bei Gründung einer OHG oder KG. 3. Schutz der Gesellschafterinteressen durch § 28 Abs. 2 HGB Diese Zwischenfeststellung zur Analogiefähigkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB im Recht der BGB-Gesellschaft steht noch unter dem Vorbehalt besserer Erkenntnis im Blick auf den Schutz der Gesellschafterinteressen durch Abs. 2 der Norm. § 28 Abs. 2 HGB lässt – dem Vorbild des § 25 Abs. 2 HGB
__________ 60 S. das Zitat oben im Text bei Fn. 49. 61 BGH, NJW 1966, 1917 (1918); BGH, NJW 1972, 1466 (1467) (II. Zivilsenat, Urt. v.
62
63 64
65 66
22.11.1971); BGHZ 157, 361 (364 f.) = NJW 2004, 836 (837); Hüffer in Großkomm. HGB, § 28 Rz. 22; Lieb in MünchKomm.HGB, § 28 Rz. 30; Ammon in Röhricht/ Graf v. Westphalen, HGB, § 28 Rz. 31. Namentlich Canaris (Fn. 19), § 7 Rz. 92 m. w. N.; s. außer den dort Genannten noch Lindacher, NZG 2002, 113 (114) (Gesellschafterhaftung nur bei Firmenfortführung). So aber Canaris (Fn. 19), § 7 Rz. 92. BGHZ 157, 361 (364 f.) = NJW 2004, 836 (837); Ulmer in MünchKomm.BGB, § 714 Rz. 75; Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 28 Rz. 30; zweifelnd Schäfer, ZIP 2003, 1225 (1230 Fn. 51). BGHZ 157, 361 (368) = NJW 2004, 836 (838); s. oben V 2 a. S. auch Karsten Schmidt, BB 2004, 785 (787).
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folgend und insoweit anders als § 130 Abs. 2 HGB – eine von der Haftungsfolge des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB abweichende Vereinbarung zu, macht ihre Wirksamkeit Dritten gegenüber freilich davon abhängig, dass sie in das Handelsregister eingetragen und bekannt gemacht oder von einem Gesellschafter dem Dritten mitgeteilt worden ist. Der IX. Zivilsenat des BGH hat in seiner Entscheidung vom 22.1.2004 auch hieraus ein Argument gegen die analoge Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts abzuleiten versucht: Weil den BGB-Gesellschaftern nicht wie den Gesellschaftern einer offenen Handelsgesellschaft die Möglichkeit offen stehe, einer abweichenden Vereinbarung durch Eintragung in das Handelsregister Dritten gegenüber Geltung zu verleihen, wären bei Geltung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB Nichtkaufleute schlechter gestellt als Kaufleute67. – Das entspricht einer auch im Schrifttum verbreiteten Argumentation: Da Nichtkaufleute nicht registerpflichtig seien, bräuchten die Gründer einer BGB-Gesellschaft nicht auf den Gedanken zu kommen, dass der Ausschluss der Schuldenübernahme gem. § 28 Abs. 2 HGB eingetragen werden müsse. Eine Mitteilung des Haftungsausschlusses an alle Gläubiger, die § 28 Abs. 2 HGB ebenfalls genügen lasse, sei kein praktikabler Ausweg und würde für nichtkaufmännische Unternehmer vollends eine Überforderung darstellen68. Warum die Mitteilung des Haftungsausschlusses eine „Überforderung“ nichtkaufmännischer Unternehmer bedeuten soll, ist indes nicht zu erkennen. Auch im Falle der Gründung einer Anwaltssozietät in Form der BGBGesellschaft kann keine Rede davon sein, dass den Gründern nicht zuzumuten wäre, die Mandanten des bisherigen Einzelanwalts, dessen Geschäft in die Gesellschaft eingebracht wird, vom vereinbarten Ausschluss der Haftungsfolge des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB zu informieren69. Den Gesellschafterinteressen am Ausschluss jener Haftungsfolge lässt sich also auch in der BGB-Gesellschaft durchaus Rechnung tragen. Schon deshalb ist die fehlende Registerpublizität der Gesellschaft bürgerlichen Rechts kein durchschlagendes Argument gegen die analoge Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB. Zudem und vor allem ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es den Gründern der Gesellschaft nach heutiger Rechtslage freisteht, in eine registrierungsfähige Rechtsform auszuweichen70: im gewerblichen Bereich in die OHG oder KG (§ 105 Abs. 2 HGB), im nichtgewerblichen Bereich in die
__________ 67 BGHZ 157, 361 (367) = NJW 2004, 836 (838). 68 In diesem Sinne Canaris (Fn. 19), § 7 Rz. 88; s. außerdem etwa Hopt in Baumbach/
Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 28 Rz. 2; Emmerich in Heymann, HGB, 2. Aufl. 1995, § 28 Rz. 14; Henssler, LMK 2004, 118 (119); Huber in FS Raisch, 1995, S. 85 (104 f.); Roth in Koller/Roth/Morck, HGB, 4. Aufl. 2003, § 28 Rz. 5; Wertenbruch, WuB II J. § 705 BGB 2.04; Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 28 Rz. 16. 69 Überzeugend Karsten Schmidt BB 2004, 785 (789); s. auch schon Ulmer in MünchKomm.BGB, § 714 Rz. 66 a. E. 70 Grunewald, JZ 2004, 683; Karsten Schmidt, BB 2004, 785 (790 f.).
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Partnerschaftsgesellschaft71. Aus § 28 Abs. 2 HGB ist jedenfalls kein durchschlagendes Argument gegen die analoge Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts herleitbar.
VI. Besonderheiten bei Gründung einer Anwaltssozietät? Damit bleiben die (vermeintlichen) Besonderheiten des anwaltlichen Mandatsverhältnisses zu würdigen, die der IX. Zivilsenat in seiner Entscheidung vom 22.1.2004 ins Feld geführt hat, um jedenfalls für die Gründung einer Anwaltssozietät eine analoge Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auszuschließen72: Das anwaltliche Mandatsverhältnis sei von persönlicher und eigenverantwortlicher anwaltlicher Dienstleistung geprägt; jedenfalls der Einzelanwalt werde in der maßgeblichen Sicht des Rechtsverkehrs „als Person und nicht als Unternehmen“ zum unabhängigen Berater und Vertreter des Mandanten in Rechtsangelegenheiten berufen. Da die persönliche Leistungserbringung die berufliche Tätigkeit des Einzelanwalts insgesamt charakterisiere, seien nicht etwa nur einzelne Rechtsverhältnisse oder Verbindlichkeiten von einem Übergang der Haftung auszunehmen, sondern es sei eine entsprechende Anwendung des § 28 Abs. 1 HGB auf den Eintritt in das „Geschäft“ eines Einzelanwalts grundsätzlich zu verneinen73. Der Senat stellt sich mit diesen Überlegungen in die Tradition seiner Rechtsprechung, wonach es bei vor der Sozietätsgründung erteilten Einzelmandaten, die von den Gründern in die neu gegründete Sozietät eingebracht werden, nicht etwa ohne weiteres zur Überleitung des Mandatsverhältnisses auf die Sozietät kommt. Weder Anwalt noch Mandant hätten den Willen und die Befugnis, das Auftragsverhältnis zugleich für Mitglieder einer noch gar nicht bestehenden Sozietät zu begründen. Hierzu bedürfe es vielmehr einer zumindest stillschweigenden Einbeziehung des Sozius in das bisherige Einzelmandat. Fehle es an einer solchen Willensübereinkunft, hafte der spätere Sozius allein wegen der Sozietätsgründung nicht für frühere Verletzungen der aus dem Anwaltsvertrag erwachsenen Pflichten74. – In dem seiner Entscheidung vom 22.1.2004 zugrunde liegenden Fall hatte der IX. Senat eine solche (ggf. stillschweigende) Übereinkunft nicht feststellen können und
__________ 71 Zur analogen Anwendbarkeit des § 28 HGB auf die Partnerschaft s. Ulmer in
MünchKomm.BGB, § 2 PartGG Rz. 2 u. § 8 PartGG Rz. 10. – Aus § 2 Abs. 2 PartGG folgt – entgegen Henssler, LMK 2004, 118 (119) – keineswegs ein „eindeutiges Votum gegen die analoge Anwendbarkeit des § 28 HGB“, da § 2 Abs. 2 PartGG nur die firmenrechtlichen Bestimmungen des HGB in Bezug nimmt; § 28 HGB ist gerade keine firmenrechtliche Vorschrift (s. schon oben Fn. 25). 72 S. das Referat oben II. 73 BGHZ 157, 361 (367) = NJW 2004, 836 (837 f.). 74 S. in diesem Sinne etwa BGH, NJW 1988, 1973 (Urt. v. 4.2.1988); BGH, NJW 1990, 827 (829) (Urt. v. 17.10.1989); ferner BGHZ 124, 47 (49) = NJW 1994, 257 (V. Zivilsenat, Urt. v. 5.11.1993).
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deshalb – im Blick auf §§ 28 Abs. 1 Satz 1, 128 HGB – die Frage aufgeworfen, ob der beklagte Sozius „kraft Gesetzes infolge der Gründung der Sozietät in das bereits bestehende Mandatsverhältnis einbezogen worden“ sei75. Das wird mit den soeben noch einmal zusammengefassten Erwägungen im Ergebnis verneint. Unter der Perspektive des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB ist die (noch ganz in der vertragsrechtlichen Sicht verfangene) Frage nach einer etwaigen „Einbeziehung in das bereits bestehende Mandatsverhältnis“ zumindest missverständlich gestellt76. Denn Rechtsfolge jener Norm ist allein die Haftung der Gesellschaft (ggf. also der Sozietät) und – hierauf aufbauend nach §§ 128 f. HGB – die Einstandspflicht der Gesellschafter (Sozien) für die so begründete Gesellschaftsschuld. Thema des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB ist also nicht der Austausch einer Vertragspartei (hier: im Rahmen des Anwaltsvertrages), sondern die Erstreckung der Haftung auf die (neu entstandene) Gesellschaft für die in der Person des Einzelunternehmers (ggf. also des Einzelanwalts) entstandenen Verbindlichkeiten. Dieser Haftungserstreckung stehen die Interessen des Mandanten gewiss nicht entgegen, da sich seine Gläubigerposition hierdurch nur verbessern würde77. Auch die „Höchstpersönlichkeit“ der Dienstleistungspflicht des beauftragten Einzelanwalts ist kein taugliches Argument gegen die analoge Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB, weil die Mithaftung der Gesellschaft (und der übrigen Gesellschafter) schlechterdings nichts darüber aussagt, wer die dem Mandanten gegenüber geschuldete Beratungsleistung zu erbringen hat78. Wenn der BGH die analoge Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Gründung einer Anwaltssozietät unter Einbringung der Kanzlei eines Einzelanwalts ablehnt, so liegt dem – bei Licht besehen – denn auch nicht der Schutz der Mandanten des Einzelanwalts, sondern die Rücksichtnahme auf die beitretenden Partner zugrunde: Ihnen soll eine Haftung für die „Altlasten“ des ehemaligen Einzelanwalts erspart bleiben. Mit dem am Gläubigerschutz orientierten Normzweck des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB ist diese Form der Rücksichtnahme indes nicht in Einklang zu bringen. In der Konzeption des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB ist für die vom BGH herangezogenen Besonderheiten des anwaltlichen Mandatsverhältnisses kein Raum. Den Schutzinteressen der Gesellschafter des neu entstehenden Unternehmensträgers (hier also: der Sozietät) ist vielmehr im Rahmen des § 28 Abs. 2 HGB Rechnung zu tragen. Sie können sich – wie dargelegt79 – auch in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts helfen, indem sie die Gläubiger ihres Mitgesell-
__________ 75 BGHZ 157, 361 (364) = NJW 2004, 836 (837). 76 Kritisch schon Karsten Schmidt, BB 2004, 785 (786 Fn. 19). 77 Bruns, ZIP 2002, 1602 (1605 f.); Grunewald, JZ 2004, 685; Wertenbruch, WuB II J.
§ 705 BGB 2.04. 78 Grunewald, JZ 2004, 684 f.; ebenso auch Karsten Schmidt, BB 2004, 785 (786, 788). 79 Oben V 3.
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schafters vom vereinbarten Ausschluss der Haftungsfolge des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB informieren. Man mag einwenden, die betroffenen Verkehrskreise hätten – angesichts der früheren Rechtsprechung zum Anwendungsbereich des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB80 – bislang keinen Anlass sehen müssen, entsprechende Haftungsvorsorge zu treffen. Dem hätte der BGH indes Rechnung tragen und – aus Vertrauensschutzerwägungen – die Haftungsfolge des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB erst ex nunc, also auf „künftige Eintrittsfälle“ anwenden können81. Bezogen auf die analoge Geltung des § 130 HGB in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts hatte der II. Zivilsenat diese Möglichkeit bekanntlich genutzt82. Der IX. Senat hat einen anderen Weg eingeschlagen und die Weichen gegen die Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts gestellt. Für die Beratungspraxis mag sein Urteil vom 22.1.2004 bis auf weiteres ein festes Datum bilden83. Es zeigt aber, dass die vom II. Zivilsenat vollzogene Neuorientierung im Recht der BGB-Gesellschaft noch keineswegs in allen Bereichen vollendet ist.
__________ 80 81 82 83
S. die Nachw. oben Fn. 11 und 12. S. schon Karsten Schmidt, BB 2004, 785 (790). BGHZ 154, 370 (377 f.). Vor trügerischer Sicherheit warnend jedoch Weipert, AnwBl 2004, 378.
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Nachvertragliche Wettbewerbsverbote im Spannungsfeld von Berufs- und Vertragsfreiheit Inhaltsübersicht I. Das nachvertragliche Wettbewerbsverbot als Ausdruck widerstreitender Interessen II. Das nachvertragliche Wettbewerbsverbot in der Rechtsprechung des II. Zivilsenats 1. Die einfach-gesetzliche Einzelfallrechtsprechung der frühen Jahre 2. Von der berufsrechtlich orientierten Rechtsprechung zu Art. 12 GG 3. Die Implementierung der LüthEntscheidung 4. Die verfassungsrechtliche Einbettung als Teil der ständigen Rechtsprechung
III. Das räumlich, zeitlich und gegenständlich zulässige Maß nachvertraglicher Wettbewerbsverbote 1. Die zeitlichen Grenzen nachvertraglicher Wettbewerbsverbote 2. Die örtlichen Grenzen nachvertraglicher Wettbewerbsverbote 3. Die gegenständlichen Grenzen nachvertraglicher Wettbewerbsverbote IV. Ausblick
Deutlicher als andere hat Volker Röhricht keinen Zweifel daran gelassen, dass es nicht primäre Aufgabe des Revisionsrichters ist, Rechtsfragen zu diskutieren, sondern sie zu entscheiden1. Die in über 50 Jahren gewachsene Rechtsprechung des II. Zivilsenats zu den nachvertraglichen Wettbewerbsverboten kann wohl als Musterbeispiel für die Verwirklichung dieses Postulats gelten. Vergegenwärtigt man sich die Urteilsbegründungen aus diesem halben Jahrhundert Rechtsprechungsgeschichte, wird deutlich, dass der für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat den schwierigen Ausgleich zwischen den Interessen des ausscheidenden und den in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschaftern zunächst – und ohne im eigentlichen Sinne subsumtionsfähige Maßstäbe vorzugeben – gänzlich der konkreten Einzelfallabwägung des Richters überantwortet hat2, sie anschließend, vor allem unter dem Eindruck der Besonderheiten des Rechts der freien Berufe, vorsichtig weiterentwickelte3 und sie dann Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts unter Heranziehung verfassungsrechtlicher Überlegungen all-
__________ 1 2 3
Röhricht, ZGR 1999, 445 (460). BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 230. BGH, Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/66, WM 1968, 893.
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gemein abgesichert hat4. Seither kann und darf sich der Bundesgerichtshof darauf beschränken, die einmal entwickelten Grundsätze anhand der an ihn herangetragenen Einzelfälle weiter auszudifferenzieren5. Die – bezogen auf diesen zuletzt genannten Punkt noch keineswegs abgeschlossene – Rechtsprechung ist jedoch nicht nur ein gelungenes Beispiel sich behutsam fortentwickelnden Richterrechts, sondern ein Beleg dafür, in welchem Maße Verfassungsrecht jenseits aller dogmatischer Diskussionen über unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung Einfluss auf die Entscheidung bürgerlichrechtlicher Streitigkeiten gewonnen hat. Nicht zuletzt mit dem Rückgriff auf die verbürgten Grundrechte als im Rahmen zivilrechtlicher Generalklauseln zu beachtende Wertmaßstäbe ist es auch gelungen, die vom Jubilar angemahnte Akzeptanz höchstrichterlicher Urteile – jedenfalls im Grundsatz – sicherzustellen.
I. Das nachvertragliche Wettbewerbsverbot als Ausdruck widerstreitender Interessen Wettbewerbsverbote spielen im Wirtschaftsleben eine große Rolle und treffen regelmäßig Arbeitnehmer6, Gesellschafter und Geschäftsführer von Gesellschaften sowie die veräußernden Altgesellschafter von Unternehmen, insbesondere von Freiberuflerpraxen7. Sie sind während der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, der die Beteiligten ihre ganze Arbeitskraft widmen, von den durch sie Verpflichteten regelmäßig leichter zu akzeptieren als nach Beendigung der eigenen Mitgliedschaft. In diesem Fall ergibt sich regelmäßig das Problem, dass der Wunsch der die Gesellschaft fortführenden Partner, ungestört durch konkurrierende Tätigkeit des bisherigen Mitgesellschafters ihre Zusammenarbeit fortzusetzen, mit dem Interesse des Ausscheidenden kollidiert, in seinem bisherigen Beruf und möglichst am selben Ort weiter tätig zu sein8. Da dem ausscheidenden Gesellschafter eine solche Tätigkeit weder durch gesetzliche Bestimmungen9 noch aufgrund einer nachvertraglichen Treuepflicht10 untersagt ist, bedarf ein Konkurrenzverbot der ausdrücklichen Parteivereinbarung. Diese wiederum unterliegt in den Grenzen des § 138 BGB i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG der Nachprüfung durch die Rechtsprechung.
__________
4 Zaghaft noch BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, BGHZ 91, 1 (4); deutlich und
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namentlich unter Bezugnahme auf die zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 30 Jahre zurückliegende Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dann BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/86, WM 1986, 1251 (1252). Vgl. etwa zuletzt BGH, Urt. v. 29.9.2003 – II ZR 59/02, WM 2003, 2334. Dazu ausf. Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, 3. Aufl. 2002, m. zahlr. Nachw. zur Rspr. des BAG. Staudinger/Sack, BGB, Neubearb. 2003, § 138 Rz. 297 ff. Goette, DStR 1997, 1414 (1415). BGH, Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/66, WM 1968, 893 (894). BGH, Urt. v. 29.10.1999 – II ZR 241/89, WM 1990, 2121 (2123).
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Nachvertragliche Wettbewerbsverbote
II. Das nachvertragliche Wettbewerbsverbot in der Rechtsprechung des II. Zivilsenats 1. Die einfach-gesetzliche Einzelfallrechtsprechung der frühen Jahre Bereits in einer Entscheidung im 5. Band der amtlichen Sammlung klingt an, dass der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs einer „ungebührlichen Ausweitung“ wettbewerbsbeschränkender Abreden zwischen ehemaligen Gesellschaftern unter Anwendung der §§ 138, 826 BGB entgegentreten werde11. Da der Senat im Rahmen des damals konkret zu entscheidenden Sachverhalts zu näheren Ausführungen keinen Anlass hatte und daher zu Recht von solchen abgesehen hat, wird man als erste wegweisende Entscheidung zur Beurteilung nachvertraglicher Wettbewerbsverbote das einleitend zitierte Urteil vom 17.12.1956 ansehen dürfen12. Noch ohne jeden Bezug zu den Normen des Grundgesetzes und unter Hinweis auf das Urteil im 5. Band sowie unter ausdrücklicher Anknüpfung an die – vorkonstitutionelle – Rechtsprechung des Reichsgerichts leitet der II. Zivilsenat die notwendigen rechtlichen Schranken für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters aus der offenen Handelsgesellschaft oder der Übernahme des Handelsgeschäfts durch einen Gesellschafter aus den Bestimmungen der §§ 138, 826 BGB ab13. Hierbei dürfe die Beschränkung, die dem durch das Wettbewerbsverbot Verpflichteten auferlegt werde, nicht zu einer unangemessenen Einschränkung seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit führen. Das bedeute, dass die Beschränkung einerseits nicht über die schutzwerten Interessen des durch das Verbot Begünstigten hinausgehen dürfe, andererseits aber zugleich die Interessen des Verpflichteten an einer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit in einer billigen und sachgerechten Weise Beachtung finden müssten14. Dieser Interessenausgleich könne nur unter umfassender Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des einzelnen Falles, insbesondere auch unter Beachtung des Anlasses der Vereinbarung, vorgenommen werden15. Der verfassungsrechtsdogmatisch geschulte Jurist vernimmt in diesem Versuch, die beiderseitigen Rechte zum Ausgleich zu bringen, bereits das Phänomen praktischer Konkordanz16. Freilich konnte der Senat auch bereits damals – unbelastet von solcher Begrifflichkeit – den bis heute gültigen Schluss ziehen, es sei im Allgemeinen sachgerecht, dass das Wettbewerbsverbot seinem Inhalt nach nicht uneingeschränkt ist, sondern nach Gegenstand, Zeit und Ort Einschränkungen aufweist, wobei der Umfang dieser
__________ 11 12 13 14 15 16
BGH, Urt. v. 13.2.1952 – II ZR 88/51, BGHZ 5, 127 (129). BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 320. BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 320 (321). BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 320 (321). BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 320 (321). BVerfGE 93, 1 (21). Zum Grundsatz „praktischer Konkordanz“ vgl. Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Vorb. 49 m. w. N.
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notwendigen Einschränkungen wiederum von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig ist17. Ein erster Hinweis, dass ein an den Belangen beider Seiten orientierter Interessenausgleich auch verfassungsrechtlich impliziert ist, findet sich – freilich ohne nähere Begründung – ein knappes Jahrzehnt später. Eher beiläufig führt der Senat aus, durch Wettbewerbsverbote dürfe das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) nicht beeinträchtigt werden. An die Zulässigkeit einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung seien daher strenge Anforderungen zu stellen18. 2. Von der berufsrechtlich orientierten Rechtsprechung zu Art. 12 GG Bereits drei Jahre nach der zuletzt zitierten Entscheidung bot sich dem Senat die Möglichkeit, seine verfassungsrechtlichen Überlegungen zu präzisieren. Statt den grundrechtlichen Ansatz jedoch explizit weiterzuverfolgen, griff er – bedingt durch die Besonderheiten des konkreten Falles – auf das Berufsrecht der als Parteien streitbefangenen Wirtschaftsprüfer zurück19. Wiederum entschied der Senat, dass allenfalls örtlich, zeitlich und gegenständlich beschränkte Wettbewerbsverbote zugelassen werden können20. Zur Begründung stützte er sich dabei in erster Linie auf die berufliche Funktion der Wirtschaftsprüfer, die er im öffentlichen Interesse in deren besonderer Verantwortung für grundlegende Aufgaben im Bereich der Volkswirtschaft erkannte, womit sich Einschränkungen nur in begrenztem Umfang vertragen würden21. Der Senat vermied es erneut, diesen Umfang selbst zu bestimmen22. Seine – aus heutiger Sicht allgemeingültigen – weiteren Ausführungen, wonach der Grundsatz der freien Berufsausübung durch Vereinbarung nur eingeschränkt werden dürfe, soweit besondere Umstände zu dem anerkennenswerten Bedürfnis führten, den einen Teil davor zu schützen, dass der andere die Erfolge seiner Arbeit illoyal verwertet oder sich in sonstiger Weise zu seinen Lasten die Freiheit der Berufsausübung missbräuchlich zunutze macht, stellt er ausdrücklich unter den einleitenden Zusatz, dies gelte „unter Wirtschaftsprüfern“23. Der Eindruck, dass es sich bei dem Urteil vom 9.5.1968 um eine durch das Berufsrecht der Wirtschaftsprüfer spezifisch geprägte Entscheidung handelte, verstärkte sich mit dem Urteil vom 19.11.1973. Der Senat knüpfte ausdrücklich an seine erste Entscheidung vom 17.12.1956 an, bezog sich aber weder
__________ BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 320 (321). BGH, Urt. v. 7.1.1965 – II ZR 187/63, WM 1965, 310 (311). BGH, Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/66, WM 1968, 893. BGH, Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/66, WM 1968, 893 (894). BGH, Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/66, WM 1968, 893 (894). Wörtlich heißt es insoweit (WM 1968, 894): „Wie diese Grenzen im einzelnen zu ziehen sind, kann dahingestellt bleiben.“ 23 BGH, Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/66, WM 1968, 893 (894). 17 18 19 20 21 22
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auf jene aus dem Jahr 1968 noch griff er seinen verfassungsrechtlichen Hinweis aus dem Jahr 1965 auf24. Ohne weitere Begründung rekurrierte er auf § 138 BGB und sprach im Übrigen von einer „anerkannten“ Rechtsprechung, wonach ein Konkurrenzverbot den Verpflichteten in seiner Berufsausübung nicht übermäßig beschränken und damit nicht über die schützenswerten Interessen des Begünstigten hinausgehen dürfe25. Es dauerte mehr als weitere zehn Jahre, ehe die bis dahin losen Fäden erstmals verknüpft wurden. Der Senat bestätigte unter ausdrücklicher Bezugnahme auf sein Urteil aus dem Jahr 1965 seine Rechtsprechung, dass an die Zulässigkeit wettbewerbsrechtlicher Vereinbarungen für die Zeit nach Beendigung der Tätigkeit in der Gesellschaft strenge Anforderungen zu stellen sind26. Im selben Zusammenhang verallgemeinerte er die in seinem Urteil vom 9.5.1968 noch spezifisch am Beruf des Wirtschaftsprüfers orientierten Ausführungen, wonach Wettbewerbsverbote nur zulässig sind, wenn sie dem Schutze berechtigter Interessen des Gesellschaftsunternehmens dienten und nach Ort, Zeit sowie Gegenstand die Berufsausübung und wirtschaftliche Betätigung nicht unbillig erschwerten27. Die ursprüngliche Begründung, dass zu weitgehende Beschränkungen auch mit dem öffentlichen Interesse an der Freiheit der Berufsausübung der Wirtschaftsprüfer unvereinbar seien, sichert das Ergebnis nur noch ab28. Neu an der Entscheidung mit der bereits bekannten Formel von den örtlichen, zeitlichen und gegenständlichen Grenzen eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots war vor allem, dass der Senat erstmals explizit – in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG – Art. 12 GG zur Begründung heranzog und die hierzu ergangene Rechtsprechung zur Bestimmung dieser Grenzen empfahl29. Damit war der Grundstein für das, was folgen sollte, gelegt. 3. Die Implementierung der Lüth-Entscheidung Die endgültige Verankerung der Rechtsprechung zu den nachvertraglichen Wettbewerbsverboten in der durch die Grundrechte, namentlich durch Art. 12 GG, vorgezeichneten Wertordnung der Verfassung erfolgte im Urteil vom 28.4.198630. Erstmals stellte der Senat eine direkte Verbindung zwischen § 138 BGB und Art 12 GG her und führte unter Berufung auf die durch die Lüth-Entscheidung31 begründete ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, die Grundrechte als objektive Normen statuierten
__________ 24 25 26 27 28 29 30 31
BGH, Urt. v. 19.11.1973 – II ZR 52/72, WM 1974, 74 (76). BGH, Urt. v. 19.11.1973 – II ZR 52/72, WM 1974, 74 (76). BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, BGHZ 91, 1 (5). BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, BGHZ 91, 1 (5). BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, BGHZ 91, 1 (7). BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, BGHZ 91, 1 (5). BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1252). BVerfGE 7, 198 (205 ff.).
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ein Wertsystem, das als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung beanspruche, mithin also auch das bürgerliche Recht beeinflusse32. Ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Lüth-Urteil sah der Senat zur Realisierung dieses Einflusses die Generalklauseln an, namentlich auch den Begriff der guten Sitten in § 138 BGB33. Auf der Grundlage dieser rechtstheoretischen Ausführungen zieht der Senat dann den für die Beurteilung nachvertraglicher Wettbewerbsverbote bis heute maßgeblichen Schluss: „Daraus folgt, daß die in dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) zum Ausdruck kommende Wertentscheidung des Grundgesetzes für die Freiheit des Berufes bei der Prüfung der Frage, ob Verträge, durch die sich ein Vertragspartner verpflichtet, seinen Beruf auf Zeit oder sogar auf Dauer aufzugeben, gegen die guten Sitten verstoßen, hinreichend beachtet werden muß.“34 Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 28.4.1986 jedoch nicht einseitig auf die Grundrechte des durch die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung Verpflichteten abgestellt, sondern auch gesehen, dass für den aus ihr Berechtigten die in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Vertragsfreiheit als besondere Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit streitet, letztlich also beide Seiten für sich grundgesetzlich verbürgte Rechte in Anspruch nehmen können35. Die Freiheit des rechtsgeschäftlichen Handelns ist jedoch durch die verfassungsmäßige Ordnung begrenzt, so dass Einschränkungen dieses Freiheitsrechts keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen, soweit sie den Wertentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen36. Spätestens in der den Nebensatz einleitenden Konjunktion „soweit“ hatte sich der Ausgleich widerstreitender Interessen im Wege praktischer Konkordanz Bahn gebrochen. Zwar stellt der Senat in seinen weiteren Ausführungen wiederum auch auf die Besonderheiten des Rechts freier Berufe – die seinerzeit streitgegenständliche Auseinandersetzung wurde zwischen Rechtsanwälten als Parteien geführt – ab und verknüpfte seine Formel, ein vertraglich ausbedungenes Konkurrenzverbot dürfe nur so weit reichen, wie es den Vertragspartner vor einer illoyalen Verwertung des Erfolgs seiner Arbeit schützen soll, ausdrücklich mit dem berufsrechtlichen Hintergrund37. Wie jedoch der VIII. Zivil-
__________ 32 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1252). 33 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1252). 34 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1252), unter Hinweis auf
das Urteil im 91. Band sowie eine Entscheidung des Kartellsenats, der die Geltung des Art. 12 GG im Rahmen bürgerlich-rechtlicher Streitigkeiten ausdrücklich hatte dahinstehen lassen, vgl. dazu Urt. v. 26.10.1961 – KZR 1/61, BGHZ 36, 91 (95). 35 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1252). 36 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1252), unter Verweis auf BVerfGE 65, 196, 210. 37 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1253).
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senat drei Jahre später zutreffend ausführte, ist der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt ein allgemein gültiger38. Erst von diesem Ausgangspunkt her seien Differenzierungen – etwa der Intensität des Wettbewerbsverbots – denkbar, die auch an typische Eigenschaften des Berufs anknüpfen könnten, daneben freilich auch andere Faktoren einzubeziehen hätten39. 4. Die verfassungsrechtliche Einbettung als Teil der ständigen Rechtsprechung Ohne seine allgemeinen rechtstheoretischen und methodischen Überlegungen zu wiederholen, fasste der Senat seine Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen Vertragsfreiheit einerseits und Berufsfreiheit andererseits im Urteil vom 29.10.1990 nochmals zusammen und stellte klar, der Wertentscheidung des Art. 12 Abs. 1 GG sei auch dann Rechnung zu tragen, wenn sich die Vertragschließenden gleichberechtigt gegenüberstehen, es mithin also nicht auf eine typischerweise in den Fällen des § 138 BGB sonst festzustellende Unterlegenheit einer der Parteien ankommt40. In den seither ergangenen Urteilen begnügte sich der Senat regelmäßig mit dem Hinweis, dass die Vereinbarung nachvertraglicher Wettbewerbsverbote an § 138 und Art. 12 GG zu messen ist41, Beschränkungen der Berufsausübungsfreiheit kein sittenwidriges Maß annehmen dürfen42 oder die Frage nach ihrer Wirksamkeit mit Rücksicht auf Art. 12 GG zu entscheiden ist43. Die verfassungsrechtlichen Argumentationstopoi sind also längst Gemeingut der zu den Konkurrenzverboten ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung und haben, wie selbstverständlich, auch Eingang in die Rechtsprechung der Landund Oberlandesgerichte gefunden44. Gleiches gilt für die – vom berufsrechtlichen Kontext längst emanzipierte und nunmehr ebenfalls verfassungsrechtlich untermauerte – stets wiederkehrende Sentenz, dass wettbewerbsbeschränkende Abreden ihre Rechtfertigung allein in dem anerkennenswerten Bestreben des von ihr begünstigten Teils finden, sich davor zu schützen, dass der andere Teil die Erfolge seiner Arbeit illoyal verwertet oder sich in sonstiger Weise zu seinen Lasten die Freiheit der Berufsausübung missbräuchlich zunutze macht. Soweit diese Interessen nicht betroffen sind, beschränken derartige Abreden die Freiheit
__________ 38 BGH, Urt. v. 15.3.1989 – VIII ZR 62/88, WM 1989, 954 (955); ebenso Goette, DStR
1997, 1414. 39 BGH, Urt. v. 15.3.1989 – VIII ZR 62/88, WM 1989, 954 (955). 40 BGH, Urt. v. 29.10.1990 – II ZR 241/89, WM 1990, 2121 (2122). 41 BGH, Urt. v. 29.1.1996 – II ZR 286/94, NJW-RR 1996, 741 (742); Urt. v. 14.7.1997 –
II ZR 238/96, WM 1997, 1707. 42 BGH, Urt. v. 8.5.2000 – II ZR 308/98, WM 2000, 1496 (1498). 43 BGH, Urt. v. 29.9.2003 – II ZR 59/02, WM 2003, 2334. 44 Vgl. zuletzt OLG Stuttgart, NJW 2002, 1431 (1432).
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der Berufsausübung unangemessen und sind daher sittenwidrig45. Dabei kann als einfachgesetzlicher Indikator, ob eine solche unangemessene und sittenwidrige Einschränkung vorliegt, auch zu berücksichtigen sein, ob die von den Parteien gewählte Gestaltung geeignet ist, einen Gesellschafter von der Ausübung des ihm nach § 723 Abs. 3 BGB zustehenden Kündigungsrechts abzuhalten46.
III. Das räumlich, zeitlich und gegenständlich zulässige Maß nachvertraglicher Wettbewerbsverbote Die verfassungsrechtliche Absicherung der ursprünglich als Interessenausgleich im Einzelfall gedachten oder an typische Berufsbilder anknüpfenden Rechtsprechung hat zu allgemein anerkannten Ergebnissen geführt und durch diese Verallgemeinerung ihre Anwendung nicht nur legitimiert, sondern auch ausgeweitet. Anhand konkreter Einzelfälle ist es dem II. Zivilsenat unter dem Einfluss des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelungen, von den Besonderheiten der jeweiligen Einzelfälle mehr und mehr zu abstrahieren und die – meisten – Fragen nach der Zulässigkeit wettbewerbsbeschränkender Abreden grundsätzlich zu beantworten. Die Ausrichtung dieser Antworten an der Verfassung, namentlich an Art. 12 Abs. 1 GG, hat jedoch nicht nur zu Verallgemeinerungen geführt, sondern umgekehrt auch eine der Rechtssicherheit zuträgliche Konkretisierung des räumlich, zeitlich und gegenständlich Zulässigen bewirkt. Ohne Unterschied findet sich das Verdikt, dass jedes Wettbewerbsverbot das durch diese Kriterien charakterisierte Maß einzuhalten habe, zwar ebenso bereits in der ersten Entscheidung aus dem Jahr 1956 wie in einer Entscheidung aus dem Jahr 200347. Während es vor 50 Jahren jedoch lediglich bei dem Hinweis auf die Umstände des einzelnen Falles zur Beurteilung der ihrerseits ausfüllungsbedürftigen Kriterien blieb, kann sich der heutige Leser der Maßstäbe einer regen Verfassungsrechtsprechung und -diskussion zu deren Konkretisierung bedienen. Die Einsicht, dass Wettbewerbsverbote grundgesetzlich geschützte Freiheitsrechte einschränken, führt schließlich auch dazu, solche Verbote im Einzelfall bereits dann als unwirksam anzusehen, wenn sie sich in räumlicher, zeitlicher oder gegenständlicher Weise als übermäßig erweisen. Eine Gesamtbetrachtung unter allen drei Aspekten, wie sie der Senat noch in der
__________ 45 Vgl. fast wörtlich übereinstimmend BGH, Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM
1997, 1707; Urt. v. 8.5.2000 – II ZR 308/98, WM 2000, 1496 (1498); Urt. v. 29.9.2003 – II ZR 59/02, WM 2003, 2334. 46 So BGH, Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1709). 47 Vgl. dazu nochmals BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 320 (321) und Urt. v. 29.9.2003 – II ZR 59/02, WM 2003, 2334 m. w. N.; s. auch schon oben unter Ziff. II.
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Entscheidung vom 17.12.1956 angestellt und ein zehnjähriges Konkurrenzverbot angesichts der sonstigen Umstände als rechtlich zulässig erachtet hat48, wurde zwischenzeitlich zu Recht aufgegeben49. 1. Die zeitlichen Grenzen nachvertraglicher Wettbewerbsverbote Die zulässige Zeitspanne vertraglich vereinbarter Konkurrenzverbote bemisst der Senat in inzwischen ständiger Rechtsprechung regelmäßig auf zwei Jahre50. Dass er dabei Ausnahmen von dieser Regel zwar prüft – und ablehnt –,51 ist wohl wiederum eher dem Vorsichtsprinzip geschuldet, nicht ohne Not starre Grenzen zu setzen. Dies wird auch in einer Entscheidung des Kartellsenats deutlich, der die Zwei-Jahres-Frist sowohl durch das europäische Wettbewerbsrecht als auch durch den nationalen Gesetzgeber (vgl. § 90 a Abs. 1 Satz 2 HGB) bestätigt sieht52. Ebenso wie sich der zunehmende Einfluss des Verfassungsrechts auf die Rechtsprechung zu den zivilrechtlichen Konkurrenzverboten insgesamt nachweisen lässt, zeigt er sich in Bezug auf deren zeitliche Grenzen im Detail. Die Argumentation unter dem Topos der Berufsfreiheit steht wiederum nicht am Anfang der Herausarbeitung dieser Grenze, sondern sichert das am Einzelfall entwickelte Ergebnis ab. So heißt es zunächst ohne jede Bezugnahme auf Art. 12 Abs. 1 GG im Urteil vom 19.11.1974, dass bei der Beurteilung der zeitlichen Dauer des Wettbewerbsverbots das schutzwürdige Interesse des Berechtigten an der Fernhaltung des Verpflichteten im Allgemeinen nur für einen Zeitraum anzuerkennen sei, in dem die in der Vertragszeit geschaffenen geschäftlichen Beziehungen noch fortwirkten53. Dreißig Jahre später beruft sich der Senat bei der Frage nach der zeitlichen Beschränkung eines Wettbewerbsverbots ausdrücklich auf Art. 12 Abs. 1 GG und fährt dann fort: „Insoweit ist allein der Zeitraum maßgeblich, in dem sich Bindungen aus der Zeit der Gesellschaftszugehörigkeit nach deren Beendigung so zu lockern pflegen, daß ein über diesen Zeitraum hinausgehendes Wettbewerbsverbot mit den guten Sitten nicht mehr zu vereinbaren ist.“54 Unter Berufung auf die Berufsfreiheit wird freilich der tragende Gedanke nicht nur wiederholt, sondern durch den Gedanken präzisiert, dass eine Wettbewerbsbeschränkung, die über die Frist von zwei Jahren hinausgeht, in der Regel
__________ 48 BGH, Urt. v. 17.12.1956 – II ZR 202/55, WM 1957, 320 (321). 49 Vgl. bereits BGH, Urt. v. 19.11.1973 – II ZR 52/72, WM 1974, 74 (76). 50 BGH, Urt. v. 19.11.1973 – II ZR 52/72, WM 1974, 74 (76); Urt. v. 26.3.1984 – II ZR
51 52 53 54
229/93, BGHZ 91, 1 (7); Urt. v. 29.1.1996 – II ZR 286/94, NJW-RR 1997, 741 (742); Urt. v. 8.5.2000 – II ZR 308/98, WM 2000, 1496 (1498); Urt. v. 29.9.2003 – II ZR 59/02, WM 2003, 2334 ff. Vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 29.9.2003 – II ZR 59/02, WM 2003, 2334 f. BGH, Urt. v. 19.10.1993 – KZR 3/092, WM 1994, 220 (223). BGH, Urt. v. 19.11.1973 – II ZR 52/72, WM 1974, 74 (76). BGH, Urt. v. 29.9.2003 – II ZR 59/02, WM 2003, 2334.
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nur noch dem Zweck diene, einen Konkurrenten auszuschalten55. Gerade darin sieht der Senat jedoch zutreffend kein schutzwürdiges Interesse des Berechtigten, sondern einen Verstoß gegen die „auch im Privatrecht zu beachtende Grundentscheidung für die Freiheit des Berufes.“56 Verletzt ein Wettbewerbsverbot ausschließlich das Maß des zeitlich Zulässigen, kommt – als Ausnahme von dem Grundsatz, den Vertragsparteien das Risiko sittenwidriger Vereinbarungen zuzuweisen – eine geltungserhaltende Reduktion in Betracht57. Diese Rechtsprechung ist nicht verfassungsrechtlich überlagert oder vorgezeichnet, sondern die in entsprechender Anwendung des § 139 BGB einfachgesetzlich begründete Fortsetzung der Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats zur überlangen Dauer von Bierlieferungsverträgen58. Sie ist in der Rechtsprechung des II. Zivilsenats für überlange Wettbewerbsverbote inzwischen gefestigt59. Dabei ist die Vorstellung bestimmend, die auf Dauer angelegte Beziehung sei derart in Teilabschnitte zu zerlegen, dass sie sich als Teile eines ganzen Vertrags im Sinne des § 139 BGB darstellten – mit der Folge, dass sie bei einem entsprechenden Parteiwillen mit einer kürzeren Laufzeit aufrechterhalten bleiben60. 2. Die örtlichen Grenzen nachvertraglicher Wettbewerbsverbote Ähnlich wie bei einer zeitlichen Überdehnung könnte man auch in der zu weiten räumlichen Erstreckung eines Wettbewerbsverbots eine nur quantitativ wirkende Nichtigkeit erblicken61. Der gewählte Radius einer Konkurrenzschutzklausel ist als zahlenmäßig determinierte Größe ebenso leicht in noch akzeptable Teilabschnitte zerlegbar wie die vereinbarte Dauer in einen noch angemessenen Zeitraum. Gute Gründe sprechen jedoch – gerade vor dem Hintergrund des Art. 12 Abs. 1 GG – gegen eine geltungserhaltende Reduktion. Anders als die zeitliche Grenze hängt die Wirkung der räumlichen Einschränkungen eines Wettbewerbsverbots entscheidend vom räumlichen Wirkungskreis des Geschäftsbetriebs der Gesellschaft ab, aus welcher der Verpflichtete ausscheidet. So wird man etwa einen Rechtsanwalt, der eine
__________ 55 BGH, Urt. v. 29.1.1996 – II ZR 286/94, NJW-RR 1997, 741 (742). 56 BGH, Urt. v. 29.1.1996 – II ZR 286/94, NJW-RR 1997, 741 (742). 57 Aus der Rechtsprechung des Senats vgl. BGH, Urt. v. 29.10.1990 – II ZR 241/89,
58
59 60 61
WM 1990, 2121 (2122 f.); Urt. v. 29.1.1996 – II ZR 286/94, NJW-RR 1996, 741 (742); Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708); restriktiver noch Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1253); vgl. auch die bereits zuvor ergangene Rechtsprechung des Kartellsenats BGH, Urt. v. 13.3.1979 – KZR 23/77, NJW 1979, 1605 (1606); Urt. v. 29.5.1984 – KZR 28/83, WuW/E BGH 2090 (2095). So ausdrücklich die Anknüpfung sowohl in der Rspr. des Kartellsenats, vgl. Urt. v. 13.3.1979 – KZR 23/77, NJW 1979, 1605 (1606) als auch des II. Zivilsenats, vgl. Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708) m. w. N. Vgl. die Nachw. in Fn. 58. BGH, Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708) m. w. N. Hirte, ZHR 154 (1990), 453 (459 f.); Sack in Staudinger, BGB, § 138 Rz. 312.
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kleinstädtische Zweiersozietät mit ausschließlich lokaler Mandantenstruktur verlässt, zwar ebenso mit einem Wettbewerbsverbot von zwei Jahren belegen können wie seinen aus dem Großstadtbüro einer internationalen Großkanzlei mit weltweit ansässigen Mandanten ausscheidenden Kollegen. Es wäre freilich lebensfremd anzunehmen, eine beiden gerecht werdende Richtgröße ließe sich auch in örtlicher Hinsicht finden62. Die örtliche Komponente ist also eine nur scheinbar quantitative, in Wahrheit jedoch ist die räumliche Ausrichtung einer Tätigkeit – gerade in Zeiten immer schnellerer und globaler Kommunikationsmöglichkeiten – längst Teil ihres Gegenstands geworden. Ist man bereit, diese Entwicklung anzuerkennen, verbietet sich nicht nur eine pauschale, noch zulässige Reichweite nachvertraglicher Wettbewerbsverbote, sondern damit einhergehend auch eine geltungserhaltende Reduktion vereinbarter Grenzen im Einzelfall. Eine solche Reduktion wäre nicht einfach ein „Minus“, sondern würde rechtsgestaltend auf ein als sittenwidrig erkanntes Rechtsgeschäft einwirken. Eine solche Einwirkung hat der Senat bislang aber im Bereich gegenständlich zu weitgehender Wettbewerbsverbote zu Recht abgelehnt63. Auch der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat den engen Zusammenhang zwischen Ort und Gegenstand beruflichen Tätigwerdens in seiner Entscheidung vom 14.7.1997 gesehen64. Zwar hat er die Frage, ob eine quantitative Korrektur räumlich zu weit gefasster Wettbewerbsverbote möglich ist, ausdrücklich – und da nicht entscheidungserheblich, wiederum zu Recht – offen gelassen65; er hat jedoch in der vorgenommenen Korrektur des räumlichen Bereichs durch die Vorinstanz eine im Einzelfall unzulässige Wertung und damit einen nicht allein quantitativ wirkenden Eingriff erblickt66. 3. Die gegenständlichen Grenzen nachvertraglicher Wettbewerbsverbote Spätestens wenn der eigentliche Gegenstand des Wettbewerbsverbots berührt ist, kommt eine Korrektur der getroffenen Vereinbarung auf ein gerade noch sittengemäßes Maß nicht (mehr) in Betracht67. Zum einen würde eine solche Korrektur rechtsgestaltend auf den übrigen Inhalt des sittenwidrigen Geschäfts einwirken, womit der Richter angesichts ganz unterschiedlich denkbarer Regelungen zur Herstellung des verfassungsrechtlich geforderten
__________
62 Kritisch auch Goette, DStR 1997, 1414 (1415). 63 Vgl. nur BGH, Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708); dazu auch
noch sogleich unter Ziff. III.3. 64 Bereits in seiner Entscheidung vom 28.4.1986 (II ZR 254/85, WM 1986, 1251 [1252])
hatte der Senat eine zeitliche und räumliche Rückführung auf ein noch zulässiges Maß abgelehnt. 65 Das verkennt Römermann, NJW 2002, 1399 (1400). 66 BGH, Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708). 67 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1253); Urt. v. 29.10.1990 – II ZR 241/89, WM 1990, 2121 (2123); Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708).
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Interessenausgleichs zwischen den Vertragsparteien den ihm eingeräumten Gestaltungsspielraum überschreiten würde68; zum anderen verlöre § 138 BGB den ihm innewohnenden Zweck, den Beteiligten das Risiko einer sittenwidrigen und damit nichtigen Vereinbarung zuzuweisen69. Das Gericht hat sich daher auf die Entscheidung zu beschränken, ob das von den Parteien konkret vereinbarte Konkurrenzverbot seinem Gegenstand nach (noch) dazu dient, den Berechtigten vor einer illoyalen Verwertung der Erfolge seiner Arbeit zu schützen, oder (schon) dazu missbraucht wird, den Verpflichteten als Konkurrenten auszuschalten. Die solchermaßen – wiederum verfassungsrechtlich – vorgezeichnete Abwägung hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab, den einer gerechten Lösung zuzuführen, wiederum vornehme und klassische Aufgabe des Richters ist. Zumindest hinsichtlich des – die Praxis nachvertraglicher Wettbewerbsverbote nach wie vor prägenden – Rechts der freien Berufe hat sich dabei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des II. Zivilsenats herauskristallisiert, dass Mandantenschutzklauseln regelmäßig dann nicht beanstandet werden, wenn sie sich – im Übrigen räumlich und zeitlich zulässig – auf die von der Sozietät im Zeitpunkt des Ausscheidens betreuten Mandanten beziehen70. Um Unsicherheiten auszuschließen, ob ein Mandat in diesem Zeitpunkt noch besteht, mag dabei auch eine Regelung zulässig sein, die Mandanten in den Schutz einbezieht, die innerhalb der letzten zwei oder drei Jahre vor dem Ausscheiden Auftraggeber des durch die Vereinbarung Berechtigten waren71. Damit ist zum einen dem Interesse des Verpflichteten Rechnung getragen, in Ausübung seines Berufs alle anderen denkbaren Mandanten sogar am Ort der Sozietät zu betreuen72, zum anderen der Belang der Sozietät selbst geschützt, nicht durch die – möglicherweise nur vorübergehende – Aufnahme eines Partners nach dessen Ausscheiden Mandanten zu verlieren, die dieser allein aufgrund seiner Tätigkeit in der gemeinsamen Praxis gewinnen konnte73. Unzulässig sind dagegen Bestimmungen, die dem Ausscheidenden die Kontaktaufnahme mit für die Sozietät ohnehin bereits verlorenen Mandanten untersagen74 oder ihm die Verpflichtung auferlegen, Anteile aus allen seinen künftigen Honoraren, also auch aus solchen, deren Auftraggeber weder zum Mandantenkreis der Gesellschaft noch zu dem seiner ehemaligen Mitgesellschafter gehörten, abzuführen75. Letzteres hat nichts
__________
68 BGH, Urt. v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708). 69 BGH, Urt. v. 28.4.1986 – II ZR 254/85, WM 1986, 1251 (1253); Urt. v. 14.7.1997 –
II ZR 238/96, WM 1997, 1707 (1708). 70 BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, BGHZ 91, 1 (7); Urt. v. 8.5.2000 – II ZR
308/98, WM 2000, 1496 (1498); vgl. dazu auch Goette, DStR 2000, 1023 (1024). BGH, Urt. v. 29.10.1990 – II ZR 241/89, WM 1990, 2121 (2122). BGH, Urt. v. 8.5.2000 – II ZR 308/98, WM 2000, 1496 (1498). BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, BGHZ 91, 1 (7). BGH, Urt. v. 8.5.2000 – II ZR 308/98, WM 2000, 1496 (1498); Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/668, WM 1968, 893 (895). 75 BGH, Urt. v. 9.5.1968 – II ZR 158/668, WM 1968, 893 (895). 71 72 73 74
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mit Mandantenschutz zu tun, sondern soll den Ausscheidenden erkennbar als Konkurrenten ausschließen und ist daher mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar.
IV. Ausblick Die grundsätzlichen Fragen um die Zulässigkeit nachvertraglicher Wettbewerbsverbote konnten durch die Rechtsprechung des II. Zivilsenats weitgehend geklärt werden. Allein die räumliche Grenze solcher Konkurrenzklauseln ist noch nicht abschließend ausgelotet. Offen sind insbesondere auch noch Anschlussprobleme, etwa wenn ein Verstoß gegen ein zulässiges Wettbewerbsverbot festgestellt wird und die durch dieses Verbot Berechtigten Schadensersatz von dem Verletzer verlangen76. Auch insoweit wird man freilich den Einfluss des Art. 12 Abs. 1 GG zu beachten haben und einen solchen Schadensersatzanspruch nur zusprechen, wenn der Verletzte den vollen Beweis nicht nur für die Verletzungshandlung, sondern auch für ihm hierdurch entgangenen Gewinn und den erforderlichen Kausalzusammenhang führt. Die weitere Rechtsentwicklung ist also auch in diesem Punkt verfassungsrechtlich bereits vorgezeichnet.
__________ 76 Angesichts der verbreiteten Praxis, Wettbewerbsverbote mit Vertragsstrafen zu
kombinieren, wird sich dieses Problem nur in Ausnahmefällen stellen.
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Gerd Krieger
Gewinnabhängige Aufsichtsratsvergütungen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Anwendungsbereich des § 113 Abs. 3 AktG 1. Jahresgewinn der Gesellschaft 2. Rechtsprechung und Literatur 3. Schutzzweck des Gesetzes 4. Anknüpfung an Ergebniskennzahlen der Gesellschaft
5. Anknüpfung an Ergebniskennzahlen des Konzerns 6. Langfristig erfolgsorientierte Tantiemen III. Rechtsfolgen bei Verletzung von § 113 Abs. 3 AktG IV. Rechtspolitischer Änderungsbedarf
I. Einleitung Den Aufsichtsratsmitgliedern kann für ihre Tätigkeit eine Vergütung gewährt werden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 AktG). Dazu empfiehlt Ziff. 5.4.5 Abs. 3 des Deutschen Corporate Governance Kodex, neben einer festen eine erfolgsorientierte Vergütung festzulegen, wobei die erfolgsorientierte Vergütung auch auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogene Bestandteile enthalten soll. Eine Kombination fixer und variabler Vergütungsbestandteile ist in der Praxis verbreitet. Eine Umfrage des Deutschen Aktieninstituts ergab für das Kalenderjahr 2002, dass von den an der Umfrage teilnehmenden Aktiengesellschaften 45,9 % fixe und variable Vergütungsbestandteile verwendeten; bei den M-DAX Unternehmen lag der Anteil der kombinierten Vergütung bei 58,8 %, bei den DAX-Unternehmen sogar bei 81,8 %1. Vor dem Hintergrund der Empfehlung in Ziff. 5.4.5 DCGK dürften diese Prozentsätze zwischenzeitlich weiter angestiegen sein2. Regeln über die Bemessung der erfolgsorientierten Aufsichtsratsvergütung finden sich in § 113 Abs. 3 AktG: Wird den Aufsichtsratsmitgliedern ein Anteil am Jahresgewinn der Gesellschaft gewährt, so berechnet sich dieser Anteil nach dem Bilanzgewinn, vermindert um einen Betrag von mindestens 4 % der auf den geringsten Ausgabebetrag der Aktien geleisteten Einlagen; entgegenstehende Festsetzungen sind nichtig. In der Praxis wird allerdings in
__________ Deutsches Aktieninstitut (DAI), Aufsichtsratsvergütung bei deutschen börsennotierten Unternehmen, 2003, S. 36 f. 2 Vgl. auch die Umfrage des Berlin Center of Corporate Governance, Umsetzung des Deutschen Corporate Governance Kodex in börsennotierten Gesellschaften, Executive Summary, 19.5.2003, S. 3 ff., wonach 86,7 % der DAX- und 79,7 % der M-DAXUnternehmen künftig eine erfolgsorientierte Aufsichtsratsvergütung planten. 1
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der Regel nicht an den Bilanzgewinn angeknüpft. Vielmehr stand als Bemessungsgrundlage der variablen Vergütung im Zeitpunkt der Umfrage des Deutschen Aktieninstituts die Dividende im Vordergrund, die von 77,2 % aller Aktiengesellschaften als alleiniger Maßstab benutzt wurde. An zweiter Stelle rangierten Bilanzkennzahlen mit einem Anteil von insgesamt 14 %, während in 2,7 % der Fälle eine Anknüpfung an die Kursentwicklung (teilweise in Kombination mit der Dividende) gewählt wurde. Bei den Unternehmen des DAX und des M-DAX dominierte die Dividende noch stärker (DAX 83,3 %, M-DAX 80,0 %), während Bilanzkennzahlen (DAX 0 %, M-DAX 10 %) und die Kursentwicklung (DAX 11,2 %, M-DAX 5,0 %) seltener herangezogen wurden3. Dieses Bild, wonach zumeist die Dividende als Bemessungsgrundlage der Aufsichtsratstantieme gewählt wurde, dürfte sich inzwischen jedoch deutlich verschoben haben. Gerade in jüngster Zeit haben viele große und mittlere Unternehmen die variable Aufsichtsratsvergütung neu geregelt. Für die kurzfristig erfolgsorientierte Vergütung wird häufig an das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBITDA), das Ergebnis vor Zinsen und Steuern (EBIT), das Ergebnis vor Steuern (EBT), den Cash Flow oder andere Ergebniskennzahlen angeknüpft. Vielfach werden dabei nicht die entsprechenden Daten der Gesellschaft, sondern des Konzerns zugrunde gelegt; ebenso findet man Anknüpfungen an den Konzern-Bilanzgewinn oder den Konzern-Jahresüberschuss. Langfristig erfolgsorientierte Vergütungselemente wählen die gleichen Anknüpfungspunkte und stellen darauf ab, wie sich Jahresüberschuss oder Bilanzgewinn, EBITDA, EBIT, EBT, Cash Flow oder andere Kennzahlen der Gesellschaft oder des Konzerns im mehrjährigen Durchschnitt entwickelt haben. Daneben findet man Anknüpfungen an die Kursentwicklung der Aktie. Eine Bemessung der Aufsichtsratstantieme nach der Kursentwicklung ist mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wohl nicht mehr zu vereinbaren. Nachdem der Gesetzgeber eine bedingte Kapitalerhöhung zur Gewährung von Stock Options nur zu Gunsten von Arbeitnehmern und Mitgliedern der Geschäftsführungsorgane, nicht jedoch zu Gunsten von Aufsichtsratsmitgliedern zugelassen hat (§§ 192 Abs. 2 Nr. 3, 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG), hat der Bundesgerichtshof daran anknüpfend auch mit eigenen Aktien unterlegte Aktienoptionsprogramme zugunsten von Aufsichtsratsmitgliedern unter anderem mit der Erwägung untersagt, der Gesetzgeber habe eine – der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats unter Umständen abträgliche – Angleichung der Vergütungsinteressen von Vorstand und Aufsichtsrat mit Ausrichtung auf den Aktienkurs nicht für angebracht gehalten4. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass das Gericht auch andere Formen der kursabhängigen Aufsichtsratsvergütung kaum noch zulassen wird. Der Bundes-
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DAI (Fn. 1), S. 38 f. BGH, ZIP 2004, 613 (614) (Mobilcom).
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gerichtshof hat dies für die Gewährung von Wandelanleihen zur Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern bereits angedeutet5 und vom Jubilar stammt der Hinweis, dass auch Phantom Stocks und überhaupt alle Vergütungsformen, bei denen Vorstand und Aufsichtsrat „aus einer Quelle trinken“, problematisch seien6. Rechtlich problematisch sind aber nicht nur kursabhängige Vergütungselemente, sondern auch der Trend, die unterschiedlichsten Ergebniskennzahlen eines oder mehrerer Geschäftsjahre der Gesellschaft oder des Konzerns als Berechnungsgröße für die Bemessung der erfolgsorientierten Aufsichtsratsvergütung heranzuziehen, ist rechtlichen Bedenken ausgesetzt, wenn § 113 Abs. 3 AktG die Anknüpfung an den Bilanzgewinn fordert und entgegenstehende Festsetzungen für nichtig erklärt. Zwar besteht seit langem Einigkeit, dass die Anknüpfung an die Dividende, die dem Gesetzeswortlaut auch nicht entspricht, vom Gesetzeszweck gedeckt ist6a . Aber ob sich dies auch für die inzwischen in Mode gekommenen sonstigen Berechnungsgrundlagen sagen lässt, ist zweifelhaft.
II. Anwendungsbereich des § 113 Abs. 3 AktG 1. Jahresgewinn der Gesellschaft § 113 Abs. 3 AktG schreibt die Anknüpfung an den Bilanzgewinn für den Fall vor, dass den Aufsichtsratsmitgliedern ein Anteil am „Jahresgewinn der Gesellschaft“ gewährt wird. Erfolgsabhängige Vergütungen, die an andere Ergebniszahlen als den Bilanzgewinn anknüpfen, sind deshalb – jedenfalls soweit es sich um eine für das Aufsichtsratsmitglied günstigere Berechnungsmethode handelt7 – unzulässig, wenn es sich hierbei um einen Anteil am Jahresgewinn der Gesellschaft handelt. Erfolgsabhängige Vergütungselemente, die nicht in einem Anteil am Jahresgewinn der Gesellschaft bestehen, werden hingegen von § 113 Abs. 3 AktG nicht erfasst. Das ergibt sich aus dem insoweit klaren Wortlaut der Regelung und ist wohl unbestrit-
__________ BGH, ZIP 2004, 613 (615) (Mobilcom); zustimmend Habersack, ZGR 2004, 721 (728 ff.); Meyer/Ludwig, ZIP 2004, 940 (944); kritisch Paefgen, WM 2004, 1169 (1172); demnächst auch Hoffmann-Becking, Rechtliche Anmerkungen zur Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung, ZHR 168 (2005), sub II. 3. 6 Demnächst Röhricht in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2004, 2005, S. 1 ff. sub III. Gegen die Zulässigkeit von Phantom Stock u. ä. auch Habersack, ZGR 2004, 721 (731 f.); Meyer/Ludwig, ZIP 2004, 940 (944 f.); gleiche Interpretation des Mobilcom-Urteils, selbst jedoch kritisch Paefgen, WM 2004, 1169 (1173 ff.); a. A. demnächst Hoffmann-Becking (Fn. 5) sub II. 3. 6a Vgl. die Nachw. unten Fn. 23–27. 7 Vgl. untn bei Fn. 9. 5
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ten8. Die Frage ist nur, was als Anteil am Jahresgewinn der Gesellschaft zu verstehen ist. Eine dem § 113 Abs. 3 AktG ähnliche Regelung enthielt § 86 AktG a. F. Diese Vorschrift betraf gewinnabhängige Vorstandsvergütungen und bestimmte in Abs. 1, dass eine den Vorstandsmitgliedern gewährte Gewinnbeteiligung „in der Regel in einem Anteil am Jahresgewinn der Gesellschaft bestehen“ sollte. Wurde den Vorstandsmitgliedern ein Anteil am Jahresgewinn gewährt, so berechnete sich dieser zwingend nach dem Jahresüberschuss, vermindert um einen Verlustvortrag und Beträge, die nach Gesetz und Satzung in die Gewinnrücklagen einzustellen waren (§ 86 Abs. 2 Satz 1 AktG a. F.). Während § 86 AktG a. F. durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz vom 19.7.2002 aufgehoben wurde, ließ der Gesetzgeber § 113 Abs. 3 AktG bestehen. Die Aufhebung von § 86 AktG a. F. begründete er mit der Erwägung, dass die Regelung aus mehreren Gründen überflüssig und überholt sei, unter anderem wegen der Anknüpfung an den unklaren Begriff des Jahresgewinns9. Warum § 113 Abs. 3 AktG bestehen blieb, lässt sich den Gesetzmaterialien nicht entnehmen. Man wird vermuten können, dass die Vorschrift seinerzeit keine Aufmerksamkeit gefunden hat, weil Rechtsprechung und Literatur sich zwar wiederholt mit Fragen des § 86 Abs. 2 AktG beschäftigt hatten10, § 113 Abs. 3 AktG jedoch im Hintergrund stand und in der rechtspolitischen Diskussion zur Abschaffung von § 86 AktG keine Rolle spielte. 2. Rechtsprechung und Literatur In Rechtsprechung und Literatur zu § 113 Abs. 3 AktG wird die Frage, was als Jahresgewinn i. S. d. Vorschrift anzusetzen ist, nur wenig behandelt. Man liest zwar zumeist, dass die Vorschrift auf die dividendenabhängige Tantieme keine Anwendung finde11. Weiter gehende Stellungnahmen sind jedoch selten. Soweit sie sich finden, tendieren sie dazu, § 113 Abs. 3 AktG großzügig zu handhaben und es der Gesellschaft zu gestatten, eine umsatzorientierte12
__________ 8 Vgl. etwa Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 113 Rz. 9; Geßler in Geßler/Hefermehl/
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Eckardt/Kropff, AktG, Bd. 2, 1973, § 113 Rz. 43; Mertens in KölnKomm.AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 1996, § 113 Rz. 37; Hoffmann-Becking in MünchHdb. GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 33 Rz. 20. Begründung RegE TransPuG, abgedr. bei Seibert, Das Transparenz- und Publizitätsgesetz, 2003, S. 20 f. Vgl. nur BGH, ZIP 2003, 722; BGHZ 145, 1; OLG Düsseldorf, NZG 1999, 1110; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797; Bettin, DB 2000, 263; Rottnauer, NZG 2001, 1009. Vgl. unten Fn. 23–27. Semler in MünchKomm.AktG, Bd. 3, 2. Aufl. 2004, § 113 Rz. 64; Geßler in Geßler/ Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 113 Rz. 12.
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oder eine konzernerfolgsabhängige Tantieme13 zu gewähren oder die Tantieme von einem Vorsteuer-Ergebnis abhängig zu machen14. Hingegen entsprach es der deutlich überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur zu § 86 Abs. 2 AktG a. F., dass der Begriff des „Jahresgewinns“ im Sinne jener Vorschrift weit zu verstehen war. Schon zu § 237 HGB, auf den § 86 AktG a. F. zurückging, wurde die Auffassung vertreten, der Gesetzgeber wolle mit dem Begriff Jahresgewinn „alles umfassen, was im praktischen Leben so genannt wird, also sowohl den Betriebsgewinn, als auch den Roh- oder Bruttogewinn, den Rein- oder Nettogewinn“15. Je breiter man den Begriff Jahresgewinn fasse, um so breiter sei der Wirkungskreis der Vorschrift, was nur mit ihrer Tendenz in Einklang stehe16. Demgemäß war auch in der Literatur zu § 86 Abs. 2 AktG a. F. weitgehend anerkannt, dass die Vorschrift auch eingriff, wenn die Tantiemezusage an den „Bruttogewinn“, den „Rohgewinn“, das „Geschäftsergebnis“ oder dergleichen anknüpfte17. Der Bundesgerichtshof schließlich hat sogar eine vom Cash Flow abhängige Vorstandstantieme als auf den Jahresgewinn bezogene Tantieme i. S. v. § 86 Abs. 2 AktG a. F. angesehen. Eine Tantiemevereinbarung, welche mittelbar oder unmittelbar an den Jahresüberschuss anknüpfte und diesen um bestimmte Posten zu Lasten der AG bereinigte, habe nach dem Wortlaut und Schutzzweck des § 86 Abs. 2 AktG a. F. dieser Vorschrift unterlegen18. Die Zulässigkeit der dividendenabhängigen Tantieme war allerdings auch zu § 86 Abs. 2 AktG a. F. anerkannt19; Gleiches wurde für eine Abhängigkeit vom Umsatz20 oder vom Konzernerfolg21 angenommen. Auf ein enges Begriffsverständnis scheint demgegenüber die Begründung des Regierungsentwurfs zum TransPuG zu deuten. Wenn es dort zu der Abschaffung von § 86 AktG a. F. heißt, in der Praxis sei „heute nicht die Anknüpfung an den Bilanzgewinn, sondern an andere Ergebnisgrößen üblich, wie z. B. das EBITDA“22, so scheint die Entwurfsbegründung anzunehmen, hierin
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13 Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 64. 14 Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 64; ders. in FS Budde, 1995, S. 599 (605). 15 Scheller, Die Berechnung der Tantieme für Vorstand und Aufsichtsrat, 1908, S. 22;
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zustimmend Brodmann, Aktienrecht, 1928, § 237 HGB Anm. 2a; ähnlich Staub/ Pinner, HGB, 12. u. 13. Aufl. 1926, § 237 Anm. 5. Brodmann (Fn. 15), § 237 HGB Anm. 2a. Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 6; Hefermehl in Geßler/Hefermehl/Eckardt/ Kropff, AktG, Bd. 2, 1973, § 86 Rz. 14; Meyer-Landrut in Großkomm.AktG, Bd. I/2, 3. Aufl. 1973, § 86 Anm. 1; Baumbach/Hueck, AktG, 13. Aufl. 1968, § 86 Rz. 5. BGH, ZIP 2003, 722 (723 f.); ablehnend Rottnauer, NZG 2001, 1009 (1012); vgl. auch Bommert in Seibert/Kiem, Handbuch der kleinen AG, 4. Aufl. 2000, Rz. 408. Vgl. unten Fn. 23–27. Amtliche Begründung zu §§ 77, 78 AktG 1937, abgedr. bei Klausing, AktienGesetz, 1937, S. 64 f.; Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 5; Hefermehl in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 86 Rz. 6. Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 9; Wiesner in MünchHdb. GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 21 Rz. 37. Begründung RegE TransPuG, abgedr. bei Seibert (Fn. 9), S. 20.
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liege keine Anknüpfung an den „Jahresgewinn“. Ganz sicher ist das aber nicht und eine Begründung für diese Annahme wird nicht gegeben. Was die Zuverlässigkeit der dividendenabhängigen Tantieme anbetrifft, besteht zwar Einigkeit über das Ergebnis, nicht aber über die Begründung. Die ganz überwiegende Auffassung in der Literatur ist insoweit der Ansicht, die Dividendentantieme basiere auf einer qualitativ anderen Bemessungsgröße als dem Jahresgewinn. §§ 86 Abs. 2 AktG a. F. bzw. § 113 Abs. 3 Satz 1 AktG seien aus diesem Grunde auf die Dividendentantieme nicht anwendbar23. Zum Teil nahmen aber auch diese Autoren zu § 86 Abs. 2 a. F. an, dass bei einer dividendenbezogenen Vorstandstantieme solche Dividendenbeträge nicht in die Bemessungsgrundlage eingehen durften, die aus aufgelösten Gewinnrücklagen oder einem Gewinnvortrag stammten, weil dies den Grundgedanken des § 86 Abs. 2 Satz 1 a. F. verletzt hätte24; demgegenüber wollen die gleichen Autoren bei einer dividendenbezogenen Aufsichtsratstantieme die Regelung in § 113 Abs. 3 Satz 1 AktG über die Tantiemefreiheit von 4 % des Nennkapitals nicht anwenden25. Andere Stimmen gehen davon aus, dass auch die dividendenbezogene Tantieme einen Anteil am Jahresgewinn betreffe26; auch der Bundesgerichtshof scheint dieser Auffassung zuzuneigen27. Auch nach dieser Auffassung ist eine dividendenbezogene Tantieme zulässig, aber nicht, weil sie nicht unter §§ 86 Abs. 2 AktG a. F., 113 Abs. 3 AktG fiele, sondern weil diese Vorschriften abbedungen werden könnten, soweit die AG durch die getroffene Regelung bessergestellt werde, was bei einer dividendenabhängigen Tantieme der Fall sei28. 3. Schutzzweck des Gesetzes Vor dem Hintergrund eines weiten Verständnisses des Begriffs Jahresgewinn der Gesellschaft, wie es sich insbesondere in der Rechtsprechung des Bun-
__________ 23 Zu § 86 Abs. 2 AktG a. F.: Hüffer, AktG, 5. Aufl., § 86 Rz. 2; Wiesner in
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MünchHdb. GesR (Fn. 21), § 21 Rz. 38; Rottnauer, NZG 2001, 1009 (1012); Bettin, DB 2000, 263 (264 f.); Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797 (800); Fonk, NZG 1999, 110 (111). Zu § 113 Abs. 3 AktG Hüffer, AktG, § 113 Rz. 9; Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 59; Mertens in KölnKomm.AktG, § 113 Rz. 37 HoffmannBecking in MünchHdb. GesR (Fn. 8), § 33 Rz. 20. Hüffer, AktG, 5. Aufl., § 86 Rz. 2; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 787 (800 f.); Semler in FS Budde, 1995, S. 599 (604). Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 60; Hoffmann-Becking in MünchHdb. GesR (Fn. 8), § 33 Rz. 20; Mertens in KölnKomm.AktG, § 113 Rz. 37; wohl auch Hüffer, AktG, § 113 Rz. 9. Zu § 86 Abs. 2 AktG a. F. Hefermehl in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 86 Rz. 14. Zu § 113 Abs. 3 AktG OLG Düsseldorf, NZG 1999, 595 f.; W. Müller, WP-Handbuch, Bd. I, 12. Aufl. 2000, Abschnitt S Rz. 55 (anders aber ders., Abschnitt S Rz. 32 zu § 86 Abs. 2 AktG a. F.). BGH, ZIP 2003, 722 (723); offen lassend in BGHZ 145, 1 (4). BGHZ 145, 1 (3 ff.); BGH, ZIP 2003, 722 (723); OLG Düsseldorf, NZG 1999, 595 f.; vgl auch unten Ziff. 3.
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desgerichtshofs, aber auch in der ganz überwiegenden Literatur zu § 86 Abs. 2 AktG a. F. gezeigt hat, wäre es konsequent anzunehmen, dass auch bei einer Anknüpfung an Ergebnisgrößen wie EBT, EBIT, EBITDA u. a. ein Anteil am „Jahresgewinn der Gesellschaft“ gewährt werde und die Tantiemezusage damit an § 113 Abs. 3 AktG zu messen sei. Die Frage ist allerdings, ob ein so weites Begriffsverständnis, wie es in Rechtsprechung und Literatur vorgezeichnet ist, überzeugen kann. Aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes lässt sich zu dieser Frage nicht viel gewinnen. Klar ist allerdings einerseits, dass der Begriff des Jahresgewinns weiter sein muss als der des Bilanzgewinns, denn sonst wäre die Vorschrift inhaltsleer. Jahresgewinn ist, wie sich aus § 86 Abs. 2 AktG a. F. ergab, zumindest auch der Jahresüberschuss. Begrifflich wäre es aber auch möglich, jeden anderen jährlich ermittelten Ertragssaldo als Jahresgewinn im Sinne des Gesetzes zu verstehen. Zu § 292 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AktG wird sogar diskutiert, ob Gewinn im Sinne jener Vorschrift auch bloße Einzelposten der Gewinn- und Verlustrechnung sein können29, wobei es begrifflich wohl näher liegen dürfte, als Gewinn nur einen Saldo verschiedener Ertragsposten anzusehen30. Andererseits kann auch nicht jede irgendwie gewinnbezogene Vergütung als Anteil am Jahresgewinn verstanden werden. Vielmehr zeigte § 86 Abs. 1 AktG a. F., wonach eine Gewinnbeteiligung des Vorstands „in der Regel“ in einem Anteil am Jahresgewinn bestehen sollte, dass auch Gewinnbeteiligungen außerhalb einer Beteiligung am Jahresgewinn möglich sind. Viel mehr lässt sich ohne Heranziehung der Entstehungsgeschichte und des Schutzzwecks des Gesetzes allerdings kaum feststellen. Die Vorschriften der § 86 AktG a. F., § 113 Abs. 3 AktG hatten ihre ersten Vorläufer in §§ 237, 245 Abs. 1 HGB 1897. § 237 HGB bestimmte, dass ein den Mitgliedern des Vorstands gewährter Anteil am Jahresgewinn von dem nach Vornahme sämtlicher Abschreibungen und Rücklagen bleibenden Reingewinn zu berechnen war. Nach § 245 Abs. 1 HGB war eine Aufsichtsratsvergütung, die in einem Anteil am Jahresgewinn bestand, vom Reingewinn zu berechnen, der nach Vornahme sämtlicher Abschreibungen und Rücklagen sowie nach Abzug eines Betrages von 4 % des eingezahlten Grundkapitals verblieb. Beide Regelungen waren in den Entwürfen des HGB 1897 zunächst nicht enthalten, sondern gingen auf die vom Reichstag zur Vorberatung des Gesetzentwurfs eingesetzte Kommission zurück. In dem Kommissionsbericht wird die Vorschrift des § 237 HGB relativ knapp mit der Erwägung begründet, wenn den Vorstandsmitgliedern ein Anteil am Jahresgewinn gewährt werde, solle dieser Anteil aus dem tatsächlichen Gewinn
__________ 29 Vgl. hierzu nur Hüffer, AktG, § 292 Rz. 8; Koppensteiner in KölnKomm.AktG,
3. Aufl. 2004, § 292 Rz. 16, 42 f. 30 So Koppensteiner in KölnKomm.AktG, § 292 Rz. 16.
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zu berechnen sein31. Der Antrag, die Aufsichtsratstantieme entsprechend dem späteren § 245 Abs. 1 HGB zu regeln, wurde in den Kommissionsverhandlungen wie folgt begründet: „Eine Tantiemevertheilung an den Aufsichtsrath sei nur dann berechtigt, wenn auch thatsächlich ein gewisser Gewinn erzielt sei. Nichts sei mehr geeignet eine Erbitterung der Aktionäre und eine Mißstimmung gegen das Institut der Aktiengesellschaft hervorzurufen, als wenn die Aktionäre sehen müssten, daß unbekümmert um die Thatsache, daß keine Dividende auf die Aktie vertheilt werde oder eine minimale Dividende, die Aufsichtsräthe ihre Tantiemen einstecken. Dem sei vorzubeugen. Erst nach den erfolgten Abschreibungen und nach einer normalen d. h. 4%igen Verzinsung des eingezahlten Aktienkapitals sei aus dem dann noch verbleibenden Reingewinn Tantieme für den Aufsichtsrath zu zahlen.“32
Das AktG 1937 behielt diese Berechnungsvorschriften für die Vorstandsund Aufsichtsratstantieme in §§ 77 Abs. 2, 98 Abs. 3 AktG bei. Die wesentliche sachliche Änderung in beiden Vorschriften bestand darin, dass jeweils auch der Teil des Gewinns, der durch die Auflösung von Rücklagen entstanden war, von dem für die Berechnung der Tantiemen maßgeblichen Reingewinn abzusetzen war. Das AktG 1965 ging für die Vorstandstantieme dazu über, als Berechnungsbasis anstelle des Reingewinns den Jahresüberschuss festzulegen, der um Verlustvorträge und die Beträge, die nach Gesetz oder Satzung in offene Rücklagen einzustellen waren, zu vermindern war (§ 86 Abs. 2 AktG a. F.). In die Vorstandstantiemen flossen auf diese Weise auch die übrigen in offene Rücklagen eingestellten Beträge ein, während der Vorstand keine Gewinnbeteiligung auf die durch die Auflösung von offenen Rücklagen entstehenden Beträge enthielt, da diese im Jahresüberschuss nicht enthalten waren. Für die Aufsichtsratstantieme legte § 113 Abs. 3 AktG stattdessen den Bilanzgewinn, vermindert um 4 % der auf den Nennbetrag der Aktien geleisteten Einlagen, fest. Die unterschiedliche Berechnungsbasis – Jahresüberschuss beim Vorstand, Bilanzgewinn beim Aufsichtsrat – erläuterte die Gesetzesbegründung damit, dass bislang die Gewinnbeteiligung des Aufsichtsrats ähnlich gestaltet gewesen sei wie die des Vorstands, es der Stellung des Aufsichtsrats jedoch besser entspreche, seine Gewinnbeteiligung nicht nach der des Vorstands, sondern nach der Beteiligung der Aktionäre am Gewinn auszurichten. Deshalb gehe der Entwurf für die Berechnung der Aufsichtsratstantieme nicht vom Jahresüberschuss, sondern vom Bilanzgewinn aus, der auch die Grundlage des Gewinnanspruchs des Aktionärs bilde. Die Gesetzesbegründung diskutierte sogar noch die Frage, ob man nicht eigentlich auf die tatsächlich ausgeschüttete Dividende abstellen müsse, und verwarf dies
__________ 31 Kommissionsbericht über den Entwurf eines H.G.B., abgedr. bei Schubert/
Schmiedel/Krampe (Hrsg.), Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Bd. II, Halbband 2, 1988, S. 1254 (1317). 32 Kommissionsbericht über den Entwurf eines H.G.B., abgedr. bei Schubert/ Schmiedel/Krampe (Fn. 31), S. 1254 (1320).
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nur wegen praktischer Berechnungsschwierigkeiten. Überdies solle es dabei bleiben, dass der Aufsichtsrat eine Gewinnbeteiligung erst erhalte, wenn der Bilanzgewinn den Betrag übersteige, der für eine Mindestverzinsung der von den Aktionären geleisteten Einlagen erforderlich sei; deshalb bestimme der Entwurf, dass vom Bilanzgewinn, wie bisher, ein Betrag von mindestens 4 % der von den Aktionären geleisteten Einlagen abzuziehen sei33. Als hauptsächlicher Zweck des § 113 Abs. 3 AktG und seiner Vorgängernormen lässt sich also der Wille ausmachen, den Tantiemeanspruch des Aufsichtsrats mit dem Gewinnanspruch der Aktionäre zu harmonisieren. Einerseits soll eine Tantiemeausschüttung an den Aufsichtsrat nur möglich sein, wenn und soweit der für die Dividendenausschüttung verfügbare Bilanzgewinn eine 4 %ige Mindestverzinsung auf die geleisteten Einlagen (vgl. auch § 254 Abs. 1 AktG) übersteigt. Auf diese Weise wurde bereits im HGB den Bedenken der Reichstagskommission Rechnung getragen und sichergestellt, dass die Aufsichtsräte nicht „unbekümmert um die Thatsache, dass keine Dividende auf die Aktie vertheilt werde oder eine minimale Dividende, … ihre Tantiemen einstecken“. Andererseits beschränkt sich der Gesetzeszweck aber nicht auf die Festsetzung eines derart zu ermittelnden Höchstbetrages für die Aufsichtsratstantieme. Ginge es nur um einen Höchstbetrag, könnte sich das Gesetz auch auf die Formulierung beschränken, an den Aufsichtsrat dürfe als Tantieme nicht mehr als der Bilanzgewinn abzüglich einer Verzinsung von 4 % der Einlagen verteilt werden. Das Gesetz formuliert aber seit jeher anders und schreibt nicht nur einen Höchstbetrag, sondern zugleich die Berechnungsbasis für die Aufsichtsratstantieme vor. Und die Entwurfsbegründung zu § 113 Abs. 3 AktG hebt in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervor, es gehe auch darum, die Gewinnbeteiligung des Aufsichtsrats nach der Beteiligung der Aktionäre am Gewinn auszurichten und deshalb, anders als seinerzeit bei der Gewinnbeteiligung des Vorstands, nicht vom Jahresüberschuss, sondern vom Bilanzgewinn auszugehen, der auch die Grundlage für den Gewinnanspruch des Aktionärs bilde. Es soll also nicht nur die Höhe beschränkt, sondern auch der Bilanzgewinn als einzig zulässige Berechnungsbasis festgelegt sein. Der geschilderte Gesetzeszweck greift allerdings nur ein, wenn die Aufsichtsratsvergütung und der Gewinnanspruch des Aktionärs in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Das wiederum ist nur so lange der Fall, wie sie an vergleichbare Parameter anknüpfen. So wenig die Grenzen des § 113 Abs. 3 AktG auf eine Festvergütung des Aufsichtsrats angewendet werden können, so wenig wären sie sinnvoll, wenn eine variable Vergütung von Elementen abhängt, die so weit vom Gewinnanspruch des Aktionärs entfernt sind, dass ein Konkurrenzverhältnis nicht besteht. Das meint das Gesetz, wenn es die Regel des § 113 Abs. 3 AktG auf solche Tantiemezusa-
__________ 33 Begründung RegE AktG, abgedr. bei Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 157.
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gen beschränkt, die an den „Jahresgewinn der Gesellschaft“ anknüpfen. Der tragende Grund dafür, die Aufsichtsratstantieme den Schranken des § 113 Abs. 3 AktG zu unterwerfen, ist die Nähe zum Gewinnanspruch des Aktionärs und er entfällt, wo diese Nähe nicht mehr besteht. 4. Anknüpfung an Ergebniskennzahlen der Gesellschaft Vor dem Hintergrund eines so verstandenen Gesetzeszwecks ist es zutreffend, dass § 113 Abs. 3 AktG solche erfolgsabhängigen Vergütungen nicht erfasst, die nicht an das Gesamtergebnis der Gesellschaft anknüpfen, sondern an das Ergebnis einzelner Geschäfte oder Geschäftsbereiche34. Denn solche Anknüpfungen wären so weit vom Gewinnanspruch des Aktionärs, der ausschließlich vom Ergebnis des Gesamtunternehmens abhängt, entfernt, dass ein Konkurrenzverhältnis nicht bestünde. Aus dem gleichen Grunde wird der herrschenden Auffassung zu folgen sein, dass umsatzabhängige Aufsichtsratstantiemen nicht unter § 113 Abs. 3 AktG fallen35. Zwar ist der Umsatz mitbestimmend für das Ergebnis. Auch würde die weit gespannte Formel des Bundesgerichtshofs, die zu § 86 Abs. 2 AktG a. F. eine Anknüpfung an den Cash Flow für unzulässig ansah, weil dieser durch Eliminierung von Abzugsposten aus dem Jahresüberschuss errechnet werden kann36, es theoretisch ermöglichen, auch den Umsatz unter den Begriff des Jahresgewinns zu subsumieren. Aber so weit wollte wohl selbst der Bundesgerichtshof nicht gehen37 und ein so weit gehendes Verständnis wäre auch nicht überzeugend. Denn es würde nicht nur die Grenze der möglichen Wortbedeutung sprengen, sondern auch den Gesetzeszweck. Der Umsatz ist vom Gewinn so weit entfernt, dass eine umsatzabhängige Aufsichtsratstantieme nicht in Konkurrenz zum Dividendenanspruch des Aktionärs stünde und deshalb von § 113 Abs. 3 AktG nicht erfasst würde. Für die Praxis spielen Aufsichtsratstantiemen, die an das Ergebnis einzelner Geschäfte oder Geschäftsbereiche oder den Umsatz anknüpfen, allerdings keine Rolle, und sie wären in aller Regel auch nicht sachgerecht, auch wenn § 113 Abs. 3 AktG ihnen nicht entgegensteht. Umgekehrt zeigt der Gesetzeszweck, dass auch die dividendenabhängige Tantieme wegen ihrer Nähe zum Gewinnanspruch des Aktionärs im Grundsatz unter § 113 Abs. 3 AktG fallen muss. Sie kann nach dem Günstigkeitsprinzip zulässig sein, aber sie fällt nicht schon deshalb aus dem Anwendungsbereich des § 113 Abs. 3 AktG hinaus, weil sie nicht den Jahresgewinn
__________ 34 Amtliche Begründung zu §§ 77, 78 AktG 1937, abgedr. bei Klausing (Fn. 20), S. 64 f. 35 Amtliche Begründung zu §§ 77, 78 AktG 1937, abgedr. bei Klausing (Fn. 20), S. 65;
Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 64; Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 5; Hefermehl in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 86 Rz. 6. 36 BGH, ZIP 2003, 722 (723). 37 Vgl. BGH, ZIP 2003, 722 (724).
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Gewinnabhängige Aufsichtsratsvergütungen
beträfe38. Ebenso wenig kann den Beschränkungen des § 113 Abs. 3 AktG dadurch ausgewichen werden, dass die Tantiemeklausel in ihrem Wortlaut nicht an den Jahresgewinn, sondern an andere Ergebniskennzahlen der Gesellschaft anknüpft. Der Gesetzeszweck ist berührt, wenn eine ergebnisabhängige Vergütung gewährt werden soll, die an Parameter anknüpft, die einen wesentlichen Teil des Gesamterfolgs des Geschäftsjahres widerspiegeln. In diesen Fällen tritt die Aufsichtsratstantieme in Konkurrenz zum Gewinnanspruch des Aktionärs und schreibt § 113 Abs. 3 AktG zwingend vor, dass die Tantieme an dieselbe Berechnungsgrundlage zu binden ist wie die Dividende. Eine ergebnisabhängige Aufsichtsratsvergütung, die nach dem Jahresüberschuss, dem Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit, dem Cash Flow, EBT, EBIT, EBITDA und ähnlichen Kennzahlen der Gesellschaft, die deren Gesamtergebnis des Geschäftsjahres widerspiegeln, berechnet werden soll, ist daher unzulässig. 5. Anknüpfung an Ergebniskennzahlen des Konzerns Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob § 113 Abs. 3 AktG auch die Fälle erfasst, in denen die Aufsichtsratstantieme nicht vom Ergebnis der Gesellschaft, sondern vom Ergebnis des Konzerns abhängig gemacht wird. Gerade solche Regelungen sind in der Praxis verbreitet39, und soweit die Literatur sie anspricht, werden sie als zulässig erachtet40. Mit § 113 Abs. 3 AktG scheinen sie auf den ersten Blick schon deshalb nicht zu kollidieren, weil der Wortlaut der Vorschrift sich auf Fälle beschränkt, in denen den Aufsichtsratsmitgliedern ein Anteil am Jahresgewinn „der Gesellschaft“ gewährt wird, während hier an den Jahresgewinn des Konzerns angeknüpft wird. Auch für die Tantiemeberechnung nach dem Konzernergebnis spielt der Jahresgewinn der Gesellschaft allerdings mittelbar eine Rolle, da dieser mit konsolidierungsbedingten Anpassungen in das Konzernergebnis einfließt. Bei extensiver Wortauslegung könnte man deshalb vielleicht auch die Anknüpfung an das Konzernergebnis noch unter den Begriff des Jahresgewinns der Gesellschaft subsumieren, weil eine vom Konzernergebnis abhängige Tantieme mittelbar auch vom Jahresgewinn der Gesellschaft mitbestimmt werde. Letztlich ausschlaggebend ist nach dem Schutzzweck des Gesetzes aber auch hier die Frage, ob eine am Konzernergebnis orientierte variable Aufsichtsratsvergütung mit dem Gewinnanspruch des Aktionärs in Konkurrenz tritt und diesem so nahe steht, dass es aus Sicht der Aktionäre nicht akzeptabel
__________ 38 Vgl. zu dieser Fragestellung oben bei Fn. 23–28. 39 Vgl. zum Beispiel § 17 Abs. 1 lit. b der Satzung der Siemens AG: 150 Euro je 0,01
Euro des im Konzernabschluss ausgewiesenen Ergebnisses je Aktie, das einen Mindestbetrag von 1 Euro übersteigt. 40 Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 64; Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 9; Wiesner in MünchHdb. GesR (Fn. 21), § 21 Rz. 37.
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wäre, wenn auf der Basis eines positiven Konzernergebnisses an die Aufsichtsratsmitglieder eine Tantieme gezahlt würde, die auf der Basis des Ergebnisses der Gesellschaft so nicht gezahlt werden könnte. Die Frage ist nicht ganz leicht zu entscheiden, wird im Ergebnis aber zu verneinen sein, da das Ergebnis der Gesellschaft und des Konzerns qualitativ etwas anderes sind. Das eine spiegelt einen ganz anderen Erfolg wider als das andere. Das Konzernergebnis kann höher oder niedriger sein als das Ergebnis der Gesellschaft, es kann negativ sein, während das Ergebnis der Gesellschaft positiv ist und umgekehrt. Eine am Konzernergebnis bemessene Tantieme hat damit einen Anknüpfungspunkt, der mit der Basis für den Gewinnanspruch der Aktionäre nur entfernt zu tun hat. Denn eine Dividendenausschüttung ist nicht auf der Basis des Konzerngewinns möglich, sondern allein auf der Basis des Bilanzgewinns der Gesellschaft. Zu berücksichtigen ist überdies, dass man es auf dem Hintergrund des heute erreichten Standes der Corporate Governance-Diskussion schwerlich als sachgerechtes Ergebnis ansehen könnte, wenn das Gesetz es verböte, die Aufsichtsratstantieme vom Konzernergebnis abhängig zu machen. Denn da sich der Überwachungsauftrag des Aufsichtsrats auch auf die Konzerngeschäftsführung des Vorstands der Gesellschaft erstreckt41, kann es gerade zweckmäßig sein, die erfolgsorientierte Aufsichtsratsvergütung nicht an das Ergebnis der Gesellschaft zu binden, das nur einen Ausschnitt der Aufsichtsratstätigkeit widerspiegelt, sondern es vom Gesamtergebnis des Konzerns abhängig zu machen. Dieser Gedanke, dass die Tantieme sinnvollerweise an das Ergebnis des Gesamtunternehmens anknüpft, für welches das Organ die Verantwortung trägt, war dem Gesetzgeber früher Anlass für die Regelung, dass eine Vorstandstantieme in einem Anteil am Jahresgewinn bestehen sollte (§§ 77 Abs. 1 AktG 1937, 86 Abs. 1 AktG 1965). Damit sollte klargestellt werden, dass Gewinnanteile, die sich nach dem Ergebnis einzelner Geschäftszweige oder nach der Höhe des Umsatzes richteten, nur in Ausnahmefällen gewährt werden sollten, eben weil der Vorstand für das Gesamtunternehmen verantwortlich ist42. In der heutigen Unternehmenswirklichkeit, in der der Konzernerfolg im Vordergrund steht, wäre es ungereimt, wollte man eine variable Aufsichtsratsvergütung, die sich am Konzernerfolg ausrichtet, als unzulässig ansehen. Bei der Bestimmung der Grenzen des § 113 Abs. 3 AktG ist schließlich auch zu bedenken, dass es sich um eine Vorschrift handelt, die jedenfalls nach Abschaffung von § 86 AktG a. F. rechtspolitisch endgültig überholt erscheint43. Das ändert nichts daran, dass die Vorschrift, solange sie nicht ab-
__________ 41 Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, Rz. 131 ff.;
Semler in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl. 2004, § 1 Rz. 300 ff.; Hüffer, AktG, § 111 Rz. 10. 42 Amtliche Begründung zu §§ 77, 78 AktG 1937, abgedr. bei Klausing (Fn. 20), S. 64 f. 43 Vgl. unten Ziff. 4.
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Gewinnabhängige Aufsichtsratsvergütungen
geschafft ist, beachtet werden muss, spricht aber dafür, sie nicht durch extensive Auslegung über ihren nach Gesetzeswortlaut und -zweck klaren Anwendungsbereich hinaus weiter auszudehnen. 6. Langfristig erfolgsorientierte Tantiemen Von besonderer praktischer Bedeutung sind schließlich Tantiemeregelungen, die nicht an das Ergebnis eines Geschäftsjahres anknüpfen, sondern die Vergütung in Abhängigkeit von einer längerfristigen Entwicklung des Unternehmenserfolgs festsetzen. Diese Regelungen gehen zurück auf die Anregung in Ziff. 5.4.5 Abs. 2 Satz 2 des Deutschen Corporate Governance Kodex, wonach die erfolgsorientierte Aufsichtsratsvergütung auch auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogene Bestandteile enthalten sollte. Entsprechend finden sich in der Praxis z. B. Bestimmungen, nach denen die Mitglieder des Aufsichtsrats neben einer jährlichen Festvergütung und einer jährlich am kurzfristigen Erfolg des Unternehmens orientierten Vergütung eine langfristige Vergütung erhalten. Solche Bestimmungen lauten etwa: „Jedes Aufsichtsratsmitglied erhält eine auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogene jährliche Vergütung in Höhe von 4000 Euro für jede 200 Mio. Euro Ergebnis vor Steuern und Anteilen anderer Gesellschaften im Konzernabschluss der Gesellschaft (EBT), das im Durchschnitt der letzten vier Geschäftsjahre ein EBT von 1000 Mio. Euro übersteigt.“44 „Die Mitglieder des Aufsichtsrats erhalten … eine erfolgsorientierte jährliche Vergütung mit langfristiger Anreizwirkung in Höhe von 300 Euro für jeweils 3 %, um die der Konzerngewinn pro Aktie des zweiten dem jeweiligen Geschäftsjahr (erstmals 2004) nachfolgenden Geschäftsjahres (Referenzjahr) den Konzerngewinn pro Aktie des dem jeweiligen Geschäftsjahr vorangegangenen Geschäftsjahres übersteigt …“45 „Die Mitglieder des Aufsichtsrats erhalten … eine langfristige, nach Ablauf der jeweiligen fünfjährigen Wahlperiode des Aufsichtsrats zahlbare Vergütung in Höhe von Euro 50000. Die langfristige Vergütung kommt nur zur Auszahlung, wenn das Ergebnis je Aktie am Ende dieser Wahlperiode im Vergleich zu deren Beginn um mehr als 50 % gestiegen ist. Das der Ermittlung der Aufsichtsratsvergütung zugrundeliegende Ergebnis je Aktie ist um wesentliche außerordentliche Ergebnisposten zu bereinigen.“46
Folgt man der oben vertretenen Auffassung, dass Anknüpfungen an das Konzernergebnis von § 113 Abs. 3 AktG nicht erfasst werden, fallen auch solche Klauseln jedenfalls dann nicht unter § 113 Abs. 3 AktG, wenn sie, wie es in der Praxis vielfach geschieht, die Entwicklung des Konzernergebnisses als Berechnungsbasis verwenden. Unklar ist die Situation jedoch, wenn die Entwicklung des Ergebnisses der Gesellschaft zugrunde gelegt wird. Die
__________ 44 Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance
Kodex, 2. Aufl. 2005, Rz. 1080. 45 § 17 Abs. 1 der Satzung der Deutsche Post AG. 46 § 17 Abs. 1 der Satzung der Siemens AG.
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Zweifel resultieren namentlich daraus, dass § 113 Abs. 3 AktG sich auf den Bilanzgewinn eines konkreten Geschäftsjahres bezieht und damit die Frage aufwirft, ob die Vorschrift Tantiemeregelungen, die den Gewinn mehrerer Jahre zugrunde legen, entweder von vornherein ausschließt oder in irgendeiner Weise davon abhängig macht, dass die inhaltlichen Grenzen des § 113 Abs. 3 AktG gewahrt bleiben. Auch für diese Frage kommt es letztlich darauf an, ob der Unterschied zwischen Tantiemeregelungen, die sich auf den Jahresgewinn eines Geschäftsjahres oder die Gewinnentwicklung mehrerer Geschäftsjahre beziehen, gemessen am Schutzzweck des Gesetzes, so groß ist, dass die Grenzen, die § 113 Abs. 3 AktG für die am Jahresgewinn orientierte Tantieme setzt, für die langfristig orientierte Tantiemen nicht passen. Wird also eine Tantiemeregelung, die, bezieht man sie auf den Gewinn eines Geschäftsjahres, unzulässig ist, zulässig, wenn man den Gewinn zweier oder mehrerer Geschäftsjahre heranzieht? Man kann dies bezweifeln und zum Beispiel einwenden, aus der Sicht der Aktionäre werde die Situation keineswegs besser, wenn sie beispielsweise drei Jahre hintereinander mangels Bilanzgewinns keine Dividende beziehen konnten, der Aufsichtsrat jedoch eine Tantieme erhält, weil das EBT der Gesellschaft sich im Durchschnitt dieser drei Jahre positiv entwickelt und den festgesetzten Schwellenwert überschritten habe. Im Ergebnis würden solche Einwände aber nicht überzeugen. Wenn man akzeptiert, dass § 113 Abs. 3 AktG nicht jedwede erfolgsorientierte Vergütung erfasst, sondern nur dann eingreift, wenn eine Bezugsgröße gewählt wird, die mit dem Gewinnanspruch der Aktionäre in Konkurrenz tritt, dann beschränkt sich die Anwendbarkeit der Vorschrift auf solche Bemessungsgrundlagen, die in ihrem Kern an das Ergebnis des Geschäftsjahres anknüpfen. Bei einer an der mehrjährigen Ergebnisentwicklung orientierten Tantieme besteht ein solches Konkurrenzverhältnis nicht, denn der Gewinn, an den hier angeknüpft wird, ist nur eine Rechengröße, die nicht als Grundlage für die Dividendenausschüttung an die Aktionäre dienen kann und mit dieser nicht in Konkurrenz tritt. Zu bedenken ist überdies, dass eine Ausdehnung von § 113 Abs. 3 AktG auf die hier in Rede stehenden Fälle den Gesellschaften, nachdem auch eine Anknüpfung an die Kursentwicklung wohl nicht mehr möglich ist47, die Möglichkeit nehmen würde, den Mitgliedern des Aufsichtsrats eine am langfristigen Unternehmenserfolg orientierte Vergütung zu gewähren. Langfristig erfolgsorientierte Vergütungselemente aber sind ein Element guter Corporate Governance und werden daher von Ziff. 5.4.5 Abs. 2 des Deutschen Corporate Governance Kodex ausdrücklich angeregt. Eine Gesetzesauslegung von § 113 Abs. 3 AktG, die es unmöglich machen würde, dieser Anregung zu folgen, könnte nur überzeugen, wenn sie sich auf einen klaren Gesetzeswortlaut oder zwingende Schutzzwecküberlegungen stützen könnte. Tatsächlich jedoch ist das Gegenteil der Fall. Hinzu kommt wiederum, dass § 113 Abs. 3 AktG eine
__________ 47 Vgl. oben bei Fn. 4–6.
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Gewinnabhängige Aufsichtsratsvergütungen
rechtspolitisch überholte Vorschrift darstellt48, die auch aus diesem Grunde eng ausgelegt und nicht über ihren eindeutigen Schutzbereich hinaus erstreckt werden sollte.
III. Rechtsfolgen bei Verletzung von § 113 Abs. 3 AktG Regelungen über die erfolgsabhängige Aufsichtsratsvergütung, die mit § 113 Abs. 3 Satz 1 AktG nicht in Einklang stehen, sind nichtig (§ 113 Abs. 3 Satz 2 AktG). Ebenso sah § 86 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F. die Nichtigkeit von Tantiemeregelungen für Vorstandsmitglieder vor, die die Grundsätze von § 86 Abs. 2 Satz 1 AktG a. F. verletzten. Nichtigkeit soll nach § 113 Abs. 3 Satz 2 AktG allerdings nur eintreten, wenn die unzulässige Regelung zu einer Besserstellung des Aufsichtsratsmitglieds führt49. Auch in diesem Fall soll darüber hinaus nicht die gesamte Tantiemeregelung nichtig sein, sondern nur die „überschießende“ Festlegung, so dass die Aufsichtsratsmitglieder den nach dem gesetzlichen Berechnungsmodus sich ergebenden Betrag beanspruchen könnten50. Im gleichen Sinne hatten Rechtsprechung und Literatur auch zu § 86 AktG a. F. angenommen, dass die Vorschrift für den Vorstand ungünstigere Berechnungsarten zulasse51 und bei einer gegen § 86 Abs. 2 Satz 1 AktG verstoßenden Tantiemeformel nur der „überschießende“ Teil nichtig sei, während im Übrigen die gesetzliche Regelung gelte52. Mit diesem Argument hat der Bundesgerichtshof namentlich dividendenabhängige Vorstandstantiemen für zulässig erachtet, weil diese zwar entgegen § 86 Abs. 2 AktG a. F. nicht an den Jahresüberschuss anknüpften, die Anknüpfung an die Dividendenausschüttung für die Gesellschaft jedoch günstiger gewesen sei53. Dem ist im Ansatz ohne weiteres zuzustimmen. Denn § 113 Abs. 3 AktG soll die Gesellschaft und ihre Aktionäre schützen. Dieser Schutzzweck ist nicht tangiert, wenn Regelungen getroffen werden, die die Gesellschaft bes-
__________ 48 Vgl. unten Ziff. 4. 49 Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 57; Meyer-Landrut in Großkomm.AktG,
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§ 113 Anm.10. So auch schon zu den Vorgängernormen in § 98 Abs. 3 AktG 1937 und § 245 Abs. 1 HGB 1897 z. B. Ritter, AktG, 2. Aufl. 1939, § 98 Anm. 4; Staub/ Pinner, HGB, § 245 Anm. 6. Hüffer, AktG, § 113 Rz. 9; Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 58. BGH, ZIP 2003, 722 (723); BGHZ 145, 1 (3); Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 7; Hefermehl in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 86 Rz. 33; MeyerLandrut in Großkomm.AktG, § 86 Anm. 6; Baumbach/Hueck, AktG, § 86 Rz. 7. BGH, ZIP 2003, 722 (723); Hüffer, AktG, 5. Aufl. 2002, § 86 Rz. 7; Hefermehl in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 86 Rz. 33; Meyer-Landrut in Großkomm.AktG, § 86 Anm. 6; Baumbach/Hueck, AktG, § 86 Rz. 7; im Ergebnis auch Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 6; Godin/Wilhelmi, AktG, 4. Aufl. 1971, § 86 Anm. 4, die § 86 Abs. 2 AktG a. F. als zwingende gesetzliche Auslegungsregel ansahen. BGH, ZIP 2003, 722 (723); BGHZ 145, 1 (4).
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ser stellen. Unproblematisch wäre es deshalb z. B., die Aufsichtsratstantieme nach dem Bilanzgewinn der Gesellschaft abzüglich eines höheren Satzes als 4 % der gezahlten Einlagen zu berechnen. Unproblematisch ist auch die dividendenabhängige Aufsichtsratstantieme54, allerdings nur mit der Maßgabe, dass die Bemessungsgrundlage entsprechend zu kürzen ist, falls die Dividendenausschüttung über den Bilanzgewinn abzüglich 4 % der gezahlten Einlagen hinausgeht55. Auch wenn eine mit § 113 Abs. 3 AktG nicht in Einklang stehende Regelung nicht bereits nach dem Günstigkeitsprinzip aufrechterhalten werden kann, heißt das aber nicht, dass ohne weiteres die gesamte Regelung nichtig wäre. Die Literatur leitet vielmehr aus dem Schutzzweck des Gesetzes ab, dass bei Verstößen nicht die gesamte Tantiemeregelung, sondern nur die „überschießende“ Festsetzung nichtig sei, während im Übrigen die gesetzliche Regelung gelte56. Die Frage ist nur, was das bedeutet. Bestünde der Schutzzweck des § 113 Abs. 3 AktG allein darin, einen Höchstbetrag für die Aufsichtsratstantieme zu definieren, könnte man annehmen, dass die Nichtigkeitsfolge nur einen diesen Höchstbetrag etwa übersteigenden Teil der festgelegten Aufsichtsratstantieme beträfe. Der für die Aufsichtsratstantieme nach § 113 Abs. 3 Satz 1 AktG zur Verfügung stehende Höchstbetrag beläuft sich auf den gesamten Bilanzgewinn abzüglich 4 % der auf den geringsten Ausgabebetrag der Aktien geleisteten Einlagen. Die heute verbreiteten Anknüpfungen an andere Erfolgskennzahlen als den Bilanzgewinn verfolgen nicht das Ziel, den Höchstbetrag des § 113 Abs. 3 AktG auszuhebeln; und wäre die Rechtsfolge nur, dass auch bei Verwendung anderweitiger Berechnungsparameter der Höchstbetrag nicht überschritten werden dürfte, läge darin für die Praxis in der Regel kein Problem. Zum praktischen Problem wird § 113 Abs. 3 AktG erst dadurch, dass sich der Zweck der Vorschrift gerade nicht in der Definition eines Höchstbetrages für die Aufsichtsratstantieme erschöpft, sondern es ihr auch darum geht, die an das Ergebnis der Gesellschaft geknüpfte Aufsichtsratstantieme an dieselbe Berechnungsgrundlage zu binden wie die Gewinnausschüttung für die Aktionäre. Mit diesem Gesetzeszweck stünde es nicht im Einklang, als „überschießende“ Festsetzung nur einen solchen Teil der Aufsichtsratstantieme anzusehen, der etwa den Höchstbetrag des § 113 Abs. 3 AktG überschreitet. Um dem Gesetzeszweck gerecht zu werden, muss vielmehr der Tantiemeanspruch auf den Betrag reduziert werden, der sich ergeben würde, wenn die zulässige Berechnungsgrundlage benutzt worden wäre. Es
__________ 54 Vgl. oben Fn. 23–28. 55 A. A. Semler in MünchKomm.AktG, § 113 Rz. 60; Hoffmann-Becking in MünchHdb.
GesR (Fn. 8), § 33 Rz. 20; Mertens in KölnKomm.AktG, § 113 Rz. 37; wohl auch Hüffer, AktG, § 113 Rz. 9, die die dividendenabhängige Tantieme von vornherein nicht unter § 113 Abs. 3 AktG fassen. 56 Vgl. oben Fn. 52.
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Gewinnabhängige Aufsichtsratsvergütungen
tritt also lediglich an Stelle der unzulässigen die zulässige Bemessungsgrundlage, und alles andere bleibt unberührt57. Dieses Ergebnis ergibt sich ohne weiteres, wenn man § 113 Abs. 3 Satz 1 AktG als eine zwingende gesetzliche Auslegungsregel ansieht58. Aber auch wenn man entsprechend der Regel des § 113 Abs. 3 Satz 2 AktG von der Nichtigkeit entgegenstehender Festsetzungen ausgeht, muss das nicht zur Gesamtnichtigkeit führen, sondern es ist auch in anderen Zusammenhängen anerkannt, namentlich für Verstöße gegen gesetzliche Preisvorschriften, dass diese nach dem Zweck des Gesetzes in der Regel nicht zur Gesamtnichtigkeit führen, sondern der Vertrag mit dem zulässigen Preis aufrechterhalten bleibt59. Im Ergebnis hat dies zur Folge, dass kraft Gesetzes das bereits angesprochene Günstigkeitsprinzip zum Zuge kommt. Die Aufsichtsratsmitglieder erhalten den ihnen tatsächlich zugesagten Betrag, höchstens aber den Betrag, der sich ergeben würde, wenn anstelle der tatsächlich festgelegten Bemessungsgrundlage die Bemessungsgrundlage des § 113 Abs. 3 Satz 1 AktG festgelegt worden wäre. In der Praxis finden sich gelegentlich Tantiemeregelungen, die auf einer an sich unzulässigen Bemessungsgrundlage basieren, aber mit dem ausdrücklichen Zusatz verbunden sind, § 113 Abs. 3 AktG bleibe unberührt. Der Sache nach wird damit nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als was ohnehin gilt.
IV. Rechtspolitischer Änderungsbedarf Folgt man den vorstehenden Überlegungen, steht § 113 Abs. 3 AktG erfolgsorientierten Aufsichtsratstantiemen, die an Kennzahlen des Jahresergebnisses der Gesellschaft wie EBITDA, EBIT, Cash Flow usw. anknüpfen, entgegen. Die Rechtsfolge ist zwar nicht, dass die Tantiemeregelung insgesamt nichtig wäre, aber sie ist nur insoweit wirksam, als die so errechnete Tantieme nicht höher ist als der Betrag, der sich ergäbe, wenn dieselbe Tantiemeformel unter Zugrundelegung der Bemessungsgrundlage des § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG angewandt würde. Das Gesetz fesselt die Aufsichtsratstantieme insoweit an den Bilanzgewinn und macht die uneingeschränkte Anknüpfung an andere, möglicherweise geeignetere Erfolgsparameter unmöglich. Bei Abschaffung des § 86 Abs. 2 AktG a. F. hat die Gesetzesbegründung in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Vorschrift insoweit besonders fragwürdig gewesen sei, als sie es nicht zugelassen habe, die Tantieme am Ergebnis vor Steuern zu orientieren, so dass sich Änderungen in der Steuergesetzgebung
__________
57 So deutlich BGH, ZIP 2003, 722 (733): die Tantiemevereinbarung sei nach § 86
Abs. 2 Satz 2 AktG a. F. insoweit nichtig, als sie von Satz 1 der Vorschrift abweiche. 58 So zu § 86 Abs. 2 AktG a. F. Godin/Wilhelmi, AktG, § 86 Anm. 4; Mertens in KölnKomm.AktG, § 86 Rz. 6. 59 Vgl. nur Heinrichs in Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, § 134 Rz. 27 u. § 139 Rz. 18 mit vielen Nachweisen aus der Rechtsprechung.
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jeweils auf die Höhe der Tantieme ausgewirkt hätten. Dies habe nicht zum Charakter der Gewinnbeteiligung als eines leistungsbezogenen Vergütungsbestandteils gepasst60. Für die erfolgsorientierte Aufsichtsratsvergütung gilt das nicht minder. Die Verknüpfung der Aufsichtsratsvergütung mit dem Gewinnanspruch der Aktionäre ist angesichts ständig steigender Anforderungen an die Qualifikation, den Einsatz und die Verantwortung des Aufsichtsrats nicht mehr zeitgemäß. Auch die variable Aufsichtsratsvergütung ist ein leistungsbezogener Vergütungsbestandteil, für dessen sachgerechte Ausgestaltung die Gesellschaften ausreichende Spielräume benötigen. Auf Regelungen, die an das Konzernergebnis anknüpfen, wird man § 113 Abs. 3 AktG zwar nicht anwenden müssen, ebenso wenig auf Regelungen, die nicht das Ergebnis eines einzelnen Geschäftsjahres, sondern das Ergebnis mehrerer Geschäftsjahre zugrunde legen. Ganz eindeutig ist die Rechtslage allerdings auch insoweit nicht und die Praxis ist sich der Problematik des § 113 Abs. 3 AktG bislang kaum bewusst. Die Situation ist bei § 113 Abs. 3 AktG die gleiche, wie sie früher auch zu § 86 AktG a. F. bestand. Der Gesetzgeber hat jene Vorschrift für die Berechnung der erfolgsorientierten Vorstandsvergütung aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, sie sei überholt, weil sie von einem nicht definierten, in der Fachliteratur weit ausgelegten Begriff des „Jahresgewinns“ ausgehe und hierdurch in der Vergangenheit häufig Unklarheiten entstanden seien. Für § 113 Abs. 3 AktG gilt das genauso. Die Vorschrift knüpft an denselben unscharfen Begriff des „Jahresgewinns“ an und erzeugt hierdurch gleichartige, für die Praxis kaum weniger belastende Unklarheiten wie die aufgehobene Vorschrift des § 86 Abs. 2 AktG a. F. Wenn man – anders als hier vertreten – die Vorschrift extensiv auslegt, kann man gar zu dem Ergebnis gelangen, dass sie es nicht einmal zulasse, das Konzernergebnis zugrunde zu legen, obwohl zum Überwachungsauftrag des Aufsichtsrats auch die Konzerngeschäftsführung des Vorstands gehört, und dass sie es auch unmöglich mache, an eine mehrjährige Ergebnisentwicklung anzuknüpfen, obwohl dies gerade den Erfordernissen guter und moderner Corporate Governance entspricht. Rechtspolitisch wäre ein solches Ergebnis gänzlich sachwidrig und allein die Tatsache, dass § 113 Abs. 3 AktG insoweit Rechtsunsicherheit aufwirft, zeigt, dass hier rechtspolitischer Änderungsbedarf besteht. Es war ein Fehler des Gesetzgebers, bei Abschaffung von § 86 AktG a. F. nicht auch § 113 AktG abzuschaffen, und es steht zu wünschen, dass dieser Fehler korrigiert wird. Die Sorge, die den Gesetzgeber des HGB von 1897 trieb, dass viele Aktiengesellschaften nur um der hohen Aufsichtsratstantiemen wegen gegründet würden und es deshalb nötig sei, den Gewinnanspruch der Aktionäre vor dem Zugriff der Aufsichtsräte zu schützen61,
__________ 60 Begründung RegE TransPuG, abgedr. bei Seibert (Fn. 9), S. 20. 61 Vgl. Kommissionsbericht über den Entwurf eines H.G.B., abgedr. bei Schubert/
Schmiedel/Krampe (Fn. 31), S. 1254 (1319, 1321).
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braucht sich der heutige Gesetzgeber gewiss nicht mehr zu machen. Der Gedanke des Aktionärsschutzes, der hinter § 113 Abs. 3 AktG steht, ist rechtspolitisch ohnehin nicht zwingend, sondern war schon bei Einführung des § 245 Abs. 1 HGB umstritten. Schon damals wurde dem Regelungsvorschlag entgegengehalten, dass gerade die Zeiten, in denen nichts verdient werde, die schwierigsten und mühevollsten für das Unternehmen und damit auch die Aufsichtsräte seien62. Bei Abschaffung des § 86 AktG a. F. führte auch die Begründung des Regierungsentwurfs aus, der Gedanke des Aktionärsschutzes, wonach Vorstände keine Tantieme erhalten sollten, solange kein Gewinn ausgeschüttet werden könne, rechtfertige die Aufrechterhaltung der Vorschrift nicht, wichtiger sei, dass die Aktionäre erführen, welche Anreize für die Vorstände bestünden63. Gleiches gilt für § 113 Abs. 3 AktG. Auch wenn man akzeptiert, dass nicht jedes erfolgsabhängige Vergütungselement, welches dem Vorstand gewährt werden kann, notwendig auch für den Aufsichtsrat zur Verfügung stehen muss, bedarf es ausreichender Instrumente für eine sachgerechte und moderne Ausgestaltung der erfolgsbezogenen Aufsichtsratsvergütung. Damit verträgt § 113 Abs. 3 AktG sich nicht. Nachdem § 86 AktG a. F. aufgehoben wurde, sollte § 113 Abs. 3 AktG möglichst bald folgen.
__________ 62 Kommissionsbericht über den Entwurf eines H.G.B., abgedr. bei Schubert/
Schmiedel/Krampe (Fn. 31), S. 1254 (1320 f.). 63 Begründung RegE TransPuG, abgedr. bei Seibert (Fn. 9), S. 20.
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Marcus Lutter
Die Rückabwicklung fehlerhafter Kapitalübernahmen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die nichtige Kapitalerhöhung und ihre Folgen III. Publizitätswirkung und Schutz der Willensfreiheit
V. Fragen zur Durchführung VI. Zur Höhe der Vergütung des betroffenen Aktionärs 1. Ausgangspunkt 2. Zur Höhe der Entschädigung
IV. Lösungsmöglichkeiten
I. Einleitung In einer frühen Arbeit habe ich mich mit der Bestandskraft von mangelhaften Kapitalübernahmen im Rahmen von Gründungen und Kapitalerhöhungen bei Kapitalgesellschaften beschäftigt1 und dabei, durchaus im Einklang mit Rechtsprechung und Lehre2, den Grundsatz des Vorrangs der Interessen von Gesellschaft und Gläubigern herausgearbeitet: Nach Eintragung der Gesellschaft oder der Kapitalerhöhung im Handelsregister können noch so große Mängel – von Fragen der Handlungsfähigkeit und insbesondere der Minderjährigkeit abgesehen3 – bei der Übernahme des Kapitals durch den Gesellschafter nicht mehr zu ihrer Beseitigung führen. Die ex-tunc-Lösung des BGB mit ihren §§ 116 ff., 119, 123 und 142 wird vom Bestandsinteresse im Recht der Kapitalgesellschaften verdrängt. Das ist auch heute noch die allgemeine Meinung4.
__________ Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung, 1964, S. 85 ff. 2 RGZ 142, 103; 145, 158; 147, 257 (268 ff.); 149, 28; 165, 193 sowie BGHZ 13, 320 und 21, 382; eingehend Lobedanz, Der Einfluß von Willensmängeln auf Gründungs- und Beitrittsgeschäfte, 1938, S. 146 ff. 3 Lutter (Fn. 1), S. 84 f. 4 Wiedemann in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1992 ff., § 185 Rz. 64 ff.; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 185 Rz. 28 und § 248 Rz. 7a; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Bd. 1, 8. Aufl. 1992, § 2 Rz. 94 ff., 103; Emmerich in Scholz, GmbHG, Bd. 1, 9. Aufl. 2000, § 2 Rz. 73 f.; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 2 Rz. 21 ff.; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 2 Rz. 33 ff., 38; Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002, S. 302 ff.; Grunewald in FS Claussen, 1997, S. 103 (113 f.); vgl. dazu auch schon Breit, ZHR 76 (1915), 415 (417 ff.). So im Übrigen auch die Lehre und Rspr. in unseren Nachbarländern; s. Lutter (Fn. 1), S. 69 ff.; zuletzt wieder die Cour d’Appel de Liège, Urteil v. 14.10.2002, Rev.Soc. (belge) 2003, 218. 1
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Aber schon damals hatte ich vorgetragen, dass dies nicht das letzte Wort sein könne5. Auch im Kapitalgesellschaftsrecht bestehe kein absoluter Bestandsschutz. Und tatsächlich machen das ja Vorschriften wie die §§ 222 ff. AktG (Kapitalherabsetzung), § 237 AktG (Einziehung), § 34 GmbHG (Einziehung), §§ 58 ff. GmbHG (Kapitalherabsetzung) deutlich, die alle zu einer Beendigung der fraglichen Mitgliedschaften führen6. Wie aber im einzelnen Fall eine Lösung aussehen könnte, hat mich damals nicht beschäftigt. Das soll nun und zu Ehren von Volker Röhricht nachgeholt werden.
II. Die nichtige Kapitalerhöhung und ihre Folgen Ehe wir diese Fragen in Angriff nehmen, sei aber zunächst an eine andere Entwicklung erinnert. Liegt nämlich der Mangel nicht in der Beitrittserklärung des einzelnen Mitglieds, sondern im Beschluss über die Kapitalerhöhung selbst, so war lange herrschende und auch von mir vertretene Meinung7, dass hier selbst die Eintragung des später für nichtig erklärten Erhöhungsbeschlusses nicht vor einer Vernichtung auch der hierauf ausgegebenen Aktien schütze. Dieser Lehre ist Wolfgang Zöllner8 als erster entgegengetreten, indem er die im Personengesellschaftsrecht entwickelte Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft auf diese Konstellation übertragen und angewandt hat: keine Vernichtung des Vorgangs ex tunc, sondern Rückabwicklung der Mitgliedschaften ex nunc. Diese Auffassung hat sich inzwischen durchgesetzt9. Damit steht aber auch für einen unserem Thema verwandten Bereich des Kapitalgesellschaftsrechts fest, dass aus anderen Gründen unwirksame Beitrittserklärungen – mangelhaft nicht wegen eines Mangels in der Erklärung des Aktionärs, sondern wegen Wegfalls ihrer Grundlage, des Beschlusses über die Kapitalerhöhung – rückabgewickelt werden müssen. Allerdings ist in den soeben erwähnten Fällen die Kapitalerhöhung mit der Rechtskraft des der Anfechtung stattgebenden Urteils hinfällig, so sind die auf ihr beruhen-
__________ Lutter (Fn. 1), S. 88. Vgl. nur Lutter in KölnKomm.AktG, Bd. 5/1, 2. Aufl. 1995, § 237 AktG Rz. 13 ff. und Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 34 Rz. 13 und 38. 7 Lutter in KölnKomm.AktG, § 191 Rz. 5 in Übereinstimmung mit der Rspr. des Reichsgerichts (RGZ 143, 394 [399]; 144, 138 [141]) und der damals h. M., vgl. etwa Hueck in Baumbach/Hueck, AktG, 13. Aufl. 1968, § 191 Rz. 4 und Wiedemann, Großkomm.AktG, Bd. 3, 3. Aufl. 1973, § 191 Anm. 5. 8 Zöllner, AG 1993, 68 (75 ff.). 9 Wiedemann in Großkomm.AktG, § 189 Rz. 34, 41; Huber in FS Claussen, 1997, S. 147 (151); Kort, Bestandsschutz fehlerhafter Strukturänderungen im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 212; Schockenhoff, DB 1994, 2327 f.; Hommelhoff, ZHR 158 (1994), 11 ff.; Krieger, ibid. S. 35 ff.; Kort, ZGR 1994, 291 ff.; zuletzt MeyerPanhuisen, Die fehlerhafte Kapitalerhöhung, 2003, mit allen Nachw. 5 6
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den (neuen) Mitgliedschaften ebenfalls, aber nach neuer und richtiger Erkenntnis eben ex nunc und nicht ex tunc, hinfällig. Die betroffenen Aktionäre sind um diesen ex lege eintretenden Verlust ihrer bis dato bestehenden Mitgliedschaft abzufinden – nicht anders als nach Eintragung der Eingliederung im Handelsregister gemäß §§ 320a/b AktG. Hier geht es also nicht um eine Beseitigung der Mitgliedschaften – sie tritt ipso iure mit der Rechtskraft des die Kapitalerhöhung vernichtenden Urteils ein –, sondern „nur“ um das „Wie“ der Abfindung10. Im Gegensatz zu diesen soeben angesprochenen Fällen gibt es in den hier zu behandelnden Konstellationen keinen ipso-iure-Verlust der Mitgliedschaft, vielmehr bedarf gerade das erst der Klärung.
III. Publizitätswirkung und Schutz der Willensfreiheit Den hier angesprochenen Fällen von Willensmängeln bei Beitrittserklärungen werden durch das vorrangige Prinzip der Publizitätswirkung des Handelsregisters und des Gläubigerschutzes die ex-tunc-Wirkung des § 142 BGB entzogen. Andererseits aber steht nirgends geschrieben, dass es damit sein Bewenden haben müsste. Auch in anderen langfristigen Rechtsverhältnissen wie vor allem dem Arbeitsvertrag wird die ex-tunc-Wirkung solcher Mängel von vorrangigen anderen Rechtsprinzipien verdrängt11. Dem Betroffenen wird aber nicht die Möglichkeit der Lösung aus dem ungewollten Rechtsverhältnis ex nunc genommen, also insbesondere die Möglichkeit einer sofortigen Kündigung, soweit nicht schon der Anfechtungserklärung selbst eine kündigungsähnliche Wirkung zugesprochen wird12.
__________ 10 Dazu eingehend Zöllner/Winter, ZHR 158 (1994), 59 (63 ff.). 11 Zum Arbeitsvertrag: BAGE 5, 58 (Leitsatz 3, Formnichtigkeit), BAGE 5, 159
(Anfechtung nach § 123 BGB); aus neuerer Zeit: BAGE 41, 54 (65); 51, 167 (176 ff.); für in Funktion gesetzte Arbeitsverhältnisse BAGE 90, 251; Heinrichs in Palandt, BGB, 63. Aufl. 2004, § 119 Rz. 5, § 142 Rz. 34; Richardi in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1999, § 611 Rz. 176 ff.; Roth in Staudinger, BGB, Neubearb. 2003, § 142 Rz. 34. Vgl. zum Ganzen schon Beitzke, Nichtigkeit, Auflösung und Umgestaltung von Dauerrechtsverhältnissen, 1948, S. 27 ff., 30. Zum Mietvertrag ist es streitig, ob der Anfechtung eine Rückwirkung zukommt; für eine ex-nunc-Wirkung im Einzelfall LG Trier, Urt. v. 14.11.1989, MDR 1990, 342 sowie Brox, Die Einschränkung der Irrtumsanfechtung, 1960, S. 231 ff. und Horn, Vertragsdauer, in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1981, S. 635; a. A. die h. M. 12 Zum Arbeitsrecht BAG v. 3.12.1998, ZIP 1999, 458 (459): Der Anfechtung wird die kündigungsähnliche Wirkung der Auflösung des Arbeitsverhältnisses für die Zukunft zugeschrieben; streitig ist, ob es letztlich um die Ausübung einer modifizierten Anfechtung oder aber um eine (außerordentliche) Kündigung geht, vgl. insoweit Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002, 37 (96 ff.); Oetker, Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994, S. 445 ff.
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Seit langem weiß man, dass die bei den so genannten Willensmängeln angeordnete Rechtsfolge der Vernichtung des betreffenden Rechtsgeschäfts und der ex-tunc-Rückabwicklung nur für die relativ einfachen und kurzzeitigen Rechtsgeschäfte passen, nicht aber für langfristige Rechtsgeschäfte. Andererseits hat man auch nicht in Erwägung gezogen, diese Mängel einfach zu ignorieren – trotz ihres unterschiedlichen Gewichtes für die Betroffenen, man denke nur an den selbstverschuldeten Irrtum einerseits über den Dissens bis zu Täuschung und Drohung andererseits. Das sollte auch in unserem Zusammenhang gelten. Gesetz und Tradition haben diese Mängel stets ernst genommen und einen Kompromiss unter den widerstreitenden Interessen gesucht: Immerhin „bezahlt“ der Irrende die Möglichkeit der Lösung aus der Bindung mit der Leistung von Schadensersatz an den „schuldlosen“ Partner, § 122 BGB. Das gilt es auch in diesem Kontext zu respektieren und entspricht der Lösung bei den anderen, hier beispielhaft erwähnten Rechtsverhältnissen mit der für sie geltenden Abwandlung der Ex-tunc- zur Ex-nuncLösung. Das bedeutet: In allen Fällen, in denen Gesetz und Recht Mängel akzeptieren, die Grundsätze des Kapitalgesellschaftsrechts aber die „klassische“ Rechtsfolge einer Lösung ex tunc verdrängen, hat das die zunächst begünstigte Gesellschaft hinzunehmen und zu respektieren. Sie ist also aus dem bestehenden, wenn auch in seiner Begründung defekten Mitgliedschaftsverhältnis zum Übernehmer und jetzigen Mitgesellschafter gehalten, an einer Lösung unter voller Beachtung der Regeln des Kapitalgesellschaftsrechts mitzuwirken. Insoweit handelt es sich um nichts anderes als eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Prinzips der Treupflicht zwischen der Gesellschaft und ihrem Mitglied13.
IV. Lösungsmöglichkeiten Damit ist jetzt nach den Wegen zu fragen, die der Gesellschaft für eine Lösung der Mitgliedschaft ex nunc zur Verfügung stehen. 1. Der natürlichste Weg, nämlich die Rückgabe der Einlage an den Inferenten Zug um Zug gegen Hingabe der mangelhaft übernommenen Aktien an die Gesellschaft steht nicht zur Verfügung; denn das Gesetz verbietet in § 57 AktG strikt die Rückgabe der Einlage an den Zeichner14 und steht damit voll
__________ 13 Dazu eingehend Lutter, ZHR 153 (1989), 446 ff. und ZHR 162 (1998), 164 ff.; Henze,
BB 1996, 489 ff. und ZHR 162 (1998), 186 ff.; Hüffer in FS Steindorff, 1990, S. 59 ff.; Timm, WM 1991, 481 ff.; Wiedemann in FS Heinsius, 1991, S. 949 ff. 14 Vgl. nur Bayer in MünchKomm.AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 2003, § 57 Rz. 9; Henze in Großkomm.AktG, § 57 Rz. 7; Hüffer, AktG, § 57 Rz. 7; Lutter in KölnKomm. AktG, Bd. 1, 2. Aufl. 1988 § 57 Rz. 5 je mit allen Nachw.
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Die Rückabwicklung fehlerhafter Kapitalübernahmen
und ganz in Einklang mit der europäischen Vorgabe der Art. 15 und 16 der Zweiten Richtlinie15. 2. Andererseits könnte die Gesellschaft ihr Kapital nach den §§ 222 ff. AktG herabsetzen und die fraglichen Aktien nach Eintragung der Kapitalherabsetzung im Handelsregister gemäß § 226 AktG für kraftlos erklären. Darin läge vordergründig zwar eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach § 53a AktG, da nur der Betroffene von der Maßnahme „profitiert“ und nicht auch die anderen Aktionäre. Doch wäre hier die Pflicht der Gesellschaft zur Mitwirkung an einer Lösung zugunsten des Betroffenen ein die Ungleichbehandlung rechtfertigender Grund16. Damit wäre zwar das Problem der Aktien gelöst, die Zahlung an den Aktionär aber setzt die Befriedigung oder Sicherstellung aller Gläubiger voraus, die sich innerhalb einer Frist von sechs Monaten seit Eintragung der Kapitalherabsetzung im Handelsregister bei der Gesellschaft gemeldet haben, § 225 AktG. Das ist sehr teuer für die Gesellschaft. Und außerdem muss hier der betroffene Aktionär lange auf sein Geld warten, während er seine Aktien schon verloren hat. Im Übrigen erhält der Aktionär nur den Nominalbetrag; denn nur dieser wird durch die Kapitalherabsetzung aus der Vermögensbindung frei, § 225 Abs. 2 AktG17. Der Aktionär würde auf diesem Wege das im Zweifel gezahlte Agio verlieren. 3. Seit langem kennt das Aktiengesetz darüber hinaus die Einziehung von Aktien. Zwar handelt es sich dabei nur um eine spezielle Form der Durchführung einer Kapitalherabsetzung – von einer sub 4. sogleich zu erörternden Ausnahme abgesehen –, aber es kommen dafür doch ganz neue Elemente ins Spiel. a) Für die reguläre Einziehung gelten nach § 237 Abs. 1 und Abs. 2 AktG die allgemeinen Regeln der Kapitalherabsetzung, so dass die gleichen Nachteile für Gesellschaft und Aktionär bestehen, wie sie soeben sub 2. erörtert worden sind. b) Das Gesetz schafft aber mit den Absätzen 3 bis 5 von § 237 AktG eine erleichterte Form der Kapitalherabsetzung. Sieht man einmal von der Regelung des Abs. 3 Nr. 1 bei einem unentgeltlichen Erwerb der Aktien des Betroffenen ab – was hier ja gerade nicht gilt, da dieser das auf die Einlage Geleistete zurückerhalten soll –, so kommt vor allem Abs. 3 Nr. 2 in Betracht. Hier erwirbt die Gesellschaft zu einem vereinbarten oder anderweitig festgelegten Betrag die fraglichen Aktien und zahlt sofort die darauf geleiste-
__________ 15 Richtlinie vom 13.12.1976 (77/91/EWG), ABl. EG Nr. L 26 v. 31.1.1977, S. 1 ff.,
abgedruckt auch bei Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl. 1996, S. 114 ff. 16 Dazu Lutter/Zöllner in KölnKomm.AktG, § 53a Rz. 13 ff. 17 Vgl. Lutter in KölnKomm.AktG, § 225 Rz. 42 ff. und Oechsler in MünchKomm. AktG, 2. Aufl., § 225 Rz. 31, 32.
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te Einlage zurück – vorausgesetzt sie kann diese Leistung aus freien Mitteln erbringen, also ein noch nicht verteilter, aber bereits festgestellter Bilanzgewinn oder andere Gewinnrücklagen nach § 266 Abs. 3 A I 4 HGB. Der Schutz der Gläubiger erfolgt hier nicht durch Sicherstellung und späte Zahlung an den Aktionär, sondern durch –
die Leistung an den Aktionär aus freien, also ausschüttungsfähigen Mitteln und
–
die Zuweisung des aus der Kapitalherabsetzung frei werdenden Kapitalbetrages an die Kapitalrücklage nach § 237 Abs. 5 AktG.
Dieser außerordentlich elegante Weg schützt alle hier relevanten Interessen: die der Gläubiger durch die Leistung an den Aktionär nur aus freien Mitteln (Abs. 3 Nr. 2) und die Zuweisung des frei werdenden Kapitalbetrages auf das Konto Kapitalrücklage (Abs. 5); die des betroffenen Aktionärs, der sich gegen Vergütung unter Wahrung der Gläubigerinteressen aus der mangelbehafteten Mitgliedschaft lösen kann; und die der Gesellschaft, die nur freie, also zur Disposition stehende Mittel verliert. 4. Seit kurzem, nämlich seit dem TransPuG von 2002, bietet das Gesetz der Gesellschaft mit Abs. 3 Nr. 3 eine weitere Möglichkeit zur Lösung solcher Konflikte18. Sind nämlich in der Gesellschaft Stückaktien ausgegeben – und von dieser Möglichkeit haben inzwischen sehr viele Aktiengesellschaften Gebrauch gemacht –, so haben diese keinen unmittelbaren Nennwert mehr, sondern nur noch einen mittelbaren, der sich aus dem Verhältnis von Zahl der ausgegebenen Aktien zur Höhe des Kapitals ergibt. Hier kann auf die Herabsetzung des Kapitals ganz verzichtet werden; es vermindert sich nur die Zahl der Aktien. Damit sind die Interessen der Gläubiger überhaupt nicht involviert. Denn die Höhe des Kapitals bleibt unverändert und der Erwerb der Aktien durch die Gesellschaft erfolgt zum Zwecke der Einziehung, entspricht also den Vorgaben des Gesetzes, §§ 237 Abs. 3 Nr. 3, 71 Abs. 1 Nr. 6 AktG. Im Gegensatz zur Nr. 2 offen und vom Gesetz überraschenderweise nicht angesprochen ist allerdings die Frage, zu Lasten welcher Mittel die Vergütung des Aktionärs geschehen kann. Gebundene Mittel (Kapital, gesetzliche Rücklage, Kapitalrücklage, § 150 AktG) sind dafür – zu Recht – im Gesetz nicht vorgesehen; § 57 AktG ist in Abs. 3 Nr. 3 nicht eingeschränkt worden; und da keine Kapitalherabsetzung stattfindet, werden auch keine Mittel aus der Bindung frei. Damit muss man die Vorgaben der Nr. 2 hier entsprechend anwenden mit der Folge, dass eine Vergütung des Aktionärs auch hier nur
__________ 18 Diese Ergänzung des Gesetzes geht auf eine Empfehlung der Regierungskommis-
sion Corporate Governance zurück; vgl. Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rz. 234.
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aus freien, mithin ausschüttungsfähigen Mitteln möglich ist19. Das aber bedeutet, dass die Einziehung nur in Abstimmung mit dem betreffenden Aktionär erfolgen kann; würde sie erfolgen, ohne dass eine Vergütung gezahlt werden könnte, würde es sich de facto um eine Enteignung handeln. Die Möglichkeit zur Leistung der Vergütung ist mithin Wirksamkeitsvoraussetzung für den Einziehungsbeschluss, sei es der Hauptversammlung, sei es des Vorstands20.
V. Fragen zur Durchführung Steht damit fest, dass die Gesellschaft verschiedene Möglichkeiten zur Lösung des mangelhaften Beitritts hat, so bleiben doch eine Reihe von zusätzlichen Fragen zu klären. 1. Die hier besonders nahe liegende Lösung durch Einziehung der Aktien des betroffenen Aktionärs nach § 237 AktG setzt in allen ihren Spielarten voraus, dass sie in der Satzung der betreffenden Gesellschaft angeordnet oder doch gestattet ist21. Fehlt es daran in der Satzung der betreffenden Gesellschaft, so scheint dieser Weg verbaut zu sein. Tatsächlich trifft das nicht zu. Die Literatur hat sich in den vergangenen Jahren eingehend mit den Fragen der Abwicklung einer vollzogenen, später aber vernichteten Kapitalerhöhung beschäftigt22. Auch in diesem Zusammenhang besteht heute Einigkeit, dass die fraglichen Mitgliedschaften auf jeden Fall bis zur Rechtskraft des den Kapitalerhöhungsbeschluss vernichtenden Urteils wirksam bestehen, danach aber rückabgewickelt werden müssen. Für diese Fälle hat bereits Kort herausgearbeitet, dass sie in Analogie zu § 237 AktG abzuwickeln sind, die Einziehung aber in diesen Fällen nicht in der Satzung angelegt sein muss23. Kort begründet dies im Wesentlichen mit einem Vergleich zum Ausschluss eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund und weist zu Recht darauf hin, dass diese Überlegungen auch im Aktienrecht vorgetragen werden24. Auch in diesem Zusammenhang kann es
__________ 19 Im GmbH-Recht ist das in § 34 Abs. 3 GmbHG ausdrücklich geregelt. Es besteht
20
21 22 23 24
kein Grund anzunehmen, dass das AktG erlaubt, das Entgelt aus gebundenen Mitteln zu zahlen. Dieselbe Problematik besteht im GmbH-Recht. Dort wird der Einziehungsbeschluss überhaupt erst wirksam mit Zahlung des Entgelts; vgl. BGHZ 9, 157 (173) sowie Lutter/Hommelhoff, GmbHG § 34 Rz. 26 ff. mit allen Nachw. Näher Lutter in KölnKomm.AktG, § 237 Rz. 22 ff.; Hüffer, AktG, § 237 Rz. 10, 15. Schon oben sub II und Fn. 9. Kort, ZGR 1994, 291 (314 f.). Vor allem Grunewald, Der Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, 1987, S. 50 ff. mit eingehender und insoweit zustimmender Besprechung von Röhricht, AcP 189 (1989), 386 ff., 389 f.; Becker, ZGR 1986, 383 ff.; Lutter in KöknKomm.AktG, § 237 Rz. 118 ff.
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naturgemäß auf eine Regelung in der Satzung der betreffenden AG ebenso wenig ankommen wie im GmbH-Recht25. Noch deutlicher wird das in der von Oechsler entwickelten Begründung, wonach die Rechtsgrundlage für die Abwicklung in den Fällen nichtiger Kapitalerhöhungen nicht in einer Satzungsregelung, sondern in gesetzlichen Ordnungsideen zu suchen sei, die eine Beseitigung der Mitgliedschaftsrechte unabhängig von individuell statutarischen Gegebenheiten der betroffenen AG erforderlich machen26: Der Anlegerschutz durch die Warnfunktion der Satzung finde seine Schranke hier in den vom Gesetz geregelten Anfechtungsgründen, die zur Nichtigkeit des Kapitalerhöhungsbeschlusses führen. Diese Gedanken treffen auch auf die hier erörterten Mängel zu. Denn es geht nicht um willkürliche Gestaltung der Parteien, sondern um den Vollzug des vorrangigen Gesetzes: Dieses ordnet zwar im modernen Verständnis weder bei einem nichtigen Kapitalerhöhungsbeschluss noch bei nichtiger Beitrittserklärung die Rückabwicklung ex tunc an, wohl aber die Rückabwicklung an sich. Und diese muss daher – ohne dass es auf individuelle Satzungsgestaltungen ankommen könnte – auch rechtlich möglich sein. Auch wenn die Satzung schweigt, ist der Weg über § 237 AktG mithin möglich. 2. Darüber hinaus verlangt das Gesetz für alle oben erörterten Gestaltungen einen Beschluss der Hauptversammlung der betreffenden Aktiengesellschaft. Hier wird man unterscheiden müssen: a) Geht es bei einem der oben aufgezeigten Wege um eine förmliche Herabsetzung des Grundkapitals der Gesellschaft, so handelt es sich zwingend um eine Änderung der Satzung. Die aber kann, so scheint es, nur von der Hauptversammlung beschlossen werden, §§ 119 Abs. 1 Nr. 5, 179 AktG. Tatsächlich aber macht das Gesetz selbst in § 237 Abs. 6 AktG von dem Erfordernis eines Hauptversammlungs-Beschlusses eine Ausnahme dann, wenn es um die so genannte Zwangseinziehung geht, wenn also in der Satzung nicht nur die Möglichkeit der Einziehung eröffnet wird, sondern die tatsächlichen Voraussetzungen so genau bestimmt werden, dass es keines Willensentschlusses mehr, sondern nur noch des Vollzuges bedarf27. In diesen Fällen kann die Satzung den Vorstand zu diesem reinen Vollzug ermächtigen, ohne dass die Hauptversammlung mitwirken müsste. Zu fragen ist daher, ob die uns hier beschäftigenden Fälle dieser Konstellation – reiner Vollzug – so nahe sind, dass der Rechtsgedanke des § 237 Abs. 6 AktG übertragen werden kann. Das trifft tatsächlich zu. Denn in den Fällen des Abs. 6 geht es um eine Anordnung der Satzung, hier um eine Anordnung des Gesetzes: Die mangelhaft begründeten Mitgliedschaften sind zu beseiti-
__________ 25 Dazu eingehend Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 34 Rz. 32 ff. mit allen Nachw. 26 Oechsler in MünchKomm.AktG, § 237 Rz. 120. 27 Lutter in KölnKomm.AktG, § 237 Rz. 34; Oechsler in MünchKomm.AktG, § 237
Rz. 111 ff.; Hüffer, AktG, § 237 Rz. 40.
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gen. Es könnte also nur sein, dass die Hauptversammlung über den konkreten Weg unter den drei möglichen Wegen der Lösung befinden soll. Aber auch insoweit entscheidet sich § 237 Abs. 6 AktG für die Kompetenz des Vorstands. Dann aber muss das auch in den hier erörterten Fällen gelten28. b) Diese Überlegungen gelten erst recht, wenn die Gesellschaft Stückaktien ausgegeben hat und mithin der Weg über Abs. 3 Nr. 3 von § 237 AktG offen steht. Hier handelt es sich nicht einmal um eine Satzungsänderung. Dennoch ordnet das Gesetz einen Hauptversammlungs-Beschluss an, wenn auch nur mit einfacher Mehrheit, § 237 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AktG. Wenn aber das Gesetz die Lösung für die mangelhaften Mitgliedschaften vorschreibt, kann das nicht mehr vom zufälligen Willen der anderen Aktionäre abhängen. c) Folgt man den soeben angestellten Überlegungen zur Rechtsähnlichkeit mit dem Fall des § 237 Abs. 6 AktG nicht und hält mithin am Erfordernis eines Beschlusses der Hauptversammlung fest, so kommt hier die Treupflicht der Aktionäre gegenüber ihrem – noch – Mitaktionär und gegenüber der verpflichteten Gesellschaft selbst zum Zuge; denn diese ist von Rechts wegen verpflichtet, eine Lösung zu schaffen. Ist mithin der Mangel zwischen der Gesellschaft und dem betroffenen Aktionär unstreitig oder rechtskräftig festgestellt, so sind die anderen Aktionäre verpflichtet, an einer Lösung durch einen entsprechenden Beschluss mitzuwirken29. Tun sie das nicht, so kann durch Anfechtungsklage verbunden mit einer positiven Beschlussfeststellungsklage über die negativen Stimmen hinweggegangen werden30.
VI. Zur Höhe der Vergütung des betroffenen Aktionärs 1. Ausgangspunkt Würde man die allgemeinen Regeln anwenden, so gäbe es keine besonderen Fragen: Der Aktionär erhielte das von ihm Geleistete, also Einlage und Agio nach den Regeln der §§ 812 ff. BGB zurück. Aber diese allgemeinen Regeln wenden wir zum Teil wegen § 57 AktG31, teilweise im Hinblick auf den jedenfalls vorläufigen Bestand der Mitgliedschaft gerade nicht an. Diese ist und bleibt existent, bis sie mit Maßnahmen ex nunc nach § 237 AktG beseitigt sind. Bis dahin war und ist der Betroffene Aktionär. Das entspricht ganz der Betrachtung in den Vergleichsfällen anderer langfristiger Rechtsverhältnisse: Auch das Arbeits- und das Mietverhältnis auf man-
__________ 28 Im Ergebnis ebenso Kort, ZGR 1994, 291 (315). 29 Zur Treupflicht des Aktionärs vgl. Lutter, JZ 1976, 225; ders., ZHR 153 (1989), 446;
ders., ZHR 162 (1998), 164; Timm, WM 1991, 481; Wiedemann in FS Heinsius, 1991, S. 949 ff.; Henze in FS Kellermann, 1991, S. 141; ders., BB 1996, 489; ders., ZHR 162 (1998), 186. 30 Vgl. dazu vor allem Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, Anh. § 47 Rz. 92 ff. 31 Dazu oben sub IV. 1 und Fn. 14.
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gelhafter Grundlage ist und bleibt existent und gültig, bis es aufgrund des Mangels durch außerordentliche Kündigung des Betroffenen ex nunc gelöst wird; eine Rückabwicklung nach den Regeln der §§ 812 ff. BGB kommt nicht in Betracht, ist aber auch nicht nötig, da der Vermieter die Miete, der Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt aufgrund des als gültig behandelten Rechtsverhältnisses rechtens behält32. b) So einfach ist die Rechtslage in unseren Fällen nicht. Denn der Betroffene hat um der Mitgliedschaft willen auf die Einlage geleistet; verliert er diese im Zuge der Rückabwicklung, so muss er dafür entschädigt werden. Anders wäre es keine Rückabwicklung ex nunc, sondern eine Enteignung; das Ziel unserer Überlegungen wäre offenbar verfehlt. 2. Zur Höhe der Entschädigung Da es sich in unseren Fällen gerade nicht um eine Rückabwicklung nach dem Muster des Bürgerlichen Rechts handelt, sondern um eine Rückabwicklung unter Verwendung der besonderen Figuren des Rechts der Kapitalgesellschaften, müssen die Besonderheiten dieser Figuren auch bei der Frage der Entschädigung bedacht werden33. a) Dieser Aspekt wird besonders deutlich bei einer Beseitigung der fraglichen Mitgliedschaften im Wege einer förmlichen Kapitalherabsetzung. In diesem Falle sinkt das Grundkapital nur um den Nominalbetrag dieser Aktien, mithin wird auch nur dieser Betrag aus der Bindung des § 57 AktG frei, kann also auch nur dieser Betrag an den Betroffenen gezahlt werden. Hat dieser seinerseits nur nominal geleistet, so ist diese Lösung korrekt. Hat er – wie bei Kapitalerhöhungen die Regel – darüber hinaus ein Agio geleistet, wird und kann er mit dieser Lösung kaum einverstanden sein34. b) Ganz anders ist die Rechtslage, wenn die Beseitigung der Mitgliedschaft nach den besonderen Regeln des § 237 Abs. 3 Nr. 2 oder 3 AktG erfolgt. Hier verweist das Gesetz in Nr. 2 ausdrücklich auf die freien Mittel der Gesellschaft, verhält sich aber mit keinem Wort zur Höhe der Abfindung. Diese bestimmt sich mithin nach anderen Kriterien. Im Übrigen ist hier nochmals zu unterscheiden: (1) Im Falle der Nr. 2 handelt es sich noch immer um eine Kapitalherabsetzung, zu deren Ausgleich ihr aber ein gleich hoher Betrag in die Kapitalrücklage einzustellen ist (Umbuchung von Kapital auf Kapitalrücklage). Die Leis-
__________ 32 Vgl. nur BAG v. 3.12.1998, ZIP 1999, 458 (460). 33 Auch an dieser Stelle wird die hier andere Situation im Vergleich zur vernichteten
Kapitalerhöhung deutlich: Dort sind die Mitgliedschaften untergegangen, hier müssen sie erst mit Hilfe spezieller und speziell geregelter Rechtsfiguren beseitigt werden. 34 Dazu schon oben bei Fn. 16.
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tung an den Betroffenen muss also zur Gänze aus freien Mitteln möglich sein; frei gewordenes Kapital steht dafür nicht zur Verfügung. Andererseits sagt das Gesetz aber auch nur, dass die Einziehung zu Lasten der freien Mittel möglich sein muss, beschränkt die Inanspruchnahme dieser Mittel – so vorhanden – der Höhe nach aber nicht. (2) Im Falle der Nr. 3 handelt es sich um eine Rückkehr zu der bis 1937 im Aktienrecht (§ 227 HGB aF) und bis heute im GmbH-Recht (dort § 34 GmbHG) bekannten Amortisation35. Sie verändert die Ziffer des Grundkapitals nicht, ist also nicht Kapitalherabsetzung. Das Grundkapital sinkt nicht, wird nicht tangiert, nur die Zahl der Aktien sinkt und damit erhöht sich der Anteil der verbleibenden Aktien an diesem, ihr mittelbarer Nominalwert steigt36. Daher auch hätte Abs. 5 mit seiner Anordnung einer Zuweisung an die Kapitalrücklage bei Einführung von Abs. 3 Nr. 3 durch das TransPuG auf die Fälle der Nr. 1 und 2 beschränkt werden müssen37: Bei der Amortisation ist kein Grund für eine solche Zuweisung ersichtlich; denn das Kapital wird gerade nicht (teilweise) aus der Bindung frei38. Andererseits hätte es nahe gelegen, in Nr. 2 für diejenigen Fälle zu verweisen, in denen es nicht um die Einziehung bereits erworbener Aktien geht, sondern um solche eines Aktionärs, der noch zu entschädigen ist. Das muss hier durch entsprechende Auslegung geschehen; denn es ist kein Grund ersichtlich, weshalb die Amortisation zu Lasten des Kapitals möglich sein sollte39. Auch die oben schon erörterte Zuweisung zur Kapitalrücklage orientiert sich nur am (mittelbaren) Nominalbetrag der eingezogenen Aktien, nicht an der tatsächlichen Leistung an den Aktionär. Die Regel der Nr. 2 von § 237 Abs. 3 AktG und § 34 Abs. 3 GmbHG muss also jedenfalls auf diejenigen Fälle der Nr. 3 entsprechend angewandt werden, in denen es sich nicht um die Einziehung eigener Aktien der Gesellschaft selbst handelt.
__________ Dazu Lutter in KölnKomm.AktG, § 237 Rz. 3; Hüffer, AktG, § 237 Rz. 34a. Näher dazu Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 34 Rz. 2 ff. Ebenso Hüffer, AktG, § 237 Rz. 38. Allenfalls hätte eine andere Zuweisung nahe gelegen. Handelt es sich bei den eingezogenen Aktien nämlich um solche, welche die Gesellschaft nach § 71 AktG selbst erworben und für die sie entsprechend § 71 Abs. 2 AktG, § 272 Abs. 4 HGB die erforderliche Sonderrücklage gebildet hat, so wird diese Rücklage durch Einziehung der Aktien frei. Man hätte es als zweckmäßig ansehen können, diese Rücklage dann der Kapitalrücklage zuzuführen, statt sie an die Aktionäre ausschütten zu können. Notwendig ist es aber nicht. Daher bleibt es bei der hier postulierten Einschränkung des Abs. 5 für die Fälle des Abs. 3 Nr. 3. 39 Ebenso Hüffer, AktG, § 237 Rz. 38; so auch ausdrücklich die Lösung des GmbHG in § 34 Abs. 3; näher dazu Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 34 Rz. 14 und Hueck/ Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 34 Rz. 33; Westermann in Scholz, GmbHG, § 34 Rz. 48 ff. sowie oben sub IV. 3. 35 36 37 38
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c) Verfügt die Gesellschaft in den Fällen der Nr. 2 und 3 von § 237 Abs. 3 AktG über ausreichende freie Mittel, so enthält das Gesetz keine weitere Sperre hinsichtlich der Höhe der Leistung an den betroffenen Aktionär. Auch das entspricht der Regelung im GmbH-Recht40. Somit ist nun zu klären, was der Gesellschafter zu beanspruchen hat. Zwei Ansätze sind möglich. Zum einen kann man sich an § 812 BGB orientieren und das mit der Herkunft des Problems aus den Mängeln der §§ 116 ff., 142 BGB begründen. Zum anderen kann man die ex-nunc-Lösung in den Mittelpunkt stellen und kommt damit zum Gedanken der Abfindung: Der Betroffene war und ist Aktionär und verliert diese Position jetzt. Das würde zur Höhe der Abfindung nach dem jetzigen Wert der Mitgliedschaft führen, also unter Berücksichtigung aller stillen Rücklagen und aller WertMehrungen und -Minderungen in der Zeit seiner Mitgliedschaft. Insoweit treffen sich diese Überlegungen dann auch wieder mit denen zur Abfindung des Aktionärs bei späterer Vernichtung des Kapitalerhöhungs-Beschlusses. (1) Eine Lösung nach den Regeln der §§ 812 ff. BGB scheidet im Prinzip aus, und das aus mehreren Gründen. Zum einen wäre es schon systematisch wenig überzeugend, hinsichtlich der Mitgliedschaft auf die Lösung ex nunc zu gehen, hinsichtlich der „Gegenleistung“ aber bei einer Ex-tunc-Abwicklung zu bleiben. Im Übrigen aber enthalten die §§ 812 ff. BGB kaum überzeugende Abrechnungsschwierigkeiten dann, wenn über längere Zeiträume hin mit Erträgen und Aufwendungen abgerechnet werden müsste, § 818 BGB. (2) Systematisch richtig ist daher auch insoweit die Lösung im Sinne einer Abfindung des Aktionärs um seine Mitgliedschaft ex nunc, unabhängig von allen Fragen, was und wie viel er denn einst auf die Mitgliedschaft geleistet hat. Das entspricht auch ganz der Lösung, die bei einer notwendigen Abfindung der Aktionäre einer vernichteten Kapitalerhöhung vorgeschlagen wird41. Und sie entspricht der Lösung beim Austritt des Gesellschafters im GmbH-Recht42; denn auch hier tritt der betroffene Aktionär de facto aus der Gesellschaft aus, indem er den Mangel seines damaligen Beitritts jetzt als Lösungsgrund geltend macht. (3) Folgt man dieser Betrachtung, so ist der Aktionär nach dem vollen wirtschaftlichen Wert seiner Aktien abzufinden43, also dem anteiligen Betrag des Preises, den ein Dritter als Erwerber des gesamten Unternehmens der AG zahlen würde, mindestens aber – bei börsennotierten Aktien – dem aktuel-
__________ 40 Soweit das Kapital nicht tangiert wird, ist die Höhe der Abfindung des ausschei-
denden Gesellschafters eine rein interne Angelegenheit; vgl. dazu Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 34 Rz. 49 ff. 41 Vgl. insbesondere Zöllner/Winter, ZHR 158 (1994), 59 ff. 42 Zum Austritt im GmbH-Recht vgl. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 34 Rz. 43 ff. und Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, Anh. § 34 Rz. 15 ff. mit allen Nachw. 43 BGHZ 9, 157 (168); zuletzt BGHZ 116, 359 (370) und BVerfG, AG 2003, 624 (625).
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len Börsenkurs44. Die Fragen zur Feststellung dieses Wertes sind vielfach erörtert worden45; das muss hier nicht wiederholt werden. d) Das derart gefundene Ergebnis bedarf aber unter zwei Gesichtspunkten einer Korrektur: (1) Zum einen kann dem betroffenen Aktionär bei dieser Lösung zum anteiligen vollen wirtschaftlichen Wert seiner Aktien ein Windfall-Profit zufallen. Hat die Gesellschaft zu 200 die fraglichen Aktien ausgegeben, während der wirtschaftliche Wert 500 war und ist, so liquidiert der Aktionär die Differenz ohne einen erkennbaren Grund. Gemeint ist hier also nicht der wirtschaftliche Erfolg oder Misserfolg der Gesellschaft in der Zeit seiner Mitgliedschaft. Gemeint ist der damalige Mehrwert der Beteiligung im Verhältnis zur Höhe der Einlage. Seine Zuweisung an den Aktionär kann durchaus relevante Gründe haben. War er etwa schon vor der Kapitalerhöhung Aktionär und hat er die vom Mangel betroffenen neuen Aktien aufgrund seines Bezugsrechts bezogen, so steht ihm der Mehrwert fraglos zu. Fehlt es hingegen an einem solchen rechtlich relevanten Grund, beruht der Mehrwert also eher auf Zufall und Nachlässigkeit des Vorstands bei Festlegung des damaligen Ausgabepreises, dann kann man auf den Ausgangsgedanken des Gesetzes aus §§ 142, 812 ff. BGB zurückgreifen und die Abfindung insoweit auf die Höhe des vom Betroffenen selbst Geleisteten reduzieren, den reinen Windfall-Profit beim Betroffenen mithin vermeiden. (2) Zum anderen kann es sich bei der Einlage des Betroffenen aber auch um eine Sacheinlage gehandelt haben. Hat der Inferent etwa eine Immobilie geleistet oder eine wesentliche Beteiligung oder gar ein gesamtes Unternehmen eingebracht und steht der damalige Willensmangel gar in Verbindung mit diesen Gegenständen, so kann das Interesse des Betroffenen noch viel mehr auf Rückerhalt des damals Geleisteten gehen denn nur auf Lösung aus der Gesellschaft. Wendet man allein den Gedanken der Abfindung an, so ist für diesen Aspekt kein Raum. Behält man aber im Auge, dass das Gesetz eigentlich die Rückabwicklung anordnet und man diese Anordnung nur aus den vorrangigen Grundsätzen der Publizität und des Gläubigerschutzes im Kapitalgesellschaftsrecht modifizieren muss, so ist auch hier ein Rückgriff auf den Rechtsgedanken der §§ 142, 812 BGB geboten: Ist Rückgewähr (noch) möglich, so ist dem Anliegen des Aktionärs auf Rückgewähr zu entsprechen46 unter Zuschlag der erwirtschafteten Erträge (Rechtsgedanke des § 818 Abs. 1 BGB) und Abschlag noch vorhandener Aufwendungen (Rechtsgedanke des § 818 Abs. 3 BGB).
__________ 44 BVerfGE 100, 289 (305 ff.) und BGHZ 147, 108. 45 Einzelheiten bei Hüffer, AktG, § 305 Rz. 19 ff. und Lutter/Hommelhoff, GmbHG,
§ 34 Rz. 50 ff. mit weiteren Nachw. 46 Ähnlich Zöllner/Winter, ZHR 158 (1994), 59 (64 f.) sowie Zöllner laut Diskussions-
bericht ibid. S. 97 (98).
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Allerdings: Die Abfindung zum wirtschaftlichen Wert der Aktien steht im Zentrum. Die Rückgabe der einstigen Sacheinlage darauf ist vom Aktionär gewollte datio in solutum47. Berücksichtigt das nicht eine seitherige Wertveränderung der Gesellschaft selbst, also etwa einen anderweitigen Verlust der Gesellschaft, so bleibt der Aktionär im Risiko und muss die Differenz in bar ausgleichen. Beträgt also der anteilige Wert der Aktien des betroffenen Aktionärs wegen anderer Verluste der Gesellschaft heute nur noch 80 und verlangt er „sein“ Unternehmen zum Einbringungswert von heute immer noch 100 zurück, so muss er – da er an der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft als solcher rechtens beteiligt ist – die Differenz in Höhe von 20 bar ausgleichen. Da er berechtigt ist, „seinen“ einstigen Einbringungsgegenstand als datio in solutum auf die Abfindung zu verlangen, hat er das Wahlrecht zwischen 80 in Geld oder Rückgabe des Gegenstandes Zug um Zug gegen Zahlung von 20 in bar an die Gesellschaft.
__________ 47 Ähnlich Zöllner/Winter, ZHR 158 (1994), 59 (65).
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Die Veräußerung von GmbH-Anteilen durch den Gesellschaftsvertrag* Inhaltsübersicht I. Abtretung durch den Gesellschaftsvertrag? 1. Der entschiedene Fall 2. Beurkundung im Gesellschaftsvertrag 3. Bestimmtheitserfordernisse 4. Inhalt der Abtretung 5. Iteration 6. Abtretung an Dritte? II. Abtretungs- und Erwerbsverpflichtung durch die Satzung
1. Ausschluss und Kündigung a) Verbandsrechtliche Verpflichtung b) Folgen c) Erwerbspflicht 2. Voranbietungspflichten a) Verbindlichkeit b) Vertragsmäßige Bestimmung der Gegenleistung? c) Verbandsrechtliche Bindung III. Ermächtigung IV. Gesamtergebnis
Die Abtretung von GmbH-Anteilen bedarf „eines in notarieller Form geschlossenen Vertrages“. Gleiches gilt für die Vereinbarung, durch die die Verpflichtung zu einer solchen Abtretung begründet wird. Diese Vorschriften sind in jüngerer Zeit wieder in die Kritik geraten1. Ausgangspunkt der Kritik ist auch die Ausdehnung des Formerfordernisses für das obligatorische Geschäft auf den ganzen Vertrag entsprechend der ständigen Rechtsprechung zu Grundstücksgeschäften. Dies führt aufgrund der sonstigen Vertragspraxis nicht selten dazu, dass außerordentlich umfangreiche Verträge, die als verhältnismäßig oder völlig unbedeutenden Bestandteil auch die Verpflichtung zur Übertragung oder zum Erwerb von GmbH-Anteilen zum Gegenstand haben, insgesamt beurkundet werden und die Beteiligten sich in den Worten eines Autors2 von dem Vorlesungszwang „tyrannisieren“ lassen müssen. Die radikalste Forderung geht denn auch dahin, die Formerfordernisse – jedenfalls für das obligatorische Geschäft – ersatzlos zu streichen3 oder mindestens entsprechend dem gesetzlichen Wortlaut auf die eigentliche Vereinbarung betreffend die Veräußerung (und ggf. den Erwerb) von GmbH-Anteilen zu beschränken4, ohne sie auf den gesamten Vertrag nach den Grundsätzen
__________ * Frau Rechtsanwältin Dr. Anja Marx danke ich für die gesamte Dokumentation. 1 Heidenhain, ZIP 2001, 721 und 2113; ders., NJW 1999, 3037; Loritz, DNotZ 2000, 90 jew. m. w. N. 2 Heidenhain, ZIP 2001, 721 (723). 3 Heidenhain, ZIP 2001, 721. 4 Sigle/Maurer, NJW 1984, 2657 (2660); Hadding, ZIP 2003, 2133 ff.
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der so genannten Gesamtbeurkundung oder dem Vollständigkeitserfordernis auszudehnen. Der Bundesgerichtshof hat bisher keine Neigung erkennen lassen, das Erfordernis der Gesamtbeurkundung für Verträge, die die Veräußerung von GmbHAnteilen zum Gegenstand haben, zurückzunehmen. Dagegen hat der für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat unter dem Vorsitz des Jubilars in jüngerer Zeit mehrfach entschieden, dass der Formvorschrift im konkreten Fall hinsichtlich des obligatorischen Vertrages5 und, in einer Entscheidung aus dem Jahre 2003, auch hinsichtlich der Abtretung6 bereits durch entsprechende Vorschriften des Gesellschaftsvertrages genügt sei. Aus der letzteren Entscheidung wurde bereits gefolgert, durch entsprechende Gestaltung des Gesellschaftsvertrages könne das Formerfordernis über den vom BGH entschiedenen Fall hinaus im Voraus für alle künftigen Anteilsveräußerungen erfüllt und damit im Ergebnis das Formerfordernis durch die Satzung praktisch abbedungen werden7. Diese Entscheidungen geben Anlass, über Möglichkeiten der Voraberfüllung der Formerfordernisse im Gesellschaftsvertrag und über die Grenzen des Formerfordernisses nachzudenken.
I. Abtretung durch den Gesellschaftsvertrag? 1. Der entschiedene Fall In dem vom BGH entschiedenen Fall8 ging es um die Abwicklung einer im Gesellschaftsvertrag der GmbH vorgesehenen Kündigung der Gesellschaft durch einen Gesellschafter. Nach der Satzung sollte die Kündigung zum Ausscheiden des kündigenden Gesellschafters führen und sein Anteil den übrigen Gesellschaftern proportional „anwachsen“, sofern sie untereinander nichts anderes vereinbaren. Die Gesellschaft hatte einen Teil der vorgesehenen Abfindungsentschädigung gezahlt. Danach wurde das Gesamtvollstreckungsverfahren über die GmbH eröffnet. Der Gesamtvollstreckungsverwalter klagte auf Rückzahlung der gezahlten Abfindungsbeträge. Das Berufungsgericht hatte der Klage, soweit sie in die Berufungsinstanz gelangt war, stattgegeben. Soweit die Begründung hier interessiert, ging sie dahin, die Gesellschaft habe die Gegenleistung nicht erhalten, weil die vom Berufungsgericht angenommene Einziehung mangels vollständiger Zahlung der Abfindung
__________ BGH, NJW-RR 2003, 826 (829) = GmbHR 2003, 171; BGH, DStR 1998, 539 (540). BGH, NJW-RR 2003, 1265 (1267) = GmbHR 2003, 1062 (1064); zustimmend Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 34 Rz. 41. 7 Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2003, 1230. 8 BGH, NJW-RR 2003, 1265 = GmbHR 2003, 1062 mit Anm. Blöse/Kleinert = DNotZ 2004, 62 mit Anm. Ruhwinkel; vgl. zu dieser Entscheidung auch Löwe, NZG 2003, 1005; G. H. Roth, LMK 2003, 229; Bayer/Graff, WuB II C § 15 GmbHG 1.04; Weipert, EWiR § 34 GmbHG 3/03, 1987. 5 6
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nicht wirksam geworden sei und der Beklagte deshalb Gesellschafter geblieben sei. Der BGH wies die Klage ab. Dass das Berufungsurteil nicht richtig war, ergibt sich schon aus dem vom BGH angeführten Grundsatz9, dass kein Schuldner aus seiner eigenen Zahlungsunfähigkeit Vorteile, wie etwa ein Rücktrittsrecht, herleiten kann. Die konkrete Begründung des vom BGH gefundenen Ergebnisses konnte aber unmittelbar am Gesellschaftsvertrag anknüpfen. Nach der Satzung sollte der Kündigende mit dem Wirksamwerden der Kündigung „austreten“. Ein „quasi synallagmatischer Zusammenhang zwischen Austritt und Zahlung der Abfindung“, wie ihn das Berufungsgericht angenommen hatte, war in der Satzung nicht vorgesehen. Die Satzung konnte, wie der BGH ausdrücklich hervorhebt, einen solchen Austritt unabhängig von der Zahlung der Abfindung vorsehen. Hiermit hätte es der BGH bewenden lassen können. Der Senat fährt dann aber fort. Er legt die Satzung dahin aus, die vorgesehene Anwachsung des Geschäftsanteils sei nicht dahin zu verstehen, dass der Geschäftsanteil eingezogen werde und sich dann der Nennwert der übrigen Geschäftsanteile entsprechend erhöhe10. Vielmehr sei die Satzung dahin zu verstehen, dass im Falle der Kündigung der Kündigende seinen Geschäftsanteil teile und auf die anderen Gesellschafter proportional übertrage. Eine solche Satzungsbestimmung sei möglich und genüge, da der Gesellschaftsvertrag selbst der notariellen Beurkundung bedurft habe, den Anforderungen des § 15 Abs. 3 GmbHG11. Ob die Auslegung des Senats überzeugt oder ob nicht doch diejenige des Berufungsgerichts eher das Richtige trifft, stehe hier dahin. Von weiter reichender Bedeutung ist die Aussage dazu, dass im Gesellschaftsvertrag selbst schon die Übertragung erfolgt sein könne. Die Entscheidung geht in diesem Punkt über frühere Entscheidungen hinaus, in denen angenommen wurde, im Gesellschaftsvertrag könne eine Verpflichtung zur Übertragung und ggf. zum Erwerb von Geschäftsanteilen begründet werden (darüber unten II.). Hier geht es zunächst darum, ob der Gesellschaftsvertrag, wie vom BGH entschieden, bereits die Abtretung vorsehen kann. In dem vom BGH entschiedenen Fall waren offensichtlich seit der Gründung der Gesellschaft keine Veränderungen des Gesellschaftsvertrages oder in den
__________ 9 BGH, NJW-RR 2003, 1265 (1266) = GmbHR 2003, 1062 (1063). 10 Zu dieser Folge einer Einziehung s. Priester in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 53
Rz. 151 m. w. N. 11 Wegen dieser angenommenen Abtretung an die Mitgesellschafter notiert der Senat
es als Merkwürdigkeit, die aber der Auslegung nicht entgegenstehe, dass die Gesellschaft die Abfindung zu zahlen habe, während der Anteil den verbleibenden Gesellschaftern zugute kommt. Die Wirkung wäre für die verbleibenden Gesellschafter indessen wirtschaftlich dieselbe, auch wenn der Geschäftsanteil eingezogen oder auf die Gesellschaft selbst übertragen worden wäre. Denn der Wert ihrer Beteiligung bestimmt sich nach dem Verhältnis ihres Anteils zu der Summe der bestehenden und nicht von der Gesellschaft selbst gehaltenen Geschäftsanteile.
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Gesellschafterverhältnissen eingetreten. Zu den im Folgenden aufgeworfenen Fragen, die gerade an die Änderung des Gesellschaftsvertrages oder der Beteiligungsverhältnisse anknüpfen, brauchte der BGH daher nicht Stellung zu nehmen. 2. Beurkundung im Gesellschaftsvertrag Die Abtretung bedarf gemäß § 15 Abs. 3 GmbHG der notariellen Beurkundung. Der Gesellschaftsvertrag bedarf gemäß § 2 GmbHG ebenfalls der notariellen Beurkundung. Da insoweit die gleiche Form vorgeschrieben ist, scheint sich daraus zwanglos die Möglichkeit zu ergeben, die Abtretung bereits im Gesellschaftsvertrag (mit entsprechenden Bedingungen) vorzusehen. Dies schwebte offenbar auch dem Senat vor12. Damit ist indessen noch nicht gesagt, dass der Gesellschaftsvertrag auch ein Verfügungsgeschäft zwischen dem kündigenden Gesellschafter und den Mitgesellschaftern hinsichtlich des Geschäftsanteils des kündigenden Gesellschafters enthält. Der Gesellschaftsvertrag bindet als Verfassung der GmbH nicht nur die ursprünglichen Gesellschafter, sondern alle, insbesondere auch künftige Gesellschafter13. Dies gilt indessen nur hinsichtlich der so genannten materiellen Bestandteile des Gesellschaftsvertrages im Sinne eines Organisationsvertrages14. Die Verfügung über den Geschäftsanteil eines Gesellschafters an die anderen Gesellschafter ist als solche nicht Bestandteil einer Verbandsverfassung oder einer Organisationsnorm15. Als Verbandsverfassung kann die Satzung daher den Übergang des Geschäftsanteils von einem Gesellschafter auf den anderen nicht bewirken16. Der BGH betont ebenfalls den korporativen Charakter der Satzungsbestimmung über die Kündigungsfolgen. Dies hat in der Entscheidung jedoch nur die Funktion, die Auslegungszuständigkeit des Senats zu begründen17. Dass er eine verbandsrechtlich wirkende Abtretung ohne individuelle Beteiligung des Zedenten habe annehmen wollen, ist auszuschließen. Denn dann läge gar keine Abtretung im Sinne des § 15 Abs. 3 GmbHG vor18; auf deren Erfordernisse käme es nicht an. Es kommt deshalb
__________
12 Insoweit zustimmend Ruhwinkel, DNotZ 2004, 65; ebenso schon OLG Celle, WM
1986, 161 (162), ohne dies zu problematisieren. 13 Unstreitig, s. nur Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992, § 2 Rz. 5; allge-
mein Flume, Die Juristische Person, 1983, § IX 1, S. 319. 14 Zur Unterscheidung von materiellen und formellen Satzungsbestandteilen s.
15
16 17 18
Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 2 Rz. 8; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 5 I 2c. Zur Rechtsnatur des Gesellschaftsvertrages und der herrschenden modifizierten Normentheorie s. Emmerich in Scholz, GmbHG, § 2 Rz. 3 ff.; Karsten Schmidt (Fn. 14), § 5 I 1c. Ebenso Ruhwinkel, DNotZ 2004, 65 (67 f.); a. M. Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2004, 630 (638). BGH, NJW-RR 2003, 1265 = GmbHR 2003, 1062. Ruhwinkel, DNotZ 2004, 65 (67 f.) bemerkt zutreffend, dass eine korporative Abtretung eine neue Übertragungsform wäre.
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darauf an, ob zwischen den Beteiligten ein solches Verfügungsgeschäft abgeschlossen wurde und ob die Bestimmung in dem Gesellschaftsvertrag die dafür erforderlichen Voraussetzungen erfüllt. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs kann der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag solche Verfügungen zwischen den ursprünglichen Gesellschaftern in sich aufnehmen. Ob das auch nach einem Gesellschafterwechsel gilt und auch dann, wenn die entsprechenden Bestimmungen erst durch Änderung des Gesellschaftsvertrages in diesen aufgenommen wurden, ist zweifelhaft19. Soll die vertragsmäßig im Gesellschaftsvertrag enthaltene aufschiebend bedingte Verfügung auch nach einem Gesellschafterwechsel greifen, so müsste der Gesellschaftsvertrag vorsehen, dass entsprechende Verfügungen und deren Annahme auch namens aller künftigen Gesellschafter erklärt werden20. Diese müssten in dem Zeitpunkt, zu dem sie Gesellschafter werden, dieses Handeln in ihrem Namen genehmigen. Die Anteilsabtretung müsste gemäß § 15 Abs. 5 GmbHG von dem Erfordernis abhängig gemacht werden, dass ein Erwerber eine solche Genehmigung erteilt. Entsprechend müsste für Kapitalerhöhungen vorgesehen werden, dass in der Übernahmeerklärung durch neue Gesellschafter eine entsprechende Genehmigungserklärung abzugeben ist. Weiterhin müssten die Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag die Gesellschaft bevollmächtigen, diese Genehmigungserklärungen namens der jeweiligen Gesellschafter entgegenzunehmen21; auch diese Vollmachten müssten neu hinzutretende Gesellschafter erteilen. Mit entsprechendem Formulierungsaufwand lässt sich dergleichen im Gesellschaftsvertrag vorsehen, er wird dadurch aber schon deutlich strapaziert. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn die entsprechenden Bestimmungen erst durch Satzungsänderung in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen werden sollen. Zwar bedarf die Satzungsänderung der notariellen Beurkundung. Diese kann jedoch auch durch Tatsachenbeurkundung gemäß §§ 36 ff. BeurkG erfolgen22; eine solche Beurkundung würde den Anforderungen an eine beurkundete Abtretung nicht genügen. Selbst wenn die Gesellschafterversammlung in der Form der Beurkundung von Willenserklärungen beurkundet wird, werden mit ihrer Beurkundung Stimmabgaben für die Satzungsänderung und nicht vertragsmäßige Verfügungen beurkundet. Durch eine Änderung des Gesellschaftsvertrages können rechtsgeschäftliche Verfügungen über die Geschäftsanteile daher nur dann in die Satzung aufgenommen werden, wenn die Änderung sowohl als (nach § 53 Abs. 3 GmbHG erforderlicher) Beschluss als auch als Vertrag beurkundet wird. Auch dies ist noch möglich.
__________ 19 Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 34 Rz. 116. 20 So der Vorschlag von Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2003, 1230 (1234). 21 Bedenken gegen eine korporative Bevollmächtigung äußert zutreffend Ruhwinkel,
DNotZ 2004, 65 (67). 22 Zimmermann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 53 Rz. 37 f.
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3. Bestimmtheitserfordernisse Wenn der Gesellschaftsvertrag die Abtretung enthalten soll, muss er auch den Bestimmtheitsanforderungen genügen. Hinsichtlich des Abtretungsobjektes lässt sich den Bestimmtheitsanforderungen dadurch genügen, dass der Geschäftsanteil – ggf. jeder einzelne Anteil des betroffenen Gesellschafters – an die anderen Gesellschafter nach dem Verhältnis der von ihnen gehaltenen Anteile abgetreten wird. Diese Lösung versagt freilich dann, wenn eine proportionale Aufteilung wegen der Anforderungen an den Mindestnennbetrag und die Teilbarkeit der Nennbeträge von Geschäftsanteilen nicht möglich ist. Die dann erforderlich werdenden Rundungen sind schwer im Voraus mit hinreichender Eindeutigkeit zu bestimmen. In dem vom BGH entschiedenen Fall23 hatte die Satzung vorgesehen, dass der Geschäftsanteil des Ausscheidenden den übrigen proportional anwächst, soweit sie untereinander nichts anderes vereinbaren. Eine solche Möglichkeit abweichender Vereinbarungen ist bei satzungsmäßigen Vorerwerbs- oder Vorkaufsrechten üblich. Im Zusammenhang mit einer antizipierten Abtretung führt sie aber zu Schwierigkeiten. Die abweichende Vereinbarung müsste jedenfalls vor dem Ausscheiden des Betroffenen, d. h. während des Laufs der Kündigungsfrist, getroffen werden. Denn die einmal erfolgte Abtretung kann nicht durch spätere Vereinbarungen hinfällig werden, wenn diese nicht alle Anforderungen an eine erneute Abtretung erfüllen. Die abweichende Vereinbarung zwischen den Mitgesellschaftern kann – selbst wenn sie notariell beurkundet ist – den Inhalt der in der Satzung enthaltenen bedingten Abtretung seitens des Ausscheidenden an die verbleibenden Gesellschafter nicht ändern und deshalb nicht bewirken, dass der Anteil des Ausscheidenden nach dem abweichenden zwischen den Mitgesellschaftern vereinbarten Verhältnis auf diese übergeht. Eine abweichende Vereinbarung hat demnach zur Folge, dass die in der Satzung enthaltene Abtretung nicht wirksam werden kann. Trotzdem wäre der Gesellschafter auch nach einer solchen abweichenden Vereinbarung mit dem Ablauf der Kündigungsfrist ausgeschieden. Die vom BGH ausdrücklich offen gelassene Frage, ob der von dem Ausgeschiedenen gehaltene Geschäftsanteil trägerlos wird oder der Gesellschaft treuhänderisch anfällt, würde dann relevant24.
__________ 23 NJW-RR 2003, 1265 = GmbHR 2003, 1062. 24 Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2004, 630 (635) meinen dagegen, der BGH
habe auch entschieden, dass im Falle einer solchen abweichenden Vereinbarung diese die im Gesellschaftsvertrag vorgesehene proportionale Zuordnung ersetze und die im Gesellschaftsvertrag enthaltene Abtretung entsprechend dieser abweichenden Vereinbarung wirksam werde.
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4. Inhalt der Abtretung Zur Wirksamkeit der Abtretung ist nicht nur erforderlich, dass das Abtretungsobjekt bestimmbar ist und der Abtretende und der Zessionar „irgendwie“ an dem Abtretungsgeschäft beteiligt sind. Diese Beteiligung ließe sich mit einigem Konstruktionsaufwand auch im Verhältnis zu späteren Gesellschaftern erreichen. Vielmehr ist Inhalt des – beurkundungsbedürftigen – Abtretungsvertrages die Bezeichnung dessen, der abtritt, und dessen, der erwirbt25. Denn die Abtretung lautet dahin, dass der Zedent an den Erwerber abtritt. Soll der Gesellschaftsvertrag die Abtretung enthalten, so wäre er also nicht nur in dem Sinne offen, dass noch nicht feststeht, für welchen Zedenten und welchen Erwerber die ursprünglichen Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag handeln. Die Offenheit beträfe auch den Inhalt der Abtretung, nämlich die Person des Zedenten und des Erwerbers. Soll die Abtretung im Gesellschaftsvertrag auch für künftige Gesellschafter gelten, so müsste sie also bei jedem Beteiligungswechsel ihren Inhalt verändern. Im Zeitpunkt des Bedingungseintritts steht zwar jeweils der Erwerber und der von ihm erworbene (Teil-)Geschäftsanteil fest. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich der Inhalt der (im Gesellschaftsvertrag beurkundeten) Abtretungsvereinbarung ständig ändert. Die Erstreckung einer im Gesellschaftsvertrag enthaltenen bedingten Abtretung lässt sich nicht mit der Figur erreichen, die neu hinzukommenden Gesellschafter träten in die schwebenden Abtretungsverträge ein26. Ein „Eintritt“ in die offenen Abtretungsverträge würde vielmehr voraussetzen, dass einerseits dem neu hinzutretenden Gesellschafter die Anwartschaft aus der im Gesellschaftsvertrag enthaltenen bedingten Abtretung abgetreten wird und andererseits er eine entsprechende Verfügung zu Gunsten der übrigen vornimmt. Erwirbt der neue Gesellschafter einen bestehenden Geschäftsanteil durch Abtretung, so kann eine neue Verfügung seinerseits nur schwer durch die Konstruktion ersetzt werden, er erwerbe einen Anteil, der Gegenstand einer vorangegangenen aufschiebend bedingten Abtretung sei, die ihn gemäß § 161 BGB binde. Die Bedingung der Abtretung müsste dafür so formuliert sein, dass sie sich auf den jeweiligen Inhaber des Anteils bezieht. Wenn die Gesellschafter bei der aufschiebend bedingten Abtretung und deren Annahme im Gesellschaftsvertrag auch im Namen aller künftigen Gesellschafter handeln, geht es um ein so genanntes offenes Geschäft für den,
__________ 25 H. Winter in Scholz, GmbHG, § 15 Rz. 40; Zutt in Hachenburg, GmbHG, 1992,
§ 15 Rz. 75; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 15 Rz. 21; Ebbing in Michalski, GmbHG, 2002, § 15 Rz. 116. 26 So – möglicherweise nur hinsichtlich des Verpflichtungsgeschäftes – Barth, GmbHR 2004, 383 (387), der in Fn. 28 a. a. O. meint, der Rechtsnachfolger könne und müsse in der Erwerbsurkunde den Eintritt regeln, da der korporative Charakter der Satzung keine verfügungsrechtliche Wirkung habe.
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den es angeht27, d. h. um ein Geschäft namens eines Dritten, der zurzeit noch nicht bestimmt ist. Ein solches Geschäft wird erst mit der Benennung des Dritten perfekt28. Deshalb ist nach allgemeiner Meinung eine Rückwirkung gemäß § 177 BGB auf einen Zeitpunkt vor der Benennung des Dritten nicht möglich29. Wird das Vertretergeschäft erst mit der Benennung des Vertretenen perfekt, so gehört diese Benennung in das Vertretergeschäft und unterliegt deshalb wie dieses der Form des § 15 Abs. 3 GmbHG30. Diesem Erfordernis kann der Gesellschaftsvertrag hinsichtlich künftiger Gesellschafter nicht genügen. Daran ändert auch die hier anzunehmende Bedingtheit des Vertretergeschäfts (der Abtretung) nichts. Denn zum Wesen eines bedingten Geschäfts gehört es, „daß das aufschiebend bedingte Rechtsgeschäft tatbestandlich mit seiner Vornahme vollendet ist – die Parteien daher fortan bindet – und seine Wirksamkeit mit dem Bedingungsfall ipso iure eintritt, ohne daß die Willenseinigung bis dahin Bestand haben müßte“31. Danach kann eine im Gesellschaftsvertrag enthaltene Abtretung für und zu Lasten später hinzutretender Gesellschafter Wirkung nur erlangen, wenn die später hinzukommenden Gesellschafter dem Gesellschaftsvertrag oder jedenfalls dem darin enthaltenen aufschiebend bedingten Verfügungsgeschäft in vertragsmäßiger Form unter Beteiligung der übrigen Gesellschafter beitreten. 5. Iteration Wenn eine statutarische Abtretung nicht nur für den ersten Fall wirken soll, muss eine weitere Merkwürdigkeit hinzukommen. Die durch den Gesellschaftsvertrag bewirkte aufschiebend bedingte Abtretung müsste nämlich dahin verstanden werden, dass sie nach Eintritt der Bedingung zu einer erneuten Abtretung des betroffenen Geschäftsanteils durch diejenigen führt, die aufgrund der ursprünglichen Abtretung den Geschäftsanteil nach Eintritt der Bedingung erwerben. Die ursprüngliche Abtretung würde also wie eine „Schleife“ in der Informationstechnik zu einer ständigen Wiederholung
__________ 27 So ausdrücklich Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2004, 630 (633), die dagegen
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keine Bedenken haben, in Auseinandersetzung mit Barth, GmbHR 2004, 383 (386). Zur Konstruktion des Geschäfts an den, den es angeht, s. Schilken in Staudinger, BGB, Bearb. 2004, Vor § 164, Rz. 51; Flume, Allgemeiner Teil II, 3. Aufl. 1979, § 44 II 1 a; Schramm in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 164 Rz. 20. Leptien in Soergel, BGB, 13. Aufl. 1999, vor § 164 Rz. 28. BGH, NJW 1998, 62 (63); Schramm in MünchKomm.BGB, § 164 Rz. 20; Schilken in Staudinger, BGB, vor § 164 Rz. 51; Leptien in Soergel, BGB, vor § 164 Rz. 28; Flume (Fn. 27), § 44 II 2 a, S. 772; Karsten Schmidt, JuS 1987, 425 (431). Ebenso Ruhwinkel, DNotZ 1994, 85 (66, Fn. 8); vgl. auch OLG Karlsruhe, NJW-RR 1989, 19, das ein Angebot an einen unbestimmten Adressatenkreis zum Abschluss eines formbedürftigen Vertrages erst mit der späteren ebenfalls formbedürftigen Benennung des Adressaten für wirksam hält. BGHZ 127, 129 (134); Heinrichs in Palandt, BGB, 63. Aufl. 2004, § 158 Rz. 2; M. Wolf in Soergel, BGB, 13. Aufl. 1999, § 158 Rz. 8; H. P. Westermann in MünchKomm.BGB, § 158 Rz. 38.
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Die Veräußerung von GmbH-Anteilen durch den Gesellschaftsvertrag
(jeweils nach Eintritt der Bedingung) der Abtretung führen. Es muss bezweifelt werden, dass eine gemäß § 15 Abs. 3 GmbHG beurkundete Abtretung in dieser Weise fortwirken und sich selbst wiederholen könnte. Diese Zweifel bestehen auch dann, wenn sich der Gesellschafterkreis nicht erweitert, sondern lediglich durch das Ausscheiden eines Gesellschafters verengt hat und dann einer der verbliebenen Gesellschafter durch Kündigung oder Ausschließung ausscheidet. 6. Abtretung an Dritte? Aufgrund der Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat ein oben schon mehrfach zitiertes Autorentrio Vorschläge erarbeitet, die Formerfordernisse für die Abtretung von GmbH-Anteilen und den zugrunde liegenden Verpflichtungsvertrag de lege lata für alle in Betracht kommenden Fälle vorab in der Satzung zu erfüllen und damit faktisch abzubedingen32. Die Autoren meinen, nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs könne durch entsprechende Bestimmungen in der Satzung das Formerfordernis ein für alle Mal für alle künftigen obligatorischen und dinglichen Anteilsabtretungen erfüllt werden. Die Gesellschafter bräuchten in der Satzung nur namens aller künftigen Personen, mit denen sie oder einer von ihnen einen privatschriftlichen Kaufvertrag abschließen, aufzutreten. Durch einen privatschriftlichen Kaufvertrag und Genehmigung des Vertragspartners würde dann die bereits im Gesellschaftsvertrag enthaltene Verpflichtung und Abtretung wirksam; auch der Erwerber werde entsprechend verpflichtet. Bei einer derart offenen Satzungsregelung würde weder die Person des Erwerbers noch der Gegenstand der Abtretung in der notariellen Form festgelegt, vielmehr bliebe all dies der späteren privatschriftlichen Regelung der Beteiligten vorbehalten. In dieser Weise kann aus den oben unter 2) bis 5) dargelegten Gründen der Form nicht genügt werden33. Man mag die Formvorschrift des § 15 Abs. 3 GmbHG missbilligen und ihre Abschaffung fordern. De lege lata lässt sie sich aber in dieser Weise nicht aushebeln.
II. Abtretungs- und Erwerbsverpflichtung durch die Satzung Kann die Satzung nur unter einengenden Voraussetzungen unmittelbar die Abtretung von Geschäftsanteilen bewirken und bestehen auch bei Erfüllung dieser Voraussetzungen grundlegende Bedenken gegenüber der Anerkennung einer solchen Abtretung, so ist damit noch nichts über die Möglichkeit ge-
__________ 32 Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2003, 1230; dagegen Barth, GmbHR 2004,
384 ff.; Replik von Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2004, 630 ff. 33 Ausführlich Barth, GmbHR 2004, 383.
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sagt, durch die Satzung eine Verpflichtung zur Abtretung oder zum Erwerb zu begründen. 1. Ausschluss und Kündigung Dass die Satzung für den Fall des Ausschlusses oder der satzungsgemäßen Kündigung eines Gesellschafters diesen verpflichten kann, den Anteil abzutreten, ist seit jeher anerkannt34. Ebenso kann die Satzung die Gesellschafterversammlung unter entsprechenden Voraussetzungen ermächtigen, den Gesellschafter zu einer solchen Abtretung zu verpflichten35; die Satzung kann die Gesellschafter auch ermächtigen, den Anteil eines Mitgesellschafters abzutreten und ihn dadurch aus der Gesellschaft auszuschließen36. In einigen Entscheidungen führt der Bundesgerichtshof dazu als Begründung an, dass in einem solchen Fall schon der Gesellschaftsvertrag eine Vereinbarung im Sinne des § 15 Abs. 4 GmbHG enthalte, die lediglich durch die weiteren Voraussetzungen aufschiebend bedingt sei. Diese Begründung ist missverständlich. Träfe sie zu oder käme es auf sie an, so wäre die Wirksamkeit der Verpflichtung im Einzelfall von den oben (I. 2.) zur Abtretung dargestellten Voraussetzungen abhängig. Es müsste auch dann im Einzelnen dargetan werden, dass eine solche Vereinbarung zwischen dem betroffenen Gesellschafter und den anderen im Zeitpunkt des Abtretungsverlangens an der Gesellschaft beteiligten Gesellschaftern besteht. a) Verbandsrechtliche Verpflichtung Die in der Satzung vorgesehene Abtretungsverpflichtung von solchen Voraussetzungen abhängig zu machen, wäre verfehlt. Es bedarf vielmehr in solchen Fällen nicht der Erfüllung der Form des § 15 Abs. 4 GmbHG. Die Abtretungsverpflichtung beruht nicht auf einer Vereinbarung, sondern ergibt sich unmittelbar aus der Satzung als korporationsrechtliche Verpflichtung jedes einzelnen Gesellschafters. So hat das auch das Reichsgericht in der ersten Entscheidung zu diesem Thema formuliert:
__________
34 RGZ 113, 147; BGH, NJW 1969, 2049; NJW 1986, 2642 = GmbHR 1986, 258; Goette,
Die GmbH, 2. Aufl. 2002, § 5 Rz. 88. 35 BGH, DStR 1998, 539. 36 BGH, NJW 1983, 2880 = GmbHR 1984, 74. Zur Frage, ob eine solche Ermächtigung
durch die Satzung verbandsrechtlich oder nur vertragsmäßig erteilt werden kann s. u. III. Nach dem mitgeteilten Sachverhalt und den Entscheidungsgründen erweckt diese Entscheidung den Eindruck, die Gesellschafter könnten durch Beschluss den Anteil selbst auf einen Erwerber übertragen; so wird die Entscheidung offenbar von Kleinert/Blöse/v. Xylander, GmbHR 2003, 1230 (1231) verstanden. Offensichtlich ist dies jedoch ein Missverständnis. Es ging in der Entscheidung nur darum, dass die Satzung die Gesellschafterversammlung ermächtigen kann, den Gesellschafter zu einer Abtretung zu verpflichten, s. z. B. BGH, DStR 1998, 539 mit Anm. Goette. Zur Frage, ob eine solche Ermächtigung korporativ oder nur individuell erteilt werden kann, s. unten unter III.
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Die Veräußerung von GmbH-Anteilen durch den Gesellschaftsvertrag „Die Abmachung unterlag daher nicht der Formvorschrift des § 15 Abs. 4 GmbHG, sondern als unlöslicher Bestandteil des Gesellschaftsvertrages ausschließlich der des § 2 daselbst …“37.
Lediglich als Hilfsüberlegung führte das Reichsgericht aus, dass auch der Vorschrift des § 15 Abs. 4 GmbHG genügt sei, weil der Gesellschaftsvertrag bereits notariell beurkundet war. Die Hauptbegründung des Reichsgerichts war richtig; der Hilfsbegründung bedurfte es nicht. Denn der Gesellschaftsvertrag kann unstreitig vorsehen, dass im Falle der Kündigung oder der Ausschließung der Geschäftsanteil des betroffenen Gesellschafters eingezogen werden kann. Der Einziehungsbeschluss bedarf weder der notariellen Beurkundung noch auch nur der Mitwirkung des betroffenen Gesellschafters38. Aufgrund der Satzungsregelung und eines entsprechenden Beschlusses der Gesellschafterversammlung verliert der Gesellschafter also seinen Geschäftsanteil in jedem Fall. Die Abtretung an andere Gesellschafter oder an einen von der Gesellschafterversammlung bestimmten Dritten ist nur eine andere Modalität der Durchführung seiner Ausschließung. Ebenso wenig wie die Ausschließung und Einziehung beruht seine Abtretungsverpflichtung in diesem Fall auf einer von ihm geschlossenen Vereinbarung. b) Folgen Die Begründung der Abtretungsverpflichtung als korporationsrechtliche Verpflichtung hat Auswirkungen. Die eine Folge davon ist bereits angesprochen: Die Verpflichtung besteht für jeden Gesellschafter und nicht nur für denjenigen, der diese Verpflichtung durch Abschluss des ursprünglichen Gesellschaftsvertrages oder anschließenden Beitritt in vertragsmäßiger Form übernommen hat. Die zweite Folge betrifft die Formbedürftigkeit für Absprachen hinsichtlich der zu leistenden Entschädigung. Der Bundesgerichtshof hat mehrfach entschieden, solche Absprachen unterlägen, wenn sie von dem im Gesellschaftsvertrag Vorgesehenen abwichen, dem Formerfordernis gemäß § 15 Abs. 4 GmbHG, weil dieser die Beurkundung des gesamten Vertrages erfordere39. Dies ist von dem Ausgangspunkt folgerichtig, dass in diesen Fällen der Rechtsgrund der Verpflichtung in einer bereits in der Satzung getroffenen Veräußerungsvereinbarung liege. Für Abweichungen von dem in der Satzung Vorgesehenen müssten dann die für Änderungen des Veräußerungsvertrages
__________ 37 RGZ 113, 147 (149); BGH, NJW 1986, 2642 = GmbHR 1986, 258; vgl. auch
H. Winter in Scholz, GmbHG, § 15 Rz. 55; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 15 Rz. 32. 38 Im Fall der Zwangseinziehung BGHZ 9, 157 (176); OLG Celle, NJW-RR 1998, 175 (176) = GmbHR 1998, 140 (141); Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 34 Rz. 12; differenzierend H. P. Westermann in MünchKomm.BGB, § 34 Rz. 40; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 34 Rz. 49, 52. 39 BGH, NJW 1969, 2049; NJW 1986, 2642 = GmbHR 1986, 258.
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geltenden Grundsätze anwendbar sein. Diese erfordern eine notarielle Beurkundung der Änderung, wenn sie vor der Abtretung vereinbart wird40. Ist dagegen die Abtretungsverpflichtung verbandsrechtlich begründet, so sind die zu § 15 Abs. 4 GmbHG entwickelten Grundsätze auf sie nicht anzuwenden. Der betroffene Gesellschafter kann sich mit der Gesellschaft oder Dritten formfrei über eine von dem Gesellschaftsvertrag abweichende Abfindung einigen, ebenso wie er dies im Falle der Einziehung könnte. Dies gilt allerdings nicht für die Voraussetzungen und den Gegenstand der Abtretungsverpflichtung. Soll insoweit eine Abweichung von dem in der Satzung Vorgesehenen vereinbart werden, beispielsweise durch Verkürzung der Kündigungsfrist, so bedarf es für diese in der Satzung nicht vorgesehene vorverlegte Abtretungsverpflichtung der notariellen Beurkundung. Knüpft in einer GmbH & Co. KG aber die Verpflichtung zur Abtretung des GmbH-Anteils daran an, dass der Gesellschafter nicht mehr an der Kommanditgesellschaft beteiligt ist, so kann ein Ausscheiden aus der Kommanditgesellschaft formfrei auch ohne Einhaltung der im KG-Vertrag vorgesehenen Kündigungsfristen mit der Folge vereinbart werden, dass danach die Abtretungspflicht besteht. Ist nach dem Gesellschaftsvertrag der Geschäftsanteil nur Zug um Zug gegen Zahlung der im Gesellschaftsvertrag festgelegten Abfindung abzutreten, so würde die Vereinbarung einer abweichenden Abfindung oder auch der Verzicht auf die Zug-um-Zug-Leistung von den satzungsmäßigen Voraussetzungen der Abtretung, nicht aber der Abtretungsverpflichtung, abweichen. Sie sollten ebenso wie der Verzicht auf eine den Verzichtenden begünstigende Bedingung41 formlos möglich sein. c) Erwerbspflicht In der Regel wird der Gesellschaftsvertrag die übrigen Gesellschafter nicht zum Erwerb des Geschäftsanteils verpflichten, sondern vorsehen, dass die Gesellschafter ein Erwerbsrecht haben und diejenigen, die den Anteil erwerben, zur Zahlung der vorgesehenen Abfindung verpflichtet sind. Eine unbedingte Verpflichtung der übrigen Gesellschafter, den Anteil zu erwerben und zu vergüten, könnte durchaus begründet werden42. Dann muss der Gesellschaftsvertrag verbandsrechtlich auch die Verpflichtung zum Erwerb unter der Bedingung einer Erwerbserklärung begründen können. Ist eine solche Verpflichtung dem Gesellschaftsvertrag zu entnehmen, so lässt sich die Wirksamkeit wiederum besser und einheitlicher mit der Annahme einer korporationsrechtlichen Verpflichtung als mit einer durch den Gesellschaftsvertrag
__________ 40 Zutt in Hachenburg, GmbHG, § 15 Rz. 50, 72; H. Winter in Scholz, GmbHG, § 15
Rz. 69; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 15 Rz. 29. 41 BGH, NJW-RR 1989, 291 = GmbHR 1989, 194. 42 Zutt in Hachenburg, GmbHG, Anh § 15 Rz. 29; vgl. zur nachträglichen Vereinba-
rung von Vorkaufsrechten durch Satzungsänderung Priester in Scholz, GmbHG, § 53 Rz. 178; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 53 Rz. 126.
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Die Veräußerung von GmbH-Anteilen durch den Gesellschaftsvertrag
eingegangenen vertraglichen Verpflichtung begründen. In dem vom Reichsgericht entschiedenen Fall43 ging es tatsächlich nicht um die Abtretungsverpflichtung, sondern um die Erwerbsverpflichtung des Mitgesellschafters, der telegrafisch und mittels Einschreibebrief erklärt hatte, er übe das Übernahmerecht hinsichtlich des Geschäftsanteils des kündigenden Gesellschafters aus. Das Reichsgericht verurteilte ihn mit der oben zitierten Begründung. 2. Voranbietungspflichten Außerhalb der Fälle des Ausschlusses und der Kündigung ergibt sich die Frage nach einer durch den Gesellschaftsvertrag begründeten Abtretungs- oder Erwerbsverpflichtung vornehmlich im Zusammenhang mit Vinkulierungsabsprachen. Häufig sehen diese vor, dass ein Gesellschafter, der seinen Anteil veräußern will, ihn zunächst den anderen Gesellschaftern anzubieten habe und den Anteil nur dann an Dritte abtreten könne oder dürfe, wenn (und soweit) die Mitgesellschafter sein Angebot nicht (insgesamt oder teilweise) angenommen haben44. Bei gesellschaftsvertraglichen Regelungen dieser Art stellt sich die Frage, ob das Angebot des veräußerungswilligen Gesellschafters und ggf. die Annahmeerklärung der Mitgesellschafter der notariellen Beurkundung bedürfen. Dabei sind zwei Fragen zu unterscheiden, nämlich einmal, ob das Angebot oder die Annahme auch ohne notarielle Beurkundung rechtsverbindlich ist, d. h. eine Veräußerungs- bzw. Erwerbspflicht begründet und, verneinendenfalls, ob ein mangels notarieller Beurkundung unverbindliches Angebot den Anforderungen der Voranbietungspflicht genügt oder nicht. Die letztere Frage wird durch Gesellschaftsverträge häufig dahin entschieden, dass ein solches Angebot durch eingeschriebenen Brief oder durch notarielle Urkunde zu erfolgen habe45. Ob das Angebot durch eingeschriebenen Brief rechtsverbindlich ist, ist damit nicht gesagt. Enthält der Gesellschaftsvertrag keine näheren Bestimmungen über die Art des Angebotes, so stellen sich beide Fragen. a) Verbindlichkeit In der Literatur war schon früher die Meinung vorherrschend, das Angebot bedürfe nicht der notariellen Beurkundung, denn der Gesellschaftsvertrag enthalte bereits die durch Anzeige der Veräußerungsabsicht und die Annahmeerklärung bedingte Veräußerungsvereinbarung46. Der Gesellschafts-
__________ 43 RGZ 113, 147. 44 H. Winter in Scholz, GmbHG, § 15 Rz. 55; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 34
Rz. 114 f.; Ebbing in Michalski, GmbHG, § 15 Rz. 77. 45 S. die Formulierungsvorschläge bei Seibt in Römermann (Hrsg.), Münchener An-
waltshdb. GmbH, 2002, § 2 Rz. 217. 46 Zutt in Hachenburg, GmbHG, § 15 Rz. 30, Anh. § 15 Rz. 28; H. Winter in Scholz,
GmbHG, § 15 Rz. 87; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 34 Rz. 115.
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vertrag müsse aber alle Einzelheiten bestimmen oder bestimmbar vorsehen47. Nun hat der Bundesgerichtshof sich zu einem solchen Fall geäußert48. Der Gesellschaftsvertrag sah eine Angebotspflicht ohne nähere Bestimmungen über die Form des Angebotes vor. Ein Gesellschafter hatte privatschriftlich seine Beteiligung angeboten. In dem anschließenden Rechtstreit ging es auch darum, ob das Verfahren der Voranbietung ordnungsgemäß durchlaufen worden war. Der Bundesgerichtshof bejahte dies und führt dazu u. a. aus: „Entgegen der Ansicht der Revision bedurfte das Angebot hinsichtlich des GmbHAnteils keiner notariellen Beurkundung nach § 15 Abs. 4 GmbHG, weil die Verpflichtung dazu schon in dem (notariellen) Gesellschaftsvertrag begründet worden ist, der dem Veräußerer die Bestimmung des Kaufpreises überläßt (§ 316 BGB). Die Andienung entspricht hier einer formfreien Anfrage, ob der Berechtigte, sein – bereits in der Satzung begründetes – Recht ausübt (vgl. Zutt [Fn. 25], § 15 Rz. 20, Anh. § 15 Rz. 29).“
In der Entscheidung des Bundesgerichtshofs kam es nur darauf an, ob das Verfahren der Voranbietung ordnungsgemäß durchgeführt worden war. Der BGH meint aber, wie sein Hinweis auf die Erfüllung der Form durch den Gesellschaftsvertrag ergibt, das privatschriftliche Angebot sei rechtsverbindlich gewesen49. In der Tat wäre ein Voranbietungsverfahren, wie es in dem vom Senat entschiedenen Fall vorgeschrieben war, misslich, wenn das Angebot und ggf. auch die Annahmeerklärungen seitens der Mitgesellschafter nicht rechtsverbindlich wären. Die Mitgesellschafter, denen das Angebot unterbreitet wurde, haben u. U. erhebliche Anstrengungen zur Finanzierung des von ihnen zu erbringenden Kaufpreises unternommen. Es wäre ihnen kaum zuzumuten, derartige Anstrengungen zu erbringen, wenn sie nicht sicher sein können, dass das Angebot verbindlich ist. Umgekehrt muss auch die Annahmeerklärung im Interesse des veräußerungswilligen Gesellschafters verbindlich sein. Er mag mit einem anderen Interessenten eine bestimmte Wartefrist zur Durchführung des Voranbietungsverfahrens vereinbart haben und ihm dann mit Rücksicht auf Annahmeerklärungen der anderen Gesellschafter abgesagt haben. Wenn die anderen Gesellschafter dann die Beteiligung tatsächlich nicht abnehmen und die Unverbindlichkeit geltend machen, hätte der veräußerungswillige Gesellschafter eine wesentliche, und vielleicht die einzige, Geschäftschance verpasst. Sachgerecht muss deshalb ein Angebot und auch die Annahmeerklärung im Rahmen eines solchen Verfahrens rechtsverbindlich sein. Was zur Rechtsverbindlichkeit eines solchen Angebots erforderlich ist, ist damit noch nicht gesagt.
__________ 47 Zutt in Hachenburg, GmbHG, § 15 Rz. 30, Anh. § 15 Rz. 28; H. Winter in Scholz,
GmbHG, § 15 Rz. 87. 48 BGH, NJW-RR 2003, 826 = GmbHR 2003, 171. 49 Ebenso Zutt in Hachenburg, GmbHG, Anh § 15 Rz. 29.
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Die Veräußerung von GmbH-Anteilen durch den Gesellschaftsvertrag
b) Vertragsmäßige Bestimmung der Gegenleistung? Der Senat geht, wie auch in den anderen Fällen und wie die Literatur, davon aus, dass in dem Gesellschaftsvertrag bereits die Erfüllung der Form des § 15 Abs. 4 GmbHG liege. Das kann von vornherein nur in den oben (I. 2.) dargelegten Grenzen angenommen werden. Ob aus dem Gesellschaftsvertrag auch eine Verpflichtung derjenigen, die formlos die Annahme des Angebots erklärt haben, entnommen werden kann, ist nach den Ausführungen des BGH noch nicht gesagt – es kam darauf nicht an, weil die dortige Klägerin eben nicht angenommen hatte. Schwierigkeiten bereitet in dieser Konstruktion die Bestimmung der Gegenleistung, da diese naturgemäß im Gesellschaftsvertrag nicht vorgesehen ist. Der BGH zieht dafür § 316 BGB heran: Die Gegenleistung kann danach im Zweifel von demjenigen festgelegt werden, der sie zu fordern hat, also dem Anbietenden. Dies würde indessen bedeuten, dass die in dem Angebot „bestimmte“ Gegenleistung der Billigkeitskontrolle gemäß § 315 Abs. 3 BGB unterläge und ggf. durch Urteil ersetzt werden könnte. Dies entspricht gewiss nicht der Vorstellung der Beteiligten. Zwar liegt die Möglichkeit einer späteren erfolgreichen Anfechtung der getroffenen Bestimmung mit der Begründung der Unbilligkeit auf den ersten Blick fern, wenn doch die anderen Gesellschafter angenommen haben. In der Konstruktion des BGH könnten die anderen Gesellschafter jedoch das Angebot auch mit dem Vorbehalt annehmen, die Gegenleistung durch das Gericht gemäß § 315 BGB überprüfen zu lassen. Dies wäre dann keine Annahme unter Einschränkungen (§ 150 Abs. 2 BGB), weil nach Auffassung des BGH der Vertrag ja bereits durch den Gesellschaftsvertrag potestativ bedingt zustande gekommen wäre und es gar nicht um Angebot und Annahme im Rechtssinne ginge. Die Annahme, die Gegenleistung könne in diesen Fällen über § 316 BGB bestimmt werden, geht daher fehl. Vielmehr entspricht es dem Sinn und dem natürlichen Willen der Beteiligten, dass die Mitgesellschafter das Angebot so, wie es ihnen unterbreitet wird, annehmen oder ablehnen können, ohne die Möglichkeit einer anschließenden Billigkeitskontrolle hinsichtlich des Preises50. Soll der Gesellschaftsvertrag als (aufschiebend bedingter) Veräußerungsvertrag im Sinne des § 15 Abs. 4 GmbHG gelten, so kann er deshalb die Form nicht erfüllen, weil ein wesentlicher Bestandteil, nämlich die Gegenleistung, nicht bestimmt und außer durch spätere Parteierklärungen, nämlich eben das Angebot, auch nicht bestimmbar ist. Den Anforderungen des § 15 Abs. 4 GmbHG wäre damit nicht genügt.
__________ 50 Zutt in Hachenburg, GmbHG, Anh § 15 Rz. 29 geht davon aus, dass bei fehlender
Vereinbarung in der Regel der Verkehrswert des Geschäftsanteils als stillschweigend vereinbart gelten müsse.
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c) Verbandsrechtliche Bindung Diese Frage stellt sich anders, wenn man die Rechte und Pflichten aus einem solchen Voranbietungsverfahren als korporationsrechtliche Verpflichtungen versteht. Die üblichen Voranbietungsregeln in Gesellschaftsverträgen könnten um den Satz ergänzt werden, dass die Beteiligten, der anbietende Gesellschafter und diejenigen Mitgesellschafter, die das Angebot angenommen haben, verbandsrechtlich verpflichtet sind, den Verkauf zu den Bedingungen des Angebotes durchzuführen. Es bleibt dann die Frage, ob eine solche gesellschaftsrechtliche Regelung mit dem Sinn des § 15 Abs. 4 GmbHG vereinbar ist. Der Bundesgerichtshof hat die Frage implizit mit seiner Konstruktion bejaht. Besinnt man sich auf den Zweck der Formvorschrift – den spekulativen Handel mit GmbH-Anteilen zu beschränken –, so wird deutlich, dass dieser Zweck durch eine solche Verpflichtung zwischen den Gesellschaftern nicht berührt ist. Der Aspekt der Rechtsklarheit spielt bei den hier in Frage stehenden Verpflichtungen (auch wenn sie korporationsrechtlich begründet sind) keine Rolle. Die Verpflichtung müsste jedenfalls noch durch eine ordnungsgemäß beurkundete Abtretungsvereinbarung erfüllt werden51. Der Gesellschaftsvertrag kann nach allem eine korporationsrechtliche Verpflichtung begründen, Geschäftsanteile, die (privatschriftlich) in der im Gesellschaftsvertrag vorgesehenen Weise den Mitgesellschaftern angeboten und angenommen wurden, dann auch zu den Bedingungen eines solchen Angebotes abzutreten und zu erwerben. Ob die üblichen Voranbietungspflichten in Gesellschaftsverträgen in dieser Weise zu verstehen sind, ist eine Frage der Auslegung des Einzelvertrages.
III. Ermächtigung Zwischen der Abtretung durch die Satzung und der verbandsrechtlichen durch die Satzung begründeten Verpflichtung zur Abtretung und zum Erwerb liegt eine durch die Satzung verbandsrechtlich bestimmte Ermächtigung der Gesellschaft, nach Eintritt entsprechender Voraussetzungen (gegebenenfalls einschließlich eines Gesellschafterbeschlusses) über den Anteil des Gesellschafters zu verfügen. Aufgrund einer solchen Ermächtigung könnte dann die Gesellschaft (in notarieller Urkunde) beispielsweise nach einem Ausschließungsbeschluss den Geschäftsanteil des betroffenen Gesellschafters an einen Dritten abtreten. Als nichtkorporativer Satzungsbestandteil kann die Satzung eine Ermächtigung des Gesellschafters an die Gesellschaft vorsehen52. Dafür gelten dann dieselben Grundsätze und Einschränkungen wie sie oben unter I. 2. darge-
__________ 51 Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 34 Rz. 115. 52 Einen solchen Fall betraf offenbar die Entscheidung BGH, NJW 1983, 2880 = GmbHR
1984, 74.
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Die Veräußerung von GmbH-Anteilen durch den Gesellschaftsvertrag
stellt sind. Immerhin entfällt bei einer Ermächtigung das zusätzliche Problem der Beteiligung des Erwerbers53. Deshalb könnte aufgrund einer gesellschaftsvertraglich von dem einzelnen Gesellschafter erteilten Ermächtigung der Anteil auch auf einen Dritten übertragen werden. Fraglich ist, ob eine Ermächtigung auch verbandsrechtlich erteilt werden kann mit der Folge, dass sie auch als Ermächtigung jedes neu eintretenden Gesellschafters gilt. Eine solche Möglichkeit kann ebenso wenig wie eine verbandsrechtlich wirkende Verfügung angenommen werden. Allerdings kann der Geschäftsanteil dem Gesellschafter aufgrund einer entsprechenden verbandsrechtlich wirkenden Satzungsbestimmung54 oder durch Urteil55 mit der Folge eingezogen werden, dass der Anteil wie bei einer Kaduzierung trägerlos wird56. Für diesen Fall kann die Gesellschaft durch die Satzung57 oder durch Urteil58 zur Verfügung über den Anteil ermächtigt werden. Das ist dann aber keine Ermächtigung durch den (früheren) Gesellschafter.
IV. Gesamtergebnis 1. Die Satzung einer GmbH kann vertraglich, nicht aber korporativ die künftige Abtretung von Geschäftsanteilen zwischen den ursprünglichen Gesellschaftern enthalten. Die Einbeziehung später durch Kapitalerhöhung oder Anteilserwerb hinzutretender Gesellschafter in solche Abtretungsvereinbarungen bedarf der beurkundeten Vereinbarung mit den jeweiligen Gesellschaftern. Auch soweit dies formal möglich ist, ist Zurückhaltung gegenüber der Annahme entsprechender potestativ bedingter antizipierter Abtretungsvereinbarungen in der Satzung geboten. Abtretungen an unbenannte Dritte kann die Satzung nicht vorwegnehmen. 2. Korporationsrechtliche Verpflichtungen zur Übertragung und zum Erwerb von Geschäftsanteilen zwischen Gesellschaftern können in der Satzung ohne diese Beschränkungen begründet werden. Die Satzung kann die Bedingungen für eine solche Verpflichtung bestimmen; sie können auch potestativ in der Weise festgelegt werden, dass nicht beurkundete Willensäußerungen des Veräußerers und des Erwerbers für die Verpflichtung erforderlich und
__________ 53 Wegen fehlender Bestimmbarkeit des Erwerbers die Verfügungsermächtigung vor-
schlagend Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 34 Rz. 116. 54 BGHZ 32, 17 (23). 55 BGHZ 9, 157. 56 Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Anh. § 34 Rz. 37; H. Winter in Scholz, GmbHG,
§ 15 Rz. 149. 57 Was ohne Satzungsbestimmung nur durch Klage und Urteil erreicht werden kann,
kann aufgrund Satzung beispielsweise durch Gesellschafterbeschluss erfolgen. H. Winter in Scholz, GmbHG, § 15 Rz. 152; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Anh. § 34 Rz. 38. 58 H. Winter in Scholz, GmbHG, § 15 Rz. 149; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, Anh. § 34 Rz. 37.
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Georg Maier-Reimer
ausreichend sind. Die sich daraus ergebende Verpflichtung ist keine vertragliche Veräußerungspflicht im Sinne des § 15 Abs. 4 GmbHG. Vereinbarungen über die Gegenleistung können deshalb auch abweichend von der Satzung formfrei rechtswirksam getroffen werden, sofern die Gegenleistung nicht Bestandteil der satzungsmäßigen Bedingung der Veräußerungs-/Erwerbspflicht ist. 3. Eine in der Satzung enthaltene Ermächtigung der Gesellschaft zur Abtretung des Geschäftsanteils ist nur vertraglich, nicht aber korporativ möglich.
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Reinhard Marsch-Barner
Aktuelle Rechtsfragen zur Vergütung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer AG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Vorstandsvergütung 1. Gebot der Angemessenheit 2. Begrenzung der Bezüge 3. Nachträgliche Erhöhung der Vergütung 4. Bedeutung des Unternehmensinteresses 5. Offenlegung 6. Auskunftsrecht in der Hauptversammlung 7. Entwicklung von Verfahrensregeln 8. Bestandteile der Vergütung a) Feste und variable Vergütung b) Aktienoptionsprogramme c) Andere aktienbezogene Vergütungsformen
d) Mitwirkung der Hauptversammlung III. Vergütung des Aufsichtsrats 1. Differenzierung nach den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder 2. Art der Vergütung a) Feste Vergütung b) Variable Vergütung aa) Dividendenabhängige Tantieme bb) Langfristige Erfolgsorientierung 3. Offenlegung der Vergütung IV. Ausblick
I. Einleitung Die Vergütung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrates einer AG hat in der rechtswissenschaftlichen Literatur lange Zeit nur geringe Beachtung gefunden1. Erst in neuerer Zeit mehren sich die Darstellungen, vor allem zu den Formen der variablen Vergütung2. Auch die Rechtsprechung hat sich im Aktienrecht – anders als im GmbH-Recht – nur hin und wieder mit Vergütungsfragen befasst3. In jüngster Zeit hatte der Bundesgerichtshof Gelegenheit, sich zur Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern in Form von
__________
Vgl. Tegtmeier, Die Vergütung von Vorstandsmitgliedern in Publikumsaktiengesellschaften, 1998. 2 Vgl. z. B. Adams, Aktienoptionspläne und Vorstandsvergütungen, ZIP 2002, 1325; Binz/Sorg, Erfolgsabhängige Vergütungen von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft auf dem Prüfstand, BB 2002, 1273; Dreher, Vergütung, Versorgung und Absicherung von Vorstandsmitgliedern in der Aktiengesellschaft, Gesellschaftsrecht 2003, RWS-Forum 25, 2004, S. 203; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797; Thüsing, Auf der Suche nach dem iustum pretium der Vorstandstätigkeit, ZGR 2003, 457. 3 Vgl. z. B. BGH, WM 1978, 109 zum Insolvenzschutz von Versorgungsbezügen, BGH, NJW 2000, 2998 zur Vereinbarung einer dividendenabhängigen Tantieme und BGH, ZIP 2003, 722 zu einer Tantieme nach dem cash flow. 1
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Reinhard Marsch-Barner
Aktienoptionen zu äußern4. Er hat diese Gelegenheit – nicht ohne kritische Resonanz aus Wissenschaft und Praxis5 – genutzt, um einige grundsätzliche Überlegungen zur Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern anzustellen6. In der Öffentlichkeit sind Vergütungsfragen schon seit längerem Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Dabei geht es vor allem um die Vergütung der Vorstandsmitglieder der börsennotierten Gesellschaften. Diese wird vielfach generell oder im Einzelfall als zu hoch empfunden. Tatsächlich ist die Vergütung der Vorstandsmitglieder in den letzten Jahren erheblich gestiegen7. Vertreter institutioneller Investoren sind dennoch der Meinung, die Vorstände der deutschen Konzerne seien im weltweiten Vergleich nicht überbezahlt8. Tatsächlich wird in der öffentlichen Diskussion auch zu wenig unterschieden, nach welchen Kriterien eine bestimmte Vergütung gezahlt wird, in welchem Verhältnis sie zu den Erträgen der Gesellschaft steht und wie hoch die Vergütung der Vorstände bei den unmittelbaren Wettbewerbern im Inund Ausland ist. Im Übrigen ist die Vorstellung von einem „gerechten“ Gehalt von subjektiven Wertungen bestimmt und deshalb nur begrenzt objektivierbar. Die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder wird in der Öffentlichkeit weniger kritisch gesehen. In verschiedenen Studien ist sogar eine Erhöhung der Aufsichtsratsvergütung gefordert worden, um die gewünschte Professionalisierung der Aufsichtsräte zu erreichen. Tatsächlich wurde bei vielen Gesellschaften die Aufsichtsratsvergütung in jüngster Zeit in Anpassung an den Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) neu strukturiert und im Ergebnis teilweise nicht unerheblich angehoben9. Diese Entwicklung scheint weithin akzeptiert zu sein. Trotz der anhaltenden Diskussion und der zahlreichen Regulierungsvorhaben auch zum Aktienrecht10 hat der Gesetzgeber Vergütungsfragen bislang
__________ 4 BGH, ZIP 2004, 613. 5 Abl. z. B. Vetter, AG 2004, 234; Richter, BB 2004, 949 und Fuchs, WM 2004, 2233;
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zustimmend z. B. Habersack, ZGR 2004, 721; für eine gesetzliche Klarstellung Bürgers, NJW 2004, 3022 (3026) und Paefgen, WM 2004, 1169 (1175). S. dazu näher unten III 2 b) bb). Vgl. die Gehaltsstudie von Hay, wonach die Vorstände deutscher Unternehmen rd. 30% mehr verdienen als ihre Kollegen in Frankreich, den Niederlanden, Italien oder Großbritannien, Handelsblatt v. 26.11.2004, S. 1. Vgl. z. B. den Beitrag „Investoren: Vorstandsbezüge sind angemessen“, Die Welt v. 16.4.2004 sowie Gespräch mit Personalberater Ensser, Die Welt v. 8.10.2004; s. auch Hansen, AuR 12/04, S. 36 (37). Zu den teilweise erheblichen Unterschieden bei den börsennotierten Gesellschaften Nöcker, FAZ v.2.12.2004, S. 22 und Börsen-Zeitung v. 2.12.2004, S. 13. Vgl. insbesondere den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 17.11.2004 sowie den – zunächst wieder zurückgezogenen – Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Haftung für falsche Kapitalmarktinformationen (KapInHaG) v. 7.10.2004; s. dazu auch DAV-Stellungnahme, ZIP 2004, 2348.
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nicht aufgegriffen. Demgegenüber hat der Deutsche Corporate Governance Kodex versucht, über das geltende Recht hinaus eine individuelle Offenlegung der Vergütung und eine stärkere Ausdifferenzierung der Vergütungsstruktur zu erreichen11. Seitdem stellt sich immer wieder die Frage, ob und gegebenenfalls wie diese Ansätze vom Gesetz- oder Kodexgeber weiterentwickelt werden sollten.
II. Vorstandsvergütung 1. Gebot der Angemessenheit Nach § 87 AktG obliegt die Festsetzung der Vorstandsvergütung dem Aufsichtsrat. Dieser ist in der Ausgestaltung grundsätzlich frei, allerdings hat er dafür zu sorgen, dass die jeweiligen Gesamtbezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen (§ 87 Abs. 1 Satz 1 AktG). Die sich daraus ergebende Begrenzung ist allerdings kein gesetzliches Verbot, sondern stellt nur eine Verhaltensrichtlinie für den Aufsichtsrat dar. Ein Verstoß gegen das Angemessenheitsverbot führt zu einer Schadensersatzpflicht (§§ 93 Abs. 2, 116 AktG). Die Vergütungsvereinbarung selbst bleibt dagegen wirksam. Unwirksam ist die Vereinbarung unangemessen hoher Bezüge erst dann, wenn sie sittenwidrig ist, also ein Verstoß gegen § 138 BGB vorliegt12. 2. Begrenzung der Bezüge Eine bestimmte Obergrenze für die Vorstandsvergütung sieht das Gesetz nicht vor. Die Bundesregierung hatte in ihrem 10-Punkte-Programm „Anlegerschutz und Unternehmensintegrität“ v. 25.2.2003 in Ziffer 3 erklärt, für die Vergütung der Organe könnten sich Höchstbeträge, sog. caps, durch gesetzgeberische Maßnahmen empfehlen13. Weitere Überlegungen sind dann aber offenbar nicht angestellt worden. Allen Vorschlägen zur Einführung einer bestimmten Obergrenze wie zum Beispiel des Einhundertfünfzigfachen eines Facharbeitergehalts14 haftet auch etwas Willkürliches an. Dies gilt auch für den Vorschlag, die Berechnungsgrundlagen der Vergütung in der Satzung festzulegen und dabei deren maximale Höhe durch einen Bezug zum Durch-
__________ 11 Vgl. die Ziff. 4.2.4 Satz 2 und 5.4.5 Abs. 3 Satz 1 DCGK zur Offenlegung und Ziff.
4.2.3 und 5.4.5 Abs. 2 DCGK zur Struktur der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung. 12 Vgl. Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, Bd. 3, 2. Aufl. 2004, § 87 Rz. 25; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 87 Rz. 5; Mertens in KölnKomm.AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 1996, § 87 Rz. 3; Thüsing, DB 2003, 1612. 13 Vgl. Seibert, BB 2003, 693 (695). 14 So der Vorschlag von Adams, ZIP 2002, 1325 (1343).
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schnittseinkommen aller Beschäftigten im Unternehmen zu definieren15. Eine sinnvolle Konkretisierung des Angemessenheitsgebotes dürfte sich auf diesem Wege kaum erreichen lassen16. Nach geltendem Recht liegt die Zuständigkeit für die Vergütung der Vorstandsmitglieder allein beim Aufsichtsrat (§§ 84, 87 AktG)17. Vorgaben der Satzung für die Vergütungsentscheidungen des Aufsichtsrats wären deshalb ein Eingriff in dessen Zuständigkeit. Die Satzung kann zur Höhe und Zusammensetzung der Vorstandsvergütung allenfalls unverbindliche Empfehlungen vorsehen18. Eine Begrenzung zumindest der Bezüge aus Aktienoptionen und vergleichbaren Gestaltungen versucht der Kodex dadurch zu erreichen, dass er den Aufsichtsräten empfiehlt, für außerordentliche, nicht vorhergesehene Entwicklungen eine Begrenzungsmöglichkeit zu vereinbaren (vgl. Ziff. 4.2.3 Abs. 2 Satz 4 DCGK). Diese Empfehlung wurde 2003 von 96,4% der DAX-Unternehmen und von 62,74% aller börsennotierten Gesellschaften befolgt19. Allerdings verlangt die Empfehlung des Kodex keine feste Obergrenze, sondern begnügt sich mit der Vereinbarung einer Begrenzungsmöglichkeit. Dafür reicht es beispielsweise aus, wenn im Anstellungsvertrag der Vorstandsmitglieder vereinbart wird, dass bei Eintritt außerordentlicher, nicht vorhergesehener Entwicklungen über eine Begrenzung gesprochen wird (sog. Sprechklausel). Als Eckpunkte einer angemessenen Vergütung bestimmt § 87 Abs. 1 AktG die Aufgaben des Vorstands auf der einen und die Lage der Gesellschaft auf der anderen Seite. Dazwischen gibt es zwar einen breiten Ermessensspielraum. Dieser Spielraum kann theoretisch aber „auf null“ reduziert sein. So hat das LG Düsseldorf in der Strafsache Mannesmann die Auffassung vertreten, der Präsidialausschuss des Aufsichtsrates der Gesellschaft habe wegen der Übernahme der Gesellschaft durch Vodafone keinen Handlungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielraum mehr gehabt, um dem damaligen Vor-
__________ 15 Vgl. Körner, NJW 2004, 2697 (2701) unter Bezugnahme auf Hefermehl/Spindler in
MünchKomm.AktG, § 87 Rz. 15. 16 Vgl.Thüsing, ZGR 2003, 457 (469 ff.) und Hirte in Abeltshauser/Buck (Hrsg.), Corpo-
rate Governance, Tagungsband der 1. Hannoveraner Unternehmensrechtstage, 2004, S. 75 (86). 17 Theoretisch könnte zwar die Hauptversammlung eine Gewinntantieme beschließen. Die dafür erforderliche Ermächtigung in der Satzung (vgl. § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG) fehlt in der Regel aber. Außerhalb dieser Möglichkeit kann die Satzung keine verbindlichen Regelungen zur Vorstandsvergütung treffen (§ 23 Abs. 5 Satz 2 AktG). 18 Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 165 f.; Mertens in KölnKomm.AktG, § 87 Rz. 3; a. A. Ulmer in Hanau/Ulmer, MitbestG, 1981, § 31 Rz. 40; Tegtmeier, Die Vergütung von Vorstandsmitgliedern in Publikumsaktiengesellschaften, 1998, S. 270 f.; a. A. Hüffer, AktG, § 87 Rz. 2 m. w. N. 19 Vgl. v. Werder/Talaulicar/Kolat, DB 2004, 1377 (1379).
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standsvorsitzenden eine Anerkennungsprämie zu gewähren20. Diese Feststellung, die nicht weiter begründet wird, ist wenig überzeugend. Der Aufsichtsrat bzw. der an seiner Stelle handelnde Vorstandsausschuss sind grundsätzlich nicht gehindert, auch während eines Übernahmeverfahrens Beschlüsse zur Vorstandsvergütung zu fassen. Solche Entscheidungen gehören zur laufenden Amtsführung, die durch das Übernahmeverfahren nicht eingeschränkt wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn dadurch das Übernahmeangebot nicht behindert wird (vgl. § 33 Abs. 1 WpÜG). Zwar hat der Aufsichtsrat bei derartigen Entscheidungen zu berücksichtigen, dass sich die Gesellschaft im Übergang von einer selbständigen zu einer abhängigen Gesellschaft befindet. Dies bedeutet aber nur, dass zusätzlich auch die Interessen des künftigen Mehrheitsaktionärs zu berücksichtigen sind. 3. Nachträgliche Erhöhung der Vergütung Bei der Auslegung der Eckpunkte des § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG besteht weitgehend Einigkeit. Der Kodex hat zudem versucht, diese Eckpunkte näher zu konkretisieren, indem zum Beispiel auch das „Vergleichsumfeld“ berücksichtigt wird (vgl. Ziff. 4.2.2 a. E. DCGK). Bei dem Eckpunkt „Aufgaben“ wird neuerdings die Auffassung vertreten, dieser Begriff sei einschränkend allein im Sinne künftiger Aufgaben zu verstehen. Die Vergütung der Vorstandsmitglieder soll Anreizcharakter und damit eine verhaltenssteuernde Funktion für die Zukunft haben. Daraus wird abgeleitet, dass eine nachträgliche Vergütung für schon erbrachte Leistungen unzulässig ist21. Richtig ist, dass die Parteien bei Abschluss des Anstellungsvertrages die künftige Tätigkeit des Vorstandsmitglieds im Auge haben und die Vergütung deshalb die Gegenleistung für die Erfüllung künftiger Aufgaben sein soll. Dabei werden regelmäßig auch Leistungsanreize gesetzt, indem beispielsweise die variable Vergütung von der Erreichung bestimmter Erfolgskriterien abhängig gemacht wird. Diese „prospektive“ Ausrichtung schließt aber nicht aus, dass der Aufsichtsrat die vereinbarte Vergütung später überprüft und gegebenenfalls erhöht. Der Aufsichtsrat ist nicht gehindert, die von einem Vorstandsmitglied erbrachte Leistung nachträglich neu zu bewerten und als zusätzliche Belohnung zum Beispiel eine Sonderzahlung zu beschließen. Eine solche Entscheidung muss sich selbstverständlich auf bestimmte, objektiv erbrachte Leistungen beziehen und nicht etwa als Geschenk gedacht sein22.
__________ 20 LG Düsseldorf, ZIP 2004, 2044 (2047 l.Sp.). 21 Brauner, NZG 2004, 502 (507); ihm folgend LG Düsseldorf, ZIP 2004, 2044 (2047
r.Sp.); dagegen zutreffend Kort, NJW 2005, 333 (335). 22 Die Rechtsprechung hat nachträglich freiwillige Vergütungszahlungen bislang
regelmäßig als Arbeitsentgelt gewertet, vgl. z. B. BAG, AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 92, 93 zu Sondervergütungen und BAG, AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 243 zu einer Jubiläumszuwendung; s. zum Ganzen auch Freitag, NZA 2002, 294.
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Die nachträgliche Festlegung einzelner Vergütungselemente ist in der Unternehmenspraxis nichts Ungewöhnliches. Sie findet sich bei vielen Bonusprogrammen, wie sie vor allem für Führungskräfte unterhalb des Vorstandes bestehen. Ein Rechtsanspruch auf einen Bonus besteht in diesen Fällen meistens nicht. Ob überhaupt und in welcher Höhe ein Bonus gezahlt wird, hängt davon ab, welcher Gewinn erzielt wurde, wie hoch daraus der „Bonustopf“ dotiert wird und wie der zur Verfügung stehende Betrag dann auf die einzelnen Leistungsempfänger aufgeteilt wird. Bei solchen flexiblen Regelungen stellt sich der Bonus als freiwillige nachträgliche Leistung dar. Im Arbeitsrecht sind solche Leistungen weit verbreitet. So hat etwa jeder Mitarbeiter von Porsche wegen des guten Geschäftsverlaufs im Geschäftsjahr 2003/2004 nachträglich eine Sonderzahlung von 3000 Euro erhalten23. Solche Sonderzahlungen sind Arbeitsentgelt und nicht etwa als „Geschenk“ einzuordnen24. Für die Vergütung der Vorstandsmitglieder gilt insoweit nichts anderes. 4. Bedeutung des Unternehmensinteresses Unklar ist, welche Rolle das Unternehmensinteresse bei der Festlegung der Vorstandsvergütung spielt. Das LG Düsseldorf hat die Zahlungen im Falle Mannesmann als nicht im Unternehmensinteresse liegend qualifiziert und damit den Verstoß gegen § 87 Abs. 1 AktG begründet25. Hiergegen bestehen schon deshalb Bedenken, weil das „Unternehmensinteresse“ im Tatbestand des § 87 AktG nicht enthalten ist. Unabhängig davon wird der Begriff aber auch überstrapaziert. Nach allgemeiner Auffassung sind Vorstand und Aufsichtsrat zwar bei allen ihren Entscheidungen dem Unternehmensinteresse verpflichtet (vgl. auch Ziff. 4.1.1 und 5.5.1 DCGK). Das Unternehmensinteresse wird aber nur als allgemeine Leitlinie und Schranke bei der Ausübung des unternehmerischen Ermessens verstanden. Diese Schrankenfunktion bedeutet, dass die Leitungsorgane verpflichtet sind, bei allen ihren Entscheidungen den Bestand des Unternehmens zu erhalten und für eine dauerhafte Rentabilität zu sorgen26. Nur wenn diese äußersten Grenzen überschritten sind, was das LG Düsseldorf für den ihm vorliegenden Sachverhalt nicht festgestellt hat, läge ein Verstoß gegen das Unternehmensinteresse vor. Das Unternehmensinteresse eignet sich damit nicht als Maßstab für die Angemessenheit einer Vergütung im Einzelfall. Diesen Maßstab liefert allein das Angemessenheitsgebot des § 87 Abs. 1 AktG, das selbst nichts anderes als eine spezielle Ausprägung des Unternehmensinteresses ist27.
__________ 23 24 25 26 27
FAZ v. 5.10.2004, S. 14. Vgl. Freitag, NZA 2002, 294. LG Düsseldorf, ZIP 2004, 2044 (2047 l.Sp.). Hüffer, AktG, § 76 Rz. 13 m. w. N. Vgl. Dreher, AG 2002, 214 (216) und Brauner, NZG 2004, 502 (508); krit. zum LG Düsseldorf auch Kort, NJW 2005, 333 (334).
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5. Offenlegung Eine gewisse Kontrolle der Vergütung soll durch ihre Offenlegung erreicht werden. Das geltende HGB-Bilanzrecht geht allerdings noch von einer Offenlegung nur der Gesamtvergütung des jeweiligen Organs aus (§§ 295 Nr. 9, 314 Abs. 1 Nr. 6 HGB). Selbst diese Angabe kann unterbleiben, wenn sich anhand der Gesamtangabe die Bezüge eines einzelnen Mitglieds des Organs feststellen lassen (§ 286 Abs. 4 HGB)28. Das Bundesjustizministerium hat dies seinerzeit ausdrücklich mit dem Datenschutz der Organmitglieder begründet29. Inzwischen ist die Entwicklung weitergegangen. Der Kodex empfiehlt die individuelle Offenlegung der Vergütung aller Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder (vgl. Ziffer 4.2.4 Satz 2 und Ziff. 5.4.5 Abs. 3 Satz 1). Diese Empfehlung wird bislang zwar nur von einem Teil der Unternehmen befolgt30. Die Bundesregierung hat aber auch hier eine gesetzliche Regelung angekündigt, falls sich die Akzeptanzquote nicht signifikant erhöht31. Für diesen Fall hat Baums bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem alle börsennotierten Gesellschaften die Vergütung ihrer Organmitglieder offen legen müssen32. Individuelle Angaben sieht dieser Entwurf als Mindeststandard allerdings nur für das höchstbezahlte Vorstandsmitglied vor. Inzwischen nimmt jedoch die Zahl der Gesellschaften, die zu einer individualisierten Offenlegung bereit sind, ständig zu. Vermutlich wird künftig eine breite Mehrheit der DAX-Gesellschaften die Vorstandsvergütung individuell ausweisen. Ob dies die Bundesregierung zufrieden stellt, bleibt abzuwarten. Ob die individuelle Offenlegung der Vorstandsbezüge überhaupt sinnvoll ist, kann durchaus bezweifelt werden. Die individuelle Offenlegung kann zu einer Nivellierung von bis dahin unterschiedlichen Vergütungen durch eine Anpassung nach oben führen33. Dass sich aus der Offenlegung ein Druck zur Begrenzung der Bezüge ergibt, ist ebenfalls nicht ausgemacht. Wie die Publizitätspflichten der US-amerikanischen Unternehmen zeigen, wonach die Vergütung der fünf bestbezahlten Vorstandsmitglieder aus den letzten drei Jahren offen zu legen sind, haben solche Veröffentlichungen extrem hohe Vergütungen in Einzelfällen nicht verhindert34.
__________ 28 S. dazu OLG Düsseldorf, NJW-RR 1997, 1399; Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 31.
Aufl. 2003, § 286 Rz. 4. 29 Vgl. Schreiben des BMJ v. 6.3.1995, DB 1995, 639 sowie dazu Feige/Ruffert, DB
1995, 637. 30 Zumindest die Zahl der DAX-Unternehmen, die einen individuellen Ausweis vor-
nehmen, nimmt offenbar zu. 31 Vgl. Interview mit Frau Zypries im Tagesspiegel v. 14.5.2004. 32 Vgl. Baums, ZIP 2004, 1877; verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein solches
Gesetz sehen Menke/Porsch, BB 2004, 2533. 33 Vgl. Aha, BB 1997, 2225 (2227) und Thüsing, ZGR 2003, 457 (497). 34 Vgl. Thüsing, DB 2003, 1612 (1613) m. w. N.
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Ungeachtet dieser Zweifel ist damit zu rechnen, dass die Empfehlungen des Kodex zur individuellen Offenlegung entsprechend dem Zeitgeist noch erweitert werden. Nach der derzeitigen Fassung des Kodex soll nur die bare Vergütung mit ihren jeweiligen Komponenten offen gelegt werden (vgl. Ziff. 4.2.3 und 4.2.4 DCGK). Nicht erfasst sind Nebenleistungen wie Versicherungen, Abfindungen und Pensionszusagen. Es wäre nicht überraschend, wenn die Empfehlungen des Kodex zur Offenlegung künftig zumindest auf die Abfindungs- und Pensionszusagen ausgedehnt würden. Dies würde auch den Vorstellungen der EU-Kommission entsprechen35. Bei den Pensionszusagen wäre angesichts der unterschiedlichen Regelungen an eine inhaltliche Beschreibung der Zusage zu denken36. Ähnliches gilt für den Versicherungsschutz. Eine individualisierte Offenlegung von Versicherungsprämien wäre jedenfalls dann nicht angebracht, wenn es sich, wie bei den meisten D&OVersicherungen, um eine Gruppenversicherung handelt37. 6. Auskunftsrecht in der Hauptversammlung Die Regeln zur Offenlegung werden durch das Auskunftsrecht des Aktionärs in der Hauptversammlung ergänzt (§ 131 AktG). Aktuelle Rechtsprechung zur Offenlegung von Vorstandsbezügen gibt es allerdings nicht. Die bisher vorliegenden Entscheidungen sind älteren Datums und beziehen sich meist auf Angaben zur Vorstandsvergütung insgesamt. Eine Verpflichtung zur Einzelaufgliederung wurde zuletzt vom LG Berlin mit der Begründung abgelehnt, dass diese Auskunft für die Entlastung des Aufsichtsrats nicht erforderlich sei. Etwas anderes gelte nur, wenn besondere Umstände für eine Pflichtverletzung des Aufsichtsrates vorlägen38. Diese Rechtsprechung ist nach wie vor zutreffend; auch die Kommentarliteratur liegt auf dieser Linie39. Mittlerweile scheinen die Informationswünsche der Aktionäre aller-
__________ 35 Vgl. Ziff. 5.3 f und 5.5 b der Empfehlung der Kommission zur Einführung einer
36
37
38
39
angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften v.6.10.2004. Weiter gehend Ziff. 5.5 b der Empfehlung der EU-Kommission (s. Fn. 35), die einen Ausweis der jährlichen Zuführungen zu den Pensionsrückstellungen vorsieht. Der Vorschlag von Baums sieht demgegenüber auch die Offenlegung des Barwerts der Pensionszusage vor, vgl. ZIP 2004, 1877 (1878); dieser Wert entspricht aber nicht dem im abgelaufenen Jahr tatsächlich geleisteten Aufwand. Es handelt sich dann nicht einmal um lohn- und einkommensteuerpflichtige Einkünfte der versicherten Personen, vgl. Erlass des Finanzministeriums Niedersachsen v. 25.1.2002, DStR 2002, 678; dazu auch Küppers/Dettmeier/Koch, DStR 2002, 199. Vgl. LG Berlin, WM 2000, 978 (982); vgl. auch OLG Stuttgart, ZIP 2001, 1367 (1372), wonach keine Auskunft über den Wert der einzelnen Optionen im Rahmen eines Aktienoptionsprogramms gegeben werden muss. Vgl. Decher in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 131 Rz. 181, 191; Hüffer, AktG, § 131 Rz. 19; Kubis in MünchKomm.AktG, Bd. 4, 2. Aufl. 2004, § 131 Rz. 211; vgl. auch schon Zöllner in KölnKomm.AktG, Bd. 1, 1. Aufl. 1985, § 131 Rz. 25, 47 f.
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dings weiter zu gehen. So wurde in der Hauptversammlung 2004 der Deutschen Bank nach der individuellen Vergütung der zweiten Führungsebene unterhalb des Vorstandes gefragt. Darüber hinaus soll die Vergütung der Gesamtbelegschaft nach einem von dem fragenden Aktionär ausgedachten Raster aufgegliedert werden40. Solche weiter gehenden Informationen sind in aller Regel nicht erforderlich, um die Entlastung, in diesem Falle des Vorstandes, beurteilen zu können. Der Aktionär kann sich schon anhand des im Jahresabschluss ausgewiesenen Personalaufwands ein hinreichendes Bild davon machen, ob Führungskräfte und Belegschaft im Vergleich zu anderen Unternehmen angemessen bezahlt sind oder nicht. 7. Entwicklung von Verfahrensregeln Der Kodex versucht, die Festlegung einer angemessenen Vergütung durch Empfehlungen zum Verfahren, in dem über die Vergütung entschieden wird, sicherzustellen. So soll die Entscheidung über die Vergütung der Vorstandsmitglieder zwar weiterhin wie in der Praxis üblich beim Ausschuss für Vorstandsangelegenheiten liegen. Neben dem Ausschuss soll aber auch der Gesamtaufsichtsrat über die Struktur des Vergütungssystems für den Vorstand beraten und diese regelmäßig überprüfen (vgl. Ziff. 4.2.2 Abs. 1 DCGK). Außerdem soll der Aufsichtsratsvorsitzende die Hauptversammlung über die Grundzüge des Vergütungssystems und deren Veränderung informieren (Ziff. 4.2.3 Abs. 4 DCGK). Folgt man den Entsprechenserklärungen nach § 161 AktG, so wollen die meisten Gesellschaften diese Empfehlungen befolgen41. Zurückhaltung besteht bei der Einbindung des Gesamtaufsichtsrats. Die Empfehlung des Kodex setzt voraus, dass der Aufsichtsrat über die Einzelheiten der Vergütung, d. h. insbesondere über die Höhe und Aufteilung der einzelnen Vergütungsbestandteile unterrichtet ist. Damit wird ein Teil der Verantwortung auf das Plenum zurückverlagert. Der Vorstandsausschuss wird zumindest tendenziell von einem beschließenden zu einem lediglich vorbereitenden Gremium umqualifiziert. Dies wird von einigen Gesellschaften abgelehnt42. Die Empfehlungen des Kodex liegen allerdings „im Trend“. Nach den Vorstellungen der EU-Kommission soll die Vergütung der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder sogar Gegenstand eines Tagesordnungspunktes auf der
__________ 40 In den im Anschluss an die Hauptversammlung 2004 eingeleiteten Auskunftsver-
fahren hat das LG Frankfurt a. M. in verschiedenen, nicht rechtskräftigen Beschlüssen vom 18.1.2005 eine Auskunftspflicht zur Einzelvergütung dieses Personenkreises („Group Executive Committee“) verneint, eine Auskunftspflicht hinsichtlich der Gesamtvergütung dagegen unter Bezugnahme auf § 285 Nr. 9 HGB bejaht, vgl. http://www.lg-frankfurt.justiz.hessen.de 41 v. Werder/Talaulicar/Kolat, DB 2004, 1377 (1379, 1380). 42 Vgl. v. Werder/Talaulicar/Kolat, DB 2004, 1377 (1380).
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Hauptversammlung sein43. Dabei soll der Hauptversammlung ein Vergütungsbericht zur Abstimmung vorgelegt werden, wobei diese Abstimmung bindenden oder auch nur beratenden Charakter haben kann. Die Vergütung würde damit in eine faktische Mitzuständigkeit der Hauptversammlung erhoben. Eine zustimmende Beschlussfassung der Hauptversammlung soll allerdings nur bei der Gewährung von Aktienoptionen sowie allgemein bei jeder aktienbezogenen Vergütungsform erforderlich sein44. Der Vorschlag der EU-Kommission steht unter dem Eindruck der Rechtsentwicklung in Großbritannien. Nach den dortigen Directors’ Remuneration Report Regulations von 200245 muss das board jährlich einen umfassenden Bericht über seine Bezüge verfassen und veröffentlichen. Dieser Bericht ist der Aktionärsversammlung zur Abstimmung vorzulegen. Die Abstimmung führt zwar, wenn sie negativ ausgeht, nicht dazu, dass ein Vorstandsmitglied seinen Vergütungsanspruch verliert. Der ablehnende Beschluss stellt aber eine Missbilligung seitens der Aktionäre dar, die nicht ohne weiteres übergangen werden kann. Im Falle GlaxoSmithKline hat eine solche Abstimmungsniederlage bekanntlich dazu geführt, dass die Vergütung für den Vorstandsvorsitzenden reduziert werden musste46. Eine Übernahme dieses Modells für das deutsche Recht empfiehlt sich nicht. Die Vorstandsvergütung kann in der Hauptversammlung schon jetzt unter dem Tagesordnungspunkt „Entlastung des Aufsichtsrates“ diskutiert werden. Da die Entlastung nicht nur eine Billigung der Tätigkeit im abgelaufenen Geschäftsjahr, sondern auch eine Vertrauenskundgabe für die Zukunft darstellt47, geht es dabei nicht nur um die zuletzt gezahlte, sondern auch um die künftige Vergütung48. Die Aktionäre können über den Tagesordnungspunkt „Entlastung“ auch abstimmen und damit mittelbar eine etwaige Missbilligung der Vergütung des Vorstandes durch ihre Stimmabgabe zum Ausdruck bringen. Ein weiterer konsultativer Beschlussgegenstand ist deshalb nicht erforderlich. Ausbaufähig erscheint aber die im Kodex vorgesehene Berichterstattung. So könnte die bislang vorgesehene Information der Hauptversammlung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden (Ziff. 4.2.3 a. E. DCGK) durch eine schriftliche Berichterstattung des Aufsichtsrates ersetzt werden. Dabei könnte die Information zur Struktur der Vorstandsvergütung mit den individuellen Gehaltsangaben zu einem Bericht über die Vorstandsvergütung zusammengefasst werden.
__________
43 Vgl. Ziff. 4.1 der Empfehlung der Kommission v. 6.10.2004 zur Einführung einer
44 45 46 47 48
angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften. Vgl. Ziff. 6.2 a der Empfehlung der EU-Kommission v. 6.10.2004. Vgl. Art. 241 A Members' approval of directors' remuneration report. Vgl. FAZ v. 21.5.2003, S. 15 und Thüsing, DB 2003, 1612 (1614). Vgl. BGH, ZIP 2003, 387 (389) und BGH, ZIP 2004, 2428 (2429). Insoweit a. A. Hirte a. a. O. (Fn. 16), S. 92.
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8. Bestandteile der Vergütung a) Feste und variable Vergütung Die Frage, wie Vorstände zu vergüten sind, ist auch eine Frage nach der Struktur der Vergütung. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob die Vorstände überwiegend feste oder variable und erfolgsabhängige Bezüge erhalten sollten49. Während die Vorstandsbezüge früher hauptsächlich aus einem Festgehalt und nur zu einem kleineren Anteil aus variablen Teilen bestanden, ist das Verhältnis heute eher umgekehrt. Das Festgehalt stellt nur noch eine Grundvergütung dar, der überwiegende Teil der Bezüge ist variabel. Wie neuere Studien zeigen, überwiegen in Deutschland nach wie vor die am kurzfristigen Erfolg orientierten Bonuszahlungen50. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die variablen Vergütungskomponenten mit langfristiger Anreizwirkung und Risikocharakter. Zu diesen Vergütungskomponenten enthält der Kodex eine Reihe von Empfehlungen, die mit den Empfehlungen der EU-Kommission mehr oder weniger auf einer Linie liegen. Dabei versteht der Kodex unter den Vergütungskomponenten mit langfristiger Anreizwirkung vor allem Aktienoptionen und vergleichbare Gestaltungen wie zum Beispiel phantom stocks und den Erwerb von Aktien der Gesellschaft mit mehrjähriger Veräußerungssperre (vgl. Ziff. 4.2.3 Abs. 2 DCGK). b) Aktienoptionsprogramme Kontrovers diskutiert werden vor allem die Aktienoptionsprogramme. Die Gewährung selbständiger Aktienoptionen an Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter wurde erst 1998 durch das KonTraG zugelassen. Dabei wurden die möglichen Anreizwirkungen vom Gesetzgeber sehr positiv beurteilt51. Inzwischen ist diese Sicht einer kritischen Grundeinstellung gegenüber Aktienoptionen gewichen. Grund dafür sind die vielfach als zu anspruchslos empfundenen Ausübungshürden52 und die zunehmenden Zweifel an einem messbaren Zusammenhang zwischen Börsenkurs und Leistung des Managements, vor allem aber der verheerende Eindruck, den die durch Aktienoptionen motivierten Bilanzfälschungen in den USA hinterlassen haben. Aufgrund dieser negativen Erfahrungen wird für die (noch) bestehenden Aktienoptionsprogramme größere Transparenz gefordert. Dazu gehört vor allem eine Bewertung der ausgegebenen Aktienoptionen. Der Kodex ist auch in dieser Hinsicht erstaunlich modern, indem er eine Bekanntmachung und
__________ 49 50 51 52
Zu den variablen Bezügen s. die Anregungen in Ziff. 4.2.3 Abs. 1 DCGK. Vgl. Gehaltsstudie von Hay, Handelsblatt v. 26.11.2004, S. 1. Regierungsentwurf zu einer Änderung des AktG (KonTraG), ZIP 1997, 2059 (2067). Vgl. dazu die Kritik der Fondsgesellschaft Union Investment, z. B. in der BörsenZeitung v. 26.6.2004, S. 11, und auf ihrer Homepage.
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Erläuterung der Aktienoptionspläne auf der Internetseite der Gesellschaft empfiehlt. Dabei werden auch Angaben zum Wert von Aktienoptionen empfohlen (Ziff. 4.2.3 Abs. 3 Satz 2 DCGK). Neben der Bewertungsmethode53 ist dabei allerdings offen, auf welchen Zeitpunkt sich diese Bewertung bezieht. Ausreichend erscheint eine Bewertung zum jeweiligen Bilanzstichtag. Selbstverständlich können die Optionen aber auch fortlaufend neu bewertet werden. c) Andere aktienbezogene Vergütungsformen Aktienoptionspläne werden mittlerweile auch von den Unternehmen kritisch gesehen. Dies beruht vor allem darauf, dass die Kosten solcher Pläne als Personalaufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung zu verbuchen sind. Nach dem neuen Bilanzierungsstandard IFRS 2 für aktienbasierte Vergütungssysteme gilt dies sowohl für die Gewährung von Aktien als auch Aktienoptionen54. Damit entfällt aus der Sicht der Unternehmen ein wesentlicher Vorteil dieser Vergütungsform. Viele der bisherigen Aktienoptionspläne werden deshalb durch andere Vergütungsformen ersetzt werden. Dies können im Bereich der längerfristigen Erfolgungsorientierung vor allem virtuelle Aktien (phantom stock) und Aktienoptionen (stock appreciation rights) oder eine Vergütung in Aktien (restricted stock) sein. Erfolgsziel sollte bei den ersten beiden Varianten nicht die bloße Kurssteigerung, sondern eine im Vergleich zu den Aktienkursen bestimmter anderer Gesellschaften bessere Kursentwicklung (sog. relative Performance) oder das Erreichen bestimmter betriebswirtschaftlicher Kennziffern sein. Will die Gesellschaft den Vorstandsmitgliedern als Teil der Vergütung verbilligte eigene Aktien gewähren, wäre dafür entsprechend §§ 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5, 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG eine Ermächtigung der Hauptversammlung erforderlich. Die Zuteilung der erworbenen Aktien könnte dabei nur vom Aufsichtsrat vorgenommen werden55. Die Gewährung der Aktien an die Vorstandsmitglieder wäre für diese allerdings steuerpflichtig. Um diesen Nachteil auszugleichen, müsste den Vorstandsmitgliedern gleichzeitig eine Barzahlung zumindest in Höhe der Steuerlast gewährt werden. Angesichts dieser Komplikationen könnte eine Vergütung in Aktien einfacher in der Weise erfolgen, dass die Vorstandsmitglieder einen Teil ihrer Barvergütung mit der Auflage erhalten, dafür im Markt selbst Aktien „ihrer“ Gesellschaft zu kaufen. Für die so erworbenen Aktien könnten bestimmte Halteperioden festgelegt
__________ 53 S. dazu Ekkenga, DB 2004, 1897; Harrer, Mitarbeiterbeteiligungen und Stock-
Option-Pläne, 2. Aufl. 2004, Rz. 401 ff. und Vater, WPg. 2004, 1245. 54 S. dazu näher Harrer, Mitarbeiterbeteiligungen und Stock-Option-Pläne, 2. Aufl.
2004, Rz. 329; Hasbargen/Stauske, BB 2004, 1153; Hoffmann/Lüdenbach, DStR 2004, 786; Küting/Dürr, WPg. 2004, 609. 55 Vgl. LG Stuttgart, DB 2000, 2110 (2111); BT-Drucks. 13/9712, S. 24; Oechsler in MünchKomm.AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 2003, § 71 Rz. 227.
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werden. Eine solche Aktienkomponente erfordert weder einen Beschluss der Hauptversammlung noch führt sie zu besonderen steuerlichen Problemen. d) Mitwirkung der Hauptversammlung Soweit Barzahlungen in Abhängigkeit vom Aktienkurs gewährt werden, stellt sich die Frage, ob die Hauptversammlung mitwirken sollte. Nach geltendem Recht muss die Hauptversammlung nur Aktienoptionsplänen zustimmen (vgl. §§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 192 Abs. 2 Nr. 3, 221 AktG). Bei virtuellen Aktien und Aktienoptionen, die vom Erreichen bestimmter Kursziele abhängen, liegt die Zuständigkeit allein beim Aufsichtsrat (§ 87 Abs. 1 AktG)56. Allerdings schlägt die EU-Kommission in ihrer Empfehlung zur Einführung einer angemessenen Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften vor, dass alle aktienbezogenen Vergütungsformen und sonstige langfristig angelegte Incentive-Leistungen, soweit sie allein für Mitglieder der Unternehmensleitung vorgesehen sind, der Hauptversammlung zur Zustimmung vorgelegt werden sollten57. Die Einschaltung der Hauptversammlung bei den genannten Vergütungsformen ist unter dem Board-System durchaus nahe liegend, da bei diesem die Hauptversammlung bereits für die Bestellung und Abberufung der BoardMitglieder zuständig ist. Im dualistischen Führungssystem gehört dagegen die Bestellung und Abberufung der Vorstandsmitglieder und damit verbunden auch die Festlegung der Vergütung zu den „Kernkompetenzen“ des Aufsichtsrats. Eine teilweise Verlagerung dieser Kompetenz auf die Hauptversammlung ist aus der Sicht des deutschen Rechts nicht sinnvoll. Damit würde das historische Selbstverständnis des Aufsichtsrats, in bestimmten Bereichen gerade anstelle der Hauptversammlung tätig zu werden, wieder aufgegeben. Die größere Sachkunde dürfte gerade in Vergütungsfragen auch beim Aufsichtsrat liegen. Die Vergütungsformen, die nach der EU-Empfehlung der Hauptversammlung zur Zustimmung vorgelegt werden sollen, machen in der Regel nur einen Teil der Gesamtvergütung aus. Die Gesamtvergütung sollte jedoch als Paket strukturiert werden und deshalb hinsichtlich der Zuständigkeit möglichst nicht aufgeteilt werden. Nur soweit die Vergütung mit dem Erwerb oder der Ausgabe von Aktien verbunden ist und damit die Interessen der Aktionäre unmittelbar berührt sind, sollte die
__________ 56 Fonk in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl.
2004, § 9 Rz. 136; Hefermehl/Spindler, in MünchKomm.AktG, § 87 Rz. 36; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797 (801); Kessler/Suchan in Kessler/Sauter (Hrsg.), Handbuch Stock Options, 2003, Rz. 686 m. w. N.; abw. Fuchs in MünchKomm. AktG, Bd. 6, 2. Aufl. 2005, § 192 Rz. 86, der darin Genussrechte i. S. v. § 221 Abs. 3 AktG sieht; ähnlich Frey in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 192 Rz. 108 und Hirte, Gesellschaftsrecht 1999, RWS-Forum 15, 2000, S. 211 (220 f.). 57 Vgl. Ziff. 6.2 a) und e) der Empfehlung v. 6.10.2004.
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Hauptversammlung eingeschaltet werden. In allen übrigen Fällen sollte die Ausgestaltung der Vergütung des Vorstands beim Aufsichtsrat bleiben58.
III. Vergütung des Aufsichtsrats 1. Differenzierung nach den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder Bei der Bezahlung des Aufsichtsrats geht es in der aktuellen Diskussion weniger um die Höhe der Vergütung als vielmehr um deren Struktur. Da § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG auf die Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder Bezug nimmt, liegt eine entsprechende Differenzierung der Vergütung nahe. Diesen Aspekt hat der Kodex aufgegriffen (Ziff. 5.4.5 Abs. 1 Satz 1 DCGK). Bei der Vergütung soll danach nicht nur der Vorsitz und der stellvertretende Vorsitz im Aufsichtsrat, sondern auch der Vorsitz und die Mitgliedschaft in den Ausschüssen berücksichtigt werden (Ziff. 5.4.5 Abs. 1 Satz 2 DCGK). Diese Empfehlung ist inzwischen von fast allen Unternehmen, deren Aufsichtsräte Ausschüsse bilden, umgesetzt worden59. Bei der Honorierung der Ausschusstätigkeit sollten allerdings zwei Gesichtspunkte beachtet werden. Zum einen sollte nur die Mitgliedschaft in solchen Ausschüssen honoriert werden, die auch gearbeitet haben. Die bloße Mitgliedschaft in einem Ausschuss, der – wie in der Regel der Vermittlungsausschuss nach § 27 MitbestG – im Geschäftsjahr nicht getagt hat, rechtfertigt keine zusätzliche Vergütung. Soll der Vorsitz in einem Ausschuss besonders vergütet werden, so stellt sich außerdem die Frage, ob dies auch dann richtig ist, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende diesen Vorsitz führt. Im Allgemeinen umfasst die Vergütung des Aufsichtsratsvorsitzenden auch die Vorsitzfunktion in den Ausschüssen. Eine separate Vergütung des Ausschussvorsitzes ist dann nur angebracht, wenn der Ausschuss von einer anderen Person geleitet wird. Dies betrifft vor allem den Prüfungsausschuss, der nach dem Kodex nicht vom Aufsichtsratsvorsitzenden geleitet werden soll (Ziff. 5.2 Abs. 2 Satz 2). 2. Art der Vergütung Bei der Art der Vergütung empfiehlt der Kodex, auch den Aufsichtsratsmitgliedern neben einer festen eine erfolgsorientierte Vergütung zu zahlen (Ziff. 5.4.5 Abs. 2 Satz 1 DCGK). Die erfolgsorientierte Vergütung sollte, so die ergänzende Anregung, auch auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogene Bestandteile enthalten (Ziff. 5.4.5 Abs. 2 Satz 2 DCGK).
__________ 58 So im Ergebnis auch Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate
Governance, 2001, Rz. 45. 59 Vgl. Oser/Orth/Wader, BB 2004, 1121 (1124).
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a) Feste Vergütung Der Kontrollfunktion des Aufsichtsrates entspricht eher eine feste Vergütung. Die Beratung durch den Aufsichtsrat und seine Einbindung in strategische Fragen und wichtige Geschäftsvorfälle rechtfertigt aber auch eine Erfolgsbeteiligung. Zwischen fester und variabler Vergütung sollte insgesamt ein zumindest ausgeglichenes Verhältnis bestehen60. Die variable Vergütung sollte wiederum zur Hälfte aus einer jährlichen und einer langfristigen Vergütung bestehen61. Eine Unterform der festen Vergütung ist das Sitzungsgeld, das in letzter Zeit bei vielen Gesellschaften erhöht worden ist62. Sitzungsgelder fallen allerdings nur an, wenn eine Sitzung, also eine körperliche Zusammenkunft, des Aufsichtsrates oder seiner Ausschüsse stattfindet. Werden Beschlüsse im Umlaufverfahren gefasst, liegt keine Sitzung vor. Auch eine Beratung oder Beschlussfassung in Form einer Telefon- oder Videokonferenz löst, sofern nichts anderes vorgesehen ist, kein Sitzungsgeld aus. b) Variable Vergütung aa) Dividendenabhängige Tantieme Unklar ist, was bei der Vergütung des Aufsichtsrats unter der auch im Kodex angesprochenen „Erfolgsorientierung“ zu verstehen ist. In der Praxis wird meist an die ausgezahlte Dividende angeknüpft, indem zum Beispiel für jedes Prozent ausgeschüttete Dividende ein bestimmter Betrag als Tantieme für die Aufsichtsratsmitglieder angesetzt wird. Eine solche Gestaltung erfüllt zwar die Empfehlung des Kodex63. Ob die Dividende den wirklichen Erfolg der Gesellschaft zum Ausdruck bringt, ist allerdings fraglich, da der Dividendenvorschlag der Verwaltung häufig von geschäftspolitischen Überlegungen wie insbesondere dem Wunsch nach Dividendenkontinuität beeinflusst ist. Fraglich ist auch, ob eine dividendenabhängige Vergütung überhaupt sachgerecht ist. Bedenken werden deswegen erhoben, weil der Aufsichtsrat an der Feststellung des Jahresabschlusses mitwirkt und deshalb daran interessiert ist, auch im eigenen Interesse eine möglichst hohe Dividende auszuschüt-
__________ 60 So auch die vom Deutschen Aktieninstitut zusammen mit Towers Perrin erarbei-
tete Studie: Empfehlungen zur Aufsichtsratsvergütung, Heft 23, Juni 2003, S. 29. 61 So der Vorschlag der DAI-Studie (Fn. 60), S. 29 f. 62 Grund dafür ist nicht zuletzt auch eine Motivation der Gewerkschaftsmitglieder
im Aufsichtsrat, die Sitzungsgelder nicht an die Hans-Böckler-Stiftung abführen müssen; vgl. dazu Köstler/Kittner/Zachert, Aufsichtsratspraxis, 6. Aufl. 1999, Rz. 600 und Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl. 2003, Rz. 460. 63 Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 2003, Rz. 757; zur Zulässigkeit nach dem früheren § 86 Abs. 2 AktG, der § 113 Abs. 3 AktG entspricht, BGH, NJW 2000, 2998 ff.
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ten64. Da dieses Interesse der Aufsichtsratsmitglieder allerdings dem Interesse der Aktionäre entspricht und letztlich die Hauptversammlung über die Höhe der Dividende entscheidet, kann dieser Konflikt hingenommen werden. Ein weiteres Bedenken gegen diese Art der Vergütung könnte sich dann ergeben, wenn – wie häufig – auch die Vorstandsmitglieder eine dividendenabhängige Tantieme erhalten. Aufgabe des Aufsichtsrats ist unter anderem die Kontrolle des Vorstandes. Die dafür erforderliche Unabhängigkeit des Aufsichtsrates könnte gefährdet sein, wenn Vorstand und Aufsichtsrat nach den gleichen Kriterien bezahlt werden65. Ein generelles Verbot eines Gleichlaufs zwischen einer Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat ist dem Gesetz allerdings nicht zu entnehmen. Dies zeigt schon die Regelung in § 113 Abs. 3 AktG, die wörtlich dem früheren § 86 Abs. 2 AktG entspricht. Unabhängig davon dürfte die Unbefangenheit der Mitglieder des Aufsichtsrates jedenfalls dann nicht gefährdet sein, wenn die dividendenabhängige Vergütung nur den kleineren Teil der Jahresvergütung ausmacht. bb) Langfristige Erfolgsorientierung Gewisse Schwierigkeiten bereitet die Umsetzung der Anregung des Kodex, wonach die variable Vergütung auch auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogene Bestandteile enthalten sollte (Ziff. 5.4.5 Abs. 2 Satz 2)66. Eine Bindung der Vergütung an die Entwicklung des Aktienkurses ist dabei aus der Sicht des Kodex nicht ausgeschlossen. Allerdings hat es nur wenige Unternehmen gegeben, die für die Mitglieder ihres Aufsichtsrates ein Aktienoptionsprogramm unter Verwendung eigener Aktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG) aufgelegt haben. Solche Programme sind, wie der BGH klargestellt hat, unzulässig67. Auf Grund der vom BGH erhobenen Bedenken will der Gesetzgeber zusätzlich allerdings auch die Ausgabe von Wandel- und Optionsschuldverschreibungen an Aufsichtsratsmitglieder untersagen68. Dieser Ausschluss erscheint überzogen, weil in Ausnahmefällen wie zum Beispiel bei jungen Unternehmen oder Sanierungen durchaus ein Bedürfnis dafür bestehen kann, eine Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder zumindest in Form von Wandelschuldverschreibungen zuzulassen69. Den Interessen der Aktionäre wird dabei durch die Einhaltung der Voraussetzungen für den Bezugsrechtsausschluss (§§ 186 Abs. 4, 221 Abs. 4 AktG) Rechnung getragen70. Die Begründung des BGH, dass die Ausrichtung der Vergütung auf den Aktien-
__________ Kritisch insoweit z. B. die DAI-Studie (Fn. 60), S. 24 und 28. Vgl. die Ausführungen des BGH in ZIP 2004, 613 (614). Vgl. v. Werder/Talaulicar/Kolat, DB 2004, 1377 (1382 l.Sp.). BGH, ZIP 2004, 613. So der Regierungsentwurf eines Gesetzes zu Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts v. 17.11.2004 mit der Begründung auf S. 52. 69 Kritisch insoweit auch Meyer/Ludwig, ZIP 2004, 940 (945). 70 S. dazu Fuchs, WM 2004, 2233 (2239). 64 65 66 67 68
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kurs der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats abträglich sei, weil der Aktienkurs durch gezielte Sachverhaltsgestaltungen beeinflusst werden könne71, betrifft genau genommen nur solche Programme, die allein auf den Börsenkurs der Gesellschaft abstellen. Wird die Kursentwicklung dagegen in Relation zu einem Index gesetzt, trägt diese Überlegung nicht mehr. Eine Reihe von Unternehmen hat für ihre Aufsichtsratsmitglieder sog. Wertsteigerungsrechte, das heißt den Optionen entsprechende Zahlungsansprüche, ausgegeben72. Nach den Ausführungen des BGH ist auch die Zulässigkeit reiner Barzahlungsregelungen, mit denen Aktienoptionspläne schuldrechtlich nachgebildet werden, zweifelhaft geworden. Da vom Gesetzgeber keine Klärung zu erwarten ist, wird sich die Praxis darauf einrichten müssen, dass solche auf den Aktienkurs ausgerichtete Zahlungen nicht ohne Anfechtungsrisiken neu beschlossen werden können. Nicht betroffen sollten allerdings Vergütungen sein, bei denen der Aktienkurs nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies ist etwa der Fall bei Regelungen, die an die Entwicklung der Aktienrendite anknüpfen. Der Aktienkurs macht dabei neben der Dividende und dem Wert etwaiger Bezugsrechte nur einen Teil der Gesamtrendite aus. Ist die Zahlung zusätzlich davon abhängig, dass sich die Aktienrendite der Gesellschaft über einen bestimmten Zeitraum hinweg besser als die einer bestimmten Vergleichsgruppe von Unternehmen entwickelt, ist die Bedeutung des Aktienkurses weiter relativiert73. Unproblematisch sind im Übrigen alle Modelle, die an betriebswirtschaftliche Kennzahlen wie die Eigenkapitalrendite, den Konzerngewinn pro Aktie74 oder Ergebnisgrößen wie EBIT75 anknüpfen76. Im Schrifttum ist vorgeschlagen worden, die Aufsichtsratsmitglieder statt mit Aktienoptionen mit verbilligten Aktien der Gesellschaft zu vergüten77. Die dafür benötigten Aktien könnten auf der Grundlage einer Ermächtigung nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG erworben und den Aufsichtsratsmitgliedern mit einer mehrjährigen Halteverpflichtung überlassen werden. Solange die Aktien ohne weitere Bedingung übereignet werden, steht einem solchen Modell die Rechtsprechung des BGH nicht entgegen. Unzulässig könnte eine solche
__________ 71 BGH, ZIP 2004, 613 (614). 72 Vgl. Siemens, Infineon, Henkel, Deutsche Börse, GPC Biotech; DaimlerChrysler
73 74
75 76 77
hat einen entsprechenden Vorschlag nach Bekanntwerden der BGH-Entscheidung von der Tagesordnung der Hauptversammlung 2004 genommen, vgl. FAZ v. 24.3.2004, S. 17; Schering will die auf der Hauptversammlung 2004 beschlossene Ermächtigung überprüfen, vgl. FAZ v. 7.4.2004, S. 19. Vgl. z. B. § 14 Abs. 3 der Satzung der Deutschen Bank AG. So die Regelung bei der Deutschen Post AG, vgl. § 17 Abs. 1 b) und c) der Satzung, und der Deutschen Telekom AG, vgl. § 13 Abs. 1 b) und c) der Satzung; ähnlich auch der Vorschlag zur Änderung von § 17 Nr. 1 der Satzung bei Siemens. Earnings Before Interest and Taxes. Zu Einzelheiten s. die DAI-Studie (Fn. 60), S. 31 f. sowie Mutter, ZIP 2002, 1230 f. S. z. B. Peltzer, NZG 2004, 509 (511).
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Vergütung dann sein, wenn die Aktien nur nach Erfüllung bestimmter Kriterien übertragen würden. Nach dem BGH ist davon aber nur dann auszugehen, wenn als Erfolgsziel der Aktienkurs gewählt wird, nicht aber, wenn die Übertragung der Aktien von anderen Kriterien wie beispielsweise einem bestimmten Ergebnis pro Aktie abhängt78. Unabhängig davon müsste die Übertragung von Aktien allerdings mit einer Barzahlung verbunden werden, um die anfallende Steuerlast abzudecken. Einfacher wäre es deshalb, wenn die Aufsichtsräte einen Teil ihrer Barvergütung mit der Auflage erhielten, davon Aktien der Gesellschaft zu erwerben und diese für einen längeren Mindestzeitraum zu halten. Eine solche Gestaltung müsste gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG in der Satzung geregelt oder von der Hauptversammlung beschlossen werden. 3. Offenlegung der Vergütung Der Kodex empfiehlt auch beim Aufsichtsrat eine individualisierte Offenlegung der Vergütung (Ziff. 5.4.5 Abs. 3 Satz 1). Diese Offenlegung stellt im Allgemeinen kein Problem dar, weil die Aufsichtsratsvergütung in der Satzung so bestimmt geregelt ist, dass sie sich für jedes Mitglied ausrechnen lässt. Individuell offen zu legen ist darüber hinaus aber auch die Vergütung zusätzlicher Beratungsleistungen nach § 114 AktG, die sich nicht aus der Satzung ergibt (Ziff. 5.4.5 Abs. 3 Satz 2 DCGK).
IV. Ausblick Die Vergütung der Vorstände und Aufsichtsräte ist keine Angelegenheit, die der Gesetzgeber aufgreifen muss. Form, Struktur und Höhe der Vergütung sind, wie die EU-Kommission zutreffend festgestellt hat79, Sache der Gesellschaft und ihrer Aktionäre. Die bestehenden Regelungen im AktG und im Kodex reichen auch aus. Über die Aufsichtsratsvergütung entscheidet ohnehin die Hauptversammlung. Die Aktionäre haben es damit in der Hand, wie diese Vergütung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften ausgestaltet werden soll. Die Vorstandsvergütung ist hingegen eine Aufgabe des Aufsichtsrates, insbesondere des bei diesem regelmäßig bestehenden Vorstandsausschusses. Die Beschlussfassung über die Vergütung und deren Bestandteile ist eine unternehmerische Entscheidung, die unter die so genannte business judgment rule fällt. Dies bedeutet, dass die Aufsichtsräte nur aufgrund sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beschließen dürfen80. Der
__________ 78 Vgl. BGH, ZIP 2004, 613 (614). 79 Vgl. den zweiten Erwägungsgrund der Kommissions-Empfehlung zur Einführung
einer angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften v. 6.10.2004. 80 Vgl. § 93 Abs. 1 Satz 32 AktG i. d. F. des Gesetzentwurfs zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts v. 17.11.2004.
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Vergütung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer AG
Vorstandsausschuss muss deshalb die im Kodex vorgesehene individuelle Leistungsbeurteilung ernst nehmen und sich mit den Performancekriterien der variablen Vergütung sorgfältig auseinander setzen81. Er muss die Vergütung außerdem regelmäßig überprüfen und mit der Entwicklung in der Branche vergleichen. Es ist abzusehen, dass diese Verantwortung des Aufsichtsrates künftig stärker eingefordert wird und dass hohe Vorstandsbezüge ohne entsprechende Erfolge der Gesellschaft nicht nur zu Kritik in der Hauptversammlung, sondern sogar zu einer persönlichen Inanspruchnahme von Aufsichtsratsmitgliedern, insbesondere der Mitglieder des Vorstandsausschusses, führen können. Diese Entwicklung wird sicher zu einer Vergütung mit Augenmaß beitragen. Dabei sollte allerdings das weite Ermessen, das dem Aufsichtsrat für seine Beurteilung gegeben ist, nicht durch übertriebene Anforderungen an das Verfahren in Frage stellt werden. Die bisherige Praxis der Offenlegung könnte im Übrigen dadurch verbessert werden, dass die Angaben zur Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat in einem gemeinsamen Vergütungsbericht zusammengefasst werden und dieser Bericht der Hauptversammlung alljährlich zusammen mit den Unterlagen der Rechnungslegung zur Information vorgelegt wird.
__________ 81 Vgl dazu die Forderungen der DSW zur Verbesserung der Transparenz bei der Vor-
standsvergütung v. Mai 2004.
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Marktwertmaximierung als Unternehmensziel der Aktiengesellschaft Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Überblick und Problemaufriss III. Gewinnmaximierung v. Marktwertmaximierung 1. Gewinnmaximierung ist Unternehmenswertmaximierung ist Marktwertmaximierung? 2. Ausschüttung überschüssigen Kapitals zwischen Gewinn- und Marktwertmaximierung 3. Verbandsdenken v. methodologischer Individualismus 4. Zwischenergebnis
IV. Die Öffnung gegenüber der Marktwertmaximierung seit dem KonTraG 1. Die Neuorientierung durch das KonTraG 2. Folgeentwicklungen in der Rechtsprechung V. Umsetzung 1. Inhaltsänderung des Formalziels der normtypischen AG 2. Änderungszeitpunkt 3. Einbeziehung existierender Gesellschaften 4. Satzungsklauseln VI. Schlussbemerkungen
I. Einleitung Rückblickend erscheint das AktG 1965 als eine über viele Jahre bemerkenswert stabile Kodifikation des deutschen Aktien- und Konzernrechts. Weitreichende Veränderungen auch konzeptioneller Art setzten erst im Vorfeld der Jahrtausendwende ein. Konnte des Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts aus dem Jahre 1994 zunächst noch als eine Art „Ausreißer“ in Sachen Aktienrechtsreform erscheinen, setzte mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) aus dem Jahre 1998 endgültig ein bis dahin ganz und gar unvorstellbarer Modernisierungsschub ein: –
Der Gesetzgeber verändert das Aktienrecht seit dem KonTraG nahezu im Jahresrhythmus. NaStraG 2001, WpÜG 2002, TransPuG 2002, SpruchG 2003 und jetzt UMAG 2005 lauten die Akronyme der bekannten Reformgesetze mit ihren Jahreszahlen; vorbereitet mit Ausnahme des NaStraG weithin durch den umfangreichen Bericht der Regierungskommission Corporate Governance1.
__________ 1
S. Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001.
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–
Die in § 161 AktG in Bezug genommene Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex wirkt mit ihren kodexförmigen „Empfehlungen“ dahin, dass sich die Schlagzahl der Aktienrechtsreform in Permanenz noch weiter erhöht. Sie wird den am 26.2.2002 verabschiedeten und zum 21.5.2003 erstmals überarbeiteten Deutschen Corporate Governance Kodex schon wegen widrigenfalls in Aussicht stehender gesetzgeberischer Interventionen auch in Zukunft kontinuierlich fortentwickeln.
–
Die Zivilgerichtsbarkeit schließlich steht diesem legislativen Reformeifer nicht nach. Der II. Zivilsenat des BGH unter dem Vorsitz des Jubilars hat bei punktueller bundesverfassungsgerichtlicher Inspiration2 mehrfach tradierte aktienrechtliche Regelungsgehalte nach Art des Gesetzgebers umgestaltet und damit – jedenfalls zuallermeist – den vom Geschehen an den Kapitalmärkten bestimmten Bedürfnissen der Praxis gebührend Rechnung getragen. Erwähnung verdienen in vorliegenden Problemzusammenhang etwa das Siemens/Nold-Urteil zum Bezugsrechtsausschluss beim genehmigten Kapital3, das DAT/Altana-Urteil zur Bewertung von Aktien börsennotierter Aktiengesellschaften4 sowie das Macrotron-Urteil zu den Anforderungen beim Rückzug von der Börse (Delisting)5. Die insgesamt auf breitflächige Rechtsgestaltung angelegte aktienrechtliche und, allgemeiner, gesellschaftsrechtliche Judikatur gewinnt dadurch noch an Wirkmächtigkeit, dass der 1. Strafsenat des BGH zur Frage, wann eine aktienrechtliche Pflichtwidrigkeiten (auch) eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht gemäß § 266 StGB darstellt, im SSV Reutlingen-Urteil aus dem Jahre 2001 zu einer höchst begrüßenswerten qualifizierten Aktienrechtsakzessorietät gefunden hat6 – auch wenn der 5. Strafsenat im Bremer Vulkan-Urteil dem II. Zivilsenat nunmehr genau gegenläufig attestiert, die Regeln für die Haftung wegen eines existenzvernichtenden Eingriffs7 in Anlehnung an die strafrechtliche Rechtsprechung entwickelt zu haben8.
Das wohl spektakulärste Aktienrechtsproblem in der Amtszeit des Jubilars als Vorsitzender des II. Zivilsenats, nämlich die Geschehnisse bei der Man-
__________ 2 3 4 5 6
7
8
S. BVerfGE 100, 289 = WM 1999, 1666 (DAT/Altana) zum Börsenwert als Untergrenze einer Abfindungsbemessung. BGHZ 136, 133 = WM 1997, 1704; bestätigt durch BGHZ 144, 290 (294 f.) (Adidas). BGHZ 147, 108 = WM 2001, 856. BGHZ 153, 47 = WM 2003, 437. S. BGH, WM 2002, 564 (567 r.Sp.): nur gravierende, nicht jede gesellschaftsrechtliche Pflichtverletzung bildet eine Pflichtwidrigkeit i. S. des § 266 StGB; ob eine Pflichtverletzung gravierend ist, bestimmt sich aufgrund einer Gesamtschau insbesondere der gesellschaftsrechtlichen Kriterien. Dazu BGHZ 149, 10 ff. (16) = WM 2001, 2062; BGHZ 151, 181 ff. = WM 2002, 1804; BGH, WM 2002, 960; BGH, WM 2005, 176; BGH, WM 2005, 332. Diese Judikatur vorbereitend Röhricht in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 83 ff. BGH, WM 2004, 1331 (1337 r. Sp.).
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Marktwertmaximierung als Unternehmensziel der Aktiengesellschaft
nesmann AG im Gefolge des öffentlichen Übernahmeangebots, das die Vodafone AirTouch plc im November 2000 abgegeben hatte, blieb der Zivilgerichtsbarkeit allerdings entzogen. Denn die restriktive Fassung des § 147 AktG bis zu dessen erneuter Reform durch das UMAG hatte – in der Sache nicht ganz glücklich – zur Folge, dass allein die Strafgerichtsbarkeit mit der schwierigen Frage belastet wurde9, über die aktienrechtliche Zulässigkeit solcher Anerkennungsprämien (appreciation awards) für aktuelle und einstige Vorstandsmitglieder zu befinden, die ihnen der Aufsichtsrat noch im Nachhinein für die von ihnen bewirkte „enorme Wertsteigerung der Gesellschaft“ bzw. den „wertmäßigen Erfolg der Aktionäre“ gewährt. In der hierüber entbrannten Fachdiskussion10 wurde neben mehreren Detailbedenken gegen solche Zahlungen auch ein fundamentaler Zulässigkeitseinwand vorgetragen: „Vorstände sollen die Stellung ihrer Gesellschaften am Markt sichern und den Gewinn mehren. Dafür werden sie bezahlt und dafür kann ihnen eine Prämie aus dem Gewinn zugesichert werden. Im Fall Mannesmann sind solche Erfolge gerade nicht erreicht worden. … Weder der Umsatz ist gestiegen noch der Ertrag – im Gegenteil. Gewiss, der Börsenwert der Aktien ist in dieser Zeit stark gestiegen. Aber davon hat Mannesmann nichts gehabt; es betraf das Vermögen der Aktionäre. Dann aber kann auch nicht aus der Kasse ihres Unternehmens eine Prämie gezahlt werden. Das hätten schon die Aktionäre selbst tun müssen“11. In moderne Terminologie übersetzt heißt dies schlicht: Für den Vorstand einer börsennotierten deutschen Aktiengesellschaft bildet die Steigerung des Shareholder Value oder, gesellschafts- und sozialpolitisch weniger anstößig, die Marktwertmaximierung der Aktien kein Unternehmensziel, das er zulässigerweise verfolgen dürfte. Damit verweist die Debatte im Mannesmann-Fall auf eine Grundsatzfrage des deutschen Aktienrechts und widerlegt zugleich die gelegentliche Einschätzung, dass der Vorstand gesicherter Erkenntnis zufolge bei seinen Entscheidungen dem Shareholder Value-Gedanken Rechnung tragen dürfe12.
__________ 9 Für ein besonnenes Resümee des Verfahrens vor der Wirtschaftsstrafkammer s.
Jahn, ZRP 2004, 179 ff.; aber auch Daniels, ZRP 2004, 270 ff. 10 Für Zulässigkeit Hüffer, BB 2003, Beil. 7, S. 21 ff.; Wollburg, ZIP 2004, 646 ff. (652 ff.);
trotz gewisser Einschränkungen auch Adams in FS C. C. Weizsäcker, 2003, S. 295 (351); mit eigenwilligem Begründungsansatz – energische „Verteidigungsmaßnahmen“ bildeten jedenfalls vor In-Kraft-Treten des WpÜG eine nach § 612 BGB gesondert zu vergütende Leistung der Vorstandsmitglieder – ferner Liebers/Hoefs, ZIP 2003, 97 (98 f.); a. A. – sehr pointiert – Lutter/Zöllner, FAZ v. 10.2.2004, Nr. 34, S. 12; Bayer, FAZ v. 28.4.2004, Nr. 99, S. 23; ausführlicher Brauer, NZG 2004, 502 ff.; Käpplinger, NZG 2003, 573 (574). 11 Lutter/Zöllner, FAZ v. 10.2.2004, Nr. 34, S. 12; s. jetzt aber Zöllner in Kalss/ Nowotny/Schauer (Hrsg.), GesRZ Sonderheft Societas Europaea, 2004, S. 5 (10). 12 Für diese Einschätzung s. Fleischer in Hommelhoff/Hopt/von Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 129 (135).
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Gleichwohl gilt für das heutige Aktienrecht jedenfalls im Ergebnis, dass die Marktwertmaximierung als eigenständiges Unternehmensziel zulässig ist bzw., anders gewendet, dass der Vorstand seine Leitungstätigkeit am Ziel der Markwertmaximierung ausrichten darf. Dieser Gegenwartsbefund ist das Resultat einer grundlegenden Veränderung, die das Aktienrecht innerhalb weniger Jahre erfahren hat. Noch im Jahre 1997 ließ sich die Rechtslage dahin gehend resümieren, dass eine konsequente Verwirklichung des der Marktwertmaximierung verpflichteten Shareholder Value-Ansatzes nur um den Preis eines aktienrechtlichen Paradigmenwechsels möglich wäre13. Genau diese Zeitenwende ist in der Zwischenzeit eingetreten. Zahlreiche scheinbar disparate Entwicklungen des modernen Aktienrechts konvergieren in konzeptioneller Hinsicht nämlich darin, die ohnehin beschränkten – Stichwort: die Rechtsstellung des Aktionärs als Hybrid zwischen Verbandsmitgliedschaft und Anlegereigenschaft14 – verbandsrechtlichen Wurzeln des AktG 1965 fortlaufend weiter zu kappen. Diese Änderungen in ihrer Bedeutung für die nunmehrige Zulässigkeit der Marktwertmaximierung als Leitungsmaxime der Aktiengesellschaft näher nachzuzeichnen und einige Implikationen dieser veränderten Rechtslage auszuleuchten, muss schon deswegen ein Anliegen sein, weil sich diese Entwicklung nicht zuletzt der Judikatur des II. Zivilsenats unter dem Vorsitz des Jubilars verdankt15.
II. Überblick und Problemaufriss Die (aktien)rechtlichen Implikationen des betriebswirtschaftlichen Shareholder Value-Ansatzes finden seit knapp einem Jahrzehnt zunehmende Aufmerksamkeit16. Von Anfang an konzentrierte sich das Interesse dabei auf zwei eng miteinander verknüpfte Fragestellungen:
__________ 13 Mülbert, ZGR 1997, 129 (172). 14 Zum Konzept der hybriden Aktionärsstellung s. insbesondere Mülbert, Aktienge-
sellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, passim; kürzer ders. in Großkomm.AktG, 14. Lfg. 1999, Vor §§ 118–147 Rz. 199 ff.; ders. in FS Ulmer, 2003, S. 433 ff.; im Grundsätzlichen zustimmend Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2004, S. 165; v. Bonin, Die Leitung der Aktiengesellschaft zwischen Shareholder Value und Stakeholder-Interessen, 2004, S. 153. 15 Und vielleicht auch deswegen, weil der Jubilar schon vor Jahren der Wissenschaft anheimgab, „mehr als bisher im deutschen Rechtskreis üblich, fachübergreifend rechtliche und ökonomische Gesichtspunkte“ zusammenzuführen, s. Röhricht, ZGR 1999, 445 (478). 16 Zunächst Mülbert, ZGR 1997, 129 ff.; W. U. Schilling, BB 1997, 373 ff.; R. H. Schmidt/Spindler in FG Kübler, 1997, S. 515 (534 ff.); sodann Kübler in FS Zöllner, 1998, S. 321 ff.; Groh, DB 2000, 2153 (2157 f.); Tröger, Treupflicht im Konzernrecht, 2000, S. 126 ff.; Ulmer, AcP 202 (2002), 151 (152 ff.); Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 59 ff.; Fleischer (Fn. 12), S. 129 ff.; Servatius (Fn. 14), S. 114 ff.; v. Bonin (Fn. 14), passim. Von betriebswirtschaftlicher Seite etwa v. Werder, ZGR 1998, 69 ff.; Kuhner, ZGR 2004, 244 ff.
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Marktwertmaximierung als Unternehmensziel der Aktiengesellschaft
–
Darf der Vorstand seine Leitungstätigkeit am Shareholder Value-Ansatz ausrichten, wenn ihm als Gesellschaftszweck17 eine autonome Gesellschaft mit gesetzestypischem Formalziel – sei es die Gewinnmaximierung oder, nach ganz h. M., das die gesellschaftsbezogenen Interessen anderer Stakeholder einbeziehende Unternehmensinteresse – vorgegeben ist?
–
Steht es dem Satzungsgeber offen, das Formalziel als den einen Bestandteil des Gesellschaftszwecks inhaltlich gemäß dem Shareholder ValueAnsatz, d. h. im Sinne von Marktwertmaximierung, ausformen?
Die Antworten auf diese Fragen fallen bis heute unterschiedlich aus. Dazu trägt auch eine fehlende Verfestigung der Diskussionsgrundlagen in dreifacher Hinsicht bei: –
Was bedeutet das Ziel der Gewinnmaximierung? Ist dies gleichbedeutend mit dem Ziel einer Maximierung des Unternehmenswertes18?
–
Worin besteht das gesetzestypische Formalziel einer Gesellschaft: Gewinnmaximierung, Unternehmensinteresse bei Vorrang der (auf die Gewinnmaximierung gerichteten) Aktionärsinteressen gegenüber den Interessen anderer Stakeholder, Unternehmensinteresse bei Gleichberechtigung der Interessen mehrerer Stakeholder19?
–
Welche Inhalte verbinden sich mit dem Begriff des Shareholder Value (-Ansatzes)?
In letzterem Punkt ist zum Teil eine ausgesprochen untechnische Begriffsverwendung zu beobachten. Für manche steht Shareholder Value für eine stärkere Berücksichtigung der Aktionärsinteressen gegenüber den Interessen der anderen Stakeholder, für eine vorrangige Berücksichtigung der Aktionärsinteressen gegenüber den sonstigen Interessen im Rahmen des Unternehmensinteresses20. Andere meinen damit einen sozusagen kastrierten, um alle verbandsrechtswidrigen „weiteren Ausprägungen und Grundlagen“ bereinigten Shareholder Value-Ansatz21. Noch andere22 nehmen mit diesem Begriff das konzeptionell in der modernen Kapitalmarkttheorie gründende wirtschaftswissenschaftliche Modell in Bezug, das es dem Vorstand einer Gesellschaft bei Zugrundelegung bestimmter Prämissen ermöglicht, Investi-
__________ 17 Dazu, dass der Gesellschaftszweck die beiden Komponenten (Un)abhängigkeit und
Formalziel umfasst, s. nur Mülbert in FS Lutter, 2000, S. 535 (539 f.). 18 Dazu noch unter III. 1. 19 Überblick m. w. N. etwa bei Mülbert, ZGR 1997, 129 (141 ff.); seitdem etwa Kort in
Großkomm.AktG, 19. Lfg. 2003, § 76 Rz. 52 ff.; v. Bonin (Fn. 14), S. 85 ff. 20 S. Ulmer, AcP 202 (2002), 151 (155); Fleischer (Fn. 12), S. 130; s. auch Groh, DB
2000, 2153: Spielart des altbekannte Modells der Gewinnmaximierung. 21 So wohl Servatius (Fn. 14), S. 116 ff. S. auch das „weiche“ Shareholder Value-Kon-
zept von R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 528 ff. und Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 76 Rz. 66 f. 22 Etwa Mülbert, ZGR 1997, 129 ff.; Paefgen (Fn. 16), S. 59 ff.
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tions- und Finanzierungsentscheidung im Marktwertmaximierungsinteresse der als Anleger verstandenen Aktionäre zu treffen23. Zur Zulässigkeitsfrage – darf sich der Vorstand bei seiner Leitungstätigkeit am Shareholder Value-Ansatz orientierten? – haben die Kontroversen zum Inhalt des für Vorstand und Aufsichtsrat maßgeblichen gesetzestypischen Gesellschafts- bzw. Unternehmensinteresses sowie inhaltlich divergierende Verwendungen des Terminus „Shareholder Value“ ganz unterschiedliche Argumentationsmuster und Antworten zur Folge. Im Kern lassen sich die Positionsnahmen letztlich zwei Diskussionsebenen zuordnen: Das Unternehmensinteresse als die nach ganz h. M. für Vorstand und Aufsichtsrat maßgebliche Leitungsmaxime liegt als Zulässigkeitseinwand nahe, stellt man die (vorgeblichen) negativen Auswirkungen des Shareholder ValueAnsatzes auf die übrigen Stakeholder in den Mittelpunkt24. Diesbezügliche Bedenken verlieren freilich entscheidend an Gewicht, wenn man dem seit In-Kraft-Treten des KonTraG verstärkt zu beobachtenden Trend entsprechend den Aktionärsinteressen im Rahmen des Unternehmensinteresses einen Vorrang zuerkennt25 oder gar das Gewinnmaximierungsziel wieder ganz an die Stelle des Unternehmensinteresses treten lässt26. Die verbandsrechtlichen Implikationen des Shareholder Value-Ansatzes stehen im Raum, soweit man im Sinne des einleitend wiedergegebenen Zitats darauf abhebt, dass der Vorstand als Organ der Gesellschaft deren Vermögen zu mehren hat und die Maximierung des Marktwerts der Aktien aus aktienrechtlicher Sicht daher keine zulässige Leitungsmaxime bildet. Dieser sogleich noch zu präzisierende prinzipielle Einwand (s. III.) musste vor InKraft-Treten des KonTraG dazu führen, dem Shareholder Value-Ansatz eine allenfalls beschränkte aktienrechtliche Kompatibilität zu attestieren27; erst
__________
23 Zum Shareholder Value-Ansatz s. etwa R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 517 ff.;
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25
26 27
v. Werder, ZGR 1998, 69 (71 ff.); Kuhner, ZGR 2004, 244 (258 ff.); v. Bonin (Fn. 14), S. 53 ff. Z. B. W. U. Schilling, BB 1997, 373 (380), ähnlich wohl auch Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 76 Rz. 12; großzügiger Wiesner in Hoffmann-Becking (Hrsg.), MünchHdb. GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 19 Rz. 19; R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 548. Z. B. Kort in Großkomm.AktG, § 76 Rz. 54; Fleischer (Fn. 12), S. 135; Wollburg, ZIP 2004, 646 (648) (zu diesem auch noch unten in Fn. 35); wohl auch Ulmer, AcP 202 (2002), 151 (158 f.), wenn er eine Inkorporierung der Interessen der anderen Stakeholder in den Leitungsauftrag des Vorstands zwar ablehnt (158), aber deren Berücksichtigung gleichwohl für zulässig erachtet (159). Etwa Groh, DB 2000, 2153 (2158); Zöllner (Fn. 11), S. 9; vgl. auch Mülbert, ZGR 1997, 129 (147 ff., 166 ff.). Mülbert, ZGR 1997, 129 (161 ff.); ebenso noch nach In-Kraft-Treten des KonTraG Tröger (Fn. 16), S. 129 ff.; Paefgen (Fn. 16), S. 62 ff.; sogar gänzlich ablehnend Lutter/ Zöllner, FAZ v. 10.2.2004, Nr. 34, S. 12; Servatius (Fn. 14), S. 118, 166; s. auch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 26 II 3 c: Shareholder Value darf nach dem Konzept des AktG nicht Selbstzweck, sondern nur Indikator für Unternehmenserfolg sein. Unklar Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 21), § 76 Rz. 64, 68. Schon vor dem KonTraG dezidiert für Verbandsrechtskompatibilität
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Marktwertmaximierung als Unternehmensziel der Aktiengesellschaft
aufgrund der seitherigen Aktienrechtsentwicklung wurde er, so die Kernthese dieses Beitrags (s. IV.), gegenstandslos.
III. Gewinnmaximierung v. Marktwertmaximierung 1. Gewinnmaximierung ist Unternehmenswertmaximierung ist Marktwertmaximierung? Unterschiede zwischen den beiden Zielen der Gewinnmaximierung bei der Gesellschaft und der Marktwertmaximierung der Aktie sollen nach gelegentlichen Andeutungen mit einem gedanklichen Dreisprung auszuräumen sein: Gewinnmaximierung ist Unternehmenswertmaximierung ist Marktwertmaximierung. Etwas ausführlicher: Das Formalziel der Gewinnmaximierung fordert die Mehrung des Gesellschafts(netto)vermögens i. S. des Eigenkapitalwertes; die Höhe dieser Vermögensmehrung bemisst sich nach einer Unternehmensbewertung; die Bewertung des Unternehmens wird bei normalen Kapitalmarktverhältnissen mit größter Verlässlichkeit durch den Börsenkurs abgebildet. Bei genauerem Zusehen verknüpft dieser argumentative Dreischritt freilich gleich mehrere Missverständnisse zum Verhältnis von Verbandsrecht und Shareholder Value-Ansatz: Für das Ziel der Gewinnmaximierung in seiner Präzisierung als Mehrung des Eigenkapitalwerts mag man schon bezweifeln wollen, dass sich diese Mehrung in der Konzeption des AktG 1965 tatsächlich nach Maßstäben der Unternehmensbewertung und nicht nach Ergebnisgrößen der Rechnungslegung bemisst. Immerhin legt die Verwaltung gegenüber den Aktionären durch den Jahresabschluss Rechnung, nicht durch Angabe einer nach Unternehmensbewertungskriterien ermittelten Wertänderung. Hält man gleichwohl die gemäß letzteren Messkriterien ermittelte Größe für maßgeblich28, etwa weil die aufsummierten Barwerte der Investitionen die Mehrung des Gesellschafts(netto)vermögens i. S. des Eigenkapitalwertes besser abbilde als bilanzielle Ergebnisgrößen, ist weiter zu beachten, dass sub specie Gewinnmaximierung aus verbandsrechtlicher Perspektive die Bewertung des Gesellschaftsvermögens durch die Gesellschaft in Frage steht, nicht die Bewertung der Gesellschaft durch die Anleger am Kapitalmarkt29. Verbandsrechtlich, und dies gilt über alle Außenverbände hinweg, geht es um die Maximierung des Gesellschaftsvermögens aus Sicht der Gesellschaft. Dass ihre Mitglieder an Vermögenszuwächsen bei dieser partizi-
__________ des Shareholder Value-Ansatzes R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 535 ff., allerdings aufgrund der ökonomischen statt verbandsrechtlichen Perspektive, dass der Verband unmittelbar die Interessen seiner Anteilseigner verfolgt (besonders klar 540, 548 f.); ihnen darin folgend v. Bonin (Fn. 14), S. 141 ff., 151 ff.; dazu noch unten bei Fn. 30, 31. 28 Z. B. Mülbert, ZGR 129 (157 f.); v. Bonin (Fn. 14), S. 129 f. 29 Zum Folgenden wie hier auch Tröger (Fn. 16), S. 129.
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pieren, ist ein bloßer Reflex ihrer auf das jeweilige Gesellschaftsvermögen bezogenen mitgliedschaftlichen Vermögensansprüche und führt nicht etwa dazu, dass der Verband „eine gemeinsame finanzielle Zielsetzung verschiedener Aktionäre“ verfolgt30. Denn nach der Konzeption des Verbandsrechts partizipieren die Gesellschafter finanziell durch Ausschüttungen während der Existenz der Gesellschaft sowie durch die Verteilung ihres Gesellschaftsvermögens in der Liquidation, und die Maximierung dieser Verteilungsgrößen setzt die Maximierung des Gesellschaftsvermögens voraus, nicht die Marktwertmaximierung der Beteiligung an der Gesellschaft31. Erst recht keine Rolle für das Ziel der Gewinnmaximierung durch die Gesellschaft spielt, dass ein rationaler Anlegeraktionär ein (Aktien)portfolio halten und die einzelne Aktie im Kontext seines risikoeffizienten Portfolios bewerten wird. Als Konsequenz verbietet es sich, dass die Gesellschaft die Änderungen in ihrem Vermögen anhand der Ertragswertmethode bemisst und hierbei für die Diskontierungssätze die auf Basis etwa des Capital Asset Pricing Model (CAPM)32 mit repräsentativem Investor ermittelten marktdeterminierten Risikoprämien verwendet, um so die Brücke von der Unternehmenswert- zur Marktwertmaximierung zu schlagen. Denn diese Risikoprämien gelten lediglich für die anspruchsvolle Prämisse des CAPM, dass der Investor einen Bruchteil des gesamten Marktportfolios hält33. Für die Gesellschaft geht es aber darum, das unsystematische Risiko ihrer nicht im Marktkontext zu bewertenden Investitionen richtig zu bepreisen, und hierfür taugen aus dem CAPM mit repräsentativem Investor abgeleitete Risikoprämien nicht. Umgekehrt gilt damit zugleich: Maximiert eine Gesellschaft den Wert ihres Vermögens, indem sie das unsystematische Risiko ihrer Vermögenswerte widerspiegelnde Risikoprämien verwendet, wird sie nicht zugleich auch marktwertmaximierend tätig. Das leitet bereits über zur These, dass der Börsenwert bei normalen Kapitalmarktverhältnissen die beste Vermutung über den richtigen Unternehmenswert darstellt. Mindestvoraussetzung hierfür wäre zunächst, dass der
__________ 30 So aber R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 548 f.; v. Bonin (Fn. 14), S. 142, 151. 31 Die Distanz der verbandsrechtlichen Konzeption zum Ziel der Marktwertmaxi-
mierung tritt besonders deutlich bei R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 524 f. mit ihrem Hinweis auf das Separationstheorem von Fisher hervor, wonach die Anteilseigner die Marktwertmaximierung einmütig befürworten werden, wenn, als eine von mehreren Voraussetzungen, die Anteilseigner ihre Zahlungsansprüche, also Gesellschaftsanteile, jederzeit kostenlos in für sie günstigere Zahlungsströme umtauschen können. 32 Darstellungen des CAPM finden sich in allen gängigen Lehrbüchern zur Kapitalmarkt- und Finanzierungstheorie. S. nur Franke/Hax, Finanzwirtschaft des Unternehmens und Kapitalmarkt, 5. Aufl. 2004, S. 351 ff.; R. H. Schmidt/Terberger, Grundzüge der Investitions- und Finanzierungstheorie, 4. Aufl. 1997, S. 343 ff. 33 Demgegenüber wollen R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 539 nicht einsehen, „wieso der Verband AG ein von ihm zu tragendes Risiko anders bewerten sollte als sein Mitglied“.
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Börsenkurs die Aktie als quotalen Anteil am Unternehmenswert bewertet, nicht hingegen als Mitgliedschaftsrecht in der Gesellschaft und damit als selbständiges Wirtschaftsgut34. Ob den realen Börsenkursen durchweg das erstere Verständnis des Bewertungsobjekts Aktie zugrunde liegt, mag man bezweifeln. Denn danach dürften etwa unterschiedliche Kursverläufe von Stammaktien und stimmrechtslosen Vorzugsaktien einer Gesellschaft an sich gar nicht vorkommen. Aber auch dann, wenn der Markt das Bewertungsobjekt Aktie als quotalen Anteil am Eigenkapitalwert des Unternehmens bepreist, verbleiben jedenfalls die soeben schon angeklungenen Probleme aus dem Gesamtmarktbezug des CAPM. Dieser Bewertungszusammenhang hat nämlich zur Folge, dass sich die Unternehmensbewertung durch den marktbezogenen Börsenkurs nicht mit dem Wert des Gesellschaftsvermögens für die Gesellschaft gleichsetzen lässt, weil diese ihr Vermögen mangels Haltens eines Bruchteils am Marktportfolio unabhängig vom Marktzusammenhang bewerten muss. Die Maximierung des im Börsenkurs ausgedrückten Marktwertes ist also keinesfalls gleichbedeutend mit einer maximalen Mehrung des Gesellschaftsvermögens aus Sicht der Gesellschaft und vice versa35. 2. Ausschüttung überschüssigen Kapitals zwischen Gewinn- und Marktwertmaximierung Wendet man den Gegensatz zwischen dem verbandsrechtlich bestimmten Konzept der Gewinnmaximierung bei der Gesellschaft und der Marktwertmaximierung der Aktie stärker ins Praktische, geht es um die jeweiligen Konsequenzen für die Leitungstätigkeit des Vorstands (und Aufsichtsrats). In der Tat divergieren für zahlreiche Fragen die jeweils abzuleitenden Handlungsanweisungen, je nachdem, ob die Verwaltung sich der Mehrung des Gesellschaftsvermögens oder der Marktwertmaximierung der Aktie verschreibt36. Besonders deutlich treten die unterschiedlichen Sichtweisen mit ihren jeweiligen Handlungsimplikationen bei der Frage zu Tage, wann bei der Gesellschaft überschüssiges, an die Aktionäre mittels Dividendenzahlungen oder eines Aktienrückkaufs auszukehrendes Kapital vorhanden ist. Von überschüssigem Kapital lässt sich sprechen, wenn es der Gesellschaft an einem zur Verfolgung von Unternehmensgegenstand und -zweck geeigneten
__________
34 Zu dieser Unterscheidung s. nur Mülbert/Schneider, WM 2003, 2001 (2010); Hüffer
in FS Hadding, 2004, S. 461 (463 ff.); Hüffer/Schmidt-Aßmann/Weber, Anteilseigentum, Unternehmenswert und Börsenkurs, 2005, S. 23 ff. 35 Schon aus diesem Grunde läßt sich die Marktwertmaximierung nicht damit rechtfertigen, dass die Börsenkursmaximierung im Unternehmensinteresse der Gesellschaft selbst liege (so aber Wollburg, ZIP 2004, 646 [648]). Im Übrigen ist die Gesellschaft selbst sub specie Unternehmensinteresse gar kein beachtlicher Interessenträger; s. nur Hüffer, AktG, § 76 Rz. 12 ff.; a. A. vor allem Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1996, § 76 Rz. 8 und öfter. 36 Zu hauptsächlichen Konfliktlagen s. Mülbert, ZGR 1997, 129 (159 ff.).
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Investitionsprojekt fehlt, wenn sie also, technischer formuliert, mittels des bei ihr vorhandenen Kapitals nicht mindestens ein Investitionsvorhaben mit positivem Barwert realisieren könnte. Worin sich das verbandsrechtliche Gewinnmaximierungsziel und das dem Shareholder Value-Ansatz verhaftete Marktwertmaximierungsziel fundamental unterscheiden, ist das Konzept zur Ermittlung dieses (positiven) Barwerts: Gewinnerzielung qua Mehrung des Gesellschafts(netto)vermögens bemisst sich, wenn man diesen Zuwachs nach Grundsätzen der Unternehmensbewertung und nicht anhand von Ergebnisgrößen der Rechnungslegung ermittelt37, indem die Gesellschaft die künftig erzielten Einnahmeüberschüsse mit einem adäquaten Zinssatz diskontiert. Diesen Diskontierungszinssatz kann die Gesellschaft im Grundsatz selbst wählen. Exogene Vorgaben folgen insbesondere nicht aus den Renditeerwartungen der Aktionäre. Denn ungeachtet der bilanziellen Behandlung von gezeichnetem Kapital und Rücklagen ist das eigenkapitaldeckende Reinvermögen der Gesellschaft selbst zugeordnet, steht ihr also kostenlos zur Verfügung, so dass sie insoweit keine Renditeerwartungen Dritter einkalkulieren muss. Im Übrigen hat die Gesellschaft bei der Wahl des Diskontierungszinssatzes jedenfalls die nächstbeste Alternativrendite zu berücksichtigen; zudem kann und wird sie im Sinne der Portfoliotheorie38 den Beitrag der einzelnen Investition zum Ergebnis ihres Investitionsportfolios berücksichtigen. Bei diesem Vorgehen wird ein Kapitalüberschuss im Ergebnis praktisch niemals vorliegen. Mangels externer Renditevorgaben bleibt der Gesellschaft nämlich – vorbehaltlich etwaiger satzungsmäßiger Restriktionen, die mit § 23 Abs. 5 AktG allerdings nur schwer zu vereinbaren sein dürften – immer die Möglichkeit, in (nahezu) risikolose Titel wie Staatsanleihen zu investieren und damit jedenfalls eine Minimumrendite zu erzielen39. Von daher erklärt sich dann auch, dass im Aktien- und allgemeiner im Gesellschaftsrecht der Konflikt Thesaurierung v. Ausschüttung unter ganz anderen Vorzeichen diskutiert wird, nämlich als Konflikt zwischen dem Thesaurierungsinteresse der Verwaltung oder/und der Gesellschaftermehrheit einerseits und dem Ausschüttungsinteresse einer Minderheit andererseits. Demgegenüber orientiert sich der Shareholder Value-Ansatz für die Marktwertmaximierung der Aktie daran, wie die Investoren einen Finanztitel am Kapitalmarkt bewerten. Weil Anleger den erwarteten Ertrag mit möglichst geringem Risiko realisieren wollen und durch geschickte Zusammenstellung eines Portfolios mit risikotragenden Titeln erreichen können, dass das Risiko
__________ 37 Dazu schon oben III. 1. 38 Für eine Darstellung der Portfoliotheorie mit ihren Implikationen s. etwa Elton/
Gruber/Brown/Goetzmann, Modern Portfolio Theory and Investment Analysis, 6. ed. 2003. 39 Davon zu unterscheiden ist die Vereinbarkeit einer solchen Betätigung der AG mit den unternehmensgegenständlichen Vorgaben zum sachlichen Tätigkeitsbereich.
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dieser Portfolioinvestition niedriger liegt als das der Investition in einen einzelnen risikotragenden Titel mit gleichem erwarteten Ertrag, werden sie vernünftigerweise in das risikoeffiziente Portfolio investieren, statt alles auf einen einzelnen risikotragenden Titel zu setzen. Als Konsequenz aus dieser Dominanz des Portfolioertrags gegenüber dem der Einzeltitel des Portfolios werden solche Portfolioinvestoren den einzelnen Titel nicht je für sich, sondern im Kontext des risikoeffizienten Portfolios bewerten; dieses besteht bei homogenen Ertragserwartungen aller Anleger im Gesamtmarkt, bei divergierenden Erwartungen in jeweils individuellen Titelzusammenstellungen. Hinzu kommt beim Portfolioansatz, dass aus der aktuellen Marktbewertung eines Titels sich etwa mittels des CAPM eine implizite Renditeerwartung der Anleger ableiten lässt. Diese erwartete Eigenkapitalrendite erscheint aus der Perspektive der Gesellschaft als Kostensatz für den Einsatz des von den Aktionären investierten Kapitals; bei der Barwertermittlung eines eigenkapitalfinanzierten Investitionsvorhabens sind als Diskontierungszinssatz die aus der Marktbewertung abgeleiteten (kalkulatorischen) Eigenkapitalkosten zugrunde zu legen. Im Rahmen des Shareholder Value-Ansatzes hat ein Projekt demnach nur dann einen positiven Barwert, wenn sich bei der Diskontierung der erwarteten künftigen Einnahmeüberschüsse mit den marktdeterminierten Eigenkapitalkosten ein positiver Wert errechnet. 3. Verbandsdenken v. methodologischer Individualismus Diese ganz unterschiedlichen Maßstäbe in der Frage, wann sich Kapital ohne Widerspruch zur Gewinnerzielungsabsicht ausschütten lässt, weil es der Gesellschaft an geeigneten Investitionsprojekten fehlt, sind Ausdruck des fundamentalen Gegensatzes zwischen dem tradierten verbandsrechtlichen Denken des Gesellschaftsrechts und der als methodologischer Individualismus bekannten, vom nutzenmaximierenden einzelnen Individuum ausgehenden Erkenntnisperspektive der Wirtschaftswissenschaften40. Die beiden gegensätzlichen Positionen lassen sich, soweit vorliegend von Interesse, etwa wie folgt umreißen. Verbandsrechtlich wird die Gesellschaft als gegenüber ihren Aktionären dominant verselbständigter Rechtsträger ernst genommen. Dieser und nicht jenen ist das in Höhe der Einlagen und des Agios von den Aktionären aufgebrachte Eigenkapital zugeordnet; den entsprechenden Bilanzpositionen auf der Passivseite liegen keine rechtlichen Verbindlichkeiten der Gesellschaft gegenüber ihren Aktionären zugrunde. Die Vorstandsmitglieder haben sich bei ihrer Tätigkeit als Mitglieder eines kraft organschaftlicher Zurechnung für die Gesellschaft tätigen Organs am Interesse der Gesellschaft selbst zu orientieren; umfasst das Gesellschaftsinteresse wie im gesetzlichen Regelfall
__________ 40 Im Grundsätzlichen schon Mülbert, ZGR 1997, 129 (156 ff.); ferner Eidenmüller, JZ
2001, 1041 f.
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das Formalziel der Gewinnerzielung, ist allein die Mehrung des Gesellschaftsvermögens verlangt. Am Zuwachs des Gesellschaftsvermögens partizipieren die Aktionäre kraft ihrer durch die Mitgliedschaft vermittelten anteiligen Beteiligung am Gesellschaftsvermögen und damit nur reflexartig; nicht hingegen hat ihnen die Gesellschaft eine aus ihrer Sicht als Eigenkapitalkosten erscheinende Vergütung für die Überlassung von Einlagen und Agio zu bezahlen. Dem Ausgangspunkt der Wirtschaftswissenschaften beim einzelnen natürlichen Wirtschaftssubjekt entspricht es andererseits, die Maßstäbe für das Leitungsverhalten des Vorstands (und Aufsichtsrats) nicht aus den Interessen der Gesellschaft als einem „bloßen rechtlichen Konstrukt“, sondern im Durchgriff aus den Interessen der tatsächlich dahinter stehenden natürlichen Personen abzuleiten. In Fortsetzung dieser Negation des Rechtsgebildes Gesellschaft ist der Vorstand im Verhältnis zu den Aktionären so zu behandeln, als ob ein Vertrag (nexus of contracts) im Sinne eines Treuhandverhältnisses zwischen ihnen bestünde41, in dessen Rahmen die Aktionäre als Anleger dem Vorstand eine bestimmte Investitionssumme zur möglichst vorteilhaften, weil den Marktwert ihrer Investition maximierenden Verwendung zur Verfügung stellen. Das Eigenkapital der Gesellschaft ist, so gesehen, ebenfalls Fremdkapital, für dessen Überlassung die Aktionäre eine bei der Gesellschaft als kalkulatorische Eigenkapitalkosten zu Buche schlagende Mindestverzinsung erwarten. Deren Höhe spiegelt sich in der jeweiligen Marktbewertung. Kann die Gesellschaft nicht einmal ihre Eigenkapitalkosten erwirtschaften, wird die in der Marktbewertung ausgedrückte implizite Renditeerwartung der Aktionäre bezüglich ihrer Investition in die Gesellschaft enttäuscht, so dass der Marktwert dieser Vermögensposition, also der Kurs der Aktie, sinkt. 4. Zwischenergebnis Gewinnmaximierung im verbandsrechtlichen Sinne als Mehrung des Gesellschaftsvermögens und Marktwertmaximierung im Sinne des Shareholder Value-Ansatzes sind zwei grundlegend verschiedene Konzeptionen. Verbandsrechtlich steht die Gesellschaft ganz im Zentrum. Die Verwaltung ist den eigenen Unternehmenszielen der Gesellschaft verpflichtet; beim gesetzestypischen Formalziel der Gewinnmaximierung ist dies die maximale Mehrung ihres Gesellschaftsvermögens. Die Aktionäre sind als Mitglieder der Gesellschaft darauf verwiesen, an diesem Vermögenszuwachs reflexartig, kraft ihrer mitgliedschaftlichen Vermögensansprüche gegen die Gesellschaft
__________ 41 Dazu Mülbert in Großkomm.AktG, Vor §§ 118–147 Rz. 194; ausführlicher zur
Vertragsnetzwerkperspektive mikroökonomischer Herkunft etwa Zöllner, AG 2003, 2 (9 ff.).
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zu partizipieren. Gewinnmaximierung in dieser Welt des Verbandsrechts bedeutet letztlich also, dass die Gesellschaft die aus ihrer Sicht jeweils vorteilhaftesten, weil den Wert ihres Vermögens maximierenden Investitionsprojekte auswählen kann, ohne hierbei Restriktionen aus den exogenen Renditeanforderungen ihrer Aktionäre zu unterliegen42. Ökonomisch steht der als Investor verstandene einzelne Aktionär ganz im Zentrum. Dieser erwartet wegen seiner Finanzierungsleistungen eine möglichst hohe, den Marktwert seiner Anlage maximierende Rendite; für den seitens der Gesellschaft tätigen Vorstand bedingt dies eine Orientierung seiner Tätigkeit am Ziel der Marktwertmaximierung. Den Gegensatz zum verbandsrechtlichen Denken zwar nicht begründend43, wohl aber noch verschärfend kommt hinzu, dass der Aktionär als rationaler Investor ein Portfolio halten und die einzelne Aktie im Kontext seines (individuellen) Portfolios bewerten wird; die dem Verbandsrecht eigene Fokussierung auf jeweils eine einzelne Gesellschaft wird also transzendiert. Marktwertmaximierung in einer Welt von Portfolioinvestoren bedeutet damit, dass die (Verwaltung der) Gesellschaft über die Auswahl der marktwertmaximierenden Investitionsprojekte nicht nach autonom festgelegten Kriterien entscheiden kann, sondern von den exogenen Renditeanforderungen ihrer in ein Portfolio investierten Anlegeraktionäre bestimmt wird.
IV. Die Öffnung gegenüber der Marktwertmaximierung seit dem KonTraG Mit dem verbandsrechtlich konzipierten Gewinnmaximierungsziel verträgt sich der Shareholder Value-Ansatz nach den bisherigen Überlegungen nur beschränkt, nämlich nur insoweit, als eine daran orientierte Unternehmenspolitik die Maximierung des Gesellschaftsvermögens befördert. Für das gesetzestypische Formalziel der AG in Gestalt der Gewinnmaximierung ist jedoch, wenn auch nicht schon bei Schaffung des AktG 1965, wohl aber seit In-Kraft-Treten des KonTraG, eine Abkehr von der strikt verbandsrechtlichen Konzeption festzustellen. Mit den seitherigen Fortentwicklungen auf legislativer und judikativer Ebene hat sich das Aktienrecht dem Markt-
__________ 42 Hieran würde sich auch bei Zugrundelegung des von der ganz h. M. favorisierten
Unternehmensinteresses, sei es in Form eines Vorrangs der Aktionärsinteressen gegenüber den Interessen der anderen Stakeholder oder in Gestalt allseits gleichberechtigter Stakeholderinteressen, nichts ändern. Auch Unternehmensinteresse würde lediglich die Berücksichtigung der gesellschaftsbezogenen Mitgliederinteressen der Aktionäre erlauben, so dass sich an der fehlenden Möglichkeit zur Implementierung des Shareholder Value-Ansatzes nichts ändern würde. 43 Von wirtschaftswissenschaftlicher Seite wird der Konflikt zu Unrecht teilweise darauf reduziert, dass der Shareholder Value-Ansatz diversifizierte Aktionäre zugrunde legt; s. etwa Kuhner, ZGR 2004, 244 (267 ff.).
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wertmaximierungsziel im Sinne des Shareholder Value-Ansatzes klar geöffnet. Im Einzelnen44: 1. Die Neuorientierung durch das KonTraG Das KonTraG eröffnete unter anderem zusätzliche Spielräume für den Rückerwerb eigener Aktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG) und die Möglichkeit, eine bedingte Kapitalerhöhung zur Bedienung eines Aktienoptionsprogramms vorzunehmen (§ 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG). Beides, der Rückerwerb eigener Aktien und die Durchführung von Aktienoptionsprogrammen, implizieren, dass sich der Vorstand bei seiner Tätigkeit auch an der Marktwertmaximierung orientieren darf. Aktienrückkäufe bilden ein wichtiges Instrument zur Börsenkursstabilisierung oder gar -steigerung; isolierte Aktienoptionen dienen gerade dazu, die vom Vorstand verfolgten Interessen bei der Unternehmensführung mit den Interessen der Aktionäre als Anleger an einem möglichst hohen Börsenkurs auch tatsächlich in Einklang zu bringen. Es wäre geradezu absurd anzunehmen, dass es dem Vorstand im Rahmen eines Aktienoptionsprogramms, das gegebenenfalls sogar noch ambitionierte Ausübungshürden etwa in Form eines Branchenindex als benchmark, vorsieht, nicht möglich sein solle, die Unternehmensstrategie an der Marktwertmaximierung auszurichten. Das alles entspricht auch den Vorstellungen des Gesetzesgebers. Nach der Regierungsbegründung sollten diese Neuregelungen die Ausrichtung der Publikumsgesellschaften auf die Bedürfnisse und Erwartungen der internationalen Finanzmärkte im Sinne einer stärkeren Orientierung an einer langfristigen Wertsteigerung für die Anteilseigner aktiv begleiten45, also, so die sozusagen authentische Interpretation, die stärkere Ausrichtung der Unternehmensstrategie auf den Shareholder Value46. Dieser Zielsetzung des Gesetzgebers entspricht es auch, dass er die erhebliche Erleichterung für die Durchführung von Aktienoptionsprogrammen nicht zugleich mit quantitativen oder qualitativen Restriktionen für „exzessive“ Programme verband, obwohl im Vorfeld das Bestehen solcher Grenzen für Aktienbezugsprogramme und damit auch für das Shareholder Value-Konzept postuliert oder jedenfalls erwogen wurden47. Angesichts dieser Zusammenhänge setzt sich daher zu Recht die Erkenntnis zunehmend
__________ 44 Kursorisch schon Mülbert, Börsenzeitung v. 18.2.2004, Nr. 33, S. 2; ganz ähnlich
jetzt Wollburg, ZIP 2004, 646 (647 f.). 45 Beg. RegE eines Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich
(KonTraG), BT-Drucks. 13/9712, S. 11. 46 Ernst/Seibert/Stuckert, KonTraG, KapAEG, StückAG, EuroEG, 1998, S. 2. S. auch
BGH, WM 2004, 629 (630), wonach die Begründung des RegE zum KonTraG (Fn. 45, S. 23) die Steuerungswirkung einer am Shareholder Value orientierten Vergütung hervorgehoben habe. 47 Für Ersteres s. Hüffer, ZHR 161 (1997), 214 (218); für Zweiteres s. R. H. Schmidt/ Spindler (Fn. 16), S. 552 f.
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durch, dass der Shareholder Value-Gedanke mit dem KonTraG des Jahres 1998 Einzug in das Aktienrecht gehalten hat48. 2. Folgeentwicklungen in der Rechtsprechung a) Das BVerfG49 und der ihm folgende BGH50 haben zu den Anforderungen des Art. 14 GG in der Frage, wie die Abfindung (§ 305 AktG) eines aus der Gesellschaft ausscheidenden Aktionärs zu bemessen ist, in den DAT/ Altana-Entscheidungen erstmals darauf abgehoben, dass das Aktieneigentum entscheidend durch die Verkehrsfähigkeit der Aktie geprägt sei. Daher dürfe sich die Abfindungshöhe nicht ausschließlich daran orientieren, dass die Aktie einem quotalen Anteil am „wahren“ oder „inneren“ Unternehmenswert entspreche. Könne der Aktionär bei einer freien Desinvestitionsentscheidung, d. h. durch die Veräußerung am Markt, einen höheren Gegenwert erlösen, sei vielmehr dieser Wert maßgeblich. Konsequent folgern beide Gerichte weiter, dass dieser Verkehrswert sich im Grundsatz nach dem Börsenkurs bestimmt; anderes gelte nur für Schätzkurse bei fehlendem tatsächlichen Handel. Indem die Gerichte für die Abfindungshöhe auch darauf abstellen, dass der Aktie wegen der jederzeitigen freien Desinvestitionsmöglichkeit ein sozusagen effektiver Verkehrswert zukommt, gewinnen kapitalmarktliche Bewertungszusammenhänge zentrale Bedeutung. Die Marktbewertung entscheidet, und zwar unabhängig von der konzeptionellen Fundierung dieser rationalen Marktbewertung hinsichtlich Bewertungsobjekt und Bewertungsverfahren. Anders formuliert spielt es für die Abfindungsbemessung im Lichte des Art. 14 GG keine Rolle, ob der Markt die Aktie als quotalen Anteil am Unternehmen oder als selbständiges Wirtschaftsgut bewertet51, und auch unabhängig davon, ob die Marktakteure als rationale Anleger auf der Basis der Portfoliotheorie agieren oder nicht. Ins Positive gewendet ist der im Börsenkurs ausgedrückte Verkehrswert der Aktie für die Abfindungsbemessung selbst dann maßgeblich, wenn die Börsenkursbildung durch solche Kapitalmarktgleichgewichtsmodelle zu erklären ist, die, wie etwa das Capital Asset Pricing Model mit oder auch ohne repräsentativen Investor, ihren
__________ 48 Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (158); Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, § 76
Rz. 64; ferner etwa Groh, DB 2000, 2153 (2158); v. Bonin (Fn. 14), S. 131, 149 f.; Fleischer (Fn. 12), S. 135; i. E. auch Zöllner (Fn. 11), S. 10. 49 BVerfGE 100, 289 = WM 1999, 1666 (1668 ff.). 50 BGHZ 147, 108, 115 ff. = WM 2001, 856. 51 Zu dieser Unterscheidung oben III. 1. Unzutreffend daher die restriktive Interpretation der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur durch Henze in FS Lutter, 2000, S. 1101 (1108 f.), wonach nur ein geringerer Entschädigungsbetrag geleistet werden müsse, wenn der Börsenkurs den „wahren“ (anteiligen) Unternehmenswert übersteige. In sich konsequent dagegen BVerfGE 100,289 = WM 1999, 1666, 1670: Kürzung nur dann, wenn der Börsenkurs, etwa bei Marktenge, gar nicht zu erzielen wäre und deswegen nicht als Verkehrswert angesehen werden kann.
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Ausgangspunkt bei diversifizierten Investoren bzw. in der Portfoliotheorie nehmen. b) Die aktienrechtliche Maßgeblichkeit der kapitalmarktlichen Bewertungszusammenhänge wurde von der DAT/Altana-Judikatur ausdrücklich nur für Abfindungskonstellationen statuiert. Aus dem neueren Macrotron-Urteil des BGH zum freiwilligen vollständigen Rückzug einer Gesellschaft von der Börse ist aber ableiten, dass sich die Leitungstätigkeit des Vorstands auch an der Bewertungssicht des Kapitalmarkts ausrichten darf und sogar muss. Denn danach liegt die Entscheidung über das reguläre Delisting entgegen der regulären ausdrücklichen Zuständigkeitsverteilung (§§ 76 Abs. 1, 119 Abs. 1 AktG) in der ungeschriebenen Zuständigkeit der Hauptversammlung, nicht der Leitungskompetenz des Vorstands52. Zur Begründung knüpft der BGH wiederum an das Aktieneigentum des Art. 14 GG an, um seine Ausformung durch die DAT/Altana-Judikatur sodann ins einfachgesetzliche Aktienrecht zu wenden: Der Verkehrswert der Aktie sowie die jederzeitige Möglichkeit seiner Realisierung seien Teil des Aktieneigentums und folglich auch unerlässlicher Bestandteil des mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnisses zwischen Gesellschaft und Aktionär. Der Schutz des mitgliedschaftlichen Vermögenswertes liege in den Händen der Hauptversammlung, nicht der Geschäftsleitung, und daher habe Erstere „darüber zu befinden, ob das Delisting als eine die Verkehrsfähigkeit der Aktie und damit den Verkehrswert des Anteils beeinträchtigende Maßnahme“ durchgeführt werden darf und soll. Zwar geht die – auch bei Zugrundelegung der Interpretation des Art. 14 GG durch den BGH verfassungsrechtlich keinesfalls gebotene – Aussage zur innergesellschaftlichen Kompetenzverteilung bei der AG viel zu weit oder ist jedenfalls missverständlich. Die Frage eines hauptversammlungsgebundenen Schutzes der Aktionäre gegenüber Eingriffen der Gesellschaft betraf bislang allein den Schutz der gegen die Gesellschaft gerichteten Vermögensansprüche eines Aktionärs; die hierauf bezogenen Aussagen der aktienrechtlichen Doktrin lassen sich nicht ohne weiteres für die innergesellschaftliche Zuständigkeit zum Schutze des Verkehrswerts der Aktie fortschreiben53. Daher muss es für diesen Schutz, auch wenn man die Verkehrsfähigkeit der Aktie mit dem BGH zu einem Bestandteil des mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnisses erhebt, nach der insoweit bewährten Konzeption des AktG 1965 bei der Zuständigkeit des Vorstands (und Aufsichtsrats) bewenden. Andernfalls hätte, um nur ein Beispiel zu nennen, die Hauptversammlung und nicht der Vorstand über das Due Diligence-Begehren eines Erwerbsinteressenten für die Gesellschaft zu entscheiden. Zudem entspricht diese Zuständigkeit des Vorstandes noch immer der Sicht des Gesetzgebers, wie § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 WpÜG neuerlich illustriert: Im Falle eines Übernahmeangebots bleibt
__________ 52 Zum Folgenden BGHZ 153, 47 (55) = WM 2003, 437. 53 A. A. Lutter, JZ 2003, 685 (686) ohne weitere Begründung.
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die Zuständigkeit des Vorstandes unberührt, ein konkurrierendes Angebot herbeizuführen und damit für effektiven Verkehrsschutz zu sorgen. Im Übrigen freilich scheint ein Gegenschluss aus der Argumentation des BGH geradezu unabweisbar: Sind der Entscheidungszuständigkeit des Vorstands einer börsennotierten Gesellschaft solche Maßnahmen entzogen, die den Verkehrswert des Aktienanteils beeinträchtigen, darf und muss der Vorstand die Börsennotierung der Aktie als Bestandteil der mitgliedschaftlichen Beziehung zwischen Gesellschaft und Aktionär respektieren und sich bei seiner Tätigkeit auf die kapitalmarktlichen Bewertungszusammenhänge ausrichten, um Beeinträchtigungen des Verkehrswerts der Aktie, also regelmäßig ihres Börsenkurses, zu vermeiden. Zugespitzt formuliert ist die Verfolgung des Shareholder Value bei börsennotierten Aktien nach der Macrotron-Entscheidung nicht mehr nur erlaubt, sondern sogar das Gebot des Aktienrechts. Dieses Gebot der Shareholder Value-Orientierung ist freilich nicht im Sinne einer nur eindimensionalen Zielfunktion Marktwertmaximierung zu verstehen. Darauf deutet jedenfalls die Mobilcom-Entscheidung als eine sozusagen skeptische Fußnote zum Shareholder Value-Ansatz hin. Denn der BGH begnügte sich darin nicht damit festzulegen, dass es bei beiden vom KonTraG eröffneten Wegen zur Beschaffung von Aktien für die Bedienung isolierter Aktienoptionen – § 71 Abs. 1 Nr. 8 und § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG – nicht zulässig sei, auch die Mitglieder des Aufsichtsrats in ein Aktienoptionsprogramm einzubeziehen. Vielmehr stellte er unter Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber eine parallele Ausrichtung der Vergütungsinteressen von Vorstand und Aufsichtsrat „auf den Aktienkurs, der durch gezielte Sachverhaltsgestaltungen des Managements inner- oder außerhalb der Legalität beeinflussbar … und erfahrungsgemäß auch sonst nicht immer ein zuverlässiger Maßstab für den inneren Wert und den langfristigen Erfolg eines Unternehmens ist, jedenfalls bisher nicht für angebracht erachtet“ habe, sogar nachhaltig in Frage, dass die Aufsichtsratsmitglieder jedenfalls noch auf dem früher gebräuchlichen Weg des § 221 AktG in ein Aktienoptionsprogramm einbezogen werden dürften. „Ein bisschen Shareholder Value“, so lässt sich die Position des BGH nach Macrotron und Mobilcom zu Marktwertmaximierung als Handlungsmaxime für Vorstand und Aufsichtsrat vorläufig resümieren.
V. Umsetzung Konvergieren die legislativen und judikativen Neuerungen seit In-KraftTreten des KonTraG (auch) darin, das Aktienrecht gegenüber der Marktwertmaximierung als Handlungsmaxime für die Verwaltung geöffnet zu haben, bleiben noch einige aktienrechtsdogmatische Implikationen dieser Entwicklung abzuklären. 437
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1. Inhaltsänderung des Formalziels der normtypischen AG Ausgangspunkt für die Einordnung dieser Öffnungsentscheidung in aktienrechtsdogmatische Kategorien muss der oben unter III. entfaltete Gegensatz zwischen der verbandsrechtlichen Konzeption des Gewinnziels und dem Marktwertmaximierungsziel i. S. des Shareholder Value-Ansatzes sein. Das Formalziel Gewinnmaximierung als eine Komponente des Verbandszwecks richtet die Tätigkeit der Organe einer AG ganz darauf aus, das Vermögen der Gesellschaft selbst maximal zu mehren; die Marktwertmaximierung gibt den Organen vor, ohne Rücksicht auf die Entwicklung des Gesellschaftsvermögens den Kurswert der Aktien möglichst zu steigern. Hiervon ausgehend handelt es sich bei der aktienrechtlichen Öffnung gegenüber dem Shareholder Value darum, dass Gesetzgeber und Rechtsprechung das Formalziel der normtypischen AG, also das gesetzestypische Formalziel, als einem Element des Verbandszwecks inhaltlich neu bestimmt haben. Das Gewinnziel im tradiert verbandsrechtlichen Sinne wurde zwar nicht vollständig vom Marktwertmaximierungsziel abgelöst – ein Paradigmenwechsel dieses Ausmaßes lässt sich aus den geschilderten Entwicklungen nicht ableiten –, wohl aber trat das Marktwertmaximierungsziel gleichberechtigt zur Gewinnerzielung als Inhalt des Formalziels hinzu, ohne dass diese Erweiterung an das aktuelle Vorhandensein eines Aktienoptionsprogramms bei einer Gesellschaft gebunden wäre. Bei einer gesetzestypischen AG bilden die Gewinnmaximierung für den Verband und die Marktwertmaximierung der Aktien also gleichermaßen Zweckvorgaben für die Organtätigkeit. Es liegt im unternehmerischen Ermessen des Vorstands (und Aufsichtsrats), inwieweit er die Unternehmenspolitik an der Gewinnmaximierung oder am der Marktwertmaximierung ausrichtet. Bei der normtypischen AG darf der Vorstand sich am Shareholder Value-Gedanken ausrichten, ohne hierzu freilich verpflichtet zu sein54. Diese inhaltliche Neubestimmung des Formalziels gilt nach der Grundkonzeption des AktG 1965, die der Gesetzgeber des KonTraG durch die §§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 192 Abs. 2 Nr. 1 AktG auch nicht in Frage stellte, für alle Gesellschaften, nicht nur für die börsennotierte AG i. S. des § 3 Abs. 2 AktG. Diese Einheitslösung vermeidet nicht zuletzt, dass bei Börsengang und Delisting unter dem Aspekt der Zweckänderung ein einstimmiges Hauptversammlungsvotum erforderlich wird. Im Übrigen liegt es damit auch im Falle einer nichtbörsennotierten AG im unternehmerischen Ermessen des Vorstandes, die Unternehmenspolitik im Spannungsfeld der beiden Pole Gewinnerzielung und Marktwertmaximierung auszurichten. Dass er den Akzent regelmäßig bei der ersteren Zielsetzung setzt, schließt nicht aus, dass er insbesondere als Vorbereitung für einen geplanten Börsengang das Ziel der Marktwertmaximierung betont.
__________ 54 Zutreffend Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (159).
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2. Änderungszeitpunkt Für den Zeitpunkt, in dem das Formalziel der normtypischen AG eine inhaltliche Neubestimmung erfuhr, lässt sich die bereits erwähnte Bewertung des KonTraG durch das Schrifttum noch etwas zuspitzen: Spätestens mit dem In-Kraft-Treten des KonTraG am 27.4.1998 ist die Marktwertmaximierung als gleichberechtigter Bestandteil des Formalziels neben die verbandsrechtlich ausgerichtete Gewinnerzielung getreten. In der nachfolgenden höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt eine Bestätigung und Vertiefung der zuvor im KonTraG getroffenen gesetzgeberischen Grundentscheidung. 3. Einbeziehung existierender Gesellschaften Die im KonTraG erfolgte Neukonturierung des Formalziels der normtypischen Gesellschaft ist nicht allein für seither gegründete, sondern auch für damals bereits existierende Gesellschaften von Bedeutung. Das ergibt sich aus Folgendem: Das gesetzestypische Formalziel bildet eine Auslegungshilfe für den Fall, dass die Satzung keine ausdrückliche oder konkludente Festlegung des Formalziels unternimmt. Im Falle der AG wie bei allen anderen freiwilligen Zweckverbänden des Privatrechts gehört der Verbandszweck, und damit auch das Formalziel als dessen Bestandteil, zu den essentalia negotii des Gesellschaftsvertrags bzw. der Satzung. Beim Fehlen einer ausdrücklich oder konkludenten Festlegung des Gesellschaftszwecks lässt sich die Inexistenz dieser Vereinbarung gleichwohl mit der Annahme vermeiden, dass die Gründer mangels abweichender Anhaltspunkte die normtypische Ausformung des Gesellschaftszwecks, und damit auch das normtypische Formalziel, im Bezug nehmen wollten55. Vor diesem Hintergrund werden nachträgliche Abänderungen des gesetzestypischen Formalziels bzw., allgemeiner, des Gesellschaftszwecks bei existierenden Gesellschaften regelmäßig auf die Satzungsauslegung durchschlagen. Mangels abweichender Festlegungen ist aus dem beredten Schweigen der Satzung nämlich abzuleiten, dass diese das normtypische Formalziel bzw. den normtypischen Verbandszweck in seiner jeweiligen gesetzlichen Ausformung inkorporiert. Diese objektive Auslegung ist schon deswegen geboten, weil der Rechtsverkehr andernfalls neben dem Satzungsinhalt auch noch das Gründungsdatum berücksichtigen müsste, um den Inhalt des Formalziels bzw., allgemeiner, des Verbandszwecks zutreffend bestimmen zu können56.
__________ 55 Zu dieser Auslegungsmaxime s. nur Röhricht in Großkomm.AktG, 7. Lfg. 1997,
§ 23 Rz. 92. 56 Dazu, dass das Gebot der objektiven Auslegung für das gesetzestypische Formalziel
in besonderem Maße Geltung beansprucht, s. nur Röhricht in Großkomm.AktG, § 23 Rz. 92 f.
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4. Satzungsklauseln Mit der im KonTraG erfolgten Anerkennung der Marktwertmaximierung als zulässigem – und sogar gleichrangigen – Element des normtypischen Formalziels sind alle aus den verbandsrechtlichen Wurzeln der AG herrührenden Bedenken gegen diesbezügliche Satzungsfestlegungen57 entfallen. Den Aktionären steht es als insbesondere auch offen, als Formalziel der Gesellschaft ausschließlich die Marktwertmaximierung festzulegen58. Der gelegentliche Einwand, dass es sich beim Shareholder Value-Ansatz um ein typisches Instrument des Managements handele und Fragen der Managementphilosophie nicht in die Satzung gehören würden59, geht am konzeptionellen Grundsatzcharakter dieses Ansatzes vorbei. Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht ist der Shareholder Value-Ansatz eben weit mehr als eine bloße Managementphilosophie.
VI. Schlussbemerkungen Mit In-Kraft-Treten des KonTraG hat sich das deutsche Aktienrecht dem Shareholder Value-Gedanken geöffnet. Dies wird im Schrifttum vielfach anerkannt und durch die seither ergangene Rechtsprechung vor allem des II. Zivilsenats des BGH in der Sache noch bekräftigt. In aktienrechtsdogmatischen Kategorien geht es bei der Reform des AktG 1965 durch das KonTraG um eine partielle Änderung des Verbandszwecks der gesetzestypischen Gesellschaft. Das Leitbild des AktG 1965 ist nunmehr eine Gesellschaft mit einem zweidimensionalen Formalziel: Mehrung des eigenen Vermögens und, gleichrangig, Marktwertmaximierung der Aktien. Indem das Formalziel diese beiden möglichen Zielsetzungen einer sich erwerbswirtschaftlich betätigenden Gesellschaft abdeckt, besteht kein Anlass, den Gang an die Börse und das Delisting als actus contrarius unter dem Gesichtspunkt einer Verbandszweckänderung von einem einstimmigen Hauptversammlungsvotum abhängig zu machen. Die situative Entscheidung über die Ausrichtung der Unternehmensstrategie im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen liegt im unternehmerischen Ermessen des Vorstands. Veranlasst er freilich die Einführung von Aktienoptionsprogrammen oder anderer Arten einer börsenkursorientierten Vergütung, etwa in Form von Phantomaktien, bekennt er sich im Grundsatz zum Ziel der Marktwertmaximierung – und hieran ist dann seine künftige Tätigkeit, etwa auch im Hinblick auf die Angemessenheit der Vergütung, zu messen. In konzeptioneller Hinsicht hat das KonTraG ein Ungleichgewicht im Zentrum des AktG 1965 beseitigt oder jedenfalls deutlich abgemildert. Das
__________
57 Zu diesen näher Mülbert, ZGR 1997, 129 (164 f.). 58 Groh, DB 2000, 2153 (2158); R. H. Schmidt/Spindler (Fn. 16), S. 541; v. Bonin
(Fn. 14), S. 158 f.; i.E. ferner Fleischer (Fn. 12), S. 136. 59 Paefgen (Fn. 16), S. 65; ablehnend dazu etwa Fleischer (Fn. 12), S. 136.
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Formalziel einer gesetzestypischen Gesellschaft, die maximale Mehrung des eigenen Vermögens auf lange Sicht, stand noch ganz im Zeichen der verbandsrechtlichen Abkunft der Gesellschaftsform AG. Die Rechtsstellung des einzelnen Aktionärs hingegen ist mit Blick auf die Öffnung der AG gegenüber dem Kapitalmarkt sozusagen als Hybrid konzipiert: Verbandsrechtliche Ordnungsmuster und Wertungsprinzipien als Ausgangspunkt werden durch vermögensbezogene, auf den Aktionär in seiner Rolle als Kapitalanleger ausgerichtete Regelungselemente weitgehend modifizert60. Indem das Formalziel um die Marktwertmaximierung als gleichrangiges zweites Element erweitert wurde, hat die bereits vom Gesetzgeber des AktG 1965 intendierte Öffnung der AG gegenüber dem Kapitalmarkt nunmehr auch Eingang in den Verbandszweck als dem Zentralgestirn eines Rechts der privaten freiwilligen Zweckverbände gefunden. Als Ergebnis hat das AktG 1965 eine bislang unbekannte konzeptionelle Einheitlichkeit erlangt: Hybride Aktionärsstellung und zweipoliges Formalziel sind komplementäre Gegenstücke einer kapitalmarktoffenen Gesellschaftsform verbandsrechtlichen Ursprungs61. Für die Zukunft verspricht diese zunehmende verbandsrechtliche Entwurzelung der Gesellschaftsform AG ganz neue Fragestellungen. Geht man mit der Macrotron-Entscheidung des BGH für Minderheits- und Kleinaktionäre davon aus, dass ihr Engagement bei einer Aktiengesellschaft allein in der Wahrnehmung von Anlegerinteressen besteht und dass die Verkehrsfähigkeit der Aktie einschließlich ihrer möglichst günstigen Veräußerbarkeit infolge der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 14 GG62 auch Inhalt des mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnisses zur Gesellschaft ist63, muss sich dies gegebenenfalls in einem neuen Funktionsbezug des Auskunftsrechts (§ 131 AktG)64 oder diesbezüglicher treuepflichtgestützer Auskunftsansprüche der Anlegeraktionäre niederschlagen65. Denn Aufklärung des Anlegeraktionärs über den Wert seiner Aktie leistet besonders effektiven Schutz des einen Anteilsverkauf erwägenden Aktionärs. Oder kann jedenfalls insoweit doch der Gedanke zum Durchbruch kommen, dass das Kapitalmarktrecht – hier in Form weitgehender Publizitäts- und Informationspflichten – adäquate funktionale Substitute für gesellschaftsrechtliche Schutzmechanismen bereitzustellen vermag66?
__________ 60 Nachweise oben in Fn. 14. 61 Vgl. dazu auch v. Bonin (Fn. 14), S. 152 f. 62 Krit. dazu etwa Ekkenga, ZGR 2003, 878 (882 ff.) m. umfangreichen N. auch zur
63 64 65 66
Gegenauffassung; der Sache nach ablehnend ferner Henze in FS Ulmer, 2003, S. 211 (241). S. BHGZ 153, 47 (54 f.) = WM 2003, 437. Hierfür insbesondere schon Hommelhoff, ZGR 2000, 748 (768 ff.). S. etwa Krömker, NZG 2003, 418 (420). Die Bewertung der börsengesetzlichen Regelung des Delisting durch BHGZ 153, 47 (56 f.) = WM 2003, 437 deutet freilich auf eine grundsätzliche Skepsis in diesem Punkt hin.
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Die optionale Einführung der monistischen Unternehmensverfassung für die Europäische (Aktien-)Gesellschaft im deutschen Recht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund III. Die Umsetzung in Deutschland
1. Vorschläge aus Wissenschaft und Praxis 2. Die Konzeption des Gesetzgebers IV. Blick über die Grenze nach Österreich V. Schlussbetrachtung
I. Einleitung Wenn der Jubilar die vorliegende Festschrift überreicht bekommt, wird – aller Voraussicht nach – der II. Zivilsenat des BGH noch keine Gelegenheit gehabt haben, sich mit der neuen Rechtsform der Europäischen Gesellschaft1 in einem konkreten Verfahren zu beschäftigen. Erste Gründungen sind aber – auch in Deutschland – bereits erfolgt2, und anders als die Dritte Gewalt haben sich Wissenschaft und Gesetzgebung (auf europäischer und nationaler Ebene) bereits sehr intensiv mit vielen Rechtsfragen der Europa-AG befasst. Es soll hier nicht in toto die lange – und bisweilen schon quälend anmutende – Entstehungsgeschichte des „Flagschiffs des Europäischen Gesellschaftsrechts“, wie die Europäische Gesellschaft einmal von Hopt3 apostrophiert wurde, nachgezeichnet werden. Sie läßt sich anderenorts vielfach nachlesen4. Vielmehr soll es lediglich um einen besonderen Aspekt gehen, der in der wissenschaftlichen, vor allem aber auch in der rechtspolitischen Diskussion schon bisher eine große Rolle gespielt hat und sicherlich auch weiterhin spielen wird: die Einführung der monistischen Unternehmensverfassung für die SE als Wahlmöglichkeit in das deutsche Recht. Allerdings kommt der
__________ Mit dem Wechsel zu dieser Bezeichnung ist keine inhaltliche Änderung verbunden. Es handelt sich nach wie vor um eine Aktiengesellschaft, aber nach Auffassung der Brüsseler Sprachjuristen ließ sich nur so der für alle Amtssprachen maßgebliche lateinische Begriff „Societas Europaea“ korrekt ins Deutsche übersetzen. 2 Vgl. die Hinweise im Internet unter http://www.seeurope-network.org/homepages/ seeurope/home.html 3 ZIP 1998, 96 (99). 4 Vgl. jüngst (und statt aller) Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, § 29 Rz. 1006 ff. 1
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Verfasser nicht umhin, auch bei Behandlung dieser Frage den Leser mit einem beträchtlichen Ausschnitt aus der Entwicklung des Europäischen Gesellschaftsrechts zu konfrontieren. Man darf sicher sein, dass der Jubilar, ohne dazu durch ein konkretes Verfahren vor seinem Senat Anlass zu haben, zu der hier zu erörternden Problematik bereits eigene Überlegungen angestellt hat und die weitere Entwicklung auch nach dem Ausscheiden aus seinem hohen Richteramt mit großem Interesse verfolgen wird.
II. Der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund Wenngleich manche Autoren5 bei der Darstellung der Genese der Europäischen Aktiengesellschaft meinen, erste Spuren schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entdeckt zu haben, so gilt gemeinhin doch der „Vorentwurf eines Statuts für europäische Aktiengesellschaften“ von Prof. Pieter Sanders aus dem Jahr 19666 als eigentlicher Ausgangspunkt des Projekts. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über Fragen der Corporate Governance höchst bemerkenswert heißt es dort in der Einleitung zu dem Teil des Entwurfs, der die Organe der Europäischen Aktiengesellschaft betrifft7: „Jede Macht bedarf einer Kontrolle. Zur Ausübung einer wirksamen Kontrolle werden zwei Mittel vorgeschlagen: einmal eine Erweiterung der Publizität und daneben die Überwachung durch ein besonderes Gesellschaftsorgan, das vom Vorstand getrennt und unabhängig ist, nämlich durch den Aufsichtsrat.“
Sanders schlug hier also ohne weitere Begründung und ganz selbstverständlich für die Europa-AG ausschließlich ein dualistisches System der Unternehmensverfassung vor. Dies überrascht, war doch in einigen der sechs EWG-Gründungsstaaten gerade die monistische Ausformung von erheblicher Bedeutung. So war im belgischen Recht sogar ausschließlich dieses Modell vorgesehen8. Und noch kurz vor der Vorlage des Sanders-Vorentwurfs hatte der französische Gesetzgeber in den Art. 89 ff. des neuen Gesetzes vom 24.7.1966 über die Handelsgesellschaften das in Frankreich seit langem bekannte Verwaltungsratsmodell als erste Variante bestätigt, der nunmehr allerdings das dualistische Modell in den Art. 118 ff. hinzugefügt wurde9.
__________ 5 6 7 8 9
Vgl. Theisen/Wenz in Theisen/Wenz, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2002, S. 27 ff. Von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht in der Kollektion Studien, Reihe Wettbewerb Nr. 6, 1967. Vgl. Vorentwurf (Fn. 6), S. 53. Vgl. Jura Europae, Gesellschaftsrecht, Band II, Gliederungsnummer 20.10, S. 43 f. Vgl. dazu die Hinweise von Gravenstein in Französisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 1988, S. 10 ff.
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Monistische Unternehmensverfassung in der Europäischen Gesellschaft
Die Grundentscheidung des Verfassers des ersten Entwurfs für das dualistische System sollte zunächst für eine längere Zeit ihre Gültigkeit behalten. Im ersten offiziellen Verordnungsvorschlag der Kommission über das Statut einer Societas Europaea von 197010 fand sich dazu folgender Hinweis: „Diese Trennung (der Geschäftsleitungs- oder Geschäftsführungsbefugnisse von den Überwachungs- oder Kontrollbefugnissen) ist grundsätzlich in allen Gesellschaftsrechten der Mitgliedstaaten gebräuchlich, wird dort aber unterschiedlich geregelt. Die Entscheidung zwischen dem System der strikten Trennung und dem System der lockeren Trennung fiel zugunsten des ersteren. Dieses ermöglicht eine dauerhaftere und wirksamere Überwachung und Kontrolle.“
Im Anschluss an umfangreiche Stellungnahmen des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses legte die Kommission im Jahr 1975 eine in weiten Teilen geänderte Fassung ihres Vorschlags vor11. Bei den Vorschriften über die Organe lassen sich allerdings keine grundsätzlichen Veränderungen feststellen. Zu den in den Art. 62 ff. enthaltenen Regelungen hieß es – ganz auf der bisherigen Linie – in der Begründung12: „Die Regelung über die Organe der SE und die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Hauptversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand der SE ist sowohl vom Europäischen Parlament als auch vom Wirtschafts- und Sozialausschuß grundsätzlich gebilligt worden. Insbesondere wurde anerkannt, daß die Trennung der Funktionen von Aufsichtsrat und Vorstand erforderlich ist, um der SE alle Möglichkeiten einer effizienten Geschäftsführung zu geben und um gleichzeitig deren Überwachung sicherzustellen“13.
Anders als noch im Vorschlag von 1970, wo zu dieser Frage noch von unterschiedlichen Auffassungen die Rede war14, hieß es in der Begründung nunmehr weiter15: „Der Grundsatz der Beteiligung im Aufsichtsrat der SE wird inzwischen übereinstimmend gebilligt; übereinstimmend wird auch eine einheitliche europäische Lösung gefordert, die sich nicht auf unterschiedliche nationale Rechtsvorschriften stützen oder verschiedene Modelle zulassen soll.“
Im deutschen Schrifttum wurde die im Ergebnis darin liegende Übernahme des in Deutschland ausschließlich zulässigen Systems unterschiedlich bewertet. Während beispielsweise Mertens die Entscheidung für die dualistische Unternehmensverfassung unter Hinweis auf die erforderliche funktionelle Gewaltenteilung zwischen Leitung und Kontrolle uneingeschränkt
__________ 10 Veröffentlicht im Abl. EG Nr. C 124 v. 10.10.1970, S. 1 ff. 11 Veröffentlicht als Beilage 4/75 zum Bulletin der EG; vgl. auch BT-Drucks. VII/3713
= BR-Drucks. 372/75. 12 Vgl. Beilage (Fn. 11), S. 149. 13 Damit folgte die Kommission übrigens der Konzeption in ihrem Vorschlag einer
fünften Richtlinie von 1972 über die Struktur der Aktiengesellschaften (Abl. EG Nr. C 131 v. 13.12.1972, S. 49 ff.), der ebenfalls nur das dualistische Modell vorsah. 14 Vgl. die Erläuterungen in der Sonderbeilage zum Bulletin 8/70 der EG, S. 85 ff. 15 A. a. O. (Fn. 11), S. 149.
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befürwortete16, zeigte sich Rittner in seinem in demselben Sammelwerk veröffentlichten Beitrag deutlich skeptischer17. Er befürchtete zum einen Akzeptanzprobleme in anderen Mitgliedstaaten, zum anderen empfand er die nunmehr in den Vordergrund rückende Frage der Mitbestimmung als „wenig günstig verquickt“ mit dem Gesellschaftsrecht. Wie Recht sollte er mit dieser Einschätzung haben18! Zum Stellenwert des dualistischen Systems der Unternehmensverfassung erfolgte im weiteren Verlauf bei den europäischen Institutionen ein deutlicher Meinungsumschwung. Wesentliche Ursache dafür waren sicherlich die inzwischen erfolgte erste Erweiterung der EG durch Großbritannien, Irland und Dänemark 1972 und sodann der Beitritt Griechenlands 1979. Bis auf Dänemark gehörten diese Staaten zu den Anhängern des monistischen Systems, so dass dieses „Lager“ eine deutliche Stärkung erfuhr. Diese Veränderungen des politischen Umfeldes blieben vor allem bei der Meinungsbildung im Europäischen Parlament nicht ohne Auswirkungen. Nach einer ungewöhnlich langen und höchst kontroversen Debatte über den Vorschlag der Kommission für die Strukturrichtlinie19 wurde schließlich vom Parlament eine umfangreiche Stellungnahme20 verabschiedet, in der man sich nunmehr für ein Wahlrecht des nationalen Gesetzgebers zwischen dem monistischen und dem dualistischen System aussprach. Danach konnte es kaum noch überraschen, dass dieser Ansatz dann auch Eingang in den geänderten Vorschlag der Kommission von 1983 zur Strukturrichtlinie fand21. Zurück zur Europäischen Aktiengesellschaft: Für deren weiteres Schicksal konnte die eben skizzierte Entwicklung nicht folgenlos bleiben. Nachdem die Beratungen über den Vorschlag von 1975 im Jahr 1982 – nicht zuletzt wegen kontroverser Auffassungen zur Mitbestimmung – im Rat ergebnislos ausgesetzt worden waren, unternahm die Kommission nach längerer Unterbrechung erst 1989 einen offiziellen neuen Anlauf. Entsprechend der Konzeption, für die man sich bereits bei der fünften Richtlinie entschieden hatte, und vorbereitet durch ein Memorandum von 198822 enthielt auch der neue Vorschlag zur SE23 in Art. 61 der Verordnung ein Wahlrecht zwischen dem dualistischen System mit Leitungs- und Auf-
__________ 16 In Lutter, Die Europäische Aktiengesellschaft, 1976, S. 115 f. 17 Ebenda (Fn. 16), S. 93 ff. 18 Letztlich hat diese „Verquickung“ ein Vierteljahrhundert lang die Verabschiedung
der Verordnung verzögert! Vgl. Fn. 13. Abl. EG Nr. C 149 v. 14.6.1982, S. 20 ff. Abl. EG Nr. C 240 v. 9.9.1983, S. 2 ff. Vgl. Dok. KOM(88) 320 endg. v. 15.7.1988, veröffentlicht als Beilage 3/88 zum Bulletin der EG; vgl. auch BR-Drucks. 392/88. 23 Abl. EG Nr. C 263 v. 16.10.1989, S. 41 ff.; vgl. auch BT-Drucks. 11/5427 = BRDrucks. 488/89. 19 20 21 22
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Monistische Unternehmensverfassung in der Europäischen Gesellschaft
sichtsorgan und dem monistischen System mit einem Verwaltungsorgan. Grundlegend neu war ferner, dass für die Regelung der Arbeitnehmerbeteiligung eine sachlich ergänzende, aber formal separate Regelung in Gestalt einer Richtlinie mit verschiedenen Optionen vorgeschlagen wurde. Im Anschluss an die Stellungnahme des Europäischen Parlaments24 wurde der Vorschlag von der Kommission nochmals überarbeitet25. In dem hier besonders interessierenden Punkt blieb es zwar grundsätzlich bei dem satzungsmäßigen Wahlrecht, als Option für die Mitgliedstaaten wurde aber in Art. 61 die Befugnis eingeführt, für die SE in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet eines von beiden Systemen verbindlich vorzuschreiben. Die 1991 begonnenen Verhandlungen über den geänderten Vorschlag in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe kamen bereits 1993 erneut zum Stillstand, weil eine Einigung über die Frage der Arbeitnehmerbeteiligung auch nach Änderung der Konzeption durch die Kommission und Verweisung dieses Komplexes in eine gesonderte Richtlinie nicht erreichbar war. Um in dieser schwierigen Situation einen Ausweg zu finden, beauftragte die Kommission schließlich 1996 eine Expertengruppe unter Vorsitz ihres ehemaligen Vizepräsidenten Davignon damit, auf der Basis einer Analyse der unterschiedlichen Mitbestimmungssysteme in den Mitgliedstaaten Vorschläge zur Ausgestaltung der Beteiligungsrechte in einer Europäischen Aktiengesellschaft auszuarbeiten. Nachdem die Davignon-Gruppe ihren Bericht vorgelegt hatte26, konnten im Rat die Bemühungen um eine Lösung wieder aufgenommen und dann zum Ende des Jahres 2000 doch noch zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Als Konsequenz aus dem grundlegend neuen Ansatz der Davignon-Gruppe, die Mitbestimmung solle primär im Wege freier Verhandlungen zwischen den beteiligten Unternehmen und der Arbeitnehmerseite festgelegt werden, wurde die im Vorschlag der Kommission von 1991 eingeführte Option für die Mitgliedstaaten, „ihren“ Gesellschaften verbindlich entweder das dualistische oder das monistische System vorzuschreiben, wieder gestrichen. Der endgültige Text des Art. 38 der Verordnung27 lautet daher nunmehr in Anlehnung an den Kommissionsvorschlag von 198928: „Die SE verfügt nach Maßgabe dieser Verordnung über a) eine Hauptversammlung der Aktionäre und
__________ 24 Abl. EG Nr. C 48 v. 25.2.1991, S. 72 ff. 25 Abl. EG Nr. C 176 v. 8.7.1991, S. 1 ff.; vgl. auch BT-Drucks. 12/1004. 26 Veröffentlicht auf der Homepage der Kommission unter http://europa.eu.int/
comm/employment_social/labour_law/docs/davignonreport_en.pdf. 27 Vgl. Abl. EG Nr. L 294 v. 10.11.2001, S. 1 ff. 28 S. oben Fn. 23.
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Hans-Werner Neye b) entweder ein Aufsichtsorgan und ein Leitungsorgan (dualistisches System) oder ein Verwaltungsorgan (monistisches System), entsprechend der in der Satzung gewählten Form“29.
Inzwischen hat die Kommission in ihrem im Mai 2003 veröffentlichten Aktionsplan „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“30 mittelfristig – für die Zeit zwischen 2006 und 2008 – eine Richtlinie angekündigt, mit der generell für börsennotierte Gesellschaften die Möglichkeit der Wahl zwischen dem dualistischen und dem monistischen System eingeführt werden soll.
III. Die Umsetzung in Deutschland 1. Vorschläge aus Wissenschaft und Praxis Bereits nach der endgültigen Verabschiedung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte durch den Rat der EU im Oktober 2001, später dann nach Vorlage des Diskussionsentwurfs31 zur Ausführung der SE-Verordnung durch das Bundesministerium der Justiz im Februar 2003 und schließlich auch im Anschluss an die Veröffentlichung des kompletten Gesetzentwurfs der Bundesregierung im Jahr 2004 ist verschiedentlich angeregt worden, die Einführung der SE in Deutschland zu einer generellen Reform des deutschen Aktienrechts zum Anlass zu nehmen und dabei insbesondere für die monistische Variante möglichst wenig gesetzliche Vorgaben zu machen. Ein engagiertes Plädoyer mit dieser Zielrichtung hielt insbesondere Kübler beim traditionellen ZHR-Symposion im Januar 200332. Er befürwortete „die Abkehr von einem Regelungsmodell, das die Leitungsstrukturen der AG bis ins kleinste Detail zwingend festlegt.“ Von der Befugnis in Art. 43 Abs. 4 der SE-Verordnung, Vorschriften für die monistische SE zu erlassen, „sollte nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden“. Ähnlich äußerte sich der Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins in seiner Stellungnahme vom November 200333.
__________ 29 Abl. EG Nr. L 294 v. 10.11.2001, S. 12. 30 Veröffentlicht auf der Homepage der Kommission unter http://europa.eu.int/
eur-lex/de/com/cnc/2003/com2003_0284de01.pdf, abgedr. auch als Beilage zu Heft 13/2003 der NZG. 31 Abgedr. in AG 2003, 204 ff. 32 Vgl. ZHR 167 (2003), 222 (230 ff.). 33 Veröffentlicht auf der Homepage des DAV unter http://www.anwaltverein.de/ 03/05/2003/65-03.pdf (S. 20), abgedr. in NZG 2004, 75 ff. und ZIP 2004, 140 ff., wiederholt in der DAV-Stellungnahme zum Regierungsentwurf von Juli 2004 (http://www.anwaltverein.de/03/05/2004/35-04.pdf), auszugsweise abgedr. in ZIP 2004, 1779 (1780). Kritisch auch die Stellungnahmen der Bundesrechtsanwaltskammer von Juli 2003 (unveröffentlicht), S. 2 f., und des Deutschen Notarvereines von Juni 2003 (veröffentlicht unter http://www.dnotv.de in der Rubrik Stellungnahmen, S. 18 f.). Vgl. ferner den Vortrag von Merkt bei dem von Lutter initiierten
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Monistische Unternehmensverfassung in der Europäischen Gesellschaft
Für die weitere rechtspolitische Debatte in Deutschland sollte dann aber vor allem wieder das Thema Mitbestimmung, das schon so lange die Verhandlungen auf europäischer Ebene bestimmt hatte, Bedeutung erlangen. Dies deutete sich insbesondere in der gemeinsamen Stellungnahme der fünf wirtschaftlichen Spitzenverbände an, die diese zusammen mit dem Deutschen Aktieninstitut im Mai 2004 zu dem inzwischen vorliegenden Gesamtentwurf für ein SE-Einführungsgesetz abgaben. Dort hieß es u. a.34: „Für deutsche Gesellschaften wird eine Beteiligung an einer Europäischen Aktiengesellschaft aufgrund der diskriminierenden Vorgaben zur Unternehmensmitbestimmung jedoch kaum in Betracht kommen. Sie werden als Partner nur selten erwünscht sein, weil das deutsche Paritätsmodell, das bei ausländischen Investoren auf Unverständnis stößt und als ernsthaftes Investitionshindernis gilt, in der Regel für die SE zu übernehmen wäre … Für die Gründung einer SE ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die monistische Leitungsstruktur in einer möglichst flexiblen Weise zur Verfügung steht. Wegen der Mitbestimmungsfolgen wird von dem Verwaltungsratssystem allerdings nur selten Gebrauch gemacht werden. Im Übrigen erinnern die detaillierten Regeln und die Satzungsstrenge sehr an das dualistische System. Ein echter Wettbewerb der Systeme – wie von der Verordnung vorgesehen – ist deshalb kaum zu erwarten. Wünschenswert wäre es daher, wenn der Gesetzgeber den einzelnen Gesellschaften mehr Gestaltungsspielraum in den Satzungen beließe.“
Ganz anders fiel dagegen das Urteil des Deutschen Gewerkschaftsbundes aus. In seiner Stellungnahme zum Entwurf der Bundesregierung hieß es ausdrücklich, dieser verdiene Lob und Anerkennung35. 2. Die Konzeption des Gesetzgebers Es ist grundsätzlich nachvollziehbar, dass gerade im Zusammenhang mit der Einführung einer neuen supranationalen Rechtsform der Aktiengesellschaft vorgeschlagen wurde, das geltende deutsche Aktienrecht generell auf den Prüfstand zu stellen und dabei jedenfalls für die neue Gesellschaftsform von dem derzeitigen Recht abweichende Regelungen vorzusehen. Jedoch erlaubten es weder der konkrete Anlass (Umsetzung von Gemeinschaftsrecht) noch
__________ Bonner Symposion „Europäische AG und der Diskussionsentwurf zum deutschen Begleitgesetz“ am 9.5.2003, veröffentlicht in ZGR 2003, 650 ff. (652 ff.), und die Ausführungen von Hoffmann-Becking beim ZGR-Symposion im Januar 2004, veröffentlicht in ZGR 2004, 355 ff. (368 ff.). 34 Die Stellungnahme ist im Internet abrufbar unter www.bdi-online.de in der Rubrik „Infothek“. Vgl. zur Mitbestimmungsproblematik zuvor schon Kübler (Fn. 31), S. 231, und Schiessl, ebenda S. 234 ff. sowie die Ausführungen von Gruber/Weller, NZG 2003, 297 (299); Henssler in FS Ulmer, 2003, S. 193 ff.; Kallmeyer, ZIP 2003, 1531 (1534); Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767 ff. Positiv dagegen Köstler beim Bonner Symposion (Fn. 32), ZGR 2003, 801 ff. 35 V. 25.5.2004. Zugänglich im Internet unter www.dgb.de in der Rubrik Themen von A-Z – Mitbestimmung.
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der (bei realistischer Einschätzung knappe) Zeitrahmen, eine Generalrevision nach dem Vorbild der großen Reformen von 1937 und 1965 ins Auge zu fassen. Dazu hätte es einer breiten Grundsatzdebatte unter allen Beteiligten aus Wissenschaft, Praxis und Politik bedurft, die unter den gegebenen Umständen von vornherein nicht möglich erschien. Von den unmittelbar mit der Vorbereitung der Ausführungsgesetzgebung befassten Personen wurde daher frühzeitig, deutlich und schon bevor dann das Thema Mitbestimmung ohnehin alle anderen Aspekte verdrängte, auf den geringen Spielraum für den nationalen Gesetzgeber hingewiesen36. Im Gesetzgebungsverfahren griff auf Betreiben der Wirtschaftsverbände der Bundesrat die Forderung nach mehr Flexibilität auf. Entsprechend den Empfehlungen seines Rechtsausschusses und seines Wirtschaftsausschusses sprach der Bundesrat in seiner Plenarsitzung am 9.7.2004 die – allerdings wenig konkretisierte – Bitte aus, „im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, auf welche Weise die monistische Leitungsstruktur flexibler gestaltet werden kann. Dabei ist auch darauf zu achten, dass die vorgesehenen Mitbestimmungsrechte nicht dazu führen dürfen, die Europäische Gesellschaft in Deutschland völlig unattraktiv zu machen“37.
In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates trat die Bundesregierung der Einschätzung entgegen, die Regelungen in den §§ 20 ff. SEAG erinnerten in ihrer Detailliertheit und Satzungsstrenge zu sehr an das dualistische System. Sie legte dar, dass insbesondere viele Fragen der Zuständigkeiten von Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren durch die Satzung oder in einer Geschäftsordnung im Einzelnen ausgestaltet oder auch abweichend von den gesetzlichen Vorgaben geregelt werden könnten38. Zur Kritik an der Ausgestaltung der Mitbestimmung wurde darauf hingewiesen, dass die europäische Richtlinie nicht zwischen dem monistischen und dem dualistischen System unterscheide. Alle Mitglieder im Aufsichtsoder Verwaltungsrat der SE hätten die gleichen Rechte und Pflichten. An
__________ 36 Vgl. Teichmann, ZIP 2002, 1109 f.; ähnlich auch die Bemerkungen von Teichmann
und Neye beim ZHR-Symposion 2003, vgl. den Diskussionsbericht in der ZHR 167 (2003), 257, und den Beitrag von Neye bei dem von Baums und Kübler am 6./7.11.2003 in Frankfurt/Main veranstalteten Symposion „Die Europäische Aktiengesellschaft – Umsetzungsfragen und Perspektiven“, veröffentlicht im gleichnamigen Sammelband (hrsg. von Baums und Cahn), 2004, S. 131 ff. Zu den für die Praxis gleichwohl verbleibenden Gestaltungsmöglichkeiten ausführlich Teichmann, BB 2004, 53 ff.; zum CEO-Modell in einer monistisch verfassten SE vgl. Eder, NZG 2004, 544 ff. 37 Vgl. BR-Drucks. 438/04 (Beschluss) Nr. 17 = BT-Drucks. 15/3656, S. 5. Zur Umsetzung der Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung insbesondere im monistischen System vgl. auch Nummer 4 der Bundesratsstellungnahme. 38 Vgl. BT-Drucks. 15/3656, S. 10 f.
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diese Vorgaben sei der nationale Gesetzgeber gebunden. Eine andere Ausgestaltung wäre mit europäischem Recht nicht vereinbar39. In der entscheidenden Phase des Gesetzgebungsverfahrens, bei den Beratungen im Deutschen Bundestag, wurde die Mitbestimmung dann zum alles beherrschenden Thema. Vor allem dem Bundesverband der Deutschen Industrie war daran gelegen, das SE-Einführungsgesetz zum Anlass zu nehmen, eine generelle politische Debatte über die Mitbestimmung zu eröffnen, nicht zuletzt mit Blick auf den bevorstehenden Abschluss der Arbeit einer eigenen verbandsintern eingesetzten Reformkommission. Die Auseinandersetzung wurde zunehmend heftiger und in die Medien verlagert. Zugleich wuchs die Polarisierung. Insbesondere die provokante These des BDI-Präsidenten Rogowski von der Mitbestimmung als Irrtum der Geschichte stieß – nicht überraschend – auf scharfen Widerspruch bei den Gewerkschaften und der Bundesregierung. Auch namhafte Unternehmensführer wie der DaimlerChrysler-Vorstand Schrempp und Porsche-Chef Wiedeking wollten sich diesem Urteil nicht anschließen. Die Koalitionsfraktionen im Bundestag hatten sich bereits zuvor bei dem anderen anhängigen Streitobjekt Fusionsrichtlinie40 politisch auf eine eindeutige Linie zur Verteidigung der Mitbestimmung festgelegt41. Die aktuellen Unternehmenskrisen bei der KarstadtQuelle AG und bei der Adam Opel AG und die Sorge um den Abbau einer großen Zahl von Arbeitsplätzen lieferten den überzeugten Anhängern der Mitbestimmung zusätzliche Argumente. Die FDP wiederum stellte sich mit einem umfangreichen Entschließungsantrag42 auf die Seite der Kritiker und befürwortete tiefgreifende Reformen bis hin zu einer Rückkehr zur Drittelbeteiligung. In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre trafen bei einer auf Wunsch der Opposition im Bundestags-Rechtsausschuss durchgeführten Sachverständigenanhörung die Vertreter beider Lager unmittelbar aufeinander. Wenig überraschend wurden dort im Wesentlichen die bekannten Argumente vorgetragen. In einem ganz konkreten Punkt ging man allerdings aufeinander zu. Um Bedenken zu begegnen, in einer monistisch strukturierten SE könnte die Bestellung geschäftsführender Direktoren aus dem Kreis der Verwaltungsratsmitglieder unter bestimmten Umständen zu einer einseitigen Verschiebung des Stimmenverhältnisses zulasten der Anteilseignerseite führen,
__________ 39 Vgl. BT-Drucks. 15/3656, S. 8. 40 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die
grenzüberschreitende Verschmelzung von Kapitalgesellschaften, Ratsdok. 15305/03 = BR-Drucks. 915/03, im Internet zugänglich unter http://europa.eu.int/eur-lex/de/ com/pdf/2003/com2003_0703de01.pdf. 41 Vgl. den Antrag der SPD-Fraktion und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Für eine qualifizierte Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Fusionen“ v. 30.6.2004, BT-Drucks. 15/3466. 42 Vgl. BT-Drucks. 15/4038.
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wurde auf Vorschlag der Regierungskoalition in § 35 Abs. 3 SEAG eine besondere Ausgleichsregelung eingefügt43. Ein weiter gehender Antrag der CDU/CSU, der von der FDP unterstützt wurde44, geschäftsführende Direktoren bei der Berechnung der Arbeitnehmerbeteiligungsquote ganz außer Betracht zu lassen, fand weder im Rechtsausschuss noch im Plenum eine Mehrheit. In der Aussprache anlässlich der zweiten und dritten Lesung nutzten die Redner der verschiedenen Parteien noch einmal die Gelegenheit, ihre unterschiedlichen grundsätzlichen Standpunkte zur Mitbestimmung im Allgemeinen und bei der Europäischen Gesellschaft im Besonderen darzustellen45. Bei der abschließenden Befassung des Bundesrats ist die Problematik von den CDU/FDP-regierten Bundesländern noch einmal aufgegriffen worden. Der federführende Rechtsausschuss hatte sich zwar dagegen ausgesprochen, das Plenum folgte aber dem Votum des Wirtschaftsausschusses und beschloss die Einberufung des Vermittlungsausschusses46. Das Vermittlungsverfahren wurde rasch ohne Einigungsvorschlag beendet47. Am Morgen des 17.12.2004 legte der Bundesrat Einspruch gegen das Gesetz ein48, der noch am Abend desselben Tages vom Bundestag mit „Kanzlermehrheit“ zurückgewiesen wurde49. Damit war der Weg frei: Nach Ausfertigung durch den Bundespräsidenten wurde das Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft am 28.12.2004 im Bundesgesetzblatt verkündet50 und konnte am folgenden Tag in Kraft treten.
IV. Blick über die Grenze nach Österreich Bevor sich die rechtspolitische Diskussion in Deutschland ausschließlich der Mitbestimmung zuwandte, war gelegentlich zu hören, dass die SE-Ausführungsgesetzgebung anderer Mitgliedstaaten als beispielhaft und nachahmenswert gelobt wurde. Wegen der vielfältigen Gemeinsamkeiten in der grundsätzlichen Ausgestaltung des Gesellschaftsrechts liegt es nahe, an dieser Stelle abschließend noch der Frage nachzugehen, welchen Weg der Gesetzgeber in unserem Nachbarland Österreich bei dem auch dort neuen
__________ 43 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 15/4053, 44 45 46 47 48 49 50
S. 18, S. 59. Vgl. BT-Drucks. 15/4075. Vgl. Plenarprotokoll 15/136, S. 12497 C ff. Vgl. BR-Drucks. 989/04 (Beschluss). Vgl. BR-Drucks. 989/04. Vgl. BR-Drucks. 989/04 (Beschluss). Vgl. Plenarprotokoll 15/149, S. 14032 ff. BGBl. I, S. 3675. Das gesamte Gesetzgebungsverfahren ist dokumentiert bei Neye, Die Europäische Aktiengesellschaft, Einführung und Materialiensammlung zum Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG), 2005.
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Modell der monistischen SE-Verfassung gewählt hat. Dabei lassen sich interessante Übereinstimmungen, aber auch gewisse Unterschiede feststellen. Anders als in Deutschland hatte man sich in Österreich von vornherein dafür entschieden, die Ausführungsvorschriften zur SE-Verordnung und die Umsetzung der Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung nicht in einem Gesetz zu verbinden, sondern dafür verschiedene Regelwerke vorzusehen. Das bei uns ganz in den Vordergrund gerückte Thema der paritätischen Mitbestimmung und ihre Auswirkungen im monistischen System spielten bei unseren Nachbarn im Gesetzgebungsverfahren wohl deshalb keine Rolle, weil dort das geltende Recht nur eine Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat vorsieht51. Die rechtsvergleichende Betrachtung kann sich also auf die Ausführungsregelungen zur Verordnung beschränken. Dazu legte die Regierung den Entwurf eines Gesellschaftsrechtsänderungsgesetzes 2004 vor52. Das dort als Art. I aufgenommene Gesetz über das Statut der Europäischen Gesellschaft sieht für das herkömmliche dualistische System nur drei Vorschriften (§§ 35 bis 37) vor, während das monistische System in den §§ 38 bis 60 eine wesentlich ausführlichere Regelung erfährt. Schon in der Grundkonzeption sah man sich also auch in Österreich gehalten, für die monistische Variante nicht etwa weitgehend auf gesetzliche Vorschriften zu verzichten, sondern parallel zum dualistischen System die wesentlichen Strukturfragen im Gesetz selber zu regeln und diese nicht der Regelung in der Satzung zu überlassen. Der Satzungsfreiheit unterworfen werden sollte allerdings in nichtbörsennotierten Gesellschaften die Bestellung von geschäftsführenden Direktoren53. Gerade die in diesem Punkt eingeräumte Gestaltungsfreiheit stieß aber bei den späteren Beratungen im zuständigen Justizausschuss des Nationalrats parteiübergreifend auf Bedenken bei den Abgeordneten. Sie führten letztlich zur Streichung der erwähnten Möglichkeit. Zur Begründung hieß es dazu im Bericht des Ausschusses u. a.54: „Auch in der monistisch strukturierten SE ist nach Erwägungsgrund 14 der Verordnung ‚eine klare Abgrenzung der Verantwortungsbereiche jener Personen, denen die
__________ 51 Vgl. § 110 des Arbeitsverfassungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1974. Die mögliche Kon-
stellation, dass über die Gründung einer SE unter Beteiligung einer deutschen paritätisch mitbestimmten AG im Wege der Anwendung der Auffangregelung (vgl. Teil 3 des Anhangs zu Artikel 7 der SE-Richtlinie, umgesetzt durch § 245 des Arbeitsverfassungsgesetzes) eine SE mit Sitz in Österreich ebenfalls eine paritätische Mitbestimmung erhält, ist offenbar nicht bedacht worden! 52 Veröffentlicht auf der Homepage des österreichischen Parlaments unter http:// www.parlament.gv.at/pls/portal/docs/page/PG/DE/XXII/I/I_00466/fname_020128. pdf. 53 Vgl. § 59 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes in der Fassung der Regierungsvorlage (Fn. 52). 54 Vgl. Bericht des Justizausschusses v. 18.5.2004, veröffentlicht unter http://www. parlament.gv.at/pls/portal/docs/page/PG/DE/XXII/I/I_00488/fname_020975.pdf.
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Hans-Werner Neye Geschäftsführung obliegt, und der Personen, die mit der Aufsicht betraut sind, wünschenswert’. Dem trägt der Entwurf durch die dispositive Bestimmung des § 59 Abs. 1, wonach der Verwaltungsrat einen oder mehrere geschäftsführende Direktoren zu bestellen hat, grundsätzlich Rechnung … Entfallen soll aber der letzte Satz des § 59 Abs. 2 in der Fassung der Regierungsvorlage, der es Gesellschaften, die nicht an der Börse notieren, erlaubt hätte, in der Satzung die Bestellung geschäftsführender Direktoren zur Führung der laufenden Geschäfte auszuschließen. Die notwendige Mindestzahl an Organwaltern im monistischen System wird dadurch nicht erhöht, da einer der drei Verwaltungsräte zum geschäftsführenden Direktor bestellt werden kann. Damit wird auch im einstufigen Organisationsmodell innerhalb des Verwaltungsrats eine gewisse Kontrollfunktion etabliert und der Unterschied zur GmbH – neben dem in der SE nicht vorgesehenen Weisungsrecht der Hauptversammlung (vgl. Art. 52 der Verordnung) – betont. Dies entspricht den im österreichischen (wie auch im deutschen) Recht traditionell höheren Anforderungen an die Organisationsstruktur einer Aktiengesellschaft, von der sich der Rechtsverkehr auch einen erhöhten Schutz der Gläubiger und der Minderheitsgesellschafter erwartet.“ (Hervorhebung vom Verf.)
Mit dieser Änderung ist der Gesetzentwurf sodann vom Plenum des Nationalrates endgültig verabschiedet worden55. Schon im Regierungsentwurf strenger als in Deutschland war dagegen die Regelung in § 59 Abs. 2 SEG, wonach in börsennotierten Gesellschaften die geschäftsführenden Direktoren dem Verwaltungsrat generell nicht angehören dürfen.
V. Schlussbetrachtung Mit der Einführung der Regelung, für eine SE die Möglichkeit der monistischen Unternehmensverfassung zu wählen, wird in Deutschland (wie in Österreich) Neuland betreten. Es bleibt abzuwarten, ob und wie viele Gesellschaften von diesem Wahlrecht Gebrauch machen werden. Nur dann kann das neue Modell in der Praxis erprobt werden. Solche konkreten Erfahrungen, vor allem auch mit den Auswirkungen der bisher nur im dualistischen System praktizierten Mitbestimmung, erscheinen aber unverzichtbar für eine etwaige künftige Entscheidung des Gesetzgebers, zu einem späteren Zeitpunkt für alle deutschen Aktiengesellschaften, sei es auf der Basis einer EG-Richtlinie56, sei es allein kraft nationalen Rechts, beide Varianten zur Verfügung zu stellen.
__________ 55 Vgl. die verkündete Fassung des Gesellschaftsrechtsänderungsgesetzes 2004 im
österreichischen BGBl. Nr. 67 v. 24.6.2004. 56 Vgl. die bereits erwähnte (Fn. 30) Ankündigung der Kommission in ihrem Aktions-
plan.
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Unternehmensinsolvenz: Reorganisation des Rechtsträgers oder Vertragsnachfolge bei übertragender Sanierung Inhaltsübersicht I. Wege zur Gläubigerbefriedigung II. Sanierung des insolventen Rechtsträgers 1. Gesellschaftsorganisation und Insolvenzverwaltung 2. Insolvenzplan und Gesellschafterbeteiligung 3. Gesellschafterpflichten in der Insolvenz
a) Abtretung der Anteile? b) Treubindungen III. Übertragung des Unternehmens auf eine Übernahmegesellschaft 1. Übertragungsplan 2. § 25 HGB als Grundlage einer Vertragsüberleitung
Leitsätze:* 1. Die Finanz- und Organisationsverfassung des insolventen Rechtsträgers kann durch einen Insolvenzplan nicht geändert werden. Die Gesellschafter des insolventen Rechtsträgers sind als solche nicht Beteiligte des Planverfahrens. 2. Wird ein Unternehmen im Rahmen eines Insolvenzverfahrens im Wege übertragender Sanierung auf eine Übernahmegesellschaft (§ 260 Abs. 3 InsO) übertragen, dann werden unternehmensbezogene Dauerschuldverhältnisse gemäß § 25 Abs. 1 HGB übergeleitet. Das gilt zumindest in dem Fall, dass die Gläubiger des Insolvenzschuldners zur (teilweisen) Befriedigung ihrer Forderungen an dem erwarteten Sanierungserfolg teilhaben sollen und hierfür unmittelbar gegen die Übernahmegesellschaft Ansprüche erlangen, deren Erfüllung einer Insolvenzplanüberwachung gemäß §§ 261 ff. InsO unterliegt. Sachverhalt: Eine insolvente Einzelhandels-GmbH betreibt ein auf langfristigen Mietverträgen basierendes Filialnetz. Manche Läden sind profitabel, andere fahren
__________ * In einem Festschriftbeitrag für einen hohen Richter darf das Ergebnis in Leitsatzform am Anfang stehen. Der Verfasser weiß aus einem gemeinsamen Seminar im Thüringer Wald um das Interesse des Jubilars für die Schnittmenge von Gesellschafts- und Insolvenzrecht. – Der Beitrag beruht nicht auf einem Gutachten, sondern ist durch eine Diskussion auf dem 4. Düsseldorfer Insolvenzrechtstag 2004 angeregt worden. Meinem Mitarbeiter Caspar Bunke danke ich herzlich für die höchst förderliche Mitwirkung und für das wissenschaftliche Gespräch.
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Verluste ein. Die guten Standorte sollen zu den bisherigen Konditionen weitergeführt werden. Die Gläubiger erhoffen sich aus der Rettung des Unternehmens eine höhere Befriedigungsquote und wollen mehrheitlich an den künftigen Erträgnissen teilhaben. Die Sanierung des Unternehmens in den Händen der Insolvenzgesellschaft droht zu scheitern, als die Gesellschafter ihre Mitwirkung verweigern. Der Insolvenzverwalter fasst alternativ ins Auge, das Unternehmen im Wege übertragender Sanierung auf eine neue Gesellschaft überzuleiten. Allerdings wird diese neue Gesellschaft von den Vermietern nicht akzeptiert; sie bestehen auf Neuverhandlungen über die Mietverträge.
I. Wege zur Gläubigerbefriedigung Das Insolvenzverfahren dient der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger (§ 1 InsO). Diese Befriedigung erfolgt herkömmlich durch Vermögensverwertung, was für ein von dem Schuldner betriebenes Unternehmen die Liquidation bedeuten kann. Ersichtlich ist diese Zerschlagung einer wirtschaftlich-technischen Einheit in vielen Fällen die suboptimale Lösung. Daher sieht die 1999 in Kraft getretene Insolvenzordnung in ihrem § 1 vor, dass „in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung insbesondere zum Erhalt des Unternehmens getroffen“ werden kann. Dieser „Erhalt“ lässt sich grundsätzlich auf zweierlei Weise bewerkstelligen. Zum einen wird das Unternehmen an einen Dritten veräußert (wofür es keines Insolvenzplans bedarf) und es werden die Gläubiger quotal aus dem Erlös befriedigt. Die Praxis nennt diese Gestaltung eine „übertragende Sanierung“. Zum anderen kann man sich an die Sanierung des insolventen Rechtsträgers machen, der sein Unternehmen anschließend weiter führt. Welcher dieser Wege beschritten wird, hängt von einer Vielzahl von Überlegungen und Interessenabwägungen ab. Für die Sanierung des Unternehmensträgers (Schuldnergesellschaft) kann es gute Gründe geben, wie das Beispiel des Ausgangssachverhalts zeigt. Insoweit gibt § 109 InsO für die Trennung von den nicht profitablen Standorten die geeignete Handhabe. Da die Vermieter der guten Plätze nicht kooperieren, soll vor diesem Hintergrund der bisherige Vertragspartner, also die insolvente GmbH, wieder „flott gemacht“ werden. Großgläubiger erklären sich bereit, unter Forderungsverzicht in die GmbH „einzusteigen“1.
__________ 1
Zum debt equity swap etwa Wittig in FS Uhlenbruck, 2000, S. 685 (700 ff.).
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Unternehmensinsolvenz
II. Sanierung des insolventen Rechtsträgers 1. Gesellschaftsorganisation und Insolvenzverwaltung Das Problem ist ganz offenbar, dass dieser Einstieg rechtlich nur unter Mitwirkung der Altgesellschafter perfekt gemacht werden kann. Entweder sie treten ihre Anteile an ihn ab oder sie nehmen eine Kapitalmaßnahme vor, die auf eine Übernahme durch den oder die Gläubiger hinausläuft. Ohne die entsprechenden Willenserklärungen bzw. Beschlussfassungen der Gesellschafter kann eine solche Beteiligung nicht erfolgen. Der Insolvenzverwalter kann insoweit nichts bewirken. Die allseits akzeptierte Sichtweise der Kompetenzen des Insolvenzverwalters ist die, dass er ausschließlich für Vermögensangelegenheiten der Schuldnergesellschaft zuständig ist (§ 80 InsO), während ihn die gesellschaftsrechtliche Verfassung dieses Rechtsträgers im Grunde nichts angeht2. Der Insolvenzverwalter hat auch keinen Zugriff auf die Anteile der Gesellschafter. Das Insolvenzverfahren wird über das Vermögen der Kapitalgesellschaft eröffnet – und nicht zugleich auch über das Vermögen des Kapitalgesellschafters. Für Letzteres gäbe es zumeist auch gar keinen Anlass, denn der Gesellschafter kann wirtschaftlich überaus potent sein, lediglich einzelne Vermögensgegenstande (Aktien, Geschäftsanteile) sind durch die Insolvenz der Gesellschaft wertlos geworden. Das Trennungsprinzip steht daher einer Verfügungsbefugnis des Verwalters über die Anteile klar entgegen. 2. Insolvenzplan und Gesellschafterbeteiligung Diesen Ausgangspunkt akzeptierend wird man jetzt einen zweiten Blick auf den eingangs erwähnten Insolvenzplan werfen. Diese Innovation der InsO ist amtlich vorgestellt worden als „Rechtsrahmen für die Beteiligten“, denen die Bewältigung der Insolvenz im Wege von Verhandlungen und privatautonomen Austauschprozessen ermöglicht werde. Die Beteiligten sollen die für sie günstigste Art der Insolvenzabwicklung entdecken und durchsetzen, heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs einer InsO. Vor dem Hintergrund dieser Aussagen könnte man guten Mutes sein, dass die hier vorgesehene rechtlich und wirtschaftlich sinnvolle Gestaltung eines debt equity swap gelingt. Denn da „im gestaltenden Teil des Insolvenzplans festgelegt (wird), wie die Rechtsstellung der Beteiligten durch den Plan geändert werden soll“, wird damit doch wohl auch das Revirement ermöglicht sein?
__________ 2
Grundlegend zu dieser Unterscheidung, der noch ein kleiner „Überschneidungsbereich“ hinzugefügt wird, F. Weber, KTS 1970, 73; ferner H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, 2002, S. 55 ff.; Noack, Gesellschaftsrecht und Insolvenzordnung, 1999, Rz. 355 f.; ders., ZIP 2002, 1873. Der seltene Fall einer Luxus-Insolvenz, bei welcher der Insolvenzverwalter den Resterlös nach gesellschaftsrechtlichen Regeln an die Gesellschafter zu verteilen hat (§ 199 InsO), bleibt hier außer Betracht.
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Zumal § 254 Abs. 1 Satz 2 InsO eine technische Hilfe für die Anteilsübertragung gibt, indem bestimmt wird, dass, soweit Geschäftsanteile einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung abgetreten werden sollen, die in den Plan aufgenommenen Willenserklärungen der Beteiligten als in der vorgeschriebenen Form abgegeben gelten. Doch leider ist dies eine Schönwettervorschrift, die nur dann zum Zuge kommt, wenn ein Gesellschafter freiwillig zu dem Anteilstransfer bereit ist. Die Sanierung durch gesellschaftsrechtliche Reorganisation kann gelingen, wenn die Gesellschafter einvernehmlich mitwirken, und sie wird stets misslingen, wenn sie obstruieren. Die Lösung der InsO, die Zustimmung einer Abstimmungsgruppe ggf. zu fingieren (§ 245 InsO), käme hier gerade recht. Doch gilt das Obstruktionsverbot auch für die Gesellschafter? Die Antwort lautet aus insolvenzrechtlicher Sicht: nein. Denn die Gesellschafter sind nicht „Beteiligte“ im Sinne der Insolvenzplanvorschriften. Rechtsgestaltende Maßnahmen, die notfalls auch ohne Zustimmung der Betroffenen durch den Plan vorgenommen werden, können zu Lasten der Anteilseigner nicht getroffen werden. Die InsO nennt abschließend die drei Gläubigergruppen, aus denen wiederum Untereinheiten gebildet werden können (§ 222 InsO). Die Gesellschafter des insolventen Rechtsträgers sind als solche nicht dabei; unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob sie als nachrangige Insolvenzgläubiger (= Gläubiger kapitalersetzender Darlehen) zu beteiligen sind. Auch die übrigen Vorschriften über den Insolvenzplan zeigen, dass die Anteilseigner des Unternehmensträgers nicht oder allenfalls am Rande (§ 227 Abs. 2 InsO) einbezogen sind. Eine Deutung dieser Abstinenz als planwidrige Regelungslücke verbietet sich vor dem Hintergrund der Gesetzeshistorie3. Der gerichtliche Zwangsausschluss der Anteilseigner eines insolventen Unternehmensträgers wurde von der in den achtziger Jahren gebildeten Reformkommission vorgeschlagen4, doch Eingang in die Entwürfe einer InsO fand diese Vorstellung nicht. Die Regierungsbegründung zur InsO hat sich mit folgenden Sätzen dagegen ausgesprochen: „Sieht ein Plan die Fortsetzung des Unternehmens durch den Schuldner, organisationsrechtliche Zugeständnisse oder etwa einen Eigentümerbeitrag vor, so ist hingegen bereits nach den allgemeinen Prinzipien der Wirtschaftsverfassung die Zustimmung der betroffenen Beteiligten erforderlich. Aus der vom Grundgesetz verbürgten Vereinigungsfreiheit folgt ferner, dass kein Beteiligter gegen seinen Willen genötigt werden darf, Mitglied
__________ 3 4
Eingehend Sassenrath, ZIP 2003, 1517 (1519 ff.); H.-F. Müller (Fn. 2), S. 318 ff. Bericht der Kommission für Insolvenzrecht (hrsg. vom Bundesministerium der Justiz), 1985, S. 42, 58, 278 f.; dazu Stürner, Insolvenzrecht im Umbruch, 1991, S. 48; Ulmer, ZHR 149 (1985), 541 ff.; Balz, Sanierung von Unternehmen oder von Unternehmensträgern?, 1986, S. 23.
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einer Gesellschaft … zu werden“5. Immerhin sahen diese Entwürfe noch eine gewisse Verfahrensbeteiligung der Gesellschafter vor6, doch auch diese Reste einer Einbeziehung wurden im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren getilgt7. Aus Wortlaut, Systematik und Gesetzesgeschichte kann man nur den Schluss ziehen, dass die Gesellschafter des insolventen Rechtsträgers nicht als Adressaten eines ihre Rechte gestaltenden Plans gelten können. Eine zwangsweise Einbeziehung ist daher nicht möglich. Für die praktische Problematik bleibt der nicht weiterführende Appell an den Gesetzgeber, die damalige Entscheidung einer „Freistellung“ der Gesellschafter zu revidieren8. Der im Herbst 2004 vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung sieht freilich eine in diese Richtung gehende Erweiterung leider nicht vor. Von Verfassungs wegen besteht entgegen der seinerzeitigen Regierungsbegründung kein Hindernis, wie Sassenrath ausführlich und zutreffend dargelegt hat9. Der Veränderung der Zusammensetzung einer Kapitalgesellschaft, wie sie etwa durch den Eintritt von Investoren erfolgt, kann im Ernst nicht die vom Grundgesetz verbürgte Vereinigungsfreiheit entgegen gehalten werden. „Organisationsrechtliche Zugeständnisse“, die zu einer vollen Vermögensverwertung im Gläubigerinteresse führen, wären den Gesellschaftern ohne jedes Verfassungsbedenken zuzumuten. Das in der Aktie ausgedrückte, nach der Rechtsprechung des BVerfG durch Art. 14 GG geschützte Anteilseigentum10 ist jedenfalls bei überschuldeten Kapitalgesellschaften nicht betroffen, vielmehr handelte es sich um eine Inhaltsbestimmung für den Insolvenzfall. Im privatrechtlichen Notstand einer Insolvenz sollten die Anteilseigner nicht auf ihren materiell in der Regel wertlosen mitgliedschaftlichen Positionen verharren dürfen und – wie im Eingangssachverhalt – unter Umständen eine Sanierung blockieren können. Der vor rund zwanzig Jahren gemachte Vorschlag eines besonderen, von dem Insolvenzverfahren getrennten Reorganisationsverfahrens müsste dafür nicht erneuert werden; heute steht mit dem Planverfahren der InsO das richtige Instrument bereit, das allerdings der gesetzgeberischen Erweiterung harrt.
__________ 5 Allgemeine Begründung des Regierungsentwurfs (sub 4 e aa), abgedr. bei Kübler/
6 7 8
9 10
Prütting, Das neue Insolvenzrecht, Bd. I, 1994, S. 116 und bei Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 1995, S. 32. Insbesondere: Mitberatung, Widerspruchsrecht, Beschwerderecht. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 12/7302. Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, 1997, S. 581 f.; Smid/Rattunde in Smid, InsO, 2. Aufl. 2001, § 217 Rz. 13; Noack (Fn. 2), 1999, Rz. 104; Eidenmüller in MünchKomm.InsO, Bd. 2, 2002, § 217 Rz. 2, 74. Sassenrath, ZIP 2003, 1517 (1523 ff.); a. A. H.-F. Müller (Fn. 2), S. 364 ff., der auch de lege ferenda für gesellschaftsrechtliche Enthaltsamkeit plädiert. BVerfGE 102, 197.
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3. Gesellschafterpflichten in der Insolvenz a) Abtretung der Anteile? Um dem geschilderten Dilemma zu entgehen, dass Gesellschafter einer überschuldeten Kapitalgesellschaft ihr Obstruktionspotential entfalten, könnte man an eine Pflicht zur Abtretung der Anteile denken. In insolvenzrechtlicher Terminologie ausgedrückt: von der Ist- zur Soll-Masse. Vereinzelt wird diese Auffassung im Schrifttum vertreten. „Sachgerecht und folgerichtig“ ist es nach Ansicht von Braun, dem Verwalter unter den geschilderten Umständen einen Anspruch auf Abtretung der Anteile als Teil der Soll-Masse einzuräumen11. Es gehe schließlich nur um die „Abgabe einer organisationsrechtlichen Formalposition“, die zur Haftungsverwirklichung des Unternehmens essentiell notwendig sei. In einem Insolvenzplan könne über die „Gesellschaftsrechte“ verfügt werden, wobei der Verwalter zu gewährleisten habe, dass ein etwaiger, aus der Planrealisierung sich ergebender Mehrwert über die gesamten Verbindlichkeiten hinaus gem. § 199 InsO analog den Gesellschaftern wieder zugänglich gemacht wird. Die lex lata lässt es nicht zu, einen solchen Übertragungsanspruch des Insolvenzverwalters zu konstruieren. Das geltende Recht gibt nicht den mindesten Anhaltspunkt für eine Anspruchsgrundlage in diese Richtung. Auch sagt Braun nicht genau, wohin die Anteile abgetreten werden sollen. Wenn sie – vergleichbar den Gegenständen der Insolvenzanfechtung – zur Masse gezogen werden, also in das Vermögen der Schuldnergesellschaft fließen sollen, besteht ein Konflikt mit dem Verbot des Rückerwerbs eigener Anteile. Letzteres mag man in der Situation der Insolvenzverwaltung nun nicht für durchgreifend erachten, aber es zeigt doch, dass ohne eine gesetzliche Regelung nicht auszukommen ist. b) Treubindungen Ein Ausweg könnte das Bemühen der schwarzen Katze im Sack der Jurisprudenz sein: die gesellschafterliche Treupflicht. Dies mag auf den ersten Blick auch denjenigen erstaunen, der um ihr weites und diffuses Anwendungsfeld weiß, denn es geht um die Verwirklichung von Gläubigerinteressen. Die Bändigung der Mehrheit durch die Treubindung oder die treugemäße Verpflichtung der Minderheit zur sachgerechten Mitwirkung bei Verbandsentscheidungen kann nicht für die Gläubigeranliegen ins Feld geführt werden. Dass man als Gesellschafter den Gläubigern gegenüber eine verbandsrechtlich begründete Treupflicht hätte, behauptet niemand und es wäre dies auch unvertretbar. Vorinsolvenzlich kann bei Gesellschaften mit mehreren Mitgliedern die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht einen Anspruch auf Zustimmung zu not-
__________
11 Braun in Nerlich/Römermann, InsO, Loseblatt, § 217 Rz. 41 ff.
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wendigen Sanierungsmaßnahmen gegen einen opponierenden (Minderheits-) Gesellschafter begründen12. Dies gilt bei GmbH und AG gleichermaßen. Der Treuepflichtgedanke dürfte zwar auch im eröffneten Insolvenzverfahren anwendbar sein, soweit einzelne Gesellschafter Sanierungsmaßnahmen (ggf. unter Aufnahme neuer Gesellschafter) zustimmen und dadurch ein völlig ersatzloser Verlust der Anteile durch Liquidation im Insolvenzverfahren abwendbar ist. Aber damit hat es sein Bewenden. In den hier interessierenden kritischen Fällen, dass kein gesellschafterlicher Binnenkonflikt zu lösen ist, sondern Gläubiger bzw. der Insolvenzverwalter eine Kooperation wünschen, wird die Treubindung nicht virulent. Ihr Einsatzgebiet wäre überdehnt, wollte man es auch auf den Fall erstrecken, dass die Gesellschafter die Erhaltung der juristischen Person zu ermöglichen haben, an der sie nicht (mehr) relevant beteiligt sein werden.
III. Übertragung des Unternehmens auf eine Übernahmegesellschaft 1. Übertragungsplan Schließlich kommt eine übertragende Sanierung im Rahmen eines Insolvenzplanes in Betracht („Übertragungsplan“), wonach zur Realisierung des Fortführungswertes Forderungsrechte der Gläubiger gegen den neuen Rechtsträger begründet oder auch Anteilsrechte an der Übernahmegesellschaft an Gläubiger ausgegeben werden. Dem erheblichen Interesse der Altgläubiger an der Befriedigung ihrer Ansprüche wird dadurch Rechnung getragen, dass die Überwachung der Insolvenzplanerfüllung „auf die Erfüllung der Ansprüche, die den Gläubigern nach dem gestaltenden Teil gegen eine juristische Person oder Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit zustehen“ mit entsprechender Planregelung erstreckt werden kann (§ 260 Abs. 3 InsO). Eine übertragende Sanierung außerhalb eines Insolvenzplanes, bei der das Unternehmen von der insolventen Schuldnergesellschaft abgelöst und schuldenfrei zur Fortführung auf einen anderen Rechtsträger übertragen wird, erscheint nicht zweckmäßig, falls die Gegenleistung nicht dem erwarteten Fortführungswert entspricht oder, wenn zur Realisierung dieses Wertes fortlaufende Zahlungen in die Masse aus den erwirtschafteten Erträgen erfolgen sollen, weil dann das Insolvenzverfahren mangels Vollzug der Schlussverteilung nicht aufgehoben werden kann, sondern unter Umständen noch für einen langen Zeitraum weiterzuführen ist und gleichermaßen die aufgelöste Insolvenzgesellschaft nicht gelöscht und vollbeendet werden kann. Daher wird im Folgenden die Situation des zuvor geschilderten Übertragungsplans zugrunde gelegt.
__________ 12 BGH, NJW 1995, 1739 (Girmes); ausführlich v. Schorlemer/Stupp, NZI 2003, 345
(347).
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Der Verkauf des Unternehmens des insolventen Rechtsträgers ist selbstverständlich möglich, ohne dass dessen Anteilseigner ein Veto einlegen können. Bei dieser Gestaltung kommt eine Gesellschafterblockade zwar nicht in Betracht, dafür aber eine Weigerung der Vertragspartner, die Beziehungen mit dem neuen Träger fortzusetzen. Einmal scheitert die Sanierung an den Gesellschaftern, ein andermal offenbar an den Vertragspartner: eine ausweglose, nur die Liquidation erlaubende Situation? Im eingangs geschilderten Fall der insolventen Einzelhandels-GmbH gibt es keine Probleme, wenn der Kontrahent mit dem Wechsel seines Partners einverstanden ist und sich als Partei an einem dreiseitigen Überleitungsvertrag beteiligt oder der zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Unternehmenserwerber vereinbarten Vertragsübernahme zustimmt, sei es durch nachträgliche Genehmigung oder Einwilligung in die Überleitung des Schuldverhältnisses auf einen Unternehmenserwerber im Voraus13. Wie aber sieht es aus, wenn der Vertragspartner nicht bereit ist, das Schuldverhältnis mit dem neuen Geschäftsinhaber aufrechtzuerhalten? Zu prüfen ist, ob überhaupt eine rechtsgeschäftliche Beteiligung des anderen Teils erforderlich ist. Findet also bei der hier zugrunde gelegten Variante der übertragenden Sanierung ohne Mitwirkung der Vertragspartner ein Übergang der Vertragsverhältnisse hin zu der Übernahmegesellschaft statt oder verhält es sich so, dass „sämtliche in der Person der Schuldnergesellschaft schuldrechtlich angebundene Sachverhalte sich auch durch Plangestaltung auf einen neuen Unternehmensträger nur dann übertragen (lassen), wenn der betreffende Vertragspartner zustimmt“14. 2. § 25 HGB als Grundlage einer Vertragsüberleitung Weil das Insolvenzrecht zunächst nicht weiter hilft, richtet sich der Blick auf § 25 HGB. Die Norm behandelt den Übergang von Verbindlichkeiten und Forderungen, nicht aber spricht sie von der Überleitung ganzer Schuldverhältnisse. Dennoch wird die Vorschrift von Teilen der Literatur in diesem Sinne erweiternd ausgelegt15.
__________ 13 Busche in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1999, Einl. zu §§ 398 ff. Rz. 201; Nörr in Nörr/
Scheyhing/Pöggeler, Sukzessionen, 2. Aufl. 1999, § 19 I 1. 14 Braun in Nerlich/Römermann, InsO, § 217 Rz 39; Braun/Uhlenbruck (Fn. 8),
S. 569; Eidenmüller Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, 1999, S. 45; vgl. auch Vallender, GmbHR 2004, 642 (647 f.) sowie Balz (Fn. 4), S. 74 f. 15 Lieb in MünchKomm.HGB, Bd.1, 1996, § 25 Rz. 82 ff., 86; ders. in FS Börner, 1992, S. 747 (754 ff.); ders., Die Haftung für Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen bei Unternehmensübergang, 1992, S. 13 ff.; i.E. auch K. Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 8 I 4 c bb; ders. in FS Medicus, 1999, S. 555 ff.; ders. in GS Sonnenschein, 2003, S. 497 (508 ff.) (auf der Grundlage seiner Kontinuitätslehre); Börner in FS Möhring, 1975, S. 37 (48 ff.); Waskönig, Rechtsgrundlage und Tragweite der §§ 25, 28 HGB, 1979, S. 118 ff.; LG Stuttgart, NJW-RR 1996, 1378 (1379); vgl. auch Gotthardt, BB 1987, 1896 (1901 re.Sp.). Dezidiert a. A. Canaris, Handels-
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a) Bevor diese Auffassung für das hiesige Problem fruchtbar gemacht werden kann, ist eine ganz andere, auf den ersten Blick unüberwindbare Hürde zu bewältigen: § 25 HGB soll in der Insolvenz des Rechtsträgers unanwendbar sein. Nach Ansicht des BGH16 stehen der Anwendung des § 25 Abs. 1 HGB die bestimmenden Grundsätze des Insolvenzverfahrens und der dem Insolvenzverwalter darin zugewiesenen Funktion entgegen, die Vermögenswerte des Insolvenzschuldners zu verwerten und dabei im Interesse der Gläubiger den höchstmöglichen Erlös zu erzielen. Denn eine Veräußerung des Unternehmens mit sämtlichen Schulden würde praktisch ausscheiden, so dass der Verwalter in der Regel auf eine Zerschlagung des Schuldnerunternehmens beschränkt wäre; dies aber stünde im Widerspruch zu Sinn und Zweck des § 25 Abs. 1 HGB, den Gläubiger zu begünstigen17. Die Ansätze in der Literatur differieren. Als gleichsam kleinster gemeinsamer Nenner hinsichtlich des Zwecks des § 25 Abs. 1 HGB wird der Schutz bestimmter (Haftungs-) Erwartungen des Rechtsverkehrs ausgemacht werden können18. Die Begründungen machen deutlich, worauf sich die Nichtanwendbarkeit des § 25 Abs. 1 HGB allein bezieht. Es geht um die Insolvenzforderungen gegenüber dem bisherigen Unternehmensträger! Insoweit nämlich stünde bei Normanwendung insbesondere der Gläubiger-Gleichbehandlungsgrundsatz in Frage, eine Mithaftung des Unternehmenserwerbers nach § 25 Abs. 1 HGB würde ein nicht zu rechtfertigendes Zufallsgeschenk an die Insolvenzgläubiger bedeuten, deren wirtschaftliches Risiko sich nur einmal realisiert
__________ recht, 23. Aufl. 2000, § 7 Rz. 41; Beuthien, NJW 1993, 1737 ff.; Zöllner, ZGR 1983, 82 (87 ff.); ferner etwa Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 25 Rz. 59 ff.; Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 25 Rz. 11; Emmerich in Heymann, HGB, 2. Aufl. 1995, § 25 Rz. 42; Hüffer in Großkomm.HGB, Stand 1983, § 25 Rz. 95; Roth in Koller/Roth/Morck, HGB, 4. Aufl. 2003, § 25 Rz. 7; Oetker, Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994, S. 658 ff. Offengelassen von BGHZ 157, 361 (364 ff.) = BGH, NJW 2004, 836 (837); Ammon in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, 2. Aufl. 2001, § 25 Rz. 23. Abw. BGH, NJW 2001, 2251 ff. bezüglich Mietverhältnisse; der VII. Zivilsenat lässt im Übrigen ausdrücklich dahingestellt sein, ob § 25 HGB generell zu einem gesetzlichen Vertragsübergang führen kann. 16 BGHZ 104, 151 (153 ff.); BGH, NJW 1992, 911. 17 Ebenso Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, § 25 Rz. 4; Hüffer in Großkomm.HGB, § 25 Rz. 61; Emmerich in Heymann, HGB, § 25 Rz. 12; ähnl. das BAG, NJW 1966, 1984, das wegen sonst meist praktisch gegebener Unveräußerlichkeit des Unternehmens unabhängig von § 25 Abs. 2 HGB die Regelung des § 25 Abs. 1 HGB im Konkurs als im Zweifel abgedungen ansieht. 18 Vgl. nur Zimmer/Scheffel in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 25 Rz. 2; Hüffer in Großkomm.HGB, § 25 Rz. 21 ff., 27; Canaris (Fn. 15), § 7 Rz. 18; anders freilich U. Huber in FS Raisch, 1995, S. 85 (90), der ausführt, § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB schütze nicht „‚die Verkehrserwartungen‘ der Gläubiger des Unternehmens, sondern ihr Informationsinteresse: Spätestens unverzüglich nach der Geschäftsübernahme muß der Erwerber, der die Firma beibehält, die Information darüber erteilen, daß er die Haftung nicht übernommen hat; anderenfalls trifft ihn die Sanktion der Haftung“.
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hat. Damit ist allerdings noch nicht ausgeschlossen, § 25 Abs. 1 HGB als Vertragsüberleitungsnorm bei übertragender Sanierung im Insolvenzverfahren anzuwenden. Es folgt daraus nämlich notwendig nur, dass von einem Vertragsübergang auf den neuen Rechtsträger solche aus der Vertragsbeziehung resultierende Forderungen nicht erfasst sind, die bereits bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestanden haben. Das Schicksal der Dauerschuldverhältnisse insgesamt und insbesondere der hieraus künftig entstehenden Verbindlichkeiten ist demgegenüber nicht betroffen. Vielmehr vermögen die vorgebrachten Argumente eine so weitgehende Unanwendbarkeit des § 25 HGB nicht zu rechtfertigen19. Der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung kann nicht ins Feld geführt werden; er gilt seit Verfahrensaufhebung im Anschluss an die rechtskräftige Bestätigung des Insolvenzplans (§ 258 Abs. 1 InsO) nicht mehr und kann sich daher auf die nach diesem Zeitpunkt aus dem Vertrag erst resultierenden Ansprüche nicht beziehen. Einer Vertragsüberleitung auf die Übernahmegesellschaft steht auch der Zweck des § 25 HGB nicht entgegen, wenn dieser in dem Schutz bestimmter Verkehrserwartungen liegt und man hierfür einen typisierten Parteiwillen als tragend erachtet. Zwar mag sich mit der Unternehmensinsolvenz auch für die Vertragspartner ein wirtschaftliches Risiko bloß einmal verwirklicht haben; in Anbetracht der Interessenlage aber dürfte hinsichtlich einer weiteren Fortsetzung der Vertragsbeziehung zum Erwerber des insolventen Unternehmens eine Verkehrserwartung nicht fernliegen. Eine nur auf die zukünftigen Rechte und Pflichten bezogene Vertragsüberleitung ist dann auch kein pures Zufallsgeschenk für die Kontrahenten. Erachtet man die (durch Fortführung der bisherigen Firma lediglich nach außen in Erscheinung tretende) Kontinuität des Unternehmens als tragenden Gesichtspunkt, dann mag diese mit dem Eintritt der Insolvenz grundsätzlich nicht ohne Zweifel sein. Führt allerdings der Insolvenzverwalter das Unternehmen fort und trennt er sich dazu von (bestimmten) unternehmensbezogenen Vertragsbeziehungen nicht (vgl. §§ 103 ff. InsO), dann wird man aus Sicht der betreffenden Vertragspartner Unternehmenskontinuität nicht ernsthaft bezweifeln und infolgedessen bei einer späteren Unternehmensübertragung und -fortführung durch den Erwerber im Sinne von § 25 Abs. 1 HGB eine (partielle) Vertragsüberleitung nicht ablehnen können20. Wer die Nichtanwendung von § 25 HGB bei übertragender Sanierung aus der Masse nur für gerechtfertigt hält, weil die Gläubiger an der Veräußerungsentscheidung im Rahmen des Insolvenz(plan)verfahrens beteiligt sind, für den liegt ein Vertragsübergang gemäß § 25 Abs. 1 HGB um so näher, weil die Vertragspartner als solche nicht Verfahrensbeteiligte sind. Kurzum: Wird ein
__________ 19 In der Sache bereits gegen umfassende Unanwendbarkeit des § 25 Abs. 1 HGB
Gotthardt, BB 1987, 1896 (1901). 20 A. A. wohl Lieb in MünchKomm.HGB, § 25 Rz. 41 ff.; ders. in FS Vieregge, 1995,
S. 557 (562 ff.).
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Unternehmen aus der Insolvenzmasse zur Fortführung an eine Übernahmegesellschaft veräußert, dann gehen zum Insolvenzschuldner begründete Dauerschuldverhältnisse nach § 25 Abs. 1 HGB auf diese Gesellschaft über, nicht allerdings insoweit, als hiervon bereits zum Zeitpunkt der Insolvenzverfahrenseröffnung bestehende Verbindlichkeiten betroffen sind21. Es handelt sich in diesem Sinne um eine beschränkte Vertragsüberleitung22. Das ist freilich keine rechtliche Innovation. Eine solche Beschränkung ist insbesondere bei der Betriebsübernahme in der Arbeitgeberinsolvenz bekannt, wo § 613a BGB zwar anwendbar bleibt23, der Übernehmer aber insoweit nicht uneingeschränkt in die bestehenden Arbeitsverhältnisse eintritt, als ihn die in § 613a Abs. 2 BGB angelegte Haftungsnachfolge nur hinsichtlich der nach Betriebsübergang entstandenen Ansprüche trifft. Die Regelung wird im Hinblick auf die par condicio creditorum teleologisch dahin gehend reduziert, dass der Betriebserwerber im Zuge der Vertragsüberleitung nicht für solche Ansprüche haftet, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits entstanden waren24. b) Die Annahme einer Vertragsüberleitung wird im Allgemeinen gerechtfertigt durch die Erwägung, die Zuordnung zusammengehöriger Rechte und Pflichten aus unternehmensbezogenen Dauerschuldverhältnissen zu erhalten25. § 25 Abs. 1 HGB wird rechtsfortbildend als Vertragsüberleitungsnorm hinsichtlich unternehmensbezogener Dauerschuldverhältnisse aufgefasst26, der der typische Parteiwille zugrunde liege27. Dies diene dem Interesse, „die (auch volkswirtschaftlich) wichtige und wertvolle Möglichkeit der Unternehmensübertragung deutlich zu erleichtern“28 und damit nicht zuletzt lebensfähige Unternehmen als Funktionseinheit zu erhalten, hinter dem das
__________ 21 Gotthardt, BB 1987, 1896 (1901 f.). Vgl. insoweit auch Lieb in MünchKomm.HGB,
22 23 24
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§ 25 Rz. 86, der es – freilich im Zusammenhang mit dem Regelungssinn des § 25 Abs. 1 Satz 2 HGB – für möglich hält, dass schon entstandene Forderungen nicht im Wege der Vertragsüberleitung übergehen, sondern rechtsgeschäftlich übertragen werden müssen. Zu diesem Modell einer Vertragsübernahme Nörr (Fn. 13), § 20 II 1. S. nur Heinze in Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechtshandbuch, 2. Aufl. 2001, § 104 Rz. 67 ff.; Richardi/Annuß in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1999, § 613a Rz. 223 f. BAG, NZA 2003, 318; BAGE 32, 326 (330 ff.); BAGE 47, 206 (212 ff.); BAGE 53, 380 (383); Heinze in Gottwald (Fn. 23), § 104 Rz. 73 f.; Richardi/Annuß in Staudinger, BGB, § 613a Rz. 225. Vgl. Krejci, ÖJZ 1975, 449 (458 re.Sp., 459) („Verkehrsbedürfnis nach vereinfachtem Verfahren zur Aufrechterhaltung der Unternehmensbindung schuldrechtlicher Geschäftsbeziehungen“). Nachweise oben Fn. 15. Auch bei diesem Normverständnis kommt § 25 Abs. 1 Satz 2 HGB durchaus noch eigene Bedeutung zu: Lieb in MünchKomm.HGB, § 25 Rz. 86; i.E. (bei Annahme echten Forderungsübergangs gem. § 25 Abs. 1 Satz 2 HGB) auch K. Schmidt a. a. O. (Fn. 15). A. A. Beuthien, NJW 1993, 1737; Canaris (Fn. 15), § 7 Rz. 39; ders. in FS Frotz, 1993, S. 11 (39 f.). Lieb in MünchKomm.HGB, § 25 Rz. 83 a. E.
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wegen des Unternehmensbezugs des Schuldverhältnisses relativierte Interesse des Kontrahenten an der Identität seines Vertragspartners zurücktrete. Ähnlich wie im Zweifel auch ohne die genaue Kenntnis von dessen Identität mit dem tatsächlichen Unternehmensträger in Vertragsbeziehungen tritt, wer mit „dem Unternehmen“ kontrahiert29, ist dann bei einem auf das Unternehmen bezogenen Dauerschuldverhältnis Vertragspartner der jeweilige Unternehmensträger30. Ob diese Auffassung generell für den Unternehmenstransfer zutrifft, kann dahinstehen. Jedenfalls für den hier erörterten Fall der übertragenden Insolvenzsanierung auf eine Übernahmegesellschaft, an der die Gläubiger teilhaben und die der Überwachung nach §§ 261 ff. InsO unterliegt, ist – wie gezeigt – eine solche Vertragsüberleitung anzunehmen. Allerdings kann dem anderen Teil nicht prinzipiell die Übernahmegesellschaft als Vertragspartner oktroyiert werden. Die Möglichkeit der Kündigung aus wichtigem Grund entsprechend § 314 BGB bleibt unberührt31. Die bislang ein karges Mauerblümchendasein fristende Regelung über die planüberwachte Übernahmegesellschaft (§§ 260 ff. InsO) wird durch die hier vertretene Überleitungslehre wesentlich gestärkt. Und die Praxis des Insolvenzrechts erfährt einen Ausweg aus von Gesellschaftern (Reorganisation) und Vertragspartnern (übertragende Sanierung) errichteten Blockadesituationen.
__________ 29 Ganz h. M.: K. Schmidt, Handelsrecht (Fn. 15), § 5 III 1 a; Larenz/Wolf, Allg. Teil
des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 46 Rz. 22; Medicus, Allg. Teil des BGB, 8. Aufl. 2002, Rz. 917; BGH, NJW 1996, 1053 (1054). 30 K. Schmidt in FS Medicus, 1999, S. 555 (569 f.); gegen diese Argumentation Canaris, (Fn. 15), § 7 Rz. 41. 31 Weitergehend für ein Recht zum Widerspruch gegen den Vertragsübergang in Anlehnung an § 613a BGB Lieb in MünchKomm.HGB, § 25 Rz. 85; ferner dazu K. Schmidt in FS Medicus, 1999, S. 555 (570).
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Schuldrechtliche Zusatzleistungen bei Kapitalerhöhung im Aktienrecht Zulässigkeit – Registerprüfung – Bilanzierung Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkt 1. Sachverhalte 2. Rechtsfragen II. Zulässigkeit 1. „Korporatives“ und „nichtkorporatives“ Agio 2. Beurteilung der schuldrechtlichen Zusatzleistungen
III. Registerprüfung 1. Der Standpunkt des Bayerischen Obersten Landesgerichts 2. Einwendungen IV. Bilanzierung 1. Die Alternative § 272 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 4 HGB 2. Einordnung V. Ergebnisthesen
I. Ausgangspunkt 1. Sachverhalte Schuldrechtliche Zusatzleistungen bei der Kapitalerhöhung einer Aktiengesellschaft, insbesondere seitens neuer Aktionäre, haben in den letzten Jahren die Praxis und das Schrifttum häufiger beschäftigt, am Rande auch die Rechtsprechung. Im Zentrum standen dabei Beteiligungen von Venture Capital-Gesellschaften an jungen Unternehmen („Start Ups“)1. Nach dem Platzen der Börsen-Blase des ehemaligen Neuen Marktes und dem vielfach eher unrühmlichen Ende so mancher dot coms ist es um dieses Phänomen zwar ruhiger geworden, es bleibt aber für die Praxis relevant und für die Rechtswissenschaft interessant. Bei derartigen Zusatzleistungen handelt es sich überwiegend um Geldzahlungen. Sie könnten als Agio festgesetzt werden. Wenn sie stattdessen im Rahmen besonderer Beteiligungsverträge vereinbart werden, hängt dies vor allem damit zusammen, dass ein Agio vor Registeranmeldung in voller Höhe an die Gesellschaft zu zahlen ist (§ 188 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 36a Abs. 1 AktG). Eine solche Volleinzahlung soll aber nicht zuletzt deshalb vermieden werden, weil der einzahlungspflichtige Aktienerwerber Zeitpunkt und Höhe seiner zusätzlichen Geldleistungen von der weiteren Entwicklung der Ge-
__________ 1
Zu den Venture Capital-Gesellschaften Stadler, Venture Capital und Private Equity, 2000; Weitnauer, Handbuch Venture Capital, 2. Aufl. 2001; Maidl/Kreifels, NZG 2003, 1091 ff.
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sellschaft abhängig machen möchte. Dementsprechend wird in den zugehörigen Beteiligungsverträgen oder investor agreements2 vielfach vereinbart, dass die weiteren Zahlungen nur zu leisten sein sollen, wenn die Gesellschaft bestimmte wirtschaftliche Ziele erreicht (sog. Meilensteine oder – neudeutsch – mile stones)3. Es kommt aber auch vor, dass sich neu beitretende Aktionäre der Gesellschaft gegenüber zu unentgeltlichen Dienst-, Werk- oder Sachleistungen verpflichten, um einen für sie günstigen Übernahmekurs zu kompensieren4. Gerade solche Abreden sollen – wie sonstige Nebenabreden im Aktionärskreis – oftmals nicht der mit förmlicher Agiofestsetzung verbundenen Registerpublizität ausgesetzt werden. 2. Rechtsfragen Hinsichtlich derartiger schuldrechtlicher Zusatzleistungen beschäftigen uns vor allem drei Fragenkomplexe. Zunächst einmal geht es um die Zulässigkeit solcher Abreden. Man könnte in ihnen eine unzulässige Umgehung der vom Aktienrecht vorgesehenen Regeln für das Agio sehen (dazu II.). Zum Zweiten stellt sich die Frage, inwieweit diese Abreden in die Prüfung des Registergerichts in Bezug auf die Ordnungsmäßigkeit der Kapitalerhöhung einzubeziehen sind, insbesondere ob das Gericht befugt ist, die Vorlage eines zugrunde liegenden investor agreement zu verlangen (sodann III.). Drittens interessiert die bilanzielle Behandlung solcher Leistungen. Soweit sie ihren Niederschlag auf der Passivseite der Bilanz der betroffenen Aktiengesellschaft finden, sind sie in die Kapitalrücklage einzustellen. Darüber herrscht Einigkeit. Streitig ist dagegen, ob insoweit die Nr. 1 oder die Nr. 4 des § 272 Abs. 2 HGB angesprochen ist, was wegen der unterschiedlichen Kapitalbindung erkennbare Bedeutung hat (schließlich IV.). Wenn die nachstehenden Überlegungen Volker Röhricht gewidmet werden, so geschieht dies nicht zuletzt deshalb, weil er den schuldrechtlichen Nebenabreden im Aktienrecht – und in diesen Kontext gehört auch unsere Konstellation – bei seinen Erläuterungen des § 23 AktG im Großkommentar zum Aktiengesetz deutlichen Raum gewährt hat5.
II. Zulässigkeit 1. „Korporatives“ und „nicht-korporatives“ Agio Unter Agio oder Aufgeld versteht man Mehrleistungen, die der Erwerber junger Kapitalgesellschaftsanteile über deren Nennwert hinaus an die Ge-
__________ 2 3 4 5
Dazu Weitnauer, NZG 2001, 1065 ff.; Mellert, NZG 2003, 1096 ff. Vgl. etwa Becker, NZG 2003, 510 (511); Mellert, NZG 2003, 1096 (1097). Beispielsfall bei Priester in FS Lutter, 2000, S. 617 (625). Röhricht in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1997, § 23 Rz. 238 ff.
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sellschaft zu erbringen hat6. Das Agio gehört nicht zum Nennkapital. Es bildet aber einen Teil der korporativen Leistungspflicht des Aktionärs. Das zeigt sich klar an § 54 Abs. 1 AktG, wonach die Verpflichtung der Aktionäre zur Leistung der Einlagen durch den Ausgabebetrag der Aktien begrenzt wird. Der Ausgabebetrag umfasst aber auch ein Agio. Ein derartiger Mehrbetrag kann im Kapitalerhöhungsbeschluss selbst festgesetzt werden. Möglich ist aber auch, dass die Hauptversammlung die Bestimmung des Ausgabebetrages der Verwaltung überlässt. Will sie solchenfalls ein Agio, muss sie allerdings dessen Mindestbetrag festlegen (§ 182 Abs. 3 AktG). Der Vorstand hat dann den konkreten Ausgabebetrag nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen7. Der das Agio mit umfassende Ausgabebetrag muss in den Zeichnungsschein aufgenommen werden (§ 185 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AktG). Die Pflicht zur Leistung des Agios geht auf einen Rechtsnachfolger in die Aktie über. Beim Regelfall des Geld-Agios wird das nicht praktisch, da dieses – wie erwähnt – vor Anmeldung zum Handelsregister und damit vor Entstehung der Aktien voll zu leisten ist. Anderes würde für das Agio bei Sacheinlagen dann gelten, wenn man den § 36a Abs. 2 AktG dahin interpretiert, dass es genügt, die Pflicht zur Übertragung des Vermögensgegenstandes innerhalb der satzungsmäßig festzulegenden, höchstens fünfjährigen Frist zu erfüllen8. In jedem Fall bildet das Agio aber eine gesellschaftsrechtlich geschuldete Leistung des Aktionärs. Man spricht deshalb auch von „korporativem“ Agio9. Demgegenüber werden die hier in Rede stehenden Zusatzleistungen als „schuldrechtliches“ Agio bezeichnet10. Das ist insofern richtig, als derartige Verpflichtungen auf einen Rechtsnachfolger nur übergehen, wenn er sie ausdrücklich übernimmt11. Gleichwohl erscheint es wenig glücklich, von einem „Agio“ zu sprechen. Ein solche Bezeichnung weckt Erwartungen, die diese Zusatzleistungen nur erfüllen können, wenn man sie bestimmten Anforderungen unterwirft. Genau um deren Berechtigung geht es aber. Die Grenzziehung zwischen dem „korporativen“ und dem „schuldrechtlichen“ Agio soll nun an Hand des Kriteriums vorzunehmen sein, ob der Gesellschaft aus der Abrede, zusätzliche Leistungen zu erbringen, ein eigener Anspruch zusteht oder nicht. Hat sie einen solchen, soll es sich um ein ge-
__________ 6 Vgl. nur Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in
den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, 1964, S. 477. 7 Unstreitig Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 182 Rz. 24 m. w. N. 8 Wie es die herrschende Meinung tut, vgl. Röhricht in Großkomm.AktG, § 36a
Rz. 3 ff. 9 Gerber, MittBayNot 2002, 305; Schorling/Vogel, AG 2003, 86; Hermanns, ZIP 2003,
788 (789). 10 Wagner, DB 2004, 293 ff.; Hermanns, ZIP 2003, 788 (789); Mellert, NZG 2003, 1096. 11 Schorling/Vogel, AG 2003, 86 (87).
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sellschaftsrechtlich gebundenes Agio handeln. Nur wenn das nicht der Fall ist, sei eine lediglich schuldrechtliche Zusatzleistung gegeben12. Dazu ist festzuhalten: Es mag sein, dass bei eigenen Ansprüchen der Gesellschaft insofern eine größere Nähe zum Agio zu erkennen ist, als bei diesem unmittelbare Ansprüche der Gesellschaft gegeben sind. Das kann jedoch nicht ausschlaggebend sein, denn die Trennlinie zwischen korporativem und schuldrechtlichem Agio wird durch die Willensrichtung der Beteiligten und die von ihnen gewählte Gestaltung gezogen13. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft auch bei schuldrechtlichen Abreden zumindest nach den Grundsätzen eines Vertrages zugunsten Dritter (§ 328 BGB) ein eigenes Forderungsrecht erwerben kann14. Übereinstimmung herrscht allerdings dahin, dass die Abrede ihren schuldrechtlichen Charakter verliert, wenn sie mit korporativen Sanktionen bewehrt ist. Als Beispiel wird der Fall genannt, dass die Aktien bei Nichteinhaltung der Vereinbarung eingezogen werden können15. So etwas ist wegen Verstoßes gegen § 23 Abs. 5 bzw. § 54 Abs. 1 AktG nichtig, dürfte allerdings auch kaum vorkommen. 2. Beurteilung der schuldrechtlichen Zusatzleistungen Inwieweit den Beteiligten bei der aktienrechtlichen Kapitalerhöhung ein Wahlrecht zwischen korporativem Agio und schuldrechtlichen Zusatzleistungen eingeräumt ist, wird unterschiedlich beantwortet. Die im Schrifttum herrschende Auffassung billigt eine solche Wahlmöglichkeit zu. Es fehlt indessen nicht an Gegenstimmen. Die Zulässigkeit schuldrechtlicher Zusatzleistungen ist an anderer Stelle näher begründet worden16. Die dort angestellten Überlegungen lassen sich dahin zusammenfassen, dass weder Gläubigerschutzgesichtspunkte noch Anforderungen der Rechnungslegung einer Zulässigkeit im Wege stehen. Ausreichend ist vielmehr, dass die Aktionäre gegen eine Verwässerung ihrer Vermögensposition gesichert werden. Angelpunkt der Überlegungen war die Feststellung, das Agio diene allein dem Aktionärs- und nicht auch dem Gläubigerschutz. Das schlägt dann auf die Behandlung in der Rechnungslegung durch.
__________ 12 BayObLG, DB 2002, 940 = MittBayNot 2002, 304 (305). 13 So mit Recht Gerber, AG 2002, 305 (307). 14 Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 54 Rz. 53; Hüffer, AktG, § 54 Rz. 7 –
beide m. w. N. 15 Röhricht in Großkomm.AktG, § 23 Rz. 259; Henze in Großkomm.AktG, § 54
Rz. 77; Hüffer, AktG, § 54 Rz. 9; Becker, NZG 2003, 510 (512). 16 Priester (Fn. 4), S. 617 (624 ff.).
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Die nachfolgenden Stellungnahmen im Schrifttum liegen teilweise auf gleicher Linie17. Andererseits werden durchaus auch Gegenstandspunkte vertreten. Dies gilt einmal für die bereits erwähnte Entscheidung des BayObLG, das nur solche Zusatzleistungen für statthaft hält, die der AG keinen eigenen Anspruch geben18. Zum anderen ist eine neue, sehr sorgfältige Analyse von Hilke Herchen19 zu nennen, die ebenfalls zu einem abweichenden Ergebnis kommt. Sie meint, die Ersetzung förmlicher Agiofestsetzungen durch die Vereinbarung schuldrechtlicher Zusatzleistungen bringe eine Kompetenzverschiebung zugunsten des Vorstandes mit sich20. Vor allem führe sie aber zu Unzulänglichkeiten bei der Kapitalaufbringung21. Zusatzleistungen seien dem korporativen Agio auch nicht gleichwertig, da sie nicht wie dieses von unabhängigen Prüfern kontrolliert werden. Derartige Leistungen könnten deshalb auch einen Bezugsrechtsausschluss nicht rechtfertigen22. Das sind gewiss ernst zu nehmende Argumente. Gleichwohl wird man letztlich an der Zulässigkeit schuldrechtlicher Zusatzleistungen bei der Kapitalerhöhung im Aktienrecht festhalten können. Was zunächst die Kapitalaufbringung angeht: Natürlich ist ein sachverständig kontrolliertes, differenzhaftungsbewehrtes23 kooperatives Agio für die Gläubiger günstiger. Nur: sie haben keinen Anspruch darauf. Die Aktionäre sind nicht verpflichtet, ein Agio festzusetzen24. Etwas anderes ergibt sich allein aus § 255 Abs. 2 AktG, wonach der Kapitalerhöhungsbeschluss im Falles des Bezugsrechtsausschlusses wegen unangemessenen niedrigen Ausgabekurses der neuen Aktien angefochten werden kann. Das ist indessen eine Frage des Aktionärs-, nicht dagegen des Gläubigerschutzes. Geht es aber beim Agio um den Schutz der Aktionäre, kommt dem Hinweis auf eine von den schuldrechtlichen Zusatzleistungen bewirkte Kompetenzverlagerung zu Lasten der Aktionäre erhebliches Gewicht zu. Insofern ist richtig, dass der Vertrag über die Zusatzleistungen mit dem Vorstand ge-
__________ 17 Insbesondere Schorling/Vogel, AG 2003, 86 ff.; Wagner, DB 2004, 293 ff. 18 BayObLG, DB 2002, 940 = MittBayNot 2002, 304 (305). 19 Herchen, Agio und verdecktes Agio im Recht der Kapitalgesellschaften, 2004,
S. 279 ff. Herchen (Fn. 19), S. 315 ff. Herchen (Fn. 19), S. 322 ff. Herchen (Fn. 19), S. 332 ff. Nach überwiegender Ansicht ist das Agio in die Wertdeckungshaftung des Sacheinlegers einbezogen: Röhricht in Großkomm.AktG, § 27 Rz. 105; Krieger in Münch Hdb. GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 56 Rz. 46; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 29 II 1 b, S. 884 f.; Priester (Fn. 4), S. 617 (621 f.) m. w. N. 24 Hüffer, AktG, § 182 Rz. 23; Priester (Fn. 4), S. 617 f.; nur reflexiver Schutz der Gläubiger; Schorling/Vogel, AG 2003, 86 (88 f.). Die Gläubiger können allein die Festsetzung und Aufbringung des Nennkapitals verlangen; so mit Recht schon H.-P. Müller in FS Heinsius, 1991, S. 591 (593). 20 21 22 23
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schlossen wird25. Er entscheidet folglich auch über seinen Inhalt. Die Aktionäre sind also zunächst einmal aus dem Rennen, während sie bei Festsetzung des korporativen Agios im Rahmen des Ausgabebetrages gemäß § 182 Abs. 3 AktG unmittelbar am Zuge sind. Die letztere Vorschrift zeigt jedoch zugleich, dass die Aktionäre die Bestimmung des Agios im Ergebnis dem Vorstand überlassen können. Die Benennung eines Mindestbetrages ändert daran nichts, kann dieser doch – vorbehaltlich des § 255 Abs. 2 AktG – auf den geringsten Ausgabebetrag (§ 9 Abs. 1 AktG) festgelegt werden. Noch deutlicher wird die Delegationsbefugnis beim genehmigten Kapital. Hier kann die Hauptversammlung auch bei Ermächtigung zum Bezugsrechtsausschuss die Entscheidung über den Ausgabebetrag dem Vorstand unter Zustimmung des Aufsichtsrates überlassen (§ 204 Abs. 1 AktG)26. Wichtiger noch ist freilich: Bei schuldrechtlichen Zusatzvereinbarungen haben die Aktionäre zwar keinen unmittelbaren Gestaltungseinfluss, mittelbar sind sie aber sehr wohl beteiligt, denn sie werden für einen unverhältnismäßig niedrigen Ausgabebetrag, insbesondere in Gestalt des gesetzlichen Mindestbetrages gemäß § 9 Abs. 1 AktG nur stimmen, wenn ihnen die schuldrechtlichen Zusatzleistungen wirtschaftlich ausreichend und rechtlich gesichert erscheinen. Dazu müssen ihnen die insoweit getroffenen Vereinbarungen in entsprechender Anwendung von § 124 Abs. 2 Satz 2 AktG bekanntgemacht werden. Rechtstechnisch abweichend, aber wertungsmäßig auf gleicher Linie liegt die von Heckschen für das GmbH-Recht vertretene Auffassung, auch ein schuldrechtliches Agio bzw. die Kriterien zu seiner Bestimmung müssten vom Kapitalerhöhungsbeschluss umfasst sein27. Richtig ist auch, dass bei schuldrechtlichen Zusatzleistungen – anders als beim korporativem Agio28 – eine Prüfung von Sachwerten durch unabhängige Prüfer nicht stattfindet29. Den Vorstand trifft indessen die Pflicht zu sorgfältiger Prüfung, für deren Verletzung er der Gesellschaft schadensersatzpflichtig ist (§ 93 AktG). Außerdem gilt auch insoweit: Die Aktionäre sind nicht gezwungen, statt eines Agios schuldrechtliche Leistungen zu akzeptieren. Eine interessante Frage geht dahin, ob die Zulässigkeit schuldrechtlicher Nebenleistungen unter dem Blickwinkel des § 255 Abs. 2 AktG davon abhängig zu machen ist, dass sie von sämtlichen alten Aktionären mit den
__________ 25 Herchen (Fn. 19), S. 315. 26 BGHZ 136, 133 (141) = AG 1997, 465 (467) (Siemens/Nold); Hirte in Großkomm.
AktG, 4. Aufl. 2001, § 204 Rz. 8 ff.; Lutter in KölnKomm.AktG, Bd. 5/1, 2. Aufl. 1995, § 204 Rz. 6. 27 Heckschen, DStR 2001, 1437 (1444). 28 Dazu unten III. 1. 29 Worauf Herchen (Fn. 19), S. 335 ff. hinweist.
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neuen – in praxi zumeist mit dem Investor – vertraglich vereinbart werden30. Für ein solches Erfordernis spricht der Umstand, dass entsprechende Vereinbarungen zwischen Investor und Gesellschaft jederzeit von beiden wieder verändert oder aufgehoben werden können. Unmittelbare Aktionärsvereinbarungen erscheinen deshalb bei kleinem Gesellschafterkreis empfehlenswert, als zwingend sind sie jedoch nicht anzusehen. Die Aktionäre haben es mit ihrer Zustimmung zur Kapitalerhöhung in der Hand, ob sie auf pflichtgemäßes Handeln des Vorstandes vertrauen wollen. Etwa überstimmten Minderheiten bleibt die Anfechtung des Kapitalerhöhungsbeschlusses nach § 255 Abs. 2 AktG. Sie werden sich freilich – ausreichende und gesicherte – Nebenleistungen der Übernehmer entgegenhalten lassen müssen. Das ist zwar nicht unproblematisch, da § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG auf den Ausgabebetrag abstellt. Soll aber bei Sacheinlagen deren wahrer Wert an die Stelle des Ausgabebetrages treten31, müsste Entsprechendes auch bei schuldrechtlichen Zusatzleistungen gelten32. Unabhängig davon besteht natürlich ein Risiko für die Gesellschaft. Rechtspraktisch werden niedrige Ausgabebeträge in Verbindung mit schuldrechtlichen Zusatzleistungen deshalb im Wesentlichen auf Gesellschaften mit kleinem, kohärenten Aktionärskreis beschränkt bleiben33. Ein Verbot schuldrechtlicher Zusatzleistungen lässt sich schließlich auch weder aus aktienrechtlichen Grundwertungen noch aus § 23 Abs. 5 AktG herleiten. Heute ist allseits anerkannt, dass den Aktionären das Recht zusteht, außerhalb der Satzung untereinander, mit der Gesellschaft oder mit Dritten schuldrechtliche Abreden zu treffen34. Nach alledem ist festzuhalten: Entscheidend bleibt der lediglich aktionärsschützende Charakter des Agios. Erkennt man das an, haben die Aktionäre ein Wahlrecht, ob sie ein korporatives oder ein nicht-korporatives Agio vorsehen. Schuldrechtliche Zusatzleistungen stellen deshalb auch kein „verdecktes“ Agio dar, für das die Regeln über das förmliche, „korporative“ Agio zu gelten hätten35.
__________ So Hermanns, ZIP 2003, 788 (791 f.). Wie sich aus BGHZ 71, 40 (50) (Kali + Salz) ergibt. Vgl. Priester (Fn. 4), S. 617 (630 f.). Ebenso Becker, NZG 2003, 510 (514). Dazu ausführlich Röhricht in Großkomm.AktG, § 23 Rz. 238 ff.; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994; für die GmbH: Priester in MünchHdb. GesR, Bd 3: GmbH, 2. Aufl. 2003, § 21. 35 Ganz anders Herchen (Fn. 19), S. 315 ff. 30 31 32 33 34
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III. Registerprüfung 1. Der Standpunkt des Bayerischen Obersten Landesgerichts Für das „korporative“ Agio steht fest, dass der Registerrichter bei einer Geldeinlagepflicht prüfen muss, ob diese vor Registeranmeldung ordnungsgemäß erfolgt ist36. Dabei wird er allerdings auf die Einzahlungsbescheinigung der Bank abstellen können. Streitig ist dagegen, inwieweit bei Sacheinlagen zu kontrollieren ist, ob deren Wert den Ausgabebetrag abdeckt. Richtigerweise wird man eine solche Prüfung verlangen müssen, denn das „korporative“ Agio ist eben Teil der Leistungspflicht des Aktionärs37. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist in seinem nun schon mehrfach angeführten Beschluss zu dem Ergebnis gekommen, der Registerrichter habe Feststellungen zu treffen, ob ein korporatives oder ein lediglich schuldrechtliches Agio vorliege. Dafür soll – wie bereits erwähnt – der eigene Anspruch der Gesellschaft maßgebend sein38. Aus diesem Grunde müsse die vertragliche Vereinbarung, in casu das investor agreement, vorgelegt werden. Nur so könne sich das Gericht ein Bild von der wahren Sachlage machen39. Geschähe das nicht, würden – wie das Gericht die Vorinstanz zustimmend zitiert – durch die Duldung von „Dunkelzonen“ bei der Zeichnung neuer Aktien unkontrollierbaren Vermögenszuständen der Gesellschaft Räume eröffnet. 2. Einwendungen Diese Ansicht erscheint nicht richtig. Das Registergericht hat gewiss die Ordnungsmäßigkeit der Kapitalerhöhung in formeller und materieller Hinsicht zu prüfen40. Sind aber, wie hier vertreten, schuldrechtliche Zusatzleistungen statthaft und unterliegen sie nicht den Regeln des korporativen Agios, so wird der Kapitalerhöhungsbeschluss nicht dadurch fehlerhaft, dass solche Leistungen in ihm nicht gehörig festgesetzt und dann auch nicht in den Zeichnungsschein aufgenommen worden sind. Enthalten der Beschluss und die Übernahmeerklärungen nichts zu einem Agio, hat der Registerrichter nicht danach zu fahnden. Er muss vielmehr eine Ausgabe zum geringsten Ausgabebetrag hinnehmen. Die Prüfungsbefugnis des Registergerichts wird durch den Vorgang der Kapitalerhöhung selbst begrenzt. Auf etwa außerhalb getroffene Abreden erstreckt sie sich nicht41.
__________ 36 Etwa Pentz in MünchKomm.AktG, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, § 38 Rz. 35. 37 Darstellung des Streitstandes bei Priester (Fn. 4), S. 617 (622 ff.), sowie anschließend 38 39 40 41
Bayer in FS Ulmer, 2003, S. 21 (36 ff.). Oben II. 1. BayObLG, MittBayNot 2002, 304, insoweit in DB 2002, 940 nicht abgedruckt. Statt vieler Hüffer, AktG, § 188 Rz. 20. So mit Recht Schorling/Vogel, AG 2003, 86 (91).
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Nicht zuzustimmen ist deshalb auch der Ansicht von Hermanns, der dem Registerrichter einen Anspruch auf Vorlage der schuldrechtlichen Vereinbarungen für den Fall zubilligen will, dass die Festsetzung eines Agios im Hinblick auf § 255 Abs. 2 AktG „gesellschaftlich zwingend vorgegeben sei“, die Beteiligten sich aber „zulässigerweise für den schuldrechtlichen Weg“ entschieden hätten42. Ist die Entscheidung in letzterem Sinne gefallen und der Kapitalerhöhungsbeschluss auch nicht – erfolgreich – angefochten, steht dem Gericht eine weitere Prüfung nicht zu.
IV. Bilanzierung 1. Die Alternative § 272 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 4 HGB Was die bilanzielle Behandlung von schuldrechtlichen Zusatzleistungen bei Kapitalerhöhung einer AG betrifft, geht es um ihre Zuordnung im Rahmen der Kapitalrücklage, genauer um ihre Einstellung in die Position § 272 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 4 HGB. Unter Nr. 1 ist der Betrag auszuweisen, der bei Ausgabe von Anteilen über den Nennbetrag bzw. den rechnerischen Wert hinaus erzielt wird. In Nr. 4 ist der Betrag „von anderen Zuzahlungen, die die Gesellschafter in das Eigenkapital leisten“ zu erfassen. Diese Unterscheidung hat keineswegs nur formale Bedeutung. Sie löst vielmehr handfeste Konsequenzen aus: Gemäß § 150 Abs. 3 und 4 AktG sind Kapitalrücklagen nach Nr. 1 ausschüttungsgesperrt, solche nach Nr. 4 dagegen nicht. Ein förmliches Agio ist unstreitig unter § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB einzuordnen43. Es unterliegt deshalb dem Ausschüttungsverbot. Der Grund für diese, schon sehr alte Regelung44 liegt darin, dass mit ihr die sog. Agiotage verhindert werden soll, also eine Vortäuschung entsprechender Ertragskraft der AG durch Ausschüttungen von Gesellschafterleistungen als Gewinn45. Demgegenüber hat der Gesetzgeber bei Schaffung von § 272 Abs. 2 HGB eine Einbeziehung der Rücklage nach Nr. 4 in die Kapitalbindung abgelehnt, weil er dies angesichts ihres „allgemeinen Charakters“ für unangemessen hielt46.
__________ 42 Hermanns, ZIP 2003, 788 (792). 43 Vgl. nur Förschle/Hoffmann, Beckscher BilKomm., 5. Aufl. 2003, § 272 Rz. 58 ff.;
Küting in Küting/Weber, Handbuch der Rechnungslegung, 4. Aufl. 1995, § 272 Rz. 56 ff. 44 Sie geht zurück auf Art. 185b der Aktienrechtsnovelle von 1884; dazu Schubert/ Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4, 1985, S. 391 f., 476. 45 Vgl. Lutter in KölnKomm.AktG, § 183 Rz. 46. 46 RegE BiRiLiG, BT-Drucks. 10/4268 v. 18.11.1985, S. 106 f.
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2. Einordnung Nach einer Ansicht sind schuldrechtliche Zusatzleistungen im Zusammenhang mit der Kapitalerhöhung bei der AG in die Nr. 1 einzustellen47. Zur Begründung liest man, ein Wahlrecht, die Zahlung unter Nr. 1 oder Nr. 4 einzuordnen, bestehe nicht. Anderenfalls ließe sich die Kapitalbindung des Reservefonds gemäß § 150 AktG umgehen. Das Handelsgesetzbuch selbst spreche in Nr. 1 nicht von einem „Agio“, sondern bestimme, dass dort der Betrag auszuweisen ist, der bei Ausgabe von Anteilen erzielt wird. Darunter falle der gesamte Erlös der Gesellschaft im Zusammenhang mit der Anteilsausgabe48. Als weiteres Argument dient der Hinweis, dass der Mehrerlös der emittierenden Bank beim mittelbaren Bezugsrecht des § 186 Abs. 5 AktG stets in die Kapitalrücklage gemäß Nr. 1 einzustellen sei49. Dem ist entgegenzuhalten: Es trifft gewiss zu, dass eine Ausschüttungssperre bei Rücklagen das Eigenkapital der Gesellschaft stärkt50. Unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes ist also eine Zuweisung in die Nr. 1 wünschenswert. Geht man aber davon aus, dass – nach hier vertretener Auffassung – das Agio nicht Gläubigerschutzinstrument ist, sondern allein die Altaktionäre vor einer Verwässerung ihrer Vermögensrechte bewahren soll51, kann aus Gläubigerinteressen für die Einordnung nichts hergeleitet werden. Auch die Gesetzesfassung zwingt nicht dazu. Richtig ist zwar, dass in der Nr. 1 die Begriffe „Agio“ oder „Aufgeld“ nicht verwendet werden52. Die Zusatzleistungen sind aber keine Erlöse, die bei der Anteilsausgabe erzielt werden. Sie mögen wirtschaftlich in einem Konnex mit der Schaffung neuer Anteile stehen, rechtlich tun sie das nicht. Auch eine Ausweisvorschrift wie § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB ändert daran nichts. Sie vermag die Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Alternative „Agio“/„schuldrechtliche Zusatzleistungen“ nicht einzuschränken53. Bilanzrecht ist Folgerecht, es kann das Gesellschaftsrecht nicht determinieren54. Konsequenz der hier vertretenen Auffassung ist dann, dass die Weiterleitung schuldrechtlicher Zusatzleistungen an die Aktionäre im Wege der Gewinn-
__________ 47 Insbesondere Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unter-
48 49 50 51 52 53 54
nehmen, 6. Aufl. 1997, § 272 Rz. 90; ihnen folgend Beater in MünchKomm.HGB, Bd. 4, 2001, § 272 Rz. 55; Becker, NZG 2003, 510 (515 f.); a. A. LG Mainz, ZIP 1986, 1323 (1328); Priester (Fn. 4), S. 617 (629); Wagner, DB 2004, 293 (297); Weitnauer, NZG 2001, 1065 (1068). Becker, NZG 2003, 510 (516). Becker, NZG 2003, 510 (516) m.Nachw. in Fn. 47. Was Herchen (Fn. 19), S. 328 ff. zutreffend feststellt. Oben II. 2. Worauf Becker, NZG 2003, 510 (516) hinweist. Ebenso Mellert, NZG 2003, 1096 (1098). So mit Recht Herchen (Fn. 19), S. 331 im Anschluss an Schorling/Vogel, AG 2003, 86 (89).
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ausschüttung möglich ist55. An ihr partizipieren alle Aktionäre mit ihrer Beteiligungsquote (§ 60 Abs. 1 AktG). Soll ein sonst stattfindender Vermögenstransfer auf die beitretender Aktionäre durch die Zusatzleistungen verhindert werden, ist vertraglich sicherzustellen, dass Ausschüttungen aus der solchermaßen gebildeten Rücklage gem. § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB ausschließlich an Altaktionäre erfolgt56.
V. Ergebnisthesen 1. Schuldrechtliche Zusatzleistungen bei Kapitalerhöhung im Aktienrecht begegnen uns in erster Linie bei Beteiligungen von Venture Capital-Gesellschaften an jungen Unternehmen. Überwiegend handelt es sich dabei um Geldzahlungen, möglich sind aber auch nicht-geldliche Leistungen. 2. Das Agio dient nicht dem Schutz der Gläubiger, sondern dem der Aktionäre. Sie haben deshalb ein Wahlrecht, ob sie die Mehrleistungen den Regeln des förmlichen Agios (Aufnahme in den Kapitalerhöhungsbeschluss, Wertprüfung und Wertdeckungspflicht) unterstellen wollen oder nicht. Letzterenfalls handelt es sich nicht um ein „verdecktes“ Agio. 3. Enthalten Kapitalerhöhungsbeschluss und Übernahmeerklärungen nichts, ist der Registerrichter nicht befugt, die Vorlage der schuldrechtlichen Nebenvereinbarungen zu verlangen. 4. Soweit sich schuldrechtliche Zusatzleistungen auf der Passivseite niederschlagen, sind sie nicht unter § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB, sondern unter dessen Nr. 4 zu erfassen. Eine Ausschüttungssperre für solche Beträge besteht nicht.
__________ 55 Ebenso Wagner, DB 2004, 293 (297); vgl. auch Priester, ZIP 2001, 725 ff. 56 Was – wie Seibt, NZG 2002, 256 (261) mitteilt – in praxi auch geschieht.
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Der gegenwärtige Zustand des russischen Handelsrechts – ein Überblick Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Dualismus von Privat- und Handelsrecht III. Begriff des Handelsrechts und seine Rechtsquellen vor 1917 IV. Unternehmensrecht – Begriff und Rechtsquellen 1. Begriff des Unternehmensrechts 2. Verfassungsrechtliche Grundzüge des Unternehmensrechts 3. Gesetze und andere Rechtsakte als Hauptrechtsquelle 4. Gerichtspraxis als Rechtsquelle für Unternehmensrecht a) Rolle des Bundesverfassungsgerichts der RF (BVG)
b) Rolle des Handelsgerichtshofes (HGH) c) Rolle der Rechtsakte der UdSSR d) Gemeinsame Verordnungen des HGH und des Bundesgerichtshofes e) Handelsrechtliche Verträge aa) Handelsrechtlicher Vertrag bb) Problem der Allgemeinen Geschäftsbedingungen V. Status der Unternehmer 1. Staatliche Registrierung 2. Individualunternehmer VI. Unternehmensschutz und politische Probleme VII. Ausblick
I. Einleitung Unternimmt man den Versuch, sich mit dem russischem Handelsrecht zu beschäftigen oder es zu beschreiben, stellt sich zunächst die Frage, ob es „das russische Handelsrecht“ überhaupt gibt. Die in der Literatur zu dieser Frage vorgetragenen Ansichten machen wahrscheinlich die Hälfte dessen aus, was in Russland überhaupt zum Handelsrecht veröffentlicht worden ist. Der Grund dafür lässt sich aber leicht mit der instabilen Entwicklung der russischen Wirtschaft in den letzten zwei Jahrhunderten erklären. Die Rechtsgeschichte des eigenen Landes „neuerer Zeit“ wird in Russland traditionell in drei Etappen betrachtet: Die vorrevolutionäre Periode, die sowjetische Periode und die postsowjetische Periode. Folgt man dieser Dreiteilung, so lässt sich feststellen, dass die Zeit eines eigenständigen Handelsrechts in Russland sehr kurz war. Seine Entwicklung hat erst Ende des 19. Jahrhunderts begonnen und wurde durch die Revolution von 1917 bereits wieder unterbrochen. Stattdessen entstand „das Recht des sowjetischen Handels“, das ohne größere Bedenken als eine für die moderne Marktwirtschaft irrelevante siebzigjährige Pause in der Entwicklung des Handelsrechts betrachtet werden kann. Sodann verbleibt die jüngste Rechtsentwicklung in der postsowjetischen Periode, in der die Bedürfnisse der Wirtschaft die Rechtswis479
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senschaftler und den Gesetzgeber zwangen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel nachzuholen. Es gilt die Entwicklung aufzuholen, die in anderen Ländern in mehreren Jahrhunderten stattgefunden hat. Dies ist trotz der Möglichkeit der Rezeption ausländischen Rechts äußerst schwierig. Hier fand in den letzten Jahren eine enorme und zum Teil chaotische gesetzgeberische Tätigkeit statt, die von verschiedenen Lobbygruppen beeinflusst wurde. Insgesamt verfügt das russische Handelsrecht daher bislang weder über eine besonders ausgeprägte Systematisierung noch stellt es ein abgeschlossenes Gebiet dar. Das Schrifttum zum Handelsrecht liegt weit hinter den praktischen Bedürfnissen der Wirtschaft und auch hinter dem Fortschritt der gesetzgeberischen Tätigkeit zurück. Innerhalb der existierenden Literatur findet eine für solche Situationen natürliche Teilung statt. Zum einen gibt es Werke, die sich mit eher allgemein-theoretischen Fragen befassen (zum Beispiel über die Existenz von Handelsrecht, über die Richtigkeit des Begriffs „Handelsrecht“, über die Notwendigkeit, eine vom Bürgerlichen Recht getrennte Handelsrechts-Wissenschaft aufzubauen oder ein gleichnamiges Fach an den juristischen Fakultäten einzuführen etc.). Auf der anderen Seite werden Urteile und Empfehlungen russischer Bundesgerichte sowie Artikel von Praktikern veröffentlicht, die sich eng mit den praktischen Problemen des Wirtschaftslebens befassen. Bisher gibt es jedoch keinen Versuch, diese zwei Kategorien handelsrechtlichen Schrifttums zu verbinden und die Materie als einen Rechtsbereich zu erfassen. Auch die bisher erschienenen Lehrbücher stellen eher eine Beschreibung der Gesetze dar und diskutieren nur ein paar äußerst theoretische Probleme. Dieser nicht einfachen Realität folgend wird auch dieser Beitrag aufgebaut. Zuerst wird die für die russische Literatur traditionelle Frage nach der Existenz des Handelsrechts beleuchtet. Im Anschluss daran folgt eine Auseinandersetzung mit dem Unternehmensrecht, dem Begriff des Unternehmensrechts, dessen Rechtsquellen, dem Status des Unternehmers, der Registrierung der juristischen Personen und den Problemen des Unternehmensschutzes.
II. Dualismus von Privat- und Handelsrecht Wie bereits erörtert, wurden in letzter Zeit in Russland auf dem Gebiet des Handelsrechts sehr viele Gesetze und andere Rechtsakte ausgearbeitet und verabschiedet, was sich durch die massiven strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft und im Handel erklären lässt. Viele Fragen im Recht der Kaufleute und Unternehmen mussten völlig neu geregelt werden. Dies löste eine Diskussion über den Weg der Fortentwicklung des Privatrechts in Russland aus. Einen größeren Platz in dieser Diskussion nimmt das Problem des „Dualismus von Privat- und Handelsrecht“ ein. Dabei handelt es sich um die Frage, 480
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inwieweit die Entwicklung einer allgemeinen zivilrechtlichen Gesetzgebung und einer speziellen Gesetzgebung – Recht für Kaufleute oder Unternehmer – notwendig ist. Es wird vorgeschlagen, die Problematik nach dem deutschen Modell in zwei verschiedenen Gesetzbüchern zu regeln1. Dieser Vorschlag wird bisher unterschiedlich bewertet. Die Unternehmerseite äußert sich eher positiv gegenüber diesem Vorschlag, während die Meinungen der Wissenschaftler eher auseinander gehen. Der Ansatz, zwei Gesetzbücher für das Privatrecht zu schaffen, hat sich in der Ukraine bereits realisiert. Dort wurde ein spezieller Handelskodex2 verabschiedet. Aber auch in Russland sind mittlerweile – besonders in der modernen Literatur – viele Autoren der Meinung, dass das Zivilrecht für Unternehmer und Nichtunternehmer getrennt werden müsse. So ist zum Beispiel in der renommierten Zeitschrift „Handel und Recht“ ein Aufsatz mit dem Titel „Handelsgesetzbuch in Russland – wie soll es sein?“ veröffentlicht worden. Der Autor – ein Wirtschaftswissenschaftler – ist der Ansicht, dass das Bürgerliche Gesetzbuch und andere Rechtsakte nicht die Gesamtheit und die Komplexität der wirtschaftlichen Zusammenhänge widerspiegeln und sieht es deshalb als unbedingt notwendig an, ein Handelsgesetzbuch zu schaffen, das den besonderen Gegebenheiten der Handelstätigkeit Rechnung trägt. Er stützt seine Überlegungen dabei vor allem auf die Erfahrungen mit dem deutschen Modell. Diese Position ist nicht zufällig und hat nicht nur mit dem Einfluss des deutschen Rechts zu tun, sondern auch mit dem Versuch, das noch aus Sowjetzeiten überlieferte Fach „Recht des sowjetischen Handels“ zu modernisieren und zu rekonstruieren3. Es gibt aber auch andere Vorschläge. So wird zum Beispiel von den Autoren des wichtigsten Lehrbuches für Unternehmensrecht in Russland, Gubin und Lahno, vorgeschlagen, einen Unternehmenskodex auszuarbeiten. Dieser Vorschlag wurde auch in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Lomonossow-Universität und dem Institut für Staat und Recht in Moskau ausgearbeitet und bei der Regierung eingereicht4. Eine weitere in der Literatur umstrittene Frage ist auch die Abgrenzung des Handelsrechts vom allgemeinen Zivilrecht und anderen Materien, die das Funktionieren der freien Marktwirtschaft regeln sollen. Einer der anerkanntesten Wissenschaftler auf diesem Gebiet, Prof. Pouginskij, veröffentlichte ein Lehrbuch für Wirtschaftsrecht („Kommerzrecht“), in dem er die Meinung vertritt, dass das Wirtschaftsrecht inhaltlich ein Teil des Zivilrechts ist, da der Umsatz, der durch den Handel entsteht, ein Teil des Vermögens-
__________ Lahno, Recht für Unternehmer, Wirtschaft und Recht 1998, Nr. 1, 112. Urjadowij Kurjer 2003/6, Nr. 436-IV, S. 2. Krepkij, „Handelsgesetzbuch in Russland – wie soll es sein?“, Wirtschaft und Recht 1999, Nr. 12, 91. 4 Lahno, Wirtschaft und Recht 1998, Nr. 1, 112. 1 2 3
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umsatzes ist, der von privatrechtlichen Normen geregelt wird5. Ähnlicher Ansicht ist auch Prof. Popondupolo. Er definiert Wirtschaftsrecht als „Gesamtheit von allgemeinen und speziellen zivilrechtlichen Normen, in deren Geltungsbereich die Beziehungen zwischen Personen fallen, die eine Unternehmertätigkeit ausüben oder mit deren Teilnahme diese Tätigkeit ausgeübt wird“. Er sieht das Wirtschaftsrecht als ein Teil des Zivilrechts, das faktisch das Handelsrecht beerbt hat6. Mehrere Vertreter des Zivilrechts im klassischen Sinne sind freilich gegen die Trennung von Handelsrecht und Bürgerlichem Recht, da es ihrer Meinung nach den Traditionen der russischen Rechtsgeschichte widerspricht, in denen es diese Teilung als solche nie gegeben habe. Es gebe nur einzelne handelsrechtliche Rechtsakte, und diese hätten die Materie durch einen Rückgriff auf allgemeine Normen des Bürgerlichen Rechts geregelt7. Allerdings geben dieselben Autoren zu, dass der „Geist der Handelsgesetzgebung“ doch ein anderer sein müsse als der des BGB der Russischen Föderation (RF) und anderer bürgerlichrechtlicher Normen. Es ist daher festzuhalten, dass das Handelsrecht als selbständige Disziplin in der russischen Literatur als solches nicht einhellig anerkannt ist. Dennoch sind Wirtschaftsrecht und/oder Unternehmensrecht im Stundenplan der Jurastudenten vertreten. An den meisten Universitäten ist es auch ein Pflichtfach für alle Studierenden (zum Beispiel an der Lomonossow-Universität in Moskau). In der Praxis wird zudem immer mehr die Notwendigkeit festgestellt, den Problemen, die durch die neue Wirtschaftsordnung entstanden sind, auch auf juristischer Ebene zu begegnen. Der Rückgriff auf das deutsche Handelsrecht wäre dabei eine der möglichen Lösungen. Die verwendeten Methoden zur Lösung dieser Probleme sind die für die Rechtswissenschaft auch sonst charakteristischen: Analyse der Praxis, Diskussion über einzelne Probleme, Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Praxis und schließlich das Zurückgreifen auf Rechtstraditionen. Im Rahmen dieses Beitrags soll daher zunächst die Entstehung des russischen Handelsrechts genauer betrachtet werden.
III. Begriff des Handelsrechts und seine Rechtsquellen vor 1917 Vor den gesellschaftlichen Veränderungen des Jahres 1917 galt in Russland die Handelsordnung von 1903. Vorher fanden sehr langwierige gesetzesvorbereitende Arbeiten statt, die in der russischen rechtsgeschichtlichen Litera-
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Pouginskij, Kommerzrecht, Moskau 2000, S. 9. Popondupolo/Jakowlewa (Hrsg.), Kommerzrecht, Sankt-Petersburg 1997, S. 518. Suhanow/Em/Kozlowa, Handelsrecht – das Recht der Kaufleute, Vorwort zum Buch v. Scherschenewitsch, Kurs des Handelsrechts, Bd. 1, Moskau 2003, S. 19.
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tur jedoch nur wenig beschrieben werden. Bereits im Jahr 1804 gab es bei der Kommission für die Entwicklung der Gesetzgebung die ersten Pläne zur Schaffung einer selbständigen Kommerzordnung. Die wichtigste Etappe war die Einführung des IX. Bandes der Gesetzessammlung im Jahr 1833 (Handelsband). Er beinhaltete das Recht der Wechsel, das Recht der insolventen Handelsunternehmen, die Einführung der Kommerzgerichte und das Prozessrecht für die Kommerzgerichte. In der vorrevolutionären Literatur wurde Handelsrecht durch den Begriff des Handels definiert und als „Recht, das den Handel und den Handelsumsatz normiert“8, betrachtet. Prof. Kaminka verstand in seiner Schrift aus dem Jahre 1911 unter dem Begriff Handel „im weitesten Sinne des Wortes jeden Umsatz mit Ware, also jede Tätigkeit, die ihre Funktion darin hat, die räumliche und zeitliche Entfernung von Hersteller und Verbraucher zu beseitigen“. Diesem Begriff stellte er mit dem Verweis auf eine Arbeit seines deutschen Kollegen Cohn9 einen Handelsbegriff im engeren Sinne gegenüber. Handel war danach als eine auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit anzusehen, die auf das Vermitteln von Gütern vom Hersteller zum Verbraucher gerichtet ist, die auf eine Vermögensmehrung angelegt und spekulativ ist10. In seinem Buch versucht Kaminka weiterhin, den Begriff des Handels zu strukturieren und Kriterien herauszuarbeiten, um normale Rechtsgeschäfte von Handelsgeschäften zu unterscheiden, wobei er auf die Arbeiten von Goldschmidt11 zurückgreift, in der die Rechtsprechung der mittelalterlichen italienischen Gerichte analysiert wurden. Kaminka führte dabei aus, nach welchen Kriterien ein Handelsgeschäft definiert werden soll. Die Kriterien, die Goldschmidt ausgearbeitet hat – der Charakter des Rechtsgeschäfts und nicht die Zugehörigkeit zum Handel als solche – hält er für die russischen Verhältnisse für zu unbestimmt. Er analysiert weiter die deutschen Handelsgesetze der damaligen Zeit und konzentriert sich vor allem auf die Rechtsgeschäftslehre. Große Resonanz fand in Arbeiten von Kaminka vor allem der Kaufmannsbegriff aus dem deutschen HGB. Die entgegengesetzte Meinung zur Existenz des Handelsrechts vertrat der berühmte russische vorrevolutionäre Privatrechtler Prof. Scherschenewitsch. Auch er stützte sich aber auf die Werke der deutschen Kollegen12. Er befand, dass die Meinung, dass es in Russland ein spezielles Handelsrecht gebe, trotz der Einführung des IX. Bandes – der Handelsgesetze – ungerechtfertigt sei. Er vertrat in seinem Lehrbuch die These, dass es in der russischen Gesetzgebung die Teilung von Bürgerlichem Gesetzbuch und Handelsrecht nicht ge-
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Kaminka, Beschreibung des Handelsrechts, Moskau 1911, neu verlegt 2002, S. 34. Cohn, Nationalökonomie des Handels, 1898. Kaminka (Fn. 8), S. 35. Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1, 3. Aufl. 1891, S. 438. Insbesondere auf die Arbeit von Riesser, Grundgedanken in den codificierten Handelsrechten aller Länder, 1892.
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be13. Wie alle anderen russischen Handelsrechtler betrachtete auch er das Problem des Dualismus von Privat- und Handelsrecht als einen der zentralen Punkte und versuchte es durch die folgende Dreiteilung zu lösen. Er untersuchte zunächst die Gründe des Dualismus und bewertete seine Vor- und Nachteile. Als Endergebnis schrieb er, dass „unter der nivellierenden Kraft des Kapitalismus das alte System der Zweiteilung des Privatrechts nicht aufrechterhalten kann“. Hierbei stützte er sich auf die Meinung seines ausländischen Kollegen Endemann14. Aber auch die schärfsten Kritiker der Annahme eines besonderen Handelsrechts wie Scherschenewitsch waren gezwungen, an seiner Entwicklung mitzuarbeiten, da die Bedürfnisse der Wirtschaft dies schon damals gefordert haben. In seinen Werken hat Scherschenewitsch eine Reihe von Merkmalen des Handelsrechts im Vergleich zum Bürgerlichen Recht aufgestellt. Dies sind „das Streben nach der Freiheit und weg von der Formalität und die Orientierung auf den ehrlichen Kampf (Wettbewerb?)“, unter dem er die „Überflüssigkeit und Verzicht auf alle möglichen rechtlichen Schutzmittel, die auf das Unterstützen von Schwäche, Unüberlegtheit und Unerfahrenheit gerichtet sind“, verstanden hat. Er forderte besondere Anforderungen an Kaufleute und die Haftung für Handlungen von Unternehmern nach außen unabhängig von entsprechenden Innenverhältnissen und somit die „Schuldfreihaftung“, die ähnlich wie die Gefährdungshaftung des modernen Rechts gestaltet ist. Er forderte somit unter Berücksichtigung der Entwicklung anderer Rechtssysteme eine zurückhaltende Regulierung des russischen Handelsrechts. Ausgehend von diesen Überlegungen definierte Scherschenewitsch das Handelsrecht als „eine Gesamtheit von Normen des Privatrechts allgemeiner oder spezieller Natur, die in den Bereichen des volkswirtschaftlichen Lebens angewendet werden, die vom Gesetzgeber als Handel anerkannt werden“15. Seiner Meinung nach beschäftigt sich Handelsrecht mit: 1) Instituten und Rechtspositionen, die ausschließlich dem Handelsrecht als solchen zugewiesen sind (zum Beispiel das Firmenrecht); 2) Instituten und Rechtspositionen, die dem bürgerlichen Recht zwar nicht fremd sind, aber eher doch zum Handelsrecht gehören (zum Beispiel das Wechselrecht und das Recht der Kommanditgesellschaften); 3) Instituten und Rechtspositionen, die dem Handelsrecht und dem Zivilrecht zuzuordnen sind (zum Beispiel Kaufrecht).
__________ 13 Scherschenewitsch (Fn. 7), S. 73. 14 Endemann, Das deutsche Handelsrecht, 1887, S. 11–12. 15 Scherschenewitsch (Fn. 7), S. 47.
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IV. Unternehmensrecht – Begriff und Rechtsquellen 1. Begriff des Unternehmensrechts Wie bereits ausgeführt, wird in Russland weder das Handelsrecht noch ein anderes ähnliches Fach wie das Wirtschafts- oder Kommerzrecht wirklich einhellig als selbständige Rechtsmaterie anerkannt. Dennoch werden aber folgende Probleme oft angesprochen und deren fehlende rechtliche Lösung im geltenden Rechtssystem bemängelt: der rechtliche Status der Unternehmer, deren Sonderstellung, die Sonderregulierung der unternehmerischen Tätigkeit, die Besonderheiten der Rechtsgeschäfte der Unternehmer, was besonders wichtig ist, um einen Ausgleich zwischen den Interessen der Rechtssicherheit und der wirtschaftlichen Effizienz zu erreichen, die Entbürokratisierung der Unternehmensregistrierung, um die Stabilität der Verhältnisse nach der Registrierung zu verbessern und Ordnung in die Verbindungen zwischen den Unternehmern zu bringen, und schließlich besonders das Verhältnis zwischen Unternehmer und Staat. Trotz aller theoretischen Bedenken schreitet deswegen die Entwicklung des Unternehmensrechts (dieser Begriff hat sich am ehesten durchgesetzt) voran. Darunter wird die Gesamtheit der Rechtsnormen und Institute verstanden, die auf der Basis von privaten und öffentlichen Interessen die Unternehmertätigkeit als Ganzes regulieren16. Die stärkere Verbreitung des Begriffes „Unternehmensrecht“ gegenüber dem Begriff Handelsrecht oder Kommerzrecht liegt daran, dass die Begriffe Unternehmer und unternehmerische Tätigkeit oft in russischen Rechtsakten vorkommen. So definiert das BGB RF in Art. 2 Unternehmertätigkeit als selbständige Tätigkeit, die von gemäß den rechtlichen Vorschriften registrierten Personen auf eigenes Risiko durchgeführt wird und auf systematische Gewinnerzielung aus Vermögensnutzung, Verkauf von Waren oder Erbringen von Leistungen gerichtet ist. Einige weitere Normen bezüglich der Unternehmertätigkeit enthält auch die russische Verfassung. 2. Verfassungsrechtliche Grundzüge des Unternehmensrechts Art. 34 der Verfassung der Russischen Föderation legt das Recht jedes Bürgers fest, seine Fähigkeiten und sein Vermögen für unternehmerische Tätigkeiten und andere von Gesetzen erlaubte wirtschaftliche Tätigkeiten zu nutzen. Art. 8 garantiert für das russische Territorium die Einheit des wirtschaftlichen Raums, die freie Bewegung von Waren, Dienstleistungen und finanziellen Mitteln, die Förderung des Wettbewerbes und die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit. Diese Garantie wird verstärkt durch Art. 74 der Verfassung, der bestimmt, dass die Zollgrenzen, Gebühren und andere Hin-
__________ 16 Gubin/Lahno, Unternehmensrecht der RF, Moskau 2004, S. 20; Kruglowa, Wirt-
schaftsrecht, Moskau 1997, S. 608.
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dernisse für einen freien Warenverkehr auf dem Territorium der RF verboten sind. Art 8 Abs. 2 erkennt und schützt gleichermaßen alle Arten von Eigentum (privates, staatliches und kommunales Eigentum und andere Arten des Eigentums). Art. 35 bestimmt, dass niemandem das Vermögen entzogen werden kann, es sei denn auf der Basis eines gerichtlichen Urteils (im BGB RF ist allerdings Enteignung für staatliche Belange vorgesehen, aber nur gegen Entschädigung). 3. Gesetze und andere Rechtsakte als Hauptrechtsquelle Unter den Gesetzen, die für Unternehmensrecht relevant sind, nimmt das BGB RF den zentralen Platz ein. Es beinhaltet auch Vorschriften, die speziell für Unternehmer gelten. So legt zum Beispiel Art. 401 Abs. 3 eine erhöhte Haftung für Unternehmer fest und erlegt ihnen die Beweislast bei Nichterfüllung oder Schlechtleistung in einem Schuldverhältnis auf. Art. 5 bestimmt den Begriff des Handelsbrauchs. Es gibt aber auch sehr viele Einzelgesetze, die für das Handelsrecht von erheblicher Bedeutung sind, etwa das Föderale Gesetz (FG) vom 9.7.1999 Nr. 160 „Über die Ausländischen Investitionen in der RF“17, das FG vom 25.2.1999 „Über Investitionstätigkeit in der RF, die in Form von Kapitaleinlagen getätigt wird“, welches allerdings bisher nur teilweise gültig ist18, das Föderale Gesetz „Über die Insolvenz (Bankrott)“ vom 26.10.200219, das Föderale Gesetz „Über die Insolvenz (Bankrott) von Kreditanstalten“ vom 25.2.199920, das Steuergesetzbuch vom 31.7.1998 und 5.8.200021, das Zollgesetzbuch vom 28.5.200322 und das Gesetz „Über die Devisenregulierung und Devisenkontrolle“ vom 10.12.200323. Man erkennt schon allein aufgrund der Gesetzesüberschriften, dass das Unternehmensrecht in Russland eine Art Kompromiss zwischen privaten und öffentlichen Interessen darstellt24. Genauso wichtig sind Präsidenten- und Regierungsverordnungen (zum Beispiel „Über die Anwendung von Kontroll-Kassen-Apparaten bei der Tätigung der Geldoperationen mit der Bevölkerung“ von 1993)25. Eine Rolle spielen auch Ministerialakte des Wirtschafts-, Finanz- und Landwirtschaftministeriums oder des Ministeriums für Antimonopolpolitik und Wirtschaftsförderung.
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SZ 1999, Nr. 28, S. 3493. SZ 1999, Nr. 8, S. 1096. SZ 2002, Nr. 43, S. 4190. SZ 2002, Nr. 9, S. 1097. SZ 1998, Nr. 31, S. 3824 und SZ 2000, Nr. 32, S. 3340. SZ 2003, Nr. 22, S. 2066. SZ 2003, Nr. 50, S. 4859. S. auch Bublik, Rechtliche Regulierung des Unternehmertums: private und öffentliche Züge, Wirtschaft und Recht 2000, Nr. 9, 13–18. 25 Wedomosti RF, 1993, Nr. 27, S. 1018. 17 18 19 20 21 22 23 24
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4. Gerichtspraxis als Rechtsquelle für Unternehmensrecht a) Rolle des Bundesverfassungsgerichts der RF (BVG) Die Gerichtspraxis galt in Russland und der UdSSR nicht als Rechtsquelle26. In den letzten Jahren geriet diese These allerdings erheblich ins Wanken27, und in den neuesten Veröffentlichungen werden gerichtliche Entscheidungen in ihrer Rolle als Rechtsquelle immer öfter anerkannt28. Nach dem InKraft-Treten der Verfassung im Jahr 1993 ist bei den Gerichten eine Tendenz bemerkbar, eine rechtssetzende Funktion zu übernehmen. Dies ist vor allem bei der Regulierung der Unternehmenstätigkeit von Bedeutung29. Besonders intensive Diskussionen werden über ein Phänomen geführt, welches als „Rechtsposition“ des BVG bezeichnet wird. Das Bundesgesetz „Über das Verfassungsgericht“ von 21.7.1994 enthält keine Definition, erwähnt diesen Begriff allerdings in Art. 71. In der Literatur wird unter der „Rechtsposition“ eine allgemeine Stellungnahme des BVG zu einem konkretem verfassungsrechtlichem Problem verstanden30. Prof. Bogdanowa bemerkt zurecht, dass die Rechtspositionen des BVG die Funktion einer offiziellen verfassungsrechtlichen Lehre erfüllen31. Doz. Romanowa definiert die Rechtsposition „umfassend als Interpretation irgendeines verfassungsrechtlichen Phänomens (rechtlichen Grundsatzes, Rechtsnorm, Begriffes), das im Rahmen des Entscheidungsfindungsprozesses entsteht und einen Teil des Urteils bildet, durch das BVG“32.
__________ 26 Ziws, Rechtsquellen, Moskau 1981, S. 176; Suhanow, Bürgerliches Recht, 2. Aufl.
Moskau 2000, S. 60. 27 Mizkewitsch, Allgemeine Theorie des Staates und des Rechtes,in Martschenko
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29
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(Hrsg.), Bd. 2, Moskau 2000, S. 116, 120, 153; Granat/Lazarew, Theorie des Rechts und des Staates, in Lazarew (Hrsg.), Moskau 2001, S. 164 ff. Topornin, System der Rechtsquellen: Tendenzen der Entwicklung/Gerichtspraxis als Rechtsquelle, Moskau 2000, S. 19; Gadjiew, Unternehmensrecht der RF, in Gubin/Lahno (Fn. 16), S. 85. Dihtjar/Rogojin, Rechtspositionen des Bundesverfassungsgerichts, verfassungsrechtliche Auslegung der Gesetzesnormen: Einfluss auf Perfektionierung der Regulierung der Unternehmertätigkeit, Juristische Welt 2003, Nr. 6, 57. Witruk, Rechtspositionen des Bundesverfassungsgerichts: Begriff, Rechtsnatur, Juristische Kraft und Bedeutung/Verfassungsgerichtsbarkeit und die Rechtssysteme in Wandel, Moskau 1989, S. 89; Witruk, Rechtspositionen des Bundesverfassungsgerichts: Begriff, Rechtsnatur, Juristische Kraft und Bedeutung/Verfassungsrecht: Überblick im Osten, Moskau 1999, Nr. 3, S. 28; Ebzeev, Bundesverfassungsgericht der RF: Entstehung, Rechtsnatur, Rechtspositionen, Einführungsartikel in Kommentar zu den Entscheidungen des BVG, Bd. 1, 2001, S. 24–25. Bogdanowa, Bundesverfassungsgericht der RF im System des Verfassungsrechts, Berichte (Westnik) des BVG, 1997, Nr. 3. Romanowa, Rechtspositionen des BVG in Zusammenhang mit dem Problem der Regulierung der Fragen der gemeinsamen Kompetenz von der Föderation und Subjekten, Gesetz und Recht 2002, Nr. 2, 2.
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Normalerweise werden diese Rechtspositionen in der Begründung des Urteils dargestellt und haben zur Konsequenz, dass jede andere Auslegung der umstrittenen Norm als die vom BVG in der Rechtsposition festgelegte nicht zulässig ist, bis der Gesetzgeber die Situation neu geregelt hat33. Das heißt, dass diese nicht nur eine Rolle innerhalb eines bestimmten Rechtsstreites spielen, sondern allgemeine Rechtswirkung für eine unbestimmte Anzahl von ähnlichen Situationen entfalten und somit letztlich Gesetzeskraft haben. Das lässt sich am Beispiel der Verordnung vom 17.12.1996 Nr. 20-II verdeutlichen, die zugleich ein rechtspolitisches Problem illustriert, mit dem russische Unternehmer häufig zu tun haben. Ein Kläger wollte festgestellt wissen, dass eine Rechtsnorm, die es der Steuerpolizei erlaubt, Gelder von Unternehmenskonten abzubuchen, in einem Verfahren, das kein Rechtsmittel der Unternehmen kennt oder vorsieht und ohne ein Urteil des Gerichts vorher erwirkt zu haben, nicht verfassungskonform ist. Diese Auffassung von der Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Vorgehens hat das BVG in einer Verordnung vom 17.12.1996 Nr. 20-II bestätigt. Diese Position hat das Gericht auch später unter direktem Hinweis auf die Verordnung von 1996 befolgt34, obwohl es sich in den weiteren Fällen um andere Rechtsakte als Streitgegenstand handelte. Wenig später wurde das BVG wegen eines ähnlichen Problems angerufen. Die Devisenkontrollbehörde hatte von dem Devisenkonto eines Unternehmens Geld im genannten Verfahren abgebucht. Das BVG wies erneut in dem Begründungsteil seiner Entscheidung darauf hin, dass Normen, die ein solches Verfahren ermöglichen, verfassungswidrig sind, unabhängig davon, um welchen Rechtsakt oder um welche Behörde es sich dabei handelt. Andere Auslegungen durch rechtsanwendende Organe oder Amtspersonen erklärte das Gericht für unzulässig, solange der Gesetzgeber die Normen nicht ändere35. Das BVG bedient sich auch einer weiteren juristischen Technik verfassungsrechtlicher Auslegung. Die Möglichkeit dazu bietet Art. 74 des Gesetzes „Über das BVG der RF“ vom 21.7.199436, nach dem die verfassungskonforme Auslegung einer Norm des geltenden Rechts in die Kompetenz des BVG fällt und die durch das BVG durchgeführte Auslegung allgemein einschließlich anderer Gerichte verbindlich ist. Im Rahmen seiner Tätigkeit überprüft das BVG auch Normen aus dem Privatrecht, die verschiedene Auslegungen zulassen, da sie ungenau oder unkorrekt formuliert sind. Wie die Urteile des BVG zeigen, werden solche Normen meistens nicht für ungültig erklärt, da das BVG berücksichtigt, dass die Aufhebung der entsprechenden Norm noch größere Rechtslücken aufkommen lässt und somit die wirtschaftlichen Folgen noch schwerwiegender sein werden. In solchen Fällen legt das BVG
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Dihtjar/Rogojin, Juristische Welt 2003, Nr. 6, 59. Bestimmung v. 6.12.1997, Nr. 111-0. Bestimmung v. 4.3.1999, Nr. 50-0. SZ 1994, Nr. 13, S. 1447.
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eine allgemeinverbindliche Auslegung fest, und gibt den Normen teilweise einen anderen Inhalt, was bewirkt, dass das BVG das Recht ändert, ohne die Rechtsnorm an sich für ungültig zu erklären. Dies geschah zum Beispiel auch in dem Fall, in dem eine Beschwerde hinsichtlich der Entscheidung des Handelsgerichts der Stadt Moskau zum BVG eingereicht wurde, in der dem Kläger Ersatz der Kosten für die Vertretung bei Gericht verwehrt worden war, die er im Rahmen von Schadensersatzansprüchen gemäß Art. 15, 16 BGB RF geltend gemacht hatte. Das BVG hat sich geweigert, die Beschwerde anzunehmen, da es außerhalb seiner Kompetenz liege, die Entscheidung zu überprüfen, aber in dem ablehnenden Beschluss haben die Richter festgestellt, dass Art. 45 der russischen Verfassung es zulässt, seine Rechte mit allen vom Gesetz zur Verfügung gestellten Mitteln zu verteidigen. Zu diesen Mitteln gehöre auch voller Schadensersatz gemäß Art. 15, 16 BGB RF. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass nur weil die ZPO RSFSR einen Ersatz von Vertreterkosten in Art. 91 vorsieht, im Handelsprozessgesetzbuch von 1995 eine entsprechende Norm aber fehlt, die Normen der Art. 15, 16 BGB RF trotzdem entsprechend zugunsten des Klägers auszulegen seien, da alles andere dem in Art. 19 der Verfassung festgeschriebenen Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz widerspreche. Diese Entscheidung hatte eine Novellierung des Handelsprozessgesetzbuches zufolge: Art. 106 und 110 des neuen Handelsprozessgesetzbuches von 2002 sehen eine solche Kostenerstattung nun vor. b) Rolle des Handelsgerichtshofes (HGH) Eine ebenso große Rolle in der Entwicklung des Handelsrechts spielen die Entscheidungen oder sonstigen Akte des Handelsgerichtshofes des Bundes. Seine Tätigkeit wird durch das Gesetz vom 28.4.1995 „Über den Handelsgerichtshof der RF“ geregelt. Das Plenum des HGH gibt gemäß Art. 13 Abs. 2 dieses Gesetzes Erläuterungen über die Fragen der Gerichtspraxis und erlässt Verordnungen, die für die anderen Handelsgerichte verbindlich sind. Die praktische Bedeutung dieser Verordnungen liegt in der Schaffung einheitlicher rechtlicher Auslegungen für die rechtsanwendenden Handelsgerichte37. Art. 170 Handelsprozessgesetzbuch sieht die Möglichkeit der Verweisung auf frühere Verordnungen direkt vor, was ihren Status als Rechtsquelle aufgrund der Allgemeinverbindlichkeit bestätigt38.
__________ 37 Jakowlew, Vorwort zur Westnik (Benachrichtiger) des HGH, Sonderbeilage 1, 2001;
Jakowlew, Analyse der handelsgerichtlichen Praxis – aktuelle Aufgabe, Kommentar der handelsgerichtlichen Praxis, in Jakowlew (Hrsg.), 4. Aufl. Moskau 1997, S. 3. 38 Dihtjar/Rogojin, Handelsrechtliche Verträge: Praxis der Handelsgerichte und die Gesetzgebung, Juristische Welt 2003, Nr. 4, 58 (60).
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Zudem gibt es so genannte Informationsbriefe des Präsidiums des HGH, die eine Empfehlung an andere Handelsgerichte darstellen und die Auslegung von bestimmten Normen beinhalten. Sie haben zwar keinen allgemein verbindlichen Charakter, werden aber in der Realität von den Gerichten aufgrund der Autorität des HGH ebenso angewendet39. c) Rolle der Rechtsakte der UdSSR Teilweise hat das Plenum des HGH bei der Auslegung von geltenden Normen über die fortbestehende Rechtswirksamkeit von Erläuterungen des Staatlichen Handelsgerichts der UdSSR zu entscheiden. Diesbezüglich hat der HGH eine Verordnung erlassen40, in der er festlegte, dass diese Akte in dem Umfang rechtskräftig sind, in dem sie dem gültigen Recht der RF nicht widersprechen. Regelmäßig forderte die Praxis zu Sowjetzeiten detaillierte Antworten auf konkrete Probleme. So gab es zum Beispiel zu Sowjetzeiten Instruktionen über die Quantitätsprüfung bei der Annahme von Produkten von Bedeutung für die Herstellung und von Waren für den Volksverbrauch, die von einer Verordnung des damaligen HGH vom 15.6.1965 bestätigt wurde, und ebensolche Instruktionen für die Qualitätsprüfung, die von der Verordnung des damaligen HGH vom 25.4.1966 bestätigt wurden. Mit dem In-Kraft-Treten des neuen BGB und seines Art. 513, der bestimmt, dass der Käufer beim Liefervertrag die Quantität und Qualität der Produkte überprüfen muss, und zwar so, wie es der Vertrag, Rechtsakte oder Handelsbräuche festlegen, entstand die Frage, ob diese Instruktionen anzuwenden sind oder nicht, und falls ja, welche rechtliche Qualität ihnen jetzt noch zukommt. Nach großer Diskussion auch in der Literatur41 legte das Plenum des HGH fest, dass die Instruktionen nur dann anzuwenden sind, wenn es im Vertrag vorgesehen ist42. Die praktische Bedeutung dieser Verordnung ist enorm, da die Handelsgerichte 1997 in 61754 Fällen allein über die Nicht- oder Schlechterfüllung aus Lieferverträgen zu entscheiden hatten; 2001 waren es 47456 Fälle. d) Gemeinsame Verordnungen des HGH und des Bundesgerichtshofes Regelmäßig entstehen auch gemeinsame Verordnungen von BGH und HGH, wenn es sich um Probleme handelt, die bei beiden Gerichtszweigen vor-
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39 Rogojin, Die Rolle der Erläuterungen des HGH in Perfektionierung der rechtlichen
Regulierung der unternehmerischen Tätigkeit, Juristische Welt 2003, Nr. 11, 53. 40 Verordnung von HGH Nr. 7 v. 15.4.1992 „Über die Wirkung von instruktiven Be-
fehlen des staatlichen Handelsgerichts der UdSSR und Staatlichen Handelsgerichts der RF“. 41 Pouginskij (Fn. 5), S. 301, 302. 42 Verordnung Nr. 18 v. 22.10.1997.
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kommen und eine einheitliche Lösung im Interesse der Rechtssicherheit angestrebt wird. Das gilt zum Beispiel für die Verordnung vom Plenum des BGH RF und des HGH RF vom 8.10.1998 „Über die Praxis der Anwendung der Normen des BGB RF über die Prozente bei der Benutzung fremder Geldmittel“ oder die Verordnung des Plenums des BGH RF und HGH RF vom 1.7.1968 „Über manche Fragen in Zusammenhang mit der Anwendung des ersten Teils des BGB RF“. e) Handelsrechtliche Verträge aa) Handelsrechtlicher Vertrag Im Gegensatz zum deutschen Recht gibt es in Russland keinen Begriff des Handelsgeschäfts. Allerdings beginnt die Literatur – vermutlich unter dem Einfluss des deutschen Rechts –, sich mit dem Begriff des handelsrechtlichen Vertrages auseinanderzusetzen und den Begriff zu entwickeln. Unter dem handelsrechtlichen Vertrag wird eine Übereinkunft verstanden, die auf der Basis der Gegenseitigkeit und mit dem Ziel, der Unternehmenstätigkeit nachzugehen, von Unternehmern geschlossen wird43. Das BGB RF enthält, wie oben schon erwähnt, mehrere Sonderregelungen für Unternehmer (zum Beispiel das Verbot der Schenkung zwischen Unternehmen im Art. 575 BGB RF vor dem Hintergrund der Vermeidung von Steuerhinterziehung und Bilanzverfälschung). Die meisten Verträge sind inhaltlich ähnlich geregelt wie im deutschen Recht. bb) Problem der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Art. 428 BGB RF – der Adhäsionsvertrag – ist eine Norm, die der Konstruktion der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Deutschland entfernt ähnlich ist. Abs. 1 definiert den Adhäsionsvertrag als Vertrag, dessen Bedingungen von der einen Seite in Formularen oder anderen standardisierten Formen bestimmt worden sind und von der anderen Seite nicht anders als durch die Annahme des Vertrages als Ganzes akzeptiert werden können. Abs. 2 enthält eine Regelung, die besagt, dass die zustimmende Seite das Recht hat, Vertragsauflösung oder -änderung zu fordern, falls ihre Rechte durch solche Verträge in unüblicher Weise eingeschränkt werden oder der Vertrag die Haftung der anderen Seite über das normale Maß hinaus einschränkt oder andere deutlich ungünstige Bedingungen enthält, die die zustimmende Seite ausgehend von vernünftigen Interessen nicht annehmen würde, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, bei der Vertragsgestaltung mitzuwirken.
__________ 43 Gubin/Lahno (Fn. 16), S. 917.
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Nach Abs. 3 gilt dies nicht, wenn die zustimmende Seite im Rahmen ihrer Unternehmenstätigkeit handelte und wusste oder hätte wissen müssen, unter welchen Bedingungen sie den Vertrag geschlossen hat. Diese Formulierung wird von vielen als unglücklich kritisiert, da sie für die zustimmende Seite keinen genügenden Schutz biete und außer Acht lasse, dass vorformulierte Bedingungen auch Teil eines normalen Vertrages sein können, was die Norm schon unanwendbar macht44. Art. 427 sieht die Möglichkeit vor, im Vertrag auf Geschäftsbedingungen zu verweisen, die als Standardbedingungen veröffentlicht worden sind. Die Norm ist eigentlich bedeutungslos, da dies von der in Art. 421 festgelegten Vertragsfreiheit schon erfasst wird. Somit ist die Problematik der Allgemeinen Geschäftsbedingungen kaum geregelt, obwohl diese laut Statistik des Ministeriums für Antimonopolpolitik und Wirtschaftsförderung immer öfter verwendet werden45.
V. Status der Unternehmer 1. Staatliche Registrierung Rechtlich wird der Unternehmerstatus über die Konstruktion der staatlichen Registrierung bestimmt, der hauptsächlich46 durch das Gesetz „Über die staatliche Registrierung der juristischen Personen und individueller Unternehmer“ vom 8.8.2001 geregelt wird47. Seit 2002 ist die registrierende Behörde das Ministerium der RF für Steuern und Gebühren. Dieses wurde im Rahmen der Reformen bestimmt, um es den juristischen Personen leichter zu machen und einen aufwendigen Instanzenzug im Rahmen der Registrierung zu vermeiden48. Somit wurde das Prinzip „des einen Fensters“49 realisiert. Die offizielle Begründung für die Wahl dieser bereits überlasteten Behörde lautete, dass das für die „Zusammenarbeit der registrierenden Organe mit den Organen, die aufgrund ihrer funktionellen Bestimmung sowieso entsprechende Register der juristischen Personen zum Zweck der Steuererhebung führen“ förderlich wäre. Ein anderer nahe liegender Grund ist, dass
__________ 44 Klotschkow, Rechtliche Regulierung der Standardgeschäftsbedingungen im Han-
delsumsatz im russischen Recht, Jurist 2000-1, 22. 45 Klotschkow, Jurist 2000-1, 12. 46 S. auch „Über die Systematisierung der Registrierung der Unternehmen und Un-
ternehmer auf dem Territorium der RF“ – Präsidenten RA v. 8.7.1994 Nr. 1482 inkl. Bestimmung über die Ordnung der staatlichen Registrierung der Subjekte der Unternehmenstätigkeit. 47 SZ 2001, Nr. 33, S. 3431. 48 Das frühere Verfahren, geregelt im Gesetz der RSFSR „Über die Unternehmen und Unternehmertätigkeit“, war mehrstufig und viel aufwendiger. 49 Verordnung der Föderalen Regierung v. 17.5.2002, Nr. 319 „Über die beauftragte Behörde der vollziehenden Gewalt zur Durchführung der staatlichen Registrierung der juristischen Personen“, SZ RF (Gesetzgebungssammlung), 2002, Nr. 20, S. 1872.
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Der gegenwärtige Zustand des russischen Handelsrechts
diese Behörde ein dichtes Netz an Filialen in der Föderation hat und wie keine andere Behörde bereits über Erfahrung im Anmelden von juristischen Personen als Steuerzahler verfügt50. Die Registrierung wird in nicht mehr als fünf Tagen nach Einreichen der notwendigen Papiere und der Zahlung der Gebühr durchgeführt. Die registrierende Behörde führt dabei keine Prüfung durch, sondern beschränkt sich auf eine Erfassung der Daten. Damit soll eine Liberalisierung erreicht werden und gleichzeitig ein Signal für den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft gegeben werden. Das Einreichen falscher Papiere kann allerdings strafrechtliche Folgen haben oder aber auch die Auflösung der juristischen Person nach sich ziehen51. Die Missbrauchsgefahr ist unter der neuen Ordnung deutlich geringer. Noch eine interessante Beobachtung hängt mit der Frist von fünf Tagen zusammen, die in der Praxis selten gewahrt wird52. Falls eine juristische Person sich nicht innerhalb von zehn Tagen als Steuerzahler anmeldet, ergeht eine Strafe von 5.000 Rubel. Die Ausübung einer unternehmerischen Tätigkeit ohne Registrierung stellt eine Ordnungswidrigkeit dar (Art. 14.1 OWiG RF) und kann unter Umständen auch strafbar sein (Art. 171 StGB RF), so zum Beispiel in den Fällen, in denen gegen die Lizenzbedingungen verstoßen wurde und durch die Handlung ein größerer Schaden für die Bürger, Organisationen oder den Staat entstanden ist. Die Amtspersonen der registrierenden Behörden begehen zwar, falls sie die Fristen nicht einhalten, auch eine Ordnungswidrigkeit. Die ihnen drohenden Strafen sind aber geringer und lassen auch einen großen Spielraum bei der Bemessung zu (Art. 14.25 OWiG RF). Neben der Registrierung benötigt man für manche Tätigkeitsfelder auch noch eine zusätzliche Lizenz, deren Vergabe in unterschiedlichen Rechtsakten geregelt ist (zum Beispiel „Über Lizenzierung der medizinischen Tätigkeit“)53. 2. Individualunternehmer Den Status des Individualunternehmers regelt Art. 23 BGB RF, nach dem jeder Bürger das Recht hat, sich ab dem Moment der staatlichen Registrierung als Individualunternehmer zu betätigen. Der Gründung einer juristischen Person bedarf es dazu nicht. Für seine Schulden haftet der Individual-
__________ 50 Grudizina, Staatliche Registrierung der juristischen Personen: Einheit und Kampf
der Gegensätzlichkeiten, Recht und Politik 2003, Nr. 7, 76. 51 Art. 25 Registrierungsgesetz und 61 BGB RF – s. Gubin/Lahno (Fn. 16), S. 123. 52 Zikowa, Rechtliche Regulierung staatlicher Registrierung juristischer Personen:
gegenwärtige Lage und Perspektiven der Entwicklung, Advokat 2004, Nr. 1, 66. 53 Bestimmung „Über Lizenzierung der medizinischen Tätigkeit“, bestätigt durch
Föderale Regierung v. 4.7.2002, Nr. 499.
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Alla Röhricht
unternehmer mit seinem ganzen pfändbarem Vermögen (Art. 24 BGB RF). Für ihn gilt auch ein vereinfachtes Besteuerungsverfahren: er erwirbt ein Jahrespatent und ist damit auch von der Mehrwertsteuer befreit. Individualunternehmer, die ihrer Unternehmertätigkeit zuhause nachgehen, genießen einige Privilegien. So unterliegen sie für Energiekosten den Tarifen für die Bevölkerung und nicht den höheren der juristischen Personen54. Für Rechtsgeschäfte, die ein Individualunternehmer in seiner Unternehmereigenschaft vornimmt, gelten die für Rechtsgeschäfte von Unternehmern üblichen Regeln. Die juristische Person ist dem deutschen Recht relativ ähnlich. AG und GmbH sind die verbreitetesten Formen55. Geregelt ist diese Materie im BGB RF in Art. 48–127.
VI. Unternehmensschutz und politische Probleme Trotz aller Fortschritte, die im Bereich der Regulierung der Unternehmenstätigkeit in den letzten Jahren erreicht wurden, müssen sich die in Russland operierenden Unternehmer zahlreichen Problemen stellen, die oft mit einer politischen Einstellung zu tun haben, die sich in negativer Weise juristischer Mechanismen bemächtigt. Dabei meint die Verfasserin weniger die großen bekannten Skandale, die häufig einen rein politischen Hintergrund haben und aus juristischer Sicht nicht diskutiert werden können, sondern vielmehr die Schwierigkeiten, mit denen auch ein „normaler“ Unternehmer zu tun hat (zum Beispiel die Allgegenwärtigkeit der staatlichen Kontrolle). Es gibt eine große Anzahl staatlicher Kontrollorgane, die die Unternehmenstätigkeit überprüfen (zum Beispiel die Steuerpolizei). Ihre Funktionen überschneiden sich häufig, was zu vielen unbegründeten Inspektionen führt56. Es ist bekannt, dass die Durchführung von staatlichen Kontrollen sehr häufig mit Korruption verbunden ist. Missbräuche, die während der Inspektionen stattfinden, können die Arbeit eines jeden Unternehmens völlig destabilisieren, was zusätzlich sehr häufig als Mittel bei feindlichen Übernahmen genutzt wird57. Am 8.8.2001 hat der Präsident das Gesetz „Über den Schutz der Rechte von juristischen Personen und Individualunternehmen beim Durchführen der
__________ 54 Instruktion des Staatlichen Komitees für Preise und des Ministeriums für Kraft-
stoffe und Energie v. 30.11.1993, Nr. 01-17/1443-11 BK-7539 „Über die Ordnung der Berechnung für elektrische und Wärmeenergie“. 55 Grudizina, Recht und Politik 2003, Nr. 7, 76. 56 Pleschakowa/Koroloew, Sicherstellung der Rechte der Unternehmer beim Durchführen staatlicher Kontrolle, Juristische Welt 2003, Nr. 10, 27. 57 Pleschakowa/Koroloew, Juristische Welt 2003, Nr. 10, 27 (op. cit.).
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Der gegenwärtige Zustand des russischen Handelsrechts
Maßnahmen der staatlichen Kontrolle“ unterzeichnet. Der Wirkungskreis des Gesetzes ist allerdings beschränkt. Es bezieht sich nicht auf Maßnahmen der steuer-, zoll-, immigrations-, lizenz- und finanzkontrollierenden Organe und auch nicht auf Maßnahmen von Behörden zur Sicherstellung des Staatsgeheimnisses, Behörden der sanitären und veterinären Kontrolle an Grenzpunkten der RF und auch nicht auf die Kontrollen im Bereich der Banken, Versicherungstätigkeiten, der Sicherheit bei der Benutzung der Atomenergie und der Meteorologie. Auch die Ermittlungstätigkeit und staatsanwaltliche Kontrolle sind ausgeschlossen. Diese Einschränkungen haben zur Konsequenz, dass alle genannten Behörden und Organe die Möglichkeit des Machtmissbrauchs gegenüber den Unternehmern haben. Es gibt eine unübersichtliche Anzahl von Spezialregelungen für fast jeden Tätigkeitsbereich, die auch missbräuchlich genutzt werden können58.
VII. Ausblick Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Entwicklung des russischen Unternehmensrechts große Fortschritte macht und schon ein gewisses Niveau der Rechtsregulierung der Unternehmertätigkeit erreicht worden ist. Allerdings gibt es noch sehr viele praktische Probleme zu lösen. Es besteht noch ein erheblicher Regulierungsbedarf, wie zum Beispiel im Bereich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Darüber hinaus existieren viele Probleme, die mit Korruption und Machtmissbrauch zusammenhängen, denen aber nicht immer mit juristischen Mitteln begegnet werden kann. Manchmal sind politische und soziale Maßnahmen gefragt: Als Erstes muss die negative Einstellung gegenüber dem Unternehmertum überwunden werden, was wahrscheinlich nur mit viel Aufklärungsarbeit bei der Bevölkerung zu schaffen ist, und zweitens müssen Unternehmer – auch Kleinunternehmer – ermutigt werden, eigene Rechte stärker wahrzunehmen und zu verteidigen – zum Beispiel sich in Verbänden organisieren – und natürlich muss das Unternehmensrecht weiter entwickelt werden. Dies kann auch durch das Studium fremder Rechtsordnungen und Wirtschaftsysteme erfolgen59.
__________ 58 Ministerium für Gesundheitsschutz, Befehl v. 17.7.2002, Nr. 228 „Über das Ver-
fahren der Durchführung der Kontrolle bei staatlicher sanitär-epidemiologischer Kontrolle“; Wirtschaftsministerium des Moskauer Gebiets v. 22.7.2002, Befehl Nr. 38 „Über die Organisation bei der Durchführung staatlicher Kontrolle beim Befolgen der Ordnung der Preisgestaltung und der Beachtung der Lizenzforderungen und Lizenzbedingungen auf dem Territorium des Moskauer Gebiets“. 59 Pleschakowa/Koroloew, Sicherstellung der Rechte der Unternehmer beim Durchführen staatlicher Kontrolle, Juristische Welt 2003, Nr. 10, 31; Bobilew/Duhno, Manche politisch-rechtliche Aspekte der Entwicklung der Unternehmertätigkeit in der RF, Recht und Politik 2000, Nr. 5, 35.
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Franz Jürgen Säcker
Derivative Finanzierungsinstrumente zwischen Aufsichtsrecht und Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht I. Der Abschluss spekulativer Zinssatzund Währungsswapgeschäfte als Satzungsverstoß? II. Gesetzes- und Satzungsverstöße und Business Judgement-Rule III. Resümee: Satzungsgemäße Hauptgeschäfte und derivative Hilfsgeschäfte IV. Die Pflicht zur Errichtung eines angemessenen Risiken-Frühwarn-
systems für derivative Finanzierungsinstrumente (§ 91 Abs. 2 AktG) V. Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht bei spekulativen Finanztermingeschäften VI. Gesamtverantwortung des Vorstandes VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
Der Jubilar hat in den letzten Jahren wie kaum ein anderer Richter das Gesellschaftsrecht umgekrempelt1. In einer der wichtigsten Entscheidungen aus dem Jahr 2004 ging es um unseriöse Zusagen von Banken im Rahmen ihres Geschäftsbetriebs gegenüber Dritten, denen der II. Zivilsenat Grenzen gesetzt hat2. Unseriöse Verhaltensweisen im Außenverhältnis haben aber auch Auswirkungen im Innenverhältnis, wenn die Aktionäre den Schaden durch geringere Dividendenzahlungen oder gar durch die Gefährdung des Unternehmensbestandes zu tragen haben. Nicht wenige Unternehmen haben im Interesse einer Gewinnsteigerung in letzter Zeit das Volumen risikobehafteter Geschäfte deutlich erhöht. Die folgenden Bemerkungen sollen die rechtlichen Grenzen sichtbar machen, die dem Einsatz spekulativer Finanzierungsinstrumente gesetzt sind.
I. Der Abschluss spekulativer Zinssatz- und Währungsswapgeschäfte als Satzungsverstoß? Der Vorstand einer Aktiengesellschaft ist, auch wenn er nach außen hin unbeschränkte Vertretungsmacht hat (§ 82 Abs. 1 AktG), im Innenverhältnis den Aktionären gegenüber verpflichtet, alle Beschränkungen einzuhalten, die ihm durch Gesetz und Satzung vorgegeben sind. Vorstandsmitglieder dürfen daher nur im Rahmen des durch die Satzung (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG)
__________ 1 2
Vgl. etwa BGHZ 149, 10 ff. (Bremer Vulkan); BGH, NJW 2004, 1860 (Gelatine). BGH, DB 2004, 1655 ff.; vgl. dazu Armbrüster, Gesellschaftsrecht und Verbraucherschutz, 2005, S. 28 ff. m. w. N.
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festgelegten Unternehmensgegenstandes handeln. Bei Spezialbanken, z. B. Hypothekenbanken, ist der Unternehmensgegenstand eng eingegrenzt, z. B. auf den Betrieb einer Hypothekenbank im Sinne des Hypothekenbankgesetzes. Eine Hypothekenbank ist z. B. nur befugt, Real- und Kommunalkredite (sog. Hauptgeschäfte) zu vergeben; andere Geschäfte sind ihr nur erlaubt, soweit sie das Hypotheken- und Kommunalgeschäft unterstützen, indem mit ihnen offene Positionen aus Bilanzgeschäften vor Zinsänderungs- und Wechselkursrisiken abgesichert werden3. Außerbörsliche Finanztermingeschäfte (sog. OTC-Derivate4), deren wichtigster Anwendungsfall Swapgeschäfte (Interest Rate Swaps sowie Cross Currency Swaps) und Zinssicherungsvereinbarungen (Forward Rate Agreements = FRA) sind5, sind nur als Hilfsgeschäfte erlaubt. Ein Hilfsgeschäft liegt nur vor, wenn das Geschäft der Schließung oder Verminderung offener Positionen im originären satzungsgegenständlichen Geschäft (Hauptgeschäft) dient. Als Hilfsgeschäft ist der Einsatz derivativer Finanzierungsinstrumente nur vertretbar, soweit sie zur Deckung notwendiger Marktrisiken dienen, die einzugehen „im Rahmen einer vorsichtigen und nach den Bestimmungen des Hypothekenbankgesetzes ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte“ erforderlich ist. Dagegen dürfen – ob mit oder ohne spekulative Absicht – weder willkürlich Notwendigkeiten für Gegengeschäfte herbeigeführt noch erst recht selbständige Risiken mit derivativen Geschäften begründet werden“6. Gesetz und Satzung erlauben nur die einzelgeschäftsbezogene Neutralisation von Risiken der gesetzlich zulässigen Haupt- und Nebengeschäfte entweder in Form eines konkreten maßgeschneiderten Microhedging oder in Form eines bestandssichernden Macrohedging, bei dem die Abdeckung der Zukunftsrisiken aus den Zins- und Laufzeitinkongruenzen des originären Hypothekenbankgeschäfts global vorgenommen wird. Derivatgeschäfte, die nicht als Gegengeschäfte abgeschlossen werden und mit dem Risiko zusätzlicher Verluste verbunden sind, sind keine Hilfsgeschäfte i. S. von § 5 Hypo-
__________ Bellinger, Hypothekenbankgesetz, 1995, § 1 Rz. 6 und § 3 Rz. 88 f.: „Derivative Geschäfte dürfen folglich nur dem Zweck dienen, Lücken zu schließen, die trotz einer konservativen, von Anfang an auf die Sicherung gegen Rentabilitäts-, Liquiditäts- und Währungsrisiken gerichteten Geschäftspolitik entstehen.“ 4 OTC = Over The Counter-Derivate sind Derivate, die nicht an einer Börse, sondern direkt „über den Schalter“ gehandelt werden und nicht standardisiert sind. 5 Vgl. dazu Jahn in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, Bd. III, 1997, § 114, S. 3071 ff.; Fülbier, ZIP 1990, 544 ff.; Erne, Die Swapgeschäfte der Banken: eine rechtliche Betrachtung der Finanzswaps unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Zivil-, Börsen-, Konkurs- und Aufsichtsrechts, 1992, S. 50 ff.; Borchers, Swapgeschäfte im Zivil- und Steuerrecht, 1993, S. 19 ff., 24 ff.; Ebenroth/ Messer, ZVglRWiss 1988, 1 ff.; aus bankbetriebs-wirtschaftlicher Sicht vgl. Gondring/ Hermann, ÖBA 1986, 327 ff.; Binkowski/Beeck, Finanzinnovationen, 3. Aufl. 1995, S. 41 ff., 75 ff. 6 So zutreffend Bellinger, Hypothekenbankgesetz, § 3 Rz. 97. 3
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Derivative Finanzierungsinstrumente
thekenbankG und daher unzulässig. Das deutsche Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred)7 hat dies in einem Schreiben vom 7.12.2000 über die Überwachung der von den Hypothekenbanken eingesetzten Zinsänderungsrisiken8 zutreffend festgestellt. Zu Recht schreibt Bellinger9: „Mit dem Erfordernis, dass derivative Geschäfte zur Sicherung gegen unvermeidbare Risiken aus zulässigen Geschäften notwendig sein müssen, ist es unter allen Umständen unvereinbar, bindende, nicht bilanzwirksame Operationen, insbesondere Termingeschäfte, mit dem spekulativen Selbstzweck abzuschließen, sie als Quelle von Erträgen zu nutzen. Das Eingehen selbständiger offener Positionen widerspräche den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Geschäftsführung einer Hypothekenbank.“ Eine auf Grundpfandrechte spezialisierte Bank handelt daher rechtswidrig, wenn sie Swapgeschäfte nicht zur Deckung offener Positionen betreibt, sondern derivative Zinsgeschäfte ohne Rücksicht auf das Volumen und die Struktur des bilanziellen Geschäfts als eigenständigen, auf Gewinnerzielung gerichteten Geschäftszweig einrichtet. Wegen der gravierenden potentiellen Auswirkungen von Swapgeschäften hat der Vorstand über die zur Entscheidung anstehenden derivativen Geschäfte und die dabei zu beachtenden Limits selbst zu entscheiden, und zwar in der Weise, dass eine Zuordnung zu den originären Hypothekenbankgeschäften als Grenze für den Umfang dieser Geschäfte vorgenommen wird. Er kann nicht am Gesetz vorbei das Derivatgeschäft als „zweites Standbein“ des Unternehmens etablieren und daraus unter spekulativer Einschätzung der künftigen Zinsentwicklungen eine Kompensation für ein konjunkturell schwächelndes Real- und Kommunalkreditgeschäft suchen. Dem Vorstand einer Bank – genau wie jedem Industrieunternehmen – ist es untersagt, eine spekulative Strategie mit Derivatprodukten zu verfolgen, wenn das originäre Bankgeschäft keinen ausreichenden Bezugspunkt bildet und deshalb mit zusätzlichen hohen Verlustrisiken verbunden ist. Nach dem Willen des deutschen HypothekenbankGesetzgebers sollen Derivatgeschäfte nur der Absicherung des originären Geschäfts dienen und offene Positionen schließen oder vermindern. Die Banken können nicht, wenn ihnen dies aufgrund ihrer Prognose der zukünftigen Zinsentwicklung interessant erscheint, derivative Geschäfte losgelöst von der Situation einer Absicherung vorhandener oder unmittelbar bevorstehender bilanzieller Geschäfte abschließen. Das deutsche Aufsichtsamt (BAKred) hatte in seinem Rundschreiben vom 7.12.2000 darauf hingewiesen, dass insbesondere Hypothekenbanken zunehmend Geschäfte eingingen, die das für Hypothekenbanken hinnehmbare Maß an Zinsänderungsrisiken weit überschritten. Die Voraussetzungen eines Hilfsgeschäfts seien nur dann ge-
__________ Vorgänger der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Abgedr. in Consbruch/Bähre, Kreditwesengesetz, Loseblatt Stand 12/2003, Anordnung zu den Realkreditgesetzen 8.37. 9 Bellinger, Hypothekenbankgesetz, § 3 Rz. 99. 7 8
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Franz Jürgen Säcker
geben, wenn die Derivatgeschäfte der Schließung oder Verminderung offener Positionen im Hauptgeschäft der Bank dienen. In seinem Schreiben ordnete das BAKred deshalb eine umfassende Überwachung der Zinsänderungsrisiken an. Die bis dahin übliche Verwendung der Grenzzinsmethode zur Quantifizierung der Zinsänderungsrisiken sei allein nicht ausreichend; es sei zusätzlich eine barwertorientierte Betrachtung der Zinsänderungsrisiken notwendig. Die barwertorientierte Darstellung der Zinsänderungsrisiken sieht vor, dass eine tägliche Messung, Offenlegung und Begrenzung des Zinsänderungsrisikos nach der Basis-Point-ValueMethode (PVBP-Present Value of Basis Point) vorzunehmen ist. Als Maß wird für jeden Tag eines Monats der Betrag ermittelt, um den sich der Barwert des Portfolios ändert, wenn sich die Zinsstruktur parallel um einen bzw. 100 Basispunkte nach oben und nach unten verschiebt. Die Limitierung erfolgt dann auf Basis der Relation des barwertigen Zinsänderungsrisikos unter der Annahme einer um 100 Basispunkte parallel verschobenen Renditestrukturkurve zum haftenden Eigenkapital der Bank. Diese zusätzliche Limitierung ist in Form eines Ampelsystems ausgestaltet. Beträgt diese Relation weniger als 10 Prozent (sog. „grüner Bereich“), so wird das Risiko im Verhältnis zum Eigenkapital als gerade noch tragbar angesehen. Liegt die Relation zwischen 10 und 20 Prozent („gelber Bereich“), so leitet die Aufsichtsbehörde eine eingehende Prüfung der Ertragskraft unter besonderer Berücksichtigung der Risikotragfähigkeit des jeweiligen Bankinstituts ein. Ab 20 Prozent („roter Bereich“) ist mit aufsichtsrechtlichen Maßnahmen bis hin zur Schließung des Geschäftsbetriebs zu rechnen. Ergänzend ist von den meisten Banken ein Risikomanagementsystem eingerichtet, das laufend die Zinsänderungsrisiken für das gesamte zinstragende Portfolio auf Basis des Value-at-Risk Konzeptes (VaR) ermittelt. Gemessen wird hierbei der maximale Wertverlust, den das Portfolio der Bank mit einer vorgegebenen Wahrscheinlichkeit (sog. Konfidenzniveau) innerhalb eines bestimmten Zeithorizonts (Haltedauer) erleiden kann. Die Banken legen den Berechnungen dabei in aller Regel ein Konfidenzniveau von 99 Prozent und eine Haltedauer von einem Tag zugrunde. In die Ermittlung fließen historische Beobachtungswerte der Risikofaktoren aus den letzten 125 Handelstagen exponentiell gewichtet ein. Die Risikoprognose wird dabei täglich mit den tatsächlich eingetretenen Marktwertveränderungen des Portfolios verglichen (Backtesting). Das vom Bundesaufsichtsamt in seinem Schreiben vom 7. Dezember 2000 installierte Ampelsystem hat nicht den Handel mit Derivatprodukten generell als eigenständiges Geschäftsfeld freigegeben, sondern zusätzliche Maßstäbe für die Grenzen insbesondere von Swapgeschäften und Forward Rate Agreements (FRA) bei Überschreitung des „grünen Bereichs“ entwickelt, um Verlustrisiken zu limitieren und eine angemessene Relation zur Größe des originären Geschäfts zu sichern. Ob ein einzelnes Derivatgeschäft zu einer 500
Derivative Finanzierungsinstrumente
Verminderung offener Positionen im Zinsbereich führt, ist nach wie vor maßgeblich anhand der Zinsbindungsbilanzen festzustellen. Die beiden folgenden Tabellen zeigen die Auswirkungen des Neuabschlusses sowie der Beendigung eines Zinsswapgeschäftes (Tabelle A) bzw. die Auswirkungen des Kaufs bzw. Verkaufs eines Forward Rate Agreements (Tabelle B) auf die anhand der Zinsbindungsbilanz ermittelte offene Zinsposition: Tabelle A Auswirkungen auf eine Zinsbindungsbilanz, die einen Aktivüberhang ausweist
Auswirkungen auf eine Zinsbindungsbilanz, die einen Passivüberhang ausweist
Auswirkungen auf eine Zinsbindungsbilanz, die eine geschlossene Position ausweist
Neugeschäft
Erhöhung des Aktivüberhangs
Verminderung des Passivüberhangs
Begründung eines Aktivüberhangs
Beendigung
Verminderung des Aktivüberhangs
Erhöhung des Passivüberhangs
Begründung eines Passivüberhangs
Neugeschäft
Verminderung des Aktivüberhangs
Erhöhung des Passivüberhangs
Begründung eines Passivüberhangs
Beendigung
Erhöhung des Aktivüberhangs
Verminderung des Passivüberhangs
Begründung eines Aktivüberhangs
Auswirkungen auf eine Zinsbindungsbilanz, die einen Aktivüberhang ausweist
Auswirkungen auf eine Zinsbindungsbilanz, die einen Passivüberhang ausweist
Auswirkungen auf eine Zinsbindungsbilanz, die eine geschlossene Position ausweist
Neugeschäft
Verminderung des Aktivüberhangs
Erhöhung des Passivüberhangs
Begründung eines Passivüberhangs
Beendigung
Erhöhung des Aktivüberhangs
Verminderung des Passivüberhangs
Begründung eines Aktivüberhangs
Neugeschäft
Erhöhung des Aktivüberhangs
Verminderung des Passivüberhangs
Begründung eines Aktivüberhangs
Beendigung
Verminderung des Aktivüberhangs
Erhöhung des Passivüberhangs
Begründung eines Passivüberhangs
Receiver-Swap
Payer-Swap
Tabelle B
Kauf FRA
Verkauf FRA
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Eine Kompetenz zur Freigabe von Derivatgeschäften als selbständige Hauptoder Nebengeschäfte wurde vom Bundesaufsichtsamt nicht in Anspruch genommen. Gegenstand des Schreibens war nicht die Zulässigkeit von Zinsderivatgeschäften, sondern die Überwachung der von Hypothekenbanken insgesamt eingegangenen Zinsänderungsrisiken. Es ist demgemäß rechtswidrig, wenn der Vorstand einer Hypothekenbank systematisch den Ausbau der Derivatgeschäfte unabhängig vom bilanziellen Geschäft unter Inkaufnahme erheblicher Risiken betreibt, die mit der Prognose der künftigen Zinsentwicklung zwangsläufig verbunden sind, um den Umsatz zu forcieren und Ergebnisverbesserungen zu erzielen. Eine solche Strategie lässt jedes einzelne mit Dritten getätigte Swapgeschäft als im Innenverhältnis zur Bank gesetzeswidrig erscheinen.
II. Gesetzes- und Satzungsverstöße und Business Judgement-Rule Dem Vorstand eines Unternehmens steht bei Satzungs- oder Gesetzesverstößen kein Ermessens- oder Gestaltungsspielraum zu. Zwingende Gesetzesund Satzungsvorschriften haben die Funktion, Handlungsgrenzen zu setzen, die nicht nach Opportunitätsaspekten vom Normunterworfenen relativiert oder modifiziert werden dürfen. Der Schutz der Business Judgement Rule (bzw. des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-RE10) wird deshalb bei Gesetzes- oder Satzungsverstößen versagt. Soweit die gesetzliche oder satzungsmäßige Regelung reicht, die ein bestimmtes Verhalten verbietet, ist unternehmerisches Ermessen, die Norm dennoch zu übertreten, rechtlich ausgeschlossen11. Einen Beurteilungsspielraum haben Vorstandsmitglieder nur bei der Frage, wie sie innerhalb des gesetzlichen bzw. satzungsmäßigen Handlungsspielraums agieren, um das Unternehmen so erfolgreich wie möglich zu führen12. Der Vorstand kann im Rahmen dieses Spielraums frei entscheiden, ob er zur Refinanzierung eines Kredits sich ohne Risiko langfristig absichert oder ob er flexible Formen des Gegengeschäfts wählt, um eine offene Position zu schließen. Solche Gegengeschäfte müssen aber ihre Begrenzung immer in dem Gesamtvolumen und in der Struktur der neu abgeschlossenen bzw. der vor dem Abschluss stehenden, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden neuen Kreditverträge mit den Kunden der Bank finden. Das inhärente
__________ 10 Text unter www.bmj.bund.de/media/archive/701.pdf. 11 Vgl. Abeltshauser, Leitungshaftung im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 54 ff.;
Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstandes, 2001, S. 54 ff., 58, 66; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 76 Rz. 7. 12 Vgl. dazu BGHZ 135, 244 (ARAG/Garmenbeck); näher dazu Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 81 ff.; Hefermehl/Spindler in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 93 Rz. 24 ff.; Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827 ff.; Roth, BB 2004, 1066 ff.; Lohse, Corporate Governance und Effizienz der Unternehmensführung – Eine aktienrechtliche Untersuchung der Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, Habilitationsschrift FU Berlin 2004.
502
Derivative Finanzierungsinstrumente
Risiko derivativer Geschäfte ist nur hinnehmbar, wenn sie Gegengeschäfte zur Deckung offener Positionen sind. Rein spekulative Zinsgeschäfte mit anderen Unternehmen liegen – unabhängig vom Umfang dieser Geschäfte – außerhalb des Gesetzes (vgl. §§ 1, 5 HypothekenbankG). Ein Gleiches gilt für die spekulative Optimierung erwarteter Fremdwährungseingänge. Auch hier ist bestandswahrende Kurssicherung, nicht aber eine spekulative Vergrößerung des Währungsrisikos durch Schaffung weiterer offener Positionen geboten. Da die Marktentwicklung, das Floaten der Devisenkurse und die Entscheidungen der Notenbanken keine sicher prognostizierbaren Größen sind, entzieht sich die künftige Entwicklung der Zinssätze und Devisenkurse weitgehend objektiver Vorausschau. Zinsderivatgeschäfte, die nicht der Schließung offener Positionen dienen, haben unter diesen Umständen Glücksspielcharakter. An die Stelle risikomindernder Wertsicherung tritt aleatorischer Spieltrieb mit fremdem Geld. Der Handel mit Derivaten, die ihrerseits in Verbindung mit anderen Derivatgeschäften stehen, überschreitet die den Hypothekenbanken als Spezialbanken gesetzten Grenzen. Aus der Hypothekenbank würde eine Spielbank. Der Vorstand einer Hypothekenbank handelt daher gesetzes- und satzungswidrig, wenn er das ihm von den Aktionären mit der Kapitalanlage anvertraute Vermögen für spekulative Derivatgeschäfte einsetzt13. Aus vorstehenden Überlegungen ergibt sich, dass Derivatgeschäfte nur zulässig sind, wenn es ihr Ziel ist, originäre Geschäfte mit Kunden in ihrem wertmäßigen Bestand marktgerecht vor Zinssatzänderungen oder Wechselkursschwankungen abzusichern. Sprechen die Indizien überwiegend für eine Phase sinkender Zinsen, so würden Gegengeschäfte zu Festzinsen nicht sinnvoll sein. Ist dagegen langfristig mit einem deutlichen Steigen der Zinsen zu rechnen, so würde eine flexible Gegenfinanzierung u. U. hohe Verluste entstehen lassen. Der Vorstand eines Unternehmens hat daher situationsrelativ Chancen und Risiken abzuwägen und danach zu entscheiden, in welcher Weise er das Zinsrisiko unter Beschränkung der Derivatprodukte auf den Sicherungszweck zur Grundlage des Zinssteuerungsmanagements macht14.
__________ 13 Zur zivilrechtlichen Einordnung von Zinsswapverträgen, die allein zur Erzielung
von Gewinnen aus einer Veränderung des Zinsniveaus eingegangen werden, als Spiel- und Wettgeschäfte gemäß § 762 BGB, vgl. Fülbier, ZIP 1990, 544 (546); Schäfer, ZIP 1986, 1304 (1305); Ebenroth/Messer, ZVglRWiss. 1987, 1 (9); Kümpel, WM 1988, 869; Decker, WM 1990, 1001 (1004 ff.). Decker (a. a. O., S. 1004) charakterisiert eine solche spekulative Strategie zutreffend mit den Worten: „Als von einer Mittelaufnahme losgelöste Finanzierungsgeschäfte können Swaps auch zu reinen Spekulationszwecken abgeschlossen werden. Denkbar ist es, dass ein Swap ohne Bezug zu einer Forderung oder Verbindlichkeit und damit nicht zur Gestaltung aktivischer oder passivischer Zins- oder Währungskursänderungen abgeschlossen wird, sondern nur zur Realisierung einer Differenz.“ 14 Gleiche Prinzipien gelten für die Devisenkurssicherung bei Geschäften in fremder Währung; vgl. Wentz, Unternehmerische Devisenkurssicherung, 1979, S. 26 ff., 72 ff., 237 ff.; Filc, Zinsarbitrage und Währungsspekulation, 1975, S. 34 ff., 46 ff.;
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Soweit das Risiko von Verlusten bei der Ergebnisgestaltung durch derivative Geschäfte durch den Bezug auf das zugrundeliegende Bilanzgeschäft begrenzt bleibt, obliegt die Optimierung der Gegenfinanzierung dem Vorstand. Dies bedingt aber in der Gesellschaft eine sachgerechte Organisation des Zinsmanagements und klare vom Vorstand verabschiedete schriftliche Richtlinien über die Art und Weise des das Verlustrisiko begrenzenden Einsatzes von derivativen Finanzierungsinstrumenten.
III. Resümee: Satzungsgemäße Hauptgeschäfte und derivative Hilfsgeschäfte Bezüglich des formalen Unternehmensziels setzt die Satzung einer Kapitalgesellschaft als selbstverständlich voraus, dass alle Verwaltungsorgane des Unternehmens der Zielsetzung verpflichtet sind, das Unternehmen zu erhalten, d. h. so rentabel zu führen, dass sein Zugang zum Eigen- und Fremdkapitalmarkt ohne zusätzliche Kapitalzuführung durch die Aktionäre gesichert ist. Das formale Unternehmensziel darf aber nur durch solche Geschäfte erreicht werden, die mit dem sachlichen Unternehmensziel, dem Unternehmensgegenstand, vereinbar sind. Wenn die Satzung als verbandsrechtliche Grundordnung des Unternehmens den Unternehmensgegenstand z. B. als Betrieb einer Hypothekenbank charakterisiert, sind alle anderen Gegenstände ausgeschlossen, namentlich auch das Betreiben von spekulativen Bankoder Versicherungsgeschäften als eigenständige Unternehmensziele, losgelöst von dem originären, satzungsgegenständlichen Hypothekenbankgeschäft. Vereinbar mit dem Gegenstand des Unternehmens sind nur Hilfs- und Ergänzungstätigkeiten, die mit dem Unternehmensgegenstand zusammenhängen bzw. ihm unmittelbar oder mittelbar förderlich erscheinen. Insoweit haben die Verwaltungsorgane eine Annexkompetenz, d. h. eine kraft Sachzusammenhangs bestehende ancillarische, konkludent mitgeschriebene Zu-
__________ Backes, Kurssicherungsgeschäfte, 1977, S. 57 ff.; V. Schneider, Kurzfristiges Wechselkursrisikomanagement, 1983, S. 60 ff., 222 ff.; Jarchow/Rühmann, Monetäre Außenwirtschaft, Bd. 1: Monetäre Außenwirtschaftstheorie, 1982, S. 226 ff.; Wittgen, Währungsrisiko und Devisenkurssicherung, 1975, S. 34 ff., 53 ff.; Abdel/Malek, Columbia Journal of World Business, Bd. II (1976), 41 ff.; Aggarwal, Management International Review, Bd. 15 (1975), 67 ff.; ders., Financial Policies for the Multinational Company. The Management of Foreign Exchange, New York 1976, S. 37 ff.; Aliber, The Skandinavian Journal of Economics, Bd. 78 (1976), 309 ff.; Choi, Management Accounting, Bd. 58 (1956), 45 ff. Zur Vielfalt der Praxis der Absicherung vor Währungsrisiken vgl. Scharrer/Gehrmann/Wetter, Währungsrisiko und Währungsverhalten deutscher Unternehmen im Außenhandel, 1973, S. 71 ff., 217 ff., 290 ff., 304 ff.; Gesellschaft für Finanzwirtschaft in der Unternehmensführung, Praxis des industriellen Devisenkursmanagements, 1984, S. 23 ff.
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ständigkeit, alle dem sachlichen Unternehmensziel dienlichen Maßnahmen zu treffen15. Die Satzung eines Unternehmens erlaubt Hilfsgeschäfte, statuiert aber keine Befugnis, darüber hinaus alle Maßnahmen zu ergreifen, die einen Beitrag zum formalen Unternehmensziel (Rentabilität) leisten. Eine die gegenständlichen Grenzen der Satzung sprengende Interpretation der Geschäftsführungsmacht im Sinne weiterreichender Kompetenzen zum Abschluss beliebiger „ergebnisverbessernder“ Geschäfte würde zudem wegen inhaltlicher Unbestimmtheit zur Unwirksamkeit der Satzung führen16. Eine aktiengesetzkonforme, den Grundsätzen objektiver Satzungsauslegung17 verpflichtete Interpretation der Satzung führt daher zu dem Ergebnis, dass diese keine Generalermächtigung zum Betreiben aller auf Gewinnerzielung gerichteten Geschäfte darstellt, sondern dem Vorstand nur den Handlungsspielraum einräumen will, der erforderlich ist, um das durch die Satzung festgelegte sachliche Unternehmensziel, das Hauptgeschäft, zu erreichen. Derivative OTC-Finanztermingeschäfte sind nur als Annex- oder Hilfsgeschäfte zur Sicherung des Hauptgeschäfts erlaubt18.
IV. Die Pflicht zur Errichtung eines angemessenen RisikenFrühwarnsystems für derivative Finanzierungsinstrumente (§ 91 Abs. 2 AktG) Der Vorstand einer Aktiengesellschaft ist verpflichtet, sein Unternehmen so zu organisieren, dass er für die von ihm zu treffenden Leitungsentscheidungen rechtzeitig alle wichtigen Daten zu Verfügung hat, um mögliche Gefahren für den Bestand des Unternehmens zu erkennen und durch geeignete Maßnahmen abzuwehren. Dazu gehört, wie § 91 Abs. 2 AktG nunmehr ausdrücklich verlangt, die Einrichtung eines sog. Frühwarnsystems, das rechtzeitig alle diese Daten bereitstellt19.
__________ 15 Näher dazu Säcker, Unternehmensgegenstand und Unternehmensinteresse, in FS
Lukes, 1989, S. 549 ff. 16 So ausdrücklich OLG Köln, WM 1981, 805; vgl. auch Kraft in KölnKomm.AktG,
2. Aufl. 1986, § 23 Rz. 50. 17 Vgl. dazu BGHZ 21, 370 (374); Fischer, Anm. zu BGH LM Nr. 3 zu § 138 HGB;
Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 128 ff.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. 1, 1980, S. 166 ff. 18 Zur Figur der Annexkompetenz als sich aus dem Sachzusammenhang ergebender implied power im Organisationsrecht vgl. E. Küchenhoff, AöR 81 (1957), 413 (425 ff., 451); Achterberg, AöR 86 (1961/62), 63 ff.; ders., DÖV 1964, 612 ff. und DÖV 1966, 695 ff.; Herzog, JuS 1967, 193 (195); Kölble, DÖV 1963, 660 ff.; Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966, S. 71 ff.; Zweigert, Rabels Zeitschrift 28 (1964), 601 (623 ff., 639). 19 Vgl. dazu Brebeck/Herrmann, WPg. 1997, 381 ff., Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, § 91 Rz. 14 ff. m. w. N.
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Ein solches internes Risikomanagementsystem, bezogen auf das Limitcontrolling und auf die Finanzflussrechnung, fehlte, obgleich eine Verpflichtung zur Einrichtung eines umfassenden Risikocontrollingsystems bestand20. Der Vorstand hat die langfristigen Risiken aus Derivataktivitäten durch laufende Risikomessung, insbesondere durch Bewertung des Marktrisikos und durch Limitbegrenzung, unter Beobachtung zu halten; er muss systematisch Maßnahmen zur Identifikation, Quantifizierung und Begrenzung des Value at Risk, d. h. des geschätzten maximalen Verlusts treffen, der unter üblichen Marktbedingungen innerhalb einer bestimmten Periode aus den abgeschlossenen Geschäften mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten kann. Ein über die Schließung von offenen Positionen hinausgehender Handel mit Derivatprodukten ohne gleichzeitige Installierung der erforderlichen umfassenden Risikokontrollinstrumente ist mit dem Verhalten eines ordentlichen, gewissenhaften Kaufmanns (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) unvereinbar, selbst wenn das Bilanzrecht des HGB Rückstellungen für kontrahierte Verluste noch nicht zwingend vorsehen mag. Der Bundesgerichtshof hat bereits vor Inkrafttreten des § 91 Abs. 2 AktG in seinem Herstatt-Urteil21 auf die Organisations- und Überwachungspflichten des Vorstandes bei riskanten Devisenhandelsgeschäften – ein Gleiches gilt sinngemäß für Zinsderivatgeschäfte – hingewiesen, um Schaden vom Unternehmen abzuwehren. Ein Vorstandsmitglied verstößt durch die Verletzung der bankaufsichtsrechtlich festgelegten Standards ordnungsgemäßer Geschäftsführung beim Zinsrisikomanagement zugleich in grober Weise gegen seine Pflichten aus dem Dienstvertrag22. Aber auch den Aufsichtsrat treffen Überwachungspflichten, deren Verletzung ihn leicht in eine gesamtschuldnerische Mitverantwortung mit den pflichtverletzenden Vorstandsmitgliedern hineintragen kann23. Muss der Aufsichtsrat die Insuffizienz der vom Vorstand genutzten Kontrollinstrumente durchschauen, so setzt er sich selbst dem Vorwurf mangelhafter Überwachungstätigkeit aus, wenn er nicht rechtzeitig auf Abhilfemaßnahmen dringt und auf strikter Beachtung von Gesetz und Satzung besteht sowie bei Nichtbeachtung personelle Konsequenzen zieht – schon, um sich nicht selbst gemäß §§ 116, 93 Abs. 2 AktG schadensersatzpflichtig zu machen24.
__________ 20 Vgl. dazu Preußner, NZG 2004, 57 ff.; Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler,
21 22 23 24
KWG, 2000, § 25a Rz. 21; allgemein dazu von Westphalen, Derivatgeschäfte, Risikomanagement und Aufsichtsratshaftung, 2000, S. 81 ff. BGHZ 75, 120 (132 ff.). Vgl. zur dienstvertragsrechtlichen Relevanz der Verletzung der aufsichtsrechtlichen Pflichten zutreffend Preußner/Zimmermann, AG 2002, 657 ff. Vgl. RGZ 77, 323; 95, 347; Mertens in KölnKomm.AktG, § 93 Rz. 21; Schilling in Großkomm.AktG, Bd. I/2, 3. Aufl. 1973, § 93 Rz. 23. Vgl. zu dieser Verantwortung des Aufsichtsrates von Westphalen (Fn. 20), S. 188 ff.; Salzberger, Die Überwachung des Risikomanagement-Systems durch den Aufsichtsrat, DBW 2000, 756 ff.
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Derivative Finanzierungsinstrumente
Wäre der Aufsichtsrat umfassend und wahrheitsgemäß unterrichtet worden, so hätte das unternehmenseigene Überwachungs- und Kontrollorgan nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht gehabt25, gegebenenfalls in Anwesenheit eines Vertreters des Bundesaufsichtsamtes (vgl. § 44 Abs. 1 Nr. 2 KWG) und des Abschlussprüfers die Gefahrenlage aus den ausufernden Zinsderivatgeschäften aufgrund eines besseren Informationsstandes zu analysieren und personelle Konsequenzen aus der Erkenntnis der Unvertretbarkeit des Umfangs der hohen offenen Positionen ohne terminliche Deckung zu ziehen. Der Aufsichtsrat hätte das „zu große Rad“ bei den Swapgeschäften im Unternehmensinteresse nicht hinnehmen dürfen und hätte die dafür Verantwortlichen mit sofortiger Wirkung von ihren Ämtern suspendieren bzw. abberufen müssen26.
V. Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht bei spekulativen Finanztermingeschäften Der Vorstand einer Aktiengesellschaft ist verpflichtet, das ihm anvertraute Vermögen der Aktionäre in Übereinstimmung mit dem Unternehmenszweck sorgfältig zu verwalten27. Er ist nicht befugt, dieses Vermögen spekulativ einzusetzen und Risiken einzugehen, die ein gewissenhafter und sorgsam handelnder Kaufmann, bezogen auf sein eigenes Vermögen, gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht eingehen würde28. Wie unter I. herausgearbeitet, darf der Vorstand nur satzungsgemäße Geschäfte betreiben. Der Einsatz des AG-Vermögens zu spekulativen Derivatgeschäften ist ihm verwehrt, wenn diese das mit dem bilanziellen Geschäft verbundene unternehmerische Risiko nicht abmildern, sondern gezielt erhöhen, da sie zusätzliche Ertragsquellen unter Inkaufnahme aller Risiken ausschöpfen29.
VI. Gesamtverantwortung des Vorstandes Der Vorstand als Gesamtorgan ist verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass Gesetz und Satzung eingehalten werden. Er hat in Vorstandssitzungen die obersten unternehmerischen Leitungs-, Planungs- und Organisationsent-
__________ 25 Vgl. RG, JW 1924, 1145 (1147); BGHZ 75, 120 (126, 132 f.) (Herstatt); BGHZ 114,
127 (131 ff.); BGHZ 135, 244 (251 ff.). 26 Vgl. BGHZ 135, 244 (251 ff.). 27 Vgl. zur Vermögensbetreuungspflicht des Vorstandes, die im Falle einer vorsätz-
lichen Verletzung auch Schadensersatzansprüche gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 StGB auslösen würde, BGH, ZIP 2004, 1200 (1202 ff.). 28 Vgl. dazu Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, § 93 Rz. 22; Mertens in KölnKomm.AktG, § 93 Rz. 6. 29 Vgl. von Westphalen (Fn. 20), S. 69 ff.
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scheidungen bei allen wichtigen oder grundsätzlichen Fragen selbst zu treffen – unbeschadet der Ressortverantwortung der einzelnen Vorstandsmitglieder für ihren Geschäftsbereich30. Den Vorstand in seiner Gesamtheit trifft die Verantwortung für eine DerivateStrategie, die den Abschluss von Swapgeschäften und Forward Rate Agreements ohne Absicherungscharakter zur Folge hat und das Volumen der Derivatgeschäfte unter deutlicher Erhöhung offener Positionen ausweitet. Der Vorstand in seiner Gesamtheit trägt die Pflicht, ein ordnungsgemäßes Risikocontrolling einzurichten, das den Anforderungen des § 91 Abs. 2 AktG entspricht31 und den Barwert des zinstragenden Geschäfts sowie die langfristigen Risiken kontrolliert, um eine Schieflage des Unternehmens zu verhindern. Der Vorstand würde auch nicht dadurch entlastet, dass er aufgrund einer Weisung des Aufsichtsrates oder der Hauptversammlung gehandelt hätte. Selbst wenn dies der Fall wäre, so wäre eine Weisung des Aufsichtsrats nichtig (vgl. § 134 BGB i. V. m. § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG). Unwirksam wäre auch eine Haftungsfreistellung durch den Aufsichtsrat (§ 93 Abs. 4 Satz 2 AktG). Ein haftungsfreistellender Beschluss der Hauptversammlung wäre, da gesetzes- und satzungswidrig, gleichfalls ohne rechtliche Bedeutung (§ 93 Abs. 4 AktG). Auch die Hauptversammlung ist, solange sie nicht in dem dafür vorgesehenen Verfahren die Satzung ändert, an die Satzung der AG gebunden. Ebenso wenig würden Weisungen der konzernleitenden Gesellschaft im faktischen Konzern das Derivatgeschäft zu einem spekulativen Hedging als eigenständiges Geschäftsfeld weiterentwickeln und die Haftung des Vorstandes der abhängigen Gesellschaft entfallen lassen (§ 318 AktG).
VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 1. Außerbörsliche Finanztermingeschäfte (sog. OTC-Derivatgeschäfte) und Geschäfte zur Optimierung erwarteter Fremdwährungseingänge dürfen von den Vorständen von Kapitalgesellschaften im Rahmen satzungsgemäßen Verhaltens nur zur Absicherung vor Zins- und Währungskursänderungsrisiken aus den satzungsgemäßen Geschäften eingesetzt werden, aber nicht um einen eigenständigen Handel mit derivativen Produkten mit dem Ziel zusätzlicher Erträge zu betreiben. Mit einer treuhänderischen Vermögens-
__________ 30 Vgl. Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, § 77 Rz. 4 ff.; Mertens in Köln-
Komm.AktG, § 76 Rz. 43; Kort in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2003, § 77 Rz. 35; vgl. dazu BGHZ 149, 158. 31 Zur Verantwortung des Gesamtvorstandes für die Einrichtung eines umfassenden derivativen Risikomanagementsystems und eine angemessene Unterrichtung des Aufsichtsrates im Rahmen von § 91 Abs. 2 AktG vgl. BGH, AG 1978, 162; von Westphalen (Fn. 20), S. 108 ff., 268 ff.; Epperlein/Scharpf, DB 1994, 1629 ff.; Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, § 90 Rz. 5.
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betreuung ist nur die Neutralisation der satzungsrechtlich zulässigen Geschäfte durch derivative Gegengeschäfte erlaubt, die einen Überhang offener Positionen nicht verstärken, sondern vermindern. Derivative Geschäfte müssen den Charakter risikomindernder Hilfsgeschäfte wahren. Wenn die Satzung dem Vorstand z. B. nur das Betreiben einer Hypothekenbank gemäß den Vorschriften des Hypothekenbankgesetzes gestattet, kann der Vorstand aus der Bank keine „Spielbank“ machen. Ein Automobilproduzent oder ein Maschinenbauunternehmen kann demgemäß OTCFinanztermingeschäfte nur zum Zweck der Wertsicherung der Fremdwährungseingänge aus dem Verkauf von Kraftfahrzeugen oder Industrieanlagen machen, aber nicht zum eigenständigen zweiten Geschäftsfeld ausbauen. Das selbständige Betreiben von Swapgeschäften gehört nicht zu den satzungsrechtlich erlaubten Geschäften. 2. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft hat gemäß § 91 Abs. 2 AktG die Pflicht, ein funktionierendes Risikoüberwachungssystem zu installieren; er hat insbesondere ein Limitkontrollsystem zur Begrenzung des Zinsänderungsrisikos und des Barwertverlustes einzurichten, um langfristige Gefährdungen des Bestands des Unternehmens rechtzeitig zu überblicken. Ebenso ist eine separate Spartenrechnung für bilanzielle und derivative Geschäfte zu führen, die Umfang und Verlustrisiken des derivativen Geschäfts ersichtlich machen. 3. Der Vorstand einer Kapitalgesellschaft hat die Pflicht, das ihm treuhänderisch in der AG anvertraute Vermögen der Aktionäre wie ein sorgfältiger und gewissenhafter Kaufmann (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) zu betreuen. Der Abschluss spekulativer Finanztermingeschäfte, welche die Risiken aus dem satzungsgemäßen Geschäft vergrößern statt minimieren, ist ein grober Verstoß gegen die Vermögensbetreuungspflicht. Die Frage, nach welchen Prinzipien ein Unternehmen zur Ergebnisverbesserung Swapgeschäfte tätigen und welche Risiken es dabei eingehen darf, muss der Vorstand in seiner Gesamtheit verantwortungsbewusst entscheiden; er kann die Entscheidung darüber nicht einzelnen Vorstandsmitgliedern überlassen oder gar an einen Ausschuss delegieren. Ein Pflichtverstoß liegt vor, wenn der Vorstand derivative Geschäfte nicht lediglich als Hilfsgeschäfte, die die Währungs- oder Zinsrisiken aus dem originären, satzungsgegenständlichen Geschäft neutralisieren sollen, sondern als eigenständige hochspekulative Geschäftssparte betreibt. Zustimmende Aufsichtsrats- oder Hauptversammlungsbeschlüsse bzw. rechtswidrige Weisungen im faktischen Konzern schließen die Verantwortung des Vorstandes nicht aus (vgl. § 93 Abs. 4 Satz 1 und 2 sowie § 318 AktG).
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Zur Binnenverfassung der GmbH & Co. KG – Wer ist Herr im Haus: die GmbH oder die Kommanditisten? Inhaltsübersicht I. Zum Thema 1. Zentripetale und zentrifugale Kräfte im Recht der GmbH & Co. KG: die „atypische Kommanditgesellschaft“ als Lehrmeisterin des Kommanditgesellschaftsrechts und die Verselbständigung der GmbH & Co. als Kommanditgesellschaft sui generis 2. „Verzahnung“ als Gestaltungsaufgabe 3. Verzahnungsmängel: ein OLGUrteil als Probe aufs Exempel 4. Das Problem und die These 5. Themenabgrenzung: Außerbetrachtlassung der KomplementärGmbH als Konzernmutter oder Konzerntochter 6. Präzisierung der Fragestellung II. Grundlagen 1. Ausgangspunkt 2. Die Organisation der GmbH & Co. KG als KG-zentrierte Organisation 3. Änderungen im Rechtsbild der Kommanditgesellschaft und im Verständnis der Kommanditbeteiligung 4. Grenzen der Geschäftsführungskompetenz in der Personengesellschaft: Grundlagengeschäfte, außergewöhnliche Geschäfte und Organisationsmaßnahmen 5. Die GmbH als pflichtgebundenes Organ der GmbH & Co. KG
III. Das Integrationsmodell unter der Dominanz der Kommanditisten 1. Die typische gesellschafteridentische GmbH & Co. KG 2. Die „Kommanditgesellschaft auf Einlagen“: überholt und doch lehrreich 3. Die Einheits-GmbH & Co.: überflüssig und doch lehrreich 4. Die typische personalistische GmbH & Co. KG als Kommanditgesellschaft mit abhängigem Fremdgeschäftsführer: Gibt es den organisationsrechtlichen Durchgriff? IV. Das Zentralverwaltungsmodell, insbesondere das Vorstandsmodell und das Aufsichtsratsmodell 1. Das Phänomen 2. Das Vorstandsmodell: die Komplementär-GmbH als treuhänderisch pflichtgebundenes Leitungsorgan 3. Das Aufsichtsratsmodell 4. Organisationsrechtlicher Durchgriff auf den GmbH-Geschäftsführer? 5. Fazit V. Schluss 1. Cui bono? 2. Seitenblicke auf das Mitbestimmungs-, Arbeits- und Steuerrecht 3. Ergebnisse
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Karsten Schmidt
I. Zum Thema 1. Zentripetale und zentrifugale Kräfte im Recht der GmbH & Co. KG: die „atypische Kommanditgesellschaft“ als Lehrmeisterin des Kommanditgesellschaftsrechts und die Verselbständigung der GmbH & Co. als Kommanditgesellschaft sui generis Die GmbH & Co. KG ist, wenn man vom Ideal einer Formenreinheit im gesetzlich geprägten Gesellschaftsrecht ausgeht, ein Sündenfall von Kautelarjurisprudenz und Literatur1. Nimmt man dagegen die Gestaltungsfreiheit als Datum und sieht man die gesetzlichen Rechtsformen nur als bis zu den Grenzen des zwingenden Rechts der Phantasie von Gesellschaftsarchitekten anheim gegebene legal beschriebene Bausteine2, so erweist sich die GmbH & Co. KG gleichzeitig als Lehrmeisterin und als eine Kraftprobe des Kommanditgesellschaftsrechts. Der Umgang mit ihr lässt uns in mancherlei Hinsicht tiefer in das Recht der Kommanditgesellschaft als solcher hineinblicken3. Gleichzeitig strebt das Recht der GmbH & Co. KG vom Gesetzesmodell der Kommanditgesellschaft weg zu eigenen, der aus Personengesellschaft und Kapitalgesellschaft zusammengesetzten Typenkombination erwachsenen und dadurch dem Bild der gesetzlich geprägten KG entwachsenden Gesetzmäßigkeiten4. Von beiden rechtsfortbildenden Kräften des GmbH & Co.-Rechts – seiner zentripetalen und seiner zentrifugalen Richtung – wird hier die Rede sein. 2. „Verzahnung“ als Gestaltungsaufgabe Die GmbH & Co. KG ist ein Kind der Kautelarjurisprudenz, und so nimmt es nicht wunder, dass die GmbH & Co.-Literatur von Praxishandbüchern dominiert wird. Als Hauptaufgabe bei der Gestaltung von GmbH & Co.Verträgen gilt aus gutem Grund die organisationsrechtliche Abstimmung der beiden in ihr enthaltenen Organisationsgebilde: eben der GmbH und der Kommanditgesellschaft5. Ziel dieser gern als „Verzahnung“ bezeichneten Abstimmung ist nicht bloß die oft beschriebene Kontinuität der bei der Gründung vorgesehenen und tunlichst zu perpetuierenden Quotenverhält-
__________ 1 2
3 4 5
Überblick bei Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1623 ff.; zuletzt Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 840 f. Vgl. Westermann in Hdb. Personengesellschaften, Loseblatt Stand 9/2000, Rz. I 6 ff.; über Grundfragen der Vertragsfreiheit im Personengesellschaftsrecht s. Hey, Freie Gestaltung in Gesellschaftsverträgen und ihre Schranken, 2004, S. 44 ff.; Westermann in FS BGH II, 2000, S. 245 ff.; Loritz, JZ 1986, 1073 ff. Vgl. Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1406. Zur systematischen Eigenständigkeit des GmbH & Co.-Rechts vgl. Kübler, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 1999, S. 299 ff. Vgl. Sudhoff/Liebscher, GmbH & Co. KG, 5. Aufl. 2000, § 1 Rz. 3.
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Zur Binnenverfassung der GmbH & Co. KG
nisse6. Vielmehr geht es ganz allgemein darum, aus zwei je für sich gesetzlich unterschiedlich verfassten Organisationsgebilden (der KG und der GmbH) ein stimmig verfasstes Ganzes zu schmieden. Sinnstiftendes Ziel der „Verzahnung“ kann demgemäß –
–
die Schaffung einer homogenen Einheitsverfassung des ungeteilten, jedoch in zwei Handelsgesellschaften organisierten Unternehmens, kann aber auch die raffinierte Bildung unterschiedlicher Steuerungsebenen
sein. Regelmäßig ist, wenn von der „Verzahnung“ die Rede ist, nur die erste dieser Aufgaben gemeint7: das Ziel eines dauerhaften Synchronlaufs der die GmbH & Co. konstituierenden Einheiten. So kennen wir es von der typischen GmbH & Co.-Familiengesellschaft. Aber es ist rasch zu erkennen, dass weder die Metapher der „Verzahnung“ noch die Gestaltungsaufgabe bei der GmbH & Co.-Organisation auf dieses eindeutige Ziel beschränkt ist. Verzahnung spielt sich, um bei der technischen Metapher zu bleiben, nicht immer nur im Verhältnis 1:1 ab, sondern sie lässt auch Übersetzungen zu. Vor allem aber setzt eine Verzahnung klare Vorstellungen darüber voraus, welcher Teil eines Laufwerks treibt und welcher getrieben wird. Fehlt es daran, so wird der Verzahnungserfolg ungewiss. Aus dem kautelarjuristisch zu klärenden Gestaltungsproblem wird dann ein streitig zu entscheidendes, ggf. auszuprozessierendes Rechtsproblem. Es kommt plötzlich darauf an, wie die Willensbildung in der GmbH & Co. KG bei Fehlen klärender Satzungsund Vertragsregeln verteilt und geordnet ist. Wiederum ist auch dies Gegenstand der hier anzustellenden Betrachtungen. 3. Verzahnungsmängel: ein OLG-Urteil als Probe aufs Exempel a) Wenn es an einer vertraglich geordneten Verzahnung fehlt, kann sich hiernach in der GmbH & Co. die Frage stellen: Wer ist Herr im Haus – die Komplementär-GmbH und ihre Gesellschafter oder die Kommanditisten? Von dieser Frage handelt ein rechtskräftiges Urteil des OLG München v. 19.11.20038. Der für die Zwecke dieses Beitrags vereinfachte Sachverhalt ist der folgende: Der Gesellschafter V (Kommanditeinlage 1 Mio.) und sein Sohn S (Kommanditeinlage 1,5 Mio.) waren mit 40 % (V) bzw. 60 % (S) am Kapital einer GmbH & Co. – einer Familien-Holdinggesellschaft – beteiligt. Aufgrund einer gesellschaftsvertraglichen Sonderregelung waren die Stimmenverhältnisse der Kommanditisten gegenüber den Beteiligungsverhältnissen umgekehrt (60 % bei V, 40 % bei S). Die Komplementär-
__________ Zu diesem Ziel der Verzahnung vgl. Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 9. Aufl. 2003, § 7 Rz. 40 ff.; Hesselmann/Tillmann, Handbuch der GmbH & Co., 18. Aufl. 1997, Rz. 107 ff. 7 Vgl. ebenda (Fn. 6). 8 OLG München, DB 2004, 866. 6
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Karsten Schmidt GmbH (K-GmbH) hatte in der KG, wie dies üblich ist, keinen Kapitalanteil und kein Stimmrecht. Alleiniger Gesellschafter und ursprünglich auch Geschäftsführer der K-GmbH war der Sohn S, Mitgeschäftsführer war ein dem V nahe stehender Familienangehöriger D. Nach Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn hatte der letztere (S) alle Geschäftsführerämter niedergelegt und auch seinen Kommanditanteil gekündigt. Als Alleingesellschafter der Komplementär-GmbH berief S sodann den Familienangehörigen D als Geschäftsführer ab und widersetzte sich auch der von V beabsichtigten Übertragung seines Kommanditanteils an diesen D. V seinerseits führte nunmehr einen Beschluss der KG herbei, in dem die K-GmbH als Komplementärin angewiesen wurde, der Übertragung seiner Anteile auf D zuzustimmen und den D als Geschäftsführer zu berufen. Nachdem die K-GmbH dieser Aufforderung nicht nachgekommen war, erwirkte V mit seinen Mehrheitsstimmen in der Kommanditgesellschaft einen Beschluss über die Ausschließung der K-GmbH. Gleichzeitig gründete V eine neue Komplementär-GmbH und betrieb deren Aufnahme in die Kommanditgesellschaft. Darüber kam es zum Prozess. Die K-GmbH stellte sich auf den Standpunkt, ihr Ausschluss aus der KG sei nicht wirksam. Als Komplementärin beantragte sie gegen V und gegen die neue Komplementär-GmbH eine einstweilige Verfügung, gerichtet auf Unterlassung sowohl von Geschäftsführungshandlungen als auch der Aufnahme der neuen GmbH in die Kommanditgesellschaft. Der Antrag blieb in beiden Instanzen erfolglos.
b) Jeder gesellschaftsrechtlich versierte Praktiker wird in diesem Fall die wenig geliebten und nur selten in grundsätzlicher Hinsicht weiterführenden Züge der leidigen Binnenstreitigkeiten bei Personengesellschaften erkennen. Man könnte darüber zur Tagesordnung übergehen. Aber das lesenswerte Urteil lädt, wie wir sehen werden, doch zu grundsätzlichem Nachdenken ein. Es trägt folgende Leitsätze9: „1. Ist eine Familien-KG nach Gesellschaftsvertrag und gelebter gesellschaftsrechtlicher Praxis so ausgestaltet, dass alle wesentlichen Entscheidungen den Kommanditisten vorbehalten sind, während die – weder mit einer Kapitalbeteiligung noch mit Stimmrecht ausgestattete – Komplementär-GmbH auf die Führung der laufenden Geschäfte beschränkt ist, so ist es dem Gesellschafter der Komplementär-GmbH verwehrt, unter Berufung auf die Organisationshoheit der GmbH deren Geschäftsführer, der das Vertrauen der Kommanditisten genießt, ohne zustimmenden Beschluss der Gesellschafter der KG abzuberufen und zu ersetzen. 2. Weigert sich der Gesellschafter der Geschäftsführungs-GmbH, die gleichwohl vollzogene Auswechslung des Geschäftsführers gem. einem daraufhin gefassten Gesellschafterbeschluss der KG wieder rückgängig zu machen, so kann die Ausschließung der Komplementär-GmbH gerechtfertigt sein (im Anschluss an RGZ 163 S. 35 [38]).“
In den Entscheidungsgründen führt das OLG München aus, dass die Abberufung des neuen Geschäftsführers nicht in den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb und damit nicht in den nach § 116 Abs. 1 HGB weisungsfreien Bereich der Geschäftsführung gehört. Das verblüfft auf den erste Blick. Liegt denn ein außergewöhnliches Geschäft der Komplementärin, liegt überhaupt ein
__________ 9
Vgl. ebenda (Fn. 8).
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Zur Binnenverfassung der GmbH & Co. KG
Geschäft der Kommanditgesellschaft vor? Bei der GmbH ist die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer der Beschlussfassung ihrer Gesellschafter überlassen (§ 46 Nr. 5 GmbHG), weil es sich um einen die GmbH betreffenden Organisationsakt – nicht einen Geschäftsführungsakt – handelt. Damit ist innerhalb der GmbH die Zuständigkeit der GmbH-Gesellschafter (beileibe nicht Dritter, also auch nicht der Kommanditisten) positiv geregelt. Doch auf diesen „formellen Standpunkt“, so das OLG München, könne sich die K-GmbH nicht zurückziehen, denn nach unwidersprochenem Vortrag des V seien nach der gesellschaftsrechtlichen Übung „alle Geschäftsführeranstellungen und -entlassungen in der Gesellschafterversammlung der KG besprochen und beschlossen und von der Komplementär-GmbH sodann vollzogen worden“. Zuständig seien also die Kommanditisten. Die Richtigkeit des Ergebnisses ergebe sich auch daraus, dass nach dem Gesellschaftsvertrag sogar die Erteilung von Prokuren und Generalhandlungsvollmachten an die Zustimmung der Kommanditisten gebunden sei. c) Es fällt leicht, dem OLG München in der Lösung des ihm vorliegenden Falls zuzustimmen. Wenn der Mehrheitskommanditist nicht einmal die Erteilung einer Prokura oder Handlungsvollmacht durch die KomplementärGmbH gegen den eigenen Willen hinnehmen musste, wie sollte er dann verpflichtet sein, die Bestellung eines ungewollten Geschäftsführers für die Vertretung „seiner“ Kommanditgesellschaft hinzunehmen? Die sich aus dem KG-Vertrag ergebende Zustimmungsbedürftigkeit von Prokuren und Handlungsvollmachten wies der GmbH bezüglich der Vertreterbestellung offenkundig einen nur dienenden Platz zu. Aber genau diese Feststellung lässt bei einem auf das Allgemeine gerichteten Blick weitere Fragen entstehen. Wie hätte das Gericht ohne solche vertragliche Klarstellung entschieden? 4. Das Problem und die These a) Das Urteil wirft die Frage auf, ob wir über die Binnenstruktur der GmbH & Co. KG bisher vielleicht weniger wissen, als wir zu wissen glauben. Denn der Streit unter den Beteiligten läuft ja auf die einfache Frage hinaus: Wer regiert in der GmbH & Co.: die (von S dominierte) Komplementär-GmbH oder der (von V dominierte) Kreis der Kommanditisten? Nach dem traditionellen KG-Modell des Handelsgesetzbuchs scheint die Antwort klar. Denn nach ihm ist die Komplementärin nicht nur nach außen hin der unbeschränkt haftende Unternehmensleiter (§§ 161 Abs. 2, 125, 128 ff. HGB), sondern als Alleingeschäftsführerin (§§ 161 Abs. 2, 114, 164 HGB) auch im Innenverhältnis allzuständig in den Grenzen des „gewöhnlichen Betriebs des Handelsgeschäfts“. Und was ihren Geschäftsführer anlangt, so ist dessen Bestellung, Abberufung und Kontrolle, folglich auch dessen Gängelung durch Gesellschafterweisungen Sache der GmbH-Gesellschafter (§ 46 Nrn. 5 und 6 GmbHG), also beileibe nicht der Kommanditisten. Demgemäß ist im Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch bei Barbara Grunewald 515
Karsten Schmidt
über die GmbH & Co. KG Folgendes zu lesen10: Die Geschäftsführer der Komplementär-GmbH seien nach dem Gesetz an Weisungen der GmbHGesellschafter, nicht aber der Kommanditisten gebunden. Die GmbH-Gesellschafter seien zwar, so Grunewald, gegenüber den Kommanditisten treupflichtgebunden11, aber sie blieben doch alleinige Inhaber des Weisungsrechts12. Ein etwaiges Weisungsrecht der Kommanditisten komme ohnedies nur in den durch § 164 HGB gezogenen Grenzen in Betracht und sei selbst in diesem Umfang abzulehnen13: „Die Bildung einer GmbH & Co. KG dient eben gerade auch dazu, den Einfluss der Kommanditisten auf die Geschäftsführung zurückzudrängen.“ Dieses Zitat dokumentiert eine keineswegs vereinzelte, vielmehr eine für die herkömmliche Sichtweise geradezu charakteristische Sicht der Dinge14. Die Verfassung der GmbH & Co. scheint durch ein konventionelles KG-Verständnis auf eine Dominanz der GmbH als der unbeschränkt haftenden und damit geschäftsleitenden Komplementärin zugeschnitten. b) Hier wird eine andere These vertreten: Die Rolle der KomplementärGmbH in der GmbH & Co. KG folgt typischerweise nicht dem konventionellen KG-Modell, sondern sie macht die Komplementär-GmbH zum bloßen Instrument einer personengesellschaftsrechtlichen Organisation. In dieser Eigenschaft nun hat die Komplementär-GmbH eine von der des HGBtypischen Komplementärs durchaus verschiedene Stellung: – –
entweder die Stellung eines abhängigen Werkzeugs der Kommanditisten (diese Lösung wird hier als „Integrationsmodell“ bezeichnet) oder die Stellung eines dominierenden Leitungsorgans der KG mit treuhänderischen Befugnissen und Pflichten (das ist das hier sog. „Zentralverwaltungsmodell“, sei es in Gestalt des „Vorstandsmodells“ oder des dualistischen „Aufsichtsratsmodells“).
Die Bedeutung des „Integrationsmodells“ und der mit ihm verbundenen Kräfteverteilung soll hier ausführlich entwickelt und erläutert werden, während das „Zentralverwaltungsmodell“ nicht umfassend, sondern nur vergleichend dargestellt werden kann. 5. Themenabgrenzung: Außerbetrachtlassung der Komplementär-GmbH als Konzernmutter oder Konzerntochter Die Untersuchung beschränkt sich auf den Bereich der „typischen“ GmbH & Co. KG. „Typisch“ im hier verstandenen Sinne ist jede GmbH & Co. KG, deren GmbH-Komplementärin ausschließlich um des gemeinsamen Zwecks
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Grunewald in MünchKomm.HGB, 2002, § 161 Rz. 69. Vgl. zum diesbezüglichen Streit Grunewald in MünchKomm.HGB, § 161 Rz. 65. Zum Folgenden vgl. wiederum Grunewald in MünchKomm.HGB, § 161 Rz. 69. Ebd. Vgl. nur Henze in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, Anh. A nach § 177a Rz. 66.
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der Kommanditgesellschaft in diese aufgenommen ist und weder Eigennoch Drittinteressen in der Kommanditgesellschaft zur Wirksamkeit verhilft. Als paradigmatische Varianten dieser „typischen“ GmbH & Co. KG werden sich einerseits die vollständig „verzahnte“ personalistische, anderseits die als Publikumsgesellschaft organisierte kapitalistische GmbH & Co. KG erweisen. a) Außer Betracht gelassen werden damit zunächst diejenigen GmbH & Co.Gestaltungen, die aus einem unternehmerischen Eigeninteresse der Komplementär-GmbH zustande kommen, etwa in Gestalt einer Tochter-KG, die von einer sie beherrschenden GmbH-Komplementärin als einer Gesellschaft mit eigenen Unternehmensinteressen (unternehmenstragende GmbH oder Holding-GmbH) gegründet und als konzernabhängige Personengesellschaft gesteuert wird15: Nachdem sich die vor Jahrzehnten vertretene Betrachtung jeder GmbH & Co. KG im Sinne eines von der GmbH beherrschten Konzerngebildes16 als eine gesellschaftlich unbegründete Doktrin verraten hat17, versteht sich, dass dies jedenfalls nicht das Bild „der“ GmbH & Co. KG sein kann. Erst die hier anzustellenden Überlegungen werden aber demonstrieren, wie überaus atypisch die – selbstverständlich begrifflich nicht ausgeschlossene – Konzernvariante der GmbH & Co. KG ist und warum es sich so verhält: gar nicht so sehr wegen des die deutsche Konzernrechtsdoktrin so sonderbar dominierenden Unternehmensbegriffs und der regelmäßig fehlenden Unternehmensqualität der Komplementär-GmbH18, sondern vor allem deshalb, weil überhaupt keine Rede davon sein kann, dass die GmbH schon aufgrund ihrer Komplementäreigenschaft herrschenden Einfluss in der Kommanditgesellschaft ausübt19! Vorerst sei jedenfalls festgehalten, dass die Komplementär-GmbH als Trägerin unternehmerischer Eigeninteressen atypisch und hier nicht zu untersuchen ist. b) Aus der Betrachtung ausscheiden muss auch die als Hebel für unternehmerische Drittinteressen dienende Komplementär-GmbH, insbesondere die
__________ 15 Nach der von Mülbert (in MünchKomm.HGB, 2002, Anhang KonzernR Rz. 10) in
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Anlehnung an den Bericht der Unternehmensrechtskommission formulierten Klassifizierung würde es sich um den „Typ A“ der beherrschten Personengesellschaft handeln: Abhängigkeit der Personengesellschaft von einer Komplementärin als herrschendem Unternehmen. Nachweise für diese vor allem mitbestimmungsrechtliche Diskussion bei Binz/ Sorg (Fn. 6), § 14 Rz. 49 ff. Hesselmann/Tillmann (Fn. 6), Rz. 349; Binz/Sorg (Fn. 6), § 14 Rz. 52. So aber die h. M.; vgl. nur Lange in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Anh. § 105 Rz. 5; Mülbert in MünchKomm.HGB, Anh. KonzernR Rz. 53; Martens in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl. 1992, Anh. § 105 Rz. 7 m. umfangreichen Nachw.; Mülbert (ebd. Rz. 54) bejaht Unternehmenseigenschaft eines Gesellschafters, wenn er an der GmbH und der KG beteiligt ist. Treffend jetzt auch Wiedemann (Fn. 1), S. 842 (erschienen nach Konzeption des vorliegenden Beitrags): „Verkürzt ausgedrückt, liegen die Dinge umgekehrt wie im Konzern: die GmbH dient, und die KG handelt.“
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ihrerseits konzernbeherrschte Komplementär-GmbH, die aus der Kommanditgesellschaft eine mittelbar konzernbeherrschte Personengesellschaft machen kann20. Auch diese Konstellation ist atypisch in dem Sinne, dass die Komplementärin nicht ausschließlich in dem Dienst des gemeinsamen Zwecks der Kommanditgesellschaft steht. Eine solche Gesellschaft folgt eben wegen dieser Drittsteuerung eigenen, nicht aus der Binnenstruktur der Kommanditgesellschaft erklärbaren, letztlich konzernrechtlichen Regeln. c) Auf der Grenze zwischen den hier behandelten und den auf unternehmerischen Außeneinfluss beruhenden Gestaltungen liegt der Fall der sternförmigen GmbH & Co. KG, bei der eine GmbH als Komplementärin mehrerer Kommanditgesellschaften eingesetzt wird21. Die sternförmige GmbH & Co. KG kann Züge eines Gleichordnungskonzerns mit der KomplementärGmbH als Konzernleitungsmedium gewinnen22. Spätestens dann scheidet auch sie aus den hier anzustellenden Betrachtungen aus23. In jedem Fall liegt in ihr die Gefahr des Dritteinflusses auch auf die Kommanditgesellschaft. Aus der Perspektive der hier besprochenen „typischen“ Varianten der GmbH & Co. KG ohne wirksame Eigeninteressen der Komplementär-GmbH liegt auch die sternförmige GmbH & Co. KG jedenfalls am Rande des Themas. 6. Präzisierung der Fragestellung Es geht bei den nachfolgenden Überlegungen also um eine Präzisierung der Kommanditistenrechte in einer GmbH & Co. KG, deren KomplementärGmbH – wie dies typisch ist – ausschließlich um des gemeinsamen Zwecks der KG willen geschaffen und nicht an deren Kapital beteiligt ist. Und es geht um die These, dass in einer solchen GmbH & Co. KG die Kommanditisten bestimmen („Integrationsmodell“), sofern nicht nach der gewählten Gestaltung ein „Zentralverwaltungsmodell“ eingerichtet worden ist.
II. Grundlagen 1. Ausgangspunkt a) Worauf beruhen die hier diskutierten Probleme? Ihr Grund liegt in dem Aufeinandertreffen zweier heterogener Organisationsmodelle als Bestandteile einer stimmigen Unternehmensorganisation. Es geht ja bei der GmbH
__________ 20 Es handelt sich dann um den Konzerntypus B i. S. von Mülbert in MünchKomm.
HGB, Anh. KonzernR Rz. 11. 21 Zur sternförmigen GmbH & Co. KG vgl. Karsten Schmidt in FS Wiedemann, 2002,
S. 1199 ff. 22 Eingehend ebenda (Fn. 21); nach Mülbert (in MünchKomm.HGB, Anh. KonzernR
Rz. 55) liegt immer ein Vertikalkonzernverhältnis mit der GmbH als herrschendem Unternehmen vor. 23 Über die dann anzustellenden Überlegungen vgl. ebenda (Fn. 22).
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& Co. KG um viel mehr als bloß um die zur Haftungsbeschränkung führende Zulassung einer juristischen Person als Komplementärin. Es geht um die Einfügung einer organisierten Rechtsperson (der GmbH) als vertretungs- und geschäftsführungsberechtigte Gesellschafterin einer organisierten Rechtsperson (der KG). Dieses Ineinandergreifen organisierter Rechtsträger ist das Geheimnis jeder GmbH & Co.-Organisation und der Schlüssel zu einer gelungenen GmbH & Co.-Verzahnung. Dieses Ineinandergreifen wirft aber auch – wie die Diskussion um die Binnenverfassung der GmbH & Co. KGaA vor der Jahrhundertwende demonstriert hat24 – ganz eigene organisationsrechtliche Probleme auf, die noch bei weitem nicht ausdiskutiert sind. Die Grundfrage ist: Inwieweit und mit welchen Folgen kann die Organisation der GmbH & Co. KG als Einheit begriffen, die Gewaltenteilung auf das Gesamtgebilde erstreckt und nicht auf zwei Gesellschaften zentriert werden? b) Grundlage der Verzahnung ist i. d. R. ein Ausschluss der KomplementärGmbH von der Beteiligung am Kapital der Kommanditgesellschaft25. Diese für jeden mit der Konstitution der GmbH & Co. nicht Vertrauten verwunderliche, aber für Praktiker schlicht normale Gestaltung verstößt nicht gegen das Prinzip der Selbstorganschaft, denn sie lässt das Miteinander von Mitgliedschaft, Haftung und organschaftlicher Vertretung unberührt26. Diese typische GmbH & Co.-Struktur verdeutlicht auf der einen Seite, dass sich die Mitgliedschaft der GmbH in der Kommanditgesellschaft typischerweise in ihrer organisationsrechtlichen Unentbehrlichkeit erschöpft27, anders gewendet: dass die Mitgliedstellung der GmbH in der Kommanditgesellschaft neben der Notwendigkeit, einen unentbehrlichen Vollhafter bereitzustellen, nur eine einzige Komponente hat: eine organisationsrechtliche, und zwar in aller Regel eine ausschließlich der Kommanditgesellschaft dienende. Auf der anderen Seite lässt diese Funktion die Frage entstehen, inwieweit das Innenrecht der GmbH & Co. KG als auf zwei Gesellschaften zerlegt und inwieweit es zu einem organisationsrechtlich konsolidierten Sinnganzen fortgedacht werden kann.
__________ 24 Vgl. nur Ihrig/Schlitt, Die KGaA nach dem Beschluss des BGH vom 24.2.1997, in
Ulmer (Hrsg.), Die GmbH & Co KGaA nach dem Beschluß BGHZ 134, 392, 1998, S. 33 (40 ff.). 25 Vgl. m. w. N. Priester in MünchKomm.HGB, 2004, § 120 Rz. 92, dass dies die Regel ist, bestreitet noch Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 291 ff. 26 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1630; Wiedemann (Fn. 1), S. 335. 27 Missverständlich Binz/Sorg (Fn. 6), § 4 Rz. 26: Die Regel könne nicht verhindern, dass das Gesellschaftsvermögen „gemeinschaftliches Vermögen der Gesellschafter“ sei, dürfe also „nicht missverstanden werden“. Dem ist zu widersprechen. Das „gemeinschaftliche Vermögen der Gesellschafter“ (§ 718 BGB) gehört nach heute gesicherter Auffassung der Personengesellschaft und nicht deren Gesellschaftern, also bestimmt nicht der GmbH.
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2. Die Organisation der GmbH & Co. KG als KG-zentrierte Organisation a) Im Fall der gewerblichen Kommanditgesellschaft (§ 161 Abs. 1 HGB) ist die Kommanditgesellschaft, nicht dagegen die Komplementärin, Trägerin des Unternehmens und damit Kaufmann i. S. der §§ 1 ff. HGB28. In der vermögensverwaltenden Kommanditgesellschaft (§§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 2 HGB) ist die Kommanditgesellschaft, nicht dagegen die Komplementär-GmbH, Inhaberin und Verwalterin des den Zweck der Gesellschaft bestimmenden Vermögens. Jede Organisation einer typischen GmbH & Co. KG wird damit im Dienste des gemeinsamen Zwecks der Kommanditgesellschaft stehen. Das gilt auch für die Komplementär-GmbH, die sich den gemeinsamen Zweck der Kommanditgesellschaft als deren Organisationselement gleichsam zu Eigen macht, womit allerdings die hier zu behandelnde Frage zunächst nur beleuchtet und noch nicht entschieden ist: Wo liegt die Herrschaft innerhalb dieser Organisation? Liegt sie, wie dies dem traditionellen Bild der Kommanditgesellschaft entspricht, bei der GmbH als der unbeschränkt haftenden Gesellschafterin oder bei den Kommanditisten als den Trägern der den gemeinsamen Zweck der Gesellschaft konstituierenden Interessen? Anders gesagt: Können die Kommanditisten ihre Interessen in Bezug auf die Geschäftsführung nur durch Beteiligung auch an der GmbH zum Tragen bringen, oder beherrschen sie die Unternehmensorganisation auch „als solche“, also kraft ihrer Kommanditistenrechte? Oder, noch einfacher: Stehen den Kommanditisten Weisungsbefugnisse zu? b) Dass auch die gegenwärtige Praxis eine einheitliche Sicht der GmbH & Co. KG nicht außer Betracht lässt, ist aus der Organhaftungsrechtsprechung abzulesen. Diese lässt eine Vertragshaftung des Geschäftsführers unmittelbar zugunsten der Kommanditgesellschaft wirken29, und dasselbe hat auch für die gesetzliche Haftung aus § 43 GmbHG zu gelten30. Der Geschäftsführer ist in der typischen GmbH & Co. KG nicht nur unmittelbares Organ der Komplementär-GmbH, sondern zugleich mittelbarer – durch die Doppelorganisation der GmbH & Co. KG vermittelter – Träger der durch die GmbH
__________ 28 Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, S. 103; die bloße Formkaufmanns-
eigenschaft der Komplementär-GmbH ist hier ohne Interesse. 29 Dazu BGHZ 75, 321 (Publikumsgesellschaft); BGHZ 76, 326 (337 f.); BGH, NJW-RR
2002, 965; Binz/Sorg (Fn. 6), § 8 Rz. 11 ff.; Hesselmann/Tillmann (Fn. 6), Rz. 288; Henze in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Anh. A nach § 177a Rz. 206. 30 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1649; ders., GmbHR 1984, 272, 279; Sudhoff/Breitfeld (Fn. 5), § 15 Rz. 112 (wo der Verfasser unrichtig als Kritiker der von ihm wesentlich mitgetragenen Auffassung eingeordnet wird); Konzen, NJW 1989, 2977 (2984); a. M. (nämlich für Anwendung der §§ 309 Abs. 2, 317 Abs. 3, 323 Abs. 1 Satz 2 AktG) Krebs, Geschäftsführungshaftung bei der GmbH & Co. KG und das Prinzip der Haftung für sorgfaltswidrige Leitung, 1991; es geht aber gerade nicht um den Geschäftsleiter einer die KG beherrschenden Dritt-Gesellschaft, sondern um die Tätigkeit des Geschäftsführers als mittelbares Organ der Kommanditgesellschaft.
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gleichsam nur durchgeleiteten Organverantwortlichkeit31. Das kann nicht ohne Einfluss auch auf die Rechte der Kommanditisten sein. 3. Änderungen im Rechtsbild der Kommanditgesellschaft und im Verständnis der Kommanditbeteiligung a) Gesetzeshistorisch teilt die Kommanditgesellschaft – bis heute erkennbar bei einem Vergleich der §§ 166 und 233 HGB – ihre Wurzeln mit der stillen Gesellschaft32. Die Verfasser des ADHGB und des HGB stellten sich den Kommanditisten noch als einen unternehmensfernen Kapitalgeber ohne partizipatorischen Einfluss vor33. Nun ist das Innenrecht der Kommanditgesellschaft bekanntlich dispositiv34. Die Kommanditistenrechte können also vertraglich erweitert werden, und bekannt ist auch, dass die Rechte der Kommanditisten unabhängig von der Vertragsgestaltung institutionell durch Rechtsfortbildung gefestigt worden sind: Anzuerkennen ist ein dem § 51a GmbHG weitgehend angenähertes Informationsrecht der Kommanditisten über alle Angelegenheiten der Gesellschaft35. Anerkannt und vom Bundesgerichtshof bestätigt ist vor allem auch ihre gesetzliche – zwar nicht im Gesetzestext zum Ausdruck gelangte, aber doch von einer Vertragsregelung unabhängige – Beteiligung an der Bilanzfeststellung36. Diese Entwicklung leuchtet unmittelbar ein, und zwar vollends im Fall einer GmbH & Co. KG. Ein den Komplementär und die Kommanditisten umfassender Mitunternehmerkreis lässt den Komplementär bestenfalls noch als primus inter pares erscheinen. Und wenn der Komplementär, weil ohne Kapitalanteil und ohne Stimmrecht an der Kommanditgesellschaft beteiligt, wirtschaftlich wie ein Fremdgeschäftsführer agiert, kann sogar ernsthaft die Frage gestellt werden, wieviel selbst noch vom primus inter pares übrig bleibt. In diesen aus heutiger Sicht eigentlich selbstverständlichen Fortentwicklungen und Fragestellungen kommt – und zwar unabhängig von der personalistischen oder kapitalistischen Ausgestaltung einer Kommanditgesellschaft – ein neues Verständnis der Kommanditistenrolle zum Ausdruck. Die Kommanditisten sind vollbürtige Mit-Träger der sie und den Komplementär vereinigenden Organisation. Damit stellt sich die Frage der Gewaltenteilung
__________ 31 Vgl. auch BAG, AP Nr. 58 zu § 5 ArbGG 1979 = NJW 2003, 3290. 32 Angaben bei Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1531 f. 33 Lutz, Protokolle der Kommission zur Beratung eines allgemeinen deutschen Han-
delsgesetzbuches, 1858 ff., S. 1077. 34 Statt aller Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 161 Rz. 7. 35 Str.; vgl. die Angaben bei Fleck in FS Semler, 1993, S. 115 (122 f.); zum Standpunkt
des Verfassers Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1541. 36 BGHZ 132, 263 = NJW 1996, 1678; OLG Karlsruhe, DB 1995, 264; Baumbach/Hopt
(Fn. 34), § 164 Rz. 3; Priester in MünchKomm.HGB, § 120 Rz. 74; ders. in FS Quack, 1991, S. 380 ff.; vgl. bereits Ulmer in FS Hefermehl, 1976, S. 207 ff.; SchulzeOsterloh, BB 1980, 1402.
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selbst schon für die traditionelle Kommanditgesellschaft mit natürlichem Komplementär neu. b) Diese sich allmählich durchsetzende Erkenntnis geht in rechtstatsächlicher Hinsicht einher mit der nun schon fast 100-jährigen Öffnung des Kommanditgesellschaftsrechts für die Verwendung einer GmbH-Komplementärin und wurde ihrerseits durch die faktische Häufigkeit der GmbH & Co. befördert. Die theoretische Neubesinnung kann ebenso wie die praktische Etablierung der GmbH & Co. KG als Basis eines zunehmend instrumentellen Verständnisses der Komplementär-GmbH im Sinne einer bloßen Dienerin der von den Kommanditisten getragenen Organisation verstanden werden. In der GmbH & Co. KG kann die Komplementär-GmbH in die Rolle eines juristisch personifizierten angestellten Komplementärs37 verwiesen sein. Bei der personalistischen GmbH & Co. KG muss dies, wie gezeigt werden soll, geradezu als die Regel gelten. c) Parallel mit dieser in erster Linie beim Rechtsverständnis der GmbH & Co. KG ansetzenden allmählichen Neubesinnung verlief nun bekanntlich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein gleichfalls lehrreicher – rein steuerlich induzierter und aus diesem Grunde ökonomisch dubioser – rechtstatsächlicher Prozess: die Verbreitung der Publikumspersonengesellschaften, die i. d. R. gleichfalls als GmbH & Co.-Kommanditgesellschaften verfasst waren38. Soweit auch bei ihnen die GmbH keinen anderen Zweck hat als den der Steuerung einer einzigen Kommanditgesellschaft, sind auch diese sonst als „atypisch“ geltenden kapitalistischen GmbH & Co.-Kommanditgesellschaften „typisch“ im hier unter I. 5 beschriebenen Sinn. Auch in ihnen hat die Komplementär-GmbH eine ausschließlich den Kommanditisteninteressen dienende, nun allerdings die körperschaftlich strukturierte Kommanditgesellschaft selbständig steuernde Leitungsfunktion. So wurden die Publikumsgesellschaften bestimmend für das hier sog. „Zentralverwaltungsmodell“. 4. Grenzen der Geschäftsführungskompetenz in der Personengesellschaft: Grundlagengeschäfte, außergewöhnliche Geschäfte und Organisationsmaßnahmen a) Es geht um die Gewaltenteilung in der GmbH & Co. KG. Das OLG München hat im Ausgangsfall die Zuständigkeit der Kommanditisten für die Entscheidung über die Geschäftsführerbestellung in der Komplementär-GmbH aus den §§ 116 Abs. 2, 164 HGB abgeleitet, wonach außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen nicht nur einem Widerspruchsrecht der Kom-
__________ 37 Vgl. zum „angestellten Komplementär“ RGZ 169, 105; BFH, BStBl. II 1987 S. 33
(34); Huber (Fn. 25), S. 290. 38 Vgl. zur GmbH & Co. als Publikumsgesellschaft Sudhoff/Liebscher (Fn. 5), § 3
Rz. 25 ff.
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manditisten unterliegen39, sondern ihrer Zustimmung bedürfen40. Ob es sich bei der Berufung und Abberufung von Geschäftsführern in der Komplementär-GmbH überhaupt um den Geschäftsführungsbereich der Kommanditgesellschaft handelt, mag man füglich bezweifeln. Die Frage hängt mit der schwierigen Abgrenzung des geschäftsführungsfreien Innenbereichs der Personengesellschaft zusammen. Dieser Entscheidungsbereich wird von manchen den außergewöhnlichen Geschäften i. S. von § 116 Abs. 2 HGB zugeordnet41, von der inzwischen wohl herrschenden Auffassung dagegen zu einer ganz außerhalb des Geschäftsführungsbereichs angesiedelten Sonderkategorie ausgebildet42. Grundlagengeschäfte der Personengesellschaft liegen dagegen unstreitig außerhalb der Geschäftsführung, sind also ebenso wenig außergewöhnliche wie gewöhnliche Geschäfte43. Hierher gehören namentlich Maßnahmen, die das Rechtsverhältnis unter den Gesellschaftern zum Gegenstand haben und vom Gesellschaftszweck nicht gedeckt sind44. Darum handelt es sich bei der Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern der Komplementär-GmbH jedoch ebenso wenig wie um gewöhnliche oder außergewöhnliche Geschäfte der Kommanditgesellschaft. Und auch die den Geschäftsführern zu erteilenden Weisungen mögen zwar Geschäftsführungsmaßnahmen betreffen, stellen aber selbst keine Geschäftsführungsakte dar. Wie viel der vom OLG München entschiedene Ausgangsrechtsstreit mit § 116 HGB zu tun hat, scheint hiernach zweifelhaft. b) Unser Gesetzgeber hat auf das Innenrecht der Personengesellschaften wenig Sorgfalt verwendet45. Das Gesetz handelt in § 116 HGB von den Grenzen der Geschäftsführung und ordnet in § 116 Abs. 2 HGB an, dass der geschäftsführende Gesellschafter zur Vornahme von Handlungen, die über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes hinausgehen, eines Beschlusses der Gesellschafter bedarf. Die herkömmlich für außergewöhnliche Geschäfte genannten Beispiele lassen allerdings die Frage aufkommen, ob hier nicht immer noch Ebenen vermischt werden46. Zweckmäßiger sollte unterschieden werden zwischen:
__________ 39 Nur von diesem Widerspruchsrecht spricht § 164 Satz 1 HGB. 40 RGZ 158, 302 (307); OLG München, DB 2004, 866 (867); Karsten Schmidt (Fn. 1),
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S. 1538; Baumbach/Hopt (Fn. 34), § 164 Rz. 6; Grunewald in MünchKomm.HGB, § 164 Rz. 10. So bisher noch Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1392. Vgl. etwa BGHZ 76, 160 (164); Baumbach/Hopt, HGB, § 114 Rz. 3, § 116 Rz. 3, § 164 Rz. 4. Vgl. nur Baumbach/Hopt, HGB, § 146 Rz. 3; Jickeli in MünchKomm.HGB, 2004, § 116 Rz. 6; v. Gerkan in Röhricht/v. Westphalen, HGB, 2. Aufl. 2001, § 164 Rz. 6. Vgl. Ulmer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1999, § 114 Rz. 15 f., § 116 Rz. 8. Näher Schubel, Verbandssouveränität und Binnenorganisation der Handelsgesellschaften, 2004, S. 417 ff. Vgl. nur die Beispiele bei Ulmer in Großkomm.HGB, § 116 Rz. 12, darunter der Abschluss eines Betriebsführungsvertrags und die Betriebsstilllegung.
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außergewöhnlichen Geschäften: sie liegen außerhalb der Geschäftsführungsbefugnis, wenn auch innerhalb der Vertretungsmacht der Komplementärin47; Grundlagengeschäften mit vertragsänderndem oder doch faktisch vertragsänderndem Charakter: sie können ohne Mitwirkung der Gesellschafter nicht vollzogen werden48; Organisationsmaßnahmen: sie liegen vollends außerhalb der Geschäftsführungsbefugnis49.
c) Die Bestellung oder Abberufung eines Geschäftsführers ist – ebenso wie die Beschlussfassung über Weisungen und Kontrollmaßnahmen – sicherlich ein Organisationsakt. Dass das Gesetz dies so sieht, zeigt § 46 Nrn. 5 und 6 GmbHG, nur eben bezogen auf die GmbH! Aber auch mit Bezug auf die Kommanditgesellschaft ist dies weder eine gewöhnliche noch eine außergewöhnliche Maßnahme und gewiss auch kein den Status der Gesellschafter änderndes Grundlagengeschäft. Die Frage kann also nur sein, ob wir es mit einem Organisationsakt zu tun haben, für den die Kommanditisten zuständig sind und in welchem Sinne sie hierfür zuständig sind. Die Frage ist damit ihrerseits wieder ein Organisationsproblem. 5. Die GmbH als pflichtgebundenes Organ der GmbH & Co. KG a) Dies führt zu den bereits eingangs angedeuteten Überlegungen zurück: Wer, der Legalordnung folgend, das GmbH & Co.-Phänomen auf die schulmäßige Feststellung reduziert, Komplementärin einer Kommanditgesellschaft könne auch eine GmbH sein, wird zu der Einschätzung gelangen, die Komplentär-GmbH regiere nach dem Prinzip der Selbstorganschaft die GmbH & Co. KG, weil sie deren Komplementärin ist50. Wesentlich für die Binnenverfassung der typischen GmbH & Co. KG ist aber die Feststellung, dass die GmbH ihren Platz in der Kommanditgesellschaft nur um der Kommanditisteninteressen willen innehat und ihre Organisation – den Geschäftsführer eingeschlossen – in den Dienst der KG und ihrer Kommanditisten stellen muss. In dieser Eigenschaft teilt sie ihre Kompetenzen mit denen der Kommanditisten. Es fragt sich nur: wie?
__________ 47 Statt aller Baumbach/Hopt, HGB, § 116 Rz. 7. 48 Baumbach/Hopt, HGB, § 126 Rz. 3; Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB,
§ 126 Rz. 7 ff.; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2004, § 126 Rz. 10; Habersack in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1997, § 126 Rz. 12. 49 Unklar Jickeli in MünchKomm.HGB, § 116 Rz. 33. 50 Prinzipaler Inhalt des Prinzips der Selbstorganschaft ist nicht der Ausschluss der Kommanditisten und Dritter von der Organkompetenz, sondern die Rechtsregel, dass eine Personengesellschaft Organe nicht durch „Bestellung“, als durch Rechtsakt, „erhält“, sondern „hat“; Karsten Schmidt in GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 3 ff.
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b) Nochmals sei deshalb an den hier unternommenen Versuch erinnert, die Varianten der typischen GmbH & Co. KG mit kapitalanteilloser Komplementärin auf zwei funktionell gegensätzliche Grundmodelle zurückzuführen: –
Der hier als „Integrationsmodell“ bezeichnete GmbH & Co.-Typus zielt auf eine Gestaltung, in der das Nebeneinander verschiedener Rechtsträger so wenig wie möglich spürbar ist. Herren im Haus sind die Gesellschafter als Interessenträger, ohne dass es groß darauf ankäme, ob „als Kommanditisten“ oder „als GmbH-Gesellschafter“. Das aber bedeutet: Die Kommanditisten sind Herren im Haus (dazu unter III.).
–
Als krasses Gegenstück steht dem das hier sog. „Zentralverwaltungsmodell“ gegenüber. Nach ihm regiert in der Tat die GmbH das Unternehmen, allerdings in Ausübung treuhänderischer Rechte und Pflichten im Interesse der Gesamtheit der Kommanditisten („Vorstandsmodell“ oder „Aufsichtsratsmodell“).
Diese Varianten der verzahnten GmbH & Co. KG werden einander hier weniger um ihrer selbst willen gegenübergestellt als vielmehr mit dem Ziel, Einsichten in die typische Binnenstruktur der GmbH & Co. zu gewinnen. Die beiden Varianten können und sollen auch keine Ausschließlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Die Vertragsfreiheit lässt selbst noch bei der „typischen“ GmbH & Co. KG ins Unendliche weisende Gestaltungsmöglichkeiten zu. Die beiden hier präsentierten Gestaltungsvarianten müssen auch nicht rein auftreten, etwa in dem Sinne, dass das „Integrationsmodell“ auf personalistische, das „Zentralverwaltungsmodell“ dagegen auf Publikumspersonengesellschaften beschränkt angesehen werden müsste, obwohl das typischerweise so ist. Themenbestimmend ist der Gegensatz „Integrationsmodell“/„Zentralverwaltungsmodell“, und gemeinschaftlich ist beiden die Ausrichtung auf die Kommanditisteninteressen. Was die Modelle trennt, ist das „Wie“ der Kommanditistenbefugnisse.
III. Das Integrationsmodell unter der Dominanz der Kommanditisten 1. Die typische gesellschafteridentische GmbH & Co. KG a) In der typischen gesellschafteridentischen GmbH & Co. wird für organisationsrechtliche Homogenität vor allem durch den folgenden Kanon von Gestaltungslösungen gesorgt51: –
Ausschließung der GmbH von der Beteiligung am Festkapital der Kommanditgesellschaft;
__________ 51 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1644, 1647; ders. in Steuerrecht und Gesellschaftsrecht
als Gestaltungsaufgabe, Freundesgabe Haas, 1996, S. 313 ff.
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Sicherung der verhältniswahrenden Beteiligung jedes Gesellschafters der GmbH auch als Kommanditist und jedes Kommanditisten auch als Gesellschafter der GmbH, und zwar unter Einschluss künftigen Anteilsübergangs unter Lebenden oder von Todes wegen;
–
Einführung von Mehrheitsbeschlüssen im Gesellschaftsvertrag der Kommanditgesellschaft mit Stimmrechten nach Maßgabe der Festkapitalanteile und mit identischen Mehrheitserfordernissen bei der GmbH und bei der KG;
–
Gewährleistung von Simultanversammlungen bei der GmbH und KG;
–
Annäherung der für fehlerhafte Beschlüsse geltenden Regeln durch Einführung von Klagrechten der Gesellschafter gegen die Gesellschaft und von Verfristungsregeln für die Geltendmachung von Anfechtungsgründen in der GmbH sowie auch in der Kommanditgesellschaft;
–
Implementierung des in § 51a GmbH geregelten – und verfahrensrechtlich verbesserten! – Informationsrechts in den KG-Vertrag.
b) Eine dergestalt „verzahnte“ GmbH & Co. lässt sich auf denkbar einfache Weise steuern. Kontroversen wie die unseres Ausgangsfalls sind ausgeschlossen. Außer im handgreiflich einfachen Fall separater Bilanzfeststellung werden die Gesellschafter in der Versammlung überhaupt nicht mit der Frage beschwert, ob sie bei einzelnen Maßnahmen oder Beschlüssen gerade als Kommanditisten oder als GmbH-Gesellschafter agieren52. Eigentlich kommt es hierauf erst an, wenn gerichtliche Schritte unternommen werden sollen. Die in einem solchen Fall notwendige Unterscheidung beider Gesellschaften beruht teilweise darauf, dass die herrschende Auffassung eine vollständige Anpassung des Beschlussanfechtungsrechts in der KG an das GmbH-Recht aus – doch wohl falsch verstandenen53! – rechtsdogmatischen Erwägungen nicht zulässt54, und dass das besondere FGG-Auskunftserzwingungsverfahren nach §§ 51b GmbHG, 132 AktG für die GmbH zwingend, für die Kommanditgesellschaft dagegen nicht einmal durch ausdrückliche Vertragsgestaltung herbeiführbar ist55. Es muss deshalb in Streitfällen dieser Art sorgsam zwischen den Verfahren eines GmbH-Gesellschafters gegen die GmbH und den Verfahren unter den Kommanditisten bzw. bei entsprechender Vertragsregelung gegen die KG unterschieden werden, und auch die in diesem Verfahren zu stellenden Anträge sind nach herrschender Auffassung bei der Geltendmachung von Beschlussmängeln und bei der Durchsetzung von Informa-
__________
52 Dass damit die Versammlungen nicht de iure verschmolzen sind, betont mit Recht
Wiedemann (Fn. 1), S. 842. 53 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 447 ff.; ders. in FS Stimpel, 1985, S. 217 ff.; zust. jüngst
Enzinger in MünchKomm.HGB, 2004, § 119 Rz. 98 f., 106 ff. 54 Vgl. jüngst wieder Wiedemann (Fn. 1), S. 324; Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl.
2004, § 709 Rz. 113 f. 55 Zur Informationsdurchsetzung in der GmbH & Co. vgl. Sudhoff/Schlitt (Fn. 5),
§ 24 Rz. 51 f.; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2003, § 51b Rz. 33 ff.
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tionsrechten verschieden. Das sind, gemessen am Ziel vollständiger Homogenität der Unternehmensverfassung, störende Schönheitsfehler. Die Praxis kann diese verkraften, denn spätestens in dem Stadium, von dem hier die Rede ist, kommt anwaltliche Kompetenz zum Zuge. Außerhalb dieses forensischen Bereichs bewahrt die Gestaltung die Gesellschafter dagegen vor Fallstricken und Stolpersteinen. c) Damit erspart uns die sorgsam verzahnte gesellschafteridentische GmbH & Co. KG auch jedes Nachdenken über die schwierige Frage, aufgrund welchen organisationsrechtlichen Titels die Mehrheitskommanditisten in der Gesellschaft zu sagen haben: in ihrer Eigenschaft als GmbH-Gesellschafter oder vielleicht schon in ihrer Eigenschaft als Kommanditisten? Dieser Frage aus dem Wege zu gehen, ist ein sinnvolles Ziel der Vertragsgestaltung und letztlich der Hauptvorteil der gesellschafteridentischen GmbH & Co. KG. Die Gesellschafter sollen eben nicht ständig über GmbH-Gesellschafterrechte und Kommanditistenrechte raisonieren. Im vorliegenden Beitrag soll es demgegenüber um Klarheit im Grundsätzlichen gehen, auf die es bei der perfekt verzahnten gesellschafteridentischen GmbH & Co. KG nicht ankommt. 2. Die „Kommanditgesellschaft auf Einlagen“: überholt und doch lehrreich Überflüssig wäre die perfekte Verzahnung der Kommanditgesellschaft mit ihrer Komplementär-GmbH nach dem vor drei Jahrzehnten vom „Arbeitskreis GmbH-Reform“ dem Gesetzgeber empfohlenen Modell einer „Kommanditgesellschaft auf Einlagen“ gewesen. Mit diesem rechtspolitischen Vorschlag sollte das vermeintliche Ärgernis der GmbH & Co. KG durch die neue Rechtsform einer „Kommanditgesellschaft ohne Komplementär“ ersetzt werden, die die Kommanditistenhaftung (§§ 171 f. HGB) mit einer die GmbH ersetzenden Kapitalsicherung verbinden sollte56. Rechtspolitisch war der Vorschlag ein glatter Misserfolg57, dies aber nicht, weil er so unvernünftig, sondern weil er bei aller intellektuellen Eleganz überflüssig war. Der Sache nach wäre er auf die Ersetzung der GmbH & Co. KG durch ein echtes Homogenitätsmodell in Gestalt einer neuen Rechtsform hinausgelaufen: auf eine Personengesellschaft mbH. Eine solche Rechtsform wurde indes nicht gebraucht, weil sie sich darin erschöpft hätte, das akademisch Unbefriedigende einer gewachsenen Gestaltungspraxis zu beheben. Für eine solche Schönheitsreparatur hat sich der Gesetzgeber nicht hergegeben. Aus heutiger Sicht bleibt aber der rechtspolitische Vorschlag trotz seines Misserfolgs lehrreich, denn er demonstriert, worauf jede homogen ausgelegte GmbH & Co. KG nach dem Willen der Gründer hinausläuft: auf eine Gewalten- und Arbeitsteilung zwischen dem exekutiv tätigen Management und
__________
56 Arbeitskreis GmbH-Reform, Die Handelsgesellschaft auf Einlagen. Eine Alterna-
tive zur GmbH & Co. KG, 1971; dazu Barz, NJW 1972, 465; Schilling, BB 1972, 3; Westermann, ZRP 1972, 93. 57 Dazu Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1624.
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den die Gesellschaft tragenden Kommanditisten, kurz: auf eine Annäherung der Kommanditistenrechte an die Rechte von GmbH-Gesellschaftern. 3. Die Einheits-GmbH & Co.: überflüssig und doch lehrreich a) Überkonstruiert und in der Bewährung nicht wirklich gleichwertig ist die gleichfalls dem Zweck totaler Integration dienende sog. Einheitskommanditgesellschaft, also die Gestaltung einer GmbH & Co. KG mit alleiniger Beteiligung der Kommanditgesellschaft am Vermögen der GmbH58. Geschaffen, um die durch die Wahl der GmbH & Co.-Form selbst herbeigeführte innere Entzweiung der Handelsgesellschaft im Handstreich zu überwinden59, hat diese Gestaltung ihre Bewährungsprobe bisher nicht bestanden. Sie generiert nämlich mindestens so viele neue Probleme wie sie alte Probleme beseitigen sollte60. Nicht verschwiegen sei zwar, dass auch diese unwillkommenen Rechtsprobleme bei perfektionistischer Vertragsgestaltung vermieden werden können61, so dass neuerdings wieder für diese Gestaltungsvariante plädiert wird62. Richtig ist, dass die Einheitsgesellschaft den Integrationswillen in der typisch personalistischen GmbH & Co. zur Geltung bringt. b) Die rechtliche Zulässigkeit der Einheitsgesellschaft steht außer Frage63. Ob ihre Legalität durch § 172 Abs. 6 Satz 1 HGB (keine Enthaftung der Kommanditisten durch Einbringung der Anteile an der KomplementärGmbH) und § 264c Abs. 1 Satz 1 und 2 HGB (Ausweis der von der KG gehaltenen GmbH-Anteile in der Bilanz) verbindlich beglaubigt wird, wie dies die herrschende Auffassung annimmt64, mag man bezweifeln (es könnte sich um rein vorsorgliche gesetzliche Schutzregeln handeln), aber das Ergebnis steht fest. Fest steht auch, dass die mit einer Einheits-GmbH & Co. KG bezweckte Vereinfachung dem Homogenitätsbedürfnis in der personalistischen GmbH & Co. KG mindestens ebenso entspricht wie eine komplizierte Vollverzahnung von GmbH-Satzung und KG-Vertrag. Es ist denn auch nicht die Unzulässigkeit, sondern die Unzweckmäßigkeit der Gestaltung, die von der Einheitsgesellschaft abraten lässt.
__________ 58 Vgl. zu dieser Gestaltung etwa Binz/Sorg (Fn. 6), § 7 Rz. 1 ff.; Hesselmann/
Tillmann (Fn. 6), Rz. 115, 131 ff.; Sudhoff/Liebscher (Fn. 5), § 3 Rz. 70 ff. 59 Vgl. Schilling in FS Kunze, 1969, S. 189 ff.; ders. in FS Barz, 1974, S. 72 f. 60 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1637. 61 Ebenda (Fn. 60); Verf. wird der Einheitsgesellschaft nochmals an anderer Stelle nach-
gehen. 62 Binz/Sorg (Fn. 6), § 7 Rz. 40; eingehend Hahn, Die Beschlussfassung in der GmbH
& Co. KG als Einheitsgesellschaft, 2004, passim. 63 Zuletzt Wiedemann (Fn. 1), S. 837; eingehend Mertens, NJW 1966, 1049 ff.;
Schilling in FS Barz (Fn. 59), S. 67 ff.; Esch, BB 1991, 1129; a. M. noch Gonella, DB 1965, 1165 ff. 64 Vgl. nur Baumbach/Hopt, HGB, Anh. § 177a Rz. 8; Grunewald in MünchKomm. HGB, § 161 Rz. 95.
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Um die Unzweckmäßigkeit der Einheits-GmbH & Co. darzutun, braucht man nicht einmal das Standardbeispiel der Entlastung des GmbH-Geschäftsführers zu berufen65, bei der jedes Stimmrecht ruhen müsste, wenn die KG bei seiner Ausübung als Gesellschafterin der GmbH durch diese selbst und die GmbH ihrerseits durch den Geschäftsführer vertreten würde (§ 47 Abs. 4 GmbHG)66. Vielmehr müsste für jeden Grundlagenbeschluss und für jeden unter § 46 Nrn. 5 und 6 GmbHG fallenden Beschlussgegenstand in der GmbH das vom Geschäftsführer auszuübende Stimmrecht ruhen67, wenn man es nicht den Kommanditisten zufallen lassen will. Eine solche Beschlusskompetenz der Kommanditisten ist die sachgerechte Lösung68. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass die Kommanditisten nicht GmbHGesellschafter, also nach dem Gesetz nicht zur Ausübung des Stimmrechts berufen sind. Denn Alleingesellschafterin der GmbH ist die ihrerseits mit der GmbH als Leitungsorgan ausgestattete, also mittelbar vom Geschäftsführer vertretene Kommanditgesellschaft69. Die Zwickmühle ist unübersehbar. c) Die Lösungsvorschläge sind unterschiedlich und können hier nicht ausdiskutiert werden. Sie reichen von der Ersetzung der GmbH-Gesellschafterversammlung durch eine Einheitsversammlung der KG und der GmbH70 über eine de facto gleichartige Ermächtigung der Kommanditisten zur einheitlichen Ausübung des KG-Stimmrechts in der GmbH71. Eine solche Aus-
__________ 65 Dazu statt aller Sudhoff/Liebscher (Fn. 5), § 3 Rz. 9; Bülow, GmbHR 1982, 121. 66 Vgl. Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, § 47 Rz. 155 m. w. N.; der Stimm-
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rechtsausschluss bei Stimmausübung aus fremdem Recht wird in wunderlicher Weise verkannt bei Fleck in FS Semler (Fn. 35), S. 115 (121, 125); Fleck hält die Selbstentlastung eines Alleingeschäftsführers offenbar nur faktisch für uninteressant, die wechselseitige Entlastung durch mehrere Geschäftsführer offenbar nur faktisch für unwahrscheinlich (so wohl auch Grunewald in MünchKomm.HGB, § 161 Rz. 98); die Bedeutung der Gesamtverantwortung auch mehrerer Geschäftsführer für § 47 Abs. 4 GmbHG scheint ihm vollständig entgangen zu sein; eine ausdrückliche Auseinandersetzung findet sich bei Binz/Sorg (Fn. 6), § 7 Rz. 11: Das Beispiel der Einpersonen-GmbH zeige, dass § 47 Abs. 4 GmbHG nicht zum Zuge komme. Aber bei der Einpersonen-GmbH besteht vollständige Konvergenz der Interessen nur, wenn der Alleingesellschafter auch Geschäftsführer ist. So in der Tat Fleck in FS Semler (Fn. 35), S. 115 (121). Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1637; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, Anh. § 45 Rz. 59. Esch (BB 1991, 1129 [1131 f.]) will die GmbH von der Vertretung bei der Stimmrechtsausübung ausschließen und die Vertretung den Kommanditisten überlassen; für Disposivität des § 170 HGB auch Lüdicke in Der Fachanwalt für Steuerrecht im Rechtswesen, 1999, S. 323 (326); anders die h. M. So namentlich Schilling in FS Barz (Fn. 59), S. 67 (71 ff.); vgl. auch Knur, DNotZ 1964, 703; Fetsch, DNotZ 1969, Sonderheft, S. 127 f.; Esch, BB 1991, 1131 f.; entgegen Grunewald (in MünchKomm.HGB, § 161 Rz. 99) ist dies nicht die Auffassung von Sudhoff/Liebscher (Fn. 5), § 3 Rz. 11. Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 1637; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, Anh. § 45 Rz. 59.
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fallkompetenz der Kommanditisten kann nach Auffassung des Verfassers jedenfalls in den Fällen eines Stimmrechtsausschlusses des GmbH-Geschäftsführers sogar ohne gesellschaftsvertragliche Bestimmung als gewollte Regelordnung unterstellt werden72. Soweit das Schrifttum solche Abhilfe ablehnt, bleibt nur eine Befugnis der Kommanditisten, ihrer KomplementärGmbH Weisungen zur Ausübung des Stimmrechts in der KomplementärGmbH zu geben73, eine Lösung, die schwerlich als Beleg für die Funktionstüchtigkeit der Einheitsgesellschaft herangezogen werden kann74. d) Genau aus diesem Grund ist das Modell der Einheitsgesellschaft, so wenig zu dieser Gestaltung zu raten ist, eben doch lehrreich. Es zeigt, dass die Bestellung, Abberufung oder Entlastung des GmbH-Geschäftsführers ebenso wie Aufsichtsentscheidungen und Weisungsbeschlüsse Angelegenheiten auch der KG-Organisation sind, denn indem die KG als Gesellschafterin die Rechte aus § 46 Nr. 5 u. 6 GmbHG ausübt, nimmt sie gleichzeitig eigene Angelegenheiten wahr75. Die um die Einheits-GmbH & Co. KG kreisenden Empfehlungen lassen erkennen, wie nah die Kommanditisten der Geschäftsführung bei der typischen GmbH & Co. KG sind. Zwischen sie und den Geschäftsführer schiebt sich nur formell die Komplementär-GmbH als eine ausschließlich im Dienste der Kommanditgesellschaft mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete persona ficta. Gleichzeitig macht die Betrachtung der Einheits-GmbH & Co. KG erkennbar, wo das durch diese Konstruktion erfolglos überspielte rechtskonstruktive Problem unserer Frage liegt: Sind die Kompetenzen der Kommanditisten gegenüber der Geschäftsführung ihrer GmbH-Komplementärin nur mittelbarer oder sind sie unmittelbarer Art? 4. Die typische personalistische GmbH & Co. KG als Kommanditgesellschaft mit abhängigem Fremdgeschäftsführer: Gibt es den organisationsrechtlichen Durchgriff? a) Wenn die hier angestellten Beobachtungen richtig sind, dann erweist sich die Komplementär-GmbH in der typischen personalistischen GmbH & Co. KG als en quelque façon nulle: Sie spielt in dem Gewaltenteilungsprogramm der Kommanditgesellschaft keine materiale Rolle und ist als Komplementärin nur eingeschaltet, um sich als corporate veil schützend vor den sonst als Komplementär persönlich haftenden Geschäftsführer zu stellen. Dieser leitet die Geschäfte der unternehmenstragenden bzw. vermögensverwaltenden Kommanditgesellschaft76, ist ihr ebenso wie der GmbH per-
__________ 72 Ebenda (Fn. 71); krit. Grunewald in MünchKomm.HGB, § 161 Rz. 98. 73 So Binz/Sorg (Fn. 6), § 7 Rz. 12; Fleck in FS Semler (Fn. 35), S. 115 (136) (obendrein
unter der Voraussetzung einer entsprechenden Regelung im KG-Vertrag). 74 So aber Fleck, ebenda (Fn. 73). 75 So auch Hahn (Fn. 62), S. 49 (55). 76 Vgl. BAG, AP Nr. 58 zu § 5 ArbGG 1979 = NJW 2003, 3290.
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sönlich aus § 43 GmbHG verantwortlich77 und wird nur aus formellen Gründen nach § 46 Nrn. 5 und 6 von den GmbH-Gesellschaftern berufen, abberufen, beaufsichtigt und entlastet78. Die GmbH ist ein von den Kommanditisten mit dem einzigen Zweck eingesetzter Komplementär, Träger der durch den Geschäftsführer wahrgenommenen Geschäftsleitungsorganisation und Subjekt der persönlichen, jedoch nur kraft Akzessorietät den Unternehmensverbindlichkeiten der Kommanditgesellschaft folgenden gesetzlichen Haftung zu sein79. Die GmbH ist also m.a.W. als vertretungsberechtigte und persönlich haftende Rechtsträgerin im Außenverhältnis unentbehrliche Unternehmensleiterin, im Innenverhältnis dagegen als Trägerin des in Fremdorganschaft agierenden Managements nur ein unerlässliches Werkzeug in der Hand der Kommanditisten. So kann nicht verwundern, dass die GmbH-Gesellschafterversammlung in der typischen personalistischen GmbH & Co. KG wie lästiges Beiwerk der Unternehmensorganisation empfunden wird. Der Ruf nach einem organisationsrechtlichen Durchgriff liegt nur zu nahe. b) Mit einem Federstrich ließe sich diese Kalamität beseitigen, wenn entweder eine Einheitsversammlung im Rechtssinne für das Gesamtgebilde geschaffen80 oder die GmbH-Versammlung mangels Eigenfunktion der GmbH ganz negiert und demgemäß alle Gesellschafterzuständigkeit der Kommanditistenversammlung zugewiesen werden könnte81. Beides entspricht nicht dem Gesetz und kann auch nicht durch Gesellschaftsvertrag und Satzung bewerkstelligt werden82. Denn selbst die zum bloßen Instrument der Kommanditisten herabgestufte Komplementär-GmbH ist doch, so wenig sie eigenen Interessen im Unternehmen zur Wirksamkeit verhelfen kann (oben unter I. 5), ein unter dem Regime eines eigenen Zwecks mit Rechtsfähigkeit ausgestatteter, eigener Organe bedürftiger Rechtsträger, der mindestens separat bilanziert, also auch separater Bilanzfeststellungsbeschlüsse bedarf. Insofern gilt das Vorhandensein zweier Organisationen unterschiedlicher Rechtsform, auch wenn sie nur Elemente einer ungeteilten Unternehmensorganisation sein sollen; die GmbH & Co. ist nun einmal keine „Kommanditgesellschaft ohne Komplementär“83, sondern bleibt eine aus zwei Rechts-
__________ 77 Vgl. Fn. 29 u. 30. 78 Eingehend zur Beschlussfassung in der typischen GmbH & Co. KG Karsten Schmidt
in Freundesgabe Haas (Fn. 51), S. 313 ff. 79 Die moderne Doktrin sieht auch als Unternehmensträger nicht mehr den (die) per-
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sönlich haftenden Gesellschafter an, sondern die Personengesellschaft in toto (Karsten Schmidt [Fn. 28], S. 90 f.; ders. in MünchKomm.HGB, § 105 Rz. 12 ff.). Vgl. Fn. 70. In dieser Richtung Sudhoff/Liebscher (Fn. 5), § 3 Rz. 11; Schilling in FS Barz (Fn. 59), S. 67 (72 f.). Anders Grunewald in MünchKomm.HGB, § 161 Rz. 99: Es könne „im Vertrag der GmbH vereinbart werden, dass die Gesellschafterversammlung der GmbH aus den Kommanditisten besteht“. Vgl. zu Handelsgesellschaften auf Einlagen oben III. 2.
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trägern zusammengesetzte Organisation. Wer davon Gebrauch macht, sollte sich nicht auf die dieser Doppelexistenz widerstreitende „Natur der Sache“ berufen, sobald das Vorhandensein zweier Rechtsträger zur Last wird. c) Es bleibt also bei der organisatorischen Trennung zweier Gesellschaften, woraus das OLG München in unserer Ausgangsentscheidung mit der herrschenden Auffassung84 folgert, die Versammlung der Komplementär-GmbH sei nur kraft Treupflicht gehalten, den Kommanditistenbeschlüssen zu folgen85. Das ist zu eng. Soweit der Geschäftsführer in KG-Angelegenheiten agiert – und das ist bei der Mehrzahl seiner Maßnahmen und Entscheidungen der Fall – ist im Rahmen des Integrationsmodells von einer Direktwirkung von Kommanditistenbeschlüssen auszugehen: Die Kommanditisten können der GmbH und damit ihrem Geschäftsführer unmittelbar Weisungen erteilen und ihn auch, bezogen auf seine Verantwortlichkeit gegenüber der Kommanditgesellschaft86, mit direkter Wirkung entlasten87. Anders verhält es sich nur hinsichtlich konstitutiv wirkender Beschlüsse (z. B. also hinsichtlich der beim Handelsregister anzumeldenden Bestellung oder Abberufung des Geschäftsführers)88 sowie hinsichtlich solcher Beschlüsse, die auf die GmbH bezogen und beschränkt sind (z. B. Kapitalmaßnahmen oder Beschlussfassungen über die Einforderung von GmbH-Einlagen). Hier bedarf es eines Beschlusses der GmbH-Gesellschafter d) Was an Kommanditistenrechten bleibt, sollte nicht gering geschätzt werden. Insbesondere darf nicht aus dem Urteil BGHZ 76, 160 = NJW 1980, 1463 gefolgert werden, es stehe in der GmbH & Co. „den Kommanditisten … kein Widerspruchsrecht gegen die Geschäftsführung“ zu89. Richtig ist nur, dass einem einzelnen (!) Kommanditisten ein Widerspruchsrecht gegen Geschäftsführungsmaßnahmen ebenso wenig zusteht wie einem einzelnen GmbH-Gesellschafter90. „Den Kommanditisten“ stehen dagegen, ebenso wie den Gesellschaftern einer GmbH, Weisungs- und Widerspruchsrechte zu, und wenn – wie dies typisch ist – eine Mehrheitsklausel dies zulässt91, können diese Rechte auch mehrheitlich ausgeübt werden. Dasselbe gilt, was die Tätigkeit im KG-Bereich anlangt, für die Entlastungsentscheidung. Die Kommanditisten sind Herren im Haus.
__________ 84 Vgl. nur Hesselmann/Tillmann (Fn. 6), Rz. 310; einschränkend Henze in Ebenroth/
Boujong/Joost, HGB, Anh. A nach § 177a Rz. 88. 85 Vgl. Fn. 29 u. 30. 86 Dazu oben III. 3. d. 87 Vgl. Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, § 46 Rz. 108; die Entlastung ist nicht,
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wie früher angenommen wurde, ein Rechtsgeschäft zwischen der Gesellschaft als Gläubigerin und dem Geschäftsführer (BGHZ 94, 324 [326]). Statt vieler Sudhoff/Breitfeld (Fn. 5), § 15 Rz. 23 ff. So aber Henze in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Anh. A nach § 177a Rz. 66. Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 649 ff. Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, Anh. § 45 Rz. 8, § 46 Rz. 108; zust. Sudhoff/ Liebscher (Fn. 5), § 16 Rz. 32.
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IV. Das Zentralverwaltungsmodell, insbesondere das Vorstandsmodell und das Aufsichtsratsmodell 1. Das Phänomen a) Als „Zentralverwaltungsmodell“ wurde unter I. 4. b und unter II. 5. b eine Gestaltung beschrieben, bei der die Komplementär-GmbH das Unternehmen regieren soll. Sie tut dies, wenn man von den konzernrechtlichen Fällen der unternehmerisch beteiligten Komplementär-GmbH oder der KomplementärGmbH unter Drittabhängigkeit absieht (oben unter I. 5), nicht als Trägerin eigener Interessen, sondern: – –
entweder als autokratisch handelndes, wenn auch den Kommanditisten dienendes Leitungsorgan („Vorstandsmodell“) oder als Instrument zur Mediatisierung der Kommanditisteninteressen und zur Bestellung, Abberufung und Kontrolle der Geschäftsführung („Aufsichtsratsmodell“).
In beiden Varianten wird die Komplementär-GmbH wie beim „Integrationsmodell“ nicht als Trägerin eigener Unternehmensinteressen oder als Instrument der Drittherrschaft eingesetzt, sondern als Verfassungsorgan der auf sich selbst gestellten Kommanditgesellschaft. Der Unterschied besteht jedoch in ihrer Beteiligung an der Gewaltenteilung in der GmbH & Co. Die GmbH-Komplementärin ist hier nicht en quelque façon nulle. Sie ist dem Mitunternehmerkreis der Kommanditisten als Gesellschaftsorgan nicht untergeordnet, sondern gegenübergestellt. Das kann nicht ohne Auswirkung auf die innergesellschaftliche Gewaltenteilung sein. b) Sinn der nachfolgenden Beobachtungen kann es nicht sein, ein fertiges und in den Details ausgebildetes „Zentralverwaltungsmodell“ vorzustellen. Dazu sind die Gestaltungsvarianten sowohl bei der personalistischen als auch bei der kapitalistischen GmbH & Co. KG zu vielgestaltig. Worum es hier gehen soll, ist nur eines: zu zeigen, dass die Komplementär-GmbH auch in diesen Fällen ihre dominierende Stellung nicht aus dem durch §§ 114 ff., 125 ff., 161 Abs. 2, 164, 170 HGB gesetzlich vorgegebenen KomplementärStatus schöpft, sondern aus der ihr durch die vertragliche Binnenverfassung beigegebenen Rolle eines auf die Kommanditisteninteressen verpflichteten Organs. Selbst soweit wir bei einer solchen GmbH & Co. KG die uns vom Gesetz vertraut erscheinende Komplementärfunktion wiedererkennen zu können glauben, müssen wir uns doch klar machen, dass diese Position der Komplementär-GmbH eben nicht dem gesetzlichen Modell der KG zu verdanken ist, sondern spezielles Produkt der Vertragsgestaltung darstellt. 2. Das Vorstandsmodell: die Komplementär-GmbH als treuhänderisch pflichtgebundenes Leitungsorgan a) Insbesondere für die Publikums-GmbH & Co. KG ist die Ausstattung der GmbH mit den Kompetenzen eines geschäftsleitenden Fremdorgans charak533
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teristisch. Die GmbH wird zwar im schulmäßigen Sinn – d. h. um die Normativbestimmungen der §§ 161 ff. HGB zu erfüllen – in den Mitunternehmerkreis einbezogen, nicht aber funktionell. Dies kann, muss aber nicht, mit einer Stärkung der Komplementärrechte einhergehen. Einerseits erleichtert die Nichtanwendung des Bestimmtheitsgrundsatzes auf Publikumsgesellschaften92 die Fassung von Mehrheitsbeschlüssen durch die Kommanditisten. Auf der anderen Seite aber sind Vorlagepflichten der GmbH in Geschäftsführungssachen seltener als in der personalistischen GmbH & Co. KG. Das Vorstandsmodell macht die Komplementär-GmbH zu einer auf Weisungen der Kommanditgesellschaft grundsätzlich nicht angewiesenen Unternehmensleiterin. b) Die Komplementär-GmbH ist in dieser Variante nicht abhängiges Werkzeug der Kommanditisten, wohl aber ihre erste Dienerin, hat ihnen gegenüber also treuhänderische Pflichten. Die Treuhänderposition der GmbH in der typischen Publikums-GmbH & Co. KG ist nicht auf Anhieb erkennbar: Die Komplementär-GmbH nimmt ja eigene, nicht fremde Rechte wahr, wenn sie als im Handelsregister eingetragene Komplementärin Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse für die Kommanditgesellschaft ausübt. Und als nach dem HGB geschäftsführende und vertretungsberechtigte Gesellschafterin scheint sie dies auch im eigenen Interesse zu tun. Wie aber schon festgestellt wurde, ist ein solches Eigeninteresse der Gesellschaft in den hier betrachteten Fällen nicht festzustellen. Um den materiellen Treuhandcharakter des Innenverhältnisses besser zu erkennen, empfiehlt es sich, das Zentralverwaltungsmodell mit der atypisch stillen Publikumsgesellschaft (Publikums-GmbH & Still) zu vergleichen. Denn wie sieht die Organisation einer solchen GmbH & Still aus? Die GmbH betreibt das Gesellschaftsunternehmen im eigenen Namen, jedoch treuhänderisch gebunden gegenüber der Organisation der Anleger, also der stillen Gesellschafter93. Sie handelt aus einer formellen Position der Stärke im eigenen Namen, jedoch im Interesse einer Anlegerorganisation, handelt also treuhänderisch als Organ einer nach außen hin inexistenten Verbandsperson94. Zugegeben: eine unanschaulichere Rechtskonstruktion als die Publikums-GmbH & Still lässt sich kaum denken, und doch: Ihre funktionelle Gleichwertigkeit mit der GmbH & Co. KG lässt uns den Treuhandcharakter des Rechte- und Pflichtenprogramms der Komplementärin einer PublikumsGmbH & Co. KG erkennen. Das Innenverhältnis beim „Vorstandsmodell“ ist nicht anders: Die GmbH agiert als Gesellschaftsorgan im Interessenbereich der Kommanditisten.
__________ 92 BGHZ 66, 82 (85 f.); 64, 160 (165 f.); 71, 53 (58 f.); 85, 356 f. 93 Eingehend Karsten Schmidt in FS G. Bezzenberger, 2000, S. 401 ff. 94 Vgl. ebenda (Fn. 93).
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c) Das umfassende Rechtsfortbildungsprogramm des II. Zivilsenats im Bereich der Publikumsgesellschaften liegt außerhalb des vorliegenden Beitrags95. Es ist ein dem Personengesellschaftsrecht immanentes Programm. Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 1985 ausgesprochen, dass dem AnlegerKommanditisten weitere, über § 166 HGB hinausgehende Informationsrechte nicht zustehen, insbesondere kein aktienrechtliches Sonderprüfungsrecht96. „aa) Die GmbH & Co. KG ist handelsrechtlich eine KG. Die in einer solchen Gesellschaft auf der Komplementärebene oder auf Seiten der Kommanditisten vereinigten Gesellschaften sind rechtlich scharf zu trennen (BayObLGZ 1984, 273 [278] = BB 1985, 78 = Betr 1985, 271 = MittBayNot 1985, 42 = MDR 1958, 325 = RPfleger 1985, 67 = WM 1985, 457). Die Rechtsverhältnisse der GmbH & Co. KG als solcher sowie die Rechte und Pflichten der Gesellschafter beurteilen sich grundsätzlich nach den handelsrechtlichen Vorschriften der §§ 161 ff. HGB und nicht nach dem Recht der Kapitalgesellschaften. Dieser Grundsatz gilt auch für eine sog. Publikums-KG. Demgemäß hat auch das Mitglied einer solchen KG nur die sich aus § 166 HGB gegenüber der Gesellschaft ergebenden Überwachungsrechte (OLG Celle, BB 1985, 1450; Karsten Schmidt, Informationsrechte in Gesellschaften und Verbänden, S. 76 ff.; ders., GmbHRdsch 1984, 280; Hennerkes/Binz, Die GmbH & Co., 7. Aufl., S. 273; Scholz/ Karsten Schmidt, GmbHG, 6. Aufl., § 51a Rdnr. 26; Hachenburg/Ulmer, GmbHG, 7. Aufl., § 51a Rdnr. 16; Sudhoff, Der Gesellschaftsvertrag der GmbH & Co., 4. Aufl., S. 266 f.; Baumbach/Duden/Hopt, HGB, 26. Aufl., Anh. § 177a Abs. 4; weitergehend Roth, GmbHG, § 51a Anm. 5). bb) Es trifft allerdings zu, dass der BGH auf die Publikumskommanditgesellschaft im Wege der Rechtsfortbildung wiederholt Rechtsgrundsätze aus dem Rechte der Kapitalgesellschaften entsprechend angewandt hat (vgl. dazu BGHZ 69, 207 = NJW 1977, 2311). Es hat sich dabei allerdings immer um die Herausbildung von Normen zum Schutze der Kapitalanleger und im Interesse der Funktionsfähigkeit der Publikumsgesellschaft gehandelt (so BGHZ 84, 383 [386] = NJW 1982, 2500; BGH, NJW 1985, 974 = Betr 1985, 479). Normen aus dem Rechte der Kapitalgesellschaften dürfen nicht herangezogen werden, wenn sie ihre Rechtfertigungen in den dort bestehenden besonderen Rechnungslegungs- und Prüfungsvorschriften finden und letztlich darauf gerichtet sind, die Kapitalgrundlage zugunsten der Kapitalgesellschaft und ihrer Gläubiger zu erhalten (BGHZ 84, 383 [386] = NJW 1982, 2500). Solchen Zwecken dient auch die aktienrechtliche Sonderprüfung nach §§ 142 ff. AktG. Es geht daher nicht an, den für eine solche Prüfung geltenden § 145 AktG entsprechend anzuwenden.“
Dem ist im Ausgangspunkt zuzustimmen. Die Informationsrechte der Kommanditisten sind auch in der Publikums-GmbH & Co. KG personengesellschaftsrechtlich zu begründen. Aber sie gehen doch weit über das Regelungsprogramm des § 166 HGB hinaus. Die innere Organisation der GmbH als Komplementärin ist nach dem „Vorstandsmodell“ der Geschäftsordnung eines Vorstands vergleichbar. Die Organisation der Kommanditgesellschaft
__________ 95 Vgl. stattdessen die ausführliche Darstellung bei Grunewald in MünchKomm.
HGB, § 161 Rz. 101 ff. 96 BGH, NJW 1986, 140.
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dagegen hält die Balance zwischen den Kommanditisten als Interessenträgern und ihrem informationspflichtigen Leitungsorgan. 3. Das Aufsichtsratsmodell a) Als Aufsichtsratsmodell wird hier eine Gestaltung bezeichnet, bei der die Komplementär-GmbH nicht selbst als Lenkungsorgan der Kommanditgesellschaft funktioniert, sondern als ein Organ, das die Unternehmensleitung im Interesse der Gesellschaft – und das heißt praktisch: der Kommanditisten – zu bestellen, abzuberufen und zu beaufsichtigen hat. Der Gedanke ist folgender: Formal übt die Komplementär-GmbH auch hier alle Rechte einer persönlich haftenden Gesellschafterin aus. Sie wird als Komplementärin eingetragen, vertritt (ihrerseits vertreten durch ihren Geschäftsführer) die KG und erscheint wiederum als deren Herrin. Formal ist der von der GmbH zu bestellende Geschäftsführer Organ der Komplementär-GmbH, nicht der Kommanditgesellschaft, und im Außenverhältnis bleibt es dabei. Es verhält sich aber doch funktionell anders: Aufgabe der Komplementär-GmbH ist es, gleichsam als Aufsichtsrat im Interesse der Kommanditisten zu handeln. Sie tritt ihrem Geschäftsführer – dem mittelbaren Leitungsorgan der KG – als Kreations- und Kontrollorgan im Interesse der Kommanditisten gegenüber. Ihr gegenüber hat er Berichtspflichten und Informationspflichten zu erfüllen. b) Das Aufsichtsratsmodell ist selten, denn es setzt voraus, dass der Gesellschafterkreis in der GmbH gleichsam als ein mit den Aufgaben eines fakultativen Aufsichtsrats ausgestatteter Kommanditistenbeirat begriffen wird. Dergleichen ist bisweilen bei Familiengesellschaften anzutreffen, wenn die Familienstämme in der GmbH repräsentiert werden. Für Publikumsgesellschaften taugt die Gestaltung nicht, weil den Anlegerinteressen nicht dadurch genügt werden kann, dass die übermächtige Komplementär-GmbH auch noch den Kommanditistenbeirat ersetzt. 4. Organisationsrechtlicher Durchgriff auf den GmbH-Geschäftsführer? a) Die Komplementär-GmbH kann aus der GmbH & Co. KG ausgeschlossen werden, wenn hierfür ein wichtiger Grund besteht97. Das kommt im Aufsichtsratsmodell einer Entsetzung des Aufsichtsrats und des von ihm eingesetzten Vorstands gleich. Man wird ein solches Recht sogar bei einer mitbestimmten GmbH & Co. KG anerkennen müssen, auch wenn sich die Kommanditgesellschaft auf diese Weise „ihres“ obligatorischen (echten!) Aufsichtsrats entledigt. Dieser Effekt ist nur die natürliche Folge der Entscheidung des Mitbestimmungsgesetzgebers, den mitbestimmten Aufsichts-
__________ 97 BGH, NJW-RR 1993, 1123 (1125); Binz/Sorg (Fn. 6), § 6 Rz. 54; Henze in Ebenroth/
Boujong/Joost, HGB, Anh. nach § 177a Rz. 153; Karsten Schmidt in MünchKomm. HGB, § 140 Rz. 4; ders., ZGR 2004, 227 ff.
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rat bei der Komplementär-GmbH und nicht bei der unternehmenstragenden Gesellschaft, eben der Kommanditgesellschaft, anzusiedeln. Es versteht sich, dass die Aufnahme einer neuen Komplementär-GmbH in einem solchen Fall auch die Wiederbestellung eines GmbH-Aufsichtsrats mit sich bringen müsste. b) Das unter III. 4 für das Integrationsmodell angesprochene Durchgriffsproblem stellt sich auch hier, aber die Fragestellung ist anders: Ging es bei dem Integrationsmodell um die Frage, ob die Kommanditistenversammlung an Stelle der GmbH-Gesellschafterversammlung den Geschäftsführer bestellen, abberufen oder durch Weisungen dirigieren kann, so kann beim „Zentralverwaltungsmodell“ die Frage nur sein, ob Kommanditisten ihr Informationsrecht nach § 166 HGB direkt gegenüber dem Geschäftsführer ausüben können98 und ob sie den Geschäftsführer nach §§ 117, 127 HGB direkt von seinen Organbefugnissen ausschließen können99. Eine solche – von Hopt ausführlich entworfene100 – Durchgriffsbefugnis lässt sich indes jedenfalls auf die §§ 117, 127 HGB nicht stützen. Die personengesellschaftsrechtlichen Entziehungs- und Ausschließungsklagen können nur auf die GmbH-Komplementärin selbst zielen101. 5. Fazit Die Zurückdrängung des Kommanditisteneinflusses im „Zentralverwaltungsmodell“ ist, wie hier gezeigt werden sollte, nicht aus einer gesetzlich vorgegebenen Dominanz der GmbH als Komplementärin erklärbar, sondern sie ist Folge des gesellschaftsvertraglich vorgegebenen Gestaltungswillens der Beteiligten. Auch die beiden Varianten des Zentralverwaltungsmodells belegen deshalb nichts über eine gesetzliche Dominanz der KomplementärGmbH in der typischen GmbH & Co. KG.
V. Schluss 1. Cui bono? Die vorstehenden Überlegungen sind dem langjährigen Vorsitzenden des II. Zivilsenats in Freundschaft gewidmet, einem hohen Repräsentanten der Ziviljustiz, einem die Fortbildung des Gesellschaftsrechts in herausragendem Maße prägenden Richter und einem hochangesehenen Autor und Diskutanten. Sie unterscheiden sich sehr von den Gegenständen, die sonst den
__________ 98 So offenbar Henze in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Anh. A nach § 177a Rz. 101;
abl. Binz/Sorg (Fn. 6), § 5 Rz. 101 ff. 99 So Hopt, ZGR 1979, 1 (13 ff.). 100 Ebenda (Fn. 99). 101 Vgl. Henze in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Anh. A nach § 177a Rz. 69 (Aus-
schließung).
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Karsten Schmidt
Stoff für Meinungsaustausch und Diskussionen zwischen dem Jubilar und dem Verfasser gebildet haben. Das ist kein Zufall. Der vorliegende Beitrag vermeidet gezielt jede herablassende Verteilung von Lob oder Tadel für die beeindruckenden Ergebnisse der Senatsrechtsprechung und die persönlichen Beiträge des Jubilars. Er fand seinen Anstoß in einem nicht bis zum BGH gelangten Rechtsstreit und verfolgte ein durchaus theoretisches Anliegen: den besseren Einblick in das Sosein der typischen GmbH & Co. 2. Seitenblicke auf das Mitbestimmungs-, Arbeits- und Steuerrecht a) Zweifelhaft ist, ob die hier angestellten Beobachtungen auch für die mitbestimmte GmbH & Co. KG gelten. Bei dieser ist ja der mitbestimmte Aufsichtsrat bei der Komplementär-GmbH eingerichtet (§ 4 MitbestG). Die Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern liegt allein in den Händen des Aufsichtsrats102. Wie bei der GmbH stellt sich auch bei der mitbestimmten GmbH & Co. KG die Frage, wie sich die Weisungsbefugnis der Gesellschafter – hier also: der Kommanditisten – zur Zuständigkeit des mitbestimmten Aufsichtsrats verhält103. Bezogen auf die GmbH & Co. KG ist diese Frage so zu formulieren: Ist die mitbestimmte GmbH & Co. KG kraft Gesetzes auf das Zentralverwaltungsmodell festgelegt? Dann wären den Gesellschaftern direkte Einflussnahmen auf die Geschäftsführung entzogen104. Im Bereich der GmbH hat sich nun allerdings die Auffassung durchgesetzt, die ein unverkürztes Weisungsrecht der Gesellschafter auch einer mitbestimmten Gesellschaft gegenüber der Geschäftsführung anerkennt105. Nicht nur eine Einzelweisung der Gesellschafter, sondern auch der Erlass einer die Geschäftsführer bindenden Geschäftsordnung ist zulässig106. Im Fall der GmbH & Co. strahlt diese Auffassung in die Weisungsbefugnisse der Kommanditisten aus: Auch bei Vorhandensein von mehr als 2000 Arbeitnehmern ist die Rechtsgestaltung also nicht auf das Zentralverwaltungsmodell oder auf das Aufsichtsratsmodell beschränkt. Die Kommanditisten bleiben grundsätzlich Herren im Haus. b) Das Integrationsmodell unterstreicht auch die Plausibilität des Urteils vom 20.8.2003, mit dem das Bundesarbeitsgericht die Arbeitnehmereigenschaft des Geschäftsführers einer GmbH & Co. KG definitiv verneint hat107. Es hat den bei der Kommanditgesellschaft angestellten, aber nach § 46 Nr. 5
__________
102 Vgl. nur Binz/Sorg (Fn. 6), § 14 Rz. 7. 103 Angaben bei Binz/Sorg (Fn. 6), § 14 Rz. 13. 104 So für die GmbH namentlich Reich/Lewerenz, AuR 1976, 272; Naendrup, AuR
1977, 231 f.; Vollmer, ZGR 1979, 142; für die sog. Satzungsgesellschaft auch Reuter/Körnig, ZHR 140 (1976), 508. 105 Angaben bei Binz/Sorg (Fn. 6), § 14 Rz. 13; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 52 Rz. 183. 106 Nachweise bei Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, § 37 Rz. 42. 107 BAG, AP Nr. 58 zu § 5 ArbGG 1979 = NJW 2003, 3290; dazu Karsten Schmidt in GS Heinze, 2005, S. 775 ff.; krit. Wiedemann (Fn. 1), S. 852.
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GmbHG von den GmbH-Gesellschaftern bestellten Geschäftsführer als gesetzliches Organ der Kommanditgesellschaft angesehen, womit seine Arbeitnehmereigenschaft ausgeschlossen war. Das ist eine sachgerechte Einordnung, wenn man die GmbH & Co. KG als organisatorische Einheit würdigt. c) Nur am Rande sei die Frage erwähnt, ob die hier angestellten Überlegungen steuerliche Konsequenzen nahe legen. Der Bundesfinanzhof betrachtet die Komplementär-GmbH in der GmbH & Co. KG als Mitunternehmerin108. Mitunternehmerschaft setzt keinen Kapitalanteil in der Personengesellschaft voraus109. Es kommt für den Mitunternehmerstatus auch nicht darauf an, ob die Mitunternehmerinitiative eines Komplementärs durch Weisungsrechte beschränkt110 und ob das Mitunternehmerrisiko durch Freistellungsansprüche abgefedert ist111. Beides ist, wie hier festgestellt wurde, bei der Komplementär-GmbH typischerweise der Fall. Der Handelsrechtler zögert, eine solche GmbH in den Mitunternehmerkreis der Kommanditisten einzubeziehen. Gleichwohl wird man der Steuerrechtspraxis zustimmen müssen. Da die von jeder Kapitalbeteiligung ausgeschlossene Komplementär-GmbH bei der Kommanditgesellschaft keine Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt und auch nicht, wie eine natürliche Person als angestellter Komplementär, Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit haben kann, lässt das Einkommensteuerrecht keine andere Erfassung der Risikoprämie als die bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb zu. Die Einbeziehung der Komplementär-GmbH in den Mitunternehmerkreis beruht also nicht auf der organisationsrechtlichen Sachgerechtigkeit dieser Qualifikation, nicht auf einer in der Realität feststellbaren „Unternehmerinitiative“ oder einem erkennbaren mitunternehmerischen „Unternehmerrisiko“, sondern sie beruht einfach auf dem Fehlen von Alternativen. Wir brauchen uns also in der organisationsrechtlichen Würdigung der GmbH & Co.-Verfassung durch die steuerrechtliche Betrachtung nicht irremachen zu lassen. 3. Ergebnisse a) Das Recht der GmbH & Co. KG zeitigt im Kontext des Kommanditgesellschaftsrechts zentripetale und zentrifugale Züge. Die Ersteren lassen unkonventionelle Erkenntnisse über das Recht der KG im Allgemeinen zu, die bereits Niederschlag in der Gerichtspraxis gefunden haben. Die Zweiten lassen Sonderregeln erkennen, die aus dem Gesetzesrecht des HGB so nicht ableitbar sind. b) Als „typisch“ wurde für den Zweck dieser Betrachtung eine GmbH & Co. bezeichnet, deren Komplementärin keinen Kapitalanteil hat und weder un-
__________ 108 109 110 111
Nachweise bei Ludwig Schmidt, EStG, 23. Aufl. 2004, § 15 Rz. 709. BFH, BStBl. II 1987 S. 33. Ludwig Schmidt, EStG, § 15 Rz. 709. Vgl. für natürliche Personen BFH, BStBl. II 1987 S. 33.
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ternehmerischen Eigeninteressen der GmbH noch unternehmerischen Drittinteressen in der Kommanditgesellschaft zur Wirksamkeit verhilft. Um Rechtsfragen des Konzernrechts ging es hier nicht. c) In der personalistischen typischen GmbH & Co. KG sind die Kommanditisten die geborenen Herren der Gesellschaft. Ihnen steht insbesondere ein Weisungsrecht zu. Ihre Beschlüsse sind für den Geschäftsführer unmittelbar verbindlich. Nur gestaltende Beschlüsse – z. B. Satzungsänderungen und Bestellungen bzw. Abberufungen von Geschäftsführern – und sonstige GmbHspezifische Beschlüsse – z. B. über die Einforderung von Einlagen – bedürfen besonderer Beschlussfassung in der GmbH. Die GmbH ist auch in diesen Fällen weisungsgebunden. Die Verfassung der personalistischen typischen GmbH & Co. KG kommt damit derjenigen einer Einheits-GmbH & Co. KG nahe („Integrationsmodell“). Die Kommanditisten sind Herren im Hause. d) Anders verhält es sich in Fällen des „Zentralverwaltungsmodells“ („Vorstands“- oder „Aufsichtsratsmodell“). Im „Zentralverwaltungsmodell“ liegen Geschäftsführungsentscheidungen („Vorstandsmodell“) bzw. liegt die Auswahl und Beaufsichtigung der Geschäftsführung („Aufsichtsratsmodell“) bei der Komplementär-GmbH, deren Binnenorganisation der Geschäftsordnung eines Geschäftsführungsorgans entspricht (Vorstandsmodell“) oder der Geschäftsordnung eines Aufsichtsrats („Aufsichtsratsmodell“). Die Geschäftsführung ist hier dem unmittelbaren Zugriff der Kommanditisten entzogen. An die Stelle direkter Weisungsrechte der Kommanditisten tritt eine treuhänderische Interessenwahrnehmungspflicht der GmbH und ihres Geschäftsführers, ergänzt durch Informationsrechte der Kommanditisten. Auch hier beruht aber die Dominanz der GmbH nicht auf ihrer durch das Handelsgesetzbuch vorgegebenen Komplementär-Stellung, sondern auf dem Gestaltungswillen der Beteiligten.
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Die Aufrechnung von Ansprüchen der Gesellschaft auf Schadensersatz gegen Ansprüche des Geschäftsführers auf Ruhegeld Inhaltsübersicht I. Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers II. Die gesetzliche Ausgangslage III. Die zur Aufrechnung gestellten Forderungen 1. Der Schadensersatzanspruch der Gesellschaft als Gegenforderung 2. Der vertragliche Ruhegeldanspruch des Organmitglieds als Hauptforderung a) Entstehung der Ruhegeldansprüche b) Berechtigung zur Erfüllung der Hauptforderung IV. Rechtsfolgen der Rechtsprechung für die Gesellschaft – Verjährungsgefahr für die Schadensersatzforderung 1. Die Verjährungsproblematik a) Die Folgen der Rechtsprechung und der Stand der Lehre b) Kein hinreichender Schutz durch § 215 BGB 2. Tilgung durch Einmalzahlung
3. Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Einschränkung der Verjährungsgefahr a) Widerrufsvorbehalt b) Vereinbarter „Tilgungsvorbehalt“ aa) Inhalt des Tilgungsvorbehalts bb) AGB-Wirksamkeit (1) Tilgungsvorbehaltsklausel als überraschende Klausel im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB? (2) Inhaltliche Klauselwirksamkeit gemäß § 308 Nr. 4 BGB (Änderungsvorbehalt) (3) Zwischenergebnis c) Verrechnungsvereinbarung d) Erwirkung eines Titels e) Pfändung der Pensionsansprüche im Wege der Zwangsvollstreckung f) Zwischenergebnis V. Der Begünstigte ist ein Dritter (Direktversicherung) VI. Zusammenfassung
I. Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers Wer die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Organhaftung in den letzten Jahren verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, dass einerseits das Verständnis dafür gewachsen ist, dass unternehmerische Entscheidungen auch zu Fehleinschätzungen führen können. Das unternehmerische Risiko soll aber nicht auf die Organmitglieder verlagert werden. Auf der anderen Seite sind die Erwartungen an pflichtgemäßes Verhalten der Organmitglieder gewachsen. Und damit ist auch das Risiko für die Organmitglieder größer geworden, dass sie von der Gesellschaft (Organinnenhaftung) oder von Dritten (Organaußenhaftung) in Anspruch genommen werden. 541
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Aus der Zahl der veröffentlichten gerichtlichen Entscheidungen darf aber nicht auf die praktische Bedeutung – oder die fehlende praktische Bedeutung – der Organhaftung geschlossen werden. In der Praxis wird nämlich vielfach auf eine gerichtliche Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen Organmitglieder verzichtet. Damit fehlt es aber an einer Veröffentlichung der Entscheidungen und der zugrunde liegenden Vorgänge. Vielmehr beschränkt man sich darauf, mit Schadensersatzansprüchen gegen ausstehende Gehaltsansprüche oder Ruhegeldansprüche aufzurechnen1. Für das Organmitglied ist das die wahre Katastrophe, denn gegebenenfalls entfällt die Altersversorgung. Und jeder kann sich vorstellen, was das bedeutet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indessen, dass der Aufrechnung Grenzen gesetzt sind. Das soll im Folgenden für den GmbH-Geschäftsführer näher untersucht werden.
II. Die gesetzliche Ausgangslage Unter den in §§ 387 ff. BGB geregelten Voraussetzungen hat der Schuldner die Möglichkeit, Forderungen, die gegen ihn gerichtet sind, durch Aufrechnung im Wege einseitiger Erklärung mit einer gegenläufigen Forderung zu tilgen. Aufrechnung im Sinne des Gesetzes ist damit die wechselseitige Tilgung zweier einander gegenüberstehender Forderungen durch einseitiges Rechtsgeschäft2. Nach § 387 BGB ist die Aufrechung jedoch nur bei Vorliegen einer sog. Aufrechnungslage möglich, die wiederum an das Vorliegen von vier Voraussetzungen geknüpft ist; nämlich: –
die Gegenseitigkeit der Forderungen: Die Forderungen müssen in der Weise zwischen denselben Personen bestehen, dass jeder Beteiligter zugleich Gläubiger und Schuldner des anderen ist3. Die Forderung, gegen die aufgerechnet wird, wird dabei üblicherweise als Passiv- bzw. Haupt-
__________ Daneben besteht freilich die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer entsprechenden D&O-Versicherung. Die Leistungspflicht des Versicherers wird jedoch nicht selten durch Haftungsklauseln begrenzt. So etwa durch einen „Wissentlichkeitsausschluss“ oder durch Einführung einer Gerichtsklausel, wonach die Versicherungsleistung von der vorherigen gerichtlichen Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs abhängig gemacht wird; vgl. Hendricks, VW 2003, 164 (166); Lier, VW 2003, 956 (957). 2 Heinrichs in Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, § 387 Rz. 1; Gursky in Staudinger, BGB, 2000, Vorbem. 1 zu § 387; E. Wagner in Erman, BGB, 11. Aufl. 2004, Vor § 387 Rz. 2; Stürner in Jauernig, BGB, 11. Aufl. 2004, § 387 Rz. 1; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1: Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987, § 18 VI. (S. 254 f.); Brox/ Walker, Allgemeines Schuldrecht, 30. Aufl. 2004, § 16 Rz. 1. 3 Von diesem Erfordernis wird in § 406 BGB (Forderungsabtretung) für den Fall der Aufrechnung gegenüber dem neuen Gläubiger abgewichen. 1
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Aufrechnung von Gesellschafts- gegen Geschäftsführeransprüche
forderung bezeichnet, diejenige, die oder mit der aufgerechnet wird, nennt man Aktiv- bzw. Gegenforderung4. –
die Gleichartigkeit der Forderungen: Haupt- und Gegenforderung müssen ihrem Gegenstande nach gleichartig sein, was bei Geldschulden regelmäßig der Fall ist.
–
das Bestehen der Forderungen: Eine Aufrechnung mit (etwa wegen Formmangels oder Sittenwidrigkeit) nicht entstandenen Forderungen ist mithin nicht möglich. Für die Gegenforderung wird darüber hinaus verlangt, dass sie auch erzwingbar und einredefrei ist (§ 390 BGB). Diese Voraussetzung ist bspw. nicht gegeben, wenn die Gegenforderung bei Entstehen der Hauptforderung bereits verjährt ist.
–
die Fälligkeit der Gegenforderung: Während die Hauptforderung lediglich erfüllbar sein muss, wird für die Gegenforderung zusätzlich gefordert, dass sie bereits fällig ist5.
Liegen die genannten Voraussetzungen vor und stehen der Aufrechnung keine Ausschlussgründe (durch Parteivereinbarung oder Gesetz) entgegen, so erlöschen die Forderungen, soweit sie sich decken, und zwar rückwirkend zu dem Zeitpunkt, zu dem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergestanden haben (§ 389 BGB). Dies geschieht jedoch nicht automatisch, sondern erst mit entsprechender Aufrechnungserklärung des einen Teils gegenüber dem anderen (§ 388 BGB).
III. Die zur Aufrechnung gestellten Forderungen 1. Der Schadensersatzanspruch der Gesellschaft als Gegenforderung Stehen der Gesellschaft Schadensersatzforderungen gegen ihre Organmitglieder wegen Verletzung von Organpflichten (Leitungspflichten, Loyalitätspflichten usw.) zu6, ist danach zu fragen, ob die Gesellschaft mit solchen Schadensersatzansprüchen aufrechnen kann. Hierbei muss daran erinnert werden, dass das Gesetz an verschiedenen Stellen die Aufrechnung mit bestimmten Forderungen verbietet7. Bei der hier in Frage stehenden Schadensersatzforderung wegen Verletzung von Organpflichten handelt es sich indessen nicht um solche von Gesetzes wegen unaufrechenbaren Forderungen. In Betracht kommt allenfalls ein vertraglicher
__________ 4 5 6 7
Gursky in Staudinger, BGB, Vorbem. 1 zu § 387. Heinrichs in Palandt, BGB, § 387 Rz. 11 und 12. § 43 Abs. 2 GmbHG, § 93 Abs. 2 AktG. So unterliegt bspw. der Anspruch des Aufsichtsratsmitglieds gegen die Gesellschaft auf Wertersatz rechtsgrundlos erbrachter Leistungen nach § 114 Absatz 2 Satz 2, 1. Halbs. i. V. m. §§ 812 ff. BGB dem Aufrechnungsverbot des § 114 Absatz 2 Satz 2, 2. Halbs. AktG.
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Uwe H. Schneider und Tobias Brouwer
Aufrechungsausschluss. Ein solcher wäre zwar grundsätzlich zulässig8. In der Praxis ist ein solches aktives Aufrechnungsverbot jedoch ungewöhnlich. Gegen die Möglichkeit, mit Schadensersatzforderungen der Gesellschaft aufzurechnen, bestehen somit grundsätzlich keine Bedenken. 2. Der vertragliche Ruhegeldanspruch des Organmitglieds als Hauptforderung Als Passiv- bzw. Hauptforderung kommt der Anspruch des Organmitglieds auf Gehalt in seinen unterschiedlichen Formen (bspw. Tantieme oder Provisionen)9 sowie der Anspruch auf Ruhegeld in Betracht. Letzterer soll Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Rechtsgrundlage der versprochenen Versorgungsleistungen für das Alter bzw. für einen anders definierten Versorgungsfall10 ist die entsprechende Zusage der Gesellschaft gegenüber dem Organmitglied, die in der Regel Teil des jeweiligen Anstellungsvertrages ist11. Zur Realisierung der betrieblichen Altersversorgung stehen der Gesellschaft unterschiedliche Durchführungswege zur Verfügung. Die am häufigsten anzutreffenden Formen der Altersversorgung von Organmitgliedern von Kapitalgesellschaften sind die Direktversicherung und die Direktzusage12. Während im Falle einer Direktversicherung der Arbeitgeber auf das Leben des Organmitglieds eine Lebensversicherung abschließt, aus der das Organmitglied oder seine Hinterbliebenen ganz oder zum Teil bezugsberechtigt sind (vgl. § 1b Abs. 2 Satz 1 BetrAVG)13, erfolgt die Altersversorgung in Form der Direktzusage ohne Zwischenschaltung einer dritten Person. Die Gesellschaft verspricht dem Organmitglied, nach Eintritt des Versorgungsfalles die
__________
8 Vgl. Heinrichs in Palandt, BGB, § 387 Rz. 14. 9 Vgl. Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, § 35 Rz. 180 ff.; Heyder
in Michalski, GmbHG, 2002, § 6 Rz. 143. 10 Bspw. Invaliditäts- und/oder Hinterbliebenenversorgung. 11 Vgl. bspw. Stephan in Beck’sches Formularbuch Bürgerliches-, Handels- und Wirt-
schaftsrecht, 8. Aufl. 2003, Form IX. 48., § 6. 12 Nach Tillmann/Mohr, GmbH-Geschäftsführer, 8. Aufl. 2003, Rz. 332, haben sich
in der Praxis Pensionszusagen als Grundstock der Altersversorgung sowohl für den Fremd-Geschäftsführer als auch für den Gesellschafter-Geschäftsführer bewährt. Nach Roth, Der Aufsichtsrat 05/2004, 6 erfolgt die Durchführung der betrieblichen Altersversorgung für Vorstandsmitglieder in etwa 90 % der Fälle über den Weg der Direktzusage. Nach Stephan (Fn. 11), Form IX. 48., Fn. 14, ist die Altersversorgung in Form der Direktversicherung insbesondere in mittleren und kleineren Gesellschaften anzutreffen. Zu weiteren Formen der betrieblichen Altersversorgung s. Heubeck/Schmauck, Die Altersversorgung der Geschäftsführer in GmbH und GmbH & Co. KG, 4. Aufl. 1998, Rz. 104 ff. und Rz. 433 ff. 13 Zur Anwendbarkeit des BetrAVG auf Organmitglieder von Kapitalgesellschaften: Blomeyer/Otto, BetrAVG, 3. Aufl. 2004, § 17 Rz. 22 ff.; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, § 35 Rz. 203 ff.; Hommelhoff/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, Anh § 6 Rz. 37; Tillmann/Mohr (Fn. 12), Rz. 338 ff.
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Versorgungsleistungen selbst zu erbringen14. Ausgangspunkt der anschließenden Überlegungen bildet die zuletzt genannte unmittelbare Versorgungszusage der Gesellschaft (Direktzusage)15. Auf Besonderheiten der Altersversorgung in Form der Direktversicherung wird gesondert Bezug genommen16. Will nun die Gesellschaft mit ihr gegen das Organmitglied zustehenden Schadensersatzforderungen gegenüber vertraglichen Ruhegeldansprüchen aufrechnen, gilt es sich folgende im Weiteren näher dargestellte Besonderheiten vor Augen zu führen: Während die Gegenforderung (Schadensersatzanspruch) fällig und erzwingbar sein muss (vgl. oben), wird für die Passivforderung lediglich deren Erfüllbarkeit verlangt (§ 387 BGB: „sobald er … die ihm obliegende Leistung bewirken kann“). „Erfüllbarkeit“ in diesem Sinne setzt erstens voraus, dass die Passivforderung bereits entstanden ist und zweitens, dass der Schuldner (Gesellschaft) berechtigt ist, die Passivforderung zu erfüllen17. In diesem Zusammenhang können sich im Fall der Aufrechnung von Schadensersatzansprüchen gegen Rentenansprüche allerdings dann Probleme ergeben, wenn der Schadensersatzanspruch der Höhe nach mehrere Monatsrenten des Organmitglieds umfasst. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob die Gesellschaft die Pensionsansprüche des Organmitglieds auch soweit sie noch nicht fällig sind, bereits durch vorgriffsweise Aufrechnung mit ihr zustehenden Schadensersatzansprüchen tilgen kann. a) Entstehung der Ruhegeldansprüche Die Eigenschaft der Erfüllbarkeit fehlt notwendigerweise bei künftigen, also gegenständlich noch gar nicht bestehenden Forderungen. Gegen künftige Forderungen kann nicht aufgerechnet werden18. Bei Dauerschuldverhältnissen wie den vorliegenden, bei denen die laufenden Rentenleistungen im Allgemeinen erstmals zum Beginn oder zum Ende eines Monats fällig gestellt werden, stellt sich daher zunächst die Frage, ob bereits ein gegenwärtiger, nur noch nicht fälliger Anspruch auf die künftig zu erbringenden Rententeilleistungen besteht oder ob der Anspruch auf die einzelne Teilleistung erst mit dem jeweiligen Fälligkeitstermin zur Entstehung gelangt.
__________ 14 Blomeyer/Otto, BetrAVG, 3. Aufl. 2004, § 1 Rz. 188. 15 Die Terminologie ist uneinheitlich. Verwendet werden synonym in Rechtsprechung
und Literatur die Ausdrücke „Direktzusage“, „unmittelbare Versorgungszusage“, „Pensionsverpflichtung“ und „Pensionszusage“, s. Blomeyer/Otto, BetrAVG, § 1 Rz. 189. 16 S. unten V. 17 Vgl. Schlüter in MünchKomm.BGB, Bd. 2a, 4. Aufl. 2003, § 387 Rz. 38. 18 RGZ 171, 215 (220); BGHZ 103, 362 (367); Gursky in Staudinger, BGB, § 387 Rz. 114.
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Uwe H. Schneider und Tobias Brouwer
Die Frage ist streitig: Nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht sollen wiederkehrende Ruhegehaltsforderungen erst mit ihrem Fälligkeitstermin entstehen, da der Fortbestand des Dauerrechtsverhältnisses bis zum Zeitpunkt ihrer (vorerst nur möglichen) Entstehung ungewiss sei19. Dies hätte mithin zur Folge, dass gegen künftige Ruhegehaltsansprüche nicht aufgerechnet werden könnte. Die Gesellschaft müsste stattdessen jeden Monat von neuem gegen die fällig werdenden Ruhegehaltsansprüche die Aufrechnung gegenüber dem Berechtigten erklären. Dabei wird sie Gefahr laufen, dass ihre Schadensersatzforderung bei künftigen Aufrechnungen bereits verjährt sein könnte20. Die Rechtsprechung21 und mit ihr die herrschende Lehre22 vertreten dagegen den Standpunkt, dass es sich bei künftigen Ruhegehaltsbeträgen um Teile eines schon entstandenen Anspruchs handelt. Dem ist zu folgen. Durch die vertragliche Ruhegehaltsvereinbarung wird nämlich ein einheitliches Recht auf alle, auch auf künftig fällig werdende Ruhegeldzahlungen begründet. Dies entspricht dem Willen der Parteien. Das Recht auf Ruhegeld ist weder befristet noch bedingt. Allein der einzelne Anspruch auf Ruhegeldzahlung ist noch nicht fällig. Auch die Ungewissheit über den Fortbestand des Dauerrechtsverhältnisses stellt für sich allein kein Hindernis für das Entstehen des Einzelanspruchs dar. Eine Aufrechnung ist daher auch gegen künftig fällig werdende Rentenansprüche möglich, sofern nur die Aufrechnung nach dem Entstehen der Forderung erklärt wird. b) Berechtigung zur Erfüllung der Hauptforderung Ein weiteres und weitaus größeres Problem stellt dagegen die nach § 387 BGB erforderliche Erfüllbarkeit im Sinne einer Berechtigung zur Vorleistung der erst später fällig werdenden Rentenschulden durch die Gesellschaft dar. Darf die Gesellschaft mit den ihrerseits zugesagten Versorgungsleistungen unbegrenzt in Vorleistung treten, mit der Folge, dann auch entsprechend unbegrenzt gegenüber diesen Ruhegeldansprüchen mit ihr gegen das Organmitglied zustehenden Schadensersatzforderungen aufrechnen zu können?
__________
19 Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl. 1994, § 12 V 2 a. 20 Vgl. Gursky in Staudinger, BGB, § 387 Rz. 115. Nach Auffassung von Gernhuber
soll es zwar dem Ruhegehaltsschuldner gestattet sein, eine einheitliche Aufrechnungserklärung für künftige Verbindlichkeiten mit Wirkung für den jeweiligen Zeitpunkt des Entstehens abzugeben, da ein Interesse des Rentengläubigers an einer ständigen Wiederholung der Aufrechnung nicht zu erkennen sei (Gernhuber [Fn. 19] Fn. 76). An dem Problem der Gefahr der Verjährung der Aktivforderung ändert dies jedoch wegen der nach wie vor erst zum jeweiligen Fälligkeitstermin wirkenden Aufrechnung nichts. 21 Vgl. RGZ 171, 215 (220); BGH, NJW 1972, 154. 22 Vgl. Gursky in Staudinger, BGB, § 387 Rz. 115; Heinrichs in Palandt, BGB, § 387 Rz. 12; Schlüter in MünchKomm.BGB, § 387 Rz. 38.
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Aufrechnung von Gesellschafts- gegen Geschäftsführeransprüche
Das Gesetz geht in § 271 Abs. 2 BGB im Falle einer Leistungszeitbestimmung davon aus, dass im Zweifel anzunehmen ist, dass der Schuldner (Gesellschaft) seine Leistung schon vor der Zeit bewirken kann. Nach dieser Auslegungsregel wäre demnach die Gesellschaft zur unbegrenzten Vorleistung ihrer Versorgungsleistungen berechtigt, die Hauptforderung wäre somit erfüllbar und die Gesellschaft könnte mit ihr zustehenden Schadensersatzanforderungen gegenüber jenen Ruhegeldforderungen des Organmitglieds (unbegrenzt) aufrechnen. In der Rechtsprechung findet diese lediglich im Zweifel geltende Vorschrift bei Rentenansprüchen indessen nur beschränkt Anwendung23. So hat bereits das RG24 im Jahre 1939 in einer Entscheidung über vertraglich zugesagtes Ruhegeld für ein Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft die Ansicht vertreten, dass es weder verkehrsüblich noch mit dem Wesen des Ruhegehaltsbetrages vereinbar sei, „wenn man den Ruhegehaltsberechtigten nötigen wollte, für Jahre hinaus Vorauszahlungen auf die laufenden Monatsraten entgegenzunehmen“. Mit dem Ruhegeld „will der Berechtigte seinen Unterhalt für sein Alter oder für die Zeit seiner Erwerbsunfähigkeit sichern. Diese Sicherheit wird ihm aber gerade durch regelmäßig fortlaufende Bezüge besser gewährleistet, als durch Vorauszahlungen auf lange Zeiträume, bei denen er die Gefahr eines Verlustes des vorausbezahlten Geldes trägt“. Wegen der so zu verstehenden Ruhegeldvereinbarung und den berechtigten Belangen des Ruhegeldberechtigten greife auch der nur im Zweifel geltende Grundsatz des § 271 Abs. 2 BGB nicht Platz. Diesen Standpunkt hat später der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 28.10.197125 bestätigt. Unter Einschränkung des § 271 Abs. 2 BGB wurde weiter ausgeführt, dass der Berechtigte Vorauszahlungen auf ein vertragliches Ruhegehalt in der Regel nur für das nächste halbe Jahr entgegenzunehmen brauche. Eine Tilgung im Wege der Aufrechnung sei daher auch nur in diesem zeitlichen Rahmen möglich26. Der angesetzte Zeitrahmen von sechs Monaten, bis zu dem der Pensionsberechtigte Leistungen im Voraus annehmen muss, ist dabei das Ergebnis einer unter Berücksichtigung der §§ 760 BGB (Leibrente) und 1612 Abs. 3 BGB (Unterhaltsgewährung) vorgenommenen Abwägung der Interessen des Pensionsschuldners, für den bspw. das Interesse an einer Beschränkung der Überweisungstermine des
__________ 23 Vgl. RG, SeuffA 93, 257 (259); BGH, NJW 1972, 154; BGH, NJW-RR 1990, 159 (160)
(für Zusatzversorgungsrente); BGH, NJW 1993, 2105 f.; BAG, DB 1987, 1900 (für die Voraustilgung von Versorgungsansprüchen); OVG Koblenz, NVwZ 1991, 95 f. Anders aber RGZ 171, 215 (222), wonach es dem Dienstherren bei Vorliegen schutzwürdiger Interessen gestattet sein soll, künftige Gehaltsteile des Beamten durch Aufrechnung tilgen zu können. 24 RG, SeuffA 93, 257 (259). 25 BGH, NJW 1972, 154 f. 26 Vgl. Gursky in Staudinger, BGB, § 387 Rz. 115.
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Ruhegehalts streite, und derjenigen des Pensionsberechtigten an einer den laufenden Bedarf auf Lebenszeit sichernden Zahlungsweise27. Abweichungen von dieser Linie lassen sich lediglich im Fall der Zusatzversorgungsrente und im Bereich des öffentlichen Dienstrechts feststellen. So braucht der Zusatzversorgungsberechtigte überhaupt keine Vorauszahlungen entgegenzunehmen, da er in aller Regel noch weit mehr als der private Ruhegehaltsempfänger auf regelmäßig fortlaufende Bezüge angewiesen sei28. In entgegengesetzte Richtung verhält sich dagegen die Rechtsprechung im öffentlichen Dienstrecht. Nach RGZ 171, 215 ff. ist es dem Dienstherren bei Vorliegen überwiegender Belange gestattet, künftige Gehaltsteile des Beamten durch Aufrechnung auch im Voraus zu tilgen. Und nach einer Entscheidung des OVG Koblenz29 kann der Dienstherr Rückforderungsansprüche immerhin gegen in den nächsten beiden Monaten fällig werdende Ruhegeldansprüche aufrechnen.
IV. Rechtsfolgen der Rechtsprechung für die Gesellschaft – Verjährungsgefahr für die Schadensersatzforderung 1. Die Verjährungsproblematik a) Die Folgen der Rechtsprechung und der Stand der Lehre Folgt man den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, so müsste die Gesellschaft zur Durchsetzung ihrer gegenläufigen Schadensersatzforderung alle sechs Monate von neuem gegen die jeweils noch fällig werdenden Ruhegeldansprüche des schadensersatzpflichtigen Organmitglieds aufrechnen. Hierbei läuft sie jedoch Gefahr, dass ihre Schadensersatzforderungen bei künftigen Aufrechnungen bereits verjährt sind30.
__________ 27 28 29 30
BGH, NJW 1972, 154. BGH, NJW-RR 1990, 159 (160). OVG Koblenz, NVwZ 1991, 95 (96). Sowohl die Ersatzansprüche gegen GmbH-Geschäftsführer aus § 43 Abs. 2 GmbHG als auch diejenigen gegen Vorstandsmitglieder aus § 93 Abs. 2 AktG verjähren jeweils in fünf Jahren (§ 43 Abs. 4 GmbHG und § 93 Abs. 6 AktG). Über den Verjährungsbeginn geben die Vorschriften indessen keine Auskunft. Nach RGZ 83, 354 (356) und BGHZ 100, 228 (231) gelangen daher die allgemeinen Verjährungsvorschriften des BGB zur Anwendung. Danach beginnt die Verjährungsfrist gemäß § 200 BGB mit der Entstehung des Anspruchs. Der Anspruch ist entstanden, wenn er durch Klage (auch Feststellungsklage) geltend gemacht werden kann (vgl. Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, § 43 Rz. 204). Entgegen teilweise vertretener Ansicht (vgl. Haas in Michalski, GmbHG, Bd. 2, 2002, § 43 Rz. 233; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 93 Rz. 37; Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, Bd. 3, 2. Aufl. 2004, § 93 Rz. 158) ist die Vorschrift des § 199 BGB, die seit der Schuldrechtsreform den Beginn der Verjährungsfrist zusätzlich von der Kenntnis oder dem Kennenmüssen des Anspruchsberechtigten von den anspruchsbegründenden Umständen sowie dem Anspruchsgegner abhängig macht (Abs. 1 Nr. 2), für den Verjäh-
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In der Lehre ist die sich hieraus ergebende Problematik nicht vertieft aufgegriffen. In der Regel erschöpfen sich die Ausführungen in der Wiedergabe der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze31. Lediglich Schlüter32 qualifiziert den von der Rechtsprechung zur Aufrechnung von Ruhegeldansprüchen vertretenen Standpunkt als unzutreffend, „(weil) der Gläubiger, der geschützt werden soll, in keinem Falle Geld bekommt, ob nun insgesamt oder in Teilen aufgerechnet wird“. In die gleiche Richtung gehen auch die Ausführungen von v. Feldmann33. Auch seiner Ansicht nach ist die durch die Rechtsprechung begünstigte „Schonung“ des Pensionsberechtigten „nicht viel wert“, da dem Ruhegeldschuldner immer noch die Möglichkeit zur Teilaufrechnung bleibt. Der Gläubiger könne daher nur hoffen, „dass der Schuldner die Gegenforderung verjähren lässt oder die Sache leid wird“. b) Kein hinreichender Schutz durch § 215 BGB Die Ausnahmeregelung des § 215 BGB, nach der die Verjährung der Aktivforderung die Aufrechnung dann nicht ausschließt, wenn der Aktivanspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem er erstmals aufgerechnet werden konnte (Eintritt der Aufrechnungslage), hilft bei der Aufrechnung gegenüber Rentenansprüchen nur bedingt. Denn hier gilt es wieder zu berücksichtigen, dass die Gesellschaft als Rentenschuldnerin ihre Leistung nur halbjährig im Voraus bewirken kann, um gegen diese dann „zugleich“ mit entsprechenden Schadensersatzteilbeträgen aufzurechnen. Diejenigen Schadensersatzteilbeträge jedoch, die nicht in dieser Weise vor dem Verjährungszeitpunkt zur Aufrechnung gebracht werden können, bleiben nach wie vor der Verjährungsgefahr ausgesetzt. Diesen Teilbeträgen fehlt es nämlich wegen der begrenzten Ruhegeld-Vorleistungsberechtigung stets an einer erfüllbaren und damit aufrechenbaren Rentengegenforderung als Voraussetzung für die nach § 215 BGB geforderte Aufrechnungslage. Dementsprechend genießen solche überschüssigen Teilbeträge der Schadensersatzforderung, die
__________ rungsbeginn des Schadensersatzanspruchs der Gesellschaft aus § 43 Abs. 2 GmbHG und § 93 Abs. 2 AktG nicht heranzuziehen. § 199 BGB bezieht sich nämlich auf die regelmäßige Verjährung, die nach § 195 BGB drei Jahre beträgt. Für alle anderen Ansprüche, die nicht dieser regelmäßigen Verjährung unterliegen, gilt dagegen grundsätzlich § 200 BGB (zur Anpassung der Verjährungsregeln an das GmbHG und AktG s. im Übrigen: Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts v. 9.12.2004, BGBl. I 2004 Nr. 66 v. 14.12.2004 S. 3214). 31 Vgl. z. B. Heinrichs in Palandt, BGB, § 387 Rz. 12; Zeiss in Soergel, BGB, § 387 Rz. 10; Dennhardt in Bamberger/Roth, BGB, 2003, § 387 Rz. 29 i. V. m. Fn. 113; Gursky in Staudinger, BGB, § 387 Rz. 115; Blomeyer/Otto, BetrAVG, Anh § 1 Rz. 577. 32 Schlüter in MünchKomm.BGB, § 387 Rz. 38. 33 Feldmann, JuS 1983, 357 (360).
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nicht vor ihrem Verjährungszeitpunkt im Zuge der Rentenvorleistung aufgerechnet werden konnten, auch nicht den Schutz des § 215 BGB34. Die Möglichkeit, die Aufrechnung beliebig oft zu wiederholen, ist daher zeitlich begrenzt, was insbesondere bei hohen Schadensersatzforderungen gravierende Folgen für die Gesellschaft haben kann. 2. Tilgung durch Einmalzahlung Die geschilderten Probleme entstehen durch die in der Rechtsprechung und teilweise in der Lehre vertretenen Ansicht, eine Einmalzahlung zur Tilgung des Rechts auf Ruhegeld sei unzulässig. Bei näherer Betrachtung der Argumente zeigt sich, dass diese nicht überzeugen. Im Einzelnen ist vielmehr zwischen den Interessen der Beteiligten einerseits und der Möglichkeit einer Abzinsung andererseits zu unterscheiden. Wenig überzeugt die Überlegung, der Geschäftsführer habe ein berechtigtes Interesse an abschnittsweisen Zahlungen. Das Gegenteil ist der Fall. Zunächst lässt sich gewiss nicht vortragen, Geschäftsführer müssten vor sich selbst geschützt werden. Sie neigten bei Einmalzahlungen dazu, diese großzügig auszugeben, um dann anschließend vor einem leerem Beutel zu stehen. Entsprechendes Verantwortungsbewusstsein wird man vielmehr erwarten können. Vor allem aber sollte man bedenken, dass der Geschäftsführer nach einer Einmalzahlung die Möglichkeit hat, das Geld bei einer Bank mündelsicher anzulegen. Bei dem Kreditinstitut sind Einlagen im Schutz des Einlagensicherungsfonds. Wenn dagegen der in Ruhestand getretene Geschäftsführer nur Ansprüche gegen die Gesellschaft hat, so trägt er deren Insolvenzrisiko, im Schutzbereich des Pensionssicherungsvereins ist er nur, wenn die besonderen Voraussetzungen hierfür vorliegen35. Und umgekehrt kann auch der Geschäftsführer ein großes Interesse daran haben, dass er eine Einmalzahlung erhält. Deshalb wäre auch zu fragen, ob nicht der Geschäftsführer seinerseits eine Einmalzahlung verlangen kann. Ebenso wenig steht dem Recht zur Vorwegerfüllung das mit einer einmaligen Geldzahlung verbundene Abzinsrisiko entgegen. Das Abzinsrisiko sowie etwaige steuerliche Benachteiligungen stellen nämlich eine häufige Neben-
__________ 34 Folgendes Beispiel zur Verdeutlichung: Der Gesellschaft steht gegen den ehemali-
gen Geschäftsführer ein Schadensersatzanspruch aus § 43 Absatz 2 Satz 1 GmbHG i. H. v. 100000 Euro zu. Der Geschäftsführer bezieht von der Gesellschaft ein monatliches Ruhegeld von 1000 Euro, fällig zum Ersten eines jeden Monats. Beginnt die Verjährungsfrist nach entsprechender, am 31.12.1999 begangener Pflichtverletzung am 1.1.2000 zu laufen, kann die Gesellschaft bis zum Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist am 31.12.2004 maximal 66000 Euro (10 x 6000 Euro in den Jahren 2000–2004 + 1 x 6000 Euro als zulässige Voraustilgung für das erste Halbjahr in 2005) ihrer Forderung im Wege der Aufrechnung durchsetzten. Der übrige Forderungsbetrag in Höhe von 34000 Euro ist indessen verjährt. 35 Einzelheiten bei Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, § 35 Rz. 203 ff.
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folge der grundsätzlich zulässigen Voraustilgung im Sinne des § 271 Abs. 2 BGB dar und beschränken sich nicht nur auf den Fall der Altersversorgung. Eine ganz andere Frage ist es daher, wie die Einmalzahlung zu berechnen ist, ob eine entsprechende Abzinsung vorgenommen werden kann, ob Ergänzungsansprüche bestehen usw. Die Einzelfragen mögen hier dahinstehen. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass es gute Gründe dafür gibt, dass die Gesellschaft eine Einmalzahlung leisten darf – und entsprechend aufgerechnet werden kann. 3. Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Einschränkung der Verjährungsgefahr Folgt man entgegen dem hier vertretenen Standpunkt der Ansicht, dass eine Einmalzahlung auf das Recht auf Ruhegeld unzulässig ist und die Gesellschaft verpflichtet ist, abschnittweise – also insbesondere monatlich – das Ruhegeld auszuzahlen, so fragt sich, welche Möglichkeiten die Gesellschaft hat, um dem geschilderten Verjährungsproblem zu entgehen. a) Widerrufsvorbehalt Zunächst könnte man daran denken, in den Anstellungs- bzw. Ruhegeldvertrag einen Widerrufsvorbehalt aufzunehmen, wonach die Gesellschaft berechtigt ist, bei Pflichtverletzungen des Organmitglieds die Versorgungsleistungen auch nach Eintritt der Unverfallbarkeit des Ruhegehalts36 zu kürzen oder ganz einzustellen. Dies würde sich zwar auf das dargestellte Verjährungsproblem nicht direkt auswirken, aber dennoch zu einer Minderung des drohenden Rechtsverlusts durch Einsparungen der Ruhegelder führen. Ein solcher Widerrufsvorbehalt ist allerdings nur sehr begrenzt zulässig, nämlich, wenn es sich um eine derart schwerwiegende Pflichtverletzung handelt, die eine Berufung des Pensionsberechtigten auf die Versorgungszusage schlechterdings als rechtsmissbräuchlich erscheinen ließe37. Ein Widerrufsrecht kommt daher nur insoweit in Betracht, als es dem Schuldner nach allgemeinen Grundsätzen, insbesondere nach § 242 BGB, erlaubt ist, die Leistung gegenüber einem Gläubiger zu verweigern38. Deswegen und weil der Vorbehalt eines jederzeitigen Widerrufs nach freiem Belieben jedenfalls nach Unverfallbarkeit der Versorgungszusage unzulässig ist39, finden sich in
__________ 36 Vgl. § 1b BetrAVG. 37 Vgl. BAGE 20, 298 (300 ff.) = NJW 1980, 1127 ff; Förster/Rühmann in MünchHdb.
zum Arbeitsrecht, Bd. 1, Individualarbeitsrecht I, 2. Aufl. 2000, § 106 Rz. 7 ff., 18; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, § 35 Rz. 207 ff.; Hommelhoff/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, Anh § 6 Rz. 38. 38 Vgl. BGH, WM 1997, 68 (69 f.); Rose, DB 1993, 1286 (1288). 39 Vgl. Fonk in Semler, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 1999, I 243 und Fn. 692.
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der Praxis häufig nur deklaratorische Klauseln, die bezüglich der Voraussetzungen der Widerrufsbefugnis auf die allgemeinen Vorschriften verweisen40. Im Ergebnis erweist sich die Errichtung eines Widerrufsvorbehalts als wenig effektiv, da die Mehrzahl der zum Schadensersatz führenden Pflichtverletzungen den einen Widerruf der Versorgungsleistungen rechtfertigenden Schweregrad der Verfehlung nicht erreichen werden. Hinzu kommt, dass sich die Gesellschaft regelmäßig dem Ermessen des Gerichts bei der Beurteilung der Schwere des Verstoßes ausgesetzt sieht. b) Vereinbarter „Tilgungsvorbehalt“ aa) Inhalt des Tilgungsvorbehalts Mehr Erfolg verspricht es daher, wenn sich die Gesellschaft bei Abschluss des Ruhegeldvertrages ausdrücklich das Recht vorbehält, im Schadensfall die Ruhegeldansprüche zum Zwecke der Aufrechnung durch eine einmalige Geldzahlung in Höhe der Schadenssumme abzulösen. „Zweifel“ im Sinne des § 271 Absatz 2 BGB bezüglich einer Berechtigung der Gesellschaft zur Vorleistung würden bei Vorliegen eines solchen „Tilgungsvorbehalt“ nicht bestehen. Und erst recht gäbe es keinen Platz für die Annahme eines der Ruhegeldvereinbarung zugrunde liegenden (konkludent vereinbarten) Ausschlusses der Erfüllbarkeit für einen weiter als ein halbes Jahr in die Zukunft ausgreifenden Zeitraum41. Macht sich demnach das Organmitglied gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig, ist es der Gesellschaft unter Berufung auf den Tilgungsvorbehalt möglich, unbegrenzt mit ihren Schadensersatzforderungen gegenüber den Ruhegeldansprüchen des Organmitglieds aufzurechnen. bb) AGB-Wirksamkeit Erfolgt die Einbeziehung der Vorbehaltsklausel in den Anstellungsvertrag durch vorformulierte Vertragsbedingungen, etwa durch Verweis auf die eigene Ruhegeld- oder Vergütungsverordnung42, stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit der so eingeführten Vereinbarung. Die Wirksamkeitskontrolle hat sich in diesem Fall an dem AGB-Recht (§§ 305 ff. BGB) zu orientieren. Zwar schließt § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB die Anwendbarkeit der AGB-Vorschriften bei Verträgen auf dem Gebiet des Ge-
__________ 40 Vgl. Fonk (Fn. 39), I 243; Hoffmann-Becking in Beck’sches Formularbuch (Fn. 11),
Form X.13 § 6 Absatz 9 Satz 2; Blomeyer in FS Ostheim, 1990, S. 517 (523 f.). 41 So die st. Rspr.; vgl. oben und auch Gernhuber (Fn. 19), § 12 V 2 a. 42 Die Möglichkeit einer Bezugnahme auf kollektive Regelungen, die nach § 310
Abs. 4 Satz 1 BGB von der AGB-Kontrolle ausgenommen sind, soll hier außer Betracht bleiben.
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sellschaftsrechts aus43. Davon ausgenommen sind jedoch solche Verträge, die – wie der vorliegende dienstrechtliche Anstellungsvertrag – zwar auf die eine oder andere Weise mit gesellschaftsvertraglichen Regelungen verbunden sind, im Kern aber auf die Regelung einer schuldrechtlichen Austauschbeziehung abzielen44. Setzt man die Tilgungsklausel als in den Anstellungsvertrag gemäß §§ 305 f. BGB wirksam einbezogen voraus, stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund der von der Rechtsprechung zur Erfüllbarkeit vertraglicher Ruhegeldansprüche entwickelten Grundsätze zunächst die Frage, ob es sich bei der Klausel um eine „überraschende Klausel“ im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB handelt. Prüfungsgegenstand ist dabei die konkrete Tilgungsklausel und nicht schon die generelle Verweisungsklausel auf die eigene Ruhegeldverordnung. Die Verwendung von Verweisungsklauseln liegt nämlich grundsätzlich im Rahmen dessen, was nach den Umständen in Dienst- und Arbeitsverträgen erwartet werden kann45. Ist die Klausel nicht „überraschend“ oder kann die Gesellschaft Maßnahmen ergreifen, um der Klausel das Überraschungsmoment zu nehmen, gilt es weiter zu prüfen, ob die Tilgungsklausel dem Klauselverbot des § 308 Nr. 4 BGB (Änderungsvorbehalt) standhält. (1) Tilgungsvorbehaltsklausel als überraschende Klausel im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB? Gemäß der Vorschrift des § 305c Abs. 1 BGB werden AGB-Klauseln dann nicht Vertragsbestandteil, wenn sie „so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht“. Mit dieser Einschränkung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Vertragspartner bei Vertragsabschluss vielfach nicht in der Lage ist, die vom Gegner vorformulierten, meist umfangreichen und abstrakt gefassten Geschäftsbedingungen sorgfältig durchzulesen, ihren Zusammenhang zu erfassen und ihre möglichen Auswirkungen gerade für das konkret abzuschließende Rechtsgeschäft sachgerecht einzuschätzen46. Der Vertragspartner soll in jedem Fall darauf vertrauen können, dass sich die einzelnen Regelungen im Großen und Ganzen im Rahmen dessen halten, was nach den Umständen bei Abschluss des Vertrages erwartet werden kann47. Es kommt deshalb darauf an, ob die in Bezug genommene Regelung objektiv ungewöhnlich und subjektiv überraschend ist.
__________ 43 Einzelheiten bei Basedow in MünchKomm.BGB, § 310 Rz. 80 ff.; Heinrichs in Pa44 45 46 47
landt, BGB, § 310 Rz. 50. Vgl. Basedow in MünchKomm.BGB, § 310 Rz. 83. Diehn, NZA 2004, 129 (132) m. w. N. in Fn. 48. BGH, DB 1975, 2366 (2367). BGH, DB 1975, 2366 (2367 f.); Basedow in MünchKomm.BGB, § 305c Rz. 1.
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Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die vorliegende Tilgungsklausel als „überraschend“. Denn das ruhegeldberechtigte Organmitglied darf bei Abschluss des Anstellungsvertrages berechtigterweise davon ausgehen, dass das Ruhegehalt monatlich ausgezahlt wird und zwar unabhängig von einer gegenüber der Gesellschaft bestehenden Schadensersatzpflicht. Dies wird durch die Rechtsprechung bestärkt, die ausgehend vom Zweck der Ruhegeldvereinbarung die Vorwegerfüllung von Ruhegeld als verkehrsunüblich betrachtet und sie daher nur beschränkt zulässt48. Der Tilgungsvorbehalt, der eine einmalige Auszahlung des Ruhegehalts in Höhe der Schadenssumme zum Zwecke der Aufrechnung vorsieht, weicht demnach soweit von den Vorstellungen und Erwartungen des Organmitglieds hinsichtlich der Zahlungsweise ab, dass die Klausel als „überraschend“ im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB anzusehen ist. Die Gesellschaft muss daher, will sie die Tilgungsregelung in Form von Allgemeinen Vertragsbedingungen wirksam in den Anstellungsvertrag miteinbeziehen, auf diese Klausel bei Vertragsabschluss ausdrücklich hinweisen. Ein solcher ausdrücklicher Hinweis auf die Klausel lässt die Annahme ihres Überraschungscharakters entfallen49. (2) Inhaltliche Klauselwirksamkeit gemäß § 308 Nr. 4 BGB (Änderungsvorbehalt) In einem weiteren Schritt ist die Wirksamkeit der Tilgungsklausel an § 308 Nr. 4 BGB zu messen. Nach dieser Vorschrift sind AGB-Klauseln unwirksam, durch die sich der Verwender das Recht ausbedingt, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, es sei denn, dass dem anderen Vertragsteil die Hinnahme einer solchen Änderung oder Abweichung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders zugemutet werden kann50. Unter einer solchen Änderungsklausel ist auch die vorliegende Tilgungsklausel zu fassen, da sie die Gesellschaft als Verwenderin berechtigt, im Schadensfall von der vereinbarten Leistungsmodalität abzuweichen und das Ruhegeld anstatt monatlich durch eine einmalige Geldzahlung in Höhe der Schadenssumme zum Zwecke der Aufrechnung zu begleichen51. Entscheidend für die inhaltliche Wirksamkeit der Tilgungsklausel ist daher, ob der Änderungsvorbehalt für das Organmitglied zumutbar ist. Dies ist der Fall, wenn das Interesse der Gesellschaft an einer mehrere Monatsrenten umfassenden Vorwegerfüllung des Ruhegehaltsanspruchs zum Zwecke der
__________ 48 49 50 51
S. BGH, NJW 1972, 154. Basedow in MünchKomm.BGB, § 305c Rz. 8; Diehn, NZA 2004, 129 (132). Basedow in MünchKomm.BGB, § 308 Nr. 4 Rz. 1. Zum Anwendungsbereich des § 308 Nr. 4 BGB: Basedow in MünchKomm.BGB, § 308 Nr. 4 Rz. 4 ff.
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Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen das Interesse des Organmitglieds an einer fortlaufenden Zahlungsweise überwiegt. Im Rahmen einer so vorzunehmenden Interessenabwägung spricht zunächst der Versorgungsgedanke des Ruhegeldes für ein Überwiegen des Interesses des Organmitglieds an regelmäßig fortlaufenden Bezügen und damit für die Unzumutbarkeit des Änderungsvorbehalts. Zugunsten der Gesellschaft ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Tilgungsklausel nur zum Zwecke der Aufrechnung für den Fall greift, dass sich das Organmitglied ihr gegenüber schadensersatzpflichtig gemacht hat. In diesem Fall steht es der Gesellschaft zunächst auch ohne Vorbehaltsklausel frei, gegen sie gerichtete Ruhegeldansprüche im Wege der Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen zu tilgen. Die Tilgungsvereinbarung verfolgt daher ausschließlich den Zweck, die oben dargestellte Gefahr der Verjährung der Schadensersatzansprüche der Gesellschaft abzuwenden. Soweit dies wiederum faktisch zu einem Verlust der (jedenfalls teilweise) ruhegelderhaltenden Verjährungseinrede des Organmitglieds führt, steht dies der Wirksamkeit der Klausel nicht entgegen. Hier gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass das Rechtsinstitut der Verjährung lediglich der Erhaltung des Rechtsfriedens und dem Schutz vor der Geltendmachung veralteter Ansprüche dienen soll – der Verlust des Anspruchs auf Gläubigerseite wird indessen nicht bezweckt52. Nach alle dem stellt sich die Tilgungsklausel für das ruhegeldberechtigte Organmitglied nicht als unzumutbar dar. Die Vorbehaltsklausel hält vielmehr den Anforderungen des § 308 Nr. 4 BGB stand und ist daher ihrem Inhalt nach AGB-wirksam. (3) Zwischenergebnis Die Vorbehaltsklausel ist inhaltlich mit § 308 Nr. 4 BGB vereinbar. Da sich die Klausel jedoch als „überraschend“ im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB erweist, bedarf es zu ihrer wirksamen Einbeziehung in den Anstellungsvertrag eines ausdrücklichen Hinweises auf den Abänderungsvorbehalt seitens der Gesellschaft. c) Verrechnungsvereinbarung Hat es die Gesellschaft versäumt, vorbeugende Regelungen zu schaffen, kann sie eine Verrechnungsvereinbarung in der Weise herbeiführen, dass sie dem
__________
52 BGHZ 17, 199 (206); BGHZ 59, 72 (74) = NJW 1972, 1460; BGH, NJW 1983, 388
(38 f.); BGH, NJW-RR 93, 1059 (1060); Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 194 Rz. 5 und 6; Bruggner-Wolter, Verjährung bei Schadensersatz aus Schutzpflichtverletzung, 1993, S. 31 f.; Noll, Zur Verjährung von Erfüllungsansprüchen aus Dauerschuldverhältnissen und anderen Ansprüchen auf eine dauernde Leistung, 2003, S. 51 ff.; Moufang, Das Verhältnis der Ausschlußfristen zur Verjährung, 1996, S. 73 ff.; Leenen, § 477 BGB: Verjährung oder Risikoverlagerung?, 1997, S. 22.
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Organmitglied seine Pflicht zur Leistung des Schadensersatzes erlässt und das Organmitglied im Gegenzug die Rentenschuld der Gesellschaft in gleicher Höhe erlässt. Eine solche Vereinbarung unterfällt als einverständliche Maßnahme nicht den Voraussetzungen des § 387 BGB mit den dazu entwickelten Grundsätzen der Rechtsprechung. Voraussetzung ist freilich, dass der Geschäftsführer dieser Vorgehensweise zustimmt. d) Erwirkung eines Titels Gelingt der Gesellschaft die Herbeiführung einer solchen Vereinbarung nicht oder sieht sie davon ab, verbleibt ihr noch die Möglichkeit, ihren drohenden Rechtsverlust dadurch abzuwenden, dass sie einen Titel über die Schadensersatzforderung erwirkt und so deren Verjährung hinausschiebt (vgl. § 197 Absatz 1 Nr. 3 BGB, wonach rechtskräftig festgestellte Ansprüche erst in dreißig Jahren verjähren). Dieser Weg hat natürlich den Nachteil, dass sich die Gesellschaft in Zugzwang befindet und zudem das Prozessrisiko trägt. e) Pfändung der Pensionsansprüche im Wege der Zwangsvollstreckung Ist es der Gesellschaft gelungen, einen entsprechenden Titel über ihre Schadensersatzforderung zu erwirken, kann sie sich schließlich die gegen sie bestehenden Pensionsansprüche unter bestimmten Voraussetzungen und in den Grenzen der §§ 850 ff. ZPO nach §§ 828 ff. ZPO auch für die Zukunft pfänden lassen53. f) Zwischenergebnis Der Gesellschaft stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um der oben dargestellten Verjährungsgefahr entgegenzuwirken. Das wirkungsvollste Instrument stellt der „Tilgungsvorbehalt im Schadensfall“ dar. Danach ist die Gesellschaft im Fall einer Schadensersatzpflicht des Organmitglieds berechtigt, zum Zwecke der Aufrechnung die ihr gegenüber bestehenden Ruhegeldansprüche durch eine einmalige Geldzahlung in Höhe der Schadenssumme abzulösen.
V. Der Begünstigte ist ein Dritter (Direktversicherung) Gerade in kleineren und mittleren Gesellschaften ist häufig die Altersversorgung in der Form der Direktversicherung anzutreffen. Dabei schließt die
__________ 53 Vgl. Putzo in Thomas/Putzo, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 829 Rz. 10 und 11; BGH, NJW
2003, 1457 (1458); BGH, NJW 1972, 154 (155).
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Gesellschaft als Versicherungsnehmerin auf das Leben des Organmitglieds eine Kapitalversicherung ab. Bezugsberechtigt für die Versicherungsleistungen sind das Organmitglied oder, im Falle seines Todes, eine vom Organmitglied bestimmte dritte Person (in der Regel der Ehegatte oder Lebenspartner), § 1b Abs. 2 Satz 1 BetrAVG. Rechtlich handelt es sich dabei um einen Vertrag zugunsten Dritter nach §§ 328 ff. BGB, 166 Abs. 2 VVG54. Nach der Auslegungsregel des § 330 BGB steht dem Drittbegünstigten (Organmitglied oder andere bestimmte Person) mit Eintritt des Versicherungsfalles ein unmittelbarer Anspruch auf Leistung gegenüber dem Versicherer zu. Aufgrund dieser Dreieckskonstruktion kommt eine Aufrechnung der Ruhegeldforderungen mit Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft nicht in Betracht. Hierfür fehlt es nämlich an der erforderlichen Gegenseitigkeit der Forderungen. Der Gesellschaft bleibt daher nur der Weg, nach Erwirkung eines entsprechenden Titels über die Schadensersatzforderung die gegenüber dem Versicherer bestehenden Ruhegeldforderungen des Organmitglieds nach den Bestimmungen der §§ 828 ff., 850 ff. ZPO pfänden und sich überweisen zu lassen.
VI. Zusammenfassung 1. Entgegen der von der Rechtsprechung und teilweise in der Lehre vertretenen Ansicht ist die Gesellschaft berechtigt, Ruhegeldansprüche des Organmitglieds durch eine Einmalzahlung zu tilgen. Die von der Gegenansicht angeführten Schutzgedanken, die für eine eingeschränkte Vorwegerfüllbarkeit des Ruhegeldes streiten sollen, greifen bei Organmitgliedern als Begünstigte schon wegen ihres zu erwartenden Verantwortungsbewusstseins im Umgang mit Geld nicht durch. Hinzu kommt, dass die Leitungsorgane selbst ein Interesse an einer Einmahlzahlung haben können, um etwa das Ruhegeld mündelsicher bei einer Bank anzulegen. 2. Will die Gesellschaft mit Schadensersatzansprüchen wegen Verletzung von Organpflichten gegen Ruhegeldansprüche des Organmitglieds aufrechnen, umfasst die Aufrechnung nach Auffassung der Rechtsprechung nur die innerhalb der nächsten sechs Monate fällig werdenden Ruhegeldzahlungen. Darüber hinausgehende Aufrechnungsversuche scheitern an der fehlenden Erfüllbarkeit der Ruhegehaltsansprüche. 3. Solche Schadensersatzteilbeträge, die keine Berücksichtigung bei der halbjährigen Voraustilgung im Wege der Aufrechnung finden, sehen sich trotz § 215 BGB der Gefahr der Verjährung ausgesetzt.
__________ 54 Beim Vertrag zugunsten Dritter bezeichnet man den Schuldner (Versicherung) als
Versprechenden, den Gläubiger (Gesellschaft) als Versprechensempfänger und den Dritten (Organmitglied bzw. eine weitere Person) als Begünstigten. Vgl. Brox/Walker (Fn. 2), § 32 Rz. 1.
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4. Neben der Erwirkung eines Titels über die Schadensersatzforderung steht der Gesellschaft zur Vermeidung der Verjährungsgefahr insbesondere die Möglichkeit zur Verfügung, sich bei Abschluss des Anstellungsvertrages das Recht vorzubehalten, im Schadensfall die Ruhegeldansprüche zum Zwecke der Aufrechnung durch eine einmalige Geldzahlung in Höhe der Schadenssumme abzulösen. Liegt eine solche Abänderungsklausel in Form von AGB vor, hält sie zwar der Inhaltskontrolle des § 308 Nr. 4 BGB stand, sie ist jedoch als „überraschend“ im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB zu qualifizieren und bedarf daher zu ihrer wirksamen Einbeziehung in den Anstellungsvertrag eines ausdrücklichen Hinweises seitens der Gesellschaft. 5. Erfolgt die Altersversorgung des Geschäftsführers in Form der Direktversicherung, steht dem Begünstigten ein unmittelbarer Anspruch gegen den Versicherer zu und die Aufrechnungsmöglichkeit der Gesellschaft scheitert an der erforderlichen Gegenseitigkeit von Schadensersatzforderung und Ruhegeldforderung.
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Vermögensbindung und Kapitalschutz in der AG – Versuch einer Differenzierung Inhaltsübersicht I. Das Bedürfnis nach abgestuftem Vermögensschutz im Aktienrecht II. Vom „vierfachen Grunde“ der aktienrechtlichen Vermögensbindung III. Abstufung der Vermögensbindung nach Schutzzwecken 1. Gläubigerschutz 2. Gleichbehandlung der Gesellschafter 3. Wahrung der Organkompetenzen
4. Ausweis in der Gesellschaftsbilanz IV. Folgen für kritische Fallgestaltungen 1. Kreditgewährung und -besicherung zugunsten von Gesellschaftern 2. Kapitalmarktrechtliche und mitgliedschaftsrechtliche Haftung 3. Satzungsmäßige Wertabgaben 4. Auszahlungen aus der AG & Co. KG V. Ergebnis
I. Das Bedürfnis nach abgestuftem Vermögensschutz im Aktienrecht Es gehört zu den Grundlehren des Kapitalgesellschaftsrechts, den Umfang der Vermögensbindung in der Aktiengesellschaft und in der GmbH unterschiedlich zu bestimmen. In der GmbH – so die h. M. – ist lediglich das Stammkapital dem Zugriff der Gesellschafter entzogen, während im Aktienrecht das gesamte Vermögen der Gesellschaft einer strengen Bindung unterliegt1. § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG, die Zentralnorm des aktienrechtlichen Kapitalschutzes, reicht als Grundlage dieser weit reichenden Verhaftung allerdings nicht aus. Dort ist lediglich davon die Rede, dass den Aktionären „die Einlagen nicht zurückgewährt werden“ dürfen. Daher verweist man zusätzlich auf § 57 Abs. 3 AktG und § 58 Abs. 4 AktG, die den Aktionär ausschließlich zum Bezug des in der Gesellschaftsbilanz ausgewiesenen und
__________ 1
RGZ 149, 385 ff. (400); Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 30 Rz. 5; Bayer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, § 57 Rz. 7 ff.; Flechtheim in Düringer/Hachenburg/Flechtheim, HGB, III/1, 3. Aufl. 1934, § 213 Anm. 1; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, I/1, Die juristische Person, 1983, § 8 IV 2 a; Henze in Hopt/Wiedemann (Hrsg.), Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 57 Rz. 9; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 57 Rz. 3; Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 57 Rz. 5 f.; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 30 GmbHG Rz. 3; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl. 2001, § 19 I Rz. 1, S. 312 f.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 29 II 2 a; Wiesner in MünchHdb. GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 16 Rz. 42; Würdinger, Aktienrecht und das Recht der verbundenen Unternehmen, 4. Aufl. 1981, § 9 I 2; zurückhaltend – eher zu einem Verständnis der Rechtslage in der AG im Sinne des GmbH-Rechts neigend – Joost, ZHR 149 (1985), 419 ff. (420).
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durch Gewinnverwendungsbeschluss freigegebenen Jahresgewinns (einschließlich aufgelöster Rücklagen und Gewinnvorträge) berechtigen. Vor diesem Hintergrund ist die im Recht der GmbH überwiegend akzeptierte freie Verfügung der GmbH-Gesellschafter über das Vermögen der Gesellschaft oberhalb der Stammkapitalgrenze, die sinnfällig in der Berechtigung zur einvernehmlichen Entnahme von Vermögensgegenständen außerhalb der offenen Gewinnausschüttung zum Ausdruck kommt2, in der Aktiengesellschaft nicht akzeptiert. Dennoch mehren sich die Fälle, in denen das Bedürfnis nach einer differenzierenden Anwendung der § 57 Abs. 1, 3, § 58 Abs. 4 AktG zum Ausdruck kommt. Dabei zeigt sich, dass es Fallgestaltungen gibt, in denen für bestimmte Rechtsgeschäfte zwischen der Aktiengesellschaft und ihren Aktionären zwar die Grenze des aktienrechtlichen Grundkapitals (zuzüglich gesetzlicher Rücklagen nach § 150 AktG) sinnvoll erscheint, nicht jedoch eine volle Bindung auch der freien Rücklagen und laufenden (noch nicht förmlich zur Ausschüttung freigegebenen) Gewinne3. Beispielhaft sind: – – – –
die Gewährung von Darlehen oder Kreditsicherheiten durch die AG an ihre Gesellschafter4; die Erfüllung von kapitalmarktrechtlichen und mitgliedschaftsrechtlichen Haftungsverbindlichkeiten der Gesellschaft5; der Abschluss nachteiliger Geschäfte in Verfolgung satzungsmäßiger Zwecke6; die Entnahme von KG-Vermögen im Rahmen einer AG & Co. KG7.
Dies wirft die Frage auf, ob sich für eine Begrenzung der jeweiligen Vermögensbindung auf das Grundkapital (zuzüglich der gesetzlichen Rücklagen) in diesen Fällen eine gemeinsame Wurzel finden lässt. Dafür ist es erforderlich, sich die differenzierte Zwecksetzung der aktienrechtlichen Ausschüttungssperren vor Augen zu führen.
II. Vom „vierfachen Grunde“ der aktienrechtlichen Vermögensbindung In seiner grundlegenden Monographie aus dem Jahre 1949 über „Kapital, Gewinn und Ausschüttung bei Kapitalgesellschaften“ hat Kurt Ballerstedt die Teleologie der in den §§ 57, 58 AktG 1965 (damals §§ 52, 54 AktG 1937)
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BGHZ 122, 333 ff. (336); BGH, ZIP 1999, 1352 ff. (1353) m. Anm. Altmeppen. Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 2 ff.; Henze, AG 2004, 405 ff. Dazu unten IV. 1. Dazu unten IV. 2. Dazu unten IV. 3. Dazu unten IV. 4.
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niedergelegten Ausschüttungsgrenzen für Aktiengesellschaften auf vier Schutzrichtungen zurückgeführt8: –
der „Schutz der Gläubiger“: während der Dauer des Bestehens der Gesellschaft soll den Aktionären nicht die Möglichkeit gegeben werden, durch verdeckte Ausschüttungen zu Lasten der Kreditoren den Haftungsfonds der Gesellschaft zu schmälern.
–
die „Gleichbehandlung der Aktionäre“: dieser heute in § 53a AktG niedergelegte Grundsatz steht einseitigen Begünstigungen einzelner Gesellschafter durch Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen entgegen.
–
die „Zuständigkeit der Gesellschaftsorgane“: durch illegitime Abgaben aus dem Gesellschaftsvermögen würde die gesetzliche Zuständigkeit der Hauptversammlung zur Beschlussfassung über die Ausschüttung von Dividenden unterminiert. Andererseits sollen Vorstand und Aufsichtsrat nicht in ihrer Befugnis zur Bildung von Rücklagen für Investitionen oder als Risikopuffer eingeschränkt werden.
–
der „volle Gewinnausweis“ in der Bilanz der Gesellschaft, der nicht durch außerbilanzielle Wertverschiebungen verfälscht werden soll.
Diese vier Zwecksetzungen werden in der aktienrechtlichen Diskussion noch heute als maßgeblich anerkannt9. Darüber hinaus wird zur Begründung einer strengen Vermögensbindung in der Aktiengesellschaft angeführt, dass der Kapitalmarkt vor dem unzutreffenden Ausweis von Scheindividenden (und damit der Vorspiegelung höherer Ertragskraft des Unternehmens) geschützt werden solle10. Doch betrifft diese Sorge gerade nicht die in der Praxis besonders wichtige Situation „verdeckter“ Gewinnausschüttungen, sondern bezieht sich nur auf den Sonderfall übertriebener offener Ausschüttungen. Schließlich wird formuliert, dass in der Beschränkung der Aktionäre auf den zur Verteilung bestimmten Gewinn die rechtliche Eigenständigkeit der Aktiengesellschaft als juristische Person11 oder jedenfalls ihr schutzwürdiges wirtschaftliches Bestandsinteresse zum Ausdruck komme12. Beide Annahmen sind jedoch nur bedingt tauglich, eine Leitlinie für das Maß des Vermögensschutzes im Aktienrecht zu finden. Dies ist nicht nur darin begründet, dass es schwer fällt, ein eigenständiges „Unternehmensinteresse“ der Aktiengesellschaft zu formulieren und zu
__________ 8 S. 132 ff.; kritisch zu den „aufweichenden“ Tendenzen in der Aufgliederung durch
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Ballerstedt die Schrift von Weisser, Der Gewinn der Aktiengesellschaft im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Aktionären, 1962, S. 123 ff. Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 2; Henze in Großkomm.AktG, § 57 Rz. 7; Lutter in KölnKomm.AktG, § 57 Rz. 2. Flechtheim in Düringer/Hachenburg/Flechtheim, HGB, § 213 Anm. 1. Flume (Fn. 1). Flechtheim in Düringer/Hachenburg/Flechtheim, HGB, § 213 Anm. 1 und Ebenroth in FS Trinkner, 1995, S. 119 ff. (124).
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operationalisieren13. Es reicht der Hinweis aus, dass die Hauptversammlung einerseits und Vorstand und Aufsichtsrat andererseits berufen sind, im Rahmen der jeweiligen Entscheidung über die Bildung von Rücklagen nach § 58 Abs. 2–3 AktG den Umfang der Selbstfinanzierung der Aktiengesellschaft festzulegen14. Der Gesichtspunkt der Selbstfinanzierung wird daher im Rahmen des von Ballerstedt formulierten Ziels der Wahrung von Organzuständigkeiten bei der Abgabe von Werten aus dem Unternehmensvermögen berücksichtigt. Auf der Grundlage dieser vier wesentlichen Zielsetzungen der aktienrechtlichen Vermögensbindung ist der Weg frei, für bestimmte Sachverhalte die Frage nach der Notwendigkeit einer vollen Vermögensbindung und der Möglichkeit eines abgestuften Schutzes zu stellen. Vor einer Würdigung der o. a. Fallgestaltungen bedarf es jedoch noch einiger kurzer Zwischenüberlegungen.
III. Abstufung der Vermögensbindung nach Schutzzwecken 1. Gläubigerschutz Zunächst muss geklärt werden, ob aus der Sicht des Gläubigerschutzes im Aktienrecht die volle Vermögensbindung oder lediglich die Verhaftung der Einlagen und der gesetzlichen Rücklage für maßgeblich zu erachten ist. Der Wortlaut der entscheidenden Norm, des § 57 Abs. 1 AktG, deutet auf eine Relevanz lediglich der „Einlagen“, d. h. des gezeichneten und aufgebrachten Grundkapitals i. S. von §§ 1 Abs. 2, 7, 23 Abs. 3 Nr. 3 AktG. Das Verbot, den Aktionären Leistungen aus dem Vermögen zu gewähren, das zur Abdeckung der Kapitalziffer erforderlich ist, dient daher dem Schutz der Gesellschaftsgläubiger15. Dennoch wird traditionell gemeint, dass das gesamte Vermögen der Aktiengesellschaft (auch) im Gläubigerinteresse gebunden sei und lediglich im Rahmen von Gewinnausschüttungen – gegebenenfalls unter Auflösung freier Rücklagen und Verwendung von Gewinnvorträgen – zu Lasten der Gläubiger entnommen werden dürfe16. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die angeblich umfassende gläubigerschützende Wirkung der Vermögensbindung im Aktienrecht lediglich einen „Reflex“17 der übrigen geschilderten Schutzzwecke bildet. Bei
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13 Zur Aufgliederung des „Eigeninteresses“ der Gesellschaft in das Interesse der
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Gläubiger an Bedürfnisbefriedigung und das Interesse der Gesellschafter an Zweckverwirklichung s. Schön, ZHR 168 (2004), S. 268 ff., 281 f. Zur Problematik der „Selbstfinanzierung“ bei der KG s. BGHZ 132, 263 ff. und Schön in Hommelhoff/Rowedder/Ulmer, 5. Hachenburg-Gedächtnis-Vorlesung 2002, 2004, S.17 (30 ff.). Henze, AG 2004, 406. RGZ 107, 161 (168); BGHZ 90, 381 (386); Flechtheim in Düringer/Hachenburg/ Flechtheim, HGB, § 213 Anm. 1. Ebenroth (Fn. 12), S. 125; Habersack, Die Mitgliedschaft – subjektives und „sonstiges“ Recht, 1996, S. 214 ff. (217).
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historischer Betrachtung ist zunächst erkennbar, dass „nach dem Wesen der Actiengesellschaft deren Gläubigern nur das statutenmäßige Grundcapital als Garantie geboten und dieselben demnach so lange nicht beeinträchtigt sind, als dieses Capital nicht willkührlich vermindert wird“18. Das Gesetz selbst unterscheidet daher deutlich zwischen der Auflösung von freien Rücklagen, die ohne Beteiligung der Gesellschaftsgläubiger möglich ist und von den Organen der Gesellschaft dazu genutzt werden kann, das Gesellschaftsvermögen bis zur Grenze des Grundkapitals und der gesetzlichen Rücklagen herabzumindern, und der eigentlichen Kapitalherabsetzung, die nur unter Wahrung besonderer Gläubigerrechte (§ 225 AktG: Sicherheitsleistung, Bekanntmachung, Ausschüttungssperrfrist) möglich ist. Eine bedingt gläubigerschützende Wirkung besitzt schließlich der Ansatz von gesetzlichen Rücklagen, die nicht ausgeschüttet, jedoch zur Deckung von Jahresfehlbeträgen oder Verlustvorträgen aufgelöst werden dürfen (§ 150 AktG). Daher lässt sich eine rechtliche Bindung des „freien Vermögens“ zugunsten der Gläubiger nicht annehmen. Man kann allenfalls formulieren, dass die freien Rücklagen in der Praxis als „zusätzliches Polster“19 faktisch die Interessen der Gläubiger fördern. Die in §§ 57 Abs. 3, 58 Abs. 4 AktG niedergelegten Ausschüttungssperren des Aktienrechts verfolgen daher lediglich den Zweck, den Leitungsorganen der Aktiengesellschaft und der Hauptversammlung die ihnen zustehenden (Mit-)Entscheidungsrechte über die Bildung von Rücklagen oder Ausschüttung von Gewinnen zu sichern20. Daher unterschied man bereits zu § 213 HGB 1897 zwischen Ausschüttungen „entgegen dem Grundsatz von der Erhaltung des Einlagereinvermögens und den Bestimmungen über die Bildung von gesetzlichen Reserven“ und bloß anfechtbaren Gewinnverteilungen „entgegen den Statuten“21. Mit der späteren Beschränkung des Aktionärsanspruchs auf den freigegebenen Bilanzgewinn in §§ 52, 54 AktG 1937 sollte in erster Linie die Kompetenz zur Rücklagenbildung durch Vorstand und Aufsichtsrat, nicht jedoch das Interesse der Gläubiger abgesichert werden22. Die Annahme eines umfassenden Kreditorenschutzes im Aktienrecht wäre daher nur dann gerechtfertigt, wenn man die kompetenz- und verfahrens-
__________ 18 Renaud, Recht der Actiengesellschaften, 1863, § 64, S. 569; es ist bemerkenswert,
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dass Wilhelm (in FS Werner Flume zum 70. Geburtstag, 2. Band, 1978, S. 337), der sich für eine weitgehende Angleichung der Vermögensbindung in der GmbH und in der AG einsetzt, auch für die AG den historischen Unterschied zwischen dem streng gebundenen Kapital und den „freien“ überschießenden Beträgen präzise herausarbeitet (a. a. O., S. 348 ff.). Henze, AG 2004, 407. Von Hahn, Commentar zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch, 1.Bd., 3. Aufl. 1877, Art. 216 § 6. Fischer in Ehrenberg’s Handbuch des gesamten Handelsrechts, 3. Bd., 1. Abt., 1916, § 55 I 1 a, S. 390 f. Henze, AG 2004, 409 f.; näher zur Entwicklung der Gesetzesfassungen Schütte, Die Dividendenentscheidung in der Aktiengesellschaft, 1995, S. 26 ff.
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rechtlichen Voraussetzungen für Ausschüttungen nach § 58 AktG zugleich als gläubigerschützend qualifizieren würde. Dafür ließe sich allenfalls der Gesichtspunkt der Transparenz ins Feld führen. Man könnte überlegen, ob die in § 57 Abs. 3, § 58 Abs. 4 AktG festgelegte Einschränkung des Handlungsspielraums der Gesellschaftsorgane auf „offene Ausschüttungen“ (auch) im Interesse der Information der Kreditoren über das Maß des jeweiligen Bilanzgewinns und des zur Ausschüttung vorgesehenen Teils angeordnet sein könnte. Doch lässt sich eine solche Teleologie weder aus der Systematik noch aus der Entstehungsgeschichte der Norm herleiten23. Auch die (2.) Kapital-RL der Europäischen Gemeinschaft, deren Art. 15 heute für § 57 AktG die maßgebliche Auslegungsnorm enthält, spricht in ihren Erwägungsgründen nicht von einer umfassenden Vermögensbindung, sondern lediglich davon, dass das „Kapital“ den Gläubigern nicht entzogen werden dürfe24. Daraus lässt sich schließen, dass die strenge Auslegung der §§ 57, 58 AktG nicht zugleich zu einer gläubigerschützenden Verhaftung des gesamten Vermögens der Aktiengesellschaft führt. 2. Gleichbehandlung der Gesellschafter Demgegenüber lässt sich auf der Grundlage des Gebotes der Gleichbehandlung der Gesellschafter eine umfassende Bindung des Vermögens der Aktiengesellschaft begründen25. Die Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens macht nicht an der Grenze des Grundkapitals (oder der gesetzlichen Rücklagen) Halt26. Daher ist auch im GmbH-Recht anerkannt, dass einseitige Bevorzugungen für einzelne Gesellschafter insgesamt (aus dem Gesichtspunkt des Missbrauchs der Vertretungsmacht der Geschäftsführer) rechtswidrig sind und auch nicht aus „freiem“ Vermögen durchgeführt werden dürfen27.
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23 So auch Bechlivanis, Vermögensbindung bei der unabhängigen und der einfach
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faktisch konzernierten Aktiengesellschaft, 2004, S. 107 ff.; für eine differenzierte Sicht auch Bitter, ZHR 168 (2004), 302 ff. (308 ff.). Vierter Erwägungsgrund: „Die Gemeinschaft muss deshalb Vorschriften erlassen, um das Kapital als Sicherheit für die Gläubiger zu erhalten, indem insbesondere untersagt wird, dass das Kapital durch nicht geschuldete Ausschüttungen an die Aktionäre verringert wird (…)“; dazu ausführlich Schön in FS Kropff, 1997, S. 285 ff. und Mülbert in FS Lutter, 2000, S. 535 ff. Zum Gesellschafterschutz als übergreifendem Ziel der Vermögensbindung in unterschiedlichen Gesellschaftsformen Bitter, ZHR 168 (2004), 302 ff. (338). RGZ 54, 128 (132): „Das Gesetz sorgt aber weiter dafür, dass das in der Aktiengesellschaft konzentrierte Kapital nicht zum Vorteile einzelner seinem Zwecke nachträglich entfremdet wird. Diesem Gesichtspunkt entspricht (…) insbesondere der für die vorliegende Entscheidung ausschlaggebende Grundsatz des § 213, wonach die Gesellschafter ihre Einlagen nicht zurückfordern können und – solange die Gesellschaft besteht – nur Anspruch haben auf den Reingewinn, soweit dieser nicht nach dem Gesetze oder dem Gesellschaftsvertrage von der Verteilung ausgeschlossen ist.“ Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 29 Rz. 50; Emmerich in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, § 29 Rz. 107.
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Für Aktiengesellschaften ist dieses Prinzip heute in § 53a AktG, Art. 42 (2.) Kapital-RL festgeschrieben. Dennoch bildet auch der Gleichbehandlungsgrundsatz keine unüberwindliche Grenze für Vermögensverschiebungen aus dem gebundenen Fonds der Aktiengesellschaft. Zunächst hindert dies nicht verdeckte Gewinnausschüttungen, die gleichmäßig an alle Aktionäre erfolgen, z. B. an einen Alleingesellschafter. Darüber hinaus sind einseitige Vorteilszuwendungen an bestimmte Gesellschafter oder Gesellschaftergruppen zulässig, wenn die übrigen Gesellschafter ihr Einverständnis erteilen oder bereits die Satzung entsprechende Sonderrechte enthält. Daher ist aktienrechtlich anerkannt, dass „Verstöße“ gegen § 53a AktG durch statutarische Vorgaben oder das individuelle Einverständnis der benachteiligten Gesellschafter vermieden werden können. 3. Wahrung der Organkompetenzen Wieder eine andere Grenzziehung zeigt sich im Hinblick auf den Schutz der „Organzuständigkeiten“ von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung, deren Entscheidung über die Ausschüttung des Jahresgewinns sowie die Bildung oder Auflösung von (freien) Rücklagen kompetenz- und verfahrensgerecht erfolgen soll28. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die Grenze des Grundkapitals (oder der gesetzlichen Rücklagen) nicht als relevant. Denn die Entscheidungsfreiheit der Organe über das Maß der Rücklagenbildung und Dividendenzahlung beginnt überhaupt erst oberhalb dieser Grenze. Daher muss vor allem bei der Verfügung über „freies Vermögen“ die gesetzliche Kompetenzordnung gewahrt werden, wenn es darum geht, welche Mittel der Aktiengesellschaft zur Selbstfinanzierung ihrer Unternehmenstätigkeit zur Verfügung gestellt werden und in welchem Umfang die Dividendenwünsche der Aktionäre bedient werden sollen29. Allerdings kann diese Entscheidungszuständigkeit der Gesellschaftsorgane keinen institutionellen Schutz beanspruchen, wenn es um die Bedienung von Ansprüchen gegen das Gesellschaftsvermögen geht, welche die Gesellschaft kraft gesetzlicher Anordnung oder satzungsmäßiger Verpflichtung erfüllen muss. Vielmehr hat der Vorstand die gesetzlichen oder satzungsmäßigen Obligationen der Aktiengesellschaft pflichtgemäß zu erfüllen. 4. Ausweis in der Gesellschaftsbilanz Keine eigenständige Zielsetzung, sondern eher eine Hilfsfunktion im Hinblick auf die oben genannten Schutzzwecke der aktienrechtlichen Vermögensbindung muss man der Forderung nach einem offenen Ausweis von
__________ 28 Fischer (Fn. 21), § 55 I 2 a, S. 391 f. 29 Bechlivanis (Fn. 23), S. 115 ff.
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Gewinnausschüttungen zuweisen. Dieser Gesichtspunkt findet sich auch im europäischen Recht, und zwar in Art. 15 Abs. 1 lit.c (2.) Kapital-RL30. Hier geht es darum, dass im Rechenwerk der Gesellschaft deutlich zwischen „Kapital“ und „Gewinn“ unterschieden wird und Verstöße gegen den Gläubigerschutz, den Gesellschafterschutz und die Organzuständigkeiten nicht durch ihren „verdeckten“ Charakter einer rechtlichen Sanktion entzogen werden können31. Auch dieser Schutzzweck verlangt nicht nach absoluter Vermögensbindung im Aktienrecht; er ist gewahrt, wenn für Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen und andere Geschäfte zwischen der Aktiengesellschaft und ihren Aktionären eine hinreichende Publizität erzeugt wird, die nicht notwendig im Rahmen der kaufmännischen Rechnungslegung erfolgen muss.
IV. Folgen für kritische Fallgestaltungen Bei der Durchsicht dieser unterschiedlichen Zwecksetzungen und Abgrenzungen im Rahmen der aktienrechtlichen Vermögensbindung darf nicht verkannt werden, dass im Regelfall einer verdeckten Wertabgabe zwischen der Aktiengesellschaft und ihren Aktionären sämtliche Schutzzwecke gemeinsam eingreifen. Der unangemessen günstige Verkauf von Gesellschaftsvermögen an einen Gesellschafter oder die unangemessen hohe Vergütung für seine Vorstandstätigkeit werden immer zu einem Verstoß gegen § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG und damit zu einem Rückgewähranspruch aus § 62 Abs. 1 AktG führen. Demgegenüber ergibt sich für die unter I. dargestellten Fallgestaltungen aus dieser kurzen Analyse ein differenziertes Bild. 1. Kreditgewährung und -besicherung zugunsten von Gesellschaftern Für das GmbH-Recht hat der Bundesgerichtshof vor kurzem entschieden, dass die schlichte Hingabe eines unbesicherten (wenn auch ordnungsgemäß verzinsten) Darlehens durch eine GmbH an ihre Gesellschafter auch dann gegen § 30 GmbHG verstoßen kann, wenn der Rückzahlungsanspruch gegen den Gesellschafter im Zeitpunkt der Ausreichung des Darlehens vollwertig ist32. Grundlage dieser Judikatur ist die Überlegung, dass mit der Verlagerung der Liquidität von der Gesellschaft auf den Gesellschafter (von einer Tochtergesellschaft auf die Muttergesellschaft) eine Risikoverschiebung zwischen den Gläubigern der Gesellschaft und den Gläubigern ihrer Gesellschafter stattfindet. Die Gesellschaftsgläubiger haben nach der Aushändigung der Darlehenssumme an den Gesellschafter nicht mehr den „ersten
__________ 30 Mülbert (Fn. 24), S. 545 ff. 31 S. auch Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, § 10 Rz. 342 Fn. 58. 32 BGH, BGHZ 157, 72 ff. = NJW 2004, 1111 ff.
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Zugriff“ auf diesen Bestandteil des Schuldnervermögens, vielmehr sind sie dem Risiko der Insolvenz des Gesellschafters und damit dem „Vorgriff“ von dessen Gläubigern ausgesetzt33. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Judikatur auch im Aktienrecht Geltung beanspruchen kann34. Problematisch erscheint jedoch, ob das Verbot der Hingabe ungesicherter Darlehen auch dann eingreifen muss, wenn diese Darlehen aus „freiem“ Vermögen der Aktiengesellschaft ausgereicht werden können. Das ist nicht der Fall35. Der gläubigerschützende Zweck der §§ 57, 58 AktG findet seine Grenze bei dem Betrag des Grundkapitals (zuzüglich der gesetzlichen Rücklagen). Aus den freien Rücklagen können solche Darlehen ohne Rücksicht auf Gläubigerinteressen gewährt werden. Auch die übrigen Schutzzwecke der §§ 57, 58 AktG stehen nicht entgegen. Das Gebot der Gleichbehandlung der Gesellschafter ist bereits im Ansatz nicht berührt, weil dem empfangenden Gesellschafter kein dauerhafter Vorteil, sondern nur eine zeitlich begrenzte Kapitalnutzung zugewendet wird, für die er ein angemessenes Entgelt leisten muss. Darin liegt eben nicht eine Vermögensverschiebung zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter zu Lasten der Mitgesellschafter (in der Bilanz tritt an die Stelle des ausgereichten Geldbetrages die Rückzahlungsforderung), sondern nur eine Risikoverlagerung zwischen den Gruppen der Gläubiger der Gesellschaft und des Gesellschafters. Auch die „Organzuständigkeiten“ in der Aktiengesellschaft sind durch eine solche Darlehensvergabe nicht verletzt, denn die Ausreichung von Darlehen gehört (im Rahmen des Unternehmensgegenstandes) zum Aufgabenbereich des Vorstandes nach § 76 AktG. Schließlich werden diese Darlehen auch in der Bilanz ausgewiesen, so dass dem Bedürfnis nach Transparenz Rechnung getragen ist. 2. Kapitalmarktrechtliche und mitgliedschaftsrechtliche Haftung Für die Frage, ob und in welchem Umfang Gesellschafter als „Investoren“ gegen die Gesellschaft kapitalmarktrechtliche Haftungsansprüche zu Lasten
__________ 33 Zu diesem „Rangproblem“ näher Schön, ZHR 159 (1995), 351 ff. m. w. N. 34 Bayer (Fn. 24), S. 1011 (1017 ff.); Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689 (690);
Hüffer, AG 2004, 416 (417 f.); die beiden letztgenannten Autoren erwägen, mit Hilfe des „Konzernprivilegs“ des § 311 AktG die starre Vermögensbindung im Fall des Cash-Managements zu lockern. 35 S. die – insgesamt etwas unentschlossenen – Überlegungen bei Cahn, Der Konzern 2004, 235 (240); Reidenbach, WM 2004, 1421 (1427); Seidel, DStR 2004, 1130 (1131); Wessels, ZIP 2004, 793 (796), der jedoch aus § 311 AktG eine umfassende Vermögensbindung auch für diesen Fall herleiten will; gegen eine abgestufte Bindung auch Bayer (Fn. 24), S. 1016 (1017 f.) und Bayer/Lieder in ZGR 2005, 133 ff. (146 f.) (entgegen der von ihm selbst in seiner Kommentierung zu § 57 AktG in MünchKomm.AktG vorgetragenen differenzierten Betrachtungsweise).
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des Vermögens der Aktiengesellschaft geltend machen können36, ist im Schrifttum bereits vorgeschlagen worden, die Grenze beim gezeichneten Grundkapital (zuzüglich gesetzlicher Rücklagen) zu ziehen37. Gleiches gilt für Haftungsansprüche aus der Verletzung ihres Mitgliedschaftsrechts38. Dem ist zuzustimmen. Zwar sprechen gute Gründe dafür, die Eigenkapitalgeber im Rahmen ihrer Ansprüche aus der Kapitalmarkthaftung mit Nachrang gegenüber den übrigen Gläubigern der Gesellschaft auszustatten. Doch kann dieser Nachrang nicht weiter reichen als der dem Gläubigerschutz gewidmete Haftungsfonds der Aktiengesellschaft. Soweit aus „freiem“ Vermögen Haftungsansprüche befriedigt werden können, ist ein Verstoß gegen § 57 Abs. 1 AktG daher nicht festzustellen. Die übrigen Schutzzwecke der aktienrechtlichen Vermögensbindung können in diesen Fallgestaltungen ebenfalls nicht zur Geltung kommen. Die Frage nach der Gleichbehandlung der Gesellschafter erübrigt sich, wenn und soweit der Gesetzgeber die kapitalmarktrechtliche Haftung zugunsten von Investoren bewusst angeordnet hat39. Auch kann die Regelung der Zuständigkeiten für die Organe der Aktiengesellschaft durch eine Kapitalmarkthaftung mit freien Vermögensteilen nicht beeinträchtigt werden, weil in der Frage der Erfüllung dieser gesetzlichen Verbindlichkeiten ohnehin keine Entscheidungsfreiheit des Vorstandes oder der übrigen Gesellschaftsorgane besteht. Für hinreichende Transparenz sorgt schließlich der Ausweis dieser
__________ 36 Zu den Grundlagen dieser Kapitalmarkthaftung s. Fleischer, Empfiehlt es sich, im
Interesse des Anlegerschutzes und zur Förderung des Finanzplatzes Deutschland das Kapitalmarkt- und Börsenrecht neu zu regeln?, Gutachten F für den 64. Deutschen Juristentag, 2002, S. F 55 ff., F 95 ff. 37 Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 24 m. w. N. und Rz. 89 (zu Haftungszusage gegenüber Emissionsinstituten); ders. in Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/ Ulmer, Corporate Governance, ZHR-Beiheft 71, 2002, S. 137 (161 f.); Schwark in FS Raisch, 1995, S. 269 ff. (288 f.); Henze, NZG 2005, 114 ff. (118 ff.); im früheren Schrifttum bereits Breit, ZHR 76 (1915), 415 (438); weiter differenzierend Flechtheim, JW 1916, 937 (939), der dem Schadensersatzanspruch des Investors insoweit stattgeben will, als der in der AG erwirtschaftete „freie“ Gewinn tatsächlich zur Verteilung an die Aktionäre gelangt; rechtspolitisch wird dies unterstützt von Baums, ZHR 167 (2003), 139 (168); Horn in FS Ulmer, 2003, S. 817 ff., der jedoch de lege lata – trotz der entgegenstehenden Gesetzesbegründung zu § 45 BörsG n. F. – zu einer vollständigen Vermögensbindung gelangt (S. 826). 38 Henze, AG 2004, 407 ff., 409; Habersack (Fn. 17), S. 214 ff. (217); s. bereits für Schadensersatzansprüche als Folge der Nichtigerklärung durchgeführter Kapitalerhöhungen Zöllner/Winter, ZHR 158 (1994), 59 (67 f.). 39 Dazu die rechtspolitische Kritik von Fleischer (Fn. 36), S. F 98; Baums, ZHR 167 (2003), 139 (166); Horn (Fn. 37), S. 827; in diese Richtung bereits RGZ 54, 128 (132): „Die sowohl zum Schutze des mit der Aktiengesellschaft kontrahierenden Publikums als im Interesse der Gesamtheit der Aktionäre getroffenen Vorschriften können auch nicht dadurch außer Wirksamkeit gesetzt werden, dass im Einzelfalle ein Aktionär durch schuldhaftes Verhalten der Gesellschaftsorgane zu seiner Beteiligung veranlasst worden ist.“; ebenso RGZ 62, 29 (30); RGZ 77, 11 (13).
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Zahlungen im handelsrechtlichen Jahresabschluss (vor allem in der Gewinnund Verlustrechnung). 3. Satzungsmäßige Wertabgaben Eine weitere Sonderform von Wertabgaben liegt in denjenigen Fällen vor, in denen eine Aktiengesellschaft nicht streng auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, sondern öffentliche oder gemeinnützige/gemeinwirtschaftliche Zwecke verfolgt und in diesem Rahmen Leistungen an Gesellschafter (oder an Dritte auf Weisung der Gesellschafter) ohne angemessene Gegenleistung erbringt. In diesen Fällen kann zunächst kein Zweifel daran bestehen, dass die satzungsmäßigen Vorgaben nicht von den gläubigerschützenden Grundregeln des Aktienrechts entbinden können. Die Aktiengesellschaft darf daher keine Werte aus dem Gesellschaftsvermögen ohne angemessene Gegenleistung abgeben, wenn diese Wertverschiebungen ihr Grundkapital (oder die gesetzlichen Rücklagen) angreifen würden. Aus „freiem“ Vermögen können derartige „unangemessene“ Geschäfte jedoch getätigt werden40. Eine Grenze könnte sich allenfalls aus dem Gebot der Gleichbehandlung der Aktionäre oder der Wahrung der Organkompetenzen ergeben. Doch finden sowohl das Gleichbehandlungsgebot als auch die Organzuständigkeit ihre Grenzen in der (zulässigen) Ausgestaltung der Satzung. Die Satzung kann Ungleichbehandlungen (explizit) rechtfertigen, sie kann auch den Vorstand zu Wertabgaben ohne (angemessene) Gegenleistung verpflichten. In diesen Fällen – beispielhaft ist etwa die Führung von Kultur- oder Versorgungsbetrieben durch eine Aktiengesellschaft im Auftrag einer Gebietskörperschaft – stehen die §§ 57, 58 AktG dem Verbrauch „freien“ Vermögens für die Erfüllung satzungsmäßiger Zwecke nicht entgegen. 4. Auszahlungen aus der AG & Co. KG Einen weiteren Fall, der für einen abgestuften Vermögensschutz in der Aktiengesellschaft beispielhaft sein kann, finden wir in der Beteiligung einer Aktiengesellschaft an einer Personenhandelsgesellschaft im Sinne von §§ 129a, 177a HGB. Für den Fall der GmbH & Co. KG ist seit langem anerkannt, dass Auszahlungen der KG an einen Kommanditisten, der ebenfalls Gesellschafter der GmbH ist, dem Auszahlungsverbot des § 30 GmbH unterliegen, wenn die Minderung des Aktivvermögens der KG (wegen der Komplementärhaftung der GmbH für die Schulden der KG) den Bilanzansatz bei der GmbH unter die Grenze des Stammkapitals führt41. Bei der Aktienge-
__________ 40 Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 95; Schön, ZGR 1996, 429 (453 f.); a. A.
Parmentier, ZIP 2001, 551; ähnlich wie hier in Analogie zu dem Sonderfall genossenschaftlicher Aktiengesellschaften Mülbert (Fn. 24), S. 548 ff. 41 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2002, § 172 Rz. 128; Karsten Schmidt verdanke ich den Hinweis auf die ungelöste Parallelproblematik in der AG.
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sellschaft ist unklar, welche Folgen eine Auszahlung von KG-Vermögen an den Kommanditisten hat, der gleichzeitig Aktionär ist. Auf der tradierten Grundlage, dass das gesamte Vermögen der Aktiengesellschaft gegen Zuwendungen an Gesellschafter außerhalb der offenen Gewinnausschüttung geschützt ist, müsste man auch jede Zuwendung aus dem KG-Vermögen für einen Verstoß gegen §§ 57, 58 AktG halten. Dies kann jedoch im Lichte der o. a. Zwecksetzungen der aktienrechtlichen Vermögensbindung nicht überzeugen. Soweit das Vermögen der Aktiengesellschaft zum Zwecke des Gläubigerschutzes erhalten werden muss, beschränkt sich diese Vorgabe auf das Grundkapital (zuzüglich der gesetzlichen Rücklagen). Daher können auch Auszahlungen aus dem KG-Vermögen das Verbot der Einlagenrückgewähr nur dann berühren, wenn – wie im Falle des § 30 GmbHG – das „freie“ Vermögen aufgebraucht ist. Der zweite Schutzzweck – die Gleichbehandlung der Gesellschafter – ist bei Auszahlungen aus dem Vermögen der Kommanditgesellschaft auf der Ebene dieser Gesellschaft zu klären (auch im Personengesellschaftsrecht ist das Prinzip der Gleichbehandlung der Gesellschafter zu beachten und gegebenenfalls privatautonom zu modifizieren). Die dritte Schutzrichtung – Sicherung der aktienrechtlichen Organzuständigkeiten – kann durch die Entnahme von KG-Vermögen ebenfalls nicht berührt werden, weil es Aufgabe der eigenen Organe der Kommanditgesellschaft ist, über die Verwendung ihres Gesellschaftsvermögens kompetenzgerecht zu befinden. Dem Bedürfnis nach Transparenz ist schließlich hinreichend Rechnung getragen, wenn der Beteiligungsansatz für den Kommanditanteil in der Bilanz der AG (sowie eventuelle Haftungsrisiken) angemessen ausgewiesen wird.
V. Ergebnis Es zeigt sich, dass eine abgestufte Betrachtung der aktienrechtlichen Vermögensbindung möglich ist, wenn man sich entschließt, die Grenzen der jeweiligen Ausschüttungsgrenzen im Rahmen der §§ 57, 58 AktG zweckgerecht zu ermitteln. Dabei lässt sich nicht nur feststellen, dass den unterschiedlichen Zielen dieser Vermögensbindung (Gläubigerschutz, Gleichbehandlungsgebot, Zuständigkeitswahrung, Bilanzausweis) je eigene Limitierungen innewohnen. Darüber hinaus ermöglicht dieser Ansatz eine differenzierende Würdigung kritischer Fallgruppen im Interesse einer sachgerechten Fortentwicklung des Aktienrechts.
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Dividende ohne Hauptversammlungsbeschluss? – Zur Durchsetzung des mitgliedschaftlichen Gewinnanspruchs in Pattsituationen Inhaltsübersicht I. Zankapfel Gewinnverwendungsbeschluss 1. Wie würden Sie entscheiden? 2. Bilanzgewinn, Gewinnanspruch und Zahlungsanspruch II. Beschlussfeststellungsklage in Pattsituationen 1. (Bedingtes) Vollausschüttungsgebot 2. Prozessuale Durchsetzung
III. Leistungsklage bei unklaren Mehrheiten 1. Ausgangspunkt 2. Lösungsvorschläge 3. Stellungnahme IV. Ergebnisse und Perspektiven 1. Zusammenfassung 2. Ausblick und Schluss
I. Zankapfel Gewinnverwendungsbeschluss 1. Wie würden Sie entscheiden? a) Die Bedeutung, die der laufende Gewinnauszahlungsanspruch für den Aktionär neben anderen Vermögensrechten und Gewinnchancen hat, ist individuell höchst unterschiedlich. In einer ganzen Reihe von Fällen ist das Dividendenrecht für den Aktionär – sowohl börsennotierter als auch „kleiner“ Familien-Aktiengesellschaften – von grundlegender, gelegentlich existentieller Bedeutung. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt, den Anspruch auf Dividende als „das wichtigste mitgliedschaftliche Vermögensrecht des Aktionärs“ zu bezeichnen1. Zur Bewährung des Gewinnverwendungsrechts der Aktiengesellschaft2 kommt es in folgenden Fällen, die keineswegs theoretisch sind: Fall: An der Schatz-AG sind die beiden Familienstämme „Nimm“ und „Spar“ jeweils mit 50 % beteiligt. Es bestehen konträre Vorstellungen, wie der Bilanzgewinn verwendet werden soll. Die Satzung enthält keine Vorgaben bezüglich der Verwendung des Bilanzgewinns. Der „Spar“-Stamm ist darauf aus, über die Rücklagendotation der Verwaltungsorgane hinaus in möglichst großem Umfang weitere Beträge in die Ge-
__________ Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 48 Rz. 79; Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2000, § 58 Rz. 85; kritisch Bayer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, § 58 Rz. 96. 2 Ausführliche systematische Darstellungen bei Hoffmann-Becking in MünchHdb. GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 46; Schüppen in Schüppen/Schaub (Hrsg.), MünchAnwaltshdb. AktienR, 2005, § 30. 1
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Wie solche Patt- und Blockadesituation bei Gewinnverwendungsentscheidungen in der Aktiengesellschaft gelöst werden können, ist bisher – soweit ersichtlich – nicht erörtert worden. Allerdings sind für die GmbH die entsprechenden Problemstellungen bereits ausführlicher untersucht worden3. Für die Aktiengesellschaft lässt sich demgegenüber kaum mehr in Erfahrung bringen, als dass der Aktionär einen notfalls gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf einen Gewinnverwendungsbeschluss habe4. Da es sich hierbei lediglich um einen Anspruch auf Beschlussfassung, nicht aber um einen Anspruch auf einen bestimmten Beschlussinhalt handeln soll, der zudem nur gemäß § 888 ZPO (Zwangsgeld gegen die Organe) vollstreckbar sei5, liegt auf der Hand, dass dieser Ansatz zur Lösung der geschilderten Fälle praktisch wenig hilfreich ist. Aufgrund der in punkto Gewinnverwendung sehr weitgehenden strukturellen Parallelen bietet es sich allerdings an, auf die Diskussion zum GmbH-Recht zurückzugreifen6, nachdem aufgrund der steigenden Zahl von Aktiengesellschaften7 die Zahl einschlägiger Fälle auch im Aktienrecht zunimmt. b) Volker Röhricht, dem diese kleine Untersuchung gewidmet ist, hat in seiner Zeit als Mitglied und später Vorsitzender des II. Zivilsenats eine Vielzahl von Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zum Bilanzrecht, zur Gewinnfeststellung und Gewinnverwendung mitgeprägt und mitverantwortet.
__________ 3
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Hommelhoff, Auszahlungsanspruch und Ergebnisverwendungsbeschluss in der GmbH, in FS Rowedder, 1994, S. 171 ff.; G. Hueck, Minderheitsschutz bei der Ergebnisverwendung in der GmbH, in FS Steindorff, 1990, S. 45 ff.; M. Arnold, Der Gewinnauszahlungsanspruch des GmbH-Minderheitsgesellschafters, 2001; Bork/ Oepen, Schutz des GmbH-Minderheitsgesellschafters vor der Mehrheit bei der Gewinnverteilung, ZGR 2002, 241; Reher, Die Zweipersonen-GmbH, 2003; Rechtsformübergreifend: Zöllner, Die sogenannten Gesellschafterklagen im Kapitalgesellschaftsrecht, ZGR 1988, 392. Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 58 Rz. 26 m. w. N. Lutter in KölnKomm.AktG, § 58 Rz. 91. Zum Vergleich des Gewinnverwendungsrechts der AG und der GmbH und zur Parallelität hinsichtlich des eines behandelten Problems Henze in Großkomm. AktG, § 58 Rz. 122, 124. Aktuelle Zahlen bei Schüppen in MünchAnwaltshdb. AktienR (Fn. 2), § 1 Rz. 4 f.; zur Statistik der kleinen AG auch Seibert in Seibert/Kiem (Hrsg.), Handbuch der kleinen AG, 4. Aufl. 2000, A. Rz. 26 f.
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Nicht zuletzt bei den Entscheidungen zur „phasengleichen Gewinnvereinnahmung“8, eine der causes celèbres aus der Amtszeit des Jubilars, waren der Gewinnanspruch und seine Entstehung von zentraler Bedeutung. Deshalb dürfen wir sicher sein, dass die Lösung des geschilderten Problems sein Interesse finden wird. 2. Bilanzgewinn, Gewinnanspruch und Zahlungsanspruch a) Dass es im Zusammenhang mit der in unseren typisierten Fallbeschreibungen exemplifizierten Problematik überhaupt einer höchstrichterlichen Entscheidung bedürfen könnte, erschließt sich allerdings nicht auf den ersten Blick. Denn die notwendige Erkenntnis scheint unmittelbar dem Aktiengesetz zu entnehmen sein, in dessen § 58 Abs. 4 es heißt: „Die Aktionäre haben Anspruch auf den Bilanzgewinn, soweit er nicht nach Gesetz oder Satzung, durch Hauptversammlungsbeschluss … oder als zusätzlicher Aufwand aufgrund des Gewinnverwendungsbeschlusses von der Verteilung unter die Aktionäre ausgeschlossen ist.“ Nimmt man noch § 60 Abs. 1 AktG hinzu, wonach sich die Anteile der Aktionäre am Gewinn nach ihren Anteilen am Grundkapital bestimmen, so könnte nahe liegen, dem Aktionär (im Fall: des Stammes Nimm) einen unmittelbaren, seiner quotalen Beteiligung entsprechenden Anspruch auf einen Teil des Bilanzgewinnes zuzusprechen. b) An dieser Überlegung ist jedenfalls zutreffend, dass bereits mit der Feststellung des Jahresabschlusses das allgemeine mitgliedschaftliche Vermögensrecht auf Gewinnbeteiligung konkretisiert und ein Anspruch auf quotale Beteiligung am Bilanzgewinn9 (Gewinnanspruch) begründet wird10. Festzuhalten ist auch, dass die in § 58 Abs. 4 AktG formulierte negative Bedingung nicht eingetreten ist, also durch die Hauptversammlung weder ein Vortrag des Gewinns auf neue Rechnung noch eine Zuweisung zu den Rücklagen erfolgt ist11. Der in § 58 Abs. 4 AktG geregelte materielle Gewinnanspruch12 steht damit in einer berechenbaren Weise fest.
__________ 8 BGH, AG 1994, 467; BGHZ 137, 378; EuGH, Slg. 1996 I, 3133 = NJW 1996, 2363. 9 Zum Begriff des Bilanzgewinns und seiner Ableitung aus dem Jahresüberschuss,
Hüffer, AktG, § 58 Rz. 3; Schüppen in MünchAnwaltshdb. AktienR (Fn. 2), § 30 Rz. 6 f. 10 BGHZ 7, 263 (264); BGHZ 23, 150 (154); BGHZ 65, 230 (235); BGHZ 124, 27 (31); Adler/Düring/Schmaltz (ADS), Rechnungslegung und Prüfung der Aktiengesellschaft, 6. Aufl. 1997, § 58 AktG Rz. 140; Lutter in KölnKomm.AktG, § 58 Rz. 80. 11 Zwar könnte man dem entgegenhalten, dass eine solche Beschlussfassung immer noch möglich ist. Die gesetzliche Regelung gibt jedoch vor, dass über die Gewinnverwendung zwingend in der ordentlichen Hauptversammlung zu beschließen ist, § 175 Abs. 1 AktG, zum zwingenden Charakter der 8-Monats-Frist ADS (Fn. 10), § 175 AktG Rz. 8 ff. 12 Kropff in MünchKomm.AktG, Bd. 5/1, 2. Aufl. 2003, § 174 Rz 3; Hüffer, AktG, § 174 Rz. 1.
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c) Zum Problem werden die Fälle jedoch durch § 174 AktG, der die formelle Seite der Gewinnverwendung betrifft13. § 174 Abs. 1 AktG stellt den sich aus dem festgestellten Jahresabschluss ergebenden Bilanzgewinn zur Disposition der Hauptversammlung. Er ist damit Kompetenznorm und baut insofern auf § 58 Abs. 4 AktG auf, als aufgrund dieser Kompetenz der dort formulierte Vorbehalt des individuellen Gewinnanspruchs („soweit nicht …“) verwirklicht werden kann. Der Bundesgerichtshof und die einhellige Literaturauffassung gehen aber darüber hinaus davon aus, dass ein die (ganze oder teilweise) Verteilung des Bilanzgewinns an die Aktionäre vorsehender Gewinnverwendungsbeschluss zwingende Voraussetzung eines Dividendenzahlungsanspruchs ist14. Erst mit Zuweisung einer Dividende im Beschluss wird der allgemeine Gewinnanspruch zu einem Zahlungsanspruch und einem selbständigen, grundsätzlich sofort fälligen und (etwa durch Abtretung) verfügbaren Forderungsrecht15. d) Der am Ausweis eines Bilanzgewinns im festgestellten Jahresabschluss anknüpfende Gewinnanspruch einerseits, das Erfordernis eines die Gewinnauszahlung vorsehenden Gewinnverwendungsbeschlusses andererseits führen zu einem Dilemma, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – nicht zu einem Gewinnverwendungsbeschluss kommt. Das als materieller Gewinnanspruch bestehende Vermögensrecht des einzelnen Aktionärs droht aufgrund des Nichtvorliegens einer von ihm nicht beeinflussbaren formellen Voraussetzung vereitelt zu werden. Deshalb wird dem Aktionär allgemein ein „Anspruch auf den Gewinnverwendungsbeschluss“ zuerkannt. Dieser Anspruch besteht gegen die Gesellschaft und soll es ermöglichen, auf Herbeiführung des Gewinnverwendungsbeschlusses nach Ablauf der Frist für die ordentliche Hauptversammlung (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AktG) zu klagen und ein stattgebendes Urteil gem. § 888 ZPO (Zwangsgeldfestsetzung, da unvertretbare Handlung) zu vollstrecken16. Veröffentlichte Fälle sind aber soweit ersichtlich nicht bekannt, und die Praktikabilität einer solchen Vorgehensweise ist selbst ihren Auguren zweifelhaft17. Vor allem aber passt dieser Lösungsvorschlag auch theoretisch allenfalls auf den Fall, dass unter Verstoß gegen §§ 174, 175 AktG die Gewinnverwendung trotz Ausweis eines Bilanzgewinns im festgestellten Jahresabschluss überhaupt nicht zur Abstimmung durch die Hauptversammlung gestellt wird. Praktisch weit wichtiger ist der
__________ 13 Kropff in MünchKomm.AktG, § 174 Rz. 3. 14 BGHZ 7, 263 (264); BGHZ 23, 150 (154); BGHZ 65, 230 (235); BGHZ 124, 27 (31);
Bayer in MünchKomm.AktG, § 58 Rz. 103 f. 15 Schüppen in MünchAnwaltshdb. AktienR (Fn. 2), § 30 Rz. 25; Henze in Groß-
komm.AktG, § 58 Rz. 94. 16 Kropff in MünchKomm.AktG, § 174 Rz. 16; Hüffer, AktG, § 174 Rz. 4 und § 58
Rz. 26; ADS (Fn. 10), § 174 AktG Rz. 22. 17 Kropff in MünchKomm.AktG, § 174 Rz. 16: „Praktische Bedeutung hat dieser Weg
nicht, …wird in der Regel eher in Betracht kommen, beim Registergericht anzuzeigen, dass der Vorstand durch Festsetzung von Zwangsgeld … angehalten wird.“
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in unseren Eingangsbeispielen vorliegende Fall, dass die Gewinnverwendung zwar zur Abstimmung gestellt wird, aber ein Beschluss nicht zustande kommt, weil kein Gewinnverwendungsvorschlag die erforderliche Mehrheit findet.
II. Beschlussfeststellungsklage in Pattsituationen 1. (Bedingtes) Vollausschüttungsgebot a) Das Aktienrecht sieht für den Bilanzgewinn ein bedingtes Vollausschüttungsgebot vor18. Das ist sachlich gerechtfertigt und wirtschaftlich unbedenklich, da schon bei der Aufstellung des Jahresabschlusses erhebliche bilanzpolitische Spielräume bestehen und bei der Feststellung des Jahresabschlusses durch Vorstand und Aufsichtsrat für die weitreichende Kompetenzen zur Einstellung von Teilen des Jahresüberschusses in die Rücklagen bestehen. Nur der sich nach Rücklagendotierung ergebende Bilanzgewinn steht zur Disposition der Hauptversammlung. Sieht der Hauptversammlungsbeschluss vor, dass die – negative, im BGB-Sinne auflösende – Bedingung nicht eintritt, so bleibt es bei der Vollausschüttung und dem entsprechenden Anspruch des einzelnen Aktionärs. b) Im Fall steht fest, dass es einen Aktionär bzw. eine Aktionärsgruppe gibt, die einen Thesaurierungsbeschluss verhindern kann und wird. Zwar kann diese Gruppe umgekehrt keine Beschlussmehrheit für einen Ausschüttungsbeschluss herbeiführen. Für den materiellen Dividendenanspruch ist dies aber auch nicht erforderlich; gesetzmäßig ist in der definitiven PattSituation nur die Vollausschüttung des Bilanzgewinns. Es gibt – anders formuliert – aufgrund der feststehenden Mehrheitsverhältnisse nur einen gesetzmäßigen Beschlussinhalt. 2. Prozessuale Durchsetzung a) Fraglich ist jedoch, wie diese materielle Rechtslage verfahrensrechtlich durchsetzbar ist. Geht man vom zwingenden Erfordernis eines die Ausschüttung vorsehenden Gewinnverwendungsbeschlusses als Voraussetzung für den Zahlungsanspruch aus19, so ist die Frage, ob gerichtlich ein Hauptversammlungsbeschluss mit einem bestimmten Inhalt erzwungen werden kann. Nach einer verbreiteten Auffassung soll grundsätzlich keine Möglichkeit bestehen, einen Gewinnverwendungsbeschluss mit einem bestimmten
__________ 18 Claussen in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1991, § 174 Rz. 5: Der Gesetzgeber geht
davon aus, dass der Bilanzgewinn voll ausgeschüttet wird. Zum parallelen „Abzugskonzept“ des § 29 Abs. 1 GmbHG Hommelhoff (Fn. 3), S. 171 (185). 19 Bayer in MünchKomm.AktG, § 58 Rz. 102 ff.; Henze in Großkomm.AktG, § 58 Rz. 93.
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Inhalt zu erzwingen. Dies widerspräche der Dispositionsfreiheit der Hauptversammlung über die Gewinnverwendung und der Freiheit des einzelnen Gesellschafters in seiner Stimmabgabe20. Wenn jeweils 50 % der Stimmen für eine Gewinnthesaurierung einerseits, eine Vollausschüttung des Bilanzgewinns andererseits abgegeben werden und ein unüberbrückbares Stimmenpatt definitiv feststeht (unser Beispielsfall), so kann eine Gewinnthesaurierung (oder einen Vortrag des Gewinns auf neue Rechnung) vorsehender Gesellschafterbeschluss nicht zustande kommen. Es kommt nur eine einzige andere, gesetzmäßige Gewinnverwendung in Betracht: die Vollausschüttung des Bilanzgewinns. Dies folgt aus der oben materiellen Rechtslage, die besagt, dass bei Fehlen von Ausnahmetatbeständen/Abzugstatbeständen die Aktionäre einen Anspruch auf Ausschüttung des Bilanzgewinns haben, § 58 Abs. 4 AktG. In dieser Situation – in der nur ein einziger gesetzmäßiger Beschlussinhalt denkbar ist – muss die Klage gegen die Gesellschaft nicht nur auf Fassung eines Beschlusses, sondern auch auf Feststellung eines bestimmten Beschlussinhaltes gerichtet werden können21. Beschlussinhalt kann nur die Vollausschüttung des Gewinns sein. b) Für dieses Ergebnis spricht auch die Tatsache, dass ohne Klagemöglichkeit auf einen bestimmten Beschlussinhalt der oben beschriebene und allgemein anerkannte Anspruch auf Herbeiführung eines positiven Gewinnverwendungsanspruchs bei einer Patt-Situation ins Leere liefe. Denn ohne den zusätzlichen Anspruchsinhalt auf eine bestimmte Entscheidung könnte der Beschlussanspruch nur darauf gerichtet sein, dass die Gesellschafterversammlung überhaupt ein Beschlussverfahren zur Ergebnisverwendung durchführt. Dies würde bei einer Patt-Situation dazu führen, dass wegen der gegenseitigen Blockade der Gesellschafter trotz – möglicherweise permanent wiederholter – Durchführung des Beschlussverfahrens dennoch kein positiver Gewinnverwendungsbeschluss zustande kommt. Kein Beschluss wäre mehrheitsfähig. Um den Anspruch auf Herbeiführung des Gewinnverwendungsbeschlusses nicht untergehen zu lassen, ist es daher geboten, diesem Anspruch zusätzlich den Inhalt zu geben, dass das Gericht einen bestimmten Beschlussinhalt festzustellen hat. Dieser Beschlussinhalt muss mit der materiellen Rechtslage übereinstimmen. Die Entschlussfreiheit einer sich gegenseitig blockierenden Hauptversammlung muss zugunsten des Ausschüttungsinteresses der Gesellschafter zurücktreten, zumal das Gesetz für diesen Fall eine klare inhaltliche Regelung vorgibt.
__________ 20 Hefermehl/Bungeroth in Geßler/Hefermehl, AktG, 1984, § 58 Rz. 117; Henze in
Großkomm.AktG, § 58 Rz. 87. 21 Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 46 Rz. 6; Hüffer in Hachenburg,
GmbHG, Bd. 2, 8. Aufl. 1997, § 46 Rz. 20; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 29 Rz. 41; Zöllner, ZGR 1988, 393 (416 ff.), allerdings alle mit Ausnahme von Zöllner zur GmbH und nicht zur AG; für die AG bereits Schüppen in MünchAnwaltshdb. AktienR (Fn. 2), § 30 Rz. 27.
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c) Die positive Beschlussfeststellungsklage darf jedoch nicht isoliert erhoben werden. Denn in der vorliegenden Konstellation des Stimmenpatts steht einer isolierten positiven Beschlussfeststellungsklage ein negativer Beschluss entgegen22: Zwar hat die Hauptversammlung dem Antrag auf Thesaurierung der Gewinne nicht zugestimmt; gleichzeitig hat sie aber auch den Antrag auf Ausschüttung der Gewinne abgelehnt. Auch die Ablehnung eines Antrages stellt einen ggf. anfechtbaren oder nichtigen (negativen) Beschluss dar; abgelehnt ist ein Antrag auch, wenn sich Stimmengleichheit ergibt23. Deshalb muss die positive Beschlussfeststellungsklage mit einer Anfechtungsklage gegen den „negativen“ Gewinnverwendungsbeschluss, den Gewinn nicht auszuschütten, verbunden werden24. d) Der Anspruch auf positive Feststellung eines bestimmten Beschlussinhalts und die Möglichkeit, den „negativen“ Beschluss anfechten zu können, ergibt sich aus dem (bedingten) Vollausschüttungsgebot des Gesetzes und nicht aus einer Treuepflichtverletzung der anderen Gesellschafter. Es spricht einiges dafür, dass es auch rechtsmissbräuchlich ist, dem nach Lage der Dinge einzig möglichen Verwendungsbeschluss nicht zuzustimmen. Folgt man jedoch der hier vertretenen Ansicht nicht, dass sich das Anfechtungs- und Feststellungsrecht aus der gesetzlichen Regelung ergibt, und stützt man stattdessen die Klagemöglichkeit ausschließlich auf eine „sonstige“ Treuepflichtverletzung, so werden der Rechtsunsicherheit Tor und Tür geöffnet. Denn ob es im Falle der Parität eine Treuepflichtverletzung darstellt, dem Ausschüttungsbeschluss nicht zuzustimmen, hängt – wenn man die gesetzliche Vorgabe ausblenden dürfte – von den Umständen des Einzelfalles ab. Deshalb ist dieser Maßstab nicht geeignet, für die Fälle der Patt-Situation eine klare und zumutbare Lösung zu schaffen25.
III. Leistungsklage bei unklaren Mehrheiten 1. Ausgangspunkt a) Anders als im Ausgangsfall besteht in der Abwandlung keine gefestigte Sperrminorität einer Gesellschaftergruppe. Es lässt sich daher nicht sicher
__________
22 Vgl. auch BGH, ZIP 1983, 1444 (1447), allerdings zur GmbH. 23 Hüffer, AktG, § 241 Rz. 2 und § 133 Rz. 5; Semler in MünchHdb. GesR (Fn. 2), § 39
Rz 2. 24 Vgl. zur Verbindung von Anfechtung und Beschlussfeststellungsklage: BGH, ZIP
1983, 1444 (1447); BGHZ 76, 191 (197 ff.) m. Anm. Zöllner in ZGR 1982, 623; BGH, NJW 1986, 2051 m. Anm. K. Schmidt, NJW 1986, 2018; Semler in MünchHdb.GesR (Fn. 2), § 41 Rz. 91 ff. 25 Der BGH hat in seiner Entscheidung v. 26.10.1983, ZIP 1983, 1444 (1447 ff.), die Treuepflichtverletzung als einzigen Maßstab herangezogen. Er musste den Rechtsstreit zurückverweisen, da es sich nicht ausschließen ließ, dass die eine Partei ihre Zustimmung zur Gewinnausschüttung missbräuchlich versagt hat. Damit hat sich in dieser Entscheidung, die sich allerdings auf eine Patt-Situation bei einer GmbH bezog, genau der oben beschriebene Nachteil realisiert.
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ausschließen, dass ein Thesaurierungsbeschluss zustande kommen könnte; es ist lediglich so, dass die erforderliche Mehrheit hierfür in der ordentlichen Hauptversammlung nicht zustande gekommen war. Es steht damit nicht fest, dass ein von der Vollausschüttung abweichender Beschluss nicht gefasst werden kann. Weiterhin unterscheidet sich die Fallgestaltung dadurch, dass zwar über den Gewinnverwendungsvorschlag der Verwaltung abgestimmt worden ist, ein anderer Vorschlag (Vollausschüttung) aber nicht zur Abstimmung gestellt und damit auch nicht abgelehnt wurde. b) Immerhin ist es aber auch in der Abwandlung so, dass die den materiellen Gewinnanspruch des Aktionärs gemäß § 58 Abs. 4 AktG begrenzende Bedingung eines Thesaurierungsbeschlusses durch die Hauptversammlung (bisher) nicht eingetreten ist, der für die Entscheidung über diese Bedingung im Gesetz (§ 175 Abs. 1 AktG) vorgesehene Zeitraum mit dem Ablauf der ordentlichen Hauptversammlung verstrichen ist und in der ordentlichen Hauptversammlung die für eine Thesaurierungsentscheidung oder den Vortrag des Gewinns auf neue Rechnung erforderliche Mehrheit nicht zustande gekommen ist. Fraglich ist, ob in einer solchen Situation nur ein Anspruch des Aktionärs auf einen Gewinnverwendungsbeschluss als solchen – also eine erneute Abstimmung – besteht oder ob der mitgliedschaftliche Gewinnanspruch mit Hilfe der Gerichte konkret als Zahlungsanspruch durchgesetzt werden kann. 2. Lösungsvorschläge a) Am weitesten geht für die insoweit parallele Problemstellung bei der GmbH – nur dort hat bisher eine Diskussion stattgefunden26 – Hommelhoff. Nach seiner Auffassung ist bereits die Grundannahme, dass das Zustandekommen eines Gewinnverwendungsbeschlusses Voraussetzung für den Gewinnauszahlungsanspruch sei, unzutreffend27. Mit beschlussloser Durchführung einer Gesellschafterversammlung zur Ergebnisverwendung oder mit beschlusslosem Ablauf der Frist zur Durchführung der ordentlichen Gesellschafterversammlung soll dieselbe Wirkung wie mit der Fassung eines Ausschüttungsbeschlusses eintreten. Bereits mit der Feststellung eines ein positives Jahresergebnis ausweisenden Jahresabschlusses erwerben die Gesellschafter Ansprüche auf anteilige Vollausschüttung; lediglich die Fälligkeit sei hinausgeschoben28. Bis zum Fälligkeitszeitpunkt – dem Ausschüttungsbeschluss oder Ablauf der für den Gewinnverwendungsbeschluss vorgesehenen Frist – könne der Anspruch allerdings durch Thesaurierungsbeschluss
__________ 26 S. bereits oben in Fn. 3. 27 Hommelhoff (Fn. 3), S. 171 (179, 186). 28 Hommelhoff (Fn. 3), S. 171 (184 f.).
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noch in Wegfall gebracht werden29. Im Ergebnis könnte der Gesellschafter damit nach Ablauf der für die ordentliche Gesellschafterversammlung vorgesehenen Frist unmittelbar auf Dividendenzahlung klagen. b) Andere Auffassungen gehen zwar vom Erfordernis des Gewinnverwendungsbeschlusses als Anspruchsvoraussetzung aus, halten aber die gerichtliche Durchsetzung eines Vollausschüttungsbeschlusses für möglich. Dabei unterscheiden Sie sich in der dogmatischen Begründung. Götz Hueck meint, dass sich der einklagbare Beschlussinhalt aus dem Regelungskonzept von § 29 Abs. 1 und 3 GmbHG ergibt. Wenn der für die Reservenbildung vorausgesetzte Gesellschafterbeschluss gerade nicht gefasst worden ist, sei der Beschlussinhalt ganz oder doch weitgehend objektiv bestimmbar30. Die Gesellschaftermehrheit kann auch während des Prozesses den fehlenden Ergebnisverwendungsbeschluss fassen und den Rechtsstreit dadurch in der Hauptsache zur Erledigung bringen, sie sei daher nicht in ihrer Entscheidungsfreiheit unzumutbar beeinträchtigt31. M. Arnold hat in seiner monographischen Untersuchung das Modell von G. Hueck aufgegriffen und weiterentwickelt. Er geht davon aus, dass der einzelne Gesellschafter gegen die Gesellschaft einen durch die beschlussmäßige Ausübung des Thesaurierungsvorbehalts auflösend bedingten Anspruch auf Herbeiführung der Vollausschüttung hat32. Dieser auf Vollausschüttung gerichtete Anspruch ergebe sich aus § 29 Abs. 1 GmbHG und könne mit einer Gestaltungsklage analog § 315 Abs. 3 Satz 2 2. Halbs. BGB durchgesetzt werden33. Neben der Gestaltungsklage soll der Gesellschafter auch befugt sein, direkt auf Auszahlung des anteiligen in dem Jahresabschluss festgestellten Gewinns zu klagen; dem auf Auszahlung lautenden Leistungsurteil soll dann insofern Gestaltungswirkung zukommen, als es inzident die Fassung des Ergebnisverwendungsbeschlusses ausspreche. c) Auch Bork/Oepen gehen von dem Ausgangspunkt aus, dass die Gesetzesfassung des § 29 GmbHG die Vollausschüttung als Regel und die Thesaurierung als Ausnahme vorsehe. Allerdings erfolge die gerichtliche Beschlussfestsetzung nicht durch Gestaltungsurteil, sondern durch Leistungsurteil34. Die §§ 315 und 319 BGB passten nicht als Analogiebasis, weil eben nicht eine Ermessensentscheidung, sondern eine ganz konkrete Entscheidung (Vollausschüttung) verlangt werde35. Auf diese sei die Gesellschaft im Wege
__________ 29 Dies folgt aus der Möglichkeit, bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist für die
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ordentliche Gesellschafterversammlung einen Thesaurierungsbeschluss zu fassen („Vorbehalt“), Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 29 Rz. 4. G. Hueck (Fn. 3), S. 45 (54 f.). G. Hueck (Fn. 3), S. 45 (55). M. Arnold (Fn. 3), S. 143 ff. M. Arnold (Fn. 3), S. 231 ff. Bork/Oepen, ZGR 2002, 241 (266 ff.). Bork/Oepen, ZGR 2002, 241 (267).
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der Leistungsklage in Anspruch zu nehmen, das Urteil vollstrecke sich gemäß § 894 ZPO „von selbst“36. d) Nach einer von Zöllner begründeten Auffassung soll § 315 Abs. 3 Satz 2 2. Halbs. BGB analog anwendbar und eine Klage auf Ermessensentscheidung des Gerichts möglich sein37. Mit einer auf § 315 Abs. 3 BGB gestützten Gestaltungsklage setzt der Gesellschafter einen Anspruch auf ein Tätigwerden der Gesellschaft durch, weil der Richter durch Gestaltungsurteil einen Anspruch auf einen ganz bestimmten, richterlichen Ergebnisverwendungsbeschluss gibt und damit das Bestehen des so fixierten Anspruches in Form eines „verkappten“ Leistungsurteils (welches nach § 894 ZPO vollstreckbar ist) entscheidet38. 3. Stellungnahme a) Es ist zunächst festzuhalten, dass den oben in aller Kürze skizzierten Lösungsvorschlägen gemeinsam ist, dass sie von einem gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf (anteilige) Vollausschüttung ausgehen. Unterschiede bestehen in der Begründung und in der rechtsdogmatischen Einordnung der Funktion des Gerichts. Hintergrund für diese im Ergebnis einheitliche Beurteilung ist im Kern das (bedingte) Vollausschüttungsgebot des § 29 GmbHG mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis von Ausschüttung und Thesaurierung („Abzugsmodell“) und der sich daraus ergebenden „Handlungs- und Mehrheitszusammenbringungslast“ der thesaurierungswilligen Gesellschafter (-Gruppe). In dieser materiellen Frage entspricht § 29 Abs. 1 GmbHG uneingeschränkt dem § 58 Abs. 4 AktG. Es bestehen deshalb keine Bedenken, die zur GmbH angestellten Überlegungen auf die Aktiengesellschaft zu übertragen. Im Gegenteil: Der mitgliedschaftliche Gewinnanspruch bezieht sich bei der GmbH auf den Jahresüberschuss, bei der Aktiengesellschaft demgegenüber auf den Bilanzgewinn (also insbesondere nach Rücklagendotierung durch den Vorstand und Aufsichtsrat). Berücksichtigt man weiter die bilanzpolitischen Spielräume bei der Aufstellung des Jahresabschlusses durch den Vorstand, so sind die Situationen äußerst unwahrscheinlich, in denen der anteilige Vollausschüttungsanspruch in der Aktiengesellschaft zu wirtschaftlich unvertretbaren Ergebnissen führt39.
__________ 36 Bork/Oepen, ZGR 2002, 241 (268). 37 Zöllner, ZGR 1988, 392 (417 ff.). 38 Zöllner, ZGR 1988, 392 (418) („verkapptes Leistungsurteil“); dagegen Reher (Fn. 3),
S. 95 f. 39 Ausgeschlossen ist dies selbstverständlich auch bei der Aktiengesellschaft nicht,
da Gewinne nicht zwangsläufig auch als Liquidität zur Verfügung stehen. Existentielle Bedrohungen kann die Gesellschaft dem Aktionär im Rahmen des Gerichtsverfahrens entgegenhalten, weil insoweit die Treuepflicht dem Gesellschafter verbietet, seinen Anspruch durchzusetzen; dies hier näher auszuführen, würde den Rahmen des Beitrages sprengen.
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b) Die klarste und einfachste Lösung ist das „Fälligkeitsmodell“ von Hommelhoff. Ihm ist darin zuzustimmen, dass es für die im Übrigen einhellige Einordnung des Gewinnerwendungsbeschlusses als (zwingendes) Tatbestandsmerkmal des Gewinnauszahlungsanspruches, die im Prinzip seit den Zeiten des Reichsgerichtes in Rechtssprechung und Literatur unkritisch fortgeschrieben wird, keine zwingende Begründung gibt; insbesondere in einer Kompetenznorm kann sie angesichts des Gesetzeswortlauts und des Gesetzeszwecks kaum gefunden werden40. Wenn es noch weiterer Beweise bedürfte, belegen die Regelung des § 59 AktG über Abschlagszahlungen auf den Bilanzgewinn und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Aktivierung von Gewinnansprüchen bei phasengleicher Vereinnahmung41, dass es ohnehin Situationen gibt, in denen eine wirtschaftliche Selbständigkeit von Gewinnansprüchen unabhängig von einem Gewinnverwendungsbeschluss der Gesellschafter anerkannt wird. c) Dennoch bleibt fraglich, ob es gerechtfertigt ist, die über Jahrzehnte gefestigte und wieder und wieder von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bestätigte Dogmatik der Gewinnverwendung42 über Bord zu werfen. Dies wäre der Fall, wenn es andere Wege zur Durchsetzung des mitgliedschaftlichen Gewinnanspruchs in den hier diskutierten Blockadesituationen nicht gäbe. Es stehen aber – wie die GmbH-rechtliche Diskussion zeigt – Wege zur Verfügung, den Gewinnverwendungsbeschluss durch Gerichtsurteil zu ersetzen. Offen ist hierbei lediglich, ob es sich dabei um ein Gestaltungsurteil oder um ein Leistungsurteil handelt43. Da davon auszugehen ist, dass eine Verurteilung zur Fassung eines Vollausschüttungsbeschlusses ebenso wie ein Beschlussfeststellungsurteil gemäß § 248 AktG (analog) einer Rechtskrafterstreckung fähig ist44, ist diese theoretisch spannende Diskussion für die Praxis unerheblich. Da auch die Leistungsklage und die Gestaltungsklage mit dem Zahlungsantrag verbunden werden können, lässt sich unter entsprechender Formulierung von Hilfsanträgen die Klage auf alternative Konstruktionen stützen, die ihr so oder so zum Erfolg verhelfen werden. d) Ein wesentlicher Unterschied der Lösungen liegt in der Frage, wann der Vorstand eine Dividende auszahlen muss, solange es nicht zu einem Gewinnverwendungsbeschluss gekommen ist45. Nach dem Fälligkeitsmodell von Hommelhoff müsste er dies bereits nach dem ergebnislosen Ende der ordentlichen Hauptversammlung tun. Demgegenüber ist es in den anderen Modellen notwendig, erst die Ersetzung des Beschlusses durch (rechts-
__________ 40 Hommelhoff (Fn. 3)‚ S. 181 f. u. 186 f. 41 Oben Fn. 8. 42 Oben Fn. 10; wenn man diese nicht dem Gesetz entnehmen kann – wofür einiges
spricht –, so darf hier schon die Frage nach dem Gewohnheitsrecht gestellt werden. 43 Ausführliche Diskussion bei Bork/Oepen, ZGR 2002, 241 (266 ff.). 44 Bork/Oepen, ZGR 2002, 241 (268); Zöllner, ZGR 1988, 392 (420). 45 Zur Vorstandshaftung wegen (Nicht-)Ausführung von Gewinnverwendungsbe-
schlüssen ausführlich Haertlein, ZHR 168 (2004), 437 ff.
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Matthias Schüppen
kräftiges) Gerichtsurteil abzuwarten. Zwar bedeutet dies zugleich, dass der Aktionär eine Verzinsung seines Gewinnanspruches erst ab dem Zeitpunkt des (der Klage stattgebenden) erstinstanzlichen Urteils erhalten wird. Gründe der Rechtssicherheit und der Zumutbarkeit sprechen jedoch auch unter dem Aspekt der Vorstandsverantwortlichkeit für die Anknüpfung an eine Gerichtsentscheidung, wenn schon der Beschluss als formaler Anknüpfungspunkt fehlt.
IV. Ergebnisse und Perspektiven 1. Zusammenfassung a) Stellt sich bei der Abstimmung über die Gewinnverwendung einer Aktiengesellschaft heraus, dass eine etwaige Thesaurierungsbeschlüsse verhindernde Sperrminorität existiert, so können Aktionäre dieser Minderheit eine Vollausschüttung durch Beschlussfeststellungsklage erzwingen. Dies ist mit einer Anfechtungsklage gegen einen etwaigen, den Antrag auf Vollausschüttung ablehnenden „negativen“ Gewinnverwendungsbeschluss zu kombinieren. b) Auch wenn der Gewinnverwendungsbeschluss nicht zustande kommt, ohne dass die Existenz einer festgefügten Sperrminorität erkennbar ist, kann der Aktionär seinen mitgliedschaftlichen Gewinnanspruch auf (anteilige) Vollausschüttung gerichtlich durchsetzen, wenn über die Gewinnverwendung abgestimmt worden ist, ein positiver Gewinnverwendungsbeschluss jedoch nicht zustande kam. c) In diesem Falle ersetzt das Gerichtsurteil den Gewinnverwendungsbeschluss. Einer denkbaren und im Prinzip vertretbaren Aufgabe der Dogmatik vom Gewinnverwendungsbeschluss als Anspruchsvoraussetzung bedarf es hierzu nicht. Der Aktionär kann gegen die Gesellschaft auf einen Vollausschüttungsbeschluss klagen, das Urteil ist gemäß § 894 ZPO zu vollstrecken. Aus rechtspraktischer Sicht würde hilfsweise eine auf § 315 Abs. 3 BGB (analog) gestützte Gestaltungsklage erhoben werden. In beiden Varianten kann der Zahlungsanspruch unmittelbar mit geltend gemacht werden. Dividenden ohne Hauptversammlungsbeschluss sind – vom Ausnahmefall des § 59 AktG abgesehen – also (nur) insofern anzuerkennen, als der Beschluss durch Gerichtsurteil ersetzt werden kann. 2. Ausblick und Schluss a) Die hier dargestellte Lösung unserer Fälle lässt offen, welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, wenn die Gewinnverwendung – gesetzwidrig – überhaupt nicht zur Abstimmung durch die Hauptversammlung gestellt wird46. Ist es in diesen Fällen mit der herrschenden Meinung erforderlich, auf Fas-
__________ 46 Demgegenüber ist das Modell von Hommelhoff gar vorrangig für diesen Fall entwi-
ckelt.
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Dividende ohne Hauptversammlungsbeschluss?
sung „eines“ Gewinnverwendungsbeschlusses mit der Vollstreckungsmöglichkeit gemäß § 888 ZPO zu klagen? Dies erscheint wenig sachgerecht, soll hier aber nicht vertieft werden. Praktisch sind diese Fälle weit weniger häufig als die hier beispielhaft diskutierten Konstellationen. b) Ebenso stellen sich zusätzliche und andere Fragen, wenn bereits die Vorstufe der Gewinnverwendung, die Feststellung des Jahresabschlusses, blockiert wird47. Anders als bei der GmbH ist eine solche Blockade in der Aktiengesellschaft allerdings im Normalfall der Feststellung des Jahresabschlusses durch Vorstand und Aufsichtsrat durch eine Aktionärsgruppe nicht möglich. Gleichwohl bleibt auch hier denkbar, dass eines der Organe seine Mitwirkung an der Feststellung verweigert, so dass auch bei der Aktiengesellschaft die Feststellungskompetenz an die Hauptversammlung fällt. c) Als mit der Lösung praktischer Fälle befasster Jurist pflegt man bei ungeklärten Grundsatzfragen nach dem Gesetzgeber oder nach höchstrichterlicher Erkenntnis zu rufen. Insofern scheint es bedauerlich, dass der Jubilar an einer solchen höchstrichterlichen Entscheidung nicht mehr unmittelbar mitwirken kann. Ob vergleichbare Fälle in absehbarer Zeit den Bundesgerichtshof erreichen werden, ist aber zweifelhaft. Angesichts des gegenwärtigen Standes der Kommentarliteratur und fehlender höchstrichterlicher Rechtsprechung werden die streitenden Gesellschaftergruppen in der Regel einen Kompromiss über die Höhe der Gewinnausschüttung erzielen. Deshalb ist unser geäußertes Bedauern zu relativieren. Denn zunächst rufen die hier aufgeworfenen Fragen nach dem Kommentator, dem Gutachter, dem Schlichter oder Schiedsrichter – Funktionen, in denen wir Volker Röhricht künftig gerne begegnen werden und in denen er die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht mehr unmittelbar, aber möglicherweise desto nachhaltiger mittelbar beeinflussen wird.
__________ 47 Hierzu – für die GmbH – ausführlich Bork/Oepen, ZGR 2002, 241 (282 ff.).
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Ulrich Seibert
Die rechtsmissbräuchliche Verwendung der GmbH in der Krise – Stellungnahmen zu einer Umfrage des Bundesministeriums der Justiz* Inhaltsübersicht I. Anlass der Umfrage II. Zum Inhalt der Stellungnahmen 1. Sind Korrekturen im Recht der GmbH grundsätzlich zu bejahen? a) Grundsätzliche Ablehnung b) Zustimmung und Erweiterung des Ansatzes gegenüber dem Anschreiben des BMJ 2. Reformbedarf aufgrund rechtsmissbräuchlicher Verwendung der GmbH in der Krise a) Die verschiedenen Fallgruppen der „missbräuchlichen Verwendung der GmbH in der Krise“ gemäß Anschreiben aa) Veräußerung sämtlicher GmbH-Anteile an einen Dritten, der sich dann um die „geräuschlose“ Beseitigung der in der Krise befindlichen GmbH kümmert bb) Sitzverlegung der GmbH an kleinere Orte verbunden mit der Unauffindbarkeit von Akten und der Stellung eines Insolvenzantrags, der schon mangels ausreichender Unterlagen zu dessen Zurückweisung führen kann (1) Kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf
(2) Befürwortung gesetzgeberischen Tätigwerdens cc) Niederlegung des Geschäftsführeramtes und Schließung des Geschäftslokals dd) Übertragung des Geschäftsführeramtes auf Personen mit Wohnsitz im Ausland ee) Auslandsgesellschaften mit effektivem Verwaltungssitz in Deutschland b) Weitere Fallgruppen der missbräuchlichen Verwendung der GmbH in der Krise aa) „Aufspaltung“ von Einnahmen und Verbindlichkeiten bb) Missbrauch des Amtslöschungsverfahrens wegen Vermögenslosigkeit 3. Über konkrete Missbrauchsfälle hinausreichende Reformanregungen/Probleme a) Anhebung des Mindesthaftkapitals? b) Harmonisierung der Haftkapitalregeln in Europa 4. Bewertung III. Reformvorschläge im Überblick: Zusammenfassend haben sich folgende bedenkenswerte Reformvorschläge herauskristallisiert
__________ * Ich danke Herrn Jonas Wittgens, der als Volontär im 4. Quartal 2003 im BMJ mitgearbeitet hat, für damalige vorbereitende Arbeiten zur Auswertung der Stellungnahmen.
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I. Anlass der Umfrage Ausgangspunkt für die im Titel genannte Umfrage zu Problemen mit der GmbH war folgender von den Justizministerinnen und Justizministern der Länder (Herbst-JuMiKo) auf ihrer Herbstkonferenz am 14.11.2002 in Berlin gefasste Beschluss: „Die Justizministerinnen und -minister bitten das Bundesministerium der Justiz, in Zusammenarbeit mit den Ländern zu prüfen, ob und inwieweit das Recht der Gesellschaft mit beschränkter Haftung insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Insolvenzen reformbedürftig ist.“
Das Bundesministerium der Justiz hatte bereits im Entwicklungsstadium dieses Beschlusses darauf hingewirkt, dass eine Revision des GmbH-Rechts sich nicht auf die Fragen des Missbrauchs in der Krise und der Insolvenzvermeidung beschränken dürfe. Dies kommt in dem Beschluss durch die „insbesondere“-Formulierung zum Ausdruck. Auf der Grundlage dieses Beschlusses hat das Bundesministerium der Justiz mit Schreiben vom 13.5.2003 um Stellungnahme gebeten. Beteiligt wurden die so genannten „interessierten Kreise“ bestehend aus Landesjustizverwaltungen, Wissenschaft, Praxis und Verbänden1 und für den Bundesgerichtshof auch Dr. h.c. Röhricht, der ein besonders flammendes Plädoyer mit weit reichenden Reformvorschlägen und überraschend radikalen Ansichten gehalten hat2. Gebeten wurde um Stellungnahmen zu Korrekturen am Recht der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die neben tatsächlichem Material auch Lösungsvorschläge beinhalten, punktgenau ansetzen und nicht zu einer Verdrängung des Mittelstandes aus der deutschen GmbH führen sollten. Insbesondere sollten auch die Folgen des sog. Überseering-Urteils des BGH3 und der Inspire Art Entscheidung des EuGH4 im Blick behalten werden. Grund für diesen Spagat im Ansatz war folgender: Die Bundesländer waren bei ihrem Reformanstoß getrieben von den Missständen bei GmbHs in der Krise, der erheblichen Zahl von GmbH-Insolvenzen und deren negativen Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft. Auf den ersten Blick einleuchtende Lösungsansätze könn-
__________ Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen, Professoren Hirte, Priester, Uwe H. Schneider, Roth, Karsten Schmidt, Dauner-Lieb, BNotK, DNotV, DIHK, VorsRiBGH Röhricht. 2 Offenbar wurde damit eine breitere Diskussion angestoßen: Schön, Die Zukunft der Kapitalaufbringung/-erhaltung, Der Konzern 2004, 162; Mülbert, Zukunft der Kapitalaufbringung/Kapitalerhaltung, Der Konzern 2004, 151; Kallmeyer, Bereinigung der Finanzverfassung der GmbH. Vorschlag für eine GmbH-Reform, GmbHR 2004, 377. 3 Urt. v. 13.3.2003 – VII ZR 370/98. 4 Inspire Art: EuGH, Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, ZIP 2003, 1885 m. Anm. Drygala in EWiR Art. 43 EG 4/03 = NZG 2003, 1064 = EWS 2003, 513 = AG 2003, 680. 1
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ten in zusätzlicher Regulierung5, Haftung, Strafbarkeit, Haftkapitalerhöhung, zusätzlichen Geschäftsführerpflichten z. B. das Risikomanagement betreffend, zusätzlicher staatlicher oder Abschlussprüferkontrolle gesehen werden. Dem ganz gegenläufig sind aber die erwähnten europäischen Rechtsentwicklungen, die die deutsche GmbH einer zunehmenden Konkurrenz durch vergleichbare ausländische Rechtsformen aussetzen6 – und zwar auf deutschem Boden – was keinen Druck auf zusätzliche Regulierung, sondern eher einen race to the bottom erwarten lässt. Und tatsächlich sind im europäischen Ausland beachtliche Deregulierungen im Bereich der Kapitalgesellschaften für den Mittelstand zu beobachten7. Die genannten gut gemeinten zusätzlichen Regulierungen könnten also zu einem massiven Ausweichverhalten des Mittelstandes in ausländische Rechtsformen, einer „Flucht aus der GmbH“ und einem sklerotischen Aussterben dieser Rechtsform führen. Dies muss bei jedem einzelnen Vorschlag genau bedacht werden. Und das wurde auch im Anschreiben an die Kreise betont. Ausgangspunkt bleiben aber die Missbrauchsfälle. Im Schreiben des Bundesministeriums der Justiz wurden die folgenden Fallgruppen solcher Missbrauchsfälle aufgeführt: 1. Veräußerung sämtlicher GmbH-Anteile an einen Dritten, der sich dann um die „geräuschlose“ Beseitigung der in der Krise befindlichen GmbH kümmert, 2. Verlegung des Sitzes der GmbH an einen kleineren Ort (z. B. in den neuen Bundesländern), ohne dass dort irgendwelche Unterlagen oder Akten über die GmbH auffindbar wären, so dass die anschließende Stellung des Insolvenzantrages schon mangels ausreichender Unterlagen zur Zurückweisung führen muss, 3. Niederlegung des Geschäftsführeramtes durch sämtliche Geschäftsführer und Schließung des Geschäftslokals, um so Zustellungen an die Gesellschaft zu erschweren bzw. unmöglich zu machen, 4. Übertragung des Geschäftsführeramtes auf einen Ausländer mit Wohnsitz in einem anderen Staat innerhalb oder außerhalb der EU, mit der Folge erheblicher Zustellungsprobleme zu Lasten der Gesellschaftsgläubiger.
__________ Obwohl bereits heute die Überregulierung beklagt wird: Koegel, Formalien der GmbH-Gründung – ein Musterbeispiel für zuviel Staat, GmbHR 2003, 1225. 6 Freitag, Der Wettbewerb der Rechtsordnungen im Internationalen Gesellschaftsrecht, EuZW 1999, 267. 7 Lembeck, UK Company Law Reform – ein Überblick, NZG 2003, 956 (auch zur Reform der private company); Becker, Verabschiedung des Gesetzes über die französische Blitz-S.A.R.L, GmbHR 2003, 1120; Vietz, Die neue „Blitz-GmbH“ in Spanien, GmbHR 2003, 26 und dies., Verabschiedung des Gesetzes über die neue BlitzGmbH in Spanien, GmbHR 2003, 523; erstaunlicherweise scheint es auch in Japan Reformbestrebungen zur Herabsetzung des Mindesthaftkapitals zu geben (Bericht Prof. Masaru Hayakawa). 5
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II. Zum Inhalt der Stellungnahmen 1. Sind Korrekturen im Recht der GmbH grundsätzlich zu bejahen? Die Notwendigkeit von Korrekturen im Recht der GmbH wird vor dem im Anschreiben geschilderten Hintergrund in den Stellungnahmen überwiegend bejaht. Gänzliche Ablehnung wird nur ganz vereinzelt formuliert. Im Übrigen beschränken sich einige der Stellungnahmen auf eine Auseinandersetzung mit Fallgruppen der rechtsmissbräuchlichen Verwendung der GmbH in der Krise, während in anderen – teilweise Grundlagen des GmbH-Rechts betreffende – Reformen mit nur mittelbarem Bezug zu der im Anschreiben aufgezeigten Problematik gefordert werden. So wurde von einigen auf ganz grundlegende Reformfragen des Haftkapitalsystems in Deutschland eingegangen. Allgemeine Einigkeit besteht jedoch darüber, dass die Rechtsprechung des EuGH (Überseering) im Blick gehalten werden muss, teilweise wird auch auf erhebliche Bedeutung des Urteils des EuGH in Sachen „Inspire Art Ltd“8 hingewiesen. a) Grundsätzliche Ablehnung Vereinzelt wird grundsätzliche Ablehnung gegenüber dem rechtspolitischen Anliegen geäußert bzw. die Möglichkeit, den dargelegten Missbrauchsfällen wirksam entgegentreten zu können, verneint. Einerseits wird auf die erhebliche kriminelle Energie der Handelnden und deren mangelndes Unrechtsbewusstsein, dem insbesondere allein durch nationale Gesetzgebung nicht Herr zu werden sei, verwiesen. Andererseits wird nachhaltig bezweifelt, dass weitere gesetzgeberische Aktivitäten auch nur einen Bruchteil der Insolvenzen verhindern oder auch nur zu einem korrekteren Umgang mit dem GmbH-Recht beitragen können. Es werden „kleinteilige Verkomplizierungen“ des Gesellschaftsrechts befürchtet, die die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschlands nicht erhöhen und der GmbH weitere Wettbewerbsnachteile gegenüber der „Limited“ eintragen. Einleuchtend wurde – u. a. von Röhricht – darauf hingewiesen, dass viele der beklagten Probleme an der schwachen Konjunktur, Missmanagement oder an strukturellen Schwächen der deutschen Wirtschaft liegen oder durch sie verschärft werden9, dass aber durch gesetzliche Regulierung kein einziger Euro mehr verdient werde und damit in die Gesellschaftskasse fließe. Insolvenzen durch Gesetz verhindern zu wollen, ist genauso realitätsfern, wie es weltfremd ist zu glauben, man könne Umsatzwachstum und
__________ 8 9
S. Fn. 5. U. a. Baden-Württemberg, Bayern, Berlin.
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Gewinn durch Gesetz erzwingen. Aber die Einsicht in grundlegende ökonomische Zusammenhänge ist in Deutschland wenig verbreitet und dient nicht oft als Grundlage politischer Forderungen in der Hektik des Alltags. Eine Stellungnahme sieht die Missbrauchsproblematik im GmbH-Recht bei der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in guten Händen, und hält folglich allenfalls marginale Änderungen für sinnvoll10. b) Zustimmung und Erweiterung des Ansatzes gegenüber dem Anschreiben des BMJ Andere sehen über die im Anschreiben genannten Missbrauchsfälle hinaus ein Bedürfnis, die Insolvenzanfälligkeit der GmbH allgemein zu vermindern. Der Beschluss der Landesjustizministerinnen und -minister sei so auszulegen, dass sich die Erörterungen nicht nur auf das Ende, sondern auch auf die Gründungs- und Unternehmensphase beziehen sollen; insbesondere sollten Möglichkeiten zur Verbesserung der Eigenkapitalausstattung und Neuregelungen der Kapitalstrukturen erörtert werden. Sachsen hatte sich bereits im Vorstadium um einen entsprechenden ausdrücklichen Beschluss der JuMiKo verbunden mit der Forderung nach der Einsetzung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe bemüht, war aber damit im Ergebnis nicht durchgedrungen. 2. Reformbedarf aufgrund rechtsmissbräuchlicher Verwendung der GmbH in der Krise Der Reformbedarf bezogen auf die im ministeriellen Anschreiben genannten Fallgruppen wird unterschiedlich beurteilt. Neben einer Auseinandersetzung mit diesen Konstellationen wird auch auf weitere Fallgruppen im unmittelbaren Zusammenhang mit der rechtsmissbräuchlichen Verwendung der GmbH in der Krise hingewiesen. a) Die verschiedenen Fallgruppen der „missbräuchlichen Verwendung der GmbH in der Krise“ gemäß Anschreiben aa) Veräußerung sämtlicher GmbH-Anteile an einen Dritten, der sich dann um die „geräuschlose“ Beseitigung der in der Krise befindlichen GmbH kümmert Mit dieser Fallgruppe – sog. „Bestattungsfälle“ oder „Sterbehauskonstruktionen“ – ist die gerichtliche Praxis erheblich beschäftigt; es handelt sich um zahlenmäßig relevante Fälle. Es scheint sich eine ganze Dienstleistungsbranche mit dieser „Service-Leistung“ zu befassen.
__________ 10 Karsten Schmidt.
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Die Geschäftsanteile der überschuldeten GmbH würden zusammen mit dem Geschäftsführeramt, meist für einen nur symbolischen Preis von z. B. einem Euro, auf – regelmäßig vermögenslose – Personen übertragen. Für die Dienstleistung wird im Gegenzug vom Veräußerer der GmbH ein Geldbetrag aus dem Privatvermögen an den Bestattungsunternehmer gezahlt – die Beträge schwanken zwischen 5000,- und 15000,- Euro. Der Vorgang der Anteilsübertragung kann sich mehrere Male wiederholen (Kettenfälle). Zumeist werde nur die reine Abtretung der Gesellschaftsanteile, nicht aber der Kaufvertrag mit dem verdächtigen Kaufpreis und weiteren Abreden beurkundet. Dennoch müsse man davon ausgehen, dass die betrauten Notare Bescheid wissen, zumal wenn gerichtsbekannte Firmenbestatter mitwirken und nach den hier beschriebenen eindeutigen Mustern verfahren wird. Gleichzeitig mit der Abtretung der Geschäftsanteile werde regelmäßig die Änderung von Firma/Gegenstand und/oder Sitz der Gesellschaft beurkundet. Anschließend werde die alte Gesellschaft dadurch dem Zugriff der Gläubiger entzogen, so dass die Geschäftsführer weder über ein Geschäftslokal (am alten oder neuen Ort) noch privat postalisch erreichbar seien und noch vorhandene Unterlagen in wesentlichen Teilen unauffindbar würden. Was an Unterlagen übrig bleibe, seien Kassenbücher, ungeordnete Lieferscheine, alte Rechnungen, mit denen man nichts anfangen könne. Die „neuen“ Gesellschafter und Geschäftsführer, die in Kenntnis der Umstände bereit seien, gegen ein geringes Entgelt (mitunter nur ein Handgeld von 75,- Euro pro Fall) in die formale Stellung eines Gesellschafters und Geschäftsführers einzutreten, würden von dem „Bestattungsunternehmer“ vermittelt. Teilweise hätten diese Personen eine Vielzahl von GmbHs und Geschäftsführerstellungen ohne jeden Überblick darüber. Es handele sich zum Teil um Angehörige sozialer Randgruppen, die nichts mehr zu verlieren haben, um Arbeitslose, arbeitslose Ausländer, Sozialhilfeempfänger, Drogenabhängige. Es scheint aber auch Fälle zu geben, in denen sich deutsche Aussteiger mit diesem Service ein Zubrot für den Aufenthalt auf den Balearen verdienen. Das kommt insbesondere in den Fällen vor, in denen der Bestattungsunternehmer (was aber die Ausnahme ist) selbst in die Gesellschafter- und Geschäftsführerstellung einsteigt. Oft hätten die Altgesellschafter/Geschäftsführer kurz vor der Übertragung noch vorhandene Vermögensgegenstände der GmbH beiseite geschafft und ausstehende Forderungen eingezogen. Bis dahin seien Zustellungen oft noch möglich und würden stapelweise Mahnbescheide auflaufen, erst nach der Übertragung setze dann die Phase ein, in der Gläubiger ihre Forderungen gar nicht geltend machen könnten, weil schon die Zustellungen – bspw. von Mahnungen, Fristsetzungen, Kündigungen, aber auch von Anklageschriften – ins Leere gingen. Es könne sein, dass der neue Geschäftsführer, dann ohne Kenntnis der Geschäftsvorfälle, den Insolvenzantrag stellt. Es komme aber auch vor, dass die 590
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Stellung des Insolvenzantrags verzögert werden soll. Dies kann etwa dadurch erreicht werden, dass alle drei Wochen (§ 64 GmbHG!) der Geschäftsführer ausgewechselt wird. Der neue Geschäftsführer braucht dann zunächst etwas Zeit, um sich zu informieren, um rechtzeitig weiter zu übertragen. Der letzte stellt dann den Insolvenzantrag. Der Vorteil dieses Vorgehens sei, dass der Veräußerer damit die GmbH ohne Konkurs rechtzeitig los wird, keinen Fleck auf der weißen Weste hat, seine Fähigkeit zur Bekleidung des Geschäftsführeramtes nicht verliert und gegebenenfalls mit identischem Geschäftsgegenstand, Kundenstamm, Aufträgen und Betriebsmitteln und neuer GmbH mit derselben oder leicht veränderter Firma wieder starten kann. Typisch soll es daher für alle „Bestattungsfälle“, auch bei der Kombination der Fallgruppen sein, dass das ursprünglich von der „beerdigten“ Gesellschaft geführte Unternehmen von einer anderen Gesellschaft (Vorratsgesellschaft) oder einem Einzelunternehmen weitergeführt wird. Zur Erleichterung werde kurz vor der Insolvenz die Firma der Gesellschaft (leicht) geändert, so dass die Gesellschaft „unter fremden Namen an einem fremden Ort sterbe“, wo ihr „Tod“ den Ruf im ursprünglichen örtlichen Handelsverkehr nicht beeinträchtigen könne11. „Lieber in Würde bestattet, als amtlich verscharrt“ lautet ein Werbespruch12. Die neue GmbH könne dann unter sehr ähnlicher oder gar identischer Firma (denn die alte Firma ist ja durch die Firmenänderung wieder frei geworden) weiterbetrieben werden. Es wird davon berichtet, dass kurz vor Stellung des Insolvenzantrags der gesamte Betrieb oder das Anlagevermögen der alten GmbH langjährig an einen Dritten (z. B. eben diese neue GmbH) verpachtet oder vermietet wird13. Die Geschäftspartner, jedenfalls soweit sie nicht ausstehende Forderungen geltend machen, bemerkten den Wechsel der juristischen Person auf der anderen Seite u. U. überhaupt nicht. Vielen Geschäftspartnern sei das auch gleichgültig, Hauptsache der Fensterputzer kommt, welche GmbH dahinter steht, ist unwichtig. Gerade dieses Vorgehensmuster wird von Betroffenen immer wieder in Petitionen und Beschwerdebriefen gegenüber der Bundesregierung und dem Parlament in erschütternden Darstellungen beklagt und als besonders skandalös empfunden.
__________ 11 Hirte, Die organisierte „Bestattung“ von Kapitalgesellschaften: Gesetzgeberischer
Handlungsbedarf im Gesellschafts- und Insolvenzrecht, ZinsO 2003, 833 (834). 12 Juricon GmbH Treuhand Consulting. 13 Müller berichtet in der FAZ v. 3.11.2004, S. 23 von genau einem solchen Fall, in
dem aber das Amtsgericht Memmingen (Entscheidung v. 2.12.2003 – HRB 8361) ausnahmsweise nicht mitgespielt habe, sondern die Anteilsabtretung kurzerhand für sittenwidrig erklärt haben soll.
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bb) Sitzverlegung der GmbH an kleinere Orte verbunden mit der Unauffindbarkeit von Akten und der Stellung eines Insolvenzantrags, der schon mangels ausreichender Unterlagen zu dessen Zurückweisung führen kann Inwieweit diese Fallgruppe Anlass für Korrekturen gibt, wird unterschiedlich beurteilt. (1) Kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf Einerseits wird ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf abgelehnt, da eine registermäßige und damit rechtlich verbindliche Sitzverlegung durch das Verhalten angeblich nicht erreicht werden könne. Das Gericht des neuen Sitzes habe gemäß § 13h Abs. 2 Satz 3 HGB zu prüfen, ob der Sitz ordnungsgemäß verlegt worden sei, nachdem das Gericht des bisherigen Sitzes nach förmlicher Prüfung den Vorgang gemäß § 13h Abs. 2 Sätze 1 und 2 HGB die bei ihm aufbewahrten Urkunden dem Gericht des (beabsichtigten) neuen Sitzes übermittelt habe. Laut der gerichtlichen Praxis erfolge die Eintragung in das Handelsregister beim Gericht des neuen Sitzes nur dann, wenn dieses sich nach Anhörung der zuständigen IHK von der ordnungsgemäßen Sitzverlegung überzeugt habe. Im Übrigen sei im Einzelfall das Insolvenzgericht zuständig, in dessen Bezirk die GmbH tatsächlich wirtschaftlich tätig sei und nicht das Gericht, bei dem sie lediglich im Handelsregister eingetragen sei. Seit der HGB-Reform von 1998 enthält § 4a GmbHG verschärfte Vorgaben für die Wahl des Geschäftssitzes, die Missbräuchen vorbeugten. Schließlich ließe sich die Vorlage von Unterlagen von den Insolvenzgerichten notfalls mittels Erzwingungshaft herbeiführen. (2) Befürwortung gesetzgeberischen Tätigwerdens Andererseits wird ein gesetzgeberisches Tätigwerden befürwortet. Insbesondere in Kombination mit der Fallgruppe der Veräußerung sämtlicher Anteile an einen Dritten und des Auswechselns der Geschäftsführer sei in der Praxis die Verlegung des Sitzes an einen kleinen Ort verbunden mit dem Verlust wesentlicher Teile der Geschäftsunterlagen zu beobachten. Der am Anfang der Kette stehende ursprüngliche Geschäftsführer entlaste sich in dieser Fallkonstellation regelmäßig durch eine schriftliche Empfangsbestätigung des nachfolgenden Geschäftsführers hinsichtlich der ordnungsgemäßen Übernahme aller Geschäftsunterlagen und Papiere. Nachvollziehbar seien diese „Übernahmeprotokolle“ selten, da pauschal von Unterlagen gesprochen, bestenfalls eine Liste überreichter Ordner aufgemacht wird. Nachweise über die Einzahlung des Stammkapitals sind meist unauffindbar. Und im Nachhinein kann jeder die Schuld auf den anderen schieben, indem 592
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der neue Geschäftsführer behauptet, bestimmte Unterlagen nicht erhalten zu haben, während der alte Geschäftsführer erklärt, sie seines Wissens komplett übergeben zu haben. Der Verbleib wichtiger Dokumente verliere sich insbesondere dann im Dunkel, wenn der Geschäftsführerwechsel mehrere Male stattfindet (Kettenübertragung)14. Der Nachweis des Zeitpunktes der Überschuldung im Zivilprozess sei in diesen Fällen nahezu unmöglich, es sei denn, er werde später in einem Strafverfahren festgestellt, was jedoch aus den verschiedensten Gründen oftmals nicht geschehe. Auch sei es möglich, dass der den Empfang der Unterlagen bestätigende neue Geschäftsführer sich anschließend den weiteren Ermittlungen entzieht, so dass weder ein Vermögensstatus bezogen auf den Zeitpunkt der ersten Anteilsübertragung noch nachvollziehbare Unterlagen für die Ermittlung zur Verfügung stehen. „Das System lebt von der Frustration der Antragsteller, der zuständigen Richter und beauftragten Sachverständigen“15. Ein folgender Eigen-Insolvenzantrag nach § 13 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 InsO werde dann typischerweise durch einen soeben in sein Amt berufenen und offensichtlich völlig uninformierten Geschäftsführer mit dem Ziel der Abweisung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels kostendeckender Masse gemäß § 26 InsO gestellt. In Ermangelung der entsprechenden – verschwundenen – Unterlagen würden die Anträge mitunter auch als unbegründet abgewiesen. Dies gelte auch für Anträge außenstehender Gläubiger nach §§ 13 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1, 14 InsO, sofern es diesen überhaupt gelingt, eine zustellungsfähige Anschrift für die Zustellung des Insolvenzantrags zu beschaffen. Die insolvenzgerichtliche Praxis weist allerdings darauf hin, dass die Abweisung mangels Masse die häufigste abschließende Entscheidung der Insolvenzgerichte in den aufgeführten Fällen sei. Dies gilt naturgemäß aber nur in den Fällen, in denen es überhaupt zu einem Insolvenzantrag kommt, und die GmbH nicht still abgewickelt wird (GmbH liegt als Karteileiche im Register eines kleinen Amtsgerichts, Amtslöschung). Kommt es aber zur Abweisung mangels Masse, helfe das den Gläubigern zwar auch nicht weiter, führe wenigstens aber doch im Gegensatz zur Rechtsfolge bei der Abweisung als unbegründet dazu, dass die Gesellschaft gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG aufgelöst, die Gewerbeausübung gemäß § 35 GewO untersagt und die Staatsanwaltschaft von Amts wegen befasst werde16. Leider komme auch dabei meist nicht viel heraus.
__________ 14 Vgl. Hirte, ZinsO 2003, 833 (834). 15 RA Sebastian Laboga, Kübler Rechtsanwälte – Insolvenzverwalter. 16 Vgl. auch Herchen, Vorratsgründung, Mantelverwendung und geräuschlose Besei-
tigung der GmbH, DB 2003, 2211 (2214); Hirte, ZinsO 2003, 833 (834).
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cc) Niederlegung des Geschäftsführeramtes und Schließung des Geschäftslokals Die Bedeutung dieser Fallgruppe wird ganz überwiegend bestätigt und eine Zunahme der Fälle sowohl bei den Zivilkammern als auch den Kammern für Handelssachen verzeichnet, teilweise als ein Element bei allen Varianten der „Unternehmensbestattung“. Wenn die alten Geschäftsführer erfolgreich ihr Amt niedergelegt haben und gar kein neuer Geschäftsführer bestellt ist, dann schwirrt die GmbH führungs- und vertreterlos durch den Rechtsverkehr, wie ein PKW ohne Fahrer17. Die Einsetzung von Notgeschäftsführern funktioniert in der Praxis nur ungenügend18. Vermehrt zu beobachten sei aber auch eine Schließung und Räumung des Geschäftslokals i. V. m. dem Hinweis, nunmehr ausschließlich über ein Postfach, vorzugsweise in einem anderen Gerichtsbezirk, erreichbar zu sein. dd) Übertragung des Geschäftsführeramtes auf Personen mit Wohnsitz im Ausland Die Bedeutung dieser Konstellation19 wird aus der gerichtlichen Praxis bestätigt. Die Übertragung des Geschäftsführeramtes gehe regelmäßig mit der Übertragung sämtlicher GmbH-Anteile auf einen Dritten, sei es auf einen Ausländer oder – häufiger – einen Deutschen mit ausländischem Wohnsitz oder eine ausländische Gesellschaft (oft mit deutschen Anteilseignern), einher. Die neuen Eigner/Geschäftsführer kümmerten sich dann um die geräuschlose Beseitigung der GmbH. Das werde dadurch erleichtert, dass die deutschen Gläubiger mit der Geltendmachung ihrer Forderungen schon auf der Ebene der Zustellung scheitern, ins Leere greifen und am Ende aufgeben. Dabei wurde deutlich, dass für die Zustellungsprobleme nicht die Staatsangehörigkeit der neuen Geschäftsführer, sondern der ausländische Wohnsitz die entscheidenden Schwierigkeiten macht. Ist der Geschäftsführer nicht mehr vor Ort, können prozessuale Schriftstücke möglicherweise im Wege der Ersatzzustellung zugestellt werden, etwa durch Aushändigung an Mitarbeiter (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO), durch Einwurf in den Briefkasten (§ 180 ZPO) oder durch Niederlegung (§ 181 ZPO). Ist aber das Geschäftslokal geschlossen, so geht auch da nichts mehr. Findige Anwälte scheinen sich in ihrer Not zu informieren, wann denn der Gerichtvollzieher einen Zustellungsversuch machen werde. Sodann schicken
__________ 17 Ausf. die Düsseldorfer Dissertation von Jan Link, Die Amtsniederlegung durch
Gesellschaftsorgane, Köln 2003. 18 Helmschrott, Der Notgeschäftsführer – eine notleidende Regelung, ZIP 2001, 636. 19 Erdmann, Ausländische Staatsangehörige in Geschäftsführungen und Vorständen
deutscher GmbHs und AGs, NZG 2002, 503.
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sie rechtzeitig jemanden bei der Adresse des nicht mehr vorhandenen Geschäftslokals vorbei, der dafür sorgt, dass die Firma der Schuldnerin an einem beliebigen Briefkasten angebracht ist. Dann wird die Zustellung arglos protokolliert. Wer sich legal verhält, dem bleibt die Auslandszustellung, wenn immerhin ein ausländischer Wohnsitz eines Geschäftsführers bekannt ist. Die auswärtigen Geschäftsführer hätten ihren Wohnsitz – aus Sicht der Praxis wegen der damit verbundenen besonderen Zustellungsprobleme – bevorzugt in Spanien, dort insbesondere Mallorca oder Marbella. Aber auch die Isle of Man oder gar Nikosia20, Zypern, werden als Wohnsitz genannt. Auch von Anteilsveräußerung an Gesellschaften und Geschäftsführungsübertragung an Personen mit Sitz im Fürstentum Liechtenstein wird berichtet. Die tatsächlich handelnden Personen seien dabei jedenfalls meist Personen mit intensiven Beziehungen nach Deutschland. Die zivilprozessuale Auslandszustellung (§ 183 ZPO) erweist sich nach den Stellungnahmen aber als kostspieliger, dornenreicher und oft mehrere Jahre dauernder Weg21. Die „Bestattungsindustrie“ mache sich diese Schwierigkeiten bewusst und systematisch zunutze, indem sie versuche, die Gläubiger von den mit Kosten und Zeitverzögerungen verbundenen Auslandszustellungen abzuschrecken, damit ins Leere laufen zu lassen und zu entmutigen. Der Zustellungs- und Ermittlungsaufwand steige in diesen Fällen wegen der notwendigen Einschaltung ausländischer Behörden oder Gerichte bzw. der notwendigen Übersetzung erheblich an. Dieses Problem werde noch durch Rückübersetzungen gesteigert, wenn also die Dokumente erst ins z. B. Spanische übersetzt werden, für den dort wohnhaften deutschen Geschäftsführer dann aber wieder aus dem Spanischen ins Deutsche. All das macht für den Gläubiger in der Regel wirtschaftlich keinen Sinn mehr, so dass er aufgibt. In der Praxis träten aber auch bei Geschäftsführern ausländischer Staatsangehörigkeit mit Wohnsitz in Deutschland Probleme auf. Typisch sei etwa der Fall, dass russische oder baltische Geschäftsführer eingesetzt werden, die trotz Dolmetschers keine sachdienlichen Angaben machten und auch nicht durch Zwangsmaßnahmen dazu bewegt werden könnten. Im Baugewerbe seien es meist Türken, in der Gebäudereinigungsbranche auch Afghanen. Hingewiesen wird aber auch darauf, dass es nicht nur Missbrauchsfälle seien, in denen Geschäftsführer für das Gericht über die ausländische Adresse nicht mehr zuverlässig erreichbar seien22.
__________ 20 Bsp: Mainstreet 100 # 5. 21 Nach Schack (Internationales Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl. 2002, Rz. 600) dauert
eine Auslandszustellung selbst innerhalb der EU noch vier bis sechs Monate, nach Spanien gar bis zu zwei Jahre. 22 Vgl. insgesamt Erdmann, NZG 2002, 503.
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ee) Auslandsgesellschaften mit effektivem Verwaltungssitz in Deutschland Darüber hinaus wird als neuere Erscheinung beschrieben, dass Kapitalgesellschaften mit Sitz im Ausland Zweigniederlassungen zur Eintragung im Handelsregister anmeldeten, in denen die geschäftliche Tätigkeit zu 100 % stattfinde, während die ausländische Hauptniederlassung nur eine Briefkastenfirma sei. Auch hier habe sich eine ganze Dienstleistungsbranche entwickelt, die bei Gründung, Abwicklung etc. Hilfe verspreche und die Vorteile insbesondere der britischen Limited in rosigsten Farben anpreise. Obwohl in der Fachliteratur zunehmend Bedenken geltend gemacht werden, ob gerade für das mittelständische Unternehmen die Wahl einer ausländischen Gesellschaftsform nicht auf lange Sicht erheblich teurer, komplizierter und gefährlicher ist23, scheinen viele von dieser durch die neuere EuGH-Rechtsprechung ermöglichten Variante24 Gebrauch zu machen. Erwähnt sei ein Friseursalon in Kleinmachnow, der von einer limited betrieben wird. Diese Zweigniederlassungen beabsichtigten häufig die Ausübung erlaubnispflichtiger Tätigkeiten, insbesondere die Umgehung des Meisterzwanges im Handwerk soll hier eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Hinter der Kapitalgesellschaft stünden regelmäßig deutsche Staatsangehörige, welche die Gründungskosten und die Notwendigkeit eines Nachweises der Einzahlung des Mindestkapitals vermeiden wollten oder auf diese Weise ein deutsches Berufsverbot als Geschäftsführer zu umgehen suchten. Erhebliche Probleme sollen in der Praxis schließlich auch Insolvenzen solcher ausländischer Kapitalgesellschaften mit effektivem Verwaltungssitz in Deutschland bereiten, da es externen Gläubigern regelmäßig an Informationen sowie Ermittlungspotential mangele und der finanzielle Aufwand erheblich sei.
__________ 23 S. nur Heckschen, Deutsche GmbH vor dem Aus? Eine merkwürdige „wissen-
schaftliche“ Diskussion, GmbHR 2004/2, R25; Kallmeyer, Vor- und Nachteile der englischen Limited im Vergleich zur GmbH & Co. KG, DB 2004, 636; Wachter, Handelsregisteranmeldung der inländischen Zweigniederlassung einer englischen Private Limited Company, MDR 2004, 611. 24 S. nur Drygala, Urteils-Anm. in EWiR Art. 43 EG 4/03, S. 1030; Sandrock, BBForum: Nach Inspire Art – Was bleibt vom deutschen Sitzrecht übrig? BB 2003, 2588; Ziemons, Freie Bahn für den Umzug von Gesellschaften nach Inspire Art?, ZIP 2003, 1913 (1917); Schanze/Jüttner, Die Entscheidung für Pluralität: Kollisionsrecht und Gesellschaftsrecht nach der EuGH-Entscheidung „Inspire Art“, AG 2003, 661 (668); Probst/Kleinert, Schein-Auslandsgesellschaften – Erneute Betonung der Niederlassungsfreiheit durch den EuGH, MDR 2003, 1265 (1268); Zimmer, NJW 2003, 3585 (3590); Ebke, JZ 2003, 927 (931); Eidenmüller, ZIP 2003, 2233 (2242); Paefgen, DB 2003, 487.
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b) Weitere Fallgruppen der missbräuchlichen Verwendung der GmbH in der Krise Die Anregung des Anschreibens aufgreifend wurden weitere Fallgruppen benannt, die unmittelbar den Problemkreis der missbräuchlichen Verwendung der GmbH in der Krise betreffen. aa) „Aufspaltung“ von Einnahmen und Verbindlichkeiten Ein weiterer (und natürlich geradezu) klassischer Fall sei die Gründung einer Vertriebsgesellschaft und einer Produktionsgesellschaft mit anschließender Arbeitsteilung, dass der „Vertriebsgesellschaft“ die Einnahmen zuflössen, die Tochtergesellschaft „Produktionsgesellschaft“ dagegen die Verbindlichkeiten eingehe, insbesondere durch den Abschluss von Arbeitsverträgen. Letztere Gesellschaft werde dann bewusst in die Insolvenz geführt, die Einnahmen der Vertriebsgesellschaft blieben der Haftungsmasse der Produktionsgesellschaft entzogen. Dafür dürfte es aber eigentlich schon ausreichende konzern- und gesellschaftsrechtliche Remeduren25 geben. Dasselbe Modell ist auch als Trennung von Schwestergesellschaften in Betriebs- und Besitzgesellschaft bekannt. bb) Missbrauch des Amtslöschungsverfahrens wegen Vermögenslosigkeit Beobachtet wird auch ein Missbrauch des Amtslöschungsverfahrens wegen Vermögenslosigkeit. In einer spürbaren Zahl von Fällen werde es dazu benutzt, eine ordnungsgemäße Abwicklung der Gesellschaft zu umgehen (um vorhandene Schulden „abzustreifen“). Dazu werde die GmbH ohne Insolvenzantrag still beseitigt bis zur Amtslöschung. Es komme aber ebenso vor, dass zunächst Insolvenzantrag gestellt wird. Nach Abweisung des Antrages mangels Masse habe das Gericht dann gemäß § 141a FGG Veranlassung, das Amtslöschungsverfahren der vermögenslosen Gesellschaft einzuleiten. Der Registerrichter habe nur begrenzte Möglichkeiten zur Feststellung, ob noch verwertbares Vermögen vorhanden sei. Soweit noch Vermögenswerte versteckt vorhanden sind, wird der Zugriff der Gläubiger auf sie nach Abweisung des Insolvenzverfahrens und Amtslöschung praktisch so schwierig, dass die meisten aufgeben.
__________ 25 Röhricht, Das neue Konzept des Bundesgerichtshofs zur Gesellschafterhaftung bei
der GmbH, RWS-Forum Gesellschaftsrecht 2003, S. 1 ff.
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3. Über konkrete Missbrauchsfälle hinausreichende Reformanregungen/ Probleme Einige Stellungnahmen haben sich über das ministerielle Anschreiben hinaus mit weiteren, mit der Insolvenzanfälligkeit zusammenhängenden Problemkreisen auseinandergesetzt. a) Anhebung des Mindesthaftkapitals? Als Grund für die Insolvenzanfälligkeit wird zum Teil das zu niedrige Mindesthaftkapital angesehen. Eine Erhöhung des Mindestkapitals wird aber, bis auf eine Ausnahme26, nicht, jedenfalls nicht nachdrücklich ohne Rücksicht auf die europäische Rechtsentwicklung gefordert. Eine isolierte Mindestkapitalanhebung in Deutschland bei tendenziellem Absinken der Haftkapitalanforderungen im europäischen Umland27 würde den Mittelstand aus der deutschen GmbH vertreiben. Zudem würden Existenzgründungen erschwert. Zuletzt wird darauf hingewiesen, dass Kreditgeber die Eigenkapitalverhältnisse bei einer Kreditvergabe ohnehin unabhängig von den wenig aussagekräftigen gesetzlichen Haftkapitalvorgaben prüfen. b) Harmonisierung der Haftkapitalregeln in Europa Angeregt wird aber vielfach eine Harmonisierung und Vereinfachung der Regeln über die Kapitalaufbringung und die Kapitalerhaltung auf europäischer Ebene28, teilweise auch eine vorbehaltlose Diskussion über eine gänzliche Abschaffung des Mindestkapitals verbunden mit Überlegungen zu einem gleichzeitigen Ersatz der Vorschriften nach dem Muster von § 6.40 des US-amerikanischen Model Business Corporation Act29. Reformbedarf wird etwa bei den Regeln über das eigenkapitalersetzende Darlehen und bei den Vorschriften zur Aufbringung des Stammkapitals gesehen, etwa im Hinblick auf die Verpfändung von GmbH-Anteilen zur Existenzgründung. 4. Bewertung Die praktische Relevanz der im ministeriellen Fragebogen genannten Fallgruppen wurde von den Stellungnahmen in weiten Teilen nachdrücklich
__________ 26 BNotK. 27 Wachter, Frankreich: Die „Ein-Euro-GmbH“ ab 2004, GmbHR 19/2003, R377;
Lembeck, UK Company Law Reform – ein Überblick, NZG 2003, 956 (auch zur Reform der private company); Becker, Verabschiedung des Gesetzes über die französische Blitz-S.A.R.L, GmbHR 2003, 1120; Vietz, GmbHR 2003, 26 und dies., GmbHR 2003, 523. 28 Lutter, Gesetzliches Garantiekapital als Problem europäischer und deutscher Rechtspolitik, AG 1998, 375. 29 U. a. Röhricht.
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bestätigt. Die plastische Darstellung der Bestattungsfälle in allen Varianten macht das deutlich. 1. Soweit teilweise bei der (insolvenz)gerichtlichen Praxis weniger Erfahrungen mit den angesprochenen Missbrauchsfällen berichtet werden, liegt das wohl daran, dass die Gläubiger in einer Vielzahl der Fälle den Gerichtsweg gar nicht erst beschreiten, da sie das Unterfangen für aussichtslos halten bzw. den mit der Rechtsverfolgung verbundenen Aufwand und das finanzielle Risiko scheuen. Sie verhalten sich damit ökonomisch rational. Oft scheitern Gläubiger auch bereits im Stadium des Zugangs einer Mahnung oder Kündigungserklärung. Falls ihnen dies gelungen sein sollte, scheitern sie sodann mit der Zustellung einer Klage oder jedenfalls der Zustellung des Insolvenzantrags. Nachdrücklich wird die Zunahme der Missbrauchsfälle jedenfalls von Angehörigen der rechtsberatenden Berufe betont, die zum Teil mehr sehen, als die gerichtliche Praxis. 2. Was die Problematik der Konkurrenz durch Auslandsgesellschaften in der Folge der Inspire Art-Rspr. betrifft, ist daran zu erinnern, dass die im Vergleich zum deutschen Recht geringeren Anforderungen an die Kapitalaufbringung (Garantiekapital, legal capital) bei Gründung einer Gesellschaft mindestens aufgewogen werden durch die deutlich größere Strenge des englischen Rechts später im Vorfeld einer aufkommenden Krise der Gesellschaft, so dass das Recht der englischen Limited im Vergleich zum Recht der deutschen GmbH nicht unbedingt milder ist. Der Vorteil der bei einigen Fallgruppen in Frage stehenden Auslandsgesellschaften (die Bezeichnung „Scheinauslandsgesellschaften“ ist nach der neueren EuGH-Rspr. irreführend) besteht jedoch darin, dass sie am Anfang bei der Gründung von den milderen englischen Kapitalaufbringungsregeln profitieren (kein nennenswertes Garantiekapital, keine Mindesteinzahlungen, keine wertgleiche Deckung, keine nennenswerte Sacheinlagenkontrolle etc.) und am Ende in der Krise von dem milderen deutschen Insolvenzrecht, weil das Insolvenzverfahren vor den deutschen Gerichten nach deutschem Insolvenzrecht abgewickelt wird, damit insbesondere die britische Wrongful-trading-Regel nicht anwendbar ist30. Die geringere Präventivkontrolle des englischen Rechts wird also mit der geringeren „retroaktiven“ Kontrolle des deutschen Insolvenzrechts kombiniert. Eine Reform muss an diesem Problem zur Vermeidung der „Rosinenpickerei“ ansetzen. Ferner ist eine Verlagerung gläubigerschützender rechtsformspezifischer Regelungen vom Gesellschafts- in das allgemein gültige Insolvenzrecht zu erwägen31.
__________ 30 Riedemann, Das Auseinanderfallen von Gesellschafts- und Insolvenzstatut, die
Insolvenz über das Vermögen einer englischen „limited“ in Deutschland, GmbHR 2004, 345. 31 Fischer, Die Verlagerung des Gläubigerschutzes vom Gesellschafts- in das Insolvenzrecht nach „Inspire Art“, ZIP 2004, 1477.
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3. Punktuelle Änderungen müssen vor allem am Ende des Lebens einer GmbH vorgenommen werden. Das heißt: Falls zusätzliche Regulierungen erwogen werden, muss strengstens darauf geachtet werden, dass sie der ordentlich arbeitenden, lebenden GmbH möglichst keine weiteren bürokratischen Lasten aufbürden. Sie dürfen nur und ganz gezielt in den Missbrauchsfällen greifen. 4. Kernproblematik ist dabei die Erleichterung der Zustellung. Insbesondere die Probleme der Auslandszustellung entmutigen viele Gläubiger und lassen sie am Rechtstaat verzweifeln. Bei zu erwägenden Zustellungserleichterungen für deutsche Kapitalgesellschaften sind die Zweigniederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften in gleicher Weise einzubeziehen. 5. Um die Wettbewerbssituation der deutschen GmbH gegenüber ausländischen vergleichbaren Rechtsformen grundlegend zu verbessern, sollten die Gründungsvorschriften, insbesondere über die Kapitalaufbringung überprüft werden. In mehreren europäischen Ländern gibt es Null-Euro-Mindesthaftkapital-Systeme oder sind kürzlich massive Absenkungen vorgenommen worden. Dies kann uns nicht unbeeindruckt lassen. Ein explizites gesellschaftsrechtliches „Abwehrgesetz“ wurde nicht gefordert; dies wäre nach der „Inspire Art“-Entscheidung des EuGH32 auch nur schwer zu rechtfertigen. Es empfiehlt sich aber eine bessere Einbeziehung der Zweigniederlassungen von Auslandsgesellschaften in die GmbH betreffenden Regelungen.
III. Reformvorschläge im Überblick: Zusammenfassend haben sich folgende bedenkenswerte Reformvorschläge herauskristallisiert a) Jede im Register eingetragene GmbH oder Zweigniederlassung einer Auslandsgesellschaft muss eine inländische für Zustellungen maßgebliche Geschäftsanschrift im Register eintragen. b) Ist der Zugang einer Willenserklärung oder eine Zustellung unter dieser Geschäftsanschrift nicht möglich, so kann – unter klar umrissenen und unkompliziert nachzuweisenden weiteren Voraussetzungen33 – anstelle dessen öffentlich zugestellt werden (§ 185 ZPO). c) Haben die Geschäftsführer ihr Amt niedergelegt, sind die Gesellschafter Ersatzempfangsvertreter.
__________ 32 S. Fn. 5. 33 Die Praxis verlangt für die öffentliche Zustellung einen sehr bürokratischen Vor-
lauf u. a.: Auskunft des Einwohnermeldeamtes, des letzten bekannten Vermieters, früherer Hausgenossen und bekannter Verwandter; z. T. auch des Nachmieters, der Nachbarn, des Postamtes, des Arbeitgebers und der Sozialversicherungsträger; vgl. nur Stöber in Zöller, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 185 Rz. 2. Korrigierend für den Pfändungsbeschluss BGH, NJW 2003, 1530.
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d) Auch Gesellschafter der GmbH sind berechtigt, einen Insolvenzantrag zu stellen. Unter bestimmten Voraussetzungen sind sie dazu auch verpflichtet (Kenntnis von Führungslosigkeit und Überschuldung). e) Ein GmbH-Anteilsübergang wird erst wirksam mit Aktualisierung der Gesellschafterliste beim Handelsregister. f) Auf ein gesetzliches Mindestkapital kann verzichtet werden. Im Gegenzug müsste aber volle Transparenz des gezeichneten und voll eingezahlten Stammkapitals gewährleistet sein. Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsregeln bleiben im Übrigen unberührt. g) Das Stammkapital lautet auf volle Euro. h) Das Zahlungsverbot des § 64 GmbHG ist möglicherweise zeitlich vorzuziehen.
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Gesamtrechtsnachfolge beim gestalteten Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personengesellschaften: Grundfragen des Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutzes Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundlagen 1. Fallgruppen der Anwachsungsmodelle a) Fallgruppe 1: Quasi-Up-StreamVerschmelzung b) Fallgruppe 2: Quasi-Formwechsel c) Fallgruppe 3: Quasi-Side-StreamVerschmelzung d) Fallgruppe 4: Unternehmensverkauf 2. Gestaltungsvarianten und Praxiserwägungen 3. Prinzip der Gesamtrechtsnachfolge und Konsequenzen 4. Gesetzliche Ratio des Anwachsungsprinzips III. Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutz bei Anwachsungsmodellen 1. Analoge Anwendbarkeit umwandlungsrechtlicher Schutzmechanismen 2. Schutz von Anteilsinhabern
a) Umwandlungsrechtliches Schutzinstrumentarium b) Personengesellschaftsrecht 3. Schutz von Gläubigern, Schuldrechtspartnern und ähnlichen Dritten a) Umwandlungsrechtliches Schutzinstrumentarium b) Personengesellschaftsrecht 4. Schutz von Arbeitnehmern und deren Vertretungen a) Umwandlungsrechtliches Schutzinstrumentarium b) Personengesellschaftsrecht aa) Informations- und Zuleitungspflichten bb) Übergang der Arbeitsverhältnisse (§ 613a BGB; § 324 UmwG) cc) Kontinuitätsvorschriften (§ 325 Abs. 1, § 323 Abs, 1 UmwG) dd) Kontinuität der Aufsichtsratsbesetzung (§ 203 UmwG) IV. Zusammenfassung in Thesen
I. Einleitung Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte in den vergangenen 50 Jahren selten Gelegenheit, zu Fragen der Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personengesellschaften Stellung zu nehmen, zuletzt allerdings durch sein sehr beachtetes Urteil v. 15. März 20041. Die Seltenheit
__________ 1
BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, ZIP 2004, 1047 ff. = NJW-Spezial 2004, 175 (Seibt); kritisch hierzu Schäfer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 2004, § 131 Rz. 109a f.; zuvor BGH v. 19.5.1960 – II ZR 72/59, BGHZ 32, 307 ff.; BGH v. 13.7.1967 – II ZR 268/64, BGHZ 48, 203 ff.
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Christoph H. Seibt
gesellschaftsrechtlicher Judikate entspricht der Knappheit der Ausführungen zu diesem Thema im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum, steht allerdings in einem überraschenden Widerspruch zu der praktischen Bedeutung der Anwachsung bzw. der Gesamtrechtsnachfolge bei Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personengesellschaften in der Gestaltungsberatung. In der Beratungspraxis gehört der zielgerichtete, d. h. gestaltete Übergang eines Gesellschaftsvermögens auf einen anderen Rechtsträger im Wege der Gesamtrechtsnachfolge durch Austritt von Gesellschaftern aus einer Personengesellschaft zum Kanon gebräuchlicher Umstrukturierungsmodelle. Mit diesem, dem verehrten Jubilar Dr. h.c. Volker Röhricht gewidmeten Beitrag wird das Ziel verfolgt, das Grundprinzip und die rechtspolitische Ratio der gesetzlich (implizit) angeordneten Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters aus der Personengesellschaft herauszuarbeiten (sub II. 3. und 4.) und vor diesem Hintergrund die Schutzmechanismen zugunsten von Anteilsinhabern, Gläubigern sowie Arbeitnehmern systemkonform zu entwickeln (sub III.). Dabei wird die zuweilen in der Praxis gestellte Frage verneint, ob die umwandlungsrechtlichen Schutzvorschriften zugunsten dieser Gruppen entsprechende Anwendung auf solche „Anwachsungsmodelle“ finden. Zunächst sollen allerdings im Rahmen einer Grundlegung die in der Praxis gebräuchlichen Anwachsungsmodelle in Form von Fallgruppen kategorisiert und die wesentlichen Gestaltungsüberlegungen dargelegt werden (sub II. 1. und 2.).
II. Grundlagen 1. Fallgruppen der Anwachsungsmodelle Nach § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB, der über § 105 Abs. 3, § 161 Abs. 2 HGB sowie § 1 Abs. 4 PartGG auch für oHG, KG und PartG gilt, wächst der Anteil eines ausscheidenden Personengesellschafters am Gesellschaftsvermögen den übrigen Gesellschaftern zu. § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB setzt zwar nach seinem Wortlaut das Verbleiben mehrerer Gesellschafter voraus, die Norm ist jedoch bei Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters entsprechend anwendbar2. Verbleibt nach dem Ausscheiden eines oder mehrerer Gesellschafter nur ein Gesellschafter, geht daher die gesamthänderische Mitbe-
__________ 2
Vgl. RG v. 23.2.1907 – I 404/06, RGZ 65, 225 (235 ff.); RG v. 23.5.1908 – V 70/08, RGZ 68, 410 (414 ff.); Schäfer in Großkomm.HGB, § 131 Rz. 8 und 107; Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2003, § 738 Rz. 11; Palandt/Sprau, BGB, 64. Aufl. 2005, § 738 Rz. 1; v. Gamm in RGRK, BGB, 12. Aufl. 1978, § 738 Rz. 1; Hadding in Soergel, BGB, 11. Aufl. 1985, § 730 Rz. 23, § 738 Rz. 2; Staudinger/Habermeier (2003), BGB, § 738 Rz. 5; Timm/Schöne in Bamberger/Roth, BGB, 2003, § 738 Rz. 1; vgl. aber auch Rimmelspacher, AcP 173 (1973), 1 (18 f.): Rechtsgedanken der §§ 738 Abs. 1 Satz 1, 1490, 1491, 2033 BGB; Kübler, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 1998, § 7 VII 4c, S. 88: §§ 131 Abs. 3, 140 Abs. 1 Satz 2 HGB; Wiedemann in GS Lüderitz, 2000, S. 839 (843): Weiterwirkung des § 142 HGB a. F.
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rechtigung der Ausscheidenden unmittelbar und ohne besondere Übertragungsakte auf ihn über3. Nach ständiger Rechtsprechung und ganz herrschender Meinung im Schrifttum erfolgt der Vermögensübergang im Wege der Gesamtrechtsnachfolge4, wobei die Personengesellschaft liquidationslos erlischt5. Ein von dieser betriebenes Unternehmen wird in der Rechtsform des letztverbleibenden Gesellschafters fortgeführt6. Dieser Übergang des Gesellschaftsvermögens im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den verbleibenden Gesellschafter nutzt die Gestaltungsberatung im Wesentlichen zur Erreichung von vier Umstrukturierungszielen, nämlich (i) zur Quasi-Up-Stream-Verschmelzung (sub II. 1. a), (ii) zum Quasi-Formwechsel (sub II. 1.b), (iii) zur Quasi-Side-Stream-Verschmelzung (sub II. 1.c) sowie (iv) zum Unternehmensverkauf (sub II. 1. d). a) Fallgruppe 1: Quasi-Up-Stream-Verschmelzung In einer ersten Gruppe können die Umstrukturierungsfälle zusammengefasst werden, in denen das Vermögen einer Personengesellschaft auf einen Gesellschafter (d. h. up stream) übergeht. Bei einer GmbH & Co. KG wird eine
__________ Vgl. etwa BGH v. 16.12.1999 – VII ZR 53/97, NJW 2000, 1119; BGH v. 22.9.1993 – IV ZR 183/92, NJW-RR 1993, 1443 (1444); OLG Nürnberg v. 4.2.1999 – 8 U 3465/98, BB 1999, 652; Hennerkes/Binz in FS Meilicke, 1985, S. 31 (34); Krüger, DStZ 1986, 382 (383); Ulmer in MünchKomm.BGB, § 738 Rz. 11; Palandt/Sprau, BGB, § 738 Rz. 1; Schiefer, DStR 1996, 788 (791); Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/ UmwStG, 3. Aufl. 2001, § 20 UmwStG Rz. 198; Timm/Schöne in Bamberger/Roth, BGB, § 738 Rz. 6. 4 Vgl. etwa BGH v. 19.5.1960 – II ZR 72/59, BGHZ 32, 307 (317); BGH v. 13.7.1967 – II ZR 268/64, BGHZ 48, 203 (206); BGH v. 16.12.1999 – VII ZR 53/97, NJW 2000, 1119; BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, ZIP 2004, 1047 (1048); Bachem, BB 1993, 483; Breiteneicher, DStR 2004, 1405; Gummert, WiB 1994, 20 f.; Hennrichs, Formwechsel und Gesamtrechtsnachfolge bei Umwandlungen, 1995, S. 27; Orth, DStR 1999, 1011 (1012 f.); Schäfer in Großkomm.HGB, § 131 Rz. 8 und 107; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 131 Rz. 57; Ulmer in MünchKomm.BGB, § 730 Rz. 65, 81; Palandt/Sprau, BGB, § 738 Rz. 1; Picot/Müller-Eising in Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, 3. Aufl. 2004, Rz. 58; Piltz, DStR 1992, 707 (708); Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger, Umwandlungen, 3. Aufl. 2002, Rz. H 24; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 12 I 4 b, S. 336; ders., AcP 191 (1991), 495 (509 f.); ders. in MünchKomm.HGB, 2004, § 131 Rz. 7 und § 140 Rz. 86; Seibt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl. 2003, Rz. F 89; Watermeyer, GmbHStB 2003, 96; DNotI-Report 2002, 99 f.; a. A. BMF v. 25.3.1998, BStBl I 1998, S. 268 (336) Tz. 22.14; Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwStG Rz. 198: kein Fall der (echten) Gesamtrechtsnachfolge. 5 OLG Düsseldorf v. 14.9.1998 – 3 Wx 209/98, NZG 1999, 26; Schäfer in Großkomm.HGB, § 131 Rz. 8 und 107; Finken/Decher, AG 1989, 391 (393); Hennerkes/ Binz (Fn. 3), S. 31 (34); Orth, DStR 1999, 1011 (1013); Sagasser in Sagasser/Bula/ Brünger (Fn. 4), Rz. H 24; Schindhelm/Pickhardt-Poremba/Hilling, DStR 2003, 1444 (1448); K. Schmidt (Fn. 4), § 12 I 4 b, S. 336. 6 Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 24. 3
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„Verschmelzung“ deren Gesellschafsvermögens auf ihren alleinigen Kommanditisten durch Ausscheiden der Komplementär-GmbH erreicht7. Auch bei der Auflösung von in der Rechtsform einer Personengesellschaft betriebenen Gemeinschaftsunternehmen wird der Übergang des Joint-VentureVermögens im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den zur Fortführung ausgewählten Gesellschafter dadurch erreicht, dass der oder die weiteren Gesellschafter aus dem Gemeinschaftsunternehmen ausscheiden. Das Konzept dieser Umstrukturierung kann graphisch wie folgt dargestellt werden: vor Anwachsung
nach Anwachsung
A-GmbH
A-GmbH Z-KG
Z-KG
Z-GmbH
Z-GmbH
b) Fallgruppe 2: Quasi-Formwechsel Ist wirtschaftlich ein Rechtsformwechsel eines als GmbH & Co. KG betriebenen Unternehmens in die Rechtsform einer GmbH erstrebt, kommt neben dem Rechtsformwechsel nach §§ 190 ff. UmwG auch die Gesamtrechtsnachfolge des Gesellschaftsvermögens bei der Komplementär-GmbH nach Ausscheiden sämtlicher Kommanditisten in Betracht8. Wenngleich diese beiden Umstrukturierungsmodelle wirtschaftlich vergleichbar sind, kommt es doch bei dem umwandlungsrechtlichen Formwechsel nicht zu einem Übergang von Vermögen, sondern der formwechselnde Rechtsträger bewahrt seine Identität (was beispielsweise den Anfall von Grunderwerbsteuer von vornherein ausscheidet9). Überdies unterscheiden sich die Modelle dadurch, dass beim Formwechsel die bisherige Komplementär-GmbH an dem formgewechselten Rechtsträger beteiligt bleibt10. Der Quasi-Formwechsel mit Übergang des Gesellschaftsvermögens bei einem Rechtsträger anderer Rechtsform kann graphisch wie folgt dargestellt werden:
__________ 7 Vgl. Seibt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt (Fn. 4), Rz. F 90. 8 Vgl. K. Schmidt (Fn. 4), § 12 I 4 d, S. 337; Seibt in Willemsen/Hohenstatt/
Schweibert/Seibt (Fn. 4), Rz. F 90; vgl. auch Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 24; DNotI-Report 2002, 99 (100). 9 Vgl. BFH v. 4.12.1996, BStBl. II 1997, 661; gleichl. Erl. FinMin Ba-Wü v. 19.12.1997 i. d. F. v. 31.1.2000, StEK GrEStG 1983 § 8 Nr. 23; Boruttau/Fischer, GrEStG, 15. Aufl. 2002, § 1 Rz. 545 ff.; Hofmann, GrEStG, 8. Aufl. 2004, § 1 Rz. 9. 10 Vgl. K. Schmidt (Fn. 4), § 12 I 4 d, S. 337, § 13 II 3 e, S. 378; vgl. auch Kallmeyer, GmbHR 1993, 461 (463).
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften
vor Anwachsung
nach Anwachsung
A-GmbH
A-GmbH Z-GmbH
Z-KG
Z-GmbH
Z-KG
c) Fallgruppe 3: Quasi-Side-Stream-Verschmelzung Zur Vereinfachung von Konzernstrukturen, nämlich zur horizontalen Zusammenführung von Beteiligungsgesellschaften (häufig bei gleichzeitigem Rechtsformwechsel der operativen Unternehmen), scheidet die Konzernobergesellschaft aus den „übertragenen“ Rechtsträgern aus, mit der Folge, dass die Gesellschaftsvermögen auf ein weiteres Konzernunternehmen übergehen. Diese Quasi-Side-Stream-Verschmelzung kann graphisch wie folgt dargestellt werden:
vor Anwachsung
nach Anwachsung
A-GmbH
A-GmbH Z-GmbH
Z1-KG
Z-GmbH
Z2-KG
Z1-KG Z2-KG
d) Fallgruppe 4: Unternehmensverkauf Schließlich wird auch in Sondersituationen eines Verkaufs eines in der Rechtsform einer Personengesellschaft geführten Unternehmens das „Anwachsungsmodell“ genutzt11.Wird das Zielunternehmen in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG betrieben, so erwirbt die Käufergesellschaft zunächst die Anteile an der Komplementär-GmbH von der Verkäufergesellschaft, be-
__________ 11 Vgl. Semler in Hölters, Handbuch des Unternehmens- und Beteiligungskaufs,
5. Aufl. 2002, Teil VII Rz. 212.
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vor diese in einem zweiten Schritt aus der operativen Kommanditgesellschaft ausscheidet; das Gesellschaftsvermögen der Kommanditgesellschaft geht dann auf die Komplementär-GmbH über, deren alleiniger Gesellschafter die Käufergesellschaft ist. Graphisch kann dies wie folgt dargestellt werden:
vor Anwachsung V-GmbH
Schritt 1 V-GmbH
nach Anwachsung K-GmbH
K-GmbH Z-GmbH
Z-KG
Z-GmbH
Z-KG
Z-GmbH
Z-KG
2. Gestaltungsvarianten und Praxiserwägungen Die Nutzung eines Anwachsungsmodells der Fallgruppen 1 bis 3 an Stelle einer dem UmwG unterfallenden Umwandlung hat häufig das Ziel, (i) die umwandlungsrechtlichen Verfahrensvorschriften einschließlich der arbeitsrechtlichen Zuleitungspflichten (Zeitaspekt), (ii) die umwandlungsrechtlichen Gläubigerschutzvorschriften (insbesondere die Schadenersatzhaftung der Verwaltungsorgane und die Ansprüche auf Sicherheitsleistung) sowie (iii) die umwandlungsrechtlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften zu vermeiden und (iv) Notarkosten zu sparen. Demgegenüber bieten Umwandlungen durch die Konstitutiv- und Heilungswirkung der Handelsregisteranmeldung größere Rechtssicherheit. Bei der Nutzung der Fallgruppe 4 steht im Vordergrund, die Wirkungen der Gesamtrechtsnachfolge zu erreichen, insbesondere um ansonsten beim Unternehmensverkauf für einzelne Vermögenswerte eingreifende Zustimmungsvorbehalte zu vermeiden. Dabei kann der Übergang des Gesellschaftsvermögens der Personengesellschaft auf den verbleibenden Gesellschafter in allen Fallgruppen auf zwei Wegen erzielt werden: Beim sog. klassischen oder einfachen Anwachsungsmodell (teilweise auch als Austrittsmodell bezeichnet) treten alle Gesellschafter bis auf einen ohne Abfindung aus der Personengesellschaft aus12. Dabei kann der Austritt entweder durch Abschluss einer Austrittsvereinbarung oder durch Kündigung erfolgen. Bei der GbR kommt eine „Austrittskündigung“ allerdings nur in
__________
12 Vgl. Finken/Decher, AG 1989, 391 (393); Hennerkes/Binz (Fn. 3), S. 31 (33); Orth,
DStR 1999, 1053 (1056); Picot/Müller-Eising in Picot (Fn. 4), Rz. 59; Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 25; Schindhelm/Pickhardt-Poremba/Hilling, DStR 2003, 1444 (1448); Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwStG Rz. 198.
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften
Betracht, wenn der Gesellschaftsvertrag eine Fortsetzungsklausel enthält13. Durch das Ausscheiden der übrigen Gesellschafter erlischt die Gesellschaft und der verbleibende Gesellschafter – in praxi nicht selten eine Kapitalgesellschaft – tritt die Gesamtrechtsnachfolge in das Gesellschaftsvermögen an. Beim sog. erweiterten Anwachsungsmodell (teilweise auch als Einbringungsoder Übertragungsmodell bezeichnet) scheiden dagegen die Gesellschafter der Personengesellschaft nicht entschädigungslos aus der Gesellschaft aus. Vielmehr bringen sie ihre Gesellschaftsanteile im Rahmen einer Kapitalerhöhung in die übernehmende (Kapital-)Gesellschaft ein, wofür ihnen als Gegenleistung neue Gesellschaftsanteile gewährt werden14. Mit der Übertragung sämtlicher Anteile erlischt die Personengesellschaft und die übernehmende (Kapital-)Gesellschaft [d.i. der übrig bleibende Gesellschafter] tritt die Gesamtrechtsnachfolge an15. Die Wahl der Gestaltungsform wird neben dem Dokumentations- und Kostenaufwand (der für das einfache Anwachsungsmodell spricht) häufig durch steuerliche Überlegungen entschieden16: Der für das einfache Anwachsungsmodell charakteristische Verzicht auf eine angemessene Abfindung wird von der Finanzverwaltung als verdeckte Einlage in die aufnehmende Kapitalgesellschaft gewertet, die beim ausscheidenden Kommanditisten eine Gewinnrealisierung der stillen Reserven als Aufgabegewinn nach § 16 Abs. 3 EStG auslöst17. Eine ertragssteuerneutrale Übertragung gemäß § 20 UmwStG
__________ 13 Vgl. OLG Stuttgart v. 5.5.2004 – 14 U 54/03, NZG 2004, 766 (768); Piehler/Schulte
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in MünchHdb.GesR, Bd. 1: BGB-Ges./OHG, 2. Aufl. 2004, § 10 Rz. 38; Schiefer, DStR 1996, 788. Vgl. Finken/Decher, AG 1989, 391 (393); Hennerkes/Binz (Fn. 3), S. 31 (33); Kallmeyer, GmbHR 1993, 461 (463); Orth, DStR 1999, 1053 (1056); Picot/MüllerEising in Picot (Fn. 4), Rz. 58; Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 26; Schindhelm/Pickhardt-Poremba/Hilling, DStR 2003, 1444 (1448); Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwStG Rz. 199. Vgl. Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 26. Zu den steuerlichen Fragen der Anwachsung z. B. Bachem, BB 1993, 483 ff.; Bellstedt, GmbHR 1979, 159 ff.; Breiteneicher, DStR 2004, 1405 ff.; Hennerkes/ Binz (Fn. 3), S. 31 ff.; Kramer, BB 1982, 1724 ff.; Krüger, NJW 1982, 2847 ff.; Krüger, DStZ 1986, 382 (384 ff.); Kruse, GmbHR 1979, 280 ff.; Lauermann/Protzen, DStR 2001, 647 ff.; Orth, DStR 1999, 1011 ff. u. 1053 ff.; Sagasser in Sagasser/Bula/ Brünger (Fn. 4), Rz. H 25 ff.; Schiessl/Tschesche, BB 2003, 1867 (1871 ff.); Schindhelm/Pickhardt-Poremba/Hilling, DStR 2003, 1469 (1472 ff.); Seithel, GmbHR 1978, 65 ff.; Sorg/Binz, Die GmbH & Co. KG, 9. Aufl. 2003, § 28 Rz. 32 ff.; Watermeyer, GmbH-StB 2003, 96 ff. Vgl. BMF v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, S. 268 (326) Tz. 20.04; OFD Düsseldorf v. 22.6.1988, DB 1988, 1524; ebenso die h. M. in der Literatur: Kramer, BB 1982, 1724 ff.; Orth, DStR 1999, 1053 (1056); Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 25; Schmidt/Wacker, EStG, 22. Aufl. 2003, § 16 Rz. 513; Schmitt in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwStG Rz. 198; Sorg/Binz (Fn. 16), § 28 Rz. 33; Widmann in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 20 UmwStG Rz. 545 f.; a. A. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl.
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scheitert daran, dass die aufnehmende Komplementär-GmbH keine neuen Anteile ausgibt18. Demgegenüber wird die Ausgabe neuer Anteile im Falle des erweiterten Anwachsungsmodells als Sacheinlage behandelt19, womit die §§ 20, 24 UmwStG zur Anwendung kommen und stille Reserven nicht realisiert werden müssen20. Daher wird in den Fallgruppen 2 bis 4 regelmäßig das erweiterte Anwachsungsmodell zu wählen sein, sofern in den Beteiligungen der Kommanditisten stille Reserven enthalten sind. Bei der Quasi-Up-Stream-Verschmelzung (Fallgruppe 1) wird demgegenüber zumeist das einfache Anwachsungsmodell Anwendung finden, sofern die Komplementär-GmbH – wie regelmäßig – keine Vermögensbeteiligung an der Kommanditgesellschaft hält. 3. Prinzip der Gesamtrechtsnachfolge und Konsequenzen Der gestaltete Übergang des Gesellschaftsvermögens einer Personengesellschaft auf den letztverbleibenden Gesellschafter im Wege der Gesamtrechtsnachfolge ist die gesetzlich angeordnete Folge einer privatautonomen Entscheidung der Gesellschafter, nämlich einer Kündigungs- oder Austrittserklärung, eines Ausschließungsbeschlusses oder einer Anteilsübertragung. Anders ausgedrückt: Die gestaltende Gesamtrechtsnachfolge bei Personengesellschaften ist zwingend zweistufig ausgestaltet. In einer ersten Stufe liegt ein privatautonomes Rechtsgeschäft vor, die zweite Stufe ist die gesetzliche Anordnung des Vermögensübergangs. Die Anwachsungsmodelle sind damit in ihrer Struktur den Umwandlungen i. S. d. UmwG ähnlich. Mit der Gesamtrechtsnachfolge gehen alle Aktiva und Passiva sowie sämtliche bilanzierten und nicht-bilanzierten Vermögensgegenstände, die im Zeitpunkt des Wirksamwerden des Ausscheidens des vorletzten Gesellschafters bzw. dessen Übertragung seines Gesellschaftsanteils bei der Personenge-
__________ 1993, § 22 VII 3 f., S. 834; Krüger, NJW 1982, 2847 (2849); Krüger, DStZ 1986, 382 (386); Seithel, GmbHR 1978, 65 ff.; Streck, KStG, 6. Aufl. 2003, § 8 Rz. 150 (Stichwort „Anwachsung“). 18 Düll in Sudhoff, GmbH & Co. KG, 5. Aufl. 2000, § 52 Rz. 72; Sagasser in Sagasser/ Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 25; Schmidt/Wacker, EStG, § 16 Rz. 513; Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwStG Rz. 198; für eine Einbeziehung des einfachen Anwachsungsmodells in den Anwendungsbereich von § 20 UmwStG Sorg/Binz (Fn. 16), § 28 Rz. 35. 19 Vgl. Orth, DStR 1999, 1053 (1057); Widmann in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 20 UmwStG Rz. 446, 450. 20 Düll in Sudhoff (Fn. 18), § 52 Rz. 75; Finken/Decher, AG 1989, 391 (393); Decher in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 190 Rz. 17; Orth, DStR 1999, 1053 (1057); Sagasser in Sagasser/Bula/Brünger (Fn. 4), Rz. H 26; Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwStG Rz. 199; Seibt in Willemsen/Hohenstatt/ Schweibert/Seibt (Fn. 4), F 89; Sorg/Binz (Fn. 16), § 28 Rz. 42.
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften
sellschaft vorhanden sind (unabhängig ob im In- oder Ausland belegen21), auf den verbleibenden Gesellschafter über. Der übernehmende Gesellschafter tritt ohne weiteres in die Rechte und Pflichten des übertragenden Rechtsträgers ein, sofern deren Erlöschen nicht ausdrücklich bestimmt ist oder sie ihrer Natur nach nicht auf einen Gesamtrechtsnachfolger übergehen22. Eine Vereinbarung, wonach einzelne Vermögensgegenstände von dem Übergang ausgenommen werden, hat nur schuldrechtliche Bedeutung23. In bereits bestehende Verträge tritt der übernehmende Gesellschafter ein, ohne dass insoweit eine Vertragsänderung erforderlich wäre. Auf die Gesamtrechtsnachfolge sind weder die §§ 414 ff. BGB noch die Grundsätze über die gewillkürte Vertragsübernahme anwendbar, so dass eine Mitwirkung des anderen Vertragsteils nicht erforderlich ist24. Anwendbar bleiben allerdings die allgemeinen Vorschriften der §§ 157, 242, 313, 314, 323 ff. BGB, so dass z. B. bei Dauerschuldverhältnissen über das Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) ein Anpassungsanspruch oder über § 314 BGB ein außerordentliches Kündigungsrecht des anderen Vertragsteils hergeleitet werden kann, sofern die Fähigkeit zur Erbringung der versprochenen Leistung durch die Anwachsung gefährdet erscheint25. Die der Personengesellschaft zugegangenen Vertragsangebote gelten weiter, soweit nicht die Personengesellschaft als solche oder ihre Rechtsform der entscheidende Grund für die Abgabe des Angebots waren26. Die Auslegung eines Auftrags, eines Geschäftsbesorgungsvertrages oder eines Dienstvertrages, bei der eine Personengesellschaft Auftragnehmerin ist, wird entgegen den Zweifelsregelungen in § 673 Satz 1, § 613 Satz 1 BGB regelmäßig ergeben, dass die Vertragspositionen übergehen27. Die Regelung des Abtretungsverbots nach § 399 BGB findet nach zutreffender Auffassung trotz § 412 BGB keine Anwendung auf Vermögensübergänge im Wege der Gesamtrechtsnachfolge, da der dann eintretende Untergang der Forderung (der übertragende Rechtsträger erlischt
__________ 21 Allerdings ist die lex rei sitae zu beachten: Sollte die Gesamtrechtsnachfolge im
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Ausland nicht anerkannt werden, empfiehlt es sich, eine gesonderte Einzelrechtsnachfolge vor dem Austritt der Gesellschafter bzw. der Übertragung der Gesellschaftsanteile herbeizuführen; für die Verschmelzung Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 2. Aufl. 2001, § 20 Rz. 5; Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 11; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 25 f. Vgl. RGZ 136, 313; Piehler/Schulte in MünchHdb.GesR, Bd. 2: KG/Stille Ges., 2. Aufl. 2004, § 37 Rz. 8; K. Schmidt in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl. 1992, § 142 Rz. 30. Piehler/Schulte (Fn. 22), § 37 Rz. 9; K. Schmidt in Schlegelberger, HGB, § 142 Rz. 31; Ulmer in Großkomm. HGB, 3. Aufl. 1973, § 142 Anm. 29. Vgl. Möschel in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2003, Vor § 414 Rz. 27. Für die Verschmelzung Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 10; Stratz in Schmitt/Hörtnagel/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 27. Für die Verschmelzung Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 10; Stratz in Schmitt/Hörtnagel/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 27. Für die Verschmelzung RG v. 19.2.1936 – V 1/36, RGZ 150, 289 (292); Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 24; Kübler in Semler/Stengel, UmwG, 2002, § 20 Rz. 18.
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ja wie bei der Verschmelzung) regelmäßig nicht im Interesse der Vertragspartner sein wird28. Allerdings ist es möglich, für den Fall des Vermögensübergangs im Wege der Gesamtrechtsnachfolge vertraglich ein Erlöschen der Forderung zu vereinbaren29; auch ohne vertragliche Regelung ist dem Vertragspartner des übertragenden Rechtsträgers ein Sonderkündigungsrecht zuzubilligen. Das Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Sachen (einschließlich von Immaterialgüterrechten30) geht im Wege der Universalsukzession über. Der Besitzübergang erfolgt analog § 857 BGB31. Soweit Grundstückseigentum mit übergeht, muss lediglich das Grundbuch nach § 894 BGB berichtigt werden32; eine notarielle Beurkundung gemäß § 311b Abs. 1 BGB ist für den Übergang nicht erforderlich33, da der Grundstückserwerb nicht Vertragsgegenstand, sondern lediglich Rechtsfolge der Kündigung bzw. Anteilsübertragung ist34. Beschränkt dingliche Rechte (Nießbrauch, beschränkte persönliche Dienstbarkeit, dingliche Vorkaufsrechte) gehen gemäß §§ 1059a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 1092 Abs. 2, 1098 Abs. 3 BGB auf den verbleibenden Gesellschafter über35; allerdings kann ein solcher Übergang bei Bestellung ausgeschlossen werden. Ein gutgläubiger Erwerb von Grundstücken und beweglichen Sachen durch den übernehmenden Gesellschafter ist ausgeschlossen36. Während Aktien und GmbH-Geschäftsanteile bei den Anwachsungsmodellen auf den übernehmenden Gesellschafter übergehen (eine Anteilsvinkulie-
__________ 28 Für die Verschmelzung Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 31; Stratz in
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Schmitt/Hörtnagel/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 57; vgl. BGH v. 8.10.2003 – XII ZR 50/02, AG 2004, 98 (99). Für die Verschmelzung Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 31; Bermel in Goutier/Knopf/Tulloch, UmwG, 1996, § 20 Rz. 25; K. Mertens, Umwandlung und Universalsukzession, 1993, S. 179. Vgl. Ulmer in Großkomm.HGB, § 142 Anm. 28; für die Verschmelzung MarschBarner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 6; Kübler in Semler/Stengel, UmwG, § 20 Rz. 11; Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 16; Stratz in Schmitt/Hörtnagel/ Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 67. Vgl. Joost in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 857 Rz. 14; Palandt/Bassenge, BGB, § 857 Rz. 1. Krüger, DStZ 1986, 382 (383); Piehler/Schulte (Fn. 22), § 37 Rz. 8; Sorg/Binz (Fn. 16), § 28 Rz. 29; Timm/Schöne in Bamberger/Roth, BGB, § 738 Rz. 6; Ulmer in Großkomm.HGB, § 142 Anm. 30. Vgl. Piehler/Schulte (Fn. 13), § 10 Rz. 37, 55; Ulmer in Großkomm.HGB, § 142 Anm. 30; de Weerth, WiB 1995, 625 (626). BGH v. 31.1.1983 – II ZR 288/81, BGHZ 86, 367 (370 ff.); zust. Jauernig, BGB, 11. Aufl. 2004, § 311b Rz. 25; Kanzleiter in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2003, § 311b Rz. 14; Palandt/Heinrichs, BGB, § 311b Rz. 5. Vgl. BGH v. 9.7.1968 – V ZR 80/66, BGHZ 50, 307 (310 ff.); Piehler/Schulte in MünchHdb. GesR II (Fn. 22), § 37 Rz. 8. Vgl. Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 4; Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 10; Palandt/Bassenge, BGB, § 892 Rz. 3; K. Schmidt, AcP 191 (1991), 495 (517 ff.); Stratz in Schmitt/Hörtnagel/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 24.
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften
rung hindert – wie bei der Verschmelzung37 – den Rechtsübergang nicht), gelten für GbR-Beteiligungen38 die Regelung in § 727 BGB39 und für die Gesellschaftsstellung in einer oHG bzw. für die Komplementärstellung in einer KG die §§ 131 Abs. 3 Nr. 1, 161 Abs. 2 HGB entsprechend40. Öffentlich-rechtliche Rechtspositionen der erloschenen Personengesellschaft gehen grundsätzlich auf den verbleibenden Gesellschafter über. Dies gilt allerdings nicht – ebenso wenig wie bei der Verschmelzung41 – bei solchen öffentlich-rechtlichen Erlaubnissen, die höchstpersönlicher Art sind42. Allerdings geht die Erlaubnis dann ausnahmsweise über, soweit das Gesetz diese an die Eignung der Vertretungsorgane einer juristischen Person knüpft und die Person, auf deren Voraussetzungen die öffentlich-rechtliche Rechtsposition beruht, in dem übernehmenden Rechtsträger eine entsprechende Stellung erhält43. In der Praxis ist überdies häufig die Komplementär-GmbH Inhaberin öffentlich-rechtlicher Erlaubnisse, so dass sich im Fall des Übergangs des Gesellschaftsvermögens der GmbH & Co. KG auf die Komplementär-GmbH (Fallgruppe 2: Quasi-Formwechsel; sub II. 1. b) die Übergangsproblematik nicht stellt. Öffentlich-rechtliche Verpflichtungen, einschließlich etwaiger Handlungs- und Unterlassungspflichten, gehen ebenfalls im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den übernehmenden Gesellschafter über. Dies gilt insbesondere für Steuerschulden44 sowie für Polizei- und Ordnungspflichten45.
__________ 37 Vgl. Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 7; Lutter/Bayer in Lutter/
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Hommelhoff, GmbHG, § 15 Rz. 45; Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 17; Stratz in Schmitt/Hörtnagel/Stratz UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 49; einschränkend noch – und nunmehr aufgebend – Seibt, NJW 1999, 126 (127). Zur Möglichkeit der Beteiligung einer Personengesellschaft als Gesellschafterin einer anderen Personengesellschaft Baumbach/Hopt, HGB, § 105 Rz. 28; Ulmer in MünchKomm.BGB, § 705 Rz. 317, jeweils m. w. N. Zur Gleichbehandlung des Erlöschens einer Gesellschaft mit dem Tod einer natürlichen Person BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, ZIP 2004, 1047 (1048) zu § 239 ZPO. Für die Verschmelzung Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 7; Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 19; Kübler in Semler/Stengel, UmwG, § 20 Rz. 24; a. A. Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 20 UmwG Rz. 51. Vgl. Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 26; Grunewald in Lutter, UmwG, 2. Auf. 2000, § 20 Rz. 8; Stratz in Schmitt/Hörtnagel/Stratz, UmwG/ UmwStG, § 20 UmwG Rz. 68; Vossius in Widmann/Mayer, UmwG, § 20 Rz. 251. Vgl. Ulmer in Großkomm.HGB, § 142 Anm. 29. Für die Verschmelzung Grunewald in Lutter, UmwG, § 20 Rz. 13; einschränkend Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 20 Rz. 26; gegen eine solche Ausnahme Gaiser, DB 2000, 361 (364). Vgl. BFH v. 14.10.1992 – I R 17/92, NJW 1993, 1222 (1223). Vgl. Stadie, DVBl. 1990, 501 (504 f.) m. w. N.
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4. Gesetzliche Ratio des Anwachsungsprinzips Die gesetzgeberische Ratio für die Anordnung der Anwachsung (Akkreszenz) beim Ausscheiden eines Gesellschafters aus der Personengesellschaft, in dessen Konsequenz die Anordnung der Gesamtrechtsnachfolge des Gesellschaftsvermögens beim letztverbleibenden Gesellschafter einer Personengesellschaft liegt, ist ausweislich der Gesetzgebungsgeschichte dreifaltig: Das Anwachsungsprinzip (i) ist Umsetzung des Gesamthandcharakters der Personengesellschaft (im Gegensatz zu der gesetzlich eben nicht verankerten Bruchteilsbetrachtung), (ii) dient der Bewahrung von Unternehmenseinheiten und (iii) gewichtet die Interessen der verbleibenden Gesellschafter bzw. des letztverbleibenden Gesellschafters im Verhältnis zu ausscheidenden Gesellschaftern, zu Gläubigern und Schuldrechtspartnern der Personengesellschaft im besonderen Maße. Die Zurückdrängung von Gläubiger- und Vertragspartnerinteressen gründen sich auf das Ziel des Übergangs von geschlossenen Unternehmenseinheiten sowie auf der typisierten Annahme, dass das Vertrauen der Gläubiger und Vertragspartner in eine konkrete Gesellschafterzusammensetzung von unternehmenstragenden Personengesellschaften nicht in besonderem Maße schutzwürdig ist. Während § 658 Abs. 4 BGB 1. Entwurf noch vorsah, dass „der ausscheidende Gesellschafter verpflichtet [ist], seinen Antheil an den gemeinschaftlichen Gegenständen den übrigen Gesellschaftern zu übertragen“, regelte § 673 Abs. 1 BGB 2. Entwurf erstmals das Anwachsungsprinzip: „Scheidet ein Gesellschafter aus der Gesellschaft aus, so wächst sein Antheil am Gesellschaftsvermögen den Gesellschaftern zu“. In den Motiven zum 1. BGB-Entwurf heißt es noch ausdrücklich, dass „sich die Vermögensänderung in Ansehung der Antheile des Ausscheidenden vollzieht, nämlich nicht von Rechtswegen, auch nicht durch die Bezahlung der Abfindung, sondern durch die seitens des Ausscheidenden sc. nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen erfolgende Übertragung auf die übrigen Gesellschafter“46. Dieser Standpunkt wird doppelt begründet, nämlich zum einen damit, dass ein automatischer Rechtsübergang mit der Führung des Grundbuches schwer vereinbar wäre und zum anderen dadurch, dass dem ausscheidenden Gesellschafter ansonsten der „erforderliche Schutz“ vor Vermögensverlust ohne Ausgleich nicht zukäme47. Die Kommission folgte allerdings einem Änderungsantrag zu § 658 Abs. 4 BGB 1. Entwurf (entsprechend § 673 Abs. 1 BGB 2. Entwurf) und begründete dies wie folgt48:
__________ 46 Motive zu den Entwürfen eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche
Reich, Band II, 1888, S. 631= Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band 2, S. 353. 47 Motive zu den Entwürfen eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band II, 1888, S. 631= Mugdan (Fn. 46), S. 353. 48 Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuches, Band II, 1898, S. 446 f. = Mugdan (Fn. 46), S. 1001 f.
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften „Von einem Theile der Mehrheit wurde betont, der Antrag 3 sei nur eine nothwendige Konsequenz der von der Kommission zugrunde gelegten Konstruktion des Gesellschaftsverhältnisses als eines Verhältnisses zur gesamten Hand. Sei dem einzelnen Gesellschafter die Verfügung über seinen Antheil entzogen, so passe es auch nicht, ihn zur Übertragung seines Antheils an die übrigen Gesellschafter zu verpflichten. Von anderer Seite wurde anerkannt, dass der Standpunkt, den der Entwurf in dem Absatz 4 einnehme, mit dem Wesen des Eigenthums zur gesamten Hand an sich wohl vereinbar sei. Das gemeinschaftliche Vermögen solle den Gesellschaftszwecken erhalten bleiben, und nur mit Rücksicht hierauf sei der einzelne Gesellschafter in der Verfügung über seinen Antheil beschränkt; dagegen stehe die Übertragung des Antheils des ausscheidenden Gesellschafters an die verbleibenden Mitglieder dem Begriffe des Eigenthums zur gesamten Hand nicht entgegen, weil eine solche Verfügung gerade, dem innersten Wesen dieses Verhältnisses entsprechend, darauf abziele, das Vermögen der Gesamtheit zu erhalten. Auf der anderen Seite erscheine es aus überwiegenden Gründen der Zweckmäßigkeit gerechtfertigt, sich der dem Antrage 3 zugrunde liegenden Accreszenztheorie anzuschließen. Aus den gleichen Gründen, welche die Kommission veranlasst haben, eine Verabredung, dass die Gesellschaft trotz des Ausscheidens einzelner Mitglieder fortbestehen solle, als rechtsverbindlich anzuerkennen, erscheine es wünschenswerth, die Rechtsverhältnisse des ausscheidenden Gesellschafters so zu gestalten, daß die übrigbleibenden Mitglieder über das Gesellschaftsvermögen den Gesellschaftszwecken entsprechend verfügen können, ohne durch ein etwaiges Einspruchsrecht des ausgeschiedenen Gesellschafters behindert zu werden. (…) Wenn ferner die Minderheit die Möglichkeit verneine, den Antheil des ausscheidenden Gesellschafters ohne einen besonderen sachenrechtlichen Übertragungsakt auf die verbleibenden Mitglieder zu übertragen, so sei dem entgegenzuhalten, daß auch bei der ehelichen Gütergemeinschaft die Vereinigung des Vermögens der Eheleute zu dem Gesamtgute kraft Gesetzes eintrete, ohne daß es einer Übertragung bedürfe. (…)“
Auch in den Motiven zu § 1397 BGB 1. Entwurf (fortgesetzte eheliche Gütergemeinschaft) wird das Anwachsungsprinzip als Konsequenz des Gesamthandvermögens („einer Gemeinschaft auf Gedeih und Verderb“) charakterisiert und ausdrücklich festgehalten, dass eine andere Regelung zwar den Gläubigerinteressen des Abkömmlings besser entspräche, diese indes hinter denjenigen der Mitglieder der Gütergemeinschaft zurücktreten müssen49. Aus den gesetzgeberischen Zielsetzungen, die Fortführung unternehmerisch gebundener Vermögensmassen zu erleichtern und hierbei den Interessen der verbleibenden Gesellschafter größeres Gewicht einzuräumen als den Gläubigern der Gesamthandgemeinschaft, folgt – und insofern ist dem BGH Recht zu geben – eine Einschränkung der persönlichen und unbeschränkten Haftung für die Verbindlichkeiten des Unternehmens. War der übernehmende Gesellschafter zuvor Kommanditist der nun aufgelösten Gesellschaft, so reicht dessen persönliche Haftung nur insoweit, dass dieser „für die Ver-
__________ 49 Motive zu den Entwürfen eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche
Reich, Band IV, 1888, S. 458 = Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band 4, 1979, S. 247.
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bindlichkeiten der KG nur mit dem ihm zugefallenen Gesellschaftsvermögen haftet“50. Damit entsprechen auch die gesetzgeberischen Gründe für die Anordnung des Anwachsungsprinzips bzw. der Gesamtrechtsnachfolge bei Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters denjenigen Erwägungen, die der Gesetzgeber mit der Statuierung der umwandlungsrechtlichen Gesamtrechtsnachfolge (vgl. §§ 20, 131 UmwG) geregelt hat. Allerdings unterscheidet sich die dort geregelte (partielle) Gesamtrechtsnachfolge von der Regelung in § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB (analog) dadurch, dass dort die Handelsregistereintragung der Umwandlung Konstitutiv- und Heilungswirkung besitzt.
III. Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutz bei Anwachsungsmodellen 1. Analoge Anwendbarkeit umwandlungsrechtlicher Schutzmechanismen Vor dem doppelten Hintergrund, dass sich zum einen unter Rückgriff auf das Anwachsungsprinzip die wirtschaftlichen Wirkungen einer Verschmelzung oder eines Formwechsels herbeiführen lassen, ohne dass die Einhaltung der besonderen umwandlungsrechtlichen Verfahrens- und Schutzvorschriften gesetzlich angeordnet wäre (sub II. 1.), und zum anderen die Struktur und gesetzgeberischen Zielsetzungen der Regelung des Anwachsungsprinzips in § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB mit denjenigen in §§ 20, 131 UmwG vergleichbar sind, ist die Frage naheliegend, ob die umwandlungsrechtlichen Schutzbestimmungen entsprechend auf die Anwachsungsmodelle Anwendung finden. Die Analogiefähigkeit der Spruchverfahren-Vorschriften in §§ 15, 34, 196, 212 UmwG (und der §§ 304 Abs. 3 Satz 2, 305 Abs. 5 Satz 2 AktG) hat der II. Zivilsenat unter Vorsitz von Dr. h.c. Volker Röhricht zum Schutz der Minderheitsaktionäre beim regulären Delisting vor kurzem bejaht51. Während sich Rechtsprechung und Literatur bereits breit mit der Frage beschäftigt haben, ob einzelne, dem Schutz der Anteilsinhaber dienende Bestimmungen des Umwandlungsgesetzes auf Ausgliederung von Unternehmensteilen im Wege der Einzelrechtsübertragung analog anzuwenden sind52, fehlt eine detaillierte Analyse im Hinblick auf die in der Praxis be-
__________ 50 BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, ZIP 2004, 1047 (1048) = NJW-Spezial 2004, 175
(Seibt); zust. Gundlach/Frenzel/Schmidt, DStR 2004, 1658 (1661); kritisch hierzu Schäfer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 2004, § 131 Rz. 109a f. 51 BGH v. 24.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 (57 ff.) (Macrotron); jüngst hierzu BayObLG v. 1.12.2004 – 3Z BR 106/04, BB 2005, 458 ff. m. Anm. Schiffer/Götz, BB 2005, 453. 52 Hierzu z. B. Kollmar, Die Ausstrahlungen des Umwandlungsgesetzes auf Spaltungen nach traditionellem Recht, 1999; Leinekugel, Die Ausstrahlungswirkungen des Umwandlungsgesetzes, 2000; von Riegen, Gesellschafterschutz bei Ausgliederungen durch Einzelrechtsnachfolge, 1999; Aha, AG 1997, 345 (356); Bungert, NZG
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deutsamen Anwachsungsmodelle bislang. Nicht in den Blick genommen werden hier solche Schutznormen, die nicht an eine bestimmte Umstrukturierungsform angreifen, sondern lediglich vom Eingreifen tatsächlicher Sachverhalte abhängen, wie dies beispielsweise beim Fusionskartellrecht oder beim Konzernrecht (§ 311 AktG)53 der Fall ist. Einer entsprechenden Anwendung unwandlungsrechtlicher Schutzvorschriften auf Umstrukturierungsmaßnahmen nach dem (einfachen oder erweiterten) Anwachsungsmodell steht zunächst § 1 Abs. 2 UmwG nicht im Wege. Nach dieser Vorschrift ist eine Umwandlung i. S. d. § 1 Abs. 1 UmwG außer in den im UmwG geregelten Fällen nur möglich, wenn sie durch ein anderes Bundesgesetz oder ein Landesgesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Insofern stellt zwar § 1 Abs. 2 UmwG nicht nur klar, dass die in § 1 Abs. 1 UmwG aufgeführten Umwandlungsformen einen numerus clausus darstellen, sondern statuiert darüber hinaus im Hinblick auf die Schaffung neuer Umwandlungsarten oder die Erweiterung der Beteiligtenfähigen bei einer Strukturmaßnahme ein Analogieverbot54. Dies ist allerdings streng von der Analogiefähigkeit einzelner Vorschriften des Umwandlungsgesetzes zu trennen, die hierdurch nicht gesperrt wird55. Allerdings streiten drei andere Gesichtspunkte – vorbehaltlich der Durchmusterung der umwandlungsrechtlichen Einzelbestimmungen (sub III. 2. bis 4.) – gegen eine Analogiefähigkeit der spezialgesetzlichen Schutznormen,
__________ 1998, 367 ff.; Feddersen/Kiem, ZIP 1994, 1078 (1086 f.); Heckschen, DB 1998, 1385 (1386); Kallmeyer, ZIP 1994, 1746 (1749 f.); Priester, ZHR 163 (1999), 187 (190 ff.). – Aus der Rechtsprechung für eine Analogie zu den (Anteilsinhaber-)Schutzvorschriften des UmwG bei der Ausgliederung durch Einzelrechtsübertragung LG Karlsruhe v. 6.11.1997 – O 43/97, ZIP 1998, 385 (386 ff.) (Badenwerk); vgl. auch LG Frankfurt/M. v. 29.7.1997 – 3/5 O 162/95, ZIP 1997, 1698 (1701 f.) (Altana/Milupa); OLG Frankfurt/M. v. 23.3.1999 – 5 U 193/97, NZG 1999, 887 ff. (Altana/Milupa); hiergegen LG Hamburg v. 21.1.1997 – 402 O 122/96, DB 1997, 516 f. (Wünsche). 53 Hierzu Kerber, DB 2004, 1027 (1030). 54 Vgl. Leinekugel (Fn. 52), 2000, S. 174 ff.; Schnorbus, DB 2001, 1654 (1657); Schwarz in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 1 UmwG Rz. 35; Kallmeyer, UmwG, § 1 Rz. 23; K. Schmidt (Fn. 4), § 13 I 3, S. 363 ff.; Semler in Semler/Stengel, UmwG, 2002, § 1 Rz. 73 f.; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 1 UmwG Rz. 27. 55 Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 1 UmwG Rz. 27; Joost, ZHR 163 (1999), 164 (179 f.); Kallmeyer, UmwG, § 1 Rz. 23; Kollmar (Fn. 52), S. 139 ff.; Leinekugel (Fn. 52), S. 53 ff., 177 ff.; Lutter, UmwG, Einl. Rz. 45 ff. und § 1 Rz. 39; Priester, ZHR 163 (1999), 187 (190 ff.); Reichert in Habersack/Koch/ Winter, ZHR Beiheft 68, 1999, S. 25 (36); Schlitt in Semler/Stengel, UmwG, Anh. § 173 Rz. 10; K. Schmidt (Fn. 4), § 13 I 4 b, S. 365; Schwarz in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 1 UmwG Rz. 37 f.; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 1 UmwG Rz. 27; s. auch BayObLG, Beschl. v. 17.9.1998 – 3Z BR 37/98, ZIP 1998, 2002 (2003 f.) (Magna Media / WEKA); a. A. Bungert, NZG 1998, 367 (368); Decher in Lutter, UmwG, § 190 Rz. 18; Semler in Semler/Stengel, UmwG, § 1 Rz. 80; Trölitzsch, WiB 1997, 795 (796); teilweise anders jetzt Trölitzsch, DStR 1999, 764 (765).
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und zwar (i) die Gesetzgebungsgeschichte des Umwandlungsgesetzes, (ii) die grundgesetzlich verbürgte Gestaltungsfreiheit als Ausdruck der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie (iii) die notwendige Berücksichtigung des unterschiedlichen Normengefüges im Umwandlungsrecht einerseits und im allgemeinen Personengesellschaftsrecht andererseits (Fehlen einer planwidrigen Lücke als Analogievoraussetzung). Mit dem am 1.1.1995 in Kraft getretenem UmwG wollte der Gesetzgeber die bereits bestehenden, in mehreren Einzelgesetzen geregelten Möglichkeiten der Umstrukturierung und Reorganisation von Unternehmen zusammenfassen und systematisieren56; die noch vorhandenen Lücken des früheren Umwandlungsrechts sollten ferner geschlossen werden. Dessen ungeachtet beabsichtigte der Gesetzgeber nicht, jegliche Formen der Umstrukturierung und Reorganisation abschließend durch das neue UmwG zu erfassen und dessen Regeln zu unterwerfen. So heißt es in der Gesetzesbegründung zur Erläuterung und Konturierung der in § 1 Abs. 2 UmwG statuierten Prinzipien des Typenzwangs (numerus clausus) und des Analogieverbots wörtlich57: „Bisher schon bestehende andere Methoden, die Struktur eines Unternehmensträgers zu verändern, wie z. B. die Anwachsung nach § 105 Abs. 2 HGB in Verbindung mit § 738 BGB oder andere Arten der Umstrukturierung öffentlich-rechtlicher Anstalten, wie die Verschmelzung von Sparkassen aufgrund Landesrechts, bleiben erhalten. Die vom neuen Umwandlungsgesetz eröffneten Möglichkeiten der Umwandlung in allen ihren Formen treten also neben die nach allgemeinem Zivil- und Handelsrecht schon jetzt möglichen Methoden, die Vereinigung, Realteilung oder Umgründung von Rechtsträgern durchzuführen. Die zwingenden Vorschriften des Umwandlungsgesetzes müssen demnach nur dann beachtet werden, wenn sich die beteiligten Rechtsträger der Vorteile bedienen wollen, die das Gesetz und die mit ihm verbundenen steuerrechtlichen Regelungen mit sich bringen.“
Zudem ist zu beachten, dass die endgültige Gesetzesfassung – anders als noch die §§ 251, 252 des ministeriellen Diskussionsentwurfes58 – keine besonderen Vorschriften zum Umgehungsschutz umwandlungsrechtlicher Schutzvorschriften enthält. Die Gesetzesbegründung und -genese ist damit auch Ausdruck einer einfachgesetzlichen Verankerung der grundgesetzlich geschützten Gestaltungsfreiheit als Ausdruck der Privatautonomie in den Wirtschaftsbeziehungen (Art. 2 Abs. 1 GG) und weist zu Recht darauf hin, dass einer Unterwerfung allgemeiner Umstrukturierungsformen unter das UmwG die jeweils verschiedenen Normengefüge („Vor- und Nachteile“) entgegenstehen.
__________
56 Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6699, S. 71; s. auch Bermel in Goutier/Knopf/Tulloch,
UmwG, 1996, Einf. Rz. 32; K. Schmidt (Fn. 4), § 12 II 4, S. 3465; Schwarz in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Einf. UmwG Rz. 4 ff.; Stratz in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, Einf. UmwG Rz. 12. 57 Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6699, S. 80. 58 Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts, abgedruckt bei K. Schmidt in FS Heinsius, 1991, S. 715 (716 f.).
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften
Dies alles ist ein starkes Indiz59 gegen das Vorliegen einer Regelungslücke60, mit der Folge, dass mit der Annahme von Ausstrahlungswirkungen des UmwG auf andere Umstrukturierungsformen wie die Anwachsungsmodelle nur sehr zurückhaltend und unter Prüfung der jeweils betroffenen Schutzinteressen umgegangen werden muss61. Danach liegt eine durch umwandlungsrechtliche Vorschriften zu schließende Regelungslücke nur dann vor, wenn die für die Anwachsungsmodelle geltenden zivil- und handelsrechtlichen Vorschriften wesentliche Schutzlücken aufwiesen und der Gesetzgeber dies nicht in seine Überlegungen mit einbezogen hätte62. In der Folge ist daher für den Schutz der Anteilsinhaber, Gläubiger und Arbeitnehmer jeweils zu untersuchen, ob Schutzlücken bestehen, die gegebenenfalls durch eine analoge Anwendung der Bestimmungen des UmwG geschlossen werden können. 2. Schutz von Anteilsinhabern a) Umwandlungsrechtliches Schutzinstrumentarium Das UmwG verwirklicht den Anteilsinhaberschutz durch die Regelung (i) von Informationspflichten gegenüber den Anteilsinhabern (z. B. zwingender Mindestinhalt von Verschmelzungsvertrag und Umwandlungsbeschluss nach §§ 5 Abs. 1, 194 UmwG, Pflicht zur Erstellung eines Verschmelzungbzw. Umwandlungsberichts nach §§ 8, 192 UmwG sowie Verschmelzungsprüfung nach §§ 9–12 UmwG), (ii) eines Zustimmungserfordernisses durch Beschlussfassung der Anteilsinhaber (§§ 13 Abs. 1, 193 Abs. 1 UmwG), (iii) eines Vermögensschutzes zugunsten von widersprechenden Minderheitsgesellschaftern durch zwingende Barabfindung (§§ 29–34, 207 UmwG) sowie (iv) einer Organhaftung für schuldhaft rechtswidrige Umwandlungsmaßnahmen (§§ 25, 205 UmwG). b) Personengesellschaftsrecht Bei Anwachsungsvorgängen besteht zulasten der Gesellschafter der übertragenden Personengesellschaft keine Schutzlücke. Denn zu einer entsprechenden Umstrukturierung ist die Zustimmung sämtlicher Gesellschafter erforderlich, da alle Gesellschafter – bis auf den verbleibenden – die Kündigung bzw. den Austritt erklären oder ihre Gesellschaftsanteile übertragen müssen. Einer Anteilsübertragung, wie sie das erweiterte Anwachsungsmodell erfor-
__________ 59 Vgl. Reichert in Habersack/Koch/Winter (Fn. 55), S. 25 (36). 60 Zur Regelungslücke als der Grundvoraussetzung für jede Analogiebildung Larenz/
Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 194 ff. 61 Ähnlich K. Schmidt (Fn. 4), § 13 I 4 b, S. 368. 62 Vgl. Priester, ZHR 163 (1999), 187 (192) für die „klassische Ausgliederung“ außer-
halb des UmwG.
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dert, bedarf darüber hinaus aufgrund ihres Charakters als Grundlagengeschäft der Zulassung im Gesellschaftsvertrag oder der Zustimmung aller Gesellschafter (sofern der Gesellschaftsvertrag nicht einen Mehrheitsbeschluss oder eine Delegation der Zustimmung vorsieht)63. Regelungslücken im Bereich des Anteilsinhaberschutzes können allenfalls in Ausnahmefällen, nämlich bei Vorhandensein von Minderheitsgesellschaftern des aufnehmenden Rechtsträgers, insbesondere in Unternehmenskauffällen (Fallgruppe 4) bestehen. Aber auch in diesen Fällen passen die umwandlungsrechtlichen Schutznormen nicht: Dies gilt zunächst für das Beschlusserfordernis nach §§ 13 Abs. 1, 193 Abs. 1 UmwG. Beim einfachen Anwachsungsmodell ist nämlich kein Vertrag zwischen dem aufnehmenden und dem übertragenden Rechtsträger (oder mit dessen Gesellschaftern) erforderlich, sofern der Austritt nicht durch Abschluss einer Austrittsvereinbarung, sondern durch bloße Kündigung erfolgt. Daher fehlt es insofern an einem konkreten Anknüpfungspunkt für einen zustimmenden Beschluss. Auch erscheint es kaum möglich, beim einfachen Anwachsungsmodell den Austritt der Gesellschafter durch „Austrittskündigung“ analog §§ 13 Abs. 1, 193 Abs. 1 UmwG von einem zustimmenden Beschluss der Anteilsinhaber abhängig zu machen. Ein derartiges Zustimmungserfordernis würde im Widerspruch zu dem Verbot von Kündigungsbeschränkungen gemäß § 738 Abs. 3 BGB stehen64. Denkbar wäre eine solche Analogie allenfalls bei Umstrukturierungen nach dem erweiterten Anwachsungsmodell, bei dem vertragliche Regelungen, die Gegenstand eines Zustimmungserfordernisses sein könnten, zumindest in Form der einzelnen Übertragungsverträge vorliegen. Allerdings ist hier der einzelne Übertragungsvertrag – anders als der Verschmelzungsvertrag oder der Umwandlungsbeschluss – nicht unmittelbare Grundlage der Umstrukturierung, sondern lediglich Voraussetzung für die kraft Gesetzes eintretende Gesamtrechtsnachfolge. Letztlich widerspräche es auch einer systemgerechten Normenstruktur, ein Beschlusserfordernis analog §§ 13 Abs. 1, 193 Abs. 1 UmwG ausschließlich bei Umstrukturierungen nach dem erweiterten Anwachsungsmodell zu fordern. Die gleichen Gründe streiten auch gegen die umwandlungsrechtlichen Mindestinhaltsvorschriften zum Umwandlungsdokument sowie den Berichtspflichten der Geschäftsleitung. Die umwandlungsrechtlichen Regelungen über die Barabfindung dissentierender Gesellschafter knüpfen an das Umwandlungsdokument und den Anteilsinhaberbeschluss an, so dass es hier an einer Analogiebasis fehlt. Die Sondervorschriften über die Schadenersatzpflicht der Verwaltungsträger
__________ 63 Vgl. Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 105 Rz. 70. 64 Zur Geltung des Verbots von Kündigungsbeschränkungen für oHG und KG BGH v.
16.12.1991 – II ZR 58/91, BGHZ 116, 359 (369); Palandt/Sprau, BGB, § 723 Rz. 7.
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften
nach §§ 25 ff. sowie §§ 205 f. UmwG schützen lediglich die Anteilsinhaber des übertragenden bzw. formwechselnden Rechtsträgers. Ein Schaden der Anteilsinhaber kann insbesondere darin bestehen, dass das Umtauschverhältnis aufgrund fehlerhafter Berechnung zu ungünstig ermittelt wurde65. Ein derartiger Schaden ist beim einfachen Anwachsungsmodell von vornherein nicht denkbar, da die Anteilsinhaber der Personengesellschaft hier freiwillig austreten. Beim erweiterten Anwachsungsmodell ist ein solcher Schutz nicht erforderlich, da an der übertragenden Personengesellschaft keine „überstimmten“ Minderheitsgesellschafter beteiligt sind. 3. Schutz von Gläubigern, Schuldrechtspartnern und ähnlichen Dritten a) Umwandlungsrechtliches Schutzinstrumentarium Die Interessen von Gläubigern und Schuldrechtspartnern können bei Umstrukturierungen dadurch betroffen sein, dass diese zu einer Änderung des Vertragspartners, des tatsächlichen wirtschaftlichen Haftungssubstrats oder des Normensystems mit Sicherungsinstrumenten für jene führen können. Das Umwandlungsrecht schützt die Interessen der Gläubiger und Schuldrechtspartner nicht über die Verankerung eines Zustimmungsvorbehalts zu deren Gunsten (wie z. B. bei §§ 414, 415 BGB), sondern durch (i) eine Reihe von Informationspflichten und Publizitätsvorschriften66, (ii) die Gewährung von Ansprüchen auf Sicherheitsleistungen (§ 22 UmwG) sowie (iii) eine Schadenersatzhaftung der Vertretungs- und Aufsichtsorgane der beteiligten Rechtsträger (§§ 25–27, 205 f. UmwG). Handelt es sich bei dem übertragenden Rechtsträger um eine Personenhandelsgesellschaft, ändert der Übergang der Verbindlichkeiten im Wege der Verschmelzung nichts an der persönlichen Haftung der Gesellschafter für die vor Wirksamwerden der Verschmelzung begründeten Verbindlichkeiten67, allerdings ist die Nachhaftung auf fünf Jahre zeitlich begrenzt (§ 45 UmwG). Für die Umwandlung einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft ordnet das UmwG ebenfalls den Fortbestand der persönlichen Haftung für Altverbindlichkeiten bis zum Ablauf einer fünfjährigen Enthaftungsfrist an (§ 224 UmwG)68 und es müssen die Kapitalaufbringungsvorschriften gewahrt werden (§ 197 UmwG).
__________ 65 Zu § 25 UmwG Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, § 25 Rz. 9; zu § 205 UmwG
Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG, § 205 Rz. 12. 66 Zum Gläubigerschutz der Informationspflichten und Publizitätsvorschriften Bork
in Lutter, UmwG, § 17 Rz. 4. 67 Vgl. H. Schmidt in Lutter, UmwG, § 45 Rz. 2; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz,
UmwG/UmwStG, § 45 UmwG Rz. 2. 68 Für den Formwechsel einer KGaA verweisen die §§ 237, 249, 257 UmwG auf § 224
UmwG.
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b) Personengesellschaftsrecht Beim Vermögensübergang im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (§ 738 Abs. 1 Satz 1 BGB analog) fehlt es an einem besonders ausgestalteten Gläubigerschutzsystem, so dass vor dem Hintergrund der wirtschaftlich mit Umwandlungen vergleichbaren Gestaltungsfolgen eine entsprechende Anwendung einzelner umwandlungsrechtlicher Gläubigerschutzbestimmungen nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Allerdings ist neben den sich aus der Gesetzesbegründung und -genese des UmwG ergebenden Analogiegrenzen auch zu berücksichtigen, dass die Entscheidung des historischen BGB-Gesetzgebers für das Anwachsungsprinzip (bei gleichzeitiger Ablehnung des zunächst vorgesehenen Übertragungserfordernis im Wege der Einzelrechtsübertragung) tragend damit begründet war, den Schutz der Unternehmenseinheit und die Interessen der verbleibenden bzw. des verbleibenden Gesellschafters höher zu gewichten als Gläubigerinteressen. Daher verbietet es sich, und insoweit besteht auch ein Gleichlauf mit dem UmwG, ein Zustimmungserfordernis zugunsten von Gläubigern und Schuldrechtspartnern als Voraussetzung für die Durchführung der Anwachsungsmodelle bzw. des Vermögensübergangs im Wege der Gesamtrechtsnachfolge zu statuieren. Eine entsprechende Anwendung der umwandlungsrechtlichen Informationspflichten und Publizitätsvorschriften kommt wegen der fehlenden Anknüpfung des Vermögensübergangs bei den Anwachsungsmodellen an eine konstitutive und heilende Handelsregistereintragung schwerlich in Frage. Für eine hinreichende Gläubigerinformation ist der im Handelsregister einzutragende „Anwachsungsvermerk“ ausreichend69. Dies ermöglicht dem Rechtsverkehr die Information darüber, auf welchen Rechtsträger das Gesellschaftsvermögen übergegangen ist. Eine entsprechende Anwendung von § 197 UmwG, der für den Formwechsel die Anwendbarkeit der – ansonsten unterlaufbaren – Gründungsvorschriften der neuen Rechtsform anordnet70, ist auch in den Fällen des Quasi-Formwechsels (Fallgruppe 2; sub II. 1. b) nicht angängig. Diese umwandlungsrechtliche Spezialnorm zielt darauf ab zu verhindern, dass die strengen und im Interesse des Rechtsverkehrs stehenden Schutznormen, die bei der Gründung eines Rechtsträgers bestimmter Rechtsform zu beachten sind, dadurch umgangen werden, dass zunächst ein Rechtsträger anderer Rechtsform nach „milderen“ Vorschriften gegründet und unmittelbar im Anschluss daran durch Formwechsel in eine Zielgesellschaft umgewandelt wird, die bei isolierter Neugründung strengeren Vorschriften unterworfen gewesen wäre71.
__________ 69 Hierzu Gustavus, Handelsregister-Anmeldungen, 6. Aufl. 2005, A 33; abweichend
Böttcher/Ries, Formularpraxis des Handelsregisterrechts, 2003, Rz. 234 ff. 70 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6699, S. 141; Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG,
§ 197 Rz. 5; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 197 UmwG Rz. 3. 71 Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 197 UmwG Rz. 3.
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Gesamtrechtsnachfolge beim Ausscheiden aus Personengesellschaften
Bei der Gesamtrechtsnachfolge der Komplementär-GmbH in das Vermögen einer GmbH & Co. KG oder auf eine als Kommanditistin beteiligte Kapitalgesellschaft hat indes bereits ursprünglich eine Gründungsprüfung bei der aufnehmenden Gesellschaft stattgefunden, so dass es kein Analogiebedürfnis gibt. Auch für eine entsprechende Anwendung der umwandlungsrechtlichen Nachhaftungsvorschriften (§§ 45, 224 UmwG) besteht kein Bedürfnis, denn nach allgemeinen Grundsätzen des Personengesellschaftsrechts wird der Fortbestand der persönlichen Haftung nach § 128 HGB weder durch ein Ausscheiden des Gesellschafters noch durch ein Erlöschen der Personengesellschaft berührt72. Die Nachhaftung eines ausscheidenden Gesellschafters wird dabei durch die Regelung des § 160 HGB – der mit § 45 UmwG vergleichbar ist – begrenzt. In der Beratungspraxis steht dann auch die Frage im Vordergrund, ob in bestimmten Anwachsungsfällen eine entsprechende Anwendung von § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG geboten ist, der eine gesamtschuldnerische Haftung der an einer Spaltung beteiligten Rechtsträger für vor dieser Umwandlung begründete Verbindlichkeiten anordnet73. Zur Illustration dieser Frage soll paradigmatisch die folgende Gestaltungsstruktur dienen, die eine Spaltung eines Unternehmens zum Ziel hat: Die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft 1 gründen in einem ersten Schritt eine Schwestergesellschaft (Kapitalgesellschaft 2), die sich in der Folge mit der Kapitalgesellschaft 1 zu einer Personengesellschaft zusammenschließt. In einem zweiten Schritt werden die von der Kapitalgesellschaft 1 „abzuspaltenden“ Vermögensgegenstände (Separierungsvermögen) in die Personengesellschaft übertragen. In einem dritten Schritt tritt die Kapitalgesellschaft 1 aus der Personengesellschaft aus oder überträgt ihren Anteil an der Personengesellschaft auf die Kapitalgesellschaft 2, wodurch jener das Gesellschaftsvermögen der Personengesellschaft (nämlich das Separierungsvermögen der Kapitalgesellschaft 1) im Wege der Gesamtrechtsnachfolge zuwächst. Bei einer direkten Abspaltung des Separierungsvermögens von der Kapitalgesellschaft 1 auf eine neu zu gründende Kapitalgesellschaft 2 nach § 123 Abs. 2 UmwG fände § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG mit der Folge einer gesamtschuldnerischen Haftung der Kapitalgesellschaft 1 Anwendung. In solchen – praktisch durchaus üblichen Gestaltungen – kommt eine entsprechende Anwendung von § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG sowohl bei der Übertragung des Separierungsvermögens auf die Personengesellschaft im
__________ 72 Vgl. Baumbach/Hopt, HGB, § 128 Rz. 28. 73 Zugunsten derjenigen Rechtsträger, denen die Verbindlichkeiten nicht zugewiesen
worden sind, enthält § 133 Abs. 3–5 UmwG eine Haftungsbegrenzung, wonach sie für diese Verbindlichkeiten nur haften, wenn sie vor Ablauf von fünf Jahren nach der Spaltung fällig und Ansprüche daraus gegen sie gerichtlich geltend gemacht worden sind.
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Wege der Einzelrechtsübertragungen (Schritt 2) als auch beim Austritt der Kapitalgesellschaft 1 aus der Personengesellschaft (einfaches Anwachsungsmodell) bzw. bei der Übertragung des Anteils an der Personengesellschaft auf die Kapitalgesellschaft 2 (erweitertes Anwachsungsmodell) (Schritt 3) in Betracht. Gegen das Vorliegen einer Regelungslücke bei Einzelrechtsübertragungen und damit gegen die Analogiefähigkeit von § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG spricht zunächst die Genese des Umwandlungsgesetzes, da der Gesetzgeber – anders als noch im ministeriellen Diskussionsentwurf, nach dessen § 252 einer Einzelübertragung den Bestimmungen des UmwG dann unterliegen sollte, wenn es sich nicht um eine Maßnahme im Rahmen des üblichen Geschäftsverkehrs handelt – für solche Fälle trotz Kenntnis der Umgehungsgefahren auf die Regelung einer Missbrauchsvorschrift verzichtet hat74. Dies spricht aber in gleicher Weise gegen eine analoge Anwendung von § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG auf den Vermögensübergang im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (Schritt 3). Überdies streitet gegen eine Analogiefähigkeit der Umstand, dass weder bei der Übertragung der Vermögensgegenstände im Wege der Einzelrechtsnachfolge noch beim Vermögensübergang im Wege der Gesamtsrechtsnachfolge (§ 738 Abs. 1 Satz 1 BGB analog) eine konstitutive Handelsregistereintragung erfolgt75, die Vorschrift des § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG für die Bestimmung der Altverbindlichkeiten aber auf das Wirksamwerden der Spaltung und damit an die Eintragung der Umwandlung in das Handelsregister des übertragenden Rechtsträgers anknüpft76; auch für die Begrenzung der Mithaftung (§ 133 Abs. 4 UmwG) und die Verjährung (§ 133 Abs. 6 Satz 2 UmwG) ist die Bekanntmachung der Spaltung entscheidend. Schließlich streitet materiell auch der vom Gesetzgeber mit § 133 Abs. 1 UmwG verfolgte Zweck gegen die Analogiefähigkeit der Norm auf Anwachsungsmodelle: Der über die gesamtschuldnerische Haftung der an der Spaltung beteiligten Rechtsträger erreichte Gläubigerschutz findet nämlich seine Rechtfertigung in der den Rechtsträgern eingeräumten weiten Spaltungsfreiheit, d. h. der Freiheit der Aufteilung des Aktiv- und Passivvermögens des übertragenden Rechtsträgers, die allein durch das Verbot rechtsmissbräuch-
__________ 74 Ausdrücklich gegen eine entsprechende Anwendung von § 133 Abs. 1 S. 1 UmwG
auf Ausgliederung im Wege der Einzelrechtsnachfolge Aha, AG 1997, 345 (356); implizit auch Bungert, NZG 1998, 367 (368); Kallmeyer, UmwG, § 123 Rz. 16, § 133 Rz. 2; Teichmann in Lutter, UmwG, § 123 Rz. 24; auch das LG Karlsruhe scheint trotz Bejahung einer analogen Anwendungen der Schutzvorschriften des UmwG zugunsten der Anteilsinhaber ohne weiteres davon auszugehen, dass § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG in Fällen der Ausgliederung durch Einzelrechtsnachfolge nicht entsprechend anwendbar ist, vgl. LG Karlsruhe, Beschl. v. 6.11.1997 – O 43/97, ZIP 1998, 385 (388) (Badenwerk). 75 Vgl. Aha, AG 1997, 345 (356). 76 Vgl. Hörtnagel in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 133 UmwG Rz. 5; Kallmeyer, UmwG, § 133 Rz. 7; Hommelhoff in Lutter, UmwG, § 133 Rz. 29; Maier-Reimer in Semler/Stengel UmwG, § 133 Rz. 11.
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licher Ausübung beschränkt ist77. Da es im unternehmerischen Ermessen der zur Entscheidung über die Spaltung Berufenen steht, wie sie das Vermögen des übertragenden Rechtsträgers aufteilen wollen78, hat der Gesetzgeber über die Gesamtschuld aller beteiligten Rechtsträger und die damit verbundene fünfjährige Fiktion, das Vermögen des übertragenden Rechtsträgers sei diesem weiterhin zugeordnet, für einen angemessenen Gläubigerschutz gesorgt und damit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Gläubiger die Spaltung ohne Widerspruchsrecht hinnehmen müssen79. Der Gesetzgeber wollte mit der gesamtschuldnerischen Haftung somit auf die besonderen Gefahren reagieren, die mit der Bereitstellung der Spaltung als Modell für Umstrukturierungen verbunden sind. Eine freie Verteilbarkeit von Aktiva und Passiva zwischen den an der Umstrukturierung beteiligten Rechtsträgern, wie sie bei der umwandlungsrechtlichen Spaltung zugelassen ist, besteht bei den Anwachsungsmodellen nicht. Hier geht es vielmehr um den Übergang des gesamten Gesellschaftsvermögens, also typischerweise von geschlossenen Unternehmenseinheiten. Bei Kapitalgesellschaften ist schließlich zu berücksichtigen, dass ein umfassender Gläubigerschutz vor Verminderung des Aktivvermögens nicht besteht (Wertungen der §§ 30, 31 GmbHG, § 57 AktG, §§ 3 ff. AnfG, § 129 ff. InsO). Für die Frage von Schadenersatzansprüchen gegen die Organmitglieder der an den Umwandlungsmodellen beteiligten Rechtsträger entsprechend §§ 25–27, §§ 205 f. UmwG spricht neben den allgemeinen Erwägungen (sub III. 1.) die hiermit verbundene erhebliche Eingriffswirkung, die eine ausdrückliche Normengrundlage verlangt, gegen eine Analogiebildung80. Dies gilt allerdings nicht im gleichen Maße für die Analogiefähigkeit der umwandlungsrechtlichen Vorschriften in §§ 22, 204 UmwG, die Gläubigern einen Anspruch auf Sicherheitsleistung einräumen, wenn diese glaubhaft machen, dass durch die Umstrukturierung die Erfüllung ihrer Forderungen gefährdet wird. Allerdings streiten hier Rechtssicherheits- und Verkehrsschutzüberlegungen letztlich gegen eine Analogiebildung, da es bei den Anwachsungsmodellen an einer gesetzlich geregelten Publizitätswirkung (Konstitutivund Heilungswirkung der Handelsregistereintragung) fehlt, an die die umwandlungsrechtlichen Schutzvorschriften anknüpfen.
__________ 77 Vgl. Kallmeyer, UmwG, § 133 Rz. 3; Hommelhoff in Lutter, UmwG, § 133 Rz. 15;
Maier-Reimer in Semler/Stengel, UmwG, § 133 Rz. 1; Vossius in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 133 UmwG Rz. 1. 78 Die Gesetzesbegründung erwähnt insoweit die Zuweisung der Aktiva an einen und der Passiva an einen anderen Rechtsträger, vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6699, S. 121 f. 79 Hommelhoff in Lutter, UmwG, § 133 Rz. 15. 80 So i.E. auch Kerber, DB 2004, 1027 (1030).
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4. Schutz von Arbeitnehmern und deren Vertretungen a) Umwandlungsrechtliches Schutzinstrumentarium Den Schutz der Arbeitnehmer und ihrer Vertretungen gewährleistet das Umwandlungsgesetz durch Informations- und Zuleitungspflichten (Mindestinhalt der Umwandlungsdokumente nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 9, 194 Abs. 1 Nr. 7 UmwG; Zuleitungspflichten nach §§ 5 Abs. 3, 194 Abs. 2 UmwG). Darüber hinaus wird angeordnet, dass die Vorschrift des § 613a Abs. 1, 4 bis 6 BGB „durch Wirkungen der Eintragung einer Verschmelzung oder Spaltung unberührt“ bleibt (§ 324 UmwG). Für den Formwechsel wird bestimmt, dass die Ämter von Aufsichtsräten bestehen bleiben, wenn bei dem Rechtsträger neuer Rechtsform ein Aufsichtsrat in gleicher Weise wie beim formwechselnden Rechtsträger zu bilden ist (§ 203 UmwG). Schließlich regelt das Umwandlungsgesetz für die Fälle der Abspaltung und Ausgliederung eine auf fünf Jahre befristete Beibehaltung der Unternehmensmitbestimmung (§ 325 UmwG) sowie für alle Fälle der Spaltung ein auf zwei Jahre befristetes Verschlechterungsverbot der „kündigungsrechtlichen Stellung“ von Arbeitnehmern des übertragenden Rechtsträgers (§ 323 Abs. 1 UmwG). b) Personengesellschaftsrecht aa) Informations- und Zuleitungspflichten Die allgemeinen arbeitsrechtlichen Informations- und Schutzvorschriften greifen bei Eintritt betrieblicher Änderungen wegen oder in Folge von Umstrukturierungen ein, und zwar unabhängig davon, auf welchem gesellschaftsrechtlichen Weg diese Umstrukturierung erreicht wird. Demnach finden beispielsweise die Vorschriften zur Betriebsänderung nach §§ 111 ff. BetrVG Anwendung, wenn im Zuge der Nutzung eines Anwachsungsmodells auch Betriebe zusammengeführt, gespalten oder eingeschränkt werden oder die Betriebsorganisation, der Betriebszweck oder die Betriebsanlagen grundlegend geändert werden; bei einer Zusammenführung oder Spaltung von Betrieben gilt ferner das Übergangsmandat eines Betriebsrates nach Maßgabe von § 21a BetrVG. Allerdings ist klar zu stellen, dass durch den Vermögensübergang im Wege der Gesamtrechtsnachfolge selbst keine – die vorgenannten Schutzbestimmungen auslösende – Betriebsänderung eintritt. Außer in Fällen der Betriebsänderung kann der Unternehmer ausnahmsweise verpflichtet sein, den Wirtschaftsausschuss nach § 106 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 10 BetrVG („sonstige Vorgänge und Vorhaben, welche die Interessen der Arbeitnehmer der Unternehmen wesentlich berühren können“) über die (bevorstehende) Nutzung von Anwachsungsmodellen zur Umstrukturierung des Unternehmens unter Vorlage erforderlicher Unterlagen zu informieren. Dies wird beim Übergang des Gesellschaftsvermögens auf einen wirtschaftlich neuen Inhaber (Fallgruppe 4; sub II.1. d) regelmäßig der Fall 626
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sein (mit Information des Wirtschaftsausschusses über den „Erwerber“ und etwaige Planungen oder Absprachen über die künftige Geschäftsführung und Unternehmenspolitik, aber ohne Vorlage der Anwachsungsdokumentation)81, kann aber auch sonstige Umstrukturierungen betreffen, wenn diese denn von erheblicher sozialer Auswirkung sein können82. Die einzelnen Arbeitnehmer des erlöschenden Rechtsträgers sind nach § 3 i. V. m. § 2 NachwG spätestens einen Monat nach dem Vermögensübergang schriftlich über die neuen wesentlichen Vertragsänderungen (z. B. Name des aufnehmenden Rechtsträgers als neuem Arbeitgeber, Hinweis auf anzuwendende Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen) zu informieren. Darüber hinaus finden die Informationspflichten nach § 613a Abs. 5 BGB Anwendung (sub III. 4. b) bb))83. Für eine entsprechende Anwendung der umwandlungsrechtlichen Informations- und Zuleitungspflichten fehlt es demnach bereits an einer erheblichen Regelunglücke. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber erstmals mit dem UmwG arbeitsrechtliche Informationspflichten einführte, die nicht an betrieblichen Sachverhalten angreifen, sondern an originär gesellschaftsrechtlichen Vorgängen (die eben nicht zwingend betriebliche Änderungen mit sich bringen). Diese Sonderanknüpfung (die sich in ähnlicher Weise jetzt nur noch im Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz findet84) bildet neben den allgemeinen Gründen, die gegen eine Analogiefähigkeit umwandlungsrechtlicher Bestimmungen sprechen (sub II. 1.), eine weitere Analogiegrenze85. Dass diese Sonderbehandlung der im Umwandlungsgesetz ausdrücklich geregelten Umstrukturierungsformen auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht, wird im Hinblick auf das früher z. B. in § 321 UmwG und nun generell in § 21a BetrVG geregelte Übergangsmandat des Betriebsrates deutlich. Hier hat nämlich der Gesetzgeber durch die nachträgliche gesetzesändernde Verankerung des Übergangsmandats in § 21a BetrVG deutlich gemacht, dass dieser Regelungskern nicht nur für die im UmwG geregelte Spaltung (und nach damals h. M. auch für die dort geregelte Verschmel-
__________ 81 Zum Share Deal vgl. BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/99, AP Nr. 9 zu § 106 BetrVG
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1972 unter B II; Willemsen/Lembke in Henssler/Willemsen/Kalb, ArbeitsrechtKommentar, 2004, § 106 BetrVG Rz. 83; Richardi/Annuß in Richardi, 9. Aufl. 2004, § 106 BetrVG Rz. 57. BAG v. 11.7.2000 – 1 ABR 43/99, AP Nr. 2 zu § 109 BetrVG 1972 unter B I 1c; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/99, AP Nr. 9 zu § 106 BetrVG 1972 unter B II 1; Willemsen/ Lembke in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, § 106 BetrVG Rz. 82. M. E. ist gut vertretbar anzunehmen, dass § 613a Abs. 5 BuB beim Inhaberwechsel lex specialis zu § 3 i. V. m. § 2 NachwG ist. Hierzu Seibt, DB 2002, 529; ders. in Henssler/Willemsen/Kalb, ArbeitsrechtKommentar, WpÜG Rz. 4. Pointiert Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 5 Rz. 50: „Die Vorschrift(en) haben kein Vorbild und sollten gewiss nicht zum Vorbild werden“.
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zung86) gelten soll, sondern für alle wirtschaftlich vergleichbaren Umstrukturierungen, die zu einer Spaltung oder Zusammenfassung von Betrieben führen87. Schließlich fehlt es beim einfachen Anwachsungsmodell an einem Rechtsgeschäft, das einem Verschmelzungsvertrag oder Umwandlungsbeschluss vergleichbar und insofern geeigneter Informationsträger wäre. bb) Übergang der Arbeitsverhältnisse (§ 613a BGB; § 324 UmwG) Es ist vor kurzem vorgeschlagen worden, die Vorschrift des § 324 UmwG, der auf § 613a Abs. 1, 4 bis 6 BGB in Form einer Rechtsgrundverweisung88 verweist, auf Anwachsungsmodelle wegen der wirtschaftlichen Vergleichbarkeit der Umstrukturierungsfolgen analog anzuwenden89. Eine solche Analogiebildung ist wegen des Sondercharakters der arbeitnehmerschützenden UmwG-Vorschriften sowie vor dem Hintergrund der Gesetzesbegründung und -genese sehr problematisch. Allerdings bedarf es gar keiner Analogiebildung zu § 324 UmwG, da nach zutreffender Auffassung § 613a BGB in seiner Gesamtheit auf den Vermögensübergang im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (§ 738 Abs. 1 Satz 1 BGB analog) direkt Anwendung findet90. Für den Übergang der Arbeitsverhältnisse bedarf es in den Anwachsungsfällen der Bestimmung in § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB überdies nicht, da die Arbeitsverhältnisse ohnehin im Wege der Gesamtrechtsnachfolge vollständig auf den neuen Rechtsträger übergehen. Für die unmittelbare Anwendung von § 613a BGB bei Nutzung von Anwachsungsmodellen streiten insbesondere zwei Gründe, nämlich zum einen eine teleologische Wortlautbetrachtung und zum anderen eine europarechtskonforme Auslegung: Zwar war vor der Regelung des § 324 UmwG streitig, ob das in § 613a BGB enthaltene Tatbestandsmerkmal „durch Rechtsgeschäft“ Betriebsübergänge im Wege der Gesamtrechtsnachfolge von
__________ 86 Vgl. Joost in Lutter, UmwG, 1. Aufl. 1996, § 321 Rz. 6; Kreßel, BB 1995, 925 (927);
a. A. Bauer/Lingemann, NZA 1994, 1057 (1059). 87 Vgl. BT-Drucks. 14/5741, S. 38 f.; Reichold in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeits-
recht-Kommentar, § 21a BetrVG Rz. 2 f. 88 BAG, Urt. v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, ZIP 2000, 1630 (1634); Bauer/Mengel, ZIP
2000, 1635 (1636); Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 324 UmwG Rz. 1; Willemsen in Kallmeyer, UmwG, § 324 Rz. 2; Preis in ErfurterKomm. ArbR, 5. Aufl. 2005, § 613a BGB Rz. 178; Simon in Semler/Stengel, UmwG, § 324 Rz. 3; Zerres, ZIP 2001, 359 (360); a. A. Kreßel, BB 1995, 925 (928); Salje, RdA 2000, 126; Richardi/Annuß in Staudinger, BGB, 1999, § 613a Rz. 85. 89 Dafür Däubler, AiB 2003, 385 (388). 90 Dafür Willemsen in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, § 613a BGB Rz. 191; Trittin, AiB 2001, 6 (8); i. E. auch LAG Schleswig-Holstein v. 30.8.1999 – 2 Sa 48/99 (Anwalts-GbR); LAG Köln v. 14.5.2001 – 2 Sa 1054/00 (Steuerberater-GbR). – Dagegen Krüger, DStZ 1986, 382 (384); Hennerkes/Binz (Fn. 3), S. 34; wohl auch Palandt/Weidenkaff, BGB, § 613a Rz. 14.
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deren Normbereich ausscheide91. Aus der über die Regelung des § 324 UmwG vom Gesetzgeber bezweckten (und auch erreichten) Klarstellung für Umwandlungen92 ist der allgemeine Rechtssatz zu entwickeln, dass § 613a BGB in solchen Fällen des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils im Wege der Gesamtrechtsnachfolge gilt, in denen – wie bei einer Umwandlung – die Gesamtrechtsnachfolge auf einer rechtsgeschäftlichen Grundlage beruht93. Dies ist sowohl beim einfachen (Kündigungs- oder Austrittserklärung) als auch beim erweiterten Anwachsungsmodell (Anteilsübertragungsvertrag) der Fall. Auch in Anwachsungsfällen erlischt der übertragende Rechtsträger und die Weiterführung der von diesem aufgebauten betrieblichen Strukturen sowie bisher verfolgten wirtschaftlichen Zwecke durch den aufnehmenden Rechtsträger (ein anderer „Inhaber“) ist die typische Zielsetzung der Umstrukturierung94. Ein solches Verständnis ist auch europarechtlich geboten, da die Richtlinienvorgabe „durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung“95 weit auszulegen ist, nämlich alle Fälle erfasst werden, in denen die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche Person, welche die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten des Unternehmens eingeht, „im Rahmen vertraglicher Beziehungen“ wechselt96. Bei Nutzung von Anwachsungsmodellen zur Umstrukturierung bezieht sich der rechtsgeschäftliche Wille sowohl bei den Kündigungs- oder Austrittserklärungen (einfaches Anwachsungsmodell) als auch bei den Anteilsübertragungsverträgen (erweitertes Anwachsungsmodell) gerade auf einen Betriebsübergang. Unschädlich ist hierbei, dass die Universalsukzession in Einzelfällen erst Folge einer Mehrzahl koordinierter Rechtsgeschäfte ist, und dass im Falle des einfachen Anwachsungsmodells der neue Inhaber an dem betreffenden Rechtsgeschäft
__________ 91 Vgl. Hanau, ZGR 1990, 548 (549 ff.); Heinze, DB 1980, 205 (208); Ascheid in RGRK,
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BGB, 12. Aufl. 1997, § 613a Rz. 108 f.; Schaub, ArbeitsR-Hdb., 7. Aufl. 1992, S. 896; Richardi/Annuß in Staudinger, BGB,§ 613a Rz. 83 ff. Vgl. Willemsen in Kallmeyer, UmwG, § 324 Rz. 1; a. A. Richardi/Annuß in Staudinger, BGB, § 613a Rz. 85: Die Tatsache der Schaffung einer Sondervorschrift für Unternehmensumwandlungen beweise, dass § 613a BGB nur auf die in § 324 UmwG beschriebenen Konstellationen innerhalb des dort definierten Rahmens Anwendung finden soll. Zu Umwandlungen Preis in ErfurterKomm. ArbR, § 613a BGB Rz. 58; Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 324 UmwG Rz. 1; Joost in Lutter, UmwG, § 324 Rz. 3; Willemsen in Kallmeyer, UmwG, § 324 Rz. 1; K. Schmidt, AcP 191 (1991), 495 (515 ff.). Für die Verschmelzung Willemsen in Kallmeyer, UmwG, § 324 Rz. 10. Art. 1 Abs. 1 lit a) Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben und Betriebsteilen, Abl. EG Nr. L 082; vgl. auch EuGH, Urt. v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91, Slg. 1992, I-3312 (3317 ff.) zur RL 77/187/EWG. Fuchs in Bamberger/Roth, BGB, 2003, § 613a Rz. 20; i.E. auch Preis in ErfurterKomm. ArbR, § 613a BGB Rz. 58.
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rechtlich nicht beteiligt ist (da er durch eine Anschlusskündigung die Gesamtrechtsnachfolge in das Gesellschaftsvermögen der Personengesellschaft vermeiden kann). cc) Kontinuitätsvorschriften (§ 325 Abs. 1, § 323 Abs. 1 UmwG) Die beiden Kontinuitätsvorschriften in § 325 Abs. 1 UmwG sowie § 323 Abs. 1 UmwG finden auf andere, nicht ausdrücklich dort geregelte Umwandlungsformen keine entsprechende Anwendung, geschweige denn auf Umstrukturierungen außerhalb des Umwandlungsgesetzes wie bei Ausgliederungen im Wege der Einzelrechtsübertragung oder den Anwachsungsmodellen97; an Stelle von § 323 Abs. 1 UmwG verbleibt es in Fällen der Anwachsungsmodelle bei der – sachgegenständlich vergleichbaren, aber inhaltlich ein geringeres Schutzniveau bietenden98 – Regelung des § 613a Abs. 4 BGB (sub III. 4. b) bb)). Dies ergibt sich zuallererst aus den allgemeinen Gründen, die gegen die Analogiefähigkeit der arbeitnehmerschützenden UmwG-Vorschriften streiten. Bei § 325 Abs. 1 UmwG kommt hinzu, dass die Regelungswirkung dieser Bestimmung auf die Beibehaltung des Mitbestimmungsstatuts beim übertragenden Rechtsträger beschränkt ist99 und dieser (nämlich die Personengesellschaft) bei den Anwachsungsmodellen wegfällt. dd) Kontinuität der Aufsichtsratsbesetzung (§ 203 UmwG) Die Regelung in § 203 UmwG, derzufolge bei einem Formwechsel die Aufsichtsratsmitglieder im Amt bleiben, soweit sich durch diesen das auf die Bildung und Zusammensetzung des Aufsichtsrats anwendbare Recht nicht ändert, soll Umwandlungen vereinfachen und Kosten sparen100. Diese Praktikabilitätserwägungen (Vermeidung von kostenträchtigen Wahlverfahren)
__________ 97 So zu § 325 UmwG: Seibt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt (Fn. 4), F
118 (Quasi-Spaltung) und F 68a (Formwechsel), F 88 (Verschmelzung); Willemsen in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, § 325 UmwG Rz. 2; ders., NZA 1996, 791 (803); Joost in Lutter, UmwG, § 325 Rz. 13; Stratz in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, § 325 UmwG Rz. 6; Wissmann in Widmann/ Mayer, Umwandlungsrecht, § 325 UmwG Rz. 10; Mengel, Umwandlungen im Arbeitsrecht, 1997, S. 454; Schupp, Mitbestimmungsbeibehaltung, 2001, S. 344. – So zu § 323 Abs. 1 UmwG: Willemsen in Henssler/Willemsen/Kalb, ArbeitsrechtKommentar, § 323 UmwG Rz. 19; ders., NZA 1996, 791 (800); Joost in Lutter, UmwG, § 323 Rz. 2; Simon in Semler/Stengel, UmwG, § 323 Rz. 3; Hanau in Hromadka, Arbeitsrecht und Beschäftigungskrise, 1997, S. 82 (91); Mengel, Umwandlungen im Arbeitsrecht, 1997, S. 451 f. 98 Hierzu Joost in Lutter, UmwG, § 323 Rz. 24 f. m. w. N. 99 Seibt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt (Fn. 4), F 88, 106, 111; Willemsen in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, § 325 UmwG Rz. 3; ders., NZA 1996, 791 (803); Joost, ZIP 1995, 983; Kreßel, BB 1995, 925 (926). 100 Decher in Lutter, UmwG, § 203 Rz. 1.
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tragen zwar auch über den Anwendungsbereich der Norm hinaus, beispielsweise in Fällen der Quasi-Up-Stream-Verschmelzung (Fallgruppe 1; sub II 1. a), in denen das Gesellschaftsvermögen einer GmbH & Co. KG mit mehr als 2000 Arbeitnehmern auf den letztverbleibenden Kommanditisten in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft (Vermögensholding101) übergeht (Folge: Wegfall des nach § 4 MitbestG paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrates bei der Komplementär-GmbH und Bildung eines mitbestimmten Aufsichtsrates bei der aufnehmenden Kapitalgesellschaft nach § 1 MitbestG). Denn hier bestünde ebenfalls ein praktisches Bedürfnis dafür, dass der bislang und auch nach dem Vermögensübergang für das operative Geschäft der Kommanditgesellschaft verantwortliche Aufsichtsrat in seiner Zusammensetzung (ohne kostenträchtige Durchführung eines Statusverfahrens nach §§ 97 ff. AktG102 und von Neuwahlen) unverändert bliebe. Allerdings trägt die Regelung in § 203 UmwG – unabhängig von den allgemeinen Gründen gegen die entsprechende Anwendung umwandlungsrechtlicher Bestimmungen auf nicht dort geregelte Umstrukturierungen – als Analogiebasis deshalb nicht, da mit den Anwachsungsmodellen ein Rechtsträgerwechsel des Unternehmens verbunden ist, während der von § 203 UmwG erfasste Formwechsel die rechtliche und wirtschaftliche Identität des Unternehmens unberührt lässt. Auch de lege ferenda spricht gegen eine Erweiterung dieser Regelung über den Formwechsel hinaus, dass dann im Ergebnis eine „Fremdbesetzung“ eines Organs durch Wahlkörper eines anderen Rechtsträgers erlaubt würde.
IV. Zusammenfassung in Thesen 1. Scheidet der vorletzte Gesellschafter einer Personengesellschaft aus jener aus, geht dessen gesamthänderische Mitberechtigung unmittelbar und ohne besondere Übertragungsakte auf den letztverbleibenden Gesellschafter über, das Gesellschaftsvermögen der Personengesellschaft geht damit auf den letztverbleibenden Gesellschafter im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (§ 738 Abs. 1 Satz 1 BGB analog) über und die Personengesellschaft erlischt liquidationslos. Dieses Anwachsungsprinzip wird in der Gestaltungspraxis aus einer Reihe von Gründen für Umstrukturierungen anstelle von Umwandlungen genutzt. 2. Der Übergang des Gesellschaftsvermögens auf den letztverbleibenden Gesellschafter im Wege der Gesamtrechtsnachfolge ist die gesetzlich angeordnete Folge einer privatautonomen Entscheidung der Gesellschafter, nämlich einer Kündigungs- oder Austrittserklärung, eines Ausschließungs-
__________ 101 Zur Mitbestimmungsfreiheit der Vermögensholding Seibt in Willemsen/Hohen-
statt/Schweibert/Seibt (Fn. 4), F 35a m. w. N.; ders. in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, § 5 MitbestG Rz. 7. 102 Zum Statusverfahren z. B. Seibt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt (Fn. 4), F 140 ff.
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beschlusses oder einer Anteilsübertragung. Die Anwachsungsmodelle sind damit in ihrer Struktur den Umwandlungen im Sinne des UmwG ähnlich. 3. Der Gesetzgeber hat sich aus drei Gründen für das Anwachsungsprinzip beim Ausscheiden von Gesellschaftern aus der Personengesellschaft entschieden: Es sind dies die Umsetzung des Gesamthandcharakters der Personengesellschaft, die Bewahrung von Unternehmenseinheiten und die besondere Gewichtung der Interessen der verbleibenden Gesellschafter bzw. des letztverbleibenden Gesellschafters im Verhältnis zu ausscheidenden Gesellschaftern, zu Gläubigern und Schuldrechtspartnern der Personengesellschaft. Dabei gründet sich die Zurückdrängung von Gläubiger- und Vertragspartnerinteressen mit dem Ziel des Übergangs von geschlossenen Unternehmenseinheiten auf der typisierten Annahme, dass das Vertrauen der Gläubiger und Vertragspartner in eine konkrete Gesellschafterzusammensetzung von unternehmenstragenden Personengesellschaften nicht im besonderen Maße schutzwürdig ist. 4. Eine entsprechende Anwendung der umwandlungsrechtlichen Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutzvorschriften kommt vor dem Hintergrund der dortigen Gesetzesbegründung und -genese bereits im Ausgangspunkt nicht in Betracht. Die Durchmusterung der einzelnen Schutzvorschriften ergibt überdies, dass keine erheblichen Regelungslücken im Personengesellschafts-, Arbeits- und allgemeinen Zivilrecht bestehen, die es rechtfertigen würden, die Gestaltungsfreiheit (Artikel 2 Abs. 1 GG) einzuschränken und auf die Anwachsungsmodelle neben solchen allgemeinen Schutzvorschriften (z. B. §§ 313, 314 BGB oder § 613a BGB) auch umwandlungsrechtliche Vorschriften entsprechend anzuwenden.
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„Satzungsgleiche“ Gesellschaftervereinbarungen bei der GmbH? – Zum Für und Wider der Trennung zwischen Satzung und schuldrechtlichen Gesellschafterabreden –
Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Gründe für und wider die Trennung zwischen Satzung und Nebenabreden 1. Die Differenzierung zwischen Kapital- und Personengesellschaften als Grundprinzip des Gesellschaftsrechts 2. Die Argumentationslast auf Seiten der Trennungsgegner 3. GmbH-rechtliche Ansätze zur Überwindung des Trennungsdenkens III. Ansätze des geltenden GmbH-Rechts zugunsten des Einheitsdenkens aus der Sicht von Noack 1. Stimmbindungsverträge und ihre Vollstreckung 2. Konkretisierung von satzungsrechtlichen Vertreterklauseln und Nebenleistungspflichten durch schuldrechtliche Abreden
3. Abhängigkeitsbegründende Gesellschafterabreden 4. Die Berücksichtigung von Gesellschaftervereinbarungen bei der Satzungsauslegung 5. Bilanz IV. Die Fortführung der von Noack vertretenen Einheitsthese durch die „Tübinger Schule“ 1. Die Multiplikatoren 2. Zöllners Rechtsfolgen-Analyse 3. Westermanns Berufung auf die Privatautonomie der GmbHGesellschafter V. Zwischenbilanz und Folgerungen 1. Beschränkte Tragweite des Theorienstreits 2. Bedenken gegen die Rückwirkungsthesen VI. Schluss
I. Einleitung Den Begriff der „satzungsgleichen“ Gesellschaftervereinbarungen bei der GmbH verdanken wir einem Festschrift-Beitrag von Priester1. Der Autor versteht darunter Abreden unter Beteiligung aller GmbH-Gesellschafter in Bezug auf solche Gegenstände, die auch in die Satzung hätten Aufnahme finden können, wovon die Beteiligten aber bewusst Abstand genommen haben. Damit bezieht er sich auf eine vor allem in den 80er und der ersten Hälfte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts intensiv geführte Diskussion über Zulässigkeit und Rechtswirkungen sog. schuldrechtlicher, zwischen
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Priester, Rechtskontrolle und Registerpublizität als Schranken satzungsrechtlicher Gesellschaftervereinbarungen bei der GmbH, in FS Claussen, 1997, S. 319 ff.
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den GmbH-Gesellschaftern außerhalb der Satzung getroffener Abreden mit dem Ziel, die Rechtsverhältnisse in der GmbH unter Vermeidung der für Satzungsregelungen geltenden Publizität und Registerkontrolle zu regeln. Die erwähnte Diskussion wurde bekanntlich angestoßen durch zwei BGHUrteile aus den Jahren 1983 und 1987, in denen der II. Zivilsenat die Verletzung allseitiger Gesellschafterabreden durch einen mehrheitlich gefassten Gesellschafterbeschluss als Anfechtungsgrund anerkannte2. Die Urteile konnten den Aspekt der Prozessökonomie für sich ins Feld führen, ließen in methodischer und systematischer Hinsicht jedoch viele Fragen offen3. Dementsprechend überwog in der Diskussion zunächst eindeutig die Kritik4. Immerhin gab es nicht ganz wenige Stimmen, die den schuldrechtlichen Abreden jedenfalls bei allseitiger Bindung der GmbH-Gesellschafter Auswirkungen in Bezug auf die Satzung zusprachen, soweit es um deren Auslegung oder um Art und Ausmaß der Treupflicht in der GmbH ging, und die auf diesem Wege zur Anfechtbarkeit eines abredewidrigen Gesellschafterbeschlusses analog § 243 AktG kommen wollten5. Über diesen Ansatz deutlich hinaus wiesen Mitte der 90er Jahre sodann drei Beiträge Tübinger Wissenschaftler. Angeregt durch die Habilitationsschrift Ulrich Noacks von 19946, vertraten sie in einem im Einzelnen differierenden Ausmaß die These von der Notwendigkeit, das Trennungsdenken in Bezug auf Satzung und schuldrechtliche Abreden zugunsten einer Einheitsbetrachtung im Sinne der Anerkennung einer „Verbandsordnung im weiteren Sinn“ zu überwinden7. Diese einheitliche Ordnung setze sich neben zwingendem bzw. dispositivem Gesetzesrecht aus Satzung, Gesellschafterbeschlüssen und schuldrechtlichen Abreden zusammen und präge die Rechtsverhältnisse in der GmbH, soweit
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BGH, NJW 1983, 1910 (1911); NJW 1987, 1890 (1891). Vgl. nur Happ, ZGR 1984, 168 (169 ff., 173); Vomhof, GmbHR 1984, 181 f.; Ulmer, NJW 1987, 1849 (1851 ff.); Winter, ZHR 154 (1990), 259 (265 ff.). So außer den in Fn. 3 zitierten Stimmen auch Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 3 Rz. 58; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, Anh. § 47 Rz. 48; Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 3 Rz. 51; Fleck, ZGR 1988, 104 (107); Dürr, BB 1995, 1365. Vgl. insbes. auch Goette in Henze/Timm/ Westermann (Hrsg.), RWS-Forum 8, 1995, S. 113. So mit Unterschieden im Einzelnen Emmerich in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, § 3 Rz. 75; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 45 Rz. 116 und § 47 Rz. 53; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 47 Rz. 79; Baumann/Reiss, ZGR 1989, 157 (214 f.); Hoffmann-Becking, ZGR 1994, 442 (451 ff.); Joussen, Gesellschafterabsprachen neben Satzung und Gesellschaftsvertrag, 1995, insbes. S. 146 ff.; Ehricke, Schuldvertragliche Nebenabreden zu GmbH-Gesellschaftsverträgen, 2004, S. 29 ff. und 65 f. Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994. So im Anschluss an Noack (Fn. 6), S. 61 ff. insbes. Zöllner in Henze/Timm/Westermann (Fn. 4), S. 89 (95 ff.); tendenziell ähnlich Westermann in Hommelhoff/ Rowedder/Ulmer (Hrsg.), Das Verhältnis von Satzung und Nebenordnungen in der Kapitalgesellschaft (Hachenburg-Gedächtnisvorlesung), 1994, S. 25 (38 ff.).
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dem nicht Rechte Dritter entgegenstünden8. Am markantesten kam die „Einheitsthese“ in einem Vortrag Wolfgang Zöllners vom Herbst 1995 zum Ausdruck9. Er rief nicht nur zur Überwindung des Trennungsprinzips auf, sondern sah sich sogar veranlasst, den Anhängern dieser in seiner Sicht überholten Betrachtung das Verdikt der petitio principii entgegenzuhalten10. Wer erwartete, dass diese Worte Öl ins Feuer gießen und der zuvor im Abklingen begriffenen Diskussion neuen Auftrieb geben würden, sah sich indessen bald eines Besseren belehrt. Die Diskussion der Teilnehmer zum Zöllner-Vortrag sowie zu der von Goette11 auf derselben Veranstaltung vertretenen radikalen Gegenthese verlief zwar kontrovers12, ohne dass von einem Durchbruch des Einheitsdenkens die Rede sein konnte. Gleichwohl erschienen seither nur noch wenige Beiträge zum Thema, wobei diese die von der Tübinger Schule aufgeworfenen Grundfragen zudem weder problematisierten noch nennenswert fortführten13. Auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung blieben die beiden Urteile aus den 80er Jahren eine Episode14. Unter den neueren Beiträgen ragt als eingehendste, rd. 40 Randnummern umfassende Publikation die aus dem Jahr 1996 stammende Kommentierung zu „satzungsergänzenden Nebenabreden“ im Großkommentar zum AktG aus der Feder des Jubilars heraus15. Es erscheint daher nur angemessen, den damit verbundenen Fragen in diesem Festschriftbeitrag zu seinen Ehren nachzugehen.
II. Die Gründe für und wider die Trennung zwischen Satzung und Nebenabreden 1. Die Differenzierung zwischen Kapital- und Personengesellschaften als Grundprinzip des Gesellschaftsrechts Orientiert man sich an Einteilung und Systematik unseres zwischen Kapitalund Personengesellschaften klar unterscheidenden Gesellschaftsrechts, so
__________
Vgl. insbes. Noack (Fn. 6), S. 107 ff. Zöllner (Fn. 7), S. 89 ff. Zöllner (Fn. 7), S. 110. In Henze/Timm/Westermann (Fn. 4). Vgl. den Diskussionsbericht in Henze/Timm/Westermann (Fn. 4), S. 141 ff. Für eine gewisse Relativierung des im Grundsatz beibehaltenen Trennungsdenkens immerhin neben Priester (Fn. 1), S. 319 (334 f.) und Ehricke (Fn. 5), S. 29 ff. auch Jäger, DStR 1996, 1935 (1937 ff.); tendenziell im Sinne der Noack-Thesen dann (ohne vertiefte Auseinandersetzung mit den Gegenmeinungen) Zetzsche, NZG 2002, 942 (945 ff.). 14 Im Sinne der BGH-Urteile zwar noch OLG Hamm, GmbHR 2000, 673 (674); abweichend aber schon OLG Celle, WM 1992, 1703 (1706); so auch OLG Stuttgart, NZG 2001, 416 (LS 6). Deutliche Distanzierung auch bei Goette in Henze/ Timm/Westermann (Fn. 4), S. 113 (119 ff.) unter Hinweis auf BGHZ 123, 15 (20) = NJW 1993, 2246. 15 Röhricht in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1997, § 23 Rz. 238 ff. 8 9 10 11 12 13
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ist die Antwort auf die Frage nach der Berechtigung des Trennungsdenkens nicht zweifelhaft. Denn GmbH-Satzung und die meist in Gestalt einer BGBInnengesellschaft getroffenen schuldrechtlichen Nebenabreden einiger oder aller Gesellschafter folgen nach Rechtsnatur, Voraussetzungen und Wirkungen unverkennbar unterschiedlichen Grundsätzen. So wird der Gesellschaftsvertrag der GmbH (die „Satzung“) infolge der Eintragung im Handelsregister zu deren von der Person der Gründer losgelöstem Organisationsstatut, das als solches nicht nur im Fall der Einmann-, sondern nach zutreffender Ansicht sogar als „Keinmann“-Gesellschaft16 fortbesteht. Demgegenüber bildet der Gesellschaftsvertrag nicht nur der GbR, sondern auch derjenige der handelsregisterpflichtigen OHG und KG unabhängig von der Eintragung im Grundsatz unverändert die auf das Vorhandensein von mindestens zwei Gesellschaftern angewiesene vertragliche Grundlage der Personengesellschaft. Die Satzung bedarf – im Unterschied zum Gesellschaftsvertrag der Personengesellschaft – zu ihrer Wirksamkeit der notariellen Form und der Eintragung im Handelsregister. Entsprechendes gilt für Satzungsänderungen, wobei für diese überdies grundsätzlich eine Dreiviertelmehrheit ausreicht, während im Personengesellschaftsrecht der Grundsatz der Einstimmigkeit gilt. Die Auslegung der GmbH-Satzung und insbes. ihrer organisationsrechtlichen Bestandteile folgt kraft ständiger, in der Literatur ganz überwiegend akzeptierter höchstrichterlicher Rechtsprechung ausschließlich objektiven, aus dem Handelsregister und den dort eingereichten Unterlagen ersichtlichen Kriterien17, während für Personengesellschaftsverträge der allgemeine Auslegungskanon der §§ 133, 157 BGB mit seinem Vorrang für den übereinstimmenden Parteiwillen gegenüber einem abweichenden Wortlaut gilt18. Schließlich und nicht zuletzt führt die (ihrerseits formgebundene) Abtretung des GmbH-Anteils zum Übergang grundsätzlich aller aus GmbHRecht und -Satzung folgender Mitgliedschaftsrechte und -pflichten auf den Anteilserwerber. Demgegenüber bedarf es mit Bezug auf schuldrechtliche Abreden zwischen den GmbH-Gesellschaftern des rechtsgeschäftlichen Beitritts des Anteilserwerbers bzw. der Vertragsübernahme durch ihn, wenn die Abreden auch ihm gegenüber Wirksamkeit erlangen sollen. All das ist in Fachkreisen wohlbekannt19 und muss nicht erneut begründet werden.
__________ 16 Vgl. dazu nur Kreutz in FS Stimpel, 1985, S. 379 ff. 17 Vgl. statt aller Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 9. Aufl. 2005 (im Erscheinen), § 2
Rz. 139 ff. (142), und Röhricht in Großkomm.AktG, § 23 Rz. 29 ff., jew. mit umfass. Nachw. 18 Dazu nur Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 705 Rz. 171 ff. 19 Zusammenfassend etwa Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 3 Rz. 115 f.; Röhricht in Großkomm.AktG, § 23 Rz. 264 ff.
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2. Die Argumentationslast auf Seiten der Trennungsgegner Vor diesem rechtssystematischen Hintergrund sollte außer Zweifel stehen, dass die Argumentationslast für die „Überwindung des Trennungsdenkens“ diejenigen Autoren trifft, die sich für die Anerkennung einer aus Satzung und schuldrechtlichen Abreden zusammengesetzten einheitlichen Verbandsordnung aussprechen. Unter ihnen hat sich denn auch Noack eingehend mit der Frage befasst, ob und inwieweit bereits das geltende GmbH-Recht und seine Fortbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung Ansätze im Sinne der neuen Betrachtung enthalten20; die beiden anderen Tübinger Autoren haben sich dieser Sicht jedenfalls im Ergebnis angeschlossen21. Aber auch den Befürwortern bestimmter – im Vergleich zum Einheitsdenken freilich „gemäßigten“ – Auswirkung schuldrechtlicher Abreden auf die GmbHSatzung kann die Frage nach deren Legitimation angesichts der grundsätzlichen Unterschiede zwischen GmbH-Satzung und Personengesellschaftsvertrag nicht erspart bleiben (vgl. dazu unter V). Ein Rückzug auf Erwägungen der Praktikabilität oder der Prozessökonomie, wie er die erwähnten BGHUrteile aus den 80er Jahren22 kennzeichnete, vermag die gebotene rechtsdogmatische Begründung nicht zu ersetzen, wenn die damit unternommene Rechtsfortbildung nicht zum integrationsresistenten Fremdkörper des Gesellschaftsrechts ohne fortwirkende Kraft degenerieren soll23. 3. GmbH-rechtliche Ansätze zur Überwindung des Trennungsdenkens Wie schon erwähnt, hat Ulrich Noack die Suche nach GmbH-rechtlichen Ansätzen zur Überwindung des Trennungsdenkens zwischen Satzung und schuldrechtlichen Abreden zu einem zentralen Gegenstand seiner Habilitationsschrift gemacht24; schon weil dieser Punkt in den (wenigen) Rezensionen des Werkes25 nicht besonders berücksichtigt wurde, soll die Auseinandersetzung damit hier nachgeholt werden. Im Einzelnen geht Noack in seiner Bestandsaufnahme auf eine Reihe bekannter schuldrechtlicher Abreden unter Beteiligung von GmbH-Gesellschaftern ein, darunter insbes. Stimmbindungsverträge, Vertreterklauseln, Abreden über Nebenleistungen der Gesellschafter und abhängigkeitsbegründende Konsortialabreden, und untersucht ihre Auswirkungen auf die Rechtsverhältnisse der GmbH. In diese Untersuchung bezieht er darüber hinaus auch die Frage nach der Auslegung von Satzung und Gesellschaftervereinbarungen ein, um schließlich bei der Anfechtungs-Rechtsprechung des BGH als letztem Glied in der Kette
__________ 20 Noack (Fn. 6), S. 61 ff. 21 Zöllner in Henze/Timm/Westermann und Westermann in Hommelhoff/Rowedder/ 22 23 24 25
Ulmer, jeweils a. a. O. (Fn. 7). Vgl. Nachw. in Fn. 2. Dazu Ulmer, ZGR 1999, 751 (775 ff.). Vgl. Fn. 20. Von Joost, JZ 1995, 937; Michalski, DZWiR 1995, 437 und König, WM 1996, 1334.
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zu landen. Als Resümee hält er fest, es habe in mancher Hinsicht gezeigt werden können, „wie brüchig und relativ der vermeintliche Gegensatz zwischen korporativen und anderen auf die Verbandsverhältnisse einwirkenden Regelungsebenen sich bei näherer Betrachtung darstellt“; die gewonnenen Erkenntnisse ließen die Trennung von statutarisch-korporativer Ebene und individualvertraglichen Gesellschaftervereinbarungen als fragwürdig erscheinen26. Ob die Befunde von Noack diese Schlussfolgerungen wirklich tragen, wird zu prüfen sein.
III. Ansätze des geltenden GmbH-Rechts zugunsten des Einheitsdenkens aus der Sicht von Noack 1. Stimmbindungsverträge und ihre Vollstreckung Um mit den Stimmbindungsverträgen unter Beteiligung von GmbH-Gesellschaftern zu beginnen, ist das Phänomen als solches bekannt und nicht nur in der Gesellschaftspraxis der GmbH, sondern auch in derjenigen anderer Gesellschaftsformen nicht selten anzutreffen27. Dabei begegnen neben Stimmbindungen zwischen Gesellschaftern, insbes. nach Art von Konsortial- und Poolverträgen zur Bündelung der Stimmkraft der Vertragspartner im Interesse der Einflusssicherung der Beteiligten auf die Geschicke der Gesellschaft, nicht selten auch solche zwischen einzelnen Gesellschaftern und Dritten, um diesen aus unterschiedlichen Gründen28 einen indirekten Einfluss auf die Willensbildung in der Gesellschaft zu gewähren. Von Sonderkonstellationen29 abgesehen, stoßen derartige Verträge GmbH-rechtlich auf keine grundlegenden Bedenken. Freilich steht auch außer Zweifel, dass die Gesellschafter bei ihrer Stimmabgabe in der GmbH ihre Mitgliedschaftspflichten unabhängig von Bestand und Inhalt derartiger Verträge zu respektieren haben und dabei nicht nur den bindenden Vorgaben der Satzung, sondern auch der GmbH-rechtlichen Treupflicht den Vorrang einräumen müssen. Unter Vorbehalt der noch zu erörternden Frage, ob allseitige schuldrechtliche Abreden in der Lage sind, auf die Treupflicht in der GmbH auszustrahlen30, geben Stimmbindungsverträge als solche daher keinen Anlass, an der Trennung zwischen den verschiedenen Regelungsebenen zu zweifeln oder sie gar zugunsten des Einheitsdenkens zu überwinden.
__________ 26 Noack (Fn. 6), S. 100 (101). 27 Vgl. nur K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 21 II 4; Ulmer in Münch-
Komm.BGB, Vor § 705 Rz. 68 ff.; Priester in FS Werner, 1984, S. 657 ff.; Noack (Fn. 6), S. 66 ff. 28 Dazu K. Schmidt (Fn. 27), § 21 II 4a; Overrath, Die Stimmrechtsbindung, 1973, S. 62 ff.; Priester (Fn. 27), S. 657 (672 ff.); Baumann/Reiss, ZGR 1989, 157 (183 ff.). 29 So bei der Umgehung satzungsrechtlicher Vinkulierungs- oder Höchststimmrechtsklauseln, vgl. dazu Noack (Fn. 6), S. 133 ff.; Zöllner (Fn. 7), S. 101 ff. 30 Vgl. dazu unten bei V. 2.
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Diese im rechtlichen Ansatz klare Unterscheidung ist allerdings – wie Noack insoweit zu Recht ausführt – im Jahr 1967 durch das bekannte Urteil BGHZ 48, 163 (169 ff.) relativiert worden. Denn dort entschied der II. Zivilsenat in Bezug auf die von einem GmbH-Gesellschafter als Treuhänder gegenüber einem Dritten als Treugeber eingegangene, auf eine inhaltlich bestimmte Stimmabgabe31 abzielende Stimmbindung, dass sie aufgrund der erfolgreichen Leistungsklage des Treugebers nach Maßgabe des § 894 ZPO – also ohne persönliche Einschaltung des gebundenen Gesellschafters – vollstreckt werden könne; er wich damit bewusst von der gegenteiligen, einen Vollstreckungszwang ablehnenden ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts32 ab. Das vermutlich auf Robert Fischer als Senatsvorsitzenden zurückzuführende Urteil33 ist seinerzeit zwar auf überwiegende Zustimmung gestoßen34. Aber auch die Bedenken gegen diese Rechtsfortbildung sind nicht verstummt35. Sie beruhen nicht nur darauf, dass auf diesem Wege, wie Max Wolff36 es plastisch formulierte, entgegen der Struktur der Gesellschafterversammlung anstelle des Gesellschafters „ein steinerner Gast mit einem Abstimmungsurteil in der Hand am Tische sitzt“, sondern auch auf der infolge dieser Rechtsprechung drohenden Umgehung des für das Stimmrecht geltenden Abspaltungsverbots mit der Folge, dass Stimmbindungsverträge mit Dritten angesichts dieser Entwicklung umso kritischer auf ihre rechtliche Zulässigkeit überprüft werden müssen37. Auch wenn man indessen von diesen grundlegenden Bedenken absieht und den Fokus auf die im vorliegenden Zusammenhang interessierende Verbindung der Regelungsebenen richtet, erweist sich das Urteil schon deshalb als wenig weiterführend, weil es sich trotz des Bemühens um ausführliche, in der Amtlichen Sammlung nicht weniger als sechs Seiten umfassende Begründung zu diesem Punkt letztlich nur auf Praktikabilitätserwägungen stützt; die Parallele zur Anfechtungs-Rechtsprechung des Senats aus den 80er Jahren ist insoweit unverkennbar. Denn der Senat rechtfertigte den Meinungswandel einzig mit dem Argument, an Abstimmungsverträgen und ihrer Durchsetzbarkeit bestehe ein berechtigtes Interesse. Gesellschaftsrecht-
__________ 31 Es ging um die Verpflichtung des gebundenen Gesellschafters als Treuhänder, der
32 33 34 35
36 37
Übertragung des Anteils an den Treugeber auf dessen Verlangen zuzustimmen (BGHZ 48, 163 [164 f.]). Seit RG, JW 1927, 2992; vgl. RGZ 133, 90 (95 f.); 160, 257 (262); 170, 358 (372); dazu auch Robert Fischer in FS Otto Kunze, 1969, S. 95 (103 f.). Vgl. die ausführliche Darstellung der Hintergründe und Motive für die Rspr.Änderung durch Rob. Fischer (Fn. 32), S. 95 (104 ff.). Umfass. Nachw. bei Hüffer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1991, § 47 Rz. 80 und K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 47 Rz. 55; so auch Noack (Fn. 6), S. 71 ff. Vgl. nur Hüffer in Hachenburg, GmbHG, § 47 Rz. 80; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 47 Rz. 80; Flume, Die juristische Person, 1983, § 7 VI S. 245 ff. (248); Overrath (Fn. 28), S. 101 ff. JW 1929, 2115 (2116). Vgl. nur Ulmer in MünchKomm.BGB, § 717 Rz. 25.
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lich stünden dem keine durchgreifenden Bedenken entgegen. Zwar setze die Stimmabgabe eine mitgliedschaftliche Mitwirkung an der Beschlussfassung voraus; angesichts der Bedeutung, die Abstimmungsverträge im Rechts- und Wirtschaftsleben gewonnen hätten, könne dies jedoch nicht als ein Grund anerkannt werden, der die Erzwingbarkeit einer Abstimmungsvereinbarung ausschließe38. Aus heutiger Sicht erscheint diese Begründung seltsam schlicht und inkonsistent; sie ist schwerlich geeignet, als tragender Grund für den Übergang vom Trennungs- zum Einheitsdenken zu dienen. Auch dürfte die Prämisse des Senats von der großen praktischen Bedeutung der Vollstreckung von Stimmbindungen nach § 894 ZPO kaum zutreffen. Denn Stimmbindungsverträge zielen einerseits nur selten auf eine bestimmte, im Voraus vereinbarte Stimmabgabe ab, und andererseits wird das für § 894 ZPO benötigte rechtskräftige Urteil in aller Regel zu spät kommen, um das Beschlussergebnis noch zu beeinflussen. Daher sind seither auch keine weiteren Urteile zu dieser Problematik bekannt geworden. Indessen ändern diese Einwendungen nichts daran, dass das fragliche Urteil – wenn auch beschränkt auf eine bestimmte Konstellation – dahin zu verstehen ist, ein Hinüberwirken von der einen (schuldrechtlichen) auf die andere (korporative) Regelungsebene als Folge der Rechtsdurchsetzung anerkannt zu haben. In diesem Befund ist Noack39 daher zuzustimmen, auch wenn man eine stärker problematisierende Befassung mit den Entscheidungsgründen begrüßt hätte. 2. Konkretisierung von satzungsrechtlichen Vertreterklauseln und Nebenleistungspflichten durch schuldrechtliche Abreden Als zweite Gruppe privatautonomer Rechtsgestaltungen der Gesellschafter, die aus seiner Sicht die enge Verbindung zwischen Satzung und schuldrechtlichen Gesellschafterabreden dokumentieren, führt Noack einerseits Vertreterklauseln in der GmbH-Satzung unter Regelung des Willensbildungsprozesses zwischen den davon betroffenen, in ihren Mitwirkungsrechten gegenüber der GmbH mediatisierten GmbH-Gesellschaftern durch schuldrechtliche Abreden an40. Andererseits erwähnt er statutarische Nebenleistungspflichten von GmbH-Gesellschaftern und deren nähere Konkretisierung durch schuldrechtliche Ausführungsverträge zwischen den zur Nebenleistung verpflichteten Gesellschaftern und der GmbH41. In beiden Fällen bestimmt sich der Raum für die schuldrechtlichen Abreden der Gesellschafter freilich danach, ob und welche Gestaltungsfreiheit ihnen die GmbH-Satzung hierfür belässt. Denn soweit die grundlegenden Regelungen in Bezug auf die Media-
__________ 38 39 40 41
BGHZ 48, 163 (171 f.). Noack (Fn. 6), S. 74 f. Noack (Fn. 6), S. 75 ff. Noack (Fn. 6), S. 78 ff.
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tisierung der Mitgliedschaftsrechte bzw. die Begründung der Nebenleistungspflichten in Frage stehen, müssen diese in der Satzung selbst enthalten sein, wenn sie die Mitgliedschaft in der GmbH gestalten sollen42. Keine Bedenken bestehen allerdings dagegen, dass die Satzung die Einzelausgestaltung der Rechtsverhältnisse der von der Vertreterklausel betroffenen Gesellschafter oder die Konkretisierung der Modalitäten der Nebenleistungen einer Vereinbarung der Beteiligten im Wege schuldrechtlicher Abreden überlässt, wenn und soweit die Vorgaben der Satzung dadurch weder modifiziert noch in Frage gestellt werden. Das bedarf in diesem Zusammenhang keiner Vertiefung43. Fragt man freilich nach der Relevanz dieser Rechtsinstitute für die hier interessierende Frage, ob zwischen Satzung und schuldrechtlichen Abreden vom Trennungs- oder vom Einheitsdenken auszugehen ist, so verdient Noack zwar darin Zustimmung, dass bei ihnen je nach ihrer näheren Ausgestaltung beide Regelungsebenen betroffen sein können. Allerdings handelt es sich insoweit um eine besondere Art der Verbindung, wie Noack mit seiner Überschrift „Verbindungen aufgrund der Satzung“44 denn auch zutreffend zum Ausdruck bringt. Denn es ist jeweils Sache der Satzung, ob und inwieweit sie die Einzelausgestaltung selbst regelt oder der Konkretisierung im vorgegebenen Rahmen durch schuldrechtliche Abreden überlässt. Die Satzung setzt m.a.W. die rechtlich bindenden, für die Gestaltung der jeweiligen Mitgliedschaftsrechte als Essentialia notwendigen Vorgaben, und nur in diesem Rahmen bleibt es den Beteiligten überlassen, weitere Einzelheiten in Ergänzung der Satzung schuldrechtlich festzulegen. Fehlt es an einer Vertreterklausel in der Satzung, so kann die von den Beteiligten beabsichtigte Mediatisierung der Mitgliedschaftsrechte nach ganz herrschendem, auch von Noack nicht in Zweifel gezogenem Verständnis nicht allein durch schuldrechtliche Abreden erreicht werden45; solche haben vielmehr nur die Wirkung von Konsortialabsprachen oder Stimmbindungsverträgen mit Bindung für die jeweils Beteiligten. Und ebenso lassen sich mit der Mitgliedschaft verbundene Nebenleistungspflichten der Gesellschafter nicht schon durch schuldrechtliche Abreden zwischen ihnen außerhalb der Satzung begründen. Solche Abreden binden vielmehr, auch wenn sie nach Art eines Vertrages zugunsten Dritter eigene Ansprüche der GmbH begründen sollen, nur die jeweils daran Beteiligten und können von ihnen grundsätzlich auch wieder geändert werden.
__________ 42 Ganz h. M., vgl. BGH, WM 1989, 189; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 3 Rz. 78;
Emmerich in Scholz, GmbHG, § 3 Rz. 44; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 3 Rz. 39; im Grds. auch Noack (Fn. 6), S. 78 f. 43 Vgl. nur Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 3 Rz. 78 f. 44 Noack (Fn. 6), S. 75. 45 Vgl. nur BGHZ 46, 291 (295 ff.); K. Schmidt (Fn. 27), § 21 II 5a; ders., ZHR 146 (1982), 525 (528 f.).
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Für das Thema unserer Untersuchung, d. h. die „Satzungsgleichheit“ von schuldrechtlichen Gesellschaftervereinbarungen als Teile einer einheitlichen, die Rechtsverhältnisse in der GmbH gestaltenden Verbandsordnung, erweisen sich Vertreterklauseln und Nebenleistungspflichten somit schon deshalb als nicht weiterführend, weil ihre notwendige Satzungsqualität nicht durch Abreden außerhalb der Satzung ersetzt werden kann und auch für Modifikationen außerhalb des durch die Satzung bestimmten Rahmens kein Raum ist. Von einer Austauschbarkeit zwischen Satzung und schuldrechtlichen Abreden, wie sie aus Sicht der Anhänger der Einheitsthese kennzeichnend wäre, kann mit Bezug auf diese Regelungstypen keine Rede sein. Dementsprechend binden die zusätzlich getroffenen schuldrechtlichen Abreden den Erwerber des GmbH-Anteils auch nur dann, wenn er ihnen – sei es auch konkludent – beitritt. 3. Abhängigkeitsbegründende Gesellschafterabreden In einem weiteren, mit „Gesellschaftervereinbarungen und konzernrechtlicher Abhängigkeitstatbestand“ überschriebenen Abschnitt geht Noack46 im Hinblick auf seinen auf Trennung oder Verbindung der Regelungsebenen bezogenen Untersuchungsgegenstand der Frage nach, ob sich derartige für das Einheitsdenken sprechende Verbindungseffekte auch in Bezug auf abhängigkeitsbegründende Gesellschaftervereinbarungen feststellen lassen. Zu Recht nimmt er dabei die Fälle der Unternehmensverträge aus47, da sie auch im GmbH-Recht bekanntlich, ganz abgesehen von der Beteiligung nicht der übrigen Gesellschafter, sondern der abhängigen GmbH als Vertragspartner, nach ganz h. M. nicht zu den schuldrechtlichen Vereinbarungen gerechnet werden, sondern als satzungsüberlagernde Organisationsverträge der Handelsregisterpublizität und – jedenfalls indirekt über den Zustimmungsbeschluss der GmbH-Gesellschafter – auch der notariellen Form unterliegen48. Stattdessen beschäftigt er sich mit Vereinbarungen über Erwerbsvorrechte und Stimmrechtsvereinbarungen, soweit sie den Tatbestand der Mehrheitsbeteiligung (§ 16 AktG) oder des Herrschafts-/Abhängigkeitsverhältnisses (§ 17 AktG) auslösen und auf diesem Wege zu einer Strukturveränderung bei der nunmehr im Mehrheitsbesitz stehenden bzw. abhängigen GmbH führen. Ohne hier auf die im Einzelnen umstrittenen Anforderungen an das Eingreifen der §§ 16, 17 AktG kraft Gesellschafterabreden, d. h. bei fehlender Mehrheitsbeteiligung eines einzelnen GmbH-Gesellschafters, oder auf die spiegelbildliche Frage nach der Anerkennung von „Entherrschungsverträgen“ einzugehen49, fragt sich doch, ob die vom Verf. insoweit behandelten Fälle
__________
46 Noack (Fn. 6), S. 87 ff. 47 Dazu Noack (Fn. 6), S. 110 f. 48 BGHZ 105, 324 (337 f.); Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, GmbH-Konzern-
recht Rz. 37a. 49 Vgl. dazu nur Noack (Fn. 6), S. 95 f.
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„Satzungsgleiche“ Gesellschaftervereinbarungen bei der GmbH?
überhaupt geeignet sind, als Beispiele für die „Verbindung der Regelungsebenen“ zu dienen. Zwar steht die von Noack50 konstatierte Änderung der GmbH-Struktur als Folge jedenfalls der Abhängigkeitsbegründung im Grundsatz außer Zweifel. Wohl aber fragt sich, ob es gerade die Gesellschaftervereinbarungen sind, die diese Strukturänderung auf GmbH-Ebene bewirken, oder ob es sich dabei nicht vielmehr um Reflexwirkungen aus der Begründung einer (ggf. gemeinsamen) Herrschaftsmöglichkeit auf Seiten eines oder mehrerer unternehmerisch tätiger GmbH-Gesellschafter handelt. Ist Letzteres zu bejahen, so lässt sich bei genauer Betrachtung nicht vom Hinüberwirken einer (der schuldrechtlichen) auf die andere (satzungsrechtliche) Regelungsebene sprechen. Es geht vielmehr um die gesetzliche Auswirkung der satzungsunabhängig erlangten Mehrheitsposition eines oder mehrerer Gesellschafter, also um gesellschafterspezifische Besonderheiten mit Bezug auf eine zwar dem Mehrheitseinfluss unterliegende, jedoch durch das Recht der Unternehmensverbindungen geschützte GmbH. Die Antwort auf diese theoretisch nicht leicht herauszuarbeitende, jedoch für den Untersuchungsgegenstand zentrale Frage erschließt sich dann, wenn man sich auf den Grundfall der Abhängigkeitsbegründung besinnt, d. h. die Erlangung einer Mehrheitsbeteiligung an der GmbH seitens eines unternehmerisch tätigen Gesellschafters ohne Möglichkeit zur Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung (§§ 16 Abs. 1, 17 Abs. 2 AktG analog). Denn insoweit geht es nicht um die Folgen einer Gesellschaftervereinbarung, sondern um den schlichten Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung, sei es rechtsgeschäftlich oder kraft Gesamtrechtsnachfolge. Dieser Erwerb – und nicht etwa die hierzu führenden Vereinbarungen – begründet die Gefahr der Mehrheitsherrschaft und löst die für den Abhängigkeitstatbestand kennzeichnenden Schutzmechanismen aus. Das gilt nicht nur für den Normalfall der einfachen Abhängigkeit von nur einem Gesellschafter, sondern je nach Fallgestaltung auch in Fällen mehrfacher Abhängigkeit. Denn auch diese setzt bekanntlich nicht notwendig eine vertragliche oder organisatorische Bindung zwischen den gemeinsam herrschenden Unternehmen voraus, sondern kann auch auf rechtlichen oder tatsächlichen Umständen sonstiger Art beruhen, die eine ausreichend sichere Grundlage für die Ausübung gemeinsamer Herrschaft bilden51. Berücksichtigt man überdies, dass der Abhängigkeitstatbestand schon beim Vorliegen bloß faktischer Herrschaftsmöglichkeit eingreift, und dass er keinesfalls eine allseitige Bindung der GmbH-Gesellschafter an die abhängigkeitsbegründende Gesellschaftervereinbarung erfordert, so zeigen auch diese Umstände, dass die vom Verf. mit Blick auf die „konzernrechtliche Abhängigkeit“ geprüften schuldrechtlichen Abreden in Gestalt von Erwerbsvorrechten, Stimmrechtsvereinbarungen u. a. mit der Frage nach dem Zusam-
__________
50 Noack (Fn. 6), S. 87 ff. (97). 51 Vgl. nur BGHZ 62, 193 (199); 74, 359 (367).
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menspiel der verschiedenen Regelungsebenen nichts zu tun haben. Als Beleg oder Argumentationshilfe für die Einheitsthese sind sie nicht geeignet. 4. Die Berücksichtigung von Gesellschaftervereinbarungen bei der Satzungsauslegung Schwierigkeiten der Einordnung und des Verständnisses hat der Leser mit Blick auf die von Noack anvisierte Einheitsthese schließlich insoweit, als es um den Abschnitt über „Auslegung von Gesellschaftervereinbarungen und Satzungen“ geht52. Das gilt einerseits für die – ohne Zweifel zutreffende – Feststellung des Verf., dass Gesellschaftervereinbarungen vor dem Hintergrund der Satzung, auf die sie sich beziehen, und in deren Licht auszulegen sind. Dies deckt sich mit der ganz h. M. und steht voll in Einklang mit den für derartige Abreden geltenden allgemeinen Auslegungsgrundsätzen der §§ 133, 157 BGB. Zum Untersuchungsgegenstand trägt dieser Befund aber schon deshalb nichts bei, weil es bei der Einheitsthese nicht um die – unproblematischen – Auswirkungen der Satzung auf schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarungen geht, sondern umgekehrt um die Auswirkungen von Gesellschaftervereinbarungen auf die Satzung. Was diese angeht, entspricht es aber seit Jahrzehnten ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung und ganz h. M. im Schrifttum, dass für die körperschaftlichen Bestandteile der Satzung, und das heißt der Sache nach für den ganzen materiellen Satzungsinhalt53, an der objektiven, durch den Satzungswortlaut unter ergänzender Hinzuziehung der übrigen zum Handelsregister eingereichten Unterlagen geprägten Auslegung festzuhalten ist. Zwar weist Noack insoweit zu Recht auf Stimmen in der Literatur hin, die die mögliche Härte einer rein objektiven Auslegungsmethode betonen und ihr jedenfalls bei seit der Gründung oder einer auslegungsbedürftigen Satzungsänderung unverändertem Gesellschafterbestand durch Anerkennung von Ausnahmen abhelfen wollen54. Auch hat die Rechtsprechung nicht durchweg der Versuchung widerstanden, bei der Auslegung auch die „Gesamtumstände“ mit in den Blick zu nehmen55. Jedoch hat der BGH sogar in seinen beiden als Relativierung der Trennungsthese verstandenen Anfechtungsurteilen jeweils ausdrücklich betont, dass es ungeachtet des Bestehens allseitiger, auf Interpretation, Mo-
__________ 52 Noack (Fn. 6), S. 80 ff. 53 Vgl. nur Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 2 Rz. 143 m. Nachw.; so für die AG-
Satzung zutr. auch BGHZ 123, 347 (350). 54 So mit unterschiedl. Differenzierung außer Noack (Fn. 6), S. 80 ff. (84) auch schon
Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. 1, 1980, § 3 II 2 S. 167 ff. und ders., DNotZSonderheft 1977, S. 99 ff.; Grunewald, ZGR 1995, 68 (86 ff.); Ebenroth, JZ 1987, 265 (279); Oppenländer, DStR 1996, 922; im Grundsatz auch K. Schmidt (Fn. 27), § 5 I 4. 55 Vgl. etwa BGHZ 63, 282 (290); 123, 347 (350); BGH, ZIP 1990, 586 (587); RGZ 140, 303 (306); der Sache nach – trotz grundsätzlichen Festhaltens an der obj. Auslegung – auch BGH, NJW 1983, 1910 (1911) und NJW 1987, 1890 (1891).
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„Satzungsgleiche“ Gesellschaftervereinbarungen bei der GmbH?
difikation oder Ergänzung des Satzungsinhalts gerichteter Gesellschaftervereinbarungen bei der objektiven Auslegungsmethode zu bleiben habe56. Dieser Befund brauchte Noack zwar selbstverständlich nicht daran zu hindern, sich mit dem Grundsatz objektiver Satzungsauslegung kritisch auseinanderzusetzen und nach alternativen, sowohl Gesellschafter- als auch Verkehrsinteressen angemessen berücksichtigenden Auslegungsmethoden zu fragen. Er schließt es aber aus, den Auslegungsparameter als Argument zugunsten einer bereits nach geltendem Recht – und das heißt nach ständiger Rechtsprechung und h. M. in der Literatur – anzutreffenden Verbindung der Regelungsebenen im Sinne der Einwirkung schuldrechtlicher Abreden auf den Inhalt der Satzung anzuführen. Vielmehr geht kein Weg daran vorbei, dass die Satzungsauslegung nach bislang ganz h. M. unverändert durch das Trennungsdenken bestimmt wird. 5. Bilanz Die Bilanz der auf die „Verbindung der Regelungsebenen“ gerichteten, auf das geltende Recht bezogenen Untersuchungen von Noack fällt nach allem recht mager aus. Sieht man ab von den beiden „Ausreißer“-Urteilen des BGH zur Anfechtbarkeit eines gegen allseitige schuldrechtliche Abreden verstoßenden Mehrheitsbeschlusses der GmbH-Gesellschafter sowie von dem ähnlich problematischen, methodisch nicht abgesicherten BGH-Urteil zur Zwangsvollstreckung von Stimmpflichten nach § 894 ZPO, so lässt die von Noack erstellte Analyse einer möglichen Verbindung der beiden Regelungsebenen keinen einzigen Bereich erkennen, in dem von einer derartigen Verbindung bereits nach geltendem Recht die Rede sein kann. Das gilt für Stimmrechtsvereinbarungen ebenso wie für ergänzende schuldrechtliche Abreden betreffend satzungsrechtliche Vertreterklauseln oder Nebenleistungspflichten, aber auch für „abhängigkeitsbegründende“, zu mehrfacher Abhängigkeit der GmbH gegenüber einer unternehmerisch tätigen Gesellschaftergruppe führende Konsortialabsprachen. Auch die von der ganz h. M. vertretene, rein objektive Satzungsauslegung ohne Berücksichtigung abweichender schuldrechtlicher Abreden weist eindeutig in die Richtung des Trennungsprinzips. Nach allem lässt es sich allenfalls durch die ausgeprägte Sympathie des Verf. für die (angeblichen) Vorzüge des Einheitsdenkens erklären, wenn er – wie vorstehend (unter II 3) bereits erwähnt – seine Untersuchungen zur Verbindung der Regelungsebenen mit dem Resümee abschließt, es habe in mancher Hinsicht (?) gezeigt werden können, wie brüchig und relativ sich bei näherer Betrachtung der vermeintliche Gegensatz zwischen korporativen und anderen auf die Verbandsverhältnisse einwirkenden Regelungsebenen darstelle.
__________ 56 BGH, NJW 1983, 1910 (1911); NJW 1987, 1890 (1891).
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Aus der Sicht eines nicht vom Einheitsdenken vorgeprägten Lesers erweist sich diese Schlussfolgerung vielmehr ihrerseits als schwer nachvollziehbar, wenn nicht als Wunschdenken. Die Untersuchungen von Noack sind jedenfalls nicht geeignet, als Beleg für einen bereits eingetretenen Paradigmenwechsel vom Trennungs- zum Einheitsprinzip zu dienen.
IV. Die Fortführung der von Noack vertretenen Einheitsthese durch die „Tübinger Schule“ 1. Die Multiplikatoren Auch wenn die Berufung Noacks darauf, dass bestimmte im GmbH-Recht anerkannte Rechtsgestaltungen als Ansätze zur Anerkennung einer „Verbandsordnung im weiteren Sinn“ unter Überwindung oder Durchbrechung der Trennungsthese zu werten sind, näherer Betrachtung nicht ohne weiteres standhält, ist seine Ansicht doch jedenfalls im Tübinger Umfeld des Verfassers auf positive Resonanz gestoßen. So hat Zöllner in dem schon erwähnten RWS-Vortrag von 199557 sich die von Noack vertretene neue Sicht zwar nicht ausdrücklich zu Eigen gemacht; er hat sie aber doch zum Anlass genommen, um auf ihrer Grundlage anhand von sieben Rechtsbeziehungen nach der Sachangemessenheit von „Wechselwirkungen zwischen Satzung und Gesellschaftervereinbarung“ zu fragen. Das Ergebnis dieser Befragung fiel trotz der von Zöllner betonten Notwendigkeit, bei der Anerkennung von Wechselwirkungen je nach Konstellation der Gesellschaftervereinbarungen und ihrer Relevanz für Drittinteressen zu unterscheiden, aus seiner Sicht offenbar so überzeugend aus, dass er keine Bedenken trug, in seinem „Fazit“ das Trennungsdenken vorbehaltlich entgegenstehender Interessen Dritter als petitio principii zu qualifizieren (vgl. im Folgenden unter 2). Verglichen mit dieser Schlussfolgerung war die Quintessenz von Westermann in seiner Hachenburg-Gedächtnisvorlesung von 199458 zwar weniger radikal. Jedoch plädierte auch er dafür, die Trennungsthese kritisch zu hinterfragen, zumal sie sich nur schwer mit der den GmbH-Gesellschaftern zustehenden Privatautonomie vereinbaren lasse. Als neu zu durchdenkende Problembereiche erwähnte er vor dem Hintergrund der Anfechtungsurteile des BGH vor allem die Berücksichtigung allseitiger schuldrechtlicher Vereinbarungen für Satzungsauslegung und Treupflicht in der GmbH (vgl. unter 3).
__________ 57 Zöllner (Fn. 7), a. a. O. 58 Westermann (Fn. 7), a. a. O.
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2. Zöllners Rechtsfolgen-Analyse Zöllner begann seine Auseinandersetzung mit dem aus seiner Sicht überholten Trennungsprinzip mit den beiden folgenden, unverkennbar seine Handschrift tragenden Sätzen59: Eine solche Rechtsauffassung (gemeint: das „klassische“ Trennungsdenken) hat den Charme der clarté für sich, die Attraktivität der Folgerichtigkeit und die – dem Juristen dank ihrer Seltenheit immer teurer werdende – Wärme und Heimeligkeit der Gesetzestreue, und sei es auch nur der scheinbaren. Sie reißt aber auseinander, was die Gesellschafter, namentlich bei der allseitigen Gesellschaftervereinbarung, meist als Einheit begreifen und was im Gesellschaftsalltag auf vielfältige Weise ineinanderwirkt.
Aus dieser eindeutig praxisbezogenen, neuen Sicht fiel es ihm dann nicht schwer, unter Hinweis auf die Untersuchungen von Noack zu der im Mittelpunkt seiner Prüfung stehenden These von den „Wechselwirkungen zwischen Satzung und Gesellschaftervereinbarung“ zu kommen. Unter den sieben hierzu von ihm hinterfragten Rechtsbereichen erweisen sich allerdings nur drei als unmittelbar einschlägig für die Thematik, weil nur sie sich mit dem „Hinüberwirken“ von Gesellschaftervereinbarungen auf die Satzung beschäftigen. Dabei ging es ihm – neben den schon zuvor bekannten, auch von Noack60 ausführlich erörterten Fragen der Satzungsauslegung unter Heranziehung von Gesellschaftervereinbarungen61 und deren Ausstrahlung auf die Treupflicht in der GmbH62 bzw. auf die Anfechtung von Gesellschafterbeschlüssen wegen Verstoßes gegen die genannten Vereinbarungen63 – auch um die Rechtsfolgen eines Widerspruchs zwischen Satzung und Gesellschaftervereinbarung. Als Beispiel erwähnte er einen zwischen den Gesellschaftern trotz satzungsrechtlichen Verbots geschlossenen Stimmbindungsvertrag64. Insoweit räumte er der späteren schuldrechtlichen Vereinbarung jedenfalls dann den Vorrang gegenüber der Satzung ein, wenn an ihr alle Gesellschafter beteiligt waren; auch eine frühere Stimmrechtsabrede solle nur dann gegenüber dem späteren Satzungsverbot zurücktreten, wenn für die Satzungsänderung alle Gesellschafter gestimmt hätten. Wirksamkeitskriterien sollten also, unabhängig von der jeweiligen Regelungsebene, ausschließlich der zeitliche Rang und die Beschluss-(Vereinbarungs-)mehrheiten sein, nicht dagegen der jeweilige Ort der Regelung oder die Möglichkeit, dass durch einen Vorrang zugunsten der Gesellschaftervereinbarung Drittinteressen berührt werden. Aus der Sicht der „Einheit der
__________ 59 60 61 62 63 64
Zöllner (Fn. 7), S. 97. Noack (Fn. 6), S. 80 ff. Zöllner (Fn. 7), S. 105 ff. Zöllner (Fn. 7), S. 107 ff. Zöllner (Fn. 7), S. 108. Zöllner (Fn. 7), S. 99 f.
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(beide Regelungsebenen umfassenden) Verbandsordnung“ ist das zwar folgerichtig, macht aber auch die Problematik dieses Postulats deutlich. Demgegenüber führen die übrigen vier von Zöllner diskutierten Regelungsbereiche für die Auseinandersetzung zwischen Einheits- und Trennungsprinzip nicht weiter. Das gilt zunächst für Fälle einer „Satzungsergänzung“ durch Gesellschafterabreden über zwischen den Gesellschaftern vereinbarte Andienungspflichten und Vorkaufsrechte für GmbH-Anteile65; sie betreffen das Rechtsverhältnis der Gesellschafter untereinander und brauchen – vorbehaltlich der aus § 15 Abs. 4 GmbHG folgenden Formerfordernisse – auch nach der Trennungsthese nicht in die Satzung aufgenommen zu werden. Die Umgehung satzungsrechtlicher Regelungen betreffend Höchststimmrechte oder Vinkulierungsabreden durch abweichende, insbes. nicht allseitig bindende Abreden zwischen Gesellschaftern oder auch solche mit Dritten hält er für grundsätzlich unwirksam66; das steht voll im Einklang mit der aufgrund der Trennungsthese argumentierenden h. M.67. Mit zwingendem Organisationsrecht unvereinbare Gesellschaftervereinbarungen sollen – vorbehaltlich des jeweiligen Normzwecks – deren Wirksamkeit unberührt lassen, obwohl sie in der Satzung nicht wirksam geregelt werden könnten68; das erscheint durchaus vertretbar, spricht jedoch eher gegen als für die Einheitsthese. Und schließlich soll dispositives Organisationsrecht nicht nur durch die Satzung, sondern auch durch Gesellschaftervereinbarungen konkretisiert oder modifiziert werden können, wenn alle Gesellschafter daran beteiligt sind69; das ist auch nach der Trennungsthese jedenfalls dann unbedenklich, wenn dadurch nicht die Rechtsverhältnisse der GmbH, insbes. deren Organisationsstruktur, geändert werden, sondern die Regelung sich auf das Verhältnis zwischen den an der Absprache beteiligten Gesellschaftern beschränkt70. Zieht man die Bilanz dieser Überlegungen, so sind sie – vorbehaltlich der partiellen Zuerkennung von Auswirkungen auf die GmbH-Verfassung auch
__________ 65 Zöllner (Fn. 7), S. 98 f. 66 Zöllner (Fn. 7), S. 101 f. 67 Vgl. nur K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 47 Rz. 47 f.; Koppensteiner in Rowedder/
Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 47 Rz. 30 f.; Overrath (Fn. 28), S. 42 ff. (46 ff.). 68 Zöllner (Fn. 7), S. 102 f. 69 Zöllner (Fn. 7), S. 103 f. 70 So bei Vereinbarungen über eine von § 29 Abs. 3 GmbHG abweichende Gewinnverteilung oder über Ausgestaltung und Ablauf der Gesellschafterversammlung, während die Übertragung des Weisungsrechts der Gesellschafterversammlung gegenüber den Geschäftsführern auf einen Beirat (Beisp. bei Zöllner [Fn. 7], S. 103 f.) nach dem Trennungsprinzip wirksam nur in der GmbH-Satzung geregelt werden kann.
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bei nicht allseitigen Gesellschaftervereinbarungen71 – trotz des von Zöllner vertretenen grundsätzlichen Paradigmenwechsels vom Trennungs- zum Einheitsprinzip nicht so revolutionär, wie man dies angesichts der von ihm betonten Notwendigkeit eines Neuansatzes und angesichts seiner ausgeprägten Skepsis gegenüber den „alten Vorstellungen zum Charakter der GmbH“72 hätte erwarten können. Offenbar fällt es auch Zöllner nicht ganz leicht, sich der „Wärme und Heimeligkeit der Gesetzestreue“ zu entziehen, eine Grundhaltung, die er in anderen Zusammenhängen bekanntlich besonders prononciert bekundet hat73. 3. Westermanns Berufung auf die Privatautonomie der GmbH-Gesellschafter Im Ansatz weniger weitgehend als Zöllner, wenn auch ähnlich wie er durch die von Noack entwickelte Einheitsthese motiviert, hat Westermann in seiner Hachenburg-Vorlesung74 den Standpunkt vertreten, es widerspreche dem Gesellschaftsrecht nicht grundsätzlich und generell, wenn die Gesellschafter unterhalb der Satzungsebene eine in ihrer Wirksamkeit teilweise der Satzung vergleichbare autonome Ordnung der Zwecksetzung des Verbandes und der Kräfteverhältnisse in ihm schaffen, die im dispositiven Bereich echte korporative Wirkungen entfaltet und andererseits Einflüsse aus der Satzungssphäre hinnehmen muss.
Eine Gleichbehandlung der verschiedenen Arten von Kapitalgesellschaften (AG und GmbH) hielt er insoweit nicht für geboten. Vielmehr bestünden mit Blick auf die GmbH wegen ihrer rechtstatsächlichen Nähe zur Personengesellschaft keine Bedenken dagegen, dem BGH in der – seinerzeit die Fachwelt überraschenden – Aussage im Kerbnägel-Fall zu folgen, die einverständliche schuldrechtliche Regelung von Gesellschaftsangelegenheiten außerhalb der Satzung sei „zumindest solange zugleich als eine solche der Gesellschaft zu behandeln, als dieser nur die aus der Abrede Verpflichteten angehören“75. Das folge aus der Privatautonomie der Gesellschafter und könne sich – auch abgesehen von Fällen der Satzungsdurchbrechung – ins-
__________ 71 So in der Tat Zöllner (Fn. 7), S. 106 für den Rückgriff auf partielle Gesellschafterab-
72 73
74 75
sprachen zur Auslegung der GmbH-Satzung, wenn entweder die nichtbeteiligten Gesellschafter sie „zustimmend zur Kenntnis genommen“ (?) haben oder wenn das Auslegungsergebnis für sie ohne Relevanz ist – die mit solchen Kriterien verbundene, für die Auslegung nachteilige Rechtsunsicherheit ist unverkennbar. So Zöllner (Fn. 7), S. 106, für den die Anhänger der strikt objektiven Auslegungsmethode der gesellschaftsrechtlichen „Steinzeit“ entstammen. Vgl. nur seinen dezidierten Widerspruch gegen die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Außen-GbR in FS Gernhuber, 1993, S. 563 ff. und in FS Kraft, 1998, S. 701 ff. Westermann (Fn. 7), S. 39. Westermann (Fn. 7), S. 42 unter Bezugnahme auf BGH, NJW 1983, 1910 (1911).
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bes. in Bezug auf die Satzungsauslegung und auf die Anfechtbarkeit solcher Gesellschafterbeschlüsse wegen Treupflichtverletzung auswirken, die zwar nicht gegen die Satzung, wohl aber gegen schuldrechtliche Abreden verstoßen. Damit ging es ihm darum, die von einigen Autoren76 schon in früheren Reaktionen auf die Anfechtungsurteile des BGH vertretene, noch vom Boden der Trennungsthese aus entwickelte Rückwirkung derartiger Vereinbarungen auf die Satzung mit Blick auf deren Auslegung und die Treupflicht in der GmbH in den größeren Zusammenhang des Einheitsdenkens zu stellen77. Zugleich deutete er freilich auch an, um systematisch berechtigten Einwänden Rechnung zu tragen, wohin die Reise eines solchen „modernen“ Denkens geht, nämlich zur weitgehenden Annäherung der GmbH an die verschiedenen Arten von Personengesellschaften78; dies freilich ohne der Annäherung auch in Bezug auf die jeweilige, deutlich unterschiedliche Haftungsverfassung Bedeutung zuzumessen.
V. Zwischenbilanz und Folgerungen 1. Beschränkte Tragweite des Theorienstreits Die Bestandsaufnahme (vorstehend unter III und IV) zur Tragweite der neueren, für den Übergang vom Trennungs- zum Einheitsdenken streitenden Ansichten hat zwar erkennen lassen, dass der von der Tübinger Schule vertretene Perspektivenwechsel im Ansatz geeignet ist, langjährig anerkannte Grundlagen unseres Organisationsrechts in Frage zu stellen und systemüberwindend zu deutlicher Annäherung zwischen Personengesellschaften und personalistisch strukturierten Gesellschaften mbH zu führen. Die praktische Reichweite der mit der neuen Sicht verbundenen Unterschiede beschränkt sich aber aus einer Reihe von Gründen auf bestimmte Rechtsbereiche und Fallgestaltungen. Insbesondere ziehen auch die Vertreter des Einheitsdenkens die folgenden, allgemein anerkannten Grundsätze nicht in Zweifel, dass –
die Vorschriften des GmbHG über die Form und den Mindestinhalt der Satzung sowie über die notwendig in der Satzung selbst zu treffenden Regelungen durch die neue Sichtweise nicht in Frage gestellt werden,
–
es bei den unterschiedlichen Mehrheitsanforderungen für Änderungen der Satzung bzw. der Gesellschaftervereinbarungen verbleibt,
–
die Verbindlichkeit schuldrechtlicher Vereinbarungen sich nicht automatisch auf den Erwerber eines GmbH-Anteils erstreckt, sondern von dessen Beitritt zu diesen Vereinbarungen abhängt,
__________ 76 Vgl. Nachw. in Fn. 5. 77 Westermann (Fn. 7), S. 43 ff. 78 So Westermann (Fn. 7), S. 42.
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–
bei fehlender allseitiger Bindung der Gesellschafter an die schuldrechtlichen Abreden für das Einheitsdenken regelmäßig kein Raum ist79,
–
jedenfalls Interessen Dritter an der GmbH und ihren Rechtsgrundlagen, möglicherweise aber auch solche potentieller Anteilserwerber durch die Einheitsthese nicht tangiert werden dürfen,
–
zwingendes Organisationsrecht zwar zur Nichtigkeit entgegenstehender Satzungsregelungen führt, nicht aber ohne weiteres die Nichtigkeit abweichender Vereinbarungen in schuldrechtlichen Abreden der Gesellschafter zur Folge hat.
Unterschiede sind demgegenüber zu konstatieren einerseits für den Meinungsstand zur Auslegung von materiellem Satzungsrecht ohne oder mit Berücksichtigung von Elementen außerhalb der Satzung und der sonstigen Registerunterlagen, darunter neben einem vom Satzungswortlaut abweichenden, übereinstimmenden Gründerwillen auch dem Bestehen allseitiger satzungsergänzender oder -überlagernder Gesellschaftervereinbarungen, andererseits für die Konkretisierung von Art und Umfang der Treupflicht der GmbH-Gesellschafter, sei es ohne oder aber mit Heranziehung auch der schuldrechtlichen Vereinbarungen unter den Beteiligten. Beide Fragenkreise sind vor allem insoweit von Bedeutung, als es um Anfechtungsklagen gegen Gesellschafterbeschlüsse wegen Nichtbeachtung übereinstimmender Vorstellungen oder Absprachen der Gesellschafter außerhalb der Satzung geht. Sie können aber auch Einfluss auf die Auslegung sonstiger unbestimmter Rechtsbegriffe oder Generalklauseln erlangen, so wenn das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die in der Satzung geregelte Zwangseinziehung eines Geschäftsanteils (§ 34 Abs. 2 GmbHG) oder dasjenige eines Auflösungsgrundes i. S. v. § 61 Abs. 1 GmbHG in Frage steht. Indessen zeigen sich selbst auf diesen Gebieten Konvergenzen zwischen den Anhängern des Trennungsund des Einheitsdenkens, so wenn der Grundsatz objektiver Auslegung der GmbH-Satzung auch unabhängig von bestehenden Nebenabreden in Frage gestellt wird80 oder wenn allseitigen Nebenabreden trotz grundsätzlichen Festhaltens an der Trennungstheorie Rückwirkungen auf die Treupflicht in der GmbH zuerkannt werden81.
__________ 79 Eine Ausnahme hiervon will Noack (Fn. 6), S. 167 dann zulassen, wenn der ange-
griffene Gesellschafterbeschluss gegen eine zwar nicht allseitige, aber von der satzungsändernden Mehrheit getragene schuldrechtliche Abrede verstößt; darin soll jedenfalls bei von der Mehrheit abredewidrig abgelehnter punktueller Satzungsdurchbrechung ein Anfechtungsgrund liegen; so tendenziell wohl auch Zöllner (Fn. 7), S. 104 f. (110). 80 Vgl. die Nachw. in Fn. 54. 81 So Hoffmann-Becking, ZGR 1994, 452 ff. (458 f.); Baumann/Reiss, ZGR 1989, 214 f.; Röhricht in Großkomm.AktG, § 23 Rz. 255; Ehricke (Fn. 5), S. 29 ff. (33).
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Peter Ulmer
2. Bedenken gegen die Rückwirkungsthesen Konzentriert man die Fragestellung auf die beiden vorstehend (unter V. 1) als die eigentlichen Streitfragen aufgezeigten Topoi der Auslegung von GmbHSatzungen und der Beurteilung der Treupflicht der GmbH-Gesellschafter im Licht „satzungsgleicher“ Gesellschafterabreden, so liegt die Frage nicht fern, ob es für das insoweit von den Einheitstheoretikern vertretene „Hinüberwirken“82 von Gesellschaftervereinbarungen auf die GmbH-Satzung einer derartigen systemsprengenden Grundsatzauseinandersetzung zwischen Trennungs- und Einheitsprinzip überhaupt bedurfte. Das gilt umso mehr angesichts des Umstands, dass die Frage nach derartigen Rückwirkungen auf Auslegung und Treupflicht in der GmbH auch schon vor dem Aufkommen des Einheitsdenkens, d. h. als Einschränkung der grundsätzlich beibehaltenen Trennungsthese, in Teilen der Literatur aufgeworfen und bejahend beantwortet worden war83. Auch bleibt zu bedenken, dass ein zentrales Element für die Einheitsthese – mit wenigen Ausnahmen84 – die Beteiligung aller GmbH-Gründer bzw. späteren GmbH-Gesellschafter an den fraglichen Gesellschafterabsprachen im Sinne allseitiger Bindung der Beteiligten auf den verschiedenen Regelungsebenen ist, während die grundsätzliche Trennung der Ebenen (bzw. die Ablehnung möglicher Rückwirkungen der schuldrechtlichen Abreden auf den Satzungsinhalt) auch aus Tübinger Sicht im Wesentlichen außer Streit steht, wenn es um die Relevanz von Absprachen entweder zwischen nur einem Teil der GmbH-Gesellschafter oder bei späterer Veräußerung eines Geschäftsanteils ohne gleichzeitigen Beitritt des Erwerbers zur Gesellschaftervereinbarung geht. Indessen fällt es selbst in dieser auf Auslegungs- und Treupflichtaspekte beim Bestehen allseitiger Gesellschaftervereinbarungen konzentrierten Sicht schwer, systematisch überzeugende Gründe für eine derartige Rückwirkung oder m.a.W. für eine „Öffnung“ des Trennungsdenkens zu finden. Dabei sei den Anhängern dieser „Öffnung“ gerne eingeräumt, dass sie je nach Lage des Falles praktischen Bedürfnissen (oder richtiger: Erwartungen) entgegenkommt und im Streitfall wie insbes. bei von Gesellschaftervereinbarungen abweichenden Beschlüssen der GmbH-Gesellschafterversammlung Gründe der Prozessökonomie für sich hat. Wer diese Aspekte als für die Rechtsanwendung vorrangig ansieht85, wird sich daher nicht schwer tun, sich über die bestehenden systematischen Bedenken hinwegzusetzen und in der „Öffnung“ sogar einen willkommenen Beitrag zur weiteren Annäherung der
__________ 82 So Zöllner (Fn. 7), S. 110. 83 Vgl. zur Auslegung Emmerich in Scholz, GmbHG, § 3 Rz. 75; Roth/Altmeppen,
GmbHG, § 3 Rz. 51; tendenziell auch Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 47 Rz. 79; zur Treupflicht die Nachw. in Fn. 81. 84 Dazu Fn. 71, 79. 85 So außer dem BGH (Fn. 2) auch Zöllner (Fn. 7), S. 97 f. und Westermann (Fn. 7), S. 39 (42).
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personalistisch strukturierten GmbH an die vom Trennungsdenken verschonten Personengesellschaften zu sehen86. Wer sich hingegen an den „alten Vorstellungen zum Charakter der GmbH“87 orientiert, d. h. einerseits an dem unser Organisationsrecht bis heute prägenden Unterschied zwischen Normativsystem und privatautonomer Vereinigungsfreiheit im Rahmen der §§ 705 BGB, 105 HGB, andererseits an der dieser Unterscheidung entsprechenden, erst kürzlich durch § 14 BGB n. F. bestätigten Einteilung in Kapitalgesellschaften als juristische Personen und Personengesellschaften als Gesamthandsgemeinschaften festhält, für den sind objektive Auslegung der GmbH-Satzung und Konkretisierung der Treupflicht in der GmbH anhand der durch die Satzung geprägten Sonderverbindung zwischen den Gesellschaftern keine Fremdkörper in einem vermeintlich einheitlichen Organisationsrecht, sondern konsequenter Ausdruck des nach wie vor geltenden, mit dem Privileg des Haftungsausschlusses der Gesellschafter verbundenen Normativsystems. Bekanntlich war die Frage der Konzeption der GmbH als Kapital- oder Personengesellschaft schon vor Erlass des GmbHG umstritten; der Gesetzgeber hat sich nicht zuletzt aus Haftungsgründen für die erste Alternative entschieden88. An diesem Grundkonzept hat sich bis heute nichts geändert.
VI. Schluss Die zugegeben holzschnittartig komprimierten, dem notwendig beschränkten Umfang eines Festschriftbeitrags Tribut zollenden Gründe gegen eine „Öffnung“ der Satzung für Einflüsse aus „satzungsgleichen“ Abreden ließen sich gewiss um weitere Argumente vertiefen, um der „Durchlöcherung der Trennwand von korporativer und durch Gesellschaftervereinbarung getroffener Ordnung“89 entgegenzuwirken und den „Charme“90 der Trennungsthese auch ihren Gegnern oder Zweiflern ins Bewusstsein zu rufen. So sollte auch aus der viel beschworenen Sicht der Rechtspraxis einsichtig sein, dass klare, von der Zusammensetzung des jeweiligen Gesellschafterkreises unabhängige Auslegungskriterien ihre großen Vorzüge haben, und dass sie es den Beteiligten auch ersparen, die jeweilige Auslegung zusätzlich durch den Streit um deren Relevanz für die Interessen Dritter (Gläubiger oder Anteilserwerber) zu belasten. Auch kann es nicht schaden, wenn die Kautelarpraxis in stärkerem Maße, als es anscheinend zuweilen geschieht, auf die systema-
__________ 86 So Westermann (Fn. 7), S. 42 in Umkehrung der von anderer Seite (Raiser, AcP 194
87 88 89 90
[1994], 495 ff. [512]; ders., AcP 199 [1999], 104 ff. u. a.; a. A. Ulmer, AcP 198 [1998], 113 [119 ff.]) vertretenen Ansicht, die rechtsfähigen Personengesellschaften seien als juristische Personen zu qualifizieren. Vgl. Nachw. in Fn. 72. Vgl. näher Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1990, Einl. Rz. 3 ff. So Zöllner (Fn. 7), S. 97. Zöllner (Fn. 7), a. a. O.
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Peter Ulmer
tischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Regelungsebenen achtet und ihnen trotz verständlicher Publizitätsscheu in der Rechtsgestaltung Rechnung trägt. Schließlich sei im Hinblick auf etwaige, mit dem gewöhnlichen Instrumentarium nicht oder nur unzureichend zu bewältigende Härtefälle daran erinnert, dass die Rechtsprechung es notfalls noch immer verstanden hat, ihnen mit außerordentlichen Rechtsbehelfen wie Einwand widersprüchlichen Verhaltens, Rechtsmissbrauch oder Zurechnungsdurchgriff Rechnung zu tragen91. Der Jubilar und sein Senat haben hierzu, um ein aktuelles, wenn auch auf ganz andere Probleme bezogenes Beispiel zu zitieren, mit dem Institut der Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs nicht unwesentlich beigetragen92. Deshalb sollte auch keine Notwendigkeit dafür bestehen, bei der Treupflicht der GmbH-Gesellschafter von der Trennungsthese abzuweichen und insoweit außer dem durch die Satzung und den Gesellschafterkreis geprägten GmbH-Verband auch die „grundlegenden Vereinbarungen“ sämtlicher Gesellschafter außerhalb der Satzung über die Ziele und Mittel der gemeinsamen Zweckverfolgung für Inhalt und Intensität der Treupflicht zu berücksichtigen93. Dass das Trennungsdenken es nicht ausschließt, bei der Beurteilung eines wichtigen Grundes für die in der Satzung zugelassene Zwangseinziehung oder die Ausschließung aus wichtigem Grund auf sämtliche aus GmbH-rechtlicher Sicht relevanten Verhaltensweisen des betroffenen Gesellschafters zurückzugreifen, darunter neben deliktisch oder strafrechtlich relevanten Sachverhalten auch sonstiges Gesellschafterverhalten, das auf persönliche Unzuverlässigkeit oder fehlende Vertragstreue jenseits der Satzungspflichten schließen lässt94, sei zur Klarstellung und Entkräftung verbliebener Bedenken der Öffnungsanhänger ausdrücklich angefügt. Nach allem empfiehlt es sich, dem Begriff der „satzungsgleichen“ Gesellschaftervereinbarungen trotz der ihnen (scheinbar) zukommenden konfliktüberwindenden Wirkung eine Absage zu erteilen und es bei der guten alten Ordnung zu belassen.
__________ 91 Vgl. nur Happ, ZGR 1984, 168 (173); Ulmer, NJW 1987, 1853 (1857); Winter, ZHR
154 (1990), 259 (277 f.). 92 BGHZ 149, 10 (16 f.); 151, 181 (186 f.); BGH, ZIP 2002, 848 (850); grundlegend dazu
Röhricht in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 83 ff. 93 So aber Röhricht in Großkomm.AktG, § 23 Rz. 255 und die w. Nachw. in Fn. 81.
Zur satzungsrechtlichen Grundlage der Treupflicht in der GmbH grundlegend M. Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 51 f., 63 ff. (67 ff.). 94 Vgl. nur Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1991, Anh § 34 Rz. 10 f.
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Harm Peter Westermann
Die zweigliedrige Personengesellschaft in der Krise Inhaltsübersicht I. Fragestellung 1. Das gesetzliche Regelwerk 2. Gesellschaft ohne gemeinsames Vermögen 3. Anwendungsfälle II. Krisenherde 1. Rechtsstreitigkeiten 2. Wegfall von Gesellschaftern 3. Sonderfälle
III. Die Reaktion auf Krisen 1. Ausschließung des einzigen Komplementärs 2. Lösung durch Übernahmeklage 3. Insolvenz der Gesellschafter und der Gesellschaft 4. Abberufung des einzigen geschäftsführungs- oder vertretungsberechtigten Gesellschafters IV. Schlussbetrachtung
I. Fragestellung 1. Das gesetzliche Regelwerk Die gesetzlichen Vorschriften über Personengesellschaften beruhen auf der Vorstellung des Vorhandenseins mehrerer Rechtsträger, die einen gemeinsamen Zweck verfolgen. Die Ablösung der Rechtsverhältnisse dieser Personengruppe von den einzelnen Personen, obwohl neuerdings auch einer nur zweigliedrigen „Gruppe“ die vom BGH gefundene Rechts- und Parteifähigkeit zukommen kann1, kann anders als bei der Kapitalgesellschaft nicht so weit gehen, dass eine Einmann-Gesellschaft akzeptiert werden könnte2. Diese Gesellschaftstypen geraten also in eine Existenzkrise, wenn das weitere Zusammengehen der beiden Partner nicht mehr möglich oder jedenfalls stark gefährdet ist. Krisenhafte Züge trägt dann auch die Suche nach einem brauchbaren juristischen Regelwerk: Schon die Gesellschaftsverträge eines solchen zweigliedrigen Verbandes sind nicht selten einfach auf Mehrpersonenverhältnisse zugeschnitten und gehen auf die Situation und die Folgen
__________
BGHZ 146, 341; dazu hier nur Ulmer, ZIP 2003, 1113 ff.; K. Schmidt, NJW 2001, 993 ff.; Wertenbruch, NJW 2002, 324; Hadding, ZGR 2001, 712; Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, vor § 705 Rz. 11; H. P. Westermann in Erman, BGB, 11. Aufl. 2004, vor 705 Rz. 18. 2 BGHZ 48, 203 (206); BGHZ 113, 132 f.; BGH, ZIP 1990, 505 f.; Stimpel in FS Rowedder, 1994, S. 477 ff.; Sieveking in FS Schippel, 1996, S. 505 (511 ff.); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2003, § 8 IV 2; Ulmer in MünchKomm. BGB, vor § 723 Rz. 9; H. P. Westermann in Erman, BGB, § 737 Rz. 8; immerhin gibt es beachtliche Gegenmeinungen: Weimar, ZIP 1997, 1769 ff.; Baumann, BB 1998, 230 ff.; Kanzleiter in FS Weichler,1997, S. 39 f.; 48; Raiser, AcP 194 (1994), 495 (505). 1
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einer Zweigliedrigkeit nicht ein, und zwar nicht nur dann, wenn dem Verband bei Schaffung des Gesellschaftsvertrages mehr als zwei Personen angehören, sondern auch im Falle einer Gründung durch nur zwei Partner3. Das kann seine Ursache darin haben, dass man mit dem Hinzutreten weiterer Partner rechnete, aber vielleicht auch nur darin, dass routinemäßig ein Formularvertrag benutzt wurde, der die Zweigliedrigkeit nicht regelt: Sind dann die Bestimmungen, die etwa die Willensbildung bei Streitigkeiten um die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises oder die Handlungsbefugnisse der Partner betreffen, uneingeschränkt anwendbar? Manchmal wird es auch gar keinen Gesellschaftsvertrag geben, etwa dann, wenn eine zweigliedrige Gesellschaft bürgerlichen Rechts durch Eintreten der Voraussetzungen des § 123 Abs. 2 HGB Personenhandelsgesellschaft geworden ist. Es geht also im Großen darum, ob die vertraglichen und/oder gesetzlichen Regeln über die Bewältigung von Krisen im Gesellschafterkreis von Personengesellschaften bei Anwendung auf eine Zweipersonengesellschaft modifiziert werden müssen. Diese Fragestellung ist auch durch eine neuere Gesetzesänderung begründet. Zum einen führen nach § 131 Abs. 3 n. F. HGB Kündigung, Tod oder Insolvenz eines Gesellschafters einer OHG nicht mehr zur Auflösung der Gesellschaft, sondern zum Ausscheiden des betreffenden Partners, das automatisch eintritt und bei der zweigliedrigen Gesellschaft zur Folge haben soll, dass eine liquidationslose Vollbeendigung der Gesellschaft stattfinden muss4, nach verbreiteter Auffassung mit der Folge eines Übergangs des gesamten Gesellschaftsvermögens einschließlich der Verbindlichkeiten auf den verbleibenden „Gesellschafter“. Ob dies wirklich interessengerecht ist, namentlich im Hinblick auf die mögliche weitere Folge eines Abfindungsanspruchs des ehemaligen Mitgesellschafters gegen den Rechtsnachfolger in das „aktive“ und „passive“ Gesellschaftsvermögen, erscheint nicht immer selbstverständlich, zumindest nicht in Bezug auf die Haftung des Kommanditisten, aber auch auf Abfindungsverpflichtungen gegenüber dem ausscheidenden Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Eine weitere Änderung der auf Zweipersonen-Gesellschaften bezogenen Rechtslage folgt daraus, dass für den Bereich der Handelsgesellschaften § 140 Abs. 1 Satz 2 HGB eine Ausschließungsklage auch für die Zweipersonengesellschaft zulässt, was bedeuten soll, dass Rechtsfolge jetzt das Erlöschen der Gesellschaft und die Übernahme des Handelsgeschäfts durch den ande-
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S. etwa den Sachverhalt des Urteils OLG Hamm, ZIP 1999, 1484 = NZG 2000, 250. Hier nur BGHZ 48, 203 (206); BGHZ 71, 296 (300); BGHZ 113, 132 f.; zul. BGH, ZIP 2000, 229 (230); im Schrifttum s. Ulmer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1982 ff., § 142 Rz. 33 f.; Emmerich in Heymann, HGB, 2. Aufl. 1996, § 142 (a. F.) Rz. 23, 30; H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften, Loseblatt Stand 2004, Rz. I 78; ausführliche Diskussion aber bei Eckardt, NZG 2000, 449 (451 ff.).
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ren Teil ist5, womit die Lösung des bisherigen, aber in der Handelsrechtsreform als überflüssig gestrichenen § 142 Abs. 1 und 3 HGB a. F. aufgegriffen wurde. Es wird aber zu prüfen sein, ob sich hier nicht doch Änderungen ergeben haben6, und ob die nach verbreiteter Ansicht lediglich klarstellende Regelung des § 142 HGB a. F. nicht doch eine Funktion hatte, möglicherweise auch nur im Bereich der BGB-Gesellschaft, wo es eine Regelung eines Übernahmerechts nicht gab und nicht gibt. Namentlich das automatische Ende der Gesellschaft mit dem Übergang ihres Vermögens auf den „verbleibenden Gesellschafter“ ist nicht unproblematisch, wenn man nur an den Kommanditisten denkt, der nach dem Ausscheiden des bisher alleinigen Komplementärs übrig bleibt. 2. Gesellschaft ohne gemeinsames Vermögen Diese Fragen spitzen sich zu bei Zusammenschlüssen, die zwar eine Außentätigkeit entfalten und Verbindlichkeiten begründen können, bei denen aber „aktive“ Vermögensgegenstände nicht in ein gemeinschaftliches Vermögen fallen. Dies ist zwar für zweigliedrige Gesellschaften nicht unbedingt typisch, ist aber hier doch häufiger anzutreffen. So ist eine Zweckverfolgung im Sinne des § 705 BGB auch auf der Grundlage möglich, dass die für die Tätigkeit etwa nötigen Sachen oder Rechte im Vermögen einzelner Partner bleiben. Rein konstruktiv mag man in diesen Fällen eine zwingende Notwendigkeit einer gesamthänderischen Bindung darin sehen, dass es stets Sozialansprüche der Gesellschaft gegen die einzelnen Partner geben müsse, und wenn sie auch nur auf Mitwirkung an der Zweckverfolgung gerichtet sind7; aber dieses „Vermögen“ verflüchtigt sich, wenn die Gesellschaft und der bisher gemeinsam verfolgte Zweck von einem der beteiligten Partner allein weiterverfolgt wird, normalerweise automatisch, während ein bisher allein im Vermögen eines Gesellschafters stehender, der Gesellschaft zur Verfügung gestellter Gegenstand durch das Ende der Gesellschaft seine Vermögenszugehörigkeit nicht ändert. Dies ist besonders die Lage bei der Beendigung von Innengesellschaften wie der Unterbeteiligung, wo die Mitgliedschaft an der Beteiligungsgesellschaft allein dem Hauptbeteiligten zustand und zusteht, wodurch eine – unter Umständen auch gesamthänderische –
__________ Universalsukzession, dazu Reiff, Die Haftungsverfassungen nichtrechtsfähiger unternehmenstragender Verbände, 1996, S. 248 ff.; K. Schmidt, AcP 191 (1991), 495 (497 ff.); Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 140 Rz. 3; krit. Eckardt, NZG 2000, 449 (451 ff.). 6 Dagegen K. Schmidt in MünchKomm.HGB, 2004, §§ 141, 142 a. F. Rz. 2, der in § 140 Rz. 10 die – vor allem prozessrechtlichen – Mängel der früheren Regelung zusammenstellt. 7 RGZ 76, 278; Ulmer in MünchKomm.BGB, § 718 Rz. 10; eine auf Binnenbeziehungen beschränkte Außengesellschaft liegt nach Habermeier in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 2003, § 705 Rz. 61 vor, wenn die Gesellschafter die Geschäfte für Rechnung der Gesellschaft, aber nach außen hin im eigenen Namen tätigen. 5
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Bindung bezüglich nicht entnommener und noch nicht unter die Partner der Unterbeteiligung verteilter Gewinne nicht verhindert wird8. Hier zeigt sich übrigens auch, dass die vermögensmäßige Problematik nicht allein auf Außengesellschaften beschränkt ist, sondern auch bei Zusammenschlüssen auftreten kann, deren Teilnehmer keine gemeinsamen Außenbeziehungen unterhalten, mag man hierbei auch nicht die Diskussion um die von der herrschenden Meinung für unmöglich gehaltene Bildung eines Gesamthandsvermögens durch eine Innengesellschaft9 aufgreifen wollen, die sich dadurch lösen lässt, dass die Gesellschafter zwar eine gesamthänderische Bindung bezüglich einzelner Vermögensgegenstände eingehen, aber keine nach außen gerichtete und alle Partner bzw. jetzt „die Gesellschaft“ betreffenden gemeinsamen Geschäfte anstreben und betreiben10. 3. Anwendungsfälle Zur Veranschaulichung des Fragenkreises muss ein kurzer Blick auf die wichtigsten Anwendungsfälle der zweigliedrigen Personengesellschaften mit und ohne Gesellschaftsvermögen geworfen werden. Keine Besonderheiten gegenüber Mehrpersonengesellschaften scheinen kleingewerbliche Betriebe, aber auch kaufmännische Unternehmen im Handel oder in den verschiedenen Dienstleistungsbranchen aufzuweisen. Hier wird – von der Frage der Verbindlichkeiten abgesehen – auch die Fortsetzung des Betriebes nach einer Beendigung der Zweier-Gemeinschaft durchaus in Betracht kommen. Schwieriger ist dies bei Innengesellschaften wie einer Unterbeteiligung oder einer „bürgerlich-rechtlichen stillen Beteiligung“11. Während es sich hier hauptsächlich um Gesellschaften bürgerlichen Rechts handelt (auch bei der problematischen Figur der sogenannten EhegattenInnengesellschaft12), können ähnliche Fragen auch bei bestimmten gemeinsam betriebenen kaufmännischen Unternehmen auftreten, die i. d. R. Außengesellschaften sein werden – so die OHG oder KG mit nur zwei Gesellschaftern –, aber nicht unbedingt sein müssen. Ein Beispiel für die letztere Gestal-
__________ 8 H. P. Westermann in Erman, BGB, § 718 Rz. 2. 9 Für die Zulässigkeit Ulmer in MünchKomm.BGB, § 705 Rz. 232 ff., 280, 282; H. P.
Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, S. 201 ff.; im Sinne der h. M. hier nur K. Schmidt (Fn. 2), § 60 I 2 b. 10 In diesem Sinne jetzt Habermeier in Staudinger, BGB, § 705 Rz. 58. 11 Dazu näher Ulmer in MünchKomm.BGB, § 705 Rz. 286 ff.; K. Schmidt (Fn. 2), § 62 II 1 a; Habermeier in Staudinger, BGB, § 705 Rz. 60; H. P. Westermann in Erman, BGB, § 705 Rz. 68; zum Zusammenschluss solcher „Stiller“ zur gemeinsamen Geltendmachung ihrer Rechte s. BGH, WM 1987, 1361 mit Kurzkomm. Blaurock, EWiR § 230 HGB 1/87. 12 Dazu zuletzt BGH, NJW 1995, 3383; BGHZ 142, 137; OLG Zweibrücken, FamRZ 2001, 1011; Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 4. Aufl. 1994, § 20 III 6; Ulmer in MünchKomm.BGB, vor 705 Rz. 73 ff.; H. P. Westermann in Erman, BGB, vor § 705 Rz. 50.
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tung sind manche Gemeinschaftsunternehmen (joint ventures und Konsortien, bei denen nach außen nur ein Gesellschafter handelnd in Erscheinung tritt, der auch die eingegangenen Vertragsbeziehungen auf sich konzentriert), während etwa im Bereich der Vermarktung von Immaterialgüterrechten, besonders Marken und Warenzeichen sowie von Datenbeständen, vielleicht auch nur einer individuellen Geschäftsidee, eine gemeinsame Außenbeziehungen begründende Tätigkeit der Partner stattfindet, ohne dass darum die genutzten Rechtsgüter zwingend in ein gemeinschaftliches Vermögen übergehen. Wiederum kann dann ein obligatorisches Nutzungsrecht als Gesellschaftsvermögen betrachtet werden, aber mit der Beendigung der Zusammenarbeit der beiden Partner entfällt dieses Nutzungsrecht in aller Regel automatisch, so dass sich auch die Frage nach der Übernahme des Geschäfts und ihrer Folgen in besonderer Weise stellt. Unter den Folgen einer Schrumpfung des „Gesellschafterbestandes“ auf einen der bisherigen Partner haben in der jüngeren Diskussion auch die Konsequenzen für die Haftung eine Rolle gespielt. Sie zeigen sich am deutlichsten beim Ausscheiden – das auch durch Eröffnung eines Insolvenzverfahrens verursacht sein kann – des einzigen Komplementärs einer KG, wobei noch zu unterscheiden ist zwischen Gesellschaften mit nur einem oder mehreren Kommanditisten13. In den Gesellschaftsverträgen ist dieser Fall erfahrungsgemäß – obwohl dies eigentlich verwundert – eher selten geregelt.
II. Krisenherde Gemeint ist nicht, jedenfalls nicht als Untersuchungsgegenstand, die wirtschaftlich-finanzielle Krise des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens, sondern eine die Existenz des Verbandes bedrohende Entwicklung der gesellschaftsrechtlichen Beziehungen der Gesellschafter – obwohl diese natürlich mit einer wirtschaftlichen Gefahrenlage verbunden sein kann. 1. Rechtsstreitigkeiten Hier geht es zunächst um Streitigkeiten, die einen Partner dazu veranlassen, die Ausschließung des anderen aus der Gesellschaft zu versuchen, was bei einer mehr als zweigliedrigen Handelsgesellschaft nach § 140 HGB unter Ausdehnung dieser Regelung auf den Fall der Zweigliedrigkeit (§ 140 Abs. 2 HGB) möglich ist. Bei der BGB-Gesellschaft fehlt eine dem § 140 HGB entsprechende Regelung, und § 737 BGB scheint auf den Fall zugeschnitten, dass im Gesellschaftsvertrag ein Fortbestehen der Gesellschaft „unter den übrigen Gesellschaftern“ vereinbart ist. Das erweckt den Eindruck, als sei eine Ausschließung nur möglich, wenn nach ihr noch wenigstens zwei Gesellschafter übrig bleiben. Diese Lesart ist jedoch überholt, in dem Sinne,
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13 Hierzu zunächst nur Frey/v. Bredow, ZIP 1998, 1621 ff.
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dass auch bei einer Zweimann-Gesellschaft bei Vorliegen eines wichtigen Grundes eine Ausschließung möglich ist, wenn der Vertrag eine Fortsetzungsklausel enthält, wobei Folge die Übernahme durch den die Ausschließung betreibenden Gesellschafter sein soll14. Die Fortsetzungsklausel muss auch nicht ausdrücklich den Fall der Zweigliedrigkeit behandeln, solange als Wille der Gesellschafter deutlich wird, dass das Unternehmen aufgrund des Auseinanderbrechens des Gesellschafterkreises nicht liquidiert werden soll, was also auch dann nicht gelten soll, wenn in einer Mehrpersonengesellschaft einer der Teilhaber allen anderen wichtige Gründe für eine Ausschließung vorwerfen kann15. Man kann dies so formulieren, dass die Fortsetzungsklausel ein Übernahmerecht begründet und damit die Übernahme an die Stelle der Auflösung tritt. Im Bereich der Personenhandelsgesellschaft bedarf es keiner Fortsetzungsklausel im Vertrag, da das Bestandsinteresse bei Wechsel im Gesellschafterkreis jetzt durch § 131 HGB als vorrangig erklärt ist. § 140 Abs. 1 Satz 2 HGB n. F. ebnet daher den im früheren § 142 HGB a. F. noch vorhandenen Unterschied zwischen Ausschließungs- und Übernahmeklage ein. Ob dies freilich alle bisher streitigen Einzelheiten betrifft16, ist ebenso wie für die zweigliedrige BGB-Gesellschaft noch zu klären. Die Versuche zur Ausschließung sind nicht die einzige, mit Rücksicht auf den – auch hier noch zu erörternden – Grundsatz des „milderen Mittels“ auch nicht die häufigste Bedrohung für den Bestand der Gesellschaft. An ihre Seite treten die Gestaltungsklagen auf Entziehung der Geschäftsführungsund Vertretungsmacht, die, wenn sie sich gegen den einzigen geschäftsführungs- und vertretungsbefugten Gesellschafter richten, dem Einwand begegnen können, dies sei nicht zulässig, da die Gesellschaft ohne einen vertretungsbefugten persönlich haftenden Gesellschafter nicht existieren könne17.
__________ 14 BGHZ 32, 307 (317); Rimmelspacher, AcP 173 (1973), 1 (10 ff.); Grunewald, Die
Ausschließung aus Gesellschaft und Verein, 1987, S. 33; Ulmer in MünchKomm. BGB, § 737 Rz. 6; H. P. Westermann in Erman, BGB, § 737 Rz. 8; a. M. Canter, NJW 1965, 1553 ff.; eher für die Annahme einer Einpersonen-GbR Habermeier in Staudinger, BGB, § 737 Rz. 5; sehr zurückhaltend auch K. Schmidt in MünchKomm.HGB, § 140 Rz. 6 (allenfalls bei unternehmenstragenden Gesellschaften). Eingehend zum gesamten Thema die vom Verf. betreute Tübinger Dissertation von Raible, Die zweigliedrige BGB-Gesellschaft, Kap. 4.1.4.; zum „gesetzlichen Übernahmerecht“ (das also ohne eine über eine Fortsetzungsklausel hinausgehende Vertragsregelung besteht) ebenda Kap. 5.3.1. 15 Näher Kulka, Die gleichzeitige Ausschließung mehrer Gesellschafter aus Personengesellschaften und GmbH, 1983, S. 210 ff.; H. P. Westermann in Erman, BGB, § 737 Rz. 8; näher auch Raible (Fn. 14), Kap. 5.2.2.6. zum Fall einer durch Gesellschaftsvertrag vereinbarten Ausschließungsmöglichkeit. 16 Dafür K. Schmidt in MünchKomm.HGB, §§ 141, 142 a. F. Rz. 2; s. auch bereits § 140 Rz. 14. 17 BGHZ 51, 198 (200); BGH, NJW 1998, 1225; BGH, WM 2002, 342 f.; v. Gerkan in Röhricht/v. Westphalen, HGB, 2. Aufl. 2001, § 127 Rz. 1; Emmerich in Heymann, HGB, § 127 Rz. 4a; Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, § 127 Rz. 2; abw. aber K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (240 ff.); Habersack in MünchKomm.HGB, § 127 Rz. 8.
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Wie man auch zu dieser Frage stehen mag (näher unten III. 4), so kann doch jedenfalls gesagt werden, dass aus den genannten Gestaltungsklagen sehr leicht eine Bestandskrise der Gesellschaft werden kann, wenn man nämlich die nach verbreiteter Ansicht unzulässige Abberufungsklage durch eine Auflösungsklage ersetzt oder – wozu hier noch etwas zu sagen sein wird – die Kommanditisten, die gegen den einzigen Komplementär – auch eine Komplementär-GmbH – erfolgreich auf Entziehung vorgegangen sind, auf die Lösung verweist, einen anderen Komplementär zu suchen oder die Liquidation zu betreiben18. Der betreffende Gesellschafter selber wird vor die Aussicht gestellt, ohne Geschäftsführungs- und Vertretungsmacht in der Gesellschaft zu verbleiben, gewöhnlich eine Auflösung oder sein Ausscheiden bevorzugen, so dass es auch hier mit der Gesellschaft zu Ende gehen kann. 2. Wegfall von Gesellschaftern Dass bei der Personenhandelsgesellschaft Kündigung, Tod oder Konkurs eines Gesellschafters nicht mehr zur Auflösung der Gesellschaft, sondern zum Ausscheiden des betroffenen Gesellschafters führen, ist schon erwähnt. Die Kündigung ist also im Regelfall Austrittskündigung19, auch hier mit der Folge des Anfalls eines etwaigen Gesellschaftsvermögens beim Kündigungsgegner20. Dies erfordert bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts eine vertragliche Fortsetzungsklausel21; fehlt sie (was bei einer von Anfang an zweigliedrigen Gesellschaft nicht selten der Fall sein wird), so wird die Gesellschaft aufgelöst, was dazu zwingt, die Kündigungserklärung genau daraufhin zu prüfen, ob eine Austritts- oder Auflösungskündigung gewollt ist, und auch die vertragliche Fortsetzungsklausel muss in einer dem Bestimmtheitsgrundsatz genügenden Weise erkennen lassen, welche Fälle eines möglichen Ausscheidens (Kündigung durch Gesellschafter oder Privatgläubiger, Gesellschafter-Insolvenz) zum Ausscheiden des betreffenden Gesellschafters, im Fall der zweigliedrigen Gesellschaft also zur Übernahme durch den anderen führen sollen. Für die BGB-Gesellschaft ist auch hier noch nicht völlig klar, ob es zu einer automatischen Übernahme oder zu einem Übernahmerecht des Kündigungsgegners kommt. Zum Teil ist etwas pauschal von einem „Recht auf Gesamtrechtsnachfolge des übrig bleibenden Gesellschafters beim Ausscheiden des anderen“ die Rede22, was nach der Zubilligung eines Anspruchs oder eines Gestaltungsrechts aussieht; zum Teil wird jedenfalls
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18 Hierzu K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (240 ff.). 19 Zu dieser Bezeichnung K. Schmidt in MünchKomm.HGB, § 131 Rz. 77; Lorz in
Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 131 Rz. 2. 20 Näher dazu Habersack in Schriftenreihe der Bayer Stiftung, Bd. 5, 1999, S. 73 ff.;
Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 131 Rz. 43; v. Gerkan in Röhricht/ v. Westphalen, HGB, 2. Aufl. 2001, § 131 Rz. 15. 21 Zu ihrer möglichen Interpretation als Einräumung eines Übernahmerechts bei der Kündigung OLG München, BB 1981, 1117; VG Magdeburg, DB 2002, 128. 22 OLG Hamm, ZIP 1999, 1484 = NZG 2000, 250.
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die Möglichkeit eines automatischen Rechtsübergangs bezweifelt23. Passt man dagegen die Rechtsfolge des Ausscheidens bei den Formen der Personengesellschaft aneinander an, so kann sich sowohl bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts wie auch bei der Handelsgesellschaft das Problem stellen, dass ohne eine Übernahmeerklärung des „verbleibenden“ Gesellschafters die bis dahin für den Gesellschaftszweck genutzten Gegenstände auf ihn allein übergehen, ihn also auch die etwa bestehenden Verbindlichkeiten allein treffen (was vor allem für den bisher alleinigen Kommanditisten sehr unangenehm sein kann) und er zusätzlich den Ausscheidenden abfinden muss. Diese „aufgedrängte“ Übernahme ist bei den Reaktionen auf die Krise und ihre Rechtsfolgen noch zu besprechen, siehe unten III. 1. Eine besondere Problematik ergibt sich sodann noch durch den Wegfall des einzigen Komplementärs, etwa durch den Tod einer natürlichen Person oder die Insolvenz einer Komplementär-GmbH, Vorgänge, die unabhängig von der Zahl der der Gesellschaft angehörenden Kommanditisten diese vor die Frage stellen, wie es mit der Gesellschaft weitergehen soll, wenn nicht eine Simultan-Insolvenz (der Komplementärin und der KG) stattfindet. Das ist vor nicht allzu langer Zeit praktisch geworden (näher unten III. 3), wobei wiederum auch die Schuldenhaftung der bisherigen Kommanditisten bei einer auch nur vorübergehenden Fortführung der Gesellschaft ohne den automatisch ausgeschiedenen Komplementär in Rede steht. In allen diesen Fällen stößt somit die ohne eine rechtsgeschäftliche Regelung eintretende Fortführung der Gesellschaft auf Bedenken unter Gesichtspunkten der Angemessenheit der Rechtsfolgen, eine echte Krisenbewältigung kann darin nicht gesehen werden. 3. Sonderfälle Einige Sonderfälle können das an sich einigermaßen klare Bild noch etwas verdunkeln. Häufig beruht die Krise auf beiderseitigen Vorwürfen der Gesellschafter, so dass sie jeweils auf den anderen bezogene Ausschließung- bzw. Übernahmebeschlüsse fassen. Das kann zunächst die Wichtigkeit der Gründe beeinflussen, und der Richter, der mit den entsprechenden Gestaltungsklagen oder umgekehrt mit den Feststellungsklagen befasst ist, wird sich, wenn er die Ausschließung oder Übernahme an sich für berechtigt hält, überlegen, ob es nicht stattdessen zur Auflösung der Gesellschaft kommen muss24. Das würde auch die Rechtsfolgen des Auseinandergehens beeinflussen, das Ergebnis ist allerdings nicht ganz leicht zu erreichen. Zum einen ginge es nicht an, jetzt bei ungefähr gleich schweren Pflichtverstößen der Gesellschafter die Übernahmeerklärungen getrennt – etwa nach dem Zeitpunkt der Erklärung –
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23 Hadding in Soergel, BGB, 11. Aufl. 1985, § 730 Rz. 22. 24 Zum folgenden eingehend Raible (Fn. 14), Kap. 5.3.1.8.
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zu betrachten, da dann die zufällig zuerst erhobene Feststellungsklage abgewiesen werden müsste und die spätere Übernahmeerklärung des Klägers wegen der erfolgten und danach wirksamen Übernahme durch den Beklagten ins Leere ginge25. Nichts wesentlich anderes gilt, wenn ein Gesellschafter wegen des Verhaltens des anderen kündigt, da dies zu seinem Ausscheiden führt und dem anderen sozusagen das Feld überlässt. Da in der Handelsgesellschaft die Ausschließung bzw. Übernahme in Ermangelung anderweitiger vertraglicher Regelung durch Gestaltungsklage betrieben werden muss, besteht aber jedenfalls die Möglichkeit, auf die Klageanträge einzuwirken, um zur Auflösung gem. § 133 HGB zu gelangen (vgl. § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Eine entsprechende Lösung stellt § 737 BGB für die BGB-Gesellschaft nicht bereit. Da der die Verhältnisse als untragbar empfindende Gesellschafter, wie soeben gesagt, nicht wird kündigen wollen, bleibt nur die Überlegung, ob man in der Übernahmeerklärung eines „unzumutbaren“ Partners eine Treuwidrigkeit mit der Folge sehen kann, dass eine Kündigung des vertragstreuen Gesellschafters zur Auflösung der Gesellschaft führt, aber im Liquidationsstadium noch die Übernahme erklärt werden kann26.
III. Die Reaktion auf Krisen Es liegt etwas daran, für den Fall, dass die Krise zum Auseinandergehen der Gesellschaft geführt hat, die als „Einmann-Gesellschaft“ ja nicht fortgesetzt werden kann, die Inhaberschaft an dem bisher gemeinsamen Unternehmen und die Zuordnung etwaiger im Unternehmen genutzter Vermögensgüter sowie der hierbei entstandenen Verbindlichkeiten und schließlich die vermögensmäßige Auseinandersetzung der bisherigen Partner interessengerecht bestimmen zu können. Dies muss geschehen, ohne dass aus den genannten Gründen die verbreiteten gesellschaftsvertraglichen Regelungen hierzu viel beitragen könnten. 1. Ausschließung des einzigen Komplementärs Eine Ausschließungsklage gegen den einzigen Komplementär einer KG wird wie eine Klage auf Entziehung seiner Geschäftsführungsmacht grundsätzlich für möglich gehalten27, und zwar, wie sich in Bezug auf die Ausschließung
__________ 25 Zu diesem Gesichtspunkt des Wettlaufs der Gesellschafter mit ihren beiderseiti-
gen Übernahmeerklärungen Sandrock, JR 1969, 323 (326). 26 In diese Richtung BGH, WM 1964, 419; einen Anspruch auf Liquidation bejaht
OLG Köln, EWiR § 737 BGB/1/92 mit Kurzkomm. Hegmanns, der eine Gesetzeslücke sieht und diese durch die Liquidation als Kündigungsfolge geschlossen wissen will. 27 Zur Ausschließung BGHZ 6, 113 (114 ff.); BGHZ 51, 198 (200) = JZ 1978, 469 m. Anm. Wiedemann; BGHZ 68, 81; BGH, NJW 1998, 1225; H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 1115 f.; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost,
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jetzt aus § 140 Abs. 1 Satz 2 HGB ergibt, auch durch den einzigen neben dem Komplementär noch beteiligten Gesellschafter. Durch eine Ausschließung muss auf schwere Pflichtverletzungen und die Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses, die vom Beklagten zu vertreten ist, reagiert werden können; die Tatsache, dass die Gesellschaft hierdurch in eine schwer überwindbare Krise gerät, darf nicht zu einem Freibrief für den Komplementär werden. Das gilt auf der diesbezüglichen Ebene auch für die Abberufungsklage. a) Wird der Ausschließungsklage stattgegeben, so tritt die Gesellschaft ins Liquidationsstadium28. Während eines Rechtsstreits über die Berechtigung der Klage kann nach § 146 Abs. 2 Satz 1 HGB durch das Gericht auf Antrag Drittorganschaft eingeführt werden; wird ein solcher Antrag nicht gestellt, sind die Kommanditisten Liquidatoren29. Das bezieht sich also auch auf den Fall, dass nur ein Kommanditist vorhanden ist, der gegen den Komplementär oder die Komplementär-GmbH vorgeht, und es gilt auch dann, wenn ein Gesellschafter gegen alle Komplementäre erfolgreich geklagt hat. Sind nach der Ausschließung noch mehrere Gesellschafter beteiligt, so bleibt die Liquidationsgesellschaft KG, was allerdings, wenn nicht ein anderer Komplementär gefunden wird, auch tatsächlich so durchgeführt werden muss. Treibt die Gesellschaft darüber hinaus werbende Geschäfte, kann sie nur OHG mit den daraus sich ergebenden Haftungsfolgen sein30. Die klagenden Gesellschafter können die Art der Rückumwandlung in eine KG mit einer natürlichen Person oder einer GmbH als Komplementär vorbeugend schon im Gesellschaftsvertrag31 oder im Rahmen des Rechtsstreits vereinbaren, wodurch es auch erleichtert werden kann, den Widerstand einzelner Partner gegen die Ausschließungsklage im Wege der Mitwirkungsklage zu überwinden32. Die Ausschließungsklage ist also auch im Verhältnis unter nur zwei Gesellschaftern nicht unbedingt eine stumpfe Waffe33, der Klagewillige muss sich allerdings im Hinblick auf die Rechtsfolgen vorsehen, dass sich die Waffe nicht am Ende gegen ihn selber richtet. b) Das kann leicht geschehen, wenn man in der zweigliedrigen Gesellschaft die Ausschließung eines der Gesellschafter ohne weiteres zum Anlass für eine automatische Übernahme des Unternehmens (mit allen Rechten und
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HGB, § 140 Rz. 3; eingehend K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (234 ff.). Zur Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis ebenfalls BGHZ 51, 198 (200); BGH, NJW 1984, 173; Ulmer in Großkomm.HGB, § 117 Rz. 19a; Mayen in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 117 Rz. 2. So schon BGHZ 48, 350 (356); BGH, WM 1971, 21 (23); BGHZ 58, 82; Frey, ZGR 1988, 285; H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 1115. BGH, WM 1982, 1170; K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (237). K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (238). So im Fall BGH, NJW 1988, 1225. Zur Mitwirkungsklage und deren Problematik jetzt H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz I 383 f., I 1120. Hierzu näher bereits H. P. Westermann, NJW 1977, 2186.
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Pflichten) oder einer Gesamtrechtsnachfolge des Verbleibenden in die Position der nicht mehr existierenden Gesellschaft nimmt, also mit unbeschränkter Haftung für alle Altschulden der Gesellschaft34. Dann könnte nämlich derjenige, der sich aufgrund des Verhaltens des Komplementärs zur Ausschließungsklage entschließt, nicht verhindern, dass er infolge der Übernahme des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens mit Aktiven und Passiven nicht nur in die persönliche Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten gerät, sondern auch noch seinen ausgeschlossenen ehemaligen Mitgesellschafter abfinden muss. Dies ist das eigentliche Problem der Krise in der zweigliedrigen Personengesellschaft, aus dem man nur herauskommen kann, wenn man die Folgen des Wechsels von § 142 HGB a. F. zu § 140 HGB n. F. noch einmal überdenkt, insbesondere im Hinblick auf den hierdurch für die zweigliedrige Gesellschaft anscheinend zwingend vorgegebenen Abschied von der als Übernahme gestalteten Ausschließung eines Partners der zweigliedrigen Gesellschaft zur „echten“ Ausschließungsklage. Die Gesetzesänderung wollte an die Stelle eines Übernahmerechts, von dem noch § 142 HGB a. F. ausging, einen automatischen Vermögensübergang setzen35. Das gilt dann auch bei der Kündigung der Gesellschaft durch einen, womöglich gerade den „lästigen“ Gesellschafter, der dem „verbleibenden“ die Gesamtrechtsnachfolge „aufdrängen“ kann. Das Problem hat auch die Begründung zum RegE zum Handelsrechtsreformgesetz (zu § 131 Abs. 2 HGB n. F.) gesehen36, allerdings von dem Ausgangspunkt her, dass sich durch die Neuregelung an dem nach bisherigem Recht anerkannten Mechanismus nichts ändere; eingeräumt wird aber, dass dies bei zweigliedrigen Gesellschaften im Einzelfall zu unbefriedigenden Ergebnissen führen könne. Der Entwurf erwähnte auch eine Abhilfe in Gestalt einer Ablehnung der Übernahme durch den Verbliebenen und eine gemeinsame Liquidation, die aber gesellschaftsvertraglich vorgesehen sein müsse. Da nun aber bekannt ist, dass nur wenige Gesellschaftsverträge sich überhaupt des Problems der Zweigliedrigkeit annehmen37, reicht dies nicht aus, und der Entwurf meint daher, bei unangemessenen Ergebnissen, etwa bei starken Unterschieden zwischen der Erfüllung eines Abfindungsanspruchs und einer unmittelbar an das Ausscheiden sich anschließenden Liquidation, könne „auch die Rechtsprechung eingreifen“. Wie soll das geschehen? Schon die für die Ausschließung des einzigen Komplementärs einer mehrgliedrigen KG soeben vorgestellte Lösung einer vorübergehenden Fortführung als Liquidationsgesellschaft kommt eigentlich nur in Betracht, wenn man
__________ 34 Hierzu und zum Streitstand s. die Nachw. oben Fn. 14, 17. 35 Nach Lamprecht, ZIP 1997, 919 (921 f.) ist sogar eine Übernahmepflicht an die
Stelle des Übernahmerechts getreten. 36 BT-Drucks 13/8444, S. 64 ff. (66). 37 Dazu wiederum Lamprecht, ZIP 1997, 919 (921 r.Sp.); kautelarjuristische Vorsorge
ist auch nach Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, § 131 Rz. 25, angeraten.
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von der Konzeption des automatischen Übergangs des „werbenden“ Unternehmens mit allen Aktiva und Passiva auf den erfolgreichen Kläger ein wenig abrückt. Der Ausgeschlossene, der ohnehin nach § 159 HGB weiterhaftet, kann insbesondere gegenüber einem bisher beschränkt haftenden Mitgesellschafter kaum beanspruchen, dass dieser nunmehr in die volle persönliche Haftung eintritt und zudem die Abfindung aufzubringen hat. Er sollte sich daher auch nicht gegen eine Lösung dahin wehren können, dass der Ausschließungskläger die Folgen der Übernahmepflicht durch eine eigene Anschlusskündigung zu vermeiden sucht, die die bisherige Gesellschaft zur Liquidationsgesellschaft macht, also praktisch doch die vom früheren Recht als Normalfall vorgesehene Auflösungsfolge herbeiführt38. Zeichnet sich die Vorzugswürdigkeit eines solchen Ergebnisses gegenüber der aufgedrängten Übernahme während des Rechtsstreits ab, so könnte die Auflösung auf die Anschlusskündigung und eine Klageänderung hin bereits im Urteil ausgesprochen werden, das dann allerdings nicht auf Ausschließung lautet, sondern auf Auflösung, ohne dass jedoch die Voraussetzungen des § 133 HGB noch geprüft werden müssen. Der Ausschließungskläger muss sich allerdings überlegen, ob er diesen Weg gehen will, da an der Liquidationsgesellschaft zwingend der aus der werbenden Gesellschaft ausgeschlossene beteiligt bleibt und folglich von den nunmehr zu treffenden Entscheidungen nicht ohne weiteres ferngehalten werden kann. Er ist dann auch Liquidator, er könnte aber, wenn sein Verhalten es rechtfertigt, aus dieser Position auf Antrag des Ausschließungsklägers nach § 147 Satz 2 HGB durch das Gericht abberufen werden. 2. Lösung durch Übernahmeklage Von der – wohl herrschenden – Vorstellung, dass eine erfolgreiche Ausschließungsklage bei der zweigliedrigen Gesellschaft zum automatischen – und unausweichlichen – Übergang des bisherigen Gesellschaftsvermögens, unter anderem auch eines von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens, mit allen Rechten und Pflichten auf den „verbleibenden“ Gesellschafter führe, sollten also Abstriche gemacht werden. Das bedeutet freilich nicht, dass die auch hier anerkanntermaßen mögliche Übernahmeklage, die in Betracht kommt, wenn einer der Gesellschafter auf diese Weise den unzumutbar gewordenen Partner loswerden will und die alleinige Schuldnerschaft – auch: bezüglich des Abfindungsanspruchs – nicht scheut, in ihrer Effektivität behindert würde. Es könnte allerdings sein, dass sich einem dementsprechenden Gestaltungsvorhaben besondere Hindernisse entgegenstellen. Das betrifft zum einen die Gründe für eine Übernahme, zum anderen das einzuschlagende Verfahren.
__________ 38 Das schlägt auch Lamprecht, ZIP 1997, 919 (921 r.Sp.) als gesellschaftsvertragliche
Abhilfe vor.
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a) Zu betrachten ist hier zunächst das Verhältnis von Übernahme- und Ausschließungsgründen. Da die herrschende Meinung auch bei der Ausschließung aus einer Mehrpersonengesellschaft hinsichtlich der Beurteilung der Wichtigkeit eines Grundes den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anwendet39 und dies zu dem – als allgemeinen Satz eher problematischen – Grundsatz des „milderen Mittels“ konkretisiert hat40, liegt es nahe, zu überlegen, ob man nicht an die Feststellung eines für eine Übernahme ausreichenden Grundes besonders hohe Anforderungen stellen muss. Dies geschieht zum Teil41. Das verwundert etwas, da doch zumeist davon ausgegangen wurde, § 142 HGB a. F. sei neben § 140 HGB, der dasselbe besagte, überflüssig, auch sollte es aus der Sicht des zum Verlassen des Unternehmens Gezwungenen keinen Unterschied machen, ob dieses von einem oder von mehreren seiner früheren Partner fortgeführt wird. Der Gesetzgeber der Handelsrechtsreform hat sich offensichtlich nicht festlegen wollen, weil er auf die Umstände des Einzelfalls abstellen möchte42, und dies ist auch richtig: Aus der Sicht des Auszuschließenden ist zu beachten, dass er mit seinen Abfindungsansprüchen gegen den „verbleibenden Gesellschafter“ auf einmal mit dessen Privatgläubigern konkurriert, die anders als während der Existenz der Gesellschaft jetzt voll auf das ins Vermögen ihres Schuldners gefallene frühere Gesellschaftsvermögen zugreifen können43. Das kann es im Einzelfall rechtfertigen, seine Ausschließung von besonders erheblichen, von ihm zu vertretenden Gründen abhängig zu machen, während bei einer Auflösung, wie sie sonst – auch bei entsprechender Antragstellung des Ausschließungsklägers, s. oben III. 1 – in Betracht kommt, zunächst die Gesellschaft abgewickelt wird. Auf Seiten des oder der auf Ausschließung drängenden Gesellschafter mag es eine Rolle spielen, dass der bei einem Erfolg dieser Aktion allein Verbleibende unter Umständen dartun muss, dass er selber keinerlei Pflichtverletzungen begangen oder auch nur Anlässe für ein Fehlverhalten des Auszuschließenden gesetzt hat, was angeblich schwerer darzulegen ist als die
__________ 39 BGHZ 4, 108 (111); 51, 98; BGH, DB 1975, 1868; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost,
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HGB, § 140 Rz. 8; Ulmer in Großkomm.HGB, § 140 Rz. 18; K. Schmidt in MünchKomm.HGB, § 140 Rz. 28; H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 1118. Bedenken gegen einen allgemeinen, alle Gestaltungsklagen dieser Art erfassenden Satz bei H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 330; Pabst, BB 1978, 892 ff. K. Schmidt in MünchKomm.HGB, § 140 Rz. 14, freilich mit der Bemerkung, dies habe mit einer Stufenfolge zwischen Ausschließung und Übernahme nichts zu tun; in der Rechtsprechung BGHZ 4, 108; 51, 204; BGH, WM 1961, 32; s. ferner Ulmer in Großkomm.HGB, § 142 Rz. 13; Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, § 140 Rz. 14. S. die RegBegr. BT-Drucks. 13/8444, S. 67, wo es heißt, auch wenn man für die Übernahme einen wichtigeren Grund verlange als für die Ausschließung, so komme es jedenfalls auf die Umstände des Einzelfalls an. Zu diesem Gesichtspunkt besonders Raible (Fn. 14), Kap. 5.3.1.7.2.
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Unzumutbarkeit der Person oder des Verhaltens des Beklagten44; allerdings muss bei einer zwei- wie bei einer mehrgliedrigen Gesellschaft das Verhalten aller Beteiligten, auch unter dem Aspekt der Gleichbehandlung, in die Abwägung einbezogen werden. Am Ende verdunkeln Prinzipien wie dasjenige der Wahl des „milderen Mittels“ die Szene mehr als sie sie erhellen können. b) Kann man also insoweit an der Vorstellung festhalten, dass zwischen Ausschließung eines von zwei Gesellschaftern (bzw. aller restlicher Gesellschafter durch einen) und eines von mehreren Gesellschaftern bezüglich der Gründe kein wesentlicher Unterschied besteht, so haben sich Anpassungen bezüglich des einzuschlagenden Verfahrens nicht vermeiden lassen. In der Handelsgesellschaft steht nach Schaffung des § 140 Abs. 1 Satz 2 HGB fest, dass auch hier das Verfahren einer Gestaltungsklage eingeschlagen werden muss. Sieht der Gesellschaftsvertrag eine vorherige Beschlussfassung der Gesellschafter – womöglich mit qualifizierter Mehrheit – vor, so braucht allerdings der die Ausschließung des einzigen Mitgesellschafters betreibende Partner dieses Verfahren nicht mehr einzuhalten, da der Auszuschließende nicht mitstimmen kann und somit der „Verbleibende“ allein zu entscheiden haben würde. Eine Äußerung des gegenüber dem Willen der Gesellschafter verselbständigten Verbandswillens fände hierbei ohnehin nicht statt45. Fraglich ist aber, ob eine Vertragsregelung, die eine Ausschließung durch Gesellschafterbeschluss an die Stelle eines Gerichtsurteils setzen will46, ohne dies ausdrücklich zu sagen, auch für die zweigliedrige Gesellschaft gilt. Das ließe sich bezweifeln mit Rücksicht auf den Bestimmtheitsgrundsatz, nach dem zumindest Mehrheitsentscheidungen, wie sie angesichts eines solchen Beschlussgegenstandes sonst erforderlich wären, im Vertrag so genau bezeichnet werden müssen, dass eine Gesellschafterminderheit sich auf eine Mehrheitsentscheidung einrichten musste47. Auch dieser Schutzgedanke läuft praktisch leer, wenn (nur noch) ein Gesellschafter die Entscheidung zu treffen hat. Dem steht auch nicht unüberwindlich entgegen, dass der Auszuschließende jetzt nicht einer Gestaltungsklage entgegensehen muss und bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung Gesellschafter bleibt, sondern sich seinerseits mit einer Feststellungsklage gegen die von den anderen Gesellschaftern beschlossene Ausschließung (bzw. Übernahme) wehren muss.
__________ 44 So sehen es etwa v. Gerkan in Röhricht/v. Westphalen, HGB, § 140 Rz. 2; Michalski,
OHG-Recht, 2000, § 140 Rz. 7; K. Schmidt in MünchKomm.HGB, § 140 Rz. 14. 45 OLG Hamm, ZIP 1999, 1484 = NZG 2000, 250 f. 46 Zur Gültigkeit einer solchen Regelung BGHZ 31, 295 (300); BGHZ 68, 212 (214);
BGHZ 81, 263 (265); BGHZ 107, 351; BGH, NJW 1982, 938; BGH, DStR 1997, 1093 m. Anm. Goette; H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 1132; Ulmer in Großkomm.HGB, § 140 Rz. 53. 47 H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 517; zum Bestimmtheitsgrundsatz näher Marburger, NJW 1984, 2252 ff.; K. Schmidt, ZHR 158 (1994), 205 (218 f.); Habermeier in Staudinger, BGB, § 709 Rz. 50 ff.
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Dies wäre nämlich die Rechtslage auch bei der Ausschließung durch Gesellschafterbeschluss einer mehrgliedrigen Gesellschaft48. Bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts liegen die Dinge etwas anders, da hier schon § 737 BGB von einem bloßen Gesellschafterbeschluss als dem einschlägigen Verfahren ausgeht, eine Gestaltungsklage also nicht stattfinden kann49. Wenn aber die Möglichkeit einer Übernahme aus wichtigem Grund bei Vorliegen einer Fortsetzungsklausel im Vertrag generell bejaht wird, so bleibt für die Durchführung nur eine einseitige Übernahmeerklärung50. Dies gilt wiederum auch dann, wenn der Gesellschaftsvertrag an sich einen Beschluss der Gesellschafterversammlung vorschreibt51. Auch hier kann sich der Ausgeschlossene mit der Feststellungsklage verteidigen. 3. Insolvenz der Gesellschafter und der Gesellschaft Ähnliche Probleme wie bei der Ausschließung des vorletzten Gesellschafters und bei einer Kündigung einer zweigliedrigen Gesellschaft stellen sich beim Tod des vorletzten Gesellschafters (dieser „Krisenfall“ kann hier wegen des in vielen Punkten nicht völlig geklärten „Umfeldes“ der Vererbung von Anteilen an Personengesellschaften nicht behandelt werden) und schließlich bei Insolvenz eines Partners einer Zwei-Mann-Gesellschaft. Besonders diskutiert, wenn auch nicht allein mit einem speziellen Blick auf die zweigliedrige Gesellschaft, wurde noch kürzlich der Wegfall des einzigen Komplementärs einer KG, und zwar, worauf bereits hingewiesen wurde52, bei Insolvenz der einzigen Komplementärin einer GmbH & Co. KG. Eine Entscheidung des BGH53 betraf ein Geschehen, das noch mit den vor der Handelsrechtsreform geltenden Vorschriften der §§ 131 Nr. 6, 142, 138 HGB a. F. zu beurteilen war. Im Gesellschaftsvertrag war, wie damals sehr verbreitet, die Auflösung der Gesellschaft wegen des Wegfalls eines persönlich haftenden Gesellschafters abbedungen und durch sein Ausscheiden ersetzt worden. Das führte nach dem BGH in entsprechender Anwendung des § 142 HGB a. F. zur Übernahme der Aktiva und Passiva durch den ver-
__________ 48 BGHZ 91, 132 f.; näher H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4),
Rz. I 1132. 49 BGH, NJW 1960, 1666; zum numerus clausus der Gestaltungsklagen näher
Schlosser, Gestaltungsklagen und Gestaltungsklagerechte, 1966. 50 BGH, WM 1984, 496 f.; Ulmer in MünchKomm.BGB, § 737 Rz. 6; H. P. Wester-
mann in Erman, BGB, § 737 Rz. 10. Zur Ablehnung eines gesetzlichen Übernahmerechts ohne Fortsetzungsklausel im Vertrag BGH, WM 1961, 880 f.; LG München I, NZG 1998, 837; Rimmelspacher, AcP 173 (1973), 1 (9); Ulmer in MünchKomm. BGB, § 737 Rz. 7; H. P. Westermann in Erman, BGB, § 737 Rz. 11. 51 S. das Urteil OLG Hamm, ZIP 1999, 1484 = NZG 2000, 250. 52 Oben I 3. 53 BGH, NZG 2000, 474 und dazu Eckardt, NZG 2000, 449 ff.; schon vorher Frey/ v. Bredow, ZIP 1998, 1621 ff.; zu den Fällen der Insolvenz Liebs, ZIP 2002, 176 ff.; K. Schmidt, GmbHR 2002, 1205 ff.; ders., GmbHR 2004, 1404 ff.
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bleibenden Gesellschafter, also den bisherigen Kommanditisten, als Gesamtrechtsnachfolger, und zwar ohne eine (gestaltende) Übernahmeerklärung. Das zog seine volle persönliche Haftung nach sich, der er durch Einbringung seiner Kommanditeinlage ins Vermögen einer dafür bestimmten GmbH zu entgehen versucht hatte, jedoch vergeblich, weil der BGH ihn bereits als Schuldner sämtlicher Gesellschaftsverbindlichkeiten ansah und die „Erwerberin“ der Kommanditeinlage, die GmbH, folglich als seine Rechtsnachfolgerin habe fungieren können. Namentlich die scharfe Haftungssanktion hat vielfach missfallen, wenigstens solange der verbleibende Gesellschafter, was allerdings bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach neuem Recht nicht mehr der Fall sein kann, bis dahin nur beschränkt haftete, also jedenfalls dann, wenn er Kommanditist einer KG gewesen war. Zum Teil ist vorgeschlagen worden, die Regelung des § 131 Abs. 3 HGB n. F. dahin zu modifizieren, dass die Gesellschaft ins Liquidationsstadium tritt und dort vom Komplementär und dem oder den Kommanditisten abgewickelt wird, wodurch die volle Haftung der Kommanditisten vermieden, aber natürlich der Wille des Reformgesetzgebers unterlaufen würde54. Formal wird die Lösung des HGB-Reformgesetzgebers freilich respektiert, wenn man das durch Ausscheiden des Komplementärs entstandene Gebilde als aufgelöste Gesellschaft behandelt, die dann als „Kommanditgesellschaft i. L.“ bezeichnet wird und von den Kommanditisten zu liquidieren ist55. Das funktioniert allerdings nur bei Vorhandensein mehrerer Kommanditisten und ist angesichts der Ungewöhnlichkeit der Firmierung nicht frei von Verwirrungseffekten aus der Sicht des Rechtsverkehrs. Für den Fall des einzigen Kommanditisten reicht dies auch nicht aus, wenn man nicht, wie vorgeschlagen ist, auch in diesem Zusammenhang einer vom BGH für die Rechtsnachfolge der Beerbung des Komplementärs durch den Kommanditisten entwickelten Lösung folgt, wonach der Kommanditist alleiniger (und damit an sich voll haftender) Inhaber des Unternehmens wird, es aber unter analoger Anwendung der erbrechtlichen Haftungsbeschränkungsmöglichkeiten liquidieren kann56; dies wird neben § 139 HGB auch auf § 27 HGB gestützt57. Dies wie auch die zuerst vorgeschlagene Lösung ist freilich nicht durchzuhalten, wenn das Unternehmen werbend fortgeführt wird, weil dies das Bedürfnis nach Gläubigerschutz weckt, das bei einer Liquidation, bei der ja der Zugriff
__________ 54 Kritisch zu diesem von Frey/v. Bredow, ZIP 1998, 1621 (1624) unterbreiteten Vor-
schlag daher Eckardt, NZG 2000, 449 (454); Koller in Koller/Roth/Morck, HGB, 4. Aufl. 2003, § 131 Rz. 6. 55 So der Lösungsvorschlag von Eckardt, NZG 2000, 449 (454) unter Berufung auf K. Schmidt, ZHR 153 (1989), 270 (279 ff.); Koller in Koller/Roth/Morck, HGB, § 131 Rz. 8. 56 BGHZ 113, 132 = JZ 1991, 731 m. Anm. K. Schmidt; s. auch Lieb, ZGR 1991, 572 ff. 57 Liebs, ZIP 2002, 1716 ff.
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auf das frühere Gesellschaftsvermögen bleibt, nicht besteht, zumal der bisherige Komplementär der Nachhaftung unterliegt. Deshalb muss hier wohl doch das dem Gesetzeswortlaut des § 131 HGB an sich entsprechende Ausscheiden der Komplementär-GmbH aus der KG verworfen und davon ausgegangen werden, dass die Komplementärin Gesellschafterin der Liquidationsgesellschaft bleibt58. Wenn sie nicht ausscheidet, erlischt die KG nicht, jedenfalls nicht aus diesem Grunde. Hiermit ist aber die Problematik noch nicht erschöpft. Es kann nämlich geschehen, dass bei gleichzeitiger Insolvenz der einzigen Komplementärin und der einzigen Kommanditistin die Komplementär-GmbH nach § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG aufgelöst ist, die KG – ihrerseits insolvent – sodann nach § 131 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 161 Abs. 2 HGB, was für den Bestand der KG bedenklich ist, wenn die Kommanditistin ebenfalls eine GmbH & Co. KG ist. Dann kann nämlich die Auflösung der letzteren dazu führen, dass nicht einmal eine zweigliedrige Liquidationsgesellschaft entstanden sein kann, weil das Vermögen der Kommanditistin der verbleibenden Gesellschafterin zugefallen wäre. Der Bestand der unternehmenstragenden KG ist also nur zu erhalten, wenn weder die Komplementär-GmbH noch die Kommanditistin durch ihre Insolvenz ausscheiden59. Dieses Ergebnis ist letztlich nur mit der – im vorigen auch bereits vorgetragenen – Nichtanwendung des § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB auf das „Ausscheiden“ aus einer zweigliedrigen KG zu begründen60. Insolvenzrechtlich hat dies zur Folge, dass zwar die zwei beteiligten Gesellschaften – bei der „doppelstöckigen“ GmbH & Co. KG sogar drei – gleichzeitig, wenn auch durch ein und denselben Verwalter abgewickelt werden können, die unternehmenstragende und eigentlich wichtigste KG aber auch gesellschaftsrechtlich nicht verschwindet. Das ist nicht nur insolvenzrechtlich gedacht, sondern muss als Fortbildung der voreiligen problemverkürzenden Lösung des HGBReformgesetzgebers verstanden werden. 4. Abberufung des einzigen geschäftsführungs- oder vertretungsberechtigten Gesellschafters Unter den Krisenherden wurde oben auch die Abberufung eines Partners einer zweigliedrigen Personengesellschaft aus der Stellung eines Geschäftsführers oder Vertreters genannt. Dabei ist klar, dass die Probleme insofern
__________ 58 K. Schmidt, GmbHR 2002, 1209 (1212). 59 Zum Problem OLG Hamm, GmbHR 2003, 1361, das allerdings die Frage nach dem
Ausscheiden der Komplementär-GmbH glaubte unentschieden lassen zu können, dann aber dennoch eine Vollbeendigung der KG ablehnte. 60 K. Schmidt, GmbHR 2003, 1404 (1406) unter Hinweis auf Frey/v. Bredow, ZIP 1998, 1621 und Liebs, ZIP 2002, 1716 ff. K. Schmidt selber will allerdings eine regelmäßige Nichtanwendung des § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB nicht gelten lassen, sondern will dies nur aus insolvenzrechtlichen Erwägungen ableiten.
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weniger schwer wiegen als bei Ausschließung oder Kündigung, da der Bestand der Gesellschaft mit mehr als nur einem Gesellschafter hier nicht gefährdet ist. Allerdings sind nach wohl h. M.61 Unterschiede danach zu machen, ob nur die Geschäftsführungsbefugnis oder auch die Vertretungsmacht entzogen werden soll. a) Für den ersteren Weg spricht, rein vom praktischen Ergebnis und damit auch vom forensischen Vorgehen her gesehen, dass die h. M.62 die Entziehung der Geschäftsführungsmacht des einzigen vertretungsberechtigten Gesellschafters und damit auch der Komplementär-GmbH als Grund angesehen hat, die Kommanditisten in ihrer Gesamtheit und zusammen mit der bisher allein geschäftsführungsbefugten Komplementärin an der Willensbildung zu beteiligen, wobei insbesondere keine Alleinkompetenz Einzelner entsteht. Man mag aus Respekt vor der Regelung in § 164 HGB die Kommanditisten nicht als geschäftsführungsbefugt bezeichnen, aber eine Beschränkung der zu treffenden Entscheidungen – etwa auf das Innenverhältnis63 – ist praktisch nicht durchzuhalten, solange man sich darüber klar ist, dass bei diesem Vorgehen die Vertretungsbefugnis bei der KomplementärGmbH verbleibt, die dabei aber auszuführen hat, was in der Versammlung aller Gesellschafter – nach § 709 BGB in Ermangelung einer anderweitigen Vertragsregelung nur einstimmig – beschlossen worden ist64. Das führt fast mit Notwendigkeit zu offenen Verhandlungen unter allen Gesellschaftern, obwohl das interne Klima nach einer erfolgreichen Abberufungsklage nicht unbedingt nur von Sachgesichtspunkten bestimmt sein wird65. Vielfach wird dies dazu führen, dass die notwendige Neuordnung nur über das – hier nicht weiter zu erörternde – Institut der Pflicht zur Mitwirkung an Vertragsänderungen möglich ist66. Während der Zeit, die bis zur Durchsetzung dieser Pflicht vergeht, müssten die Beteiligten, wenn denn die Gesellschaft als werbende fortgeführt werden soll, eine Zwischenlösung, zumeist wohl unter Einschaltung nicht zum Gesellschafterkreis gehöriger Personen, finden67, wobei die fortbestehende Vertretungsbefugnis einer aus der Geschäftsführung abberufenen Komplementär-GmbH eine Lösungsmöglichkeit dahin aufzeigt, dass ein Dritter ihr Geschäftsführer werden könnte68. Man muss sich darüber klar sein, dass diese Einzelschritte nur eine eingeschränkte Bewältigung der Krise der zweigliedrigen Gesellschaft bringen
__________ 61 62 63 64 65 66 67 68
Nachweise oben Fn. 17. BGHZ 51, 198 (202); Ulmer in Großkomm.HGB, § 117 Rz. 19a. So K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (239 ff.). Dazu BGHZ 33, 105; A. Hueck, JZ 1961, 89; H. P. Westermann, ZIP 1983, 1670 f. in der Anm. zum Urteil BGH, ZIP 1983, 1068 = NJW 1984, 173. So auch K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (239 ff.). Dazu H. P. Westermann, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 530 ff. Auch dazu K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (240 ff.). Es erscheint nicht überflüssig zu erwähnen, dass dies auch die praktische Lösung in dem durch BGH (Fn. 64) entschiedenen Fall gewesen ist.
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können. Blickt man auf die GmbH & Co. KG mit nur einem Kommanditisten, so ist der Weg zu einer derartigen Lösung natürlich immer noch dornenvoll, aber nicht gänzlich ungangbar. Der BGH69 hat ein denkbares zusätzliches Hindernis für ein solches Vorgehen ausgeräumt, indem er den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Gesellschaft mit nur einer vertretungsberechtigten Komplementär-GmbH nicht dazu herangezogen hat, die klagenden Kommanditisten, die – was ja verbreitete, wenn auch nicht ausschließliche Praxis ist – auch an der Komplementärin beteiligt waren, auf die Abberufung des GmbH-Geschäftsführers als „milderes Mittel“ zu verweisen. Sollten die mit der Geschäftsführung unzufriedenen Kommanditisten in der Komplementär-GmbH die Mehrheit haben, ohne dass der Geschäftsführer gegen eine angestrebte Abberufung durch § 38 Abs. 2 GmbHG geschützt ist, wäre allerdings dieser Weg vorzugswürdig. Auch das kann in einer Mehrpersonengesellschaft dazu beitragen, eine Neuordnung im Sinne der Kommanditisten zu erzwingen, es wird allerdings in der zweigliedrigen Gesellschaft, in der sich der mehrheitlich Beteiligte kaum mit den Rechten eines Kommanditisten begnügt haben wird, nicht oft in Betracht kommen. b) Die Abberufung des einzigen vertretungsberechtigten Gesellschafters steht vor dem Problem, dass hier aus dem Grundsatz der Selbstorganschaft70 Bedenken abgeleitet werden. Lässt man die Einwände gegen die Durchsetzung dieses Dogmas an dieser Stelle, die wegen der Krisensituation eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte, einmal dahinstehen, so bedeutet dies, dass die bei der Geschäftsführungsmacht trotz einiger Vorbehalte mögliche Lösung einer Übertragung der Organkompetenz auf die Gesellschaftergesamtheit hier unmöglich ist, weil die in § 170 HGB verfügte Ausschließung der Kommanditisten von der Vertretung nach h. M.71 zwingend ist. Eine Lösung kann dann in der Tat nur darin liegen, die Entziehung zwar zuzulassen, die Gesellschaft aber als in Liquidation befindlich zu behandeln72, was entweder zur einverständlichen Vollbeendigung oder zu einer – ebenfalls von allen Gesellschaftern getragenen – Umbildung der Gesellschaft führt. Das ist immer noch leichter hinzunehmen als die Vorstellung, dass eine Entziehung der Vertretungsmacht in solchen Fällen überhaupt nicht möglich sei, was die oder den mit der Wahrnehmung der Organkompetenzen unzufriedenen Gesellschafter am Ende auf eine Auflösungsklage verweisen würde.
__________ 69 In seinem in Fn. 64 erwähnten Urteil; s. dazu auch die Anm. H. P. Westermann,
ZIP 1983, 1671. 70 Dazu mit Blick auf die neueste Entwicklung näher H. P. Westermann, Hdb. d. Per-
sonengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 238 ff.; ders. in FS Lutter, 2000, S. 255 ff. 71 Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, § 170 Rz. 1; v. Gerkan in Röhricht/v. Westphalen,
HGB, § 170 Rz. 1; Aderhold, Hdb. d. Personengesellschaften (Fn. 4), Rz. I 2375; K. Schmidt (Fn. 2), § 53 IV 2; a. M. schon früher H. P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, S. 238 ff.; jetzt auch Weipert in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 170 Rz. 3 ff. 72 So K. Schmidt, ZGR 2004, 227 (241 ff.).
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In einer nur zweigliedrigen Gesellschaft wird durch den Weg in die Liquidationsgesellschaft auch in diesem Zusammenhang die Folge vermieden, dass sich der einen Angriff auf den Alleinvertretungsberechtigten planende andere Teilhaber auf eine Übernahme des Unternehmens mit ihren (für ihn) u. U. abschreckenden Konsequenzen einrichten muss.
IV. Schlussbetrachtung Der Verfasser eines Festschriftbeitrages für einen hohen Richter sollte sich nicht von der Vorstellung leiten lassen, mit seinen Ausführungen in erhöhtem Maße das Ohr der Obergerichte erreichen zu können. Immerhin besteht aber vielleicht eine Hoffnung, mit Gedanken und Anregungen der hier niedergelegten Art die richterliche wie die kautelarjuristische Praxis ansprechen zu können, denen bisher das theoretisch wie praktisch nicht immer gleich präsente Problem der zweigliedrigen Personengesellschaft bei der Aufstellung der Regeln für die Krisenbewältigung in Mehrpersonengesellschaften, die sonst gut fundiert und ausdifferenziert erscheinen, deutlicher als bisher vor Augen geführt werden sollte. Dass dabei Dogmen wie das des automatischen Übergangs des bisher von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens auf den sich gegen die bisherige Ordnung auflehnenden oder auch nur einfach – verbleibenden – Gesellschafter nicht ohne gewisse Einschränkungen weitergeführt werden können, ist jedenfalls ein Fazit, das dem Anlass einer Betrachtung wie der hier angestellten entsprechen kann.
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB – Kein Ende der Diskussion? Inhaltsübersicht I. Auslegung von § 444 BGB a. F. 1. „Garantie“ – § 276 Abs. 1 BGB a) „Garantie“ – Eigenschaftszusicherung aa) Eigenschaftszusicherung bb) Unselbständige Garantie b) Selbständiger Garantievertrag 2. „Garantie“ – §§ 443, 444 BGB a. F. a) § 443 BGB aa) Unselbständige „Garantie“ bb) Herstellergarantie b) Schlussfolgerung II. Meinungsspektrum zu § 444 BGB a. F. 1. § 444 BGB a. F. – Auslegung – der Wortlaut
a) § 444 BGB – unselbständige Garantie b) § 444 BGB – summenmäßig beschränkte Garantie c) Teleologische Reduktion aa) Grundsätzliche Bedenken bb) Weiterführende Erwägungen von Schmidt-Räntsch cc) Vorschlag des Bundesjustizministeriums dd) Vorschlag von Picot ee) Vorschlag: Beschaffenheitsvereinbarungen III. Neufassung von § 444 BGB 1. Eigene Position 2. Kritik
Mit Recht ist bemerkt worden1, dass bei Unternehmenskaufverträgen gewährleistungsrechtlich seit langem feststeht: Die Praxis bedient sich der schillernden Rechtsfigur der „Garantie“. Diese ist dadurch geprägt, dass zum einen ihre Voraussetzungen, zum anderen ihre Rechtsfolgen sorgfältig abgestuft sind und durch eine Haftungsbegrenzungsklausel erfasst werden (cap). Die entscheidende und in der Literatur immer wieder diskutierte Frage lautet seit dem 1.1.2002, dem Tag des In-Kraft-Tretens der Schuldrechtsmodernisierung, einfach und simpel: Ist diese Praxis unter dem Regime von § 444 BGB noch weiter aufrecht zu erhalten? Die Antwort soll in drei Schritten gegeben werden. Zunächst möchte ich ein Interpretationsmuster des § 444 BGB a. F. anbieten (sub I). Sodann will ich der Frage nachgehen, ob die mehrheitlich in der Literatur angebotene Meinung, § 444 BGB a. F. teleologisch zu reduzieren, eine angemessene Antwort – auch außerhalb des Unternehmenskaufvertrages – darstellt (sub II). Schließlich ist ein Blick auf die Perspektive des Gesetzgebers zu richten, da sich ja bekanntlich die CDU/CSU-Fraktion darum bemüht, die erkennbaren Ungereimtheiten von § 444 BGB durch eine
__________ 1
Lieb in Dauner-Lieb/Henssler (Hrsg.), Unternehmenskauf und Schuldrechtsmodernisierung, 2003, S. 57; Günther in Münchener Vertragshandbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 1997, S. 73 ff.; Graf von Westphalen, ZIP 2001, 2107.
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Friedrich Graf von Westphalen
Novelle zu beseitigen, was mittlerweile im Rahmen des Fernabsatz-Änderungsgesetzes geschehen ist (sub III).
I. Auslegung von § 444 BGB a. F. 1. „Garantie“ – § 276 Abs. 1 BGB Jede Interpretation von § 444 BGB a. F. muss zunächst daran festmachen, dass der Gesetzgeber in § 276 Abs. 1 BGB den Begriff der „Garantie“ verwendet; er bezeichnet damit den Tatbestand einer strengeren Haftung, die nicht auf den Schuldmaßstab von Vorsatz und Fahrlässigkeit bezogen ist2. Die Übernahme einer „Garantie“ wird in § 276 Abs. 1 BGB neben der Übernahme eines Beschaffungsrisikos als eine sich aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses ergebende Haftungsverschärfung behandelt3. Dies bedeutet also: Es ist stets durch Auslegung der Parteivereinbarung im Sinn der §§ 133, 157 BGB festzustellen, ob die Verwendung des Begriffs „Garantie“ in der Tat gleichbedeutend ist mit der Begründung einer verschuldensunabhängigen Haftung. Gleichzeitig gilt aber auch: Allein die Verwendung des Begriffs „Garantie“ oder des entsprechenden Verbs „garantieren“ führt – für sich allein genommen – noch nicht dazu, eine verschuldensunabhängige Haftung des Schuldners anzunehmen4. Ob also im Kontext des § 276 Abs. 1 BGB eine verschuldensunabhängige Haftung des Verkäufers – gleichgültig, ob es sich um einen „share deal“ oder um einen „asset deal“ handelt – begründet wird, ist stets das Ergebnis einer sorgfältig durchzuführenden Auslegung. Schon dieser Befund begründet ein erhebliches Maß an Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, weil es immer in letzter Instanz das Gericht ist, welches die erforderliche Auslegung abschließend durchführt. a) „Garantie“ – Eigenschaftszusicherung Zentral für das Verständnis des § 444 BGB a. F. ist des Weiteren, dass der Gesetzgeber die Auffassung verfolgt hat, in dieser Bestimmung – ähnlich wie in § 443 Abs. 1 BGB – den Begriff der Eigenschaftszusicherung gemäß § 459 Abs. 2 BGB a. F. zu verankern5. Da die Haftung wegen Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft gemäß §§ 459 Abs. 2, 463 Satz 1 BGB a. F. in Fortfall geraten ist, ist also zumindest soviel festzuhalten. Der historische Wille des Gesetzgebers6 schaltet den Begriff der „Garantie“ mit der bisherigen Rechts-
__________ 2 3 4 5 6
Faust in Bamberger/Roth, BGB, 2003, § 437 Rz. 72; Westermann, NJW 2002, 241 (247). Dedek in Henssler/Graf von Westphalen (Hrsg.), Praxis der Schuldrechtsreform, 2. Aufl. 2003, § 276 Rz. 3. Schmidt-Räntsch, AnwBl 2003, 529 (532). BR-Drucks. 338/01, S. 563. BR-Drucks. 338/01, S. 563.
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB
figur der Eigenschaftszusicherung parallel. Damit hat dieser Begriff eine dreifache Bedeutung: Zunächst spricht einiges dafür, dass die bisherige Judikatur des BGH zum Inhalt einer Eigenschaftszusicherung gemäß § 459 Abs. 2 BGB a. F. auch unter dem Regime von § 444 BGB a. F. fortzusetzen ist. Darüber hinaus ist der Begriff „Garantie“ – wie bisher auch – doppelbödig, weil es sich zum einen um eine unselbständige Garantie, zum anderen aber auch um eine selbständige Garantie handeln kann7. aa) Eigenschaftszusicherung Nach ständiger Rechtsprechung des BGH setzt eine Zusicherungserklärung des Verkäufers gemäß § 459 Abs. 2 BGB a. F. voraus, dass dieser in vertragsgemäß bindender Weise aus der Sicht des Käufers die Gewähr für das Vorhandensein einer Eigenschaft an der Kaufsache übernommen und damit seine Bereitschaft zu erkennen gab, für alle Folgen des Fehlens dieser Eigenschaft einstehen zu wollen8. Dies erforderte gleichzeitig, dass sich Verkäufer und Käufer über den Inhalt der Zusicherung einig geworden sind. Dabei musste die Zusicherung die maßgebliche Eigenschaft der Kaufsache so genau bezeichnen, dass ihr Inhalt und Umfang – notfalls durch Rückgriff auf die §§ 133, 157 BGB – festgestellt werden konnte9. In diesem Zusammenhang war von entscheidender Bedeutung, dass die zum Vertragsbestandteil gewordene Zusicherungserklärung auch gleichzeitig das Rechtsfolgenprogramm im Hinblick auf den Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung einschloss. Entscheidend war stets, wie der Käufer die Erklärung des Verkäufers – unter Berücksichtigung der Umstände des Vertragsabschlusses und der Gebote von Treu und Glauben gemäß §§ 133, 157 BGB – verstehen durfte10. In diesem Rahmen haftete der Verkäufer als Folge seiner Zusicherungserklärung gemäß § 459 Abs. 2 BGB a. F. immer auf Ersatz des Mangelschadens im Sinn des § 463 Satz 1 BGB a. F. Der Ersatz des Mangelfolgeschadens11 war aufgrund der Zusicherungserklärung jedoch dann geschuldet, wenn aus der Sicht des Käufers beleuchtet die Auslegung der jeweiligen Zusicherungserklärung das Ergebnis rechtfertigte, dass der Verkäufer – im Rahmen seiner Zusicherungshaftung – auch bereit war, für etwaige Folgeschäden einzustehen. Aus diesem Grund war die Zusicherungserklärung des Verkäufers im Sinn des § 459 Abs. 2 BGB a. F. immer als rechtsgeschäftliche Erklärung zu werten. Es überrascht also nicht, dass sowohl eine ausdrückliche als auch eine
__________ 7 Hierzu im Einzelnen dann auch Lieb (Fn. 1), S. 58 ff. 8 BGH, ZIP 1996, 279 (280); BGH, ZIP 1996, 597 (598). 9 BGHZ 48, 118 (123 f.) (Trevira); BGHZ 50, 200 (201) (Kleber); BGH, DB 1966, 147
(Mauerziegel). 10 BGH, ZIP 1996, 597 (598); BGHZ 59, 158 (160 f.). 11 BGHZ 50, 200 (203 f.) (Kleber).
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stillschweigende, d. h. schlüssige Erklärung eine Schadensersatzhaftung wegen Nichterfüllung gemäß § 463 Satz 1 BGB a. F. begründen konnte12. Stets waren hier die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Dabei war die Rechtsprechung – jedenfalls in letzter Zeit – erkennbar restriktiv: Insbesondere beim Kauf neu hergestellter beweglicher Sachen war die Bejahung einer stillschweigenden Zusicherung gemäß § 459 Abs. 2 BGB a. F. die Ausnahme, welche stets gründlicher Begründung bedurfte, um eine Abgrenzung gegenüber der Beschaffenheitsvereinbarung gemäß § 459 Abs. 1 BGB a. F. nach sich zu ziehen13. Zu betonen ist dabei freilich, dass diese restriktive Haltung des BGH durch das unterschiedliche Rechtsfolgenprogramm indiziert war, weil nur bei Annahme einer Eigenschaftszusicherung gemäß § 459 Abs. 2 BGB a. F. Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt werden konnte. Wurde aber lediglich eine Beschaffenheitsvereinbarung gemäß § 459 Abs. 1 BGB a. F. bejaht, dann war der Schadensersatzanspruch auf den Ersatz etwaiger Mangelfolgeschäden beschränkt; diese wurden mit Hilfe des Instituts der positiven Forderungsverletzung reklamiert. Der Ersatz des Mangelschadens war jedoch abgeschlossen. bb) Unselbständige Garantie Unter dem Begriff einer „Garantie“ kann immer auch der Tatbestand verstanden werden, dass der Verkäufer/Werkunternehmer im Ergebnis lediglich die Mängelhaftung des Gesetzes übernimmt, so dass das Wort „Garantie“ in der Sache gleichbedeutend ist mit der Haftung gemäß §§ 437, 634 BGB. Dabei war freilich unter der Geltung des alten Schuldrechts im Auge zu behalten, dass die Haftung wegen Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft gemäß § 463 Satz 1 BGB a. F. immer verschuldensunabhängig war, so dass auch eine entsprechende, die Gewährleistungshaftung des Verkäufers stützende – unselbständige – Garantie verschuldensunabhängig zu begreifen war14. Demgegenüber war die Schadensersatzhaftung des Werkunternehmers gemäß § 635 BGB a. F. immer verschuldensabhängig, weil sie nur dann eingriff, wenn der Werkunternehmer den Mangel des Werks auch zu vertreten hatte15. Dies führte dann wiederum dazu, dass die Voraussetzungen einer Eigenschaftszusicherung im Rahmen des § 635 BGB sehr nahe an der Beschaffenheitsvereinbarung lagen, weil lediglich – gegenüber einer Beschaffenheitsvereinbarung – eine Bekräftigung des Einstandswillens des Werkunternehmers gefordert war16. Das Rechtsfolgenprogramm des § 635 BGB a. F. unterschied folgerichtig auch nicht danach, ob es sich um einen Fehler, d. h. um eine nicht eingehaltene Beschaffenheitsvereinbarung oder um das Fehlen einer
__________ 12 13 14 15 16
BGHZ 59, 158 (160 f.) (Fensterlack). BGH, ZIP 1996, 711 (712); BGH, ZIP 1996, 597 (598 f.); BGH, ZIP 1996, 479 (480). BGHZ 59, 158 (160 f.) (Fensterlack). BGHZ 96, 111 (114) (Wärmedurchlasswerte). BGHZ 96, 111 (114) (Wärmedurchlasswerte).
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB
zugesicherten Eigenschaft handelte. Dass dies im Kaufrecht gemäß § 463 Satz 1 BGB a. F. anders war, wurde bereits betont. Festzuhalten bleibt also: Soweit eine „Garantie“ des Verkäufers/Werkunternehmers lediglich darauf abzielt, die ohnehin vorhandenen Mängelansprüche des Käufers/Bestellers zu untermauern, ist von einer unselbständigen Garantie die Rede. Diese hatte vor allem im Rahmen einer sogenannten Haltbarkeitsgarantie hohe praktische Bedeutung erlangt, weil die sechsmonatige Verjährungsfrist des § 477 BGB a. F. in der Praxis regelmäßig durch die Vereinbarung einer länger dauernden „Garantiefrist“ überschritten wurde, ohne dass damit freilich der Bereich der selbständigen Garantie erreicht wurde17. b) Selbständiger Garantievertrag Demgegenüber liegt eine – selbständige – „Garantie“ vor, wenn der Garant für den Eintritt oder den Nichteintritt eines bestimmten Erfolges einstehen will, oder wenn er die Gefahr eines künftigen, noch nicht entstandenen Schadens bereit ist, zu übernehmen18. Die Schadensersatzhaftung des Garanten folgte dem Prinzip des Nichterfüllungsschadens und war an den §§ 249 ff. BGB ausgerichtet19. Grundlage ist dabei – wie stets – die Haftung nach den §§ 280, 281 BGB. 2. „Garantie“ – §§ 443, 444 BGB a. F. Berücksichtigt man also, dass der Begriff „Garantie“, aber auch der der „Zusicherung“, stets drei Deutungsmöglichkeiten eröffnet, so stellt sich die Frage, welchen Inhalt der Begriff „Garantie“ – bezogen auf die Beschaffenheit einer Sache – in § 444 BGB a. F. aufweist. Um diese Frage zu beantworten, erscheint zunächst eine Orientierung an § 443 BGB angezeigt, welche – ähnlich wie § 444 BGB a. F. – den Begriff „Garantie“ verwendet. a) § 443 BGB § 443 Abs. 1 BGB geht davon aus, dass entweder der Verkäufer oder ein Dritter die „Garantie für die Beschaffenheit der Sache“ übernimmt oder auch dafür – garantiemäßig – einzustehen bereit ist, „dass die Sache für eine bestimmte Dauer eine bestimmte Beschaffenheit behält“, was der Gesetzgeber als Haltbarkeitsgarantie umschreibt.
__________ 17 Im Einzelnen Graf von Westphalen in Henssler/Graf von Westphalen (Fn. 3), § 443
Rz. 45 ff. 18 RGZ 61, 157; RGZ 90, 415 (418); BGH, NJW 1965, 148 (149); BGH, WM 1977, 365
(366). 19 Vgl. RG, JW 1939, 38.
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aa) Unselbständige „Garantie“ Während nach früherem Recht der Unterschied zwischen einer unselbständigen Garantie und einer Eigenschaftszusicherung gemäß § 463 Satz 1 BGB a. F. weitgehend – jedenfalls aus praktischen Gründen – vernachlässigenswert war, ist nunmehr zu bedenken, dass § 443 Abs. 1 BGB den Tatbestand der Verkäufergarantie – bezogen auf das Rechtsfolgenprogramm – so umschreibt, dass es sich um Ansprüche des Käufers handeln muss, welche „im Garantiefall“ ihm, dem Käufer/Garantienehmer „unbeschadet der gesetzlichen Ansprüche“ zustehen. Bereits dieser Befund deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber den Tatbestand der Verkäufergarantie nicht – wie bisher – als unselbständigen Tatbestand der Gewährleistung begreift, sondern als einen separaten Garantievertrag20. Doch ist das keineswegs unstrittig21, weil geltend gemacht wird, bei einer solchen Garantie würden die Rechte des Käufers lediglich um die aus der Garantie resultierenden Ansprüche erweitert22. Wenn aber im Rahmen eines „Garantiefalls“ die dem Käufer zustehenden Ansprüche – und dies ist maßgebend – unabhängig von den gesetzlichen Mängelansprüchen des § 437 BGB verankert sind, dann ist kein Platz mehr dafür, eine unselbständige Garantie im Kontext des § 443 Abs. 1 BGB zu bejahen23. Denn die Auslegung24 zielt dann allemal darauf ab, dass jedenfalls die im Garantiefall eintretenden Rechtsfolgen von denen „unabhängig“ sind, welche sich aus der Mängelhaftung ergeben. Die darin liegende gesetzlich angeordnete Verselbständigung des Rechtsfolgenprogramms steht der Erkenntnis im Weg, dass praktisch nur eine Verstärkung der Mängelansprüche in einer quasi unselbständigen Weise angestrebt wird. Hinzu kommt, was in der Praxis zu bedenken ist, dass die Verkäufergarantie oft mit der Übernahme einer Haltbarkeitsgarantie im Sinn des § 443 Abs. 1 BGB einhergeht, was den hier angedeuteten Befund von einer Selbständigkeit des Garantieversprechens noch steigert. bb) Herstellergarantie Dass die ebenfalls in § 443 Abs. 1 BGB angesprochene Herstellergarantie ein selbständiger Garantievertrag ist, steht außer Streit25. Denn der Hersteller hat mit dem Käufer regelmäßig keine unmittelbaren kaufvertraglichen Be-
__________ 20 Im Einzelnen Graf von Westphalen in Henssler/Graf von Westphalen (Fn. 3), § 443
Rz. 25 ff.; Brüggemeier, WM 2002, 1376 (1381). 21 Grunewald in Erman, BGB, 11. Aufl. 2004, § 443 Rz. 5; Büdenbender in Anwalt-
Komm.BGB, 2002, § 443 Rz. 12. 22 Kritisch zu der Unterteilung in selbständige und unselbständige Garantie Faust in
Bamberger/Roth, BGB, § 443 Rz. 11 f., da eine saubere Abgrenzung ohnehin nicht zu erreichen sei. 23 A.M. Lieb (Fn. 1), S. 60. 24 Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 443 Rz. 11 f. 25 Grunewald in Erman, BGB, § 443 Rz. 6.
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB
ziehungen im Sinn der §§ 433 ff. BGB, weil die Herstellergarantie erst im Rahmen eines eigenständigen Garantievertrages – also: neben dem Kaufvertrag – begründet wird26. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang nur an die in der Kfz-Branche übliche Herstellergarantie, die stets neben der Händler-Gewährleistung bei etwaigen Mängeln des Kfz eingreift27 und vom Händler/Verkäufer als Erfüllungsgehilfen des Herstellers zu erledigen ist, was dann den Unternehmerregress nach den §§ 478, 479 BGB auslöst28. b) Schlussfolgerung Da kein Zweifel daran besteht, dass der Gesetzgeber in § 276 Abs. 1 BGB den Begriff der „Garantie“ als gleichbedeutend mit dem der Zusicherung gewertet hat, ist unter dem Regime von § 443 Abs. 1 BGB soviel klar, was für die Auslegung des § 444 BGB a. F. zumindest tendenziell herangezogen werden kann: Es handelt sich bei der Begründung einer „Garantie“ für die Beschaffenheit einer Sache immer um eine verschuldensunabhängige Haftung; diese ist im Garantiefall auf Schadensersatz gemäß §§ 280, 281 BGB gerichtet. Dabei ist die in § 443 Abs. 1 BGB verankerte Verkäufer- und Herstellergarantie ein selbständiger Garantievertrag, weil der Gesetzgeber die im „Garantiefall“ zu gewährenden Ansprüche von den gesetzlichen Mängelansprüchen des § 437 BGB ausdrücklich abkoppelt. Es ist also das in § 443 Abs. 1 BGB geregelte – von der Gewährleistungshaftung des Verkäufers abgetrennte – Rechtsfolgenprogramm, das den Schluss aufdrängt, dass § 443 Abs. 1 BGB von der Rechtsfigur des selbständigen Garantievertrages geprägt ist. Ob dieses Resultat auf die Auslegung des § 444 BGB a. F. unbesehen übertragen werden kann, erscheint zweifelhaft; doch wird man nicht daran vorbeisehen dürfen, dass es jedenfalls indikative Funktion besitzt, so dass auch die in § 444 BGB a. F. geregelte „Garantie“ nicht notwendigerweise eine unselbständige sein muss, sondern auch eine selbständige sein kann, was noch zu vertiefen ist. Eine gewährleistungsbezogene unselbständige Garantie kann weiterhin – wie bisher auch – zwischen Verkäufer und Käufer vereinbart werden. Sie hat jedoch keine praktische Relevanz29, weil die Distinktion gegenüber der Eigenschaftszusicherung gemäß § 459 Abs. 2 BGB a. F. abhanden gekommen ist30.
__________ 26 Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 443 Rz. 14; Graf von Westphalen in Henssler/ 27 28 29 30
Graf von Westphalen (Fn. 3), § 443 Rz. 8 ff. Vgl. hierzu auch Graf von Westphalen, NJW 1980, 2227 ff. Grunewald in Erman, BGB, § 478 Rz. 12 mwN. Kritisch zur Abgrenzung Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 443 Rz. 12. So auch im Ergebnis mit Recht Lieb (Fn. 1), S. 61.
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II. Meinungsspektrum zu § 444 BGB a. F. Es kann hier kaum der Ort sein, die Vielfalt der Meinungen auseinander zu falten, die sich zu § 444 BGB a. F. – vor allem im Zusammenhang mit der Problematik von Haftungsbegrenzungsklauseln bei Unternehmenskäufen – inzwischen „verwirklicht“ hat31. Doch die wesentlichen Meinungstendenzen müssen der Redlichkeit wegen dargestellt werden: 1. § 444 BGB a. F. – Auslegung – der Wortlaut Ob die zweite Alternative von § 444 BGB schon unter Beachtung ihres Wortlauts eindeutig32 oder verschiedene Deutungsmöglichkeiten zulässt33, ist strittig. Denn es geht um die Auslegung des Wortes, des Begriffes „Garantie“, und zwar – wie bereits angedeutet – in ihrer Verankerung als selbständiger oder als unselbständiger Vertrag34. Doch wird gerade auf diese Distinktion in der Literatur entscheidend abgestellt35, so dass diese Frage im Kontext von § 444 BGB a. F. wieder aufzugreifen und zu vertiefen ist. a) § 444 BGB – unselbständige Garantie Verschiedene Autoren sind der Auffassung, dass der insoweit unveränderte Wortlaut von § 444 BGB nur unselbständige Garantien erfasse, nicht jedoch Garantien aus selbständigen Garantiezusagen36. Diese Meinung beruht im Wesentlichen darauf, aus § 444 BGB abzuleiten, dass sich die dort geregelte „Garantie“ auf die „Beschaffenheit der Sache“ beziehen muss, was insoweit unzweifelhaft dem Wortlaut der Norm entspricht37. Deshalb kann eine auf die „Beschaffenheit der Sache“ bezogene „Garantie“ – so diese Auffassung – immer nur eine unselbständige sein38. Ob dieser Auffassung zu folgen ist, erscheint zweifelhaft, weil weder § 443 BGB noch § 444 BGB den Tatbestand der „Garantie“ näher definiert, also – jedenfalls vom Begriff her – keine Diffe-
__________ 31 Larisch, Gewährleistungshaftung beim Unternehmens- und Beteiligungskauf, 2004,
S. 220 ff. Graf von Westphalen, ZIP 2002, 545 (546); Hermanns, ZIP 2002, 696 (697). Larisch (Fn. 31), S. 220; Lieb (Fn. 1), S. 57, 58. Kritisch zu dieser Differenzierung Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 443 Rz. 12. Larisch (Fn. 31), S. 220; Lieb (Fn. 1), S. 57, 58. Grönstedt/Jörgens, ZIP 2002, 52 (57); Hermanns, ZIP 2002, 696 (699); Seibt/ Rasche/Reiche, NZG 2002, 256 (258); Knott, NZG 2002, 249 (255); vgl. auch Triebel/Hölzle, BB 2002, 521 (529); vgl. auch Palandt/Heinrichs, BGB, 64. Aufl. 2005, § 276 Rz. 29a. 37 Picot in Dauner-Lieb/Henssler (Hrsg.), Unternehmenskauf und Schuldrechtsmodernisierung, 2003, S. 61, 77. 38 Ablehnend und die Unterscheidung im Rahmen von § 444 BGB aufgebend auch Grunewald in Erman, BGB, § 444 Rz. 11. 32 33 34 35 36
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB
renzierung zwischen einer selbständigen und einer unselbständigen „Garantie“ hervorruft39. Doch greift hier ein systematisches Argument ein. Wenn es sich nämlich in § 443 BGB – wie gezeigt – um eine selbständige Garantie handelt, dann spricht wenig dafür, dass der Gesetzgeber in § 444 BGB – also: in der nachfolgenden Norm – einen gänzlich anderen Tatbestand geregelt haben soll40. Freilich darf dies nicht so verstanden werden, als sei § 444 BGB nur auf selbständige Garantien zu beziehen. Dies wird schon durch die Gesetzesgeschichte41 widerlegt, weil zum einen – wie dargestellt – der Begriff der „Garantie“ in § 276 Abs. 1 BGB als Ersatz für die bislang verwendete Figur der Eigenschaftszusicherung eingesetzt wurde und weil zum anderen § 11 Nr. 11 AGB-Gesetz als Grundlage für die Schaffung des § 444 BGB galt42. Damit ist nur soviel festzuhalten, § 444 BGB beschränkt seinen Anwendungsbereich nicht auf eine unselbständige Garantie. b) § 444 BGB – summenmäßig beschränkte Garantie Andere Autoren43 sind der Auffassung, dass – gerade beim Unternehmenskauf – eine Garantie immer nur im beschränkten Umfang gegeben wird, indem der Käufer – im Rahmen einer „Garantie“ – bereit ist, lediglich bis zu einem gewissen Höchstbetrag zu haften, sofern sich die von der jeweiligen „Garantie“ erfassten Bilanzpositionen etc. und sonstigen Zusagen als unzutreffend erweisen. Diese Auffassung knüpft im Kern daran an, dass der Gesetzgeber § 444 BGB a. F. mit der Begründung versehen hat, die dort vorgesehene Unzulässigkeit einer Haftungsbeschränkung sei Ausdruck des Gedankens des „venire contra factum proprium“44. Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des BGH, wie sie zum Verbotstatbestand von § 11 Nr. 11 AGBG ergangen ist: Ein Ausschluss der Haftung auf Schadensersatz gegenüber einer Zusicherung ist dann unzulässig, wenn dieser mit Sinn und Zweck der Zusicherung nicht mehr vereinbar ist45. Anders gewendet: Wer eine Zusicherung gewährt, ist – jedenfalls im Rahmen einer formularmäßigen Haftungs-
__________ 39 So auch mit Recht Schmidt-Räntsch, AnwBl. 2003, 529 (534); auch Stellungnahme
des Bundesjustizministeriums zu § 444 BGB, AnwBl. 2003, 536 (537). 40 Hiervon gehen auch Lieb (Fn. 1), S. 59 und Gierke/Paschen, GmbHR 2002, 457
(459) aus; a.M. Larisch (Fn. 31), S. 223. 41 Hierzu auch Larisch (Fn. 31), S. 221 f. 42 BT-Drucks. 338/01, S. 133, S. 240. 43 Picot (Fn. 37), S. 61, 77; Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 444 Rz. 20; Faust, ZGS
2002, 271 (273 f.); im Ergebnis wohl auch Lieb (Fn. 1), S. 57, 65; Palandt/Heinrichs, BGB, 63. Aufl. 2004, § 276 Rz. 29. 44 So Picot (Fn. 37), S. 69, 70; Stellungnahme des Bundesjustizministeriums, AnwBl. 2003, 536 (538). 45 BGHZ 50, 200 (206 f.) (Kleber).
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begrenzungsklausel – daran gehindert, mit der rechten Hand dann wieder zu nehmen, was er mit der linken gegeben hatte46. Diese Erwägungen führen dann – basierend auf dem so erkannten Gesetzeszweck – dazu, eine Haftungsbegrenzung insoweit als verbindlich anzuerkennen, als diese unmittelbar mit der im Rahmen von § 444 BGB a. F. gewährten Garantie – gleichgültig, ob diese als selbständige oder unselbständige „Garantie“ formuliert worden ist – in Verbindung steht47, so dass die Folgen einer Verletzung des Garantieversprechens von vornherein vertraglich – jedenfalls individualvertraglich – zu begrenzen sind. Durch Auslegung der jeweiligen Erklärung des Garanten ist nämlich zu ermitteln48, ob das durch die „Garantie“ in Anspruch genommene Vertrauen des Käufers enttäuscht wird, wenn und soweit die Haftungsbegrenzung eingreift, oder ob der Käufer sich – wegen der summenmäßigen Begrenzung der „Garantie“ – von vornherein nur darauf einstellen darf, dass Sinn und Zweck einer solchen „Garantie“ immer die Übernahme einer beschränkten, nicht aber die Begründung einer unbeschränkten Haftung darstellt. Trifft dies zu, dann lautet die Schlussfolgerung im Rahmen von § 444 BGB, dass sich der Verkäufer sehr wohl auf eine solche summenmäßig begrenzte Haftung – trotz eines „Garantiefalls“ – mit Erfolg berufen kann. Gegen die auf die Rechtsprechung zu § 11 Nr. 11 AGBG gestützte „Auslegung“ von § 444 BGB a. F. sind jedoch mit Recht durchgreifende Bedenken geltend gemacht worden49. Der entscheidende Tatbestand von Zusicherungshaftung und Freizeichnung ist im Rahmen von § 11 Nr. 11 AGBG immer dieser: Es liegt auf der Ebene des Individualvertrages eine Zusicherung oder – in den Worten des § 276 Abs. 1 BGB gesprochen – eine „Garantie“ vor, während die gegenläufige Haftungsbegrenzungs- oder gar Haftungsfreizeichnungsklausel formularmäßig textiert ist. Es besteht also das klassische Spannungsverhältnis zwischen dem Vorrang im Individualvertrag und der nachrangigen AGB-Klausel, der auch über § 305 b BGB mit dem allgemeinen Vorrang des Individualvertrages begründet und gerechtfertigt wird. Diese Rechtsfigur – aber auch die darauf aufbauende Intention des Gesetzgebers50 – kann daher ohne weiteres nicht auf den Grundtatbestand des § 444 BGB übertragen werden. Dort liegen nämlich „Garantie“ und Haftungsbegrenzung oder gar eine Freizeichnung von der Haftung im „Garantiefall“ auf der gleichen, nämlich: der individualvertraglichen Ebene. Daher wird auch in der Literatur die Meinung vertreten, die hier nur referiert, nicht aber geteilt
__________ 46 BGHZ 57, 292 (298); Larisch (Fn. 31), S. 224 f. 47 So auch im Ergebnis Bundesjustizministerium, a. a. O. (Fn. 44); Grunewald in
Erman, BGB, § 444 Rz. 11; hiergegen mit beachtlichen Gründen Faust in Bamberger/ Roth, BGB, § 444 Rz. 18 f., der insoweit nur auf das Instrument der Vertragsauslegung rekurriert. 48 Vgl. Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 444 Rz. 18 f. 49 Insbesondere Lieb (Fn. 1), S. 66 f. 50 Vgl. BT-Drucks. 14/7052, S. 184.
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB
wird, dass sich § 444 BGB a. F. nur auf solche Haftungsbegrenzungen beziehe, die entsprechend dem Vorbild des § 11 Nr. 11 AGBG formularmäßig niedergelegt worden sind51. c) Teleologische Reduktion Die herrschende Meinung vertritt inzwischen die Auffassung, § 444 BGB müsse teleologisch – also: auf seinen Gesetzeszweck hin – reduziert werden, so dass die im unternehmerischen Bereich vor allem bei Unternehmenskäufen üblichen – also: summenmäßig beschränkten – Garantien von der Norm gar nicht erfasst werden52. Dabei sind freilich die dogmatischen Grenzen zwischen dem Ansatz, § 444 BGB a. F. verbiete ein widersprüchliches Verhalten im Sinn des § 242 BGB, und einer teleologischen Reduktion fließend53. Dieser Auffassung hat sich nunmehr auch das Bundesjustizministerium angeschlossen54. Im Kern beruht diese Ansicht auf der Feststellung, dass der Verbotstatbestand von § 444 BGB a. F. zwei unterschiedliche Tatbestände regelt, nämlich: zum einen den Tatbestand der Arglisthaftung, zum anderen den der freiwillig im Rahmen von § 276 Abs. 1 BGB übernommenen „Garantie“: Während bei der Arglisthaftung in § 444 BGB a. F. eine Haftungsbeschränkung eklatant treuwidrig wäre, ist dies bei Übernahme einer „Garantie“ dann nicht der Fall, wenn und soweit die jeweilige Haftungsbeschränkung mit Sinn und Zweck der Zusicherung/„Garantie“ vereinbar ist. Deshalb ist auch vorgeschlagen worden, das Wort „wenn“ in § 444 BGB a. F. mit „soweit“ gleichzusetzen55. Dann wäre eine Haftungsbeschränkung mit einer „Garantie“ auch dann immer vereinbar, wenn der Garant das Garantieversprechen nicht einhält, so dass es für den Garantienehmer keine weitergehenden Rechte gibt als die, welche in der „Garantie“ ausgeworfen worden sind. aa) Grundsätzliche Bedenken Es fällt nicht leicht, eine solche teleologische Reduktion zu akzeptieren, weil sie mit dem Wortlaut von § 444 BGB – sowohl bezogen auf den Begriff der Garantie als auch in Bezug auf die in der Norm angeordneten Rechtsfol-
__________ 51 Brüggemeier, WM 2002, 1381. 52 Dauner-Lieb/Thiessen, DStR 2002, 809 (814); dies., ZIP 2002, 108 (114); Eiden-
müller, ZGS 2002, 290 (295); Huber, AcP 202 (2002), 179 (239); Müller, NJW 2002, 1026; Palandt/Putzo, BGB, 63. Aufl. 2004, § 444 Rz. 3; Pfeiffer, ZGS 2002, 39; Wolf/Kaiser, DB 2002, 411 (419); Schmidt-Räntsch, AnwBl. 2003, 529 (535); Larisch (Fn. 31), S. 224 f. 53 Vgl. Grunewald in Erman, BGB, § 444 Rz. 11; kritisch zu diesem Ansatz Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 444 Rz. 19. 54 AnwBl. 2003, 536 (538). 55 Pfeiffer, ZGS 2002, 31; Stellungnahme des Bundesjustizministeriums, AnwBl. 2003, 536 (538); so in der Sache auch Lieb (Fn. 1), S. 66 f.
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gen des Sich-Nicht-Berufens – im Widerspruch steht. Dabei geht es nicht darum – arguendo – zuzugestehen, dass in § 444 BGB einfach das Wort „wenn“ durch „soweit“ ersetzt wird. Vielmehr sind erhebliche – und wohl kaum durch die teleologische Reduktion zu überwindende – Schwierigkeiten daraus abzuleiten, dass der erste Halbsatz von § 444 BGB von einer „Vereinbarung“ spricht, „durch welche die Rechte des Käufers wegen eines Mangels ausgeschlossen oder beschränkt werden“, wobei der erste Halbsatz erkennbar in einem Spannungsverhältnis zur freiwillig begründeten „Garantie“ steht, die der Verkäufer „für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat“. Denn die teleologische Reduktion führt dazu, dass beide Satzteile von § 444 BGB als Einheit zu sehen sind, nämlich: Die Beschränkung der Haftung auf Schadensersatz als Teil der jeweils übernommenen „Garantie“. In dieser Sicht aber hängt die Sanktionsfolge von § 444 BGB in der Luft, die nämlich darauf hinausläuft, dass sich der Verkäufer auf eine entsprechende Haftungsbeschränkungsvereinbarung im „Garantiefall“ „nicht berufen“ darf. Schärfer formuliert: Die teleologische Reduktion von § 444 BGB führt zwangsläufig dazu, dass die Norm nur noch eindimensional zu lesen ist. Sie lautet dann im praktischen Ergebnis: Wenn und soweit der Verkäufer eine „Garantie“ für die „Beschaffenheit der Sache“ übernimmt – gleichgültig, ob es sich um eine selbständige oder um eine unselbständige „Garantie“ handelt –, ist seine Haftung auf der Ebene des Individualvertrages auf die jeweilige Garantiesumme zu beschränken und auch in diesem Umfang beschränkbar. Dann aber wird § 444 BGB zur Platitüde, nämlich: zum Ausweis des Befundes, dass die Parteien eines Garantievertrages berechtigt sind, den Inhalt der Garantie zu formulieren und die schadensersatzrechtlichen Folgen „nach Belieben“ zu gestalten und zu differenzieren56. Dem kann man schwerlich entgegenhalten, § 444 BGB würde, wenn eine andere Auslegung zum Zuge käme, auf einem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ basieren57. Denn genau dies ist die Konsequenz, die der Gesetzgeber in § 444 BGB deutlich ausspricht, indem er den Tatbestand der Arglisthaftung und den der Garantiehaftung gleichsetzt. bb) Weiterführende Erwägungen von Schmidt-Räntsch Um das Verbot einer Haftungsbeschränkung als Sanktionsfolge des § 444 BGB – wenigstens verbal – zu retten, hat Schmidt-Räntsch58 angeregt, es müsse im Einzelfall geprüft werden, „ob die Haftungsbeschränkung dem Sinn und Zweck der jeweiligen Zusage entspricht und ob der Ausgleich auch tatsächlich als fair angesehen werden kann und die Haftungssummen im Vergleich zum abgedeckten Risiko nicht einseitig zugunsten des Verkäufers
__________ 56 So Lieb (Fn. 1), S. 68. 57 Larisch (Fn. 31), S. 225. 58 Schmidt-Räntsch, AnwBl. 2003, 529 (535).
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB
ausfallen“. In dieser Diktion59 schwingt erkennbar der Tatbestand der allgemeinen Auslegung und der des § 242 BGB mit; doch sind die Kontrollkriterien, die Schmidt-Räntsch bereit hält, ersichtlich unscharf und für die Praxis kaum brauchbar. Es ist nämlich kaum hinzunehmen, dass bei Vereinbarung einer „Garantie“ im Anwendungsbereich von § 444 BGB geprüft wird, ob nicht nur „Garantie“ und Haftungsbeschränkungsvereinbarungen im Gleichklang stehen, also nur ein beschränktes Vertrauen den Haftungsumfang des Verkäufers begründen, sondern dass darüber hinaus die Frage gestellt und auch beantwortet wird, ob auch auf der Ebene des Schadensersatzes gemäß §§ 280, 281 BGB ein fairer „Ausgleich“ tatsächlich erzielt ist. Deshalb hat auch Schmidt-Räntsch im Ergebnis vorgeschlagen, dass der Gesetzgeber hier klarstellend eingreifen soll, um anfällige Auslegungszweifel im Rahmen von § 444 BGB zu beseitigen60. cc) Vorschlag des Bundesjustizministeriums Das Bundesjustizministerium hat seinerseits als Ergebnis seiner Auslegung von § 444 BGB vorgeschlagen, diese Norm stände einer Haftungsbeschränkung dann nicht entgegen, wenn die „übernommene selbständige oder unselbständige Garantie den vereinbarten Haftungsumfang verdeutlicht und nicht an anderer Stelle des Vertrages überraschend oder intransparent eingeschränkt wird“61. Daraus folgt: Immer dann, wenn die übernommene „Garantie“ im unmittelbaren Zusammenhang – gegenständlich-sachlich und damit vertragstechnisch eindeutig – mit einer Haftungsbeschränkung textiert ist, dann ist der Haftungsbegrenzungsklausel im Rahmen einer „Garantie“ die Wirksamkeit nicht zu versagen. Doch der dogmatische Einwand liegt sogleich auf der Hand: Sowohl die Kategorie der überraschenden Vertragsgestaltung als auch der intransparenten Regelung ist dem Arsenal des AGB-Rechts entnommen. Sie haben in § 305 c Abs. 1 BGB und in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB Gestalt angenommen, setzen also voraus, dass es sich um AGB-Klauseln handelt. Auf der Ebene des Individualvertrages, wo lediglich das Instrument der allgemeinen Auslegung des § 133, 157 BGB regiert, stellt sich nur die Frage, ob die jeweilige Haftungsbeschränkung auch die jeweilige „Garantie“ des Verkäufers gegenständlich erfasst, was etwa dann nicht zutrifft, wenn die Haftungsbeschränkung lediglich Mängelansprüche des § 437 BGB zum Gegenstand hat, nicht aber die hiervon unabhängige „Garantie“ oder Ansprüche wegen eines „weiterfressenden“ Mangels62.
__________ 59 60 61 62
In diese Richtung auch Faust in Bamberger/Roth, BGB, § 444 Rz. 19 f. Schmidt-Räntsch, AnwBl. 2003, 529 (535). Stellungnahme des Bundesjustizministeriums, AnwBl. 2003, 536 (538). BGH, BGHZ 67, 359 (Schwimmschalter).
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dd) Vorschlag von Picot Picot63 hat vorgeschlagen, beim Unternehmenskauf – wie bisher – von einer „selbständigen“ Garantie im Sinn von § 311 Abs. 1 BGB zu handeln, um die Haftung des Verkäufers zum einen verschuldensunabhängig zu begründen, zum anderen aber auch summenmäßig zu beschränken. Er empfiehlt, in diesem Kontext ausdrücklich klarzustellen, dass eine solche „Garantie“ nicht als „Beschaffenheitsgarantie“ gemäß §§ 442, 444 BGB zu werten sei. Darüber hinaus regt er an, wegen der ungeklärten Rechtslage müssen die Parteien klarstellen, dass der dem Vertrag zugrunde gelegte Inhalt der getroffenen selbständigen „Garantie“ ihr abschließend formulierter Geschäftswille ist, so dass dies entweder als auflösende Bedingung oder als Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB zu beurteilen ist, falls ein Gericht die Norm des § 444 BGB beim klaren Wortlaut nimmt und eine Haftungsbegrenzung gegenüber dem Inhalt einer „Garantie“ für unwirksam erachtet. Dieser Vorschlag scheint fast ein wenig wagemutig, wenn man bedenkt, dass das Bundesjustizministerium davon ausgeht, dass § 444 BGB sowohl die selbständige als auch die unselbständige Garantie erfasst64. Doch trifft sich dieser Vorschlag im Übrigen mit der h. M., dass § 444 BGB im Rahmen einer teleologischen Reduktion so zu verstehen ist, dass die Haftungsvereinbarung Teil der jeweiligen „Garantie“ ist. ee) Vorschlag: Beschaffenheitsvereinbarungen Um die Anwendung von § 444 BGB mit all seinen Fährnissen zu vermeiden, ist ferner vorgeschlagen worden, auf den Tatbestand einer „Garantie“ zu verzichten, um stattdessen die anstehenden Fragen im Bereich der Beschaffenheitsvereinbarung zu regeln65. Das führt freilich sogleich und schneidend in die Fragestellung, ob denn die zu gewährleistenden „Daten“ des Unternehmens, wie etwa der Ertrag oder die ausreichende Dotierung einer Rückstellung in den Rang einer „Beschaffenheit“ der Sache nach § 434 BGB kraft Parteivereinbarung gerückt werden können66. Wenn man das weiterhin ablehnt, weil die Beschaffenheit einer Sache eine gewisse Dauerhaftigkeit voraussetzt, dann ist der Zirkel zu § 444 BGB freilich in irgendeiner Form zu schlagen. Allein, der Ausweg aus dem Dilemma des § 444 BGB kann nur über § 434 Abs. 1 BGB führen67.
__________ 63 Picot (Fn. 37), S. 69, 79. 64 Stellungnahme des Bundesjustizministeriums, AnwBl. 2003, 536 (538). 65 Graf von Westphalen, ZIP 2002, 545 ff.; Hermanns, ZIP 2002, 696 (698 ff.); Triebel/
Hölzle, BB 2002, 521 (532); ablehnend für den Bereich des Unternehmenskaufs Larisch (Fn. 31), S. 232. 66 Vgl. zur sehr problematischen Rechtsprechung bis zum 31.12.2001 Büdenbender (Fn. 21), S. 12 ff., die daher auf c.i.c. auswich. 67 Vgl. Graf von Westphalen, ZIP 2003, 1179 – Stellungnahme zu den beiden Briefen des BMJ, die genau dieses Dilemma kennzeichnen.
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Unternehmenskauf – Garantie gemäß § 444 BGB
III. Neufassung von § 444 BGB Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit beim Unternehmenskauf am 3.6.2003 in das Parlament eingebracht68. Dieser Vorschlag beschränkt den Wortlaut des § 444 BGB darauf, nur den ersten Tatbestand von § 444 BGB zu regeln, nämlich den des Arglisteinwandes, während der zweite Tatbestand – die freiwillige Übernahme einer „Garantie“ – ersatzlos gestrichen werden soll. Indessen soll für den Verbrauchsgüterkauf eine Sonderregelung eingefügt werden, so dass der frühere Verbotstatbestand von § 11 Nr. 11 AGB-Gesetz wieder aufersteht. Obwohl auch Schmidt-Räntsch69 eine Änderung des Gesetzes für erforderlich erachtet hat, hat das Bundesjustizministerium dies bislang abgelehnt70. Es vertritt die Auffassung, dass eine teleologische Reduktion im Rahmen von § 444 BGB ausreichende Rechtssicherheit bietet, um die Probleme des Unternehmenskaufs zu bewältigen. Doch inzwischen ist die Neufassung von § 444 BGB im Rahmen des Änderungsgesetzes zum Fernabsatzgesetz normative Wirklichkeit geworden.71 Im Ergebnis ist das Wort „wenn“ durch das Wort „soweit“ ersetzt worden. 1. Eigene Position Aus den vorstehend dargestellten Erwägungen ist soviel deutlich geworden: Die im Rahmen einer teleologischen Reduktion vorgenommene, korrigierende Interpretation von § 444 BGB bereitet zumindest nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm erhebliche Probleme. Sie ist keine sichere Position. Es sollte – trotz der Hartnäckigkeit des Standpunkts der h. M. – bei der Empfehlung bleiben, die bereits gegenüber dem ersten Diskussionsentwurf des Bundesjustizministeriums zur Schuldrechtsmodernisierung geäußert wurde: Der Tatbestand der „Garantie“ und das korrelierende Verbot der Haftungsbeschränkung sollten sowohl in § 444 BGB, aber auch in § 639 BGB ersatzlos gestrichen werden72. Auf der Ebene des AGB-Rechts sollte eine Verbotsnorm geschaffen werden, die den § 11 Nr. 11 AGBG im Rahmen einer „Garantie“ reflektiert, so dass formularmäßige Haftungsfreizeichnungs- oder Haftungsbegrenzungsklauseln insoweit unwirksam sind, als der Zweck der übernommenen „Garantie“ oder der Eigenschaftszusicherung reicht.
__________ 68 69 70 71 72
BT-Drucks. 15/1096. Schmidt-Räntsch, AnwBl. 2003, 529 (535). AnwBl. 2003, 536 (538). BGBl. I 2004 S. 3102. Graf von Westphalen, DB 2001, 799 (801).
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2. Kritik Doch die Novellierung von § 444 BGB löst die aufgeworfenen Fragen nicht in befriedigender Weise. Sicherlich, formularmäßige Beschränkungen einer „Garantie“ sind mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unvereinbar, ohne Rücksicht auf ein „wenn“ oder ein „soweit“. Denn der Anknüpfungspunkt einer Haftung des Garanten/Verkäufers sind jedenfalls bei einer selbständigen Garantie immer die §§ 280 ff. BGB; und bei einer unselbständigen Garantie wird man allemal auf § 437 Nr. 3 BGB oder auch unmittelbar auf § 280 Abs. 1 BGB zurückgreifen müssen. Dann aber gelten zwingend die allgemeinen Schranken von Freizeichnungsklauseln, wie sie aus dem Verbotstatbestand von § 309 Nr. 7a und 7b BGB resultieren oder bei schuldhafter Verletzung einer wesentlichen Vertragspflicht in § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB ihren Grund haben.73 Ist hingegen eine Individualabrede anzunehmen,74 weil eine Klausel gemäß § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB in der Tat – und dies ist ein Regelsatz – abgeändert wurde,75 dann stellt sich immer ein heikles Auslegungsproblem, ob und inwieweit die gewährte Garantie wirklich von ihrem Haftungsumfang – für den Kunden erkennbar – abschließend beschränkt war, und dies, obwohl ein weitergehender Schaden entstanden ist, den die Rechtsprechung früher unter dem Institut der positiven Vertragsverletzung erfasste,76 der aber jetzt nach § 280 Abs. 1 BGB zu ersetzen ist. Warum freilich eine Garantie – verstanden als „Risikogarantie“, wie sie im Unternehmenskauf üblich ist – weiterhin nicht in den Anwendungsbereich des § 444 BGB fallen soll,77 ist schwer nachvollziehbar. Denn die vielfältigen Fragen einer Beschränkung der Haftung beim Unternehmenskauf standen ja bei der Novellierung Pate. Vielmehr ist es so, dass – trotz der Änderung von § 444 BGB – im Ergebnis jede Zusicherung – wie dargelegt – dem Anwendungsbereich der Norm unterfällt. Das gebietet der Gleichklang der Begriffe in § 276 Abs. 1 BGB und in § 444 BGB. Zudem bestehen sehr ernsthafte Zweifel, ob die jetzt gewählte Formel mit den zwingenden Vorgaben der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf78 im Einklang steht, weil danach Art. 7 die Unabdingbarkeit auch in Bezug auf die Garantien des Verkäufers nach Art. 6 vorsieht. Wenn aber eine Garantie nicht erfüllt wird, dann ist die zwingende Rechtsstellung des Käufers jedenfalls die, dass ihm ein Rücktrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 verbleiben muss, was erkennbar mit der Beschränkung der Haftung auf Ersatz des Schadens auf einen die Garantie und ihre Verletzung in Bezug nehmenden Betrag nicht unbedingt deckungsgleich
__________ 73 Hierzu im Einzelnen Graf von Westphalen in Vertragsrecht und AG-Klauselwerke, 74 75 76 77 78
Loseblatt Stand 11/04, Freizeichnungsklausel Rz. 24 ff. BGH, NJW 2000, 1110 (1112 f.). Hierzu Palandt/Heinrichs, BGB, § 305 Rz. 21 f. BGHZ 50, 200 ff. (Kleber). Palandt/Putzo, BGB, § 444 Rz. 12. ABl. Nr. L 171 v. 7.7.1999, S. 12 ff.
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ist, wenn man auch an § 325 BGB denkt, wonach die Rechte auf Ersatz des Schadens statt der Leistung und des Rücktrittsrechts kumulativ dem Käufer zustehen. Warum der Gesetzgeber in diesem so umstrittenen Punkt nicht einfach eine klare Regelung getroffen hat, die nur auf den Verbrauchsgüterkauf begrenzt ist und damit den Vorgaben der Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf begrenzt ist und damit den Vorgaben der Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf auch gerecht wird, ist nicht verständlich. Die jetzt auch den Kaufvertrag zwischen zwei Unternehmern regelnde Norm des § 444 BGB schafft ebenso weiterhin Ungemach wie die des ebenfalls novellierten § 639 BGB.
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Murmeln für Konzerne – Gesellschaftsrecht als Glasperlenspiel* Inhaltsübersicht I. Hard cases make bad law II. „The Anatomy of Corporate Law“ 1. Das Buch 2. Die Grundstruktur der Kapitalgesellschaft 3. Die Instrumente des „Glasperlenspiels“ 4. Die sechs Kernbereiche 5. Die Forschungshinweise
III. Konzernrechtselemente 1. Minderheitsschutz 2. Gläubigerschutz 3. Schutz der abhängigen Gesellschaft 4. Konzerngeschäftsführung 5. Exit-Strategien 6. Konzerneingangsschutz IV. Ausblick
*
I. Hard cases make bad law Dieses altbekannte dictum enthält – neben der negativen Konnotation – zunächst die Aussage cases make law. Cum grano salis gilt das überall, nicht nur in Fallrechtssystemen. Die gestaltende Rolle der richterlichen Tätigkeit ist im deutschen Gesellschaftsrecht unbestritten. Das gilt natürlich vor allem für den Zweiten Zivilsenat des Bundesgerichtshofes, kann ohne weiteres aber auch an Einzelpersonen festgemacht werden. Volker Röhricht hat sich der besonderen Herausforderung des Spannungsverhältnisses zwischen außergewöhnlichem Fall und Gesellschaftsrecht als „off-the-shelf housekeeping rules“1 stets gestellt; letztlich sind alle Fälle, die in die Revisionsinstanz gelangen, auf irgendeine Weise außergewöhnlich. Die Stimmigkeit der fortzuentwickelnden Struktur liegt Volker Röhricht ebenso am Herzen wie die richtige Einzelfallentscheidung. Das belegt nicht zuletzt sein intensives Engagement in der wissenschaftlichen Literatur. Sein prägender Einfluss in Judikatur und Literatur erntet sowohl Zustimmung als auch Kritik, vor allem aber Respekt und ernsthafte Auseinandersetzung. Die kritische Präsentation einer im weitesten Sinne übergreifenden Formulierung kapitalge-
__________ * Ich danke den rechts- und literaturkundigen Mitarbeitern des Lehrstuhls für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Juristischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin und den Teilnehmern des Kurses Law 313.01 Comparative Corporate Governance, Fall 2004, Duke Law School, Durham, NC, für reichhaltige Anregungen. 1 Hansmann/Kraakman in Kraakman/Davies/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Rock, The Anatomy of Corporate Law, 2004, S. 2.
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sellschaftlicher Grundelemente und Strategien hofft deshalb auf das Interesse des theoretisch engagierten Praktikers. Die Lektüre mag auf den ersten Blick als Glasperlenspiel erscheinen. Dieser akademische Luxus ist gleichwohl nicht ohne Anwendungsbezug. Nachfolgend wird deshalb in großen Zügen ein Überblick über eine außergewöhnliche Publikation gegeben, anschließend die Suche nach dem Konzernrecht in einem Kontext aufgenommen, in dem ein besonderes group law die große Ausnahme darstellt.
II. „The Anatomy of Corporate Law“ 1. Das Buch In einem verhältnismäßig schmalen, aber gehaltvollen Buch verbergen sich reiche Früchte langjähriger Zusammenarbeit von sieben Autoren aus fünf Ländern: Reinier R. Kraakman, Paul Davies, Henry Hansmann, Gerard Hertig, Klaus J. Hopt, Hideki Kanda und Edward B. Rock2. Diese Gruppe geht unter dem Titel „The Anatomy of Corporate Law. A Comparative and Functional Approach“ der gemeinsamen Struktur der Kapitalgesellschaften3 in den entwickelten Industrienationen nach. Untersucht werden Deutschland, Frankreich, Japan, U.K. und U.S.A. Dabei werden die gravierenden Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen keineswegs im Sinne eines Konvergenzglaubens klein geredet, sondern einer funktionalen und vergleichenden Analyse zugeführt. Entscheidend für einen derartigen Ansatz ist die gemeinsame Problemsprache. Diese kann nur unabhängig von den Eigentümlichkeiten der einzelnen Rechtsordnungen gefunden werden. Ein wesentliches Anliegen der Autoren ist, aus der jeweils eigenen Rechtsordnung stammende Vorverständnisse, wenn nicht sogar Vorurteile, und jegliche Überlegenheitsattitüden zu vermeiden4. Als Ausgangspunkte dienen daher die übereinstimmenden
__________ Kraakman/Davies/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Rock (Fn. 1). „Business Corporation“ wird hier mit „Kapitalgesellschaft“ wiedergegeben; dass Kapitalgesellschaften auch für nichtwirtschaftliche Zwecke zur Verfügung stehen, soll hier außer Acht gelassen werden. 4 Davies/Hertig/Hopt (Fn. 1), S. 216; als Gegenbeispiel vgl. Roe, Political Determinants of Corporate Governance. Political Context, Corporate Impact, 2003; dort wird der Einfluss politischer Rahmenbedingungen auf Aktionärspopulationen (breite Streuung im Gegensatz zu festen Aktionärsblöcken) untersucht. Roe betont, dass er damit keine Präferenz für die eine oder andere Struktur verbindet (S. 7), erweist sich aber doch wiederholt als Verfechter der breiten Streuung (z. B. S. 142: „… richer, democratic nations … several of which would not have had much trouble getting good corporate law if the polity had sought to promote a stock market.“ Als Ausrutscher mag man bei Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 38 die Bemerkung belächeln „Since the U.S. is the birthplace of corporate governance reform, …“. Vgl. dagegen Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Eintrag „Aktie und Aktiengesellschaft“ (1902): „Die Geschichte des Aktienwesens beweist, daß Schwindel und Mißbrauch bei den verschiedensten gesetzlichen Rege2 3
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Murmeln für Konzerne
Charakteristika der überall vorgefundenen Kapitalgesellschaften, die typischen Konflikte innerhalb der Gesellschaft, nämlich zwischen Verwaltung und Aktionären, zwischen Aktionären untereinander und zwischen der Gesellschaft und anderen Interessengruppen einschließlich Gläubigern und Arbeitnehmern, sowie einer Gruppierung von Strategien im Umgang mit diesen Konflikten. Diese Strategien bestehen nicht nur aus Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht, sondern erfassen auch soziale Normen, Gepflogenheiten, Verhaltensalternativen und Anreizsysteme, also so genanntes soft law. Die Problembeschreibung aus einer rechtsordnungs-neutralen Perspektive erfolgt naheliegenderweise ökonomisch auf der Basis der Agentur(principal-agent-)Theorie5, die weniger abstrakt, lebensnäher und verhaltensorientiert, daher für Juristen fruchtbarer ist als ein rein neoklassisches Effizienzkalkül. Der Ansatz wird an sechs Kernbereichen exemplifiziert: Das sind die grundlegenden Kompetenz- und Kontrollmechanismen (the basic governance structure), Gläubigerschutz, nicht marktbestimmte Transaktionen (related party transactions), Grundlagengeschäfte, Kontrollerwerb und Anlegerschutz. Insoweit erinnert die Arbeitstechnik an die Vorschläge des Forum Europaeum Konzernrecht6, das ganz dezidiert Kernbereiche formuliert hat, die damit zu einer gemeinsamen Problemsprache für das Recht der Unternehmensgruppen geworden sind. Die „Anatomie“ hat wohl ein sehr umfassendes Programm, das aber zunächst exemplarisch angegangen wird, wie die abschließend skizzierten Themen für interdisziplinäre Forschung (roadmap for further research) zeigen. Dieses mutige, weit ausgreifende Unterfangen führt in gesunde Höhenluft, die keineswegs dünn ist, sondern erfrischend und klare Sicht begünstigt. So gestärkt gewinnt dann auch der Umgang mit dem, im Ernstfall des Rechts-
__________ lungen vorkamen. Lassen sich dieselben auch durch gesetzliche Reformen zum Teil mindern und beseitigen, so wird doch das Publikum selbst durch Hebung der wirtschaftlichen Einsicht und Förderung einer gesunden Geschäftsmoral das wichtigste zur Besserung beitragen müssen.“ Überblick über die historische Entwicklung des Aktien- und Börsenwesens bei Hopt, Kapitalanlegerschutz im Recht der Banken, 1976, S. 15 ff.; Assmann in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1. Lfg. 1992 ff., Einl. A Rz. 1 ff. – Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel (1943), suhrkamp tb, S. 37: „Er erfand für das Glasperlenspiel die Grundsätze einer neuen Sprache, nämlich einer Zeichen- und Formelsprache, … in welcher es möglich wurde, … Mathematik und Musik gleichsam auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.“ 5 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 4 m. Fn. 6, S. 21 ff.; vgl. auch Cheffins, Company Law. Theory, Structure and Operation, 1997, 1. Teil; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, Rz. 79, 82 ff.; Ruffner, Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft, 2000, S. 131 ff. 6 Forum Europaeum Konzernrecht, Konzernrecht für Europa, ZGR 1998, 672.
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streits entscheidungserheblichen, Detail des nationalen Rechts an Konsistenz und Souveränität7. 2. Die Grundstruktur der Kapitalgesellschaft Die fünf Grundelemente, die, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, ubiquitär die Kapitalgesellschaft charakterisieren, sind Rechtspersönlichkeit, beschränkte Haftung, übertragbare Anteile, Verwaltung im Rahmen eines Ratssystems und gemeinsame Eigentümerstellung der Kapitalgeber. Unabhängig von rechtsgeschichtlicher Entwicklung und rechtstheoretischen Deutungsmustern führt die Rechtspersönlichkeit zu einem einheitlichen, von den Mitgliedern und Geschäftsführern separierten Vertragspartner mit einem eigenen Vermögen, das vor dem Zugriff der Gläubiger der Mitglieder und Geschäftsführer geschützt, damit auch als Kreditunterlage geeignet ist8. Die Haftungsbeschränkung stellt ein Spiegelbild dar, indem sie das Vermögen der Anteilsinhaber für deren Gläubiger reserviert9. Die Übertragbarkeit der Anteile kann Beschränkungen unterliegen, gehört aber zu den entscheidenden Grundlagen, die das Einwerben von Kapital und die Diversifikation von Investitionen ermöglicht. Besonders vorsichtig formuliert ist das Strukturmerkmal der Verwaltung (delegated management with a board structure), das sowohl auf das Verwaltungsratssystem wie auf das Aufsichtsratsmodell passt. Wichtig ist das Konzept der, körperschaftsrechtlich gesprochen, von der Mitgliedschaft getrennten Organe mit geregelter Vertretungsmacht nach außen. Das fünfte Merkmal, „investor ownership“, ist definiert als Herrschaftsrecht über das Unternehmen und das Recht auf das Residualeinkommen10. Die Autoren weisen aber selbst auf Durchbrechungen des Grundsatzes des investor ownership hin, insbesondere durch Mitbestimmungsregeln11. Das erscheint vertraut und nachgerade banal. Der entscheidende Punkt jedoch ist die übergreifende Gemeinsamkeit über alle Unterschiede zwischen Rechtsordnungen und pfadabhängigen Entwicklungen hinweg. Darüber hinaus gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten, die allerdings nicht den Weg in die „Grundelemente“ gefunden haben. Sie sind jedoch präsent und zeigen,
__________ 7 Das ist auch der Wunsch der Autoren, die in der Einleitung hoffen, „… that the
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analysis offered in this book will be … valuable to those who … wish to have a more solid framework within which to view their own country's corporation law.“, Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 4 f. Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 7: „affirmative asset partitioning“; s. auch dies., The Essential Role of Organizational Law, 110 Yale Law Journal 387 (2000). Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 9: „defensive asset partitioning“. Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 13: „the right to control the firm, and the right to receive the firm’s net earnings“. Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 14 f.
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wie viele andere Details, dass die anatomische Beschreibung12 ganz erstaunlich umfassend ist. Die zurückhaltende Beschreibung der Verwaltung mag als Beispiel dienen. Es ist sicher treffend, dass die alte Frage nach einem eingliedrigen oder zweigliedrigen Board nicht grundstürzend ist. Funktional gesehen setzt sich eine, wie auch immer organisierte, Trennung zwischen Geschäftsleitung und Kontrolle durch13. Dafür sprechen die Änderungen im italienischen Gesellschaftsrecht14 und auch im japanischen Gesellschaftsrecht15. Letzteres zeigt eine vorsichtige Entwicklung in Abkehr von hausinternen Karrieren, die eine effektive Kontrolle des Managements erschweren16. Im amerikanischen Gesellschaftsrecht nicht zwingend verankert, aber im Kapitalmarktrecht prominent ist die Forderung nach Trennung von Management und Kontrolle, insbesondere in Form von (vom Management) unabhängigen Direktoren und Bilanzausschüssen17. Auch das gemeinsam vorgefundene Erfordernis der Rechnungslegung und externen Prüfung taucht auf, wenn auch nicht als Strukturmerkmal18. Beides erklärt sich wohl mit dem breiteren Ansatz der „Anatomy“-Autoren, die auch die GmbH, S.A.R.L. und die close corporation in ihre Betrachtung einbeziehen. Diese kleineren Formen sind als Referenzmaterial immer wieder aufschlussreich, werden aber nicht so intensiv behandelt wie die große, öffentlich gehandelte Kapitalgesellschaft. Der intensivere Vergleich der offenen und der Privatgesellschaft ist schließlich auch im weiterführenden Forschungsprogramm aufgeführt19. Reduziert man die Betrachtung auf die Publikumskapitalgesellschaft, sind die Leitung bestehend aus den getrennten Elementen Management und Kontrolle sowie die externe Prüfung deutliche Gemeinsamkeiten; das Kapitalmarktrecht als Steuerungselement ist generell einbezogen und befördert Konvergenzen, insbesondere angesichts
__________ 12 Im Wörterbuchsinn der „Struktur des Körpers, seiner Organe, Gewebe und Zellen
und deren Zusammenspiel“. 13 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 41; Cheffins (Fn. 5), S. 95 ff., 108 ff., 605, 621 ff.;
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Eisenberg, The Board of Directors and Internal Control, 19 Cardozo L. Rev. 237 (1997); Grundmann (Fn. 5), Rz. 376 ff.; Hopt in Hopt/Kanda/Wymeersch/Prigge, Comparative Corporate Governance,1998, S. 223 ff.; Windbichler, ZGR 1985, 50. Vgl. Art. 148 f. Decreto legislativo 24.2.1998, n. 58; Art. 4 II a) 1), b) Legge Delega 3.10.2001, n. 366; Art. 2399 c), 2409 duodecies und octiesdecies Codice Civile; Salafia, Le Società 2001, 1293 (1294 ff.); Associazione Disiano Preite, Il nuovo diritto delle società, Olivieri/Presti/Vella (Hrsg.), 2003, S. 138, 158 ff., 162 ff. Hayakawa, 7 (2002) ZJapanR Nr. 14, S. 31 (36 ff.); Takahashi, 8 (2003) ZJapanR Nr. 16, S. 121 (136 ff.); vgl. ferner zur Entwicklung in Frankreich Storck, ECFR 2004, 36, 41 ff.; in Belgien Wymeersch, ZGR 2004, 53 (54 ff.). Roe (Fn. 4), S. 90 f. Sarbanes Oxley Act 2002, Sec. 301; NYSE's Listed Company Manual (SEC approved Nov. 4, 2003), Sec. 303 A (Independent Directors). Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 71, 79 f.; Hertig/Kraakman/Rock (Fn. 1), S. 201. Davies/Hertig/Hopt (Fn. 1), S. 215, 225.
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international offener Kapitalmärkte. Diese Betrachtungsweise zeigt zugleich eine besondere Herausforderung, nämlich die Definition von Grundbausteinen einerseits und Konfliktlösungsverfahren andererseits. Beides geht ineinander über. Darüber hinaus finden auch Lösungsstrategien für den AgenturKonflikt Typisierungen, die an Bausteine erinnern20. Ein Blick auf die zehn Strategien des Rechts, mit Agentur-Problemen umzugehen, und Anwendungsbereiche dafür machen das deutlicher. Die vorgestellten Strategien finden auch außerhalb des Gesellschaftsrechts Verwendung21. 3. Die Instrumente des „Glasperlenspiels“ Vier Strategien werden als Regulierung (regulatory strategies) bezeichnet, sechs als Governance-Strategien; beide Gruppen werden wiederum unterteilt in Ex-ante- und Ex-post-Strategien22. Regulatory Strategies
Governance Strategies
Agent Constraints
Affiliation Terms
Appointment Decision Rights Rights
Agent Incentives
Ex Ante
Rules
Entry
Selection
Initiation
Trusteeship
Ex Post
Standards
Exit
Removal
Veto
Reward
Damit sollen die Konfliktlösungsmechanismen gewissermaßen standardisiert, eine umfangreiche juristische und ökonomische Diskussion auf den Punkt gebracht werden. Der Instrumentenkasten sieht einigermaßen unhandlich aus. Die Verfasser verwahren sich auch ausdrücklich gegen eine Verabsolutierung und sehen ihre Strategie-Tabelle eher als Heuristik denn als Systematik. Einige Elemente erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Weitere könnten hinzu gefügt werden. Die Einteilung in Ex-ante- und Ex-post-Strategien zum Beispiel ist mit einigen Vorbehalten zu lesen. Erfolgsbezogene Belohnung erfolgt nachträglich, bestimmt aber im Vorhinein die Vergütungsweise23. Die Unterscheidung zwischen rules und standards dürfte je nach Rechtsordnung unterschiedlich
__________ 20 Z. B. Offenlegungspflichten, die weder als Strategie noch als besonderes Merkmal
aufgeführt sind, aber in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder vorkommen. 21 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 23: „These strategies are not limited to the corporate context.“ 22 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 23. 23 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 28; vgl. auch Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 95: Die standards-strategy wird als möglicherweise abschreckend, ex ante wirksam angesehen; zum Ex-ante-/Ex-post- Problem aus anderem Blickwinkel Windbichler in FS Ulmer, 2003, S. 683 (689 ff.).
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streng gesehen werden24. Als „Regeln“ werden solche Gesetzesnormen angesehen, deren Inhalt von Anfang an feststeht, während „Standards“ erst in der Anwendung im gerichtlichen Prozess ihre genaue Festlegung erfahren25. Kodifikationserfahrene Länder haben andere Methoden im Umgang mit gesetztem Recht als Common-law-Länder, in denen die „Klarheit“ und Leistungsfähigkeit von Regeln eher überschätzt wird26. Der methodische Einwand verblasst aber mit zunehmendem Anwendungsbezug, etwa wenn Mindestkapitalregeln Treuepflichten und Haftungsstandards gegenübergestellt werden27. Auch im Bilanzrecht hat die Neigung zum Vorrang von Regeln (US-GAAP) gegenüber prinzipiengeleiteter Rechnungslegung (IFRS, HGB) durchaus Gewicht28. Die vielfachen Offenlegungspflichten werden als Strategie nicht eigens genannt. Sie erscheinen jeweils als Hilfsmittel zum Einsatz anderer Instrumente. Das ist sicher sinnvoll, gleichwohl ist die Betrachtung von Publizität als Strategie und Regelungstechnik nicht ohne Reiz29. Man könnte sich auch eine Einteilung vorstellen, die stärker nach Marktkräften und deren Absicherung, zum Beispiel durch Offenlegungspflichten, und organisatorischen Mitteln unterscheidet, also der Gegenüberstellung von Vertrag und Hierarchie folgt30. Wiederum geht es mehr um Heuristiken als um eine dogmati-
__________ 24 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 23 f., 52. 25 Zum ökonomischen Vergleich der Vorzüge der jeweiligen Regelungstechnik wird
26
27 28
29
30
auf Kaplow, Rules Versus Standards: An Economic Analysis, 42 Duke L.J. 557 (1992), verwiesen; Cheffins (Fn. 5), S. 277 ff., 350 ff. Vgl. Kaplow (Fn. 25), S. 620 m. Fn. 185, der Anwaltsstand habe ein ökonomisches Interesse an einer Regelungstechnik, die zu höheren Beratungskosten und mehr Rechtsstreitigkeiten führt, unter Berufung auf Ehrlich/R. Posner, An Economic Analysis of Rulemaking, 3 J. Legal Stud. 257, 271, 274 (1974) (emphasizing that lawyers may prefer judge-made law because precedents, which state rules implicitly, require more legal skill to master than statutes); deutlich skeptischer Cheffins (Fn. 5), S. 277 ff., 350 ff.; zur ökonomischen Logik offener Verhaltensstandards bei Agenturproblemen Ruffner (Fn. 5), S. 211 ff., zur rechtskulturell geprägten Unterscheidung zwischen Normsetzung und Auslegung punktuell, aber prägnant Schulze-Osterloh, ZIP 2003, 93 (98). Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 83 ff. Claussen in FS Ulmer, 2003, S. 801 (805); Buchholz, Internationale Rechnungslegung, 2. Aufl. 2002, S. 16 ff.; Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 20. Aufl. 2003, § 27 Rz. 25. Vgl. Grundmann (Fn. 5), Rz. 85 ff.; Merkt, Unternehmenspublizität, 2001, S. 306 ff., 314 ff., 389 ff.; Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 93 ff.; ders., ZGR 2001, 1 (29 ff.). Zur Gegenüberstellung von Markt und Hierarchie klassisch Coase, The Nature of the Firm, 4 Economica 386 (1937); nachfolgende Studien, die den vertraglichen Charakter der Unternehmung betonen, z. B. St. Cheung, The Contractual Nature of the Firm, 26 J.L.Ec. 1 (1983); O. Williamson, Corporate Governance, 93 Yale L.J. 1197 (1984), stehen dem nicht entgegen, vgl. Hansmann/Kraakman, The Essential Role of Organizational Law, 110 Yale L.J. 387 (2000). Das Zusammenspiel von Gesellschaftsrecht und Marktinstitutionen findet sich als Programmpunkt im Ausblick als Forschungsthema, Davies/Hertig/Hopt (Fn. 1), S. 222 f.
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sche Struktur. Inhaltlich sind diese Gesichtspunkte vertreten in Form der Vertragsnetztheorie und der juristischen Person sowie in der Diskussion der Funktionen von dispositivem Recht31. 4. Die sechs Kernbereiche Die grundlegenden Kompetenz- und Kontrollmechanismen (Hansmann/ Kraakman) in der Kapitalgesellschaft befassen sich mit den Beziehungen der Aktionäre insgesamt zur Verwaltung und deren Funktionsbedingungen unter Anwendung der zuvor zusammengestellten Strategien. Hier zeigt sich, dass Verwaltungsratssystem und Aufsichtsratsmodell gar nicht so weit auseinander liegen. Überraschend ist hingegen, wie aktionärsunfreundlich amerikanische Regeln sind32. Dass ein Vorschlagsrecht von Aktionären für Wahlen zum Verwaltungsrat so große Kopfschmerzen bereitet33, wirkt in anderen Rechtsordnungen sehr befremdlich (vgl. § 127 AktG). Beeindruckend ist jedenfalls, wie das intrikate Zusammenspiel von Vorschlagsrecht, Wahlrecht, Wahlverfahren, Amtszeit, Abberufungsmöglichkeiten und Kompetenzzuweisungen auf knappstem Raum deutlich gemacht wird. Weitere Aspekte sind der Mehrheits-/Minderheitskonflikt unter den Aktionären sowie die so genannten Stakeholder-Interessen. Die Profile der untersuchten Rechtsordnungen werden kurz skizziert, die Gründe für die unterschiedlichen Entwicklungen kurz angedeutet34. Eine ähnliche zusammenfassende Analyse findet sich am Ende aller Kernbereichs-Kapitel. Der Gläubigerschutz (Hertig/Kanda) wird in den besonderen Blickwinkel der Kapitalgesellschaft gestellt; dabei werden drei Bereiche für besondere Gefahren identifiziert: das Umfeld der Insolvenz, die Gruppenbindung und die Situation unfreiwilliger Gläubiger. Nicht marktbestimmte Transaktionen (Hertig/Kanda) ist eine interpretierende Übersetzung von related party transactions, das heißt Geschäften, in denen das Management möglicherweise
__________ 31 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 6 f., 30 f.; ausführlich zur Rolle des dispositiven
Rechts Cheffins (Fn. 5), S. 216 ff. 32 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 67. 33 Vgl. z. B. St. Labaton, The New York Times v. 9.10.2004 S. B1 und 2 über die
Schwierigkeiten der SEC, für bestimmte Krisensituationen ausnahmsweise für Aktionäre ein Vorschlagsrecht für die Wahl von Direktoren zu verlangen. 34 Zur Analyse der diversen Pfadabhängigkeiten gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur aus juristischer, wirtschaftshistorischer und politikwissenschaftlicher Sicht, die jedoch zumeist gesellschaftsrechtlich oberflächlich bleibt. Vgl. etwa Backhaus, Company Board Representation, in The Elgar Companion of Law and Economics, 1999; Coffee, The Future as History: The Prospects for Global Convergence in Corporate Governance and its Implications, 93 Nw.U.L.Rev. 641 (1999); Gourevitch, The Politics of Corporate Governance Regulation, 112 Yale L.J. 1829 (2003); LaPorta/Lopez-de-Silanes/Shleifer/Vishny, Law and Finance, 106 J. Financial Econ. 1113 (1998); Licht, The Mother of All Path Dependencies. Toward a Cross Cultural Theory of Corporate Governance Systems, 26 Del.J.Corp.L. 147 (2001); Roe (Fn. 4).
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eigene Interessen statt derjenigen der Gesellschaft verfolgt, und Geschäften, in denen ein starker Aktionär oder ihm nahe stehende Personen oder Gesellschaften Partner sind. Ein generelles Verbot solcher Transaktionen35 wäre unpraktisch und zu wenig flexibel. Die Techniken, mit dem Problem umzugehen, reichen von Offenlegungspflichten über Zustimmungserfordernisse unabhängiger Personen, Gremien oder der Hauptversammlung und ähnlichen Verfahrensregeln bis zur Haftung, vor allem nach Standards im oben beschriebenen Sinn. Die Rechtsordnungen unterscheiden sich weniger in den eingesetzten Instrumenten als in der Intensität des Einsatzes und der Schwerpunkte der Strategien. Rock, Kanda und Kraakman befassen sich mit dem, was etwas vergröbert als Grundlagengeschäfte bezeichnet werden kann. Die Definition erfolgt naheliegenderweise nicht formal (z. B. Satzungsänderung), sondern funktional mit den Elementen der Quantität, der Reichweite einer Investitionsentscheidung, die aus guten Gründen den Aktionären zustehen könnte, und potentiellen Interessenkonflikten für die Verwaltung36. Als prominente Beispiele werden Zusammenschlüsse und ähnliche Strukturänderungen genannt, die Veräußerung des Gesellschaftsvermögens37 und Finanzierungsmaßnahmen. Ein besonderer Abschnitt ist dem Kontrollerwerb und -wechsel gewidmet (Davies/Hopt). Die Übernahmesituation ist denn auch besonders reizvoll, da sie kapitalmarktrechtliche Regulierung, gesellschaftsrechtliche Technik und den Governance-Aspekt der Management-Kontrolle verbindet. Die Zuweisung der Entscheidungskompetenz ist bei überwiegendem Streubesitz stärker Agenturproblemen und damit Regulierung unterworfen. Gibt es einen dominierenden Aktionär, stellt sich die Frage nach der Teilhabe an der Kontrollprämie, Austritts- und Andienungsrechten der Minderheit. Hinzu kommen Stakeholder-Interessen, die zu verschiedenen, teils merkwürdigen Interessenkoalitionen führen. Die Vorschläge zur Änderung der Übernahme-Richtlinie gewinnen dabei keinen Blumentopf38. Beim Thema Anlegerschutz (Hertig/Kraakman/Rock) überrascht es nicht, sowohl die Sicherung der Funktionsfähigkeit von Kapitalmärkten durch Regulierung, insbesondere informationsbasierte Preisbildung, wiederzufinden, als auch den Schutz des individuellen Anlegers. Der Corporate Governance-Zugang erfolgt wiederum aus der Perspektive möglichen opportunistischen Verhaltens von Managern und kontrollierenden Aktionären. In diesem Zusammenhang werden der Offenlegung drei Funktionen zugeschrieben:
__________ 35 Etwa nach dem Muster des In-sich-Geschäfts oder angelsächsischem Trust Law,
vgl. Davies, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, 7. Aufl. 2003, S. 393. 36 Rock/Kanda/Kraakman (Fn. 1), S. 131 ff. 37 Mit etwas verwirrender Wiedergabe des Holzmüller-Problems a. a. O. (Fn. 1), S. 145 mit Fn. 74. 38 Davies/Hopt (Fn. 1), S. 187 mit Fn. 134: „The [EU] Parliament’s attempt to ride all possible horses …“.
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Hilfe zur Durchsetzung von Regeln, Abschreckungs- und Reputationseffekte39. Auch hier betreffen die Variationen von Rechtsordnung zu Rechtsordnung weniger die eingesetzten Strategien als die Intensität des Einsatzes. 5. Die Forschungshinweise Im letzten Kapitel fassen Davies, Hertig und Hopt noch einmal den methodischen Ansatz zusammen, der für die Rechtsvergleichung insgesamt Aufmerksamkeit verdient. Der Ton liegt auf der gemeinsamen Problemsprache. Der besondere Reiz der Gemeinsamkeiten (ver-)führt aber nicht zu einer Konvergenzeuphorie, ebenso wie die Divergenzen nicht als unverrückbar gewachsen die Forschung beenden40. Die rechtsvergleichende conclusio im Sinne einer Stellungnahme, welche Elemente oder gar Rechtsordnungen „besser“ seien, wird nachdrücklich in die Zukunft verschoben. Die abschließend aufgelisteten zehn Forschungsthemen sind inhaltlich faszinierend, aber auch methodisch bedeutend. Sie spiegeln den Stand der Forschungen der Verfasser wider und brauchen angesichts der vorhandenen Forschungstiefe Einwände nicht zu befürchten. Sie belegen weiterhin eine Kommunikationskultur, die in der deutschen Rechtswissenschaft noch der Pflege bedarf. Es gibt so viel ebenso Reizvolles wie Schwieriges zu tun, dass der einsame Forscher sich besser nach einem guten Team umsieht und nicht meint, „gute Themen“ für sich reservieren zu müssen.
III. Konzernrechtselemente Für den „Konzern“ sind in diesem System weder besondere Strukturelemente noch Strategien vorgesehen. Gleichwohl taucht die Gruppensituation als Normalfall im Wirtschaftsleben und als Variante der grundlegenden Agentur-Konflikte des Kapitalgesellschaftsrechts – erwartungsgemäß – nicht nur am Ende als zu vertiefendes Forschungsthema auf41. Das deutsche Sonderrecht für Gesellschaftsgruppen, unübersetzbar als Konzernrecht bezeichnet, ist als Herangehensweise vielfach berücksichtigt42. Das hat den Vorteil, dass die Relevanz allgemein gesellschaftsrechtlicher Probleme für Unternehmensgruppen ebenso deutlich wird wie die Einbettung von konzernrechtlichen Sonderregeln in allgemeine Fragen. 1. Minderheitsschutz Zunächst haben sämtliche Minderheitsschutz-Strategien Relevanz, jedenfalls für solche Unternehmensgruppen, die nicht ausschließlich mit Hilfe von
__________ 39 40 41 42
Hertig/Kraakman/Rock (Fn. 1), S. 195 f. Vgl. oben Fn. 34. Davies/Hertig/Hopt (Fn. 1), S. 224 f. Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 6, 16 u. oft.
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100%igen Beteiligungen konstruiert sind. Hierher gehören minderheitsfreundliche Stimmrechtsregeln und Abstimmungsverfahren wie Höchststimmrechte und Stimmrechtshäufung (cumulative voting), ebenso Einflussschranken für kontrollierende oder Mehrheitsaktionäre43. Letztere gehen einher mit gläubigerschützenden Haftungstatbeständen für einflussnehmende Aktionäre, also Varianten von Durchgriffsfällen44. Bedeutung und Durchsetzung solcher Haftungsfälle variieren jedoch beträchtlich, was unter anderem auf die unterschiedlichen Kapitalmarktgegebenheiten und Aktionärspopulationen zurückgeführt wird. Die Diskussion der möglichen Ursachen eröffnet interessante Fragen zur Weiterentwicklung bei offenen Kapitalmärkten und der Verfügbarkeit vertraglicher Schutzmechanismen, etwa durch Rating. Die Verfasser vermuten hier Konvergenz, ohne ein abschließendes Urteil zu fällen45. 2. Gläubigerschutz Explizit angesprochen werden Unternehmensgruppen im Bereich des Gläubigerschutzes unter besonderem Hinweis auf Definitionsprobleme, wenn an einen Gruppen- oder Konzerntatbestand angeknüpft werden soll46. Aus dem Agency-Blickwinkel begünstigt das Verschwimmen der Unternehmensgrenzen innerhalb der Gruppe Intransparenz. In einem konvergieren die unterschiedlichen Rechtsordnungen, nämlich in dem Erfordernis der konsolidierten Rechnungslegung47. Offenlegungspflichten dienen der Funktionsfähigkeit von Marktprozessen, indem Vertragsgläubiger in die Lage versetzt werden, ihre Interessen selbst zu wahren48. Die Wahrung der Interessen einer abhängigen Gesellschaft selbst gegen opportunistisches Verhalten eines kontrollierenden Aktionärs und Fragen der Konzerngeschäftsführung (nachfolgend 3. und 4.) sind nicht Selbstzweck, sondern sprechen gleichzeitig Agenturprobleme von Gläubigern und Minderheitsaktionären an.
__________ 43 Hansmann/Kraakman (Fn. 1), S. 54 f., 59 f. 44 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 92 ff., 97. 45 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 99; vgl. dagegen Bratton/Cahery, Comparative Corporate
Governance and the Theory of the Firm: The Case Against Global Cross Reference, 38 Colum. J. Transnat'l L. 313, 233 ff. (1999); Schmidt/Spindler, Path dependence and complementarity in corporate governance, in Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance, 2004, S. 114 ff. 46 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 474 ff., 82 ff.; zu den Definitionsproblemen Forum Europaeum Konzernrecht, Konzernrecht für Europa, ZGR 1998, 672 (691 ff.). 47 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 82; zum Thema vgl. Forum Europaeum Konzernrecht (Fn. 46), S. 698 ff.; die IFRS-Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 ABlEG L 243/1 v. 11.9.2002 geht über diesen Stand hinaus; vgl. Grundmann (Fn. 5), Rz. 587 ff. 48 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 79.
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3. Schutz der abhängigen Gesellschaft Spezielle konzernrechtliche Regeln zum Schutz des Gesellschaftsvermögens abhängiger Unternehmen fügen sich in das Konzept des asset partitioning49 ein. In knappster Form werden Grundgedanken der deutschen Konzernhaftung wiedergegeben. Dabei unterläuft ein Detailfehler, der möglicherweise bezeichnend ist. Die Verlustausgleichspflicht als Ausgleich für die Unterwerfung unter das Konzerninteresse nach § 308 AktG wird wiedergegeben als Ausgleichspflicht „for any losses that stem from acting in the group's interests“50. Die Pflicht zum Ausgleich eines Bilanzverlustes ohne Frage nach dessen Ursache ist offenbar eine Murmel, die unter den Glasperlen des allgemeinen Gesellschaftsrechts im Vergleich nicht vorkommt. Dem wird der französische „Rozenblum“-Ansatz, gestützt auf den Vorschlag des Forum Europaeum51, als offenbar lebensnäher gegenübergestellt. Auch das ist eine Konzernrechtsmurmel, die noch einigermaßen schillernd ist52 und im größeren Kontext der Konzerngeschäftsführung zu spielen ist. 4. Konzerngeschäftsführung Anwendungsfälle von nicht-marktbestimmten Transaktionen (related party transactions) liegen im Konzernzusammenhang besonders nahe, nämlich wenn kontrollierende Aktionäre involviert sind53. Hier werden Instrumente vorgeführt, die im Konzernrechtsland Deutschland kaum zum Einsatz kommen. Das sind Offenlegungspflichten von Geschäften mit bedeutenden (ab mehr als 5 %) Aktionären54, Zustimmungserfordernisse der unabhängigen Verwaltungsratsmitglieder oder der Minderheitsaktionäre, Kontrollrechte für Minderheitsaktionäre, Austritts- und gar Auflösungsrechte; hinzu kommen Ersatzpflichten. Die Ausgleichspflicht, oder besser: Ausgleichsmöglichkeit für nachteilige Einflussnahme ist eine Konzernmurmel, ebenso die Anerkennung einer kohärenten Gruppenpolitik nach dem französischen Rozenblum-Muster. Über die Tauglichkeit wird – wohl zu Recht – kein abschließendes Urteil gefällt.
__________ 49 Oben bei Fn. 8 und 9. 50 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 86 m. Fn. 81. 51 Forum Europaeum Konzernrecht, Konzernrecht für Europa (Fn. 46), S. 704 ff.;
Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 86 f. m. Fn. 86 f. 52 Davies/Hertig/Hopt (Fn. 1), S. 224 f.; Windbichler (Fn. 23), S. 683 (686 ff.). 53 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 118 ff. 54 Vgl. aber im Kapitalmarktrecht entspr. IOSCO-Empfehlungen die Going Public-
Grundsätze der Deutschen Börse AG, dazu Heidelbach in Schwark, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2004, § 28 Rz. 3 BörsZulV; Neufassung unter www. deutsche-boerse.com, dort bei Listing/GoingPublic/Regularien; vgl. auch Uwe H. Schneider, WM 2002, 473.
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5. Exit-Strategien Austrittsrechte und Abfindungsangebote für Minderheitsaktionäre sind im Zusammenhang mit strukturverändernden Grundlagengeschäften erfasst, insbesondere wenn ein kontrollierender Aktionär beteiligt ist55. Squeeze-outMöglichkeiten finden sich überall; Minderheiten unter 10 % sind tendenziell ineffizient, da sie kostenträchtige Konflikte produzieren. Die Preisfrage ist stets die Preisfindung, die nicht ohne gerichtliche oder behördliche Kontrolle auskommt. Insofern ist das SpruchG auf dem richtigen Wege. Was interessanterweise nicht auftaucht, sind Abfindungen in Aktien und laufende Ausgleichszahlungen, also die typischen Konzernrechtsmurmeln der §§ 304 und 305 AktG. Das gibt zu denken, ob nicht wenigstens der Ausgleich aus dem Spiel genommen werden sollte zugunsten des Aktienerwerbs als klare Lösung, die spätere Anpassungsprobleme vermeidet56. Entsprechendes gilt für das Wahlrecht von Aktionären zwischen Barabfindung und Aktien einer anderen Gesellschaft, wenn dadurch wieder Mini-Minderheiten entstehen57. 6. Konzerneingangsschutz Auch im Kapitel über den Kontrollerwerb sind die Besonderheiten bei Existenz eines kontrollierenden Aktionärs herausgestellt58. Hier wird deutlich, dass allgemeines Gesellschaftsrecht, Konzernrecht und Übernahmerecht nicht isoliert voneinander gesehen werden können59. Die einheitlichen Linien, die sich abzeichnen, sind ziemlich grob, nämlich dass keine Rechtsordnung Übernahmemöglichkeiten zu maximieren oder ganz zu verhindern sucht. Im Übrigen bleiben viele klassische Fragen offen, vor allem die Beteiligung von Minderheitsaktionären am Paketzuschlag und die Nebeneffekte von Schutzvorschriften für eine Gruppe auf andere. Letzteres zeigt sich zum Beispiel daran, dass der Schutz von Minderheitsaktionären indirekt die im Amt befindliche Verwaltung stützt und dass die Rücksicht auf Stakeholder-Interessen die Entscheidungsspielräume der Geschäftsleitung erweitert.
IV. Ausblick Schon die kursorische Durchsicht nach Konzernrechtselementen aus übergreifend-vergleichender Sicht bringt bedenkenswerte Anregungen zu Tage.
__________ 55 Rock/Kanda/Kraakman (Fn. 1), S. 141 ff.; vgl. dazu Forum Europaeum Konzernrecht
(Fn. 46), S. 725 ff. (732 ff.). 56 Zu Anpassungserfordernissen und -schwierigkeiten Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004,
§ 304 Rz. 19. 57 Vgl. Windbichler, EWiR 2001, 652 (2/01 zu § 119 AktG). 58 Davies/Hopt (Fn. 1), S. 161 f., 184 f. 59 Bezeichnend die Zusammenfassung von Übernahme- und Konzernrecht bei
Grundmann (Fn. 5) in § 27.
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Zahlreiche Themen versprechen Gewinn aus einer Bearbeitung nach dem Muster der „Anatomy“. Auch ohne spezifisches Konzernrecht stellen sich Definitionsfragen, wann ein Anwendungsfall für eine gruppenbezogene Lösung gegeben ist. Altbekannt ist etwa der Konsolidierungskreis in der Rechnungslegung. Der EnronSkandal hat Anlass dazu gegeben, die so genannten special purpose entities (SPEs) zu überdenken60. Auch das ist ein Konzernproblem, das man einer funktionalen und vergleichenden Untersuchung unterziehen könnte; das zu erwartende Ergebnis wäre wohl ein standard und die Präferenz der USGAAP für spezifisch ausformulierte rules wird nicht zu befriedigen sein. Ein weiterer Skandal, der Hollinger-Fall61, zeigt ein Gemisch aus individuellem Fehlverhalten und der Instrumentalisierung von Konzernstrukturen. Daran könnte man die Frage anknüpfen, ob und unter welchen Umständen ein Unternehmensbegriff als Einstieg in bestimmte Regelungsbereiche taugt62. Die Rechtsprechung zum „existenzvernichtenden Eingriff“ fragt denn auch nicht mehr nach einem Konzerntatbestand63. Insolvenzrechtlich sind Kriterien für Verfahrensverknüpfungen mehrerer Gesellschaften interessant. Eine stärkere Differenzierung als im deutschen Konzernrecht üblich könnte man zwischen 100%igen Beteiligungen und anderen Kontrollformen anbringen. Ausgehend von grundlegenden Agentur-Problemen stellt sich nämlich der Mehrheits-Minderheits-Konflikt und die Hebelwirkung von Beteiligungen ganz anders dar als bei Alleinherrschaft64. Entsprechendes gilt für den Schutz der abhängigen Gesellschaft selbst, der teils mittelbarer Minderheitsschutz, teils asset partitioning65 ist. Die Subordination von Darlehen beherrschender Gesellschafter ist generell verbreitet; sie ist ein Element auch des Konzernrechts, was in der deutschen Auseinandersetzung mit Gesellschafterdarlehen lange Zeit vernachlässigt wurde. Ob die Verlustausgleichspflicht ein bereicherndes Instrument im Konzert ist, wäre zu untersuchen; die Anwendungsvoraussetzungen, die Eignung des einschlägigen Bilanzrechts als bright line test und die Kontrollmechanismen für ordnungsgemäße Bilanzierung bei der abhängigen Gesellschaft sind hier interessante Themen. Im Rahmen der Konzerngeschäftsführung und -kontrolle ist die Analyse der
__________
60 Oben Fn. 8 und 9; Steven L. Schwarcz, Enron, and the Use and Abuse of Special
Purpose Entities in Corporate Structures, 70 U of Cincinnati L. Rev. 1309 (2002). 61 Fabrikant, The New York Times, 1.11.2004. 62 Im amerikanischen Recht werden Durchgriffsfallgruppen danach unterschieden, ob
auf eine natürliche oder juristische Person zugegriffen werden soll, vgl. O'Kelley/ Thompson, Corporations and Other Business Associations, 4. Aufl. 2004, Kap. 6 C. 2. und 3. 63 BGHZ 149, 10 (Bremer Vulkan); BGHZ 150, 61; BGHZ 151, 181 (KBV). 64 Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 76: „Pyramiden“ (groups controlled by minority shareholders through partly-owned holding companies) werden als problematisch bezeichnet; „Minderheitsaktionär“ ist in diesem Zusammenhang der Inhaber von mehreren gestaffelten 51%igen Beteiligungen. 65 Oben bei Fn. 8 und 9.
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Überwachungsleistung von Board, Aufsichtsrat, audit committees und unabhängigen Mitgliedern dieser Gremien auf die Kontrollmechanismen in abhängigen Gesellschaften zu erstrecken. Das Vertrauen in diese Mechanismen ist in den einzelnen Rechtsordnungen unterschiedlich stark66. Hier ist die Untersuchung von Pfadabhängigkeiten, insbesondere der Einfluss unterschiedlicher Aktionärspopulationen, nicht nur ein akademisches Glasperlenspiel, sondern Gradmesser für die Funktionstauglichkeit von Konfliktlösungsstrategien. Methodisch sei noch angemerkt, dass im Gesellschaftsrechtsvergleich die Suche nach (nur) europäischem Privatrecht nur begrenzt weiterführt. Offene Kapitalmärkte, die wirtschaftliche Dominanz amerikanischen Rechts, die Anpassungsprozesse in Japan und die Auswahlentscheidungen junger Marktwirtschaften lassen eine europäische Perspektive als zu eng erscheinen. Die Vorgehensweisen freilich, die die europäischen Privatrechtler entwickelt haben67, sind wohl tauglich. Ebenso haben diejenigen Elemente, die als gemeineuropäischer Bestand gelten können, besonderes Gewicht im Rechtsvergleich. Darüber hinaus hilft die empirisch unterstützte Corporate Governance-Literatur, Pfadabhängigkeiten und die damit zusammenhängenden Innovationsschranken68 deutlich zu machen. Wohlfeilen Theorien allerdings, etwa dass der angelsächsische Rechtskreis aktionärsfreundlicher sei als die kontinentalen Rechtsordnungen69, ist mit größter Vorsicht zu begegnen. Das Glasperlenspiel ist die bessere Strategie; Murmeln für Konzernrecht fehlen dabei nicht. Im Übrigen zeigt sich, dass Murmeln für Konzernrecht im Rechtsvergleich dem manchmal gehörschädigenden Trompeten für ein kodifiziertes Konzernrecht überlegen ist70. Volker Röhricht gehört zur kleinen Schar derjenigen, die mit Elementen des Gesellschaftsrechts in konzernadäquaten Kombinationen innovativ umzugehen wissen71.
__________ 66 Vgl. z. B. Hertig/Kanda (Fn. 1), S. 121, 123, 129. 67 Vgl. v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. I, 1996, Vorwort; Flessner, JZ
68 69
70
71
2002, 14; Grundmann (Fn. 5), § 3; Kötz, Europäisches Vertragsrecht, Bd. I,1996, Vorwort. Schmidt/Spindler (Fn. 45), S. 114 ff.; auch oben Fn. 34. LaPorta/Lopez-de-Silanes/Shleifer/Vishny, Law and Finance, 106 J. Political Econ. 1113, 1151 (1998); ähnlich Johnson/LaPorta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, Tunneling, 90 J. Political Econ. 22 (2000); dagegen etwa Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/ West, Innovation in Corporate Law, http.//ssrn.com/abstract=419861 = 31 J. Comp. Econ. 676 (2003). Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel (1943), suhrkamp tb S. 42 f.: „Außer der Leitung der öffentlichen Spiele gehörte zu den Pflichten des Magisters, … über die Weiterbildung zu wachen. Die Weltkommission aller Länder allein entschied über die … Aufnahme neuer Zeichen und Formeln in den Bestand des Spieles, über etwaige Erweiterungen der Spielregeln, über die Wünschbarkeit oder Entbehrlichkeit neu einzubeziehender Gebiete.“ Vgl. z. B. Röhricht, Das neue Konzept des Bundesgerichtshofs zur Gesellschafterhaftung bei der GmbH, in RWS-Forum 25 Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 1 (11 ff.).
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Gesellschaftsrechtliche Schranken für „Wertgarantien“ der AG auf eigene Aktien Inhaltsübersicht I. Einführung und Themenbegrenzung
b) Keine Rückabwicklung der Aktienzeichnung nach anderen Rechtsvorschriften
II. Rechtstatsächlicher Befund und Plan der Darstellung III. Die „verdeckte“ Kursgarantie 1. § 56 Abs. 3 AktG als sedes materiae 2. Der Tatbestand: Aktienzeichnung „auf Rechnung“ der Gesellschaft 3. Rechtsfolgen a) Die völlige Rechtlosstellung des Zeichners
IV. Verbleibende Gestaltungsmöglichkeiten bei Offenlegung der „Wertgarantie“ 1. Das Konzept 2. Stellungnahme V. Zusammenfassung
I. Einführung und Themenbegrenzung Nicht selten machen Unternehmensveräußerer den Abschluss einer Transaktion davon abhängig, dass sie die Gegenleistung nicht in Geld, sondern in Aktien der erwerbenden Gesellschaft erhalten. Dies war einer der Gründe, die den II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs unter dem Vorsitz des Jubilars zu einer grundlegenden Änderung seiner Rechtsprechung zum genehmigten Kapital veranlassten1 mit dem erklärten Ziel, „das im damaligen Zeitpunkt als Folge der früheren Rechtsprechung zum Erliegen gekommene Institut des genehmigten Kapitals als Finanzierungsinstrument zur Kapitalbeschaffung und namentlich zum Erwerb von Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen wieder zu beleben“2. Gerade Unternehmenserweiterungen, die durch einen Unternehmens- oder Beteiligungserwerb erfolgten und nur gegen Ausgabe der neuen Aktien vollzogen werden könnten, weil der Veräußerer die Übertragung seines Unternehmens von dem Erwerb der jungen Aktien abhängig mache, erforderten rasche und flexible Entscheidungen, wie sie nur das Rechtsinstitut des genehmigten Kapitals mit der Befugnis zum Ausschluss des Bezugsrechts der vorhandenen Aktionäre zur Verfügung stelle.
__________ BGHZ 136, 133 ff. (Siemens/Nold) und dazu Röhricht in Hommelhoff/Röhricht (Hrsg.), RWS-Forum Gesellschaftsrecht 1997, 1998, S. 191 (215 ff.). 2 So die prägnante Zusammenfassung der Motivation des II. Zivilsenats durch das Senatsmitglied Henze in Henze/Hoffmann-Becking (Hrsg.), RWS Forum Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 332. 1
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Die erforderliche Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit der Gesellschaft zur Wahrung von im Zeitpunkt der Beschlussfassung noch nicht konkret vorhersehbaren Chancen zu vorteilhaften Akquisitionen lasse sich nur sicherstellen, wenn die Schaffung eines genehmigten Kapitals schon dann zulässig sei, wenn die Maßnahmen, zu deren Durchführung der Vorstand ermächtigt werden solle, bei Schaffung des genehmigten Kapitals nur allgemein und abstrakt umschrieben werden können3. Die Praxis hat diese Flexibilisierung der Rechtsprechung bekanntlich dankbar aufgegriffen und hiervon in vielfältiger Weise Gebrauch gemacht4. In der Praxis begegnet freilich auch der umgekehrte Fall. Nicht oder nicht in erster Linie der Unternehmensveräußerer, sondern die erwerbende Gesellschaft ist daran interessiert, insbesondere zur Schonung der Liquidität und zur Stärkung des Eigenkapitals Akquisitionen mit eigenen Aktien zu „bezahlen“. Der Veräußerer, der sich hierauf – oft nolens volens – einlässt, ist nicht selten bestrebt, für diese Aktien eine „Kurssicherung“ durchzusetzen. Dies gilt insbesondere dann, wenn er als Folge der Vereinbarung einer Mindesthaltefrist gezwungen ist, das Kursrisiko aus den Aktien für einen längeren Zeitraum zu tragen5. Die zur Lösung dieses Konflikts in der Kautelarpraxis durchaus verbreiteten Vertragsgestaltungen werfen Probleme der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung auf, denen sich der Jubilar in seiner mit Recht hoch gelobten Kommentierung der §§ 23 – 40 AktG in der 4. Auflage des Großkommentars zum Aktiengesetz in fast monographischer Weise gewidmet hat. Es besteht deshalb Anlass zu der Erwartung, dass die nachfolgenden Ausführungen sein Interesse finden. Zur Schaffung der als „Akquisitionswährung“ vorgesehenen Aktien bedarf es regelmäßig einer Kapitalerhöhung unter Ausschluss des Bezugsrechts der Altaktionäre. Weil eine von der Hauptversammlung zu beschließende reguläre Kapitalerhöhung wegen des Risikos von Anfechtungsklagen dies aus Sicht des Inferenten notwendige Transaktionssicherheit jedenfalls de lege lata6 nicht zu schaffen vermag, bedient sich die Praxis, wo immer dies möglich ist, eines bestehenden genehmigten Kapitals. Bei kleineren Transaktionen – in concreto: wenn der Anteil der zu gewährenden Aktien 10 % des
__________
BGHZ 136, 133 (136 ff.). Die Rechtsprechungsänderung begrüßend etwa Bungert, NJW 1998, 488; Volhard, AG 1998, 397; Kindler, ZGR 1998, 35; H. P. Westermann, FS Zöllner, 1998, S. 607 (626 ff.); sehr kritisch („ein Unglück“) Lutter, JZ 1998, 50 ff.; restriktiv auch Bayer, ZHR 168 (2004), 132 (168 ff.), der die Ausübung eines genehmigten Kapitals mit Bezugsrechtsausschluss zugunsten des Mehrheitsaktionärs für unzulässig hält. Das ist m. E. jedenfalls de lege lata nicht begründbar. 5 Zutr. Krause in RWS Forum Gesellschaftsrecht (Fn. 2), S. 301 (317). 6 Vgl. näher M. Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699 (700 ff.); zur geplanten Einführung eines Freigabeverfahrens nach dem Vorbild des § 16 Abs. 3 UmwG für Kapitalerhöhungsbeschlüsse nach Maßgabe des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (§ 248a AktGE) vgl. Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2004, 555 ff. 3 4
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Grundkapitals nicht übersteigt – kann die Gesellschaft stattdessen derivativ erworbene eigene Aktien (etwa aus einem Aktienrückkaufprogramm) als Akquisitionswährung einsetzen. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich auf Transaktionen, bei denen die benötigten Aktien im Wege der Kapitalerhöhung geschaffen werden; die bei Verwendung eigener Aktien auftretenen Spezialprobleme müssen schon aus Raumgründen ausgeklammert bleiben7.
II. Rechtstatsächlicher Befund und Plan der Darstellung Akzeptiert der Unternehmensveräußerer Aktien statt Bargeld, trägt er jedenfalls ab der Durchführung der Kapitalerhöhung das Kursrisiko. Dieses Risiko verstärkt sich für den Fall, dass der Erwerber eine Mindesthaltefrist akzeptiert. In der Praxis werden in solchen Fällen häufig Vertragsklauseln diskutiert und auch vereinbart, wonach die Gesellschaft verpflichtet sein soll, jedenfalls den zu Beginn der Mindesthaltefrist maßgeblichen Aktienkurs in der Weise zu garantieren, dass sie sich verpflichtet, bei Veräußerungen nach Ablauf der Mindesthaltefrist entstehende Verluste durch Zahlung der Differenz in bar auszugleichen. Entsprechende Forderungen aufzustellen, liegt aus Sicht des Veräußerers insbesondere dann nahe, wenn nach dem für ihn maßgeblichen Steuerrecht der Realisierungszeitpunkt die Entstehung der jungen Aktien (mit Eintragung der Durchführung der Kapitalerhöhung) ist8. Nur eine – für die rechtliche Beurteilung nicht entscheidende – Variante liegt in der Vereinbarung einer Verpflichtung der Gesellschaft, die zunächst ausgegebenen jungen Aktien zu einem späteren Zeitpunkt zu einem ex ante definierten, auch im Falle sinkender Börsenkurse fixen Wert in andere Vermögensgegenstände – z. B. Aktien einer Tochtergesellschaft im Zuge einer Börseneinführung – zu tauschen9. Derartige Kursgarantien, wie sie vorstehend lediglich exemplarisch skizziert wurden, werden regelmäßig nicht im Kapitalerhöhungsbeschluss oder im Einbringungsvertrag verankert, sondern vielmehr in einer „Grundlagenvereinbarung“ zwischen dem Inferenten
__________ Hierzu vgl. jüngst Krause (Fn. 5), S. 318, der selbst einen liberalen Standpunkt einnimmt, der freilich mit der h. M. in Rechtsprechung (BFH, WM 1985, 537 [539 r.Sp.]) und Literatur (Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 57 Rz. 45 [68 f.]; Bayer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, § 57 Rz. 37, 79; Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 57 Rz. 31) wohl kaum übereinstimmt. Nach h. M. verstößt eine Kursgarantie der AG, auch wenn sie auf derivativ erworbene Aktien bezogen ist, per se gegen den Tatbestand des § 57 AktG, weil sie nach dem Inhalt der Leistung nur Aktionären gewährt werden kann. Ein Drittvergleich komme daher wegen der Art des Geschäfts von vornherein nicht in Betracht. 8 Zutr. Krause (Fn. 5), S. 317. 9 So der Tatbestand eines derzeit bei den Berliner Gerichten anhängigen Falles, in dem die Sozietät des Verfassers die Beklagte vertritt; vgl. die (nicht rechtskräftige) Entscheidung des LG Berlin, Urt. v. 15.4.2003 – 13 O 301/02 (unveröffentlicht). 7
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und der AG, die nicht selten weder gegenüber der Hauptversammlung noch gegenüber dem Registergericht offengelegt wird. All diesen Gestaltungen ist gemeinsam, dass die Gesellschaft das Risiko aus ihren eigenen Aktien jedenfalls teilweise übernimmt. Derartige Vereinbarungen gefährden – was in der Praxis nicht immer hinreichend beachtet wird – jedenfalls dann den Grundsatz der realen Kapitalaufbringung, wenn sie gegenüber dem Registergericht nicht offen gelegt und bei der Sacheinlagenprüfung nicht berücksichtigt werden – mit für den Inferenten oft höchst unangenehmen Rechtsfolgen. Diese sind unter III. im Einzelnen dargestellt. Unter IV. ist der Frage nachzugehen, ob und gegebenenfalls inwieweit durch Offenlegung der Abreden gegenüber dem Registergericht Abhilfe geschaffen werden kann.
III. Die „verdeckte“ Kursgarantie 1. § 56 Abs. 3 AktG als sedes materiae Kursgarantien, wie sie unter II. exemplarisch in verschiedenen kautelarjuristischen Spielarten dargestellt sind, werden in Rechtsprechung und Literatur regelmäßig unter dem Aspekt des § 57 AktG, der Zentralnorm der aktienrechtlichen Kapitalerhaltung, behandelt10. Indessen greift dieser Ansatz zu kurz, soweit sich eine Kursgarantie – wie in den hier behandelten Fällen – auf junge Aktien aus einer Kapitalerhöhung bezieht. Schon weil solche Abreden, sofern sie im Kapitalerhöhungsbeschluss und gegenüber dem Registergericht nicht offen gelegt werden, die Aktiengesellschaft im Zeitpunkt der Entstehung der Aktien mit einer latenten Verbindlichkeit belasten (sollen), ist es richtig, nicht erst bei der Mittelverwendung und damit beim Grundsatz der Kapitalerhaltung in seiner Ausprägung durch § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG anzusetzen, sondern zunächst das vorgelagerte Problem der Kapitalaufbringung, das für die hier zu beurteilende Fälle durch § 56 Abs. 3 AktG konkretisiert wird, zu behandeln11. Dieser Ansatz mag zunächst überraschen, weil § 56 Abs. 3 AktG auf den ersten Blick weder den (weiten) Anwendungsbereich des Zeichnungsverbots noch die Tragweite der bei seiner Verletzung eintretenden Rechtsfolgen erkennen lässt. Im Ergebnis ist allerdings heute nicht mehr bestritten, dass jede Zeichnung junger Aktien, bei der das mit der Aktienübernahme verbundene wirtschaftliche Risiko auch nur teilweise der AG auferlegt wird, zur Anwendung des § 56 Abs. 3
__________ 10 Vgl. nur Lutter in KölnKomm.AktG, § 57 Rz. 31; Henze in Großkomm.AktG, § 57
Rz. 68 f.; Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 79, Brandi, NZG 2004, 600 ff.; Sieger/Hasselbach, BB 2004, 60 ff. (61). 11 Wie hier Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 56 Rz. 12; zutreffende Problemanalyse auch bei Krause (Fn. 5) S. 320 f.
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AktG führt12. Zur Rechtsfolgenseite kann zunächst festgehalten werden, dass den Zeichner alle Pflichten treffen, die mit der Übernahme der Aktien verbunden sind, er aber keinerlei Rechte gegen die Gesellschaft hat. Diese Regelung – Gültigkeit der Absprache unter Rechtlosstellung des Zeichners – erweist § 56 Abs. 3 AktG als lex specialis zu § 57 Abs. 1 AktG, dessen Verletzung zur Nichtigkeit der Abreden gem. § 134 BGB führen würde13. 2. Der Tatbestand: Aktienzeichnung „auf Rechnung“ der Gesellschaft Nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AktG setzt die Rechtlosstellung des Erwerbers nur voraus, dass er Aktien „für Rechnung der Gesellschaft … übernommen“ hat. Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals „für Rechnung“ gibt es einen eindeutigen Diskussionsstand: Um eine Übernahme „für Rechnung der Gesellschaft“ handelt es sich immer schon dann, wenn das mit der Übernahme der jungen Aktien aus der Kapitalerhöhung folgende Risiko ganz oder auch nur teilweise statt vom Übernehmer von der Gesellschaft getragen wird, wobei etwa an das Risiko fallender Kurse zu denken ist14. In besonderer Klarheit schreibt Henze15: „Entscheidendes Kriterium dafür, ob der Übernehmer nach dem Inhalt des jeweils bestehenden Rechtsverhältnisses ‚für Rechnung‘ handeln soll, ist allein die Zuweisung des wirtschaftlichen Risikos. Wird dieses Risiko ganz oder auch nur teilweise von der AG … getragen, so wird der AG durch den Aktienerwerb in Wirklichkeit – überhaupt oder teilweise – kein neues Kapital zugeführt. Dies zu verhindern, ist Zweck der in Abs. 3 getroffenen Regelung.“
An der Richtigkeit dieser Auffassung und an der daraus zwangsläufig folgenden Anwendbarkeit des § 56 Abs. 3 AktG auf Kursgarantien kann im Ergebnis kein Zweifel bestehen: Zwar waren unzulässige Kursgarantien früher, nämlich seit der Aktienrechtsnovelle von 1931 bis zum Aktiengesetz 1937, in § 226 Abs. 3 HGB alter Fassung explizit geregelt. Dort hieß es: „Dem Erwerb eigener Aktien steht es gleich, wenn Aktien der Gesellschaft von einem anderen auf Rechnung der Gesellschaft oder unter Übernahme einer Kursgarantie durch die Gesellschaft erworben werden.“
Diese Bestimmung ist in die Nachfolgeregelung des § 65 AktG 1937 zwar nicht übernommen worden. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass der historische Gesetzgeber Kursgarantien aus dem Anwendungsbereich der
__________ 12 Vgl. nur Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 53, Lutter in KölnKomm.AktG, § 56
Rz. 38; Bungeroth in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, § 56 Rz. 50. 13 H. M., vgl. nur Lutter in KölnKomm.AktG, § 57 Rz. 62 f.; Henze in Großkomm.
AktG, § 57 Rz. 200 ff., insbesondere 205, Hüffer, AktG, § 57 Rz. 23; a. A. – wegen Vorrangs des § 62 AktG – Bayer in MünchKomm.AktG, § 57 Rz. 144 ff. 14 Vgl. Hefermehl/Bungeroth in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 56 Rz. 36; Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 53; Hüffer, AktG, § 56 Rz. 12; Lutter in KölnKomm.AktG, § 56 Rz. 38. 15 Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 53 (Hervorhebungen im Original).
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Vorschriften über den Aktienerwerb auf Rechnung der Gesellschaft etwa ausnehmen wollte. Das Gegenteil ist der Fall: Wie sich aus dem damaligen Referentenkommentar16 ergibt, ging der Gesetzgeber vielmehr davon aus, dass jede Kursgarantie nur ein Unterfall des Erwerbs von Aktien auf Rechnung der Gesellschaft sei, so dass eine gesonderte Regelung der Kursgarantie entbehrlich erschien. Dass der Wortlaut des § 56 Abs. 3 AktG mit dem Abstellen auf ein Handeln für Rechnung der Gesellschaft in erster Linie den Fall der mittelbaren Stellvertretung im Auge hat, hat ebenfalls historische Gründe. Gesetzgeberischer Anlass für die Einführung der Vorgängervorschrift des § 56 Abs. 3 AktG war das seinerzeit verbreitete System der „Vorratsaktie“, das sich als Folge der Wirtschafts- und Währungskrise der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts entwickelt hatte. Als Vorratsaktien bezeichnet werden Aktien, die durch Dritte (vor allem Mitglieder der Verwaltung, Hausbanken etc.) auf Kosten der Gesellschaft übernommen und zu ihrer Verfügung gehalten wurden. Dass diese Praxis weder aus Sicht einer vernünftigen „Corporate Governance“ noch aus Sicht der realen Kapitalaufbringung akzeptabel war, liegt auf der Hand: Die Verwaltung „kontrollierte“ sich mit Hilfe der Stimmrechte aus solchen Vorratsaktien und des Einflusses auf den regelmäßig weisungsgebundenen Zeichner selbst. Dadurch waren die Interessen der regulären Minderheitsaktionäre auf das Stärkste gefährdet. Zum anderen blieb offen, wann die Aktien endgültig ausgegeben wurden. Zunächst waren sie reine „Leeraktien“ und damit eine erhebliche Gefahr für die Gläubiger, weil die Einlageleistungen der „Aktionäre“ von der AG regelmäßig in irgendeiner Form als Aufwendung erstattet wurden17. Dieser historische Befund rechtfertigt freilich nicht, das Verbot des § 56 Abs. 3 AktG auf die Fälle mittelbarer Stellvertretung zu beschränken. Eine solche restriktive Auslegung würde den historischen Anlass für die Schaffung der Verbotsnorm zu Unrecht mit der Reichweite des Tatbestands gleichsetzen. Besinnt man sich auf den hauptsächlichen Normzweck, nämlich die Sicherung der realen Kapitalaufbringung durch präventive Abschreckung, und darauf, dass der historische Gesetzgeber die Kursgarantie durch die Gesellschaft als selbstverständlichen Fall einer Übernahme „für Rechnung“ angesehen hat, besteht im Ergebnis kein Zweifel daran, dass jede Risikoübernahme beim originären Aktienerwerb unabhängig vom Rechtsgrund die Rechtsfolgen des § 56 Abs. 3 AktG auslöst. Die Vorschrift beansprucht somit auch und insbesondere für die hier untersuchte Kursgarantie in ihren verschiedenen Spielarten Geltung18, und zwar umso mehr, als eben nicht nur die Verhinderung von Vorratsaktien, sondern in gleicher Weise das Verbot von Kursgarantien im Zentrum des Interesses des historischen Ge-
__________ 16 Vgl. Schlegelberger/Quassowski, AktG 1937, 3. Aufl., 1939, § 65 Rz. 29 a. E. 17 Vgl. die treffliche Zusammenfassung bei Lutter in KölnKomm.AktG, § 56 Rz. 3 f. 18 Wie hier namentlich Hüffer, AktG, § 56 Rz. 12.
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setzgebers stand. Dass auch der Normzweck – die reale Kapitalaufbringung – die Anwendung des § 56 Abs. 3 AktG auf Kursgarantien gebietet, wird besonders deutlich, wenn man sich den (theoretischen) Fall vor Augen führt, dass der Börsenkurs im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Kursgarantie unter den rechnerischen Anteil der Aktie am Grundkapital abgesunken ist. Dann würde die Zahlung auf die Kursgarantie im Ergebnis zu einer Verletzung des Verbots der Unterpariemission führen. Aber auch in weniger drastischen Fällen besteht im Ergebnis kein Zweifel daran, dass eine Zahlung aufgrund der im Vorfeld der Kapitalerhöhung vereinbarten Kursgarantie zur Folge hätte, dass die AG weniger erhielte als das, was sie nach dem Kapitalerhöhungsbeschluss und den zum Vollzug der Kapitalerhöhung abgeschlossenen und zum Handelsregister eingereichten Verträgen erhalten muss. Solche „Scheinkapitalbildungen“ zu verhindern, ist aber gerade Sinn und Zweck des § 56 Abs. 3 AktG. 3. Rechtsfolgen a) Die völlige Rechtlosstellung des Zeichners Die Rechtsfolgen einer Aktienübernahme nach § 56 Abs. 3 AktG regelt das Gesetz dahin gehend, dass es den Inferenten so lange „vollkommen rechtlos“19 stellt, bis er die Aktien „auf eigene Rechnung“ übernommen hat, d. h. die zur Risikoverlagerung auf die AG führenden Abreden aufgehoben sind. Das Gesetz begegnet der normzweckwidrigen, den Grundsatz der realen Kapitalaufbringung gefährdenden Verlagerung des Zeichnungsrisikos nicht durch Nichtigkeitsanordnungen – offenbar in der Erkenntnis, dass nicht nur die Nichtigkeit der Zeichnung bzw. des Einbringungsvertrages, sondern auch die Nichtigkeit der schuldrechtlichen „Grundvereinbarung“, aus der die unzulässige Verlagerung des Zeichnungsrisikos auf die AG resultiert, wegen der mit jeder Nichtigkeitssanktion notwendigerweise verbundenen Rückabwicklungsnotwendigkeit zu einer Gefährdung des gesetzgeberischen Ziels der Sicherstellung der realen Kapitalaufbringung führen würde oder jedenfalls führen könnte. Das Gesetz ordnet deshalb die volle Wirksamkeit aller Rechtsgeschäfte – einschließlich der Grundvereinbarung – an, greift jedoch inhaltlich sowohl in die mitgliedschaftlichen Rechte aus den auf Rechnung der Gesellschaft gezeichneten Aktien wie in die Grundvereinbarung ein und ordnet die Rechtlosstellung des Inferenten für die Dauer des Bestands der normzweckwidrigen Grundvereinbarung an. Im Einzelnen ist wie folgt zu differenzieren: aa) Aus § 56 Abs. 3 Satz 2 AktG folgt, dass die Aktien in der Hand des auf Rechnung der Gesellschaft handelnden Zeichners wirksam entstehen und der Zeichner, obwohl er keinerlei Rechte hat (vgl. sogleich unter bb) zur Ein-
__________ 19 Vgl. plastisch Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 69.
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lageleistung verpflichtet bleibt; hat er die Einlage geleistet, hat die AG diese mit Rechtsgrund erlangt20. Der Zeichner kann also nicht etwa die von ihm geleistete (Sach-) Einlage nach den Grundsätzen der ungerechtfertigten Bereicherung zurückverlangen. bb) Nach § 56 Abs. 3 Satz 3 AktG stehen dem Zeichner, bevor er die Aktien nicht für eigene Rechnung übernommen hat, keine Rechte aus den Aktien zu. Das bedeutet den (zeitweiligen) Verlust aller mitgliedschaftlichen Rechte, insbesondere des Stimmrechts und des Dividendenanspruchs, und zwar so lange, wie nicht die der Aktienübernahme zugrunde liegende schuldrechtliche Vereinbarung, die die Risikoüberwälzung auf die AG bewirken soll, durch Aufhebungsvereinbarung beendet ist21. Anders als beispielsweise der Verlust des Dividendenanspruchs bei Nichterfüllung kapitalmarktrechtlicher Meldepflichten nach Maßgabe von § 28 WpHG22 hängt der Verlust des Dividendenanspruchs also nicht davon ab, dass den Übernehmer ein Verschulden trifft. Unter Verstoß gegen das Verbot des § 56 Abs. 3 Satz 3 AktG bezogene Dividenden hat der Inferent nach Maßgabe von § 62 Abs. 1 AktG zurückzuzahlen. cc) Nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AktG kann sich der Zeichner nicht darauf berufen, das er die Aktien „nicht für eigene Rechnung“ übernommen hat. Das bedeutet nach heute unbestrittener Auffassung, dass dem Zeichner auch aus dem Innenverhältnis, d. h. aus dem der Zeichnung zugrunde liegenden schuldrechtlichen Vertrag mit der AG, keinerlei Rechte gegen die Gesellschaft zustehen. Er ist also so zu behandeln, als gäbe es die das Innenverhältnis konstituierenden Absprachen nicht, soweit sie dem Zeichner günstig sind23. Anders als bei Verstößen gegen § 57 AktG ist die Vereinbarung also nicht nichtig, sondern voll wirksam, der Zeichner kann hieraus jedoch keinerlei Rechte ableiten. Es mag dahinstehen, ob – wie wohl allgemein angenommen wird24 – schon der bloße Wortlaut des § 56 Abs. 3 S. 1 AktG die Auslegung der herrschenden Meinung trägt. Die Gesetzesformulierung sollte historisch – wie schon dargelegt – vor allem vor der Schaffung von Vorratsaktien schützen und geht deshalb – als Grundfall – von der mittelbaren Stellvertretung auf der Basis eines Auftrags- bzw. Geschäftsbesorgungsvertrages aus. Liegt ein solches Verhältnis vor, so führt die forensische Formulierung „kann sich nicht darauf berufen“ zwanglos zum völligen Rechtsverlust des
__________ 20 Vgl. Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 65; Hüffer, AktG, § 56 Rz. 14; Wiesner in
MünchHdbGesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl. 1999, § 56 Rz. 7. 21 Diese Beendigung des Innenverhältnisses und die Aufhebung der die Risikoverlage-
rung konstituierenden Abreden meint die Vorschrift, wenn sie von der „Übernahme auf eigene Rechnung“ spricht. 22 Dazu vgl. statt aller Uwe H. Schneider in Assmann/U. H. Schneider, WpHG, 3. Aufl. 2003, § 28 Rz. 57 ff. 23 Hefermehl/Bungeroth in G/H/E/K, AktG, § 56 Rz. 50; Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 69; Lutter in KölnKomm.AktG, § 56 Rz. 46. 24 Vgl. explizit Henze Großkomm.AktG, der auf § 56 Abs. 3 Satz 2 AktG rekurriert.
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Geschäftsbesorgers (namentlich der Rechte aus §§ 669, 670 BGB) unter Fortbestand seiner Verpflichtungen. Wenn man diesen Basisfall verallgemeinert, bestätigt sich die Aussage des Schrifttums, dass nämlich unabhängig von der Ausgestaltung und rechtlichen Qualifizierung des Innenverhältnisses sämtliche Vertragsrechte nicht bestehen. Bezieht man den Normzweck ein, ergibt sich, dass nur diese Auslegung richtig ist. Durch die aus seiner Sicht nicht selten drakonischen Rechtsfolgen soll Druck auf den Zeichner ausgeübt werden, die die reale Kapitalaufbringung gefährdenden Abreden schnellstmöglich aufzuheben. Im Rahmen des § 56 Abs. 3 AktG konkretisiert sich der hinter dem Prinzip realer Kapitalaufbringung liegende Zweck des Gläubigerschutzes geradezu als Abschreckung. Die Gefahr, dass der AG letztlich keine Vermögenswerte zugeführt werden, wird weder durch die Nichtigkeit des Erwerbsvorgangs noch durch die Nichtigkeit des schuldrechtlichen Innenverhältnisses gebannt. Vielmehr greift das Gesetz in die Aktionärsrechte und in das zwischen dem Inferenten und der AG bestehende Innenverhältnis in einer Weise ein, die „Scheinkapitalbildungen“ verhindert, und dies impliziert zwingend die Rechtlosstellung des Inferenten auch und gerade bezüglich des Innenverhältnisses, das gerade die den Normzweck gefährdende Risikoverlagerung konstituiert25. Das zeigen die hier erörterten Gestaltungen in aller Deutlichkeit: Die reale Kapitalaufbringung würde gerade dadurch gefährdet, dass die AG dem Inferenten die Differenz zwischen dem tatsächlichen Veräußerungserlös und einem höheren Kurs erstattet oder die Aktien zu dem ex ante definierten höheren Wert gegen andere Vermögensgegenstände tauscht. Gerade diese Vertragsrechte müssen abgeschnitten sein, soll die Kapitalaufbringung gewährleistet sein. dd) Die Rechtlosstellung beschränkt sich – wie zu wiederholen ist – auf die Person des Inferenten und die ihm zugewiesenen Rechte. Seine Verpflichtungen aus der schuldrechtlichen Grundvereinbarung bleiben unberührt. Er bleibt also beispielsweise aus der Vereinbarung einer Mindesthaltefrist verpflichtet und darf die Aktien während der vereinbarten Zeit nicht veräußern. Rechte aus den Aktien stehen ihm dagegen ebenso wenig zu wie Rechte aus der Grundvereinbarung. Der Inferent ist gehalten, mit der AG eine Aufhebung der Grundvereinbarung, aus der die unzulässige Risikoüberwälzung auf die AG resultiert, zu erreichen. Erst dann stehen ihm die Dispositionsbefugnis über die Aktien einerseits und die mitgliedschaftlichen Rechte aus den Aktien andererseits zu. b) Keine Rückabwicklung der Aktienzeichnung nach anderen Rechtsvorschriften Dass dem Zeichner somit nur die Alternative bleibt, die eigentlich „ungeliebten“ Aktien auf eigene Rechnung zu übernehmen und auf eigene Rech-
__________ 25 Besonders deutlich wiederum Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 64.
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nung zu verwerten, führt in der Praxis gelegentlich zu Bestrebungen, wenn schon nicht die vertragliche Garantien durchzusetzen, so doch wenigstens die erbrachte Sacheinlage zurückzuerhalten. Zwei Ansätze erscheinen in diesem Zusammenhang zumindest ansatzweise diskutabel: aa) Nach § 183 Abs. 2 AktG bzw. der Parallelvorschrift des § 205 Abs. 4 AktG (bei Kapitalerhöhungen in Ausübung eines genehmigten Kapitals) sind Verträge über Sacheinlagen und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung ohne Festsetzung im Kapitalerhöhungsbeschluss der Gesellschaft gegenüber unwirksam. Diese Rechtsfolgen – so ließe sich argumentieren – müssten auch dann eintreten, wenn die ordnungsgemäße Festsetzung von Nebenabreden wie z. B. die hier diskutierten Kursgarantien im Zusammenhang mit einer Sachkapitalerhöhung unterblieben ist und die Angaben über die zu leistende Sacheinlage deshalb unvollständig sind. Zwar wird nach Eintragung der Kapitalerhöhung deren Rechtsbeständigkeit durch die Unwirksamkeit der Sacheinlage nicht berührt. Der Aktionär ist also verpflichtet, den Nennbetrag oder den höheren Ausgabebetrag der Aktien bar einzuzahlen. Seine Sacheinlage könnte er – mangels ordnungsgemäßer Festsetzung – dagegen kondizieren. Je nach Entwicklung der Wertverhältnisse könnte der aus einer unwirksamen Kursgarantie Begünstigte auf diese Weise versuchen, die drakonischen Rechtsfolgen des § 56 Abs. 3 AktG zu umgehen und wenigstens seine Sacheinlage zurückerhalten. Im Ergebnis führt dieser Ansatz jedoch nicht zum Ziel, ohne dass entschieden werden müsste, ob nicht § 56 Abs. 3 AktG für die hier diskutierte Gestaltung lex specialis im Verhältnis zu §§ 183 Abs. 3, 205 Abs. 4 AktG ist. Die Rechtsfolgen der zitierten Vorschriften treten nämlich – wie zur Parallelvorschrift des § 27 Abs. 3 AktG schon das Reichsgericht26 in ständiger Rechtsprechung judiziert hat – trotz Nichtoffenlegung von Nebenabreden dann nicht ein, wenn nur die Sacheinlage selbst im Kapitalerhöhungsbeschluss ordnungsgemäß verlautbart ist. In diesen Fällen besteht – wie der Jubilar überzeugend darlegt27 – nach Sinn und Zweck der Vorschriften kein Grund, die gesamte Sacheinlagevereinbarung für nichtig zu erachten mit der Folge, dass an ihrer Stelle eine Bareinlage zu leisten wäre. Gegenüber der Gesellschaft unwirksam sind allein aus der Satzung (bei der Sachgründung) bzw. aus dem Kapitalerhöhungsbeschluss (bei der Sachkapitalerhöhung) nicht ersichtliche, die Gesellschaft belastende Nebenabreden. Die Wirksamkeit der ordnungsgemäß festgesetzten Sacheinlagevereinbarung als solche bleibt davon unberührt. Der Einleger muss die Abrede so gegen sich gelten lassen, wie sie sich aus der Satzung bzw. dem Kapitalerhöhungsbeschluss ergibt, ohne sich auf deren Unwirksamkeit berufen zu können. Dass diese vom Reichsgericht und von Röhricht für die Sachgründung ent-
__________ 26 RGZ 81, 404 (410 f.); 114, 77 (81 f.); 118, 113 (117 f.) und für die gemischte Sachein-
lage bei der GmbH Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992, § 5 Rz. 110. 27 Röhricht in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2004, § 27 Rz. 150.
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wickelten Grundsätze auch auf die Kapitalerhöhung Anwendung finden, kann nicht zweifelhaft sein. Die Rechtsfolgen des § 56 Abs. 3 AktG und diejenigen der §§ 27 Abs. 3, 183 Abs. 3, 205 Abs. 4 AktG sind also vollkommen kompatibel: Hier wie dort ist der Inferent rechtlos, ohne dass die Wirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung bzw. des der Aktienzeichnung zugrunde liegenden schuldrechtlichen Geschäfts tangiert wäre. bb) Eine Rückgewähr der geleisteten Sacheinlage (gegebenenfalls Zug um Zug gegen Einziehung der Aktien aus der Kapitalerhöhung) kann der rechtlos gestellte Inferent auch nicht nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage erreichen, wie sie durch die Schuldrechtsreform nunmehr in § 313 BGB kodifiziert sind. Zwar werden Parteien, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses die aktienrechtlichen Schranken für eine Kursgarantie in ihren verschiedenen Spielarten verkannt haben, unter Umständen von falschen Vorstellungen im Sinne der Geschäftsgrundlagenlehre ausgegangen sein. Der Anwendung der Geschäftsgrundlagenlehre steht jedoch entgegen, dass diese nicht dazu führen darf, dass die gesetzlich intendierte Risikoverteilung konterkariert wird28. Genau dies wäre aber der Fall, wenn dem Inferenten das Risiko, das ihm durch § 56 Abs. 3 AktG bewusst aufgebürdet wird – Rechtlosstellung bis zur Übernahme der Aktien auf eigene Rechnung – zu Lasten des Eigenkapitals der Aktiengesellschaft abgenommen werden würde. Eine solche vollständige Umkehrung der gesetzlichen Risikoverteilung kann unter Bezugnahme auf die Störung der Geschäftsgrundlage nicht erreicht werden. Regelt ein Gesetz selbst die Rechtsfolgen einer bestimmten Entwicklung und ist diese Regelung als abschließende zu verstehen, so besteht für eine Berücksichtigung dieser Entwicklung als Störung der Geschäftsgrundlage kein Raum. So liegt es hier. In der aktienrechtlichen Literatur besteht Einigkeit darüber, dass der Inferent – als Folge des Ausschlusses aller Ansprüche aus dem Innenverhältnis – nicht verlangen kann, dass die AG ihm die gezeichneten Aktien abnimmt, und zwar selbst dann nicht, wenn die AG zu einem solchen Aktienerwerb nach § 71 AktG ausnahmsweise berechtigt wäre29: Die vom zwingenden Aktienrecht gewollte Rechtsfolge ist eindeutig und kann nicht unter Berufung auf die Geschäftsgrundlage überspielt werden. cc) Einer Rückgewähr der Sacheinlage gegen Einziehung der hierfür gewährten Aktien steht weiterhin § 57 Abs. 1 S. 1 AktG entgegen, wonach dem Aktionär seine Einlage nicht zurückgewährt werden darf. Zwar lässt es die heute h. M.30 zu, dass die AG zu Bedingungen at arm’s length, d. h. insbeson-
__________ 28 Vgl. § 313 Abs. 1 BGB und dazu statt aller Palandt/Heinrichs, BGB, 64. Aufl. 2005,
§ 313 Rz. 16; Roth in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 313 Rz. 114. 29 Vgl. nur Bungeroth in MünchKomm.AktG, § 56 Rz. 64; Henze in Großkomm.
AktG, § 56 Rz. 71; Lutter in KölnKomm.AktG, § 56 Rz. 55. 30 Vgl. nur Henze in Großkomm.AktG, § 57 Rz. 35; Bayer in MünchKomm.AktG,
§ 57 Rz. 9.
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dere zu einem angemessenen Preis, die Sacheinlage an den Inferenten zurückverkauft, weil dadurch das Gesellschaftsvermögen trotz der Rückgewähr wertmäßig erhalten bleibt. Um eine solche Gestaltung geht es bei der Einlagenrückgewähr gegen Einziehung der auf Rechnung der AG erworbenen Aktien gerade nicht, hier handelt es sich notwendig um ein Aktionärs- und nicht um ein erlaubtes Drittgeschäft. Auch auf die Grundsätze, die in der neueren Literatur für die Rückabwicklung von durchgeführten, durch gerichtliches Urteil für nichtig erklärten Kapitalerhöhungen entwickelt wurden31, lässt sich eine Rückabwicklung im Widerspruch zu § 57 AktG nicht stützen. Die Sachverhalte sind auch nicht annähernd vergleichbar. Im Falle der Nichtigerklärung der Kapitalerhöhung durch gerichtliches Urteil verliert der Inferent – wenn auch nach richtiger Auffassung mit Wirkung ex nunc – die aus der Kapitalerhöhung bezogenen jungen Aktien. Dass in diesem Fall eine Rückabwicklung der Einlageleistung – selbstverständlich unter Berücksichtigung der vorrangigen Gläubigerinteressen – erfolgen muss, kann im Ausgangspunkt nicht streitig sein32. Ganz anders liegen die hier zu beurteilenden Fälle: Der auf Rechnung der AG handelnde Inferent hat rechtsbeständige Aktien bezogen. Er erhält die volle Dispositionsbefugnis über diese Aktien und alle damit verbundenen mitgliedschaftlichen Rechte, sobald er sich mit der AG auf die Aufhebung der schuldrechtlichen „Grundvereinbarung“ geeinigt hat, aus der die unzulässige Verlagerung des Zeichnungsrisikos auf die AG resultiert. Um Druck auf den Inferenten auszuüben, diese Aufhebung schnellstmöglich zu vollziehen, stellt ihn das Gesetz zwischenzeitlich rechtlos. Es besteht keinerlei Anlass, diesen gesetzgeberisch gewollten Druck dadurch abzumildern oder gar zu beseitigen, dass entgegen dem eindeutigen Normzweck und der klaren gesetzgeberischen Anordnung, wonach der Inferent die Aktien auf eigene Rechnung zu übernehmen hat, eine Rückabwicklung der Kapitalerhöhung und/oder der Sacheinlagevereinbarung in Erwägung zu ziehen und auf diese Weise der normzweckwidrigen Risikoverlagerung auf die AG – wenngleich auf Umwegen – doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. dd) Ein Anwendungsbereich für die Grundsätze über die Störung der Geschäftsgrundlage verbleibt freilich, falls die Gesellschaft sich weigert, an der Aufhebung der Grundvereinbarung mitzuwirken mit dem Ziel, den Inferenten an den ihn belastenden Abreden dauerhaft festzuhalten, während er im Gegenzug weder aus der Vereinbarung noch aus den gezeichneten Aktien Rechte herleiten kann. Durch die Weigerung der Gesellschaft, an der Übernahme der Aktien auf eigene Rechnung des Inferenten mitzuwirken, wird dessen Opfergrenze regelmäßig überschritten, zumal die Fortdauer der Recht-
__________ 31 Vgl. zusammenfassend M. Winter (Fn. 6), S. 702 ff. 32 Die Rückabwicklung erfolgt nach richtiger Ansicht mit Wirkung ex nunc nach den
Grundsätzen über die fehlerhafte Gesellschaft, vgl. grundlegend Zöllner, AG 1993, 68 ff.
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losstellung auch im Lichte des Normzwecks der realen Kapitalaufbringung dann nicht länger gerechtfertigt ist, wenn der Inferent bereit ist, die Abreden aufzuheben, die die normzweckwidrige Abwälzung des Zeichnungsrisikos auf die AG konstituieren33. Was der Inferent gegebenenfalls unter Berufung auf die Grundsätze über die Störung der Geschäftsgrundlage erreichen kann, ist also die Übernahme der Aktien auf eigene Rechnung gegebenenfalls auch gegen den Willen der Gesellschaft, keinesfalls aber die Rückgewähr der von ihm im Zuge der Kapitalerhöhung geleisteten Sacheinlage.
IV. Verbleibende Gestaltungsmöglichkeiten bei Offenlegung der „Wertgarantie“ 1. Das Konzept Krause34 hat jüngst darauf hingewiesen, dass die misslichen Rechtsfolgen aus § 56 Abs. 3 AktG dadurch vermieden werden könnten, dass bei Vereinbarung einer Kursgarantie die Regeln der gemischten Sacheinlage beachtet werden. Danach wird die Belastung der Gesellschaft aus der „Wertzusage“ im Kapitalerhöhungsbeschluss und gegenüber dem Registergericht offen ausgewiesen und bei der Sacheinlageprüfung berücksichtigt. Wenn der Wert der Sacheinlage die Summe aus dem Nennbetrag der Aktien (oder deren höherem Ausgabebetrag) und dem höchstmöglichen Ausgleichsbetrag aus der Wertzusage mindestens erreicht, könne der Schutz des § 56 Abs. 3 AktG theoretisch auf den Betrag von 1 Euro/Aktie herabgeschleust werden35. 2. Stellungnahme Diese Analyse ist im Lichte des Rechts der Kapitalaufbringung zutreffend. Das Institut der gemischten Sacheinlage36 ermöglicht es, dem Inferenten als Gegenleistung für eine Sacheinlage teils Aktien, teils eine Barleistung bis zum Wert der Sacheinlage zu gewähren. Wenn – Offenlegung im Kapitalerhöhungsbeschluss vorausgesetzt – somit neben der Aktiengewährung zusätzliche Barleistungen zulässig sind, bestehen im Grundsatz keine Bedenken, dem Inferenten einen – in der Höhe selbstverständlich durch den Wert der Sacheinlage limitierten – latenten Anspruch zuzubilligen, der nur fällig wird, wenn der Aktienkurs einen bestimmten Betrag unterschreitet. Damit
__________ 33 Nur diesen Fall (und nicht etwa einen Anspruch des Inferenten auf Aufhebung der
Sacheinlagevereinbarung) behandeln auch Henze in Großkomm.AktG, § 56 Rz. 81, 83, und Hefermehl/Bungeroth in G/H/E/K, AktG, § 56 Rz. 57, sowie Bungeroth in MünchKomm.AktG, § 56 Rz. 70. 34 Krause in RWS Forum Gesellschaftsrecht (Fn. 2), S. 320 ff.; ähnlicher Ansatz bei Sieger/Hasselbach, BB 2004, 64. 35 Krause in RWS Forum Gesellschaftsrecht (Fn. 2), S. 322. 36 Dazu statt aller Röhricht in Großkomm.AktG, § 27 Rz. 112 ff.; Pentz in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 27 Rz. 61 ff.
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ist das Gestaltungsproblem freilich noch nicht gelöst. Sachkapitalerhöhungen erfolgen grundsätzlich unter Ausschluss des gesetzlichen Bezugsrechts der Aktionäre – und ein Bezugsrechtsausschluss ist gemäß § 255 Abs. 2 AktG, der bei Kapitalerhöhungen unter Ausnutzung eines genehmigten Kapitals sinngemäß gilt37, nur zulässig, wenn der Wert der Sacheinlage in einem angemessenen Verhältnis zum Wert der hierfür gewährten Aktien steht. Wird zusätzlich zur Aktiengewährung eine – und sei es auch nur latente – Barleistung der AG vereinbart, ist selbstverständlich auch diese in die Angemessenheitsprüfung einzubeziehen38. Zwar geht die auch vom Jubilar39 geteilte herrschende Meinung40 zutreffend davon aus, dass für die Angemessenheit des Ausgabebetrages nicht allein der nach den allgemein anerkannten Regeln der Unternehmensbewertung ermittelte „innere Wert“ des Unternehmens maßgeblich ist. Über die Angemessenheit kann nur eine Gesamtbetrachtung entscheiden, die auch das Interesse der Gesellschaft an der Gewinnung neuer Aktionäre und an der von diesen eingeworbenen (Sach-) Einlage, das gemeinsam verfolgte Unternehmenskonzept und die konkrete Verhandlungssituation mitberücksichtigt. Auch bei Anwendung dieses flexiblen Maßstabs wird man indessen Kursgarantien zugunsten des Inferenten für die Zeit nach dem Vollzug der Kapitalerhöhung nicht ohne weiteres für zulässig halten dürfen, nicht zuletzt deshalb, weil ein Absinken des Aktienkurses nach Vollzug der Kapitalerhöhung oder die Verfehlung eines ex ante vereinbarten Zielkurses auch darauf zurückzuführen sein kann, dass die Transaktion vom Kapitalmarkt weniger positiv aufgenommen wird als von den handelnden Parteien erhofft. Solche Kursverluste treffen die im Zuge der Transaktion vom Bezugsrecht ausgeschlossenen und damit „verwässerten“ Altaktionäre nicht weniger hart als den Inferenten; die Übernahme dieses Risikos durch die Gesellschaft (nur) zugunsten des Inferenten wird deshalb nur in Ausnahmefällen angemessen und mit dem aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar sein41. Ein solcher Ausnahmefall könnte insbesondere dann gegeben sein, wenn ein Inferent bei der Festsetzung der von der AG zu entrichtenden Gegenleistung für die gewährten jungen Aktien einen höheren als den aktuellen Börsenkurs akzeptiert hat. Wird der der Ermittlung der Gegenleistung zugrunde gelegte Zielkurs in diesem Fall verfehlt, lässt sich durchaus sagen, dass der Inferent für seine Sacheinlage „zu wenig“ erhalten hat und eine Zuzahlung „verdient“. Ähnliches mag für den Fall gelten, dass die AG Gewährleistungen für ihre Vermögens- oder Ertragslage im Zeitpunkt des Vollzugs
__________ Vgl. BGHZ 136, 141. So auch Sieger/Hasselbach, BB 2004, 64. Röhricht (Fn. 1), S. 221 f. Grundlegend Schilling in Großkomm.AktG, 3. Aufl. 1986, § 255 Rz. 7; K. Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, § 255 Rz. 12; Hüffer, AktG, § 255 Rz. 7; ders. in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2001, § 255 Rz. 16. 41 Ähnlich Sieger/Hasselbach, BB 2004, 63. 37 38 39 40
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der Kapitalerhöhung abgegeben hat. Auch solche Gewährleistungen sind, wenn sie nach den Regeln der gemischten Sacheinlage behandelt und gegenüber dem Registergericht offen gelegt werden, nicht per se aktienrechtlich unzulässig. Sie können auch unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit nicht ohne weiteres angegriffen werden: Macht die AG gegenüber dem Inferenten objektiv unrichtige Angaben und war das Unternehmen der Aktiengesellschaft im Zeitpunkt der Kapitalerhöhung deshalb weniger wert als von den Parteien angenommen, ist gegen eine „Nachzahlung“ weder aus Sicht der Kapitalaufbringung noch unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit etwas einzuwenden, wenn die (latente) Zahlungspflicht im Kapitalerhöhungsbeschluss offen ausgewiesen und der Höhe nach limitiert ist. Dabei muss die latente Zahlungspflicht so bemessen sein, dass nicht nur das Prinzip der Kapitalaufbringung, sondern auch der in § 255 Abs. 2 AktG niedergelegte Grundsatz der Angemessenheit zwischen dem Wert der Leistung der Gesellschaft und dem Wert der Sacheinlage berücksichtigt wird, und zwar in dem Sinne, dass die Angemessenheit im Zeitpunkt der Durchführung der Kapitalerhöhung auch für den Fall zu bejahen ist, dass sich die latente Zahlungspflicht später in vollem Umfang aktualisiert.
V. Zusammenfassung Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen: Wertgarantien der AG auf eigene Aktien aus Kapitalerhöhungen, wie sie in der Kautelarpraxis gerade auch bei Unternehmenstransaktionen im Wege des „Aktientauschs“ offenbar nicht ganz selten vorkommen, verstoßen grundsätzlich gegen § 56 Abs. 3 AktG. Auch wenn die Vorschrift und ihre Vorgängernormen historisch in erster Linie auf die Verhinderung von „Vorratsaktien“ abzielten, stehen die hier zu beurteilenden Kursgarantien sowohl im Lichte des Normzwecks als auch im Lichte der Entstehungsgeschichte nicht weniger im Zentrum der Vorschrift. Der Verstoß gegen § 56 Abs. 3 AktG macht weder die Aktienzeichnung noch die zugrunde liegende Grundvereinbarung unwirksam. Das Gesetz verwirklicht das Prinzip der realen Kapitalaufbringung vielmehr dadurch, dass es einseitig zu Lasten des Inferenten in dessen Aktionärsstatus sowie in das Rechtsverhältnis zwischen dem Inferenten und der AG in der Weise eingreift, dass der Inferent, solange das Grundverhältnis besteht, an die von ihm übernommenen Verpflichtungen gebunden bleibt, aber rechtlos gestellt wird. Dem Inferenten stehen keine Rechte aus der „Grundvereinbarung“ und so lange auch keine Rechte aus den übernommenen Aktien zu, bis er diese „auf eigene Rechnung übernimmt“, d. h. die Grundvereinbarung auflöst. Diesen Rechtsfolgen kann der Inferent nicht dadurch entgehen, dass er die Sacheinlage zurückverlangt. Weder unter dem Gesichtspunkt der unvollständigen Offenlegung der Grundvereinbarung gegenüber dem Registergericht noch unter dem Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage kann der Inferent die Rückabwicklung der Sacheinlage723
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vereinbarung durchsetzen. Legale Wertgarantien können unter Beachtung der Grundsätze der gemischten Sacheinlage unter voller Offenlegung der getroffenen Vereinbarung gegenüber dem Registergericht und Einbeziehung der (latenten) Zahlungsansprüche in die Werthaltigkeitsprüfung vereinbart werden. Dabei ist freilich nicht nur das Prinzip der realen Kapitalaufbringung, sondern auch § 255 Abs. 2 AktG zu beachten: Auch unter Berücksichtigung der latenten Zahlungspflicht der AG muss der Wert der Sacheinlage in einem angemessenen Verhältnis zur Gegenleistung der AG – bestehend aus den im Zuge der Kapitalerhöhung ausgegebenen Aktien und einer etwaigen Barleistung – stehen.
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Die Konzeptionslosigkeit des International Accounting Standards Board (IASB) Inhaltsübersicht I. Das Problem II. Rechnungslegung nach IFRS 1. Ziele und Eigenschaften der IFRS nach dem Rahmenkonzept 2. Kritische Würdigung a) Konkretisierung von Vermögenslage b) Konkretisierung von Gewinn c) Der Gegensatz von Vermögensund Gewinndarstellung
1. Vorgehensweise des IASB 2. Kritische Würdigung a) Prinzipienorientierung b) Regelungsflut c) Qualitativ hochwertige Regeln d) Londons IFRS zwischen USA und EU e) Induktionismus IV. Folgerungen V. Zusammenfassende Thesen
III. Politik des IASB
I. Das Problem Das International Accounting Standards Board (IASB) verabschiedet die International Financial Reporting Standards (IFRS)1, die – soweit sie die Hürde der Europäischen Kommission genommen haben – ab 2005 in der Europäischen Union die Rechnungslegung kapitalmarktorientierter Konzerne bestimmen2. Nach dem Bilanzrechtsreformgesetz (BilReG) vom 4.12.2004 dürfen die IFRS auch von nicht kapitalmarktorientierten Konzernen für den Konzernabschluss und von Kapitalgesellschaften für die Information mit dem veröffentlichten Jahresabschluss herangezogen werden3. Hingegen gilt für die Zahlungsbemessung weiterhin der Jahresabschluss nach HGB. Gegenwärtig wird diskutiert, ob sich die IFRS auch für die steuerrechtliche Gewinnermittlung eignen4.
__________ Das Regelsystem heißt mittlerweile IFRS. Die Vorgänger IAS werden nicht neu bezeichnet und existieren neben neu geschaffenen IFRS. 2 Für in den USA notierte Unternehmen gilt ebenso wie für bestimmte andere Unternehmen das Jahr 2007. IAS 39 wurde von der EU nicht ganz übernommen. 3 Vgl. Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG) vom 4.12.2004, verkündet in BGBl. I 2004 Nr. 65 vom 9.12.2004. 4 Grundsätzlich zustimmend Oestreicher/Spengel, Maßgeblichkeit der International Accounting Standards für die steuerliche Gewinnermittlung? – International vergleichende Analyse der wirtschaftlichen Wirkungen eines Übergangs auf die Rechnungslegung nach den IAS, 1999. Ablehnend insb. Herzig, IAS/IFRS und steuer1
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Die IFRS verändern gegenüber dem HGB die Regeln der Gewinnermittlung und erhöhen die Informationspflichten. Sie verlangen unter bestimmten Umständen die (nach § 248 Abs. 2 HGB verbotene) Aktivierung selbst erstellter Anlagewerte, u. a. in Form von Entwicklungskosten, reduzieren den Ansatz und – mit Ausnahme der Pensionslasten – den Wert von unsicheren Schulden und erfassen neben realisierten auch unrealisierte Gewinne, insbesondere bei der Langfristfertigung und bei bestimmten Finanzinstrumenten. Im letzten Fall liegt ein Zeitwertansatz (fair value approach) zugrunde. Der VW-Konzern hat beispielsweise zum 31.12.2001 bei erstmaliger Anwendung der IAS im Konzernabschluss einen Betrag von rd. 5,7 Mrd. Euro an Entwicklungskosten aktiviert5; das bedeutet rd. 5,4 % der Bilanzsumme und rd. 23,7 % des Eigenkapitals. Im Jahr 2003 beliefen sich die Beträge auf rd. 6,3 % der Bilanzsumme und gut 30 % des Eigenkapitals. Die IFRS sind grundsätzlich an der Rechnungslegung kapitalmarktorientierter Unternehmen ausgerichtet. Ihre Übertragbarkeit auf den nicht börsennotierten Mittelstand ist strittig und wird kontrovers diskutiert6. Das IASB hat vor kurzem ein Diskussionspapier vorgelegt, das für kleine und mittelgroße Unternehmen eine die Informationspflichten reduzierende Version von IFRS empfiehlt, unter Umständen aber auch eine veränderte Gewinnermittlung erlaubt7. Es folgt Vorbildern in angelsächsisch orientierten Ländern8. Ausgehend von kapitalmarktorientierten Großunternehmen gewinnen die IFRS in der EU zunehmend an Bedeutung. Die Fragen, welche Eigenschaften sie derzeit kennzeichnen und wie sie weiterhin ergänzt oder verändert werden, sind damit zentral. Unterscheiden muss man hierbei zwischen den vom
__________
5 6
7
8
liche Gewinnermittlung. Eigenständige Steuerbilanz und modifizierte Überschussrechnung – Gutachten für das Bundesministerium der Finanzen, 2004. Jedoch können nach seiner Auffassung „… die IAS-Regelungen in einigen Bilanzierungsfragen durchaus einen geeigneten Referenzpunkt für ein eigenständiges Steuerrecht bilden …“ (S. 454). Vgl. auch Schürmann, Die Bilanztrickser – Wie Unternehmen ihre Zahlen frisieren und den Anleger täuschen, 2003, S. 175. Vgl. z. B. Küting, Saarbrücker Thesen zur Fortentwicklung des deutschen Bilanzrechts, BB 2004, Heft 30, I; Ballwieser, Schaden IAS dem Mittelstand? in Küting/ Pfitzer/Weber, Herausforderungen und Chancen durch weltweite Rechnungslegungsstandards, 2004, S. 11–27; Buchholz, IAS für mittelständische Unternehmen? DStR 2002, 1280; Hüttche, IAS für den Mittelstand: light, little oder gar nicht?, BB 2002, 1804. Vgl. IASB, Discussion Paper June 2004, Preliminary Views on Accounting Standards for Small and Medium-sized Entities (http://www.iasb.org/uploaded_files/ documents/8_891_pv-sme.pdf; Stand 10.1.2005). Hierzu Haller/Eierle, Accounting Standards for Small and Medium-sized Entities – erste Weichenstellungen durch das IASB, BB 2004, 1838. Vgl. Ballwieser (Fn. 6), S. 20–22; Eierle, UK Financial Reporting Standard for Smaller Entities – ein Modell für das IASB?, BB 2004, 987.
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IASB (oder dem IASC als Vorgängerinstitution) verlautbarten Eigenschaften und ihrer tatsächlichen Ausprägung. Damit kommt die Politik des IASB ins Spiel. Dieses ist die Institution eines privatwirtschaftlich organisierten Vereins, die keine interessenfreie Politik verfolgt und deren weiteres Verhalten zu antizipieren ist. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, welches Vorgehen beim IASB erkennbar ist und wie dieses anhand theoretischer Kriterien eingeschätzt werden kann. Mit dem Hinweis auf konzeptionelle Mängel des IASB werden Missstände reklamiert, die evident und eklatant sind, aber in der politischen wie wissenschaftlichen Diskussion ignoriert werden oder unterzugehen drohen. Durch die Beschäftigung mit Detailfragen der Rechnungslegung wird eine verhängnisvolle Entwicklung gefördert. Da es noch nicht zu spät ist, die Arbeit des IASB zu beeinflussen, erscheint die Auseinandersetzung mit Fehlentwicklungen nicht aussichtslos. Der Beitrag fragt, welches Gewinnkonzept den IFRS zugrunde liegt und wie die Regeln im Einzelnen begründet werden. Er wird zeigen, dass – allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – die IFRS relativ konzeptions- und prinzipienlos sind. Ihre konkrete Ausgestaltung wird mit dubiosen Argumenten begründet und sie entwickeln sich zunehmend erratischer. Das könnte vernachlässigt werden, würde die politische Bedeutung der IFRS nicht zunehmend ausgedehnt. Der Beitrag betont, welche Rückbesinnung nötig ist, um die Entwicklung zu korrigieren. Mit der Kritik an dem IASB und den IFRS wird nicht die Vorbildlichkeit des HGB oder des EStG betont. Einige der hier vorgebrachten Argumente stellen diese Regelwerke gleichermaßen in Frage. Dennoch hat das bestehende System den großen Vorteil sowohl der durch Kommentierung und höchstrichterliche Rechtsprechung geschaffenen Rechtssicherheit als auch der Nichtüberschätzung seiner Leistungsfähigkeit. Beides fehlt bei dem neuen, in Entwicklung wie Umsetzung sehr aufwendigen System oder ist zumindest strittig.
II. Rechnungslegung nach IFRS 1. Ziele und Eigenschaften der IFRS nach dem Rahmenkonzept Um die Ziele und Eigenschaften der IFRS zu erkennen, eignet sich neben der Analyse der einzelnen Regelungen das Rahmenkonzept aus dem Jahr 1989. Das Rahmenkonzept ist selbst kein IFRS (oder IAS), soll aber u. a. dem IASB einen Arbeitsrahmen vorgeben und es damit in seiner Arbeit unterstützen sowie den Adressaten der Rechnungslegung verständlich machen, welche Eigenschaften die IFRS haben (F.1)9.
__________ 9
Zur Rolle und einem breiteren Vergleich von Rahmenkonzepten vgl. Ballwieser, Rahmenkonzepte der Rechnungslegung: Funktionen, Vergleich, Bedeutung, Der Konzern 2003, 337.
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Das Rahmenkonzept nennt zwar eingangs sieben Interessenten der Rechnungslegung (F.9), verengt aber anschließend auf Eigentümer: „Da Investoren dem Unternehmen Risikokapital zur Verfügung stellen, werden die Angaben aus den Abschlüssen, die ihrem Informationsbedarf entsprechen, auch den Informationsbedürfnissen der meisten anderen Adressaten entsprechen, die ein Abschluss erfüllen kann“10. (F.10) Das Ziel eines Abschlusses sei es, Informationen über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sowie Veränderungen in der Vermögens- und Finanzlage zu vermitteln. Dies sei für einen weiten Adressatenkreis hilfreich, um wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen (F.12). Die wirtschaftlichen Entscheidungen verlangten eine Einschätzung der Fähigkeit des Unternehmens, Zahlungsströme oder deren Äquivalente zu erzeugen, sowie eine Einschätzung ihrer Zeitpunkte und Sicherheit (F.15). „Die Adressaten können diese Fähigkeit zur Erwirtschaftung von Zahlungsmitteln und Zahlungsmitteläquivalenten besser beurteilen, wenn sie Informationen erhalten, die sich auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sowie auf Veränderungen in der Vermögens- und Finanzlage eines Unternehmens konzentrieren.“ (F.15) Man verbindet hiermit das Konzept der Entscheidungsnützlichkeit der Information. Entscheidungsnützliche Information muss verständlich, relevant, verlässlich und vergleichbar sein (F. 24). Sie sei relevant, wenn sie dazu beitrage, vergangene, derzeitige oder zukünftige Ereignisse zu beurteilen oder frühere Beurteilungen zu bestätigen oder zu korrigieren (F.26). Sie sei verlässlich, wenn sie frei von wesentlichen Fehlern und unverzerrt sei und die Adressaten darauf vertrauen könnten, dass sie glaubwürdig darstelle, was sie vorgebe darzustellen oder was vernünftigerweise inhaltlich von ihr erwartet werden könne (F.31). Soweit die geforderten Eigenschaften in einem Widerspruch zueinander stünden, werde in der Regel eine angemessene Ausgewogenheit zwischen den Anforderungen angestrebt, um das Ziel der Rechnungslegung zu erreichen. Die relative Bedeutung der Anforderungen sei eine Frage fachkundiger Beurteilung (F.45). Sämtliche IFRS müssen diesen bis heute nicht revidierten Zielsetzungen des Rahmenkonzepts gerecht werden. 2. Kritische Würdigung a) Konkretisierung von Vermögenslage Abschlüsse sollen nach dem Rahmenkonzept Informationen über die Vermögenslage und deren Änderung liefern (F.12). Da Vermögen oder Ver-
__________ 10 Die Zitate folgen der Übersetzung in der deutschen Ausgabe der IAS 1999, heraus-
gegeben vom IASC.
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mögenslage ebenso wie Gewinn oder Ertragslage als jeweils theoretischer Begriff nicht etwa voraussetzungslos abgebildet werden kann, sondern erst durch Antwort auf die Frage, was gemessen werden soll, zu konstruieren ist11, muss man erwarten, dass der Ausdruck Vermögenslage konkretisiert wird. Dies geschieht nicht explizit, sondern nur durch die Definition von Vermögenswerten, Schulden und Eigenkapital, wobei Letzteres den Saldo der beiden ersten Elemente darstellt (F.49). Ein Vermögenswert wird als eine von dem Unternehmen beherrschte Ressource als Ergebnis eines vergangenen Ereignisses definiert, von dem künftige wirtschaftliche Nutzenstiftungen für das Unternehmen erwartet werden (F.49[a]). Eine Schuld ist eine gegenwärtige Verpflichtung, die aus einem früheren Ereignis resultiert und deren Erfüllung wirtschaftliche Nutzenaufgaben erwarten lässt (F.49[b]). Auch wenn damit die Posten der Bilanz (und damit bestimmte Meßregeln) definiert werden, ist mit den Definitionen kein klares Vermögenskonzept (eine Definition dessen, was gemessen werden soll) verbunden. Aus den Definitionen folgen Ansatzregeln, aber keine Kriterien der Bewertung. Welche Aussagekraft das Vermögen haben soll, bleibt damit im Dunkeln. Die Bilanztheorie12 kennt insbesondere das 1) Gläubigerzugriffsvermögen im fiktiven Zerschlagungsfall: Das entspricht einer Bilanz mit einzeln veräußerbaren Aktiva, die zu Einzelzerschlagungswerten angesetzt werden, und mit gegenüber Dritten zu erfüllenden Schulden, die mit Ablösebeträgen anzusetzen sind, 2) Fortführungsvermögen im Sinne eines durch Einzelbewertung mit Zeitwerten gebildeten Vermögens: Das entspricht einer Bilanz mit einzeln verwertbaren, nicht unbedingt einzeln veräußerbaren Aktiva und mit gegenüber Dritten zu erfüllenden Schulden, die mit Zeitwerten angesetzt werden, 3) Fortführungsvermögen im Sinne eines grundsätzlich an historischen Kosten orientierten Vermögens: Das entspricht einer Anschaffungskostenbilanz für Aktiva, die einzeln beschaff- oder herstellbar, aber nicht unbedingt einzeln veräußerbar sein müssen, oder das 4) Effektivvermögen im Sinne eines potentiellen Unternehmenspreises: Das entspricht einer Bilanz, in der auch nicht einzeln verwertbare Posten enthalten sind, die zu Teilwerten, d. h. anteiligen Unternehmenswerten, angesetzt werden. Nichts davon ist im Rahmenkonzept zu lesen. Bei der Auseinandersetzung mit der Bewertung findet man stattdessen den Hinweis, dass eine Vielzahl
__________ 11 Vgl. insb. D. Schneider, Betriebswirtschaftslehre, Bd. 2: Rechnungswesen, 2. Aufl.
1997, S. 35; Ballwieser, Anforderungen des Kapitalmarkts an Bilanzansatz- und Bilanzbewertungsregeln, KoR 2001, 160 (161 f.); Hax in FS Laux, 2004, S. 78 f. 12 Vgl. insb. Moxter, Bilanzlehre, 3. Aufl., Bd. I: Einführung in die Bilanztheorie, 1984, S. 5–28, S. 90–92.
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von unterschiedlichen Bewertungsgrundlagen in unterschiedlichem Umfang und in verschiedenen Kombinationen in Abschlüssen üblich sei (F.100). Aufgezählt werden historische Kosten, Zeitwerte, Veräußerungspreise, Erfüllungsbeträge und Barwerte. „Die von den Unternehmen bei der Aufstellung ihrer Abschlüsse am häufigsten eingesetzte Bewertungsgrundlage sind die historischen Kosten.“ (F.101) Das Vorgehen des IASB ist historisch verständlich, aber theoretisch unbefriedigend. Es ist verständlich, weil das IASC im Jahr 1989, als das Rahmenkonzept entstand, additive Lösungen suchte, um den unterschiedlichen institutionellen Bedingungen verschiedener Länder gerecht zu werden und dort die Beschäftigung mit den IAS zu fördern. Jede Festlegung des IASC auf ein theoretisch klares Vermögenskonzept hätte die Gefahr in sich getragen, als solches und zum Schaden des IASC nicht wahrgenommen zu werden. Darüber hinaus war dem IASC vermutlich bekannt, dass sämtliche Bewertungskonzepte theoretische Mängel aufweisen. Ein Vermögen und ein Gewinn, dessen Maximierung z. B. alle Eigentümer einmütig begrüßen würden, verlangt Güter- und Kapitalmärkte mit Eigenschaften, die in der Realität nicht vorliegen: „accounting cannot usefully convey ‚value‘ because value, in terms of an unanimous preference measure, is not well-defined in settings where accounting generally operates“13. Unbefriedigend ist die Vorgehensweise insofern, als die Zwecke des Rahmenkonzepts, die auch darin bestehen, IFRS zu entwickeln und Vorbild für nationale Bilanzrechtsordnungen zu sein (F.1), mit dieser Form der Unverbindlichkeit nicht erfüllt werden können. Was hilft der Hinweis darauf, dass der Ansatz historischer Kosten von den Unternehmen am häufigsten angewendet wird, mithin die Bilanzrechtsordnungen solche Regelungen enthalten? Wie sollen einzelne Bilanzposten angesetzt und bewertet werden, wenn es einer Messlatte im Sinne eines klaren Abbildungsziels ermangelt?14 Nun lässt sich einwenden, dass das Vermögenskonzept dem Ziel der Vermittlung entscheidungsnützlicher Information untergeordnet sei und Letzteres den Bezugspunkt der Rechnungslegung bilde. So lässt sich Beaver verstehen, wenn er ausführt: „From an informational perspective, a function of a financial accounting reporting system is to provide information that potentially will alter investors’ beliefs about the future dividend-paying ability of
__________ 13 Demski/Sappington, Fully Revealing Income Measurement, AR 1990, 363 (366,
Fn. 1, mit Verweis auf Beaver/Demski, The Nature of Income Measurement, AR 1979, 38). 14 Das IASC folgte hier dem Vorbild des FASB, das sich ebenfalls einer Wertung entzog, als es um Bewertungskonzepte im amerikanischen Rahmenkonzept, den SFAC, ging. Das kritisiert zu Recht Haller, Die Grundlagen der externen Rechnungslegung in den USA, 4. Aufl. 1994, S. 220: „So sind zahlreiche Passagen der SFAC vage, allgemein und oberflächlich gehalten. Konkret bestehende, in der Literatur kontrovers diskutierte Grundsatzfragen werden nicht in eine bestimmte Richtung hin entschieden.“
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the firm“. Und: „An accrual can be viewed as a form of forecast about the future, and as such accrual accounting can be viewed as a cost-effective way of conveying forecasts or expectational data“15. Für die Entwicklung von Bilanzrechtsnormen müsste aus dieser Messlatte etwas Eindeutiges folgen. Das ist aber nicht der Fall: 1) Vertreter der Informationsökonomie haben gezeigt, dass Entscheidungsnützlichkeit nur zu prüfen ist, wenn man das individuelle Entscheidungsproblem des Entscheiders kennt16. Eine von Individuen unabhängige, in diesem Sinne objektive Entscheidungsnützlichkeit gibt es nicht. 2) Unstrittig ist, dass man ex post die Wirkungen bestimmter Nachrichten am Kapitalmarkt testen kann. Man testet hierbei zwar verbundene Hypothesen, weil man ein Modell benötigt, wie sich der Kapitalmarkt ohne die Nachricht entwickelt hätte, und die Gültigkeit dieses Modells unterstellt werden muss, um die Wirkung der Nachricht testen zu können, aber die Tests erscheinen hinreichend zuverlässig17. Ex ante hilft dieses Ergebnis aber nichts: Was soll der Regulierer daraus lernen, welche Informationen Unternehmen offen legen müssen? Von dem Sein lässt sich nicht auf das Sollen schließen. 3) Der Regulierer kann lediglich Plausibilitätsüberlegungen vornehmen, was die Adressaten der Rechnungslegung für ihre Entscheidungen benötigen. Wo die Grenze zu finden ist, lässt sich theoretisch nicht belegen und verlangt Wertungen. Das IASB schießt weit über das Machbare hinaus, wenn es betont, dass man anhand der Abschlüsse Höhe, Zeitpunkt und Sicherheit künftiger, die Adressaten interessierender Zahlungen einschätzen können sollte (F.15)18. Der Leser möge seine diesbezügliche Prognosefähigkeit an einer aktivierten Maschine, an Grundstücken und Gebäuden, aber auch an Steuer- oder Pensionsrückstellungen testen. Selbst bei der aktivierten Forderung mit angegebener Fälligkeit wird er Schwierigkeiten haben, weil sie vollständig oder teilweise ausfallen kann. Sieht man von der Kasse und ihr ähnlichen Konten ab, wird die Prognoseeignung sehr beschränkt sein.
__________ 15 Beaver, Financial Reporting: An Accounting Revolution, 3. Aufl. 1998, S. 81 (beide
Zitate). 16 Vgl. Demski, The General Impossibility of Normative Accounting Standards, AR
1973, 718 (723). Vgl. auch Ballwieser, Zur Begründbarkeit informationsorientierter Jahresabschlußverbesserungen, ZfbF 1982, 772 (781 f.). 17 Vgl. zu einem Überblick Möller/Hüfner, Zur Bedeutung der Rechnungslegung für den deutschen Aktienmarkt – Begründung, Messprobleme und Erkenntnisse empirischer Forschung in Seicht, Jahrbuch für Controlling und Rechnungswesen 2002, S. 405–462. 18 Vgl. insb. Moxter, Bilanzierungsmythen, BB 2000, 2143 (2146 f.); Streim, Die Vermittlung von entscheidungsnützlichen Informationen durch Bilanz und GuV – Ein nicht einlösbares Versprechen der internationalen Standardsetter, BFuP 2000, 111.
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Damit verbunden ist die Tatsache, dass das IASB völlig offen lässt, wie Informationen verarbeitet werden können oder verarbeitet werden sollten. Selbstverständlich können Posten der Bilanz prognose- und entscheidungsrelevant sein. In welcher Form dies vorliegt, bleibt aber den Adressaten der Rechnungslegung überlassen. Was folgt aus solch einer Leitlinie für zu gestaltende Ansatz- und Bewertungsregeln? Wie wenig aus dem Konzept der entscheidungsnützlichen Information folgt, lässt sich an umgesetzten Aktivierungsregeln verdeutlichen. IAS 38.57 erzwingt unter bestimmten Bedingungen die Aktivierung von Entwicklungskosten. In den USA verbieten die US-GAAP genau dieses, obwohl ihnen nach den Statements of Financial Accounting Concepts (SFAC) dieselben Leitlinien wie im Rahmenkonzept des IASB zugrunde liegen. Werbekosten dürfen nach IAS 38.69(c) nicht aktiviert werden; nach US-GAAP ist die Aktivierung bestimmter Werbekosten nach SOP 93-7 par. 26 geboten. Man kann die Bilanz verlassen und beispielsweise die Segmentberichterstattung betrachten. Hier gilt die Vermutung, dass eine detailliertere Information einer aggregierten vorgezogen wird. Das der Informationsökonomie geläufige Feinheitstheorem für kostenlose Informationssysteme stützt diese Auffassung19. Empirisch hat sich hingegen gezeigt, dass die Informationszerlegung nur für Umsätze wertvoll ist. Bei Gewinnen kommen Freiheitsgrade des Managements hinsichtlich der Segmentabgrenzung und Aufwandsverrechnung hinzu, welche die positive Wirkung der Informationszerlegung konterkarieren20. b) Konkretisierung von Gewinn Abschlüsse sollen nach dem Rahmenkonzept einen Einblick in den Gewinn, also die Erfolgslage, geben (F.12). Im Rahmenkonzept des IASB werden income und expenses als direkt mit der Ermittlung des profit verbundene Posten qualifiziert (vgl. F.69). Sie werden abstrakt definiert (vgl. F.70). Für ihre Erfassung in der GuV müssen neben den Definitionen weitere Kriterien erfüllt sein (vgl. F.71 und F.83). „Die Definition der Erträge umfaßt auch unrealisierte Erträge, beispielsweise Erträge aus der Neubewertung marktfähiger Wertpapiere sowie Erträge aus der Erhöhung des Buchwertes langfristiger Vermögenswerte.“ (F.76) Es bleibt den Einzelregelungen überlassen, wann unrealisierte und wann realisierte Erträge in welcher Form – in der GuV oder an der GuV vorbei direkt im Eigenkapital – erfasst werden. Der in den USA geläufige Ausdruck des
__________
19 Vgl. Demski (Fn. 16), 722 f. Grundlegend Blackwell/Girshick, A Theory of Games
and Statistical Decisions, 1954, S. 330 f. 20 Vgl. Hacker, Die Segmentberichterstattung – Eine ökonomische Analyse, 2002,
S. 183 f.; Ballwieser, The Limitations of Financial Reporting in Leuz/Pfaff/Hopwood, The Economics and Politics of Accounting, 2004, S. 70–72.
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comprehensive income, wobei other comprehensive income an der GuV vorbeigeht, wird nicht verwendet. Das Konzept wird aber mittlerweile diskutiert21. Das Vorgehen erstaunt aus mehreren Gründen: 1) Man könnte Gewinn als Änderung des Eigenkapitals ohne Kapitalbewegungen mit den Eigentümern verstehen. Gewinn wäre sodann Änderung der Vermögenslage. Die Feststellung, es sei das Ziel eines Abschlusses, Informationen über die Vermögenslage, den Erfolg und die Änderungen der Vermögenslage zu vermitteln (F.12), wäre dann jedoch unverständlich. Änderung der Vermögenslage und Erfolg müssen zweierlei sein. 2) Wenn Änderung der Vermögenslage und Erfolg zweierlei sind, benötigt man ein Konzept, das klärt, welche Eigenschaften der Gewinn haben soll und nach welchen Kriterien Aufwendungen und Erträge in ihn in der GuV einfließen oder an dieser vorbeigehen. Dieses Konzept fehlt. Gewinn wird stattdessen „irgendwie“, genauer: implizit, definiert und ergibt sich nur aus der Zusammenschau aller Ansatz- und Bewertungsregeln. Damit fehlt für Änderungen des Regelsystems die explizite Messlatte. 3) Völlig überraschen muss, dass das IASB die Gliederung der GuV verbessern möchte22, ohne deren Abbildungsziel definiert zu haben23. c) Der Gegensatz von Vermögens- und Gewinndarstellung Die deutsche Bilanztheorie hat – unter hier nicht kritischer Vernachlässigung von Unsicherheit und Anreizproblematik – herausgearbeitet, dass zwischen „guter“ Gewinnermittlung und „guter“ Vermögensdarstellung ein Widerspruch besteht. Moxter bringt dies mit Bezug auf die dynamische Bilanztheorie auf den Punkt: „Wer den Gewinn richtig ermitteln will, muss das Vermögen falsch ermitteln.“24 Was auf den ersten Blick merkwürdig erscheint, ist leicht erklärt: Sollen den Umsatzerlösen beispielsweise alle Auszahlungen gegenübergestellt werden, die dazu beigetragen haben, um sie in einer bestimmten Periode zu erzielen, weil nur dann die Ergebnisse vergleichbar im Zeitablauf
__________ 21 Vgl. als Ausgangspunkt IASC, G4+1 Position Paper: Reporting Financial Perfor-
mance, 1999. 22 Vgl. IASB, Reporting Comprehensive Income, 2003, abrufbar unter: http://www.
iasb.org/uploaded_files/documents/16_19_perfrep-ps.pdf.pdf (Stand: 10.1.2005). Vgl. auch Mujkanovic, Fair Value im Financial Statement nach International Accounting Standards, 2002, S. 307. 23 Vgl. zur Würdigung Ballwieser/Hettich, Das IASB-Projekt „Reporting Comprehensive Income“: Bedeutung für das Controlling, ZfCM, Sonderheft 2/2004, 79. 24 Moxter (Fn. 12), S. 6.
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sind und Ergebnisänderungen aussagekräftig werden, dann müssen möglichst viele Auszahlungen aktiviert werden. Auszahlungen für Gründung, Eigenkapitalbeschaffung, Ingangsetzung und Erweiterung des Geschäftsbetriebs, Forschung und Entwicklung und Werbung gehören ebenso zu ihnen wie Auszahlungen für Grund und Boden, Gebäude, Maschinen und Geschäftswagen. Die Bilanz wird damit zum Zahlungsspeicher und bildet nicht mehr das ab, was mit den Auszahlungen erworben wurde. Will man Letzteres zeigen, dann sind Auszahlungen für Gründung, Eigenkapitalbeschaffung, Ingangsetzung und Erweiterung des Geschäftsbetriebs, Forschung und Entwicklung sowie Werbung als Aufwand der Periode zu erfassen. Damit wird die Erfüllung des ersten Informationsziels konterkariert. Nun kennt man das Problem durchaus auch in anderen Ländern: Betont man den Vorrang des Gewinns, spricht man in den angelsächsischen Ländern vom income approach; betont man den Vorrang des Vermögens, ist vom asset and liabilities approach die Rede. Das Fatale am Wirken des IASB ist, dass es weder im Rahmenkonzept noch an anderer, ebenso prominenter Stelle deutlich macht, welchem Ansatz es zuneigen will. Tatsächlich verändert es im Zeitablauf seine Politik und hat verschiedene Konzepte im Hintergrund.
III. Politik des IASB 1. Vorgehensweise des IASB Das IASB und sein Vorläufer, das 1973 gegründete IASC, haben über verschiedene Zeiträume verschiedene Arten von IAS – heute IFRS – erlassen. Statuarisch erklärtes Ziel war die Erarbeitung und Veröffentlichung von Rechnungslegungsnormen und die Förderung ihrer weltweiten Anerkennung. Da das IASC nur Handlungsempfehlungen für nationale Standard Setter, d. h. den Gesetzgeber, öffentliche oder private Gremien, abgab, war man um politische Rücksichtnahme auf die Mitgliedsländer bemüht. Zwischen 1973 und 1979 erließ man deshalb Regeln mit einem hohen Grad an Allgemeinheit und Bezug auf unstrittige Punkte25. Zwischen 1980 und 1989 wurden detailliertere Regeln entwickelt. Da in den Mitgliedstaaten des IASC verschiedene Bilanzrechtsordnungen vorherrschten, erlaubte man vielfach Bilanzierungswahlrechte für die Unternehmen. Die beiden nächsten Stufen führten zur Reduktion an Bilanzierungsfreiheiten, um die gewünschte Anerkennung bei der IOSCO, der internationalen Vereinigung der Börsenaufsichtsbehörden, und der SEC, der amerikanischen Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde, zu unterstützen. Sie begannen in den Jahren 1990
__________ 25 Vgl. zu diesem Abschnitt Roberts/Weetman/Gordon, International Financial
Accounting, 2. Aufl. 2002, S. 142.
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(Comparability Project) und 1995 (IOSCO Core Standards Project). Im Jahre 2000 empfahl die IOSCO die grundsätzliche Anerkennung von 30 Core Standards für Cross-Border-Listings26; allerdings dürfen nationale Börsenzulassungsbehörden weiterhin zusätzliche Informationen verlangen, u. a. Überleitungen auf Zahlen nach nationalem Recht fordern27. Das IASB will qualitativ hochwertige Rechnungslegungsregeln erlassen28. Es will prinzipiengestützt vorgehen und sich vom cook book accounting des amerikanischen FASB abheben29, zugleich aber mit diesem ein Konvergenzprojekt betreiben30, um auch als Regelsystem für die – bisher noch versagte – Zulassung an amerikanischen Börsen anerkannt zu werden. 2. Kritische Würdigung a) Prinzipienorientierung Die vom IASB in den Vordergrund gestellte Prinzipienorientierung kann sich nicht auf ein explizites und eindeutiges Vermögens- oder Gewinnkonzept beziehen. Das hat bereits die Kritik in Abschnitt II.2 deutlich gemacht. Die Prinzipien beziehen sich im Wesentlichen auf die Entscheidungsnützlichkeit und die Zuverlässigkeit der Information. Aber auch die Entscheidungsnützlichkeit ist – wie oben gezeigt – ein Papiertiger. Jedoch gibt es im- wie explizite Sympathien für ein full fair value accounting, eine Zeitwertbilanz. Zeitwerte spielen in verschiedenen IAS an verschiedener Stelle eine Rolle, insbesondere bei der31 1) 2) 3) 4) 5)
Folgebewertung von Sachanlagevermögen (IAS 16.31-42), Abschreibung von Vermögenswerten (IAS 36), Folgebewertung von immateriellen Vermögenswerten (IAS 38.75-87), Folgebewertung von Finanzinstrumenten (IAS 39.45-49), Folgebewertung von Finanzinvestitionen in Immobilien (IAS 40.33-55) und 6) Folgebewertung von landwirtschaftlichen Gütern (IAS 41.10-25). Aussagekräftige Zeitwerte im Sinne von Marktpreisen verlangen vollkommene und vollständige Güter- und Kapitalmärkte, die nicht existieren. Deshalb sind Annäherungen an diese gesucht. Sie werden u. a. in Preisen auf
__________ Vgl. auch Achleitner/Behr, International Accounting Standards, 3. Aufl. 2003, S. 43. Vgl. auch Roberts/Weetman/Gordon (Fn. 25), S. 147. Vgl. IASC Foundation Constitution, Part A, Sec. 2. Vgl. Preißler, „Prinzipienbasierung“ der IAS?, DB 2002, 2389. Vgl. die Details zur Short-term Convergence auf der Website http://www.iasb.org/ current/active_projects.asp (Stand: 10.9.2004). 31 Vgl. hierzu insb. Ballwieser/Küting/Schildbach, Fair value – erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, 529 (632 f.). Vgl. weiterhin Mujkanovic (Fn. 22), S. 136–189. 26 27 28 29 30
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Basis marktbasierter Begutachtung oder in Werten aus der Anwendung von Ertragswert- oder Discounted Cash Flow-Verfahren (alles in IAS 16), in Preisen aus bindendem Kaufvertrag, Preisen an aktiven Märkten, Schätzungen aufgrund des letzten vorliegenden Preises am aktiven Markt oder aufgrund anderer Information (alles in IAS 36.25-27) gesehen und stellen kein einheitliches Konzept dar. Anders als die Terminologie nahe legt, sind die Marktpreisapproximationen von zahlreichen Annahmen geprägt und vom Bilanzierenden gestaltbar32. Die Hinwendung des IASB zu fair values erfolgte in Einzelschritten33. Sie kamen als erstes zwingend bei bestimmten Finanzinstrumenten (trading securities und available-for-sale securities; IAS 39.68 f. [1998]) und wahlweise bei bestimmtem Anlagevermögen (immaterielle Anlagewerte (IAS 38.64 [1998]), Sachanlagevermögen (IAS 16.29 [überarb. 1998]) und als Finanzinvestition gehaltenen Immobilien (IAS 40.24 und .27 [2000]) ins Spiel. Es folgten fair values bei biologischen Vermögenswerten. Zwar kam es in der Einführungsphase des im Jahre 2001 verabschiedeten IAS 41 zu heftigen Diskussionen über die Sinnhaftigkeit dieses Wertansatzes, aber biologische Vermögenswerte waren für die Öffentlichkeit eher exotische Aktiva. Ein Issues Paper vom Dezember 1999 sah eine Bilanzierung von Versicherungsverträgen mit einem am Absatzmarkt orientierten fair value vor. Das Draft Statement of Principles (DSOP) im Juni 2001 orientierte sich hingegen mit dem entity specific value an einem Nutzenwert für das Unternehmen. IFRS 4.25 erlaubt die Fortführung bisheriger Bewertungen unabhängig vom fair value. Für Phase 2 soll eine fair-value-Bewertung mit anderen Rechnungslegungsmodellen für Versicherungsverträge verglichen werden34. Flankiert wurde das ganze Projekt durch Vorschläge zur Änderung der Gewinn- und Verlustrechnung mit gleichzeitiger Integration der erfolgsneutral verbuchten Auf- und Abwertungen. Das IASB wie das FASB diskutieren Projekte zu diesem Thema, wobei die Bezeichnung des IASB-Projektes „Reporting Performance“ mittlerweile in „Reporting Comprehensive Income“ geändert worden ist. Beim FASB läuft das Projekt unter dem Titel „Financial Performance Reporting By Business Enterprises“. IASB und FASB arbeiten zusammen, hegen jedoch unterschiedliche Vorstellungen. Ursprünglich war ein Exposure Draft vom IASB für das vierte Quartal des Jahres 2003 vorgesehen. Aufgrund von Feldstudien wird das Projekt derzeit nochmals einer eingehenden Analyse unterzogen. Darauf aufbauend soll ein Diskussionspapier veröffentlicht werden. Da man das Papier zugleich dem Konver-
__________ 32 Nachweise bei Ballwieser/Küting/Schildbach (Fn. 31), 535–544. 33 Ich folge in den nächsten drei Absätzen – zum Teil wörtlich – Ballwieser/Küting/
Schildbach (Fn. 31), 544 f. 34 Vgl. IASB, Insurance Contracts (phase II), Project Summary (letzte Änderung
8.10.2004), http://www.iasb.org/uploaded_files/documents/16_18_insurance2-ps.pdf (Stand: 10.1.2005), Tz. 12(b).
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genzprozess von IFRS und SFAS unterwerfen will, ist nicht vor 2006 mit einem Standard zu rechnen. Das IASB sieht eine völlige Neugestaltung der Gewinn- und Verlustrechnung vor. Danach sollen sämtliche, das Eigenkapital verändernden Erfolgskomponenten – abgesehen von Transaktionen mit Eigentümern – in einem Statement abgebildet werden. Es ist deshalb die Zusammenfassung von Gewinn- und Verlustrechnung und Eigenkapitalveränderungsrechnung vorgesehen. Ferner erfolgt der Ausweis nicht wie bisher (ohne Vorjahreswerte) einspaltig in Staffelform, vielmehr sollen sämtliche Erträge und Aufwendungen in eine Matrix mit verschiedenen Zeilen und Spalten eingeordnet werden. Das soll den Adressaten einerseits die Arbeit erleichtern, weil anders als bisher nicht zwei Instrumente (GuV und Eigenkapitalveränderungsrechnung) heranzuziehen sind. Andererseits ist es ein geschickter Schachzug, die Änderungen der fair values in den Unternehmenserfolg einfließen zu lassen. b) Regelungsflut Gegen eine Prinzipienorientierung spricht auch die voluminöse Ausgestaltung der IFRS samt Basis for Conclusions, Guidance on Implementing und Interpretations von IASB, SIC und IFRIC, die allein vom Umfang her die Erstanwender schaudern lässt. Denn sie müssen sich (bei Zugrundelegung des englischen Ausgabe des Jahres 2004, Stand 31.3.200435) mit gut 500 Seiten IFRS, über 1.500 Seiten IAS, rd. 50 Seiten SIC und 25 Seiten Framework auseinander setzen. Zusammen mit Verfassung, Vorwort zu IFRS, Glossar und Index liegen 2.250 Seiten vor, für die derzeit die autorisierte Übersetzung noch fehlt. Frühere Übersetzungen hatten z. T. exorbitante Fehler36. Es gibt darüber hinaus eine – im Ansteigen befindliche – Flut von IAS/IFRSKommentaren37. Trotz dieser Flut an Papier sind wichtige Fragen ungelöst: Für Versicherungsverträge gibt es keine einheitliche Bilanzierungslösung. Stattdessen werden nationale Besonderheiten akzeptiert. Erst in einer späteren Phase soll ein
__________ 35 Vgl. International Accounting Standards Committee Foundation, International
Financial Reporting Standards (IFRSsTM) 2004, 2004. 36 Nachweise bei Ballwieser/Zimmermann, Bilanzrecht und Sprache, WPg., Sonder-
heft 2004, S. 73 (S. 78–82). 37 Vgl. insb. Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung nach internationalen Standards,
Loseblatt Stand: 2002; Baetge/Dörner/Kleekämper/Wollmert, Rechnungslegung nach International Accounting Standards (IAS), 2. Aufl. 2002; Ballwieser/Beine/ Hayn/Peemöller/Schruff/Weber, Wiley-Kommentar zur internationalen Rechnungslegung nach IAS/IFRS, 2004; Beck’sches IFRS-Handbuch 2004; Heuser/Theile, IASHandbuch – Einzel und Konzernabschluss, 2003; Lüdenbach/Hofmann, IAS-Kommentar, 2003.
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einheitliches Konzept entwickelt werden. In der Vergangenheit ergab sich keine geradlinige Entwicklung von Vorschlägen, sondern ein Hin und Her widersprüchlicher Konzepte (vgl. oben Abschnitt III.2.a). c) Qualitativ hochwertige Regeln Mit der (impliziten) Zuwendung zum full fair value accounting sind die qualitativ hochwertigen Regeln aus mehreren Gründen gefährdet: Mit Zeitwertbilanzen wird die Idee verfolgt, mindestens einmal jährlich den Marktpreis sämtlicher Vermögenswerte und Schulden, und damit auch den Marktpreis des Eigenkapitals, zu erfahren. Aus dem Saldo der Änderungen sämtlicher Marktpreise resultieren Gewinne oder Verluste im Zeitablauf. Das Informationsziel leuchtet nur scheinbar ein: Bilanzen ermitteln Vermögen auf dem Weg der Einzelbewertung. Sie vernachlässigen nach jedwedem Rechtskreis, auch nach IFRS, bewusst den originären Geschäftswert38 – z. B. entstanden aufgrund von Standortvorteilen, Belegschaftsqualität, Fertigungs-Know-how, selbst geschaffenen Marken – und Verbundeffekte. Damit ist der Kreis und der Wert der Vermögenswerte erkennbar eingeschränkt. Nun könnte man vermuten, dass eine Zeitwertbilanzierung den Abstand zum Unternehmenswert gegenüber einer Bilanzierung mit historischen Werten verringert: Die Zeitwertbilanzierung nähere m. a. W. den Unternehmenswert besser an als eine Bilanzierung mit (fortgeschriebenen) Anschaffungsoder Herstellungskosten. Wer dies meint, der hat bestimmte Relationen von fair values und anteiligen Unternehmenswerten sowie die Gültigkeit bestimmter ceteris-paribus-Bedingungen im Sinn, die zu belegen und nicht vorauszusetzen wären. Man kann nicht beweisen, dass die vermutete Beziehung allgemein gilt. Das zeigt sich beispielweise in folgenden Fällen: 1) Der Unternehmenswert kann sich aufgrund von Änderungen der Alternativrendite ändern, d. h. des Zinssatzes, mit dessen Hilfe der Unternehmenswert berechnet wird. Die Posten der Bilanz können hingegen zugleich in ihren Zeitwerten unverändert bleiben (das gilt für Kasse) oder sich anders als der Unternehmenswert ändern (das kann für viele zinstragende Forderungen und Verbindlichkeiten gelten). Ob die Addition einer Bilanz mit Zeit- oder historischen Werten näher an den Unternehmenswert gelangt, ist offen. 2) Der Unternehmenswert enthält regelmäßig einen selbst geschaffenen Goodwill. Zeitwerte von Aktiva können steigen und dadurch dem Unternehmenswert nahe kommen; der selbstgeschaffene Goodwill kann (aus
__________ 38 IAS 38.48: „Internally generated goodwill shall not be recognised as an asset.“ In
der Literatur wird vereinzelt das Gegenteil verlangt; vgl. Mujkanovic (Fn. 22), S. 284–306.
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anderen Gründen) zugleich abnehmen und von dem Unternehmenswert wegführen. 3) Der Unternehmenswert enthält Verbundeffekte aus der Nutzung von Vermögenswerten und Schulden. Es gilt dasselbe wie bei dem selbst geschaffenen Goodwill. Auch wenn wir diese Punkte vernachlässigen, stellt sich die Frage, wessen Informationsbedürfnisse die Marktpreise und deren Änderungen befriedigen: Anlagevermögen ist nicht unmittelbar für den Markt bestimmt. Beispielsweise können die Preise für Grundstücke, auf denen Produktionsstätten oder Verwaltungsgebäude stehen, mehr oder minder starke Schwankungen im Zeitablauf durchlaufen. Die Grundstücke sollen aber weder verkauft noch wiederbeschafft werden. Was sagen die Wertänderungen aus? Soll man gar das Management belobigen, wenn die Preise gestiegen sind, obwohl es dafür gar nichts kann? Soll man es im umgekehrten Fall tadeln? Neben den Preisen von Grundstücken könnte man an die Barwerte von langfristigen Schulden denken. Darüber hinaus ergibt sich das Problem, dass für viele Güter Marktpreise fehlen (müssen), jedenfalls wenn man mit diesen markträumende Preise aus einer Vielzahl von Transaktionen verbindet. Spezialmaschinen haben so wenig einen Marktpreis wie nicht abtretbare Forderungen oder Pensionslasten des Unternehmens. Selbst bei Beteiligungen, z. B. verstanden im Sinne von mindestens zwanzigprozentigem Kapitalanteil an einer Kapitalgesellschaft, stellt sich die Frage nach der Bestimmung eines Marktpreises. Resultat davon ist, mit Surrogaten arbeiten zu müssen. Das IASB verlangt dies, z. T. mit aberwitzigen Konsequenzen: In IAS 36.A8 wird im Rahmen einer Annäherung eines Marktpreises durch einen Barwert ein Beispiel dargestellt, in dem ein als Erwartungswert bezeichneter Barwert mit risikolosen Kapitalisierungssätzen berechnet wird. Die Diskontierung mit risikolosen Zinssätzen verlangt entweder sog. risikoneutrale Wahrscheinlichkeiten, von denen keine Rede ist, oder die Diskontierung von Sicherheitsäquivalenten. Jedoch wird die Methode als Expected Cash Flow Approach bezeichnet, was man als einen Gegensatz zur Sicherheitsäquivalentmethode ansieht. d) Londons IFRS zwischen USA und EU Das IASB hat sein Ziel noch nicht erreicht, mit seinen Regeln für die Börsenzulassung in den USA anerkannt zu werden. Damit ist die Internationalität der IFRS auf die Welt ohne den größten Kapitalmarkt beschränkt. Um hier voranzukommen, ist ein Konvergenzprojekt mit dem FASB, dem Regulierer für die Bilanzierungsregeln für börsennotierte Unternehmen in den USA, vereinbart.
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Fraglich ist, wie sehr die Amerikaner sich bemüßigt sehen, dem IASB entgegenzukommen. Man könnte eher erwarten, dass das IASB dem FASB folgt. Faktisch geschah dies jüngst bei der aus den USA übernommenen Außerkraftsetzung der planmäßigen Abschreibung des Goodwill aus Kapitalkonsolidierung: Dieser Goodwill wird seit Gültigkeit von IFRS 3, der grundsätzlich SFAS 141 und 142 folgt, nur noch jährlich oder bei Vorliegen bestimmter Signale auf Werthaltigkeit getestet und ggf. außerplanmäßig abgeschrieben. Irritierend ist aber, dass IFRS 3 von SFAS 142 in mehreren Punkten abweicht. Dies betrifft 1) den Erwerbs- und Konsolidierungszeitpunkt: nach IFRS bei Erlangung der Kontrolle, nach US-GAAP bei Abschluss und Verkündung, 2) die Ebene, auf die der Konsolidierungsgoodwill zu verteilen ist: nach IFRS auf zahlungsmittelgenerierende Einheiten, nach US-GAAP auf Berichtseinheiten, 3) das Vorgehen beim Werthaltigkeitstest: einstufig ohne eigene Wertermittlung für den Goodwill nach IFRS, zweistufig mit eigener impliziter Wertermittlung für den Goodwill nach US-GAAP, oder 4) die Verbuchung eines negativen Unterschiedsbetrags als Ertrag nach IFRS, als außerordentlicher Ertrag nach US-GAAP. Noch frappierender sind die Unterschiede bei der Behandlung von stock options und von Entwicklungskosten. Schließlich ergibt sich eine offene Flanke bei der EU. Hier wurde deutlich, dass die Hinwendung zu fair values bei Finanzinstrumenten nicht die Gegenliebe deutscher und französischer Banken- und Versicherungsvertreter fand. Deshalb ist IAS 39, wie er vom IASB verabschiedet wurde und in der neuesten Ausgabe der IFRS zu finden ist, bisher von Brüssel nicht für die EU freigegeben. Es fehlen die Fair Value Option und das Hedge Accounting. Daraus resultiert für das IASB ein Spannungsfeld USA – London – EU. Was im Konvergenzprojekt mit den USA opportun erscheint, muss nicht für die EU akzeptabel erscheinen (und umgekehrt). Dieses politische Problem kann man dem IASB nicht abnehmen. Es selbst stellt sich aber Hürden in den Weg, solange es kein klares Konzept der Vermögens- und Gewinnermittlung entwickelt. Es hat dann keine explizite Basis, von der ausgehend Positionen vertreten werden können. e) Induktionismus Mit dem Interesse an weltweiter Akzeptanz, aber auch mit der angelsächsischen Form von Regulierung, dürfte es zusammenhängen, dass das IASB erkennbar den Interessen Betroffener folgt. Nun müssten die Hauptadressaten, die das IASB lenken, die Nutzer der Rechnungslegung sein; beeinflusst wer742
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den dürfte es hingegen stärker von den Erstellern und Prüfern der Rechnungslegung. Das zeigt sich sowohl in seiner Zusammensetzung als auch in seiner Verhaltensweise. Die Nutzer der Rechnungslegung, zu denen neben Aktionärsvertretern auch Finanzanalysten oder Vertreter von Ratingagenturen zählen, sind mit einem früheren Finanzanalysten (Anthony T. Cope) nur spärlich im IASB vertreten. Auch Wissenschaftler und frühere Vertreter anderer Standard Setter sind nur spärlich eingebunden (je 2 Mitglieder). Es dominieren frühere Vertreter von WP-Gesellschaften (5 Mitglieder) und von Unternehmensleitungen (4 Mitglieder). Rechnungslegung hat keine unverbindliche Dokumentations- oder Informationsfunktion. Rechnungslegung hat eine Schutzfunktion, wobei Wertungen geboten sind, gute Lösungen mithin nicht aus der Natur der Sache folgen39. Zu schützen sind Dritte, insbesondere Kapitalgeber, vor dem unredlichen Verhalten von Geschäftsleitungen. Ihr Verhalten soll – in gewisser, beschränkter Hinsicht (nur finanziell, mit bestimmten Informationsgrenzen etc.) – kontrollierbar sein. Es stellt diese Schutzfunktion auf den Kopf, wenn man die Regeln den Betroffenen selbst überlässt. Deutschen Juristen war und ist das geläufig. Döllerers Hinweis im Jahre 1959, GoB seien deduktiv – durch Nachdenken – statt induktiv durch Erforschung der Meinung der zu Regulierenden zu bestimmen40, belegt das ebenso wie z. B. die Ausführungen von Luttermann im Jahre 2004 über die Eigenschaften von Bilanzrecht41. Nun ist bei jedem Regulierungsverfahren Lobbyismus legitim und erkennbar42. Aber beim IASB scheint die Tendenz, auf die betroffenen Prüfer und Aufsteller zu hören, sehr ausgeprägt. Wegen eines fehlenden klaren Konzepts muss man viel testen. Entwürfe werden geschrieben und nach massiver Einflussnahme revidiert oder zurückgezogen. Anschauungsunterricht für Letzteres liefert die Entwicklung der Standards zu Versicherungsverträgen und zu Finanzinstrumenten. Hier gab es in der Vergangenheit eindeutige Hinweise darauf, dass ein full fair value accounting favorisiert wurde. Im IASB Insight, July 2004, lesen wir hingegen unter „The Chairman’s page – a personal view by Sir David Tweedie“, dass Beratungsgruppen für die Behandlung von Versicherungsverträgen, Finanzinstrumenten und performance reporting eingesetzt werden. „I want to emphasise that we have not reached any decisions on these three projects. The advisory groups will therefore start with a clean
__________ 39 Vgl. Moxter (Fn. 18), 2147 f. 40 Vgl. Döllerer, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, deren Entstehung und
Ermittlung, BB 1959, 1217 (1217). 41 Vgl. Luttermann in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, Einf. BilanzR Rz. 1 ff. 42 Zu zahlreichen Beispielen in verschiedenen Rechtsordnungen vgl. Zeff, „Political“
Lobbying on Proposed Standards: A Challenge to the IASB, AH 2002, 43.
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slate. The IASB has made no commitment to a full fair value approach on insurance and financial instruments.“
IV. Folgerungen Kein klares Konzept für die Gewinnermittlung zu haben, schafft politisch gesehen Flexibilität. Es beseitigt andererseits den Vorteil, nachvollziehbare Begründungen für einzelne Regelungen zu liefern und im politischen Prozess berechenbar zu bleiben. Historisch ist es aus verschiedenen Gründen verständlich, weshalb das Rahmenkonzept für das IASB nicht höchste Priorität genossen hat. Dazu waren die für eine Anerkennung in Brüssel oder in den USA zu schließenden Lücken auf dem Gebiet der Rechnungslegung zu groß. Jedoch gibt es zur Überarbeitung des Rahmenkonzepts jetzt keine Alternative mehr: Je mehr Regeln bereits entwickelt sind, desto schwieriger wird es, eine sie verbindende Klammer zu finden, die Maßstab für die Überprüfung und Weiterentwicklung der Regeln ist. Das hat die Entwicklung in den USA gezeigt43. Auch wird die Beschäftigung mit dem Rahmenkonzept nicht einfach, weil man die Strategie des IASB explizit diskutieren muss und Mehrheiten für bestimmte Ausrichtungen zu finden sind. Aber dieser interne Kampf ist wertvoll, weil er die Geschlossenheit und Anerkennung der IFRS verbessern wird.
V. Zusammenfassende Thesen (1) Das IASB entwickelt IFRS und hat ein aus dem Jahr 1989 stammendes Rahmenkonzept, das ihm Hilfe bei der Überarbeitung und Weiterentwicklung von Regeln sein soll. (2) Das Rahmenkonzept definiert zwar Vermögenswerte und Schulden, verweist aber hinsichtlich der Bewertung nur auf übliche Wertkonzepte, ohne eine – ggf. bedingte – Entscheidung herbeizuführen. (3) Dem Rahmenkonzept fehlt ein explizites Konzept, welches Vermögen oder welcher Gewinn mit welchem Aussagegehalt zu ermitteln ist. Das ist für einen allein der Information verpflichteten Abschluss ungewöhnlich und nachteilig. (4) Das IASB folgt in jüngerer Zeit dem asset and liabilities approach und einer Bewertung mit fair values. Das Konzept wird nicht – am gebotenen Ort – offensiv vertreten, sondern – wenn man an biologische Vermögenswerte und die Neugestaltung der Gewinn- und Verlustrechnung denkt – eher durch die Hintertür eingeführt oder unterstützt.
__________ 43 Vgl. Haller (Fn. 14), S. 218–221.
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(5) Die Vorteilhaftigkeit einer Zeitwertbilanz ist nicht offenkundig. Zeitwertänderungen sind bei Anlagevermögen und langfristigen Schulden wenig aussagekräftig. Die Vermutung, eine Zeitwertbilanz nähere das bilanzielle Eigenkapital stärker als eine andere Bilanzierung dem Unternehmenswert an, ist nicht allgemein zu beweisen. (6) Die Nachteile der Zeitwertbilanz sind dort evident, wo Zeitwerte nicht am Markt abgelesen werden können, sondern konstruiert werden müssen. Das trifft für die meisten Posten der Bilanz zu und erhöht die Möglichkeit des Managements, Bilanzpolitik zu betreiben. (7) Das IASB kann sich in seiner Ausrichtung scheinbar auf die Entscheidungserheblichkeit der Information zurückziehen. Diese ist jedoch eine Leerformel, weil sie faktisch nur ex post feststellbar ist – was dem Regulierer nicht hilft – und im Vorhinein nur aufgrund vieler Annahmen plausibel gemacht werden kann. Sie ist damit entgegen erstem Anschein kein hartes Kriterium. (8) Das IASB hat in kurzer Zeit viel geleistet, um Anerkennung in der EU und in den USA zu erlangen. Mit der Ausrichtung an beider Interessen droht die Gefahr, bei einem der Zielorte zu unterliegen. Das IASB kann nicht standhaft und nachprüfbar eine Position vertreten, solange seine Messlatte unklar ist. (9) Die Hintanstellung von Grundsatzfragen ist historisch gesehen verständlich, aber mittelfristig für die Akzeptanz in Politik und Öffentlichkeit fatal. (10) Prinzipienorientierung fängt mit einer Klärung des Ziels der Rechnungslegung an, das weniger unverbindlich und erfüllbarer als das derzeitige ist.
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Feststellung des Jahresabschlusses in der stillen Gesellschaft? – Zugleich ein Beitrag zur Bilanzfeststellung im Personengesellschaftsrecht Inhaltsübersicht I. Ausgangssituation II. Feststellung eines Jahresabschlusses auch ohne Bestimmung im Gesellschaftsvertrag 1. Personenhandelsgesellschaft 2. Stille Gesellschaft a) Jahresabschluss der Hauptgesellschaft b) Rechnungslegung zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter aa) Interessenlage des stillen Gesellschafters bb) Interessenlage der Hauptgesellschaft cc) Ergebnis III. Konkludente Feststellung bei Fehlen eines förmlichen Gesellschafterbeschlusses 1. Personenhandelsgesellschaft 2. Stille Gesellschaft IV. Reichweite der Feststellungswirkung/ Umfang des Einwendungsausschlusses 1. Meinungsstand a) Positive Kenntnis b) (Fahrlässige) Unkenntnis
aa) Präklusionen von Einwendungen, die aus der Bilanz erkennbar waren bb) Einwendungen, die nur bei Ausübung des Prüfungs- und Informationsrechtes erkannt werden konnten 2. Stellungnahme a) Umfang der Bindungswirkung b) Bezugspunkt der Bindungswirkung aa) Personenhandelsgesellschaft bb) Stille Gesellschaft V. Möglichkeiten zur Annullierung der Feststellung des Jahresabschlusses 1. Voraussetzungen für eine Loslösung von dem Feststellungsbeschluss a) Anfechtung gem. § 123 BGB b) Anfechtung gem. § 119 BGB c) Freies Widerrufsrecht d) Widerruf aus wichtigem Grund e) Unwirksamkeit des Feststellungsbeschlusses bei Rechtsverstößen 2. Auswirkungen der Loslösung durch einen Gesellschafter
I. Ausgangssituation Das HGB und auch das BGB enthalten keine Bestimmungen darüber, dass der Jahresabschluss der Personengesellschaft von den Gesellschaftern festgestellt werden muss. Dies gilt auch für die stille Gesellschaft. Anders ist dies im Recht der Kapitalgesellschaften, bei denen der Jahresabschluss entweder von der Gesellschafterversammlung (§ 42a GmbHG, § 173 Abs. 1 AktG) festgestellt werden oder vom Aufsichtsrat gebilligt werden muss (§ 172 Satz 1 AktG), womit dann die Feststellung erfolgt ist. 747
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Das Recht der Kapitalgesellschaften kennt darüber hinaus die kurzen Anfechtungsfristen, innerhalb deren der Beschluss der Gesellschafter/Aktionäre über die Feststellung des Jahresabschlusses angefochten werden muss (§§ 245 ff. AktG analog im Recht der GmbH bzw. §§ 257 Abs. 1, 243, 246 AktG, wonach keine inhaltlichen Mängel, sondern nur Formfehler gerügt werden können). Im Aktienrecht kommt unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. Verbot der Überbewertung von Vermögensgegenständen oder der Unterbewertung von Verbindlichkeiten, Verstoß gegen die Prüfungspflicht) eine Nichtigkeit des Jahresabschlusses in Betracht (§ 256 Abs. 1 AktG), die aber teilweise innerhalb relativ kurzer Fristen geheilt werden kann (§ 256 Abs. 6 AktG). Im Kapitalgesellschaftsrecht besteht daher – ausgenommen Fälle der Nichtigkeit im Aktienrecht – nach relativ kurzer Zeit Klarheit über die Bestandskraft des Jahresabschlusses. Das Unternehmen hat damit die erforderliche Sicherheit über ihre Vermögens- und Ertragssituation. Dies ist sachdienlich für die Gewinnverwendung, für die Steuerpflicht (§ 278 HGB), für weitere Investitionsentscheidungen und andere geschäftspolitische Maßnahmen. Ferner besteht im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern Klarheit über die Ansprüche der Gesellschafter gegen die Gesellschaft (z. B. über den Anspruch auf Gewinnauszahlung, über den Stand der Verrechnungskonten, auf denen Gewinne gutgeschrieben werden, oder über den Stand eines Verlustvortragskontos). Dies führt dazu, dass auch unter den Gesellschaftern Klarheit über die jeweiligen Ansprüche der Gesellschafter gegen die Gesellschaft besteht. Im Recht der Personengesellschaften fehlt nicht nur eine gesetzliche Regelung über die Feststellung des Jahresabschlusses; darüber hinaus sind Gesellschafterbeschlüsse auch nach langer Zeit noch nicht bestandskräftig, weil sie durch eine – zeitlich unbefristete – Feststellungsklage – für unwirksam erklärt werden können. In der Vertragspraxis sind daher häufig Regelungen anzutreffen, wonach die Gesellschafterversammlung – mit einer vertraglich definierten Mehrheit – über die Feststellung des Jahresabschlusses zu beschließen hat. Vielfach finden sich auch Regelungen, dass ein Gesellschafterbeschluss – und damit auch ein solcher über die Feststellung des Jahresabschlusses – nur innerhalb bestimmter Frist angefochten werden kann. In der Praxis der stillen Gesellschaft wird die Frage der Feststellung des Jahresabschlusses und der Bindungswirkung oft vernachlässigt. Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich zunächst mit der Frage, ob bei Fehlen einer Regelung im Gesellschaftsvertrag, wonach die Gesellschafterversammlung über die Feststellung des Jahresabschlusses zu beschließen hat, gleichwohl eine Feststellung des Jahresabschlusses erfolgen kann oder vielleicht auch muss und unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist. So748
Feststellung des Jahresabschlusses in der stillen Gesellschaft?
dann wird generell, d. h. sowohl für vertragsgemäß zustande gekommene als auch für konkludente Feststellungsbeschlüsse untersucht, welche Bindungswirkungen solche Feststellungsbeschlüsse haben. Im Einzelnen sind folgende Fragen zu unterscheiden: –
Kann auch ohne eine entsprechende Bestimmung im Gesellschaftsvertrag eine Feststellung des Jahresabschlusses einer Personenhandelsgesellschaft und einer stillen Gesellschaft angenommen werden?
–
Welche Voraussetzungen sind an eine solche nicht im Gesellschaftsvertrag vorgesehene Feststellung des Jahresabschlusses zu stellen?
–
Welche Bindungswirkung entfaltet die Feststellung eines Jahresabschlusses in der Personenhandelsgesellschaft und in der stillen Gesellschaft?
–
Welche Möglichkeiten bestehen zur Annullierung einer solchen Feststellung?
II. Feststellung eines Jahresabschlusses auch ohne Bestimmung im Gesellschaftsvertrag 1. Personenhandelsgesellschaft Die Feststellung eines Jahresabschlusses wird definiert als die Verbindlicherklärung des Jahresabschlusses im Verhältnis der Gesellschafter untereinander und im Verhältnis der Gesellschaft zu den Gesellschaften. Bis zur Feststellung ist der Jahresabschluss nur ein jederzeit änderbarer Entwurf1. Wichtig ist, dass erst das feststellende Organ endgültig über die Wertansätze entscheidet und damit in den gesetzlichen und vertraglichen Grenzen die Bilanzpolitik bestimmt. Für die Personenhandelsgesellschaft vertritt die ganz herrschende Meinung die Auffassung, dass eine Feststellung des Jahresabschlusses auch dann erfolgt, wenn es an einer Bestimmung im Gesellschaftsvertrag fehlt, wonach die Gesellschafterversammlung einen förmlichen Beschluss über die Feststellung des Jahresabschlusses zu fassen hat. Dies hat der BGH sowohl für die oHG als auch für die KG entschieden2. Die Literatur hat sich dieser Meinung angeschlossen3. Die Erforderlichkeit der Feststellung eines Jahresabschlusses ergibt sich daraus, dass die Feststellung des Jahresabschlusses notwendige Voraussetzung
__________ 1 2 3
BGH, BB 1985, 567. BGH, NJW 1996, 1678 für die KG; BGH, DB 1976, 42 (43) für die OHG. Martens in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl. 1992, § 120 Rz. 8; Hüffer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 781 Rz. 22; Ulmer in MünchKomm.BGB, § 721 Rz. 9 ff.; Marburger in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1997, § 781 Rz. 30.
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für die Entstehung und Fälligkeit des Gewinnanspruchs ist (soweit im Gesellschaftsvertrag nicht etwas anders vereinbart ist)4. Der II. Zivilsenat des BGH hat im Jahre 1986 hierzu eine Grundsatzentscheidung für die KG getroffen und judiziert, dass es sich bei der Feststellung des Jahresabschlusses um ein Grundlagengeschäft handelt, an dem auch die Kommanditisten mitwirken müssen, die von der Geschäftsführung ausgeschlossen sind. Er hat damit die früher herrschende Meinung verworfen, dass nicht nur die Aufstellung, sondern auch die Feststellung des Jahresabschlusses in die alleinige Kompetenz der Komplementäre fällt5. Die Literatur hat sich dieser Auffassung des II. Senats des BGH ganz überwiegend angeschlossen6. Die Mitwirkungspflicht des Kommanditisten wird einhellig wie folgt begründet: Da dem Kommanditisten gegen seine Gesellschaft grundsätzlich ein Anspruch auf Auszahlung des anteiligen Gewinns zusteht (§ 169 Abs. 1 HGB), kann eine Beschränkung des Gewinnanspruchs durch bilanzielle Maßnahmen, wie z. B. durch Bildung offener Rücklagen oder stiller Reserven (z. B. durch Sonderabschreibungen, Aufwandsrückstellungen), nur unter Mitwirkung auch der mitbetroffenen Kommanditisten erfolgen. In dieser Grundlagenentscheidung hat der Bundesgerichtshof auch die sich anschließende Frage beantwortet, ob die Notwendigkeit der Mitwirkung aller Kommanditisten zugleich auch bedeutet, dass die Zustimmung aller Kommanditisten gegeben sein muss. Dies ist nicht der Fall. Die Einstimmigkeit ist nur dann Voraussetzung, wenn der Gesellschaftsvertrag nicht – wie üblich – eine Abänderung des grundsätzlich geltenden Einstimmigkeitsprinzips zugunsten des Mehrheitsprinzips (§ 119 Abs. 2 HGB) vorsieht. Wenn der Gesellschaftsvertrag grundsätzlich das Mehrheitsprinzip vorsieht, dann muss der Gesellschaftsvertrag ausdrücklich festlegen, dass die Beschlussfassung über die Feststellung des Jahresabschlusses in den Anwendungsbereich des Mehrheitsprinzips fallen soll. Dies ergibt sich entweder aus dem so genannten Bestimmtheitsgrundsatz oder aus der Kernbereichslehre7. Die rechtliche Qualifikation dieser Feststellung ist umstritten. Die ältere Rechtsprechung und Literatur vertritt die Auffassung, dass es sich um ein abstraktes Schuldanerkenntnis handelt. Die neuere Rechtsprechung und Literatur vertritt demgegenüber die Auffassung, dass die Feststellung zwar ein Vertrag oder ein Quasi-Vertrag zwischen den Gesellschaftern ist, dass es sich dabei jedoch um einen kausalen auf Ausschluss von Einwendungen gerichteten Anerkenntnisvertrag handelt. Abweichend hiervon wird wiederum die
__________ 4 5 6 7
Ulmer in MünchKomm.BGB, § 721 Rz. 9; Martens in Schlegelberger, § 121 Rz. 6. BGH, NJW 1996, 1678. Bezzenberger in MünchHdb.GesR, Bd. 2: KG, 2. Aufl. 2004, § 21 Rz. 58 Fn. 98. BGH, NJW 1996, 1678.
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Auffassung vertreten, bei dem Feststellungsbeschluss handele es sich zwar um ein kausales Anerkenntnis, durch welches die Ansprüche und Verbindlichkeiten untereinander und gegenüber der Gesellschaft zum Bilanzstichtag festgelegt werden; bei diesem kausalen Anerkenntnis handele es sich jedoch nicht um einen Vertrag zwischen den Gesellschaftern oder zwischen ihnen und der Gesellschaft, sondern um einen Organbeschluss, weil die Gesellschafter als Organe tätig würden8. Die heute herrschende Meinung ist überzeugend. Sie fügt sich ohne Widersprüche in die überwiegende Meinung zur Rechtsnatur von Gesellschafterbeschlüssen ein. Grundsätzlich wird zur Rechtsnatur von Gesellschafterbeschlüssen die Auffassung vertreten, dass es sich um einen mehrseitigen Akt handelt, bei dem der Einzelakt (Zustimmung des einzelnen Gesellschafters) den Regeln über Rechtsgeschäfte unterliegt. Ob dieser mehrseitige Akt ein Vertrag oder nur ein Akt der internen Willensbildung ist, hängt vom Inhalt des Beschlusses ab. Bei Grundlagengeschäften (ebenso wie bei einer Abänderung des Gesellschaftsvertrages) handelt es sich um einen Vertrag9. Da es sich bei der Feststellung des Jahresabschlusses – wie dargelegt – um ein Grundlagengeschäft handelt, hat der Beschluss über die Feststellung des Jahresabschlusses demzufolge Vertragscharakter. Ein Bedürfnis dafür, einen neuen selbständigen Rechtsgrund zu schaffen, besteht nicht; dies spricht gegen die Qualifikation als abstraktes Schuldanerkenntnis. Vielmehr geht es um die verbindliche Erklärung des Jahresabschlusses, so dass die Annahme eines kausalen Anerkenntnisvertrages zutreffend erscheint. 2. Stille Gesellschaft Bei der stillen Gesellschaft muss zunächst unterschieden werden zwischen dem Jahresabschluss der Hauptgesellschaft und dem Abschluss zwischen der Gesellschaft und ihrem stillen Gesellschafter. Beide sind vom Ansatz her nicht identisch, auch wenn dies in der Praxis häufig vernachlässigt wird. Zunächst besteht schon ein formaler Unterschied: Sofern – was die Regel ist – die Hauptgesellschaft eine Kapitalgesellschaft oder eine Personenhandelsgesellschaft ist, handelt es sich bei dem Jahresabschluss der Hauptgesellschaft um einen Jahresabschluss im Sinne der §§ 264 f. bzw. 242 f. HGB. Demgegenüber ist die stille Gesellschaft als solche nicht bilanzierungspflichtig, d. h. also, dort ist kein Jahresabschluss im Sinne der vorgenannten Bestim-
__________ BGH, WM 1960, 187; Steffen in RGRK, BGB, 12. Aufl. 1974 ff., § 780 Rz. 21; BGH, NJW 1980, 1689; BGH, NJW 1981, 2563; BGH, NJW 1996, 1678; Hüffer in MünchKomm.BGB, § 781 Rz. 22; Ulmer in MünchKomm.BGB, § 721 Rz. 8 Fn. 16 m. z. w. N.; Priester in MünchKomm.HGB, 2004, § 120 Rz. 57; Martens in Schlegelberger, HGB, § 120 Rz. 5 a. E. 9 Ulmer in MünchKomm.BGB, § 709 Rz. 51; Goette in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 119 Rz. 28 m. w. N. 8
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mungen zu erstellen. Vielmehr ist lediglich eine Art interne Rechnungslegung zu erstellen, in der der Gewinnanspruch und ggf. die Verlustbeteiligung des stillen Gesellschafters festgelegt wird. Der Grund hierfür liegt darin, dass die stille Gesellschaft keine Handelsgesellschaft und nicht Trägerin eines Unternehmens ist10. Darüber hinaus bestehen aber auch inhaltliche Unterschiede zwischen dem Jahresabschluss der Hauptgesellschaft einerseits und dem Rechnungsabschluss zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter andererseits. Zum einen kann der Gesellschaftsvertrag über die stille Gesellschaft Besonderheiten für die Gewinnermittlung des stillen Gesellschafters enthalten. Zum anderen sind – insbesondere bei der typischen stillen Gesellschaft – bestimmte Aufwands- und Ertragspositionen nicht in die Abschlussrechnung zwischen der Gesellschaft und dem stillen Gesellschafter aufzunehmen. Wenn beispielsweise der Gewinn der Hauptgesellschaft erhöht ist, weil in der Hauptgesellschaft Anlagevermögen veräußert worden ist und hierdurch in erheblichem Umfang stille Reserven aufgelöst worden sind, dann hat zumindest der typisch stille Gesellschafter hieran keinen Anteil, so dass der für die Gewinnverteilung in der stillen Gesellschaft maßgebliche Gewinn um den a.o. Ertrag aus der Auflösung der stillen Reserven zu korrigieren ist. Umgekehrt gilt das Gleiche, wenn der Gewinn der Hauptgesellschaft durch außerordentliche Abschreibungen auf das Anlagevermögen gemindert wird. Dies muss der stille Gesellschafter sich nicht entgegenhalten lassen11. Handelt es sich bei der Hauptgesellschaft um eine Kapitalgesellschaft, bei der in der (Steuer-)Bilanz der Gewinn nach Abzug der Körperschaftsteuer ausgewiesen ist, dann muss zugunsten des stillen Gesellschafters als Bemessungsgrundlage für seine Gewinnberechnung der Gewinn vor Körperschaftsteuer zugrunde gelegt werden, weil ansonsten der stille Gesellschafter indirekt die Ertragsteuerbelastung der Hauptgesellschaft mitzutragen hätte12. Sei es aus Unkenntnis der Beteiligten, sei es zur Vermeidung des mit der Erstellung eines weiteren Abschlusses verbundenen Aufwandes, in der Praxis wird häufig nicht unterschieden, sondern es wird der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft auch zur Grundlage der Gewinnberechnung des stillen Gesellschafters gemacht. Entweder wird in den Gesellschaftsvertrag der stillen Gesellschaft eine Regelung aufgenommen, wonach der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft auch maßgeblich für die Rechnungslegung und insbesondere die Gewinnberechnung im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem stillen Gesellschafter ist; oder es wird diese Gleichstellung still-
__________ 10 Blaurock, Handbuch der Stillen Gesellschaft, 6. Aufl. 2003, Rz. 14.15; Karsten
Schmidt in MünchKomm.HGB, 2002, § 232 Rz. 11. 11 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, § 232 Rz. 5 f. u. § 235 Rz. 22 f. 12 Blaurock (Fn. 10), Rz. 14.18 ff.
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schweigend so vollzogen. Materiell-rechtlich handelt es sich jedoch um zwei verschiedene Jahresabschlüsse. Damit muss hinsichtlich der Frage, ob auch in der stillen Gesellschaft eine Feststellung des Jahresabschlusses erfolgt, unterschieden werden: a) Jahresabschluss der Hauptgesellschaft Der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft wird (nur) von den Gesellschaftern der Hauptgesellschaft festgestellt. Hier gelten die oben aufgeführten Regelungen, abhängig von der Rechtsform der Hauptgesellschaft. Da der stille Gesellschafter an der Hauptgesellschaft nicht beteiligt ist, ist er auch an der Feststellung des Jahresabschlusses der Hauptgesellschaft nicht beteiligt. Dies gilt nach herrschender Meinung auch dann, wenn nach den Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages der stillen Gesellschaft inhaltlich der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft maßgeblich auch für die stille Gesellschaft sein soll13. Wenn also die Gesellschafter der Hauptgesellschaft einen Jahresabschluss feststellen, den der stille Gesellschafter als fehlerhaft erachtet, so kann er in diesem Stadium dagegen nicht vorgehen. b) Rechnungslegung zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter Fraglich ist nun, ob auch zwischen der Gesellschaft und ihrem stillen Gesellschafter ein Feststellungsakt stattfindet, wenn dieser im Gesellschaftsvertrag nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Einerseits besteht durchaus ein Unterschied zwischen dem Recht der Personenhandelsgesellschaft und dem Recht der stillen Gesellschaft: Der Gesellschafter der Personenhandelsgesellschaft ist an der Gesamthand beteiligt und insbesondere hat er Mitwirkungs- und Stimmrechte. Er ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes daher grundsätzlich an der Feststellung des Jahresabschlusses zu beteiligen, weil es dort auch um bilanzpolitische Maßnahmen und damit um die inhaltliche Ausgestaltung seines Gewinnanspruchs gehen kann. In der stillen Gesellschaft wird hingegen kein Gesamthandsvermögen gebildet. Der stille Gesellschafter hat keine Mitwirkungs- und Stimmrechte, er hat vielmehr lediglich einen Anspruch auf Mitteilung des Jahresabschlusses der Hauptgesellschaft (§ 233 Abs. 1 HGB). Insoweit ist der stille Gesellschafter weiter außenstehend.
__________ 13 Bezzenberger/Keul in MünchHdb.GesR (Fn. 6), § 85 Rz. 2 m. w. N.
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Daher wurde früher die Auffassung vertreten, es finde zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter keine Feststellung des Jahresabschlusses statt14. Andererseits ist es zweifelhaft, ob diese Unterschiede es rechtfertigen, eine Feststellung des Jahresabschlusses bei der stillen Gesellschaft für nicht erforderlich zu halten. Diese Frage ist anhand der Interessenlage der Beteiligten zu beantworten: aa) Interessenlage des stillen Gesellschafters Es ist oben bereits dargelegt worden, dass der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft nicht regelmäßig identisch ist mit der Rechnungslegung zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter. Es sind je nach Ausgestaltung der stillen Gesellschaft (typische oder atypische stille Gesellschaft) und insbesondere abhängig von der Art der in den Jahresabschluss einfließenden Geschäfte (Auflösung oder Bildung von stillen Reserven, Sonderabschreibungen, Aufwandsrückstellungen) durchaus Fallgestaltungen denkbar, in denen der stille Gesellschafter an bestimmten Aufwands- und Ertragspositionen in der Hauptgesellschaft nicht beteiligt ist. Wenn aber im Rahmen der Aufstellung des Abschlusses zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter auch bilanzpolitische Entscheidungen mit Auswirkung auf den Gewinnanspruch des stillen Gesellschafters getroffen werden, dann hat der stille Gesellschafter ein berechtigtes Interesse an der Mitwirkung. Daher spricht die Interessenlage des stillen Gesellschafters dafür, ihn auch an der Entscheidung über den Abschluss zwischen Hauptgesellschaft und stillem Gesellschafter zu beteiligen15. bb) Interessenlage der Hauptgesellschaft In der Personenhandelsgesellschaft sieht das Gesetz – wie gesagt – eine Feststellung des Jahresabschlusses nicht vor. Wenn gleichwohl die Rechtsprechung die Konstruktion der – auch konkludent möglichen – Feststellung des Jahresabschlusses entwickelt hat, dann geschah dies aus dem Bedürfnis der Praxis, dass auch die Jahresabschlüsse von Personenhandelsgesellschaften Bestandskraft erlangen müssen. Die Rechtsverhältnisse zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern, insbesondere die Höhe der wechselseitigen Ansprüche, müssen klar sein. Dieses Bedürfnis ist um so gravierender, als (überschießende) Gewinnauszahlungsansprüche erst in 30 Jahren verjähren und Feststellungs- und Nichtigkeitsklagen im Personengesellschaftsrecht unbefristet erhoben werden können.
__________
14 Zutt in Großkomm.HGB, 3. Aufl. 1967 ff., § 232 Rz. 21. 15 Blaurock (Fn. 10), Rz. 14.13.
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Diese Interessenlage ergibt sich für die Hauptgesellschaft auch im Verhältnis zum stillen Gesellschafter. cc) Ergebnis Aus der Sicht der Hauptgesellschaft und des stillen Gesellschafters besteht daher bei der stillen Gesellschaft dasselbe Bedürfnis wie bei der Personenhandelsgesellschaft, eine Feststellung des Jahresabschlusses mit Bindungswirkungen zu erreichen. Der stille Gesellschafter ist bei dieser Feststellung und der darauf folgenden Bindung jedenfalls gegenüber einem Kommanditisten nicht benachteiligt. Denn der stille Gesellschafter hat nahezu gleiche Informations- und Kontrollrechte wie der – von der Geschäftsführung ausgeschlossene – Kommanditist. Die Regelungen in § 166 HGB für den Kommanditisten und die Regelung in § 233 HGB für den stillen Gesellschafter sind durchaus vergleichbar. Auch der stille Gesellschafter hat einen Anspruch auf Aushändigung des Jahresabschlusses. Er hat darüber hinaus ein Recht zur Kontrolle der Bücher, welches er selbst oder durch einen zur Berufsverschwiegenheit verpflichteten Berater ausüben lassen kann. Ebenso wie der Kommanditist von den besonderen Informationsrechten des OHG-Gesellschafters ausgeschlossen ist (§§ 166 Abs. 2, 118 HGB), ist der stille Gesellschafter von den besonderen Informationsrechten des BGB-Gesellschafters (§ 716 BGB) ausgeschlossen. Darüber hinaus hat der stille Gesellschafter immer dann, wenn seine Belange durch die Übersendung des Jahresabschlusses nicht hinreichend gewahrt werden und ihm ein Schaden droht, ein außerordentliches Informationsrecht in Form von sonstigen Aufklärungen oder der Vorlegung der Bücher und Papiere der Hauptgesellschaft (§ 233 Abs. 3 HGB). Vergleichbar mit einer Sonderprüfung liegt es im pflichtgemäßen Ermessen des Richters, welche Anordnungen er zur Durchsetzung dieses Sonderrechtes trifft (Vorlage von Bilanzen oder Zwischenbilanzen, Umfang der Buchvorlage, Zuziehung von Sachverständigen u.s.w.)16. Zu Recht vertritt daher die heute wohl herrschende Meinung die Auffassung, dass auch zwischen der stillen Gesellschaft und ihrem Gesellschafter eine Feststellung des Jahresabschlusses stattfinden muss17. Es liegt dann nahe, diesem Feststellungsbeschluss ebenso wie in der Personenhandelsgesellschaft den Charakter eines Grundlagenbeschlusses beizumessen, der die Qualität eines (kausalen Anerkenntnis-)Vertrages hat.
__________ 16 Blaurock (Fn. 10), Rz. 12.73 ff. 17 Blaurock (Fn. 10), Rz. 14.13; Hüffer in MünchKomm.BGB, § 781 Rz. 25.
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III. Konkludente Feststellung bei Fehlen eines förmlichen Gesellschafterbeschlusses Wenn der Gesellschaftsvertrag keine Regelung darüber enthält, welche formalen Voraussetzungen (förmlicher Gesellschafterbeschluss und Mehrheitserfordernis) für die Feststellung des Jahresabschlusses notwendig sind und ein förmlicher Gesellschafterbeschluss auch nicht ohne eine solche vertragliche Regelung zustande gekommen ist, dann stellt sich die Frage, ob ein solcher Beschluss konkludent zustande kommen kann. Hierzu ist in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei der Feststellung um einen (kausalen Feststellungs-) Vertrag (oder ein rechtsgeschäftsähnliches Konstrukt sui generis) handelt, durch welches im Verhältnis zwischen den einzelnen Gesellschaftern und der Gesellschaft sowie unter den Gesellschaftern die Verbindlichkeit des Rechnungswesens festgestellt wird. 1. Personenhandelsgesellschaft Dieser Vertrag kommt nach herrschender Meinung konkludent dadurch zustande, dass die Gesellschaft oder die Geschäftsführung den Gesellschaftern den Jahresabschluss übersenden (Vertragsangebot) und die Gesellschafter anschließend diesen Jahresabschluss akzeptieren, indem sie ihn zur Grundlage ihrer Einkommensteuererklärung machen und/oder Gewinnauszahlungen in der für sie ausgewiesenen Höhe geltend machen (Vertragsannahme). Auf den Zugang der Annahmeerklärung wird verzichtet (§ 151 BGB)18. 2. Stille Gesellschaft Auch im Bereich der stillen Gesellschaft ist die Zulässigkeit einer konkludenten Feststellung anerkannt. Ein solcher Vertrag bzw. ein solches vertragsähnliches Rechtsgeschäft kommt dadurch zustande, dass die Hauptgesellschaft den Jahresabschluss an den stillen Gesellschafter versendet (Offerte) und der stille Gesellschafter diesen Jahresabschluss zur Grundlage seines Gewinnanspruches oder zur Basis seiner persönlichen Einkommensteuererklärung macht (Annahme). Darin liegt eine stillschweigende Billigung19.
IV. Reichweite der Feststellungswirkung/Umfang des Einwendungsausschlusses Von der Frage, ob und wie eine Feststellung des Jahresabschlusses zustande kommt, ist scharf die Frage zu trennen, welche Reichweite ein solches ver-
__________
18 Hüffer in MünchKomm.BGB, § 781 Rz. 25. 19 Hüffer in MünchKomm.BGB, § 781 Rz. 25; Marburger in Staudinger, BGB, § 781
Rz. 30 a. E.; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, § 232 Rz. 20.
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tragsähnliches Rechtsgeschäft bzw. ein solcher Vertrag oder ein solcher Organbeschluss hat. Diese Reichweite kann sich zum einen auf die Anerkennung bzw. das Leugnen bestimmter Tatsachen beziehen und zum anderen auch auf den Verzicht von Einwendungen. 1. Meinungsstand Rechtsprechung und Literatur wählen als Abgrenzungskriterium für die Frage, inwieweit die Bindungswirkung eines Feststellungsbeschlusses reicht bzw. welche Einwendungen künftig ausgeschlossen sind, die Kenntnis bzw. (fahrlässige) Unkenntnis des Gesellschafters. a) Positive Kenntnis In Rechtsprechung und Literatur wird einhellig vertreten, dass solche Einwendungen präkludiert sind, bezüglich deren der stille Gesellschafter positive Kenntnis hat. Dies bedeutet, dass der (stille) Gesellschafter die Feststellungen im Jahresabschluss nicht durch einseitige Erklärung rückgängig machen kann, in der Regel auch nicht im Wege der Kondiktion (§ 812 Abs. 2 BGB). Die Wirkung des kausalen Anerkenntnisvertrages geht also über diejenige des abstrakten Vertrages insoweit hinaus, als der kausale Anerkenntnisvertrag zu einer endgültigen Bindung führt. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass der kausale Anerkenntnisvertrag „noch gefährlicher“ als das abstrakte Schuldanerkenntnis sei20. b) (Fahrlässige) Unkenntnis Problematisch sind hingegen die Fälle, in denen eine positive Kenntnis nicht vorliegt oder nicht nachgewiesen werden kann. Hier kommen zumindest 3 unterschiedliche Fallgestaltungen in Betracht: –
Einwendungen bezüglich solcher Umstände, die aus dem (übersandten) Jahresabschluss erkennbar waren, die der (stille) Gesellschafter also nach sorgfältiger Aufarbeitung hätte erkennen können.
–
Einwendungen, die zwar aus der Bilanz nicht erkennbar waren und mit denen der (stille) Gesellschafter nicht rechnete, die aber bei Ausübung des Informationsrechtes (Einsichtnahme in die Bücher, Sonderprüfung gem. § 233 Abs. 3 HGB) hätten erkannt werden können.
–
Einwendungen, die weder aus dem Jahresabschluss noch bei Ausübung des Informationsrechtes hätten erkannt werden können.
__________ 20 Hüffer in MünchKomm.BGB, § 781 Rz. 6 u. 20.
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Erstaunlicherweise gibt es hierzu – soweit ersichtlich – sehr wenig Rechtsprechung. Die Literatur äußert sich – wenn überhaupt – nur apodiktisch. Eine dogmatische Aufarbeitung dieser Fragen ist nicht ersichtlich. Dabei sind diese Fragen in der Praxis von großer Relevanz, wie folgende einfache Beispiele zeigen: (1) Ein stiller Gesellschafter erhält über einen Zeitraum von 10 Jahren stets den Jahresabschluss der (Haupt-)Gesellschaft übersandt, der auch Grundlage für seine Gewinnberechnung sein soll. Er begehrt aufgrund dieses Jahresabschlusses den für ihn dort ausgewiesenen Gewinnanteil. Er macht diesen Jahresabschluss auch zur Grundlage seiner Einkommensteuererklärung. Im 11. Jahr – die Gesellschaft macht inzwischen Verluste – beantragt er eine Sonderprüfung (z. B. in Ausübung des Sonderrechts gem. § 233 Abs. 3 HGB). Diese führt zu dem Ergebnis, dass der Gewinn in den vergangenen 10 Jahren durch unangemessen hohe Geschäftsführergehälter gemindert worden ist (im Fremdvergleich überhöhte Umsatz- und Gewinntantiemen), die handelsrechtlich als Aufwand gebucht worden waren und damit den Gewinnanteil der stillen Gesellschafterin geschmälert hatten. Der stille Gesellschafter macht nun rückwirkend für 10 Jahre seinen restlichen Gewinnanspruch geltend. Die Gesellschaft wendet ein, der stille Gesellschafter habe über 10 Jahre die Jahresabschlüsse mit der jeweiligen Gewinnberechnung akzeptiert und sei schon von daher mit seinem Begehren ausgeschlossen. (2) Abwandlung aus der Entscheidung des Kammergerichts v. 3.7.199821. Ein stiller Gesellschafter ist (auch) am Verlust der Hauptgesellschaft beteiligt. Es ist vereinbart, dass der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft auch maßgeblich für das Rechtsverhältnis zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter ist. Der Steuerberater verbucht die Verlustbeteiligung des stillen Gesellschafters in einem Verlustjahr in der Weise, dass er in Höhe der anteiligen Verlustbeteiligung des stillen Gesellschafters eine Forderung der Hauptgesellschaft gegen den stillen Gesellschafter einbucht (und nicht eine Verminderung der Einlage vornimmt). Der stille Gesellschafter stellt den Jahresabschluss (als richtig) fest. Nachdem die Hauptgesellschaft in die Insolvenz gefallen war, verlangt der Insolvenzverwalter von dem stillen Gesellschafter die Einzahlung des als Forderung ausgewiesenen Verlustanteils mit der Begründung, durch die Feststellung des Jahresabschlusses sei eine entsprechende Forderung begründet worden. Materiell-rechtlich ist eine solche Forderung auf Einzahlung des Verlustanteils nicht entstanden, weil die Verlustbeteiligung des stillen Gesellschafters lediglich zur Folge hat, dass seine stille Einlage in Höhe des Verlustanteils gemindert wurde.
__________ 21 NZG 1999, 23.
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Das Kammergericht hat in dem von ihm zu entscheidenden Sachverhalt die Frage einer Bindungswirkung des Jahresabschlusses offen gelassen. Es hat die vom Steuerberater vorgenommene Buchung dahin ausgelegt, dass lediglich in anderer Form die Minderung der stillen Einlage zum Ausdruck gebracht werden sollte. Daher ist die in der Literatur aus dieser Entscheidung abgeleitete These unzutreffend, die Feststellung des Jahresabschlusses könne jedenfalls nicht zur konstitutiven Begründung eines Anspruchs auf Verlustausgleich führen22. Diese Beispiele zeigen, dass in der Praxis durchaus die Frage von Bedeutung ist, inwieweit (stille) Gesellschafter an Feststellungsbeschlüsse, seien sie ausdrücklich oder konkludent gefasst, gebunden sind. aa) Präklusionen von Einwendungen, die aus der Bilanz erkennbar waren Die ganz herrschende Meinung vertritt die Auffassung, dass Einwendungen, die aus der Bilanz erkennbar waren, nach (konkludenter) Feststellung des Jahresabschlusses präkludiert sind, auch wenn der einzelne Gesellschafter sie nicht erkannt hat23. Für den ersten Beispielsfall kommt es darauf an, ob die Höhe der Geschäftsführergehälter aus den Bilanzen erkennbar war. In Personengesellschaften werden Geschäftsführergehälter üblicherweise nicht gesondert ausgewiesen. Anders als im Aktienrecht besteht hierzu keine gesonderte Verpflichtung. Im Recht der GmbH sind die Bezüge der Geschäftsführer im Anhang auszuweisen. Dies führt in dem ersten Beispielsfall zu dem Ergebnis, dass die Erkennbarkeit und damit die Präklusion der überhöhten Geschäftsführerbezüge von der Rechtsform der Hauptgesellschaft abhängt. Im zweiten Beispielsfall (Einstellung einer nicht berechtigten Forderung der Gesellschaft gegen den Gesellschafter in die Bilanz) wäre danach ein Einwendungsausschluss zu bejahen. Die Feststellung des Jahresabschlusses hätte zu einer Anerkennung der dort zu Unrecht gebuchten Forderung im Jahresabschluss geführt. Der Einwand der Unrichtigkeit wäre damit abgeschnitten. bb) Einwendungen, die nur bei Ausübung des Prüfungs- und Informationsrechtes erkannt werden konnten Diese Fallgruppe wird in Rechtsprechung und Literatur – soweit ersichtlich – nicht behandelt. Es handelt sich um Fälle, in denen ein Einwand aus dem
__________ 22 Hüffer in MünchKomm.BGB, § 781 Rz. 25 a. E. 23 Hüffer in MünchKomm.BGB, § 781 Rz. 23; OLG Düsseldorf, NJW-RR 1994, 1455
(1458); Martens in Schlegelberger, HGB, § 120 Rz. 6.
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Jahresabschluss als solchem auch bei sorgfältiger Analyse nicht erkennbar war. Aus der Tatsache, dass Rechtsprechung und Literatur bekannte oder erkennbare Umstände präkludieren wollen, lässt sich im Umkehrschluss die Folgerung ableiten, dass solche Umstände, die nur bei Ausübung des Informationsrechtes erkennbar sind, nicht präkludiert sein sollen24. 2. Stellungnahme a) Umfang der Bindungswirkung Die von der herrschenden Meinung vorgenommene Abgrenzung, dass aus dem Jahresabschluss positiv bekannte oder erkennbare Umstände nach dem (konkludenten) Beschluss über die Feststellung des Jahresabschlusses präkludiert sind, während nicht oder nur bei Ausübung des Informationsrechtes erkennbare Einwendungen nicht präkludiert sind, wird dogmatisch nicht begründet. Daher ist diese Abgrenzung auch zunächst einmal nicht überzeugend. Die Kenntnis oder (fahrlässige) Unkenntnis ist nach unserer Zivilrechtsordnung ein Kriterium für das Verschulden (§ 276 BGB), den Beginn der Verjährung (§ 199 Abs. 1 Ziff. 2 BGB) u. a., nicht aber für den Inhalt eines Vertrages. Daher gilt es, eine für das Vertragsrecht überzeugende Begründung für den Inhalt und den Umfang des Feststellungsbeschlusses zu formulieren: Wenn es sich bei der Feststellung des Jahresabschlusses um ein Grundlagengeschäft zwischen den Gesellschaftern und damit um einen Gesellschafterbeschluss mit Vertragsqualität handelt, dann kann das maßgebende Abgrenzungskriterium für den Umfang des Beschlusses nur der Rechtsbindungswille der Parteien sein. Dieser ist durch Auslegung zu ermitteln. Da der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte als Auslegungskriterien ausscheiden, muss die Auslegung nach Sinn und Zweck des Vertrages (teleologische Auswirkung) und nach der Interessenlage der Parteien (normative Auslegung) erfolgen. Sinn und Zweck des Feststellungsbeschlusses sind zum einen die Durchführung der erforderlichen Abstimmung zwischen den Betroffenen (Gesellschaftern) zur Festlegung der Gewinnhöhe (Bilanzpolitik) und zum anderen die Verbindlichkeit der Festlegung der finanziellen Rechte und Pflichten zwischen den einzelnen Gesellschaftern und der Gesellschaft sowie zwischen den Gesellschaftern untereinander (Rechtsklarheit). Dies spricht für eine weitgehende Bindungswirkung des Feststellungsbeschlusses. Eine solche weitgehende Bindung entspricht auch der Interessenlage der Gesamtheit der Gesellschafter.
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24 Martens in Schlegelberger, HGB, § 120 Rz. 6.
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Feststellung des Jahresabschlusses in der stillen Gesellschaft?
Demgegenüber geht die Interessenlage des einzelnen Gesellschafters, der ggf. durch den Feststellungsbeschluss benachteiligt werden kann, dahin, sich durch seine Zustimmung nur insoweit zu binden, wie er Umstände positiv kannte. Bei der Vertragsauslegung ist nach der Systematik des BGB jedoch nicht (nur) darauf abzustellen, was der Erklärende subjektiv erklären wollte. Entscheidend ist vielmehr, was der Erklärende aus der Sicht des Erklärungsempfängers (Empfängerhorizont) erklären wollte (§§ 133, 157 BGB). Wendet man diese Grundsätze auf das Grundlagengeschäft „Feststellung des Jahresabschlusses“ an, dann kann es nicht nur darauf ankommen, welche Umstände der einzelne zustimmende Gesellschafter tatsächlich kannte; vielmehr ist entscheidend, wie die übrigen Gesellschafter als Erklärungsempfänger die Zustimmungserklärung des jeweiligen Gesellschafters auffassen durften. Dies führt zu dem Ergebnis, dass sie annehmen konnten, dass der jeweils zustimmende Gesellschafter alle aus dem Jahresabschluss selbst erkennbaren Umstände tatsächlich auch erkannt hat und diesen zustimmen wollte. Damit kommt die herrschende Meinung zu zutreffenden Ergebnissen, wenn auch die Begründung hierfür fehlt: Das mit der Feststellung des Jahresabschlusses erfolgte Ziel der Rechtsklarheit (verbindliche Festlegung des Gewinns sowie verbindliche Festlegung der finanziellen Ansprüche) kann nur erreicht werden, wenn eine Bindungswirkung gegeben ist. Diese erfordert, dass positiv bekannte oder aus dem Jahresabschluss erkennbare Umstände nicht dazu führen können, den festgestellten Jahresabschluss anschließend wieder in Frage zu stellen. Demgegenüber können solche Umstände, die gar nicht oder nur bei Ausübung des Informationsrechtes des Gesellschafters (§ 166 HGB oder § 233 HGB) hätten erkannt werden können, anschließend nicht präkludiert sein. So weit reicht die Bindungswirkung des Vertrages nicht. Bei der Auslegung, ob die Vertragsparteien durch die Feststellung des Jahresabschlusses auch solche Umstände präkludieren wollen, die nur bei Ausübung des Prüfungs- und Informationsrechtes erkannt werden können, gibt es verschiedene Gesichtspunkte. Die Informationsmöglichkeiten eines Gesellschafters (§ 166 HGB, § 51 a GmbHG u. a.) sind Rechte des Gesellschafters, hingegen keine Verpflichtungen. Wenn der Gesellschafter von diesem Recht keinen Gebrauch macht, dann kann ihm dies nicht vorgeworfen werden. Dies liegt im Interesse der Gesellschaft, die durch die Ausübung von Informationsrechten seitens der Gesellschafter organisatorisch und personell belastet wird. Wenn ein Gesellschafter durch seine Mitwirkung an der Feststellung des Jahresabschlusses künftig auch mit solchen Einwendungen ausgeschlossen wäre, die nur bei einer Ausübung des Informationsrechtes erkannt werden könnten, dann würde hierdurch indirekt das Informationsrecht zu einer Informationspflicht umfunktioniert. Dies liegt nicht im Interesse der Parteien. 761
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Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn man eine Parallele zu der Rechtsprechung bei Entlastungsbeschlüssen zieht. Das Recht der Kapitalgesellschaften kennt die Beschlussfassung der Gesellschafter über die Entlastung der Geschäftsführer (vgl. § 46 Ziff. 5 GmbHG). Die Entlastung ist nach herrschender Meinung kein negativer Verzichtsvertrag (§ 397 BGB), sondern eine einseitige Erklärung der Gesellschafter ohne Annahme25. Nach ganz herrschender Meinung erstreckt sich die Entlastungswirkung nur auf erkennbare Vorgänge. Es erfolgt eine Freistellung von erkennbaren Ersatzansprüchen26. Auch hier findet also keine Präklusion hinsichtlich solcher Umstände statt, die den Gesellschaftern aufgrund ihnen zur Verfügung gestellter Informationen nicht bekannt oder erkennbar waren. b) Bezugspunkt der Bindungswirkung aa) Personenhandelsgesellschaft Bei der Personenhandelsgesellschaft, insbesondere bei der Kommanditgesellschaft, ist es unproblematisch, dass sich der Feststellungsbeschluss auf den Jahresabschluss der Personenhandelsgesellschaft bezieht. Dabei handelt es sich regelmäßig um die Handelsbilanz; die Steuerbilanz ist hingegen nur dann maßgeblich, wenn der Gesellschaftsvertrag dies vorsieht. bb) Stille Gesellschaft Bei der stillen Gesellschaft ist – wie oben dargelegt – zu unterscheiden zwischen dem Jahresabschluss der Hauptgesellschaft, an dessen Feststellung der stille Gesellschafter nicht beteiligt ist, und dem Abschluss zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter; nur an der Feststellung dieses Abschlusses ist der stille Gesellschafter beteiligt. Dies führt zu folgenden Konsequenzen: Wenn der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft nicht zugleich auch im Verhältnis zum stillen Gesellschafter Geltung entfalten soll, sondern ein eigener Abschluss zwischen der Hauptgesellschaft und dem stillen Gesellschafter gemacht wird, dann ist der stille Gesellschafter an den Jahresabschluss der Hauptgesellschaft nicht gebunden. Wenn umgekehrt der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft auch im Verhältnis zwischen Hauptgesellschaft und stillem Gesellschafter maßgeblich sein soll, dann kann der stille Gesellschafter im Rahmen seiner Mitwirkung Einwendungen gegen den Jahresabschluss der Hauptgesellschaft erheben.
__________ 25 Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 46 Rz. 14. 26 BGH, NJW 1975, 1273; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 14 XI.
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Feststellung des Jahresabschlusses in der stillen Gesellschaft?
Dies gilt unabhängig davon, dass der Jahresabschluss der Hauptgesellschaft zwischen den Gesellschaftern der Hauptgesellschaft ohne Mitwirkung des stillen Gesellschafters beschlossen wird und dieser Beschluss zwischen diesen Gesellschaftern der Hauptgesellschaft und der Hauptgesellschaft Wirkung entfaltet. Die Einwendungen des stillen Gesellschafters gegen den Abschluss der Hauptgesellschaft beziehen sich nur auf das Verhältnis zwischen ihm und der Hauptgesellschaft.
V. Möglichkeiten zur Annullierung der Feststellung des Jahresabschlusses Im Recht der Personenhandelsgesellschaften gilt der Grundsatz, dass jeder erhebliche Beschlussmangel zur Nichtigkeit des Beschlusses führt. Im Gegensatz zum Recht der Kapitalgesellschaften kennt das Personengesellschaftsrecht keine anfechtbaren Beschlüsse27. Die Nichtigkeit des Beschlusses kann auch noch nach Jahren und Jahrzehnten geltend gemacht werden, sei es einredeweise oder sei es durch eine Feststellungsklage (§ 256 ZPO). Dies kann jedoch dann nicht gelten, wenn Gesellschafterbeschlüsse rechtsgeschäftlichen Charakter haben. In diesem Fall überlagert das Vertragsrecht das Personengesellschaftsrecht28. Da der Beschluss über die Feststellung des Jahresabschlusses wegen seiner Qualifikation als Grundlagengeschäft Vertragscharakter hat, können sich die Möglichkeiten der Annullierung auch nur nach Vertragsrecht richten. Dies wird in der unübersichtlichen und häufig nicht begründeten Vielzahl von Literaturmeinungen nicht berücksichtigt. Im Einzelnen sind folgende Möglichkeiten zu unterscheiden: 1. Voraussetzungen für eine Loslösung von dem Feststellungsbeschluss a) Anfechtung gem. § 123 BGB Es ist unproblematisch, dass ein Gesellschafter ein Anfechtungsrecht gem. § 123 BGB hat, wenn er durch Täuschung zur Abgabe seiner Zustimmung zum Jahresabschluss bestimmt worden ist.
__________ 27 Martens in Schlegelberger, HGB, § 119 Rz. 9. 28 Ulmer in MünchKomm.BGB, § 709 Rz. 75; BGH, NJW-RR 1990, 798 (799).
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b) Anfechtung gem. § 119 BGB In der Literatur ist allgemein anerkannt, dass dem Gesellschafter auch ein Anfechtungsrecht gem. § 119 BGB zustehen soll29. Erstaunlicherweise wird in Rechtsprechung und Literatur jedoch nicht die Frage diskutiert, unter welchen Voraussetzungen ein beachtlicher Irrtum in Sinne des § 119 BGB bei einem Feststellungsbeschluss vorliegt. Insbesondere wird nicht die Abgrenzung zum unbeachtlichen Motivirrtum vollzogen. Ein Inhalts- oder Erklärungsirrtum im Sinne des § 119 Abs. 1 BGB dürfte nur in seltenen Ausnahmefällen vorliegen. Nach ganz herrschender Meinung ist der so genannte offene Kalkulationsirrtum, d. h. der Fall, bei dem eine fehlerhafte Kalkulation ausdrücklich zum Gegenstand der Vertragsverhandlungen gemacht worden ist, kein Inhaltsirrtum, sondern ebenfalls ein unbeachtlicher Motivirrtum30. Wenn also die Feststellung des Jahresabschlusses auf einer unzutreffenden Zugrundelegung von Bilanzansätzen beruht, dann führt dies nicht zu einem beachtlichen Inhaltsirrtum. In der Literatur wird teilweise vertreten, bei unrichtigen Bilanzansätzen käme ein Eigenschaftsirrtum gem. § 119 Abs. 2 BGB in Betracht31. Diese Auffassung dürfte unzutreffend sein. Nach gefestigter Rechtsprechung und herrschender Meinung in der Literatur sind der Wert oder der Preis einer Sache keine Eigenschaften im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB. Die einzelnen Bilanzansätze, die zusammen zu dem ausgewiesenen Gewinn führen, sind als einzelne Werte oder Preise keine Eigenschaften der Bilanz. Daher ist für eine Eigenschaftsanfechtung kein Raum. c) Freies Widerrufsrecht In Rechtsprechung und Literatur wird die Auffassung vertreten, ein Gesellschafter könne seine Zustimmung frei widerrufen, wenn er von tatsächlich unrichtigen Voraussetzungen ausgegangen ist. Dieses Widerrufsrecht soll sich aus § 812 Abs. 2 BGB ergeben32. Diese Auffassung ist jedenfalls dann nicht mehr vertretbar, wenn man den Feststellungsbeschluss als einen Feststellungsvertrag einordnet und sich daher die Möglichkeiten zur Loslösung nach Vertragsrecht richten. Die Bejahung eines freien Widerrufsrechtes gem. § 812 Abs. 2 BGB ist vielmehr ein
__________ 29 BGH, WM 1960, 187 (188); Ehricke in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 120 Rz. 38;
Martens in Schlegelberger, HGB, § 120 Rz. 6. 30 BGHZ 139, 177; Heinrichs in Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, § 119 Rz. 19. 31 Haarmann in FS Welf Müller, 2001, S. 425 (445) m. w. N. 32 BGH, WM 1966, 448 (449); von Gerkan in Röhricht/Graf von Westphalen, HGB,
2. Aufl. 2001, § 120 Rz. 5.
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Feststellung des Jahresabschlusses in der stillen Gesellschaft?
Relikt aus einer Zeit, in der die Bilanzfeststellung als ein abstraktes Schuldanerkenntnis im Sinne des § 780 BGB qualifiziert wurde. Ein solches freies Widerrufsrecht würde auch dem Sinn und Zweck des Feststellungsbeschlusses zuwiderlaufen. Dieser besteht ja gerade darin, eine Rechtssicherheit für das Rechtsverhältnis zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern einerseits und unter den Gesellschaftern andererseits zu schaffen. Wenn diese Rechtssicherheit schon immer dann wieder aufgehoben werden könnte, wenn ein Gesellschafter von unrichtigen Voraussetzungen ausgegangen ist, dann würde der Schutzzweck unterlaufen. d) Widerruf aus wichtigem Grund In der Literatur wird des Weiteren die Auffassung vertreten, ein Gesellschafter könne seine Zustimmung zum Feststellungsbeschluss widerrufen, wenn ein wichtiger Grund vorliege. Dies sei dann der Fall, wenn er nachträglich bessere Erkenntnisse habe. Allerdings wird dieses Widerrufsrecht als befristet angesehen, und zwar befristet bis zum Zustandekommen des Feststellungsbeschlusses33. Dieses Widerrufsrecht und insbesondere seine Befristung dürften auf § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB zurückgehen. Ein Gesellschafter kann danach seine zustimmende Willenserklärung so lange widerrufen, wie der Vertrag nicht zustande gekommen ist. Dies ist so lange nicht der Fall, bis alle Gesellschafter ihre Zustimmung erteilt haben. Dieses Widerrufsrecht ist damit systemkonform, allerdings in der Praxis nicht von großer Bedeutung. e) Unwirksamkeit des Feststellungsbeschlusses bei Rechtsverstößen Nach herrschender Meinung ist eine Zustimmung zur Feststellung des Jahresabschlusses und der gesamte Feststellungsbeschluss ohne ein Tätigwerden eines oder mehrerer Gesellschafter unwirksam, wenn der Beschluss gegen gesetzliche und gesellschaftsvertragliche Bilanzierungsvorschriften verstößt34. Eine solche Unwirksamkeit ist nach der Systematik des Vertragsrechtes (nur) hinsichtlich gesetzlicher Bilanzierungsvorschriften aus § 134 BGB ableitbar. Bei einem Verstoß (lediglich) gegen Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages ergibt sich eine solche Unwirksamkeit aus § 134 BGB hingegen nicht. Eine Unwirksamkeit allein aufgrund eines Verstoßes der Bilanz gegen
__________ 33 Priester in MünchKomm.HGB, § 120 Rz. 69; Martens in Schlegelberger, HGB,
§ 119 Rz. 5; Ulmer in MünchKomm.BGB, § 709 Rz. 67. 34 Priester in MünchKomm.HGB, § 120 Rz. 123; Ehricke in Ebenroth/Boujong/Joost,
HGB, § 120 Rz. 51.
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gesellschaftsvertragliche Verpflichtungen würde dem Vertragscharakter und der hieraus abzuleitenden Bindungswirkung des Feststellungsbeschlusses zuwiderlaufen. Eine solche Unwirksamkeit widerspräche Sinn und Zweck des Feststellungsbeschlusses, wie oben im Einzelnen dargelegt wurde. Hier stellt sich darüber hinaus die Problematik, dass die Gesellschafter durch einen – mit entsprechender Mehrheit gefassten – Gesellschafterbeschluss in Form eines Bilanzfeststellungsvertrages auch eine konkludente Abänderung des Gesellschaftsvertrages vornehmen können. Daher wird man bei Verstößen eines Feststellungsbeschlusses gegen den Gesellschaftsvertrag nicht eo ipso von einer Unwirksamkeit des Beschlusses ausgehen können. 2. Auswirkungen der Loslösung durch einen Gesellschafter Im Ergebnis zeigt sich damit, dass eine nachträgliche Loslösung von dem Feststellungsbeschluss nur in Ausnahmefällen möglich ist. Kommt es ausnahmsweise zu einer Anfechtung, dann ist der Beschluss über die Feststellung des Jahresabschlusses insgesamt nicht wirksam zustande gekommen. Dies gilt selbstverständlich ebenso bei einer Unwirksamkeit gem. § 134 BGB.
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Zur Problematik einer wahren Rechnungslegung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Auslöser der Diskussion über die Problematik in jüngster Zeit 1. Tendenzen zur Internationalisierung und Vereinheitlichung der Rechnungslegung 2. „Bilanzskandale“ 3. Zukunft der deutschen steuerlichen Gewinnermittlung 4. Reformwünsche für deutsche Rechnungslegungsregeln III. Grenzen wahrer Rechnungslegung, dargestellt anhand gewichtiger Beispiele 1. Unvermeidliche Ungenauigkeiten a) Forderungen b) Beteiligungen c) Geschäfts- oder Firmenwert („Goodwill“) d) Rückstellungen aa) Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten bb) Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften
2. Legale Gestaltbarkeit der Rechnungslegung a) Gesetzliche (ausdrückliche) Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechte b) Faktische Wahlrechte durch Benutzung der Bilanzierungsund Bewertungsregeln aa) Eingriffe in den normalen betrieblichen Ablauf bb) „Außergewöhnliche“ Maßnahmen und Geschäfte cc) Verwendung verschiedener rechtlicher Gestaltungen mit sehr ähnlichem wirtschaftlichen Erfolg, aber unterschiedlichen Konsequenzen für den Erfolgsausweis und die Bilanzierung c) Faktische Wahlrechte im Bereich von Schätzungen IV. Zusammenfassung
I. Einleitung Durch zahlreiche unterschiedliche Faktoren ausgelöst, ist die nationale und internationale Rechnungslegungsszene einschließlich der Tätigkeit der Abschlussprüfer in mehr oder minder heftige, z. T. „umstürzlerische“ Reformaktivitäten geraten. Vor diesem Hintergrund seien unserem Jubilar Volker Röhricht, der sich als Richter und Autor auch mit der Rechnungslegung und der Tätigkeit der Abschlussprüfer befasst, die nachfolgenden Betrachtungen gewidmet. Ich betrachte zunächst die „Auslöser“ der Reformaktivitäten und ihre Ziele, auch vor dem Hintergrund der verschiedenen Rechnungslegungszwecke (unter denen der „Informationszweck für Kapitalanleger-Entscheidungen“ in den letzten Jahren an Bedeutung erheblich zugenommen hat). Unter Hinweis 767
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auf diese Reformaktivitäten soll sodann als Kernfrage behandelt werden, was im Hinblick auf die verschiedenen Rechnungslegungszwecke als „richtige“ oder „wahre“ Rechnungslegung anzusehen ist und inwieweit und mit welchen Mitteln, Regeln und Methoden sie „erzwungen“ werden kann. Dabei wird auf die offensichtlichen Verbesserungs- und Reformbedürfnisse und -aktivitäten einzugehen sein, aber auch auf die allenfalls begrenzte Lösbarkeit der Probleme, die sich aus „naturgegebenen, unvermeidbaren Ungenauigkeiten“, insbesondere bei der Vermögensdarstellung, wie aus den zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten des Managements ergeben. Da mich diese Thematik während meiner gesamten aktiven Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer, d. h. mehr als vier Jahrzehnte lang, begleitete und beschäftigte, wird man mir hoffentlich nachsehen, wenn ich bei meinen Betrachtungen auch auf etliche eigene einschlägige Veröffentlichungen, die aus meiner Sicht eines auch theoretisch interessierten Praktikers entstanden sind, zurückgreife, auch wenn sie teilweise aktualisierungsbedürftig sind oder waren1. Anlehnen möchte ich mich zugleich an den in dieser Festschrift veröffentlichten Aufsatz von Adolf Moxter „Zur Funktionsinadäquanz von Bilanzen“2; denn Moxter verdanke ich die Anregung, das von ihm vorwiegend theoretisch behandelte Problem aus meiner Praktiker-Perspektive zu ergänzen.
II. Auslöser der Diskussion über die Problematik in jüngster Zeit 1. Tendenzen zur Internationalisierung und Vereinheitlichung der Rechnungslegung An erster Stelle ist die Tendenz zur möglichst weitgehenden, internationalen Vereinheitlichung der Rechnungslegung zu nennen, die auch die deutsche Rechnungslegung seit Jahren über EU-Harmonisierung, Börsennotierung in den USA und Internationalisierung mittels IFRS zunehmend beschäftigt und beeinflusst. Aktuellstes „Produkt“ ist der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards
__________ Vgl. insb. Clemm in Ruppe (Hrsg.), Gewinnrealisierung im Steuerrecht, 1981, S. 117; Clemm/Nonnenmacher in Klein/Vogel (Hrsg.), Der Bundesfinanzhof und seine Rechtsordnung, FS v. Wallis, 1985, S. 227; Clemm in Havermann (Hrsg.), Bilanz- und Konzernrecht, FS Goerdeler, 1987, S. 93; Clemm in Mellwig/Moxter/ Ordelheide (Hrsg.), Handelsbilanz und Steuerbilanz, 1989, S. 57; Clemm, WPg. 1989, 357; Clemm, DStR 1990, 780; Clemm in Beisse/Lutter/Närger (Hrsg.), FS Beusch, 1993, S. 131; Clemm in Förschle/Kaiser/Moxter (Hrsg.), Rechenschaftslegung im Wandel, FS Budde, 1995, S. 135; Clemm in Kirchhof/Offerhaus/Schöberle (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik, FS Franz Klein, 1994, S. 715; Clemm in Budde (Hrsg.), Handelsbilanzen und Steuerbilanzen, FS Beisse, 1997, S. 123; Clemm in Kirchhof (Hrsg.), Steuerrechtsprechung, Steuergesetz, Steuerreform, FS Offerhaus, 1999, S. 631. 2 S. 1007 ff. 1
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und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung3. Darin geht es vor allem um die teils zwingende, teils optionale Übernahme der vorwiegend von angelsächsischen Prinzipien dominierten IFRS in deutsches Recht. Deren hervorstechende Merkmale sind die Ausrichtung auf die Information (anstelle der Gewinnermittlung zwecks Ausschüttungsbemessung) sowie die zunehmende Tendenz zur Bewertung mit Zeitwerten („fair values“). Damit sollen ein guter Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage gesichert und Entscheidungen der Empfänger der Rechnungslegung fundiert werden können. Die Diskussion über die Umsetzung der IFRS in deutsches Recht samt Konsequenzen für die handelsrechtliche und steuerrechtliche Gewinnermittlung ist insbesondere wegen Gegensätzen zu bisher gültigen deutschen Prinzipien noch nicht abgeschlossen. 2. „Bilanzskandale“ „Unternehmensskandale“, verursacht durch Bilanzmanipulationen, die das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt erschüttert haben, haben internationale (insb. Sarbanes-Oxley Act) und nationale (deutsche) Gesetzgebungs-Initiativen hervorgerufen: „Es ist das vordringliche Ziel, das verloren gegangene Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt wiederherzustellen und nachhaltig zu stärken“4. Die Problemlösung soll vor allem die – zusätzliche – Prüfung der Rechnungslegung insbesondere kapitalmarktorientierter Unternehmen durch ein von staatlicher Seite beauftragtes privates Gremium und u. U. durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sein. Als Beispiele für besonders „spektakuläre“ Bilanzskandale – die natürlich nichts mit den unten behandelten legalen Gestaltungs- und Bewertungswahlmöglichkeiten zu tun haben – dienen Enron, Parmalat, Balsam, Flowtex und Comroad5. 3. Zukunft der deutschen steuerlichen Gewinnermittlung Ein wesentlicher Auslöser für die Reformaktivitäten ist auch die Diskussion über die Zukunft der deutschen steuerlichen Gewinnermittlung. Gewollt ist die Besteuerung des vollen, insofern wahren Gewinns. Hierbei ist nicht nur auf das Unbehagen an ständigen Weiterentwicklungen und Änderungen der steuerlichen Gewinnermittlungsregeln durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung hinzuweisen, sondern insbesondere auch auf im Gang be-
__________ Vgl. Bilanzrechtsreformgesetz BilReG-E v. 21.4.2004 (http://www.bmj.bund.de/ enid/jd.html; Stand 10.8.2004). 4 So A. Allgemeine Begründung, I. Zielsetzung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen (Bilanzkontrollgesetz – BilKoG) v. 21.4.2004, S. 18 (http://www.bmj.bund.de/enid/jd.html; Stand 10.8.2004). 5 Vgl. hierzu auch Lüdenbach/Hoffmann, DB 2002, 1169; Ballwieser/Dobler, Die Unternehmung, 2003, 49. 3
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findliche Grundsatzdebatten wie z. B. über die Abschaffung oder Beibehaltung des Maßgeblichkeitsprinzips. Außerdem steht zur Debatte, ob und inwieweit die IFRS in das deutsche Steuerbilanzrecht übernommen werden könnten und sollten6 (was einstweilen, m. E. richtigerweise, überwiegend abgelehnt wird7) und wie andererseits eine „völlig eigenständige“ Steuerbilanz auszusehen hätte. Letzteres wäre auch weiter zu diskutieren im Zusammenhang mit den umfassenden Steuerreform-Plänen in Gestalt der Kirchhof-, Lang-, Faltlhauser-, Merz- und weiterer Modelle. (Einstweilen sind hierzu wohl noch keine detaillierten Gewinnermittlungsvorschläge veröffentlicht worden.) 4. Reformwünsche für deutsche Rechnungslegungsregeln Nicht zu übersehen ist auch die Diskussion über eine eventuelle Reform der deutschen handelsrechtlichen Rechnungslegungsregeln, insbesondere soweit die HGB-Regeln auch nach teilweiser Übernahme der IFRS anzuwenden sind. Hier geht es vor allem um die Gewinnermittlung mit Blickrichtung auf die Gewinnausschüttung/Gewinnverteilung und auf den deutschen Grundsatz der Kapitalerhaltung. Auch insoweit ist Kritik und Reformbedarf angemeldet worden, z. B. vom Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, vom Arbeitskreis Externe Unternehmensrechnung der Schmalenbach-Gesellschaft und vom Institut der Wirtschaftsprüfer8. Dabei geht es zwar vor allem um eine Abwehr von Tendenzen zu einer weitgehenden Übernahme der IFRS in das deutsche Handels- (und Steuer-)Recht. Einen weiteren Schwerpunkt bilden dabei die (ausdrücklichen) Bilanzierungs- (im Sinne von Ansatz- und Bewertungs-)Wahlrechte. Man plädiert für deren Abschaffung, um die bilanzpolitisch gezielte Beeinflussung der Rechnungslegung (Gewinn- und Verlustermittlung und den Ausweis des Vermögens, d. h. der Aktiva und Passiva sowie des Eigenkapitals) so weit wie möglich einzuschränken. Sehr ausführlich hat sich mit der Wahlrechtsproblematik
__________ Vgl. insb. Oestreicher/Spengel, Maßgeblichkeit der International Accounting Standards für die steuerliche Gewinnermittlung? International vergleichende Analyse der wirtschaftlichen Wirkungen eines Übergangs auf die Rechnungslegung nach den IAS, 1999. 7 Vgl. hierzu Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung. Eigenständige Steuerbilanz und modifizierte Überschussrechnung – Gutachten für das Bundesministerium der Finanzen, 2004. Jedoch zeigt sich, „dass die IAS-Regelungen in einigen Bilanzierungsfragen durchaus einen geeigneten Referenzpunkt für ein eigenständiges Steuerrecht bilden können“ (ebda., S. 454). 8 Vgl. Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372; Arbeitskreis „Externe Unternehmensrechnung“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Köln, DB 2003, 1585 (1586 f.); Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V., Wirtschaftsprüfung und Corporate Governance, Der Beitrag von Rechnungslegung und Abschlussprüfung zu einer wirksamen Unternehmensüberwachung, 2002, S. 57 f. 6
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Hennrichs 1999 in seiner Monografie (Habilitationsschrift) mit dem Titel „Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften“ befasst9, kürzlich auch ausführlich Schulze-Osterloh in seinem Aufsatz „Vorschläge für ein Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz“10, der mir ebenfalls viele Anregungen gibt, zumal der Autor auch mein „Kern-Thema“ anspricht. Er ist sich mit mir bewusst, dass auch nach der geforderten Abschaffung der „ausdrücklichen“ Wahlrechte faktische Entscheidungsfreiräume verbleiben, die dem Bilanzierenden auf Grund von Ungewissheiten und den sich daraus notwendig ergebenden Spielräumen für die Beurteilung von Tatsachen zwangsläufig zustehen11. Als Beispiele für solche „Ungewissheitslücken“, die nur unzulänglich zu objektivieren sind und daher notgedrungen nur durch Schätzungen ausgefüllt werden können, nennt er u. a. die Beurteilung „der ernsthaften Gefahr der Inanspruchnahme als Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung, die Schätzung des künftigen Mittelabflusses als Betrag der ungewissen Verbindlichkeit“12. Daneben wären noch etliche weitere, u. U. gewichtige Aktiv- und Passiv-Posten zu nennen, auf die ich im nächsten Abschnitt etwas näher eingehen werde, wie z. B. Forderungen gegen insolvente Schuldner, Beteiligungen an („Verlust“-) Unternehmen, Vorräte und unvollendete Aufträge im langfristigen Anlagenbau. In diesem Zusammenhang ist auch kurz auf die Problematik der Bewertung des Geschäfts- oder Firmenwerts einzugehen und schließlich auch auf weitere legale Möglichkeiten für bilanzpolitische Beeinflussungen der Rechnungslegung und andererseits auf deren Grenzen.
III. Grenzen wahrer Rechnungslegung, dargestellt anhand gewichtiger Beispiele 1. Unvermeidliche Ungenauigkeiten Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt skizziert, gibt es bei zahlreichen Unternehmen nicht selten gewichtige Bilanz- und GVR-Posten, deren Zeitwert (beizulegender Wert) nicht exakt – manchmal nicht einmal auch nur annähernd exakt – ermittelbar ist. Dasselbe Problem gilt für etliche Prognosen, wie sie z. B. in Lageberichten, die u. a. von zahlreichen Kapitalgesellschaften aufzustellen sind, veröffentlicht werden müssen. Hierzu – mit dem „Mut zur Lücke und Unvollständigkeit“ – im Folgenden nur einige „realistische“ praktische Beispiele.
__________ 9 Vgl. Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften unter beson-
derer Berücksichtigung der EG-Bilanz-Richtlinie, 1999. 10 Vgl. Schulze-Osterloh, ZIP 2004, 1128. 11 Schulze-Osterloh, ZIP 2004, 1130 m. Fn. 28–30. 12 Schulze-Osterloh, ZIP 2004, 1130.
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a) Forderungen Aus meiner praktischen Berufstätigkeit sind mir als plastische Beispiele hohe Forderungen gegenüber mehr oder minder insolventen Schuldnern (u. a. Unternehmen im In- und Ausland) in Erinnerung. Vor einigen Jahren gab es relativ viele „dubiose“ Forderungen an ausländische Unternehmen, etwa in sog. „Entwicklungsländern“ in Südamerika und im damals so genannten Ostblock. Wie es zu diesen hohen Forderungen gekommen war, sei dahingestellt. Jedenfalls waren die Schuldner nunmehr ganz oder zumindest auf längere Zeit unfähig, die vereinbarten Zinsen und Tilgungen zu bezahlen. Niemand wusste auch nur einigermaßen, wann und wie viel die Schuldner zahlen würden, sei es freiwillig oder aufgrund mehr oder minder geschickter Verhandlung und „Beitreibungsmaßnahmen“. Man war sich nur einigermaßen klar über den „theoretisch richtigen“ Wert, der nämlich dem Barwert der künftigen, tatsächlichen Zahlungen entsprach (wobei man auch noch über die Höhe des zur Barwertermittlung zu verwendenden Abzinsungssatzes hätte streiten können). Nur wusste eben niemand, wie hoch die realistischerweise zu erwartenden Zahlungen waren. Die „Ungewissheit“ wurde erst viel später beseitigt, nämlich wenn und soweit tatsächlich gezahlt wurde, z. B. weil Vergleiche abgeschlossen oder Erlasse vorgenommen wurden. Einige Jahre lang tappten die Gläubiger mehr oder minder im Nebel. Das führte u. a. dazu, dass verschiedene Gläubiger (z. B. Banken) ihre in etwa gleichwertigen Forderungen gegen denselben (oder einen „gleichartigen“) Schuldner recht unterschiedlich bewerteten oder vielmehr abwerteten. Ich entsinne mich, dass auch wir als Abschlussprüfer dies – mangels besserer Erkenntnisse – tolerierten. Alle die vorgefundenen, unterschiedlichen Abwertungen – m. W. bewegten sie sich zwischen 35% und 70% – entsprachen im Übrigen dem kürzlich vom DRSC herausgestellten Grundsatz, dass Schätzungen „plausibel, nachvollziehbar und willkürfrei“ (DRS 13.17) sein müssen. b) Beteiligungen Zu nennen sind hier insbesondere Beteiligungen an „Nicht-Aktiengesellschaften“ oder an Aktiengesellschaften, deren Aktien nicht an der Börse gehandelt werden. Soweit der Beteiligungs-Zeitwert, insbesondere wegen nachhaltiger Verlustsituation der Beteiligungsgesellschaft, offensichtlich unter die Anschaffungskosten gesunken ist, verbleibt – wegen regelmäßig fehlender Marktpreise – nur die Möglichkeit einer Zeitwertermittlung nach den Grundsätzen einer Unternehmensbewertung, die bekanntlich nach unterschiedlichen Methoden erfolgen kann, aber stets unter Anwendung gewichtiger Prognosen erfolgt. Einstweilen ist umstritten, welche Methode zur Ermittlung des beizulegenden Wertes (Zeitwertes) von Beteiligungen anzuwenden ist; als vorrangig anwendbar wird vor allem die ErtragswertMethode diskutiert wie aber auch die Varianten der DCF-Methode (= Dis772
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counted Cash Flow-Methode)13. Jedenfalls muss bei allen diesen Bewertungsmethoden mit „unsicheren Werten“, nämlich der Prognosen künftiger Mittelzuflüsse für das die Beteiligung haltende Unternehmen, gearbeitet werden. Jedem sollte klar sein, dass diese Prognose mit dem Risiko u. U. erheblicher Ungenauigkeiten und Fehlschätzungen behaftet ist und dass außerdem die Barwertermittlung von der Anwendung des „möglichst richtigen“ Zinssatzes wesentlich abhängt. Hieraus ergibt sich, dass eine auch nur einigermaßen „genaue“ oder wahre Unternehmens- und Beteiligungsbewertung kaum möglich ist. Bei der Beobachtung der UnternehmensbewertungsSzene ist daher häufig festzustellen, dass bei der Einschaltung verschiedener Unternehmensbewertungsexperten in die Bewertung ein und desselben Unternehmens oder ein und derselben Unternehmensbeteiligung höchst unterschiedliche Ergebnisse zu verzeichnen sind. Diese oft erheblichen Divergenzen sind m. E. eher die Regel als die Ausnahme. In diesem Zusammenhang sei am Rande auch die Frage angesprochen, ob und inwieweit die Bewertung von Beteiligungen in Gestalt von Aktien (-paketen) in mehr oder minder enger Anlehnung an die Börsenkurse zu wesentlich sichereren und „richtigeren“ Ergebnissen führt. Zweifellos ist der Börsenkurs für die Bewertung von Minderheitsanteilen in Abfindungsfällen ein wichtiger Anhaltspunkt14, was aber für große Aktienpakete, im Zweifel für eine 100%-Beteiligung, erst noch zu untersuchen wäre15. Aber dies wäre wohl ein eigenes interessantes und facettenreiches Aufsatzthema. c) Geschäfts- oder Firmenwert („Goodwill“) Nach herkömmlichem deutschen Handelsrecht darf, nach angelsächsischen Grundsätzen wie IFRS, und auch nach deutschem Steuerrecht, muss der „derivative“, d. h. im Rahmen eines Unternehmenskaufes oder einer Fusion „erworbene“, Goodwill aktiviert werden und dies in Höhe der Differenz zwischen dem entrichteten Unternehmenskaufpreis und dem Substanzwert (Aktiva und Passiva bewertet mit Zeitwerten)16.
__________ 13 Vgl. Ballwieser in MünchKomm.HGB, 2001, § 253 Rz. 53; Berger/Gutike in Beck-
BilKomm., 5. Aufl. 2003, § 253 HGB Rz. 403 m. w. N. 14 Der II. Zivilsenat des BGH, dem Volker Röhricht vorsteht, hat sich seinerzeit zur
Verfassungsbeschwerde geäußert, die zu dem die frühere Rechtsprechung ändernden Urteil führte (BVerfG, Beschl. v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94), wonach es mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar sei, bei der Bestimmung der Abfindung oder des angemessenen Ausgleichs nach §§ 304, 305, 320b AktG den Börsenkurs der Aktien außer Betracht zu lassen. Anders als BMJ, BDI und IDW bereitete er argumentativ das Urteil vor (vgl. IDW-FN 1999, 443 [(445 f.]). 15 Vgl. zur Höhe von Paketzuschlägen in den USA Ballwieser, Unternehmensbewertung – Prozeß, Methoden und Probleme, 2004, S. 192 f. m. w. N. 16 Vgl. Ellrott/Schmidt-Wendt in BeckBilKomm., § 255 HGB Rz. 511–512 m. w. N.; vgl. auch Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003, S. 30.
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Ein wesentlicher Bewertungsspielraum ergibt sich derzeit (noch) nach deutschem Handelsrecht. Hiernach besteht das Wahlrecht, den gesamten Differenzbetrag zwischen Kaufpreis und Substanzwert sofort als (ergebnismindernden) Aufwand zu behandeln; zulässig ist aber auch, den Differenzbetrag (Goodwill) ganz oder teilweise zu aktivieren. Entscheidungsspielräume ergeben sich weiter aus den Regeln für die Abschreibung eines (wahlweise) ganz oder teilweise aktivierten Geschäftswerts (Goodwills) gemäß § 255 Abs. 4 Satz 2 u. 3 HGB. Nach dieser, in sich widersprüchlichen, Regelung ist der aktivierte Goodwill entweder „in jedem folgenden Geschäftsjahr zu mindestens einem Viertel“ durch Abschreibungen zu tilgen (so Abs. 4 Satz 2); nach Abs. 4 Satz 3 „kann“ die Abschreibung des Goodwills aber auch „planmäßig auf die Geschäftsjahre verteilt werden, in denen er voraussichtlich genutzt wird“. Letzteres führt meist zu einem völlig anderen Ergebnis als die Abschreibung binnen vier Jahren. Hier wird offenbar eine Anlehnung an die – anschließend zu behandelnden – deutschen steuerrechtlichen Vorschriften erlaubt. Nach diesen derzeitigen steuerlichen Vorschriften muss der derivative Geschäfts- oder Firmenwert in der Steuerbilanz aktiviert werden. Er ist sodann – unter Zugrundelegung einer gesetzlich unwiderleglich vermuteten Nutzungsdauer von 15 Jahren – in gleichen Raten abzuschreiben (was m. E. zu einer sehr unvorsichtigen Nutzungsdauerschätzung und einer entsprechend unvorsichtigen Bewertung des aktivierten Goodwills führt.) Zu einer nicht minder unsicheren und u. U. unvorsichtigen Bewertung des Goodwills und zu entsprechend erheblichen Bewertungsbandbreiten führt die neuerdings vom International Accounting Standard Board (IASB) in IFRS 3 „Business Combinations“ vorgeschriebene Behandlung des Goodwills. Hiernach sind künftig die bisher üblichen planmäßigen Abschreibungen – zumeist über pauschal angenommene Nutzungsdauern – untersagt. Stattdessen werden Abschreibungen (nur) aufgrund regelmäßig vorzunehmender „Impairment-Tests“ erlaubt und vorgeschrieben. Nach weit verbreiteter Meinung, der ich mich anschließe, ergeben sich hieraus faktisch „enorme Einschätzungsspielräume“. Zu befürchten ist, „dass die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Impairment-Abschreibung bei einer bestimmten Art von Konzern- und Reporting-Struktur deutlich geringer ist“17. Die Unsicherheiten und Bandbreiten sind denen äquivalent, die bei der Unternehmensbewertung und der Bewertung von Beteiligungen auftreten18. Denn hier wie dort sind die Bewertungsgrundlagen vor allem auch Prognosen, Schätzungen und Annahmen. Hier wie dort gibt es daher regelmäßig faktische Bewertungsspielräume, die u. U. sehr erheblich sein können. Daher hat die bisher zugelassene und praktizierte plan- und regelmäßige Abschreibung dieses kaum exakt bewertbaren Bilanzpostens nicht nur unter Vorsichtsgesichtspunkten viel für sich.
__________ 17 So Hannich in KPMG – Wirtschaftsmagazin Edit Value Frühjahr, 2004, S. 11. 18 Vgl. oben Abschnitt III. 1. b).
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d) Rückstellungen aa) Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten Es liegt schon nach deren Bezeichnung auf der Hand, dass diese Bilanzposition auch bei der gewissenhaftesten Bemühung um einen möglichst „richtigen“ Ansatz häufig erhebliche Bandbreiten vertretbarer Werte aufweist. Es geht ja um „Eventualverbindlichkeiten“ (nicht im Sinne von § 251 HGB), die entweder (nur) dem Grunde oder nur oder auch der Höhe nach ungewiss sind. Hinsichtlich der Ungewissheit dem Grunde nach ist zu beurteilen, ob die betreffende Verbindlichkeit rechtlich oder auch (aufgrund eines faktischen Leistungszwanges) tatsächlich besteht und ob eine Inanspruchnahme des bilanzierenden Schuldner-Unternehmens wahrscheinlich ist19. Nach h. M. in Deutschland, der ich mich anschließe (vgl. auch insbesondere § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB), ist vorsichtig zu passivieren und zu bewerten, d. h., im Zweifel gilt Passivierung anstelle einer Nichtpassivierung und zwar realistische, im Zweifel aber eher hohe als niedrige Bemessung/Schätzung der Aufwendungen. Beide Fragen hinsichtlich Existenz und Inanspruchnahme der ungewissen Verbindlichkeit sind häufig nicht „sicher“ zu beantworten. Man hilft sich mit mehr oder minder objektivierbaren Grundannahmen, wobei man nicht selten zu „Wahrscheinlichkeits-Urteilen“ unter Verwendung von Zahlenausdrücken (z. B. „mehr als 50%“) kommt. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beurteilung „unsicher“ bleibt einschließlich des hieraus abgeleiteten „Gesamturteils“. Hierzu ist m. E. auf die Ausführungen von Moxter20 zu verweisen, in denen er sich kritisch mit der Verwendung von exakten, bezifferten Wahrscheinlichkeitsannahmen (z. B. 15% Wahrscheinlichkeit) auseinander setzt. Beherzigenswert ist m. E. seine Feststellung: „Ganz generell ist freilich zu berücksichtigen, daß Zahlenausdrücke für Wahrscheinlichkeiten trügerisch sind, sieht man von den Fällen einer annähernden Verwirklichung der Voraussetzungen des Gesetzes der großen Zahlen ab. Im allgemeinen verbergen sich hinter solchen Wahrscheinlichkeitsangaben Bandbreiten von Wahrscheinlichkeiten: Eine Wahrscheinlichkeitsangabe von zum Beispiel 45 Prozent für den Eintritt eines belastenden Ereignisses ist grundsätzlich in dem Sinne zu deuten, daß der Eintritt mit einer Wahrscheinlichkeit etwa zwischen 30 Prozent und 60 Prozent erwartet wird. Eine Wahrscheinlichkeit von 45 Prozent besagt also grundsätzlich lediglich, daß der Eintritt des belastenden Ereignisses etwas weniger wahrscheinlich ist als dessen Nichteintritt.“21 An-
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19 Vgl. Berger/Ring in BeckBilKomm., § 249 HGB Rz. 24 ff., insbes. Rz. 42 m. zahlr. w.
Nachw. 20 Vgl. Moxter (Fn. 16), S. 36. 21 Vgl. Moxter (Fn. 16), S. 36–37.
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zufügen ist m. E., dass schon die „Berechnung“ der verwendeten „Wahrscheinlichkeits-Prozentzahlen“ das Ergebnis von mehr oder minder unsicheren Annahmen, Schätzungen und Prognosen ist. Hinsichtlich der Höhe der ungewissen Verbindlichkeit, die deren Bilanzwert bestimmt, gilt ein großer Teil der Ausführungen zur Ungewissheit dem Grunde nach entsprechend. Auch die Bewertung geschieht ja, von wenigen Ausnahmen abgesehen, häufig oder sogar vorwiegend aufgrund von Annahmen und Schätzungen. Zu den Ausnahmen gehören die Fälle, in denen nicht die Höhe einer – ungewissen – Verbindlichkeit streitig ist, sondern nur – oder vor allem – ob überhaupt eine Verbindlichkeit besteht und ob eine Inanspruchnahme durch den Gläubiger wahrscheinlich ist. Doch auch in solchen Fällen geht es meist nicht um die Frage „Alles oder Nichts“, sondern häufig auch um die Frage, ob und inwieweit eine vergleichsweise Erledigung – insbesondere durch Zahlung eines Vergleichbetrages – realistischerweise erwartet werden kann. Jedenfalls bewegt man sich bei der Bewertung von Rückstellungen – sowohl für ungewisse Verbindlichkeiten als auch für die im nächsten Abschnitt behandelten Drohverlustrückstellungen – in Bewertungsregionen, in denen man nicht nur auf exakte Grundlagen und Zahlen aufbauen kann, sondern häufig auch Schätzungen und Prognosen vornehmen muss, was erhebliche Schätzungsbandbreiten und Ermessensspielräume einschließt. Obendrein stehen u. U. verschiedene Bewertungsmethoden zur Debatte. Hierzu möchte ich beispielweise – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf einige gewichtige, einschlägige Rückstellungsbereiche eingehen. Kurz erwähnt seien zunächst die Gewährleistungsrückstellungen hinsichtlich der Verpflichtungen zu künftigen kostenlosen Nachbesserungen, Ersatzteil-Lieferungen, Rückgewährungen nach Vertragsrücktritt des Kunden, Minderungen oder Schadensersatzleistungsverpflichtungen. Hier geht es zum einen um Einzelrückstellungen für alle bis zur Bilanzaufstellung bekannt gewordenen Garantieleistungsfälle, die auf Lieferungen bis zum Abschlussstichtag beruhen22. Zum anderen ist eine Pauschalrückstellung zu bilden, wenn der Kaufmann auf Grund seiner Erfahrungen in der Vergangenheit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit Gewährleistungsansprüchen rechnen muss. Zu schätzen ist hiernach sowohl die Zahl der zu erwartenden Garantiefälle als auch die Wahrscheinlichkeit der Geltendmachung durch die Kunden; außerdem ist der Umfang der zu erwartenden Nachbesserungsforderungen (u. U. unter Beachtung der Einführung eines neuen Fabrikats als besondere Fehlerquelle) sowie insbesondere der zu erwartende „Nachbesserungs-Aufwand“ – unter Ansatz von Vollkosten – zu schätzen. Auch hier gibt es Ermessensund Schätzungsspielräume; jedoch dürften sich diese – jedenfalls im Bereich der Garantieverpflichtungen für „Massen“- bzw. Markenartikel im Vergleich
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22 Vgl. Berger/Ring in BeckBilKomm., § 249 HGB Rz. 100 „Gewährleistung“ m. Hin-
weis u. a. auf BFH, BStBl. II 1993, S. 437.
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zu anderen Rückstellungspositionen in bescheideneren Grenzen halten, da hierzu (zumindest für die steuerliche Bewertung) auf Grund der BFH-Rechtsprechung „eingrenzende“ Bewertungsregeln entwickelt wurden. Nur kurz erwähnt sei das ebenso umfangreiche wie gewichtige Thema der (insbes. Schadens-)Rückstellungen im Bereich der Versicherungsunternehmen; ein Spezialthema mit etlichen Facetten, das mein hier zu behandelndes Thema überschreiten würde. Etwas näher eingehen möchte ich aber auf Rückstellungen für Entsorgungsund Rekultivierungsverpflichtungen. Sie sind m. E. nicht nur meist besonders gewichtig, sondern zeigen zugleich eine Bandbreite von Schätzwerten und Bilanzierungsmethoden. Meine Betrachtungen lehnen sich vor allem an meinen Aufsatz in der Festschrift für Moxter über die Nichtpassivierung entstandener Verbindlichkeiten wegen nachträglicher wirtschaftlicher Verursachung23 an, beziehen aber auch die neue, mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 geschaffene spezielle einkommensteuerliche Regel zur Rückstellungsbildung für die Stilllegung von Kernkraftwerken (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG) ein. Bei der Rückstellung für die Stilllegung von Kernkraftwerken geht es um die Aufwendungen, die bei der Entsorgung nach der Stilllegung, d. h. nach der Einstellung der Stromproduktion, anfallen; damit handelt es sich m. E. um einen besonders gravierenden Musterfall für Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten, nämlich für die mehr oder minder unsicheren künftigen Rekultivierungs- und Entsorgungsverpflichtungen. M.a.W. geht es um die künftigen Aufwendungen, die im Rahmen der Erfüllung der staatlich vorgeschriebenen Entsorgungsverpflichtung anfallen werden. Handelsrechtlich gibt und steuerrechtlich gab es bis vor einiger Zeit Meinungsverschiedenheiten sowohl über grundsätzliche Ansatz- und Bewertungsfragen als auch über (ebenfalls gewichtige) Bewertungs-Detailfragen. Eine der Grundsatzfragen ergibt sich aus dem Umstand, dass die (atom-)gesetzliche Entsorgungsverpflichtung rechtlich bereits mit der Inbetriebnahme in vollem Umfang entsteht, allerdings erst später, nämlich bei der (planmäßigen oder vorzeitigen) Stilllegung fällig wird. Hieraus leiten einige Autoren24 die Verpflichtung zur sofortigen Voll-Passivierung ab, während insbes. von Praktikern seit langem für die Bildung und den ratierlichen Aufbau von Ansammlungsrückstellungen plädiert wird (Ansammlung des Verpflichtungsbetrages während der – voraussichtlichen – planmäßigen Nutzungszeit)25. Würde man dagegen nicht ansammeln, sondern sogleich mit der In-
__________ 23 Vgl. Clemm in Ballwieser/Böcking/Drukarczyk/Schmidt (Hrsg.), Bilanzrecht und
Kapitalmarkt, FS Moxter, 1994, S. 167 ff. 24 Insbes. Siegel, BB 1993, 326. 25 Vgl. z. B. Reinhard, damals Rechnungswesenchef eines großen Energieversorgungs-
unternehmens, in seinem Aufsatz „Rückstellungen für die Entsorgung von Kernkraftwerken“, in Baetge (Hrsg.), Rechnungslegung und Prüfung nach neuem Recht, 1987, S. 22 f.; ebenso z. B. Berger/Ring in BeckBilKomm., § 249 HGB Rz. 100
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betriebnahme des Kernkraftwerkes den künftig nach Stilllegung anfallenden Versorgungsaufwand voll passivieren, so wäre in vielen Fällen mit einer sofortigen bilanziellen Überschuldung zu rechnen26, weshalb z. B. auch Siegel nach einer „Bilanzierungshilfe“ Ausschau hält. Zu einem ähnlichen Ergebnis wie bei Zuhilfenahme einer wie auch immer zu bemessenden Bilanzierungshilfe (als Aktivposten) kann man gelangen, wenn man statt eines ratierlich abzuschreibenden „Bilanzierungshilfe-Aktivpostens“ in Anlehnung an IFRS die künftig anfallenden Entsorgungsverpflichtungen („RückbauVerpflichtungen“) als (zusätzlichen) Bestandteil der Herstellungskosten des Reaktors behandelt und aktiviert27. Aus dieser Methoden-Diskussion ist m. E. ersichtlich, dass es einstweilen handelsrechtlich offensichtlich noch keine „allein richtige“ Methode zur Bilanzierung der Entsorgungsverpflichtung gibt. Hinzu kommt die Bewertungsproblematik. Insoweit ist zwar klar, dass die Bewertung der Entsorgungsverpflichtung von einer möglichst soliden, fundierten Schätzung und Prognose auszugehen hat. Gleichwohl ergeben sich bei einer solchen Schätzung einer nach langer Zeit (hier Ende der Nutzung; Einstellung der Stromproduktion) fällig werdenden Verpflichtung erhebliche Schätzungsunsicherheiten und entsprechend erhebliche Bandbreiten. Angesichts der Größenordnung des anzunehmenden Entsorgungsaufwands – meist hunderte von Mio. Euro oder sogar Milliardenbeträge – sind die genannten SchätzungsBandbreiten für die gesamte Gewinnermittlung und Vermögensdarstellung von erheblicher Bedeutung. Hinzu kommen für die Bewertung dieser Verbindlichkeit noch wesentliche Detailfragen, nämlich z. B. ob von den Wertverhältnissen am Bilanzstichtag oder aber vom künftigen Wert im Erfüllungs- bzw. Fälligkeitszeitpunkt auszugehen ist; ob eine Abzinsung geboten, erlaubt oder aber verboten ist (so § 253 Abs. 1 letzter Halbsatz HGB). Außerdem die – auch für Drohverlustrückstellungen häufig wichtige – Grundsatzfrage, ob die Bewertung zu Vollkosten zu erfolgen hat – was m. E. allein sachgerecht ist – oder aber ob etwa auch eine Bewertung zu Teilkosten (d. h. ohne Einbeziehung von Gemeinkosten) erfolgen darf.
__________ „Atomanlagen“, wonach die Kosten für die Stilllegung von Kernkraftwerken „parallel zur Abschreibung über die Nutzungsdauer in einer Rückstellung angesammelt“ werden; Ballwieser in Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. (Hrsg.), Bericht über die Fachtagung 1991, 1992, S. 143 und 145. 26 Vgl. auch Siegel, BB 1993, 336. 27 So der Vorschlag von Lüdenbach in seinem Aufsatz „Rückbauverpflichtungen nach internationaler Rechnungslegung und deutschem Bilanzrecht“, BB 2003, 835–840, insbes. 839 f. Diese Lösung hält Lüdenbach handelsrechtlich für zulässig; der weite Anschaffungs- und Herstellungskostenbegriff des deutschen Handelsrechts lasse eine solche Lösung zu. Sie sei im Übrigen weniger bedenklich als die Lösung mit Ansammlungsrückstellungen, die im Hinblick auf das Vollständigkeitsgebot problematisch sei.
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Wie schon oben erwähnt wurden für die steuerliche Bilanzierung im Rahmen des sog. Steuerentlastungsgesetzes 1999 einige gesetzliche Grundregeln speziell für die Bilanzierung der (künftigen) Kernkraftwerks-Stilllegung/Entsorgung aufgestellt, darüber hinaus aber auch für andere „Rückstellungen für Verpflichtungen, für deren Entstehen im wirtschaftlichen Sinne der laufende Betrieb ursächlich ist“ (§ 6 I Nr. 3a Buchst. d Satz 1 EStG). Vorgeschrieben wird die Bildung von Ansammlungsrückstellungen. Die Bilanzierung der Kernkraftwerks-Stilllegung/Entsorgung wird im nachfolgenden Satz 2 wie folgt vorgeschrieben: „Rückstellungen für die Verpflichtung, ein Kernkraftwerk stillzulegen, sind ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Nutzung bis zum Zeitpunkt, in dem mit der Stilllegung begonnen werden muss, zeitanteilig in gleichen Raten anzusammeln; steht der Zeitpunkt der Stilllegung nicht fest, beträgt der Zeitraum für die Ansammlung 25 Jahre.“ Außerdem wird im nachfolgenden Absatz e generell eine Abzinsung der Verpflichtung mit einem Zinssatz von 5,5% vorgeschrieben. Damit folgt der Gesetzgeber für das Steuerrecht im Grundsatz der – wohl herrschenden – oben beschriebenen „Praktiker-Lösung“, die die Bilanzierung von Ansammlungsrückstellungen befürwortet. Problematisch ist aber die zugleich vorgeschriebene Abzinsung, die gegen das handelsrechtlich (noch) bestehende Abzinsungsverbot verstößt, und dies unter Verwendung eines relativ hohen („passivwertmindernden“) Zinssatzes. Andere Bilanzierungsmethoden, die für die handelsrechtliche Bilanzierung (und auch im Hinblick auf die IFRS) diskutiert werden, werden damit für die steuerliche Bilanzierung abgelehnt. Bestehen bleibt aber auch nach diesen „präzisierenden“ steuerlichen Bilanzierungsvorschriften, dass der Wert der Entsorgungsverpflichtung nur „mehr oder minder genau“ geschätzt werden kann und muss, sodass insoweit eine m. E. erhebliche Bandbreite vertretbarer Werte verbleibt. Dies gilt m. E. nicht nur für die erstmalige Passivierung (1. Rate), sondern auch für die laufende Wertaktualisierung in den Folgejahren. Die Schätzprobleme hinsichtlich Existenz, Inanspruchnahme und Höhe ungewisser Verbindlichkeiten müssen vom Abschlussersteller (und Abschlussprüfer) bewältigt werden. Die Unsicherheit darf keineswegs zur Nichtpassivierung und damit zu einem zu hohen und unvorsichtigen Ergebnis- und Vermögensausweis führen, solange dem Vorsichtsprinzip die Rolle zukommt, die es heute in der handels- wie steuerrechtlichen Rechnungslegung hat. bb) Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften Ein besonders schwieriges Kapitel sind sowohl rechtlich als auch tatsächlich (d. h. in Bezug auf die Wertansätze) die Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften. Handelsrechtlich ist unter gegebenen Voraussetzungen deren Passivierung vorgeschrieben (§ 249 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz HGB), während steuerrechtlich die Bildung und Passivierung seit einiger Zeit untersagt ist (§ 5 Abs. 4a EStG). Mit der Grundsatzfrage, ob das relativ 779
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neue Passivierungsverbot mit den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung vereinbar ist, möchte ich mich nicht näher befassen, sondern nur erwähnen, dass ich mich den Kritikern der Neuregelung anschließe und einen Verstoß gegen die GoB annehme28. Im Übrigen gehe aber auch ich davon aus, dass die ergebniswirksame Berücksichtigung drohender Verluste aus schwebenden Lieferungs- und Leistungsverträgen durch – unvermindert zugelassene und vorgeschriebene – Teilwertabschreibungen auf entsprechende Vorräte und aktivierte Leistungen möglich sein muss. Sofern diese Aktivposten in Höhe der zu erwartenden Verluste (hierzu siehe nachfolgende Ausführungen) vorliegen, muss m. E. die sofortige „Realisation“ des gesamten drohenden Verlustes durch Teilwertabschreibung möglich sein29. Da es in diesem Aufsatz vorwiegend um die „unvermeidlichen Ungenauigkeiten“ bei der Bewertung von Bilanzpositionen und den „vernünftigen Umgang“ mit diesem Faktum geht, möchte ich mich nachfolgend mit der „unvermeidlichen Ungenauigkeit der Ermittlung drohender Verluste“ beschäftigen. Bei dieser Ermittlung sind bekanntlich die künftigen Erträge (z. B. aus vereinbarten Leistungs-Preisforderungen) mit den für die Erfüllung der Leistungsverpflichtung künftig anfallenden Aufwendungen zu vergleichen; bei einem – möglichst sorgfältig ermittelten – Aufwandsüberschuss (Saldo) ist dieser als Drohverlustrückstellung zu passivieren (nach derzeitigem Recht allerdings, wie oben erwähnt, nur in der Handelsbilanz; er ist u. U. aber auch durch Teilwertabschreibungen in der Steuerbilanz zur Wirkung zu bringen, wie ebenfalls oben erwähnt). Dass bei dieser gegenüberstellenden Berechnung notgedrungen oftmals mit Schätzungen, Prognosen und Annahmen gearbeitet werden muss, dürfte auf der Hand liegen. Besonders eindrückliche Beispiele hierfür liefert nach meiner Erfahrung der Bereich der langfristigen Auftragsfertigung30. In diesem Bereich spielen für die gesamte Auftragsbilanzierung zunächst generelle Ansatz- und Bewertungs-Methoden-Fragen eine gewichtige Rolle; ich beschränke mich hier aber auf die Betrachtung der Bemessung bzw. Bewertung der drohenden Verluste, einen Bereich, in dem man häufig in besonderem Maße auch auf Schätzungen angewiesen ist. Dabei geht es meist nicht so sehr um die Ermittlung der zu erwartenden Einnahmen, da insoweit meist klare Preisvereinbarungen vorliegen. (Den Fall der mangelnden Bonität des Kunden als
__________ 28 So z. B. Moxter, DB 1997, 1477; IDW, WPg. 1997, 292–293, u. a. gegen Weber-
Grellet in Schmidt/Weber-Grellet, EStG – Kommentar, 23. Aufl. 2004, § 5 Rz. 450. 29 So auch Herzig in Hommelhoff/Zätzsch/Erle (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, Rech-
nungslegung, Steuerrecht, FS Welf Müller, 2001, S. 599–612, insbes. S. 612; ähnlich Berger/Ring in BeckBilKomm., § 249 HGB Rz. 68; speziell zur langfristigen Fertigung Ellrott/Ring in BeckBilKomm., § 249 HGB Rz. 524; teilweise a. A. OFD Kiel, Vfg. v. 30.3.2000, DB 2000,1202, zitiert nach Herzig in FS Welf Müller, a. a. O. 30 Vgl. zu Einzelheiten Clemm in Ruppe (Fn. 1), S. 117–135.
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„drohende Verlustursache“ klammere ich aus Vereinfachungsgründen einmal aus der Betrachtung aus; ebenso die Abzinsungsproblematik hinsichtlich dieser Forderung, die aber u. U. eine nicht unerhebliche Rolle spielen kann.) Schätzungsunsicherheiten und obendrein BewertungsmethodenProbleme ergeben sich aber vor allem bei der Ermittlung des künftigen Aufwandes, der zur Erfüllung der vertraglich geschuldeten Fertigungsleistung noch anfallen wird; dieser ist ja dann, wie schon oben erwähnt, den zu erwartenden Einnahmen aus demselben Vertrag gegenüberzustellen mit dem Ergebnis, dass in Höhe des Aufwandsüberschusses eine Rückstellung für drohende Verluste zu bilden (bzw. eine Teilwertabschreibung vorzunehmen) ist. Anzumerken ist zunächst, dass manche Bewertungs-Methoden-Fragen nicht eindeutig geklärt sind, was bereits Bewertungsspielräume eröffnet. Hierzu gehört z. B. die gewichtige Frage, ob die künftig noch zu erbringenden Leistungen mit Vollkosten oder (nur) mit Teilkosten zu bewerten sind. Inzwischen scheint sich zwar – m. E. richtigerweise – die Bewertung mit Vollkosten (d. h. Einzelkosten einschließlich Gemeinkosten) als herrschende Methode durchgesetzt zu haben. Die von einigen Autoren (incl. „Reformdenkern“) bevorzugte Bewertung der noch geschuldeten Leistungen mit Teilkosten würde jedenfalls zu wesentlich anderen Ergebnissen führen. In den meisten Fällen würde diese Methode dazu führen, dass sich gar kein Aufwandsüberschuss ergibt, weil die noch anfallenden, nur mit Teilkosten angesetzten Aufwendungen meist geringer sind als die vertragsgemäß zu erwartenden Erträge/Erlöse. Mangels Aufwandsüberschusses wäre dann auch keine Drohverlustrückstellung zu bilden31. Das Hauptproblem dürfte sich jedoch nicht so sehr aus den Methodenfragen ergeben, sondern vielmehr aus der praktischen Ermittlung der Aufwendungen für die Vollendung der vertraglich geschuldeten Fertigungsleistung – meist incl. garantierten Eigenschaften. Dies gilt nicht so sehr, wenn Preise und Leistungen sorgfältig kalkuliert und festgelegt werden und die kalkulierten, vereinbarten Leistungen auch plangemäß erfüllt werden (u. U. unter bewusster Inkaufnahme von Unterdeckungen). Die – nicht seltenen – Problemfälle sind vielmehr in erster Linie solche, in denen unvorhergesehene Schwierigkeiten auftreten, zunächst zu Verzögerungen führen (evtl. mit der Konsequenz hoher Vertragsstrafen) oder aber auch zu nicht vorhergesehenen zusätzlichen Aufwendungen zur Behebung von Konstruktions-, Qualitätsoder Material-Mängeln, die u. a. auch eine Korrektur der Kostenkalkulation erfordern etc. Dass in solchen Fällen häufig erhebliche Unklarheit und Unsicherheit über die künftig noch anfallenden (Zusatz-)Aufwendungen bestehen – mit der Konsequenz notwendiger Schätzungen und Annahmen und damit einhergehender Schätzungsbandbreiten und Bewertungsspielräume – dürfte plausibel sein.
__________ 31 Vgl. zu Einzelheiten u. a. Clemm in Ruppe (Fn. 1), S. 117–135.
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2. Legale Gestaltbarkeit der Rechnungslegung32 a) Gesetzliche (ausdrückliche) Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechte Gesetzliche (ausdrückliche) Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechte gibt es zwar inzwischen wesentlich weniger im deutschen Steuerbilanzrecht (eine Ausnahme bildet u. a. das Wahlrecht nach § 6 Abs. 2 EStG hinsichtlich der sog. geringwertigen Wirtschaftsgüter), wohl aber für die handelsrechtliche Rechnungslegung. Zu nennen sind insbesondere die Wahlrechte zur Aktivierung von Aufwendungen für die Ingangsetzung und Erweiterung des Geschäftsbetriebs (§ 269 HGB), zur Aktivierung eines derivativen Geschäftsoder Firmenwerts (§ 255 Abs. 4 HGB), von latenten Steuern (§ 274 Abs. 4 HGB) und einem Disagio/Damnum (§ 250 Abs. 3 HGB). Bewertungsmethoden-Wahlrechte gibt es hinsichtlich der planmäßigen Abschreibungen (linear oder degressiv), für außerplanmäßige Abschreibungen bei voraussichtlich nicht dauernder Wertminderung u. a. m. Gewichtig ist m. E. vor allem das Wahlrecht hinsichtlich der Bemessung der Herstellungskosten (Einbeziehung oder Nichteinbeziehung der Gemeinkosten gem. § 255 Abs. 3 u. 4 HGB); ein u. U. ebenfalls gewichtiges Wahlrecht betrifft die Zulassung sog. „Aufwandsrückstellungen“ (§ 249 Abs. 2 HGB). Schon allein diese – allerdings für die Bewertung durch das Stetigkeitsgebot (§ 252 Abs. 2 HGB) in der Anwendung begrenzte – Wahlrechtspalette erlaubt eine mehr oder minder massive Beeinflussung der Gewinnermittlung und des Vermögensausweises in der Bilanz. Ob und inwieweit die Wahlrechtsausübung (auch) durch die Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB (true-and-fair-view-Gebot) eingeschränkt wird, ist umstritten33. Nach bisher wohl überwiegender Meinung ist die Wahlrechtsausübung nur untersagt oder eingeschränkt, wenn und soweit sie als „Missbrauch“ zu qualifizieren wäre. Dass die generelle Abschaffung oder weitestgehende Einschränkung zunehmend gefordert wird, wurde bereits oben erwähnt. Auch nach meiner Meinung spricht viel für eine solche generelle Abschaffung der (ausdrücklichen) Wahlrechte. b) Faktische Wahlrechte durch Benutzung der Bilanzierungs- und Bewertungsregeln Gewichtiger noch als die ausdrücklichen gesetzlichen Wahlrechte sind m. E. allerdings die faktischen Wahlrechte, die sich aus der „Benutzung“ unserer Rechnungslegungsregeln und Konventionen ergeben können.
__________ 32 Bei dieser knappen Darstellung lehne ich mich weitestgehend an meinen oben er-
wähnten Aufsatz „Bilanzpolitik und Ehrlichkeitsgebot“, WPg. 1989, 357 an, unter Berücksichtigung einiger Aktualisierungserfordernisse. 33 Vgl. z. B. Hense/Schellhorn, BeckBilKomm., § 264 HGB, insbes. Rz. 25 ff. m. zahlr. w. Nachw.; Clemm in Förschle/Kaiser/Moxter (Fn. 1), S. 151 ff.
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aa) Eingriffe in den normalen betrieblichen Ablauf Hierunter verstehe ich z. B. die Steuerung (Beschleunigung oder Verzögerung) von Umsatzakten, die nach unseren Regeln zur Gewinnrealisation und zur Einbuchung der Forderungen aus Lieferung und Leistung und zur Ausbuchung der – bis dato mit Anschaffungs- oder Herstellungskosten bewerteten – Lieferobjekte führen. Dasselbe gilt etwa bei der langfristigen Auftragsfertigung für die Vornahme oder Unterlassung von Teilabrechnungen. Schon diese Steuerung von Umsatzakten insbesondere wahlweise in die Zeit vor oder nach dem Bilanzstichtag kann erhebliche bilanzpolitische Wirkungen erzeugen. (Damit sind übrigens nicht die unzulässigen „Vorfakturierungen“ noch nicht erbrachter Leistungen oder die ebenfalls unzulässige Nichtabrechnung bereits – vollständig – erbrachter Lieferungen und Leistungen gemeint.) Ergebnisbeeinflussend ist auch die zeitliche oder umfangmäßige Steuerung besonders aufwändiger Aktivitäten wie z. B. für Forschung und Entwicklung (auf die bei Kapitalgesellschaften allerdings generell im Lagebericht „einzugehen“ ist) sowie auch z. B. für Werbe- bzw. Marketing-„Kampagnen“. bb) „Außergewöhnliche“ Maßnahmen und Geschäfte Hierunter fallen u. a. Transaktionen zur Realisation von stillen Reserven, insbesondere mit Gegenständen des Anlagevermögens, sei es innerhalb von Konzernen oder auch durch Geschäfte mit Dritten (z. B. „sale and lease back“-Geschäfte). cc) Verwendung verschiedener rechtlicher Gestaltungen mit sehr ähnlichem wirtschaftlichen Erfolg, aber unterschiedlichen Konsequenzen für den Erfolgsausweis und die Bilanzierung Ein von mir mehrfach „miterlebtes“ Beispiel war die Entscheidung, ob man einen für die unternehmerische Tätigkeit erwünschten oder erforderlichen Gegenstand (z. B. ein Verwaltungsgebäude) im Wege einer fremdfinanzierten Eigeninvestition oder im Wege des Finanzierungsleasing anschaffen bzw. „mieten“ sollte. Bei geschickter, juristisch „maßgeschneiderter“ Gestaltung der Leasing-Lösung (ohne Annahme des wirtschaftlichen Eigentums beim Leasingnehmer) kann wirtschaftlich nahezu dasselbe Ergebnis erzielt werden wie bei der fremdfinanzierten Eigeninvestition. Die beiden Lösungen wirken sich jedoch ganz unterschiedlich auf den Ergebnis- und Vermögensausweis im Jahresabschluss des „Nutzers“ (in Gestalt des Eigeninvestors oder des als Mieter behandelten Leasingnehmers) aus. Bei der fremdfinanzierten Eigeninvestition des Anlagegutes ist dieses in der Bilanz des „Nutzers“ zu aktivieren und sodann ratierlich abzuschreiben; außerdem geht die Fremdfinanzierung in Gestalt der Passivierung der entsprechenden Verbindlichkeiten in die Bilanz ein. Der Anfall des in der GVR auszuweisenden Aufwands – in Gestalt der Abschreibungen und Zinsen – verläuft regelmäßig stark degres783
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siv, insbesondere weil der Zinsaufwand durch die regelmäßigen Tilgungen laufend geringer wird. Dagegen wird bei der Leasinglösung weder der Leasing-Gegenstand noch die Leasing-Verbindlichkeit bilanziert, da es sich bei dem Leasingverhältnis um ein schwebendes Geschäft handelt und schwebende Geschäfte nach unseren Bilanzierungsregeln grundsätzlich nicht ausgewiesen werden, sondern allenfalls ausnahmsweise beim Auftreten von Erfüllungsrückständen; handelsrechtlich auch bei drohenden Verlusten. Als Aufwand für die Nutzung des Leasingobjekts gehen in die GVR die (üblicherweise für die Grundmietzeit gleich bleibenden) Leasingraten ein. Bilanzbilder und Ergebnisse, insbesondere deren Periodisierung, unterscheiden sich also sehr erheblich34. (Inwieweit die in § 285 Nr. 3 HGB vorgeschriebenen Angaben im Anhang zum Ausweis der „sonstigen finanziellen Verpflichtungen“, die nicht in der Bilanz erscheinen, die Leasingraten betreffen und inwieweit diese Angaben zur Darstellung der Finanzlage wie bei der „Eigeninvestitions-Lösung“ führt, möchte ich im Hinblick auf einige Zweifelsfragen zur Angabepflicht von künftig zu zahlenden Leasingraten offen lassen.) c) Faktische Wahlrechte im Bereich von Schätzungen Hierzu verweise ich auf den obigen Abschnitt III 1, in dem ich auf „unvermeidliche Ungenauigkeiten“ anhand einiger gewichtiger Beispiele eingegangen bin. Aus den – u. a. maßgeblich auf Schätzungen aufbauenden – Wertermittlungen ergeben sich zwangsläufig Bandbreiten für mögliche Wertansätze, die alle als „plausibel, nachvollziehbar und willkürfrei“, m.a.W. als „realistisch“ zu qualifizieren sind. Aus dieser Feststellung folgt allerdings, dass es daneben grundsätzlich auch Schätzwerte gibt, die diese Qualifikation nicht aufweisen und daher als „unrealistisch“ anzusehen sind und außerhalb des Rahmens vertretbarer Schätzwerte liegen; in Frage kommen „zu vorsichtige“ oder auch „zu unvorsichtige“ Schätzungen, evtl. auch zu „leichtfertig“ vorgenommene Schätzungen. Die Grenzziehung zwischen diesen beiden Kategorien kann allerdings nicht selten schwierig sein. Innerhalb der Bandbreite vertretbarer (Schätz-)Werte gibt es dementsprechend faktische Ansatzund Bewertungswahlrechte bzw. Entscheidungsspielräume.
IV. Zusammenfassung Im Zuge der geplanten Reformen der insbesondere handelsrechtlichen Rechnungslegung, ausgelöst durch Internationalisierung, damit verbundene IFRS sowie eine Reihe von Bilanzskandalen, ist der Streit um die Inhalte wahrer Rechnungslegung neu entflammt. In diesem Beitrag wurde darzulegen versucht, welche unüberwindlichen Grenzen einer wahren Rechnungslegung gesetzt sind: Es gibt ebenso unvermeidliche wie gewichtige Ungenauigkeiten
__________ 34 Vgl. hierzu auch Clemm in Kirchhof/Offerhaus/Schöberle (Fn. 1), S. 723.
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hinsichtlich Ansatz und Bewertung bedeutender Bilanzposten. Dies wurde an den Fällen Forderungen, Beteiligungen, Geschäfts- oder Firmenwert, Verbindlichkeitsrückstellungen und Drohverlustrückstellungen veranschaulicht. Daneben sind nicht minder bedeutsame, Möglichkeiten der legalen Gestaltung der Rechnungslegung eröffnende, Wahlrechte unterschiedlichster Art zu berücksichtigen. Nur explizite Wahlrechte können in den Bilanzrechtsnormen beseitigt werden, nicht dagegen implizite Wahlrechte durch Sachverhaltsgestaltungen und durch Schätzungserfordernisse. Unabhängig von dem Ausmaß der Ungenauigkeiten müssen diese vom Bilanzierenden (und Abschlussprüfer) bewältigt werden. Solange das Vorsichtsprinzip die ihm in Deutschland zukommende Rolle behält, ist bei Schulden eher zu passivieren und hoch zu bewerten als die Passivierung zu unterlassen und niedrig zu bewerten. Die dargestellten Grenzen der Vermögens- und Gewinnermittlung zeigen die erhebliche Bedeutung ergänzender Erläuterungsvorschriften. Für Abschlüsse nach US-GAAP sind die „critical accounting policies“ in der Management Discussion & Analysis darzustellen35. Der IASB hat eine entsprechende Pflicht zur Erläuterung insbesondere der Ausübung von Ermessensspielräumen in IFRS-Abschlüssen erlassen36. Für das deutsche Recht hat die Literatur etliche Vorschläge unterbreitet37. Jedoch darf selbst bei wohlmeinender Umsetzung durch den Gesetzgeber ihre Wirkung nicht überschätzt werden. Zum einen muss die Erläuterung auf ein vernünftiges Maß begrenzt werden. Zum anderen ist nicht zu erwarten, dass ein Management, das Bilanzpolitik betreiben möchte, diese besonders detailliert erklärt. Inwieweit Prüfer und neu zu schaffende Aufsicht hier entgegenwirken können, ist eine offene Frage.
__________ 35 SEC Release No.34-45907; Proposed Rule on Disclosure in Management’s Discus-
sion and Analysis about the Application of Critical Accounting Policies, May 10, 2002; Financial Reporting Release No. 60, Cautionary Advice Regarding Disclosure About Critical Accounting Policies, December 12, 2001. 36 IAS I (revised 2003), Tz. 108–124. 37 Vgl. insb. Moxter (Fn. 16), S. 221–336; Flury, Gewinnerläuterungsprinzipien, 1999.
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Überschuldung und Bilanzierung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesetzliche Ausgangslage III. Materielles Recht und Bilanzierung IV. Überschuldungsprüfung V. Einzelfragen 1. Ansatz und Bewertung 2. Einzelne Aktiva a) Eigene Anteile
b) Immaterielle Werte c) Firmenwert d) Konzernrechtliche Ausgleichsansprüche e) Rechnungsabgrenzungsposten 3. Einzelne Passiva a) Rückstellungen b) Gesellschafterdarlehen
I. Einleitung Der II. Zivilsenat des BGH, dessen Vorsitzender der Jubilar ist, hat in erster Linie unternehmensrechtliche Fragen als Revisionsgericht zu beurteilen. Innerhalb des Unternehmensrechts (im weitesten Sinne) kommt es vielfach auch auf bilanzrechtliche Probleme an. Nimmt man hinzu, dass Volker Röhricht bekanntermaßen für Bilanzierungsprobleme sensibilisiert ist, dann liegt es nahe, in dieser Festschrift ein Thema aufzugreifen, das einerseits die Querverbindungen zwischen materiellem Recht und Bilanzierung besonders augenscheinlich werden lässt und welches zum anderen zahlreiche höchstrichterlich noch nicht geklärte dogmatische Probleme aufwirft. Es soll um die bilanziellen Probleme des Überschuldungsbegriffs gehen, der sowohl im Gesellschaftsrecht als auch im Insolvenzrecht eine Rolle spielt1.
II. Gesetzliche Ausgangslage Die Feststellung der Überschuldung des Unternehmens führt für den Geschäftsführer der GmbH (§ 64 Abs. 1 GmbHG), die Liquidatoren der GmbH (§ 71 Abs. 4 GmbHG), die Geschäftsführung der Komplementär-GmbH einer GmbH & Co. KG (§§ 130a Abs. 1 Nr. 1, 177a HGB), den Vorstand oder den Abwickler einer AG (§§ 92 Abs. 2, 268 Abs. 2 AktG) und den Vorstand einer Genossenschaft (§ 99 Abs. 1 GenG) zur Insolvenzantragspflicht. Eine solche besteht auch für den Vorstand eines rechtsfähigen Vereins oder einer Stif-
__________ 1
Vgl. z. B. Pape in Kübler/Prütting, InsO, Loseblatt Stand: Nov. 2004, § 19 Rz. 1; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 64 Rz. 4.
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tung (§§ 42 Abs. 2 Satz 1, 86 Satz 1 BGB). War der Begriff der Überschuldung bislang in den vorstehenden (gesellschaftsrechtlichen) Normen vorausgesetzt, so hat der Gesetzgeber nunmehr in § 19 InsO eine gesetzliche Definition des Überschuldungsbegriffs formuliert. Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO ist Überschuldung gegeben, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Und § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO sagt aus, dass bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen ist, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist. Zwar besteht Einigkeit darüber, dass die Definition der InsO vorderhand den Vorteil der Einfachheit und Plausibilität für sich hat, dass sie jedoch nicht ausreicht, um im Einzelfall die Überschuldung des Rechtsträgers festzustellen2. Weitgehende Übereinstimmung besteht dahin gehend, dass die Feststellung, ob das Vermögen des Rechtsträgers seine Schulden nicht mehr deckt, allein aufgrund einer Bilanz getroffen werden kann3. Dass dies auch die Auffassung der InsO ist, zeigt der Gesetzeswortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO. Wenn dort nämlich auf die Bewertung des Vermögens abgestellt wird, dann handelt es sich dabei um einen bilanzrechtlichen Begriff, nämlich um die Bewertung von Vermögensgegenständen. Ist somit von einer bilanzmäßigen Feststellung der Überschuldung auszugehen, dann ist damit allerdings nicht geklärt, wie der Rechtsbegriff der Überschuldung mit Hilfe der Bilanzierung auszufüllen ist.
III. Materielles Recht und Bilanzierung Rechtstechnisch bzw. rechtsmethodologisch gesehen weist das Bilanzrecht einige Besonderheiten auf. Zwar richten sich die Bilanzierungsnormen grundsätzlich an Kaufleute und Unternehmen, so dass es sich anscheinend um eine handelsrechtliche Materie handelt („Handelsbilanzrecht“), doch wird vielfach übersehen, dass das Bilanzrecht öffentlich-rechtlichen Charakter hat, weil es hoheitlich vorschreibt, wie die Adressaten des Bilanzrechts Rechenschaft zu legen haben4. Die weitere Besonderheit besteht darin, dass es bei den bilanzrechtlichen Regeln um eine Rechtsanwendung auf einer zweiten Stufe geht. Damit soll gesagt werden, dass alle bilanziellen Regelungen widerspiegeln sollen, wie der Unternehmensträger in einer bestimmten Rechnungslegungsperiode gewirtschaftet hat bzw. wie der bilanziell zu ermittelnde Status an einem bestimmten Stichtag ist. Daraus wird auch deut-
__________ Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 63 Rz. 23 ff.; Pape/Uhlenbruck, Insolvenzrecht, 2002, Rz. 307. 3 Z. B. Goette, Die GmbH, 2. Aufl. 2002, § 3 Rz. 18 ff.; Lutter/Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 10; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, vor § 64 Rz. 20; einschränkend aber Böcker, DB 2002, 1949 (1955). 4 Ausführlich Crezelius, ZIP 2003, 461 m. w. N. 2
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Überschuldung und Bilanzierung
lich, dass es bei der bilanziellen Darstellung eines Sachverhalts zunächst darauf ankommt, wie der (wirtschaftlich vorgeprägte) Sachverhalt nach Zivilrecht und (sonstigem) öffentlichen Recht zu qualifizieren ist. Erst auf der nächsten Stufe geht es dann darum, wie die bilanzrechtlichen Normen diesen Sachverhalt erfassen. Wenn aber nach allem das Bilanzrecht nur auf eine vorgegebene und schon rechtlich strukturierte Situation reagiert, dann muss die materiell-rechtliche Situation das Bilanzrecht prägen, es sei denn, dass eine bilanzrechtliche Norm eine vom materiellen Recht bewusst abweichende Rechtsfolge statuiert. Vor vorstehendem Hintergrund ist es – gelinde gesagt – auch wenig einsichtig, wenn man oftmals die Aussage hört, ein derartiger Sachverhalt oder eine derartige Rechtslage lasse sich weder „buchen“ noch bilanzrechtlich darstellen. Führt man sich nämlich vor Augen, dass jede Bilanzierung nur auf eine materiell-rechtliche Situation reagiert, sie abbildet, dann muss die bilanzielle Behandlung von dieser materiell-rechtlichen Situation abhängig sein, es kann also nicht genau umgekehrt liegen. Damit ist aber nur eine allgemeine Aussage über das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Bilanzierung getroffen. Zu differenzieren ist dann weiterhin danach, um welche Art von Bilanz es sich handelt, welcher spezifische Bilanzierungszweck also konkret erfüllt werden soll. Die gleichsam klassische Materie der Bilanzierung ist der handelsrechtliche Jahresabschluss. Zwar sind Sinn und Zweck des handelsrechtlichen Jahresabschlusses im Einzelnen umstritten5, doch kann als gemeinsamer Nenner festgehalten werden, dass jede Rechnungslegung der Dokumentation der Geschäftsverhältnisse und/oder der Lage des Unternehmens dient. All dies bezweckt wiederum die Selbstinformation des Unternehmensträgers. Die einzelnen, unterschiedlichen Bilanzierungszwecke werden dadurch bestimmt, ob sich die Selbstinformation und die Rechenschaftslegung auf einen periodischen Erfolg (Jahresabschluss) oder auf eine besondere finanzielle, steuerrechtliche usf. Situation des Unternehmens beziehen sollen. Für die hier interessierende gesellschaftsrechtliche und insolvenzrechtliche Überschuldungsbilanz ist allgemein anerkannt, dass es sich um eine besondere, eine Sonderbilanz handelt, die von den spezifischen Zwecken der Feststellung der Überschuldung regiert wird, die demnach jedenfalls formal mit dem normalen Jahresabschluss der §§ 238 ff. HGB nichts zu tun hat6. Im Ergebnis muss es also darauf ankommen, welchem Zweck die Überschul-
__________ Z. B. Baetge in FS Leffson, 1976, S. 11; Moxter in FS Goerdeler, 1987, S. 361; ders., Bilanzrechtsprechung, 5. Aufl. 1999, S. 5 ff.; Luttermann in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, Einf. BilanzR Rz. 19 ff.; K. Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 15 I. 6 BGH, WM 2001, 959 (960); Budde/Förschle/Kofahl, Sonderbilanzen, 2. Aufl. 1999, Rz. P 80 f.; Goette, ZInsO 2001, 529 (534); Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 92 Rz. 11; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 11; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 20. 5
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dungsbilanz im Rahmen der Feststellung der Überschuldung (§ 19 InsO) dient. Auszugehen ist davon, dass die Feststellung der Überschuldung die Konsequenz eines Rechenwerks ist, welches an dem alleinigen Zweck ausgerichtet sein muss, das Schuldendeckungspotential des Unternehmensträgers/des Schuldners zu ermitteln. Da dieses Schuldendeckungspotential mit den üblichen Rechnungslegungszwecken des Jahresabschlusses nichts zu tun hat, ist es anerkannt, dass es sich bei der Überschuldungsbilanz um eine Vermögensbilanz, um einen Status handelt, in dem die tatsächlichen Vermögenswerte und die tatsächlichen Belastungen einander gegenüberzustellen sind, um zu ermitteln, ob Überschuldung gegeben ist. Wenn es also dem Sinn des Überschuldungsstatus entspricht, die im Falle einer gedachten Verwertung erzielbaren Vermögenswerte zu ermitteln, dann gelten die für den Jahresabschluss anzuwendenden Rechtsnormen nicht7. Zwar schließt es der Wortlaut des § 19 Abs. 2 InsO nicht aus, dass die Handelsbilanz bzw. die Rechtsregeln der §§ 238 ff. HGB als Instrumentarium genutzt werden, doch entsprechen die für die Handelsbilanz geltenden Bilanzierungsvorschriften des HGB nicht dem insolvenzrechtlichen Normzweck. Eine im (normalen) Jahresabschluss ausgewiesene Überschuldung bzw. die Ansätze und Bewertungen des Jahresabschlusses am letzten Stichtag können für die Insolvenzreife eines Unternehmensträgers nur indizielle Bedeutung haben und im Ergebnis nur Ausgangspunkt für die weitere Ermittlung des Wertes des Unternehmensvermögens sein. Anders formuliert: Die Buchwerte des letzten Jahresabschlusses sind insolvenzspezifisch zu korrigieren. Wenn es bei § 19 InsO darum geht, ob das Gesellschaftsvermögen die Schulden noch deckt, dann muss es sich um das wahre Gesellschaftsvermögen und die wahren Schulden handeln, weil dies die Positionen sind, die im Falle einer hypothetischen Verwertung zugunsten der Gläubiger maßgebend sind. Damit kommt es im Grundsatz auf den aktuellen Verkehrswert des Gesellschaftsvermögens an. Die vorstehende Statusbetrachtung stimmt mit dem Normzweck des Überschuldungstatbestandes überein. Er liegt zunächst darin, einen Ausgleich für die beschränkte Haftung der Anteilseigner zu schaffen, aber auch darin, die organschaftlichen Vertreter der Gesellschaft zur laufenden Prüfung der Überlebenschancen der Gesellschaft zu veranlassen8. Offenbar ist der Gesetzgeber der Auffassung, dass die Kehrseite der nur unbeschränkten Haftung des Rechtsträgers, nicht aber der Anteilseigner, in der Vorverlegung der Insol-
__________ Für viele Goette (Fn. 3), § 3 Rz. 19; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 11; Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 92 Rz. 25; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 20; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 19 Rz. 4. 8 Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 63 Rz. 26 f.; K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2003, Rz. 849 f. 7
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venzauslösung, der Insolvenzantragspflichten liegt. Bei juristischen Personen und ihnen gleichgestellten Rechtsträgern soll die Vermögensinsuffizienz einen neben der Zahlungsunfähigkeit stehenden Insolvenzgrund darstellen. Der innere Sinn dessen besteht darin, dass in Sachverhalten absehbarer, auf mangelnder Ertrags- und Lebensfähigkeit der Gesellschaft beruhender Zahlungsunfähigkeit die Insolvenzreife vorverlegt wird, um auf diese Art und Weise die Gläubiger gegen eine weitere Verminderung des vorhandenen Gesellschaftsvermögens bei negativer Fortbestehensprognose zu schützen9. Wenn die Anknüpfung der Insolvenz an den Tatbestand der Überschuldung eine im Interesse der Gläubiger gelegene frühere Verfahrenseröffnung statuiert, dann ist dies auch der innere Grund für den unvermeidlichen Prognosecharakter jeder Überschuldungsprüfung10. Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass der vorstehend beschriebene Sinn und Zweck der Überschuldung als Insolvenzauslösung die Bilanzierung im Rahmen des Überschuldungsstatus bestimmen muss. Das entspricht auch dem Grundsatz, dass es letztlich bei jeder Bilanzierung auf das materielle Recht anzukommen hat. Dass diese Maßgeblichkeit des materiellen Rechts für die Bilanzierung stets zu beachten ist, zeigt letztlich auch die neueste Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH. Wenn der Senat meint, Kreditgewährungen an Gesellschafter einer GmbH, die nicht aus Rücklagen oder Gewinnvorträgen, vielmehr zu Lasten des gebundenen Vermögens der Gesellschaft bestritten werden, seien grundsätzlich als verbotene Vermögensauszahlungen zu qualifizieren, auch dann wenn der Rückzahlungsanspruch gegen den Gesellschafter vollwertig ist11, dann verwirft der BGH eine rein bilanzielle Betrachtungsweise, welche die zu verkehrsüblichen Konditionen erfolgende Darlehenshingabe im Falle eines vollwertigen Rückzahlungsanspruchs als mit § 30 GmbHG vereinbar ansehen würde. Wenn der BGH also in einer derartigen Situation einen Vermögensschutz über §§ 30, 31 GmbHG gewährt, obschon zugleich der Darlehensanspruch auf Gesellschaftsebene zu aktivieren ist, dann zeigt dies ganz augenscheinlich die Maßgeblichkeit der gesellschaftsrechtlichen Situation. Und auf einer zweiten, der bilanziellen Ebene ist dann dieses gesellschaftsrechtliche Ergebnis umzusetzen, obschon formal gesehen zwei Ansprüche, nämlich die aus §§ 30, 31 GmbHG und aus dem Darlehen, nebeneinander (in Anspruchsgrundlagenkonkurrenz) bestehen.
__________ 9 Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 1; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 63 Rz. 26 f. 10 Dazu unten IV. 11 BGH, DStR 2004, 427 = GmbHR 2004, 302; vgl. auch Roth/Altmeppen, GmbHG,
4. Aufl. 2003, § 30 Rz. 93; Schön, ZHR 159 (1995), 351 (362).
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IV. Überschuldungsprüfung Zwar besteht im Grundsatz Einigkeit darüber, dass die Überschuldung bilanziell festzustellen ist und dass es sich dabei um einen Vermögensstatus handelt, doch ist es „hoffnungslos umstritten“12, wie die Überschuldungsprüfung im Einzelnen vorzunehmen ist. Wenn es nicht auf die Bilanzierung nach den Grundsätzen des Jahresabschlusses ankommen soll, vielmehr auf den Zweck der Insolvenzeröffnung abzustellen ist, mithin der „wahre Wert“ des Unternehmens ermittelt werden muss13, dann geht es zunächst darum, die in dem Unternehmen existenten stillen Reserven aufzudecken, um auf diese Art und Weise die Insolvenzauslösung eventuell zu vermeiden. Die eigentliche Problematik liegt darin, ob die tatsächlichen Werte unter der Prämisse einer Fortführung des Unternehmens zu ermitteln sind oder ob es auf Liquidationswerte (Zerschlagungswerte) anzukommen hat. Diese Alternative liegt auch § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO zugrunde, der jedenfalls inzidenter zwei Möglichkeiten der Bewertung kennt: die Bewertung nach Liquidationswerten und nach Fortführungswerten14. Mit diesem abstrakt möglichen Nebeneinander von Zerschlagungswerten und Fortführungswerten hat der Gesetzgeber der InsO anerkannt, dass es auch in einer Konstellation potentieller Insolvenz auf Fortführungswerte ankommen kann, um auf diese Art und Weise ein überlebensfähiges Unternehmen nicht insolvent werden zu lassen, was auch im Interesse der Gläubiger liegt. § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO ist nur vor dem Hintergrund der Dogmatik der Überschuldungsprüfung vor In-Kraft-Treten der InsO zu verstehen. In der Praxis hatte/hat sich eine zweistufige Überschuldungsprüfung herausgebildet. Danach ist zunächst die rechnerische Überschuldung zu Liquidationswerten zu prüfen. Liegt die rechnerische Überschuldung vor, dann ist eine Fortbestehensprognose als Lebensfähigkeitsprognose anzustellen. Fällt die Fortbestehensprognose negativ aus, dann bleibt es zumindest dabei, dass von Liquidationswerten auszugehen ist mit der Folge, dass eine rechtliche Überschuldung vorliegt. Fällt dagegen die Fortbestehensprognose positiv aus, so schlägt dies auf die Bewertung zurück, und es darf von Liquidationswerten auf Fortführungswerte übergegangen werden. Liegt dann immer noch Überschuldung vor, dann ist die rechtliche Überschuldung mit allen Konsequenzen gegeben15.
__________ 12 Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 13. 13 BGHZ 125, 141 (146); auch Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG,
17. Aufl. 2000, § 64 Rz. 11 ff.; Roth/Altmeppen, GmbHG, vor § 64 Rz. 12. 14 Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 11; K. Schmidt/Uhlen-
bruck (Fn. 8), Rz. 881 ff. 15 Ausführlich Pape/Uhlenbruck (Fn. 2), Rz. 312 ff.; Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 13 ff.
m. umf. Nachw.; aus der Rechtsprechung BGHZ 119, 201 (214); 126, 181 (199); 129, 136 (154).
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Überschuldung und Bilanzierung
Allerdings hat sich der Gesetzgeber der InsO ausdrücklich vom sog. zweistufigen Überschuldungsbegriff der früheren Dogmatik absetzen wollen16. § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO soll so zu verstehen sein, dass die Fortbestehensprognose lediglich als Bewertungsproblem zu sehen ist. Infolgedessen kann die Überlebens- oder Fortführungsprognose allein nie ausschlaggebend für die Überschuldungsfeststellung sein. Maßgebend ist, ob das Vermögen des Rechtsträgers die Schulden nicht mehr deckt; dann ist Überschuldung anzunehmen, so dass eine Prognose entbehrlich ist. Dies gilt für beide Varianten der Überschuldungsprüfung, nämlich für die Überprüfung nach Zerschlagungswerten und die nach Fortführungswerten. Problematisch ist es allein, wenn die „Überschuldung“ nur das Ergebnis der einen, nicht aber auch des nach anderen Grundsätzen erstellten Status ist17. Kommt es aufgrund einer Bilanzierung zu Liquidationswerten zur Überschuldung, bei der Bilanzierung nach Fortführungswerten demgegenüber nicht, dann ist entscheidend, ob die Fortführung des Unternehmens bejaht werden kann, ob diese Fortführung überwiegend wahrscheinlich ist. Ist dies zu bejahen, dann ist die Überschuldung zu verneinen. Gleichwohl besteht immer noch Streit. Nach Auffassung von Altmeppen18 war schon immer davon auszugehen, dass derjenige, der nach Buchwerten rechnerisch überschuldet ist und nicht Insolvenz anmeldet, nachprüfbar belegen muss, weshalb Werte anzusetzen sind, die über den Buchwerten oder den Zerschlagungswerten liegen. Laut Karsten Schmidt19 ist die Prognoseentscheidung von der bilanziellen Überschuldungsmessung zu trennen. Wenn die Gesellschaft zahlungsfähig bleibe, könne die Fortführung gleichfalls nicht untersagt werden, so dass eine Überschuldung im Rechtssinne nicht eingetreten sei. Jedenfalls für den hier interessierenden bilanziellen Zusammenhang20 dürfte der Streit über die Überschuldungsprüfung, insbesondere auch die kontroverse Prüfungsreihenfolge21, nicht ausschlaggebend sein. Es ist nämlich mehr als fraglich, ob man in der praktischen Rechtsanwendung exakt zwischen der puren (Gesamt-)Fortführungsprognose und der Fortführungsprognose im Rahmen von einzelnen Vermögensgegenständen der Aktivseite des Überschuldungsstatus trennen kann. Letztlich wird es nämlich regelmäßig darum gehen, ob im Falle einer positiven Prognose der Firmenwert in den Ertragswert des Unternehmens eingeht und damit auf die Aktivseite des Überschuldungsstatus zu übernehmen ist.
__________ BT-Drucks. 12/2443, S. 115. Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 13. ZIP 1997, 1173; Roth/Altmeppen, GmbHG, vor § 64 Rz. 15. K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 849 ff.; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 16 f. 20 Vgl. allgemein Lutter, ZIP 1999, 641; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 17. 21 Dazu auch IdW, WPg. 1995, 596; Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 17. 16 17 18 19
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V. Einzelfragen 1. Ansatz und Bewertung Nach dem Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO und nach dem Willen des Gesetzgebers22 ist die rechnerische Überschuldung maßgebend als Insolvenzgrund. Eine zusätzliche Feststellung der Überschuldung aufgrund einer (negativen) Fortführungsprognose wird nicht verlangt23. Allerdings ist bei der Bewertung des Vermögens des Unternehmens die Fortführung des Unternehmens zu berücksichtigen. Allein wenn die Fortführung des Unternehmens nach den Umständen wahrscheinlich ist, ist nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO bei der Bewertung des Vermögens von der Grundregel der rechnerischen Überschuldung abzusehen und von der Fortführung auszugehen. Ist also auch bei einer positiven Prognose für die Fortführung des Unternehmens nicht von vornherein ausgeschlossen, dass Überschuldung vorliegt, dann möchte der Gesetzgeber offenbar davon absehen, dass allein eine positive Fortführungsprognose schon zur Verneinung der Überschuldung führen kann. Hintergrund ist die Idee der InsO, möglichst frühzeitig die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens herbeizuführen24. Würde es allein und ausschlaggebend auf eine positive Fortführungsprognose ankommen, dann könnte ein Unternehmen, wenn eine positive Prognose zur Verneinung der Überschuldung führen würde, trotz fehlender persönlicher Haftung weiter agieren, ohne dass ein die Schulden deckendes Kapital zur Verfügung steht. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Rahmen der Überschuldungsprüfung, des Überschuldungsstatus, die Wahl der geeigneten Bewertungsprämisse (ebenfalls) von einer Prognoseprüfung abhängig ist, wobei § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO aber eine Vermutung für eine Bewertung unter Liquidationsgesichtspunkten aufstellt, dies wiederum von dem Gedanken getragen, dass aus Vorsichtsgründen eine möglichst frühzeitige Insolvenzauslösung stattfinden soll. Die eigentliche Problematik besteht allerdings darin, dass in dem zur Ermittlung der rechnerischen Überschuldung aufzustellenden Überschuldungsstatus die einzelnen Vermögensgegenstände zu bewerten sind und nicht das Unternehmen als Ganzes. Erschwert wird die Problematik auch dadurch, dass der Gesetzgeber der InsO zwar von einer bilanziellen Überschuldungsermittlung ausgeht, jedoch nicht hinreichend zwischen Ansatz und Bewertung von Vermögensgegenständen und Schulden trennt25. Das Ergebnis einer Fortführungsprognose beeinflusst nicht nur die Bewertung, sondern auch
__________ 22 BT-Drucks. 12/7302, S. 157. 23 Hüffer, AktG, § 92 Rz. 10; Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, § 92 Rz. 24;
Pape/Uhlenbruck (Fn. 2), Rz. 317; Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 19. 24 Vgl. Kallmeyer, GmbHR 1999, 16. 25 Deutlich aber Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 13, 24;
auch K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 881 ff.
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Überschuldung und Bilanzierung
den Ansatz von Aktiva und Passiva. Wenn beispielsweise im Jahresabschluss nach § 248 Abs. 2 HGB originär geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens nicht anzusetzen sind, dann ist für Zwecke des Überschuldungsstatus zu fragen, ob von diesem Ansatzverbot unter Berücksichtigung der Idee der InsO Ausnahmen geboten sind. Und bei der Bewertung kommt es darauf an, ob die Fortführung des Unternehmens den Umständen nach überwiegend wahrscheinlich ist, so dass Fortführungswerte angesetzt werden können, oder ob auf eine hypothetische Liquidation abzustellen ist26. An dieser Stelle zeigt sich, dass der im Schrifttum ausgetragene Streit27, ob die Prognoseentscheidung ein selbständiges Element außerhalb der konkreten Bilanzierung im Überschuldungsstatus darstellt, wohl nur akademischer Natur ist. Stellt man nämlich darauf ab, dass bei jedem einzelnen Vermögensgegenstand und bei jedem Passivposten zu überprüfen ist, ob nach Fortführungsgesichtspunkten oder nach Liquidationsgesichtspunkten anzusetzen und/oder zu bewerten ist, dann erscheint es auch zulässig und mit § 19 Abs. 2 InsO vereinbar, vorab eine Prognoseprüfung anzustellen und bei positivem Ergebnis mit Fortführungswerten, bei negativem Ergebnis mit Liquidationswerten zu bilanzieren28. Selbst wenn man auf die Auffassung des Gesetzgebers abstellt, dass eine positive Prognose nicht ausschließt, dass eine Überschuldung gegeben ist, führt der hier vertretene Ansatz dazu, dass im Rahmen des Ansatzes und der Bewertung der einzelnen Positionen die Prognose berücksichtigt wird, so dass auf diese Art und Weise ein Überschuldungsstatus ermittelt wird, der dem Anliegen des Gesetzgebers Rechnung trägt. Entscheidend sollte nur sein, dass im Zusammenhang mit der insolvenzrechtlichen Teleologie die bilanzielle Überschuldungsermittlung allein darauf Wert zu legen hat, ob die Gläubiger befriedigt werden können. Es kommt also bei der Prognose nicht auf die Vermeidung der Insolvenz an – das ist nur das mögliche Ergebnis der Überschuldungsprüfung –, vielmehr allein darauf, ob zugunsten der Gläubiger des Unternehmens eine Verwertung als wahrscheinlich erscheint29. Bilanztheoretisch geht es darum, dass jede Fortführungsprämisse einen Gesamtwert des Unternehmens unterstellt und ausweisen will, mithin eine dynamische Betrachtung beinhaltet. Wenn es aber um eine Ermittlung eines Gesamtwertes geht, der losgelöst von den einzelnen Bilanzpositionen steht, dann geht es letztlich darum, ob die Summe der Aktiva abzüglich der Schulden um eine Größe zu erhöhen ist, die eine Gesamtverwertbarkeit des Unternehmens unterstellt. Im Ergebnis ist dies der Firmenwert, so dass die eigentliche Problematik darin besteht, ob
__________ 26 Z. B. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 24; Pape in Kübler/
Prütting, InsO, § 19 Rz. 9; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 18. 27 Oben IV. 28 Vgl. Hüffer, AktG, § 92 Rz. 12 m. Nachw. 29 Treffend K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 19 m. w. N.
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und unter welchen Voraussetzungen ein Firmenwert im Rahmen der Überschuldungsprüfung anzusetzen ist. Damit verliert die (rechnerische) Überschuldungsprüfung nicht ihren eigenen Aussagegehalt30, vielmehr führt der Ansatz von Vermögensgegenständen auf der Aktivseite unter Berücksichtigung der stillen Reserven (Status) zunächst zu einer Ausgangsgröße, die dann eventuell um einen existenten Firmenwert nach oben zu korrigieren ist. 2. Einzelne Aktiva Im Rahmen der Überschuldungsprüfung bzw. bei der Aufstellung des Überschuldungsstatus sind die Vermögenswerte des Unternehmens anzusetzen, die im Falle einer (gedachten) Insolvenz aufgrund § 35 InsO zu den verwertbaren Vermögensgegenständen der Masse gehören31. Sieht man den Sinn des § 19 Abs. 2 InsO in einer Vorverlegung der Insolvenzauslösung auf den Zeitpunkt, in dem das Unternehmen überschuldet ist, dann kann beim Ansatz und bei der Bewertung der Vermögensgegenstände nur dann von der Fortführung des Unternehmens ausgegangen werden, wenn diese überwiegend wahrscheinlich ist. Ist dies im Einzelfall zu bejahen, dann sind (zunächst) die einzelnen Vermögensgegenstände der Aktivseite der Bilanz so zu bewerten, als würde das Unternehmen in toto zu bewerten sein. Es kommt dann nicht zum Ansatz von Liquidationswerten, vielmehr ist vom Gesamtwert des Unternehmens auszugehen. Gleichwohl handelt es sich zunächst – unabhängig vom Firmenwert – um eine Einzelbewertung. Zu bewerten sind unter Fortführungsgesichtspunkten diejenigen Vermögensgegenstände, die im Fall der Insolvenzeröffnung als Aktivmasse den Gläubigern zur Verwertung zur Verfügung stehen würden. Dies muss die Ausgangssituation für die Einzelfragen der Bilanzierung sein, wobei im Grundsatz nicht von den Regeln der §§ 238 ff. HGB (Jahresabschluss) ausgegangen werden muss. Trotzdem empfiehlt sich für die praktische Handhabung der Erstellung des Überschuldungsstatus, dass an die (kodifizierten) Regeln des Jahresabschlusses angeknüpft wird und jeweils zu fragen ist, ob die Zielsetzung der Überschuldungsprüfung eine andere Betrachtungsweise erfordert. a) Eigene Anteile Einer der umstrittenen Punkte im Überschuldungsstatus ist die Behandlung eigener Anteile. Zunächst zeigt sich hier, dass zwischen Ansatz und Bewertung zu differenzieren ist. Bei der Frage der Bilanzierung eigener Anteile im Überschuldungsstatus geht es in erster Linie um die Frage, ob die eigenen Anteile aktiviert werden dürfen. Auszugehen ist von der Situation im Jahresabschluss, wonach eigene Anteile grundsätzlich auszuweisen sind, und
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30 So aber Böcker, DB 2002, 1949, 1955. 31 Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 14; Pape in Kübler/
Prütting (Fn. 26), § 19 Rz. 10.
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zwar auch dann, wenn das schuldrechtliche Anschaffungsgeschäft wegen Verstoßes gegen Erwerbsbeschränkungen nichtig ist (§§ 71 Abs. 4 Satz 2 AktG, 33 Abs. 2 Satz 3 GmbHG)32, der dingliche Erwerb aber wirksam bleibt. Für den Überschuldungsstatus wird zum Teil der Ansatz eigener Geschäftsanteile bejaht33, demgegenüber andere die Aktivierung verneinen34. Eine vermittelnde Ansicht stellt darauf ab, dass eigene Anteile zwar prinzipiell keinem Ansatzverbot unterliegen und es letztlich auf die Verwertungsprämisse ankomme. Bei der Bewertung zu Liquidationswerten sei der eigene Anteil regelmäßig mit null zu bewerten. Dies könne allerdings in Fällen einer übertragenden Sanierung anders sein, wenn der Erwerber nicht nur an der Übernahme der echten Vermögensgegenstände interessiert sei35. Zwar könnte man in der Tat der Ansicht sein, dass die eigenen Anteile als Aktivposten anzusetzen sind, jedenfalls dann, wenn sie verwertet werden sollen, doch gilt es Folgendes zu berücksichtigen: Sowohl beim Ansatz als auch im Rahmen der Bewertung des Überschuldungsstatus geht es darum, Vermögenswerte für eine gedachte Verwertung zu ermitteln. Dabei bezieht sich diese gedachte Verwertung auf einzelne Vermögensgegenstände, möglicherweise aber auch auf das gesamte Unternehmen. Bei den eigenen Anteilen liegt es nun so, dass sie letztlich eine Beteiligung des Unternehmensträgers an sich selbst repräsentieren. Die entscheidende Frage lautet daher, ob die „Beteiligung an sich selbst“ als verwertbarer Aktivposten zu qualifizieren ist. Dies kann ausnahmsweise dann bejaht werden, wenn die eigenen Anteile entgeltlich angeschafft worden sind, weiterveräußert werden sollen und tatsächlich noch im Rahmen der Bewertung einen Wert darstellen. Dies wird nur ausnahmsweise der Fall sein, denn wenn es im Überschuldungsstatus um die Zugriffswerte der Gläubiger des Unternehmens geht, dann können diese Zugriffswerte nicht (zum Teil) daraus hergeleitet werden, dass das Bewertungsobjekt an sich selbst beteiligt ist. b) Immaterielle Werte Kennzeichnend für immaterielle Werte ist ihre Unkörperlichkeit. Auch immaterielle Vermögensgegenstände setzen aber abstrakte Verkehrs- und Bewertungsfähigkeit voraus. Nach dem Gliederungsschema des § 266 Abs. 2 Pos. A I 1 HGB gehören zu den immateriellen Vermögensgegenständen vor allem Konzessionen, gewerbliche Schutzrechte, ähnliche Rechte sowie Lizen-
__________ 32 Ellrott/Bartels-Hetzler in BeckBilKomm, 5. Aufl. 2003, § 266 HGB Rz. 138 ff.
m. w. N. 33 Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 14; Budde/Förschle/
Kofahl (Fn. 6), Rz. P 111. 34 Ulmer in Hachenburg, GmbHG, § 63 Rz. 42; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor
§ 64 Rz. 22. 35 K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 897; Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 43.
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zen an solchen Positionen. Nach der Systematik des Bilanzrechts kommt es für die Aktivierung immaterieller Werte darauf an, ob sie die Kriterien des Vermögensgegenstandes erfüllen, ob sie entgeltlich erworben oder originär geschaffen sind und ob es sich um Anlage- oder Umlaufvermögen handelt36. Für entgeltlich erworbene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens gilt ein handelsrechtliches Aktivierungsgebot; dies folgt aus dem Zusammenspiel der §§ 246 Abs. 1, 248 Abs. 2 HGB. Selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens sind im Jahresabschluss nach § 248 Abs. 2 HGB nicht aktivierbar. Damit soll vor dem Hintergrund des Vorsichtsprinzips verhindert werden, dass beliebige interne Aufwendungen aktiviert werden, anstatt sie als Aufwand der betreffenden Periode zu behandeln. Der entgeltliche Leistungsaustausch wird vom Gesetzgeber als Sicherheitskriterium für die Aktivierung immaterieller Vermögensgegenstände angesehen. All dies gilt im Rahmen des Überschuldungsstatus nicht. Während es beim Jahresabschluss um den periodengerechten Gewinn vor dem Hintergrund des Vorsichtsprinzips geht, will der Überschuldungsstatus die verwertbaren Vermögensgegenstände erfassen, wozu auch immaterielle Vermögensgegenstände gehören können. Infolgedessen kommt es nicht darauf an, ob es sich um entgeltlich erworbene immaterielle Vermögensgegenstände handelt oder ob diese originär in diesem (Schuldner-)Unternehmen entstanden sind37. Maßgebend kann allein sein, dass die Überschuldungsprüfung einer Statusfeststellung dient und den Zweck hat, die wirklichen Werte zu ermitteln, die im Insolvenzfall tatsächlich für die Gläubigerbefriedigung zur Verfügung gestellt werden können. Trotz dieser klaren Grundsituation kann es im Einzelfall zu Schwierigkeiten kommen, nämlich dann, wenn es um die Bewertung des konkreten immateriellen Vermögensgegenstandes geht. Zu entscheiden ist nämlich, ob die immaterielle Position einzeln veräußerbar ist oder ob sie nur im Zusammenhang mit der Unternehmensveräußerung im Ganzen möglich erscheint. Im letzteren Fall ist zwar die Aktivierung des immateriellen Vermögensgegenstandes dem Grunde nach möglich, doch kann sich die Veräußerung nur im Zusammenhang mit dem Unternehmen im Ganzen in der Bewertung niederschlagen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass unabhängig davon, ob die Fortführungsprognose positiv oder negativ ist, eine vorsichtige Bewertung Platz greifen sollte. Gerade bei relativ „alten“ immateriellen Vermögensgegenständen erfordert es der Sinn und Zweck der Überschuldungsprüfung im Zusammenhang mit § 35 InsO, dass vorsichtig zu bewerten ist, nach allem ein Ansatz im Extremfall sogar zu
__________ 36 Näher Crezelius in Scholz, GmbHG, Anh. § 42a Rz. 116 ff. 37 Für viele BGHZ 119, 201 (214); Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG,
§ 64 Rz. 14; Hüffer, AktG, § 92 Rz. 11; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 20; K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 890.
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verneinen ist, wenn mit einer Verwertung ernsthaft nicht gerechnet werden kann. Eine derartige Behandlung immaterieller Vermögensgegenstände zeigt auch, dass selbst bei positiver Fortführungsprognose innerhalb einer einzelnen, konkreten Bilanzposition zu fragen ist, ob der Ansatz dem Grunde und der Höhe nach gerechtfertigt werden kann, jedenfalls dann, wenn die betreffende Position – wie ein immaterieller Vermögensgegenstand – schwer greifbar ist, so dass sich die Frage stellt, ob ein gedachter Erwerber des konkreten Vermögensgegenstandes oder des Unternehmens im Ganzen diese Position mit einem bestimmten Wert entgelten würde. Erst wenn beide Fragen zu bejahen sind, kommt eine Bilanzierung dem Grunde und der Höhe nach in Betracht, weil nur dann Verwertungssubstrat für einen gedachten Gläubiger in der Insolvenz zur Verfügung steht. c) Firmenwert Nach der Konzeption der Regeln über den Jahresabschluss (§§ 248 Abs. 2, 255 Abs. 4 HGB) ist der Geschäftswert/Firmenwert ein immaterieller Vermögensgegenstand nur dann, wenn er entgeltlich erworben worden ist. Ein entgeltlich erworbener Firmenwert darf nach § 255 Abs. 4 Satz 1 HGB aktiviert werden; für derivative Firmenwerte besteht ein Aktivierungswahlrecht38. Die dogmatische Einordnung des Firmenwertes ist nach wie vor zweifelhaft. Hält man es für ausreichend, dass ein Vermögensgegenstand auch anzunehmen ist, wenn die Veräußerbarkeit mit dem Unternehmen genügt, dann handelt es sich beim Firmenwert um einen immateriellen Vermögensgegenstand39. In Frage kommt auch die Qualifizierung als Bilanzierungshilfe40, was aber dann wieder nicht angenommen werden kann, wenn die Figur der Bilanzierungshilfe denknotwendig mit einer Ausschüttungssperre verbunden wird. Letztlich ist der Geschäftswert – wie § 255 Abs. 4 Satz 1 HGB („Unterschiedsbetrag“) zeigt – eine reine Rechengröße, also ein technischer Differenzbetrag. Da er nach § 255 Abs. 4 Satz 1 HGB die Residualgröße der Nicht-Vermögensgegenstände ist, kann er nicht selbst als Vermögensgegenstand qualifiziert werden. Vor dem spezifischen Hintergrund des Überschuldungsstatus besteht zunächst Einigkeit darüber, dass es für den originären Firmenwert nicht auf das Bilanzierungsverbot im Jahresabschluss ankommen kann. Im Übrigen ist die Rechtslage allerdings unübersichtlich. Eine Auffassung geht davon aus, dass der Firmenwert prinzipiell nicht im Überschuldungsstatus angesetzt werden darf; begründet wird dies damit, dass § 19 Abs. 2 InsO eine zurückhaltende
__________ 38 Näher zum Handelsrecht Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbH, § 42
Rz. 78 f.; Ellrott/Schmidt-Wendt in BeckBilKomm, § 255 HGB Rz. 511 ff.; Crezelius in Scholz, GmbHG, Anh. § 42a Rz. 141 ff. 39 Vgl. BFH, BStBl. II 1987 S. 455; S. 705. 40 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, § 4 IV 1, 3b.
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Bewertung vorgebe41. Andere Autoren sind umgekehrt der Auffassung, dass der Firmenwert prinzipiell aktiviert werden kann42. Eine vermittelnde Ansicht stellt darauf ab, dass eine Aktivierung des Firmenwertes im Überschuldungsstatus nur dann in Betracht kommt, wenn damit zu rechnen ist, dass ein Insolvenzverwalter das Unternehmen als Ganzes veräußern kann. Voraussetzung für eine Aktivierbarkeit des Firmenwertes ist dann weiterhin, dass die Aussicht besteht, im Falle der Veräußerung einen über den Substanzwert hinausgehenden Mehrerlös zu erzielen43. Das Problem besteht darin, dass der Firmenwert eines Unternehmens seine Ursache im Zusammenwirken verschiedener erfolgsbestimmender Faktoren hat, er mithin maßgeblich von der Ertragskraft des Unternehmens beeinflusst wird. Damit wird auch deutlich, dass im Falle einer Aktivierung eines Firmenwertes eine Ausnahme vom Grundsatz der Einzelbewertung gemacht wird. Dies wiederum steht im Gegensatz dazu, dass in dem zur Ermittlung der (rechnerischen) Überschuldung aufzustellenden Überschuldungsstatus grundsätzlich die einzelnen Vermögensgegenstände zu bewerten sind und nicht das Unternehmen als Ganzes44. Ist aber im Überschuldungsstatus zunächst von einzelnen Vermögensgegenständen und Schulden auszugehen, und zwar entgegen § 248 Abs. 2 HGB auch bei immateriellen Vermögensgegenständen, dann besteht das entscheidende Problem darin, ob eine „Gesamtbetrachtung“ des Unternehmens mit dem Ansatz des vollen Unternehmenswertes auch im Überschuldungsstatus stattfinden kann. Dies ist nur möglich, wenn man auch den Ansatz eines Firmenwertes zulässt. Zwar lässt der Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO keine eindeutige Antwort erkennen, doch sollte es vor dem Hintergrund des Zwecks des Überschuldungsstatus, die Verwertbarkeit zugunsten der Gläubiger zu ermitteln, so liegen, dass das Erfordernis der Einzelbewertung und der selbständigen Verwertbarkeit für die in den Status aufgenommenen Vermögensgegenstände dann nicht mehr gelten muss, wenn das Unternehmen oder Teile des Unternehmens als Ganzes mit Firmenwert veräußert werden kann bzw. werden können. Wenn es aber darauf ankommt, dass im (hypothetisch) eröffneten Insolvenzverfahren das gesamte Unternehmen oder ein Teil des Geschäftsbetriebes mit Firmenwert veräußert werden kann, dann setzt dies eine positive Marktbeurteilung voraus, so dass sich die Frage des Ansatzes des Firmenwertes letztlich (wiederum) als Prognoseentscheidung erweist45. Da
__________ 41 Pape in Kübler/Prütting, InsO, § 19 Rz. 11. 42 K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 856; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64
Rz. 22. 43 Z. B. OLG Celle, NZG 2002, 730; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbH,
§ 64 Rz. 14; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 20; Pape/ Uhlenbruck (Fn. 2), Rz. 320. 44 Vgl. Kallmeyer, GmbHR 1999, 16 (17). 45 Vgl. K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 889; Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 40.
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der Firmenwert letztlich nur zukünftige Gewinne des Unternehmens repräsentiert, kommt es (auch) im Rahmen der Ermittlung eines Firmenwertes darauf an, ob die Prognoseentscheidung für das zu bewertende Unternehmen in der Art und Weise positiv ist, dass in Zukunft Gewinne anfallen und ein gedachter Erwerber bereit ist, diese zukünftigen Gewinne mit einem Firmenwert zu entgelten. Die weitere Frage ist dann, wie konkret die unterstellte Veräußerung zu sein hat. Zweifelsfrei sind hier nur Sachverhalte, in denen bereits Verträge abgeschlossen worden sind oder sich im Anbahnungsstadium befinden. Schwierig wird es jedoch, wenn zu entscheiden ist, ob ein Firmenwert auch dann angesetzt werden kann, wenn der Markt nach sachverständigem Urteil bereit ist, beim gedachten Verkauf des Unternehmens den Firmenwert zu bezahlen. Damit führt die Prognoseentscheidung im Rahmen des Firmenwertes letztlich zu dem grundsätzlichen Problem zurück, wie die Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO vorzunehmen ist46. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass die Auffassung von Karsten Schmidt47, dass die Unterschiede zwischen dem früheren zweistufigen Überschuldungsbegriff und dem neuen § 19 Abs. 2 InsO nicht groß sind, zutrifft. Unabhängig davon, ob eine positive Fortführungsprognose für sich gesehen in der Lage ist, den Insolvenzgrund zu beseitigen bzw. dass die InsO eine negative Fortbestehensprognose als selbständige Überschuldungsvoraussetzung abschaffen wollte, wird es in den meisten Sachverhalten so liegen, dass sich die Überschuldung allein durch die Aktivierung eines Firmenwertes beseitigen lässt. Macht man sich aber nochmals klar, dass der Firmenwert zukünftige Gewinne repräsentiert und diese zukünftigen Gewinne nur bei einer positiven Fortführungsprognose anzunehmen sind, dann besteht insoweit Deckungsgleichheit. Es geht immer darum, ob derjenige, der den Überschuldungsstatus aufstellt, plausibel darlegen kann, dass die Prognose positiv ist. Kommt also nach allem der Ansatz eines Firmenwertes bei positiver Fortführungsprognose in Betracht, dann ist gleichwohl das besondere Vorsichtsprinzip im Rahmen der Überschuldungsprüfung zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund des § 35 InsO darf es jedenfalls nicht so liegen, dass bei positiver Fortführungsprognose regelmäßig ein Firmenwert angesetzt wird, so dass auf diese Art und Weise – entgegen der Konzeption der InsO – die Insolvenzauslösung in diesem Zeitpunkt zu verneinen ist. Es müssen also überzeugende Indizien vorliegen, die den Schluss zulassen, dass das Unternehmen einschließlich Firmenwert veräußert werden kann. Dies ist im Ergebnis Sachverhaltsfrage.
__________ 46 Dazu oben IV. 47 K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 856; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64
Rz. 17.
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d) Konzernrechtliche Ausgleichsansprüche Handelt es sich bei dem Unternehmen, dessen Insolvenzreife geprüft werden soll, um ein Tochterunternehmen, dann kann es so liegen, dass konzernrechtliche Ausgleichsansprüche vorliegen. Es geht um Verlustausgleichsansprüche aus Unternehmensverträgen, aber auch um die Fallgruppe des sog. existenzvernichtenden Eingriffs, wenn es denn zu einem eigenen Anspruch der Gesellschaft kommt48. Auch in diesem Zusammenhang darf die Ansatzfrage mit dem davon zu unterscheidenden Bewertungsproblem nicht vermischt werden49. Unabhängig von der Frage, ob der Anspruch gegen das Mutterunternehmen durchsetzbar und vollwertig ist, muss zunächst geklärt werden, ob ein derartiger Ausgleichsanspruch zwischen verbundenen Unternehmen überhaupt aktiviert werden darf. Nach Auffassung von Uhlenbruck50 ist die Aktivierbarkeit „im Zweifel“ zu verneinen, es sei denn, die Muttergesellschaft hätte eine solche Ausgleichspflicht anerkannt. Das ist im Ergebnis zutreffend. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass es sich bei derartigen konzernrechtlichen Ausgleichsansprüchen, gleich ob es sich um einen unternehmensvertraglichen oder gesetzlichen Anspruch handelt, um eine Forderung aus einem nicht gegenseitigen Rechtsgeschäft handelt. Für derartige Forderungen liegt es im Jahresabschluss so, dass sie erst am Schluss derjenigen Periode angesetzt werden, in welcher der Schuldner den Anspruch anerkannt oder ein Gericht ihn rechtskräftig zugesprochen hat51. Trotz zivilrechtlich entstandener Forderung wird also dem Vorsichtsgedanken ein größeres Gewicht beigemessen. Zwar gilt das Vorsichtsprinzip des handelsrechtlichen Jahresabschlusses im Rahmen der Überschuldungsprüfung nicht, doch ist auch hier dem Vorsichtsgedanken Bedeutung einzuräumen, weil es um die Verwertbarkeit von Aktivposten zugunsten der Gläubiger geht. Allein dann, wenn bei dem Tochterunternehmen Verluste entstehen, ein unternehmensvertraglicher Verlustübernahmeanspruch existiert oder der Anspruch auf Verlustübernahme per Vertrag anerkannt worden ist, kann der Ausgleichsanspruch im Überschuldungsstatus aktiviert werden. Es kommt damit zu einem Bilanzausgleich in der Weise, dass bei der Tochtergesellschaft eine Überschuldung nicht eintreten kann, solange die Obergesellschaft in der Lage ist, die Verluste auszugleichen52. Durch die vertragliche Vereinbarung der Verlustübernahme oder die vertragliche Anerkennung des An-
__________ 48 Vgl. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 15; Lutter/Kleindiek
49 50 51 52
in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 20; K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 896; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 24; zum existenzvernichtenden Eingriff BGHZ 149, 10; 150, 61; 151, 181; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 13 Rz. 15 ff. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 15. K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 896. BFH, BStBl. II 1991 S. 213. Vgl. K. Schmidt, ZGR 1983, 513 (526); Wellensiek, ZGR 1984, 541 (542).
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spruchs auf Verlustübernahme wird hinreichend sichergestellt, dass dieser Anspruch zugunsten der Gläubiger verwertbar ist. Eine ähnliche Konstellation ergibt sich bei sog. Patronatserklärungen53. Mit einer Patronatserklärung erklärt eine Muttergesellschaft gegenüber einem Gläubiger einer Tochtergesellschaft gewisse Versicherungen hinsichtlich des Tochterunternehmens und seiner Fähigkeit, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen. Dabei wird zwischen „harten“ und „weichen“ Patronatserklärungen unterschieden. Bei der harten Patronatserklärung verpflichtet sich das Mutterunternehmen, dafür zu sorgen, dass die Tochter ihre Verpflichtungen auch in Zukunft erfüllt. Bei einer weichen Erklärung beschränkt sich diese Erklärung darauf, dass man die Beteiligung beibehalten oder nicht ohne Anzeige an den Kreditnehmer aufgeben werde. Im Überschuldungsstatus sollen derartige Patronatserklärungen Dritter zu berücksichtigen sein, wenn sie zugunsten aller Gläubiger und nicht nur einzelner Gläubiger wirken54. Die Einschränkung, dass die harte Patronatserklärung zugunsten aller Gläubiger abgegeben sein muss, ist zutreffend, da es im Zuge der insolvenzrechtlichen Überschuldungsprüfung auf die Befriedigung aller Gläubiger anzukommen hat. Trotzdem ist die Aktivierung von harten Patronatserklärungen beim Tochterunternehmen nicht unproblematisch, weil nach dem Sinn der Patronatserklärung der Gläubiger nur einen Anspruch gegen denjenigen hat, der die Erklärung abgegeben hat55. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass im Falle der Aktivierung beim Tochterunternehmen im Ergebnis nur ein Passivtausch stattfinden würde, wenn dem Mutterunternehmen eine entsprechende Forderung gegen das Tochterunternehmen zustünde. Daher darf in Sachverhalten einer harten Patronatserklärung eine Aktivierung nur ins Auge gefasst werden, wenn die Erklärung auch so auszulegen ist, dass sich das Mutterunternehmen verpflichtet, das Tochterunternehmen so auszustatten, dass es in der Lage ist, seine Zahlungspflichten zu erfüllen. Handelt es sich um einen Anspruch auf Kapitalausstattung, dann kann dieser bei Werthaltigkeit aktiviert werden. Auf der Passivseite kommt es nicht zum Ansatz einer Verbindlichkeit, weil der Anspruch auf Kapitalausstattung der Tochtergesellschaft keinen Gegenanspruch des Mutterunternehmens nach sich zieht, der zu passivieren wäre. Das Mutterunternehmen muss in diesen Fällen ohne weitere Einschränkung für die Zahlungsfähigkeit des Tochterunternehmens einstehen56.
__________ 53 Dazu Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2003, Rz. 5. 162; Schiessl in
MünchHdb.GesR(GmbH), 2. Aufl. 2003, § 35 Rz. 5. 54 Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 20; K. Schmidt/Uhlen-
bruck (Fn. 8), Rz. 895; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 24; Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 46. 55 Vgl. Haack, Der Konkursgrund der Überschuldung bei Kapital- und Personengesellschaften, 1980, S. 179. 56 Küffner, DStR 1996, 148; Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 46.
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e) Rechnungsabgrenzungsposten Im Jahresabschluss geht es um die zutreffende Ermittlung des Periodenergebnisses. Aufwendungen und Erträge sollen dem Wirtschaftsjahr ihrer Verursachung zugeordnet werden. Durch die Anerkennung von Rechnungsabgrenzungsposten (§§ 246 Abs. 1, 247 Abs. 1 HGB) wird der Grundsatz durchbrochen, dass sich die periodengerechte Ergebnisabgrenzung nach dem Ansatz von Vermögensgegenständen und Schulden richtet. Es ist ein Ausdruck dynamischer Bilanzauffassung, Ausgaben zu aktivieren, selbst wenn sie nicht zu einem Vermögensgegenstand geführt haben, und umgekehrt Einnahmen durch Ansatz eines Passivpostens zu neutralisieren, obschon keine Verbindlichkeit vorliegt. Was den Ansatz eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens (vgl. § 250 Abs. 1 Satz 1 HGB) im Überschuldungsstatus angeht, so wird zum Teil vertreten, dass zu den Aktiva generell keine aktiven Rechnungsabgrenzungsposten gehören57. Die überwiegende Meinung58 stellt darauf ab, ob eine ausstehende Gegenleistung für die Gesellschaft verwertbar ist oder eine vorzeitige Vertragsauflösung möglich ist und ein Rückzahlungsanspruch zugunsten der Gesellschaft entsteht. Allgemeiner formuliert: Soweit sich hinter dem Rechnungsabgrenzungsposten eine bislang nicht bilanzierte Forderung verbirgt, kann ihr Ausweis als Aktivposten in Betracht kommen. Das ist zutreffend, wenn dem Abfluss von liquiden Mitteln ein Anspruch, eine sonstige Forderung gegenübersteht, die unter allgemeinen Voraussetzungen aktiviert werden kann. Auch im Rahmen der aktivischen Rechnungsabgrenzung kommt es noch einmal auf die positive oder negative Fortführungsprognose an. Wenn nämlich die hinter dem Rechnungsabgrenzungsposten stehende Forderung aktiviert werden soll, dann muss entschieden werden, ob im Fall einer negativen Fortführungsprognose die Forderung, beispielsweise durch Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses, auch tatsächlich realisierbar ist. In Betracht zu ziehen ist auch, dass eine geleistete Vorauszahlung sich mindernd auf die Höhe einer eventuellen Drohverlustrückstellung (vgl. § 249 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 HGB) für das zugrunde liegende schwebende Vertragsverhältnis auswirken kann59. Die Problematik der aktiven Rechnungsabgrenzungsposten zeigt besonders deutlich die Unterschiede zwischen dem handelsrechtlichen Jahresabschluss und dem Überschuldungsstatus. Während es im Rahmen des Jahresabschlusses auf das periodengerechte Ergebnis ankommt, so dass Zahlungsvorgänge im Hinblick auf eine künftige Periode zur Aktivierung als Abgrenzungsposten führen sollen, obwohl sie nicht zu einem Vermögensgegenstand geführt
__________ 57 Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 20. 58 Z. B. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 18; K. Schmidt in
Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 25. 59 K. Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 907 Fn. 2.
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haben, geht es beim Überschuldungsstatus allein um den wahren Wert des Unternehmensvermögens zugunsten potentieller Gläubiger. Für Zwecke des Überschuldungsstatus ist daher zu entscheiden, ob die bereits getätigten Aufwendungen gleichwohl zu einem Vermögensgegenstand geführt haben, der beispielsweise aus Gründen des Vorsichtsprinzips/Realisationsprinzips bislang nicht aktiviert worden ist. Da der Anwendungsbereich der Rechnungsabgrenzungsposten in erster Linie gegenseitige Verträge betrifft, bei denen für eine bestimmte Zeit Leistungen zu erbringen sind, jedoch Leistung und Gegenleistung zeitlich auseinander fallen60, kommt es für Zwecke des Überschuldungsstatus darauf an, ob diese zeitliche Differenz eine Anspruchsentstehung hindert. Ist diese Frage zu verneinen, dann kann die Forderung, wenn sie denn werthaltig ist, im Überschuldungsstatus angesetzt werden. 3. Einzelne Passiva a) Rückstellungen Nach allgemein-zivilrechtlichem Verständnis könnte man geneigt sein, unter Fremdkapital des Unternehmens nur Verbindlichkeiten (= Schulden) zu verstehen. Das Bilanzrecht kennt jedoch zusätzlich die Figur der Rückstellung, da es häufig so liegt, dass das Unternehmen am Bilanzstichtag mit „Schulden“ belastet ist, die nach Grund und Höhe ungewiss sind. Rückstellungen haben die Aufgabe, Aufwendungen, die in einer späteren Rechnungsperiode zu einer in ihrer Höhe und ihrem genauen Fälligkeitstermin am Stichtag noch nicht feststehenden Ausgabe führen, der Periode ihrer Verursachung zuzurechnen. Auch bei den Rückstellungen ist auf die Besonderheiten des Überschuldungsstatus zu achten. Auf der einen Seite bietet der Überschuldungsstatus (nochmals) Anlass, genau zu überprüfen, ob tatsächlich alle potentiellen Belastungen abgebildet sind. Zum anderen sind im Überschuldungsstatus nur solche Sachverhalte als Rückstellungen zu passivieren, als sie Risiken auch unter der Annahme der Insolvenz betreffen61. Ein Ansatz erfolgt beispielsweise nicht für Aufwandrückstellungen (§ 249 Abs. 2 HGB). Verbindlichkeitsrückstellungen (§ 249 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 HGB) und Drohverlustrückstellungen (§ 249 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 HGB) sind demgegenüber nach dem insoweit auch für den Überschuldungsstatus maßgebenden Vorsichtsprinzip zu passivieren. Geht es bei der Überschuldung darum, die Verwertungsmasse zugunsten potentieller Gläubiger zu ermitteln, dann muss sogar ein gesteigertes Imparitätsprinzip Anwendung finden, so dass jede auch nur mögliche Belastung als Passivposten angesetzt werden muss, wenn denn mit die-
__________ 60 BFH, BStBl. II 1984 S. 552; Berger/Bartels-Hetzler in BeckBilKomm, § 250 HGB
Rz. 6. 61 Z. B. Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 22; K. Schmidt/
Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 913.
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ser Belastung in der Folgezeit zu rechnen ist. Auch hier kommt es wiederum auf eine Prognose an. Es geht darum, ob hinsichtlich der Passivierung einer Rückstellung mit einer Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme zu rechnen ist62. Die aktuellste Problematik im Bereich der Rückstellungen im Überschuldungsstatus ergibt sich aus dem Steuerrecht. Die Ausgangssituation ist folgende: Vielfach werden einem (Krisen-) Unternehmen von seinen Gläubigern die Schulden ganz oder teilweise erlassen, um den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. Der Erlass der Forderung führt handelsrechtlich und steuerrechtlich grundsätzlich zu Gewinn, der nach dem mittlerweile gestrichenen § 3 Nr. 66 EStG steuerbefreit war63. Mittlerweile hat die Finanzverwaltung einen Erlass zur ertragsteuerrechtlichen Behandlung von Sanierungsgewinnen veröffentlicht64. Dabei geht es jedoch nur um die Steuerstundung und den Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen (§§ 163, 222, 227 AO). Zwar verlangt das BMF-Schreiben zunächst, dass die Sanierungsgewinne mit allen denkbaren Verlusten sowie Verlustvorträgen des Steuerpflichtigen verrechnet werden, so dass nur der danach verbleibende Betrag ein steuerbelasteter Sanierungsgewinn sein kann, doch ist zu fragen, wie sich dies für eine mögliche Steuerrückstellung im Überschuldungsstatus auswirkt. Führt man sich vor Augen, dass der Überschuldungsstatus zwar nicht an die Vorsichtsregeln des Jahresabschlusses gebunden ist, so dass auf der Aktivseite der Bilanz stille Reserven aufgedeckt werden können, so ist aber doch für die Passivseite des Überschuldungsstatus zu berücksichtigen, dass hier erst recht ein Vorsichtsprinzip Anwendung finden muss, wenn es darum geht, das Vermögen des Schuldnerunternehmens zu ermitteln. Jede mögliche Belastung ist zu erfassen. Daraus ergibt sich dann zwangsläufig, dass in den hier geschilderten Fällen einer möglichen Billigkeitsmaßnahme der Finanzverwaltung eine Steuerrückstellung zwingend zu bilden ist. Etwas anderes gilt erst dann, wenn der Verwaltungsakt (Billigkeitsmaßnahme) dem steuerpflichtigen Unternehmen zugegangen ist. b) Gesellschafterdarlehen Wird ein Darlehen, welches ein Gesellschafter (einer GmbH) ausgereicht hat, eigenkapitalersetzend, dann ist sowohl gesellschaftsrechtlich/handelsbilanzrechtlich als auch für Zwecke der Insolvenzauslösung/für den Überschuldungsstatus zu klären, ob dieses Darlehen aus der Sicht der Gesellschaft als Eigenkapital oder als Fremdkapital zu qualifizieren ist. Während das Steuerrecht schon relativ frühzeitig in der Art und Weise Stellung genommen hat, dass jedenfalls dann, wenn nicht (dinglich) in den Bestand der
__________ 62 Dazu Uhlenbruck, InsO, § 19 Rz. 57 m. w. N. 63 Zur Entwicklung Kanzler, FR 2003, 480. 64 BMF, BStBl. I 2003 S. 240.
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Darlehensverbindlichkeit eingegriffen wird, dieses Darlehen für Zwecke der (jährlichen) Gewinnermittlung als Fremdkapital zu qualifizieren ist65, war die gesellschaftsrechtliche und insolvenzrechtliche Rechtslage lange Zeit ungeklärt. Im Zusammenhang mit der Überschuldungsprüfung geht/ging es darum, ob das eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen als normales Fremdkapital zu passivieren ist und ob sich etwas ändert, wenn das Darlehen mit einer Rangrücktrittserklärung des Gesellschafters versehen wird66. Mit der Grundsatzentscheidung vom 8.1.200167 hat der II. Zivilsenat des BGH die Streitpunkte weitestgehend geklärt. Zunächst ist nunmehr klargestellt, dass Forderungen eines Gesellschafters aus der Gewährung eigenkapitalersetzender Leistungen, soweit für sie keine Rangrücktrittserklärungen abgegeben worden sind, in der Überschuldungsbilanz der Gesellschaft zu passivieren sind. Dies entspricht der Einbeziehung der Ansprüche auf kapitalersetzende Leistungen in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO als nachrangige Forderungen. Hintergrund ist offenbar die Auffassung, dass der Insolvenzgrund der Überschuldung auch dann gegeben sein muss, wenn ein bestimmter Gläubiger aus Gründen der Nähe zum Schuldnerunternehmen in der Insolvenz nachrangig befriedigt werden soll. Da auch der Gesellschafter (der GmbH) im Prinzip ein normaler Gläubiger der Gesellschaft ist, kann man der Gesellschaft nicht mit dem Hinweis darauf, sie sei gar nicht überschuldet, weil es sich um ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen handle, die Möglichkeit des Insolvenzantrags nehmen. Bleibt der Gesellschafter/der Darlehensgläubiger untätig, dann ist das kapitalersetzende Darlehen schon aus Vorsichtsgründen als Passivposten im Überschuldungsstatus anzusetzen68. Im Ergebnis hat also der Geschäftsführer (der GmbH) Rechtsicherheit dahin gehend, dass immer dann, wenn das Gesellschafterdarlehen wie ein normales Darlehen „weiterläuft“, im Überschuldungsstatus ein Passivposten zu bilden ist, und zwar unabhängig davon, ob dieses Darlehen im Augenblick kapitalersetzenden Charakter hat oder nicht. Ganz anders liegt es, wenn der Gesellschafter/Darlehensgläubiger einen Rangrücktritt erklärt hat. Hier besteht nun im Grundsatz Klarheit, dass ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen im Überschuldungsstatus nicht als Fremdkapital zu passivieren ist, wenn es denn mit einem (qualifizierten) Rangrücktritt verbunden ist69. Nach Auffassung des BGH gilt dies aber nur für Fälle, in denen der Gesellschafter einen qualifizierten Rangrück-
__________ 65 BFH (GrS), BStBl. II 1998 S. 307; BFH, BStBl. II 1992 S. 532; näher Crezelius in K.
Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 654 ff. 66 Vgl. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 18; K. Schmidt/
Uhlenbruck (Fn. 8), Rz. 917; Crezelius in Scholz, GmbHG, Anh. § 42a Rz. 218 ff. 67 BGHZ 146, 264 = JZ 2001, 1188 m. Anm. Fleischer = ZIP 2001, 235 m. Anm.
Altmeppen; auch Goette (Fn. 3), § 4 Rz. 34 ff. 68 Vgl. auch Goette (Fn. 3), § 4 Rz. 35 f.; Roth/Altmeppen, GmbHG, vor § 64 Rz. 27. 69 BGHZ 146, 264 (271); Goette (Fn. 3), § 4 Rz. 37 f.; Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht,
Rz. 5. 122 ff.; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, vor § 64 Rz. 32.
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Georg Crezelius
tritt in der Art und Weise sinngemäß erklärt hat, er wolle wegen der genannten Forderung erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und – bis zur Anwendung der Krise – auch nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen seiner Mitgesellschafter berücksichtigt, also so behandelt werden, als handle es sich bei seiner Gesellschafterleistung um statutarisches Kapital70. Der schlichte Rangrücktritt des Gesellschafters soll offenbar deshalb nicht ausreichen, weil dies ohnehin die zwingende Folge der Umqualifizierung seiner Hilfeleistung ist (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) und weil dann der Gesellschafter, selbst wenn er nur nachrangig befriedigt werden muss, Gesellschaftsgläubiger ist und am Insolvenzverfahren teilnimmt. Er muss nach allem seine Position mit Hilfe eines qualifizierten Rangrücktritts „räumen“71, damit der Darlehensanspruch/die Darlehensverbindlichkeit nicht in den Überschuldungsstatus aufgenommen werden muss. Die Quintessenz der neuen Rechtslage liegt darin, dass es nicht eines Verzichts des Gesellschafters auf die Forderung bedarf, um – wenn die Wertverhältnisse passen – die Überschuldung zu beseitigen. All dies fügt sich in die innere Systematik der Überschuldungsprüfung ein. Geht es nämlich darum, das Verwertungspotential zugunsten der Gläubiger der Gesellschaft zu ermitteln, dann ist es folgerichtig, einen Gesellschafter, der mit seinem Darlehen formal Gläubiger der Gesellschaft ist, nicht zu berücksichtigen, wenn er kundtut, dass er nicht am „Konkurs“ der Gläubiger teilnehmen will.
__________ 70 BGHZ 146, 264 (271); auch Goette (Fn. 3), § 4 Rz. 37; Roth/Altmeppen, GmbHG,
vor § 64 Rz. 33. 71 Goette (Fn. 3), § 4 Rz. 37.
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Dietrich Dörner
Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance-Vorschriften Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Aufgaben und Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden 1. Gesetzliche Vorschriften 2. DCG-Kodex-Empfehlungen und -Anregungen 3. Aufgaben, die sich aus der gesetzlichen Gesamtverantwortung, der Koordinierungspflicht des DCG-Kodex und aus der allgemeinen Übung ergeben III. Einzelne Aufgabenbereiche des Aufsichtsratsvorsitzenden 1. Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Kapitaleigner
2. Bestellung und Abberufung des Vorstands 3. Überwachung und Beratung des Vorstands 4. Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer 5. Effizienzprüfung der Aufsichtsratstätigkeit 6. Entsprechenserklärung IV. Haftung des Aufsichtsrats V. Vergütung des Aufsichtsratsvorsitzenden VI. Schlussbemerkung
I. Einleitung Spektakuläre Unternehmenskrisen in jüngerer Zeit1, die teils auf Managementfehler, teils auf mangelnde Überwachung und fehlerhafte Rechnungslegung mit kriminellem Hintergrund zurückzuführen sind, haben den deutschen Gesetzgeber2 veranlasst, durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27.4.1998 die Führung, Transparenz und Überwachung (Corporate Governance) von Unternehmen zu verbessern. Da dieses Gesetz nach Auffassung der Bundesregierung noch nicht ausreichte, um das Vertrauen in den deutschen Kapitalmarkt wiederherzustellen und eine weitere Verschärfung der Vorschriften zur Unternehmensführung und -kontrolle notwendig erschien3, wurde eine Regierungskommission unter dem Vorsitz von Baums eingesetzt4. Deren Vorschläge
__________
In Deutschland sind insbesondere Balsam/Procedo, Bremer Vulkan und Metallgesellschaft zu nennen. 2 In USA sah sich der Gesetzgeber infolge von Enron und WorldCom zur Verabschiedung des Sarbanes-Oxley-Act von 2002 veranlasst. 3 Die Notwendigkeit zeigte sich u. a. an weiteren Unternehmenskrisen, z. B. bei FlowTex oder Holzmann. 4 Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission „Corporate Governance“, Unternehmensführung – Unternehmenskontrolle – Modernisierung des Aktienrechts, 2001. 1
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Dietrich Dörner
führten u. a. zur Entwicklung des Deutschen Corporate Governance Kodex (im Folgenden kurz DCG-Kodex oder Kodex) durch eine eigens im Februar 2002 hierzu eingerichtete „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ unter der Leitung von Cromme. Dieser Kodex5, der für kapitalmarktorientierte6 Unternehmen 72 Empfehlungen (Soll-Vorschriften) und 19 Anregungen (Sollte- oder Kann-Vorschriften) vorsieht, ist quasi als Selbstverpflichtung der Unternehmen gedacht. Das Transparenz- und Publizitätsgesetz (TransPuG) vom 19.7.20027 verpflichtete zeitgleich Vorstand und Aufsichtsrat kapitalmarktorientierter Unternehmen durch § 161 AktG, jährlich eine Entsprechenserklärung zu veröffentlichen, in der zu erklären ist, ob die Soll-Vorschriften des Kodex eingehalten sind und werden. Abweichungen sind darzulegen und nach Ziff. 3.10 des DCG-Kodex zu begründen. Will eine Gesellschaft eine uneingeschränkte Erklärung abgeben, werden die Empfehlungen zu Muss-Vorschriften8. Der Kodex richtet sich zunächst an kapitalmarktorientierte Unternehmen. Da er allgemeine Anerkennung findet9, ist davon auszugehen, dass dieser Standard guter Unternehmensführung und -kontrolle auch für nicht direkt betroffene Unternehmen weitere Verbreitung findet, zumal er weitgehend internationale best practice darstellt10. Zur weiteren Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes hat die Bundesregierung in ihrem 10-Punkte-Programm „Unternehmensintegrität und Anlegerschutz“ am 25.2.2003 weitere Maßnahmen angekündigt11. Es liegen bis Ende 2004 bereits vor: a) Gesetz zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen (Bilanzkontrollgesetz – BilKoG vom 20.12.2004), das vor allem ein zweistufiges Enforcement-Verfahren zur Überprüfung von festgestellten Jahresabschlüssen kapitalmarktorientierter Unternehmen vorsieht12. b) Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG vom 4.12.2004), das u. a. die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers reglementiert.
__________ 5 Derzeit in der Fassung vom 21.5.2003. 6 Unternehmen, die börsennotiert sind oder Schuldverschreibungen über eine Börse
begeben haben. 7 Peltzer, NZG 2002, 593 ff. 8 Seibt, AG 2003, 466 ff. 9 Cromme, FAZ v. 9.6.2004, Nr. 132, S. 16; v. Werder/Talaulicar/Kolet, DB 2004,
1377 (1382). 10 Dörner/Orth in Pfitzer/Oser (Hrsg.), Deutscher Corporate Governance Kodex, 2003,
S. 14. 11 Seibert, BB 2003, 693 ff. 12 Vgl. hierzu Böcking, zfbf 2003, 683 ff.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
c) Gesetzentwurf zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 17.11.2004. d) Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) vom 10.11.2004. e) Abschlussprüferaufsichtsgesetz (APAG) vom 27.12.2004. f) Anlegerschutzverbesserungsgesetz (AnSVG) vom 1.7.2004. g) Kapitalmarktinformationshaftungsgesetz (KapInHaG) als Entwurf. Zu dieser Fülle von Gesetzesänderungen in relativ kurzer Zeit kommen noch die von der EU-Kommission vorgesehenen Änderungen, die die deutschen Vorhaben teils verschärfen, teils reduzieren, so dass nach Gesetzeskraft vorstehender Regierungsvorhaben im Zuge der Umsetzung der EU-Richtlinien weitere Änderungen anstehen, u. a. das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilModG). Aus all diesem ergeben sich für die Organe mindestens von kapitalmarktorientierten Unternehmen teilweise zusätzliche Anforderungen und eine Verschärfung der Sorgfaltspflicht13. Dies gilt in besonderem Maße für den Aufsichtsrat und seinen Vorsitzenden. Im Folgenden werden deshalb dessen Pflichten dargestellt (Abschn. II.) und vor allem einzelne Tätigkeitsfelder des Aufsichtsratsvorsitzenden näher beleuchtet (Abschn. III.) sowie auf die sich daraus ergebende Verschärfung der Haftung (Abschn. IV.) und eine adäquate Vergütung (Abschn. V.) eingegangen.
II. Aufgaben und Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden Die Aufgaben und Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden ergeben sich aus dem Gesetz (vor allem dem AktG)14, dem DCG-Kodex sowie der allgemeinen Übung: 1. Gesetzliche Vorschriften Im AktG sind die Rechte und Pflichten des Aufsichtsratsvorsitzenden sehr sporadisch geregelt. Folgende Vorschriften sind zu nennen: a) § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG Der Aufsichtsrat hat nach näherer Bestimmung der Satzung aus seiner Mitte einen Vorsitzenden und mindestens einen Stellvertreter zu wählen. b) § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG Dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats hat der Vorstand aus sonstigen wichtigen Anlässen zu berichten. Dies gilt auch für wichtige Vorgänge bei verbundenen Unternehmen.
__________
13 v. Treuberg/Zitzmann in Pfitzer/Oser (Fn. 10), S. 30. 14 Götz, NZG 2002, 599 ff.; Sarrazin in Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, 1995,
S. 126 ff.
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Dietrich Dörner
c) § 90 Abs. 5 Satz 3 AktG Der Vorsitzende des Aufsichtsrats hat die Aufsichtsratsmitglieder über die Berichte des Vorstands spätestens in der nächsten Aufsichtsratssitzung zu unterrichten, soweit sie nicht allen Mitgliedern zugingen. d) § 109 Abs. 2 AktG Aufsichtsratsmitglieder, die dem Ausschuss nicht angehören, können an den Ausschusssitzungen teilnehmen, wenn der Vorsitzende des Aufsichtsrats nichts anderes bestimmt. e) § 110 Abs. 1 Satz 1 AktG Jedes Aufsichtsratsmitglied oder der Vorstand kann unter Angabe des Zwecks und der Gründe verlangen, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats unverzüglich den Aufsichtsrat einberuft. f) § 176 Abs. 1 Satz 2 AktG Zu Beginn der Verhandlung in der Hauptversammlung soll der Vorsitzende des Aufsichtsrats den Bericht des Aufsichtsrats erläutern. g) §§ 184 Abs. 1 Satz 1; 188 Abs. 1; 195 Abs. 1 AktG Vorstand und Vorsitzender des Aufsichtsrats haben Beschlüsse über Kapitalerhöhungen und ihre Durchführung zum Handelsregister anzumelden. Die gesetzlichen Regelungen über den Aufsichtsratsvorsitzenden sind also sehr spärlich. Der Grund liegt in der gesetzlichen Gesamtverantwortung des Aufsichtsrats, was allerdings in der Praxis zu Organisations- und Kommunikationsschwierigkeiten führt. Dies, aber auch die internationale Tendenz zum Chief Executive Officer (CEO)-Führungsmodell hat die DCG-KodexKommission im Rahmen ihrer verschärften Vorschriften zur Überwachung des Vorstands bewogen, rund 20 der 72 Empfehlungen und 7 der 19 Anregungen dem Aufsichtsrat und vor allem seinem Vorsitzenden zu widmen, der somit eine herausragende Stellung erhält15. 2. DCG-Kodex-Empfehlungen und -Anregungen In Ziff 5.2 des DCG-Kodex werden die Aufgaben und Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden wie folgt beschrieben: a) Der Aufsichtsratsvorsitzende koordiniert die Arbeit im Aufsichtsrat und leitet dessen Sitzungen. b) Der Aufsichtsratsvorsitzende soll zugleich Vorsitzender der Ausschüsse sein, die die Vorstandsverträge behandeln und die Aufsichtsratssitzungen vorbereiten.
__________ 15 Theisen in Potthoff/Trescher, Das Aufsichtsratsmitglied, 6. Aufl. 2003, Rz. 1025–
1031.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
c) Den Vorsitz im Prüfungsausschuss (Audit Committee) sollte er nicht innehaben. d) Der Aufsichtsratsvorsitzende soll mit dem Vorstand, insbesondere mit dem Vorsitzenden bzw. Sprecher des Vorstands, regelmäßig Kontakt halten und mit ihm die Strategie, die Geschäftsentwicklung und das Risikomanagement des Unternehmens beraten. e) Der Aufsichtsratsvorsitzende wird über wichtige Ereignisse, die für die Beurteilung der Lage und Entwicklung sowie für die Leitung des Unternehmens von wesentlicher Bedeutung sind, unverzüglich durch den Vorsitzenden bzw. Sprecher des Vorstands informiert. Der Aufsichtsratsvorsitzende soll sodann den Aufsichtsrat unterrichten und erforderlichenfalls eine außerordentliche Aufsichtsratssitzung einberufen. 3. Aufgaben, die sich aus der gesetzlichen Gesamtverantwortung, der Koordinierungspflicht des DCG-Kodex und aus der allgemeinen Übung ergeben Weitere Aufgaben des Aufsichtsratsvorsitzenden sind: a) Regelmäßige Beratung und Überwachung des Vorstands bei der Leitung des Unternehmens sowie Einbindung in Entscheidungen von grundlegender Bedeutung (§ 111 Abs. 1 AktG; Ziff. 5.1.1 des DCG-Kodex). b) Bestellung und Entlassung des Vorstands sowie Sorge für langfristige Nachfolgeplanung gemeinsam mit dem Vorstand und Festlegung einer Altersgrenze für Vorstandsmitglieder (§ 84 AktG; Ziff 5.1.2 DCG-Kodex). c) Ausarbeitung einer Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat (Ziff. 5.1.3 DCG-Kodex). d) Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstand gerichtlich und außergerichtlich (§ 112 AktG). e) Zustimmung zu bestimmten Arten von Geschäften (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG). f) Einberufung und Protokollierung der Aufsichtsratssitzungen. g) Leitung der Hauptversammlung. h) Ausübung des Zweitstimmrechts im paritätisch besetzten Aufsichtsrat (§ 31 Abs. 3 MitbestG). i) Abgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG. j)
Unterbreitung eines Wahlvorschlags für den Abschlussprüfer, Auftragserteilung und Kommunikation mit Abschlussprüfer (Ziff. 7.2 DCG-Kodex).
k) Koordinierung der Prüfung und Feststellung bzw. Billigung des Jahresbzw. Konzernabschlusses (§§ 171, 172 AktG) sowie Bericht an die Hauptversammlung (§ 171 Abs. 2 AktG). 813
Dietrich Dörner
l) Wahlvorschläge zum Aufsichtsrat (§ 101 AktG). Im folgenden Abschnitt III. werden einige Aufgabenbereiche näher beleuchtet.
III. Einzelne Aufgabenbereiche des Aufsichtsratsvorsitzenden 1. Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Kapitaleigner In der Regel werden die von den Kapitaleignern zu wählenden Mitglieder des Aufsichtsrats auf Vorschlag des Aufsichtsrats und des Vorstands von der Hauptversammlung, die dabei an die Wahlvorschläge nicht gebunden ist, gewählt (§ 101 Abs. 1 AktG). Die Auswahl der Kandidaten ist für den künftigen Aufsichtsratsvorsitzenden von besonderer Bedeutung16. Aufgrund seiner Koordinierungsfunktion sollte er eher ein Generalist sein mit unternehmerischer Erfahrung. Die übrigen Aufsichtsratsmitglieder können dann nach speziellen Kenntnissen, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen ausgesucht werden (Ziff. 5.4.1 DCG-Kodex). So ist es für eine umfassende Überwachung und Beratung des Vorstands wichtig, dass die Bereiche Produkt und Markt, Forschung und Entwicklung, Fertigung, Finanzen, Rechnungswesen u. a. im Aufsichtsrat kompetent durch externe Repräsentanten vertreten sind. Die interne Sicht wird durch die von der Belegschaft gewählten Vertreter sichergestellt, auf deren Zusammensetzung die Kapitalseite keinen Einfluss hat. Auch die Gewerkschaftsvertreter sind in der Regel keine Spezialisten für die einzelnen Funktionen des Unternehmens, wenn man vom Arbeits- und Sozialrecht absieht. Zu Recht empfiehlt der DCG-Kodex in Ziff. 5.4.1 bei den Wahlvorschlägen die internationale Tätigkeit des Unternehmens, potentielle Interessenkonflikte und eine festzulegende Altersgrenze zu berücksichtigen. Besonderen Wert legt der DCG-Kodex auf Unabhängigkeit und Vermeidung von Interessenkonflikten. Vor allem der Aufsichtsratsvorsitzende hat darauf zu achten, dass die in Ziff. 5.4.2 und 5.5.1 bis 5.5.4 des DCG-Kodex geforderten Unabhängigkeitserfordernisse befolgt werden. Eine unabhängige Beratung und Überwachung des Vorstands wird auch dadurch ermöglicht, dass dem Aufsichtsrat nicht mehr als zwei ehemalige Mitglieder des Vorstands angehören sollen (Ziff. 5.4.2 DCG-Kodex). In Deutschland ist es weit verbreitet, dass der ehemalige Vorstandsvorsitzende nach seinem Ausscheiden aus dem Vorstand in den Aufsichtsrat als dessen Vorsitzender wechselt. Dies wird vielfach kritisiert17. Insbesondere die Überwachungsfunktion könnte darunter leiden, werden doch strategische und operative Entscheidungen, die der ehemalige Vorstandsvorsitzende getroffen hat, in seiner Person als Aufsichtsratsvorsitzender kritisch zu würdigen sein.
__________
16 Theisen in Dörner/Menold/Pfitzer/Oser (Hrsg.), Reform des Aktienrechts, der Rech-
nungslegung und der Prüfung, 2. Aufl. 2003, S. 502 f. 17 Statt vieler: Strenger, Börsen-Zeitung v. 4.11.2003, S. 6.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
Außerdem könnte sich der neue Vorstandsvorsitzende durch den „langen Schatten“ des Vorgängers behindert fühlen, da der Aufsichtsratsvorsitzende häufig sein Büro in der Nähe des Vorstands hat und die Kontakte zu früheren Mitarbeitern nachwirken. Andererseits wird die Beratungsfunktion als Vorteil herausgestrichen, die der ehemalige Vorstandsvorsitzende seinem Nachfolger und dem gesamten Aufsichtsrat angedeihen lassen kann. Dieses Wissen kann allerdings auch in Form eines Beirats oder mittels Beratervertrag genutzt werden. „Ein guter Vorstand ist nicht automatisch ein guter Aufsichtsrat“, so Strenger18. Umgekehrt gilt allerdings auch: Gute Vorstände sind häufig auch gute Aufsichtsräte – vorzugsweise in anderen Unternehmen. Festzuhalten bleibt, dass die deutsche (Un)sitte nach Gesetz und DCGKodex zulässig ist. Die Forderung nach (innerer) Unabhängigkeit bleibt, zumal die internationale Tendenz (in den USA via Sarbanes-Oxley-Act, in Europa via Europäische Kommission) ihr Nachdruck verleiht. Eine gesetzliche Regelung ist dennoch abzulehnen. In Ausnahmefällen muss der bisherige Vorstandsvorsitzende Vorsitzender des Aufsichtsrats im selben Unternehmen werden können. Deshalb sollte der DCG-Kodex angepasst werden. In der ersten Stufe könnte eine Anregung (Sollte-Vorschrift) und in einer zweiten Stufe eine Empfehlung (Soll-Vorschrift) aufgenommen werden, die es „untersagt“, dass Vorstandsvorsitzende in den Aufsichtsratsvorsitz wechseln. Damit wäre am Ende eine, wenn auch in der Entsprechenserklärung berichtspflichtige, Ausnahme möglich. 2. Bestellung und Abberufung des Vorstands Die vornehmste Aufgabe des Aufsichtsrats ist die Bestellung des Vorstands (§ 84 AktG). Mit der Möglichkeit der Entlassung von Vorstandsmitgliedern hat er ein gewichtiges Sanktionsmittel in der Hand. Bei derartigen Personalentscheidungen kommt dem Aufsichtsratsvorsitzenden eine besondere Bedeutung zu. Die Auswahl von Vorstandsmitgliedern verlangt ausgeprägte Erfahrung in der Beurteilung von unternehmerischen Fähigkeiten wie strategisches Denken, Führungsqualität, fachliches Können und ethisches Verhalten. Grundlage hierfür ist ein genaues Anforderungsprofil, was zweckmäßigerweise mit dem Amtsvorgänger im Vorstand bzw. dem Vorstandsvorsitzenden zu erarbeiten ist. Deshalb schreibt der DCG-Kodex in Ziff. 5.1.1 vor, dass der Aufsichtsrat(-vorsitzende) gemeinsam mit dem Vorstand für eine langfristige Nachfolgeplanung zu sorgen hat. Um die bei der Erstbestellung von Vorstandsmitgliedern grundsätzlich bestehende Unsicherheit zu berücksichtigen, wird angeregt, die maximal mögliche Bestelldauer von fünf Jahren nicht auszuschöpfen. Im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern
__________ 18 Strenger (Fn. 17).
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Dietrich Dörner
ist dies in Deutschland noch nicht üblich. Eine Verkürzung der Bestelldauer wird sich letztlich auf die Vergütungshöhe auswirken. Weit verbreitet und vom DCG-Kodex angeregt ist die Einrichtung eines Ausschusses zur Vorbereitung der Bestellung von Vorstandsmitgliedern. Die Bestellung selbst kann nicht an den Ausschuss delegiert werden. Diesem häufig als Personalausschuss bezeichneten Gremium kann vom Gesamtaufsichtsrat die Aufgabe übertragen werden, die Bedingungen des Anstellungsvertrages einschließlich der Vergütung festzulegen. Hiervon wird in der Praxis regelmäßig Gebrauch gemacht. Allerdings soll das Aufsichtsratsplenum auf Vorschlag des Personalausschusses über die Struktur des Vergütungssystems für den Vorstand beraten und sie regelmäßig überprüfen (Ziff. 4.2.2 DCG-Kodex). Zur Struktur und Angemessenheit der Vergütung nimmt der DCG-Kodex in Ziff. 4.2.3 ausführlich Stellung und schreibt vor, dass sie aus drei Komponenten bestehen soll: a) fixe, b) erfolgsabhängige c) und solche mit langfristiger Anreizwirkung und Risikocharakter. Besonderen Wert legt der DCG-Kodex zu Recht auf die Berücksichtigung der persönlichen Leistung jedes Vorstandsmitglieds. Die in Ziff. 4.2.4 des Kodex geforderte individualistische Vergütungsangabe im Konzernanhang wirkt allerdings nivellierend auf die Vergütung, weshalb diese Angabe vielfach abgelehnt wird. Andererseits führt Transparenz zur Selbstregulierung. 3. Überwachung und Beratung des Vorstands Gemäß § 111 Abs. 1 AktG ist die Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands nach dessen Bestellung die wichtigste Aufgabe des Aufsichtsrats19. Seit KonTraG 1998, TansPuG und DCG-Kodex 2002 wird jedoch der Beratung eine mindestens gleichwertige Rolle zugewiesen. Dies manifestiert sich in § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG, wonach der Vorstand über die Unternehmensplanung (insbesondere die Finanz-, Investitions- und Personalplanung) einschließlich einer Abweichungsanalyse (dem Aufsichtsrat) zu berichten hat, sowie in § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, nach dem die Satzung oder der Aufsichtsrat zu bestimmen hat, dass bestimmte Arten von Rechtsgeschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen. Der DCG-Kodex interpretiert die gesetzlichen Vorgaben in Ziff 5.1.1 sogar dahin gehend, dass der Aufsichtsrat in Entscheidungen von grundlegender Bedeutung einzubinden ist. Nach Ziff. 3.2 hat der Vorstand die strategische Ausrichtung des Unternehmens mit dem Aufsichtsrat abzustimmen und mit ihm in regelmäßi-
__________ 19 Zur theoretischen Begründung Witt, Corporate Governance-Systeme im Wettbe-
werb, 2003, S. 30 ff.
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gen Abständen den Stand der Strategieumsetzung zu erörtern20. All diese Neuerungen haben das Ziel, die Tätigkeit des Aufsichtsrats von der nachvollziehenden Kontrolle hin zu einer vorausschauenden Überwachung durch frühzeitige Einbindung effizienter zu gestalten, nach dem Motto: „Vorsorgen ist besser als Heilen“. Damit soll zwar das deutsche duale System (geschäftsführender Vorstand einerseits und unabhängiges Kontrollorgan andererseits) nicht aufgegeben werden, eine gewisse Annäherung an das angelsächsische monistische Board-System ist jedoch nicht zu verkennen. Andererseits sind seit dem Sarbanes-Oxley-Act zumindest beim Audit Committee in den USA nur unabhängige Mitglieder zugelassen. Für den Aufsichtsratsvorsitzenden ergeben sich aus vorstehenden Neuerungen besondere Herausforderungen. Zwei Überwachungsinstrumente sollten im Folgenden näher dargelegt werden: a) Bildung von Ausschüssen Das KonTraG hat mit § 107 Abs. 3 AktG dem Aufsichtsrat die Möglichkeit eingeräumt, aus seiner Mitte einen oder mehrere Ausschüsse zu bestellen, namentlich, um seine Verhandlungen und Beschlüsse vorzubereiten oder die Ausführung seiner Beschlüsse zu überwachen. Bei börsennotierten Gesellschaften hat der Aufsichtsrat in seinem schriftlichen Bericht an die Hauptversammlung anzugeben, welche Ausschüsse gebildet worden sind, sowie die Zahl ihrer Sitzungen mitzuteilen (§ 171 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AktG). Dem Aufsichtsrat ist regelmäßig über die Arbeit der Ausschüsse zu berichten. Der DCG-Kodex empfiehlt dem Aufsichtsrat neben dem nach § 27 Abs. 3 MitbestG vorgeschriebenen Ausschuss (Vorstandsbestellung bei fehlender Mehrheit im Aufsichtsrat (§ 31 Abs. 3 MitbestG)), abhängig von den spezifischen Gegebenheiten des Unternehmens und der Anzahl seiner Mitglieder, fachlich qualifizierte Ausschüsse zu bilden (Ziff. 5.3.1 des DCG-Kodex). Dies diene der Steigerung der Effizienz der Aufsichtsratsarbeit. Üblich war schon bisher, einen Personalausschuss, auch Ausschuss für Vorstandsangelegenheiten genannt, zu bilden, der die Vorstandsberufungen vorbereitet und die Vertragsverhandlungen führt, insbesondere die Vorstandsvergütung regelt. Ziff. 5.2 Abs. 2 des DCG-Kodex empfiehlt, der Vorsitzende dieses Ausschusses soll der Aufsichtsratsvorsitzende sein. Außerdem soll der Aufsichtsrat einen Prüfungsausschuss (Audit Committee) einrichten, der sich insbesondere mit Fragen der Rechnungslegung und des Risikomanagements, der erforderlichen Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Erteilung des Prüfungsauftrags an den Abschlussprüfer, der Be-
__________ 20 Potthoff in Wirtschaftsprüfung und Unternehmensüberwachung, FS Lück, 2003,
S. 109 f.
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stimmung von Prüfungsschwerpunkten und der Honorarvereinbarung befasst (Ziff. 5.3.2 DCG-Kodex)21. Der Kodex regt in Ziff. 5.3.2 letzter Satz an, dass der Vorsitzende des Prüfungsausschusses kein ehemaliges Vorstandsmitglied der Gesellschaft sein sollte. Dies ist sehr sinnvoll, da die Gefahr der Selbstprüfung besteht. Laut Ziff. 5.2 Abs. 2 des DCG-Kodex sollte der Aufsichtsratsvorsitzende den Vorsitz im Prüfungsausschuss nicht innehaben. Damit soll wohl die Machtvollkommenheit des Aufsichtsratsvorsitzenden eingeschränkt werden22. Meines Erachtens ist dieses Argument nicht stichhaltig. Wie oben dargestellt, werden im Prüfungsausschuss wesentliche Überwachungsaufgaben wahrgenommen und nicht zuletzt wird die Bilanzpolitik mit dem Abschlussprüfer diskutiert, was Einfluss auf die Thesaurierungs- und Dividendenpolitik hat. Es ist nicht nur effizient, sondern für den Aufsichtsratsvorsitzenden überwachungsnotwendig, dass er dem Bilanzausschuss vorsteht. Zwar kann er – der Kodex-Anregung folgend – als einfaches Mitglied dem Ausschuss angehören, dies ist allerdings hinsichtlich seiner Reputation praxisfern. Nach den Vorstellungen der EU-Kommission soll der Bilanzausschuss zur Pflicht werden, was vom deutschen Gesetzgeber umzusetzen sein wird. Gleichzeitig wird dann, dem Sarbanes-Oxley-Act folgend, gefordert werden, dass dem Audit Committee ein sog. Financial Expert angehören muss. Angeregt werden Ausschüsse für Unternehmensstrategie, Investitionen, Finanzierungen u. a. (z. B. für Marketing und Vertrieb, Produktion, Forschung und Entwicklung). Zwar können in vorstehenden Ausschüssen die jeweiligen Themen fachkundig eingehender und effizienter beraten werden, doch liegt die Gefahr darin, dass sich die übrigen Aufsichtsratsmitglieder trotz ihrer Gesamtverantwortung nicht oder zu wenig um die „ausgelagerten“ Themen kümmern bzw. fälschlicherweise sich nicht verantwortlich fühlen. Um dem vorzubeugen, sehen § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG und Ziff. 5.3.1 letzter Satz des DCG-Kodex vor, dass die jeweiligen Ausschussvorsitzenden regelmäßig dem Aufsichtsrat über die Arbeit der Ausschüsse zu berichten haben. Entscheidungen kann ein Ausschuss nur treffen, wenn dies vom Gesamtaufsichtsrat zuvor beschlossen wurde. Bedeutsame Beschlüsse können den Ausschüssen überhaupt nicht übertragen werden. Nach § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG sind dies: –
Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters,
–
Zustimmung zur Abschlagszahlung auf den Bilanzgewinn,
–
Erlass einer Geschäftsordnung für den Vorstand,
__________ 21 Pfitzer/Höreth in Pfitzer/Oser (Fn. 10), S. 158 ff. 22 Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder (Hrsg.), Der Deutsche Corporate
Governance Kodex, 2003, Rz. 671 und 672.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
–
Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern sowie Ernennung des Vorstandsvorsitzenden,
–
Einberufung der Hauptversammlung, wenn das Wohl der Gesellschaft es fordert,
–
Prüfung des Jahresabschlusses, des Lageberichts und des Vorschlags für die Verwendung des Bilanzgewinns sowie Prüfung des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts einschl. deren Billigung sowie
–
Prüfung und Billigung des Berichts über die Beziehungen zu verbundenen Unternehmen (Abhängigkeitsbericht).
Weitere Vorbehaltsbeschlüsse des Gesamtaufsichtsrats sieht weder das AktG noch der DCG-Kodex vor. Der Aufsichtsrat kann und sollte meines Erachtens in seiner Geschäftsordnung mit der Delegation weiterer grundlegender Entscheidungen wie Strategie, Großinvestitionen, Finanzierungsmaßnahmen u. a. an Ausschüsse sehr zurückhaltend sein. Die Gesamtverantwortung des Aufsichtsrats für seine Überwachungspflicht darf durch Delegation an Ausschüsse nicht unterlaufen werden23. Im Übrigen sind Ausschüsse nicht nur effizient; durch die Information des Gesamtgremiums und die anschließende Aussprache und eventuelle Beschlussfassung sind sie durchaus auch zeitraubend. b) Zustimmungspflichtige Rechtsgeschäfte Nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, der durch das TransPuG eingeführt wurde, hat die Satzung oder der Aufsichtsrat zu bestimmen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit der Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen. Der DCG-Kodex grenzt in Ziff. 3.3 die zustimmungspflichtigen Geschäfte dahin ein, dass diese von grundlegender Bedeutung sein müssen. Nach seiner Meinung gehören hierzu Entscheidungen oder Maßnahmen, die die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens grundlegend verändern. Im Gegensatz zur gesetzlichen Regelung wird im DCG-Kodex die „Mitbestimmung“ des Aufsichtsrats auf Wesentliches beschränkt, was auch in Ziff 3.2 zum Ausdruck kommt, nach der der Vorstand die strategische Ausrichtung des Unternehmens mit dem Aufsichtsrat abzustimmen und deren Umsetzung mit ihm zu erörtern hat. Diese sinnvolle Beschränkung auf das Wesentliche bzw. Grundlegende verhindert eine zu weitgehende Einmischung des Aufsichtsrats in das Tagesgeschäft des Vorstands, der nach § 76 Abs. 1 AktG die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten hat24. Der Aufsichtsratsvorsitzende hat darauf zu achten, dass die Geschäftsführungskompetenz des Vorstands nicht durch zu weitgehende Zustimmungsvorbehalte unterlaufen wird, da ansonsten der
__________ 23 Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 116 Rz. 106. 24 Zur Eigenverantwortlichkeit des Vorstands: Röhricht in MünchKomm.AktG,
2. Aufl. 2000, § 23, Rz. 85.
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Aufsichtsrat sich in eine Verantwortung begibt, die auch haftungsrechtlich relevant sein kann. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass der Vorstand zu häufig Entscheidungen von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig macht und sich dadurch seiner Geschäftsführungsverantwortung entzieht. Das duale System von Geschäftsführung und Überwachung darf nicht unterlaufen werden. Andererseits hat es die Hauptversammlung in der Hand, den Katalog der zustimmungspflichtigen Rechtsgeschäfte durch Satzungsbeschluss Aufsichtsrat und Vorstand vorzuschreiben. Überträgt die Hauptversammlung es dem Aufsichtsrat, gibt dieser dem Vorstand die Geschäftsordnung vor (§ 77 Abs. 2 AktG). Zweckmäßig ist es, in der Satzung lediglich Geschäfte von grundlegender Bedeutung der Zustimmung des Aufsichtsrats zu unterwerfen und Details wie Größenordnungen, spezielle Rechtsgeschäfte oder Vorhaben u. a. in der Geschäftsordnung des Vorstands, die mit der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats kompatibel sein muss, festzulegen. Grundlegende Geschäfte bzw. Maßnahmen sind in aller Regel: – – – – – –
Strategische Unternehmensplanung Operative Unternehmensplanung einschließlich Investitionsplan Wesentliche Finanzierungsmaßnahmen Wesentliche Unternehmensverträge Wesentliche Strukturveränderungen im Konzern Bedeutende Devestitionen
Sind Einzelheiten hierzu in der Geschäftsordnung niedergelegt, können Änderungen wesentlich schneller und zielorientierter vorgenommen werden. c) Überwachung im Konzern Auch im Konzern bleibt der Vorstand der Obergesellschaft das „Überwachungsobjekt“ des Aufsichtsrats, also dessen Konzernleitungsfunktion und nicht die Tätigkeit der Organmitglieder der verbundenen Unternehmen25. Damit der Aufsichtsrat der Muttergesellschaft seiner konzernweiten Überwachungsaufgabe nachkommen kann, hat der Vorstand ihn über wesentliche Entwicklungen bei Tochterunternehmen zu informieren26. Bei gewichtigen Fehlentwicklungen muss dem Aufsichtsrat der Obergesellschaft allerdings ein eigenes Informationsrecht zugebilligt werden, das aber über den Konzernvorstand zu leiten ist. Die Pflicht des Aufsichtsrats, sich um Konzernbelange zu kümmern, ergibt sich seit dem TransPuG schon allein aus der Pflicht, den Konzernabschluss zu prüfen und ihn gegebenenfalls zu billigen.
__________ 25 Feddersen in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Gover-
nance, 2003, S. 456–458. 26 Zur Risikoberichterstattung im Konzern vgl. Dörner/Wollmert/Bischof in FS Lück
(Fn. 20), S. 305 ff.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
4. Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer Die Zusammenarbeit zwischen Abschlussprüfer und Aufsichtsrat hat sich durch das KonTraG und vor allem seit der Veröffentlichung des DCG-Kodex im Februar 2002 erheblich intensiviert und damit zu beider Vorteil verbessert27. Dieser Kontakt wird in der Regel vom Aufsichtsratsvorsitzenden wahrgenommen. Er repräsentiert den Aufsichtsrat und bereitet anstehende Entscheidungen über den Abschlussprüfer für das Gesamtgremium vor. Derartige Aufgaben, die auf einen Prüfungsausschuss (vgl. oben unter 3 a)) übertragen werden können, sind: a) Auswahl des Abschlussprüfers Hier ist auf die Qualität, Erfahrung und Leistungsfähigkeit des Prüfers zu achten. Ein langjähriges kritisches Vertrauensverhältnis ist einem kurzfristigen Prüferwechsel (externe Rotation) vorzuziehen. Prüfungsintensität und Prüfungshonorar müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen. b) Einholen der Unabhängigkeitserklärung (Ziff 7.2.1 DCG-Kodex) Der vorgesehene Abschlussprüfer soll eine Erklärung abgeben, ob und gegebenenfalls welche beruflichen, finanziellen oder sonstigen Beziehungen zwischen dem Prüfer, seinen Organen und Prüfungsleitern einerseits und dem Unternehmen und seinen Organmitgliedern andererseits bestehen, die Zweifel an seiner Unabhängigkeit begründen könnten. Diese Erklärung soll sich auch darauf erstrecken, in welchem Umfang im vorausgegangenen Geschäftsjahr andere Leistungen für das Unternehmen, insbesondere auf dem Beratungssektor, erbracht wurden bzw. für das folgende Jahr vertraglich vereinbart sind28. Zudem soll der Aufsichtsrat mit dem Abschlussprüfer vereinbaren, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats bzw. des Prüfungsausschusses über während der Prüfung auftretende mögliche Ausschluss- oder Befangenheitsgründe unverzüglich unterrichtet wird, soweit diese nicht unverzüglich beseitigt werden. Nach vorstehenden Empfehlungen wird eine zusätzliche Beratungstätigkeit des Abschlussprüfers nicht untersagt; der Aufsichtsrat soll lediglich durch die Offenlegung über die Beratungstätigkeit informiert werden, um die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers beurteilen zu können. Dies ist meines Erachtens auch ausreichend, da die durch die gleichzeitige Prüfung und Beratung eventuell drohende Selbstprüfung durch den Abschlussprüfer schon längst durch § 43 Abs. 1 WPO verboten ist. Dennoch sieht sich der Gesetzgeber veranlasst, die Unabhängigkeitserfordernisse durch Erweiterung des
__________ 27 Nonnenmacher, WPg. 2001, Sonderheft, S. 15. 28 Röhricht, WPg. 2001, Sonderheft, S. 80 (88).
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Dietrich Dörner
§ 319 HGB und Einfügung eines § 319a HGB zu konkretisieren und zu erweitern (Entwurf des Bilanzrechtsreformgesetzes – BilReG – vom 21.4.2004). Nach § 319a Abs. 1 Nr. 2 HGB-E i. d. F. des BilReG ist ein Wirtschaftsprüfer von der Abschlussprüfung u. a. ausgeschlossen, wenn er Rechts- oder Steuerberatungsleistungen erbracht hat, die über das Aufzeigen von Gestaltungsalternativen hinausgehen und die sich auf die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage unmittelbar und nicht nur unwesentlich auswirken. Diese und andere Einschränkungen durch den neuen § 319a HGB gelten zwar „nur“ für kapitalmarktorientierte Unternehmen, stellen jedoch eine Amputation des Abschlussprüfers dar und behindern seine Unterstützungsfunktion gegenüber dem Aufsichtsrat. Meines Erachtens sollte der Aufsichtsrat das Recht erhalten, den Abschlussprüfer im Einzelfall von der Beratungsbeschränkung zu befreien. Das Selbstprüfungsverbot bleibt davon unberührt. c) Auftragserteilung an den Abschlussprüfer Der Aufsichtsrat, vertreten durch seinen Vorsitzenden, erteilt dem Abschlussprüfer den Prüfungsauftrag für den Jahres- und Konzernabschluss (§ 111 Abs. 2 Nr. 3 AktG; § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB) und trifft mit ihm die Honorarvereinbarung (Ziff. 7.2.2 DCG-Kodex). Durch diese Regelung, die dem Grunde nach bereits durch das KonTraG 1998 eingeführt wurde, wird die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers gegenüber dem Vorstand gestärkt und dem Aufsichtsrat die intensive Befassung mit dem Abschlussprüfer zur Pflicht gemacht. Dabei hat der Aufsichtsrat auf ausgewogene Leistung und Gegenleistung zu achten. Im Rahmen der Auftragserteilung wird der Aufsichtsrat Prüfungsschwerpunkte festlegen und/oder den Abschlussprüfer für bestimmte Aufgaben als Sachverständigen beauftragen (§ 111 Abs. 1 Satz 2 AktG). Nach Ziff. 7.2.3 DCG-Kodex soll er vereinbaren, dass der Abschlussprüfer alle für die Aufgaben des Aufsichtsrats wesentlichen Feststellungen und Vorkommnisse unverzüglich berichtet, die sich bei der Durchführung der Abschlussprüfung ergeben. Dies kann im Einzelfalle über seine gesetzliche Redepflicht des § 321 HGB hinausgehen. Außerdem soll die Vereinbarung den Abschlussprüfer verpflichten, den Aufsichtsratsvorsitzenden über festgestellte Tatsachen, die eine Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG (vgl. unter III/6.) ergeben, zu informieren oder diese im Prüfungsbericht zu vermerken. d) Teilnahme des Abschlussprüfers an Aufsichtsratssitzungen Grundsätzlich kann der Abschlussprüfer als Sachverständiger und/oder Auskunftsperson gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 AktG zur Beratung über einzelne Gegenstände der Tagesordnung zugezogen werden. Nach § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG hat der Abschlussprüfer an den Verhandlungen des Aufsichtsrats oder des Prüfungsausschusses über den Jahresabschluss, Konzernabschluss, Lagebericht und Gewinnverwendungsvorschlag teilzunehmen und über die we822
Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
sentlichen Ergebnisse seiner Prüfung zu berichten; so auch Ziff. 7.2.4 DCGKodex. Neben dieser, durch das KonTraG eingeführten mündlichen Berichterstattung des Abschlussprüfers im Aufsichtsrat, wird zwischen Aufsichtsratsvorsitzendem und Abschlussprüfer durch den DCG-Kodex eine intensive Kommunikation zum Nutzen beider Kontrollinstitutionen angeregt29. 5. Effizienzprüfung der Aufsichtsratstätigkeit Nach Ziff. 5.6 des DCG-Kodex soll der Aufsichtsrat regelmäßig die Effizienz seiner Tätigkeit überprüfen. Wie dies geschehen soll, ist nicht festgelegt. Um seiner Verpflichtung, den Vorstand zu überwachen und zu beraten, nachzukommen, muss der Aufsichtsrat seine Tätigkeit organisatorisch und inhaltlich effizient gestalten. Dies ist eine zentrale Aufgabe des Aufsichtsratsvorsitzenden. Hierzu wird ihm als neues Instrument die Selbstevaluierung an die Hand gegeben. Eine externe Effizienzprüfung etwa durch den Abschlussprüfer oder Berater wird nicht verlangt und von den Betroffenen überwiegend abgelehnt30. Der Kodex schreibt die Prüfung „regelmäßig“ vor. Zweckmäßigerweise wird sie einmal jährlich im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG durchgeführt. Damit wird zunächst sichergestellt, dass die darin gemachten Aussagen eingehend diskutiert und verifiziert werden. Darüber hinaus soll die Effizienzprüfung dazu anhalten, die Aufsichtsratstätigkeit rationell zu gestalten und zu verbessern. Dazu ist es notwendig, Vorstand und Abschlussprüfer in die Selbstevaluierung einzubinden z. B. durch Befragung, um ein optimales Miteinander zu gewährleisten. Als Hilfsmittel für die Selbstevaluierung dienen in der Regel Fragebögen, die jedes Aufsichtsratsmitglied auszufüllen hat. In der Literatur sind bereits derartige Checklisten zu finden31. Sie sind jedoch meist auf die individuellen Verhältnisse des Unternehmens und seiner Organe und Aktionäre anzupassen. Dies geschieht durch den Aufsichtsratsvorsitzenden oder einen Aufsichtsratsausschuss. Diese können auch die Auswertung der Fragebögen vornehmen. Externe Beratung oder Moderation kann im Einzelfall hilfreich sein. Die Fragebögen können beispielsweise folgende Komplexe, die zu untergliedern sind, behandeln:
__________ 29 Theisen, DB 1999, 341 (346). 30 Seibt, DB 2003, 2107. 31 v. Werder in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder (Fn. 22), S. 289–296; Seibt (Fn. 30),
2111; DVFA, Scorecard for German Corporate Governance, März 2002, abrufbar unter www.dvfa.de; DSW, Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V: Effizienzprüfung im Aufsichtsrat, Ein Leitfaden, abrufbar unter www.dsw-info.de.
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Dietrich Dörner
a) – – – – –
Aufsichtsratsplenum Aufsichtsratssitzungen Informationsversorgung Aufsichtsratstätigkeit und -vergütung Besetzung des Aufsichtsrats Rechnungslegung und Risikomanagement
b) – – – –
Aufsichtsratsausschüsse Ausschussbildung Personalausschuss Prüfungsausschuss Sonstige Ausschüsse
c) Aufsichtsratsmitglied – Aufgaben des einzelnen Mitglieds – Interessenkonflikte d) Hauptversammlung und Öffentlichkeit Der Vorschlag des DVFA32 sieht eine Gewichtung der einzelnen Kriterien vor. Zu Beginn der Selbstevaluierung reicht es meines Erachtens aus, die Beurteilung zu unterteilen nach: – – – –
Trifft zu Trifft eher zu Trifft eher nicht zu Trifft nicht zu
Von besonderer Bedeutung ist, in einer Spalte „Bemerkungen“ Verbesserungsvorschläge abzufragen. Die Auswertung der Fragebögen sollte unter Mitwirkung des Aufsichtsratsvorsitzenden z. B. durch den Risikomanager des Unternehmens erfolgen. Die Ergebnisse der Erhebung sind vom Aufsichtsratsvorsitzenden dem Plenum vorzutragen und von diesem ausführlich zu beraten. Dies gilt umso mehr, wenn die Befragung Mängel aufgezeigt hat, die zu beheben sind. Außerdem hat der Aufsichtsratsvorsitzende die Umsetzung beschlossener Verbesserungen sicherzustellen. 6. Entsprechenserklärung Nach § 161 AktG haben Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft jährlich zu erklären, dass den vom Bundesminister der Justiz im amtlichen Teil des elektronischen Bundesanzeigers bekannt gemachten
__________ 32 Fn. 31.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
Empfehlungen der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ entsprochen wurde und wird, oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden. Zwar ist hierbei der gesamte Aufsichtsrat gefordert, in der Praxis ist diese Erklärung jedoch eine besondere Herausforderung für den Aufsichtsratsvorsitzenden, da die heterogene Zusammensetzung des Gremiums nicht sicherstellen kann, dass jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied sämtliche 72 Soll-Vorschriften neben den gesetzlichen Muss-Vorschriften auf ihre Umsetzung hin überschauen und verifizieren kann. Dieses Problem wird noch dadurch verschärft, dass nach dem Willen des Gesetzes Vorstand und Aufsichtsrat (gemeinsam, aber in getrennten Beschlüssen) die Erklärung abzugeben haben. Für den Aufsichtsrat bedeutet dies, dass er nicht nur die Vorschriften zu Ziff. 5 „Aufsichtsrat“ zu bestätigen hat, sondern alle übrigen ebenfalls, also auch die Ziffern: 2. 3. 4. 6. 7.
Aktionäre und Hauptversammlung Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat Vorstand Transparenz Rechnungslegung und Abschlussprüfung
Im Hinblick auf die Verhaltensempfehlungen, die sich an den Vorstand richten, wird sich der Aufsichtsrat auf die Entsprechenserklärung des Vorstands verlassen müssen, es sei denn, ihm liegen gegenteilige Erkenntnisse vor. Nur dann, wenn Vorstand und Aufsichtsrat unterschiedlicher Meinung sind, kann eine getrennte Entsprechenserklärung abgegeben werden, was in der Praxis tunlichst vermieden wird. Das Ziel jeder börsennotierten Gesellschaft wird sein, möglichst eine positive, uneingeschränkte Erklärung abzugeben. Abweichungen vom DCGKodex müssen konkret genannt und nach Ziff. 3.10 im „Geschäftsbericht“ erläutert werden, was auf eine Begründung hinausläuft. Letzteres ist allerdings nach § 161 AktG nicht gefordert. Bei Nichtbegründung der Abweichungen liegt allerdings eine Abweichung von Ziff. 3.10 DCG-Kodex vor. Die jüngsten Erfahrungen zeigen, dass die 30 DAX-Gesellschaften bis auf wenige Ausnahmen (Individualisierung der Angabe der Vorstandsbezüge (17) und Aufsichtsratsbezüge (11) erfolgsabhängige Aufsichtsratsvergütung (4), Selbstbehalt bei Abschluss einer D&O-Versicherung (8), Festlegung einer Altersgrenze für Aufsichtsratsmitglieder (3)) dem Kodex entsprechen33. Dies ist erstaunlich, da die zahlreichen Vorschriften teilweise sehr allgemein gefasst sind und detaillierte Umsetzungsregeln fehlen. Im Gegensatz zum Vorstand, der sich für die Sicherstellung der Umsetzung der internen Revision oder des Leiters des Risikomanagements bedienen kann, hat der Aufsichtsratsvorsitzende derartige Kontrolleure nicht zur Verfügung. Deshalb ist es
__________ 33 Oser/Orth/Wader, DB 2004, 1121 ff.
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wichtig, dass die Sitzungsprotokolle bezogen auf die Entsprechenserklärung Art der Tätigkeit, Begründung der Entscheidungen, Maßnahmen und Ergebnisse eingehend darstellen. Da sich die Entsprechenserklärung auf die Vergangenheit („wurde“), Gegenwart („wird“) und auch auf die Zukunft (dann muss es allerdings richtig heißen: „werden wird“) bezieht, sind die Kodex-Empfehlungen laufend auf Soll- und Ist-Umsetzung zu analysieren. Hierzu dient letztlich auch die Checkliste zur Effizienzprüfung (vgl. oben unter III. 5.). Dabei ist zu beachten, dass jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied der Entsprechenserklärung zustimmen muss. Enthaltungen oder Abwesenheit bei der Beschlussfassung sind unzulässig34. Im Konzernanhang hat der Vorstand nach § 314 Abs. 1 Nr. 8 HGB zu erklären, dass die Entsprechenserklärung abgegeben und den Aktionären zugänglich gemacht worden ist. Dies unterliegt insoweit auch der Prüfung durch den Abschlussprüfer. Eine explizite Prüfung der Richtigkeit der Erklärung hat er nicht durchzuführen35. Ihm obliegt jedoch eine Pflicht zur Berichterstattung, soweit er bei seiner Prüfung Unrichtigkeiten feststellt36. Insofern wird der Aufsichtsratsvorsitzende den Abschlussprüfer im Rahmen der Besprechung über die Prüfung des Jahresabschlusses auf dieses Thema ansprechen. Möglich ist auch, ihn mit einem Sonderauftrag zu betrauen, wobei zu beachten ist, dass einige Kodex-Empfehlungen sich einer Prüfung im klassischen Sinne entziehen, da die Festlegung eines „Sollmaßstabs“, an dem eine Prüfung auszurichten ist, nicht möglich ist.
IV. Haftung des Aufsichtsrats Verschärfte Corporate Governance-Vorschriften führen konsequenterweise zu einer strengeren Haftung der Organe. Zwar waren die Haftungs- und Strafvorschriften schon bisher im Aktiengesetz (§§ 93, 116, 117 bzw. 399–406 AktG) eingehend geregelt, doch sind die erhöhten Anforderungen durch den DCG-Kodex verbunden mit der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG dazu angetan, das Haftungspotential zu vergrößern37. Das TransPuG hat zudem in § 116 AktG die Aufsichtsratsmitglieder insbesondere zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen verpflichtet und in § 404 AktG die Freiheitsstrafen für Verletzungen der Geheimhaltungspflicht bei börsennotierten Gesellschaften von ein auf zwei Jahre erhöht. Hintergrund hierfür ist die vom Vorstand verstärkt eingeforder-
__________ 34 35 36 37
Vgl. Seibt, AG 2002, 253. Dörner, WPg. 2001, Sonderheft, S. 19. Orth/Wader in Pfitzer/Oser (Fn. 10), S. 280 ff. sowie IDW PS 345, Rz. 25. Kiethe, NZG 2003, 559 (567); Mutter/Gayk, ZIP 2003, 1773 ff.; bezweifelnd Ulmer, ZHR 166 (2002), 150 (166/167); Bezler/Dehlinger in Pfitzer/Oser (Fn. 10), S. 317 ff.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
te Informationspflicht. Der Vorstand muss sicher sein können, dass gegebene vertrauliche Informationen auch als solche behandelt werden. Da die Innenhaftung des Aufsichtsrats bisher praktisch kaum eine Rolle spielt38, beabsichtigt der Gesetzgeber eine Erleichterung des Klagezulassungsverfahrens für Aktionäre durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) einzuführen (§ 147a AktG-E). Gleichzeitig soll jedoch die in § 93 Abs. 1 AktG, der über § 116 AktG auch für Aufsichtsratsmitglieder gilt, definierte Sorgfaltspflicht relativiert werden. Die bisherige Definition, nach der die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden ist, wird um folgenden Satz erweitert: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“ Diese Regelung, die via § 116 Abs. 1 Satz 1 AktG auch für Aufsichtsratsmitglieder gilt, entspricht in etwa der US-amerikanischen Business Judgment Rule39, die sinngemäß auch der BGH angewendet hat40. Damit soll sichergestellt werden, dass unternehmerische Fehlentscheidungen, die ohne grobe Fahrlässigkeit zustande kommen, in den haftungsfreien Bereich des unternehmerischen Ermessens fallen41. Da die Aufsichtsratstätigkeit verstärkt auf beratende Leistungen (zustimmungspflichtige Rechtsgeschäfte) ausgerichtet ist, stimmt der Aufsichtsrat vermehrt unternehmerischen Entscheidungen zu bzw. lehnt sie gegebenenfalls ab. Um sich bei Entscheidungen, die sich nachträglich als Fehlentscheidungen herausstellen, exkulpieren zu können, muss der Aufsichtsrat um ausreichend fundierte Informationen bemüht sein (Holschuld), damit er sich eine eigene, wohl abgewogene Meinung bilden kann. Deshalb hat der Aufsichtsratsvorsitzende darauf zu achten, dass die Entscheidungsfindung und die Gründe hierfür im Protokoll ausreichend festgehalten werden. Die gelegentlich noch anzutreffenden „Beschlussprotokolle“ gehören deshalb der Vergangenheit an. Grundsätzlich haftet der Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit. Die vom Gesetz, dem DCG-Kodex oder der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern oder Ausschüssen aufgegebenen besonderen Pflichten sind allerdings individuell zu berücksichtigen42. Einzelne Aufsichtsratsmitglieder können sich ansonsten nur exkulpieren, wenn sie einem Mehrheitsbeschluss ausdrücklich widersprechen, was entsprechend nachgewiesen werden muss43. Eine bloße Stimmenthaltung dürfte nicht ausreichen44.
__________ 38 39 40 41 42 43 44
Baums (Fn. 4), Rz. 71 f. Thümmel, DB 2004, 471 ff., Kock, NZG 2004, 441 ff. BGHZ 135, 244 (253 f.) = DB 1997, 1068; Kinzel, DB 2004, 1653 f. Ulmer, DB 2004, 859; Kuthe, BB 2004, 449 f. Thümmel, AG 2004, 83 (86). Kock (Fn. 39), S. 447 f. Vetter, FAZ 14.4.2004, Nr. 87, S. 23.
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Dietrich Dörner
Das von der Bundesregierung angekündigte Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) wird eine Außenhaftung von Organmitgliedern für vorsätzliche oder grob fahrlässige Fehlinformationen gegenüber dem Kapitalmarkt einführen. Um vorstehende Haftung für die Organmitglieder materiell abzufangen, schließen die Gesellschaften vermehrt sog. Director’s and Officer’s Liability Insurances (D&O-Versicherungen) ab45. Die Prämien hierfür sind, auch nach Auffassung der Finanzverwaltung, beim Unternehmen steuerlich abzugsfähige Betriebsausgaben. Nach Ziff. 3.8 des DCG-Kodex soll bei Abschluss einer D&O-Versicherung für die Organmitglieder ein angemessener Selbstbehalt vereinbart werden. Auch die EU-Kommission und der deutsche Gesetzgeber überlegen eine derartige Selbstbehaltregelung. Zumindest für den Aufsichtsrat ist eine für alle Beteiligten angemessene Höhe kaum objektiv darzustellen. In Relation zur Vergütung können die derzeit laufend steigenden Prämien keine adäquate Versicherungssumme abdecken46. Andererseits fördert der Selbstbehalt das Risikobewusstsein der Aufsichtsratsmitglieder.
V. Vergütung des Aufsichtsratsvorsitzenden Nach § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG soll die Vergütung in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und zur Lage der Gesellschaft stehen. Ziff. 5.4.5 DCG-Kodex empfiehlt, neben einer festen eine erfolgsorientierte Vergütung zu gewähren. Letztere sollte auch auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogene Bestandteile enthalten. Bei der Vergütungsfestsetzung soll der Vorsitz, der stellvertretende Vorsitz sowie der Vorsitz und die Mitgliedschaft in den Ausschüssen berücksichtigt werden. Nach einer Datenerhebung der F.A.Z.47 betrugen die Durchschnittsbezüge pro Aufsichtsratsmitglied der 19 DAX-Unternehmen mit 20 Aufsichtsratsmitgliedern für das Jahr 2002 rund 67 000,– Euro, bei einer Spreizung von 30 000,– Euro bis 130 000,– Euro. Das einfache Mitglied erhielt bei 17 DAXUnternehmen, die hierüber Angaben machten, durchschnittlich 49 000,– Euro, bei einer Spreizung von 15 000,– Euro bis 101 000,– Euro. Zunächst fällt auf, dass bei den DAX-Unternehmen die Spreizung außerordentlich groß ist. Dies ist unverständlich, da davon auszugehen ist, dass die Aufgabenstellung, der Verantwortungsumfang, die zeitliche Inanspruchnahme und die erforderliche Kompetenz in diesen Fällen nicht derart gravierend auseinander fallen. Bei annähernd gleichem Pflichtenumfang müssten die Ver-
__________
45 Schüppen/Sanna, ZIP 2002, 550 ff. 46 Pfitzer/Orth in Pfitzer/Oser (Fn. 10), S. 86. 47 F.A.Z.-Tabelle: Janusch-Quelle: Unternehmensangaben und eigene Berechnungen,
abrufbar unter www.faz.net.
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gütungen nahe beieinander liegen, da die Leistungen der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder gesetzes- und kodexkonform zu erbringen und insofern keine signifikanten Vergütungsunterschiede zu vertreten sind. Selbst wenn man vorstehende Vergütungen nach der auch heute noch üblichen Regelung bewertet, nach der der Vorsitzende das Doppelte und der stellvertretende Vorsitzende das Anderthalbfache eines einfachen Aufsichtsratsmitglieds erhält, ergibt sich auch hier ein völlig heterogenes Bild: Das Doppelte des Durchschnittswerts für ein einfaches Mitglied wären rund 98 000,– Euro; die Division der Gesamtvergütung des Aufsichtsrats (20 · 67 000) dividiert durch 21,5 ergibt rund 125 000,– Euro für den Vorsitzenden. Damit ist gezeigt, dass der Vorsitzende für 2002 in Einzelfällen mehr als das Doppelte des einfachen Aufsichtsratsmitglieds erhielt. Dies ist aufgrund der erheblichen Mehrbelastung des Vorsitzenden auch gerechtfertigt. Allein die zeitliche Inanspruchnahme beträgt ein Vielfaches des Zeitaufwands eines einfachen Aufsichtsratsmitglieds. Das 3- bis 5fache ist realistisch48. Die Forderung des Kodex (Soll-Vorschrift) nach einer erfolgsorientierten Vergütung hat ihren Hintergrund in der Beratungstätigkeit des Aufsichtsrats, die neben der Überwachung stärker als bisher betont wird. Ziel ist, eine leistungs- und erfolgsorientierte Bezahlung festzulegen, die Anreizwirkungen erzeugt49. Die in der Vergangenheit häufig anzutreffende Bindung an die Dividende (§ 113 Abs. 3 AktG) wird mehr und mehr ersetzt durch eine Bindung an betriebswirtschaftliche Erfolgsgrößen des Konzerns (EBIT, Gewinn pro Aktie, Cashflow u. a.). Eine Übergewichtung der erfolgsabhängigen Vergütung ist allerdings dann kritisch zu sehen, wenn der Aufsichtsrat z. B. im Zuge der Feststellung des Jahresabschlusses Einfluss nehmen kann auf die Bemessungsgrundlage. Zudem ist in ertragsschwachen Zeiten das Engagement des Aufsichtsrats mehr gefordert als in ertragsstarken Jahren. Wird der Aufsichtsrat eher als Kontrollorgan gesehen, ist die Festvergütung einschließlich Sitzungsgeld die adäquate Vergütungsform. Die Anregung des Kodex, die erfolgsorientierte Vergütung um Komponenten bezogen auf den langfristigen Unternehmenserfolg zu erweitern, hat der BGH mit Urteil vom 16.2.2004 für die Gewährung von Aktienoptionen abgelehnt50. Die Gründe hierfür sieht der BGH in der Gesetzessystematik51. Die Problematik der Stock Options52 ist schon als Vergütungsbestandteil für den Vorstand gravierend, für den Aufsichtsrat gilt dies umso mehr, als er damit in eine Konkurrenzsituation zur Geschäftsführung kommt und dem Eigeninteresse unterliegt.
__________ 48 Vgl. auch Bremeier/Mülder/Schilling, Praxis der Aufsichtsratstätigkeit, 1994, 49 50 51 52
S. 100/101. Fallgatter, DBW 2003, 703 ff. BGH v. 16.2.2004 – II ZR 316/02, BB 2004, 621 ff. Zur Kritik vgl. Richter, BB 2004, 949 ff. Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder (Fn 22), Rz. 746.
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Dietrich Dörner
Wurde früher die Aufsichtsratstätigkeit eher als Ehrenamt angesehen (nach § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG kann den Aufsichtsratsmitgliedern eine Vergütung gewährt werden), so sind inzwischen die Anforderung an den Aufsichtsrat sprunghaft gestiegen, bis hin zu einem Berufsaufsichtsrat, was zur adäquaten Vergütung führen muss. So sind in jüngster Zeit durch Satzungsänderungen bzw. Hauptversammlungsbeschlüsse die Aufsichtsratstantiemen kräftig angehoben worden, so dass bereits Fragen nach deren Begrenzung diskutiert werden53. Da es für Aufsichtsräte und deren Vergütung keinen funktionsfähigen Markt gibt, was die starke Spreizung der Vergütung erklären könnte, muss es dem Einzelfall überlassen werden, wie in diesem Punkt der DCGKodex umgesetzt wird. Gesetzliche Vorgaben sind nicht zielführend. Eine Differenzierung in Abhängigkeit der Größe, der wirtschaftlichen Lage und des Erfolgs des Unternehmens sowie der Funktion und Inanspruchnahme des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds ist geboten54. Im Übrigen ist die Transparenz in Form der Angabe im Anhang durchaus geeignet, den Aufsichtsrat leistungsorientiert zu honorieren. Meines Erachtens genügt dazu die Gesamtangabe der Aufsichtsratsbezüge; einer Individualisierung bedarf es im Gegensatz zu Ziff. 5.4.5 Abs. 3 des DCG-Kodex nicht, zumal die Arbeitnehmervertreter einen Teil ihrer Bezüge an die Hans-Böckler-Stiftung oder ähnliche gewerkschaftsnahe Institutionen abführen müssen. Nach einer Studie der Personalberatung Mülder & Partner GmbH aus dem Jahr 199455 beträgt der Soll-Zeitaufwand des Aufsichtsratsvorsitzenden für Sitzungen, Vorbereitung, Ausschüsse, Kontakte zu Vorstand und Umfeld sowie Hauptversammlungen: bei 4 Sitzungen bei 6 Sitzungen bei krisenhafter Situation
56–64 Tage 62–70 Tage 102 Tage
Multipliziert man diesen jeweiligen Zeitaufwand mit dem Tagessatz eines Senior-Unternehmensberaters, kann die Vergütung des Aufsichtsratsvorsitzenden verifiziert werden. Da vorstehende Erhebung bereits 10 Jahre alt ist, können die erhöhten Anforderungen des Kodex noch nicht enthalten sein. Es handelt sich insoweit um eine Untergrenze.
__________ 53 Lutter, ZIP 2003, 753 ff.; Europäische Kommission: Förderung einer geeigneten Re-
gelung für die Vergütung von Direktoren, Konsultationspapier der Dienststellen des Generaldirektoren Binnenmarkts vom 23.2.2004. 54 Deutsches Aktieninstitut: Aufsichtsratsvergütung bei deutschen börsennotierten Unternehmen, Heft 20, 2003, 82 ff. 55 Bremeier/Mülder/Schilling, Praxis der Aufsichtsratstätigkeit in Deutschland – Chancen zur Professionalisierung, 1994, S. 102.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende im Lichte verschärfter Corporate Governance
VI. Schlussbemerkung Der Aufsichtsratsvorsitzende ist zwar nicht Vorgesetzter seiner Kollegen im Aufsichtsrat, er hat jedoch eine beachtliche Machtfülle. Zur Bewältigung der verschärften gesetzlichen Vorschriften, zur Umsetzung der Empfehlungen und Anregungen des DCG-Kodex und zur Vorbereitung auf die im Jahr 2005 wirksam gewordenen Gesetzesvorhaben benötigt er diese umfassenden Kompetenzen. Zwar lässt die Fülle neuer Vorschriften zur Corporate Governance weitgehend die versprochene Deregulierung56 vermissen, doch müssen die handelnden Organe der kapitalmarktorientierten Unternehmen sich sagen lassen, dass sie fremdes Geld verwalten. Der Schutz der Kapitalanleger ist Voraussetzung für das Vertrauen in den deutschen Kapitalmarkt, der die Finanzierung des dringend benötigten Wachstums sichert.
__________ 56 Baums/Stöcker in Dörner/Menold/Pfitzer/Oser (Fn. 16), S. 7; Ulmer, ZHR 166 (2002),
150 (166 f.); Spindler, AG 1998, 53 ff.
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Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers und ihre Auswirkungen auf die Abschlussprüfung und den testierten Jahresabschluss Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Nichtigkeit des Wahlbeschlusses der Hauptversammlung III. Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses 1. Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG a) Wirksame Bestellung des Abschlussprüfers als Voraussetzung für die wirksame Erteilung des Bestätigungsvermerks b) Erteilung eines unwirksamen Bestätigungsvermerks als Nichtigkeitsgrund 2. Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG
3. Heilung der Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 6 AktG 4. Ergebnis IV. Pflicht zur nochmaligen Abschlussprüfung? V. Auswirkungen auf den Prüfungsvertrag 1. Korporationsrechtliche und schuldrechtliche Ebene 2. Gesetzliches Verbot a) § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB b) Berufsrecht 3. Verstoß gegen die guten Sitten 4. Rechtsfolgen a) Prüfungshonorar b) Wertersatz VI. Ausblick
I. Einleitung Wirtschaftsprüfer geraten immer mehr in das Blickfeld der Juristen. In den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging es in Wissenschaft und Praxis vor allem um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Wirtschaftsprüfer für Vermögensschäden haften, die sie im Zusammenhang mit einer Jahresabschlussprüfung oder bei der Wahrnehmung anderer beruflicher Aufgaben (§ 2 WPO) schuldhaft verursacht haben. Besondere Aufmerksamkeit erlangte hierbei die sog. Dritthaftung des Wirtschaftsprüfers, also die zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Prüfers gegenüber Personen (z. B. Anlegern, Anlageinteressenten oder Kreditgebern), welche – ohne mit dem Wirtschaftsprüfer in vertraglichen Beziehungen zu stehen – im Vertrauen auf einen testierten Jahresabschluss oder ein anderes Dienstleistungsprodukt des Wirtschaftsprüfers vermögenswirksame Entscheidungen getroffen und einen Vermögensschaden erlitten haben, weil sich der testierte Abschluss bzw. das Dienstleistungsprodukt als fehlerhaft erwies1.
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S. dazu etwa Ebke, Wirtschaftsprüfer und Dritthaftung, 1983; ders., Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit der wirtschaftsprüfenden, steuer- und rechtsberatenden
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Werner F. Ebke
Rechnungslegungsskandale im In- und Ausland (wie Enron, Parmalat, FlowTex, Balsam/Procedo, WorldCom und Bremer Vulkan) haben in den letzten Jahren den juristischen Fokus erweitert. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen seither die Rolle und Stellung des gesetzlichen Abschlussprüfers in der Corporate Governance2. In diesem Zusammenhang befinden sich auch die Regeln über die Unabhängigkeit des Jahresabschlussprüfers auf dem Prüfstand3. Die Jahresabschlussprüfung ist ein tragender Pfeiler der internen Corporate Governance4. Darüber hinaus ist die Prüfung von Jahresabschlüssen neben der Rechnungslegung und der Publizität eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren von Finanz- und Kapitalmärkten, die ihrerseits für die externe Corporate Governance eine immer größere Rolle spielen (market for corporate control)5. Abschlussprüfer können die weit reichenden und verantwortungsvollen Aufgaben letztlich nur wahrnehmen, wenn sie von ihren Mandanten unabhängig sind. Unabhängigkeit nach dem äußeren Erscheinungsbild (independence in appearance) und in der Sache selbst (independence in fact) ist Voraussetzung dafür, dass Abschlussprüfer ihrer „öffentlichen“ Aufgabe als gatekeeper6 bzw. watchdog7 nachkommen können8. Der deutsche Ge-
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Berufe im internationalen Vergleich, 1996; ders., ZVglRWiss 1000 (2001), 62; Flühmann, Haftung aus Prüfung und Berichterstattung gegenüber Dritten, 2004; Hirte, Berufshaftung, 1996, S. 57–71; Kleekämper/König in Dörner/Menold/Pfitzer/ Oser (Hrsg.), Reform des Aktienrechts, der Rechnungslegung und der Prüfung, 2. Aufl. 2003, S. 957; Koziol/Doralt, Abschlussprüfer: Haftung und Versicherung, 2004; Land, Wirtschaftsprüferhaftung gegenüber Dritten in Deutschland, England und Frankreich, 1996; Schönenberger, Haftung für Rat und Auskunft gegenüber Dritten, 1999; Pohl, WPg. 2004, 460; Stahl, Zur Dritthaftung von Rechtsanwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen, 1989. Mößle, Abschlussprüfer und Corporate Governance, 2003; Institut der Wirtschaftsprüfer, Wirtschaftsprüfung und Corporate Governance, 2002; Klein/Schaum/ Tielmann, WPg. 2003, 1100; Breuer, WPg. Sonderheft 2003, 115; Ebke, 79 Nw.U.L.Rev. 663 (671–680) (1984). S. nur Ebke in Ferrarini/Hopt/Winter/Wymeersch (Hrsg.), Reforming Company and Takeover Law in Europe, 2004, S. 507; Demme, Die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers nach deutschem, US-amerikanischem und internationalem Recht, 2003. Ebke (Fn. 3), S. 508 m. w. N. Zur Unterscheidung zwischen interner und externer Corporate Governance s. schon Großfeld/Ebke, 26 Am.J.Comp.L. 397 (1978); dies., AG 1977, 57 (Teil I) und 92 (Teil II). Ebke, WPK-Mitt. Sonderheft Juni 1997, 12; ders. in FS Buxbaum, 2000, S. 113. Coffee in Ferrarini/Hopt/Winter/Wymeersch (Fn. 3), S. 455; ders. in Rapoport/ Dharan (Hrsg.), Enron: Corporate Fiascos and Their Implications, 2004, S. 125. Vgl. United States v. Arthur Young & Co., 465 U.S. 805 (1984) („public watchdog“). Ebke in Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, 2003, S. 172 (181–183). Zur sog. „öffentlichen Funktion“ des Abschlussprüfers s. zuletzt Ebke, Die Arbeitspapiere des Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters im Zivilprozess, 2002, S. 39–40 m. w. N. Vgl. BayObLGZ 2002, 364 (365); OLG Brandenburg, GmbHR 2001, 865 (866).
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Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers
setzgeber hat die Unabhängigkeit des gesetzlichen Abschlussprüfers in den §§ 318 und 319 HGB geregelt9. Ihre Neuregelung steht bevor10. Die neuen Bestimmungen über die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer in Deutschland sind von den Empfehlungen der Europäischen Union sowie durch rechtsvergleichende Erfahrungen (namentlich mit den Vorschriften des am 30.7.2002 von US-Präsident George W. Bush unterzeichneten Sarbanes-Oxley Act) maßgeblich geprägt11. Angesichts der sich international verschärfenden Anforderungen an die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers ist es nicht verwunderlich, dass die Vorschriften über die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in Deutschland in den vergangenen Jahren immer häufiger die Gerichte beschäftigt haben. Der II. Zivilsenat des BGH, dessen Vorsitzender der Jubilar ist, hat sich in zwei grundlegenden Entscheidungen zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers geäußert. Im Falle Allweiler ging es um die schwierige Frage der Vereinbarkeit von Abschlussprüfung und Beratung in steuerlichen Angelegenheiten ein und desselben Mandanten (§ 319 Abs. 3 Nr. 4‚ Abs. 2 Nr. 5 HGB)12. Im Falle der HypoVereinsbank (folgend: HVB) war die Besorgnis der Befangenheit (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB) des gewählten Abschlussprüfers einer der zentralen Streitpunkte13. Im Mittelpunkt der jüngsten Entscheidung des BGH zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers (K. of America, Inc.) stand die Auslegung und Anwendung des § 319 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 HGB und die Frage, ob ein Verstoß gegen § 49 2. Var. WPO gemäß § 134 BGB zur Nichtigkeit des Prüfungsvertrages führt14. Deutsche Instanzgerichte
__________ 9 Zu den berufsrechtlichen Grundsätzen der Unabhängigkeit s. unten bei Fn. 80–88. 10 Der Entwurf eines „Gesetzes zur Einführung internationaler Rechnungslegungs-
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standards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG)“ (BR-Drucks. 326/04) sieht zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung insbesondere eine Stärkung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers vor (s. §§ 319, 319a HGB-E). Zu Einzelheiten s. nur Knorr/Hülsmann, NZG 2003, 567; Marx, ZGR 2002, 292; Peemöller/Oehler, BB 2004, 539; Pfitzer/ Orth/Hettich, DStR 2004, 328; Veltins, DB 2004, 445 sowie die Stellungnahme des Arbeitskreises Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2004, 546. Zu den europäischen und US-amerikanischen Unabhängigkeitsregeln s. zuletzt Ebke (Fn. 3), S. 517–536. Zum Hintergrund s. Niehues, WPK-Mitt. 2002, 182; Peemöller/Oberste-Padtberg, DStR 2001, 1813; S. Schmidt, BB 2003, 779; Schwandtner, DStR 2002, 323. BGHZ 135, 260. Zu Einzelheiten dieser Entscheidung s. Ebke, WPK-Mitt. 1998, 76; Heni, DStR 1997, 1210; Hommelhoff, ZGR 1997, 550; Lanfermann in FS Sieben, 1998, S. 425; Löcke, GmbHR 1997, 1052; Neumann, ZIP 1998, 1338; Schüppen, WiB 1997, 861; Thiele, DB 1997, 1396. BGHZ 153, 32. Zu Einzelheiten dieser Entscheidung s. Habersack, NZG 2003, 659; Kiethe, NZG 2003, 937; W. Müller, WPg. 2003, 741; Schüppen, WPg. 2003, 750; Gelhausen/Kuss, NZG 2003, 424. BGH, WM 2004, 1491.
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haben sich ebenfalls immer häufiger mit der Unabhängigkeitsfrage zu befassen15. Volker Röhricht, dem der nachfolgende Beitrag gewidmet ist, hat sich mit zwei wegweisenden Veröffentlichungen in die wissenschaftliche Diskussion über die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers eingeschaltet. Auf der 39. Arbeitstagung des IDW in Baden-Baden 1998 hat er im Wege einer „vorsichtigen inhaltlichen Ergänzung“ des Kriteriums der „funktionalen Entscheidungszuständigkeit“ den Kreis der zulässigen Beratungsleistungen abgesteckt und damit die Aussagen des II. Zivilsenats im Allweiler-Urteil konkretisiert16. Im September 2001 hat der Jubilar anlässlich des IDW-Symposions „Reformbedarf der deutschen Corporate Governance im globalen Wettbewerb“ ein Referat zum Thema „Unabhängigkeit des Abschlussprüfers“ gehalten17. Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit der Entscheidung des II. Zivilsenats im Falle HVB. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, welche Folgen die Bestellung eines wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB) inhabilen Abschlussprüfers für den von ihm geprüften und testierten Jahresabschluss hat, insbesondere ob der geprüfte und testierte Jahresabschluss nichtig ist, ob er von einem anderen Abschlussprüfer nochmals zu prüfen ist und ob er anschließend von der Hauptversammlung der geprüften Gesellschaft erneut festgestellt werden muss18. Erörtert wird außerdem die Frage, ob die geprüfte Gesellschaft einen Anspruch gegen den befangenen Abschlussprüfer auf Rückzahlung des für die Prüfung des Jahresabschlusses gezahlten Prüfungshonorars hat. Die nachfolgende Untersuchung ist zugleich ein Beitrag zu der jetzt auch in Deutschland in Gang kommenden Diskussion über die Instrumente zur Sicherung ordnungsmäßiger Rechnungslegung, Abschlussprüfung und Publizität19.
__________ 15 S. nur BayObLGZ 2002, 364; OLG Brandenburg, GmbHR 2001, 865; OLG Frank-
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furt, ZInsO 2004, 95; OLG Hamm, NZG 1999, 1213; OLG Köln, NJW-RR 2000, 844; OLG Stuttgart, ZIP 2003, 2363. Röhricht, WPg. 1998, 153. Röhricht, WPg. Sonderheft 2001, 80. Zu der Frage, ob ein Wirtschaftsprüfer, bei dem im Zeitpunkt der Wahl zum Abschlussprüfer für ein bestimmtes Geschäftsjahr die Besorgnis der Befangenheit bestand (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB), von der Prüfung der Jahresabschlüsse der geprüften Gesellschaft in späteren Geschäftsjahren automatisch ausgeschlossen ist, s. Ebke in FS Immenga, 2004, S. 517 (531–534) („Einmal befangen, immer befangen?“). S. ferner LG Köln, WM 1997, 920 (921) (KHD). S. dazu zuletzt Ebke (Fn. 18), S. 536–538; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383 (399– 411); Hommelhoff, WPg. Sonderheft 2001, 39; van Hulle, WPg. Sonderheft 2001, 30; W. Müller, ZHR 168 (2004), 414; Baetge, ZHR 168 (2004), 428; Kragler, Wirtschaftsprüfung und externe Qualitätskontrolle, 2003.
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Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers
II. Nichtigkeit des Wahlbeschlusses der Hauptversammlung Die Fakten des Falles, die der HVB-Entscheidung des II. Zivilsenats zugrunde lagen, sind schnell berichtet20: Die Hauptversammlung der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG hatte am 6.5.1999 beschlossen, die KPMG Deutsche Treuhand-Gesellschaft Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zum Abschlussprüfer für das Geschäftsjahr 1999 zu bestellen. Gegen den Beschluss der Hauptversammlung hatten Aktionärinnen der HVB am 6.6.1999 vor dem LG München I Anfechtungsklage erhoben. Die Kammer hatte die Klage als unstatthaft abgewiesen, soweit Befangenheitsgründe gegen den bestellten Abschlussprüfer geltend gemacht worden waren21. Zur Begründung hatte das Gericht angeführt, die Besorgnis der Befangenheit gemäß § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB könne ausschließlich mit Hilfe des Antragsverfahrens nach § 318 Abs. 3 HGB geltend gemacht werden; eine Anfechtungsklage sei daneben ausgeschlossen22. Das OLG München als Berufungsinstanz hatte dagegen die Ansicht vertreten, dass das Verfahren nach § 318 Abs. 3 HGB „keine Sperrwirkung für eine aktienrechtliche Kassationsklage entfaltet“23. Das Gericht hielt die Klage aber für unbegründet: Die Tatsache, dass die zum Abschlussprüfer bestellte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft „das Verschmelzungsgutachten erstellt habe, auf dem die Fusion der H. Bank mit der V. Bank beruht habe“, stelle keinen Ausschlussgrund nach § 319 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 5 HGB dar; mögliche Befangenheitsgründe (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB) seien nachträglich entfallen. Der II. Zivilsenat des BGH gab dagegen mit Urteil vom 25.11.2002 der Anfechtungsklage statt und erklärte den Beschluss der Hauptversammlung für nichtig24. Der Senat geht in seinem Urteil davon aus, dass kein „absoluter“ Ausschlussgrund gemäß § 319 Abs. 2 und 3 HGB vorlag, wohl aber ein „relativer“ Aus-
__________
20 Zum Hintergrund des HVB-Falles s. Hoffmann, DB 2000, 485. Der Autor dieses
Beitrags war im HVB-Fall als Parteigutachter tätig. S. BGHZ 153, 32 (45). 21 LG München I, ZIP 1999, 2152. 22 In diesem Sinne LG München I, AG 2000, 235 (236); LG Köln, WM 1997, 920
(KHD) zust. Wittkowski, WuB II A § 243 AktG 1.97; Ebke in MünchKomm.HGB, Bd. 3, 2001, § 318 Rz. 52 ff. m. w. N.; ders., BB 1999, 2515. Grundlegend zum Verhältnis des Ersetzungsverfahrens gemäß § 318 Abs. 3 HGB zur aktienrechtlichen Anfechtungsklage und zur Nichtigkeitsfeststellungsklage Ebke/Jurisch, AG 2000, 208. 23 OLG München, DB 2001, 258. 24 BGHZ 153, 32. Nach Ansicht der Bundesregierung stellt das von dem II. Zivilsenat angenommene Nebeneinander von Anfechtungsklage und Ersetzungsverfahren „keine optimale Konstellation dar, um die durch eine mögliche Befangenheit des Abschussprüfers aufgeworfene Gemengelage problemadäquat zu lösen“. S. Ebke (Fn. 18), S. 523 Fn. 38 (dort auch zu dem Vorschlag der Bundesregierung im BilReG [Fn. 10] zur Lösung der Gemengelage). Die historische Entwicklung und die Zielsetzung des § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB sowie die Systematik der Rechtsbehelfe sprechen für eine Sperrwirkung des handelsrechtlichen Ersetzungsverfahrens gegenüber der aktienrechtlichen Anfechtungsklage (§ 243 Abs. 1 AktG). S. Ebke/Jurisch, AG 2000, 208 (209–216).
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schlussgrund i. S. v. § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB gegeben war25. Bei Vorliegen eines relativen Ausschlussgrundes, namentlich bei Besorgnis der Befangenheit des gewählten Abschlussprüfers (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB), ist der Beschluss der Hauptversammlung über die Bestellung zum Abschlussprüfer nicht schon nichtig wegen Verletzung von Vorschriften, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutze der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind (§ 241 Nr. 3 AktG)26. Die Wahl eines Wirtschaftsprüfers zum Abschlussprüfer, bei dem die Besorgnis der Befangenheit besteht (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB), stellt „für sich allein betrachtet“27 auch keinen Verstoß gegen die guten Sitten dar (§ 241 Nr. 4 AktG), insbesondere dann nicht, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Wahl nicht aus niedrigen Beweggründen oder in der Absicht erfolgte, Minderheitsaktionäre, Gläubiger oder andere zu schädigen28. Der angefochtene Beschluss der Hauptversammlung über die Bestellung der KPMG zum Abschlussprüfer der HVB ist aber aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des II. Zivilsenats vom 25.11.2002 als von Anfang an nichtig anzusehen – und zwar mit Wirkung für und gegen alle Aktionäre sowie die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, auch wenn sie nicht Partei sind (§§ 241 Nr. 5, 248 Abs. 1 AktG)29.
III. Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses Damit stellt sich die Frage, ob die Feststellung des Jahresabschlusses der HVB für das Geschäftsjahr 1999 gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG wegen fehlender oder unvollständiger Abschlussprüfung oder gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG wegen Vornahme der Abschlussprüfung durch Personen, die nicht zum Abschlussprüfer bestellt sind oder nach § 319 Abs. 1 HGB nicht Abschlussprüfer sind, nichtig ist. Eine Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG wäre besonders schwerwiegend, weil bei fehlender oder unvollständiger Abschlussprüfung gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG – anders als im Falle der Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG – eine Heilung der Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses nach § 256 Abs. 6 AktG von vornherein ausgeschlossen ist. Aus der Tatsache, dass § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG in § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG nicht erwähnt ist, folgt nämlich, dass das Gesetz die fehlende oder unvollständige Abschlussprüfung zu den unheilbaren Nichtigkeitsgründen zählt30.
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25 Zur Terminologie s. BayObLGZ 1987, 297 (311). Zu Inhalt und Bedeutung der abso-
luten und relativen Ausschlussgründe s. Ebke (Fn. 18), S. 521–522. 26 Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 34; Lutter in FS Semler, 1993, S. 835 (839). 27 Vgl. RG, JW 1934, 1492; RGZ 131, 141 (145); s. auch LG Hamburg, AG 1996, 233
(234). 28 Vgl. Ebke (Fn. 22), § 318 Rz. 26. 29 Zur umstrittenen Frage der Rückwirkung gegenüber Dritten s. Hüffer, AktG, 6. Aufl.
2004, § 248 Rz. 7. 30 Hüffer in MünchKomm.AktG, Bd. 7, 2. Aufl. 2001, § 256 Rz. 65.
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Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers
1. Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG Der festgestellte Jahresabschluss der HVB für das Geschäftsjahr 1999 wäre nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG nichtig, wenn er nicht nach § 316 Abs. 1 und 3 HGB geprüft worden wäre31. § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG erfasst sowohl den Fall, dass die von § 316 Abs. 1 HGB geforderte Abschlussprüfung überhaupt nicht stattgefunden hat (vgl. § 316 Abs. 1 Satz 2 HGB), als auch den Fall, dass die durchgeführte Abschlussprüfung den Mindestanforderungen an eine gesetzliche Abschlussprüfung nicht erfüllt32. Zu den Mindestanforderungen an eine gesetzliche Abschlussprüfung i. S. d. § 316 Abs. 1 HGB gehört es, dass (1) die Vorschriften über Gegenstand, Art und Umfang der Prüfung eingehalten werden, (2) der Prüfer über Art und Umfang sowie über das Ergebnis der Prüfung schriftlich und mit der gebotenen Klarheit berichtet und die sonstigen Prüfungsberichtspflichten gemäß § 321 HGB beachtet und (3) ein (uneingeschränkter oder eingeschränkter) Bestätigungsvermerk bzw. ein Vermerk über die Versagung erteilt wird (§ 322 HGB)33. Insbesondere der (uneingeschränkte oder eingeschränkte) Bestätigungsvermerk bzw. der Vermerk über die Versagung sind zu den unverzichtbaren Bestandteilen einer gesetzlichen Abschlussprüfung i. S. d. § 316 Abs. 1 HGB zu rechnen34. In dem hier in Rede stehenden Fall hatte die bestellte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zwar einen Bestätigungsvermerk i. S. d. § 322 HGB erteilt; die Erteilung des Bestätigungsvermerks könnte aber aufgrund der rückwirkenden Nichtigkeit des Bestellungsbeschlusses ebenfalls unwirksam sein. Dies unterstellt bliebe zu prüfen, ob die Erteilung eines unwirksamen Bestätigungsvermerks im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG dem Fehlen eines Bestätigungsvermerks gleichzustellen ist. a) Wirksame Bestellung des Abschlussprüfers als Voraussetzung für die wirksame Erteilung des Bestätigungsvermerks Die Durchführung einer gesetzlichen Abschlussprüfung setzt nach § 318 Abs. 1 und 2 HGB die wirksame Wahl eines Abschlussprüfers voraus35. Der
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31 § 316 Abs. 3 HGB („Nachtragsprüfung“) greift vorliegend ersichtlich nicht ein (vgl.
§ 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG). 32 Hüffer in MünchKomm.AktG, § 256 Rz. 19 und 20; s. auch Ebke in Münch-
Komm.HGB, § 316 Rz. 10 f. 33 Allgemeine Meinung; s. statt vieler Hüffer in MünchKomm.AktG, § 256 Rz. 20;
Gehringer, Abschlussprüfung, Gewissenhaftigkeit und Prüfungsstandards, 2002, S. 48 f. 34 OLG Brandenburg, GmbHR 2001, 865 (866) („unverzichtbar“); vgl. Hüffer, AktG, § 256 Rz. 12; Ebke in MünchKomm.HGB, § 322 Rz. 2. Die geprüfte Gesellschaft hat aus dem Prüfungsvertrag grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung des Bestätigungsvermerks, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung des Testats vorliegen: KG, AG 2001, 187 (188) (betr. die Pflicht des Prüfers zum Widerruf des Testats); Ebke in MünchKomm.HGB, § 322 Rz. 3. 35 Vgl. IDW PS 220.4. Zur rechtlichen Bedeutung der IDW Prüfungsstandards s. Ebke in MünchKomm.HGB, § 323 Rz. 26–27 m. w. N.
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Abschlussprüfer ist nicht gewählt, wenn das zuständige Wahlorgan der prüfungspflichtigen Gesellschaft (hier die Hauptversammlung, § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG) untätig geblieben ist, der Wahlbeschluss nichtig ist oder erfolgreich angefochten wurde. Wird die Abschlussprüfung durch eine nicht gewählte (bzw. nicht gerichtlich bestellte, § 318 Abs. 4 Satz 1 oder 2 HGB36) Person durchgeführt, sind die Voraussetzungen einer gesetzlichen Abschlussprüfung (§ 316 Abs. 1 HGB) nicht erfüllt. Ein wirksamer Bestätigungsvermerk i. S. d. § 322 HGB, in dem das Ergebnis der Prüfung zusammenzufassen ist und der neben einer Beschreibung von Gegenstand, Art und Umfang der Prüfung auch eine Beurteilung des Prüfungsergebnisses zu enthalten hat, kann in einem solchen Fall nicht erteilt werden37. Wird gleichwohl ein dem Bestätigungsvermerk nach § 322 HGB nachgebildeter Bestätigungsvermerk erteilt, kann es sich nur um einen Bestätigungsvermerk über das Ergebnis einer zusätzlichen freiwilligen Abschlussprüfung handeln, sofern die Prüfung nach Gegenstand, Art und Umfang einer gesetzlichen Abschlussprüfung entspricht38. Ist der Abschlussprüfer von der Hauptversammlung zwar gewählt, ist seine Wahl aber nach § 243 AktG angefochten worden, muss er die rechtskräftige Entscheidung des Gerichts über die Anfechtungsklage abwarten, bevor er einen Bestätigungsvermerk erteilt. Erst dann steht nämlich fest, ob er rechtswirksam bestellt und zur Erteilung eines Bestätigungsvermerks berechtigt ist. Würde der Bestätigungsvermerk schon vor der rechtskräftigen Entscheidung über die Anfechtungsklage erteilt, liefe der Prüfer Gefahr, dass nachträglich festgestellt wird, dass sein Bestätigungsvermerk nicht aufgrund einer gesetzlichen Prüfung (§ 316 Abs. 1 HGB) erteilt wurde39.
__________ 36 Zur Anfechtung der Bestellung eines Abschlussprüfers durch das Registergericht
s. OLG Köln, NJW-RR 2000, 844. 37 Zur Rolle des Bestätigungsvermerks als externes Publizitätsinstrument für die
Gesellschafter und „die interessierte Öffentlichkeit“ s. KG, AG 2001, 187 (188). S. ferner Ebke in MünchKomm.HGB, § 322 Rz. 1. 38 Vgl. Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 322 HGB Rz. 83; Ebke in MünchKomm.HGB, § 322 Rz. 8; vgl. IDW PS 400.5 (Bescheinigung). 39 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 38), § 322 HGB Rz. 85; Forster in FS Semler, 1993, S. 819 (820). In der Literatur wird für diesen Fall vorsorglich die Bestellung eines weiteren Abschlussprüfers analog § 318 Abs. 4 HGB vorgeschlagen: Lutter (Fn. 26), S. 849–852. Vgl. AG Wolfsburg, AG 1992, 205, wonach ein Antrag auf Bestellung eines zweiten Abschlussprüfers „in entsprechender Anwendung von § 318 Abs. 4 HGB“ bereits zulässig und begründet sein soll, wenn der Wahlbeschluss der Hauptversammlung gerichtlich angefochten wurde, eine rechtskräftige Entscheidung aber nicht kurzfristig zu erwarten ist, obgleich in dem entschiedenen Fall nach Ansicht des Gerichts weder für eine Kündigung aus wichtigem Grund (§ 318 Abs. 6 Satz 1, 2 HGB) noch für einen Widerruf des Prüfungsauftrags (§ 318 Abs. 1 Satz 5 HGB) tiefgreifende Gründe vorlagen. Eine spätere Aufhebung oder Abänderung des gerichtlichen Bestellungsbeschlusses bleibt entsprechend § 32 FGG ohne Einfluss auf die Wirksamkeit der Abschlussprüfung und des Bestätigungsvermerks: OLG Düsseldorf, ZIP 1996, 1040, (1041) (rkr.).
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Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers
b) Erteilung eines unwirksamen Bestätigungsvermerks als Nichtigkeitsgrund Dennoch erscheint problematisch, ob eine infolge Anfechtung des Bestellungsbeschlusses unwirksame Erteilung des Bestätigungsvermerks dem Fehlen eines Bestätigungsvermerks gleichsteht und sie deshalb einen – wegen § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG unheilbaren – Nichtigkeitsgrund i. S. d. § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG darstellt. Eine solche Gleichstellung wird in der Literatur – soweit ersichtlich – von niemandem vertreten. In einer Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 1996 wird ausgeführt, dass der Jahresabschluss einer prüfungspflichtigen GmbH analog § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG nichtig ist, wenn er ohne Prüfung festgestellt wird; das Gericht führt dann weiter aus, dass der Jahresabschluss „nach dieser Vorschrift“ auch nichtig ist, „wenn er von einer nicht (wirksam) zum Abschlussprüfer bestellten … Person geprüft worden ist, § 319 Abs. 1 HGB, Art. 25 EGHGB …“40. Der ausdrückliche Hinweis des OLG auf „§ 319 Abs. 1 HGB, Art. 25 EGHGB“ lässt den Schluss zu, dass es dabei die Nr. 3 des § 256 Abs. 1 AktG und nicht die Nr. 2 „dieser Vorschrift“ im Blick hatte. Die besseren Argumente sprechen in der Tat dafür, jedenfalls in denjenigen Fällen, in denen die unwirksame Erteilung des Bestätigungsvermerks auf einer rückwirkenden Nichtigkeitserklärung der Bestellung des Abschlussprüfers aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung beruht, keine Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG anzunehmen. Der Fall der Abschlussprüfung durch Personen, die nicht wirksam zum Abschlussprüfer bestellt sind, ist nämlich in § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG speziell geregelt. Die Nichtigkeit des Jahresabschlusses in den Fällen des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG ist im Gegensatz zu der Nichtigkeit in den Fällen des § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG heilbar (§ 256 Abs. 6 Satz 1 AktG). Wenn man den Fall einer rückwirkenden Unwirksamkeit der Bestellung des Abschlussprüfers unter § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG subsumieren würde, würde man für diesen Fall die Privilegierungswirkung des § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG zunichte machen und sich damit in Widerspruch zu den Wertungen des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG setzen, wonach die Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses, der durch Personen geprüft wurde, die überhaupt nicht zum Abschlussprüfer bestellt sind oder nach § 319 Abs. 1 HGB gar nicht zur Vornahme von Abschlussprüfungen zugelassen sind, unter den Voraussetzungen des § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG heilbar ist. § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG ist daher jedenfalls für den Fall der rückwirkenden Unwirksamkeit der Abschlussprüferbestellung aufgrund erfolgreicher Anfechtung lex specialis zu § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG41. Die insoweit vorrangige
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40 OLG Düsseldorf, ZIP 1996, 1040, (1041) (rkr.). 41 Zum Zusammentreffen mehrerer Rechtssätze (Normenkonkurrenz) s. allgemein
Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 88–89; Vogel, Juristische Methodik, 1998, S. 61 f.
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Norm des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG mit ihrer Privilegierung durch die Heilungsmöglichkeit in § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG darf durch den Rückgriff auf § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG nicht gegenstandslos gemacht und ihrem Zweck nach vereitelt werden, so dass auch im Falle HVB nicht von einer Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses für 1999 nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG auszugehen ist. 2. Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG Damit ist freilich noch nichts ausgesagt über eine Nichtigkeit nach § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG. Danach ist ein festgestellter Jahresabschluss im Falle einer gesetzlichen Abschlussprüfung nichtig, wenn die Prüfung von Personen vorgenommen wurde, die entweder überhaupt nicht zum Abschlussprüfer bestellt sind oder nach § 319 Abs. 1 HGB bzw. nach Art. 25 EGHGB zur Vornahme von Abschlussprüfungen nicht zugelassen sind. Voraussetzung für die Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses nach § 256 Abs. 1 Nr. 3 Var. 1 AktG ist, dass die Tätigkeit des Abschlussprüfers nicht durch einen Wahlbeschluss des zuständigen Gesellschaftsorgans (oder durch gerichtliche Entscheidung, § 318 Abs. 4 HGB) gedeckt ist. Der rückwirkende Wegfall des Wahlbeschlusses infolge eines rechtskräftigen Anfechtungsurteils erfüllt nach allgemeiner Meinung den Tatbestand des § 256 Abs. 1 Nr. 3 Var. 1 AktG, da der Jahresabschluss von einer Person geprüft wurde, die aufgrund der Rückwirkung des Anfechtungsurteils von Anfang an nicht als Abschlussprüfer angesehen werden kann42. Nach Ansicht einiger Autoren soll die Nichtigkeitsfolge des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG allerdings nicht eintreten, wenn das Gericht – wie im Falle HVB – die Nichtigkeit des Bestellungsbeschlusses allein auf die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB – relativer Ausschlussgrund) stützt43. Die einschränkende Auslegung des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG sei notwendig, um Wertungswidersprüche zu denjenigen Fällen zu vermeiden, in denen die Wahl des Abschlussprüfers unter Verstoß gegen § 319 Abs. 2 oder 3 HGB (absolute Ausschlussgründe) erfolgt ist44. Die Vertreter dieser Ansicht berufen sich auf die Rechtsprechung des BGH, nach der das Vorliegen eines absoluten Ausschlussgrundes gemäß § 319 Abs. 2 oder 3 HGB zwar zur Nichtigkeit des Beschlusses über die Wahl des Abschlussprüfers führt, den Bestand des festgestellten Jahresabschlusses aber unbe-
__________ 42 OLG Düsseldorf, ZIP 1996, 1040 (1041); Lutter (Fn. 26), S. 842; Hüffer, AktG, § 256
Rz. 29. 43 Vgl. Hüffer, AktG, § 256 Rz. 13 unter Hinweis auf Habersack, NZG 2003, 659
(665–666); Gelhausen/Kuss, NZG 2003, 424 (427). 44 Lutter (Fn. 26), S. 845; Hoffmann-Becking in MünchHdb.GesR, Bd. 4: AG, 2. Aufl.
1999, § 44 Rz. 3.
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Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers
rührt lässt45. Nach Ansicht des BGH ist der Jahresabschluss ungeachtet des nichtigen Wahlbeschlusses nicht wegen fehlender Abschlussprüferbestellung nach § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG nichtig, weil diese Vorschrift die Nichtigkeitsfolge in bewusster Abweichung von der vor In-Kraft-Treten des Bilanzrichtlinien-Gesetzes geltenden Fassung auf die Fälle der Verletzung des § 319 Abs. 1 HGB beschränken wollte46. Aus diesem Befund wird der Schluss gezogen, dass auch bei erfolgreicher Anfechtung des Wahlbeschlusses wegen Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers die Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses ausgeschlossen sein müsse. Wenn nämlich schon die „besonders schweren“ Verstöße gegen die absoluten Ausschlussgründe des § 319 Abs. 2 und 3 HGB nicht zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses führten, könne für die von § 319 Abs. 2 und 3 HGB nicht erfassten Fälle der Besorgnis der Befangenheit nichts anderes gelten47. Das HVB-Urteil des BGH liefert ein weiteres Argument für diese Ansicht, geht doch der II. Zivilsenat davon aus, dass die relativen (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB) und die absoluten (§ 319 Abs. 2 und 3 HGB) Ausschlussgründe auf einen einheitlichen Grundtatbestand („Inhabilität wegen Besorgnis der Befangenheit“) zurückzuführen sind, qualitativ gleichwertig sind und deshalb einheitlich mit der Anfechtungsklage durchgesetzt werden können48. Im Lichte der BGH-Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 319 Abs. 2 und 3 HGB in Verbindung mit der HVB-Entscheidung erscheint es gut vertretbar, bei erfolgreicher Anfechtung des Wahlbeschlusses wegen Besorgnis der Befangenheit des gewählten Abschlussprüfers die Anwendbarkeit des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG und damit die Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses zu verneinen. Eine höchstrichterliche Klärung steht aus.
__________ 45 S. Röhricht, WPg. 1998, 153 (155); Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbH-
Gesetz, 17. Aufl. 2000, § 41 Rz. 74 (m. w. N. zur Gegenansicht); WP-Handbuch 2000, Bd. 1, 12. Aufl. 2000, S. 67 Rz. 255; weitere Nachw. bei Ebke in MünchKomm.HGB, § 319 Rz. 8 Fn. 15. Kritisch Hense/Veltins in BeckBilKomm., 5. Aufl. 2003, § 319 HGB Rz. 62. 46 BGHZ 118, 142 und 149–150. 47 Hüffer, AktG, § 256 Rz. 13; Lutter (Fn. 26), S. 834 und 845; Hoffmann-Becking (Fn. 44), § 44 Rz. 3; Habersack, NZG 2003, 659 (665 f.). 48 BGHZ 153, 32 (37–44). Vgl. Röhricht, WPg.-Sonderheft 2001, 80 (81) (wonach die Bestimmungen des § 319 Abs. 2 und 3 HGB und des § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB „im Verhältnis von Spezialnorm zu Generalnorm“ stehen); ebenso Adler/Düring/ Schmaltz (Fn. 38), § 319 HGB Rz. 42 (die die Ansicht vertreten, dass die in § 319 Abs. 2 und 3 HGB geregelten Ausschlussgründe „Sonderfälle der Besorgnis der Befangenheit“ sind).
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3. Heilung der Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 6 AktG Würde man hiervon abweichend davon ausgehen, dass die erfolgreiche Anfechtung des Wahlbeschlusses vom 6.5.1999 einen Nichtigkeitsgrund i. S. d. § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG darstellt, stellt sich die Frage, ob die Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG geheilt wurde. Nach § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG tritt Heilung des in § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG genannten Nichtigkeitsgrundes ein, wenn seit der Bekanntmachung des festgestellten Jahresabschlusses nach § 325 Abs. 1 Satz 2 oder Abs. 2 Satz 1 HGB im Bundesanzeiger sechs Monate verstrichen sind. Die Heilung bleibt nach § 256 Abs. 6 Satz 2 AktG aus, wenn gegen den festgestellten Jahresabschluss vor Ablauf dieser Frist eine Nichtigkeitsfeststellungsklage nach §§ 256 Abs. 7, 249 AktG erhoben worden ist. Letzteres war im Falle HVB nicht gegeben 4. Ergebnis Zusammenfassend ist von der Wirksamkeit des festgestellten Jahresabschlusses der HVB trotz wirksamer Anfechtung des Bestellungsbeschlusses auszugehen. Damit steht zugleich fest, dass die Grundlage für die Gewinnverwendung ebenfalls nicht rückwirkend entfallen ist und die Aktionäre der HVB daher zur Rückgewähr der empfangenen Dividenden nicht verpflichtet sind49.
IV. Pflicht zur nochmaligen Abschlussprüfung? Es bleibt zu klären, ob wegen der Nichtigkeit des Prüferwahlbeschlusses infolge Anfechtung ein neuer Abschlussprüfer bestellt und die Abschlussprüfung für das Geschäftsjahr 1999 noch einmal durchgeführt werden muss. Eine Pflicht hierzu könnte sich aus § 318 Abs. 4 Satz 2 HGB ergeben. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht auf Antrag der gesetzlichen Vertreter, des Aufsichtsrats oder eines Gesellschafters einen Abschlussprüfer zu bestellen, wenn ein gewählter Abschlussprüfer „weggefallen“ ist. Die gesetzlichen Vertreter sind zur Stellung des Antrag verpflichtet. Ein nachträglicher „Wegfall“ des gewählten Abschlussprüfers ist nach dem wohl überwiegenden Schrifttum auch dann anzunehmen, wenn der Wahlbeschluss nichtig ist oder erfolgreich angefochten wurde50. Dafür spricht, dass nach § 318 Abs. 4 Satz 1 HGB eine Pflicht zur Beantragung einer gerichtlichen Bestellung eines Abschlussprüfers schon dann besteht, wenn bis zum Ablauf des Geschäfts-
__________ 49 Vgl. Lutter (Fn. 26), S. 842. 50 Hense/Veltins (Fn. 45), § 318 HGB Rz. 30 unter Hinweis auf Lutter (Fn. 26), S. 849;
Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 63; Zimmer in Ulmer, HGB-Bilanzrecht, 2. Teilbd., 2002, § 318 Rz. 71; Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 31. Aufl. 2003, § 318 Rz. 7; Wiedmann in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 318 HGB Rz. 22. Zustimmend OLG Frankfurt, ZInsO 2004, 95 (97).
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jahres überhaupt kein Abschlussprüfer gewählt wurde; dieselbe Pflicht muss gelten, wenn sich die Wahl des bestellten Abschlussprüfers aufgrund einer erfolgreichen Anfechtungsklage nachträglich als rückwirkend unwirksam erweist. Zu überlegen wäre allerdings, welchen Zweck die nochmalige Durchführung der Abschlussprüfung durch einen gerichtlich bestellten Abschlussprüfer überhaupt erfüllen könnte. Diese Frage stellt sich besonders nachdrücklich in den Fällen, in denen wegen Ablaufs der Frist für die Geltendmachung der Nichtigkeit der festgestellte Jahresabschluss mit der Nichtigkeitsklage nach §§ 256 Abs. 7, 249 AktG nicht mehr angegriffen werden kann. Das Problem, ob trotz Heilung der Nichtigkeit nach § 318 Abs. 4 Satz ein neuer Abschlussprüfer bestellt werden muss, wurde – soweit ersichtlich – noch nicht diskutiert. Gegen eine Pflicht zu einer erneuten Abschlussprüfung im Falle der Heilung nach § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG spricht insbesondere die von der herrschenden Meinung angenommene Gestaltungswirkung der Heilung. Aus der Gestaltungswirkung der Heilung, genauer: aus der von ihr ausgehenden rückwirkenden Veränderung der materiellen Rechtslage, ergibt sich, dass der Jahresabschluss weder mit der Nichtigkeitsklage (§ 256 Abs. 7 AktG) noch in anderer Weise erfolgreich angegriffen werden kann51. Der Jahresabschluss wird also auch für die Gesellschaftsorgane gültig. Das mit der Einreichung befasste Registergericht (§ 325 Abs. 1 Satz 1 HGB) kann den Abschluss nicht mehr beanstanden. Außerdem fällt die Nichtigkeit des Gewinnverwendungsbeschlusses weg, soweit sie auf der Nichtigkeit des Jahresabschlusses beruht (§ 253 Abs. 1 AktG)52. Wenn das Gesetz den festgestellten Jahresabschluss mit Eintritt der Heilungswirkung nach § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG materiell als gültig ansieht, besteht – unabhängig von dem Ausgang einer erneuten Abschlussprüfung – keine Pflicht zur Änderung und erforderlichenfalls erneuten Feststellung des Jahresabschlusses. Die Durchführung einer erneuten Abschlussprüfung macht in diesem Fall keinen Sinn mehr. Dagegen könnte vorgebracht werden, dass – einigen Stimmen in der Literatur folgend – auch nach Eintritt der Heilungswirkung des § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG die Änderung eines z. B. wegen Bewertungsfehler mangelhaften Jahresabschlusses möglich sein soll. Mit der Heilung entfalle lediglich die Pflicht, einen neuen Jahresabschluss aufzustellen; die Geschäftsleitung bleibe aber befugt, einen fehlerhaften Jahresabschluss noch nach Ablauf der Heilungsfrist zu ändern, sofern ein sachlicher Grund für die Änderung des Abschlusses besteht53. Eine erneute Prüfung hätte aus diesem Blickwinkel zumindest
__________ 51 Vgl. Hüffer in MünchKomm.AktG, § 256 Rz. 68; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383
(389). 52 Hüffer, AktG, § 256 Rz. 28; Hüffer in MünchKomm.AktG, § 256 Rz. 68. 53 H. P. Müller in FS Budde, 1995, S. 431 (432–433); vgl. W. Müller, ZHR 168 (2004),
414 (422). Allgemein zu den Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Änderung eines festgestellten Jahresabschlusses IDW RS HFA 6, Tz. 9–20.
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den Sinn, Vorstand und Aufsichtsrat über etwaige Fehler des Jahresabschlusses zu informieren und so die Entscheidung über die Ausübung der Befugnis zur Änderung des fehlerhaften Abschlusses vorzubereiten. Wegen der gesellschaftsübergreifenden („öffentlichen“) Funktion der Abschlussprüfung54 könnten Änderungen des geprüften und testierten Jahresabschlusses außerdem jedenfalls bei wesentlichem Berichtigungsbedarf angebracht sein, um diejenigen, die von dem Abschluss Kenntnis erlangt haben, über die veränderten Verhältnisse zu informieren. Es erscheint indes zweifelhaft, ob dann ein Bedürfnis für die Änderung des materiell gültigen Jahresabschlusses besteht, wenn die Vermeidung von Fehlinformationen durch den Jahresabschluss bereits auf andere Weise (z. B. durch Mitteilungen des Unternehmens oder der Finanzpresse) sichergestellt ist. In einem solchen Fall wäre – jedenfalls nach Ansicht des Berufsstands – nicht einmal der Widerruf des wirksamen Bestätigungsvermerks und eine damit einhergehende Nachtragsprüfung („soweit es die Änderung erfordert“ – § 316 Abs. 3 Satz 1 HGB; § 8 Abs. 3 Satz 1 PublG) durch den bestellten (also nicht einen anderen Abschlussprüfer55) erforderlich56! Jedenfalls dürfte die bloße Befugnis der gesetzlichen Vertreter der geprüften Gesellschaft zur Änderung des geheilten Jahresabschlusses nicht ausreichen, um eine Pflicht zur Bestellung eines neuen Abschlussprüfers nach § 318 Abs. 4 Satz 2 HGB zu begründen. Vielmehr sollte es im Ermessen der für den Inhalt des Jahresabschlusses verantwortlichen gesetzlichen Vertreter (§ 322 Abs. 2 Satz 1 HGB) stehen, ob sie nach § 318 Abs. 4 Satz 2 HGB einen Antrag auf gerichtliche Bestellung eines neuen Prüfers stellen oder nicht. Zumindest eine generelle Antragspflicht ist in diesen Fällen abzulehnen.
V. Auswirkungen auf den Prüfungsvertrag Ein verwandter Problemkreis ist, welche Auswirkungen die Nichtigkeit des Bestellungsbeschlusses auf die Wirksamkeit des Prüfungsauftrages hat. 1. Korporationsrechtliche und schuldrechtliche Ebene Die Erteilung des „Prüfungsauftrages“ (d. h. des schuldrechtlichen Vertrages zwischen der prüfungspflichtigen Gesellschaft und dem Abschlussprüfer) ist rechtlich von dem gesellschaftsrechtlichen Akt der Wahl/Bestellung des Ab-
__________ 54 S. dazu Ebke in MünchKomm.HGB, § 316 Rz. 24–25 und 29–32 m. w. N. sowie
oben Fn. 8. 55 Vgl. IDW 400.105. 56 S. IDW PS 400.112. Zum Widerruf eines wirksamen Bestätigungsvermerks s. Ebke
in MünchKomm.HGB, § 323 Rz. 34–35 m. w. N.; Tiedchen in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 42a Rz. 49 m. w. N.; KG, AG 2001, 187 (188).
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schlussprüfers zu unterscheiden57. Während bei Aktiengesellschaften die Bestellung des Abschlussprüfers auf Vorschlag des Aufsichtsrats (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG) durch Beschluss der Hauptversammlung erfolgt (§ 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG), wird der Prüfungsauftrag gemäß § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG, § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB mit Wirkung für und gegen die Gesellschaft vom Aufsichtsrat erteilt58. Aufgrund dieser Trennung berühren Vertragsmängel die Wirksamkeit der Bestellung des Abschlussprüfers nicht, führen also auch nicht zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses nach § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG59. § 139 BGB ist wegen der Verschiedenheit der korporationsrechtlichen und der schuldrechtlichen Regelungsebenen nicht mit der Folge anwendbar, dass Mängel des schuldrechtlichen Vertragsverhältnisses (Prüfungsauftrages)60 auf die Bestellung durchschlagen könnten61. Es liegt daher nahe, dass in dem umgekehrten Fall eines rückwirkend unwirksamen Bestellungsbeschlusses ein erteilter Prüfungsauftrag ebenfalls wirksam bleibt, es sei denn, er wäre unter der auflösenden Bedingung (§ 158 Abs. 2 BGB) geschlossen worden, dass ein Antrag auf Ersetzung des gewählten Prüfers (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB) oder eine gegen den Wahlbeschluss erhobene Anfechtungsklage (§§ 243, 246 AktG) Erfolg hat62. Es wird allerdings auch vertreten, dass die Unwirksamkeit des Wahlbeschlusses auf den Prüfungsauftrag „durchschlage“. Werde während eines schwebenden Ersetzungsverfahrens nach § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB oder nach Erhebung einer Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage gegen die Wirksamkeit
__________ 57 Vgl. IDW PS 220.4–220.5; Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 18; Schulze-
Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 41 Rz. 65. 58 Nach einer Empfehlung des Corporate Governance Kodex (Ziff. 7.2.1 Satz 3 DCGK)
59 60
61 62
soll der Aufsichtsrat mit dem Abschlussprüfer vereinbaren, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats bzw. des Prüfungsausschusses über während der Abschlussprüfung auftretende mögliche Ausschluss- bzw. Befangenheitsgründe seitens des Abschlussprüfers unverzüglich unterrichtet wird, soweit diese nicht beseitigt werden. Eine solche Pflicht folgt allerdings auch ohne ausdrückliche Vereinbarung aus dem Prüfungsvertrag. S. Kropff in Semler/von Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl. 2004, S. 379, 431; Tiedchen in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, § 42a Rz. 25 a. E. Zur Frage, ob die zu prüfende Gesellschaft aufgrund des Prüfungsvertrages von dem Abschlussprüfer Beseitigung eines (nachträglich eingetretenen) Ausschlussgrundes verlangen kann, und zur Frage, ob die zu prüfende Gesellschaft umgekehrt aus dem Vertragsverhältnis verpflichtet ist, ihren Abschlussprüfer auf ihm unbekannte Gefahren bezüglich des Eintretens eines Ausschlussgrunde hinzuweisen, s. Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 74. Hüffer, AktG, § 111 Rz. 12c. Zur Rechtsnatur des Prüfungsauftrages s. Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 19; Zimmer in Ulmer, HGB-Bilanzrecht (Fn. 50), § 318 Rz. 28; Wiedmann in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 318 Rz. 11; Henssler/Dedek, WPK-Mitt. 2002, 278 (279). S. ferner BGH, NJW 2000, 1107 (1107) (l. Sp.); BGH, WPK-Mitt. 2002, 271 (273) („Buchführungsaufgaben“). Hüffer, AktG, § 256 Rz. 13. Eine solche Gestaltung dürfte in der Praxis allerdings die große Ausnahme sein. Vgl. IDW PS 220.4–220.17.
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des Wahlbeschlusses der Prüfungsauftrag unbedingt erteilt, so komme er bei Annahme durch den Prüfer zwar wirksam zustande, falle aber bei einer stattgebenden Entscheidung des Gerichts weg63. In die gleiche Richtung geht die Entscheidung des BGH vom 30.4.1992; danach ist der dem Abschlussprüfer erteilte Prüfungsauftrag nach § 134 BGB nichtig, wenn der Abschlussprüfer entgegen § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB bei der Aufstellung des zu prüfenden Jahresabschlusses mitgewirkt hat und deshalb nicht Abschlussprüfer sein darf64. Das Urteil enthält jedoch keine Aussage darüber, ob die in diesem Fall nach herrschender Meinung anzunehmende Nichtigkeit des Wahlbeschlusses65 auf den Prüfungsauftrag durchschlägt. Vielmehr stützt der BGH die Nichtigkeit des Prüfungsauftrages darauf, dass durch den Abschluss des Prüfungsauftrages selbst gegen ein gesetzliches Verbot i. S. d. § 134 BGB verstoßen wurde66. Im Ergebnis wird man mit dem BGH davon ausgehen müssen, dass der Prüfungsauftrag – unabhängig von der Anfechtung des Wahlbeschlusses – jedenfalls dann nichtig ist, wenn sein Abschluss gegen ein gesetzliches Verbot i. S. d. § 134 BGB verstößt. 2. Gesetzliches Verbot Damit stellt sich die Frage, ob die zum Abschlussprüfer gewählte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft durch die Annahme des Prüfungsauftrages gegen ein gesetzliches Verbot i. S. d. § 134 BGB verstoßen hat. a) § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB Im Unterschied zu dem vom BGH am 30.4.1992 entschiedenen Fall lag bei der Prüfung des Jahresabschlusses der HVB für das Geschäftsjahr 1999 jedenfalls kein Verstoß gegen ein absolutes Bestellungsverbot i. S. d. § 319 Abs. 2 oder 3 HGB vor67. Insbesondere schloss nach Ansicht des BGH die Beauftragung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit der Erstattung des Verschmelzungsgutachtens und der Ermittlung der Verschmelzungswertrelation die Wahl der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zum Abschlussprüfer der aus der Verschmelzung hervorgegangenen HVB nicht aus68. Nach Ansicht des Senats bestand allerdings im Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Wahl des Abschlussprüfers durch die Hauptversammlung der HVB am 6.5.1999 die Besorgnis, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ihre Aufgabe als Ab-
__________ 63 64 65 66 67 68
Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 38), § 318 HGB Rz. 185. BGHZ 118, 142 (145). S. die Nachw. bei Ebke in MünchKomm.HGB, § 319 Rz. 7. BGHZ 118, 142 (145); ebenso OLG Brandenburg, GmbHR 2001, 865 (866 und 869). BGHZ 153, 32 (38). BGHZ 153, 32 (38–40) (Bestätigung von BGHZ 135, 260 – [Allweiler]). Zu diesem Aspekt der Entscheidung im Falle HVB s. OLG Frankfurt, ZInsO 2004, 95 (97) sowie Ebke (Fn. 18), S. 520; ders. (Fn. 3), S. 525–527.
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Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers
schlussprüfer „nicht unbefangen und sachgemäß“ wahrnehmen werde69. Der Senat hat es sorgfältig vermieden, in diesem Zusammenhang auf die berufsrechtlichen Regeln über die Unbefangenheit des Wirtschaftsprüfers (§§ 43 Abs. 1 Satz 2, 49 2. Var. WPO; §§ 20, 21 der Satzung der Wirtschaftsprüferkammer über die Rechte und Pflichten bei der Ausübung der Berufe des Wirtschaftsprüfers und des vereidigten Buchprüfers [Berufssatzung WP/vBP]) Bezug zu nehmen70. Stattdessen argumentiert der Senat ausschließlich auf der Ebene der handelsrechtlichen Vorschriften über die Jahresabschlussprüfung, insbesondere § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB. Anders als § 319 Abs. 2 und 3 HGB, deren Verbotsnormcharakter sich bereits aus ihrem Wortlaut ergibt („… darf nicht Abschlussprüfer sein …“), enthält § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB keine entsprechende Aussage. Deshalb vertritt Lutter mit Recht die Auffassung, dass § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB kein Verbot beinhaltet71. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der II. Zivilsenat in der HVB-Entscheidung davon auszugehen scheint, dass die (im Gesetz abschließend aufgeführten72) absoluten und die relativen Ausschlussgründe auf einem einheitlichen Grundtatbestand beruhen und einheitlich mit der Anfechtungsklage gerügt werden können73. Es ist daher nicht auszuschließen, dass ein Gericht aus diesem Blickwinkel argumentiert, dass § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB als Generalnorm bezüglich der Inhabilität des Prüfers – genauso wie der spezielle Ausschlusstatbestand des § 319 Abs. 2 und 3 HGB – ein Verbot i. S. d. § 134 BGB beinhaltet, zumal in der Rechtsprechung des BGH seit langem anerkannt ist, dass das Verbot nicht ausdrücklich sein muss, sondern sich aus einer (z. B. systematischen) Auslegung ergeben kann74. Der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer scheint § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB jedenfalls nicht als Verbotsgesetz i. S. d. § 134 BGB zu begreifen. Die Berufsangehörigen werden nämlich in IDW PS 220.11 darauf hingewiesen werden, dass sie sich bei Abschluss eines Prüfungsauftrages zu vergewissern haben, dass dem Prüfungsauftrag „keine Ausschlussgründe nach § 319 HGB …“ entgegenstehen; § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB wird hingegen nicht ausdrücklich erwähnt. Dem dürfte die Annahme zugrunde zu liegen, dass der Prüfungsauftrag, den ein Wirtschaftsprüfer trotz Besorgnis der Befangenheit annimmt, zivilrechtlich nicht stets unwirksam ist. Gegen die Annahme eines „gesetzlichen Verbots“ i. S. d. § 134 BGB spricht neben dem Wortlaut auch, dass die relativen Ausschlussgründe des § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB nur einseitig den vertragsschließenden Wirtschaftsprüfer
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BGHZ 153, 32 (40). S. dazu unten bei Fn. 80–88. Lutter (Fn. 26), S. 839. Vgl. BGH, WM 2004, 1491 (1495) (K. of America, Inc.). S. die Nachw. in Ebke (Fn. 18), S. 521 Fn. 22. BGHZ 153, 32 (37–44); s. hierzu schon oben Fn. 48. Dörner in Handkomm.BGB, 3. Aufl. 2003, § 134 Rz. 4.
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treffen75. Die Norm enthält eine Verhaltensregel für den Wirtschaftsprüfer, die losgelöst von dem Abschluss eines Prüfungsvertrages Wirkung entfaltet. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die (allerdings nur teilweise vergleichbaren) anwaltsrechtlichen Tätigkeitsverbote nach § 45 BRAO überwiegend als Verbotsgesetze i. S. d. § 134 BGB qualifiziert werden und ein Verstoß gegen die Tätigkeitsverbote des § 45 BRAO regelmäßig zur Nichtigkeit des Vertrages zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten führen sollen, obgleich es sich dabei überwiegend um einseitige Tätigkeitsverbote handelt76. Diese Verbote betreffen aber Tatbestände, bei denen eine besondere Gefahr der Interessenkollision besteht und die daher den in § 319 Abs. 2 und 3 HGB genannten absoluten Ausschlussgründen vergleichbar sind. Für die Unwirksamkeit des Prüfungsvertrages mit einem befangenen Abschlussprüfer kann daraus kaum etwas hergeleitet werden77. Der X. Zivilsenat hat kürzlich in der Entscheidung K. of America, Inc. einen weiteren Grund dafür ins Feld geführt, dass die Besorgnis der Befangenheit nicht zu einem gesetzlichen Verbot führt. Nach Ansicht des Senats wäre § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB, wonach der Prüfungsauftrag eines zum Abschlussprüfer gewählten Wirtschaftsprüfers nur widerrufen werden kann, wenn ein anderer Prüfer bestellt worden ist, weil dies aus einem in der Person des gewählten Prüfers liegenden Grund, insbesondere wegen Besorgnis der Befangenheit geboten war, „nicht recht verständlich“, wenn der „angenommene Prüfungsauftrag an einen befangenen Wirtschaftsprüfer ohnehin keine Rechte und Pflichten begründen könnte“78. § 318 HGB liege vielmehr zugrunde, dass „der Prüfungsvertrag im Falle der Besorgnis der Befangenheit des Wirtschaftsprüfers erst nach einem entsprechenden Gestaltungsakt der Beteiligten keine zivilrechtlichen Wirkungen mehr zeitigt, sei es, daß [sic] er durch den Auftraggeber unter Beachtung von Abs. 3 widerrufen oder durch den die Besorgnis der Befangenheit erkennenden Wirtschaftsprüfer gemäß Abs. 6 Satz 1 gekündigt wird“79. Im Ergebnis ist anzunehmen, dass § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB kein gesetzliches Verbot i. S. d. § 134 BGB darstellt, so dass der abgeschlossene Prüfungsvertrag trotz bestehender Besorgnis der Befangenheit wirksam ist, wenn nicht andere Nichtigkeitsgründe eingreifen.
__________ 75 Vgl. BGH 118, 142 (148) („Die Tätigkeitsverbote nach § 319 Abs. 2 und 3 HGB
76
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wenden sich nicht gegen beide Vertragspartner, sondern lediglich gegen den Abschlussprüfer.“). Vgl. Feuerich/Braun, Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl. 2003, § 45 Rz. 36; Kleine-Cosack, Bundesrechtsanwaltsordnung, 4. Auf. 2003, § 45 Rz. 44; MayerMaly/Armbrüster in MünchKomm.BGB, Bd. 1, 4. Aufl. 2001, § 134 Rz. 100; a. A. Vollkommer, Anwaltshaftungsrecht, 1989, S. 19. Vgl. jetzt BGH, WM 2004, 1491 (1495). BGH, WM 2004, 1491 (1495). BGH, WM 2004, 1491 (1495). Zum Widerruf eines Testats zuletzt KG, AG 2001, 187 und Nachw. in Fn. 56.
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b) Berufsrecht Zu überlegen ist, ob die bestellte Prüfungsgesellschaft gegen ihre berufsrechtlichen Pflichten nach §§ 43 Abs. 1, 49 2. Var. WPO und §§ 20 Satz 2, 21 Berufssatzung WP/vBP verstoßen hat und ob diese Vorschriften Verbotsgesetze darstellen80. Nach § 43 Abs. 1 WPO hat sich der Wirtschaftsprüfer „insbesondere bei der Erstattung von Prüfungsberichten … unparteiisch zu verhalten“. § 49 2. Var. WPO verpflichtet den Wirtschaftsprüfer – ebenso wie § 20 Satz 2 Berufssatzung WP/vBP – seine „Tätigkeit zu versagen“, wenn „die Besorgnis der Befangenheit bei der Durchführung eines Auftrages besteht“. Ob diese Bestimmungen nach Sinn und Zweck den Abschluss des Prüfungsvertrages verbieten sollen oder sich nur auf die Durchführung des Prüfung (§ 49 2. Var. WPO; § 20 Satz 2 Berufssatzung WP/vBP) von der Planung der Prüfung bis zur Erteilung bzw. Versagung des Bestätigungsvermerks (§ 43 Abs. 1 WPO) beziehen, war bislang unklar. Selbst wenn man davon ausginge, dass diese Bestimmungen nicht nur das Tätigwerden des Prüfers als solches, sondern auch die zivilrechtliche Wirksamkeit des Prüfungsvertrages verhindern sollen, bliebe zu prüfen, ob §§ 43 Abs. 1, 49 2. Var. WPO und §§ 20 Satz 2, 21 Berufssatzung WP/vBP überhaupt Verbotsgesetze i. S. d. § 134 BGB sind. Auch diese Frage war bis vor kurzem nicht hinreichend geklärt81. Nach der wohl herrschenden Lehre waren die §§ 20, 21 Berufssatzung WP/vBP als in Ausübung der Satzungsautonomie (§ 57 Abs. 3, 4 WPO) der Wirtschaftsprüferkammer (WPK) gesetzte Regeln zu qualifizieren, die lediglich „berufsgruppeninterne Wirkung“ haben mit der Folge, dass sie nur innerhalb der WPK und gegenüber den Kammermitgliedern Verbindlichkeit entfalten und daher keine Verbotsgesetze i. S. d. § 134 BGB darstellen82. §§ 43 Abs. 1, 49 Var. 2 WPO konnten ebenfalls nicht ohne weiteres als Fall des § 134 BGB angesehen werden83. Zwar hat das OLG Hamm in einer Entscheidung aus dem Jahre 1996 die Verschmelzung einer Steuerberatungs-GmbH mit einer ein Handelsgewerbe betreibenden GmbH wegen Verstoßes gegen Berufsrecht (§ 57 StBerG) nach § 134 BGB als nichtig behandelt; eine hinreichende Begründung dafür lässt das Gericht aber vermissen84. Für die Auffassung, dass die §§ 43 Abs. 1, 49 Var. 2 WPO keine Verbotsgesetze i. S. d. § 134
__________ 80 Zu Einzelheiten der berufsrechtlichen Bestimmungen zur Sicherung der Unabhän-
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gigkeit und Unbefangenheit des Abschlussprüfers s. etwa Ewert in Ballwieser/ Coenenberg/von Wysocki (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechnungslegung und Prüfung, 3. Aufl. 2002, Sp. 2386, 2387–2389; Marten/Quick/Ruhnke, Wirtschaftsprüfung, 2001, S. 99–102. Zum Streitstand s. nur WP-Handbuch (Fn. 45), S. 62 Rz. 238. Gehringer (Fn. 33), S. 123 und 125 m. w. N. Zur Berufsaufsicht der WPK s. Wirtschaftsprüferkammer (Hrsg.), Berufsaufsicht der Wirtschaftsprüferkammer über WP/vBP, 2002. Lutter (Fn. 26), S. 839 („reine Ordnungsnormen ohne Verbotscharakter“). OLG Hamm, NJW 1997, 666.
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BGB sind, spricht eine neuere Entscheidung des BGH, nach der nicht jeder Verstoß gegen Berufsrecht eines standesrechtlich gebundenen Vertragsteils zur Nichtigkeit des entsprechenden Rechtsgeschäfts führt85. In zwei anderen Entscheidungen hat der BGH indes § 134 BGB bei Verstößen gegen Vorschriften angewandt, welche die Mitglieder eines bestimmten Berufsstandes zu beachten haben86; die in Rede stehenden Verbote (in casu § 14 Abs. 4 BNotO sowie § 46 Abs. 2 Nr. 1 BRAO) betreffen aber wiederum Tatbestände, bei denen eine besondere Gefahr der Interessenkollision besteht und die mithin den absoluten Ausschlussgründen des § 319 Abs. 2 und 3 HGB vergleichbar sind87. In der Entscheidung K. of America, Inc. hat der X. Zivilsenat nunmehr unmissverständlich klargestellt, dass § 49 Var. 2 WPO „kein gesetzliches Verbot i. S. d. § 134 BGB [enthält], so daß [sic] trotz einer § 49 2. Alt. [sic] WPO mißachtenden [sic] Übernahme einer Prüfung durch einen Wirtschaftsprüfer dessen Vertrag mit dem zu prüfenden Unternehmen wirksam ist, wenn nicht andere Nichtigkeitsgründe eingreifen“88. Danach ist der Vertrag über die Durchführung der Prüfung des Jahresabschlusses der HVB für das Geschäftsjahr 1999 trotz bestehender Besorgnis der Befangenheit im Zeitpunkt des Wahlbeschlusses nicht nach § 134 BGB nichtig, weil § 49 Var. 2 WPO kein gesetzliches Verbot i. S. d. § 134 BGB beinhaltet. 3. Verstoß gegen die guten Sitten Die Nichtigkeit des Prüfungsauftrages gemäß § 138 Abs. 1 BGB setzt im Zeitpunkt des Abschlusses des Prüfungsvertrages89 einen schweren Verstoß gegen die Grundwerte des geltenden (Berufs-)Rechts der Wirtschaftsprüfer voraus90. Einen solchen Verstoß wird man im Fall HVB kaum annehmen können. Dass nach Ansicht des II. Zivilsenats seitens der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft bei ihrer Wahl am 6.5.199991 zum Abschlussprüfer aus Sicht eines „objektiv und sachgerecht urteilenden Dritten“92 auf korporationsrechtlicher Ebene die Besorgnis der Befangenheit und damit ein relativer Ausschlussgrund bestand, lässt nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass
__________ BGH, WM 2000, 1546 (1547). BGHZ 147, 39; BGHZ 141, 69. Vgl. BGH, WM 2004, 1491 (1495). BGH, WM 2004, 1491 (1495). Maßgebender Zeitpunkt für das Vorliegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten gemäß § 138 Abs. 1 BGB ist nach st. Rspr. grundsätzlich der Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts. S. Jauernig, BGB, 11. Aufl. 2004, § 138 Rz. 3 m. Nachw. 90 Vgl. Vollkommer (Fn. 76), S. 19. 91 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Besorgnis der Befangenheit i. S. d. § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB begründet ist, ist nach Ansicht des II. Zivilsenats des BGH bei einer Anfechtungsklage der Zeitpunkt, „in dem die Hauptversammlung über ihre Wahl in dieses Amt abgestimmt hat“. Vgl. BGHZ 153, 32 (43). 92 BGHZ 153, 32 (40). 85 86 87 88 89
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die spätere Übernahme des schuldrechtlichen Prüfungsauftrages einen Verstoß gegen die guten Sitten nach § 138 Abs. 1 BGB darstellt. Die korporationsrechtliche und die schuldrechtliche Ebene sind nämlich voneinander strikt zu trennen93. Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts ergibt sich aus einer Gesamtwürdigung des Rechtsgeschäfts anhand seines Inhalts, Motivs und Zwecks94. Der Inhalt des Prüfungsvertrages ist in casu nicht objektiv sittenwidrig. Begründen erst Motiv oder Zweck die Sittenwidrigkeit, setzt das Nichtigkeitsverdikt nach § 138 Abs. 1 BGB Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der die Sittenwidrigkeit objektiv begründenden Umstände voraus95. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB nicht an einen vom Prüfer einfach zu ermittelnden, sondern an einen normativ aus Sicht eines „ruhig und vernünftig denkenden“ Dritten zu beurteilenden Sachverhalt anknüpft96. Die Besorgnis der Befangenheit (§ 318 Abs. 1 Satz 3 HGB; § 49 2. Var. WPO) beruht nicht – wie bei (dem im Fall HVB nach Ansicht des BGH nicht eingreifenden) § 319 Abs. 2 und 3 HGB – auf einer unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung, sondern auf gesetzlich nicht definierten Besonderheiten des Einzelfalles97. Ob § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB dabei eng oder weit auszulegen ist, ob jeder bloße Verdacht ausreicht oder ob es sich um individuelle, objektiv nachvollziehbare, aus der Person des gewählten Wirtschaftsprüfers ableitbare Gründe handeln muss, ob ein im Zeitpunkt des Beschlusses der Hauptversammlung als befangen anzusehender Abschlussprüfer danach „immer“ als befangen anzusehen ist und wie Maßnahmen zu beurteilen sind, die der Abschlussprüfer ergreift, um die Besorgnis der Befangenheit zu beseitigen (z. B. interner Prüferwechsel, unverzügliche und vollständige Information der geprüften Gesellschaft und der Öffentlichkeit über wesentliche Tatsachen sowie vergleichsweise Beilegung von Meinungsverschiedenheiten mit der geprüften Gesellschaft über Bewertungsfragen und etwaige Schadensersatzansprüche98), das alles ist noch weit-
__________ S. dazu oben Fn. 57. BGHZ 141, 357 (361); BGHZ 107, 92 (97) (st. Rspr.). BGHZ 146, 299 (301). BGH, WM 2004, 1491 (1495); vgl. BGHZ 153, 32 (43) („Sicht eines vernünftig und objektiv denkenden Dritten“). In diesem Sinne auch Ebke (Fn. 18), S. 529. Der Wirtschaftsprüfer ist verpflichtet, das insoweit Maßgebliche gewissenhaft zu prüfen (vgl. BGH, WM 2004, 1491 [1495]). Die Pflicht zur Gewissenhaftigkeit ergibt sich bei Abschlussprüfungen aus § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB. Zur Konkretisierung des Begriffs der Gewissenhaftigkeit s. Gehringer (Fn. 33), S. 39–70; Hauser, Jahresabschlussprüfung und Aufdeckung von Wirtschaftskriminalität, 2000, S. 163–209; Geuer, Das Management des Haftungsrisikos der Wirtschaftsprüfer, 1994, S. 35–47. Zu den methodischen Fragen s. Ebke in MünchKomm.HGB, § 317 Rz. 15 ff., § 323 Rz. 34 ff. 97 Vgl. Ebke (Fn. 18), S. 521. 98 Vgl. OLG München, DB 2001, 258 (259). 93 94 95 96
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gehend ungeklärt99. Wegleitende Stellungnahmen des Berufsstandes zu der hier in Rede stehenden Befangenheitsproblematik gibt es ebenfalls nicht. Mangels hinreichender Konkretisierung des § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB in Rechtsprechung, Lehre und Praxis musste die im Fall HVB zum Abschlussprüfer bestellte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft kaum annehmen, dass ein Gericht von der aus einer angeblich „natürlichen Selbstrechtfertigungstendenz sowie dem verständlichen Bemühen um Ansehenswahrung“ resultierenden Versuchung, die zugewiesene „Aufgabe einer problemorientierten Prüfung zu verfehlen“100, auf die Besorgnis ihrer Befangenheit im Zeitpunkt des Wahlbeschlusses schließen würde101. Bezeichnenderweise haben das OLG München102 und der BGH103 in puncto Befangenheit höchst unterschiedliche Ansichten vertreten. Hinzu kommt, dass für das Nichtigkeitsverdikt gemäß § 138 Abs. 1 BGB grundsätzlich die im Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts geltenden Wertungsmaßstäbe heranzuziehen sind104. Ein etwaiger Wandel der Wertungen während der Laufzeit des Vertrages kann diesen nur so weit zu einem objektiv sittenwidrig machen, wie er noch nicht abgewickelt ist105. Der Prüfungsvertrag war mit Erfüllung der Berichtspflichten und der Erteilung des Bestätigungsvermerks Anfang 2000 abgewickelt. Der II. Zivilsenat hat bei seiner Beurteilung der Besorgnis der Befangenheit auf korporativer Ebene insofern einen „unzeitgemäßen“ Maßstab zugrunde gelegt, als er die derzeitige (post-Enron) Debatte über die Unabhängigkeit der Wirtschaftsprüfer („unter den heutigen Verhältnissen“) herangezogen hat, um die im Mai 1999 bestehende Gefahr einer Beeinträchtigung der „mehr denn je zu wahrenden Objektivität der Prüfung durch Rücksichtnahme auf eigene Interessen der Prüfungsgesellschaft“ zu begründen106. Der vom BGH erkannte Wertungswandel bezüglich der Anforderungen an die Unabhängigkeit und die Unbefangenheit des Abschlussprüfers hat sich mithin erst nach Abschluss der Prüfung des Jahresabschlusses für das Geschäftsjahr 1999 und damit nach Abwicklung des Prüfungsvertrages vollzogen. Es gibt im Übrigen keinen Grund zu der Annahme, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft den Prüfungsauftrag für das Geschäftsjahr 1999 übernommen hat, um eigene Interessen zu Lasten der Adressaten des geprüften und testierten Jahresabschlusses (Gesellschafter und sonstige Dritte) zu wah-
__________ 99 Zu Einzelheiten s. Ebke (Fn. 18), S. 522–529 („Einmal befangen, immer befan-
gen?“). BGHZ 153, 32 (42). BGHZ 153, 32 (43). OLG München, DB 2001, 258 (259). BGHZ 153, 32 (40–43). S. dazu oben Fn. 89. H. Hübner, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. 1996, S. 382; Jauernig, BGB, § 138 Rz. 4. 106 BGHZ 153, 32 (43). 100 101 102 103 104 105
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ren. Denn etwaige Meinungsverschiedenheiten über Bewertungsfragen und sich daraus möglicherweise ergebende Schadensersatzansprüche der geprüften Gesellschaft gegen die Prüfungsgesellschaft waren bereits vor Erteilung des Bestätigungsvermerks für den Jahresabschluss 1999 vergleichsweise beigelegt worden107. Der Abschlussprüfer konnte mithin gar nicht mehr in die Lage kommen, im Rahmen der Abschlussprüfung 1999 allfällige Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen sich selbst prüfen zu müssen (Selbstprüfungsverbot!)108. Darüber hinaus waren an der Abschlussprüfung 1999 aufgrund einer internen Rotation nur solche Wirtschaftsprüfer beteiligt, die weder mit den im Vorjahr Problem belasteten Prüfungsgegenständen noch mit der Prüfung früherer Jahresabschlüsse der an der Verschmelzung beteiligten Gesellschaften befasst waren109. Im Übrigen bestand keine „Vertuschungsgefahr“, denn sämtliche Handlungen und Unterlassungen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Zusammenhang mit ihren beruflichen Tätigkeiten in den Vorjahren, aus denen sich möglicherweise der Vorwurf eines Fehlers herleiten lassen konnte, wurden durch das Unternehmen und die Prüfungsgesellschaft der Öffentlichkeit bekannt gemacht und in der Finanzpresse diskutiert110. Es fehlt daher an einem den Vorwurf der Sittenwidrigkeit gemäß § 138 Abs. 1 BGB begründenden Motiv oder Zweck seitens der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Nach alldem ist ein Sittenwidrigkeitsvorwurf im Zeitpunkt des Abschlusses des Prüfungsvertrags kaum begründbar. 4. Rechtsfolgen Falls man den Prüfungsauftrag jedoch wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten für nichtig halten sollte, sind die Rechtsfolgen zu klären. a) Prüfungshonorar Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz i. S. d. § 134 BGB sind in erster Linie dem jeweiligen Verbotsgesetz selbst zu entnehmen. Mangels Vorliegens spezieller Regelungen greift die in § 134 BGB angeordnete Nichtigkeit ex tunc ein. Nichts anderes gilt wegen Verstoßes gegen die guten Sitten gemäß § 138 Abs. 1 BGB. Danach hätte die zum Abschlussprüfer bestellte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft der geprüften Gesellschaft die Prüfungsvergütung zurückzuerstatten (§ 812 Abs. 1 Satz 1 1. Var. BGB).
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Vgl. BGHZ 153, 32 (41). S. OLG München, DB 2001, 258 (259). S. Ebke (Fn. 18), S. 534. In einem ähnlich gelagerten Fall hat das LG Köln, WM 1997, 920 (921) (KHD) (rkr.), daher die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers ausdrücklich verneint.
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Der Anspruch der geprüften Gesellschaft auf Rückzahlung der Prüfungsgebühren wäre nicht gemäß § 817 Satz 2 BGB ausgeschlossen, da die Gesellschaft mit der Erteilung des Prüfungsauftrags an die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft trotz der Besorgnis der Befangenheit der gewählten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Zeitpunkt des Wahlbeschlusses nicht gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen hat111. b) Wertersatz Zu klären bleibt, ob die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft von der Gesellschaft Wertersatz für die von ihr erbrachten Prüfungsleistungen beanspruchen kann (§ 818 Abs. 2 BGB). Der Wertersatz würde sich nach ständiger Rechtsprechung nach der Höhe der üblichen oder hilfsweise nach der angemessenen, vom Vertragspartner (in casu also der geprüften Gesellschaft) ersparten Vergütung richten112. Dem Wertersatz könnte allerdings § 817 Satz 2 BGB entgegenstehen. Danach ist die Rückforderung einer Leistung ausgeschlossen, wenn dem Leistenden „gleichfalls“ ein solcher Verstoß zur Last fällt, sofern die Leistung nicht in der Eingehung einer Verbindlichkeit bestand. Entgegen dem Wortlaut des § 817 Satz 2 BGB („gleichfalls“) greift der Kondiktionsausschluss nicht nur bei beiderseitigem Gesetzes- oder Sittenverstoß ein. § 817 Satz 2 BGB steht nach überwiegender Meinung vielmehr als Einwendung einem Rückforderungsanspruch aus §§ 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, 818 Abs. 2 BGB auch bei einseitigem Fehlverhalten des Leistenden entgegen: Derjenige, der sich selbst außerhalb der Sitten- und Rechtsordnung bewegt hat, soll von der Rechtsordnung keinen Schutz für die Rückabwicklung von Geschäften erhalten113. Der Kondiktionsausschluss gemäß § 817 Satz 2 BGB setzt voraus, dass sich der Forderungsberechtigte des Verstoßes gegen das gesetzliche Verbot bewusst war114. Während der VII. Zivilsenat des BGH im Jahre 1968 ausdrücklich positive Kenntnis von dem Gesetzesverstoß verlangte115, weil es nur bei einem persönlichen Verschulden gerechtfertigt sei, dem Gläubiger den Rechtsschutz zu verweigern116, stellte der III. Zivilsenat im Jahre 1982 (hinsichtlich eines Sittenverstoßes) leichtfertiges Handeln dem vorsätzlichen gleich117. Der Anspruch der Wirtschaftsprüfungs-
__________
111 Vgl. BGH 118, 142 (148) („Die Tätigkeitsverbote nach § 319 Abs. 2 und 3 HGB
112
113 114 115 116 117
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wenden sich nicht gegen beide Vertragspartner, sondern lediglich gegen den Abschlussprüfer.“). Vgl. BGH, NJW 2000, 1560 (1562); BGHZ 36, 321 (323). Zu Einzelheiten der Vergütung des Abschlussprüfers s. Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 26–27; Zimmer in Ulmer, HGB-Bilanzrecht, § 318 Rz. 32. S. ferner § 27 Berufssatzung WP/vBP. Schulze in Handkomm.BGB, § 817 Rz. 5; vgl. Stadler in Jauernig, BGB, § 817 Rz. 14. Schulze in Handkomm.BGB, § 817 Rz. 8; Schellhammer, Schuldrecht nach Anspruchsgrundlagen, 4. Aufl. 2002, S. 420. BGHZ 50, 90 (92); vgl. BGH, NJW 2000, 1560 (1562) (nur bewusster Verstoß). Vgl. RGZ 151, 70 (73). BGH, NJW 1983, 1420 (1423).
Die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers
gesellschaft gegen die von ihr geprüfte Gesellschaft auf Wertersatz für die erbrachten Prüfungsleistungen wäre demnach gemäß § 817 Satz 2 BGB ausgeschlossen, wenn die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wusste, dass die Übernahme des Prüfungsauftrags verboten oder sittenwidrig war118, oder sie sich der besseren Einsicht leichtfertig verschlossen hat119. Die Einschränkungen des rechtspolitisch und in seinem Anwendungsbereich umstrittenen § 817 Satz 2 BGB, die der BGH in seinem Urteil vom 31.5.1992120 bezüglich Verträgen über Schwarzarbeit zugunsten des vorleistenden Auftragsnehmers befürwortet hat, sollen bei Vorliegen eines absoluten Ausschlussgrundes gemäß § 319 Abs. 2 und 3 HGB auf Prüfungsverträge nicht übertragbar sein121. Ob diese Ansicht auch für relative Ausschlussgründe gilt, ist offen. § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB verfolgt in erster Linie nicht den Schutz eines oder beider Partner des Prüfungsvertrages, sondern vor allem die Sicherung der gesellschaftsübergreifenden Funktion der Abschlussprüfung und damit letztlich die Wahrung „öffentlicher“ Belange122. Mit dem Ausschluss vertraglicher Ansprüche ist der ordnungspolitischen Zielsetzung des § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB weitgehend Genüge getan. Dass die geprüfte Gesellschaft die Prüfungsleistung des nach § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB inhabilen Abschlussprüfers unentgeltlich soll behalten dürfen, ist zur Durchsetzung der Zieles des § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB nicht unabweislich geboten. Die Prüfungsleistung aufgrund eines nichtigen Prüfungsvertrages ist für die geprüfte Gesellschaft nicht völlig wertlos, da die geprüfte Gesellschaft sonst eine andere – zur Durchführung der Abschlussprüfung befugte (§ 319 Abs. 1 HGB) – Person beauftragt hätte und dieser eine entsprechende Vergütung hätte zahlen müssen123. Der nachfolgende Abschlussprüfer darf die Arbeitsergebnisse und Urteile des inhabilen Vorgängers natürlich nicht unbesehen übernehmen und verwenden124. Soweit die Prüfungsleistung des Abschlussprüfers, der wegen Besorgnis der Befangenheit von der (weiteren) Prüfung ausgeschlossen ist, nach dem pflichtgemäßen Ermessen des nachfolgenden
__________ 118 Vgl. BGH, NJW 2000, 1560 (1562). Zur Frage eines Vergütungsanspruchs des Ab-
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schlussprüfers aus Geschäftsführung ohne Auftrag s. BGHZ 118, 142 (150); OLG Brandenburg, GmbHR 2001, 865 (870) (beide für den Fall des Vorliegens eines absoluten Ausschlussgrundes nach § 319 Abs. 2 und 3 HGB). Vgl. BGH, NJW 1983, 1420 (1423). BGHZ 111, 308 (312–313). BGHZ 118, 142 (150) (Ausschluss des auf §§ 812, 818 Abs. 2 BGB gestützten Wertersatzanspruchs des Abschlussprüfers, wenn dieser entgegen § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB bei der Aufstellung des zu prüfenden Jahresabschlusses mitgewirkt hat); zust. OLG Brandenburg, GmbHR 2001, 865 (870); vgl. BGHZ 50, 90 (91) (Ausschluss des auf §§ 812, 818 Abs. 2 BGB gestützten Wertersatzanspruchs des Beraters im Falle einer unerlaubten Rechtsberatung). S. dazu oben Fn. 8 und 54. Vgl. BGHZ 70, 12 (18). Zu der vergleichbaren Lage bei Kündigung des Prüfungsvertrages s. Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 88–89. Zur Verwendung der Arbeit eines anderen externen Prüfers s. IDW PS 320.
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Prüfers für die geprüfte Gesellschaft aber unbedenklich verwertbar ist, sollte § 817 Satz 2 BGB einem Anspruch auf Wertersatz nicht entgegenstehen. Die Abwicklung nach Bereicherungsrecht (§ 818 Abs. 2 BGB) würde dem ausgeschlossenen Abschlussprüfer nicht auf einem Umweg entgegen § 134 BGB oder § 138 BGB doch noch eine Vergütung verschaffen, sondern nur verhindern, dass die geprüfte Gesellschaft daraus einen ungerechtfertigten Vorteil zieht125.
VI. Ausblick Die Abschlussprüfung durch unabhängige Wirtschaftsprüfer ist ein hohes Gut; sie ist nicht nur für den Vorstand und den Aufsichtsrat der geprüften Gesellschaft bestimmt, sondern dient auch den Informationsinteressen der Anteilseigner und sonstiger Dritter126. Ihrer Aufgabe als „gatekeeper“ oder „watchdog“ können Abschlussprüfer nur gerecht werden, wenn sie über die notwendige Unabhängigkeit und Unbefangenheit verfügen127. Die Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Abschlussprüfers sollten allerdings nicht aus tagespolitischer Opportunität überspannt werden. Gefragt ist insoweit rechtsvergleichend geschultes Augenmaß. Der Fall HVB zeigt, dass die Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Unabhängigkeitsregeln auf die geprüften und testierten Jahresabschlüsse noch weitgehend unerforscht sind. Bei der Suche nach Lösungen wird es entscheidend darauf ankommen, die berechtigten Interessen der geprüften Gesellschaft, ihrer Abschlussprüfer und der Dritten in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
__________ 125 Vgl. BGH, NJW 2000, 1560 (1562) (unter Hinweis auf BGHZ 70, 12 [18]) (betr. Be-
reicherungsanspruch des Steuerberaters bei einem nach § 134 BGB unwirksamem Geschäftsbesorgungsvertrag). 126 BayObLGZ 2002, 364 (365) (unter Hinweis auf Ebke in MünchKomm.HGB, § 318 Rz. 55). 127 S. oben Fn. 6–8.
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Steuerberatung durch den Abschlussprüfer Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Unabhängigkeit des Wirtschaftsprüfers III. Aktuelle Maßnahmen zur Sicherung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers 1. Internationale Impulse zur Rechtsänderung 2. Nationale Impulse zur Rechtsänderung 3. „Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG)“ a) § 319 HGB n.F.
b) § 319a HGB n.F. IV. Zweck der neuen Maßnahmen V. Wirkung der Maßnahmen auf die Steuerberatung durch den Abschlussprüfer 1. Was erreicht die Neuregelung der §§ 319, 319a HGB? 2. Was erreicht die Neuregelung der §§ 319, 319a HGB nicht? a) Erfahrungen mit bilanzpolitischen Maßnahmen b) Erfahrungen mit Bilanzskandalen im Ausland c) Erfahrungen mit Bilanzskandalen in Deutschland 4. Alternative Maßnahmen VI. Zusammenfassung
I. Einleitung Lange Zeit gab es eine Entwicklung, die den Eindruck erzeugte, die Abschlussprüfung sei eine Massenware. Die Krisen (Enron, Flowtex, Parmalat) machen allerdings deutlich, welche große Bedeutung die Abschlussprüfung für den Kapitalmarkt hat. Die gesetzgeberischen Bemühungen, im In- und Ausland die Abschlussprüfung zu stärken, sind daher in hohem Maße zu begrüßen. Allerdings wäre es fatal, wenn dabei der Fehler gemacht würde, dass bestehende Mängel mit falschen Mitteln bekämpft und nicht beseitigt werden. Dann würde die Erwartungslücke1 noch vergrößert statt verringert, geschweige denn beseitigt. Als großes Problem für das Funktionieren der Abschlussprüfung wurde vom Gesetzgeber und in der öffentlichen Diskussion die Steuerberatung durch den Abschlussprüfer identifiziert. Im Weiteren soll überprüft werden, ob die Steuerberatung durch den Abschlussprüfer tatsächlich ein Problem ist und ob die aktuellen Maßnahmen zur Lösung des Problems geeignet sind.
__________ 1
Zur Erwartungslücke bei der Abschlussprüfung: Forster in FS Helmrich, 1994, S. 613; ders., WPg. 1994, 789.
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II. Unabhängigkeit des Wirtschaftsprüfers An den Abschlussprüfer werden neben der fachlichen Qualifikation in § 319 HGB auch erhebliche andere Anforderungen gestellt. Erst dadurch wird die Grundlage der Akzeptanz des Berufsstandes in der Öffentlichkeit geschaffen2. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 WPO hat der Wirtschaftsprüfer seine Tätigkeit unabhängig, gewissenhaft, verschwiegen und eigenverantwortlich auszuüben3. Die aktuelle Diskussion um die Frage der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers wird nur durch die Krisen der jüngeren Vergangenheit verständlich. Schließlich ist die Regelung des § 319 HGB zur Auswahl des Abschlussprüfers im Grundsatz bereits über 70 Jahre alt4. Auch die Pflichtprüfung selbst wurde schon 1931 ins HGB eingefügt5. Dass spektakuläre wirtschaftliche Ereignisse die Diskussion um die Rolle des Abschlussprüfers bestimmen und bereits zu einer Gesetzesänderung geführt haben, ist nicht verwunderlich; denn die Einführung der Pflichtprüfung überhaupt war ebenfalls die Reaktion des Gesetzgebers auf erschütternde wirtschaftliche Ereignisse in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts6. Auch nach Einführung der Pflichtprüfung waren es immer wieder Unternehmenskrisen, die Kritik am Abschlussprüfer laut werden ließen7. Enttäuschte Erwartungen führten bereits in der Vergangenheit zu Äußerungen von Journalisten wie „Freistempler“8 oder „abgehakt und blind gesiegelt“9. Bei der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers wird im Fachschrifttum zwischen der äußeren und der inneren Unabhängigkeit unterschieden10. Die innere Unabhängigkeit des Abschlussprüfers ist seine Eigenschaft, das als richtig gewonnene Ergebnis nach außen zu vertreten; der innerlich unabhängige Abschlussprüfer lässt sich nicht durch äußeren Druck, Emotionen oder Eigeninteressen beeinflussen11. International wird die innere Unabhängigkeit als Independence in Fact oder Independence in Mind bezeichnet12.
__________ 2 Hense/Veltins in BeckBilKomm., 5. Aufl. 2003, § 319 HGB Rz. 1; Erle, Der Bestäti-
gungsvermerk des Abschlußprüfers, 1990, S. 18. 3 Zum Verhältnis des § 43 WPO zu § 319 HGB s. Hense/Veltins in BeckBilKomm.,
§ 319 HGB Rz. 5. 4 S. zur Entstehung der Vorschrift: Zimmer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 2002, § 319
Rz. 2. RGBl. I 1931 S. 493. Erle (Fn. 2), S. 1. Erle (Fn. 2), S. 1. Schirmacher, Capital 5/1984, 240. Morner, Manager Magazin 1/1975, 62. Kircherer, Grundsätze ordnungsgemäßer Abschlußprüfung, Berlin 1970, S. 90; Richter, Die Sicherung der aktienrechtlichen Publizität durch ein Aktienamt, 1975, S. 100. 11 Jäckel, Die Unabhängigkeit des Abschlußprüfers bei der Pflichtprüfung von Aktiengesellschaften der „öffentlichen Hand“, Hamburg 1960, S. 41 m. w. N. 12 Vgl. Revision of the Commission’s Auditor Independence Requirements, http:// www.sec.gov/rules/final/33-7919.htm. 5 6 7 8 9 10
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Als innere Tatsache ist die innere Unabhängigkeit der unmittelbaren Kontrolle von außen entzogen13. In der Praxis können lediglich äußere Umstände kontrolliert werden, die nach der Lebenserfahrung dazu geeignet sind, die innere Unabhängigkeit einzuschränken oder zu gefährden (Besorgnis der Befangenheit). Unter Heranziehung dieser Umstände wird die äußere Unabhängigkeit in § 319 Abs. 2 und 3 HGB konkretisiert. Danach darf ein Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer nicht Abschlussprüfer sein, wenn bestimmte gesellschafts- oder arbeitsrechtliche Verbindungen bestehen oder bestimmte Tätigkeiten vom Prüfer ausgeübt werden oder wurden. Für den Ausschluss reicht es bereits, wenn der Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer seinen Beruf mit einer Person gemeinsam ausübt, die einen Ausschlusstatbestand erfüllt14. Bei bestimmten Tatbeständen (z. B. § 319 Abs. 2 Nr. 7 HGB) reicht es sogar, dass der Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer eine Person beschäftigt, die einen Ausschlusstatbestand erfüllt15. Die äußere Unabhängigkeit wird international als Independence in Appearance bezeichnet16. Nach § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB darf ein Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer nicht zum Abschlussprüfer bestellt werden, wenn er bei der Führung der Bücher oder der Aufstellung des zu prüfenden Jahresabschlusses der Kapitalgesellschaft über die Prüfungstätigkeit hinaus mitgewirkt hat. Hinter diesem Ausschlussgrund steht der in § 23 WPO kodifizierte Grundsatz, dass der Wirtschaftsprüfer nicht einen Sachverhalt beurteilen soll, an dessen Zustandekommen er selbst maßgeblich mitgewirkt hat17, wenngleich § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB nicht jede Mitwirkung, sondern nur die maßgebliche erwähnt. Die Beratung durch den Abschlussprüfer ist nicht als Ausschlussgrund in § 319 Abs. 2 und 3 HGB erfasst. Sie ist grundsätzlich neben der Prüfungstätigkeit zulässig18. Beratung bedeutet die Abgabe oder Erörterung von Emp-
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13 Hönle, Die Unabhängigkeit des aktienrechtlichen Abschlußprüfers, 1978, S. 63;
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Schulze-Osterloh in Busse von Colbe/Lutter (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung heute: Entwicklung oder Reform? Ein Bochumer Symposium, 1977, S. 95 und 101 f. Einzelheiten bei: Adler/Düring/Schmalz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 319 HGB Rz. 56 ff.; Hense/Veltins in BeckBilKomm., § 319 HGB Rz. 10 ff.; Zimmer in Großkomm.HGB, § 319 Rz. 16 ff. Einzelheiten bei: Adler/Düring/Schmalz (Fn. 14), § 319 HGB Rz. 56 ff.; Hense/ Veltins in BeckBilKomm., § 319 HGB Rz. 28 f.; Zimmer in Großkomm.HGB, § 319 Rz. 46 ff. Vgl. Revision of the Commission’s Auditor Independence Requirements, http:// www.sec.gov/rules/final/33-7919.htm. Adler/Düring/Schmalz (Fn. 14), § 319 HGB Rz. 110. BGHZ 135, 260 (264) m. w. N. (Allweiler-Entscheidung); BGHZ 153, 32 (40) = BB 2003, 462 mit Anm. Claußen = GmbHR 2003, 408 mit Anm. Hellberg = JZ 2003, 562 mit Anm. Lutter; BayObLG, WM 1987, 1361; OLG Karlsruhe, BB 1995, 2644 = WPK-Mitt. 1996, 56 mit Anm. Benckendorff = ZIP 1996, 229 mit Anm. Crezelius = EWIR 1996, 129 mit Anm. Schulze-Osterloh; Marx, ZGR 2002, 292 (299); Adler/ Düring/Schmalz (Fn. 14), § 319 HGB Rz. 118; Hense/Veltins in BeckBilKomm.,
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fehlungen durch sachverständige Personen im Hinblick auf künftige Entscheidungen des Ratsuchenden und das Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten mit ihren Konsequenzen19. Da die Beratung zulässig ist, die Mitwirkung jedoch nicht, muss eine Abgrenzung zwischen diesen Tätigkeiten stattfinden. Diese Abgrenzung ist umstritten. Zum Teil wird angenommen, dass eine Beratung bereits dann eine unzulässige Mitwirkung darstellt, wenn sie erheblichen Einfluss auf die Darstellung im Jahresabschluss hat20. Insbesondere die steuerliche Beratung wird wegen der Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz von einem Teil der Literatur als schädliche Mitwirkung an der Aufstellung des Jahresabschlusses angesehen21. Nach anderer auch vom BGH vertretener Ansicht ist eine Beratung (inklusive der steuerlichen) zulässig, wenn der Berater die unternehmerische Entscheidung nicht selbst trifft, sondern lediglich Alternativen aufzeigt22. Solange die Entscheidung beim Unternehmer verbleibt, ist es folglich unschädlich, wenn der Abschlussprüfer diese unternehmerische Entscheidung durch seine Beratung begleitet. Selbst bei alternativlosen Beratungsempfehlungen liegt keine Inhabilität des Prüfers vor, wenn der Unternehmer darüber entscheidet, dem Rat zu folgen oder nicht23. Wenn es im Einzelfall nur eine zulässige Lösung gibt, liegt ebenfalls keine unzulässige Beratung vor. Vielmehr handelt es sich dann um eine zulässige Teilprüfung durch den Abschlussprüfer im Rahmen einer vorbereitenden Beratung24. Umstritten ist, wann die Entscheidung als eine des beratenden Abschlussprüfers anzusehen ist. Die Ausführungen des BGH in der Allweiler-Ent-
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§ 319 HGB Rz. 23 ff.; Zimmer in Großkomm.HGB, § 319 Rz. 40; ablehnend (zur Rechtslage vor Erlass des Bilanzrichtliniengesetzes): Westerwick, Abschlußprüfung und Abschlußprüfer nach geltendem und zukünftigem Aktienrecht, 1963, S. 71 f.; Linhardt, Betriebswirtschaftliche Umschau 1961, 97 (106); Brillinger, NB 1971, 50 (53 f.); Dorn-Zachertz, Die Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Abschlußprüfers in der Pflichtprüfung der Aktiengesellschaft, 1977, S. 80 f.; Biener, WPg. 1980, 689 (696 f.); Kloock, DB 1975, 845 (851); Richter (Fn. 10), S. 141 ff.; Hönle, BB 1981, 466 (472). BGHZ 135, 260 (264) (Allweiler-Entscheidung); Zimmer in Großkomm.HGB, § 319 Rz. 40. OLG Karlsruhe, BB 1995, 2644 = WPK-Mitt. 1996, 56 mit Anm. Benckendorff = ZIP 1996, 229 mit Anm. Crezelius = EWIR 1996, 129 mit Anm. Schulze-Osterloh. Schulze-Osterloh, EWiR 1996, 129 (130); Zimmer in Großkomm.HGB, § 319 Rz. 41 m. w. N. BGHZ 135, 260 (264) m. w. N. (Allweiler-Entscheidung); BGHZ 153, 32 (40) = BB 2003, 462 mit Anm. Claußen = GmbHR 2003, 408 mit Anm. Hellberg = JZ 2003, 562 mit Anm. Lutter; Adler/Düring/Schmalz (Fn. 14), § 319 HGB Rz. 118 ff.; Neumann, ZIP 1998, 1338 (1344); Nonnenmacher in HdJ (Abt. VI/I), Rz. 14; Thiele, DB 1997, 1394 (1396); Schmidtmeier, DB 1998, 1625 (1626); Hense/Veltins in BeckBilKomm., § 319 HGB Rz. 26. BGHZ 135, 260 (264) m. w. N. (Allweiler-Entscheidung); Adler/Düring/Schmalz (Fn. 14), § 319 HGB Rz. 122; Thümmel, WPg. 1986, 643 (648). BGHZ 135, 260 (265) m. w. N. (Allweiler-Entscheidung); Adler/Düring/Schmalz (Fn. 14), § 319 HGB Rz. 122.
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scheidung lassen den Schluss zu, dass es allein darauf ankommt, dass der Mandant zumindest formal eigenverantwortlich entscheidet, ob er der Beratungsempfehlung folgen will oder nicht25. In Abkehr von einer formalen Betrachtung wird im Schrifttum zum Teil anhand zusätzlicher Kriterien eine Entscheidung im Einzelfall auch dann als vom Abschlussprüfer getroffen angesehen, wenn sie formal vom Mandanten getroffen wurde26. Ein Ansatz ist dabei die Abgrenzung nach der Sachkompetenz des Mandanten; danach kommt es darauf an, ob der Mandant aufgrund seines eigenen Fachwissens in der Lage ist, gegen die Empfehlungen des Beraters zu entscheiden27. Ein anderer Ansatz grenzt die erlaubte von der unzulässigen Beratung nach der Distanz des Abschussprüfers zur geprüften Gesellschaft ab; insbesondere wenn der Abschlussprüfer seine eigenen Berechnungen im Jahreabschluss wiederfindet und „sein eigenes Werk“ prüft, liegt ein Mangel an Distanz vor28. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Entscheidung zur Übernahme der Berechnungen des Abschlussprüfers formal in der geprüften Gesellschaft getroffen wurde. Das Distanzgebot wird flankiert durch das Kriterium der praktischen Konkordanz; danach muss im Einzelfall das Interesse an der Beraterfreiheit mit den Vorteilen der Beratung durch den Abschlussprüfer gegenüber dem Ziel des unabhängigen Abschlussprüfers bzw. dem Verbot der Selbstprüfung abgewogen werden29. Auch wenn eine Abgrenzung zwischen erlaubter und unerlaubter Beratung nicht in jedem Einzelfall allein danach erfolgen kann, wer die Entscheidung rein formal getroffen hat, ist das Kriterium der funktionellen Entscheidungszuständigkeit jedoch in der Regel ein praktikables und vor allem Rechtssicherheit schaffendes Abgrenzungsmerkmal, das keiner grundlegenden Anpassung bedarf30. Insgesamt ist festzustellen, dass jedenfalls nach der überwiegenden Auffassung im Schrifttum und der Rechtsprechung des BGH die steuerliche Beratung durch den Abschlussprüfer nicht gegen § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB verstößt. De lege lata ist die steuerliche Beratung als solche nicht dazu geeignet, die innere Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu gefährden – sie begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit. Nunmehr bestehen jedoch Zweifel daran, dass der gegenwärtige gesetzliche Rahmen ausreichend ist, um die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu
__________ 25 Hommelhoff, ZGR 1997, 550 (553 f.); Heni, DStR 1997, 1210 (1211 f.); Löcke,
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GmbHR 1997, 1052 (1054); Hense/Veltins in BeckBilKomm., § 319 HGB Rz. 23; die Gefahr einer rein formalen Abgrenzung wird auch betont von Röhricht, WPg. 1998, 153 (155). Ebke, WPK-Mitt. 1998, 76 (78); Heni, DStR 1997, 1210 (1212), Hommelhoff, ZGR 1997, 550 (554); Thiele, DB 1997, 1396 (1397). Schüppen, WiB 1997, 861 (863); in diese Richtung auch Heni, DStR 1997, 1210 (1213). Hommelhoff in Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, 1997, S. 471 (484). Hommelhoff (Fn. 28), S. 471 (484); Hommelhoff, ZGR 1997, 550 (561). Röhricht, WPg. 1998, 153 (155 f.).
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gewährleisten. Aufgrund öffentlich diskutierter Fälle gravierender Bilanzmanipulationen ist der Berufsstand des Wirtschaftsprüfers in einer Vertrauenskrise. Sowohl das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit als auch das der Kunden ist beschädigt31. Um das Vertrauen wiederzugewinnen, wurde ein „Maßnahmenkatalog der Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes“ erstellt32. Die fünfte Maßnahme von insgesamt zehn sieht eine Stärkung der Rolle des Abschlussprüfers vor. Diese Stärkung der Rolle des Abschlussprüfers soll unter anderem das Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG bewirken. Das Gesetz sieht insbesondere auch eine Änderung der Regelungen zur äußeren Unabhängigkeit des Abschlussprüfers vor (§§ 319, 319a HGB n. F.)33.
III. Aktuelle Maßnahmen zur Sicherung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers Der Gesetzgeber hat in der jüngeren Vergangenheit bereits erhebliche Schritte unternommen, um die Rolle des Abschlussprüfers im Prüfungsprozess zu stärken. Zu diesen Schritten gehört zum einen das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG)34, mit dem das Verhältnis zwischen Abschlussprüfer und Aufsichtsrat erheblich verstärkt wird. Ein weiterer wesentlicher Baustein ist das Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz)35 im Zusammenspiel mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex36; auch mit diesen Regelungen wird insbesondere das Verhältnis von Abschlussprüfer und Aufsichtsrat bemerkenswert verbessert. Mit der Änderung bzw. Einfügung der §§ 319, 319a HGB n. F. wird nunmehr die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers umfassend neugeregelt. In der Neuregelung finden nationale und internationale Entwicklungen ihren Niederschlag. 1. Internationale Impulse zur Rechtsänderung Zu den internationalen Impulsen gehört zum einen die Empfehlung „Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in der EU – Grundprinzipien“ der EU-
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31 Hus, Handelsblatt v. 23.4.2004, S. 6 mit Hinweis auf eine Umfrage. 32 BMJ, Schreiben Nr. 10/03 v. 25.2.2003. 33 Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Siche-
rung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG) v. 4.12.2004, BGBl. I 2004 S. 3166. Die Neuregelung der §§ 319, 319a HGB wird im folgenden Text mit dem Zusatz n. F. kenntlich gemacht. 34 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) v. 27.4.1998, BGBl. I 1998 S. 786. 35 Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz) v. 19.7.2002, BGBl. I 2002 S. 2681. 36 Deutscher Corporate Governance Kodex in der Fassung v. 21.5.2003, http://www. corporate-governance-code.de.
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Kommission v. 16.5.200237, die auch zur Vereinheitlichung des Standards in der EU beitragen soll. Nach der Empfehlung der Kommission gehören zu den Faktoren, die die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers gefährden können, insbesondere das Eigeninteresse, die Überprüfung eigener Leistungen (Selbstprüfungsverbot), die Interessenvertretung, die Vertrautheit mit den Mitarbeitern des zu prüfenden Unternehmens und die Einschüchterung. Ein weiterer Impuls geht vom Sarbanes-Oxley-Act38 aus. Der SarbanesOxley-Act befasst sich mit der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und sieht u. a. eine Reihe von einzeln aufgezählten Beratungsleistungen als unvereinbar mit der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers an. Daneben befasst sich der Sarbanes-Oxley-Act allerdings auch mit einer wirksamen Kontrolle der Abschlussprüfer börsennotierter Unternehmen durch ein Public Company Accouting Oversight Board und die Stärkung der Rolle des Abschlussprüfers durch ein Audit-Committee. Das Audit-Committee wählt den Abschlussprüfer aus; der Abschlussprüfer hat gegenüber dem Audit-Committee eine Berichtspflicht. Außerdem müssen alle Beratungsleistungen durch den Abschlussprüfer vor Erbringung der Dienstleistung einen Pre-ApprovalProzess durchlaufen bzw. durch das Audit-Committee genehmigt werden (sec. 202 Sarbanes-Oxley-Act). 2. Nationale Impulse zur Rechtsänderung Als maßgebliche nationale Entwicklung nennt die Gesetzesbegründung zum Bilanzrechtsreformgesetz die aktuelle Rechtsprechung des BGH. Der BGH hat seine Rechtsprechung bestätigt, nach der eine Beratung durch den Abschlussprüfer grundsätzlich zulässig ist39. Wenn weitere Umstände hinzutreten, kann aus dem Zusammenspiel dieser Umstände mit der Beratung jedoch die Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers resultieren40. Solche Umstände liegen vor, wenn gravierende Fehlleistungen des Abschlussprüfers im Rahmen seiner Beratertätigkeit, die zum Schadensersatz ihm gegenüber berechtigen, bereits bekannt sind und öffentlich diskutiert werden41. Weite-
__________ 37 ABl. EU Nr. L 191/22 – 2002/590/EG. 38 Sarbanes-Oxley-Act to protect investors by improving the accuracy and reliability of corpo-
rate disclosure, download unter: http://www.pcaobus.org/rules/Sarbanes_Oxley_ Act_of_2002.pdf. 39 BGHZ 153, 32 (40). 40 BGHZ 153, 32 (42 f.). 41 BGHZ 153, 32 (43); in diese Richtung auch: Marx, DB 2003, 431 (433); Jacobs, DB 1975, 2237 (2238); Haegert, in FS v. Wysocki, 1985, S. 201 (217); Steiner, WPg. 1991, 470 (479); Lange, Die Kompatibilität von Abschlußprüfung und Beratung, 1993, S. 42; Baetge/Hense in Küting/Weber, Handbuch der Rechnungslegung Einzelabschluss, 5. Aufl. Stand: März 2004, § 319 HGB Rz. 74; Heukamp, Abschlußprüfer und Haftung, 2000, S. 192; Hellwig, ZIP 1999, 2117 (2118).
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ren nationalen Einfluss hatte zudem der Arbeitskreis „Abschlussprüfung und Corporate Governance“ unter Leitung der Professoren Baetge und Lutter42. 3. „Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG)“ Das Gesetz nimmt die nationalen und internationalen Impulse im Hinblick auf die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers auf. Ausdrücklich wird eine Kodifizierung allgemeiner Grundsätze zur Unabhängigkeit abgelehnt und stattdessen ein Katalog von konkreten Tatbeständen der Inhabilität des Abschlussprüfers vorgezogen43. Das Gesetz sieht eine grundsätzliche Vereinbarkeit jeder rechtlichen und steuerlichen Beratung mit der Abschlussprüfung vor44. Die Grenze bildet insbesondere eine Beratung, bei der das Verbot der Selbstprüfung verletzt wird. a) § 319 HGB n. F. Nach § 319 Abs. 2 HGB n. F. können bestimmte geschäftliche, finanzielle oder persönliche Beziehungen zwischen Wirtschaftsprüfer bzw. vereidigtem Buchprüfer und zu prüfender Kapitalgesellschaft die Besorgnis der Befangenheit begründen und ihn als Abschlussprüfer ausschließen. Die Regelung zur Besorgnis der Befangenheit beabsichtigt in zweierlei Hinsicht eine Klarstellung. Zum einen soll die Rechtsunsicherheit beseitigt werden, die nach der gegenwärtigen Rechtslage hinsichtlich des Verhältnisses von § 319 Abs. 2 HGB zu § 318 Abs. 3 HGB besteht45; § 319 Abs. 2 HGB enthält Ausschlussgründe, während § 318 Abs. 3 HGB die Ersetzung des Abschlussprüfers an das Vorliegen der „Besorgnis der Befangenheit“ knüpft. Zum anderen wird mit § 319 Abs. 2 HGB n. F. deutlich gemacht, dass die Aufzählung der Umstände in § 319 Abs. 3 HGB, die die Inhabilität des Abschlussprüfers bewirken, nicht abschließend ist46. § 319 Abs. 3 HGB n. F. konkretisiert die Sachverhalte, bei denen ein Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer von der Abschlussprüfung ausgeschlossen ist. Es handelt sich um bestimmte Fälle der finanziellen (§ 319 Abs. 3 Nr. 1 und 5 HGB n. F.) oder personellen Verbindung (§ 319 Abs. 3 Nr. 2 und 4 HGB n. F.) und der Selbstprüfung (§ 319 Abs. 3 Nr. 3 HGB n. F.). Besonderes Gewicht haben dabei die Neuregelungen in § 319 Abs. 3 Nr. 3 HGB n. F. § 319 Abs. 3 Nr. 3a HGB n. F. übernimmt zunächst nur den Wortlaut der bisher im § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB enthaltenen Regelung zum Verbot
__________ 42 43 44 45 46
Begründung zum Regierungsentwurf, S. 54. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 54. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 88. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 77 f. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 78.
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bei der Mitwirkung bei der Führung der Bücher oder der Aufstellung des zu prüfenden Jahresabschlusses. § 319 Abs. 3 Nr. 3b und c HGB n. F. weiten die Fälle der Inhabilität weiter aus und orientieren sich an Regelungen im Sarbanes-Oxley Act (sec 201)47; dabei geht es um die Inhabilität wegen der Mitwirkung in verantwortlicher Position bei der Durchführung der internen Revision und wegen der Erbringung von Unternehmensleitungs- oder Finanzdienstleistungen. Die Regelung des § 319 Abs. 3 Nr. 3d HGB n. F. mit dem dort niedergelegten Grundsatz, dass auch das Erbringen von eigenständigen versicherungsmathematischen oder Bewertungsleistungen zum Ausschluss von der Prüfungstätigkeit führen kann, ist nach der Gesetzesbegründung insbesondere als Konsequenz und Weiterentwicklung der aktuellen Rechtsprechung des BGH zu sehen48. Wenngleich die Regelungen in § 319 Abs. 3 Nr. 3 HGB n. F. das Selbstprüfungsverbot betreffen, enthält das Gesetz keine generelle Aussage zu diesem Verbot. Auch § 319 Abs. 2 HGB n. F., der die Besorgnis der Befangenheit abstrakt beschreibt, beinhaltet das Selbstprüfungsverbot nicht explizit. Ist der Tatbestand des § 319 Abs. 3 HGB n. F. erfüllt, wird der Mangel an Unabhängigkeit unwiderleglich vermutet49. b) § 319a HGB n. F. § 319a HGB n. F. weitet die Fälle der Inhabilität für Unternehmen aus, die einen organisierten Kapitalmarkt im Sinne des § 2 Abs. 5 des Wertpapierhandelsgesetzes in Anspruch nehmen. § 319a Abs. 1 Nr. 1 HGB n. F. stimmt mit § 319 Abs. 3 Nr. 5 HGB n. F. grundsätzlich überein, hat jedoch einen anderen Schwellenwert; ein Wirtschaftsprüfer ist bereits dann von der Abschlussprüfung ausgeschlossen, wenn er mehr als 15% seiner Umsätze von der zu prüfenden Kapitalgesellschaft (oder deren Beteiligungsunternehmen) bezogen hat. § 319a Abs. 1 Nr. 4 HGB n. F. verschärft das Erfordernis der (bei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften nach § 319a Abs. 1 Satz 4 HGB n. F. internen) Rotation, das bereits nach § 319 Abs. 3 Nr. 6 HGB besteht; nach § 319a Abs. 1 Nr. 4 HGB n. F. darf ein Abschlussprüfer lediglich in sieben Fällen bei demselben Unternehmen den Bestätigungsvermerk zeichnen50. § 319a Abs. 1 Nr. 2 bis 3 HGB n. F. regelt Fälle bestimmter Beratungsleistungen, die vom Abschlussprüfer nicht erbracht werden dürfen. Während § 319a Abs. 1 Nr. 3 HGB n. F. die Mitwirkung an der Entwicklung, Einrichtung und Einführung von Rechnungslegungsinformationssystemen und damit wieder einen Bereich der Selbstprüfung betrifft, wird in § 319a Abs. 1 Nr. 2 HGB n. F. die Zulässigkeit von Rechts- und Steuerberatungsleistungen eingeschränkt.
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Http://www.pcaobus.org/rules/Sarbanes_Oxley_Act_of_2002.pdf. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 82 ff. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 78. Kritisch zur Entwurfsfassung und zur Auslegung: Pfitzer/Orth/Hettich, DStR 2004, 328 (335).
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In § 319a Abs. 1 Nr. 2 HGB n. F. wird jede rechtliche und steuerliche Beratung als mit der Abschlussprüfung unvereinbar erklärt, die über das Aufzeigen von Gestaltungsalternativen hinausgeht und sich auf die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage in dem zu prüfenden Jahresabschluss unmittelbar und nicht nur unwesentlich auswirkt. Bereits in der Begründung zum Entwurf des Gesetzes wurde darauf hingewiesen, dass mit dieser Neuregelung ein besonders sensibler Punkt aufgegriffen wird51. Während in § 319 Abs. 3 Nr. 3 HGB n. F. die bestehende Rechtslage mit der Rechtsprechung des BGH in die Neufassung des Gesetzes übernommen wurde52, geht die neue Regelung des § 319a Abs. 1 Nr. 2 HGB n. F. – jedenfalls nach der Intention des Gesetzgebers – deutlich über die bestehende Praxis hinaus. Aufgrund der bestehenden Rechtsprechung des BGH liegt eine gegen das Selbstprüfungsverbot verstoßende Beratung nicht vor, solange die Entscheidung selbst vom Unternehmer getroffen wird (s. oben zu II). Der Wortlaut des § 319a Abs. 1 Nr. 2 HGB n. F. übernimmt auf den ersten Blick diese Grenzziehung und erfasst nur die Beratung, die über das Aufzeigen von Gestaltungsalternativen hinausgeht und sich auf die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage in dem zu prüfenden Jahresabschluss unmittelbar und nicht nur unwesentlich auswirkt. In der Gesetzesbegründung wird jedoch ausgeführt, dass eine unmittelbare Auswirkung der Beratung auf die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage auch dann gegeben ist, wenn die Entscheidung beim Bilanzaufsteller verbleibt, ob er einer auf Gestaltung gerichteten Empfehlung des Beraters folgen will53. Bereits bei konkreten Vorschlägen und Empfehlungen soll eine potentiell schädliche Beratung vorliegen können54. Auf die funktionelle Entscheidungszuständigkeit käme es damit nicht mehr an.
IV. Zweck der neuen Maßnahmen Mit der Neuregelung der §§ 319, 319a HGB n. F. wird bezweckt, die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu sichern55 und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers wiederherzustellen56. Diese beiden Ziele werden in der Gesetzesbegründung synonym verwendet und es entsteht der Eindruck, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Zielen nicht deutlich genug gesehen wird. Ein Rahmen, der die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers gewährleistet, ist auch der geeignete Nährboden, auf dem das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit des Ab-
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Begründung zum Regierungsentwurf, S. 88. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 82 ff. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 89. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 89. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 50. Begründung zum Regierungsentwurf, S. 54.
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schlussprüfers wachsen kann. Es darf aber nicht der Fehler unterlaufen, Maßnahmen zu ergreifen, die allein auf die Bildung des Vertrauens abzielen, ohne tatsächlich die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu gewährleisten. Die innere Unabhängigkeit des Abschlussprüfers (independence in fact/ mind) muss klar von der Besorgnis der Befangenheit (independence in appearance) abgegrenzt werden. Mit der Neuregelung der §§ 319, 319a HGB n. F. werden allein Befangenheitsgründe geregelt (independence in appearance). Mit diesen Regelungen wird die innere Unabhängigkeit des Abschlussprüfers (independence in fact/mind) nicht gesteigert. Denn die Besorgnis der Befangenheit ist nicht daran geknüpft, dass tatsächlich eine Befangenheit besteht; das Kriterium der Besorgnis als solche ist ein objektiver Maßstab57. Bei der Besorgnis der Befangenheit geht es um die Frage, ob aus der Sicht eines objektiven und sachgerecht urteilenden Dritten die begründete Besorgnis besteht, dass die Prüfung nicht unbefangen und sachgerecht erfolgen wird58. Liegt danach die Besorgnis der Befangenheit vor, darf der Wirtschaftsprüfer nicht zum Abschlussprüfer bestellt werden, selbst wenn er tatsächlich unbefangen ist. Umgekehrt muss bei einem befangenen Abschlussprüfer nicht zwingend die Besorgnis der Befangenheit gegeben sein; dies ist insbesondere denkbar, wenn die die Befangenheit begründenden Umstände nicht von außen erkennbar sind und damit auch nicht das Vertrauen beeinträchtigen können59. Indem das Gesetz den Anschein möglicherweise bestehender Einschränkungen der Unabhängigkeit ausschließen will (independence in appearance), ist noch nicht erreicht, dass die Verlässlichkeit oder Zuverlässigkeit des Abschlussprüfers tatsächlich das Vertrauen rechtfertigt; das Vertrauen ist nur gerechtfertigt, wenn der Abschlussprüfer tatsächlich innerlich in seiner Entscheidung unbeeinflusst ist (independence in fact/mind). Da – wie die Begründung der gesetzlichen Neuregelung zeigt – die Trennung zwischen der tatsächlichen Befangenheit und dem Anschein der Befangenheit nicht klar gesehen wird, kommt es zu Regelungen, die zwar formell strenge Anforderungen hinsichtlich der Besorgnis der Befangenheit aufstellen, die tatsächliche (innere) Unabhängigkeit des Abschlussprüfers jedoch nicht steigern. Durch solche Maßnahmen wird das Vertrauen der Öffentlichkeit jedenfalls nach der Intention des Gesetzgebers gesteigert; dieses Vertrauen basiert jedoch auf einer Illusion hinsichtlich der tatsächlichen Unabhängigkeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann dieses Vertrauen abermals enttäuscht werden wird. Der Vertrauensschaden kann in diesem Fall noch größer werden, als er jetzt schon ist.
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57 Schüppen, WPg. 2003, 750 (751); Jäckel (Fn. 11), S. 40; Richter (Fn. 10), S. 101;
Thümmel, WPg. 1986, 643 (647). 58 BGHZ, 153, 32 (40); Schüppen, WPg. 2003, 750 (751); zum Vorschlag, auf die Sicht
eines sachverständigen und informierten Dritten abzustellen: Lanfermann/ Lanfermann, DStR 2003, 900 (906). 59 Vgl. Welf Müller, WPg. 2003, 741 (743 f.).
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Gesetzliche Regelungen, die unmittelbar auf den Effekt der Vertrauensbildung zielen (Besorgnis der Befangenheit), ohne einen wirkungsvollen Rahmen zu schaffen, der die tatsächliche Unabhängigkeit gewährleistet, vergrößern die Erwartungslücke, die eine wesentliche Ursache für den bestehenden Vertrauensverlust ist. Die Kritik an der Wirtschaftsprüfung zeigte schon in der Vergangenheit eine überhöhte Erwartungshaltung der Öffentlichkeit60. Im Bestätigungsvermerk wird häufig ein „absolutes Gütesiegel“ zur wirtschaftlichen Lage gesehen, wobei verkannt wird, dass auch ein Unternehmen in der Krise bei getreuer Rechnungslegung über die eigene Situation Anspruch auf ein uneingeschränktes Testat hat. Der Abschlussprüfer wird – entgegen seiner gesetzlichen Funktion – als öffentlicher Krisenwarner gesehen. Dieser Rolle kann er nicht gerecht werden, selbst wenn er ihr – entgegen der ihm vom Gesetz zugedachten Rolle – gerecht werden wollte61. Neben den Erwartungen der Öffentlichkeit wird der Abschlussprüfer zudem mit den Vorbehalten der geprüften Gesellschaften konfrontiert, die „Angst vorm Prüfer als Spion“62 haben. Diese Vorbehalte wurden bereits durch den Widerstand gegen die Einführung der Pflichtprüfung deutlich63. Die Interessen der geprüften Gesellschaft stimmen nicht immer überein mit denen der Öffentlichkeit. Vor allem in der Krise kann es zwischen Abschlussprüfer und geprüfter Gesellschaft zu Differenzen darüber kommen, wie problematisch die Krise dargestellt wird; dabei hört der Abschlussprüfer gelegentlich auch den Vorwurf, dass er durch Einschränkung eines Testats erst einen vollen Ausbruch der Krise bewirken würde. Es besteht mithin ein Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Interessen und Erwartungen von Unternehmen, Öffentlichkeit und Abschlussprüfer. Der Gegensatz resultiert aus dem Lebenssachverhalt und lässt sich nicht aufheben. Entscheidend ist vielmehr, dass ein normativer Rahmen geschaffen wird, in dem die Position des Abschlussprüfers innerhalb der Interessengegensätze eindeutig bestimmt ist. Jede Unschärfe des Gesetzes trägt dazu bei, dass falsche Vorstellungen über die Rolle des Abschlussprüfers geweckt werden64. Eine Erwartungslücke wird durch unklare Vorgaben erzeugt oder vergrößert. Vor dem beschriebenen Hintergrund sollte eine gesetzliche Neuregelung nicht primär auf die Schaffung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Un-
__________ 60 Vgl. dazu Mertens in Busse von Colbe/Lutter (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung heute:
61 62 63 64
Entwicklung oder Reform?, 1977, S. 15 (20); Hommelhoff, AG 1977, 237; Goerdeler, IdW-Fachtagung 1981, S. 83 (85); ähnlich für die USA, Mednick, Journal of Accountancy, 2/1986, S. 70 (72). Erle (Fn. 2), S. 2. Hus, Handelsblatt v. 23.4.2004, S. 6. Erle (Fn. 2), S. 2. Erle (Fn. 2), S. 3.
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abhängigkeit des Abschlussprüfers durch Regelungen zur Besorgnis der Befangenheit abzielen. Vorrangiges Ziel sollte dagegen die auch in der Gesetzesbegründung ausdrücklich als Ziel genannte Verbesserung der tatsächlichen Unabhängigkeit des Abschlussprüfers (independence in fact/mind) durch einen geeigneten gesetzlichen Rahmen sein. Wenn die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers gesteigert wird, entsteht als Folge auch ein berechtigtes Vertrauen in diese Unabhängigkeit des Abschlussprüfers. Ein solches berechtigtes Vertrauen der Öffentlichkeit kann nur dort nachhaltig gewährleistet werden, wo die Erwartung, die das Vertrauen begründet, auch auf realistischen Annahmen beruht. Deshalb kann Vertrauen allein die Folge von Maßnahmen sein, die die innere Unabhängigkeit des Abschlussprüfers effektiv gewährleisten und keine falschen Vorstellungen in der Öffentlichkeit wecken. Dazu gehört ein deutlicher und realistischer gesetzlicher Rahmen, der in der Praxis auch durch geeignete Maßnahmen kontrolliert und durchgesetzt wird.
V. Wirkung der Maßnahmen auf die Steuerberatung durch den Abschlussprüfer 1. Was erreicht die Neuregelung der §§ 319, 319a HGB? Die Neuregelung der §§ 319, 319a HGB n. F. führt voraussichtlich zu Ergebnissen, die so nicht gewollt sind. Während § 319 HGB n. F. im Bereich der Steuerberatung im Wesentlichen nur den bestehenden Rechtszustand fortschreibt, wird die Einfügung des § 319a HGB n. F. erhebliche Auswirkungen haben. Mit der Einfügung des § 319a HGB n. F. werden die Fälle, in denen ein Wirtschaftsprüfer wegen einer steuerlichen Beratung in der Praxis nicht mehr als Abschlussprüfer einer Gesellschaft in Frage kommt, ausgeweitet. Zwar ist in der verabschiedeten Gesetzesfassung anders als im vorangegangenen Regierungsentwurf die gerichtliche Vertretung nicht mehr als genereller Ausschlussgrund enthalten. Dieser Ausschlussgrund wäre sehr problematisch gewesen, da jede erlaubte außergerichtliche Vertretung potentiell auch zu einer gerichtlichen Vertretung führt, bei der dann ein Beraterwechsel notwendig gewesen wäre, wenn der außergerichtliche Berater auch Abschlussprüfer ist. Dabei leuchtet es nicht ein, dass durch die Fortführung einer außergerichtlichen Streitigkeit im gerichtlichen Verfahren die Besorgnis der Befangenheit begründet wird65. Noch in der Begründung zum Regierungsentwurf wurde ausgeführt, dass auch in der Empfehlung der EU-Kommission „Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in der EU – Grundprinzipien“ vom 16.5.2002 und im Sarbanes-Oxley-Act die gerichtliche Interessenvertretung
__________ 65 Welf Müller, WPg. 2003, 741 (747); vgl. auch die Stellungnahme des IDW zum
Bilanzrechtsreformgesetz v. 23.1.2004, S. 18, http://www.idw.de.
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erwähnt werden66. In der Empfehlung der EU-Kommission wird die gerichtliche Interessenvertretung jedoch nicht als per se mit der Tätigkeit des Abschlussprüfers unvereinbar angesehen67. Nur in dem Fall, dass sich der streitige Sachverhalt wesentlich auf den Jahresabschluss auswirkt und mit einem hohen Maß an Subjektivität verbunden ist, wird ein hohes Risiko der Interessenvertretung und der Prüfung der eigenen Leistung durch den Abschlussprüfer gesehen68. Auch der Hinweis in der Begründung zum Regierungsentwurf auf den Sarbanes-Oxley-Act überzeugt nicht, denn den amerikanischen Regelungen liegt eine ganz andere Rechtstradition zugrunde. Es ist zu begrüßen, dass der Ausschlussgrund der gerichtlichen Vertretung nicht in die Neufassung des Gesetzes aufgenommen wurde. Gleichwohl kann die Neuregelung des Gesetzes über den Wortlaut hinaus dazu führen, dass Unternehmen generell darauf verzichten, vom Abschlussprüfer steuerlich beraten zu werden. Die Unternehmen bzw. Aufsichtsräte werden wahrscheinlich nicht jedes Jahr erneut bereit sein, die konkreten Beratungsleistungen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit der Prüfung nach § 319a Abs. 1 Nr. 2 HGB n. F. zu beurteilen69. Vor allem aber ergeben sich in der Neuregelung gesetzliche Unschärfen, die einer Rechtssicherheit entgegenstehen und dazu Anlass geben können, Prüfung und Beratung per se zu trennen; denn Wortlaut und Begründung des Gesetzes lassen nicht eindeutig erkennen, wann die Schwelle zur unzulässigen Beratung überschritten wird70. Konkrete Vorschläge und Empfehlungen werden nach der Begründung des Gesetzes als schädlich angesehen. Professionelle Steuerberatung geht in der Regel jedoch weit über das Aufzeigen der Rechtslage hinaus und muss aufgrund der Sorgfaltspflichten des Steuerberaters für den Mandanten optimale Empfehlungen enthalten. Wenn ein Konzern beispielsweise die Absicht hätte, die Anzahl der Gesellschaften zu reduzieren, könnte der Berater die steuerliche Wirkung einer Verschmelzung der Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft im Gegensatz zur Wirkung einer umgekehrten Verschmelzungsrichtung darstellen. Dies wäre nach der Neuregelung des Gesetzes unschädlich. Wenn die Verschmelzung der Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft steuerlich eindeutig vorteilhafter wäre, würde der Mandant sicherlich diesen Weg wählen, wenn dem keine außersteuerlichen Gründe entgegenstehen. Würde der Berater nun anstelle oder am Ende der Darstellung der Rechtslage die steuerlich zwingende Empfehlung geben, die Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft zu verschmelzen, wäre nach der Begründung des Gesetzes jedoch eine
__________ 66 67 68 69 70
Begründung zum Regierungsentwurf, S. 90. Empfehlung der EU Kommission (Fn. 37), 7.2.5. Empfehlung der EU Kommission (Fn. 37), 7.2.5.2. Pfitzer/Orth/Hettich, DStR 2004, 328 (334). Der Arbeitskreis der Hochschullehrer Rechtswissenschaft sieht in der Formulierung des § 319a HGB n. F. ein gefährliches Auslegungspotential, BB 2004, 546 (548).
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schädliche Beratung gegeben; denn es würde ein konkreter Vorschlag gemacht, der sich nicht lediglich auf eine bestehende Situation bezieht, sondern auf eine Gestaltung. Mit der Neuregelung des Gesetzes würde erreicht, was ausweislich der Gesetzesbegründung71 nicht erreicht werden sollte, nämlich die generelle Trennung von Prüfung und Steuerberatung. Die Steuerberatung durch den Wirtschaftsprüfer ist Bestandteil seines Berufsbildes (§ 2 Abs. 2 WPG) und hat für Unternehmen und Öffentlichkeit erhebliche Vorteile. Der beratende Abschlussprüfer hat aufgrund seiner Beratung vertiefte Kenntnisse vom zu prüfenden Unternehmen und kann diese Kenntnisse bei der Abschlussprüfung nutzen72. Dadurch wird die Qualität der Abschlussprüfung gesteigert. Dafür spricht auch eine amerikanische Studie, bei der der Zusammenhang zwischen der Qualität der Abschlussprüfung und dem Volumen der Beratungsleistungen durch den Abschlussprüfer bei 944 Gesellschaften in den Jahren 1995 bis 2000 untersucht wurde73. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Qualität der Abschlussprüfung bei den Gesellschaften besonders hoch war, bei denen auch erhebliche Steuerberatungsleistungen durch den Abschlussprüfer erbracht wurden74. Auf der anderen Seite kann der Abschlussprüfer aufgrund seiner im Rahmen der Abschlussprüfung gewonnenen Erkenntnisse vom Unternehmen regelmäßig effizienter beraten. Dadurch wird die Qualität der Beratung für das Unternehmen gesteigert. Ein Berater, der das Unternehmen nicht kennt, wird wegen der erforderlichen Einarbeitung in die Situation des Unternehmens zudem regelmäßig ein höheres Honorar verlangen. So ist denn gerade auch das Kostenelement der tragende Gesichtspunkt, der schon in der Vergangenheit den Gesetzgeber dazu veranlasst hat, Prüfung und Beratung nicht generell zu trennen75. Im Übrigen erfordert die Abschlussprüfung hochspezialisiertes Wissen und Erfahrung auf allen Gebieten des deutschen und des internationalen Steuerrechts. Die dazu erforderliche Fachkompetenz ist mit Prüfungstätigkeit allein nicht zu erlangen und zu halten. In den Prüfungsgesellschaften tätige Experten würden voraussichtlich bei einem Verbot der Beratung von den Prüfungsgesellschaften abwandern. Die Erfahrungen in den USA mit dem Sarbanes-Oxley-Act zeigen zudem, dass kostenträchtige Anforderungen an die Unternehmen dazu führen können, dass sich Unternehmen vom öffentlichen Kapitalmarkt zurückziehen; so haben sich in den ersten 16 Monaten seit Einführung des Sarbanes-Oxley-
__________ 71 Begründung zum Regierungsentwurf, S. 88. 72 Schwandtner, DStR 2002, 323 (326) m. w. N. 73 Studie von Kinney/Palmrose/Scholz v. 14.5.2003, http://www.mccombs.utexas.
edu/news/auditorindependence.pdf. 74 Studie von Kinney/Palmrose/Scholz (Fn. 73), S. 26. 75 Röhricht, WPg. 1998, 153 (163) mit Hinweis auf die Gesetzesentwicklung.
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Acts 18 Gesellschaften vom Kapitalmarkt verabschiedet76. Mittlerweile erwägen 21% der gelisteten Gesellschaften eine Deregistration (so genanntes Going Dark)77. Auch in Deutschland könnten Gesellschaften den organisierten Kapitalmarkt verlassen, um nicht dem Anwendungsbereich des § 319a HGB n. F. zu unterliegen. Dies entspricht nicht dem öffentlichen Interesse, das gerade in Deutschland darauf zielt, die im Vergleich mit dem Ausland noch wenig ausgeprägte Aktienkultur weiter auszubauen. Auch wenn die Regelung des § 319a HGB n. F. nur für kapitalmarktorientierte Unternehmen gilt, besteht zudem die Gefahr, dass die Regelung auf andere Unternehmen durch den Druck des Marktes übertragen wird; ein entsprechender Druck kann beispielsweise von der kreditgebenden Bank ausgehen oder bei Unternehmen der öffentlichen Hand entstehen. 2. Was erreicht die Neuregelung der §§ 319, 319a HGB nicht? Während die Gesetzesänderung bewirken könnte, was sie nicht bewirken soll, und damit über das Ziel hinausschießt, besteht gleichzeitig die Gefahr, dass sie viele Fälle nicht erfasst, die erfasst werden sollten. a) Erfahrungen mit bilanzpolitischen Maßnahmen In der Gesetzesbegründung wird das Beispiel eines Wirtschaftsprüfers genannt, der nicht mehr unabhängig ist, weil er während eines Geschäftsjahres empfiehlt, bestimmte Risiken auf so genannte Zweckgesellschaften auszulagern, die aufgrund der derzeit noch bestehenden Regelung des § 290 HGB nicht im Konzernabschluss zu erfassen sind78. Diesen Fall der Inhabilität soll die Neuregelung nun mit der Vorschrift des § 319a Abs. 1 Nr. 3 HGB n. F. erfassen. Tatsächlich liegt jedoch in dem Beispiel gerade keine Beratung vor, die auf die Lösung einer rechtlichen oder steuerlichen Fragestellung gerichtet ist. Es handelt sich vielmehr um eine rein bilanzpolitische Gestaltungsberatung, die im Gesetz gerade nicht explizit genannt wird. Bei dem geschilderten Beispiel aus der Gesetzesbegründung wird zudem deutlich, wie Zweck und Wirkung des Gesetzes auseinander driften. Die Erinnerung an Fälle der Verschleierung der Verhältnisse und Unternehmenszusammenbrüche der Vergangenheit wird geweckt. Nur wird in dem Beispiel auch erwähnt, dass § 290 HGB die Eliminierung der Risiken im Konzernabschluss erlaubt. Jeder unabhängige Abschlussprüfer würde einen entsprechenden Abschluss ohne die Risiken in den Zweckgesellschaften testieren,
__________ 76 Hülsen/Ottomeier, Financial Times Deutschland v. 25.8.2004 mit Hinweis auf
eine Studie der Unternehmensberatung Grant Thornton. 77 Gersemann, Wirtschaftswoche v. 9.9.2004 mit Hinweis auf eine Studie von Foley
& Lardner. 78 Begründung zum Regierungsentwurf, S. 89.
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Steuerberatung durch den Abschlussprüfer
wenn die Nichteinbeziehung der Zweckgesellschaften in den Konzernabschluss dem Gesetz entspricht; von welchem Berater eine solche Gestaltungsempfehlung käme, würde dabei keine Rolle spielen. Das eigentlich problematische Element ist die handelsrechtliche Regelung, die entsprechende bilanzpolitische Maßnahmen erlaubt. Dieses Element wird durch die §§ 319, 319a HGB n. F. nicht berührt. Das Problem der Behandlung der beschriebenen Zweckgesellschaften nach § 290 HGB wird auf anderem Wege, der mit der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers nichts zu tun hat, gelöst; denn Unternehmen, die als Wertpapieremittenten an einem organisierten Kapitalmarkt auftreten, sind nach der IAS-Verordnung verpflichtet, ab 2005 in ihren Konzernabschlüssen zwingend die International Accounting Standards (IAS – künftig IFRS = International Financial Reporting Standards) anzuwenden79. Mit der Neuregelung der §§ 319, 319a HGB werden Erwartungen verbunden, die sie nicht erfüllen kann; es wird Vertrauen der Öffentlichkeit durch eine Neuregelung geschaffen, das auf einer falschen Vorstellung beruht und enttäuscht werden wird. Die Einschränkung der steuerlichen Beratung durch den Abschlussprüfer aufgrund der §§ 319, 319a HGB n. F. wird nicht die Wirkung haben, die Wiederholung von Unternehmenszusammenbrüchen, wie sie in der Vergangenheit stattgefunden haben, zu verhindern80; denn es liegen keine Hinweise vor, dass die steuerliche Beratung durch ein und denselben Abschlussprüfer die Ursache für Bilanzskandale in der Vergangenheit war81. b) Erfahrungen mit Bilanzskandalen im Ausland Bereits in der Gesetzesbegründung wird festgestellt, dass die Unternehmenskrisen der Vergangenheit nur zum Teil deutsche Unternehmen betrafen82. Der spektakulärste Fall im Ausland betraf Enron. Im Fall von Enron wurde die wirtschaftliche Situation des Unternehmens unzutreffend positiv dargestellt; dies geschah insbesondere durch die Schaffung von Zweckgesellschaften (Special Purpose Entities), mit denen Verluste „ausgelagert“ wurden83. Der zum Fall Enron verfasste Untersuchungsbericht bemängelt unter anderem, dass der Abschlussprüfer seine Pflichten nicht in ausreichendem Maße wahrgenommen und die Vorgänge teilweise falsch beurteilt hat84.
__________ 79 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v.
80 81 82 83 84
19.7.2002 betreffend internationale Rechnungslegungsstandards, ABl. EG Nr. L 243, S. 1 – forum.europa.eu.int/irc/dsis/bmethods/info/data/new/1606-02de.pdf. So auch Peemöller/Oehler, BB 2004, 539 (546). Pfitzer/Orth/Hettich, DStR 2004, 328 (335). Begründung zum Regierungsentwurf, S. 54. Report of investigation by the special investigative committee of the board of directors of Enron Corp., www.nysb.uscourts.gov. Report of investigation by the special investigative committee of the board of directors of Enron Corp. (Fn. 83), S. 24 f.
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Ebenfalls wird in dem Bericht erwähnt, dass der Abschlussprüfer Enron auch bilanzpolitisch beraten hat und dabei erhebliche Honorare erhielt85. Jedoch finden sich keine Hinweise darauf, dass eine Steuerberatung durch den Abschlussprüfer für eine unzureichende Abschlussprüfung auslösend war. Tiefgehende Steuerberatung ist bei einer Gesellschaft mit einer tatsächlich schlechten Ertragslage auch nicht notwendig. Damit ist auch nicht ersichtlich, dass sich durch die Einschränkung der Steuerberatung durch den Abschlussprüfer ein theoretischer Fall Enron in Deutschland besser verhindern ließe als mit den vorhandenen Regeln zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers. Im Fall Enron lag eine bilanzpolitische Beratung durch den Abschlussprüfer vor, die auf eine Verbesserung der bilanziellen Situation im Konzernabschluss abzielte. Ziel der Beratung war nicht die Lösung eines steuerlichen Problems oder einer steuerlichen Zielsetzung. Dies zeigt sehr deutlich, wie sehr die Neuregelung an den Bedürfnissen vorbeigeht. Dabei ist auch zu bedenken, dass die Bilanzskandale der Vergangenheit häufig Betrugsfälle waren, bei denen das Management der Kapitalgesellschaft vorsätzlich den wahren Sachverhalt verschleiert hat. Diese Betrugsfälle können auch durch einen unabhängigen Abschlussprüfer nur begrenzt aufgedeckt werden. Dabei unternehmen die Abschlussprüfer im Übrigen bereits jetzt erhebliche Anstrengungen, eine maximale Unabhängigkeit und Effizienz der Prüfung zu gewährleisten; denn es entspricht dem ureigensten Interesse des Abschlussprüfers, zur Erhaltung der eigenen Reputation nicht in einen Haftungsfall verwickelt zu werden. c) Erfahrungen mit Bilanzskandalen in Deutschland Auch mit Blick auf die Unternehmenszusammenbrüche in Deutschland gibt es keine Hinweise, dass eine Trennung von Steuerberatung und Abschlussprüfung geeignet ist, die Rolle des Abschlussprüfers zu verbessern. Soweit bei diesen Zusammenbrüchen überhaupt eine Sorgfaltspflichtverletzung des Abschlussprüfers angenommen wurde, stand diese nicht damit im Zusammenhang, dass der Abschlussprüfer auch steuerlichen Rat erteilt hat. Besonders eindrucksvoll sind im Übrigen die Fälle, in denen geklärt ist, dass überhaupt keine Pflichtverletzung durch den Abschlussprüfer gegeben ist, und trotzdem eine Unternehmenskrise vorliegt (z. B. beim Fall Holzmann). Hier wird deutlich, dass die Öffentlichkeit das Testat noch immer – fälschlicherweise – als Gütesiegel zur wirtschaftlichen Lage sieht – die Unabhängigkeit jedoch nicht das Thema ist.
__________ 85 Report of investigation by the special investigative committee of the board of
directors of Enron Corp. (Fn. 83), S. 24 f.
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Steuerberatung durch den Abschlussprüfer
Dafür, gerade die Steuerberatung einzuschränken, gibt es vor dem beschriebenen Hintergrund keinen Anlass. Es ist nicht ersichtlich, dass in diesem Bereich der Beratung besonders häufig die Grenze zum Selbstprüfungsverbot überschritten wird. In Deutschland folgt dies für die Steuerberatung auch nicht aus der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz86. Zwar sind Steuerbilanz und Handelsbilanz durch Maßgeblichkeit und umgekehrte Maßgeblichkeit bis zu einem gewissen Grad miteinander verknüpft. Wer Steuerbilanzpolitik betreiben möchte, beeinflusst deshalb häufig auch die Handelsbilanz. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz ist jedoch durch spezielle steuerliche Bilanzierungsvorschriften erheblich eingeschränkt. Für Konzernabschlüsse gibt es zudem keinen Maßgeblichkeitsgrundsatz; zumal dem Steuerrecht ein Konzernabschluss fremd ist und der Konzernabschluss auch handelsrechtlich nicht mit dem Einzelabschluss verknüpft ist (§§ 300 Abs. 2 Satz 2, 308 Abs. 1 Satz 2 HGB). Schließlich fehlt auch jede Verknüpfung von Steuerbilanz und Abschlüssen nach internationalen Rechnungslegungsstandards (US-GAAP, IFRS). Der Gesetzgeber löst mit der Einschränkung der Steuerberatung durch den Abschlussprüfer ein Problem, das nicht besteht, und schafft damit die nicht gerechtfertigte Erwartung in der Öffentlichkeit, nun habe sich durch diese Maßnahme die Qualität der Abschlussprüfung verbessert. Damit vergrößert sich die Erwartungslücke. 4. Alternative Maßnahmen Die §§ 319, 319a HGB n. F. schränken die Zulässigkeit der Steuerberatung durch den Abschlussprüfer in einer Weise ein, die nicht geeignet ist, die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu verbessern. Stattdessen gefährden sie die bestehende sinnvolle Praxis der Steuerberatung durch den Abschlussprüfer. Anstelle der Einschränkung der Steuerberatung durch den Abschlussprüfer sollten andere Modelle der Stärkung der Rolle des Abschlussprüfers in den Fokus rücken, die eine Steigerung der inneren Unabhängigkeit des Abschlussprüfers bewirken. Der „Maßnahmenkatalog der Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes“87 enthält bereits andere Ansätze, die geeignet sind, das angestrebte Ziel zu erreichen, wie z. B. die Stärkung der Berufsaufsicht über Wirtschaftsprüfer durch erweiterte Ermittlungs- und Sanktionsmöglichkeiten für die Wirtschaftsprüferkammer und eine Einbeziehung unabhängiger Dritter in die Aufsicht88. Gerade auch die Fälle der Vergangenheit haben gezeigt, dass es häufig nicht an
__________ 86 Welf Müller, WPg. 2003, 741 (747); vgl. auch Hense/Veltins in BeckBilKomm.,
§ 319 HGB Rz. 26. 87 BMJ, Schreiben Nr. 10/03 v. 25.2.2003. 88 S. hierzu auch das Gesetz zur Fortentwicklung der Berufsaufsicht über Abschluss-
prüfer in der Wirtschaftsprüferordnung (Abschlussprüferaufsichtsgesetz – APAG) v. 27.12.2004, BGBl. I 2004 S. 3846.
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Rechtsnormen mangelt, die die Richtigkeit des Testats gewährleisten könnten, sondern an geeigneten Aufsichtsinstrumenten, die sicherstellen, dass Rechtsverstöße frühzeitig entdeckt werden. Zudem gibt es auch weitere wirkungsvolle Ansätze, die die Position des Abschlussprüfers stärken. Ein wichtiger Schritt, der bereits vollzogen wurde, ist die Erteilung des Prüfungsauftrages durch den Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 2 Satz 3 AG89, nachdem der Abschlussprüfer von der Hauptversammlung (§ 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG) auf Vorschlag des Aufsichtsrates (§ 124 Abs. 3 AktG) gewählt wurde. Durch die Abkoppelung der Auftragserteilung von der operativen Geschäftsführung wird bereits zu Beginn des Auftragsverhältnisses klar, dass der Abschlussprüfer primär dem Aufsichtsgremium gegenüber verpflichtet ist. Eine wesentliche Stärkung der Rolle des Abschlussprüfers sieht auch der Deutsche Corporate Governance Kodex vor90. Danach hat der Aufsichtsrat einen Prüfungsausschuss (Audit Committee) zu bilden, der sich unter anderem mit dem Risikomanagement, der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und der Bestimmung der Prüfungsschwerpunkte befasst (Ziff. 5.3.2. des Kodex). Während der Abschlussprüfung gibt es einen engen Kontakt zwischen Abschlussprüfer und Prüfungsausschuss (Ziff. 7.2.3. und 7.2.4. des Kodex). Jede Abweichung von den Soll-Vorschriften des Kodex ist nach § 161 AktG, der durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz in das Aktiengesetz eingefügt wurde, beim Jahresabschluss anzugeben91. Beim Konzernabschluss wäre zu überdenken, inwieweit es angebracht ist, dass der Konzernabschlussprüfer bei geprüften Tochtergesellschaften auf eine eigene Prüfung verzichten kann (§ 317 Abs. 3 Satz 2 und 3 HGB). Gerade bei Auslandsgesellschaften erscheint eine eigene Prüfung des Konzernabschlussprüfers geeignet, Fehler, die auch aus unterschiedlichen Auslegungen der Rechnungslegungsvorschriften resultieren können, zu vermeiden. Auch die Umstellung auf internationale Rechnungslegungsstandards ist ein wesentlicher Schritt, die Aussagekraft des Jahresabschlusses zu steigern. Eine solche Umstellung ergibt sich aus der IAS-Verordnung92. Danach sind Unternehmen, die als Wertpapieremittenten an einem organisierten Kapitalmarkt auftreten, verpflichtet, ab 2005 in ihren Konzernabschlüssen zwingend die International Accounting Standards (IAS – künftig IFRS = International Financial Reporting Standards) anzuwenden.
__________ 89 Eingefügt durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbe-
reich (KonTraG) v. 27.4.1998, BGBl. I 1998 S. 786. 90 Deutscher Corporate Governance Kodex in der Fassung v. 21.5.2003, http://www.
corporate-governance-code.de. 91 Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und
Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz) v. 19.7.2002, BGBl. I 2002 S. 2681. 92 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v.
19.7.2002 betreffend internationale Rechnungslegungsstandards (Fn. 79).
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Steuerberatung durch den Abschlussprüfer
Zu berücksichtigen ist zudem, dass die oben beschriebenen Maßnahmen durch bestehende strafrechtliche Vorschriften flankiert werden. Gemäß § 331 HGB werden bestimmte falsche Angaben durch Mitglieder der vertretungsberechtigten Organe oder des Aufsichtsrates von Kapitalgesellschaften strafrechtlich sanktioniert. Dies beinhaltet nach § 331 Nr. 4 HGB ausdrücklich falsche Angaben gegenüber dem Abschlussprüfer im Zusammenhang mit den Aufklärungen und Nachweisen nach § 320 HGB; die Unterlassung von Angaben wird strafrechtlich ebenfalls erfasst (§ 13 StGB)93. Auch die Bilanzskandale in Deutschland zogen strafrechtliche Verfahren nach sich. Zwar stehen dabei häufig keine Vorschriften des Nebenstrafrechts im Zentrum. Dies liegt jedoch lediglich daran, dass das Strafgesetzbuch selbst diverse bilanzrechtlich relevante Deliktstatbestände enthält94 und neben diesen die Vorschriften des Nebenstrafrechts in der Praxis nach § 154 StPO nicht verfolgt werden95. VI. Zusammenfassung Die Auswirkungen der jüngeren Bilanzskandale haben deutlich gemacht, welche wichtige Rolle die Abschlussprüfung für den funktionierenden Kapitalmarkt hat. Wenn die Öffentlichkeit kein Vertrauen in die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers hat, verliert die Abschlussprüfung ihre Bedeutung. Maßnahmen, die das Vertrauen stärken, sind damit im Interesse des Kapitalmarktes, der Öffentlichkeit, der geprüften Unternehmen und der Abschlussprüfer selbst. Wenn der Gesetzgeber die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer stärken will, muss er deren Position stärken. Wenn der Gesetzgeber mit seinen Maßnahmen indirekt ein Fehlverhalten unterstellt, obwohl dies nicht gegeben war, schwächt er die Stellung der Institution Abschlussprüfung. Die Probleme der Abschlussprüfung hatten ihren Grund nicht in der gleichzeitigen Steuerberatung durch den Abschlussprüfer. Soweit mit der Neuregelung der §§ 319, 319a HGB die Vereinbarkeit der Steuerberatung mit der Abschlussprüfung eingeschränkt wird, verfehlt die Neuregelung daher ihr Ziel, die Abschlussprüfung zu stärken. Die bereits bestehenden Regelungen, die insbesondere vom BGH konkretisiert worden sind, ziehen eine praktikable und sinnvolle Grenze zwischen der zulässigen Beratung und dem Verbot der Selbstprüfung, die überschritten wird, wenn der Berater zum Entscheider wird. Diese Grenze ist bei jeder Beratung – nicht nur der Steuerberatung – zu beachten. Weiter gehende Regelungen, die noch dazu erheblichen Interpretationsspielraum eröffnen, sind ein Teil der zukünftigen Probleme und keine Lösung derselben. Eine durch die Neuregelung bewirkte Rechtsunsicherheit kann
__________ 93 Für Einzelheiten s.: Hense in BeckBilKomm., § 331 HGB Rz. 14. 94 Übersicht bei Maul, DB 1989, 185 (191). 95 Vgl. Tiedemann in Scholz, GmbHG, Band II, 9. Aufl. 2002, Vorb. § 82 Rz. 1 f.
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dazu führen, dass es zu einer generellen Trennung von Abschlussprüfung und Beratung kommt, obwohl dies nicht gewollt und nicht sinnvoll ist. Eine solche Trennung führt zu größeren Kosten für die Unternehmen und begründet das Risiko, dass sich Unternehmen vom öffentlichen Kapitalmarkt zurückziehen. Mehr Unabhängigkeit wird durch eine generelle Trennung von Prüfung und Beratung nicht erreicht. Insbesondere die Schwierigkeiten, die bei Abschlussprüfungen im Zusammenhang mit Unternehmenszusammenbrüchen erkennbar wurden, werden durch die Trennung der Steuerberatung von der Abschlussprüfung nicht reduziert oder gar beseitigt. Statt einer Trennung von Prüfung und Beratung ist vielmehr die Rolle des Abschlussprüfers gegenüber der Geschäftsführung der zu prüfenden Gesellschaft weiter zu verstärken. Soweit der Gesetzgeber Maßnahmen in diese Richtung ergreift, geht er den richtigen Weg. Gerade die Einrichtung eines Prüfungsausschusses aus Mitgliedern des Aufsichtsrates nach dem Corporate Governance Kodex und die Erweiterung der Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer sind wesentliche Schritte zur Stärkung der Rolle des Abschlussprüfers. Daneben ist auch der Umfang der Prüfung im Konzern auszubauen.
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Wahrheit und Dichtung – oder: Aspekte zur Wiederherstellung des Vertrauens in Bilanzen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Streit um das materielle Bilanzrecht: HGB vs. Internationale Standards 1. Wahlrechte und Manipulationsspielräume bei der Bilanzierung 2. Stille Reserven vs. stille Lasten III. Die Bilanzkontrolle durch den Aufsichtsrat 1. Die eigene Prüfungspflicht des Aufsichtsrats
2. Vorbereitung der Prüfung durch einen besonderen Ausschuss (Audit Committee) IV. Die neue Bilanz-Inquisition: Enforcement nach dem BilKoG 1. Grundkonzeption 2. Prüfungsmaßstab: Keine Beschränkung auf Nichtigkeitsprüfung 3. Rechtsfolgen festgestellter Bilanzfehler, insbesondere die Wege zur Fehlerberichtigung und die Auswirkungen auf Zahlungsansprüche
I. Einleitung Die Bilanz ist ein „Gemisch von Wahrheit und Dichtung“, wird manchmal gesagt1. Immerhin erscheint dabei die Wahrheit noch vor der Dichtung. Nach jüngeren Bilanzskandalen kann man den Eindruck gewinnen, mitunter sei die Reihenfolge umgekehrt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedenfalls manchmal deutlich auseinander: Nach §§ 264 Abs. 2 Satz 1, 297 Abs. 2 Satz 2 HGB soll der Abschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanzund Ertragslage vermitteln. Ähnlich formulieren übrigens auch die Internationalen Rechnungslegungsstandards (s. IAS 1.13). Spiegelt man daran die Bilanzen in drei jüngeren Fällen, die für Aufsehen gesorgt haben, stellt sich Ernüchterung ein: Im Fall Comroad wurden 95 % der Umsätze frei erfunden. Der angebliche Vertragspartner in Hongkong existierte gar nicht. Bei Enron wurden zum einen Schulden in nicht konsolidierte spezielle Zweckgesellschaften (Special Purpose Entities) „outgesourct“; der Konzernabschluss wies diese Verbindlichkeiten der Gruppe nicht aus. Außerdem wurden beträchtliche Erträge durch fair-value-Bewertung von langlaufenden Energiekontrakten, Energie- und sogar Wetter-Derivaten „generiert“2. Im Fall
__________ 1 2
Clemm in FS Budde, 1995, S. 135 (144). Vgl. Lüdenbach/W.-D. Hoffmann, DB 2002, 1169 ff.
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Parmalat schließlich wird berichtet, 3 Mrd. Euro Liquidität seien auf den Cayman Islands „spurlos verschwunden“. Mit einem getreuen Abbild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft oder der Gruppe hat all das nichts zu tun. Eher erinnert die Bilanzierung an Zauberei. Die Angelsachsen sprechen denn auch schön von „accounting hocus-pocus“. An sich überraschen die Häufigkeit und die Schwere der publik gewordenen Bilanzfehler. Denn um eine seriöse Bilanzerstellung und -kontrolle sollen sich nach der gesetzlichen Konzeption gleich eine ganze Reihe von Akteuren bemühen: Nach der Bilanzaufstellung durch den Vorstand erfolgt eine gesetzliche Abschlussprüfung (§§ 316 ff. HGB) durch sachverständige Wirtschaftsprüfer, an deren Qualifikation hohe Anforderungen gestellt werden und die außerdem einem Peer Review (§ 57a Abs. 3 WPO) unterliegen. Zusätzlich sieht das Gesetz eine innergesellschaftliche Prüfung der Abschlüsse durch den Aufsichtsrat (§ 171 AktG) vor. Hinzutreten können gerichtliche Kontrollverfahren (§§ 256, 257, 258 ff. AktG). Dieses mehrstufige Prüfsystem soll an sich Vorkommnisse, wie sie publik geworden sind, gerade vermeiden. Gleichwohl hat das geltende System offenbar Schwächen. Aktuell werden sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene verschiedene Vorschläge zur Wiederherstellung des erschütterten Vertrauens diskutiert. Es kursieren gleich eine ganze Reihe von Plänen, Mitteilungen, Maßnahmenkatalogen, Entwürfen usw. Berührt sind vielschichtige Fragen, von denen hier drei aufgegriffen seien: Zum einen geht es um das materielle Bilanzrecht. Denn Verlässlichkeit der Kapitalmarktinformationen setzt klare und durchsetzbare Regeln voraus. Angesprochen ist zum anderen die effektive Kontrolle und Durchsetzung der geltenden Bilanzregeln (Enforcement). Hier sind sowohl interne Corporate Governance-Grundsätze in der Diskussion3. Gefordert sind vor allem die Aufsichtsräte. Darüber hinaus steht die Verbesserung der externen Kontrolle und Durchsetzung durch Verbesserung der Abschlussprüfung und Einrichtung einer neuen externen Bilanzprüfstelle in Rede.
II. Der Streit um das materielle Bilanzrecht: HGB vs. Internationale Standards Im Bereich des materiellen Bilanzrechts stehen das HGB und Internationale Rechnungslegungsstandards, vor allem die International Financial Reporting Standards (IFRS, vormals International Accounting Standards, IAS), im Wettstreit. Letztere erlangen zunehmend Bedeutung. Den Konzernabschluss
__________ 3
Dokumentiert z. B. in AG 2002, 236; NZG 2002, 273.
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haben die IFRS EU-weit bereits weitgehend erobert4. Gemäß der EU-IASVerordnung5 müssen kapitalmarktorientierte Gesellschaften ihre Gruppenabschlüsse ab 2005/2007 EU-weit nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen (soweit diese innerhalb der EU verbindlich übernommen wurden, was bereits weitgehend geschehen ist6). Parallel werden die EG-Bilanzrichtlinien in Richtung auf die IFRS modernisiert7. Ob wir mit einer Bilanzierung nach IFRS in jeder Hinsicht auf einem segensreichen Weg sind, ist noch nicht ausgemacht. Gegenüber der verbreiteten Internationalisierungseuphorie seien zwei Kritikpunkte angemerkt: 1. Wahlrechte und Manipulationsspielräume bei der Bilanzierung Das gegenwärtige HGB-Bilanzrecht wird oft wegen seiner vielen Wahlrechte kritisiert8. Demgegenüber seien die IFRS überlegen, weil sie weit weniger explizite Wahlrechte enthielten. Die rechtspolitische Würdigung der Systeme darf freilich nicht bei den ausdrücklichen Wahlrechten stehen bleiben, sondern muss auch die impliziten Optionen und Spielräume einbeziehen. Bei einer solchen Betrachtung kehrt sich das Wahlrechtsargument zulasten der IFRS um9. Denn die einzelnen Standards sind voll von impliziten Manipulationsspielräumen des Managements. Einige Beispiele seien genannt:
__________ 4
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8
9
Für den Einzelabschluss kämpft eine „Koalition der Willigen“ um den Erhalt des HGB, s. Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372 ff.; Schön, ZGR 2000, 706 (738 f.); ders., WPg.-Sonderheft 2001, S. 74 ff.; ders., Der Konzern 2004, 162 ff.; Schulze-Osterloh, ZIP 2003, 93 ff.; ders., Der Konzern 2004, 173 ff.; ders., ZIP 2004, 1128 f.; Hennrichs in Henze/Hoffmann-Becking (Hrsg.), Gesellschaftsrecht 2003, Tagungsband zum RWS-Forum, 2004, S. 101 ff.; je m. w. N. EG-Verordnung Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards v. 19.7.2002, ABl. Nr. L 243, S. 1. Über den Stand des Umsetzungsprozesses informiert http://europa.eu.int/comm/ internal_market/accounting/ias_de.htm. Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2003 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG, 83/349/EWG, 86/635/EWG und 91/674/ EWG über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, von Banken und anderen Finanzinstituten sowie von Versicherungsunternehmen (sog. Modernisierungsrichtlinie), ABl. Nr. L 178, S. 16 ff.; ferner die sog. Fair-Value-Richtlinie 2001/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.9.2001, ABl. Nr. L 283, S. 28 ff. Allerdings steht insoweit eine Entrümpelung des HGB auf der Reform-Agenda, s. Kropff in FS Baetge, 1997, S. 65 (89 f.); Kleindiek, ZGR 1998, 466 (486 f.); SchulzeOsterloh, ZIP 2004, 1128 (1129 ff.); Hennrichs, ZGR 2000, 627 (632 f.); ders. (Fn. 4), S. 101 (133 f.). Entsprechendes gilt auch für die US-GAAP, s. Storck, Bilanzpolitische Handlungsspielräume im deutschen und amerikanischen Handelsbilanzrecht – Eine rechtsvergleichende Analyse, 2004, S. 86 ff.; Lüdenbach/W.-D. Hoffmann, DB 2002, 1169 ff.; je m. w. N.
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(1) Nach IAS 38 „müssen“ unter bestimmten Voraussetzungen auch selbst erstellte immaterielle Werte (z. B. eigene Erfindungen, eigene gewerbliche Schutzrechte) aktiviert werden. Dieses „Müssen“ ist faktisch ein „Können“10, weil die Aktivierungsvoraussetzungen viele Einschätzungsspielräume belassen und teilweise vom Management sogar bewusst steuerbar sind. So sind Entwicklungsausgaben zu aktivieren, wenn u. a. die Entwicklungsphase sich bereits hinreichend konkretisiert hat, was angenommen wird, wenn die Fertigstellung des Vermögensgegenstands technisch durchführbar und beabsichtigt ist (IAS 38.57). Dieser Befund hinterlässt auch deshalb Unbehagen, weil je nach Struktur des Unternehmens beachtliche Aktivierungspotenziale in Rede stehen. (2) Ebenso verhält es sich mit der praktisch wichtigen Geschäftswertbilanzierung. Nach den hierzu maßgebenden Regeln des IFRS 3.55/IAS 36 ist eine planmäßige Abschreibung von Geschäftswerten nicht mehr zulässig. In Betracht kommt nur noch eine außerplanmäßige Abschreibung wegen Wertminderung (Impairment-Only-Approach). Hierzu ist ein Werthaltigkeitstest vorgeschrieben, für dessen Zwecke der Goodwill auf sog. zahlungsmittelgenerierende Einheiten (Cash Generating Units) zu verteilen ist (vgl. IAS 36.80)11. Deren Buchwert ist sodann mit dem „erzielbaren Betrag“ zu vergleichen, der i. d. R. nach dem Discounted-Cash-Flow-Verfahren ermittelt wird. Dies führt zu einem „unsicheren – weil zukunftsgerichteten – Datenkranz(es)“, bei dem externe Bilanzleser einschließlich des Abschlussprüfers „nur die Plausibilität der getroffenen Annahmen überprüfen“ können12. (3) Ähnliches gilt ferner für den Bereich der fair value-Bewertung. Während nach HGB die (historischen) Anschaffungs- oder Herstellungskosten die Obergrenze für die Bewertung markieren (§ 253 Abs. 1 Satz 1 HGB) und Gewinne erst ausgewiesen werden dürfen, wenn sie am Markt realisiert sind (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB), stellen die IFRS unter dem Aspekt der relevanten Information zunehmend auf den fair value ab, also auf den Zeitwert, und zwar auch dann, wenn dieser über den historischen Anschaffungs- oder Herstellungskosten liegt13. Der fair value kann nur bei wenigen Vermögensgegenständen anhand von Preisen an liquiden Märkten (z. B. Börsenwerte) er-
__________
10 Euler, BB 2002, 875 (877 f.); Hennrichs, ZGR 2000, 627 (641); Heuser/Theile, IAS-
Hdb., Einzel- und Konzernabschluss, 2003, Rz. 295; Lüdenbach/W.-D. Hoffmann, IAS-Kommentar, 2003, § 13 Rz. 45 ff. 11 Diese CGUs sind als kleinste identifizierbare Gruppe von Vermögenswerten definiert, die Mittelzuflüsse aus der fortgesetzten Nutzung erzeugt und die weitgehend unabhängig von den Mittelzuflüssen anderer Gruppen von Vermögenswerten ist. Näher Bieker/Esser, StuB 2004, 449 (451 ff.) m. w. N. 12 Oser/Bischof, Die neue Bilanzierung von Übernahmen, FAZ v. 12.7.2004, Nr. 159, S. 18. 13 Der fair value ist als Bewertungsmaßstab nach IFRS verpflichtend oder optional anzusetzen bei Finanzinstrumenten (IAS 39.43 ff.), Sachanlagen (IAS 16.29 ff.), Investment Properties (IAS 40.30, .33 ff.) und Immateriellen Vermögenswerten (IAS 38.72 ff.). Übersicht bei Heuser/Theile (Fn. 10), Rz. 232 mit Abb. 7.
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mittelt werden. I. d. R. ist wiederum eine Abschätzung der künftigen Ertragspotenziale des fraglichen Bewertungsgegenstands erforderlich, beispielsweise der künftigen Mieterträge aus einer Immobilie. Hierbei bestehen die bekannten Spielräume und Unsicherheiten jeder zukunftsbezogenen Ertragsbewertung14. Der Schätzrahmen der Unternehmensleitung wird dadurch beträchtlich ausgeweitet15. Die Beispiele ließen sich fortsetzen16. 2. Stille Reserven vs. stille Lasten Das gegenwärtige HGB-Bilanzrecht wird ferner deshalb kritisiert, weil es in unvertretbarem Umfang die Legung stiller Reserven erlaube, was nach den IFRS nicht möglich sei. Daran ist richtig, dass eine IFRS-Bilanz in der Tendenz weniger stille (Zwangs-)Reserven enthält als ein HGB-Abschluss. Dazu tragen namentlich der Trend zur fair value-Bewertung und ein großzügigeres Verständnis des Realisationsprinzips bei. Andererseits ist bei einer Bilanzierung nach IFRS das Risiko größer als nach HGB, dass der Abschluss stille Lasten enthält17. Denn wenn – wie namentlich in den Positionen immaterielle Werte und bei der Zeitwertbewertung – Ertragshoffnungen aktiviert werden, kann es geschehen, dass die Hoffnungen sich als auf Sand gebaut erweisen. Der Neue Markt hat leidvoll belegt, wie schnell spekulative Hoffnungsblasen platzen können. Für die rechtspolitische Würdigung sind stille Lasten aber mindestens so kritisch zu beurteilen wie stille Reserven. Damit ist eine bedenkliche Entwicklung zu konstatieren: Einerseits bemühen wir uns, wie sogleich noch zu skizzieren ist, um eine Stärkung der Bilanzkontrolle. Andererseits wird aber der normative Bezugsrahmen für diese Kontrolle immer unbestimmter und offener. Eine wirkungsvolle Bilanzkontrolle ist in vielen Bereichen konzeptionsbedingt nur eingeschränkt möglich, weil dem Management bei der Bilanzierung beträchtliche Gestaltungspotenziale eingeräumt und diese sogar noch ausgeweitet werden18. Hinzu kommt, dass vor allem kleinere börsennotierte Unternehmen von den erhöhten Transparenzanforderungen überproportional belastet werden, ohne dass andererseits das Interesse der Anleger an solchen sog. Nebenwerten
__________ 14 Vgl. Hennrichs, ZGR 1999, 837 ff. m. w. N. (zur Ertragsbewertung von Unterneh-
men). 15 Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372
(2374). Zu den Schwierigkeiten bei der Prüfung von Zeitwerten s. auch IDW, Entwurf Prüfungsstandard 3, WPg. 2004, 80 ff. 16 Solche Einschätzungsspielräume sind bei der Bilanzierung nie ganz zu vermeiden. Sie gibt es auch in einer HGB-Bilanz, etwa bei den Abschreibungen (s. § 253 Abs. 2 und 3 HGB) und bei den Rückstellungen (§ 249 HGB). Nach den IFRS sind die Spielräume allerdings beträchtlich größer als nach HGB. 17 Eingehend und gründlich Tschakert, Stille Lasten im Jahresabschluss nach IAS/ IFRS, 2004. 18 Ebenso Baetge/Thiele/Matena, BFuP 2004, 201 (216).
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durch das (vermeintliche) Mehr an Transparenz nennenswert gestiegen wäre19.
III. Die Bilanzkontrolle durch den Aufsichtsrat Nun zu den Kontrollinstanzen. Im gegenwärtigen System erfolgt die Bilanzkontrolle u. a. innergesellschaftlich durch den Aufsichtsrat (§ 171 AktG). Führt man sich die jüngeren Bilanzskandale vor Augen, so ist man versucht zu fragen: Wo waren eigentlich die Aufsichtsräte? 1. Die eigene Prüfungspflicht des Aufsichtsrats Gegenstände der Prüfung durch den Aufsichtsrat sind die Zweckmäßigkeit der Abschlüsse, also die Beurteilung der bilanzpolitischen Ermessensentscheidungen und die Ausschüttungs- und Thesaurierungspolitik, darüber hinaus und vor allem aber auch die Rechtmäßigkeit, d. h. die Übereinstimmung mit Gesetz und Satzung20. a) Nicht restlos geklärt ist das Verhältnis der Prüfung durch den Aufsichtsrat zur gesetzlichen Pflichtprüfung durch den Abschlussprüfer (§§ 316 ff. HGB). Einerseits macht § 322 Abs. 2 Satz 1 HGB deutlich, dass es in erster Linie Aufgabe der zuständigen Organe, bei Aktiengesellschaften also zuerst des Vorstands und des Aufsichtsrats, ist, für eine ordnungsgemäße Rechnungslegung der Gesellschaft zu sorgen. Der Abschlussprüfer ist eben nur Prüfer und nicht Bilanzersteller. Andererseits entspricht es allgemeiner Ansicht, dass die Prüfung des Aufsichtsrats keine zweite Abschlussprüfung sein soll21. Sachverstand auf dem Gebiet des Bilanzwesens wird in erster Linie vom sachverständigen Abschlussprüfer erwartet22. Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage ist zunächst klar, dass Aufsichtsrat und gesetzlicher Abschlussprüfer bei der Prüfung eng zusammenwirken sollen: Der Aufsichtsrat erteilt dem Abschlussprüfer den Prüfungsauftrag (§ 111 Abs. 2 Satz 3 AktG)23, er kann und soll hierbei auch eigene Prüfungs-
__________ 19 FAZ v. 15.9.2004, Nr. 215, S. 21: Nebenwerte müssen sich mit Nebenrolle abfin-
den. Ferner FAZ v. 21.7.2004, Nr. 167, S. 19: Rückzug von der Börse. 20 Kropff in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, § 171 Rz. 23 ff.; Hüffer, AktG, 6. Aufl.
2004, § 171 Rz. 3 ff. 21 Kropff in MünchKomm.AktG, § 171 Rz. 27; Hüffer, AktG, § 171 Rz. 5 (9); je
m. w. N. 22 Dabei ist es durchaus auch Aufgabe der gesetzlichen Abschlussprüfung, eine vor-
sätzliche unrichtige Rechnungslegung des Vorstands zum Schaden der Gesellschaft aufzudecken (arg. § 317 Abs. 1 Satz 3 HGB), zutr. öOGH, Urt. v. 23.10.2000 – 8 Ob 141/99i, AG 2002, 573 (574); a. A. möglw. Ebke in MünchKomm.HGB, 2001, § 317 Rz. 45. 23 Die Bestellung erfolgt gem. § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG durch Beschluss der Hauptversammlung.
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schwerpunkte setzen24, der Abschlussprüfer hat an der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats (und eines Ausschusses) teilzunehmen, hier über die wesentlichen Ergebnisse seiner Prüfung zu berichten (§ 171 Abs. 1 Satz 2 AktG) und ggf. sachverständig Auskunft zu erteilen25, wie überhaupt der Prüfer den Aufsichtsrat bei der Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe unterstützen soll26. Gewollt ist also Teamwork. Aber damit ist es nicht getan. Dem Aufsichtsrat obliegt eine selbständige Prüfung und Urteilsbildung27. Er darf den Prüfbericht des Abschlussprüfers nicht einfach „abnicken“, sondern hat dazu selbständig Stellung zu nehmen (§ 171 Abs. 2 Satz 3 AktG). Hierzu hat der Aufsichtsrat die innere Plausibilität des Prüfberichts kritisch zu hinterfragen, Unverständlichkeiten nachzugehen und das Urteil des Abschlussprüfers an der Lebens- und Geschäftserfahrung zu messen28. Bei Verdacht auf Unregelmäßigkeiten muss er aktiv werden und die Einsichts- und Prüfungsrechte gem. § 111 Abs. 2 AktG entfalten29. Außerdem können neue oder besondere Kenntnisse des Aufsichtsrats (z. B. über Risiken aus schwebenden Prozessen oder die Werthaltigkeit von Forderungen) Korrekturen des geprüften Abschlusses notwendig machen, auf die der Aufsichtsrat hinzuwirken hat und die sodann eine ergänzende Prüfung des Abschlussprüfers erfordern (§ 316 Abs. 3 HGB)30. b) Wie weit allerdings der Pflichtenkreis des Aufsichtsrats genau reicht, ist unsicher und abstrakt-generell wohl auch schwierig zu bestimmen. Darf oder muss der Aufsichtsrat beispielsweise eigene, möglicherweise kostenintensive Nachforschungen dazu anstellen, ob der angebliche Geschäftspartner in Hongkong, mit dem die Gesellschaft wesentliche Teile ihres Umsatzes erwirtschaftet (zu erwirtschaften vorgibt), überhaupt existiert, auch wenn der Abschlussprüfer solche Nachforschungen nicht angestellt hat? Darf oder muss er in der Öffentlichkeit laut gewordenen Zweifeln etwa an der Immobilien- oder Beteiligungsbewertung dadurch nachgehen, dass er weitere sachverständige Bewertungsgutachten einholt? Usw. usf.
__________ 24 Hüffer, AktG, § 111 Rz. 12d. 25 Hüffer, AktG, § 171 Rz. 1 (Abschlussprüfer als „sachverständige Auskunftsper-
son“). 26 BT-Drucks. 13/9712, S. 16; Altmeppen, ZGR 2004, 390 (391); Hüffer, AktG, § 111
Rz. 12a. 27 Altmeppen, ZGR 2004, 390 (391); Hüffer, AktG, § 171 Rz. 5; Kropff in Münch-
Komm.AktG, § 171 Rz. 13, 26 f., 82 ff.; Adler/Düring/Schmaltz (im Folgenden kurz: A/D/S), Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1997, § 171 AktG Rz. 20; Tielmann, Durchsetzung ordnungsmäßiger Rechnungslegung – Ein Beitrag zur aktuellen Enforcement-Diskussion, 2001, S. 109; ähnlich Brönner in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1993, § 171 Rz. 4. 28 Hüffer, AktG, § 171 Rz. 9; Kropff in MünchKomm.AktG, § 171 Rz. 82 ff.; je m. w. N. 29 Altmeppen, ZGR 2004, 390 f. (Holschuld!); Hüffer, AktG, § 171 Rz. 2, 5, 9 m. w. N. 30 Forster in FS Kropff, 1997, S. 71 (76).
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Die bislang h. M. ist hier sehr zurückhaltend. Auf einen positiven Bestätigungsbericht des Abschlussprüfers dürfe der Aufsichtsrat grundsätzlich vertrauen31. Das gelte nur dann nicht, wenn „offensichtlich“ sei, dass die Beurteilung durch den Abschlussprüfer unzutreffend sei32. Eigene Prüfungshandlungen selbst oder durch Sachverständige vorzunehmen, wird nach verbreiteter Ansicht nur dann für notwendig erachtet, wenn der Abschlussprüfer den Bestätigungsvermerk eingeschränkt hat33. Ob man dem nach den Erfahrungen der letzten Jahre noch so ohne weiteres zustimmen kann, erscheint fraglich. Wie die zahlreichen Bilanzskandale leider belegen, schützt auch ein positiver Prüfbericht des Abschlussprüfers nicht vor falschen Bilanzen. Zudem wollte das KonTraG (Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, BGBl. I 1998 S. 786) die eigene Überwachungs- und Kontrolltätigkeit des Aufsichtsrats stärken und betonen34. Die konstatierte Enforcement-Lücke zu schließen, sollte man vielleicht nicht nur bei einer zusätzlichen externen Prüfstelle ansetzen, sondern auch beim Aufsichtsrat als dem nach der Konzeption des AktG „geborenen“ Kontrollgremium im „Gewaltenteilungssystem“ der AG. Für eine funktionierende Corporate Governance sind, wie die FAZ in ihrem Wirtschaftsleitartikel vom 3.3.2004 mit Recht anmahnt, vor allem „selbstbewußte Aufsichtsräte“ vonnöten, „die ihrer Kontrollfunktion wirklich nachkommen“35. Die bislang h. M. sollte daher behutsam ausgeweitet werden. Auch bei positivem Prüfbericht des Abschlussprüfers sollte der Aufsichtsrat jedenfalls dann als verpflichtet angesehen werden, stichprobenartig eigene Prüfungshandlungen vorzunehmen, um die erforderliche eigene Urteilsbildung zu fundieren, wenn besonders wesentliche oder in der Öffentlichkeit umstrittene Bilanzposten in Rede stehen oder Anhaltspunkte für mögliche Versäumnisse vorliegen36. Beispielsweise sollte der Abschlussprüfer in Fällen wie Comroad daraufhin befragt werden, welche Prüfungshandlungen er zur Verifizierung der Forderungen gegen den Schuldner, mit dem die Gesellschaft (angeblich) 95 % (!) ihres Umsatzes erzielt, vorgenommen hat. Wenn die Antwort des Prüfers hierauf unbefriedigend ausfällt, muss der Aufsichtsrat aktiv werden. Oder: Wenn die Gesellschaft angeblich über ausreichende Liquidität verfügt, sie aber gleichwohl weitere Mittel am Kapitalmarkt aufnehmen will (wie offenbar im Fall Parmalat), liegt ebenfalls eine Rückfrage nahe, selbst wenn der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers einschrän-
__________ 31 A/D/S (Fn. 27), § 171 AktG Rz. 24 f.; Brönner in Großkomm.AktG, § 171 Rz. 6; 32 33 34 35 36
Forster (Fn. 30), S. 71 (75 f.); Rürup in FS Budde, 1995, S. 543 (549 f.). So namentlich Forster (Fn. 30), S. 71 (75 f.). Forster (Fn. 30), S. 71 (76). Hommelhoff, BB 1998, 2567 ff. (2625 ff.); Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249 ff. FAZ v. 3.3.2004, Nr. 53, S. 13: „Die umstrittenen Konzernlenker“. Ähnlich Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 41 Rz. 124; ders., ZIP 1998, 2129 (2134); s. auch Prühs, AG 1970, 347 (351) (Stichproben erforderlich).
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kungslos erteilt wurde. Den Aufsichtsrat erst in die Pflicht zu nehmen, wenn ein Fehler des Abschlussprüfers „offensichtlich“ zu Tage tritt, ist zu großzügig. Der Aufsichtsrat übernimmt mit der Billigung des Abschlusses, die sich an die positive eigene Prüfung anschließt (§ 171 Abs. 2 Satz 4 AktG), eine eigene Mitverantwortung für die Rechnungslegung der Gesellschaft. Er prüft nicht nur, sondern er stellt den Abschluss mit fest (§ 172 AktG). Diese Entscheidung kann sachgerecht nur vor einem soliden Informationshaushalt getroffen werden. Bei der Beschaffung der erforderlichen Informationen ist der Abschlussprüfer nach der Konzeption des AktG Hilfsperson des Aufsichtsrats37. Die Mitverantwortung für die Rechnungslegung der Gesellschaft liegt und bleibt trotz positivem Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers beim Aufsichtsrat. Warum so verstandene Eigeninitiativen des Aufsichtsrats „praktisch nicht durchführbar“ sein sollen, wie mitunter gesagt wird38, ist nicht einsichtig. 2. Vorbereitung der Prüfung durch einen besonderen Ausschuss (Audit Committee) Damit ist übergeleitet zu einem weiteren Aspekt, nämlich der Professionalisierung der Prüfungstätigkeit im Aufsichtsrat. Hier soll die Einrichtung eines besonderen Ausschusses, des sog. Audit Committees, helfen. Gegenwärtig wird ein Audit Committee im Corporate Governance Kodex für börsennotierte Gesellschaften nur empfohlen. Innerhalb der Europäischen Kommission wird dem Prüfungsausschuss demgegenüber eine „Schlüsselrolle“ bei der Bilanzkontrolle zugewiesen39. Daher soll ein Audit Committee nach der Revision der 8. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie für Gesellschaften von öffentlichem Interesse (zu denen vor allem börsennotierte Gesellschaften zählen) künftig zur Pflicht werden (Art. 39 des Richtlinien-Vorschlags40). Aufgaben des Prüfungsausschusses sollen es u. a. sein41, die Richtigkeit der Abschlüsse des Unternehmens, die interne Bilanzrevision und die Leistungen des Abschlussprüfers zu überwachen. Jahres- und Konzernabschlüsse sollen vom Ausschuss in enger Kooperation mit dem Vorstand und dem Abschlussprüfer vorgeprüft und so die Entscheidung des Aufsichtsratsplenums
__________ 37 Altmeppen, ZGR 2004, 390 (391); Hommelhoff, BB 1998, 2567 (2568 ff.), 2625 38 39 40 41
(2627); Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249 (251 f.); je m. w. N. Brönner in Großkomm.AktG, § 171 Rz. 6. Vgl. van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484 (492 f., 503). S. Kom (2004) 177 endg. Die nachstehenden Aufgaben des Prüfungsausschusses sind der „Geschäftsordnung für den Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats der Siemens AG“ i. d. F. v. 26.11.2003 entnommen. Sie dürften paradigmatisch für entsprechende Ordnungen anderer Industrieunternehmen sein.
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über die Feststellung oder Billigung der Abschlüsse vorbereitet werden42. Gegenüber dem Abschlussprüfer soll der Ausschuss die Schwerpunkte der Prüfung und die Vergütung festlegen. Bezüglich der Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer ist u. a. vorgesehen, dass dieser den Ausschuss „über alle kritischen Bilanzierungen sowie über Alternativen zur bilanziellen Behandlung von Vorgängen, die mit dem Vorstand diskutiert worden sind“, sowie „über strittige Fragen, die sich bei der Abschlussprüfung zwischen Abschlussprüfer und Vorstand ergeben haben“, informieren soll. Der Ausschuss soll ferner zuständig für Meldungen von Mitarbeitern über evtl. Bilanzfehler und sonstige bilanzbezogene Angelegenheiten sein. Beschwerden sollen dem Ausschuss auch anonym erteilt werden können. Erfährt der Ausschuss so Verdachtsmomente, sind diese dem Abschlussprüfer mitzuteilen und ist er ggf. zu weiteren Prüfungshandlungen anzuhalten. Die Einrichtung eines solchen Prüfungsausschusses kann sicher dazu beitragen, die Prüfungstätigkeit des Aufsichtsrats zu professionalisieren und ist in jedem Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Vor allem die Möglichkeit, Beschwerden von Mitarbeitern zu behandeln, die auch anonym eingebracht werden können, kann helfen, Bilanzmanipulationen aufzudecken. Wer aufgrund der Anonymität keine beruflichen Nachteile aus einer Meldung befürchten muss, wird vielleicht eher bereit sein, fragwürdige Bilanztaktiken, mit denen er in seinem Aufgabenkreis in Berührung gekommen ist, anzuzeigen. Für diejenigen, die etwas vertuschen wollen, wird es jedenfalls schwieriger, das Risiko der Entdeckung steigt – und damit auch die generalpräventive Abschreckungswirkung. Wieweit dem Audit Committee allerdings letztlich tatsächlich die erhoffte Schlüsselrolle bei der Bilanzkontrolle zufallen wird, dürfte vor allem davon abhängen, ob es gelingt, wirklich unabhängige und fachlich qualifizierte Ausschussmitglieder zu finden. Zur Besetzung des Prüfungsausschusses fordert der Arbeitskreis „Abschlußprüfung und Corporate Governance“ mit Recht, „daß an der Unabhängigkeit (jedenfalls) seines Vorsitzenden nicht die geringsten Zweifel bestehen“ dürfen43. Ziff. 5.3.2. des Kodex sieht deshalb vor, dass der Vorsitzende des Prüfungsausschusses kein ehemaliges Vorstandsmitglied sein „soll“. Zugleich „soll“ er (und „sollten“ richtigerweise auch die anderen Mitglieder des Ausschusses44) über entsprechenden Sachverstand verfügen (denn sonst macht die ganze Veranstaltung keinen Sinn). „Entsprechender Sachverstand“ dürfte dabei nicht allein in dem Sinne gemeint sein, dass das Mitglied sich abstrakt in Bilanzierungsfragen (einschließ-
__________ 42 Die Zuständigkeit des Aufsichtsratsplenums für die abschließende Prüfung und
Billigung der Abschlüsse gem. § 171 AktG ist nach geltendem Recht nicht an einen Ausschuss delegierbar (§ 107 Abs. 3 Satz 2 AktG). 43 Baetge/Lutter (Hrsg.), Abschlußprüfung und Corporate Governance, Bericht des Arbeitskreises „Abschlußprüfung und Corporate Governance“, 2003, S. 5. 44 Vgl. Altmeppen, ZGR 2004, 390 (399).
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lich solchen der Internationalen Rechnungslegung) auskennt, sondern Sachverstand ist wohl auch bezogen auf das konkrete Unternehmen und seine möglichen Besonderheiten erforderlich, d. h. der Sachverstand soll auch unternehmensnah sein. Gesucht sind also unabhängige, mit der konkreten Gesellschaft vertraute Bilanzexperten. Diese Suche dürfte vielfach schwierig sein. Das Anforderungsprofil ist sehr ambitioniert. Ein Bilanzexperte mit unternehmensinternen Erfahrungen ist vor allem der ehemalige Finanzvorstand. Ihn in den Prüfungsausschuss zu berufen, erscheint einerseits klug, weil diese Personalverflechtung gewährleistet, dass unternehmensnaher Sachverstand einbezogen wird. Andererseits verbleibt in der Tat ein gehöriges Unbehagen, wenn man an Fälle wie Comroad u. a. denkt: Wäre hier der ehemalige Finanzvorstand, der die „Leichen im Keller“ doch meistens jedenfalls mitzuverantworten hat, im Folgejahr der Bilanzexperte im Audit Committee, würde man den (Mit-)Täter zum Prüfer in eigener Sache machen. Jedenfalls in der kritischen Öffentlichkeit würde ein so besetzter Prüfungsausschuss wohl nicht als wirklich unabhängig wahrgenommen. Zu verlangen ist deshalb allemal eine (z. B. dreijährige) „Abkühlungsperiode“, innerhalb deren ehemalige Vorstände nicht Mitglieder im Prüfungsausschuss sein dürfen45.
IV. Die neue Bilanz-Inquisition: Enforcement nach dem BilKoG 1. Grundkonzeption „Kontrolle ist gut, fünffache Kontrolle ist besser!“, mag sich der Gesetzgeber gedacht haben. Neben Aufsichtsrat und Abschlussprüfung, die ihrerseits in einem sog. Peer Review-Verfahren gem. §§ 57a ff. WPO durch andere Berufsträger qualitätskontrolliert ist, denen wiederum ein „Qualitätskontrollbeirat“ an die Seite gestellt ist, soll nun eine weitere Prüfebene institutionalisiert werden, nämlich eine unabhängige Bilanzprüfstelle. Die neue Bilanzinquisition, für die das BilKoG die Rahmenbedingungen schafft, weist in ihrer Grundkonzeption vor allem vier Kennzeichen auf46: Erstens wird weder ein rein privatrechtlicher noch ein rein öffentlich-rechtlicher Ansatz gewählt, sondern ein zweistufiges, gemischt privat-öffentlichrechtliches Modell. Im Unterschied zur bereits bestehenden Qualitätskontrolle nach §§ 57a ff. WPO erfolgt die Kontrolle zweitens nicht durch andere Berufsträger, sondern durch von den überprüften Abschlussprüfern unabhängige Institutionen. Der Ansatz ist drittens kapitalmarktbezogen, d. h., die Prüfstelle beschränkt ihre Tätigkeit auf kapitalmarktorientierte Ge-
__________ 45 Vgl. Altmeppen, ZGR 2004, 390 (402, 404). 46 Das Bilanzkontrollgesetz (BilKoG) wurde am 15.12.2004 verabschiedet, s. BGBl. I
2004 S. 3408 ff. Zur Konzeption bereits Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383 (399 ff.).
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sellschaften47. Und schließlich verbindet der Gesetzesentwurf die rückschauende Bilanzkontrolle mit einem präventiven Ansatz, indem nicht nur reaktiv Anlassfälle geprüft werden, sondern die Prüfstelle kann auch proaktiv auf Stichprobenbasis agieren. Auf der ersten Stufe begegnen sich das geprüfte Unternehmen und die privatrechtlich organisierte Prüfstelle rechtlich auf gleicher Ebene. Die Bilanzkontrolle auf dieser ersten Stufe geschieht allein auf der Basis freiwilliger Mitwirkung des Unternehmens. Ziel ist die kooperative Aufdeckung und Berichtigung von Rechnungslegungsfehlern im Wege einer Art Selbstregulierung der Wirtschaft. Die zweite, mit hoheitlichen Zwangsmitteln ausgestattete Stufe des Prüfverfahrens, also die Kontrolle durch die BaFin, wird grundsätzlich erst und nur aktiviert, wenn das geprüfte Unternehmen die Kooperation mit dem privaten Gremium verweigert. Ob die neue Prüfstelle wirkungsvoll dazu beitragen wird, das verlorene Vertrauen in Abschlüsse wiederherzustellen, wird man abwarten müssen. Immerhin mag der „konstruktive Dialog unter Gleichen“48 auf der ersten Stufe tatsächlich die Kooperationsbereitschaft der Unternehmen erhöhen und so bereits ohne staatliche Druckmittel eine effektive Bilanzkontrolle möglich machen. Die BaFin als gleichsam öffentlich-rechtliche Behördenlösung in Reserve49 mag außerdem helfen, den Abschlussprüfern „den Rücken zu stärken“, wie aus dem Kreis der Wirtschaftsprüfer selbst verlautet. Das kann dazu beitragen, der Institution Abschlussprüfung insgesamt wieder mehr Durchschlagkraft zurückzugeben. Würde dies gelingen, hätte das Prüfverfahren einiges bewirkt. Von den zahlreichen Fragen, die das Gesetz aufwirft50, seien zwei aufgegriffen, nämlich die nach dem Prüfungsmaßstab und den Rechtsfolgen festgestellter Bilanzfehler: 2. Prüfungsmaßstab: Keine Beschränkung auf Nichtigkeitsprüfung Im Verfahren der Bilanzkontrolle vor der Prüfstelle/BaFin soll geprüft werden, ob der Abschluss „den gesetzlichen Vorschriften einschließlich der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und der sonstigen durch Gesetz zugelassenen Rechnungslegungsstandards entspricht“ (§ 342b Abs. 2 Satz 1 HGB n. F., § 37n Abs. 1 WpHG n. F.). Dieser Prüfungsansatz ist weit gesteckt:
__________ 47 Das IDW plädiert dafür, langfristig gesehen auch nicht kapitalmarktorientierte
Gesellschaften in das Enforcement einzubeziehen, s. IDW, WPg. 2004, 138 (139); ebenso Tielmann (Fn. 27), S. 227 f. 48 Hommelhoff/Mattheus, BB 2004, 93 (94). 49 Hommelhoff/Mattheus, BB 2004, 93 (94). 50 S. außerdem Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383 (399 ff.); W. Müller, ZHR 168 (2004), 414 ff.; Baetge, ZHR 168 (2004), 428 ff.; Hommelhoff/Mattheus, BB 2004, 93 ff.; aus ökonomischer Sicht Baetge/Thiele/Matena, BFuP 2004, 201 ff.; je m. w. N.
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Aspekte zur Wiederherstellung des Vertrauens in Bilanzen
Erfasst sind zum einen sämtliche einschlägigen Bilanzregeln, gleich welcher Herkunft. Zu prüfen ist also nach HGB, soweit die nationalen Rechtsvorschriften maßgeblich sind. Zu prüfen ist nach Internationalen Rechnungslegungsstandards, soweit diese in Abschlüssen zulässigerweise angewendet werden. Zum anderen hat die Bilanzkontrolle durch die Prüfstelle/BaFin allgemein die Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen zum Gegenstand, d. h., sie ist nicht auf die Prüfung von Nichtigkeitsgründen i. S. d. § 256 AktG beschränkt. Die in § 256 AktG normierten Einschränkungen51 gelten für die Prüfstelle/BaFin mithin nicht. Im Enforcement-Verfahren können deshalb auch „einfache“ Bilanzfehler geprüft werden, die als solche nicht zur Nichtigkeit des Abschlusses führen (beispielsweise unvorsätzliche Unterbewertungen). 3. Rechtsfolgen festgestellter Bilanzfehler, insbesondere die Wege zur Fehlerberichtigung und die Auswirkungen auf Zahlungsansprüche a) Wird seitens der Prüfstelle/BaFin ein Bilanzfehler beanstandet, stellt sich die praktisch wichtige Frage, wie mit dem fehlerhaften Abschluss weiter zu verfahren ist52. Der Referentenentwurf zum BilKoG sah in § 342b Abs. 5 Satz 2 HGB-E noch vor, dass die Prüfstelle „dem Unternehmen unter Bestimmung einer angemessenen Frist vorzuschlagen“ habe, „wie die (festgestellten) Fehler zu beseitigen“ seien. Die fragliche Vorschrift findet sich im nun beschlossenen BilKoG nicht mehr53. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers ist rechtspolitisch verständlich. Die Sachfrage liegt gleichwohl auf dem Tisch: Wie haben die Organe der AG mit im Enforcement-Verfahren beanstandeten Fehlern umzugehen? Zur Beantwortung dieser Frage ist der Sachzusammenhang von Bilanz- und Gesellschaftsrecht hervorzuheben. Denn Rahmenbedingungen zur Art der Fehlerkorrektur ergeben sich nicht nur aus dem Bilanzrecht, sondern vor allem aus dem materiellen Gesellschaftsrecht. Bezogen auf den Einzelabschluss ergeben sich einschlägige Vorgaben aus § 256 AktG: Ist der Jahresabschluss nach dieser Bestimmung nichtig, kommt von vorneherein nur eine Neuvornahme des Abschlusses (nebst neuer Prüfung54 und Offenlegung) in Betracht. Denn der nichtige Abschluss ist rechtlich gar nicht existent. Eine Korrektur in laufender Rechnung genügt bei
__________ 51 Vgl. namentlich § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AktG. 52 Dazu auch Tielmann (Fn. 27), S. 260 ff. 53 Die ersatzlose Streichung hatte auch bereits das IDW gefordert, s. IDW, WPg. 2004,
138 (140). 54 Und zwar gem. § 316 Abs. 1 HGB, so mit Recht Hüffer in MünchKomm.AktG,
2. Aufl. 2001, § 256 Rz. 79 a. E. – Das IDW hält demgegenüber nur eine auf die Änderungen beschränkte Nachtragsprüfung gem. § 316 Abs. 3 HGB für erforderlich.
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Nichtigkeit nicht55. Ist der Fehler dagegen nicht so schwerwiegend, dass der Jahresabschluss nichtig ist, ergibt sich andererseits aus den §§ 256, 257, 258 ff. AktG die Wertung, dass der Abschluss aus Gründen der Rechtssicherheit und im Interesse der Gesellschaft Bestandsschutz genießen soll. Denn bei der AG führen Bilanzfehler nach der Konzeption des AktG entweder zur Nichtigkeit des Abschlusses, dies aber nur, wenn sie schwerwiegend sind; oder die Fehler lassen die Geltung des Abschlusses unberührt, d. h., die Bilanz ist zwar fehlerhaft, aber gleichwohl innergesellschaftlich und für den Rechtsverkehr voll verbindlich56. Die verantwortlichen Organe sind in diesem Fall, d. h. bei Fehlern unterhalb der Nichtigkeitsschwelle, zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet, den fehlerhaften Abschluss rückwärtig zu ändern. Im Regelfall ausreichend (und allerdings auch geboten) ist bei fehlerhafter, aber nicht nichtiger Bilanz eine Korrektur in laufender Rechnung. Dabei kreiert das BilKoG keine neuen Nichtigkeitsgründe, sondern die Nichtigkeit des Abschlusses beurteilt sich allein nach § 256 AktG. Schwierig wird es für den Konzernabschluss. Insoweit fehlen derzeit den §§ 256 ff. AktG korrespondierende Regelungen. Damit besteht die Gefahr, dass den Konzernabschluss schon kleine inhaltliche Mängel in ihrem Bestand berühren: Denn soweit keine bestandsschützenden Sondervorschriften gelten, hat es an sich bei der allgemeinen Regel zu bleiben, dass zwingende gesetzliche Vorschriften einzuhalten sind. Die bilanzrechtlichen Bestimmungen normieren zwingendes Recht57. Da die Konzern-Rechnungslegung zudem periodenbezogen, d. h. für jedes Geschäftsjahr neu und selbständig zu erbringen ist, kann man argumentieren, eine fehlerhafte Konzernbilanz müsse stets und unabhängig von dem Gewicht des Fehlers rückwärtig korrigiert werden (nebst neuer [Änderungs-]Prüfung und Offenlegung), weil nur so die Einhaltung der zwingenden gesetzlichen Bestimmungen bezogen auf das jeweilige Geschäftsjahr sichergestellt sei58. Dass weder HGB noch AktG Vorschriften zur Bestandskraft des Konzernabschlusses normieren, ist rechtspolitisch unbefriedigend und wird seiner Bedeutung für die Gesellschaft und seiner Außenwirkung nicht gerecht59. Vor allem aus kapitalmarktrechtlicher Sicht besteht an der Bestandskraft des gebilligten Konzernabschlusses mindestens ebenso und gleichgewichtig ein Interesse wie beim Jahresabschluss60.
__________ 55 Mattheus/Schwab, BB 2004, 1099 (1102); großzügiger A/D/S (Fn. 27), § 256 AktG
Rz. 93. 56 Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383 (386 ff.) m. w. N. 57 BayObLG, NJW 1988, 916 (917); Icking, Die Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts,
2000, S. 446 ff. (458); Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 41 Rz. 1 f., § 42 Rz. 20. 58 Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383 (396). 59 Mit Recht krit. namentlich Kropff in MünchKomm.AktG, § 172 Rz. 85 ff.; ferner Hirte, Das Transparenz- und Publizitätsgesetz, 2003, Rz. 1/71. 60 Zutr. Kropff in MünchKomm.AktG, § 172 Rz. 86.
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Aspekte zur Wiederherstellung des Vertrauens in Bilanzen
Man könnte daran denken, die Vorschrift des § 256 AktG ganz oder teilweise analog auf Gruppenabschlüsse anzuwenden61. Methodisch setzte eine solche Analogie allerdings eine Regelungslücke i. S. einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus. Diese ist schwer zu erkennen, denn der Gesetzgeber hat sich bislang wohl eher in einem „beredten Schweigen“ geübt. In der Sache ist zudem fraglich, ob die drakonische Nichtigkeitsfolge mit der Pflicht zur Neuerstellung nebst (vollständiger) neuer Prüfung und Offenlegung für den Konzernabschluss in allen Fällen passt. Der Gruppenabschluss hat in erster Linie Informationsfunktion. Die geschehene Fehlinformation kann aber ohnehin nicht mehr rückgängig gemacht, sondern allein für die Zukunft richtig gestellt werden. Daher scheint als Art der Fehlerkorrektur die Berichtigung in laufender Rechnung nach dem Modell des IAS 8.41 ff. für den Konzernabschluss ausreichend. Es wäre wünschenswert, wenn der Gesetzgeber sich der Frage annähme. Es sollte explizit angeordnet werden, dass ein Konzernabschluss entweder in keinem Fall oder jedenfalls nur bei schwerwiegenden Fehlern nichtig ist und i. Ü. eine Korrektur in laufender Rechnung genügt. Solange eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt, sollte man einen „Grundsatz des Bestandsschutzes“ auch für den Gruppenabschluss als ungeschriebene Rechtsregel anerkennen und mit Kropff eine rückwärtige Korrektur nur befürworten, wenn der Fehler zur Folge hat, „dass das vom Gesetz geforderte getreue Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Konzerns deutlich verfehlt wird“62. b) Die Maßgeblichkeit des materiellen Gesellschaftsrechts gilt schließlich noch in einer anderen Frage, nämlich für das Verhältnis von Maßnahmen zur Berichtigung fehlerhafter Bilanzen zu Zahlungsansprüchen, die auf der Gewinnfeststellung des bisherigen Jahresabschlusses gründen (insbesondere Dividendenzahlungen an Aktionäre)63: Bilanzfehler, die nicht zur Nichtigkeit des Abschlusses führen, lassen die Gültigkeit der Bilanz und damit auch die darauf gründende Gewinnfeststellung unberührt. Nur wenn der Jahresabschluss nichtig ist, ist zwingend auch der Gewinnverwendungsbeschluss betroffen (§ 253 Abs. 1 Satz 1 AktG). Werden Fehler unterhalb der Nichtigkeitsschwelle durch eine freiwillige rückwärtige Änderung des Jahresabschlusses behoben, macht auch dies den Beschluss über die Gewinnverwendung nicht unwirksam64. Ebenso bleiben in diesem Fall gewinnabhängige Ansprüche Dritter (z. B. Tantiemen) grundsätzlich unberührt, es sei denn, die Auslegung des Drittrechtsverhältnisses ergibt ein Anpassungsrecht für den
__________
61 Busse von Colbe, BB 2002, 1583 (1586 f.); differenzierend Kropff in Münch-
Komm.AktG, § 172 Rz. 87. 62 So namentlich Kropff in MünchKomm.AktG, § 172 Rz. 87. 63 Hierzu wird teilweise eine ausdrückliche Klarstellung im Gesetz angemahnt, dass
solche Zahlungsansprüche unberührt bleiben, s. Hommelhoff/Mattheus, BB 2004, 93 (100); wohl zust. Knorr, KoR 2004, 85 (88). 64 Kropff in MünchKomm.AktG, § 172 Rz. 69.
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Fall einer Bilanzberichtigung oder es sind sonst kautelarische Vorkehrungen getroffen65. Bei einer rückwärtigen Berichtigung eines (nur „einfach fehlerhaften“, nicht nichtigen) Abschlusses ist deshalb darauf zu achten, dass noch ein ausreichender Bilanzgewinn verbleibt. Notfalls sind offene Rücklagen aufzulösen. Sind keine ausreichenden Rücklagen vorhanden, sollte die Gesellschaft den Fehler in laufender Rechnung korrigieren, weil anderenfalls eine Änderung erfolgte, die einem wirksam ausgeschütteten Bilanzgewinn nachträglich die Grundlage entzöge66. Theoretisch kommt zwar auch in Betracht, den Ausschüttungsbeschluss korrespondierend zu ändern. Doch das erfordert die Zustimmung aller Gesellschafter67, weil die Aktionäre mit der (wirksamen) Beschlussfassung über die Ausschüttung ihren Dividendenzahlungsanspruch erworben haben, der ohne ihr Zutun nicht mehr angegriffen werden kann68.
__________ 65 66 67 68
Zutr. W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359 (364 f., 368). Zutr. Kropff in MünchKomm.AktG, § 172 Rz. 69 Fn. 185. Kropff in MünchKomm.AktG, § 172 Rz. 69. Kropff in MünchKomm.AktG, § 174 Rz. 38, 44; W. Müller (Fn. 65), S. 359 (365); Schön in FG 50 Jahre BGH, 2000, S. 153 (164).
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Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung: Fachliche Verlautbarungen und ihre Steuerungswirkung Inhaltsübersicht I. Problemaufriss II. Qualitätssicherung als Aufgabe des Berufsstands: WPK und IDW in Arbeitsteilung 1. Das Aufgabenfeld der Wirtschaftsprüferkammer a) Statuierung und Überwachung der Berufspflichten aa) Die Rechtsetzungsbefugnis der WPK bb) Verbindlichkeit von Berufspflichten in der Berufssatzung b) Fachliche Kontrolle und Standards 2. Fachliche Standardsetzung durch das IDW a) Das Arbeitsprogramm des IDW b) Zur rechtlichen Bindungswirkung von IDW-Verlautbarungen
aa) Freiwillige Selbstverpflichtung der IDW-Mitglieder bb) IDW-Standards als Gegenstand autonomer Selbstverwaltung? cc) Rechtliche Bindungswirkung gegenüber Dritten c) Initiierte faktische Bindungswirkung im Berufsstand und im Außenverhältnis III. Die Arbeitsteilung zwischen WPK und IDW vor dem Hintergrund des APAG 1. Prüfungsstandards und öffentliche Aufsicht durch die APAK 2. Erstellung von Prüfungsstandards durch die WPK IV. Resümee
Seit seiner Einführung bietet der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer immer wieder Anlass zu Diskussionen in Wissenschaft und Praxis. Die Sicherung seiner Unabhängigkeit und die der Qualität seiner Arbeit, gerade bei der gesetzlich vorgeschriebenen Abschlussprüfung, sind regelmäßig Gegenstand von Reformen. Der Jubilar hat sich auf diesem Gebiet intensiv engagiert. Denn die höchstrichterliche und maßgeblich von ihm geprägte „AllweilerRechtsprechung“1 zur Vereinbarkeit von Abschlussprüfung und Beratung2, die ihre Fortsetzung im „HVB-Urteil“ des II. Zivilsenats3 und nunmehr auch
__________ BGHZ 135, 260 ff. mit Anm. u. a. von Ebke, WPK-Mitt. 1998, 76 ff.; Heni, DStR 1997, 1210 ff.; Hommelhoff, ZGR 1997, 550 ff.; Löcke, GmbHR 1997, 1052 ff.; W. Müller, LM HGB § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB (Nr. 2); Neumann, ZIP 1998, 1338 ff.; Schüppen, WiB 1997, 861 ff.; Thiele, DB 1997, 1396 f. 2 Röhricht, WPg. 1998, 153 ff.; ders., WPg-Sonderheft 2001, S. S80 ff. 3 BGHZ 153, 32 ff. mit Anm. Bayer/Fischer, EWiR § 124 AktG 1/03, 199 f.; Claussen, BB 2003, 462 ff.; Gelhausen/Kuss, NZG 2003, 424 ff.; Hellberg, GmbHR 2003, 408 ff.; Lanfermann/Lanfermann, DStR 2003, 905 ff.; Lutter, JZ 2003, 563 ff.; Marx, DB 2003, 431 ff.; W. Müller, WPg. 2003, 741 ff.; zu den Rechtsfolgen s. auch Ebke, in diesem Band, S. 833 ff. (837 ff.). 1
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Eingang in das Handelsgesetzbuch4 gefunden hat, hatte in ganz entscheidender Weise die Prüferunabhängigkeit gestärkt. Anliegen des Jubilars ist es dabei stets, die berechtigten Interessen und Bedürfnisse, insbesondere die des mittelständischen Berufsstands, nicht aus den Augen zu verlieren. Damit hat er zugleich wesentlich zur Verbesserung des interdisziplinären Austauschs zwischen Betriebswirten und Juristen beigetragen. Doch nicht nur auf dem Gebiet der Prüferunabhängigkeit hat sich der Jubilar engagiert, sondern in gleicher Weise dabei, die berufsständische Qualität zu bewahren. Als nicht berufsständisches Mitglied im Qualitätskontrollbeirat überwacht er das im Jahre 2001 eingeführten Peer-Review-Verfahren5 mit (§ 57 f. WPO a. F.). Dessen und weitere Aufgaben werden zwar künftig von der zum 1.1.2005 neu gebildeten Abschlussprüfer-Aufsichtskommission (APAK)6 übernommen (§ 66a WPO n. F.); aber klug beraten hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit den Jubilar jüngst auch in dieses Gremium berufen7. Dem freundlichen, wenn auch gelegentlich nicht unkontroversen Dialog mit dem Jubilar seien die nachfolgenden Zeilen in herzlicher Verbundenheit gewidmet. Sie behandeln einen Aspekt berufsständischer Standards, der bislang nur vereinzelt und dann in anderem Zusammenhang8 erörtert worden ist.
__________ 4 5 6
7
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Vgl. dazu §§ 319 Abs. 2 Nr. 3, 319a Abs. 1 Satz 1 HGB n. F. nach dem Bilanzrechtsreformgesetzes (BGBl. I 2004 S. 3166 ff.; RegE BT-Drucks. 15/3419, S. 39, 41 f.). Wirtschaftsprüferordnungs-Änderungsgesetz v. 19.12.2000, BGBl. I 2000, S. 1769 ff. Die APAK wurde durch das am 1.1.2005 in Kraft getretene Abschlussprüferaufsichtsgesetz (Gesetz zur Fortentwicklung der Berufsaufsicht der Abschlussprüfer in der Wirtschaftsprüferordnung – APAG v. 27.12.2004, BGBl. 2004 I S. 3846 ff.) eingeführt. Die Kommission soll die öffentliche Fachaufsicht über die Wirtschaftsprüferkammer (WPK) ausüben. Hierzu sind der APAK weit reichende Informationsrechte gegenüber der WPK zugewiesen sowie die Letztentscheidungsbefugnis insbesondere im Bereich der Berufsaufsicht und in der Qualitätskontrolle. S. dazu Marten/Köhler, WPg. 2005, 145 (149 ff.), Heininger/Bertram, DB 2004, 1737 ff. sowie Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2279 f.). Nach § 66a Abs. 2 WPO n. F. besteht die Kommission nur aus berufsstandsfremden Personen, welche ihre Aufgaben unabhängig und nicht weisungsgebunden wahrnehmen. Als weitere Mitglieder wurden berufen: Dr. Siegfried Luther, Gütersloh; Prof. Dr. Kai-Uwe Marten, Ulm; Eva Mayr-Stihl, Waiblingen; Dr. h.c. Edgar Meister, Frankfurt am Main; Prof. Dr. Christine Windbichler, Berlin. So z. B. Krein, Die Haftung des Abschlussprüfers gegenüber der Gesellschaft wegen Nichtaufdeckung von „Unrichtigkeiten und Verstößen gegen gesetzliche Vorschriften“ im Jahresabschluss, Diss. Köln 2000, S. 107 ff.; Gehringer, Abschlussprüfung, Gewissenhaftigkeit und Prüfungsstandards, 2002, S. 98 ff. (insb. 131 ff.); Sommerschuh, Berufshaftung und Berufsaufsicht: Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte und Notare im Vergleich, 2003, S. 170 f. – alle mit Blick auf die konkretisierend verbindliche Auslegung des Grundsatzes der Gewissenhaftigkeit in § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB durch die Prüfungsstandards des IDW. Ähnlich wie hier im Ansatz auch Ruhnke, Normierung der Abschlussprüfung, 2000, insb. S. 40 ff.
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I. Problemaufriss Der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer blickt konzentriert auf die Wahrung und Sicherung seiner Arbeitsqualität9. Allein hohe Qualitätsstandards, die von allen Berufsträgern angenommen und anerkannt werden, sichern ihm das für seine Tätigkeit als gesetzlicher Abschlussprüfer unabdingbar notwendige Vertrauen. Die Aufstellung solcher Standards obliegt seit jeher dem Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. (IDW) – einem privatrechtlichen Verein, der sich nach seiner Satzung selbst die Aufgabe gestellt hat, „für einheitliche Grundsätze der unabhängigen, eigenverantwortlichen und gewissenhaften Berufsausübung einzutreten und deren Einhaltung durch die Mitglieder sicherzustellen“ (§ 2 Abs. 2b der Satzung)10. Die sog. Verlautbarungen des IDW11 konkretisieren dabei nicht nur allgemeine Berufspflichten als Standesrecht, sondern widmen sich darüber hinaus ganz nachdrücklich der fachlichen Arbeit, insbesondere den gesetzlichen Vorschriften zur Abschlussprüfung (§§ 316 bis 322 HGB) sowie ausgewählten Fragen der Rechnungslegung. Anders als die Wirtschaftsprüferkammer (WPK) handelt das IDW beim Erlass aller seiner Verlautbarungen zur Bilanzierung und Prüfung ohne öffentlichen Auftrag. Dennoch haben die verschiedenen Prüfungsstandards und -hinweise, aber auch die Stellungnahmen zur Rechnungslegung einen hohen (faktischen) Verbindlichkeitsgrad für die Berufsträger. Noch weitergehend entfalten sie – vom IDW so beabsichtigt – Steuerungswirkung weit über den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer hinaus, insbesondere auf die rechnungslegungs- und prüfungspflichtigen Unternehmen. Gerade diese Breitenwirkung verlangt, dass die gesetzlichen Vorschriften bei der Erstellung jener Verlautbarungen abgewogen und unter Berücksichtigung aller betroffenen Interessen ausgelegt und konkretisiert werden. Freilich werden die Verlautbarungen ausschließlich von Berufsträgern12 interessengeleitet aufgestellt und verabschiedet. Schon weil der Abschlussprüfer zu ihrer Beachtung angehalten ist, kann dies im Einzelfall (z. B. wenn über die Auslegung gesetzlicher Rechnungslegungsvorschriften gestritten wird und der Abschluss-
__________ 9 Zur Empirie der Qualitätssicherung Marten, Qualität von Wirtschaftsprüferleis-
tungen, 1999. 10 Satzung des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. in der Fassung der
auf dem 25. Wirtschaftsprüfertag am 28.11.2001 in Düsseldorf beschlossenen Satzungsänderung. 11 Verlautbarungen in diesem Sinne sind alle Veröffentlichungen der Ergebnisse der Facharbeit des IDW; sie lassen sich in Fachgutachten, Standards, Hinweise und Stellungnahmen differenzieren. S. dazu Krein (Fn. 8), S. 116, aber auch unten II. 2. a). 12 § 12 Abs. 3 der IDW-Satzung gewährt die Möglichkeit, auch Hochschullehrer und andere Sachverständige, die nicht IDW-Mitglieder sind, in die Fachausschüsse (nicht aber in den Hauptfachausschuss) zu berufen.
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prüfer auf eine Verlautbarung des IDW verweist) zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem prüfungspflichtigen Unternehmen führen, die – unabhängig vom Ausgang im jeweiligen Einzelfall – unschöne Konsequenzen haben können13. Der nachfolgende Beitrag will der Frage nachgehen, wie weit die IDW-Verlautbarungen steuernd wirken können und dürfen und deshalb eine besondere, organisatorisch fest im Berufsstand verankerte Legitimation benötigen. Damit soll zugleich eine jüngst zum Abschlussprüferaufsichtsgesetz14 in Gang gekommene Diskussion aufgegriffen und fortgeführt werden.
II. Qualitätssicherung als Aufgabe des Berufsstands: WPK und IDW in Arbeitsteilung Qualitätssicherung ist die ureigene und wichtigste Aufgabe jedes Berufsstandes, gerade dann, wenn er – wie die Wirtschaftsprüfer – sich als freier Beruf selbst verwaltet und kontrolliert15. Klassische Steuerungsmittel hierfür – auch in anderen freien Berufen16 – sind die flächendeckenden Zulassungsbeschränkungen durch Eignungsprüfung und Anerkennungsverfahren einerseits und die nur den Einzelfall erfassende Berufsaufsicht bzw. -gerichtsbarkeit andererseits. 1. Das Aufgabenfeld der Wirtschaftsprüferkammer Als zentrale Instanz der Berufsaufsicht verfügt der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer über eine gesetzlich geschaffene Berufsvertretung, die Wirtschaftsprüferkammer17, welche als bundesweit agierende Körperschaft des öffentlichen Rechts heute mit der Aufgabe der beruflichen Selbstverwaltung18 betraut und bei der Eignungsprüfung, Bestellung, Anerkennung, beim Widerruf der Bestellung und bei der Registrierung, Berufsaufsicht und Quali-
__________ 13 Scherrer, DB 1977, 1325 (1327). 14 Vgl. Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2281); Lenz, BB 2004, 1951 (1953 f.). S. ausführ-
lich unten III. 15 Dies schloss bislang allein eine Rechtsaufsicht über die als Selbstverwaltungs-
körperschaft errichtete Wirtschaftsprüferkammer (WPK) durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit ein (§ 66 Abs. 1 WPO); mit der AbschlussprüferAufsichtskommission (§ 66a WPO n. F.) unterliegt die WPK künftig auch einer öffentlichen Fachaufsicht („modifizierte Selbstverwaltung“). S. zur neuen Struktur übersichtlich Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2279 f.) sowie Marten/Köhler, WPg. 2005, 145 (149 ff.). 16 S. dazu mit Blick auf die Berufsaufsicht Sommerschuh (Fn. 8), S. 253 ff. 17 Zur Geschichte und Organisation der Wirtschaftsprüferkammer s. nur IDW (Hrsg.), WP-Handbuch, Band I, 12. Aufl. 2000, B 39 ff. 18 Zum Begriff der Selbstverwaltung s. nur Tettinger, DÖV 1995, 169 ff.
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Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung
tätskontrolle sowie bei der Annahme von Berufsgrundsätzen zugleich in mittelbarer Staatsverwaltung tätig ist (§ 4 Abs. 1 WPO n. F.)19. Der WPK gehören kraft Zwangsmitgliedschaft20 alle Wirtschafts- und vereidigten Buchprüfer an, die nach der WPO bestellt oder als solche anerkannt sind, ferner die anerkannten Wirtschaftsprüfungs- und Buchprüfungsgesellschaften einschließlich Vorstandsmitgliedern, Geschäftsführern und persönlich haftenden Gesellschaftern, die nicht selbst Berufsangehörige sind (§§ 58, 128 Abs. 3 WPO). Organe der WPK sind die Wirtschaftsprüferversammlung, der Beirat und der Vorstand (§ 59 Abs. 1 WPO); ihre Organisation und Verwaltung werden durch eine von der Wirtschaftsprüferversammlung zu beschließende Satzung geregelt (§ 60 WPO).
a) Statuierung und Überwachung der Berufspflichten Zu den der Wirtschaftsprüferkammer in diesem Rahmen übertragenen Aufgaben gehört vor allem anderen, die Berufsträger bei der Erfüllung ihrer beruflichen Pflichten zu überwachen (§ 57 Abs. 1 WPO). Dies umfasst sowohl die Beratung und Belehrung der Mitglieder in Fragen der Berufspflichten (§ 57 Abs. 2 Nr. 1 WPO) als auch die Berufsaufsicht im Interesse der Allgemeinheit und des Berufsstands (§ 57 Abs. 2 Nr. 4 WPO). Daneben ist die WPK für die obligatorische externe Qualitätskontrolle (peer review) zuständig, welche der Überwachung der Grundsätze und Maßnahmen der Qualitätssicherung beim einzelnen Wirtschaftsprüfer dient (§§ 57a ff. WPO a. F.). Mit der Berufsaufsicht21 einerseits und der Qualitätskontrolle22 andererseits stützt sich die WPK zuvörderst auf Überwachungsmechanismen, die im Wesentlichen ex post und nur im Einzelfall wirken23. Jene Instrumente gehen freilich ins Leere, wenn den Berufsträgern ihre Berufspflichten nicht hinreichend konkret vorgegeben werden. Zwar normiert die WPO in den §§ 43 ff. Rechte und Pflichten der Wirtschaftsprüfer24; aber
__________
19 In der Neufassung von § 4 Abs. 1 WPO sind die spezifischen Tätigkeitsbereiche
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enumerativ aufgeführt. Nach der Begr. des RegE, BT-Drucks. 15/3983, S. 12 bewirkt diese deklaratorische Neufassung indes keine Rechtsänderung, vgl. dazu Marten/ Köhler, WPg. 2005, 145 (147 ff.); a. A. aber wohl Baetge/Lienau¸ DB 2004, 2277 (2281), vgl. dazu auch unten Fn. 95. Daneben besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Mitgliedschaft für genossenschaftliche Prüfungsverbände, Prüfungsstellen von Sparkassen und Giroverbänden sowie die überörtlichen Prüfungseinrichtungen für öffentliche Körperschaften (§ 58 Abs. 2 WPO). Zu den Bestandteilen der Berufsaufsicht in der Wirtschaftsprüfung s. Sommerschuh (Fn. 8), S. 273 ff. Freilich ist die Bescheinigung über die Teilnahme am Peer Review unabdingbare Qualifikationsvoraussetzung für die Bestellung als gesetzlicher Abschlussprüfer (§§ 316, 319 Abs. 1 Satz 2 HGB n. F.). Damit ist auch eine gewisse Qualitätssicherung ex ante verbunden; in diesem Sinne jüngst auch Marten/Köhler, WPg. 2005, 145 (148). So auch kritisch mit Blick auf das APAG Lenz, BB 2004, 1951 (1954). Gemäß § 130 Abs. 1 WPO finden diese Berufspflichten entsprechend auf vereidigte Buchprüfer Anwendung.
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die dort verankerten Berufspflichten (Gewissenhaftigkeit, Unabhängigkeit, Verschwiegenheit, Eigenverantwortlichkeit, Unparteilichkeit) sind sehr allgemein gehalten und in starkem Maße auslegungs- bzw. konkretisierungsbedürftig. aa) Die Rechtsetzungsbefugnis der WPK Ganz allgemein eröffnet das Grundgesetz jedem freien, der Selbstverwaltung unterliegenden Berufsstand, die Berufspflichten in autonomer Legitimation25 zu konkretisieren und fortzuschreiben. Auf diesem Wege kann das dort liegende Potential an Sachverstand unter Berücksichtigung der Eigenverantwortlichkeit des Berufsstandes dezentral und effektiv genutzt werden26. Diese auch der WPK übertragene Rechtsetzungsbefugnis (§ 57 Abs. 3 WPO) ist nicht unbegrenzt; sie wird nur unter engen Voraussetzungen wirksam: Autonome Rechtsetzungsgewalt erfordert namentlich einen autonomiefähigen Personenkreis. Ihre Grundlage ist ein abgrenzbares Interesse; Träger dieser Rechtsetzungsgewalt ist nicht die unbestimmte Allgemeinheit, sondern eine sozialhomogene Betroffenheitsgemeinschaft27. Konsequent ist die Rechtsetzungsbefugnis der Wirtschaftsprüferkammer auch inhaltlich begrenzt28, nämlich auf die Regelung berufsstandseigener Angelegenheiten, also auf Vorschriften zur Ausübung des Berufs der Wirtschaftsprüfer (bzw. der vereidigten Buchprüfer). Folgerichtig weist das Gesetz der WPK nicht nur die Befugnis zu, rechtlich unverbindlich29 die allgemeine Auffassung über Fragen der Ausübung des
__________ 25 Zur Abgrenzung gegenüber der demokratischen Legitimation s. Böckenförde in
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Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rz. 33; Schmidt-Aßmann, AöR 1991, 384; Schwab, Rechtsfragen der Politikberatung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftsfreiheit und Unternehmensschutz, 1998, S. 404 ff.; a. A. beispielweise Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 382 ff.; Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, 1986, S. 88; Papenfuß, Die personellen Grenzen der Autonomie öffentlich-rechtlicher Körperschaften, 1991, S. 154. Zum Ganzen s. ausführlich auch Hommelhoff/Schwab, BFuP 1998, 38 (43 f.). Die Selbstverwaltung berufsständischer Kammern kann funktional gewissermaßen als ein Vorläufer der heutigen Tendenz zur Selbstregelung durch private (staatlich anerkannte) Gremien, wie z. B. das Deutsche Rechnungslegungs Standards Committee e.V. (DRSC), gesehen werden, vgl. dazu Hommelhoff/Schwab, BFuP 1998, 38 (43 ff.). Papenfuß (Fn. 25), S. 151. In diesem Sinne schon mit Blick auf die Standardsetzung von Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) Hommelhoff/Schwab, BFuP 1998, 38 (44 f.). Zur Frage des Rechtsnormcharakters von Berufsrichtlinien s. nur Gehringer (Fn. 8), S. 118 ff. mit Hinweis auf die Leitentscheidung des BVerfG (BVerfGE 36, 212 [216]) zur vergleichbaren Lage der Rechtsnatur der von der Bundesrechtsanwaltskammer nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO a. F. festgestellten Richtlinien zur Konkretisierung der anwaltlichen Berufspflicht nach § 43 BRAO; a. A. noch Biener in FS Goerdeler, 1987, S. 45 (59); Rückle, BFuP 1980, 54 (71).
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Berufs des Wirtschaftsprüfers und des vereidigten Buchprüfers in Richtlinien festzustellen (§ 57 Abs. 2 Nr. 5 WPO). Vielmehr kommt der WPK seit 1995 die entscheidend weitergehende Befugnis zu, eine Satzung über die Rechte und Pflichten der Ausübung des Berufs des Wirtschaftsprüfers und des vereidigten Buchprüfers (Berufssatzung) zu erlassen (§ 57 Abs. 3 WPO)30. Von der (älteren) Ermächtigung aus § 57 Abs. 2 Nr. 5 WPO hatte die WPK schon im Jahre 1964 Gebrauch gemacht, indem sie Richtlinien über die allgemeine Auffassung bezüglich Fragen der Ausübung des Berufs feststellte. Die Richtlinien konkretisierten die in der WPO geregelten Berufspflichten; zu jeder Berufspflicht wurden Leitsätze formuliert, die durch sog. „Richtungsweisende Feststellungen“ ergänzt wurden31. Jene Richtlinien wurden mit der am 11.7.1996 verabschiedeten und am 15.9.1996 in Kraft getretenen Berufssatzung aufgehoben und ersetzt32.
bb) Verbindlichkeit von Berufspflichten in der Berufssatzung (1) Mittels ihrer Berufssatzung kann die WPK im Rahmen der WPO allgemeine (Nr. 1) und besondere (Nr. 2 bis 4) Berufspflichten aus diesem Gesetz in einer standesrechtlich für alle Kammermitglieder verbindlichen Weise konkretisieren (§ 57 Abs. 4 WPO)33. Es handelt sich um materielles Berufdisziplinarrecht, bei dessen Verletzung ein berufsaufsichtsrechtliches Verfahren eingeleitet werden kann. Die in der Berufssatzung – in Anlehnung an die Regelungen der WPO – aufgestellten und konkretisierten Berufspflichten nehmen zum einen Stellung zur Frage, wie sich Berufsangehörige untereinander verhalten sollen. Zum anderen enthalten sie Verhaltensanweisungen betreffend die organisatorische, fachliche und persönliche Sphäre des einzelnen Wirtschaftsprüfers. Beispielsweise wird der Grundsatz der Gewissenhaftigkeit aus § 43 Abs. 1 Satz 1 WPO in § 4 der Berufssatzung dahin gehend konkretisiert, dass der Wirtschaftsprüfer bei der Erfüllung seiner Aufgaben an die gesetzlichen Bestimmungen gebunden ist, sich über die für die Berufsausübung geltenden Bestimmungen zu unterrichten und diese sowie fachliche Regeln zu beachten hat (Abs. 1 Satz 1). Zudem hat der Wirtschaftsprüfer die
__________ 30 Einführung der Satzungsautonomie durch das Dritte Gesetz zur Änderung der
Wirtschaftsprüferordnung v. 15.7.1994, BGBl. I 1994 S. 1569. 31 Zum Zusammenspiel von Richtlinien und Feststellungen s. Ruhnke (Fn. 8), S. 56 ff.
Davon abzugrenzen ist die Befugnis, „in allen die Gesamtheit der Mitglieder berührenden Angelegenheiten die Auffassung der Wirtschaftsprüferkammer den zuständigen Gerichten, Behörden und Organisationen gegenüber zur Geltung zu bringen“, § 57 Abs. 2 Nr. 6 WPO – vgl. dazu Taupitz, BB 1990, 2367 (2372). 32 Vgl. dazu das Vorwort zur Satzung der Wirtschaftsprüferkammer über die Rechte und Pflichten bei der Ausübung der Berufe des Wirtschaftsprüfers und des vereidigten Buchprüfers, S. 6. Die Berufssatzung wurde am 24.11.2004 aktualisiert (vgl. Bundesanzeiger v. 14.12.2004, S. 24133) und ist zum 2.3.2005 in Kraft getreten. 33 Die Übertragung von Satzungsgewalt ist prinzipiell zulässig, grundlegend dazu BVerfGE 45, 346 (352); Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991, S. 651; Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz, 1987, S. 93.
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Peter Hommelhoff und Daniela Mattheus Pflicht, sich fachlich fortzubilden (Abs. 1 Satz 2), sich vor Auftragsannahme darüber zu vergewissern, dass er über die erforderliche Sachkunde verfügt (Abs. 2), sowie eine sachgerechte Gesamtplanung aller Aufträge vorzunehmen (Abs. 3). Bei nachträglich auftretenden Umständen, die zur Ablehnung des Auftrags hätten führen müssen, ist das Auftragsverhältnis zu beenden (Abs. 4).
Obwohl diese Konkretisierungen mittelbar auf das Außenverhältnis zum Auftraggeber, z. B. den zu prüfenden Unternehmen, ausstrahlen, ist dennoch zu konstatieren, dass die Satzungsvorschriften, namentlich die Berufspflichten aus der WPO, das Innenrecht des Berufsstandes normieren und als Berufsrecht im klassischen Sinne, als sog. Standesrecht zu qualifizieren sind, das aus der Natur der Sache heraus nur innerhalb des Berufsstandes und in Beziehung der Standesangehörigen zueinander Relevanz erlangt34. (2) Mithin ist die Satzung – trotz ihrer Rechtsnormqualität – allein für die Angehörigen des Berufsstandes verbindlich. Im Vertragsverhältnis zwischen Abschlussprüfer und geprüftem Unternehmen haben die in der Satzung verankerten Berufspflichten prinzipiell keinerlei rechtliche Bedeutung35. Denn die rechtliche Reichweite der Satzung bemisst sich danach, wie weit der Berufskammer Rechtsetzungskompetenz übertragen worden ist. Diese ist aber – wie schon gezeigt – sachlich und persönlich auf die Kammermitglieder begrenzt. Rechtspositionen von Nicht-Kammermitgliedern können ohne entsprechende gesetzliche Ermächtigung nicht durch die Berufssatzung betroffen werden. Die WPK ist somit ausschließlich ermächtigt, interne Regelungen zu erlassen. Damit ist die Rechtsetzungsbefugnis auch in ihrem Wirkkreis auf das Innenverhältnis zur Kammer beschränkt. Deshalb können weder Rechte noch Pflichten berufsstandsfremder Personen Gegenstand der Satzung sein. Berufssatzungen sind nur innerhalb der jeweiligen Berufskammer verbindlich; sie sollen allein die ordnungsmäßige Berufsausübung der Kammermitglieder gewährleisten, aber nicht das zivilrechtliche Vertragsverhältnis zwischen einem Standesangehörigen und seinem Auftraggeber bestimmen36. (3) Dennoch werden die statutarischen Berufspflichten das Außenverhältnis zum prüfungspflichtigen Unternehmen mittelbar und faktisch beeinflussen. Beispielsweise prägen die berufsrechtlichen Planungsvorgaben aus § 4 Abs. 3 der Berufssatzung das Verhalten des Abschlussprüfers gegenüber der zu prüfenden Gesellschaft. Zudem können die Berufspflichten auch rechtlich das Außenverhältnis bestimmen, wenn sie dort per Gesetz oder vertraglich
__________ 34 AG Ludwigsburg, NJW 1974, 1431. 35 Strittig, s. z. B. Gehringer (Fn. 8), S. 123 ff.; Krein (Fn. 8), S. 149 ff.; kurz auch Sommer-
schuh (Fn. 8), S. 170 alle m.N. zum Meinungsstand. Wie hier wohl auch Ebke, in diesem Band, S. 833 ff. (851 f.). 36 In diesem Sinne auch Gehringer (Fn. 8), S. 125 m. w. N. und treffendem Hinweis auf Steindorff, Freie Berufe – Stiefkinder der Rechtsordnung, 1980, S. 16.
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verankert sind oder werden37. So findet der Grundsatz der Gewissenhaftigkeit sowohl im Berufsrecht (§ 43 Abs. 1 WPO und § 4 ff. der Berufssatzung) als auch in § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB für das Verhältnis des Abschlussprüfers zum prüfungspflichtigen Unternehmen seinen Rechtsgrund. Ähnlich doppelspurig ist die Verpflichtung des Wirtschaftsprüfers normiert, bei seiner Tätigkeit, insbesondere bei der Abschlussprüfung, seine Unabhängigkeit und Unbefangenheit zu wahren (§§ 43 Abs. 1, 49 WPO einerseits und §§ 319 Abs. 2 bis 4, 319a HGB n. F. andererseits)38. Und schließlich wird die – dem Standesrecht zuzuordnende – Berufspflicht, Maßnahmen zur Qualitätssicherung aufzustellen (§ 55b WPO n. F.39) und diese im Rahmen einer externen Qualitätskontrolle überprüfen zu lassen (§ 57a Abs. 1 WPO), durch das Handelsrecht dadurch aufgegriffen, dass ein Wirtschaftsprüfer von der Abschlussprüfung zwingend ausgeschlossen ist, wenn er keine Bescheinigung zur Teilnahme an der Qualitätskontrolle vorweisen kann (§ 319 Abs. 1 Satz 3 HGB n. F.). Namentlich für die beiden letztgenannten Anforderungen ist kennzeichnend, dass die Berufspflicht durch die WPO statuiert und durch das HGB als Voraussetzung bzw. als Sorgfaltspflicht in das Außenverhältnis transferiert wird. Der innerberufsständische Verhaltensbefehl kommt aus der WPO; die Pflichten für das Außenverhältnis aus dem HGB. Konsequent kann die Berufssatzung dem zur Entscheidung aufgerufenen Richter keine verbindliche Auslegung des Grundsatzes der Gewissenhaftigkeit in § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB vorgeben. Vielmehr handelt es sich bei dem Berufsdisziplinarrecht der Wirtschaftsprüferkammer und dem zivilrechtlichen Vertragsverhältnis zwischen Abschlussprüfer und Auftraggeber, also dem Außenverhältnis, um zwei grundsätzlich unverbunden nebeneinander stehende Rechtskreise40. b) Fachliche Kontrolle und Standards Neben jener Konkretisierung von Berufsgrundsätzen und deren Überwachung gehört es weiterhin zur Aufgabe des Berufsstandes, den fachlichen Standard41
__________ 37 Weitergehend indes Brandner, ZIP 1984, 1186 (1187); Taupitz, MDR 1989, 385
38 39
40 41
(386); Vollkommer, NJW 1989, 3146, nach denen Standesrecht (mithin auch die vormals geltenden Richtlinien der WPK) im Wege der normativen Ergänzung des Vertrages rechtliche Ausstrahlungswirkung auf das Außenverhältnis haben soll. Zum Beziehungsgeflecht am Beispiel der Unabhängigkeit und Unbefangenheit vgl. die Übersicht bei Ruhnke (Fn. 8), S. 71. Erst mit dem APAG wurde die Berufspflicht ausdrücklich für jeden Wirtschaftsprüfer normiert, bei betriebswirtschaftlichen Prüfungen i. S. v. § 2 Abs. 1 WPO, bei denen das Berufssiegel geführt wird, ein Qualitätssicherungssystem einzuführen und dies zu dokumentieren. Bislang ergab sich diese Berufspflicht allein konkludent aus der Verpflichtung zur Teilnahme an der Qualitätskontrolle (§ 57a Abs. 1 WPO). So richtig Gehringer (Fn. 8), S. 125 f. In ähnlicher Terminologie ist auch das IDW verhaftet, wenn es einerseits von beruflichen und andererseits von fachlichen Grundsätzen spricht, vgl. IDW Prüfungs-
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fortzubilden und dabei, soweit notwendig, neue Verfahrensregeln zu entwickeln bzw. alte anzupassen, so dass die vom Gesetzgeber vorgegebenen Ziele trotz veränderter Umfeldbedingungen bestmöglich erreicht werden. In der Sache geht es um die Konkretisierung der Pflichten bei der technischen Durchführung und Abwicklung bestimmter Tätigkeiten – wie z. B. bei der Abschlussprüfung als wichtigstem Tätigkeitsgebiet der Wirtschaftsprüfer. Die Anweisungen zu fachlich-technischem Verhalten orientieren sich direkt am zu schaffenden Produkt „Abschlussprüfung“ und finden ihre Grundlage konsequent im Handelsgesetzbuch (§§ 316 ff. HGB). Obwohl die WPK die Mitverantwortung dafür trägt, dass die Berufsträger ihren Qualitätsstandard bewahren, finden sich keine spezifizierten Verhaltensregelungen in der Berufssatzung – namentlich nicht für den besonders wichtigen Bereich der gesetzlichen Abschlussprüfung. Die WPK beschränkt sich vielmehr auf die Anweisung an die Wirtschaftsprüfer, sich regelmäßig fortzubilden, ihre Arbeit im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen auszuüben und die fachlichen Regeln zu beachten (§ 4 Abs. 1 der Berufssatzung)42. Dies verwundert – scheinen doch gerade solche fachlichen Standards für eine präventive und flächendeckende Qualitätssicherung zwingend erforderlich zu sein. 2. Fachliche Standardsetzung durch das IDW Seit seiner Einführung werden vom Berufsstand deshalb auch und vor allem Verlautbarungen zu fachlichen Fragen herausgegeben, die den Wirtschaftsprüfern sehr detaillierte Vorgaben machen und von diesen regelmäßig bei der Abschlussprüfung zugrunde gelegt werden. Formuliert werden diese freilich nicht von der Wirtschaftsprüferkammer, sondern vom Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. (IDW) – einem von freiwilliger Mitgliedschaft getragenen privatrechtlichen Zusammenschluss, in dem derzeit 87,45% der Berufsträger vertreten sind43. Das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. geht auf mehrere privatrechtlich organisierte Vorgängerinstitutionen zurück, die bis ins Jahr 1932 reichen44. Diese waren schon seinerzeit als Standesorganisation der Wirtschaftsprüfer anerkannt.
__________ standard: Rechungslegungs- und Prüfungsgrundsätze für die Abschlussprüfung (IDW PS 201), Stand: 17.11.2000, bei Tz. 24 und 27. Dagegen fassen andere alles unter dem Begriff der Berufsgrundsätze zusammen, wobei es sich bei den Vorschriften der WPO und der Berufssatzung um kodifizierte, bei den IDW-Verlautbarungen um nicht-kodifizierte Berufsgrundsätze handeln soll, Ludewig in Ballwieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechnungslegung und Prüfung, 3. Aufl. 2002, Sp. 283 ff. 42 Allein der einmalige Qualifikationsnachweis bei der Bestellung reicht zur Qualitätswahrung nicht aus, dazu richtig statt vieler Lichtner/Korfmacher, WPK-Mitt. 1993, 92 (97). 43 Vgl. dazu die recherchierten Angaben bei Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2281). 44 Zur Historie und Organisation s. statt vieler WP-Handbuch (Fn. 17), B 1 ff.
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Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung In den 30er Jahren oblag ihnen sogar die berufliche Selbstverwaltung der Wirtschaftsprüfer. In seiner jetzigen Form und Benennung besteht das IDW seit dem 25.11.1954. Es ist in der Rechtsform eines privatrechtlich organisierten nichtwirtschaftlichen Vereins mit freiwilliger Mitgliedschaft organisiert und besitzt keinen öffentlichen Auftrag. Mitglieder des IDW können Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sein. Organe des IDW sind der Wirtschaftsprüfertag, der Verwaltungsrat und der Vorstand. Das IDW hat sich selbst im Wesentlichen die satzungsmäßige Aufgabe gestellt, für einheitliche Grundsätze der fachgerechten Berufsausübung der Wirtschaftsprüfer einzutreten und zu diesen Fragen gutachterliche Stellungnahmen vorzubereiten.
Eine so organisierte Qualitätssicherung ist ungewöhnlich und findet sich bei anderen freien Berufen wie Rechtsanwälten und Notaren in dieser Intensität nicht45. Als Erklärung hierfür mag nicht nur der Verweis auf die historische Entstehung der Pflichtprüfung und der Berufsorganisationen46 dienen. Vielmehr dürfte auch ursächlich sein, dass der Berufsstand gerade mit der Abschlussprüfung eine wesentlich höhere Öffentlichkeitswirkung erzielt als die anderen Berufsstände und sich deshalb – gerade unter Berücksichtigung der aktuellen Reformentwicklung – besonderen Haftungsgefahren bei der prüferischen Tätigkeit ausgesetzt sieht. Zudem hat die gerichtliche Praxis noch kein hinreichend flächendeckendes Netz aus Verhaltensanweisungen knüpfen können47. a) Das Arbeitsprogramm des IDW Im Vordergrund der IDW-Aktivitäten stehen die sog. Prüfungsstandards (IDW PS) und Prüfungshinweise (IDW PH), welche vor allem zu Fragen der Abschlussprüfung und Berichterstattung aufgestellt werden. Daneben gibt das IDW Stellungnahmen (RS) und Hinweise zur Rechnungslegung (RH)48 sowie zu einzelnen Fachfragen (S) ab, wie z. B. zur Durchführung von Unternehmensbewertungen. Diese konkretisieren weder Berufspflichten von Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern noch beschäftigen sie sich mit der eigentlichen Prüfertätigkeit. Sie widmen sich dem zu „bearbeitenden Produkt“49, gelten deshalb nicht primär für die Prüfer (es sei denn, diese sind auch rechnungslegungspflichtig), sondern vor allem für die Rechnungsleger in dem dann später prüfungspflichtigen Unternehmen. Bei Lichte be-
__________ 45 Zu ähnlichen Tendenzen in der (Leitlinien-)Medizin s. informativ Tomassone/
Wöffen, StudZR 2005, 61 (66). 46 S. zur Entstehung von Berufsverbänden in der Wirtschaftsprüfung Meisel, Ge-
schichte der deutschen Wirtschaftsprüfer, 1992, S. 129 ff.; auch Markus, Der Wirtschaftsprüfer, 1996, insb. S. 105 ff. 47 Vgl. dazu nur die Rechnungsnachweise bei Sommerschuh (Fn. 8), S. 172 ff. 48 Die ursprüngliche Bezeichnung „Rechnungslegungsstandard“ wurde aufgegeben, um Verwechslungen mit den Standards des Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee e.V. (DRSC) zu vermeiden, IDW, WPg. 1998, 652. 49 So schon pointiert Taupitz, BB 1990, 2367.
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trachtet leisten sie mithin auch keinen Beitrag zur Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung, sondern zur Konkretisierung und Fortentwicklung der Rechnungslegung; sie sollen hier deshalb – und weil mit ihnen ganz eigene Rechtsprobleme verbunden sind50 – nicht im Vordergrund stehen. Für die Qualitätssicherung im Berufsstand der Wirtschaftsprüfer viel bedeutsamer sind deshalb jene Standards und Hinweise, die sich mit ihren Aufgabenbereichen beschäftigen (vgl. § 2 WPO), insbesondere mit der Abschlussprüfung. Im Unterschied zu den Berufspflichten in der WPK-Berufssatzung beschränken sich die Prüfungsstandards des IDW nicht auf reine „Selbstverwaltungsangelegenheiten“. Zwar greifen sie auch den eigenen Organisationsbereich des Abschlussprüfers, z. B. seine Prüfungsplanung, auf51, haben aber primär die Konkretisierung handelsrechtlicher Vorschriften (§§ 316 ff. HGB), also Bereiche aus dem Außenverhältnis zum Auftraggeber zum Regelungsgegenstand, so z. B. den Bestätigungsvermerk und die Art und Weise seiner Erteilung (IDW PS 400)52 oder die Berichterstattung über die Abschlussprüfung an den Aufsichtrat (IDW PS 45053 und 47054). Bei den Verlautbarungen zur Abschlussprüfung ist konzeptionell und verfahrenstechnisch zwischen Prüfungsstandards und Prüfungshinweisen zu unterscheiden. Während die Prüfungsstandards Fragenbereiche von allgemeiner Bedeutung aufgreifen, wird durch Prüfungshinweise die Auffassung der Fachgremien zu einzelnen Prüfungsfragen – meist ergänzend zu den Prüfungsstandards – erläutert. Beide Verlautbarungen unterscheiden sich zudem im Erstellungsverfahren: Nur die Prüfungsstandards werden vom Hauptfachausschuss oder von den Fachausschüssen des IDW in einem Verfahren verabschiedet, in dem den Berufsangehörigen und der interessierten Öffentlichkeit die Möglichkeit eingeräumt wird, zu den Entwürfen Anregungen in die abschließenden Beratungen einfließen zu lassen55. Sie werden später in der vom IDW herausgegebenen Zeitschrift „Die Wirtschaftsprüfung“ bzw. in seinen „Fachnachrichten“ publiziert. Ähnlich lassen sich die Stellungnahmen und Hinweise zur Rechnungslegung in Inhalt und Verfahren unterscheiden.
__________ 50 S. hierzu grundsätzlich Taupitz, BB 1990, 2367 ff.; Biener (Fn. 29), S. 45 ff.; aber
auch Hommelhoff/Schwab, BFuP 1998, 38 ff. 51 Vgl. z. B. IDW Prüfungsstandard: Grundsätze der Planung von Abschlussprüfungen
52 53 54 55
(IDW PS 240); IDW Prüfungsstandard: Ziele und allgemeine Grundsätze der Durchführung von Abschlussprüfungen (IDW PS 200); IDW Prüfungsstandard: Beauftragung des Abschlussprüfers (IDW PS 220). IDW Prüfungsstandard: Grundsätze für die ordnungsmäßige Erteilung von Bestätigungsvermerken bei Abschlussprüfungen (IDW PS 400), Stand: 1.10.2002. IDW Prüfungsstandard: Grundsätze ordnungsmäßiger Berichterstattung bei Abschlussprüfungen (IDW PS 450), Stand: 29.9.2003. IDW Prüfungsstandard: Grundsätze für die mündliche Berichterstattung des Abschlussprüfers an den Aufsichtsrat (IDW PS 470), Stand: 8.5.2003. Kritisch dennoch wegen des jeweils zu knapp bemessenen Zeitplans noch Scherrer, DB 1977, 1325 (1330).
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Daneben wirken für den Bereich der Abschlussprüfung die vor der Umstellung der Verlautbarungen in Standards zu grundsätzlichen Fragen abgegebenen Fachgutachten56 noch soweit fort, als sie durch die Prüfungsstandards nicht inhaltlich verdrängt werden. Die Standardsetzung ist ein Produkt des Transformationsgedankens, die International Standards on Auditing (ISA) in nationale Prüfungsgrundsätze – soweit rechtlich möglich – umzusetzen57. Konsequent lehnen sich die Standards, wenn auch lose, an die Nummerierung der ISA an: Qualitätssicherung, Prüfungsgegenstand und Prüfungsauftrag, Prüfungsansatz und Durchführung, Bestätigungsvermerk und Prüfungsberichte sowie andere Reportingaufträge58.
b) Zur rechtlichen Bindungswirkung von IDW-Verlautbarungen An die je unterschiedlichen Verfahren zur Erstellung von Standards einerseits und Hinweisen andererseits knüpft das IDW einen unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrad. Während Prüfungsstandards und die Stellungnahmen zur Rechnungslegung nach den Vorstellungen des IDW im Grundsatz verbindlich anzuwenden sind, dienen Hinweise lediglich als Orientierungshilfe in Einzelfragen; gleichwohl wird ihre Anwendung empfohlen59. Das IDW lässt dabei kaum Zweifel daran, dass es für die aufgestellten Standards nicht nur eine für den Berufsstand, sondern eine darüber hinausgehende Gültigkeit beansprucht60. Es geht namentlich davon aus, dass die dort geregelten Verhaltensanweisungen die nationalen Grundsätze ordnungsmäßiger Abschlussprüfung statuieren und folglich abweichende Prüfungsregeln nicht den Anforderungen entsprechen, die an eine ordnungsgemäße Prüfungsdurchführung zu stellen sind. Eine ähnliche Verbindlichkeit misst das IDW auch seinen Stellungnahmen zur Rechnungslegung bei61. aa) Freiwillige Selbstverpflichtung der IDW-Mitglieder (1) Ausdrücklich und – im Wege freiwilliger Selbstverpflichtung – verbindlich werden freilich allein die Mitglieder des IDW in § 4 Abs. 9 der Satzung
__________ 56 IDW, Fachgutachten 1/1988 „Grundsätze ordnungsmäßiger Abschlussprüfung“
57 58 59 60 61
(WPg 1989, 9 ff.); IDW, Fachgutachten 2/1988 „Grundsätze ordnungsmäßiger Berichterstattung bei der Abschlussprüfung“ (WPg. 1989, 20 ff.); IDW, Fachgutachten 3/1988 „Grundsätze für die Erteilung von Bestätigungsvermerken“ (WPg. 1989, 27 ff.) – s. dazu übersichtlich Ruhnke (Fn. 8), S. 48 f. Zur Entwicklung und Umstellung nur Krein (Fn. 8), S. 110 ff.; Gehringer (Fn. 8), S. 101 ff. Vgl. dazu statt vieler Fliess, WPK-Mitt. Sonderheft 1997, 126 (129 ff.); zum aktuellen Stand auch Marten/Quick/Ruhnke, Wirtschaftsprüfung, 2. Aufl. 2003, S. 92 ff. Zur Nummerierung s. übersichtlich IDW, WPg. 1998, 652 (653). IDW Prüfungsstandard: Rechungslegungs- und Prüfungsgrundsätze für die Abschlussprüfung (IDW PS 201), Stand 17.11.2000, Tz. 29. So schon die Aussagen im IDW Fachgutachten 1/1988, WPg. 1998, 9 (12); dazu auch Krein (Fn. 8), S. 140 f., vgl. aber auch IDW PS 201 (Fn. 59), Tz. 28 f. Vgl. IDW PS 201 (Fn. 59), Tz. 13 f.
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verpflichtet, im Rahmen ihrer beruflichen Eigenverantwortlichkeit „die von den Fachausschüssen des IDW abgegebenen IDW Fachgutachten, IDW Prüfungsstandards, IDW Stellungnahmen zur Rechnungslegung und IDW Standards, welche die Berufsauffassung der Wirtschaftsprüfer zu fachlichen Fragen der Rechnungslegung und Prüfung sowie zu sonstigen Gegenständen und Inhalten der beruflichen Tätigkeit darlegen oder zu ihrer Entwicklung beitragen, zu beachten.“ Danach hat das Mitglied „sorgfältig zu prüfen, ob die in einem IDW Fachgutachten, einem IDW Prüfungsstandard, einer IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung oder einem IDW Standard aufgestellten Grundsätze bei seiner Tätigkeit und in dem von ihm zu beurteilenden Fall anzuwenden sind. Abweichungen von diesen Grundsätzen sind schriftlich und an geeigneter Stelle (z. B. im Prüfungsbericht) hervorzuheben und ausführlich zu begründen“62. Obwohl der Wortlaut der IDW-Satzung das Mitglied bloß verpflichtet, die Anwendung der Standards zu prüfen, begründet diese zugleich ein RegelAusnahme-Verhältnis zugunsten der Anwendung der Prüfungsstandards. Diesen Mechanismus unterstreicht das IDW mit dem Hinweis: „Beachtet ein Abschlussprüfer ohne gewichtige Gründe die Grundsätze eines Standards oder eines Hinweises nicht, so muss er damit rechnen, daß dies zu seinem Nachteil – und zwar sowohl zivil- als auch berufsrechtlich – ausgelegt werden kann“63. (2) Ein schwerwiegender Verstoß gegen Mitgliedspflichten kann zum Ausschluss des Mitglieds führen (§ 5 Abs. 4 der Satzung). Ob dies z. B. auch für einen Verstoß gegen die Prüfungsstandards gelten kann, scheint fraglich64. Denn damit würde ein Fehlverhalten außerhalb des Vereins, nämlich im Verhältnis zum prüfungspflichtigen Unternehmen sanktioniert65. Der Verein hat indes Sanktionsmöglichkeiten nur im Rahmen seiner Rechtsetzungskompetenz; Vereinsverfassungen beschränken sich jedoch gewöhnlich auf den Vereinsbinnenbereich. Ob Mitglieder auch außerhalb des eigentlichen Vereinslebens zur Anerkennung bestimmter Berufspflichten bei der täglichen Berufsausübung angehalten werden sollen, gehört zu den Grundentscheidungen des Vereins und bedarf einer Stütze in der Vereinssatzung66. Dabei sind Pflichtverletzungen, welche die inneren Vereinsbeziehungen betreffen, immer sanktionsfähig, dagegen vereinsschädliches Verhalten nach außen
__________ 62 Vgl. auch WP-Handbuch (Fn. 17), B 11; aber auch IDW PS 201 (Fn. 59), Tz. 29. 63 So das Zitat aus WP-Handbuch (Fn. 17), A 282; IDW PS 201 (Fn. 59), Tz. 29 bezieht
insoweit auch Strafverfahren mit ein. 64 Übersichtlich zum Meinungsstand Gehringer (Fn. 8), S. 114 f. 65 WP-Handbuch (Fn. 17), A 282. Wie hier kritisch Hirsch, Die Bedeutung der vom
Institut der Wirtschaftsprüfer herausgegebenen Fachgutachten, Stellungnahmen und Verlautbarungen, 1990, S. 124 ff. sowie Ruhnke (Fn. 8), S. 59; anders Biener (Fn. 29), S. 45 (56). 66 Zur Zulässigkeit von Prüfungsstandards als Berufsausübungsnormen Gehringer (Fn. 8), S. 112 f.
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allein, wenn durch das Fehlverhalten Vereinszwecke gefährdet oder das Ansehen des Vereins in der Öffentlichkeit herabgesetzt wird67. Die im Außenverhältnis begangene Pflichtverletzung muss also in das Vereinsbinnenleben zurückwirken. Bei Missachtung von Prüfungsstandards wäre allein damit zu argumentieren, dass sich das IDW die Sicherstellung der gewissenhaften Berufsausübung durch einheitliche Grundsätze zum Ziel gesetzt hat (§ 2 Abs. 2b der IDW-Satzung) und dieses Vereinsziel durch den einzelnen gefährdet worden ist68. Freilich binden die Satzung und die aufgrund der Satzung zustande gekommenen Prüfungsstandards allein die Vereinsmitglieder, die mit dem Eintritt in den Verein privatautonom die Satzung als verbindlich anerkennen. Für Nichtmitglieder (auch solche aus dem Berufsstand) dagegen haben die Verlautbarungen allenfalls Empfehlungscharakter; ihre Nichteinhaltung kann ihnen gegenüber in gar keiner Weise sanktioniert werden69. bb) IDW-Standards als Gegenstand autonomer Selbstverwaltung? Insgesamt scheint somit eine den gesamten Berufsstand umfassende Qualitätssicherung zumindest rechtlich nicht gewährleistet. Wer dem IDW nicht angehört, wird von den Prüfungsstandards nicht gebunden; und vor allem mitnichten deshalb, weil die WPK auf eine so organisierte Qualitätssicherung bislang verzichtet hat. Auch der Verweis in § 4 Abs. 1 der Berufssatzung der WPK, dass der Wirtschaftsprüfer „die fachlichen Regeln“ einzuhalten habe, schafft keine über den Mitgliederbereich des IDW hinausgehenden Rechtswirkungen. Die IDW-Prüfungsstandards haben keine Rechtsnormqualität70 – auch und gerade nicht in berufsgerichtlichen Verfahren. Denn die WPK kann weder ihre autonome Rechtsetzungskompetenz für einen bestimmten Bereich generell auf einen privatrechtlichen Verein übertragen71, noch per Verweis den dort für die Vereinsmitglieder erlassenen Ordnungsrahmen rechtsverbindlich für den gesamten Berufsstand in Bezug nehmen72. Die personellen Verflechtungen zwischen IDW und WPK verändern diesen Befund nicht73.
__________
67 Für eine Sanktionierung von solchen Pflichtverletzungen, allerdings nur gegenüber
Vereinsmitgliedern auch BGHZ, 29, 352 (355). 68 Ähnlich Gehringer (Fn. 8), S. 115. 69 BGHZ 28, 131 (133). 70 Vgl. statt vieler ausdrücklich Ebke in MünchKomm.HGB, 2001, § 323 Rz. 27;
Hopt, WPg. 1986, 498 (502); Marten//Quick/Ruhnke (Fn. 57), S. 90. 71 In diesem Sinne schon Biener (Fn. 29), S. 45 (59). 72 Zur verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit einer Verweisung auf die Verlautbarun-
gen des IDW ausführlich Gehringer (Fn. 8), S. 139 (Fn. 630), ebenso Krein (Fn. 8), S. 154 f. (mit so unrichtigem Hinweis auf die abweichende Meinung von Taupitz, BB 1990, 2367 [2371]); im Ergebnis auch Biener (Fn. 29), S. 45 (59), der schon die Inbezugnahme der IDW-Verlautbarungen nicht als Verweisung im klassischen Sinne begreift und deshalb von deren Zulässigkeit ausgeht. 73 Richtig Biener (Fn. 29), S. 45 (58).
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Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die Berufssatzung der WPK die Verlautbarungen des IDW überhaupt von ihrem Wortlaut her ausschließlich in Bezug nimmt74. Denn die Prüfungsstandards und -hinweise können nicht für sich in Anspruch nehmen, allgemein gültig die Grundsätze ordnungsmäßiger Abschlussprüfung zu regeln75, auch nicht vor dem Hintergrund, dass sie erstens unter Aufwendung besonderen Sachverstands anerkannter Fachleute aufgestellt76, zweitens im IDW nahezu 90% aller Berufsstandsträger vertreten77 und drittens die Mitglieder des IDW zur gewissenhaften und eigenverantwortlichen Berufsausübung verpflichtet sind78. Vielmehr lassen sich die IDW-Prüfungsstandards nur als eine Quelle zur Statuierung von Grundsätzen ordnungsmäßiger Abschlussprüfung begreifen79. Diese Auslegung wird historisch untermauert: Die richtungsweisenden Feststellungen der WPK nahmen die Fachgutachten und Stellungnahmen des IDW ausdrücklich in Bezug und ermahnten jeden Berufsangehörigen „sorgfältig zu prüfen, ob die Grundsätze eines Fachgutachtens oder einer Stellungnahme in den von ihm zu bearbeitenden Fällen anzuwenden sind“80. In dieser Deutlichkeit wird der Bezug in der heutigen Satzung nicht mehr hergestellt. Die entgegengesetzte Auffassung, dass in der WPK-Satzung ausschließlich die IDW-Standards gemeint seien, wird denn auch vornehmlich im IDW-nahen Schrifttum vertreten81.
__________ 74 Diese Frage aufwerfend und verneinend Gehringer (Fn. 8), S. 139; offen lassend
Krein (Fn. 8), S. 154. 75 Strittig, so wie hier Marten/Quick/Ruhnke (Fn. 57), S. 97; Rückle, BFuP 1980, 54
76
77
78 79
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81
(68) sowie Ruhnke (Fn. 8), S. 83 ff.; Krein (Fn. 8), S. 145 – beide mit Nachweisen zur abweichenden Ansicht; anders aber IDW PS 201 (Fn. 59), Tz. 28. In diese Richtung argumentierend WP-Handbuch (Fn. 17), A 282. Allerdings ist – namentlich wegen der Außenwirkung der Abschlussprüfung – nicht nur der Berufsstand zur Aufstellung solcher Grundsätze berufen. Zur Problematik von berufsständischen Minderheiten und den für sie bestehenden Gefahren bei einer Normsetzung durch Standesorganisationen BVerfGE 33, 125 (159 f.) – Facharzt; s. auch Taupitz, BB 1990, 2367 (2368). Zweifelnd an jener Mehrheitsauffassung im IDW auch Gehringer (Fn. 8), S. 139. In diesem Sinne begründend Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2281). In diesem Sinne richtig die in Fn. 75 Genannten (dort auch jeweils zur Methode ihrer Genese). Rückle (BFuP 1980, 54 [68 f.]) und Krein (Fn. 8), S. 162 f. weisen deshalb mit Recht daraufhin, dass es für den Abschlussprüfer schwierig sei, zu erkennen, welche Regelungen Grundsätze ordnungsmäßiger Abschlussprüfung (GoA) oder aber nur die Berufsauffassung des IDW wiedergäben. Zu den Haftungsgefahren für das IDW s. auch Biener (Fn. 29), S. 45 (57). Richtungsweisende Feststellungen zu Abschnitt II („Gewissenhaftigkeit“) der „Richtlinien für die Berufsausübung der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer“. Z. B. WP-Handbuch (Fn. 17), A 281; ähnlich ADS, Teilband 7, 6. Aufl. 2000, § 317 HGB Rz. 122 und § 322 HGB Rz. 22.
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Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung
cc) Rechtliche Bindungswirkung gegenüber Dritten Unabhängig davon bleibt den Prüfungsstandards eine rechtliche Bindungswirkung gegenüber Dritten, also im Außenverhältnis, auch dann versagt, wenn man die Verlautbarungen als fachliche Regeln im Sinne von § 4 Abs. 1 der Berufssatzung anerkennen wollte. Denn der WPK-Satzung und den dort konkretisierten Berufspflichten kommt, wie dargelegt, eine solche Außenwirkung nicht zu. Ebenso wenig binden die IDW-Verlautbarungen auf dem Weg über die Bestimmung des § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB dritte Personen außerhalb des Berufsstandes82. Denn die Verlautbarungen interpretieren und konkretisieren den gesetzlichen Grundsatz der Gewissenhaftigkeit entgegen gelegentlich vorgetragener Meinung mitnichten authentisch. Vielmehr ist der zur Entscheidung im haftungsrechtlichen Einzelfall aufgerufene Richter an die Grundsätze der Norminterpretation und Subsumtion des Sachverhalts gebunden83, aber nicht daran, wie die IDW-Verlautbarungen die Gewissenhaftigkeit interpretieren84. Für den Richter enthalten sie eine Rechtsmeinung, die grundsätzlich wie jede andere85 (etwa die im Kommentarschrifttum) abzuwägen und zu berücksichtigen ist. Zu ihren Gunsten greifen weder gesetzliche Vermutungen, noch gelten sie als antizipierte Sachverständigengutachten86. Trotz ihres hohen Sachverstandes haben die IDW-Gremien insoweit dasselbe wie jeder Teilnehmer am argumentativen Diskurs zu leisten: Überzeugungsarbeit87.
__________ 82 Strittig; s. hierzu den dargelegten Meinungsstand bei Gehringer (Fn. 8), S. 151 f.,
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Krein (Fn. 8), S. 156 ff.; kurz auch Sommerschuh (Fn. 8), S. 171 alle m. w. N. – allerdings nicht immer trennend zwischen normativer und faktischer Wirkung. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 312 ff. (320 ff.). So richtig deshalb AG Duisburg, DB 1994, 464 (467); ausdrücklich zustimmend u. a. Crezelius, ZIP 2003, 461 (464 f.); Marten/Quick/Ruhnke (Fn. 57), S. 91; a. A. LG Frankfurt, WPK-Mitt. 1997, 236 (238), ebenso OLG Braunschweig, WPK-Mitt. 1995, 209 (210). Wie hier z. B. auch Hense in BeckBilanzkomm., 5. Aufl. 2003, § 323 Rz. 16; ähnlich Hirte, Berufshaftung, 1996, S. 59. Zum Teil wird den Verlautbarungen indes der Platz von „rechtlichen Mindestanforderungen“ (Hopt, WPg. 1986, 498 [503]; schwächer Hopt/Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 323 Rz. 1), „Verkehrs- und Berufspflichten mit mittelbarem Verbindlichkeitscharakter (WP-Handbuch [Fn. 17], A 282) oder „wichtigen Entscheidungshilfen“ (Ebke, WPKMitt. 1997, 196 [199]; ders., BB 1997, 1731 [1733]) eingeräumt. S. sogleich sowie die kategorisierten Nachweise bei Gehringer (Fn. 8), S. 152 (Fn. 692 f.). Dazu ausführlich Gehringer (Fn. 8), S. 140 ff. Zur Frage einer Vergleichbarkeit mit überbetrieblichen Normen Krein (Fn. 8), S. 170 ff. In diesem Sinne sehr ausführlich Taupitz, BB 1990, 2367 (2369 f.); a. A. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 221 f. gerade mit Hinweis auf die besondere Fachkompetenz des IDW.
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Peter Hommelhoff und Daniela Mattheus
c) Initiierte faktische Bindungswirkung im Berufsstand und im Außenverhältnis Dennoch – die IDW-Verlautbarungen entfalten enorme Kräfte über den Abschlussprüfer, Dritte, namentlich die prüfungspflichtigen Unternehmen, faktisch zu binden. Denn das IDW hält alle Wirtschaftsprüfer an, seine fachlichen Verlautbarungen zu beachten. Der auf die Berufsangehörigen ausgeübte Druck ist dabei offenbar so groß, dass diesen Verlautbarungen – so der Eindruck im Schrifttum88 – die Eigenschaft von „quasi gesetzlichen Normen“ zukommt, von denen nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf. Weicht ein Prüfer von diesen Verlautbarungsvorgaben ab, soll er im Zweifel vor Gericht in der Lage sein müssen, sein Abweichen zu rechtfertigen. Zudem hat er die Abweichung auch im Prüfungsbericht offen zu legen. Warnend wird den Berufsträgern vor Augen geführt, „dass die Unkenntnis oder Nichtbeachtung von Fachgutachten oder die mangelnde Auseinandersetzung mit diesen eine vorwerfbare und im Wege der Berufsaufsicht zu verfolgende Pflichtverletzung darstellen“ kann89. Nicht selten argumentieren Abschlussprüfer gegenüber den rechnungspflichtigen Unternehmen, eine bestimmte Vorgehensweise oder eine bestimmte Auffassung sei durch berufsrechtliche Empfehlungen zwingend vorgegeben und man dürfe nur unter ganz besonderen Umständen hiervon abweichen90. Diesen Wirkrahmen der IDW-Verlautbarungen ausrundend, sollen diese auch für die zu prüfenden Unternehmen, die Kreditgeber und allen sonstig an der Rechnungslegung Interessierten als Leitlinien der Abschlussprüfung91 und Rechnungslegung92 gelten. Vor diesem Hintergrund werden die Unternehmen in der Abschlussprüfung dem Prüfungsstandard schon deshalb Folge leisten, weil sie an einem möglichst konfliktfreien Prüfungsablauf interessiert sind.
__________ 88 So z. B. Scherrer, DB 1997, 1325 (1327); Taupitz DB 1990, 2367 (2368); Köndgen
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(Fn. 87) S. 220; jüngst auch Gehringer (Fn. 8), S. 151 f.; Marten/Quick/Ruhnke (Fn. 57), S. 91. IDW PS 201 (Fn. 59), Tz. 28 f.; WP-Handbuch (Fn. 17), A 282. Vgl. dazu AG Duisburg, DB 1994, 466 (467). So noch mit Blick auf die IDW Fachgutachten Spieth/Wundram, WPg. 1978, 125 (141). So wird in der IDW Stellungnahme zur Aufstellung des Lageberichts angeführt, dass selbst Unternehmen, „die einen Lagebericht freiwillig aufstellen, … die in dieser IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung aufgestellten Anforderungen zu beachten (haben).“ – IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung, Aufstellung des Lageberichts (IDW RS HFA 1), Stand 4.12.2001, Tz. 8 Satz 2.
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Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung
III. Die Arbeitsteilung zwischen WPK und IDW vor dem Hintergrund des APAG Die umschriebene Untätigkeit der WPK wird gemeinhin unter Verweis auf die historische Entwicklung als gegeben und unumstößlich angesehen93. Nur vereinzelt ist die Forderung erhoben worden, die WPK möge die Standardsetzung auch für fachliche Grundsätze übernehmen – mit dem Ziel, diese auf eine breitere Legitimations- und Akzeptanzbasis zu stellen94. Damit sollten insbesondere Zweifel behoben werden, ob IDW-Verlautbarungen wirklich repräsentativ die Auffassung des Berufsstandes zu fachlichen Fragen wiedergäben95. Zudem bestünde über die Wirtschaftsprüferkammer und ihre Satzungsautonomie die Möglichkeit, jenen Standards zumindest berufstandsintern Rechtsverbindlichkeit zu verschaffen. 1. Prüfungsstandards und öffentliche Aufsicht durch die APAK Aktuellen Anlass zur Überprüfung einer solchen Forderung bietet das jüngst in Kraft getretene Abschlussprüferaufsichtsgesetz (APAG); die in ihm neu geschaffene Abschlussprüfer-Aufsichtskommission (APAK) übt die öffentliche fachbezogene Aufsicht über die Wirtschaftsprüferkammer aus, soweit diese Aufgaben nach § 4 Abs. 1 Satz 1 WPO erfüllt (§ 66a Abs. 1 Satz 1 WPO n. F.). Das sind nach der Begründung zum Regierungsentwurf: Prüfung, Bestellung/Anerkennung, Widerruf der Bestellung und Registrierung, Qualitätskontrolle, Berufsaufsicht, Berufsgrundsätze (ohne Prüfungsstandards) und Fortbildung96. Damit wird oben umschriebenen Umständen zugleich Rechnung getragen: Die WPK hatte sich bislang der nationalen Prüfungsstandards nicht angenommen97, diese waren vielmehr als fachliche Verlautbarungen des IDW ohne Rechtsnormcharakter verabschiedet worden, und das IDW kann als privatrechtlicher Verein keiner öffentlichen Aufsicht unterliegen.
__________ 93 Zu den Hintergründen s. nur kurz Biener (Fn. 29), S. 45 (48 f.); Gehringer (Fn. 8),
S. 119 sowie die in Fn. 46 Genannten. 94 So z. B. schon Rückle, BFuP 1980, 54 ff. (insb. für GoA); Taupitz, BB 1990, 2367 ff.
(inbs. für GoB); ebenso Biener (Fn. 29), 45 ff. Jüngst auch Lenz, BB 2004, 1951 (1953). 95 So z. B. Taupitz, BB 1990, 2367 (2370); Krein (Fn 8), S. 145 f.; Marten/Quick/Ruhnke
(Fn. 57), S. 97; anders aber Köndgen (Fn. 87), S. 220. 96 Vgl. Begr. des RegE zu § 66a WPO, BT-Drucks. 15/3983, S. 15. 97 In diesem Sinne interpretierend auch Lenz, BB 2004, 1951 (1953); a. A. offenbar
Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2281), die davon ausgehen, dass mit dem APAG der Erlass von Prüfungsstandards komplett aus dem Aufgabenbereich der WPK herausgenommen werden soll. Die dort in Zitat genommene Begründung des APAG bezieht sich indes auf § 66a WPO n. F. und nicht auf die nur deklaratorisch neu gestaltete Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 1 WPO, welche den Aufgabenbereich der WPK umschreibt (s. oben Fn. 19). Zum Passus „Annahme von Berufsgrundsätzen“ s. auch Marten/Köhler, WPg. 2005, 145 (149).
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Peter Hommelhoff und Daniela Mattheus
Daher ist es widersprüchlich, wenn der Gesetzgeber der APAK die Aufsicht über die Annahme von internationalen Prüfungsstandards (§ 66 Abs. 1 Satz 2 WPO n. F.) zuweist98. Zwar ist eine Aufsicht über Prüfungsstandards durch eine unabhängige Kommission, spätestens seit der Einführung des Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB) durch den Sarbanes-Oxley Act, international üblich99. Konsequent ordnet Art. 31 Abs. 4 (b) im Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zur Modernisierung der Abschlussprüferrichtlinie die letztinstanzliche Überwachung der Prüfungsgrundsätze durch die öffentliche Aufsicht des Berufsstandes an100. Aber mit dem hier aufgezeigten System der Arbeitsteilung zwischen IDW und WPK zur Qualitätssicherung der Wirtschaftsprüfung in Deutschland ist die neue Aufsicht der APAK über die Prüfungsstandards schlechterdings nicht zu vereinbaren. Deshalb droht diese Neuregelung insoweit in ihrer Wirkung101 ins Leere zu laufen102; de facto bleibt der APAK ein wesentlicher Teil der Qualitätssicherung vorenthalten. 2. Erstellung von Prüfungsstandards durch die WPK Vor diesem Hintergrund wurde vorgeschlagen, die Zuständigkeit der WPK für den Erlass von Prüfungsstandards gesetzgeberisch klar und das IDW der WPK im Vorfeld unterstützend zur Seite zu stellen. Rechtstechnisch sollte die WPK entweder selbst die Prüfungsstandards verabschieden103 oder aber – um den beim IDW vorhandenen Sachverstand und dessen Ressourcen zu nutzen – die vom IDW erarbeiteten Prüfungsstandards nach Einzelfallprüfung akkreditieren und veröffentlichen104. Damit sollte die Erstellung von Prü-
__________ 98 Noch im Referentenentwurf hieß es hierzu am Ende von § 66a Abs. 1 Satz 1 WPO
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102 103 104
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n. F.: „sowie über die Annahme von Prüfungsstandards.“ Vgl. Begr. zum RegE, BTDrucks. 15/3983, S. 15. Das PCAOB erlässt für den Bereich der Abschlussprüfung sogar eigene Prüfungsstandards. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung des Jahresabschlusses und des konsolidierten Abschlusses und zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates v. 16.3.2004, KOM/ 2004/0177 endg. – COD 2004/0065. Auch zum Regelungsinhalt besteht Unklarheit, nämlich bei Frage, ob sich die Aufsicht auf die künftige Transformation von internationalen Prüfungsstandards beschränken oder auch schon die vollzogene Transformation und damit die Aufsicht über bestehende Prüfungsstandards mit einbeziehen soll. Nicht erfasst werden kann und soll hierdurch die Aufsicht über die Annahme internationaler Prüfungsstandards durch das International Federation of Accountants (IFAC), dem die WPK und das IDW als Mitglieder angehören, vgl. dazu Begr. zum RegE, BTDrucks., 15/3983, S. 15. Kritisch deshalb Heininger/Bertram, DB 2004, 1737 (1739); Lenz, BB 2004, 1951 (1953). So Lenz, BB 2004, 1951 (1954). Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2281).
Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung
fungsstandards unter Einbindung der APAK ermöglicht und zudem diesen Grundsätzen ein höherer Verbindlichkeitsgrad eingeräumt werden. Darauf zielt der APAG-Gesetzgeber auch bei der Qualitätssicherung ab105. Künftig ist die WPK verpflichtet, die Grundsätze der Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle selbst und abschließend zu regeln. Bislang bietet allein der IDW Prüfungsstandard 140106 Regelungen für die externe Qualitätskontrolle; dessen Grundsätze sollen ebenso in der Berufssatzung übernommen werden können wie die gemeinsame Stellungnahme von WPK und IDW zur Qualitätssicherung107. Auf Anregung des Qualitätskontrollbeirats soll auf diese Weise die alleinige und endgültige Kompetenz der WPK zur Regelung der Qualitätssicherung und -kontrolle, insbesondere zur Regelung des Qualitätskontrollberichts unterstrichen werden108. Zweifelhaft ist, ob dieses Konzept zur Neuverteilung der Zuständigkeiten auch für die übrigen Prüfungsstandards Geltung entfalten kann. Denn im Unterschied zu PS 140, der eine Berufspflicht aus der WPO erläutert (§ 57a Abs. 1 WPO), konkretisieren viele andere Prüfungsstandards fachliche Grundsätze, die sich nicht – wie dargelegt109 – auf den Binnenbereich des Berufsstandes beschränken. Sie regeln Grundsätze im Außenverhältnis des Abschlussprüfers zum Auftraggeber und wirken zugleich auf diesem mittelbaren Wege faktisch auf dessen Interessen ein. Aber dennoch bleibt es dabei: Eine auch für außenstehende Dritte, insbesondere für die prüfungspflichtigen Unternehmen, verbindliche Auslegung der §§ 316 ff. HGB lässt sich so nicht erreichen – und zwar selbst dann nicht, wenn die Wirtschaftsprüferkammer die Prüfungsstandards als Richtlinien im Sinne von § 57 Abs. 2 Nr. 5 WPO110 feststellen111 oder gar in ihre Satzung aufnehmen würde112. Der erweiterte Kreis der an der Arbeitsgemeinschaft
__________ 105 Vgl. die Begr. zum RegE, BT-Drucks. 15/3983, S. 13; dies so interpretierend
Baetge/Lienau, DB 2004, 2277 (2281); Heininger/Bertram, DB 2004, 1737 (1739). 106 IDW Prüfungsstandard: Die Durchführung von Qualitätskontrollen in der Wirt-
schaftsprüferpraxis (IDW PS 140), Stand 4.9.2001. 107 VO 1/1995 – Zur Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüferpraxis, Gemeinsame
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112
Stellungnahme der WPK und des IDW, neu abgedruckt in WPK-Mitt. Sonderheft 2001, 58 ff. Vgl. die Begr. zum RegE, BT-Drucks. 15/3983, S. 13. S. dazu oben II. 2. a). So seinerzeit der Vorschlag von Biener (Fn. 29), S. 45 (59); Rückle, BFuP 1980, 54 (71 f.). Die Richtlinien können auch nicht als Hilfsmittel zur Auslegung und Konkretisierung von generalklauselartig formulierten Berufspflichten bei berufsgerichtlichen Verfahren oder gar bei Haftungsprozessen herangezogen werden: BVerfG, JZ 1988, 242 ff.; anders noch die Berufsauffassung vgl. IDW (Hrsg.), WP-Handbuch, 3. Aufl. 1977, S. 47; Spieth/Wundram, WPg 1978, 125 (127); Lichtner/Korfmacher, WPK-Mitt. 1993, 93 (102); aber auch BVerfGE 36, 212 (217). Ebenso mit Blick auf die Statuierung von GoB Taupitz, BB 1990, 2367 (2372) sowie im Ergebnis auch Rückle, BFuP 1980, 54 (71), wenn er davon spricht, dass Gerichtsurteile den Richtlinien Grenzen setzen können.
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für das wirtschaftliche Prüfungswesen Beteiligten113 erweitert nicht zugleich den Regelungsrahmen, innerhalb dessen die WPK autonom Recht setzen kann. Nur für die Angehörigen des Berufsstandes verbindlich kann die WPK statutarische Anordnungen treffen – also allein Berufsstands-Interne. Klug hat deshalb der APAG-Gesetzgeber nur die Qualitätskontrolle und -sicherung als Interna des Berufsstandes der Berufssatzung zur Regelung überwiesen.
IV. Resümee Schon im Jahre 1987 äußerte Moxter die Vermutung, Bilanzrechtspraktiker seien „in nicht unerheblichem Umfange daran gewöhnt, ihr eigener Gesetzgeber zu sein“114. Dieser Eindruck ist in den voran stehenden Überlegungen mehrfach – und auch mit Blick auf die Abschlussprüfung – zu Tage getreten. Aber Wirtschaftsprüfer und ihre Standesorganisationen haben das Recht anzuwenden und nicht zu setzen – jedenfalls nicht außerhalb bestehender gesetzlicher Ermächtigungen. Allein die WPK, aber nicht das IDW, verfügt über eine personell und inhaltlich beschränkte Rechtsetzungsbefugnis. Sie kann mit ihrer Berufssatzung die fachlichen Grundsätze nur berufsintern, nicht jedoch rechtsverbindlich im Außenverhältnis zur prüfungspflichtigen Gesellschaft regeln. Daher bleibt im Gestrüpp vielfältiger Regelungskomplexe die Hauptaufgabe ungelöst, für den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer und die von seiner Arbeit Betroffenen die notwendigen und hinreichend konkreten Rechtsquellen zu schaffen und diese konturenhaft gegeneinander abzugrenzen. Wissenschaftler und Praktiker in Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaft sind aufgefordert, ihren Dialog fortzusetzen.
__________ 113 Diese Arbeitsgemeinschaft ist – verankert beim Deutschen Industrie- und Han-
delskammertag (DIHT) – zur Behandlung von Fragen des wirtschaftlichen Prüfungs- und Treuhandwesen, die gemeinsame Belange der Wirtschaft und der Berufe der Wirtschaftsprüfer berühren, gebildet worden (§ 65 Abs. 1 WPO). Ihre Beteiligung ist beim IDW-Verfahren nicht vorgesehen – kritisch deshalb Biener (Fn. 29), S. 45 (59). 114 Moxter in FS Goerdeler, 1987, S. 361 (364) mit Blick auf die Etablierung einer „Bilanzrechtswissenschaft“.
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Der Vertrag – ein Instrument zur Begründung steuerlicher Ungleichheit? Inhaltsübersicht I. Die Aufgabe des Vertrages 1. Der Vertrag als Ausdruck der Freiheit 2. Steuerliche Rahmenbedingungen der Vertragsfreiheit II. Der Vertrag als Anknüpfungspunkt, nicht als Gestaltungsinstrument der Besteuerung 1. Der Normalfall: Steuerliche Anknüpfung an den zivilrechtlichen Vertrag 2. Vertragliche Verschleierung des steuerlichen Belastungsgrundes III. Das Steuergesetz als ein rechtlicher Rahmen der Vertragsfreiheit 1. Steuergesetzliche Mitdefinition der Vertragsfreiheit 2. Vorherige Anwendung des Zivilrechts
3. Unmaßgeblichkeit der zivilrechtlichen Qualifikation eines Rechtsgeschäfts 4. Die steuerjuristische Betrachtungsweise IV. Besteuerung des privatwirtschaftlich erreichten Belastungsgrundes 1. Eigenständige steuerliche Würdigung des jeweiligen Belastungsgrundes 2. Eigenständigkeit steuergesetzlicher Tatbestandsbildung 3. Vertragliche Einzelfallgerechtigkeit, steuerliche Allgemeingerechtigkeit V. Praktische Einzelfolgerungen 1. Die Steuersubjekte 2. Die Rechtsformneutralität des Steuerrechts 3. Der steuerliche Erfolg 4. Grenzüberschreitende Sachverhalte
I. Die Aufgabe des Vertrages 1. Der Vertrag als Ausdruck der Freiheit Das faszinierende Instrument wirtschaftlicher Freiheit ist der Vertrag. Zwei Personen verständigen sich einvernehmlich auf eine Rechtsfolge und bringen allein durch dieses Sichvertragen eine neue Rechtsverbindlichkeit hervor, die mit Hilfe des Staates, insbesondere seiner Gerichte, eingefordert und durchgesetzt werden kann. Voraussetzung dieser Vertragsautonomie ist allerdings eine Rechtsordnung, die bestimmte Güter und Leistungen der Disposition der Vertragspartner unterwirft, andere der privatautonomen Verfügungsbefugnis entzieht. Der Mensch kann über seine Arbeitskraft im Rahmen eines Dienst-, Werk- oder Arbeitsvertrages verfügen, über seine Körperintegrität hingegen nicht. Er kann über sein Eigentum einen Vertrag schließen, bei fremdem Eigentum fehlt ihm die Verfügungsbefugnis. Er darf mit dem Unternehmer für den Bau eines Hauses ein Entgelt vereinbaren, 919
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würde sich hingegen bei der Absprache eines Entgelts für die Baugenehmigung strafbar machen. Er kann mit anderen zusammen vertraglich eine Handelsgesellschaft begründen; eine Vereinbarung zu gewerbsmäßiger Kriminalität wäre nichtig. Die Rechtsordnung unterscheidet vertragsfähige Leistungen und Handlungen von den nicht zur Disposition der Vertragspartner stehenden Gütern und Rechtspflichten nach dem Prinzip der Freiheit. Die freiheitsberechtigte Gesellschaft ist im Wirkungsbereich ihrer Freiheit grundsätzlich zum Vertrag berechtigt; der freiheitsverpflichtete Staat in Wahrnehmung seiner Hoheitsaufgaben prinzipiell an nicht disponibles Recht und Gesetz gebunden. Der Anwendungsbereich des Vertrages umfasst deshalb insbesondere die Berufsund Eigentümerfreiheit, die Medien- und Vereinigungsfreiheit, die Unternehmer- und allgemeine Handlungsfreiheit, die Freiheit zur Eheschließung, auch Wahrnehmungen der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Das staatlich gesetzte Recht ist vielfach die Bedingung und der Rahmen, nach denen Vertragsfreiheit gewährt wird. Das unabdingbare Privatrecht begrenzt Gegenstände und Entstehensbedingungen privatrechtlicher Vereinbarungen. Das Währungsrecht enthält verbindliche Vorgaben für die Preisvereinbarung. Das Arbeitsrecht regelt weitgehend – überindividuelle – Vertragspartner und Vertragsinhalte bei der Disposition über individuelle Arbeitskraft. Gesetzliche „Berufsbilder“1 prägen die Berufsfreiheit, das Eherecht definiert die Ehefreiheit, das Sachenrecht, der gewerbliche Rechtschutz und weitgehend auch das Finanzrecht bestimmen den Inhalt der Eigentümerfreiheit. 2. Steuerliche Rahmenbedingungen der Vertragsfreiheit Wenn der Staat mit seinem Recht, seinem Währungssystem, seinem Angebot von Schule, Berufsbildung und Universität, seinen rechtlichen und organisatorischen Stützen für freien Markt und Wettbewerb individuelle Freiheit ermöglicht, muss er sich diese Leistungen entgelten lassen, sie aus eigener staatlicher unternehmerischer Tätigkeit finanzieren oder seinen Finanzbedarf durch Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens decken. Wollte der Staat sich seine Leistungen entgelten lassen, würde er sein Gesicht als sozialer Rechtstaat und als Demokratie verlieren. Die Rechte würden nicht mehr nach Bedarf und Berechtigung, sondern nach dem höchsten Entgeltgebot vergeben. Die Polizei gewährte Sicherheit nur noch dem Zahlungsfähigen und Zahlungsbereiten. Der Sozialstaat könnte seine Leistungen gerade dem Bedürftigen nicht erbringen, weil er auf die Gegenleistung angewiesen wäre. Die Demokratie bestimmte ihre Verantwortlichkeit nicht mehr gegenüber dem Bürger, sondern dem Finanzkräftigen. Der Rechtstaat
__________ 1
BVerfGE 7, 377 (397) (Apothekenurteil).
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Der Vertrag – ein Instrument zur Begründung steuerlicher Ungleichheit?
verlöre seine Unbefangenheit, müsste er Gesetz und Recht nicht an tatsächlichen Bedürfnissen und Dringlichkeiten, sondern an der Entgeltchance ausrichten. Die Republik fände nicht mehr im Gemeinwohl ihre Entscheidungsmitte, sondern im Erwerbstreben. Wollte der Staat sich aus Staatsunternehmen finanzieren, müsste er wesentliche Produktionsfaktoren – Kapital und Arbeit – eigenhändig bewirtschaften und dabei Gewinne erzielen. Die Garantie der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der Eigentümerfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG) geben die individuelle Arbeitskraft und die eigentumsfähigen Wirtschaftsgüter jedoch strukturell in private Hand, verbieten damit eine Staatsfinanzierung prinzipiell durch staatliche unternehmerische Tätigkeit. Damit bleibt dem Staat nur, sich durch Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens, also durch Steuern, zu finanzieren. Der Steuerstaat ist die Konsequenz einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die das Wirtschaftsgeschehen grundsätzlich in privater Hand belässt, damit den Staat auf die bloße finanzwirtschaftliche Teilhabe am privatwirtschaftlichen Erfolg verweist. Die Steuer ist die staatspolitische Bedingung einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung. Auch die Frage, auf welchen Gegenstand die Steuer zugreifen soll, beantwortet sich aus dem Freiheitsprinzip. Wenn die Steuer das Vermögen, den Grundbesitz, das Gewerbekapital oder ein Kraftfahrzeug belastet, wählt sie einen Eigentumsbestand zum Belastungsgrund, bedrängt damit den Eigentümer, einen Teil seines Eigentums für Zwecke der Besteuerung zu veräußern oder aber anderweitig Geld zu erwerben, um den Eigentumsbestand erhalten zu können. Die Bestandsteuern ähneln dem Lehensverhältnis. Freiheitsschonender wirkt eine Steuer, die an einem vom Wirtschaftssubjekt freiwillig hergestellten Wirtschaftserfolg teilhat. Hat der Steuerpflichtige seine Arbeitskraft oder sein Kapital eingesetzt, um Einkommen zu erwerben, und wird dieses nun besteuert, so vermindert die Steuer gleichsam das Erwerbsentgelt, das dem Pflichtigen aber auch nach Steuern noch einen Einkommenszufluss sichert und damit den Gesamtvorgang eher in das Licht des Erwerbs als in den Schatten der Last rückt. Dieses wird insbesondere beim Quellenabzug, der Lohnsteuer oder der Kapitalertragsteuer, bewusst, bei der der Gläubiger Nettoerträge entgegennimmt und diese als Vermögenszuwachs verbucht. Auch die Umsatzbesteuerung schont die individuelle Freiheit mehr als eine Bestandsbesteuerung, weil sie an die freiwillige Nachfrage des Konsumenten anknüpft und den im Leistungstausch geschuldeten Preis steuerlich verteuert. Deshalb ist es freiheitsrechtlich konsequent, den Steuerzugriff auf das Einkommen und den Umsatz auszurichten.
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II. Der Vertrag als Anknüpfungspunkt, nicht als Gestaltungsinstrument der Besteuerung 1. Der Normalfall: Steuerliche Anknüpfung an den zivilrechtlichen Vertrag Diese freiheitliche Konzeption der Besteuerung hat zur Folge, dass die wichtigsten Entstehenstatbestände für Einkommen und Umsatz im Vertrag begründet werden. Wer eine vertragliche Forderung erworben hat, muss diese der Einkommensteuer unterwerfen, wer als Unternehmer im Inland ein Entgelt für eine Leistung vereinbart hat, begründet damit die Umsatzsteuerschuld. In der Normalität des Wirtschaftslebens erfasst der Steuerstaat damit den gemeinten Belastungsgrund verlässlich und sichtbar im Vertrag. Der „Schlagbaum des Steuertatbestandes“ wird „an dem Normalwege, auf welchem der Verkehr ein bestimmtes wirtschaftliches Ziel i. d. R. zu erreichen strebt,“ errichtet2. Die verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten des Wirtschaftens und die zivilrechtliche Privatautonomie erlauben den Wirtschaftsbeteiligten jedoch, ihr Ziel von Einkommen, Umsatz, Schenkung und Erbschaft, Konsum und Nutzung nicht in der steuergesetzlich erwarteten Normalität, sondern auf Umwegen, durch atypische rechtliche Gestaltungen zu erreichen. Die Mitarbeit des Familienangehörigen im Familienunternehmen kann auf der Grundlage des Familienrechts, eines Arbeitsvertrages, eines Werkvertrages oder eines Gesellschaftsvertrages erbracht werden3. Eine Kapitalgesellschaft kann durch Eigenkapital oder Gesellschafterdarlehen finanziell ausgestattet werden4. Der Schwiegervater kann seinem Schwiegersohn Barvermögen schenken, aber auch zunächst seine Tochter beschenken und diese im Schenkungsvertrag verpflichten, den Betrag sofort an ihren Ehemann weiterzuleiten. Diese zivilrechtlichen Gestaltungen dienen vielfach dem Versuch, durch das Wirtschaften auf Nebenwegen gleichsam die steuerliche Maut auf dem Normalweg zu vermeiden. Diese Wahl des Nebenweges ist jedermann freigestellt und verdient deshalb auch steuerrechtlich Anerkennung, soweit die Steuerlast tatbestandlich vom Ort und Weg und nicht vom Ziel abhängt. Wer aus Liebe zu Afrika nach Kenia auswandert und sein Wertpapiervermögen in Deutschland belässt, braucht nunmehr seine Zinserträge weder in Deutschland noch in Kenia zu versteuern5. Wenn der Schwiegervater hingegen bei der Kettenschenkung die höheren Freibeträge des eigenen Kindes durch Zwischenschaltung der Tochter nutzen will, obwohl er vertraglich die Zuwendung an den Schwiergersohn vorzeichnet, der zu geringeren Freibe-
__________ Hensel, Steuerrecht, 3. Aufl. 1933, S. 1995. Ruppe/Hey in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Loseblatt, Einführung EStG Rz. 465. 4 Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 3, 1993, S. 1330. 5 Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 5 Rz. 100. 2 3
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trägen beschenkt wird, muss er sich fragen lassen, ob dieser technische Umweg tatsächlich den Belastungsgrund des Schenkung- und Erbschaftsteuergesetzes vermeidet. Die Rechtsprechung6 bewertete diesen Vorgang als Durchgangserwerb, blickt durch die zweigliedrige Schenkung hindurch auf das Verhältnis von Schenker und letztlich Begünstigtem und nimmt den Zwischenerwerb erbschaftsteuerlich nicht zur Kenntnis. Die zivilrechtliche Wirksamkeit der jeweils vereinbarten Schenkungsverträge ist dabei unerheblich. 2. Vertragliche Verschleierung des steuerlichen Belastungsgrundes Diese Kettenschenkung ist der Modellfall für die Anwendung des § 42 AO, nach dem „durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts“ „das Steuergesetz nicht umgangen werden“ kann. In diesen Missbrauchsfällen entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht (§ 42 Satz 2 AO). Mit dieser Vorschrift hat die Abgabenordung alle steuergesetzlichen Tatbestände, die an rechtliche Gestaltungen anknüpfen, aber den die Besteuerung rechtfertigenden wirtschaftlichen Belastungsgrund erfassen sollen, durch einen allgemeinen Tatbestand erweitert, der auch die unangemessenen Rechtsgestaltungen miterfasst7. § 42 AO wird teilweise als gesetzlich zugelassene Analogie verstanden8. Diese Auffassung muss sich mit dem Erfordernis des Gesetzesvorbehalts und dessen Bestimmtheit bei Steuereingriffen auseinander setzen. Andere halten § 42 AO für überflüssig, weil die Versuche, den Gesetzeszweck durch den Wortlaut zu überspielen, letztlich durch teleologische Auslegung zurückgewiesen werden könnten9. Diese Überlegungen kommen einer verfassungskonformen Auslegung der Steuergesetze nahe, die eine Belastungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) verwirklicht und damit demselben Ziel wie § 42 AO dient. Diese Sicht rechtfertigt die Steuerlast aus dem wirtschaftlich erreichten Erfolg – der Bereicherung, des Einkommens, des Konsumerwerbs –, nicht aus dem Weg, auf dem dieser Erfolg erzielt wurde. Die Anwendung des Steuergesetzes trifft also auf die Besonderheit, dass sie oft nicht den gesetzlich gemeinten Regelfall, sondern den durch steuerbewusste Sachverhaltsgestaltung bewirkten Grenzfall zu beurteilen hat. Finanz-
__________ BFH, BStBl. III 1955 S. 395; 1962 S. 206; BStBl. II 1994 S. 128. Tipke (Fn. 5), S. 1331. Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, in Festgabe Ziegelmann, 1932, S. 230; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 187; Isensee, Das Billigprojektiv des Steuergesetzes – Rechtfertigung und Reichweite des Steuererlasses im Rechtssystem des Steuergesetzes, in FS W. Flume, Bd. 2, 1978, S. 137. 9 Gassner, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, 1972, S. 90 f.; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 224 f. 6 7 8
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beamte und Richter stehen deshalb vor der Aufgabe, den Sachverhalt mit Blick auf seinen steuererheblichen Kern der individuellen Leistungsfähigkeit oder der in der Kaufkraft vermuteten Leistungsfähigkeit zu ermitteln und diesen trotz formaler und rechtstechnischer Ablenkung realitätsgerecht zu erfassen. Im Steuerrecht prallen die strukturelle Gegenläufigkeit von Gesetz und Vertrag im steuerrechtlichen Alltag aufeinander: Das allgemeine, in seiner Generellität privilegienfeindliche10, auch in seiner Abstraktheit am Regelfall orientierte, die Besonderheiten des Einzellfalles nicht vollständig aufgreifende11 Gesetz hat den steuerwürdigen Sachverhalt realitätsgerecht und unausweichlich12 zu erfassen13. Demgegenüber befähigt der zivilrechtliche Vertrag den Vertragsberechtigten, willentlich für den Einzelfall Rechtsverbindlichkeiten zu begründen und den für die Vertragspartner verfügbaren Lebensbereich rechtlich zu verändern.
III. Das Steuergesetz als ein rechtlicher Rahmen der Vertragsfreiheit 1. Steuergesetzliche Mitdefinition der Vertragsfreiheit Im Rahmen einer Gesamtrechtsordnung müssen die jeweiligen Teilrechtsordnungen – hier das Steuerrecht und das Zivilrecht – so aufeinander abgestimmt werden, dass eine Widersprüchlichkeit vermieden und eine Folgerichtigkeit der Regelung gewahrt bleibt14. Die Ziele der beiden Teilrechtsordnungen sind verschieden: Das Steuerrecht vermittelt dem Staat eine maßvolle und gleichmäßige Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg der Grundrechtsberechtigten. Das Privatrecht befähigt die Grundrechtsberechtigten, einvernehmlich Verbindlichkeiten über das Nutzen, Verwalten und Veräußern ihrer Wirtschaftsgüter und ihrer Arbeitskraft zu treffen, über die sie Bestimmungsmacht haben. Hat der Vertragspartner einen Vertrag geschlossen, hat er den steuererheblichen Sachverhalt verändert: Gewinn oder Verlust ist entstanden, ein Leistungsentgelt vereinbart, ein Schenkungsvertrag geschlossen, ein Grundstück erworben. Das Steuergesetz begleitet diesen Vertragsschluss als Eingriffsrecht, indem es den steuerlichen Teilhabeanspruch des Staates für den Vertragserfolg gesetzlich definiert; es wirkt aber auch als Freiheitsgarant, indem es die Privatnützigkeit dieses Vorgangs im Übrigen gewährleistet. Wenn z. B. das EStG 30 % eines Gewinns als Einkommensteuer beansprucht, sind 30 % steuerlicher Eingriff, 70 % aber Frei-
__________ BVerfGE 84, 239 (269 f.) (Zinsurteil). BVerfGE 82, 159 (185 f.) (Absatzfonds). BVerfGE 96, 1 (6) (Arbeitnehmerfreibetrag); 101, 297 (309) (Arbeitszimmer). BVerfGE 87, 153 (172) (Grundfreibetrag); 93, 121 (136) (Vermögensteuer); 99, 218 (233) (Kinderbetreuungskosten); 99, 246 (260 f.) (Familienleistungsausgleich). 14 BVerfGE 84, 239 (271) (Zinsbesteuerung); 87, 153 (170) (Grundfreibetrag); 93, 121 (136) (Vermögensteuer); 98, 83 (97 f.) (Landesabfallabgaben); 98, 106 (118 f.) (Verpackungsteuer). 10 11 12 13
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heitsgarantie. Das Steuerrecht definiert ebenso wie das Zivilrecht den rechtlich möglichen privatnützigen Erfolg eines privatautonomen Vertragsschlusses. 2. Vorherige Anwendung des Zivilrechts Steuerrecht und Vertragsrecht können nicht aus einer Hierarchie der Rechtsquellen in einem Vorrangverhältnis geordnet werden. Beide Gesetze sind Bundesrecht, im Geltungsgrund also gleichrangig, würdigen denselben Sachverhalt aus verschiedener Perspektive und nach unterschiedlichen Wertungsmaßstäben15. Ein Sachverhalt wird von den Vertragsparteien zunächst vertraglich gestaltet, das Steuerrecht knüpft sodann an die vorgefundene Gestaltung an. Insoweit gilt eine Vorherigkeit für die Anwendung des Zivilrechts, nicht jedoch ein Vorrang16. Umgekehrt haben der zwingende Charakter des Steuerrechts und die häufige Abdingbarkeit des Privatrechts nicht zur Folge, dass dem Steuerrecht ein prinzipieller Vorrang vor dem Zivilrecht zukäme. Die strikten gesetzlichen Steuerrechtsfolgen entziehen sich zwar der Disposition der Vertragsparteien, hindern aber nicht eine privatautonome Gestaltung, die bewusst auch die an den Vertrag anknüpfende Steuerrechtsfolge erstrebt. Heiratet der Greis kurz vor seinem Ableben seine Freundin, um Einkommen- und Erbschaftsteuer zu sparen, wird die bürgerlich-rechtlich wirksame Ehe zur Tatbestandsvoraussetzung der Steuerentlastungen; das Steuerrecht stellt den statusbegründenden Akt der Eheschließung nicht in Frage17. 3. Unmaßgeblichkeit der zivilrechtlichen Qualifikation eines Rechtsgeschäfts Das Beispiel der Ehe legt den Gedanken nahe, die steuerrechtliche Beurteilung jedenfalls dann an die vertragsrechtliche Qualifikation eines Sachverhaltes zu binden, wenn das Steuergesetz terminologisch an das Zivilrecht anknüpft. Auch dieser Zusammenhalt in einer terminologischen Folgerichtigkeit ist jedoch nicht geltendes Steuerrecht. Das Steuerrecht entwickelt in der Regel eigenständige Begriffe, verwendet eine zivilrechtlich vorgefundene Terminologie in anderer Bedeutung, kennt im Übrigen auch keine Vermutung, dass ein dem Zivilrecht entlehntes Tatbestandsmerkmal einer Steuerrechtsnorm im Sinne des zivilrechtlichen Verständnisses zu interpretieren sei18.
__________ 15 Schulze-Osterloh, AcP 190 (1999), 140 (153). 16 BVerfGE, Beschl. der 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG v. 27.12.1992, BStBl. II
1992 S. 212 (213) (Grunderwerbsteuer, Bauherrenmodell). 17 Hensel (Fn. 8), S. 278; Tipke (Fn. 5), S. 1334. 18 BVerfGE (Fn. 16), S. 213.
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Ob und inwieweit ein vom Steuergesetz übernommener Begriff aus einer anderen Teilrechtsordnung deren Inhalt teilt, muss jeweils durch Auslegung ermittelt werden. Wenn § 26 EStG für die Besteuerung der Ehegatten an den Tatbestand „Ehe“ anknüpft, § 15 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG den Begriff der OHG oder KG verwendet oder § 1 Abs. 1 KStG die verschiedenen Formen der juristischen Personen aufnimmt, meint diese Anknüpfung an statusbegründende Rechtsvorschriften des Zivil- und Gesellschaftsrechts den jeweils dort begründeten Rechtsakt. Politische Parteien im Sinne des § 10b Abs. 2 EStG sind nur solche im Sinne des § 2 PartG19. Ausdrückliche Verweise des EStG auf sonstige rechtliche Regelungen, z. B. des § 34f EStG auf § 15 BerlinFördG, nehmen die angesprochenen Normen in ihrer jeweiligen Entwicklung tatbestandlich in das Steuergesetz auf (dynamische Verweisung). Der Tatbestand „Euro“ folgt in einem förmlichen, währungsrechtlich begründeten Nominalismus strikt den Vorgaben des Währungsrechts. Handelt hingegen § 21 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 1 Nr. 6 EStG von „Einkünften aus Vermietung und Verpachtung“, so beschränken sich diese Einkünfte keineswegs auf diejenigen aus einem Miet- und Pachtvertrag, bezeichnen vielmehr alle aus der zeitlich begrenzten entgeltlichen Überlassung zum Gebrauch oder zur Nutzung von unbeweglichen Gegenständen des Privatvermögens oder damit zusammenhängender Rechte erzielten Einkünfte20. Der Steuerpflichtige wird diese Qualifikation seiner Einkünfte also nicht durch Abschluss eines Leasingvertrages vermeiden können. Erfasst § 15 Abs. 1 Satz 1 EStG die Einkünfte aus „Gewerbebetrieb“, so ist dieser Begriff des Gewerbebetriebes nicht mit dem zivilrechtlichen (§ 196 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 7, § 1822 Nr. 3 und 4 BGB) oder dem handelsrechtlichen Begriff des Gewerbebetriebes (§§ 1, 2 HGB) identisch. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft behalten selbst dann ihre Qualifikation, wenn das Unternehmen nach § 3 Abs. 2 i. V. m. § 2 HGB eingetragen ist (Kann-Kaufmann); Einkünfte aus Kapitalvermögen oder aus Vermietung und Verpachtung werden nicht zu gewerblichen, selbst wenn eine vermögensverwaltende Gesellschaft als OHG oder KG in das Handelsregister eingetragen ist (§§ 105 Abs. 2, 161 HGB). Ebenso wenig begründet die Eigenschaft als eingetragener Scheinkaufmann (§ 5 HGB) Gewerblichkeit im Sinne des § 15 EStG21. Eine solche „Relativität der Rechtsbegriffe“22 ist in einer widerspruchsfreien, aber je nach Sachbereichen differenzierten Rechtsordnung angelegt.
__________ 19 20 21 22
BFH, BStBl. II 1991 S. 508. Mellinghoff in Kirchhof, EStG Kompaktkommentar, 4. Aufl. 2004, § 21 Rz. 1. Vgl. insgesamt Reiß in Kirchhof (Fn. 20), § 15 Rz. 15. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 78, 156 f.
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4. Die steuerjuristische Betrachtungsweise Steuerrechtliche Tatbestandsmerkmale sind danach, auch wenn sie einem anderen Rechtsgebiet entnommen werden, nach dem steuerrechtlichen Bedeutungszusammenhang, nach dem Zweck des jeweiligen Steuergesetzes und dem Inhalt der einschlägigen Einzelregelung zu interpretieren. Es besteht weder eine Vermutung für ein übereinstimmendes noch für ein abweichendes Verständnis23. Die privatautonome Gestaltung des Sachverhalts durch die Vertragsparteien ist zunächst am Maßstab des jeweiligen Vertragsrechts zu qualifizieren und sodann dem Ergebnis der Auslegung der steuerrechtlichen Norm zuzuordnen. Der Steuertatbestand ist erfüllt, wenn die Sachverhaltsgestaltung zu einem Erfolg führt, der nach der steuerrechtlichen Vorschrift eine Belastung rechtfertigt. Diese steuerjuristische Betrachtungsweise24 fordert die steuerrechtliche Beurteilung eines autonom gestalteten Sachverhalts, verlangt die an den spezifischen Regelungszielen einer steuerrechtlichen Vorschrift und deren eigengesetzlicher Terminologie auszurichtende steuerrechtliche Beurteilung, ob der bewirkte Erfolg einen Steuertatbestand erfüllt25.
IV. Besteuerung des privatwirtschaftlich erreichten Belastungsgrundes 1. Eigenständige steuerliche Würdigung des jeweiligen Belastungsgrundes Im Ergebnis folgt das Steuerrecht im Regelfall nicht der zivilrechtlichen Qualifikation eines Sachverhalts, sondern ermittelt mit Hilfe des Zivilrechts den jeweils steuererheblichen Belastungsgrund des Einkommens, des Umsatzes, der Erbschaft oder der Schenkung. Insoweit greift das Steuerrecht nicht auf eine allgemeine Rechtsordnung des Zivilrechts über26, ist auch nicht unerwünschte Quelle des Gesellschaftsrechts27, sondern ist eines der beiden wichtigsten und gleichrangigen Rechtsfundamente der Vertragsfreiheit. Das Vertragsrecht beurteilt einen Sachverhalt mit Blick auf die Entstehens- und Geltungsbedingungen vertraglicher Verbindlichkeiten; das Steuer-
__________ 23 Engisch (Fn. 22), S. 158 f.; Ruppe/Hey (Fn. 3), Anm. 457. 24 Vielfach missverständlich als „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ bezeichnet, vgl.
für eine Übersicht Tipke/Lang (Fn. 5), § 5 Rz. 95 f.; zur vergleichbaren Problematik bei der Auslegung des BGB Rittner, Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 1975, S. 37 f. 25 BVerfGE (Fn. 16), S. 214. 26 So die Grundthese von Flume, Steuerwesen und Rechtsordnung, in FS Smend, 1952, S. 59 (63 f.); ders., Der gesetzliche Steuertatbestand und die Grenztatbestände in Steuerrecht und Steuerpraxis, StJB 1967/68, S. 63 (64 f.); ders., Steuerrechtsprechung und Steuerrecht, StJB 1985/86, S. 277 (279 f.). 27 Groh, Das Steuerrecht als unerwünschte Quelle des Gesellschaftsrechts, BB 1984, 304 (305 f.).
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recht denselben Sachverhalt mit Blick auf einen die Besteuerung rechtfertigenden Belastungsgrund. Deswegen ist nach § 40 AO für die Besteuerung unerheblich, ob ein den Tatbestand eines Steuergesetzes erfüllendes Verhalten gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt. Wenn ein betrügerisches Geschäft wegen der arglistigen Täuschung vertragsrechtlich nicht anerkannt wird, das Strafrecht an diesen Sachverhalt Strafsanktionen knüpft, das Polizeirecht ihn präventiv zu vermeiden sucht, ist die Rechtswidrigkeit des betrügerisch erzielten Gewinns dennoch kein Anlass, um dem Betrüger ein Privileg der Steuerfreiheit zuzusprechen28. Das Steuerrecht fragt deshalb nicht, was privatrechtlich erklärt, sondern was durch privatrechtliche Erklärung für den steuererheblichen Tatbestand – das Einkommen, den Umsatz, den Erbanfall – erreicht worden ist. Es beobachtet nicht Tatbestände, sondern die Wirkungen privatwirtschaftlichen Handelns. Wenn z. B. der Vater seinem studierenden Sohn für zwei Jahre an einer Darlehensforderung einen Nießbrauch einräumt, um die Zinserträge dem Sohn zuzuweisen und dort eine niedrigere Progression und Freibeträge zur Anwendung zu bringen, so ist dieser zivilrechtlich wirksame Übertragungsvorgang steuerlich unerheblich, weil er nur die Einkünfte, nicht aber die Einkunftsquelle überträgt, also den steuererheblichen Zustandstatbestand des Kapitalvermögens nicht verändert29. Im Fall der Kettenschenkung ist zwar ein gültiger Schenkungsvertrag zwischen Vater und Tochter zustande gekommen; für das Steuerrecht aber wird die Schenkung über einen Schenkungsmittler zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn vollzogen30. Sollen beim Mantelkauf Anteile an einer abwicklungs- und löschungsreifen Kapitalgesellschaft auf einen Erwerber übertragen werden, nimmt die Gesellschaft danach aber mit neuem Betriebsvermögen wieder am Wirtschaftsleben teil, so mögen die Verluste gesellschaftsrechtlich in der Gesellschaft verbleiben; steuerrechtlich jedoch können die Verluste von der wirtschaftlich erneuerten Gesellschaft nicht geltend gemacht werden, weil der Verlustabzug „nicht dem Rechtskleid, sondern den verlusttragenden Unternehmen“ gebührt31. Im Ergebnis ist das Vertragsrecht also nicht in der Lage, eine steuerliche Belastungsungleichheit herzustellen und zu rechtfertigen. Das Zivilrecht32
__________ 28 Vgl. auch Walz, Die steuerrechtliche Herausforderung des Zivilrechts, ZHR 147
(1983), 281 (285 ff.). 29 Vgl. dazu Ruppe, Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, DStJG 1,
1978, S. 7 f.; vgl. BFH BStBl. II 1977 S. 115; 1991 S. 38; BFH/NV 2002, S. 240. 30 BFH, BStBl. III 1955 S. 395; 1962 S. 206; BStBl. II 1994 S. 128. 31 BFH, BStBl. III 1966 S. 289 (291), Die durch das StReformG 1990 v. 25.7.1988
(BGBl. I S. 1093; BStBl. I S. 224) eingeführte Regelung des § 8 Abs. 4 KStG soll den Mantelkauf verhindern. Die Annahme einer wirtschaftlichen Identität ist an strenge Voraussetzungen geknüpft, vgl. BFH, BStBl. II 2002 S. 395. 32 Vgl. Schulze-Osterloh, Zivilrecht und Steuerrecht, AcP 190 (1990), 139 f.
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begründet Rechtsverbindlichkeiten für die den Vertragspartnern verfügbaren Güter, nicht für den staatlichen Besteuerungsanspruch. Das Steuerrecht hingegen definiert den Belastungstatbestand eigenständig und abschließend, sollte aber im Übrigen die Wahrnehmung der Vertragsfreiheit nicht lenken oder einschränken. 2. Eigenständigkeit steuergesetzlicher Tatbestandsbildung Diesem Erfordernis möglichster Vertragsneutralität wird das Steuerrecht am ehesten gerecht, wenn es seine Tatbestände eigenständig, allein auf den rechtfertigenden Grund der Besteuerung hin formuliert. Entsteht die Einkommensteuer, wenn der Steuerpflichtige eine Erwerbsgrundlage am Markt (Zustandstatbestand) genutzt (Handlungstatbestand) und daraus Gewinn gezogen hat (Erfolgstatbestand), so bedarf es keiner Überlegungen zur steuerlichen Maßgeblichkeit von Vertragstypen oder Vertragsgestaltungen, weil die Steuerlast von diesen unabhängig ist33. Wird sodann jeder zivilrechtlich greifbare Erwerbsorganismus – von der BGB-Gesellschaft bis zur Publikumsaktiengesellschaft – in einer steuerjuristischen Person verselbständigt und dort besteuert34, so ist der einkommensteuerliche Belastungsgrund im Licht einer verständlichen Legalität für jedermann erkennbar und planbar. Nachfolgende Maßnahmegesetze, die Steuersparmodellen oder Formenmissbräuchen Einhalt gebieten wollen, erübrigen sich. Sie haben sich auch als erfolglos erwiesen, weil sie bei präziser Erfassung der bekämpften Gestaltung zu alternativen Steuersparmodellen einladen35 („Heckenschützenmethode“), oder aber in breit typisierenden Normen gegensteuern und damit gleichermaßen angemessene und missbräuchliche Tatbestände erfassen („Schrotflintenmethode“)36. 3. Vertragliche Einzelfallgerechtigkeit, steuerliche Allgemeingerechtigkeit Das Steuerrecht macht damit die strukturellen Unterschiede zwischen Vertrag und Gesetz bewusst: Im Vertrag stellen die Vertragspartner im Rahmen ihrer Verfügungsbefugnis die ihnen angemessene Individualgerechtigkeit her; das Gesetz regelt in seiner Allgemeinheit und Dauer demgegenüber eine Gerechtigkeit der Gleichheit, die jeden Leistungsfähigen zur Mitfinanzierung des Gemeinwesens nach identischen Maßstäben heranzieht. Das
__________ 33 Kirchhof, Das EStGB – ein Vorschlag zur Reform des Ertragsteuerrechts, DStR,
Heft 37, 2003, Beiheft Nr. 5, S. 1 f. 34 Kirchhof (Fn. 33), S. 10. 35 W. Schön, Gestaltungsmissbrauch im europäischen Steuerrecht, Zentrum für euro-
päisches Wirtschaftsrecht, Bd. Nr. 57, 1995, S. 8. 36 W. Schön (Fn. 35).
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Steuerrecht unterliegt dem Regime des Gleichheitssatzes37 und könnte in dieser Allgemeinheit und Gleichheit eine Renaissance des Verbots von Einzelfallgesetzen (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG) veranlassen, das zu den klassischen Ideen des demokratischen Rechtsstaates gehört38, das aber gegenwärtig fast verkümmert ist. Der Gesetzgeber bildet seine Tatbestände nach sozialtypischen Befunden, erfasst dabei das Individuelle im Typus, verallgemeinert das Konkrete und vergröbert Unterschiedlichkeiten39. Er darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen aufzunehmen40. Dieses Gebot der abstrakt-generellen Gesetzgebung gilt insbesondere für die allgemeine Steuerpflicht, die privilegien- und interventionsfeindlich ist. Würde der Gesetzgeber im Nachhinein offensichtliche Missstände zu beenden suchen, würden die Steuerpflichtigen das transparente und langwierige Gesetzgebungsverfahren nutzen und durch kurzfristigen Vertragsschluss den Missstand noch mehren41. Im Übrigen würden die Steuergestalter bis zum In-Kraft-Treten des Einzelfallgesetzes längst den nächsten steuervermeidenden Fall erdacht und vollzogen haben.
V. Praktische Einzelfolgerungen Damit hat das Steuerrecht jeden Sachverhalt steuerlich eigenständig zu würdigen, einen Teil der Wirklichkeit in das Licht des Steuererheblichen zu rücken, einen anderen hingegen im Dunkel des Steuerunerheblichen zu belassen. Dabei wird der Lichtkegel allein durch das Steuergesetz ausgerichtet; das Vertragsrecht mag einige Lichtkonturen und Schatten deutlicher nachzeichnen, kann aber den Beurteilungswinkel des Steuergesetzes nicht verändern. 1. Die Steuersubjekte Die praktischen Folgen dieser steuerjuristischen Betrachtungsweise zeigen sich bei der Frage, ob der zivilrechtliche Vertrag die Kraft hat, in den Vertragspartnern auch Steuersubjekte zu definieren. Wenn ein im Außendienst tätiger Arbeitnehmer zu Hause sein Arbeitszimmer nutzt, kann er die Aufwendungen für dieses Zimmer nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 EStG nur in begrenztem Umfang (in Höhe von 1250 Euro) geltend machen. Vermietet
__________ 37 BVerfGE 82, 60 (89 f.) (Familienexistenzminimum); 87, 153 (170) (Grundfreibetrag);
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93, 121 (140 f.) (Vermögensteuer); 93, 165 (175) (Erbschaftsteuer); 96, 1 (6) (Arbeitnehmerfreibetrag); 99, 216 (233) (Kinderbetreuungskosten); 99, 246 (259 f.) (Familienleistungsausgleich); 101, 297 (309) (Arbeitszimmer). Dreier, Kommentar zum GG, Bd. 1, 2004, Art. 19 Abs. 1 Rz. 13 f. BVerfGE 82, 159 (185 f.) (Absatzfonds). BVerfGE (Fn. 39), S. 186. Vgl. das Beispiel der Schiffsbausubvention, BVerfGE 97, 67 (82).
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er dieses Arbeitszimmer nunmehr an seinen Arbeitgeber zur marktüblichen Miete, damit dieser ihm dieses Zimmer wiederum zur Erledigung seiner Arbeit überlässt und senkt der Arbeitgeber gleichzeitig das Gehalt des Arbeitnehmers um diesen Mietzins, so beansprucht der Arbeitnehmer nunmehr den Status eines Vermieters nach §§ 2 Abs. 1 Nr. 6, 21 EStG, in dem er die Aufwendungen des Arbeitszimmers mitsamt der AfA in vollem Umfang geltend machen kann. Der BFH anerkennt diesen Versuch, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Mietrechtsverhältnis zu begründen42. Richtig wäre es, den Sachverhalt in der Perspektive des Lohnsteuerrechts zu würdigen, die Gesamtzahlungen des Arbeitgebers weiterhin als Lohn zu verstehen und im Rahmen dieses Lohnsteuerrechtsverhältnisses den Aufwand für das Arbeitszimmer nur beschränkt zuzulassen. Im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssten deshalb die gleichen Grundsätze gelten, wie sie der BFH bei der „Überkreuzvermietung“ anerkennt: Zwei Eigentümer von jeweils einer ähnlichen Eigentumswohnung können die Aufwendungen für diese Wohnung steuerlich nicht geltend machen, weil sie die Wohnungen jeweils selbst nutzen und nicht durch Vermietung als Erwerbsgrundlage einsetzen. Deswegen tauschen sie die Wohnungen und vermieten sich wechselseitig die nunmehr fremde Wohnung, um dann als Vermieter ihre – die Mieteinnahmen übersteigenden – Aufwendungen einschließlich der AfA geltend machen zu können43. Das Steuerrecht wird auch hier ermitteln, dass jeder Eigentümer eine seinem Eigentum entsprechende Wohnung nutzt, die jeweiligen Mietzahlungen sich gegenseitig unter den Beteiligten aufheben, jeder Eigentümer also Konsument, nicht Erwerbstätiger ist. 2. Die Rechtsformneutralität des Steuerrechts Vielfach führt auch die Wahl der rechtlichen Organisationsform eines Unternehmens zu wesentlichen Belastungsunterschieden. Die Entstehung der GmbH & Co. KG – der Personengesellschaft mit beschränkter Haftung – im Jahre 191244 hatte ausschließlich steuerrechtliche Gründe. Damals wurden die ausgeschütteten Gewinne doppelt – einmal bei der GmbH und später beim Gesellschafter – belastet. Deshalb wurde die GmbH & Co. KG als Ersatzform der ursprünglichen reinen GmbH ersonnen: Die GmbH wurde Komplementärin und verpachtete ihr Betriebsvermögen an die KG zu einem Preis, der gerade ihre eigenen Aufwendungen deckte. Im Ergebnis fiel damit der Unternehmensgewinn bei der KG an, die Doppelbelastung war mit Aus-
__________ 42 BFH, BStBl. II 2002 S. 300; BFH, DStR 2003, 827. 43 Vgl. BFH, BStBl. II 1991 S. 904; 1996 S. 128; anders bei einer Überkreuzvermietung
zwischen Eltern und Kindern, BFH, BStBl. II 1996 S. 198; vgl. auch BFH, DStR 2003, 460. 44 Anerkannt durch das Bayerische Oberlandesgericht, OLGE 27, 331; vgl. auch KGJ 44, 341; sowie später (1922) durch RGZ 105, 101.
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nahme des eigenen Gewinnanteils der GmbH als Mitglied der KG vermieden, die bisherige Unternehmensverfassung aber weitgehend erhalten45. Heute hat die GmbH & Co. KG vor allem die Funktion, die Vorteile eines Personenunternehmens mit denen einer Kapitalgesellschaft zu vereinen, ohne die Rechtsform wechseln zu müssen. Je nach wirtschaftlicher Lage der beteiligten Gesellschafter können Gewinne von der KG auf die Komplementär-GmbH verlagert und erst dann an die Gesellschafter ausgeschüttet werden, wenn sie einem „günstigen“ Einkommensteuersatz unterliegen oder gar Verluste erwirtschaftet haben46. Im Übrigen können auch die unterschiedlichen Steuersätze, die das Einkommensteuerrecht und das Körperschaftsteuerrecht bereithält, verbunden mit einer möglichen Gewerbesteuerbelastung erzielter Gewinne, einer flexibel gestaltbaren GmbH & Co. KG entgegenkommen. Die Sonderstellung der GmbH & Co. KG zeigt sich auch dann, wenn ihre Anteile vererbt werden sollen. Zur Ermittlung der erbschaftsteuerlichen Bemessungsgrundlage werden die Anteile an der Komplementär-GmbH nach § 12 Abs. 5 ErbStG i. V. m. § 11 Abs. 2 BewG mit dem gemeinen Wert bewertet, der auch den künftigen Ertrag des Unternehmens berücksichtigt47. Für die Anteile an der KG ist hingegen nach § 109 BewG der (zumeist niedrigere) Steuerbilanzwert maßgeblich. Verfügt die Komplementär-GmbH über kein wesentliches Vermögen, wird die GmbH & Co. KG praktisch wie ein Personenunternehmen besteuert, obwohl ihre zivilrechtliche Haftung einer GmbH ähnelt. Das Erbschaftsteuergesetz bevorzugt damit diese Rechtsform gegenüber anderen Kapitalgesellschaften48. Bei der Betriebsaufspaltung überträgt die GmbH ihr Betriebsvermögen auf eine von ihren Gesellschaftern begründete Personengesellschaft und pachtet das Vermögen von dieser zur Betriebsfortführung zurück. Das großzügig bemessene Pachtentgelt war nur mit Einkommensteuer belastet. Die heutige Bedeutung der Betriebsaufspaltung liegt darin, dass auch hier die Kombination der transparenten Personengesellschaft mit einer Kapitalgesellschaft dem Steuerpflichtigen viele Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet: Er kann sich als Geschäftsführer bei der Betriebskapitalgesellschaft anstellen lassen und damit deren Gewerbesteuerbelastung senken oder aber Gewinne über die Höhe des Pachtzinses in die Besitzpersonengesellschaft verlagern und u. U. von der für ihn günstigen Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer profitieren49. Zivilrechtlich wird das Instrument der Betriebsauf-
__________ 45 Groh (Fn. 27), S. 305. 46 Schneeloch, Besteuerung und betriebliche Steuerpolitik, Bd. 2, 2. Aufl. 2002, S. 441 f. 47 Zum sog. „Stuttgarter Verfahren“ Rössler/Troll, Kommentar zum BewG, 18. Aufl.
2003, § 11 Rz. 40 ff. 48 Schneeloch (Fn. 46), S. 446. 49 Bei besonders niedrigen Gewerbesteuerhebesätzen kann es möglich sein, dass § 35
EStG eine höhere einkommensteuerliche Entlastung gewährt, als die gewerbesteuerliche Belastung betrug.
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Der Vertrag – ein Instrument zur Begründung steuerlicher Ungleichheit?
spaltung häufig gewählt, um den Zugriff der Gläubiger in der Insolvenz zu vermindern. Gerät die zumeist produzierende Betriebskapitalgesellschaft in eine wirtschaftliche Schieflage, können deren Gläubiger nicht auf das Grundvermögen des Besitzunternehmens zurückgreifen. Diese Steuergestaltungen finden heute weitgehend Anerkennung. Allerdings fordert das Bundesverfassungsgericht50 hier eine grundlegende Änderung: Die bloße Wahl der Organisationsform eines Unternehmens rechtfertige für sich genommen keine Belastungsunterschiede. In dem dort zu entscheidenden Fall der „Schwarzwaldklinik“ waren unterschiedliche Steuerlasten im Umsatz- und Gewerbesteuerrecht entstanden, weil eine Schwarzwaldklinik vom Chefarzt – also vom Freiberufler – geführt wurde, die andere hingegen in Form der GmbH – also als Gewerbebetrieb kraft Rechtsform – organisiert war. Die Nichtgewährung einer Steuervergünstigung allein aufgrund der Rechtsform des Unternehmens verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG). Zur Begründung hinzufügen könnte man auch die Garantie der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), die durch steuerliche Verteuerung der Wahl einer bestimmten Rechtsform gefährdet und inhaltlich ausgehöhlt wird. 3. Der steuerliche Erfolg Auch bei Beurteilung der Frage, welche steuererhebliche Wirkung die Parteien eines Vertrages erzielt haben, folgt der Steuerrechtsanwender den Steuertatbeständen und ist nur in Ausnahmefällen – insbesondere bei statusbegründenden Rechtsakten – an zivilrechtliche Vorgaben gebunden. Wenn der Erwerber einer Eigentumswohnung die Grunderwerbsteuer dadurch zu verringern sucht, dass er vom Bauträger nur einen Grundstücksteil erwirbt, dieser aber das Grundstück nur verkauft, wenn der Käufer ihn auch mit der Errichtung des Bauwerks beauftragt, so erwirbt der Käufer in dem kombinierten Kauf-Werkvertrag ein bebautes Grundstück. Seine Grunderwerbsteuer (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 GrunderwerbsteuerG) bemisst sich nach dem Preis für das gesamte fertig gestellte Objekt51. Gründet eine inländische Gesellschaft in einem Niedrigsteuerland eine Basisgesellschaft, auf die sie durch überhöhte Verrechnungspreise oder Konzernumlagen inländische Gewinne verlagert, fragt das Steuerrecht zunächst nach den außersteuerrechtlichen Gründen für die Errichtung der ausländischen Basisgesellschaft, insbesondere, ob diese eine erwerbswirtschaftliche oder nur eine vermögensverwaltende Tätigkeit entfaltet52, und sodann nach der Realitätsgerechtigkeit („Angemessenheit“) der Preisgestaltung unter zwei
__________ 50 BVerfGE 101, 151 (156 f.) (Schwarzwaldklinik). 51 Vgl. dazu auch BVerfG (Fn. 16), S. 213 f. 52 BFH, BStBl. II 1977 S. 265; vgl. auch BFH, BStBl. II 1993 S. 84.
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Paul Kirchhof
Vertragspartnern, unter denen kein Interessengegensatz besteht53. Gesellschaftsgründung und Austauschvertrag dienen vielfach weniger dem erwerbswirtschaftlichen Handeln als der Steuergestaltung, beanspruchen also eine Rechtsfolge, die für vertragliche Vereinbarungen nicht zugänglich ist. 4. Grenzüberschreitende Sachverhalte Der Fall der Basisgesellschaft deutet bereits darauf hin, dass im Rahmen weltoffenen Wirtschaftens die Wahl des Firmenstandortes vielfach auch eine Entscheidung über das anzuwendende Recht enthält. Dadurch ist das Steuerrecht nicht mehr unausweichliche Folge eines Erwerbshandelns, sondern gewählte Last. Der Gesetzgeber versucht über die §§ 7 ff. AStG Maßstäbe zu entwickeln, um die grenzüberschreitende Erwerbstätigkeit von der nur formalen grenzüberschreitenden Zurechnungsgeste zu unterscheiden. Ähnliche, wenn auch deutlich einfachere Sachverhalte bietet der Einkaufstourismus. Wer bis zum Jahr 1999 mit „Butterfahrten“ auf naher See durch den Ort der Leistung eine Freistellung von Zöllen und indirekten Steuern zu erreichen suchte, wer sein Fahrzeug innerhalb der EG in einem Staat mit niedrigerer Umsatzsteuer erwirbt oder wer sich auf der Ferienreise Genussmittel mit geringeren Verbrauchsteuerbelastungen mitbringt, nutzt grundsätzlich ein Steuerprinzip, das den Erwerbsort typisierend als Konsumort qualifiziert. Hier lädt das Steuerrecht in seinen räumlichen Anknüpfungspunkten zur Steuergestaltung ein; es wird folgerichtig an diesen Vorgaben festgehalten. Diese Beispiele54 mögen belegen, dass das Steuerrecht in eigenen Tatbeständen Belastungsgründe regelt, die steuerliche Leistungsfähigkeit eigenständig gesetzlich definiert, damit nur bei ausdrücklichen Verweisungen oder tatbestandlichen Anknüpfungen in den Regelungen einer anderen Teilrechtsordnung seinen Maßstab findet. Das Steuergesetz fragt nicht nach dem Inhalt eines Vertrages, sondern nach dem durch Erwerbshandeln erzielten Einkommen, der am Markt eingesetzten Kaufkraft oder der angefallenen Erbmasse. Es begründet Belastungsgleichheit je nach individuellem wirtschaftlichem Erfolg, nicht nach vertraglichem Gestaltungsgeschick.
__________ 53 S. zur Problematik der Verrechnungspreise im Handelsverkehr mit dem Ausland
Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, Kommentar, Loseblatt Stand: Mai 2003, § 1 Rz. 8 ff. 54 Zu grenzüberschreitenden Sachverhalten bei der Unternehmensbesteuerung in Europa vgl. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, 193 (195 f.).
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Karl Ernst Knorr
Fehlleistungen des Abschlussprüfers als Befangenheitsgrund Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zum rechtlichen Rahmen III. Fehlleistungen und Befangenheit 1. Früherer Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur 2. BGH-Entscheidung vom 25.11.2002 3. Kritische Würdigung des BGHUrteils IV. Aktuelle Reformentwicklung
1. Bilanzrechtsreformgesetz (BilReG) vom 4.12.2004 2. Empfehlung der EU-Kommission vom 16.5.2002 V. Eckpunkte und Leitlinien 1. Relevante Fehler 2. Evidenz des Fehlers 3. Fehlerberichtigung 4. Maßgeblicher Zeitpunkt VI. Fazit
I. Einleitung Zu den zahlreichen Problemkreisen, mit denen sich der Jubilar Volker Röhricht immer wieder beschäftigt hat, gehört die Zulässigkeit von gleichzeitiger Beratung und Abschlussprüfung durch denselben Wirtschaftsprüfer. Sie ist zwar nie völlig unbestritten gewesen1; gleichwohl wurde und wird aber die Verknüpfung von Beratung und Prüfung innerhalb gewisser Grenzen in Gesetzgebung, Rechtsprechung2 und Lehre3 durchaus toleriert und vom
__________ Vgl. etwa Schulze-Osterloh, EWiR § 319 HGB 1/96; Fleischer, Das Doppelmandat des Abschlußprüfers – Grenzen der Vereinbarkeit von Abschlußprüfung und Steuerberatung, DStR 1996, 758 ff.; restriktiv auch Vollmer/Maurer, Beratung durch Aufsichtsratsmitglieder oder Abschlußprüfer aufgrund von Zusatzaufträgen. Sinnvolle Ergänzung gesetzlicher Kontroll- und Prüfpflichten oder unzulässige Aufgabenhäufung? BB 1993, 591 ff. – Für ein generelles Verbot de lege ferenda: Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2663 (2664). 2 So etwa BayObLG, ZIP 1987, 1547 ff. = BB 1987, 2197 ff.; OLG Düsseldorf, AG 1991, 321 m. Anm. Claussen; OLG Brandenburg, GmbHR 2001, 865 ff. = BB 2001, 1949; OLG Frankfurt/Main, DB 2004, 369 ff.; einschränkend aber OLG Köln, BB 1992, 2108 f. 3 Dazu bereits Jacobs, Zur Frage der Vereinbarkeit von Jahresabschlussprüfung und Beratung, DB 1975, 2237 ff.; Parczyk/Knorr, Zur Befangenheit des Abschlussprüfers bei der Erstellung des Jahresabschlusses, WPg. 1968, 229 ff.; Zemke, Inkompatibilität von Prüfung und Beratung, Interessenkonflikte des Wirtschaftsprüfers infolge seiner Doppelfunktion und deren Analyse anhand der Rechtsnormen, StB 1994, 87 ff. 1
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Berufsstand der Wirtschaftsprüfer auch tagtäglich praktiziert4. An der Ausarbeitung der für eine sachgerechte Abgrenzung zwischen den mit der Abschlussprüfung noch vereinbaren und den insoweit verbotenen Beratungsleistungen maßgeblichen Kriterien war der Jubilar nicht nur im Rahmen der richtungweisenden Urteile des von ihm geleiteten II. Zivilsenats im sog. Allweiler-Urteil vom 21.4.19975 und in der Hypo-Vereinsbank-Entscheidung vom 25.11.20026 beteiligt. Über die richterliche Tätigkeit hinaus hat Volker Röhricht auch stets persönlich sachgerechte Vorschläge unterbreitet, wie die Grenzen der dem Abschlussprüfer noch zulässigen Beratung praktikabel abgesteckt werden können7. Die relevanten rechtlichen Rahmenbedingungen haben sich indes in den vergangenen Jahren weltweit entscheidend verändert. Ausgelöst durch Unternehmenskrisen wegen Missmanagements sowie das dadurch enttäuschte Vertrauen der Anleger in die Integrität der Unternehmensführung und die Aktienmärkte wurden ausgehend von den USA nicht zuletzt auch in der Bundesrepublik Deutschland durch das am 10.12.2004 in Kraft getretene Bilanzrechtsreformgesetz8 neue Zulässigkeits-
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S. auch die Verlautbarung des Vorstands der Wirtschaftsprüferkammer zur Abgrenzung von Prüfung und Erstellung (§ 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB), DB 1996, 1434 ff. BGH, BGHZ 135, 260 ff. = NJW 1997, 2178 ff. = DB 1997, 1394 m. Anm. Thiele. – Dazu näher Heni, Zur Risikolage des Abschlußprüfers bei Mißachtung des Selbstprüfungsverbots, DStR 1997, 1210 ff.; Löcke, Mitwirkung des Abschlußprüfers an der Erstellung des Jahresabschlusses, GmbHR 1997, 1052 ff.; Schmidtmeier, Vereinbarkeit von Prüfung und (Steuer-)Beratung durch denselben Wirtschaftsprüfer, DB 1998, 1625 ff. BGHZ 153, 32 = BB 2003, 462 m. Anm. Claussen = DB 2003, 383 m. Anm. Marx, Beratungsleistungen des Abschlussprüfers erneut auf dem Prüfstand. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 25.11.2002 – II ZR 49/01 (HypoVereinsbank), DB 2003, 431 = DStR 2003, 895 m. Anm. Lanfermann/Lanfermann, Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers. Verunsicherung der Praxis durch das BGH-Urteil vom 25.11.2002, DStR 2003, 900 = GmbHR 2003, 408 m. Anm. Hellberg = JZ 2003, 563 m. Anm. Lutter = NZG 2003, 216 m. Anm. Gelhausen/Kuss, Vereinbarkeit von Abschlussprüfung und Beratungsleistungen durch den Abschlussprüfer, NZG 2003, 424 = ZIP 2003, 290 m. Anm. Bayer/Fischer, EWiR § 124 AktG 1/03 = WM 2003, 437 = WPg. 2003, 764 m. Anm. Müller, Allweiler redivivus? Zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und zu einigen Quisquilien in der Hauptversammlung, WPg. 2003, 741; Schüppen, Von Allweiler zu HVB: Beifall, Pfiffe und ein Trauerspiel, WPg. 2003, 750 = WPK-Mitt. 2003, 142 ff. – Zum Hintergrund des Verfahrens Hoffmann, Lehren aus der bayerischen Großbanken-Fusion für die Bilanzierungs- und Prüfungspraxis in Deutschland. Mit Seitenblick auf Holzmann, DB 2000, 485 ff. – Zu den Auswirkungen der Nichtigkeit des Beschlusses über die Bestellung des Abschlussprüfers auf den festgestellten Jahresabschluss: Habersack, NZG 2003, 659 ff. S. nur Röhricht, Beratung und Abschlussprüfung, WPg. 1998, 153 ff.; ders., Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, WPg.-Sonderheft 2001, S. 80 ff. Zur Reformentwicklung: Hoffman/Lüdenbach, Bilanzrechtsreformgesetz – Seine Bedeutung für den Einzel- und den Konzernabschluß der GmbH, GmbHR 2004, 145 ff.; Lenz, Beschränkung von Beratungstätigkeiten durch Abschlussprüfer: Mangelhafter Umgehungsschutz im Entwurf des BilReG, BB 2004, 707 ff.; Peemöller/ Oehler, Referentenentwurf eines Bilanzrechtsreformgesetzes: Neue Regelung zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, BB 2004, 539 ff.; Veltins, Verschärfte Unab-
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schranken für eine Beratung neben der Abschlussprüfung aufgestellt und die schon bislang bestehenden Grenzen im Gesetz deutlicher beschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es eine besondere Ehre und zugleich eine Freude, im Rahmen der Volker Röhricht gewidmeten Festschrift einen kritischen Blick zurück auf einen besonders neuralgischen Punkt der Diskussion werfen zu dürfen. Unter Berücksichtigung der jüngsten Reformentwicklung soll nachfolgend beleuchtet werden, inwieweit aus einer Fehlleistung des Abschlussprüfers bei einer vorangegangenen Dienstleistung – sei es eine Beratung, sei es eine frühere Abschlussprüfung – seine Inhabilität für eine nachfolgende Abschlussprüfung folgen kann.
II. Zum rechtlichen Rahmen In §§ 319, 319a HGB n. F. wurden durch das Bilanzrechtsreformgesetz vom 4.12.20049 mit Wirkung für die gesetzlich vorgeschriebenen Abschlussprüfungen der nach dem 31.12.2004 beginnenden Geschäftsjahre (vgl. Art. 58 Abs. 4 EGHGB) zentrale Grundsätze zur Wahrung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers im Form einer Kombination aus einem auf Prinzipien basierenden Regelungsansatz (principles based approach) einerseits und einem detaillierten Katalog der dem Abschlussprüfer verbotenen Dienstleistungen (rules based approach) andererseits festgelegt. Danach darf ein Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer nicht Abschlussprüfer sein, wenn entweder die in § 319 Abs. 3, § 319a HGB n. F. im Einzelnen beschriebenen Ausschlusstatbestände vorliegen oder aus sonstigen Gründen eine Besorgnis seiner Befangenheit besteht. Für die Prüfung der Besorgnis der Befangenheit sind nach § 319 Abs. 2 HGB n. F. namentlich geschäftliche, finanzielle oder persönliche Beziehungen, aber – nach allgemeinen Grundsätzen – auch alle sonstigen Gründe unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Hierbei ist es unerheblich, ob der Abschlussprüfer tatsächlich befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist allein, ob aus der Sicht eines vernünftigen Dritten genügend objektive Gründe vorliegen, um an seiner Unvoreingenommenheit ernsthaft zu zweifeln. Die Objektivität des Abschlussprüfers ist regelmäßig in Frage zu stellen, wenn er ein eigenes wirtschaftliches oder sonstiges Eigeninteresse von nicht nur untergeordneter Bedeutung am Ergebnis der Prüfung hat (self-interest risk) oder
__________ hängigkeitsanforderungen an Abschlussprüfer, DB 2004, 445 ff. – S. auch die Stellungnahme des IDW vom 23.1.2004, FN-IDW 2004, 1 ff. 9 Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG) vom 4.12.2004, BGBl. I 2004 S. 3166 ff. – Dazu Hülsmann, BilReG: Stärkung der Abschlussprüfung: Neue Bestimmungen zur Trennung von Beratung und Prüfung, DStR 2005, 166 ff.; Pfitzer/Oster/Orth, Offene Fragen und Systemwidrigkeiten des Bilanzrechtsreformgesetzes (BilReG), DB 2004, 2593 ff.
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wenn er im Rahmen der Prüfung Sachverhalte beurteilen müsste, die er selbst zuvor entscheidend mitgestaltet hat (self-review-risk)10. Die bislang geltende Fassung des § 319 HGB a. F. enthielt zwar keinen dem neuen Gesetzeswortlaut vergleichbaren allgemeinen Obersatz, nach dem Abschlussprüfer nicht sein darf, wem gegenüber die Besorgnis der Befangenheit besteht. Die Rechtslage war indes auch vor der Bilanzrechtsreform keine wesentlich andere11. Denn nach § 318 Abs. 3 HGB a. F. konnte eine Aktionärs-Minderheit die Abberufung des gewählten Abschlussprüfers bei Gericht erfolgreich beantragen, wenn die Besorgnis seiner Befangenheit bestand. Wer aber wegen Besorgnis seiner Befangenheit abberufen werden musste, konnte auch nicht wirksam als Abschlussprüfer gewählt werden. Außerdem hatte der BGH in seiner Entscheidung vom 25.11.200212 die Wahl eines wegen Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossenen Prüfers als gesetzeswidrig erklärt, so dass § 319 HGB a. F. auch schon vor der Reform der Wahl zum Abschlussprüfer – wenn auch nicht ausdrücklich, so doch implizit – bei einer Besorgnis der Befangenheit entgegenstand13. Wann im Einzelnen eine zum Prüfungsausschluss führende Besorgnis der Befangenheit begründet ist, wurde und wird durch eine kasuistische Rechtsprechung14, kursorische Regelungen in der Wirtschaftsprüferordnung (WPO)15 sowie insbesondere durch die auf der Grundlage des § 57 Abs. 4 WPO erlassene Berufssatzung16 der Wirtschaftsprüfer näher konkretisiert.
__________ 10 S. zum Selbstprüfungsverbot: OLG Brandenburg, BB 2001, 1949, sowie Ebke in
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MünchKomm.HGB, Bd. 4, 2001, § 319 Rz. 27; WP-Hdb. 2000, 12. Aufl. 2000, Bd. I, A 239. Vgl. dazu Hellwig, Beratungsverträge des Abschlussprüfers – Genehmigungspflicht analog § 114 AktG und Publizitätspflicht analog § 125 Abs. 1 Satz 1 AktG, ZIP 1999, 2117 ff., sowie Gelhausen/Kuss, NZG 2003, 424, die zu Recht darauf hinweisen, dass mit dem 10-Punkte-Programm der Bundesregierung zur Stärkung des Vertrauens in den Kapitalmarkt kein neues System in Bezug auf Prüfung und Beratung und die Pflichten des Abschlussprüfers angekündigt wurde, sondern lediglich eine weitere Konkretisierung dessen erfolgt, was dem Kern nach in den deutschen Gesetzen und der Rechtsprechung schon längst angelegt ist. BGH, BB 2003, 462 = DB 2003, 383 = DStR 2003, 895 = GmbHR 2003, 408 = JZ 2003, 563 = NZG 2003, 216 = WM 2003, 437 = WPg. 2003, 764. Ebenso Lutter, JZ 2003, 566 (567). S. etwa BGH, ZIP 2004, 1363 = DB 2004, 1363. S. insbes. § 49 Alt. 2 WPO – Gesetz über eine Berufsordnung der Wirtschaftsprüfer in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.11.1975, BGBl. I S. 2803, zuletzt geändert im Rahmen der 5. WPO-Novelle durch das Wirtschaftsprüferexamens-Reformgesetz (WPRefG) vom 1.12.2003, BGBl. I S. 2446 sowie im Rahmen der 6. WPONovelle durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Berufsaufsicht über Abschlussprüfer in der Wirtschaftsprüferordnung (Abschlussprüferaufsichtsgesetz – APAG) v. 27.12.2004, BGBl. I S. 3846 ff. Vgl. § 22 der Satzung über die Rechte und Pflichten bei der Ausübung des Berufs des Wirtschaftsprüfers und des vereidigten Buchprüfers vom 11.6.1996, BAnz. 1996, S. 11077, geändert durch Beschluss vom 7.11.1997, BAnz. 1998, S. 1417, seit dem 12.2.1998 in der geänderten Fassung in Kraft.
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Fehlleistungen des Abschlussprüfers als Befangenheitsgrund
III. Fehlleistungen und Befangenheit Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine (angebliche) berufliche Fehlleistung des Abschlussprüfers die Besorgnis seiner Befangenheit begründen und folglich zu einem Ausschluss von der Abschlussprüfung führen kann, wurde bis zur Entscheidung des II. Zivilsenats vom 25.11.2002 im Schrifttum nur sporadisch diskutiert und dabei allenfalls zurückhaltend angenommen. Von Marx und Schüppen wurde sogar kritisiert, die Besorgnis der Befangenheit sei vor dem Urteil des BGH vom 25.11.2002 eine in der Praxis weitgehend ignorierte Beratungsschranke gewesen17. Besonders pointiert wurde dies etwa auch von Claussen in einer Besprechung der Entscheidung des II. Zivilsenats vom 25.11.2002 hervorgehoben. Danach soll es für die Praxis sogar eine weitgehend neue Erkenntnis gewesen sein, dass in Sonderfällen von Vorbelastungen ein zuvor tätiger Prüfer als Abschlussprüfer ungeeignet ist18. Eine insoweit pauschale Kritik des Berufstandes dürfte aber insoweit unbegründet sein, als die diesbezüglichen Schranken keineswegs klar definiert waren und daher etwaige Überschreitungen – von möglichen Einzelfällen einmal abgesehen – sicherlich nicht bewusst oder böswillig vorgenommen wurden. Durch die Entscheidung des BGH vom 25.11.2002 wurde das Problembewusstsein aber auch in diesem Punkt nachhaltig geschärft. 1. Früherer Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur So hielt es etwa selbst das LG Köln in einem Urteil vom 1.4.199719 schon aus grundsätzlichen Erwägungen für fraglich, ob frühere Fehler des Abschlussprüfers überhaupt geeignet sein können, seine Befangenheit zu begründen. Sachlich nicht gebotene Maßnahmen in der Vergangenheit können nach der damaligen Bewertung des LG Köln jedenfalls nicht ohne weiteres Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit des Abschlussprüfers zu zweifeln. Außerdem kann die Besorgnis der Befangenheit nach der Entscheidung des LG Köln auch nicht daraus hergeleitet werden, dass der Abschlussprüfer möglicherweise versuchen werde, etwaige Fehler der Vergangenheit zu verdecken. Denn es bestehe kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass jemand, der fehlerhaft gehandelt hat, später hierüber zu täuschen versuchen werde. Wäre dies anzunehmen, so müsste nach der Beurteilung des LG Köln bereits jeder – sachliche – Fehler sinnwidrig die Besorgnis der persönlichen Befangenheit begründen. Schließlich hielt das LG Köln die Gefahr eines Kaschierens etwaiger Fehlleistungen in dem von ihm konkret entschiedenen Streitfall seinerzeit schon deswegen für ausgeschlossen, weil sämtliche Handlungen und Unterlassun-
__________
17 S. Marx, DB 2003, 431 (432); Schüppen, WPg. 2003, 750 (752). 18 Claussen, BB 2003, 466. 19 LG Köln, AG 1997, 431 (432).
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gen des Abschlussprüfers im Zusammenhang mit der Abschlussprüfung, aus denen sich möglicherweise der Vorwurf eines Fehlers hätte herleiten lassen, durch die Vorlage einer berichtigten Bilanz bereits aufgedeckt waren20. Auch seitens des Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer wurde an prominenter Stelle der Standpunkt eingenommen, angebliche berufliche Fehler in der Vergangenheit seien in der Regel nicht geeignet, eine Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers zu begründen21. Das der Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH vom 25.11.200222 im Instanzenzug vorangegangene Berufungsurteil des OLG München vom 8.11.200023 hielt es zwar im Hinblick auf die erforderliche Unabhängigkeit des Abschlussprüfers für höchst bedenklich, wenn sich dieser aufgrund einer vorangegangenen Beratungsfehlleistung (Erstellung eines Verschmelzungsgutachtens) gegenüber dem Prüfungsmandanten schadensersatzpflichtig gemacht haben sollte. Denn dann müsse er im Rahmen der Abschlussprüfung quasi als „Richter in eigener Sache“ gegen sich selbst gerichtete Ansprüche prüfen. Haben sich allerdings der Prüfungsmandant und der Prüfer über behauptete Schadensersatzansprüche im Wege eines Vergleichs verständigt, so sind nach dem Urteil des OLG München sämtliche Konflikte ausgeräumt und ein möglicher Befangenheitsgrund entfallen. Soweit im Übrigen Schadensersatzansprüche nicht ernsthaft im Raum stünden, liegt es nach der Berufungsentscheidung des OLG München im Ermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, solche Ansprüche bei der Aufstellung des Jahresabschlusses außer Betracht zu lassen. Der Abschlussprüfer sei dann nicht gehalten, von sich aus auf die Berücksichtigung solcher Positionen hinzuwirken. Befangenheitsprobleme stellen sich nach der Einschätzung des OLG München daher auch in diesem Fall nicht. Darüber hinaus vertrat das OLG München im Urteil vom 8.11.2000 den Standpunkt, etwaige Fehler des Abschlussprüfers in Ausübung seiner Beratertätigkeit wie auch bei der Prüfung früherer Jahresabschlüsse könnten die Besorgnis der Befangenheit von vornherein nicht begründen. Denn insoweit sollen nach Ansicht des OLG München dieselben Grundsätze gelten, die auch im richterlichen Bereich maßgebend sind. Eine Besorgnis der Befangenheit sei danach aber nur dann begründet, wenn begangene Fehler auf einer unsachlichen Einstellung oder auf Willkür beruhen24.
__________ 20 Der Entscheidung des LG Köln daher ausdrücklich zustimmend Adler/Düring/
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Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Rz. 366. Vgl. WP-Hdb. 2000, 12. Aufl. 2000, Bd. I, A 246 a. E. BGHZ 153, 32 = BB 2003, 462 = DB 2003, 383 = DStR 2003, 895 = GmbHR 2003, 408 = JZ 2003, 563 = NZG 2003, 216 = WM 2003, 437 = WPg. 2003, 764. OLG München, DB 2001, 258 = BB 2001, 1090 (LS). Der Entscheidung des OLG München vom 8.11.2000 im Wesentlichen zustimmend: Zimmer in Staub, Großkomm.HGB, 4. Aufl. 2002, § 318 Rz. 57.
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Fehlleistungen des Abschlussprüfers als Befangenheitsgrund
2. BGH-Entscheidung vom 25.11.2002 Der Beurteilung des OLG München ist der II. Zivilsenat in seinem Revisionsurteil vom 25.11.200225 nicht gefolgt. Vielmehr wurde erstmalig höchstrichterlich eine (Besorgnis der) Befangenheit des Abschlussprüfers aus einer vorangegangenen Fehlleistung des Abschlussprüfers hergeleitet. In dem konkret entschiedenen Fall enthielt das von der Prüfungsgesellschaft für eine Verschmelzung erstellte Bewertungsgutachten nach Einschätzung des BGH erhebliche Fehler, aufgrund deren sich die Prüfungsgesellschaft in der Öffentlichkeit massiven Vorhaltungen und erheblichen Schadensersatzansprüchen ausgesetzt sah. Nach Ansicht des II. Zivilsenats waren in dem Gutachten Risiken für eine der an der Verschmelzung beteiligten Banken in Milliardenhöhe unberücksichtigt geblieben26. Vor diesem Hintergrund folgerte der II. Zivilsenat die Besorgnis der Befangenheit daraus, dass die Prüfungsgesellschaft entgegen ihrer gesetzlichen Aufgabe einer problemorientierten Prüfung „aus einer natürlichen Selbstrechtfertigungstendenz und dem verständlichen Bemühen um Ansehenswahrung“ geneigt sein könne, die schon bei der Begutachtung unberücksichtigt gelassenen Risiken auch im Rahmen der Abschlussprüfung bei der Berichterstattung (§ 321 HGB) und im Bestätigungsvermerk (§ 322 HGB) eher als nicht gravierend und ungefährlich darzustellen. Eine objektive – vom früheren Gutachten abweichende – Stellungnahme des Abschlussprüfers würde nach dem Revisionsurteil des II. Zivilsenats in einem solchen Fall einem Eingeständnis eigener früherer Versäumnisse nahe kommen und die eigene Position des Abschlussprüfers bei der Abwehr gegen ihn gerichteter Schadensersatzansprüche beeinträchtigen. Unter diesen Voraussetzungen kam der BGH zu dem Ergebnis, dass aus der Sicht eines vernünftig und objektiv denkenden Dritten die begründete Besorgnis bestehe, dass der Wirtschaftsprüfer nicht in der Lage sein werde, die Aufgabe als Abschlussprüfer unbefangen, unparteiisch und unbeeinflusst von jeder Rücksichtnahme auf eigene Interessen wahrzunehmen. 3. Kritische Würdigung des BGH-Urteils Diese Überlegungen des II. Zivilsenats waren und sind von erheblicher praktischer Bedeutung. Denn auch in zahlreichen anderen Fällen ist es durchaus möglich, dass sich beispielsweise im Vorjahr vorgenommene Wertberichti-
__________ 25 BGHZ 153, 32 = BB 2003, 462 = DB 2003, 383 = DStR 2003, 895 = GmbHR 2003,
408 = JZ 2003, 563 = NZG 2003, 216 = WM 2003, 437 = WPg. 2003, 764. 26 Lanfermann/Lanfermann, DStR 2003, 900 (903), vertreten hingegen in ihrer Ana-
lyse der BGH-Entscheidung den Standpunkt, die KPMG habe bei ihrer Tätigkeit als Verschmelzungswertgutachter keine absehbaren Risiken der Hypo-Bank unberücksichtigt gelassen und folglich bei der Erstellung des Gutachtens nicht fehlerhaft gehandelt.
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gungen und Rückstellungen im Nachhinein wegen ursprünglich zu optimistischer Erwartungen als zu niedrig erweisen und im Folgejahr anzupassen sind. Hat der Abschlussprüfer die Wertberichtigungen und Rückstellungen im Vorjahr nicht beanstandet, so könnte er nach der Entscheidung des BGH vom 25.11.2002 im Folgejahr bereits deswegen als befangen anzusehen sein27. Aus dem Urteil des II. Zivilsenats vom 25.11.2002 kann daher durchaus ganz generell gefolgert werden, dass jedenfalls im Zeitpunkt der Wahl bzw. der Bestellung zum Abschlussprüfer bekannte oder bis zur Erteilung des Bestätigungsvermerks bekannt gewordene und für den Jahresabschluss relevante Beratungsfehlleistungen des Abschlussprüfers eine Besorgnis seiner Befangenheit begründen28. Denn mit dem im Rahmen der Abschlussprüfung schon vor dem Bilanzrechtsreformgesetz geltenden Selbstprüfungsverbot, nach dem der Prüfer keinen Sachverhalt beurteilen darf, an dessen Zustandekommen er selbst maßgeblich beteiligt war, erscheint es prinzipiell unvereinbar, wenn der Abschlussprüfer anlässlich der Jahresabschlussprüfung möglicherweise von ihm selbst bei einer vorangegangenen Beratung (mit-) verursachte Schäden und daraus gegebenenfalls resultierende Regressansprüche gegen sich selbst beurteilen müsste. Insoweit sind die Überlegungen des BGH aus dem Urteil vom 25.11.2002 auf sämtliche bilanzrelevanten Fehlleistungen übertragbar29. Die Auffassung des II. Zivilsenats ist jedoch in der Literatur nicht unwidersprochen geblieben. So haben Ines und Josef Lanfermann insbesondere mit Hinweis auf die Regelung zur Nachtragsprüfung in § 316 Abs. 3 Satz 1 HGB bestritten, dass ein Abschlussprüfer allein aufgrund einer vorherigen Fehlleistung wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 318 Abs. 3 HGB a. F. ersetzt werden könne30. Ob allerdings diese Argumentation tatsächlich geeignet ist, die Besorgnis der Befangenheit trotz einer vorangegangenen Fehlleistung auszuräumen, erscheint zumindest in der von Lanfermann behaupteten Allgemeinheit fragwürdig. Zwar ist es zutreffend, dass trotz Änderungen des Jahres- oder Konzernabschlusses bzw. des Lage- oder Konzernlageberichts derselbe Abschlussprüfer die Nachtragsprüfung vornimmt, der auch die ursprüngliche Abschlussprüfung durchgeführt hat. Eine zur Nachtragsprüfung führende Änderung im Sinne des § 316 Abs. 3 HGB liegt aber zum einen lediglich dann vor, wenn der Jahresabschluss oder der Lagebericht in formeller oder materieller Hinsicht modifiziert wird. Zum anderen ist es
__________ 27 So etwa auf der Grundlage der Entscheidung des BGH vom 25.11.2002: Lanfermann/
Lanfermann, DStR 2003, 900 (905). 28 Ebenso Claussen, BB 2003, 466; Gelhausen/Kuss, NZG 2003, 424; Hellberg, GmbHR
2003, 413. 29 So zu Recht Marx, DB 2003, 431 (433). – Hellwig, ZIP 1999, 2117 (2118), zieht in-
soweit eine Parallele zur Interessenlage und zum Stimmrechtsausschluss der Betroffenen bei einer Abstimmung über die Entlastung von Gesellschaftsorganen nach § 136 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 47 Abs. 4 Satz 1 GmbHG. 30 Vgl. Lanfermann/Lanfermann, DStR 2003, 900 (905).
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Fehlleistungen des Abschlussprüfers als Befangenheitsgrund
hierbei völlig irrelevant, ob insoweit zuvor fehlerhafte Unterlagen vorlagen bzw. ob dem Abschlussprüfer Fehler bei der Prüfung unterlaufen sind. Entscheidend ist in diesem Kontext nur, ob einerseits in inhaltlicher Hinsicht Änderungen vorgenommen werden, ob also Einzelposten oder die wirtschaftliche Lage anders beurteilt oder Angaben tatsächlicher Art geändert werden, wie beispielsweise zur Auflösung oder Einstellung von Rücklagen, oder ob andererseits formelle Änderungen vorgenommen werden, ob also etwa Posten anders aufgegliedert oder zusammengefasst werden31. Hiermit sind jedoch Fehlleistungen des Abschlussprüfers bei einer der Abschlussprüfung vorangegangenen Beratung nicht ohne weiteres vergleichbar, so dass aus der gesetzlichen Regelung zur Nachtragsprüfung eine Lösung für die Befangenheitsfrage bei beruflichen Fehlleistungen nicht zwingend gewonnen werden kann. Nicht überzeugend wurde gegen das Urteil des II. Zivilsenats ferner eingewendet, in Anbetracht der in den Medien heute üblichen Sensationsberichterstattung müsse eine Gefahr der Befangenheit des Abschlussprüfers selbst für die Fälle bezweifelt werden, in denen sich dieser wegen vermeintlicher vorangegangener Fehlleistungen beim Prüfungsmandanten erheblichen Angriffen in der Öffentlichkeit ausgesetzt sähe32. Es mag zwar sein, dass ein Abschlussprüfer in solchen Fällen stets besonders vorsichtig ist und daher allenfalls die Gefahr besteht, er sei aufgrund dessen nicht mehr objektiv, sondern eher überkritisch33. Dann aber ist seine Unbefangenheit – wenn auch aus anderem Blickwinkel – gerade nicht mehr gewährleistet.
IV. Aktuelle Reformentwicklung Der im Anschluss an das Judikat des BGH vom 25.11.2002 – noch mit einer gewissen Berechtigung – geführten Diskussion, ob eine berufliche Fehlleistung die Besorgnis der Befangenheit begründen kann, dürfte spätestens durch das am 10.12.2004 in Kraft getretene Bilanzrechtsreformgesetz vom 4.12.200434 weitgehend der Boden entzogen worden sein. 1. Bilanzrechtsreformgesetz (BilReG) vom 4.12.2004 Denn bereits in der Begründung des ersten Referenten-Entwurfs zum Bilanzrechtsreformgesetz vom 15.12.2003, die zur Legitimierung des letztendlich in Kraft getretenen Gesetzes insoweit unverändert übernommen wurde, ist klargestellt worden, dass im Zuge der Handelsrechtsreform die auf der Basis der bisherigen Unabhängigkeitsregeln vom II. Zivilsenat in der Entscheidung vom 25.11.2002 entwickelten Gedankengänge nicht nur aufgenommen, son-
__________ 31 32 33 34
Näher zur Nachtragsprüfung Zimmer in Staub, Großkomm.HGB, § 316 Rz. 22 ff. S. Lanfermann/Lanfermann, DStR 2003, 900 (905). So Claussen, BB 2003, 467. BGBl. I 2004 S. 3166 ff.
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dern das ihnen zugrunde liegende Selbstprüfungsverbot konsequent umgesetzt und fortgeführt werden solle. Dazu sollte nach der Gesetzesbegründung der dem Abschlussprüfer eingeräumte Rahmen noch enger als zuvor gefasst und ihm dementsprechend unter anderem verboten werden, dem Mandanten bei vorangehenden Beratungs- oder Bewertungsleistungen Ergebnisse zu liefern, die sich in solcher Form entsprechend auch im Jahresabschluss wiederfinden. Denn nach der Ansicht des Gesetzgebers besteht in diesen Fällen und völlig unabhängig davon, ob die in die Bilanz einfließenden Daten zutreffend ermittelt sind, aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten regelmäßig die Besorgnis der Befangenheit. Es könne dann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass der Abschlussprüfer das Produkt seiner vorangegangenen Tätigkeit im Rahmen der Abschlussprüfung genauso unvoreingenommen kontrollieren werde wie in den Fällen, in denen die Zahlen und Bewertungen etc. von einem Anderen geliefert werden. Ein vernünftiger Dritter werde vielmehr stets zu berücksichtigen haben, dass grundsätzlich jedermann bestrebt ist, eigene vorangegangene Gutachten und Entscheidungen im Nachhinein bestätigt zu sehen35. Dies wird insoweit verallgemeinerungsfähig sein, als nach Ansicht des Reformgesetzgebers eine Besorgnis der Befangenheit immer dann anzunehmen sein dürfte, wenn sich frühere Beratungsleistungen des Abschlussprüfers auf die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage in dem zu prüfenden Jahresabschluss mehr als nur unerheblich auswirken. Denn völlig unabhängig davon, ob die Beratung richtig ist, wird dann nach der amtlichen Gesetzesbegründung aus der Sicht eines vernünftig und objektiv denkenden Dritten nicht mehr ausgeschlossen werden können, dass der Abschlussprüfer bei seiner Berichterstattung gemäß § 321 HGB und bei seinem Bestätigungsvermerk gemäß § 322 HGB seine vorangegangene Beratungsleistung weiterhin als zutreffend beurteilen wird36. 2. Empfehlung der EU-Kommission vom 16.5.2002 Hervorzuheben ist in diesem Kontext, dass die Begründung des Bilanzrechtsreformgesetzes ausdrücklich auf die Empfehlung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu Grundprinzipien der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in der EU vom 16.5.200237 hinweist38. Dort ist aber unter Zif-
__________ 35 Vgl. die amtliche Begründung des BilReG zu Nr. 23 – § 319 HGB-E, BT-Drucks.
15/3419, S. 39. 36 S. dazu auch Veltins, DB 2004, 445 (452). 37 ABl. L 191, S. 22 (33). – Dazu Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechts-
wissenschaft, BB 2002, 2663 ff. S. auch noch van Hulle/Lanfermann, Mitteilung der Europäischen Kommission zur Stärkung der Abschlussprüfung, BB 2003, 1323 ff.; Wiesner, In Brüssel werden die Grundlagen der Abschlussprüfung neu geordnet, ZIP 2003, 1186 ff.
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Fehlleistungen des Abschlussprüfers als Befangenheitsgrund
fer 9 klargestellt, dass sich hinsichtlich der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers unter dem Aspekt der Gefahr einer Wahrung eigener Interessen jedenfalls dann Bedenken ergeben können, wenn zwischen ihm und dem Prüfungsmandanten Rechtsstreitigkeiten geführt werden oder sich ein Rechtsstreit abzeichnet, was durchaus auch aufgrund einer beruflichen Fehlleistung denkbar ist. Erkennt der Prüfer ein derartiges Prozessrisiko, soll er nach der EU-Empfehlung den Fall zumindest mit dem Kontrollorgan des Prüfungsmandanten – oder wenn ein solches Organ nicht existiert – mit seiner zuständigen Regulierungsbehörde erörtern. Die Risiken in Bezug auf die Gefährdung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers sind nach der Verlautbarung der EU-Kommission insbesondere dann als hoch einzustufen, wenn ein bedeutender Rechtsstreit bereits anhängig ist oder mit einem solchen Prozess mit einer ernst zu nehmenden Wahrscheinlichkeit gerechnet werden muss. In diesen Fällen soll der Abschlussprüfer nach der EU-Empfehlung unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderungen des nationalen Rechts seine Arbeiten so rasch wie möglich einstellen39. Daraus ist aber zu folgern, dass eine Unbefangenheit des Abschlussprüfers jedenfalls dann nicht mehr gegeben ist, wenn er sich – wie in dem vom II. Zivilsenat des BGH am 25.11.2002 entschiedenen Fall – erheblichen Schadensersatzforderungen des Prüfungsmandanten aufgrund einer vorangegangenen Beratungs(fehl)leistung ausgesetzt sieht.
V. Eckpunkte und Leitlinien Vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung und auf der Grundlage der durch das Bilanzrechtsreformgesetz geschaffenen Rechtslage soll nachfolgend für künftige Streitfälle versucht werden, einige Eckpunkte und Leitlinien für die Beurteilung einer etwaigen Befangenheit des Abschlussprüfers wegen eines vorangegangenen beruflichen Fehlers holzschnittartig zu skizzieren. Ausgangspunkt muss dabei sein, dass eine Besorgnis der Befangenheit erst, aber auch immer dann begründet ist, wenn aus der Sicht eines verständigen Dritten bei vernünftiger Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der Abschlussprüfer bei der Jahresabschlussprüfung von sachfremden Erwägungen leiten lässt. 1. Relevante Fehler Bei der Befangenheitsprüfung kann es nicht entscheidend darauf ankommen, ob dem Abschlussprüfer ein Fehler bei einer vorangegangenen Beratung oder
__________
38 Vgl. die amtliche Begründung des BilReG zu Nr. 23 – § 319 HGB-E. 39 Dies wird in Ziffer 8.211 des Code of Ethics der IFAC, der im November 2001
verabschiedet wurde, ebenso beurteilt: „When litigation takes place, or appears likely, between the firm or a member of the assurance team and the assurance client, a self-interest or intimidation threat may be created …“
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aber bei einer früheren Jahresabschlussprüfung unterlaufen ist40. Zwar hat sich der II. Zivilsenat in seinem Judikat vom 25.11.2002 zur Relevanz etwaiger Fehler bei früheren Abschlussprüfungen nicht geäußert. Der weit verbreiteten Ansicht, hinsichtlich solcher Fehler sei für die Beurteilung der Befangenheit des Abschlussprüfers auf die Vorschriften zur Ablehnung von Richtern41 oder Sachverständigen42 (vgl. §§ 41, 42, 406 ZPO) zumindest als Auslegungshilfen zurückzugreifen, ist daher jedenfalls höchstrichterlich bislang nicht widersprochen worden. Eine analoge Anwendung der für die Ablehnung dieses Personenkreises geltenden Vorschriften trägt aber der besonderen Situation des Abschlussprüfers nicht ausreichend Rechnung. Denn aufgrund der in § 252 Abs. 1 Nr. 1 HGB vorgeschriebenen formellen Bilanzkontinuität wirken sich Ansätze früherer Bilanzen grundsätzlich auf die aktuell zu prüfende Bilanz so lange aus, wie ein beratungs- oder gutachtenbeeinflusster Bilanzansatz aktuell noch vorhanden ist. Außerdem bestehen zwischen dem Prüfungsmandanten und dem Prüfer nicht zuletzt wegen des entgeltlichen Prüfungsauftrags43 völlig andere Rechtsbeziehungen als zwischen den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens. Ferner sind auch die Voraussetzungen zur Berücksichtung der Ausschlussgründe unterschiedlich. Anders als in den Prozessordnungen kann nämlich im Rahmen der Prüfung der Unabhängigkeit eines Abschlussprüfers nicht differenziert werden zwischen der Beachtung der Ausschlussgründe kraft Gesetzes einerseits und Ablehnungsgründen andererseits, die gesondert geltend zu machen sind. Vielmehr sind sämtliche Gründe, aus denen eine Befangenheit des Abschlussprüfers folgt, in einem gerichtlichen Verfahren geltend zu machen. Hierauf wird bereits in der amtlichen Begründung des Bilanzrechtsreformgesetzes zu Recht hingewiesen44. Entscheidend ist mithin nicht eine formale Unterscheidung danach, in welchem Zusammenhang dem Abschlussprüfer der Fehler unterlaufen ist, sondern allein ein sachliches Kriterium. Auch insoweit gibt die amtliche Gesetzesbegründung die entscheidende Richtschnur bereits vor. Die Objektivität des Abschlussprüfers ist danach regelmäßig dann ernsthaft in Frage zu stellen, wenn er ein eigenes wirtschaftliches oder sonstiges Interesse am Ergebnis der Prüfung hat oder wenn er im Rahmen der Prüfung Sachverhalte beurteilen müsste, die er zuvor selbst entscheidend mitgestaltet hat. Drohen dem Abschlussprüfer aufgrund eines früheren Fehlers der Verlust des kon-
__________ 40 Anders aber Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unterneh-
41
42 43 44
men, § 318 HGB Rz. 366, wonach Fehler im Rahmen einer früheren Jahresabschlussprüfung grundsätzlich irrelevant sein sollen. So WP-Hdb. 2000, 12. Aufl. 2000, Bd. I, A 246 (248). – Auf dieser Linie auch OLG München, DB 2001, 258 (259); Bormann, BB 2002, 190 (192 Fn. 35); Hellberg, GmbHR 2003, 414. BayObLG, ZIP 1987, 1547 (1552). S. Zimmer in Staub, Großkomm.HGB, § 318 Rz. 56. Vgl. die amtliche Begründung des BilReG zu Nr. 23 – § 319 HGB-E.
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kreten Mandates oder ein erheblicher Reputationsverlust in der Öffentlichkeit, so ist seine Befangenheit in aller Regel zu besorgen. Entsprechendes gilt, wenn er wegen der beruflichen Fehlleistung dem Prüfungsmandanten oder einem Dritten regresspflichtig ist45. Denn in all diesen Fällen kann sein eigenes (wirtschaftliches) Interesse am Ergebnis der Prüfung jedenfalls dann nicht zweifelhaft sein, wenn der Fehler und dessen Folgen für den Prüfer und/oder das geprüfte Unternehmen nicht unbedeutend sind46. 2. Evidenz des Fehlers Für die Befangenheitsprüfung ist des Weiteren von Bedeutung, wie konkret und insbesondere wem ein früherer Fehler des Abschlussprüfers bekannt ist. Insoweit dürfte im Ausgangspunkt Konsens bestehen, dass für eine durchgreifende Befangenheitsrüge jedenfalls eine rein abstrakte Gefahr allein nicht ausreichend sein kann, der Prüfer habe bei der Abschlussprüfung eine zuvor – etwa in einem Gutachten – getroffene Aussage gegebenenfalls zu relativieren. Ein auf bloßen Vermutungen basierender Vorwurf der Aktionäre des Prüfungsmandanten, dem Abschlussprüfer sei in der Vergangenheit ein abschlussrelevanter Fehler unterlaufen, kann ebenfalls nicht genügen47. Erst wenn der Vorwurf hinreichend mit Tatsachen konkretisiert ist und daher auch in einem gerichtlichen Verfahren nicht als unsubstantiierter Vortrag ins Blaue hinein als unerheblich zurückzuweisen wäre, kann von einer relevanten Beeinträchtigung der Unbefangenheit ausgegangen werden. Sieht sich allerdings der vorgesehene Abschlussprüfer schon vor der Einladung zur Hauptversammlung, auf der er bestellt werden soll (vgl. § 318 Abs. 1 HGB), oder während des Laufes der insoweit einzuhaltenden Ladungsfrist aufgrund eines ausreichend konkret vorgeworfenen Fehlers bei einer vorangegangenen (Beratungs-) Dienstleistung erheblicher Kritik und Angriffen der Aktionäre oder sonstiger Drittbetroffener in der Öffentlichkeit ausgesetzt, dürfte eine Interessenkollision in der Tat zum Greifen nahe und daher eine Inhabilität regelmäßig gegeben sein48. Eine Befangenheit ist des Weiteren sicherlich dann anzunehmen, wenn der Prüfungsmandant im Hinblick auf gegen den Abschlussprüfer geltend gemachte Schadensersatzansprüche bereits einen Bilanzposten gebildet hat, den der Abschlussprüfer im Rahmen seiner Abschlussprüfung wiederum selbst beurteilen müsste. Denn in diesem Fall kann ein Eigeninteresse des Prüfers am Ergebnis der Abschlussprüfung nicht ernsthaft bezweifelt werden49. Dies gilt um so mehr, wenn zwischen dem Prüfer und seinem Man-
__________ 45 46 47 48 49
Ebenso Marx, DB 2003, 431 (432 f.). Vgl. die amtliche Begründung des BilReG zu Nr. 23 – § 319 HGB-E. A. A. aber Lanfermann/Lanfermann, DStR 2003, 900 (905). So zutreffend Müller, WPg. 2003, 741 (742). Auf dieser Linie auch Lanfermann/Lanfermann, DStR 2003, 900 (906).
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danten bereits ein Rechtsstreit über die (angebliche) Mangelhaftigkeit der (Beratungs-) Leistungen vor einem Gericht anhängig ist50. Doch nicht nur ein solch evidenter Interessengegensatz über das Bestehen einer gegen den Abschlussprüfer gerichteten Regressforderung kann die Besorgnis seiner Befangenheit als begründet erscheinen lassen. Die Befangenheit kann sich vielmehr im Einzelfall auch und gerade aus noch nicht allgemein aufgedeckten Haftungsrisiken ergeben, die ihrerseits dazu führen können, dass der Prüfer im Rahmen der Abschlussprüfung bestimmte Sachverhalte gerade nicht zutreffend würdigt, um sein früheres Fehlverhalten zu verdecken51. Werden nämlich schadensersatzgeneigte Sachverhalte unterdrückt, so ist dies der klassische Fall einer die Befangenheit begründenden Interessenkollision52. Die Gefahr einer solchen Unterdrückung ist freilich viel größer und im Hinblick auf die eigene Regresspflicht auch viel erfolgversprechender, wenn die berufliche Fehlleistung nur dem Abschlussprüfer bekannt ist. Dass in solchen Fällen der Nachweis der Befangenheit zunächst einmal nicht zu führen ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. 3. Fehlerberichtigung Ob die zwischen Prüfungsmandant und Abschlussprüfer bei dessen beruflicher Fehlleistung generell divergierende Interessenlage durch eine schließlich einvernehmlich beendete Diskussion der beiden Parteien über den (vermeintlichen) Regressanspruch und die gegebenenfalls im Wege eines Vergleichs erfolgende Zahlung eines Schadensersatzbetrags (ohne Anerkennung einer Rechtspflicht) beseitigt werden kann, ist eher skeptisch zu beurteilen53. Dies kann jedenfalls dann nicht angenommen werden, wenn Drittinteressen nachhaltig berührt sind und für diese eine abschließende Lösung noch nicht getroffen wurde. Zwar soll nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht auch in den Fällen, in denen Fehler bei der Prüfung eines Vorjahresabschlusses aufgedeckt und entweder durch Rückwärtsänderung des betroffenen Abschlusses oder durch Berücksichtigung in laufender Rechnung korrigiert und im Rahmen einer Nachtragsprüfung kontrolliert wurden, eine Verdeckungsgefahr nicht (mehr) bestehen und daher auch kein Grund gegeben sein, an der Objektivität des Prüfers zu zweifeln54. Dem ist jedoch in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen. Vielmehr sind auch diese Fallgestaltungen anhand der allgemeinen Befangenheitskriterien zu überprüfen, so dass es entscheidend auf ein etwaiges Eigeninteresse des Prüfers und auf die Einhaltung des Selbstprüfungsverbotes ankommen wird.
__________ 50 51 52 53 54
Claussen, BB 2003, 467. Gelhausen/Kuss, NZG 2003, 424 (426). Müller, WPg. 2003, 741 (743 f.). S. aber Lanfermann/Lanfermann, DStR 2003, 900 (906). So Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, § 318 HGB Rz. 366; ebenso Gelhausen/Kuss, NZG 2003, 424 (426).
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Fehlleistungen des Abschlussprüfers als Befangenheitsgrund
4. Maßgeblicher Zeitpunkt Nur die im Zeitpunkt der Bestellung zum Abschlussprüfer bekannten wesentlichen Fehler vorheriger Beratungsleistungen lassen den Abschlussprüfer befangen erscheinen55. Waren nämlich zu diesem Zeitpunkt Fehler weder dem Abschlussprüfer noch einem verständigen Dritten bekannt, so kann nach objektiven Maßstäben (noch) nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Prüfer bei der Abschlussprüfung von sachfremden Erwägungen leiten lässt56. Dies ändert sich jedoch wiederum dann, wenn ein Beratungsfehler noch vor dem Abschluss der Prüfung bzw. vor der Testatserteilung bekannt wird57. Denn zum einen hat ein Wirtschaftsprüfer nach § 49 WPO seine Tätigkeit auch dann zu versagen, wenn die Besorgnis der Befangenheit während der Durchführung des Auftrags entsteht. Zum anderen soll nach Ziffer 7.2.1 des Deutschen Corporate Governance Kodex der Aufsichtsrat mit dem Abschlussprüfer vereinbaren, dass der Prüfer den Aufsichtsrat über sämtliche während der Prüfung auftretenden möglichen Ausschluss- und Befangenheitsgründe unverzüglich informiert. Nachträglich bis zum Zeitpunkt der Erteilung des Bestätigungsvermerks bekannt gewordene Ausschluss- und Befangenheitsgründe sind daher auch insoweit beachtlich58.
VI. Fazit Durch das am 10.12.2004 in Kraft getretene Bilanzrechtsreformgesetz wurden die Regelungen zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in §§ 319, 319a HGB n. F. klarer als bislang gefasst. Am Rande wurde dabei auch die durch die Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH vom 25.11.2002 thematisierte Frage aufgegriffen, unter welchen Voraussetzungen ein Prüfungsausschluss aus (aufgedeckten) früheren Fehlleistungen des Abschlussprüfers folgen kann. Inwieweit dieses Problem tatsächlich eine praktische Relevanz erlangen wird, muss die Zukunft zeigen. Es dürfte indes zu optimistisch sein, durchweg und ohne weiteres anzunehmen, vorbelastete Wirtschaftsprüfer würden in der Praxis typischerweise schon allein deswegen nicht mit neuen Aufträgen betraut, weil befürchtet werden müsse, sie seien aufgrund der Vorhaltungen überkritisch und daher nicht mehr objektiv59.
__________ 55 Ebenso Hellberg, GmbHR 2003, 414; Marx, DB 2003, 431 (433). 56 S. dazu Mattheus in Baetge/Kirsch/Thiele (Hrsg.), Bilanzrecht, Loseblatt, § 319 HGB
Rz. 132. 57 Auch dazu zutreffend Hellberg, GmbHR 2003, 414; Marx, DB 2003, 431 (432 f.). 58 Müller, WPg. 2003, 741 (743 f.). 59 So freilich Claussen, BB 2003, 467.
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Zur gerichtlichen Kontrolle der Unternehmensbewertung durch mehrere Dritte – Ein Beitrag wider die Leitsatz-Gläubigkeit Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der aktuelle Fall III. Der Leitsatz versus Inhalt des BGHUrteils von 1964 1. Sachverhalt und Entscheidungsgründe 2. Die Divergenz von Leitsatz und Entscheidungsgründen IV. Die Lösung des aktuellen Falles 1. Die entsprechende Anwendbarkeit der §§ 317–319 BGB
2. Die erwartete Abweichung der Bewertungsergebnisse 3. Zur Unverbindlichkeit des Mittelwerts a) Die Divergenz der Bewertungen b) Die offenbare Unrichtigkeit einer von mehreren Bewertungen c) Die offenbare Unrichtigkeit des Mittelwerts V. Ergebnis
I. Einleitung Ein Urteil des Bundesgerichtshofs wirkt je nach Empfängerhorizont unterschiedlich: Die beteiligte Partei nimmt den Tenor als Verdikt – unterschiedlich ergeben – hin. Der Wissenschaftler prüft den Entscheidungsinhalt auf seine Vereinbarkeit mit einer bestehenden oder vorgestellten Dogmatik. Der gemeine Anwalt überfliegt den Leitsatz daraufhin, ob er auf einen gerade bearbeiteten Fall passt. Der Standardkommentar-Autor gliedert den Leitsatz – regelmäßig zustimmend – in sein Werk ein. Dies ist dem Leitsatz eines Urteils des II. Zivilsenats vom 28.9.1964 widerfahren. Er lautet: Weichen die Schätzungen zweier Gutachter, die einen Kaufpreis bestimmen sollen, so sehr voneinander ab, dass entweder eine der beiden oder beide Schätzungen offenbar unbillig sein müssen, so ist im Allgemeinen nicht der Mittelwert maßgebend, sondern die Leistung gem. § 319 BGB durch Urteil zu bestimmen1.
__________ 1
II ZR 181/62. In BGH, LM BGB § 317 BGB Nr. 9 = NJW 1964, 2401 sind die Entscheidungsgründe ohne Tatbestand und ohne die Erwägungen des Berufungsgerichts identisch abgedruckt. In DB 1964, 1549 sind der Tatbestand und mit einem Satz die Erwägungen des Berufungsgerichts kurz wiedergegeben; es folgen die Entscheidungsgründe des BGH wie in LM und in NJW. In BB 1964, 1234 sind Tatbestands- und Entscheidungsgründe demgegenüber nochmals verkürzt wiedergegeben.
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Dieser Leitsatz segelt seit nunmehr 40 Jahren über alle Auflagen hinweg durch das ruhige Gewässer der Kommentierungen zu §§ 317–319 BGB2. Ob er sich überhaupt mit den Entscheidungsgründen deckt, wird in diesen Kommentierungen nicht hinterfragt.
II. Der aktuelle Fall Auch beflügelt durch diesen Leitsatz hat die Nachfolgerin der Treuhandanstalt gegen ein Unternehmen, das im Jahre 1990 Aktien eines soeben umgewandelten ostdeutschen Unternehmens erworben hatte, Zahlungsklage erhoben: Die Erwerberin sollte einen Nachschlag auf den nach Erstbewertung durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vereinbarten Mindestkaufpreis zahlen. Nach fünf Jahren war nämlich vereinbarungsgemäß eine zweite Unternehmensbewertung durchgeführt worden, für die Verkäufer und Käufer jeweils eine international anerkannte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zu beauftragen hatten. Bei Abweichung der beiden Bewertungen sollte der mittlere Unternehmenswert maßgeblich sein. Für den Fall, dass dieser mittlere Unternehmenswert über dem gezahlten Mindestkaufpreis liegt, hatte die Käuferin auf den Kaufpreis eine Nachzahlung zu leisten. Die beauftragten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften kamen zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen: Der obere Unternehmenswert überstieg den unteren um 450 %. Die Verkäuferin wollte deshalb den Mittelwert nicht als verbindlich akzeptieren. Hier nun schlug die Stunde unseres oben wiedergegebenen Leitsatzes. Die Unverbindlichkeit des Mittelwertes ergebe sich aus diesem Leitsatz des Urteils aus 1964, der nicht lediglich die Entscheidung im Einzelfall zusammenfasse, sondern Allgemeingültigkeit für sich beanspruche. Das werde durch die Kommentarliteratur bestätigt: Sie habe diesen Leitsatz in dieser Allgemeinheit übernommen. Nach Auffassung der Verkäuferin war der aus den Unternehmensbewertungen gebildete Mittelwert allein wegen übermäßiger Differenz der Bewertungen offenbar unbillig i. S. v. § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB. Das erhebliche Auseinanderfallen von zwei Bewertungen führe stets und zwingend zur offenbaren Unrichtigkeit des Mittelwerts. Dessen Ergebnis sei immer dann willkürlich, wenn mehrere Gutachten über den gleichen Gegenstand zu stark abweichenden Ergebnissen kommen.
__________ 2
So z. B. Heinrichs in Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, § 317 Rz. 10; M. Wolf in Soergel, BGB, Bd. 2, 12. Aufl. 1990, § 317 Rz. 13; Hager in Erman, BGB, 11. Aufl. 2004, § 318 Rz. 13; Gottwald in MünchKomm.BGB, Bd. 2a, 4. Aufl. 2003, § 317 Rz. 24. Eine Ausnahme, auf die noch zurückzukommen ist, macht Rieble in Staudinger, BGB, Neubearb. 2004, § 317 Rz. 59, 60.
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III. Der Leitsatz versus Inhalt des BGH-Urteils von 1964 Der Vergleich des Leitsatzes mit dem Tatbestand und den Entscheidungsgründen scheint den Eindruck zu bestätigen, den ein Autor hegt: Nach seiner Meinung stiftet der Leitsatz „leider Verwirrung“3. 1. Sachverhalt und Entscheidungsgründe Es ging in dem vom BGH entschiedenen Fall um den Kaufpreis für ein Grundstück. Bei Nichteinigung der Vertragspartner über die Höhe des Kaufpreises sollte der Kaufpreis durch „zwei gerichtlich beeidete Schätzer, von denen jeder Vertragsteil einen zu benennen hat, rechtsverbindlich für beide Teile“ festgesetzt werden. Die Schätzer kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Der obere Wert lag 170% höher als der untere. Die Sachverständigen konnten sich auf einen bestimmten Wert nicht einigen. Das Berufungsgericht war nach Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass die Auslegungsregel des § 317 Abs. 2 BGB – wonach im Zweifel die Durchschnittssumme maßgebend ist, wenn die Leistung in einer Summe durch mehrere Dritte bestimmt werden soll – wegen der hohen Differenz der beiden Schätzungen nicht anzuwenden sei. Den Vertragsparteien habe die Möglichkeit, den Mittelwert als maßgebend anzusehen, nur im Hinblick auf geringfügige Schätzungsunterschiede vorgeschwebt. Angesichts des krassen Unterschieds der Werte sei die Mittelsumme auf jeden Fall als offenbar unrichtig und unbillig anzusehen. Der BGH führte in den Entscheidungsgründen aus: Bei dem festgestellten Unterschied der Schätzungen kämen praktisch nur zwei Möglichkeiten in Betracht. Entweder sei nur das eine der beiden Gutachten offenbar fehlerhaft; dann wirke sich die hohe Differenz auch auf den Mittelwert derartig aus, dass es offenbar höchst sachwidrig und mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, die hierdurch benachteiligte Partei an diesen Wert zu binden. Oder der Mangel grober Unbilligkeit hafte beiden Gutachten an; dann wäre zwar denkbar, dass die Durchschnittssumme zufällig dem objektiv angemessenen Kaufpreis nahe kommt. Unter den vorliegenden Umständen könne aber das aus zwei offenbar unbilligen Schätzungen durch Errechnung des Durchschnitts gewonnene Zufallergebnis zumindest dann nicht als eine sach- und interessengemäße, Treu und Glauben wie auch dem vernünftigen Parteiwillen entsprechende Bestimmung der Vertragsleistung angesehen werden, wenn auch dieser Mittelwert nicht unerheblich von dem objektiv angemessenen Wert abweicht. Solches aber hat das Berufungsgericht – vom BGH unbeanstandet – festgestellt.
__________ 3
Laule, Zur Bestimmung einer Summe durch mehrere Dritte nach billigem Ermessen, DB 1966, 769 (771).
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2. Die Divergenz von Leitsatz und Entscheidungsgründen Der Sachverhalt, die bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts und die Ausführungen des II. Zivilsenats hierzu in seinen Entscheidungsgründen belegen, dass der Leitsatz den Kern der Entscheidung missverständlich wiedergibt. Die Gefahr seiner Überinterpretation liegt auf der Hand. Der BGH hatte – was er ausdrücklich hervorhebt – über einen besonderen Sachverhalt zu entscheiden. –
Nach dem Beweisergebnis stand fest, dass die Parteien sich nur geringfügige Schätzungsunterschiede vorgestellt haben. Das ist im konkreten Fall auch verständlich, ging es doch um die Bewertung eines Grundstücks. Hierfür liegen regelmäßig Marktdaten vor, so dass die Bewertung auf Ist-Daten gestützt werden kann und der Raum für Zukunftsbewertungen ungleich geringer ist als bei der Ermittlung eines Unternehmenswertes. Aufgrund des festgestellten vorrangigen Parteiwillens war die Auslegungsregel des § 317 Abs. 2 BGB nicht anzuwenden. Diese maßgebliche Einschränkung spiegelt sich im Leitsatz nicht wider. Gerade zu § 317 Abs. 2 BGB (Verbindlichkeit der Durchschnittssumme) wird das BGH-Urteil mit seinem Leitsatz aber fälschlicherweise zitiert4.
–
Die weitere Besonderheit dieses Falles war, dass das Berufungsgericht bereits den objektiv angemessenen Wert des Grundstücks festgestellt hatte. Anders als es der Leitsatz vermittelt, hat der BGH über die Folgen der Abweichung der beiden divergierenden Schätzgutachten nicht geurteilt. Vielmehr hat für ihn die Abweichung des Mittelwerts dieser Gutachten vom objektiv angemessenen Wert des Grundstücks die entscheidungserhebliche Rolle gespielt. Er hat festgestellt, dass der Mittelwert der beiden Schätzungen um rund 23,5% höher als derjenige Betrag liegt, den das Berufungsgericht als angemessenen Kaufpreis erachtet hat; „jedenfalls unter solchen Umständen“ sei die Anwendung des § 319 Abs. 1 BGB nicht zu beanstanden5.
Das zeigt: Der Leitsatz hat ein vom Entscheidungsinhalt losgelöstes Eigenleben entwickelt.
IV. Die Lösung des aktuellen Falles Ist das BGH-Urteil aus dem Jahre 1964 auf die vereinbarte Mittelwertbildung aus Unternehmensbewertungen übertragbar? Betrachtet man allein seinen
__________ 4 5
Vgl. die Nachweise oben Fn. 2. BGH (Fn. 1), NJW 1964, 2401. Wedemeyer, Zum Leistungsvorbehalt und zur Schiedsgutachterklausel, insbesondere in Mietverträgen, DB 1969, 1925 (1931), hält das vom BGH festgestellte Maß der Abweichung von Mittelwert zu objektivem Wert nicht für offenbar unbillig; vielmehr bewege sich die Abweichung noch innerhalb des erheblichen Spielraums, innerhalb dessen der Dritte verbindlich festsetzen könne.
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Gerichtliche Kontrolle der Unternehmensbewertung durch mehrere Dritte
Leitsatz, so möchte man dies bei starker Abweichung der Bewertungsergebnisse bejahen. Es gilt jedoch zu hinterfragen, ob dies wirklich zutrifft. 1. Die entsprechende Anwendbarkeit der §§ 317–319 BGB Die von Verkäufer und Käufer beauftragten Wirtschaftsprüfer hatten unter Vornahme von Bewertungen Sachverständigen- und damit Schiedsgutachten im engeren Sinne zu erstatten. Auf diese sind die §§ 317–319 BGB entsprechend anwendbar6. Die Bewerter haben dabei tatsächliche Feststellungen zu treffen. Ein Ermessensspielraum besteht für sie nicht, geht es doch nicht um ihre „billige“ Entscheidung, sondern um die richtige Feststellung. Deshalb tritt an die Stelle der offenbaren Unbilligkeit i. S. v. § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB die offenbare Unrichtigkeit7 von Schiedsgutachten. Sie kann zur Unverbindlichkeit der Bewertung führen. 2. Die erwartete Abweichung der Bewertungsergebnisse Für beide in § 317 Abs. 2 BGB geregelten Fälle gibt diese Bestimmung nur eine Auslegungsregel; es herrscht Vertragsfreiheit. Auch § 319 Abs. 1 BGB ist dispositiv8. Folglich ist vorrangig der Parteiwille zu ermitteln. Hier haben die Parteien vertraglich vereinbart: „Weichen die Bewertungen dieser Wirtschaftsprüfungsgesellschaften voneinander ab, so ist der mittlere Unternehmenswert maßgeblich.“
Damit wurde die Auslegungsregel des ersten Halbsatzes von § 317 Abs. 2 BGB abbedungen: Die Sachverständigen müssen in ihrem Ergebnis nicht übereinstimmen. Die Vereinbarung zeugt im Gegenteil von der Erwartung der Parteien, dass die Bewertungen der beiden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften voneinander abweichen werden. Das ist auch realistisch. Denn die Unternehmensbewertung ist keine exakte Wissenschaft in dem Sinne, dass nur ein einziges Ergebnis denkbar wäre. Das gilt auch dann, wenn – wie hier festgelegt – international renommierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ein betriebswirtschaftlich anerkanntes Ertragswertverfahren durchzuführen haben. Beide Bewerter haben ihren Gutachten die Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen HFA 2/1983 zugrunde gelegt. Danach war der Unternehmenswert zu ermitteln unter der Prämisse der Fortführung des Unternehmens in unverändertem Konzept und mit allen realistischen Zukunftserwartungen im Rahmen seiner Marktchancen und -risiken, finanziel-
__________ Herrschende Meinung, z. B. Gottwald in MünchKomm.BGB, § 317 Rz. 37; Rieble in Staudinger, § 317 Rz. 12; M. Wolf in Soergel, § 317 Rz. 20. 7 Hager in Erman, § 319 Rz. 7. 8 Vgl. M. Wolf in Soergel, § 319 Rz. 3; Hager in Erman, § 319 Rz. 2; Gottwald in MünchKomm.BGB, § 319 Rz. 3. 6
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len Möglichkeiten und sonstigen Einflussnahmen9. Bereits relativ geringfügige Veränderungen insbesondere des Kapitalisierungszinssatzes und der Höhe der nachhaltig konstant entnahmefähigen finanziellen Überschüsse wirken sich dabei auf den Unternehmenswert erheblich aus; ebensolche Auswirkungen können Verlustvorträge sowie die Vor- bzw. NachsteuerBetrachtung haben. Da die einzelnen Parameter (mit Ausnahme des handelsrechtlichen Verlustvortrages) vom Bewertungsgutachter im Rahmen seiner Eigenverantwortlichkeit zu ermitteln bzw. von ihm mittels Plausibilität zu beurteilen sind, ergeben sich unvermeidlich bisweilen erhebliche Beurteilungsspielräume, die zu gravierenden Abweichungen der Bewertungsergebnisse führen können. Deshalb kann es nicht überraschen, wenn voneinander unabhängige Gutachter zu völlig unterschiedlichen Unternehmenswerten gelangen. Das OLG Stuttgart hat hervorgehoben, dass bei Anwendung der Ertragswertmethode die Bewertung von Unternehmen von einer Vielzahl von Einzelbewertungen, Parametern und Prognosen über die künftige Entwicklung naturgemäß abhängig sei, so dass jeder Gutachter in einer gewissen Bandbreite zu einem anderen Ergebnis kommen werde10. Aufgrund der erforderlichen Prognosen und der zahlreichen Streitfragen bleibt die Ertragswertmethode also mit vielfältigen Unsicherheiten behaftet. Zwangsläufig kommt es zu einer erheblichen „Streu-“ oder „Toleranzbreite“ vertretbarer und plausibler Unternehmenswerte; die Zahlenwelt der finanzmathematischen Rentenrechnung gaukle eine nicht vorhandene Sicherheit vor11. Angesichts dessen gerät nach Hülsmann die Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode gar zu einem Va-Banque-Spiel12. Noch größer sind die Bewertungsrisiken, wenn ein Unternehmen zu bewerten ist, das sich im Aufbau befindet oder das – wie im konkreten Fall – erst kurz vor dem Verkauf seiner Aktien von einem volkseigenen Betrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden war. Vergangenheitszahlen, auf die eine Prognose der zukünftigen Nettozuflüsse hätte gestützt werden können, sind nicht vorhanden; aussagefähige Vergangenheitszahlen existieren in diesen Fällen überhaupt nicht. Dann bleibt dem Bewerter praktisch allein die Zukunftsbetrachtung13. Wenn in einer solchen Situation die im Wirtschaftsleben stehenden Vertragspartner für die Ermittlung eines etwaigen Kaufpreisnachschlags den Mittelwert zweier Ertragswertgutachten für leistungsbestimmend erklären, so tun sie dies gerade deshalb, weil sie Abweichungen auch erheblicher Art erwar-
__________ 9 Vgl. Stellungnahme HFA 2/1983, Abschn. B.4 a. 10 Vgl. OLG Stuttgart, DB 2001, 854 (860). 11 So Hennrichs, Vorbelastungshaftung und Unternehmensbewertung nach der Er-
tragswertmethode, ZGR 1999, 837 (851). 12 Hülsmann, Gesellschafterabfindung und Unternehmensbewertung nach der Er-
tragswertmethode im Lichte der Rechtsprechung, ZIP 2001, 450 (454 f.). 13 Hennrichs, ZGR 1999, 837 (851 f.) zu Unternehmen im Aufbau (GmbH-Gründun-
gen).
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Gerichtliche Kontrolle der Unternehmensbewertung durch mehrere Dritte
ten oder jedenfalls realistischerweise erwarten müssen. Dies unterscheidet den hier betrachteten Fall von jenem, über den der BGH 1964 entschieden hat: Während hier die Parteien das Abweichen der Bewertungen erwartet und dafür eine Lösung – die Maßgeblichkeit des Mittelwerts – vereinbart haben, haben sie dort die Auslegungsregel des § 317 Abs. 2 BGB gerade abbedungen. 3. Zur Unverbindlichkeit des Mittelwerts Das führt zu der Frage, wann bei vereinbarter Mittelwertbildung diese gleichwohl unverbindlich i. S. v. § 319 Abs. 1 BGB ist. Hierfür kann es mehrere Ansatzpunkte geben: – – –
die erhebliche Abweichung der Bewertungen voneinander die offenbare Unrichtigkeit einer von mehreren Bewertungen die offenbare Unrichtigkeit des Mittelwerts.
a) Die Divergenz der Bewertungen Dass bei der Vereinbarung des Mittelwerts zur Leistungsbestimmung schon jede Abweichung der Bewertungen voneinander zu einer offenbaren Unrichtigkeit führt, ist auszuschließen. Denn die Mittelwertbildung setzt die Abweichung gerade voraus. Folglich kann sich die Frage der Unverbindlichkeit wegen Divergenz der Bewertungen allenfalls dann stellen, wenn das Ausmaß der Abweichung eine bestimmte Schwelle übersteigt. Haben die Parteien eine solche Schwelle nicht festgelegt, sondern sich sehenden Auges vorbehaltlos auf die Verbindlichkeit des Mittelwerts eingelassen, so führt allein die Divergenz der Bewertungen nicht bereits zur Unverbindlichkeit des Mittelwerts. Denn sonst könnte eine Partei die gerichtliche Leistungsbestimmung selbst dann herbeiführen, wenn der Mittelwert selbst nicht angreifbar i. S. v. § 319 Abs. 1 BGB ist. Definieren die Parteien keinen Schwellenwert, der das Ausmaß der Wertabweichung in die offenbare Unrichtigkeit umschlagen lässt, so können sie doch andere Absprachen treffen, um die Risiken des Auseinanderklaffens von Bewertungen einzuschränken: Sie können sich, wie im hier vorgestellten Fall geschehen, auf die Bewertungsmethode einigen und bestimmte Qualitätsanforderungen an die Prüfer stellen. Solange diese Regularien beachtet sind, entspricht es dem erkennbaren Willen der Parteien, dass selbst eine erhebliche Divergenz von Bewertungsergebnissen den hieraus errechneten Mittelwert nicht unverbindlich macht. Der eingangs wiedergegebene Leitsatz des BGH aus dem Jahre 1964 träfe hier den Parteiwillen nicht.
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b) Die offenbare Unrichtigkeit einer von mehreren Bewertungen Der Mittelwert könnte unverbindlich sein, wenn ein Gutachten, dessen Ergebnis in die Berechnung des Mittelwerts eingegangen ist, offenbar unrichtig i. S. v. § 319 Abs. 1 BGB ist. Zunächst: Ein nach § 319 Abs. 1 BGB offenbar unrichtiges Gutachten muss ganz erhebliche Mängel aufweisen. Der II. Zivilsenat des BGH hat 1986 die offenbare Unrichtigkeit eines Schiedsgutachtens bejaht, wenn Fehler, die das Gesamtergebnis verfälschen, sich einem sachkundigen und unbefangenen Beobachter – wenn auch erst nach eingehender Prüfung – aufdrängen. Hingegen seien Fehler im Bewertungsmaßstab unbeachtlich, wenn sie durch andere Fehler, die sich in etwa gleicher Höhe gegenteilig auswirken, wieder ausgeglichen werden14. Der V. Zivilsenat hat darüber hinaus die offenbare Unrichtigkeit eines Schiedsgutachtens bejaht, wenn die Ausführungen des Sachverständigen so lückenhaft sind, dass selbst der Fachmann das Ergebnis aus dem Zusammenhang des Gutachtens nicht überprüfen kann15. Aber reicht es für die Unverbindlichkeit des Mittelwerts bereits, dass eines von zwei oder mehreren Gutachten, auf denen er beruht, offenbar unrichtig ist? Der BGH hat in dem hier erörterten Urteil aus 1964 Folgendes festgestellt: Für die Frage, ob eine gutachtliche Schätzung offenbar unbillig ist, komme es grundsätzlich nicht auf die einzelnen Elemente der Schätzung, sondern auf deren Gesamtergebnis an. So könne z. B. ein dem Schätzer unterlaufender Fehler dann unerheblich sein, wenn er zufällig durch andere Fehler, die sich im Ergebnis etwa in gleicher Höhe gegenteilig auswirken, wieder ausgeglichen wird. Die Bewertung sei unteilbar und als Ganzes anzusehen16. Unter Rückgriff auf diese frühe Rechtsprechung wird auch in der Literatur vertreten, dass es bei einer Mehrheit von Schätzungen nur auf das Gesamtergebnis ankomme; die offenbare Unbilligkeit einer einzelnen Schätzung könne die Unverbindlichkeit der Durchschnittssumme nicht begründen17. Der BGH hat die Unbilligkeit der Mittelwertbildung nicht etwa damit begründet, dass er wegen einer unrichtigen Bewertung nicht verbindlich sei, sondern weil der Mittelwert nicht unerheblich von dem objektiv angemessenen Betrag abweicht. Allerdings vermutet der BGH, dass eines der beiden vorgelegten Gutachten offenbar fehlerhaft ist, so dass die hohe Differenz der Schätzergebnisse zur Unverbindlichkeit des Mittelwerts führe; eine diesbezügliche Überprüfung hat er jedoch nicht vorgenommen18. Dieses obiter dictum kann keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Aus der Unrichtigkeit eines Gutachtens folgt nicht zwingend die Unverbindlichkeit
__________
14 BGH, NJW-RR 1987, 21 (22). 15 BGH, NJW 1991, 2698. 16 BGH (Fn. 1) unter Hinweis auf BGHZ 9, 195 (198); BGH, LM BGB § 317 Nr. 8; OLG
Jena, OLGE 22, 198. 17 S. Laule, DB 1966, 769 (771). 18 BGH (Fn. 1).
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Gerichtliche Kontrolle der Unternehmensbewertung durch mehrere Dritte
des Mittelwerts. Entscheidend ist nicht, ob eine Rechengröße offenbar unrichtig ist, sondern ob der hieraus gebildete Mittelwert selbst der Unverbindlichkeit nach § 319 Abs. 1 BGB anheim fällt. Das kann so sein, muss aber nicht. Die Mittelwertbildung führt zur Vergleichmäßigung der Abweichungen; die Mittelung mäßigt Ausreißer19. Bei der Mittelwertbildung muss sich deshalb ein fehlerhafter Einzelwert nicht zwingend auf das Ergebnis auswirken. Mithin kommt es nicht auf die Vereinbarkeit jeder einzelnen Rechengröße, die zum Mittelwert führt, mit § 319 Abs. 1 BGB an. Folglich kann aus der Unrichtigkeit eines Gutachtens nicht eo ipso auf die Unverbindlichkeit des Mittelwerts geschlossen werden20. c) Die offenbare Unrichtigkeit des Mittelwerts Sonach ist der in vereinbarter Weise errechnete Mittelwert nur dann unverbindlich i. S. v. § 319 Abs. 1 BGB, wenn er selbst offenbar unbillig ist. Der Kontrollmaßstab dieser Bestimmung ist dabei bewusst ein geringerer als jener nach §§ 315, 317 BGB: Dort ist jeweils Maßstab das billige Ermessen, während § 319 BGB auf die offenbare Unbilligkeit abstellt. Diese ist, so ein frühes BGH-Urteil21, eine Zwischenstufe zwischen dem billigen Ermessen einerseits und der Willkür andererseits. Ist schon der unbestimmte Rechtsbegriff der Billigkeit schwierig zu bestimmen, dann gilt dies umso mehr für die offenbare Unbilligkeit. In dieser Zurücknahme des gerichtlichen Kontrollmaßstabes kommt zum Ausdruck, dass die Einschaltung von Dritten zur Leistungsbestimmung gerade der Streitvermeidung dienen soll22. Dies entspricht dem vorrangigen Parteiwillen: Die Übertragung der Leistungsbestimmung auf nicht unmittelbar an der Leistung interessierte Dritte fördert eine ausgewogene Leistungsbestimmung; damit wird die Schwelle der offenbaren Unbilligkeit abgesenkt. Schalten die Parteien zwei oder mehrere Gutachter ein, um den Mittelwert als Leistung zu bestimmen, so werden auf diese Weise nicht auszuschließende Bewertungsspitzen bewusst gebrochen und der Interessenausgleich in der Mitte gesucht. Der Mittelwert führt folglich zu einem verlässlicheren Gesamtergebnis. Gutachterliche Beurteilungsspielräume wirken sich bei der Mittelwertbildung – anders als bei
__________ 19 In diesem Sinne Rieble in Staudinger, § 317 Rz. 60: Die – so Rieble – „Rührei-
Theorie (ein faules Ei verdirbt das ganze Omelett)“, nach der ein unbilliges Sachverständigengutachten den mit seiner Hilfe gebildeten Durchschnitt unbillig mache, sei jedenfalls dann angreifbar, wenn man die gerichtliche Kontrolle nach § 319 BGB als Ergebniskontrolle begreife. 20 Ebenso M. Wolf in Soergel, § 319 Rz. 12; Laule, DB 1966, 769 (771); Wedemeyer DB 1969, 1925 (1931). 21 BGH, NJW 1958, 2067. 22 Hager in Erman, § 319, Rz. 1; M. Wolf in Staudinger, § 319 Rz. 1.
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der Maßgeblichkeit nur eines Gutachtens – nicht einseitig zu Lasten einer Partei aus23. Die Zurücknahme des gerichtlichen Kontrollmaßstabes entspricht auch deshalb dem Parteiwillen, weil die vereinbarte Mittelwertbildung der Prozessökonomie dient: Die Parteien wollen sich eben gerade nicht auf ein einziges Gutachten zur Leistungsbestimmung verlassen, auch wenn es von einem unabhängigen Dritten vorgelegt wird. Je größer die Beurteilungsspielräume des Allein-Gutachters nach der Natur der Bewertung sind, desto eher sind Streit und damit die Leistungsbestimmung durch das Gericht vorprogrammiert. Die Mittelwertbildung soll dagegen nach dem Parteiwillen das Ergebnis „bestandskräftiger“ machen als die Leistungsbestimmung durch ein einziges Schiedsgutachten.
V. Ergebnis Haben sich die Parteien zur Leistungsbestimmung auf den Mittelwert aus mehreren Unternehmensbewertungen geeinigt, so reicht die bloße Diskrepanz der Bewertungsergebnisse nicht aus, den Mittelwert als offenbar unbillig zu qualifizieren. Denn die Verbindlichkeit des Mittelwerts entspringt gerade der Erwartung voneinander abweichender Schiedsgutachten. Bei Einigung auf die Verbindlichkeit des Mittelwerts kommt es auch nicht darauf an, ob ein Schiedsgutachten, dessen Ergebnis in die Errechnung des Mittelwerts eingegangen ist, offenbar unbillig ist. Gerichtlicher Kontrollmaßstab kann angesichts der Parteivereinbarung nur der Mittelwert selbst sein, nicht aber eine Rechengröße, die zu ihm führt. Mit der Wahl des Mittelwerts haben die Parteien zum Ausdruck gebracht, dass es ihnen auf die Vergleichmäßigung der Gutachtensergebnisse ankommt. Selbst ein offenbar unrichtiges Teilergebnis, das in die Mittelwertberechnung eingeht, macht diesen darüber hinaus nicht seinerseits automatisch offenbar unbillig. Vielmehr kommt es bei Einigung auf den Mittelwert bei mehreren Unternehmensbewertungen allein darauf an, ob dieser Mittelwert selbst offenbar unbillig i. S. v. § 319 BGB ist. In dessen Wahl kommt der Wille der Parteien zum Ausdruck, zum Zwecke der Streitvermeidung den gerichtlichen Kontrollmaßstab zu senken. Die Mittelwertbildung soll für die gerichtliche Überprüfung nicht anfälliger, sondern ihr gegenüber resistenter sein. Darin kommt auch eine von den Parteien gewünschte Verfahrensökonomie zum Ausdruck.
__________ 23 In diesem Sinne auch das LG Essen im Urt. v. 11.12.2001 – 12 O 703/00, das wegen
Vorrangs der getroffenen Parteivereinbarung nicht auf den Unterschied zwischen den Einzelergebnissen, sondern allein auf die Frage der offenbaren Unrichtigkeit des Mittelwerts abgestellt, hierfür aber keine Anhaltspunkte gefunden hat.
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Gerichtliche Kontrolle der Unternehmensbewertung durch mehrere Dritte
Das hier behandelte Thema zeigt: Rechtsanwendung ist das eine, der Parteiwille das andere. Die erste hat sich dem zweiten unterzuordnen, nicht umgekehrt. Das wird – unabhängig von dem frei schwebenden Leitsatz – in den Entscheidungsgründen des II. Zivilsenats unter dem Vorsitz seines späteren Chefpräsidenten Dr. Fischer beachtet.
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Squeeze-out-Prüfung Inhaltsübersicht I. Einleitung
5. Prüfungshandlungen a) Art und Umfang der Prüfung b) Prüfungshandlungen im Einzelnen aa) Angemessenheit der Bewertungsmethoden bb) Ertragswertmethode cc) Barwert der Ausgleichszahlungen dd) Börsenkurs ee) Ableitung der Barabfindung 6. Auskunftsrecht und Prüfungsunterlagen 7. Prüfungsbericht 8. Zeitliche Einordnung der Squeezeout-Prüfung in den Squeeze-outProzess 9. Vergütung 10. Verantwortlichkeit des Squeezeout-Prüfers
II. Gesetzliche Regelungen zum Minderheitenausschluss 1. Anwendungsbereich 2. Voraussetzungen für einen Squeeze-out (§ 327a AktG) 3. Barabfindung (§ 327b AktG) 4. Vorbereitung der Hauptversammlung (§ 327c AktG) 5. Durchführung der Hauptversammlung (§ 327d AktG) 6. Eintragung des Übertragungsbeschlusses (§ 327e AktG) 7. Gerichtliche Nachprüfung der Abfindung (§ 327f AktG) III. Der Prozess der Squeeze-out-Prüfung 1. Grundlagen 2. Auftragsannahme 3. Prüfungsrisiko 4. Prüfungsgegenstand
IV. Fazit
I. Einleitung Zum 1.1.2002 trat das Gesetz zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und Unternehmensübernahmen (WpÜG) in Kraft. Im Zusammenhang mit dem WpÜG erfolgte zeitgleich auch die Einführung einer Regelung zum „Ausschluss von Minderheitsaktionären“ im neu geschaffenen Vierten Teil des Dritten Buches des Aktiengesetzes1. Die in den §§ 327a–f AktG verankerten Vorschriften ermöglichen dem Hauptaktionär einer AG oder KGaA, dem mindestens 95 % des Grundkapitals der Gesellschaft gehören, die Aktien der Minderheitsaktionäre auf sich übertragen zu lassen. Den ausgeschlossenen Minderheitsaktionären ist dabei eine angemessene Barabfindung zu gewähren. Die Höhe der Barabfindung wird durch den Hauptaktionär festgelegt und muss durch einen sachverständigen Prüfer auf ihre Angemessenheit überprüft werden.
__________ 1
S. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 24.
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Kai-Uwe Marten und Stefan Müller
Mit den Regelungen wird dem Hauptaktionär in Deutschland erstmals die Möglichkeit eröffnet, in gesetzlich zulässiger Weise die vorhandenen Minderheitsaktionäre, auch gegen deren Willen, aus der Gesellschaft auszuschließen2. Mit dem neuen Rechtsinstitut zum Minderheitenausschluss, dem sog. „Squeeze-out“, reagiert der Gesetzgeber auf die Forderungen der Wirtschaft3 nach einer gesetzlichen Regelung zum Ausschluss von Minderheitsaktionären4. Wie die Erfahrungen der ersten beiden Jahre nach Einführung der Regelungen zum Squeeze-out zeigen, sind diese in der Praxis auf großes Interesse gestoßen. Allein im ersten Jahr nach der Einführung wurden 88 Squeeze-outs durchgeführt. Im Jahr 2003 waren es immerhin noch 455. In der Literatur sind die neuen Regelungen, wie die Vielzahl der veröffentlichten Aufsätze zeigt, ebenfalls auf großes Interesse gestoßen. Die Reaktionen zu den von der Wirtschaft und der Literatur bereits seit längerem geforderten Regelungen zum Minderheitenausschluss fielen dabei überwiegend positiv aus6. Die Diskussion im Schrifttum konzentrierte sich jedoch vorwiegend auf die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen, die Möglichkeiten des Missbrauchs und die Bestimmung der angemessenen Barabfindung sowie die Zulässigkeit von Anfechtungsklagen. Vernachlässigt wurde bislang eine Beurteilung der Squeeze-out-Prüfung aus der Sicht des Wirtschaftsprüfers7.
__________ 2
3
4 5 6
7
Vgl. Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 31. Hierzu auch Habersack, ZIP 2001, 1230; Bolte, DB 2001, 2587; Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121; Even/Vera, DStR 2002, 1315 (1320); Vetter, AG 2002, 176; Schiffer/Rossmeier, DB 2002, 1359; Gampenrieder, WPg. 2003, 481; Hasselbach in Hirte/Bülow, KölnKomm.WpÜG, 2003, § 327a AktG Rz. 1. Dazu Heidel/Lochner, DB 2001, 2031; DAV e.V., NZG 2001, 420 (430); Bolte, DB 2001, 2587; Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 2. S. Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 31. Entsprechend die Auskunft der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre e.V. Vgl. Halm, NZG 2000, 1162 (1165); DAV e.V., NZG 2001, 420 (430); Picot, BFuP 2002, 433 (444); Helmis/Kemper, DBW 2002, 512 (526); Vetter, AG 2002, 176 (190); Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (121 u. 161 f.); Wolf, ZIP 2002, 153; BDUBundesverband Deutscher Unternehmensberater e.V. (Hrsg.), Pressemitteilung vom 23.1.2002 (URL: http://www.bdu.de/scripts/fusebox/index.cfm?fa=presse. fShowDetails&id=126), S. 1; kritisch zu einzelnen Punkten der Regelungen: Vetter, DB 2001, 743 zum Erfordernis einer Hauptversammlungs-Zustimmung; zu Missbrauchsmöglichkeiten Bolte, DB 2001, 2587; Halasz/Kloster, DB 2002, 1253; Witthuhn/Giermann, MDR 2003, 372; Grunewald, ZIP 2002, 18 (21 f.); Krieger, BB 2002, 53 (61 ff.); für eine Beschränkung auf börsennotierte Unternehmen Habersack, ZIP 2001, 1230 (1233 f.); Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 327a Rz. 4; über praktische Gestaltungsprobleme Fuhrmann/Simon, WM 2002, 1211 (1212 ff.). Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen setzen sich Krieger, BB 2002, 53 (54); Wirth/Arnold, AG 2002, 503; Ehricke/Roth, DStR 2001, 1120; Fleischer, ZGR 2002, 757 (763 ff.) auseinander. Mit dem Anfechtungsausschluss beschäftigten sich u. a. Wilsing/Kruse, DB 2002, 1539; K. Schmidt in FS Ulmer, 2003, S. 543. Zur Squeeze-out-Prüfung einzig Eisolt, DStR 2002, 1145 und Ott, DB 2003, 1615.
964
Squeeze-out-Prüfung
Der nachfolgende Beitrag stellt kurz die wichtigsten Regelungen der §§ 327a–f AktG vor. Anschließend wird die Tätigkeit des Squeeze-out-Prüfers anhand von Erfahrungen aus der Praxis dargestellt. Dazu wurden insgesamt zehn durchgeführte Squeeze-outs auf Grundlage der erstellten Berichte näher untersucht (s. Tabelle 1)8. Hieraus ergeben sich Anregungen für die Praxis der Squeeze-out-Prüfung und neue Eindrücke für die weitere Diskussion im Schrifttum. Firma
HV
Hauptaktionär
Unternehmensbewerter
Squeeze-outPrüfer
FAG Kugelfischer 30.10.02 INA Vv-GmbH AG
Ernst&Young
BDO
Kamps AG
25.7.03
Finba Bakery AG
Susat&Partner
Fasselt&Partner
Microlog Logistics AG
3.6.03
Thiel Logistik A.G. Ernst&Young
PwC
Rütgers AG
26.5.03
RAG AG
Warth&Klein
Edscha AG
23.5.03
EdCar GmbH&Co. Ernst&Young KG
Warth&Klein
MAN Roland Druckm. AG
22.5.03
MAN AG
BDO
Ernst&Young
Duewag AG i.A.
18.3.03
Siemens AG
Siemens AG
Susat&Partner
NWS AG
15.4.03
EnBW
KPMG
Fasselt&Partner
Mg vv ag
21.11.03 mg technologies ag Warth&Klein
Deloitte&Touc he
HVB Real Estate Bank AG
26.5.03
Ernst&Young
DIA Vv-GmbH
PwC
BDO
Tabelle 1: Untersuchte Squeeze-outs
__________ 8
Die Untersuchung umfasst zehn durchgeführte Squeeze-outs der Jahre 2002 und 2003 (9 aus 2003 und 1 aus 2002). Untersucht wurden jeweils die Berichte des Hauptaktionärs, die Prüfungsberichte sowie in Einzelfällen die Ad-hoc-Mitteilungen, Einladungen zur Hauptversammlung sowie die Bankgarantien. Die zugrunde liegenden Unterlagen stammen in sechs Fällen von den Internetseiten der betroffenen Aktiengesellschaften. In weiteren 14 Fällen wurden Unterlagen direkt bei den IR-Abteilungen der vom Squeeze-out betroffenen Unternehmen angefordert, wobei in lediglich vier Fällen die gewünschten Unterlagen auch zugesandt wurden. Die Auswahl der Unternehmen erfolgte willkürlich auf der Grundlage einer Übersicht über bereits durchgeführte Squeeze-out-Verfahren der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre. Aufgrund der besseren Verfügbarkeit der benötigten Unterlagen bei größeren, bis zum Squeeze-out börsennotierten, Unternehmen sind diese in der Studie stärker vertreten.
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Kai-Uwe Marten und Stefan Müller
II. Gesetzliche Regelungen zum Minderheitenausschluss 1. Anwendungsbereich Das Verfahren zum Squeeze-out orientiert sich weitgehend an den Regelungen zur Mehrheitseingliederung nach §§ 320 ff. AktG9. Allerdings ist der Anwendungsbereich beim Squeeze-out weiter gefasst10. So sind die Regelungen sowohl für börsennotierte als auch für nicht börsennotierte Gesellschaften anwendbar11. Außerdem ist die Durchführung eines Squeeze-outs nicht auf Aktiengesellschaften mit Sitz im Inland beschränkt12. Der Gesetzgeber reagiert damit auf die Zunahme grenzüberschreitender Unternehmensverflechtungen und ermöglicht auch ausländischen Mehrheitsaktionären einer deutschen AG den Ausschluss der Minderheitsaktionäre13. Die Durchführung eines Squeeze-outs ist auch nicht, wie vereinzelt gefordert14 und in einigen anderen europäischen Ländern praktiziert15, von einem vorangegangenen Übernahmeangebot nach dem WpÜG abhängig16. Ferner sehen die Regelungen keine Einschränkungen bezüglich der Rechtsform des Hauptaktionärs vor17. Als Hauptaktionäre können neben Aktiengesellschaften damit auch Personengesellschaften, Stiftungen, BGB-Gesellschaften sowie private Einzelpersonen als Hauptaktionär einen Squeeze-out durchführen18. 2. Voraussetzungen für einen Squeeze-out (§ 327a AktG) Nach dem Wortlaut des § 327a Abs. 1 Satz 1 AktG kann die Hauptversammlung einer AG oder KGaA auf Verlangen19 des Hauptaktionärs die Übertra-
__________ 9 Ebenso Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (122) sowie Hasselbach in KölnKomm.
WpÜG, § 327a AktG Rz. 3. 10 Vgl. Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 32. 11 In der Literatur wurde dies teilweise kritisiert; s. Habersack, ZIP 2001, 1230 (1235). 12 Vgl. hierzu Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 32; Hüffer, AktG, § 327a
13 14 15
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Rz. 2 u. 7; Steinmeyer/Häger, WpÜG, 2002, § 327a AktG Rz. 16; Vetter, AG 2002, 176 (185). So Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (133); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 25. S. Habersack, ZIP 2001, 1230 (1235). Ein öffentliches Übernahmeangebot ist beispielsweise in Italien, Großbritannien und der Schweiz erforderlich; s. Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, 2002, § 327a AktG Rz. 18 ff.; Gesmann-Nuissl, WM 2002, 1205. So Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 32. Hierzu Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 32; Hüffer, AktG, § 327a Rz. 2. S. auch Ehricke/Roth, DStR 2001, 1120; Grunewald, ZIP 2002, 18 (19); GesmannNuissl, WM 2002, 1205 (1206); Hüffer, AktG, § 327a Rz. 7; Vetter, AG 2002, 176 (185); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 24. Verlangen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Hauptaktionär den Vorstand der Gesellschaft auffordern muss, einen Squeeze-out einzuleiten. Das Verlangen kann in beliebiger Form, also auch mündlich, erfolgen. Vgl. hierzu Hüffer, AktG, § 327a Rz. 3; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 44. Das ausgesprochene Verlangen des Hauptaktionärs verpflichtet den Vorstand zur Ein-
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Squeeze-out-Prüfung
gung der Aktien der Minderheitsaktionäre auf den Hauptaktionär beschließen. Voraussetzung dafür ist lediglich eine Beteiligung des Hauptaktionärs in Höhe von 95 % am Grundkapital der Gesellschaft. Dabei ist es unerheblich, auf welche Art und Weise der Hauptaktionär die Beteiligungshöhe erreicht hat20. Für die Berechnung der Beteiligung sind eigene Aktien der Gesellschaft vom Grundkapital abzuziehen (§ 327a Abs. 2 AktG i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG)21. Dem Hauptaktionär sind außerdem diejenigen Aktien zuzurechnen, die einem von ihm abhängigen Unternehmen gehören, sowie die Aktien, die von einem Dritten für Rechnung des Hauptaktionärs gehalten werden22. Der Hauptaktionär benötigt damit lediglich eine mittelbare Kontrolle über den Anteilsbesitz von 95 %23. 3. Barabfindung (§ 327b AktG) Für den Verlust der Aktionärsstellung der Minderheitsaktionäre schreibt das Gesetz nach § 327a Abs. 1 Satz 1 AktG als Entschädigung eine angemessene Barabfindung vor. Damit werden die Regelungen der §§ 327a–f AktG zu einem Instrument, mit dem der Hauptaktionär die Minderheitsaktionäre vollständig24 aus dem Unternehmen ausschließen kann25.
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leitung des Squeeze-out-Verfahrens und zur Einberufung der Hauptversammlung. S. Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (142). Vgl. dazu auch Baums, WM 2001, 1843; Fleischer, ZGR 2002, 757 (777); Grunewald, ZIP 2002, 18; Gesmann-Nuissl, WM 2002, 1205 (1207); Krieger, BB 2002, 53 (55); Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327a AktG Rz. 23; Vetter, AG 2002, 176 (185); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 58. Ausführlich Riegger, DB 2003, 541 (543); ebenso Halm, NZG 2000, 1162 (1164); DAV e.V., NZG 2001, 420 (431); Fleischer, ZGR 2002, 757 (775); Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327a AktG Rz. 43 f.; Grunewald, ZIP 2002, 18; Hüffer, AktG, § 327a Rz. 14; Krieger, BB 2002, 53 (54); Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327a AktG Rz. 30; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 35. Damit soll das aufwändige und wirtschaftlich aber unsinnige „Umhängen“ von Beteiligungen vermieden werden. So Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 72; hierzu auch DAV e.V., NZG 2001, 420 (431); Grunewald, ZIP 2002, 18; Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327a AktG Rz. 45 f.; Krause, NJW 2002, 705 (715); Krieger, BB 2002, 53 (54); Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327a AktG Rz. 25 u. 27; Vetter, AG 2002, 176 (185); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 36. Zur Frage, ob der „Hauptaktionär“ überhaupt unmittelbar Aktionär der AG sein muss, s. Fleischer, ZGR 2002, 757 (775); Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327a AktG Rz. 50; Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (134); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327a AktG Rz. 28. Bei den meisten bisher gängigen Maßnahmen zum Minderheitenausschluss wie beispielsweise bei der Eingliederung, der Verschmelzung sowie unter Einschränkung auch beim Formwechsel hatten die Aktionäre ein Wahlrecht zwischen einer Barabfindung und einer Abfindung in Aktien des Hauptaktionärs, so dass ein zwangsweiser Ausschluss der Aktionäre aus dem Konzernverbund nicht möglich war. Ebenso Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (144); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327b AktG Rz. 2.
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Kai-Uwe Marten und Stefan Müller
Gemäß § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG wird die Höhe der Barabfindung durch den Hauptaktionär festgelegt. In der Regel beauftragt der Hauptaktionär dafür einen unabhängigen, sachverständigen Dritten26. Die Abfindung ist dabei so zu bestimmen, dass sie die Verhältnisse der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Beschlussfassung auf der Hauptversammlung berücksichtigt (§ 327b Abs. 1 Satz 1 AktG). Die Minderheitsaktionäre sollen eine volle wirtschaftliche Entschädigung für den Verlust der Mitgliedschaft erhalten27. Zur Bestimmung der richtigen Abfindungshöhe ist stets eine Unternehmensbewertung durchzuführen. Nach dem Urteil des BVerfG vom 27.4.1999 darf die volle wirtschaftliche Kompensation nicht unter dem aktuellen Verkehrswert liegen28. Dieser ist bei börsennotierten Unternehmen nicht ohne Berücksichtigung des Börsenkurses zu bestimmen29. Allerdings stellt das BVerfG auch klar, dass die zwingende Berücksichtigung des Börsenkurses nicht bedeutet, dass dieser „stets allein maßgeblich sein muss“30. Während eine Überschreitung verfassungsrechtlich unbedenklich ist, kann der Börsenkurs auch unterschritten werden, wenn dieser ausnahmsweise nicht den Verkehrswert der Aktie widerspiegelt31. Dies ist nach Ansicht des BGH32 der Fall, wenn 1. über einen längeren Zeitraum praktisch kein Handel mit den Aktien der Gesellschaft stattfindet; 2. aufgrund einer Marktenge der einzelne Aktionär nicht in der Lage ist, seine Aktien zum Börsenkurs zu veräußern33, oder 3. der Börsenkurs manipuliert worden ist.
__________ 26 So Eisolt, DStR 2002, 1145 (1146); Picot, BFuP 2002, 433 (442); Fuhrmann/Simon,
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WM 2002, 1211 (1215); indirekt auch Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327b AktG Rz. 3. S. Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 72; Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327b AktG Rz. 12; Gesmann-Nuissl, WM 2002, 1205 (1207); Steinmeyer/ Häger, WpÜG, § 327b AktG Rz. 4; Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (147); Eisolt, DStR 2002, 1145 (1150); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327b AktG Rz. 16. S. BVerfG, DB 1999, 1693. Nach h. M. in der Literatur und in der Praxis ist diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den Squeeze-out übertragbar. So u. a. auch Hüffer, AktG, § 327b Rz. 5; Krieger, BB 2002, 53 (56); Grzimek in Geibel/ Süßmann, WpÜG, § 327b AktG Rz. 24 ff.; Halberkamp/Greve, FB 2002, 580 (584); Eisolt, DStR 2002, 1145 (1150); Wilts/Schaldt/Nottmeier, FB 2002, 621 (625); Vetter, AG 2002, 176 (188). Außerdem wird in der Gesetzbegründung explizit auf den Beschluss des BVerfG verwiesen. So Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 72. Vgl. BVerfG, DB 1999, 1693 (1695). Hierzu auch Bungert, BB 2001, 1163; Vetter, DB 2001, 1347; Ehricke/Roth, DStR 2001, 1120 (1122); Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327b AktG Rz. 24. BVerfG, DB 1999, 1693 (1696). S. BVerfG, DB 1999, 1693 (1696). Der BGH interpretiert mit seinem Beschluss vom 12.3.2001 die Entscheidung des BVerfG. S. BGH, DB 2001, 969 (971). Eine genaue Interpretation der Marktenge liefert § 5 Abs. 4 WpÜG-AngebotsVO. Hierzu auch Kremer/Oesterhaus in Hirte/Bülow (Hrsg.), KölnKomm.WpÜG, 2003, Anh. § 31 Rz. 17–24.
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Squeeze-out-Prüfung
Für die Bestimmung des maßgeblichen Börsenkurses ist gemäß dem Beschluss des BGH vom 12.3.2001 ein Referenzkurs zugrunde zu legen. Dieser ergibt sich aus dem Durchschnittskurs über einen Zeitraum von drei Monaten. Die dreimonatige Referenzperiode soll sich nach dem Willen des BGH bis zum Tag der Hauptversammlung als Bewertungsstichtag erstrecken34. Aufgrund deutlicher Kritik an der Wahl des Referenzzeitraums35 wird dagegen in der Praxis die Auffassung vertreten, dass in Anlehnung an § 5 WpÜGAngebots-VO als Referenzzeitraum die drei Monate vor der erstmaligen Bekanntgabe des Squeeze-outs heranzuziehen ist36, um so einen Börsenkurs zu ermitteln, der nicht durch eine Marktenge oder spekulatives Handeln der Marktteilnehmer auf das Bekanntwerden der Squeeze-out-Absicht verzerrt ist. 4. Vorbereitung der Hauptversammlung (§ 327c AktG) Wesentlicher Bestandteil der gesetzlichen Regelungen zum Squeeze-out ist die umfassende Information der Minderheitsaktionäre über das Vorliegen der Voraussetzungen des Squeeze-outs und die Angemessenheit der Barabfindung. So sind nach § 327c Abs. 3 AktG bereits ab dem Zeitpunkt der Einberufung der Hauptversammlung folgende Unterlagen (Entwurf des Übertragungsbeschlusses/Jahresabschlüsse und Lageberichte der letzten drei Geschäftsjahre/Bericht des Hauptaktionärs/Prüfungsbericht des sachverständigen Prüfers) den Aktionären in den Geschäftsräumen der Gesellschaft zur Einsicht auszulegen und dem Aktionär auf Verlangen zuzusenden (§ 327c Abs. 4 AktG)37. Nach § 327c Abs. 2 Satz 1 AktG ist der Hauptaktionär verpflichtet, der Hauptversammlung einen schriftlichen Bericht zu erstatten, in dem die Voraussetzungen für die Übertragung dargelegt und die Angemessenheit der von ihm festgelegten Barabfindung erläutert und begründet werden. Ziel des Berichts ist es, die Minderheitsaktionäre bereits im Vorfeld der Hauptversammlung umfassend über den bevorstehenden Squeeze-out zu informieren. Der Bericht sollte so aufgebaut sein, dass jeder Aktionär in die Lage versetzt wird, „die Berechnung des Schwellenwertes als wesentliche Voraussetzung
__________ 34 S. BGH, DB 2001, 969 (972). 35 Hierzu Bungert, BB 2001, 1163; Meilicke/Heidel, DB 2001, 973 (975); Vetter, DB
2001, 1347 (1348 ff.); Hüffer, AktG, § 305 Rz. 24e–24f; Krieger, BB 2002, 53 (56). 36 So die Ansicht einer namhaften großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und die im
Rahmen der Arbeit untersuchten Squeeze-out (s. Tabelle 1). Ebenso die Empfehlungen von Meilicke/Heidel, DB 2001, 973 (975); Krieger, BB 2002, 53 (56); Wilts/ Schaldt/Nottmeier, FB 2002, 621 (625); IDW S 1 2002, Rz. 16 und Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327b AktG Rz. 20. 37 Weiter führend Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 30–35.
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Kai-Uwe Marten und Stefan Müller
des Squeeze-outs und die der Feststellung der Barabfindung zugrunde liegenden Überlegungen nachvollziehen“38 zu können39. Die Regelungen des § 327c Abs. 2 Satz 2 AktG sehen ferner vor, dass die Angemessenheit der vom Hauptaktionär bestimmten Abfindungshöhe durch einen oder mehrere sachverständige Prüfer (im Folgenden Squeeze-out-Prüfer oder Angemessenheitsprüfer) zu prüfen ist. Über seine Arbeit hat der Squeeze-out-Prüfer einen Prüfungsbericht zu erstellen, der ebenfalls den Aktionären zur Information zur Verfügung zu stellen ist. (Eine genaue Analyse der Tätigkeit des Squeeze-out-Prüfers erfolgt in Abschn. III.) 5. Durchführung der Hauptversammlung (§ 327d AktG) Die in § 327c Abs. 3 AktG aufgeführten Unterlagen sind auch während der Hauptversammlung den Aktionären zur Einsicht offen zu legen. Die Minderheitsaktionäre sollen dadurch die Möglichkeit erhalten, sich noch während der Hauptversammlung über die wesentlichen Punkte des Squeeze-outs informieren zu können40. Weiterhin haben die Aktionäre auf der Hauptversammlung Anspruch auf Auskünfte, die zur sachgemäßen Beurteilung des Squeeze-out-Verfahrens erforderlich sind. Dies betrifft insbesondere alle bewertungsrelevanten Sachverhalte. Der Vorstand41 ist jedoch nicht verpflichtet sich zu dem Übertragungsbeschluss und zur Angemessenheit der Barabfindung zu äußern42. Allerdings kann der Vorstand nach § 327d Satz 2 AktG dem Hauptaktionär Gelegenheit geben, den Entwurf des Übertragungsbeschlusses und die Bemessung der Höhe der Barabfindung mündlich zu erläutern. Ein Auskunftsrecht der Aktionäre gegenüber dem Hauptaktionär sieht das Gesetz dagegen nicht vor43.
__________ 38 Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 73. Die genannten Vorgaben gelten so-
wohl für den Bericht des Hauptaktionärs als auch für den Prüfungsbericht. 39 Weiter führend zum Inhalt des Berichts s. Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG,
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42
43
§ 327c AktG Rz. 7 f.; Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 6 ff.; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 10 ff.; Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (153). So Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 73; Hüffer, AktG, § 327d Rz. 1; Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327d AktG Rz. 2. Das allgemeine Auskunftsrecht der Aktionäre richtet sich gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG gegen den Vorstand der Gesellschaft und nicht gegen den Hauptaktionär. Vgl. Krieger, BB 2002, 53 (59); Fuhrmann/Simon, WM 2002, 1211 (1216); Grunewald, ZIP 2002, 18 (19); Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327d AktG Rz. 5. Eine analoge Regelung zu § 293g AktG besteht beim Squeeze-out nicht. So Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327d AktG Rz. 4. Ebenso Fuhrmann/ Simon, WM 2002, 1211 (1217); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327d AktG Rz. 7 sowie Hüffer, AktG, § 327d Rz. 3 f., der für eine Änderung des Gesetzes plädiert und eine Erläuterungspflicht des Vorstandes fordert. Hierüber auch Gesmann-Nuissl, WM 2002, 1205 (1209); Grzimek in Geibel/ Süßmann, WpÜG, § 327d AktG Rz. 3; Krieger, BB 2002, 53 (60) sowie Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327d AktG Rz. 6.
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Squeeze-out-Prüfung
6. Eintragung des Übertragungsbeschlusses (§ 327e AktG) Der Beschluss der Hauptversammlung über die Übertragung der Aktien der Minderheitsaktionäre auf den Hauptaktionär erlangt nach § 327e Abs. 3 Satz 1 AktG erst durch die Eintragung ins Handelsregister seine Wirksamkeit. Mit der Eintragung des Übertragungsbeschlusses in das Handelsregister gehen nach § 327e Abs. 3 Satz 1 AktG sämtliche Aktien der Minderheitsaktionäre automatisch auf den Hauptaktionär über44. Die Eintragung hat somit konstitutive Wirkung45. An Stelle der Mitgliedschaft erhalten die Minderheitsaktionäre einen Anspruch auf Zahlung der Barabfindung46. 7. Gerichtliche Nachprüfung der Abfindung (§ 327f AktG) Die ausgeschlossenen Minderheitsaktionäre haben die Möglichkeit, Rechtsmittel gegen den Übertragungsbeschluss einzulegen. Analog zur Eingliederung und zu Unternehmensverträgen sowie Teilen des Umwandlungsrechts schließt § 327f AktG bestimmte Anfechtungsgründe aus und verweist auf das Spruchverfahren. So kann nach § 327f Satz 1 AktG die Anfechtung des Übertragungsbeschlusses nicht auf die in § 243 Abs. 2 AktG genannten Gründe gestützt werden. Ebenso werden Klagen bezüglich der Angemessenheit der Barabfindung in das Spruchverfahren verwiesen47. Im Unterschied zur Anfechtung bewirkt das Spruchverfahren keine Registersperre. Die Durchführung des Squeeze-outs wird durch das Spruchverfahren daher nicht behindert48. Durch den Anfechtungsausschluss zugunsten des Spruchverfahrens soll sichergestellt werden, dass die Durchführung des Ausschlusses nicht an bloßen Bewertungsstreitigkeiten scheitert49.
__________ 44 Aktien die dem Hauptaktionär zugerechnet werden, sind von der Übertragung nach
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48 49
§ 327e AktG nicht betroffen, da es sich bei diesen Aktieninhabern nicht um Minderheitsaktionäre im Sinne des § 327a AktG handelt. Hierzu Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327e AktG Rz. 27; Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327e AktG Rz. 26. S. Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 73. Vgl. Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 73; Gesmann-Nuissl, WM 2002, 1205 (1209). Ein Spruchverfahren wird auch dann eingeleitet werden, wenn die Barabfindung nicht ordnungsgemäß oder gar nicht angeboten und eine hierauf gestützte Anfechtungsklage nicht innerhalb der Anfechtungsfrist erhoben, zurückgenommen oder rechtskräftig abgewiesen wurde (§ 327f Satz 3 AktG). Vgl. Hüffer, AktG, § 327f Rz. 1. Ebenso GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 11; s. auch Hüffer, AktG, § 327f Rz. 1; Vetter, AG 2002, 176 (189); K. Schmidt (Fn. 6), S. 545.
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III. Der Prozess der Squeeze-out-Prüfung 1. Grundlagen Als ein wesentliches Element zur Information und zum Schutz der Interessen der Minderheitsaktionäre sehen die gesetzlichen Regelungen zum Squeeze-out, analog zu den Bestimmungen bei Abschluss von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen, Eingliederungen und Umwandlungen, eine Prüfung der Angemessenheit der angebotenen Barabfindung vor. Diese sog. Squeeze-out-Prüfung oder Angemessenheitsprüfung50 ist nach § 327c Abs. 2 Satz 2 AktG durch einen oder mehrere sachverständige Prüfer durchzuführen. Die Squeeze-out-Prüfung richtet sich weitestgehend nach den Regelungen über die Vertragsprüfung bei Unternehmensverträgen (§§ 293a–e AktG)51. Nach § 327c Abs. 2 Satz 4 i. V. m. § 293d Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 319 Abs. 1 HGB kommen für die Squeeze-out-Prüfung nur Wirtschaftsprüfer bzw. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Frage. Die Prüfung der Angemessenheit der Barabfindung durch einen unabhängigen Prüfer hat den Zweck, die Akzeptanz der Prüfungsergebnisse bei den Minderheitsaktionären zu erhöhen. Darüber hinaus soll auch die Anzahl der Spruchverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung verringert werden. Sollte es dennoch zu einem Spruchverfahren kommen, wird von einem erheblichen Beschleunigungseffekt auf das Spruchverfahren ausgegangen, da das Gericht den Squeeze-out-Prüfer als sachverständigen Zeugen anhören kann und das Einholen weiterer unabhängiger Sachverständigengutachten vermieden oder zumindest auf noch offene Punkte beschränkt werden kann52. 2. Auftragsannahme Der Squeeze-out-Prüfer wird auf Antrag des Hauptaktionärs durch das für die AG zuständige Landgericht53 ausgewählt und bestellt (§ 327c Abs. 2 Satz 3 AktG i. V. m. § 293c Abs. 1 Satz 3 AktG)54. Damit unterscheidet sich die Regelung deutlich von den Regelungen zur Eingliederung, Umwandlung
__________ 50 In der Literatur gibt es hierfür mehrere Begriffe, wobei die beiden genannten die
gebräuchlichsten sind. 51 So Ott, DB 2003, 1615. 52 S. hierzu BeschE GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7477, S. 54; Steinmeyer/Häger,
WpÜG, § 327c AktG Rz. 12; Gesmann-Nuissl, WM 2002, 1205 (1209); Krieger, BB 2002, 53 (59); Kann/Hirschmann, DStR 2003, 1488 (1492); Sellmann, WM 2003, 1545 (1549). 53 Zuständig ist die Kammer für Handelssachen des für die Gesellschaft, nicht des für den Hauptaktionär zuständigen Landgerichts (§ 293c Abs. 1 Satz 4 AktG); s. Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 19; Sieger/Hasselbach, ZGR 2002, 121 (154) sowie Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 13. 54 Der Regierungsentwurf sah noch vor, dass der sachverständige Prüfer nur durch den Hauptaktionär bestimmt wird. S. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 24.
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und zu Unternehmensverträgen, wo der Vorstand der zukünftigen Gesellschaft den Prüfer bestellen darf (§ 293c Abs. 1 Satz 1 AktG, sowie § 10 UmwG). Der Hauptaktionär hat jedoch die Möglichkeit, dem Gericht einen Squeeze-out-Prüfer vorzuschlagen. Allerdings ist das Gericht nicht an den Antrag gebunden, sondern entscheidet hierüber nach billigem Ermessen55. Im Allgemeinen kommen jedoch die Gerichte den Wünschen des Hauptaktionärs nach56, vorausgesetzt der Wirtschaftsprüfer ist bereit, den Auftrag anzunehmen. Der Prüfungsauftrag muss abgelehnt werden, wenn einer der Ausschlusstatbestände nach § 319 Abs. 2 HGB für Wirtschaftsprüfer bzw. nach § 319 Abs. 3 HGB für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften vorliegt (§ 327c Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 293d AktG). Diese generellen Bestellungsverbote sind beim Squeeze-out um den Fall zu ergänzen, dass der Squeeze-outPrüfer Anteile an dem Hauptaktionär besitzt, da die zu prüfende Höhe der Barabfindung unmittelbare Auswirkungen auf die Vermögenslage des Hauptaktionärs hat57. Überdies darf der Squeeze-out-Prüfer nicht über seine Prüfungstätigkeit hinaus an dem Squeeze-out mitarbeiten58. Insbesondere darf er nicht gleichzeitig als Bewertungsgutachter mit der Ermittlung des Unternehmenswertes und der Abfindungshöhe beauftragt sein59. Obwohl in der Literatur keine Einwände bestehen60, ist es in der Praxis nicht üblich, den Abschlussprüfer des Hauptaktionärs oder den Abschlussprüfer der Zielgesellschaft mit der Angemessenheitsprüfung zu beauftragen61. Ansonsten werden andersartige Tätigkeiten des Wirtschaftsprüfers im Auftrag der Zielgesellschaft, die nicht in Beziehung zu dem Squeeze-out stehen, wie z. B. Tätigkeit als Berater, Gutachter oder Prüfer bei Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags oder eines vorangegangenen Angebotes nach dem WpÜG62 nicht als Hinderungsgrund für eine Bestellung zum Squeeze-out-Prüfer angesehen63.
__________ 55 Dazu Eisolt, DStR 2002, 1145 (1147); Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG
Rz. 14. 56 Entsprechend der Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. In der
57
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Literatur wird dem Gericht empfohlen, die Vorschläge des Hauptaktionärs nur in begründeten Fällen abzulehnen; s. Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 14; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 19. So Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 17. Dagegen sieht Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 18 ein Bestellungsverbot bei einer Beteiligung des Prüfers am Hauptaktionär nicht als erforderlich an. S. Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 11. Vgl. Eisolt, DStR 2002, 1145 (1147). Hierzu Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 11, sowie Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 19. Entsprechend der Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. So beispielsweise beim Squeeze-out FAG Kugelfischer AG, 2002, Prüfungsbericht, S. 2. Vgl. Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 11; Hasselbach in KölnKomm. WpÜG, § 327c AktG Rz. 19.
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3. Prüfungsrisiko Das Prüfungsrisiko bei der Squeeze-out-Prüfung besteht darin, dass der Squeeze-out-Prüfer in der Schlusserklärung eine unangemessene Barabfindung als angemessen feststellt. Im Unterschied zur klassischen Abschlussprüfung, bei der das Prüfungsrisiko für die Festlegung des Prüfungsprogramms von großer Bedeutung ist64, hat das Prüfungsrisiko bei der Squeezeout-Prüfung keine direkten Auswirkungen auf den Prüfungsablauf65. Dies hängt damit zusammen, dass bei der Squeeze-out-Prüfung grundsätzlich eine nahezu vollständige Prüfung des Prüfungsgegenstandes durchgeführt wird. Das Prüfungsrisiko bei einer Squeeze-out-Prüfung ist zudem geringer einzustufen als bei einer Abschlussprüfung. Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Squeeze-outs die Ermittlung der angemessenen Barabfindung durch Wirtschaftsprüfer nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung durchgeführt wird. Das Risiko einer falschen Abfindungsermittlung wird weiterhin dadurch vermindert, dass mit dem zwingend zu berücksichtigenden Börsenkurs stets eine Kontrollmöglichkeit gegeben ist. Schließlich ist das Prüfungsrisiko bei der Squeeze-out-Prüfung auch deshalb als gering einzustufen, da der Hauptaktionär kein großes Interesse hat, eine nicht angemessene Abfindungshöhe festzulegen66. Dazu sind die kumulierten Abfindungsbeträge für die ausscheidenden Aktionäre in der Praxis meist zu gering67. Häufig wird von den Hauptaktionären sogar freiwillig noch eine Prämie auf die angemessene Abfindung gezahlt68. 4. Prüfungsgegenstand Gegenstand der Squeeze-out-Prüfung ist die Angemessenheit der vom Hauptaktionär festgelegten Barabfindung (§ 327c Abs. 2 Satz 4 i. V. m. § 293e Abs. 1 AktG)69. Nicht zu prüfen sind dagegen die Rechtmäßigkeit und die wirtschaft-
__________ 64 Hierzu Marten/Quick/Ruhnke, Wirtschaftsprüfung, 2. Aufl. 2003, S. 230 ff. 65 Entsprechend der Ansicht einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. 66 So die Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Zweifel an der An-
gemessenheit der angebotenen Barabfindungen äußert dagegen Drukarczyk in Göbel/Heni (Hrsg.), Unternehmensrechnung – Konzeptionen und praktische Umsetzung, 2004, S. 634 ff. 67 Vgl. hierzu die Studie von Rathausky, FB 2004, 107 (108). Bei insgesamt 114 untersuchten Squeeze-out-Verfahren lag die durchschnittliche Anzahl der Minderheitsaktionäre bei 1.589. Bei 59 % der Gesellschaften waren es sogar weniger als 500 Minderheitsaktionäre. 68 So zahlten die Hauptaktionäre bei sieben der zehn untersuchten Squeeze-outs ihren Aktionären eine Prämie auf den vom Bewertungsgutachter ermittelten Unternehmenswert bzw. Börsenkurs. 69 Ebenso Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 15; Eisolt, DStR 2002, 1145 (1147) sowie Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 21.
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liche Zweckmäßigkeit sowie die sonstigen Voraussetzungen des Minderheitenausschlusses70. Etwas differenzierter ist die Situation beim Bericht des Hauptaktionärs zu sehen. Der Bericht dient dem Squeeze-out-Prüfer als wichtige Datengrundlage, da er wesentliche Angaben über das Prüfungsobjekt enthält und die Ermittlung und die Angemessenheit der Barabfindung erläutert und begründet71. Insofern ist der Bericht mit den darin enthaltenen Sachverhalten bezüglich der Bewertung des Unternehmens und der Ermittlung der Abfindung zu prüfen72. Einen Prüfungsgegenstand im eigentlichen Sinne stellt er jedoch nicht dar73. So wird im Allgemeinen eine weiter gehende Prüfung auf Vollständigkeit und Richtigkeit des Berichts des Hauptaktionärs als nicht notwendig angesehen74. 5. Prüfungshandlungen a) Art und Umfang der Prüfung Aufgabe des Squeeze-out-Prüfers ist es, gemäß § 327c Abs. 2 Satz 2 AktG zu prüfen, ob die festgelegte Barabfindung unter Berücksichtigung der Verhältnisse der Gesellschaft angemessen ist. Dazu ist es jedoch nicht erforderlich, dass der Squeeze-out-Prüfer die für die Ermittlung der angemessenen Barabfindung notwendige Unternehmensbewertung selbst durchführt75. Die Angemessenheitsprüfung der festgelegten Barabfindung erfolgt in der Praxis vielmehr durch eine Überprüfung des Ergebnisses der Unternehmensbewer-
__________
70 S. Bolte, DB 2001, 2587 (2588 f.); Eisolt, DStR 2002, 1145 (1147); Grzimek in
71 72 73 74
75
Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 15; Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 11. Mehrheitlich die Ansicht in der Praxis, s. Squeeze-out Edscha AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 4; Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 5; Squeeze-out MAN Roland AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 5. Dennoch wird vereinzelt geprüft, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Squeeze-out, also 95 %iger Anteil des Hauptaktionärs am Grundkapital, Verlangen des Hauptaktionärs sowie Bankgarantie vorliegen, so Squeeze-out HVB Real Estate Bank AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 5 f. Vgl. hierzu Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 21; sowie Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 16. S. Prüfungsberichte zu den untersuchten Squeeze-outs. Vgl. Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 21. So Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 21. Unsicher dagegen Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 16. In den untersuchten Fällen wurde der Bericht des Hauptaktionärs als Informationsquelle genutzt und nur Sachverhalte geprüft, welche die Ermittlung der Barabfindung betrafen. In zwei Fällen wurde zusätzlich geprüft, ob die gesetzlich vorgegebenen Inhalte (§ 327c Abs. 2 AktG), wie die Darlegung der Voraussetzungen für die Übertragung und die Erläuterung und Begründung der Angemessenheit der Barabfindung, enthalten sind. S. Squeeze-out FAG Kugelfischer AG, 2002, Prüfungsbericht, S. 13; Squeeze-out mg vv AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 5. So Eisolt, DStR 2002, 1145 (1149), sowie Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 5.
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tung des Hauptaktionärs bzw. des von ihm beauftragten Gutachters, welche die Grundlage für die Ableitung der Barabfindung darstellt76. Dazu wird die der Barabfindung zugrunde liegende Bewertung hinsichtlich ihrer methodischen Konsistenz und der inhaltlichen Prämissen geprüft77. Als Erstes wird dabei untersucht, ob die angewandten Bewertungsmethoden den Grundsätzen zur Durchführung von Unternehmensbewertungen entsprechen78. Außerdem ist zu prüfen, inwiefern bei der Abfindungsermittlung der Börsenkurs des Unternehmens berücksichtigt wurde. Werden die verwendeten Bewertungsmethoden als angemessen eingestuft, sind im Anschluss die einzelnen Bewertungsschritte des Gutachters dahin gehend zu prüfen, ob die zugrunde gelegten Daten fachgerecht abgeleitet sind und die Zukunftseinschätzungen plausibel erscheinen79. Schließlich sind die rechnerische Richtigkeit der Unternehmensbewertung sowie die Ableitung der angemessenen Barabfindung zu überprüfen. Unterstützend werden vom Squeeze-out-Prüfer vielfach eigene Berechnungen und Untersuchungen durchgeführt. b) Prüfungshandlungen im Einzelnen aa) Angemessenheit der Bewertungsmethoden Als angemessene Bewertungsmethoden werden die Ertragswertmethode und das DCF-Verfahren entsprechend den Vorgaben des IDW S 1 angesehen. Voraussetzung ist jedoch, dass von einer Fortführung des Unternehmens ausgegangen werden kann. Deshalb ist bei der Squeeze-out-Prüfung zumindest überschlagsmäßig zu prüfen, ob der Fortführungswert höher als der Liquidationswert ist80. Weiterhin wird eine Unternehmensbewertung mit Hilfe des Barwerts der Ausgleichszahlungen aus einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag als angemessen eingestuft81. bb) Ertragswertmethode Die Bestimmung des Unternehmenswerts im Zuge der Abfindungswertermittlung erfolgt regelmäßig nach der Ertragswertmethode. Im Rahmen der Squeeze-out-Prüfung ist dabei zunächst die Ergebnisplanung der Detailplanungsphase zu untersuchen. Ausgangspunkt bilden die Budget- und Planungs-
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76 S. Eisolt, DStR (2002), 1145 (1149) sowie Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungs-
bericht, S. 4. 77 Vgl. Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 4; Squeeze-out Edscha AG,
2003, Prüfungsbericht, S. 4. 78 Entsprechend Squeeze-out FAG Kugelfischer AG, 2002, Prüfungsbericht, S. 4;
Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 5. 79 S. Squeeze-out FAG Kugelfischer AG, 2002, Prüfungsbericht, S. 4; Squeeze-out
Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 4; Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 5; Squeeze-out Edscha AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 4. 80 S. hierzu Squeeze-out Edscha AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 8. 81 Hierzu Squeeze-out MAN Roland AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 8.
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rechnungen der Gesellschaft. Mit Hilfe von Vergangenheitsdaten, der vom Bewertungsgutachter vorgenommenen Bereinigungen, zur Verfügung stehenden Marktdaten und Gesprächen mit den Planungsverantwortlichen ist zu prüfen, inwieweit die zu erwartende Geschäftsentwicklung in plausibler und begründbarer Weise abgebildet wird82. Hierzu werden in der Regel die Planzahlen auf Ebene der Geschäftsfelder betrachtet. Ein weiterer Prüfungspunkt betrifft die Annahmen bezüglich künftiger Abschreibungen, insbesondere der Firmenwertabschreibungen83. Ferner ist zu prüfen, ob die aufgrund der Vollausschüttungsprämisse erforderlichen Anpassungen des geplanten Zinsbzw. Finanzergebnisses und des Steueraufwands sachgemäß vorgenommen wurden84. In der Praxis werden diesbezüglich von dem Squeeze-out-Prüfer zum Teil eigene Berechnungen und Untersuchungen angestellt85. Da zur Abfindungsermittlung der objektivierte Unternehmenswert unter standalone-Prämissen zu ermitteln ist, sind die Ergebnisplanungen auch auf mögliche Synergieeffekte86 hin zu untersuchen. Anhand von Stichproben wird schließlich überprüft, inwiefern die Budget- und Planzahlen sowie die getroffenen bewertungstechnischen Annahmen rechnerisch und inhaltlich korrekt in das Bewertungsmodell des Bewertungsgutachters eingegangen sind87. Besonderes Augenmerk ist bei der Prüfung auf die Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes zu legen. Dabei wird die Wahl des Basiszinssatzes, der Marktrisikoprämie, des Beta-Faktors sowie die Bestimmung des Wachstumsabschlags auf ihre Angemessenheit hin überprüft. Vielfach werden vom Squeezeout-Prüfer hierzu zusätzlich eigene Berechnungen und Untersuchungen vorgenommen88. Anschließend ist zu prüfen, ob das Phasenschema richtig angewandt wurde. Insbesondere sollten dabei die Annahmen über das nachhaltig entziehbare Ergebnis auf deren Angemessenheit hin untersucht werden89. Mit Hilfe der Ertragswertmethode kann lediglich der Wert des betriebsnotwendigen Vermögens eines Unternehmens bestimmt werden. Im Rahmen
__________ 82 Vgl. u. a. Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 9, sowie die Auskunft
einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. 83 S. Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 17. 84 Hierzu Squeeze-out Microlog Logistics AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 11 f.; Squeeze-
out Edscha AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 12 f. 85 Vgl. Squeeze-out Kamps AG, 2003 Prüfungsbericht, S. 10. 86 Bei der objektivierten Unternehmensbewertung sind nur Überschüsse aus unech-
ten Synergieeffekten zu berücksichtigen, soweit hierfür bereits konkrete Maßnahmen eingeleitet wurden. 87 Vgl. Squeeze-out Neckarwerke Stuttgart AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 8; Squeezeout Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 9. 88 So ermittelte der Squeeze-out-Prüfer im Falle des Squeeze-out der Rütgers AG zur Plausibilisierung mit Hilfe von Vergleichsunternehmen selbst einen Beta-Faktor; vgl. Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 21. 89 S. Squeeze-out Edscha AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 13. Im Fall des Squeeze-out von Microlog ermittelte der Squeeze-out-Prüfer zusätzlich den Wert des Unternehmens anhand von Umsatz-, EBIT-, EBITDA-Multiplikatoren; vgl. Squeeze-out Microlog Logistics AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 15 ff.
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der Squeeze-out-Prüfung ist jedoch weiterhin auch die Ermittlung des Werts des nicht betriebsnotwendigen Vermögens und der Sonderwerte, insbesondere der steuerlichen Verlustvorträge, auf ihre Angemessenheit hin zu prüfen. cc) Barwert der Ausgleichszahlungen Wird der Wert des Unternehmens mit Hilfe des Barwerts der Ausgleichszahlungen aus einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag ermittelt, ist es Aufgabe des Squeeze-out-Prüfers zunächst zu prüfen, ob eine Fortführung des Vertrages sachgerecht ist. Falls von einer Weiterführung ausgegangen werden kann, sind die Bewertungsannahmen auf ihre Angemessenheit hin zu untersuchen und die rechnerische Ableitung des Unternehmenswertes zu prüfen90. Da die Ausgleichszahlungen vertraglich festgelegt sind, konzentriert sich die Prüfung auf die Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes. dd) Börsenkurs Da nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Abfindungsermittlung nicht ohne Berücksichtigung des Börsenkurses erfolgen darf91, muss vom Squeeze-out-Prüfer geprüft werden, ob der ermittelte durchschnittliche Börsenkurs für die Abfindungsermittlung angemessen ist. Zu untersuchen ist dabei zunächst, inwiefern die vom Bewertungsgutachter gewählte Referenzperiode sachgerecht ist. Hierbei sollte ein Zeitraum gewählt werden, in dem der Börsenkurs nicht durch eine Marktenge verzerrt ist92. In der Regel ermittelt der Squeeze-out-Prüfer zur Überprüfung selbst den angemessenen Durchschnittskurs für die gewählte Referenzperiode93. Da der Squeeze-out-Prüfer erst nach dem Bewertungsgutachter seine Arbeit beendet, hat er die Möglichkeit, zusätzlich den durchschnittlichen Börsenkurs für eine näher an der Hauptversammlung liegende Referenzperiode zu ermitteln94. Solange die Börsenkurse unterhalb des berechneten Unternehmenswerts je Aktie liegen, kann von einer weiteren Untersuchung abgesehen werden95. Liegen die durchschnittlichen Börsenkurse dagegen über dem Unternehmenswert oder der festgelegten Barabfindung, ist zu prüfen, ob der Börsenkurs den Verkehrs-
__________ 90 S. Squeeze-out MAN Roland AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 12 f. 91 Hierzu BVerfG, DB 1999, 1693 (1695). 92 So z. B. Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 6; Squeeze-out Edscha
AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 19 f. Vgl. auch Abschnitt II.3. 93 Zur Bestimmung des durchschnittlichen Börsenkurses werden eigene Berechnun-
gen angestellt oder eine entsprechende Auskunft bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, sog. BaFin-Kurs, eingeholt. Zum Teil auch beides, s. Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 13. 94 Vgl. beispielsweise Squeeze-out Neckarwerke Stuttgart AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 17; Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 16; Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht S. 21. 95 S. Squeeze-out Edscha AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 19 f.
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wert der Aktie richtig wiedergibt. Dazu ist vom Squeeze-out-Prüfer der Kursverlauf und das Handelsvolumen der Aktien der AG für die Referenzperiode auf das Vorliegen einer Marktenge hin zu untersuchen96. Liegt keine Marktenge vor, ermittelt der Squeeze-out-Prüfer, um sich dem Urteil des BGH97 weitestgehend anzunähern, den Dreimonatsdurchschnittskurs vor Beendigung der Prüfungstätigkeit98. ee) Ableitung der Barabfindung Zur Bestimmung der angemessenen Barabfindung wird abschließend der auf den Bewertungsstichtag aufgezinste Unternehmenswert je Aktie99 dem ermittelten Börsenkurs gegenübergestellt. Die vom Hauptaktionär festgelegte Barabfindung ist angemessen, sofern sie den höheren der beiden Werte nicht unterschreitet100. In der Praxis zeigt sich, dass der Hauptaktionär recht häufig von der, vom Squeeze-out-Prüfer als angemessen eingestuften, Abfindung abweicht und eine höhere Barabfindung festlegt101. 6. Auskunftsrecht und Prüfungsunterlagen Dem Squeeze-out-Prüfer stehen für die Durchführung der Angemessenheitsprüfung nach § 327c Abs. 2 Satz 4 i. V. m. § 293d Abs. 1 AktG i. V. m. § 320 Abs. 1 und 2 HGB umfangreiche Auskunftsrechte zu. Diese gelten sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegenüber dem Hauptaktionär102. Als wesentliche Datengrundlage für die Durchführung der Squeeze-out-Prüfung ist zunächst der Bericht des Hauptaktionärs sowie das Bewertungsgutachten und die dazugehörigen Arbeitspapiere des Gutachters103 einzuholen. Häufig kommt es bei den Bewertungsarbeiten und der Prüfung zu zeitlichen Überschneidungen104. In diesen Fällen wird der Squeeze-out-Prüfer bei wesent-
__________
96 Vgl. Squeeze-out FAG AG, 2002, Prüfungsbericht, S. 22; Squeeze-out Kamps AG,
2003, Prüfungsbericht, S. 20; Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 7. 97 So BGH, DB 2001, 969 (972). 98 S. Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Bericht des Hauptaktionärs, S. 64; Squeeze-out
99
100 101 102 103 104
Neckarwerke Stuttgart AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 17; Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht S. 21. Die Berechnung des Unternehmenswertes je Aktie muss vom Prüfer auf deren Korrektheit hin überprüft werden. S. u. a. Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 16. Hierzu BGH, DB 2001, 969 (971); BVerfG, DB 1999, 1693 (1696). Von den zehn untersuchten Squeeze-outs zahlten die Hauptaktionäre in sieben Fällen eine Prämie. Vgl. Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 16; Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 23. Für den Fall, dass der Hauptaktionär die Bewertung nicht selbst durchgeführt hat. S. auch Squeeze-out Neckarwerke Stuttgart AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 7, sowie Squeeze-out mg vv AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 1. Ebenso Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148).
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lichen Besprechungen und Diskussionen der Planungsrechnungen und der Bewertungsarbeiten anwesend sein, um sich selbst ein Bild über die angemessene Höhe der Barabfindung machen zu können105. Generell wird der Squeeze-out-Prüfer während der Prüfungstätigkeit in regelmäßigem Kontakt zum Bewertungsgutachter stehen106. Zumindest sollten dem Squeeze-outPrüfer jedoch der endgültige Übertragungsbericht des Hauptaktionärs und damit die endgültigen Ausführungen zur Bestimmung der Barabfindung im Prüfungsbericht vor Abschluss der Prüfungstätigkeit vorliegen107. Für die Prüfung der Abfindungsermittlung des Bewertungsgutachters sind vom Squeeze-out-Prüfer prinzipiell all diejenigen Unterlagen und Auskünfte einzuholen, die auch für eine Unternehmensbewertung notwendig wären108. Zur Plausibilisierung der Unternehmensbewertung lässt sich der Squeezeout-Prüfer die testierten Jahresabschlüsse der letzten drei Jahre sowie Budgetund Planungsrechnungen für die folgenden Jahre (für die AG und die wichtigsten Tochtergesellschaften) vorlegen. Zusätzlich erhält er in der Regel auch die Geschäftsberichte, Aufsichtsratsprotokolle, ungeprüfte Zwischenberichte und Prüfungsberichte des Abschlussprüfers109. Sofern zwischen der AG und dem Hauptaktionär, zeitnah zum Squeeze-out, ein Beherrschungsund Gewinnabführungsvertrag abgeschlossen wurde, ist auch der Prüfungsbericht zu diesem Vertrag einzusehen110. Zur genaueren Abschätzung der Unternehmensverhältnisse werden zusätzlich Auskünfte beim Vorstand, leitenden Mitarbeitern der AG und wesentlichen Tochterunternehmen sowie dem Abschlussprüfer der AG eingeholt. Darüber hinaus wird der Squeeze-out-Prüfer häufig auch Kontakt zu den vom Hauptaktionär beauftragten Anwälten aufnehmen111. Für die Bestimmung des durchschnittlichen Börsenkurses bekommt der Squeeze-out-Prüfer in der Regel eine entsprechende Auskunft bei der BaFin. Im Einzelfall können weitere Gutachten und Auskünfte (wie z. B. Bewertungsgutachten von Grundstücken und Gebäuden, Auskünfte von Versicherungsmathematikern zur Altersversorgung, Juristen zur Abschätzung von schwebenden Prozessen oder evtl. vertraglichen Risi-
__________ 105 So die Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, sowie Eisolt, DStR
106 107 108 109 110 111
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2002, 1145 (1148 f.). Vgl. auch Squeeze-out Neckarwerke Stuttgart AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 7. Nach dem Urteil des OLG Stuttgart vom 3.12.2003 stellt die zeitgleiche Ermittlung und Prüfung der angemessenen Barabfindung keinen Anfechtungsgrund dar. Eine Einwirkung des Prüfers zur frühzeitigen Fehlerkorrektur wird sogar ausdrücklich befürwortet; so OLG Stuttgart, DB 2004, 60 (62 f.). Ebenso Eisolt, DStR 2002, 1145 (1149). S. Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148 f.). Entsprechend der Ansicht einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Vgl. hierzu die untersuchten Prüfungsberichte, sowie Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148 f.). So Squeeze-out FAG Kugelfischer AG, 2002, Prüfungsbericht, S. 2. Diese werden in der Regel mit der Erstellung des Teils des Übertragungsberichts beauftragt, der sich mit den Voraussetzungen für die Übertragung beschäftigt. S. Eisolt, DStR 2002, 1145 (1149).
Squeeze-out-Prüfung
ken) zur Prüfung herangezogen werden112. Zu seiner Absicherung lässt sich der Squeeze-out-Prüfer vom Vorstand der AG eine Vollständigkeitserklärung vorlegen, in welcher die Vollständigkeit und Richtigkeit der erteilten Unterlagen und Auskünfte bestätigt werden. 7. Prüfungsbericht Gemäß § 327c Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 293e AktG ist der Squeeze-out-Prüfer verpflichtet, über seine Arbeit einen schriftlichen Prüfungsbericht zu erstellen113. Dieser ist, von den Prüfern unterzeichnet und mit Siegel versehen114, sowohl dem Hauptaktionär als auch dem Vorstand der Gesellschaft vorzulegen115. Zweck der Berichtspflicht ist es, das Vertrauen der Aktionäre in die Angemessenheit der Barabfindung zu stärken116. Nach den ersten Erfahrungen zeigt sich, dass der Bericht, der den Minderheitsaktionären nach § 327c Abs. 3 und 4 AktG offen zu legen ist (s. Abschnitt II.4), von diesen in der Regel auch kritisch zur Kenntnis genommen wird117. Die gesetzlichen Vorgaben zum Inhalt des Prüfungsberichts ergeben sich aus § 293e Abs. 1 Satz 3 AktG. Demnach ist im Prüfungsbericht anzugeben, 1. nach welchen Methoden die Barabfindung ermittelt wurde, 2. aus welchen Gründen die Anwendung dieser Methoden angemessen ist, 3. welche Barabfindung sich bei der Anwendung verschiedener Methoden, sofern mehrere angewandt worden sind, jeweils ergeben würde. Zugleich ist darzulegen, welches Gewicht den verschiedenen Methoden bei der Bestimmung der festgelegten Barabfindung und der ihnen zu Grunde liegenden Werte beigemessen worden ist und welche besonderen Schwierigkeiten bei der Bewertung des Unternehmens aufgetreten sind. Die genannten Vorschriften stellen jedoch nur Mindestangaben für den Bericht dar118. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG wird in der Literatur empfohlen, im Einzelfall noch zu begründen, weshalb der Börsenkurs für die Ermittlung der Barabfindung nicht herangezogen werden konnte119. Der Prüfungsbericht braucht jedoch Tatsachen nicht zu enthalten,
__________ 112 Hierzu die Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. 113 Die Erstellung eines Prüfungsberichts ist nicht erforderlich, wenn sämtliche Min-
114 115 116 117 118 119
derheitsaktionäre in öffentlich beglaubigter Form darauf verzichten (§ 293e Abs. 2 i. V. m. § 293a Abs. 3 AktG). Die Siegelführung folgt aus § 48 WPO. S. Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 30; Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 25. Vgl. Hüffer, AktG, § 293e Rz. 1 unter Hinweis auf § 293b Rz. 1. So Eisolt, DStR 2002, 1145 (1146). Ebenso Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148). Dazu Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 22. Falls die Abfindung anhand des Börsenkurses ermittelt wurde, erübrigt sich diese Erklärung.
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deren öffentliches Bekanntwerden geeignet ist, der Gesellschaft oder dem Hauptaktionär einen nicht unerheblichen Nachteil zuzufügen (§ 293e Abs. 2 i. V. m. § 293a Abs. 2 Satz 1 AktG)120. Zum Umfang des Berichts macht das Gesetz keine Angaben. Nach der im Schrifttum und in der Praxis vertretenen Ansicht sollte der Prüfungsbericht jedoch so aufgebaut sein, dass er dem sachkundigen Adressaten, ohne Einbeziehung weiterer Unterlagen, eine Plausibilitätskontrolle erlaubt121. In der Praxis hat sich für die Prüfungsberichte ein weitgehend einheitliches Schema herausgebildet, wonach der Bericht in fünf, teilweise auch sechs122, Abschnitte untergliedert wird123: A) Auftrag und Auftragsdurchführung; B) Art und Umfang der Prüfung gemäß § 327c AktG; C) Prüfung der Angemessenheit der Barabfindung; a) Beurteilung der Angemessenheit der angewandten Bewertungsmethoden b) Ermittlung des Unternehmenswerts124 D) Ableitung der angemessenen Barabfindung E) Abschließende Erklärung zur Angemessenheit der Barabfindung gemäß § 327c Abs. 2 Satz 2 AktG. Im ersten Abschnitt werden zunächst die Auftragsgrundlage und die Bestellung des Wirtschaftsprüfers zum Squeeze-out-Prüfer festgestellt. Ferner wird erläutert, in welchem Zeitraum und an welchem Ort die Prüfung durchgeführt wurde und welche Planungsunterlagen hierfür verwendet wurden. Insbesondere wird dabei auf das Vorliegen einer Vollständigkeitserklärung und die dem Auftrag zugrunde liegenden Allgemeinen Auftragsbedingungen für Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften hingewiesen. Ferner wird darauf verwiesen, dass wesentliche Änderungen, die sich nach Abschluss der Prüfungsarbeiten ergeben, bei der Bemessung der angemessenen
__________ 120 Relevant wird die Schutzklausel beim Prüfungsbericht nur bei über die Pflicht-
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angaben des § 293e AktG hinausgehenden Angaben. Hierzu Grzimek in Geibel/ Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 34 f.; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 26. S. Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148). So auch die Vorstellungen des Gesetzgebers, vgl. Begr. GesE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 73. Eventuell enthält der Bericht auch noch einen Gliederungspunkt „Rechtliche Verhältnisse“. Die dargestellte Mustergliederung ist eine Zusammenstellung der in der Praxis am häufigsten genannten Gliederungspunkte. Ähnliche Mustergliederungen finden sich auch bei Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148) sowie Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 24. Zum Teil auch „Prüfungsfeststellungen im Einzelnen“.
Squeeze-out-Prüfung
Barabfindung noch zu berücksichtigen sind. Im zweiten Abschnitt des Prüfungsberichts wird der Prüfungsgegenstand festgelegt. Dabei wird besonders die Behandlung des Berichts des Hauptaktionärs erläutert. Ferner wird ein Überblick über Art und Umfang der Prüfung nach § 327c AktG gegeben. Der dritte Abschnitt bildet den Schwerpunkt des Prüfungsberichtes. Er ist in der Regel in zwei Teile aufgegliedert. Dabei werden zunächst die zur Bewertung verwendeten Grundsätze und Methoden dargestellt und auf ihre Angemessenheit hin beurteilt. Der zweite Teil enthält die einzelnen Prüfungsfeststellungen. Darin wird im Einzelnen dargelegt, inwiefern die verwendeten Methoden angemessen angewandt wurden und welche Barabfindungen sich jeweils bei der Anwendung der verschiedenen Methoden ergeben haben. Im vierten Abschnitt wird dann der ermittelte Unternehmenswert je Aktie dem festgestellten Börsenkurs gegenübergestellt und mit der vom Hauptaktionär letztendlich festgelegten Barabfindung verglichen. Der Prüfungsbericht ist gemäß § 293e Abs. 1 Satz 2 AktG mit einer Schlusserklärung (Testat) abzuschließen, in welcher der Squeeze-out-Prüfer die Angemessenheit der festgelegten Barabfindung bestätigt. Diese kann wie folgt lauten: „Nach unseren Feststellungen ist aus den dargelegten Gründen die von dem Hauptaktionär [Name des Hauptaktionärs] festgelegte Barabfindung in Höhe von Euro … je Aktie der [Name der Zielgesellschaft] angemessen“125.
Verweigert der Squeeze-out-Prüfer aufgrund einer zu niedrig bemessenen Barabfindung die Bestätigung, hat dies auf die Durchführung des Squeezeouts keine unmittelbaren Auswirkungen126. Der Squeeze-out kann trotzdem durchgeführt werden. Die Übertragung der Aktien der Minderheitsaktionäre auf den Hauptaktionär ist dennoch wirksam. Allerdings provoziert eine Testatsverweigerung geradezu ein Spruchverfahren127. Da bislang noch keine Gerichtsentscheide vorliegen, kann eine mögliche Anfechtbarkeit des Übertragungsbeschlusses aufgrund einer Testatsverweigerung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Für die Praxis wird daher empfohlen, die unterschiedlichen Ansichten über die Abfindungshöhe zwischen Hauptaktionär und dem Squeeze-out-Prüfer im Rahmen der Auskunftserteilung auszuräumen128.
__________ 125 Vgl. Prüfungsberichte sowie Eisolt, DStR 2002, 1145 (1148). 126 Zu den Folgen einer Testatsverweigerung s. Ott, DB 2003, 1615 (1616 f.). 127 Ebenso die Meinung einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, sowie Ott, DB
2003, 1615 (1617). 128 So Ott, DB 2003, 1615 (1617) sowie Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungs-
gesellschaft. S. hierzu auch Squeeze-out Kamps AG, 2003, Prüfungsbericht, S. 21; Squeeze-out Rütgers AG, 2003, Bericht des Hauptaktionärs, S. 64.
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8. Zeitliche Einordnung der Squeeze-out-Prüfung in den Squeeze-out-Prozess Mit der Durchführung der Angemessenheitsprüfung sollte acht bis zehn Wochen vor der beschlussfassenden Hauptversammlung begonnen werden129, da der Prüfungsbericht bereits zum Zeitpunkt der Einberufung130 der Hauptversammlung fertig gestellt sein muss. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Bericht des Hauptaktionärs dem Prüfer noch während der Prüfungstätigkeit in seiner endgültigen Fassung vorliegen muss. Für die Prüfung und die Erstellung des Prüfungsberichts wird in der Praxis mit einem Zeitbedarf von drei bis vier Wochen kalkuliert131. Unmittelbar vor der Hauptversammlung lässt sich der Hauptaktionär u. U. vom Squeeze-out-Prüfer bestätigen, dass die Barabfindung nach wie vor angemessen ist. Der Squeeze-out-Prüfer wird sich daraufhin vom Bewertungsgutachter und vom Vorstand eine Erklärung geben lassen, dass in der Zwischenzeit keine Umstände eingetreten sind, die eine Änderung der angemessenen Barabfindung erforderlich machen132. 9. Vergütung Die Höhe der Vergütung und der Ersatz der Auslagen für die Tätigkeit des Squeeze-out-Prüfers werden vom Gericht nach § 293c Abs. 1 Satz 5 AktG i. V. m. § 318 Abs. 5 Satz 2 HGB festgesetzt. Nach vorwiegender Auffassung kann jedoch zwischen dem Hauptaktionär und dem Squeeze-out-Prüfer eine höhere Vergütung vertraglich vereinbart werden133. In der Praxis wird meist ein Zeithonorar auf Basis des geschätzten Zeitaufwands festgelegt134. Schuldner der Vergütung und Auslagenerstattung ist, unabhängig von der Festlegung, der Hauptaktionär135. Im Vergleich zur Erstellung eines Bewertungsgutachtens fällt die Vergütung für eine Squeeze-out-Prüfung geringer aus. Das Verhältnis der Honorare zwischen Squeeze-out-Prüfung und Bewertungsgutachten liegt bei ca. 30 % zu 70 %136. Dies ist vorwiegend durch einen, im Vergleich zum Bewertungsgutachten, geringeren Arbeitsaufwand bei der Squeeze-out-Prüfung begründet.
__________ 129 So auch Vossius, ZIP 2002, 511 (512), sowie Mitarbeiter einer großen Wirtschafts-
prüfungsgesellschaft. 130 Die Einberufung erfolgt ca. 5–6 Wochen vor der Hauptversammlung. S. Vetter,
DB 2001, 1347 (1350), sowie Bungert, BB 2001, 1163 (1165). 131 So die Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. 132 Vgl. Eisolt, DStR 2002, 1145 (1149). 133 S. Steinmeyer/Häger, WpÜG, § 327c AktG Rz. 15; Hasselbach in KölnKomm.
WpÜG, § 327c AktG Rz. 20, sowie Mitarbeiter einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Kritisch dagegen Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 21. 134 So die Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. 135 Ebenso Eisolt, DStR 2002, 1145 (1147); Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 21; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 20. 136 So die Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.
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Squeeze-out-Prüfung
10. Verantwortlichkeit des Squeeze-out-Prüfers Die Verantwortlichkeit des Squeeze-out-Prüfers ergibt sich nach § 327c Abs. 2 Satz 4 AktG i. V. m. § 293d Abs. 2 AktG i. V. m. § 323 HGB. Demnach sind die Prüfer zur gewissenhaften und unparteiischen Prüfung und zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 323 Abs. 1 Satz 1 HGB). Ferner ist ihnen untersagt, unbefugt Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse zu verwerten, die sie bei ihrer Tätigkeit erfahren haben (§ 323 Abs. 1 Satz 2 HGB). Bei einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Pflichtverletzung ist der Prüfer nach § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB für Fehler der Prüfung und hierdurch verschuldete Schäden der Gesellschaft gegenüber zum Ersatz des Schadens verpflichtet. Gemäß § 293d Abs. 2 Satz 2 AktG erstreckt sich die Verantwortlichkeit auf die Anteilsinhaber der vertragschließenden Unternehmen. Daraus ergibt sich beim Squeeze-out ein Schadensersatzanspruch der Minderheitsaktionäre für eine, aufgrund eines Bewertungsfehlers, zu gering bemessene Abfindung137. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass der Prüfer auch gegenüber dem Hauptaktionär und dessen Anteilseignern zum Schadensersatz verpflichtet ist, falls die Abfindung aufgrund eines schuldhaft verursachten Bewertungsfehlers zu hoch bemessen wurde138. Zu einem Haftungsfall kann es beispielsweise dann kommen, wenn der Prüfer vorsätzlich oder fahrlässig ein unrichtiges Testat erteilt, also eine unangemessen niedrige Barabfindung als angemessen bestätigt und der Hauptaktionär, aufgrund einer Insolvenz, nicht in der Lage ist, die Barabfindungsansprüche der Minderheitsaktionäre zu begleichen. In diesem Fall könnten sich die Minderheitsaktionäre einen im Spruchverfahren ermittelten Aufschlag, der von der Bankgarantie139 nicht gedeckt ist, vom Squeeze-outPrüfer ersetzen lassen140.
IV. Fazit Mit der gesetzlich vorgeschriebenen Squeeze-out-Prüfung sollen die Interessen der Minderheitsaktionäre geschützt und die Akzeptanz der angebotenen Barabfindung erhöht werden. Der Squeeze-out-Prüfer wird vom Gericht auf
__________ 137 So Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 25; Eisolt, DStR 2002,
1145 (1148); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 28 u. 29. 138 Entsprechend Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 29. Tendenziell
auch Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, § 327c AktG Rz. 26. 139 Die Bankgarantie richtet sich gemäß § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG lediglich nach der
im Übertragungsbeschluss festgelegten Höhe der Barabfindung. Eine spätere Erhöhung der Barabfindung im Spruchverfahren führt dagegen nicht zu einer Erhöhung der Bankgarantie. So auch Krieger, BB 2002, 53 (58); Fuhrmann/Simon, WM 2002, 1211 (1216); Hüffer, AktG, § 327b Rz. 10; Singhof/Weber, WM 2002, 1158 (1168); Vetter, AG 2002, 176 (189); Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327b AktG Rz. 31 f. 140 Vgl. hierzu Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, § 327c AktG Rz. 29.
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Antrag des Hauptaktionärs bestellt. Dem Gesetz nach kommen als Squeezeout-Prüfer nur Wirtschaftsprüfer in Frage. In den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sind die Squeeze-out-Prüfungen, wie auch Bewertungsgutachten, dem Bereich prüfungsnahe Dienstleistungen zugeordnet. Gegenstand der Prüfung ist die Angemessenheit der vom Hauptaktionär festgelegten Barabfindung. Zu prüfen ist dabei die Angemessenheit der verwendeten Methoden und das Ergebnis ihrer Anwendung. Über die Prüfung ist ein Prüfungsbericht zu erstellen, der eine Erklärung über die Angemessenheit der Barabfindung beinhalten muss. Während die zum 1.1.2002 eingeführten Regelungen zum Squeeze-out ein Novum im deutschen Recht darstellen, ist die Angemessenheitsprüfung der Barabfindung den Wirtschaftsprüfern bereits vertraut. So ist auch bei den gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen von Unternehmensverträgen, Eingliederungen, Umwandlungen und Verschmelzungen die Angemessenheit des angebotenen Ausgleichs durch einen Wirtschaftsprüfer zu prüfen. Im Unterschied dazu beschränkt sich die Squeeze-out-Prüfung jedoch auf die Prüfung der Angemessenheit der Barabfindung. Während in den letzten Jahren die Squeeze-out-Prüfungen gegenüber den anderen Abfindungsprüfungen zahlenmäßig deutlich überwogen, ist für die Zukunft allerdings wieder mit einem Rückgang der Anzahl der Squeeze-outs pro Jahr zu rechnen. Dies hängt damit zusammen, dass in der Zwischenzeit ein Großteil der Squeeze-out Kandidaten, also Aktiengesellschaften, bei denen ein Hauptaktionär einen Anteil von über 95 % des Grundkapitals hält, ihren Squeeze-out durchgeführt haben141 und neue Squeeze-out Kandidaten künftig dagegen nur als Folge von Übernahmeangeboten gemäß WpÜG mit hohen Annahmequoten entstehen142.
__________ 141 So die Auskunft einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. 142 S. Gampenrieder, WPg. 2003, 481 (484).
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Bewertungsspielräume bei Fusionen und fusionsähnlichen Strukturänderungen Inhaltsübersicht I. Offenheiten und Unsicherheiten in der Unternehmensbewertung
III. Die Vermögensübertragung nach §§ 179a AktG, 123 Abs. 3 UmwG
II. Der Beteiligungserwerb gegen Sacheinlagen
IV. Die Vollverschmelzung durch Aufnahme oder durch Neugründung V. Zusammenfassung der Ergebnisse
I. Offenheiten und Unsicherheiten in der Unternehmensbewertung Die Unternehmensbewertung ähnelt trotz aller Erkenntnisfortschritte immer noch einem Buch mit sieben Siegeln und erinnert an das berühmte Hexen-Einmaleins aus dem Faust. „Du mußt verstehn! Aus Eins mach Zehn, und Zwei laß gehn, und Drei mach gleich, so bist du reich. Verlier die Vier! Aus Fünf und Sechs, so sagt die Hex’, mach Sieben und Acht, so ist’s vollbracht: Und Neun ist Eins, und Zehn ist keins. Das ist das HexenEinmaleins1.“ Man kann dieses Dilemma natürlich auch profaner beschreiben: mit Hinweisen auf die Dauer der vormaligen Spruchstellenverfahren und heutigen Spruchverfahren2, mit Hinweisen auf die bewertungsrechtlichen Weichstellen wie z. B. die Wurzeltheorie3, mit der nach Art eines be-
__________ Goethe, Faust, Der Tragödie Erster Teil, Hexenküche, 2540–2552. Dazu vor allem kritisch BVerfG, NJW 1999, 2582. Ob sich an diesem Zustand der Überlänge durch das neue SpruchverfahrensG etwas ändern wird (zu dessen Zielen Neye in FS Wiedemann, 2002, S. 1127 f.), kann man durchaus skeptisch beurteilen. Leider ist der Vorschlag einer Eingangszuständigkeit des OLG (DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2002, 119 [120]) nicht aufgegriffen worden; deshalb zu Recht kritisch Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 305 Anh. § 1 SpruchG Rz. 4. 3 Zur Wurzeltheorie aus der Rechtsprechung BGHZ 138, 136 (139 f.) (ASEA/BBC II); BGH, NJW 1973, 509 (511); WM 1981, 452; WM 1990, 2073; WM 1998, 867 (869); WM 1998, 1643; WM 1998, 2530 (2532); OLG Düsseldorf, AG 1977, 168 (170); WM 1984, 732 (734); WM 1988, 1052 (1055); ZIP 1990, 1333 (1341); AG 1999, 89 (91); OLG Celle, AG 1979, 230 (231); AG 1981, 234; DB 1998, 2006 (2007); OLG Hamm, WM 1992, 946; OLG Karlsruhe, AG 1998, 288 (289); OLG Zweibrücken, AG 1995, 421; LG Dortmund, AG 1996, 278 (279); LG Frankfurt, AG 1996, 187 (189). Aus der Literatur: Großfeld, Unternehmens- und Anteilsbewertung im Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 1994, S. 28 f.; Piltz, Die Unternehmensbewertung in der Rechtsprechung, 3. Aufl. 1994, S. 114 ff.; Hüffer, AktG, § 305 Rz. 23 m. w. N.; Seetzen, WM 1994, 45 (46); ders., WM 1999, 565 (569 f.). 1 2
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wertungsrechtlichen § 242 BGB das Stichtagsprinzip4 demontiert wird, mit Hinweisen auf die unbewältigte Problematik der Bewertung von Synergien und steuerlichen Verlustvorträgen5. Das nach wie vor größte Einfallstor stellt freilich die Planungshoheit der Führungsorgane der zu bewertenden Unternehmen dar. Deren Planzahlen unterliegen bekanntlich nur einer sehr eingeschränkten Vertretbarkeits- oder Plausibilitätskontrolle6, so dass die abfindungsberechtigten Gesellschafter oftmals vor einem Bollwerk stehen, das für sie unüberwindbar ist. Der aufmerksame Beobachter eines Verschmelzungsverfahrens gewinnt nicht selten den Eindruck, dass die Verschmelzungsprüfer entgegen ihrer eigenständigen Prüfungspflicht lediglich die Aufgabe erfüllen, die von den Führungsorganen der beteiligten Unternehmen vereinbarte Umtauschrelation durch entsprechende Rechenkünste zu belegen. Es ist jedenfalls immer wieder erstaunlich, mit welcher Treffsicherheit die Vorstände diese Umtauschrelation im Frühstadium des Verschmelzungsverfahrens antizipieren, die dann Monate später von den Verschmelzungsprüfern bestätigt wird. Besonderes Vertrauen wird durch dieses Rollenverständnis auf dem Kapitalmarkt sicherlich nicht erweckt. Angesichts dieser Komplikationen und des in mancher oder vielerlei Hinsicht enttäuschten Vertrauens in die Solidität der Wirtschafts- und auch der Verschmelzungsprüfer hatte man besondere Hoffnung in die DAT/ALTANAEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts gesetzt7. In dieser Entscheidung ist erstmalig entgegen der bis dahin herrschenden Doktrin8 der Börsenkurs als relevanter Faktor der Unternehmensbewertung anerkannt worden. Es sei mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar, bei der Bestimmung der Abfindung oder des Ausgleichs für außenstehende oder ausgeschiedene Aktionäre nach §§ 304, 305, 320 b AktG den Börsenkurs der Aktien außer Betracht zu lassen. Diese Hoffnungen haben sich bisher nicht erfüllt, und ob sie sich jemals erfüllen werden, ist nach meinem Eindruck durchaus offen. Wenn nämlich der Börsenkurs nur den Mindestwert jeglicher Abfindung ausmacht, also
__________ 4 5
6 7 8
Zum Stichtagsprinzip näher Großfeld (Fn. 3), S. 28 ff.; Piltz (Fn. 3), S. 113 ff.; Seetzen, WM 1994, 45 (46); ders., WM 1999, 565 (569 ff.). Dazu zuletzt Weiland, Synergieeffekte bei der Abfindung außenstehender Gesellschafter, 2003, S. 137 ff. zur Berücksichtigung von Synergieeffekten und S. 284 ff. zur bewertungsrechtlichen Problematik der steuerrechtlichen Verlustvorträge. Dazu im Einzelnen Gude, Strukturänderungen und Unternehmensbewertung zum Börsenkurs, 2004, S. 212 ff. BVerfGE 100, 289 ff. = ZIP 1999, 1436 = AG 1999, 566; in derselben Sache vgl. auch BGHZ 147, 108 ff. = ZIP 2001, 734 = AG 2001, 417. Dazu sei nur verwiesen auf BGH, AG 1967, 264; BayObLG, AG 1995, 509; OLG Celle, AG 1999, 128; OLG Düsseldorf, AG 1995, 85; LG Dortmund, AG 1982, 257; LG Frankfurt, AG 1985, 310 sowie auf die Literatur: Geßler in Geßler/ Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1976, § 305 Rz. 34; Koppensteiner in KölnerKomm. AktG, 2. Aufl. 1987, § 305 Rz. 37; Hüffer, AktG, 4. Aufl. 1999, § 305 Rz. 20b; Großfeld (Fn. 3), S. 134; weiterhin kritisch Henze in FS Lutter, 2000, S. 1101.
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durch einen höheren Ertragswert übertroffen werden kann9, wird die Unternehmensbewertung durch die Börsenkursbetrachtung nicht erleichtert, sondern allenfalls erschwert; denn es muss jeweils noch der Ertragswert festgestellt werden, um der bewertungsrechtlichen Meistbegünstigung der Aktionäre abhängiger Gesellschaften zu entsprechen. Vor allem stellt sich die bisher noch ungeklärte Frage, ob Börsenwert und Ertragswert voraussetzungslos zu beachten sind oder ob die abfindungsberechtigten Aktionäre nur dann auf den Ertragswert ausweichen können, wenn sie wesentliche Tatsachen und Gründe für die Höherwertigkeit des Ertragswerts gegenüber dem Börsenkurs dargelegt haben10. Ebenso ungeklärt sind die Fragen nach der bewertungsrechtlichen Behandlung der aufnehmenden Gesellschaft, darin inbegriffen die Frage nach der Anwendbarkeit dieser Grundsätze über die Unternehmensbewertung nach dem Börsenkurs im Verschmelzungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht und nachfolgend der Bundesgerichtshof haben sich bisher nur mit Fällen des Beherrschungs- bzw. Gewinnabführungsvertrags und der Eingliederung beschäftigt. In der Literatur wird diese Frage kontrovers beantwortet11. Nach meinem Eindruck ist eine solche Gleichbehandlung in Fällen konzernbedingter Verschmelzung zwingend geboten. Das gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil auch die Aktionäre der aufnehmenden bzw. herrschenden Gesellschaft Grundrechtsschutz genießen und sich deshalb ebenso auf Art. 14 GG berufen können wie die Aktionäre der übertragenden bzw. abhängigen oder eingegliederten Gesellschaft – eine Frage, die wiederum kontrovers beurteilt wird12. Folgt man dieser in diesem Zusammenhang nicht näher begründeten Ansicht13, dann liegt es nahe, die Verschmelzungswertrelation nicht nach dem allgemein anerkannten Grundsatz der Methodengleichheit – Börsenkurs : Börsenkurs, Ertragswert : Ertragswert –, sondern nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung – für die jeweilige Aktionärsgruppie-
__________ 9 So die wohl überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur: BGHZ 147,
10
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12
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108 (115); OLG Düsseldorf, AG 2000, 422 (423); AG 2003, 329 (332); OLG Frankfurt, AG 2002, 404 (405); AG 2003, 581 (582); Hüffer, AktG, § 305 Rz. 24c; Bilda in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 305 Rz. 67; ders., NZG 2000, 296 (297); Hüttemann, ZGR 2001, 454 (458). Dazu ist auf die Rügelast nach § 4 Abs. 2 Nr. 4 SpruchG hinzuweisen. Wird die Höherwertigkeit des Ertragswerts geltend gemacht, so bedarf es dazu „konkreter Einwendungen gegen den als Grundlage für die Kompensation ermittelten Unternehmenswert“. Für die Börsenkursbetrachtung auch in Fällen der konzernfreien Verschmelzung Erb, DB 2001, 523; Piltz, ZGR 2001, 185 (205 ff.); Vetter, AG 1999, 572; Weiler/ Meyer, NZG 2003, 669 ff.; gegen die Börsenkursbetrachtung Hüffer, AktG, § 305 Rz. 24j; Bungert, BB 2003, 699; Bungert/Eckert, BB 2000, 1845; Hüttemann, ZGR 2001, 454 (465); Riegger, DB 1999, 1889 (1890). Für derartigen Grundrechtsschutz auch der Aktionäre der aufnehmenden Gesellschaft Riegger, DB 1999, 1889 (1890 f.); Bungert/Eckert, BB 2000, 1845 (1847); Bungert, BB 2001, 1163 f.; Wilm, NZG 2000, 234 (235); a. A. OLG Düsseldorf, AG 2003, 329 (334); Gude (Fn. 6), S. 159 ff. Martens, AG 2003, 593 ff.
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rung zählt immer der höhere Unternehmenswert – festzustellen. Von dieser Konzeption ist der Bundesgerichtshof noch weit entfernt. In der DAT/ ALTANA-Entscheidung wird der unzutreffende Eindruck erweckt, dass für die Hauptgesellschaft grundsätzlich nur der Börsenkurs und nicht etwa ein höherer Ertragswert zugrunde zu legen sei14. Auch wenn man dieses Entscheidungsverständnis nicht teilt, wird man schwerlich behaupten können, dass die DAT/ALTANA-Entscheidung besonders rühmlich ist und Wesentliches zur Unternehmensbewertung beigetragen hat15. Die soeben nur skizzierte Rechtslage lässt erkennen, dass noch viele Fragen offen sind und vermutlich viele Fragen auch zukünftig nur sehr unbestimmt beantwortet werden können. Die Unternehmensbewertung ist von größter Komplexität, die nur um ein Geringes oder gar nicht reduziert werden kann. Die Gerechtigkeit der Unternehmensbewertung ist nichts anderes als die Gerechtigkeit der Preisfindung. In einer Wettbewerbswirtschaft ist aber der Preis ein Produkt von Angebot und Nachfrage, also Preisgerechtigkeit durch Verfahren. In der bisherigen Diskussion zur Unternehmensbewertung ist dieser Gerechtigkeitsaspekt16 nahezu gänzlich vernachlässigt worden – eine erstaunliche Unterlassung, wird doch im Übrigen völlig zu Recht die Freiheit der Preisbemessung als ein grundlegendes Axiom unserer freiheitlichen Wettbewerbswirtschaft beschworen. Und dieses Axiom soll in Fällen der Verschmelzung oder des Beteiligungserwerbs nicht gelten? An die Stelle der Marktentscheidung soll die Entscheidung des Richters treten? Die Rhetorik dieser Fragestellungen lässt schon erkennen, dass diese Konzeption richterlicher Bewertungskontrolle grundsätzlich deplatziert ist und allenfalls dann in Betracht kommt, wenn die Marktgerechtigkeit versagt. Ein derartiges Versagen ist sicherlich immer dann angezeigt, wenn die Preise nicht mehr ausgehandelt, sondern diktiert werden. Diesem Preisdiktat muss dann selbstverständlich als Ultima Ratio auch eine Preiskontrolle entsprechen. Legt man also eine derartige Marktbetrachtung zugrunde, folgt daraus zwangsläufig, dass auch das Recht der Unternehmensbewertung doppelspurig angelegt sein muss: Sofern die Fusion oder die fusionsähnliche Strukturänderung zwischen Unternehmen vereinbart wird, die nach ihrer Aktionärs- oder Gesellschafterstruktur weitestgehend unabhängig voneinander sind und zwischen denen auch keine sonstigen z. B. wirtschaftliche Abhängigkeiten bestehen, die die autonome Willensbildung spürbar beeinflussen könnten, besteht eine weitreichende Vermutung der Richtigkeit der vereinbarten Verschmelzungswertrelation oder anderer Erwerbskonditionen, die
__________
14 BGHZ 147, 108 ff. (122) = ZIP 2001, 734 (738) = AG 2001, 417 (420); dazu kritisch
Hüffer, AktG, § 305 Rz. 24h und Martens, AG 2003, 593 (594 ff.). 15 Eine vorsichtig formulierte Distanz lässt die Stellungnahme von Röhricht in VGR,
Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2001, 2002, Diskussionsbericht S. 40 erkennen. 16 Dazu näher und eindringlich Gude (Fn. 6), S. 349 ff.; ähnlich Decher in FS Wiedemann (Fn. 2), S. 787 ff.
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nur unter den wohl allenfalls theoretisch relevanten Grenzen der Missbrauchsvereinbarung entkräftet werden kann. Besteht hingegen zwischen den beteiligten Unternehmen eine Abhängigkeit, insbesondere eine Konzernabhängigkeit, dann kommt eine solche Vermutung der Preisgerechtigkeit offensichtlich nicht in Betracht, und an ihre Stelle tritt die Vermutung der Wahrnehmung einseitiger Preisinteressen mit der Folge, dass eine strikte Preis- oder Bewertungskontrolle erforderlich ist. Beispiele freier und unabhängiger Fusionen sind die Verschmelzungen von Thyssen und Krupp sowie von VIAG und VEBA. Nach dieser Konzeption ist also in grundsätzlicher Hinsicht zu unterscheiden zwischen Fusionen und fusionsähnlichen Strukturänderungen, die frei und unabhängig vereinbart werden und deshalb auch weitestgehend disponibel sind, und Fusionen und fusionsähnlichen Strukturänderungen, die einseitig dirigiert und hinsichtlich der Preisrelationen diktiert werden und deshalb einer strikten Preiskontrolle in Form externer Unternehmensbewertung unterliegen17. Diese Konzeption soll im Folgenden hinsichtlich der Bewertungsfreiheit an drei Konstellationen demonstriert werden: dem Beteiligungserwerb gegen Sacheinlagen, der Vermögensübertragung mit späterer Verschmelzung sowie dem Testfall par excellence in Form der Vollverschmelzung, sei es durch Aufnahme oder durch Neugründung. Die Probleme der konzerverbundenen Fusion und fusionsähnlichen Strukturänderungen sind nicht Gegenstand dieser Ausführungen. Nur so viel sei angemerkt, dass die strikte Bewertungskontrolle entweder nach dem UmwG oder dem AktG in Form des Spruchverfahrens sowie vor allem nach § 243 Abs. 2 AktG zu praktizieren ist. Dabei ist besondere Aufmerksamkeit auf die Mehrheitskontrolle nach § 243 Abs. 2 AktG zu richten. Die leichtfertigen Ausführungen des OLG Stuttgart in der MotoMeter-Entscheidung sollten mahnen, den berechtigten Minderheitenschutz nicht zu bagatellisieren18.
II. Der Beteiligungserwerb gegen Sacheinlagen Sedes materiae für den Beteiligungserwerb gegen Sacheinlage ist die Vorschrift des § 255 Abs. 2 AktG. Dabei ist es unerheblich, ob neue oder eigene Aktien verwendet werden; denn auch § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG verweist auf die Regelung über den Ausschluss des Bezugsrechts und damit inzidenter auch auf § 255 AktG. Allerdings findet § 255 Abs. 2 AktG nach seinem Wortlaut nur auf die Barkapitalerhöhung Anwendung19. Es ist aber wohl unbestritten, u. a. auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes anerkannt20, dass diese Vorschrift auf die Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen
__________ 17 18 19 20
So schon Martens in FS Peltzer, 2001, S. 279 (298 f.). OLG Stuttgart, ZIP 1995, 1515 = AG 1994, 411; dazu näher unten zu Fn. 44. Hüffer, AktG, § 255 Rz. 6; ders. in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2001, § 255 Rz. 9. BGHZ 71, 40, 50 ff.
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analog anwendbar ist21. Der Grund dieser analogen Anwendung folgt aus dem Sinn und Zweck des § 255 Abs. 2 AktG. Die Vorschrift bezweckt den Schutz der Altaktionäre vor einer Beeinträchtigung ihrer Vermögensinteressen (Verwässerungsschutz). Wird das Aktienkapital zu einem inäquivalenten, weil zu niedrig bemessenen Ausgabebetrag begeben, erwirbt der Zeichner einen ungerechtfertigten Vermögensvorteil, der sich zu Lasten der vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Altaktionäre auswirkt. Dieser Verwässerungsschutz ist in Fällen der Sachkapitalerhöhung ebenso geboten wie in den von § 255 Abs. 2 AktG ausdrücklich erfassten Fällen der Barkapitalerhöhung. Allerdings verursacht diese analoge Anwendung erhebliche Bewertungsprobleme. Im Rahmen der Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen ist nur auf die Bewertung der auszugebenden Aktien abzustellen. Da die Gegenleistung, also die Bareinlage, aus Geldmitteln besteht, bedarf es keiner weiter gehenden Bewertung. Anders ist hingegen in Fällen der Sachkapitalerhöhung zu verfahren. Sofern der Wert der Sacheinlage unbestimmt ist, weil dafür kein allgemein anerkannter Marktpreis besteht, bedarf die Sacheinlage eines besonderen Bewertungsverfahrens, um die Äquivalenz des ausgegebenen Aktienkapitals und der einzubringenden Sacheinlage feststellen zu können22. Mithin ist im Rahmen einer analogen Anwendung des § 255 Abs. 2 AktG ein doppeltes Bewertungsverfahren erforderlich. Zum einen muss der Wert des Aktienkapitals ermittelt werden; zum anderen muss aber auch der Wert der Sacheinlage festgestellt werden. Nur wenn diese beiden Werte übereinstimmen, ist der von der Vorschrift bezweckte Vermögensschutz der Altaktionäre gewährleistet. Daraus wird ersichtlich, dass die analoge Anwendung § 255 Abs. 2 AktG in ihren praktischen Auswirkungen nicht unerhebliche Komplikationen verursacht. Diese Komplikationen kommen auch in der Generalklausel zum Ausdruck, mit der Literatur und Rechtsprechung die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit der Wertrelation von Aktien und Sacheinlage umschreiben. Danach könne das Angemessenheitsurteil nur unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falls abgegeben werden. Das gelte namentlich bei Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen. Neben den Fragen der Unternehmensbewertung spiele vor allem eine Rolle, wieweit das Interesse des neuen Aktionärs am Erwerb der Mitgliedschaft und die Bedeutung des neuen Aktionärs oder seiner Einlage für die AG bei der Beurteilung zu berücksichtigen seien23. Oder anders, aber inhaltsgleich formuliert: Die Feststellung, wann ein unangemessen niedriger Betrag vorliege, sei in erster Linie eine Frage des Einzelfalls. Die Gestaltung des Emissionskurses junger Aktien unterliege
__________ 21 Hüffer, AktG, § 255 Rz. 7; ders. in MünchKomm.AktG, § 255 Rz. 10; K. Schmidt
in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, § 255 Rz. 5; Zöllner in KölnerKomm.AktG, § 255 Rz. 7; Martens in FS Bezzenberger, 2000, S. 267 (268 f.). 22 Dazu BGHZ 70, 40 (51 f.). 23 So die Formulierung bei Hüffer, AktG, § 255 Rz. 5.
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vielfältigen Einflüssen. Im Wesentlichen streiten dabei das Interesse der Gesellschaft an einer Beteiligung des neuen Aktionärs mit dem Interesse an einem möglichst hohen Ausgabekurs der jungen Aktien24. Diese auf die Verhältnisse einer Barkapitalerhöhung gemünzten Ausführungen gewinnen noch erheblich an Unbestimmtheit, wenn man sie auf die Verhältnisse einer Sachkapitalerhöhung überträgt. Sieht man von dem Fall einer verkehrstypischen und mit einem Verkehrspreis behafteten Sacheinlage ab, die in diesem Zusammenhang ohnehin auszuschließen ist, dann zeichnet sich die in der Praxis relevante Sacheinlage, also insbesondere ein größeres Beteiligungspaket, durch ihre Singularität und damit vor allem verbunden durch ihre unbestimmte Wertigkeit aus. Für derartige Sacheinlagen gibt es keinen auf dem Markt gehandelten Preis; vielmehr bestimmt sich der Preis nach der konkreten Preisvereinbarung, die unter den Bedingungen der Verhandlungsparität zustande gekommen ist. Dabei spielt vor allem das Interesse der Gesellschaft am Erwerb der Sacheinlage eine dominante, aber in Heller und Pfennig nicht messbare Rolle. Angesichts dieser Unbestimmtheit der relevanten Preis- oder Bewertungsfaktoren kann man sich wohl nur auf eine Generalklausel zurückziehen, die nur äußerste Missbrauchsgrenzen kennt. Ähnliche Tendenzen werden auch in der Literatur sichtbar, wenn es dort heißt, dass die Angemessenheit dann zu bejahen sei, wenn der Ausgabebetrag unter Berücksichtigung aller Umstände des einzelnen Falles, insbesondere auch der Bedeutung des neuen Aktionärs oder seiner Einlage, der für die Gesellschaft höchsterzielbare sei25. Dabei ist vor allem zu bedenken, dass das Kriterium der Angemessenheit immer konkret auf den jeweiligen Leistungsaustausch zu beziehen ist und deshalb unter ganz verschiedenen Aspekten aufzubereiten ist. In Fällen der Barkapitalerhöhung geht es im Kern um die Äquivalenz von Barleistung und Wert der ausgegebenen Aktien. Natürlich kann auch die Person des Aktienerwerbers für die Gesellschaft von Bedeutung sein; aber diese Bedeutung ist doch im Regelfall relativ gering. Im Zusammenhang der Sacheinlage ist ebenso schlicht zu urteilen, wenn die Sacheinlage aus einem Wirtschaftsgut besteht, das einen Marktpreis hat und auf dem Markt vielseitig angeboten wird. Derartige Sacheinlagen sind aber offensichtlich die Ausnahme, Sacheinlagen mit hohem unternehmerischen Potential und singulärem Angebot sind die Regel. Unter diesen Voraussetzungen besteht ein Gemenge von sehr unterschiedlichen Preiserwägungen, die der Richter weder abstufen noch gewichten kann. Deshalb ist die zitierte Generalklausel in solchen Fällen in weitestgehendem Umfang zu berücksichtigen26.
__________ 24 So K. Schmidt in Großkomm.AktG, § 255 Rz. 12. 25 So Zöllner in KölnerKomm.AktG, § 255 Rz. 10; ähnlich Röhricht in Hommelhoff/
Röhricht, Gesellschaftsrecht 1997, 1998, S. 191 ff. (221 f.). 26 Ausführlich dazu Martens (Fn. 21), S. 267 (279 ff.).
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Der Bundesgerichtshof hat in der Kali & Salz-Entscheidung27 einen offensichtlich gegenteiligen Standpunkt vertreten. Es heißt dort: „Die Frage, welche Gegenleistung für die bei einer Kapitalerhöhung ausgegebenen neuen Aktien angemessen ist, bestimmt sich hier wie auch in anderen Fällen, in denen der Begriff der Angemessenheit im Zusammenhang mit einer etwaigen vermögensmäßigen Benachteiligung von Aktionären eine Rolle spielt, grundsätzlich nicht nach Börsenkursen, sondern nach dem ‚wirklichen‘, unter Einschluss stiller Reserven und des inneren Geschäftswerts zu ermittelnden Wert. Ist, wie im vorliegenden Fall, eine Beteiligung gegen junge Aktien einzubringen, so hängt demnach die Anfechtbarkeit des Kapitalerhöhungsbeschlusses nach § 255 Abs. 2 AktG davon ab, ob diese Beteiligung mit einem höheren oder die dafür ausgegebenen Aktien mit einem geringeren als ihrem wahren Wert angesetzt worden sind. Inwieweit hierbei auch das subjektive Interesse des Sacheinlegers am Erwerb der jungen Aktien oder andererseits ein besonderes Interesse der Gesellschaft an gerade dieser Einlage oder gerade diesem Einleger mit zu berücksichtigen sind, kann auf sich beruhen.“28 Man darf diese noch strikt an den inneren Unternehmenswert anknüpfenden Entscheidungsgründe nicht überbewerten. Dieses vor ca. 25 Jahren ergangene Urteil war von der Börsenkursbetrachtung noch weit entfernt. Und in der Sache muss man bedenken, dass es sich um eine vom Mehrheitsgesellschafter initiierte Transaktion handelte, die einen fusionsähnlichen Vorgang betraf. Deshalb wäre auch aus heutiger Sicht das Bewertungsproblem nicht in § 255 Abs. 2 AktG, sondern in § 243 Abs. 2 AktG anzusiedeln. Somit kam damals wie auch heute eine freie Preisvereinbarung nicht in Betracht, sondern nur ein striktes objektives Bewertungsverfahren. Zusammenfassend kann somit festgestellt werden: Auf die Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage findet die Vorschrift des § 255 Abs. 2 AktG analoge Anwendung. Aber diese analoge Anwendung führt zu ganz unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben. Der konkrete Bewertungsmaßstab richtet sich jeweils nach den Besonderheiten der Sacheinlage. Er ist relativ streng, sofern die Sacheinlage einen Marktpreis hat und marktgängig ist; er ist weitestgehend offen, wenn die Sacheinlage für die Gesellschaft von großer unternehmerischer Bedeutung ist und der Inferent gleichsam über das Einbringungsmonopol verfügt. Dieses sehr offene Normverständnis des § 255 Abs. 2 AktG ist schon in anderem Zusammenhang anlässlich der Börsenkursbetrachtung demonstriert worden29. Dieser vor der DAT/ALTANA-Entscheidung des Bundesverfas-
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27 BGHZ 71, 40 ff. (51). 28 Aus heutiger Sicht wird man der Entscheidung jedenfalls in der Beurteilung des
konkreten Einzelfalls zustimmen können, handelte es sich doch um einen klassischen Mehrheits-Minderheits-Konflikt, in dem es darauf ankam, die Mehrheitsaktionäre strikt an das objektive Bewertungsrecht zu binden und ihr jeglichen Beurteilungsspielraum zu versagen. 29 Martens (Fn. 21), S. 267 ff.
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sungsgerichts und des Bundesgerichtshofes verfasste Beitrag richtete sich gegen die damals einhellig vertretene Ansicht30, dass auch im Rahmen des § 255 Abs. 2 AktG strikt auf den inneren Unternehmenswert, nicht hingegen auf den Börsenkurs abzustellen sei. Diese sub specie des Börsenkurses verfassten Ausführungen lassen sich jedoch verallgemeinern und zur Begründung eines generellen Bewertungsspielraums verwerten. Die Durchführung einer Barkapitalerhöhung dient der Schöpfung neuer Finanzmittel. Dabei steht der Gesellschaft grundsätzlich die Alternative offen, das Grundkapital mit oder ohne Bezugsrecht zu erhöhen. Der Unterschied besteht „lediglich“ in dem jeweils unterschiedlichen Umfang der Kapitalschöpfung. Das mit Bezugsrecht begebene Kapital weist einen Abschlag bis zu 25 % auf im Vergleich zum Kapital, das ohne Bezugsrecht emittiert worden ist31. In der Zielsetzung – der Kapitalschöpfung – unterscheiden sich die Kapitalerhöhung mit Bezugsrecht und die Kapitalerhöhung ohne Bezugsrecht nicht. Ganz anders stellt sich die Situation in Fällen der Sachkapitalerhöhung dar. In diesen Fällen ist die Gesellschaft an die Preisvorstellung des Inferenten gebunden. Sofern kein gleichwertiges Einlageobjekt auf dem Markt verfügbar ist, bedeutet das Scheitern der Preisverhandlungen zugleich einen generellen Erwerbsverzicht. Ein Alternativerfahren in Form einer Kapitalerhöhung mit Bezugsrecht kommt offensichtlich nicht in Betracht; denn dadurch wird allenfalls die Finanzierung des ausgehandelten Preises erleichtert, aber die inhaltlichen Bezüge der Preisverhandlungen werden in keiner Weise berührt, es sei denn, der Anbieter ist bereit, sich anstelle des Aktienkapitals mit Barmitteln zu begnügen. Unter diesen zuletzt genannten Voraussetzungen handelt es sich alternativ um ein normales Verkehrsgeschäft. Beharrt der Inferent hingegen auf einer Gegenleistung in Form von Aktienkapital, ist die Kapitalerhöhung ohne Bezugsrecht eine conditio sine qua non des Austauschgeschäfts. Beide Vertragspartner sind bemüht, je für sich ein optimales Verhandlungsergebnis zu erzielen. Jenseits äußerster Preisgrenzen scheitern die Vertragsverhandlungen, weil sich der Vertrag als Verlust- oder unzumutbares Risikogeschäft erweist. Allerdings handelt es sich dabei um ein allen Vertragsverhandlungen immanentes Abschlussrisiko, das sich auch durch ein striktes Bewertungsverfahren nicht ausschließen lässt. Der Inferent nimmt für sich alle Vertrags- und damit Abschlussfreiheiten in Anspruch, die deshalb auch der das Aktienkapital begebenden Gesellschaft zustehen müssen. Vielfach wird das Aktienkapital in diesem Zusammenhang auch als Akquisitionswährung bezeichnet. Dieser Begriff ist jedenfalls dann i. S. freier Verfüg-
__________ 30 Hüffer, AktG, 3. Aufl. 1997, § 255 Rz. 5; K. Schmidt in Großkomm.AktG, § 255
Rz. 12; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 1995, S. 262 ff. 31 Dazu näher Martens, ZIP 1992, 1677 (1687 f.); Heinsius in FS Kellermann, 1991, S. 115 (121 f.).
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barkeit zutreffend, wenn sich die Sacheinlage als derart bedeutsam erweist, dass ein alternatives Verkehrsgeschäft nicht in Betracht kommt und der Inferent unabdingbar auf Zahlung durch Aktienkapital besteht. Im Rahmen dieser Kapitalerhöhung haben die Aktionäre einen Beschluss über den Gegenstand der Sacheinlage, die Person des Inferenten sowie den Nennbetrag, bei Stückaktien die Zahl der bei der Sacheinlage zu gewährenden Aktien und über die Erhöhung des Grundkapitals zu fassen. Dazu ist der Hauptversammlung ein Vorstandsbericht vorzulegen, in dem über den Grund für den Ausschluss des Bezugsrechts zu berichten ist. Hinzuweisen ist des Weiteren auf die nach § 183 Abs. 3 AktG erforderliche Prüfung durch einen oder mehrere Prüfer. Diese Prüfung erstreckt sich allerdings nur darauf, dass „der Wert der Sacheinlage nicht unwesentlich hinter dem geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien zurückbleibt“. Damit ist der Nennbetrag oder der auf die einzelne Stückaktien entfallende anteilige Betrag des Grundkapitals gemeint, wie sich aus § 9 AktG ergibt. Deshalb ist es in der Literatur auch nahezu unstreitig32, dass auch die unabhängigen Prüfer ihre Kontrolle nur auf das Erfordernis der Erfüllung des geringsten Ausgabebetrags zu erstrecken haben. Dieser geringste Ausgabebetrag stellt mithin eine zwingende Grenze jeglicher Preis- oder Leistungsvereinbarung dar. In der Praxis spielt diese unabdingbare Untergrenze aber wohl keine ernsthafte Rolle. Angesichts der von der Hauptversammlung im Zusammenhang einer Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage zu beschließenden Umstände kann man von einer Hauptversammlungszuständigkeit ausgehen, die sich der Sache nach als Geschäftsführungskompetenz à la Holzmüller darstellt33, mag es sich auch formalrechtlich um eine Satzungsänderung handeln. Im Mittelpunkt dieses Beschlusses steht jedoch das Verkehrsgeschäft, über dessen Abschluss und Konditionen die Aktionäre zu entscheiden haben. Durch diesen Hauptversammlungsbeschluss gewinnt das Verkehrsgeschäft seine gleichsam basisdemokratische Legitimation34. Freilich ist, um jeglichem Missverständnis vorzubeugen, damit keine rechtliche Einschränkung auf die ordentliche Kapitalerhöhung gemeint. Selbstverständlich kann eine solche Maßnahme auch im Wege der genehmigten Kapitalerhöhung unter den dort geltenden Voraussetzungen praktiziert werden. Die eben angesprochene Legitimation
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32 So Hüffer, AktG, § 183 Rz. 16; Hefermehl/Bungeroth in Geßler/Hefermehl/
Eckardt/Kropff, AktG, § 183 Rz. 92; Lutter in KölnKomm.AktG, § 183 Rz. 52; Krieger in MünchHdb. GesR, Band 4: Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1999, § 56 Rz. 41; a. A. Wiedemann in Großkomm.AktG, § 183 Rz. 82; Priester in FS Lutter, 2000, S. 617 (623 f.). 33 BGHZ 83, 122; nunmehr BGH, NJW 2004, 1860 sowie NZG 2004, 575; dazu näher Altmeppen, ZIP 2004, 999; Bungert, BB 2004, 1345; Fuhrmann, AG 2004, 339; Goette, DStR 2004, 927; Fleischer, NJW 2004, 2335. 34 Dazu schon früher Martens, Die Entscheidungsautonomie des Vorstands und die „Basisdemokratie“ in der Aktiengesellschaft, ZHR 147 (1983), 377 – Besprechung der Holzmüller-Entscheidung BGHZ 83, 122.
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liegt in dem Ermächtigungsbeschluss der Hauptversammlung, der zwar nur in abstracto gefasst wird, der aber den Aktionären in gleicher Weise den Eindruck eines etwaigen Verkehrsgeschäfts gegen Aktienkapital unter Ausschluss des Bezugsrechts vermittelt35. Hinsichtlich der Konditionen dieses Verkehrsgeschäfts ist der Vorstand in gleicher Weise gebunden wie die Hauptversammlung im Rahmen der ordentlichen Kapitalerhöhung. Der etwaigen Anfechtbarkeit des Hauptversammlungsbeschlusses entspricht die etwaige Schadensersatzpflicht des Vorstands wegen des rechtswidrigen Ausschlusses des Bezugsrechts durch ein inäquivalent vereinbartes Verkehrsgeschäft36. Aber in dieser Hinsicht besteht kein erkennbarer Unterschied zum Abschluss eines herkömmlichen Verkehrsgeschäfts gegen Barzahlung. Auch wenn dieses Verkehrsgeschäft zum Schaden der Gesellschaft abgeschlossen wird, ist der Vorstand ersatzpflichtig. Freilich steht ihm in allen Fällen ein weiter Ermessensspielraum entsprechend der Business Judgment Rule zu37, so dass diese Schadensersatzpflicht nur unter ganz ungewöhnlichen Umständen relevant wird. Näher liegt eine Schadensersatzpflicht wegen Verletzung des Bezugsrechts. Mag auch das Verkehrsgeschäft als solches äquivalent vereinbart sein, so liegt doch gleichwohl eine Verletzung des Bezugsrechts vor, wenn nachweisbar ist, dass sich der Inferent auch mit einer Barzahlung begnügt hätte und auch seitens der Gesellschaft kein ultimatives Interesse an der Begebung des Aktienkapitals bestand38. In solchen Fällen ist allerdings der Nachweis eines Individualschadens wegen Verletzung des Bezugsrechts außerordentlich schwierig, hat doch die Gesellschaft wegen der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung keinen Schaden erlitten, so dass nur ein Eigenschaden des vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionärs in Betracht käme. Die praktische Relevanz derartiger Schadensfälle ist aus meiner Sicht derart gering, dass es keiner weiteren Erörterung bedarf. Insgesamt hat sich gezeigt, dass der Erwerb einer Sacheinlage, insbesondere auch der Beteiligungserwerb gegen Übertragung von Aktienkapital ein markt-
__________ 35 Vgl. im Einzelnen BGHZ 136, 133 (139 f.) (Siemens/Nold). 36 Dazu ebenso BGHZ 136, 133 (140 f.). 37 Dazu vor allem BGHZ 135, 244 (253 f.) = AG 1997, 377 = ZIP 1997, 883; ausführ-
lich dazu M. Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, 2001, S. 40 ff.; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 134 ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung und unternehmerisches Ermessen – Die Business Judgment Rule im deutschen und amerikanischen Recht, 2001. Nunmehr ist auf die geplante Regelung des § 93 Abs. 1 Satz 2 UMAGEntwurf hinzuweisen; dazu Seibert/Schütz, ZIP 2004, 252 (254) und Paefgen, AG 2004, 245 ff.; zu Recht kritisch wegen der Haftungserleichterung „grobe Fahrlässigkeit“ Ulmer, DB 2004, 859 ff.; vgl. nunmehr die in RegE UMAG enthaltene Regelung des § 93 Abs. 1 Satz 2: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“. 38 Umfassend zur Schadensersatzpflicht des Vorstands bei Ausübung eines genehmigten Kapitals unter Ausschluss des Bezugsrechts Cahn, ZHR 164 (2000), 113.
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typisches Erwerbsgeschäft ist. Der Preis solcher Erwerbsgeschäfte bemisst sich in einem offenen Verhandlungsprozess nach den jeweiligen Präferenzen, von denen Anbieter und Nachfrager ausgehen. Diese Marktoffenheit der Preisfindung von vornherein durch gesetzliche Vorgaben eines bestimmten Bewertungsverfahrens oder bestimmter Bewertungsfaktoren einzuschränken, ist sachwidrig und für die Gesellschaft unzumutbar, weil dadurch die Verhandlungsspielräume von vornherein unzulässig eingeschränkt werden. Das eingesetzte Aktienkapital ist nichts anderes als ein Zahlungsmittel, das die Liquidität schont und das Eigenkapital vergrößert. Voraussetzung dieser offenen, weitgehend freigestellten Behandlung des Bezugsrechts ist lediglich der Nachweis, dass die Sacheinlage auf dem Markt nicht gegen Barzahlung erworben werden konnte und der Inferent nur gegen Erwerb des Aktienkapitals zur Übertragung der Sacheinlage, also insbesondere der Übertragung der eingebrachten Beteiligung, bereit gewesen ist und somit – aus der Sicht der Gesellschaft – sachliche Gründe für eine Leistung in Form von Aktienkapital vorlagen.
III. Die Vermögensübertragung nach §§ 179a AktG, 123 Abs. 3 UmwG Unter fusionsrechtlichen Aspekten zeichnet sich die Vermögensübertragung dadurch aus, dass nicht die übertragenden Gesellschaften vergemeinschaftet werden, sondern lediglich deren Vermögensmassen, insbesondere die von ihnen gehaltenen Beteiligungen39. Im Mittelpunkt steht die zu gründende Fusions- bzw. Holdinggesellschaft, auf die die erwähnten Vermögensmassen bzw. Beteiligungen in Form einer Sacheinlage gegen Aktien der Fusionsbzw. Holdinggesellschaft übertragen werden. Rechtliche Voraussetzungen dieses Übertragungsmodells sind Hauptversammlungsbeschlüsse der übertragenden Gesellschaften über die Vermögensübertragung nach § 179a AktG. Alternativ kommen Ausgliederungsbeschlüsse der beteiligten Gesellschaften in Betracht (§§ 123 Abs. 3, 125, 13 UmwG), aufgrund deren die Gesamtvermögen der übertragenden Gesellschaften auf die Fusionsgesellschaft übergehen und die übertragenden Gesellschaften wertäquivalente Anteile an der Fusionsgesellschaft erwerben40. Sowohl im Falle der Vermögensübertragung kraft Einzelrechtsnachfolge als auch im Fall der Vermögensübertragung durch Gesamtrechtsnachfolge ist die Fusionsgesellschaft zunächst ein abhängiges Unternehmen, dessen Leitung auf der gemeinsamen Absprache der übertragenden Gesellschaften beruht.
__________ 39 Näher Martens (Fn. 17), S. 279 (282 ff.). 40 Rechtstechnisch lässt sich diese Aktion nur durch zeitliche Streckung der mehre-
ren Spaltungsvorgänge erreichen; näher Teichmann in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 123 Rz. 28.
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Die Bewertungsproblematik ist in diesem Zusammenhang ebenso offen, wie sie im Zusammenhang des § 255 Abs. 2 AktG dargestellt worden ist. In rechtstatsächlicher Hinsicht können sich unterschiedliche Bewertungsinteressen deshalb ergeben, weil sich jeglicher Bewertungsvorteil zugunsten der einen übertragenen Gesellschaft und ihrer Aktionäre zu Lasten der anderen übertragenen Gesellschaften und ihrer Aktionäre auswirkt. Dabei können diese Bewertungsdiskrepanzen durchaus kompensiert werden durch die unterschiedlichen wirtschaftlichen Erwartungen, die mit dieser Vergemeinschaftung der Vermögensmassen verbunden sind. Deshalb ist es durchaus konsequent, dass weder § 179a AktG noch die §§ 123 Abs. 3, 125 Satz 2 UmwG eine obligatorische Prüfung des vorgeschlagenen Umtauschverhältnisses voraussetzen, ja sogar expressis verbis davon freistellen. Somit kann man grundsätzlich feststellen, dass dieses Austausch- oder Umtauschverhältnis grundsätzlich keiner Richtigkeitskontrolle unterliegt, also auch grundsätzlich nicht die Anfechtbarkeit des Übertragungs- oder Ausgliederungsbeschlusses begründen kann41. Diese weitreichende Befreiung von normativen Bewertungskriterien ist Ausdruck der den beteiligten Gesellschaften gebührenden Vertrags- und Verhandlungsfreiheit. Sind die übertragenden Gesellschaften voneinander unabhängig und werden sie auch nicht von einem gemeinsamen Mehrheitsgesellschafter beherrscht, so sind alle Voraussetzungen einer freien und offenen Verhandlungssituation erfüllt. Im Mittelpunkt dieser Verhandlungen über die Konditionen der Unternehmensgemeinschaft stehen sicherlich die jeweiligen Werte der eingebrachten Unternehmensressourcen, aber in dem Austausch dieser Unternehmenswerte erschöpfen sich derartige Verhandlungen nicht. Eine wesentliche Rolle spielen auch die unterschiedlichen Gemeinschaftsinteressen der übertragenden Gesellschaften, die je für sich die zukünftigen Erwerbsaussichten des Gemeinschaftsunternehmens unterschiedlich beurteilen und deshalb auch mit unterschiedlicher Dringlichkeit an der Realisierung des Gemeinschaftsunternehmens interessiert sind. In diesen Prozess des freien Aushandelns unterschiedlicher Vermögensund Gemeinschaftsinteressen kontrollierend einzugreifen, ist der Richter nur unter der Voraussetzung einer eindeutigen Gesetzesregelung befugt. Auf § 125 Satz 2 UmwG und die dort geregelte Freistellung von jeglicher Prüfung ist schon hingewiesen worden42.
__________ 41 OLG Stuttgart, ZIP 1997, 362 ff.; Hüffer, AktG, § 179a Rz. 17; Henze in FS Boujong,
1996, S. 223 (247 f.); ders., ZIP 1995, 1473 (1478); missverständlich Kropff in Geßler/ Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1991, § 361 Rz. 40, 24. 42 Zu den Ausstrahlungswirkungen des UmwG auf die Anwendung des § 179a AktG im Übrigen vgl. die nicht überzeugende Entscheidung des LG Karlsruhe, ZIP 1998, 385 (Badenwerk); ähnlich für Fälle der Teilvermögensübertragung LG Frankfurt, ZIP 1997, 1698 sowie OLG Frankfurt, ZIP 1999, 842 (ALTANA/Milupa); kritisch
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Allerdings stellt sich die Rechtslage anders dar, wenn zwischen den beiden übertragenden Gesellschaften ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, sei es ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis, sei es ein durch den gemeinsamen Mehrheitsgesellschafter vermitteltes mittelbares Abhängigkeitsverhältnis. In beiden Fällen wird der Willensbildungsprozess der einen oder der beiden übertragenden Gesellschaften fremdgesteuert, so dass von einer präsumtiven Richtigkeitsgewähr der ausgehandelten Wertrelationen nicht mehr die Rede sein kann. In beiden Fällen ist mithin eine richterliche Kontrolle des Verhandlungsergebnisses und der von den Hauptversammlungen beschlossenen Beteiligungsverhältnisse unverzichtbar. Die Grundlage dieser richterlichen Bewertungskontrolle bietet § 243 Abs. 2 AktG43, da nicht ausgeschlossen ist, dass einer der beiden Hauptversammlungsbeschlüsse zum Vorteil der anderen übertragenden Gesellschaft oder zum Vorteil des beide übertragenden Gesellschaften beherrschenden Mehrheitsaktionärs gefasst worden ist. Allerdings sind die praktischen Probleme der Darlegungs- und Beweislast einer solchen wegen Verfolgung eines Sondervorteils erhobenen Anfechtungsklage nicht zu übersehen. Vor dieser Problematik hat das OLG Stuttgart in der MotoMeter-Entscheidung versagt44, indem es den Anfechtungsklägern eine Darlegungslast auferlegte, die diese deshalb nicht erfüllen konnten, weil das von der Beklagten in Auftrag gegebene Bewertungsgutachten wegen der angeblich im Gutachten enthaltenen Geschäftsgeheimnisse nicht zur Einsicht vorgelegt wurde. Dass eine solche Behandlung der Anfechtungskläger im Anwendungsbereich des § 243 Abs. 2 AktG verfehlt ist, bedarf keiner weiteren Erörterung45. Nur so viel sei in diesem Zusammenhang angemerkt: Je offener und transparenter das Preisverhalten des Mehrheitsaktionärs dargestellt wird, umso stärker ist auch die Darlegungslast der Minderheitsaktionäre. Verfährt die Gesellschaft entsprechend den Publizitätspflichten des UmwG, wird man den Anfechtungsklägern ebenso wie im Spruchverfahren aufgeben müssen, ihre Bewertungsrügen substantiiert darzulegen46. Kommen sie dieser Darlegungslast nicht nach, besteht kein Anlass, etwaige Beweisanträge zu berücksichtigen. Vernachlässigt jedoch die beklagte Gesellschaft bzw. ihr Mehrheitsaktionär diese Offenbarungspflichten, setzt sie sich dem Verdacht einer unzulässigen Vorteilsgewährung zugunsten des Mehrheitsaktionärs aus, so dass die An-
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44 45 46
und ablehnend Bungert, NZG 1998, 367 (368 ff.); Hüffer, AktG, § 179a Rz. 12a; für derartige Ausstrahlungswirkungen hingegen Leinekugel, Die Ausstrahlungswirkungen des UmwG, 2000, S. 156 ff. sowie Lutter/Leinekugel, ZIP 1999, 261 ff. Hüffer, AktG, § 179a Rz. 10, allerdings mit Kritik gegen die unzulängliche Reichweite dieser Vorschrift in Rz. 12a; Kropff in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 361 Rz. 40. OLG Stuttgart, ZIP 1995, 1515. Zu Recht kritisch Lutter/Drygala in FS Kropff, 1997, S. 191 ff. (199 Fn. 31); dazu schon Martens (Fn. 17), S. 279 (296 f.). Dazu sei auf § 4 Abs. 2 Nr. 4 SpruchG verwiesen.
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fechtungskläger sich mit einem Beweisantritt gleichsam auf Verdacht begnügen können. Es kommt also im Wesentlichen darauf an, die umwandlungsrechtliche Pflichtenstellung des Mehrheitsaktionärs in den Anwendungsbereich des § 243 Abs. 2 AktG zu transponieren, um auf diese Weise dem klagenden Minderheitsaktionär Zugang zu den Informationsquellen des Mehrheitsaktionärs zu verschaffen. Wird auf diese Weise der Anwendungsbereich des § 243 Abs. 2 AktG durch umwandlungsrechtliche Regelungsaspekte aufbereitet, erübrigt sich die insbesondere von Lutter vielfach behandelte Fragestellung nach einer analogen Anwendung des UmwG auf die übertragende Auflösung und auf andere fusionsähnliche Vorgänge47.
IV. Die Vollverschmelzung durch Aufnahme oder durch Neugründung In anderem Zusammenhang ist die Frage aufgegriffen worden, ob im Zusammenhang der Bewertungsfreiheit einer oder mehrerer Vermögensübertragungen und einer nachfolgenden Verschmelzung der Verdacht entstehen könnte, dass durch dieses zweigeteilte Verfahren die Bewertungskontrolle einer Verschmelzung umgangen werden solle48. Anlass dieses Verdachts ist der Umstand, dass durch die Vermögensübertragung und die damit verbundenen Beteiligungsverhältnisse die Verschmelzungswertrelation weitestgehend fixiert wird. Wird nach den Vermögensübertragungen die Verschmelzung der übertragenden Gesellschaften auf die vermögensübernehmende Gesellschaft beschlossen, erfolgt die Verschmelzung zu den ausgehandelten Beteiligungsverhältnissen. Opponierende Aktionäre könnten deshalb geltend machen, dass die nicht der Bewertungskontrolle unterliegenden Vermögensübertragungen nur deshalb vorangestellt worden sind, um sich der verschmelzungsrechtlichen Bewertungskontrolle zu entziehen. Diese Umgehungsproblematik ist allerdings nur dann relevant, wenn man von einer strikten Bewertungskontrolle im Verschmelzungsrecht ausgeht. Eine solche Bewertungskontrolle entspricht der weit überwiegenden Ansicht in Literatur und Rechtsprechung49, entspricht insbesondere der Praxis in den Spruchverfahren50. Gleichwohl bestehen gegen diese wie ein Bollwerk gefestigte Meinung gravierende Bedenken, die Anlass geben sollten, für einen Meinungsumschwung zu plädieren51. Um sofort den naheliegendsten Einwand zu parieren, sei darauf hingewiesen, dass auch in diesem Zusammenhang nur
__________ 47 Lutter/Leinekugel, ZIP 1999, 261 (266); ebenso Leinekugel (Fn. 42), S. 242; wie hier 48 49 50 51
OLG Stuttgart, ZIP 1997, 362 sowie BayObLG, ZIP 1998, 2002 (2005). Martens (Fn. 17), S. 279, 284 ff. Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 5 Rz. 18 ff. m. w. N. OLG Düsseldorf, AG 2002, 398 (400). So schon Kraft in KölnerKomm.AktG, 2. Aufl.1990, § 340 Rz. 15; Gude (Fn. 6), S. 349 ff.; Hügel, Verschmelzung und Einbringung, 1993, S. 161 ff. (376); wohl auch Mertens, AG 1990, 20 (24).
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über Verschmelzungen zu befinden ist, die von Rechtsträgern praktiziert werden, die voneinander unabhängig sind und deren Willensbildung deshalb unverfälscht zum Ausdruck kommt. Wird die Verschmelzung von einem Mehrheitsaktionär dirigiert, ist ebenso eine strikte Bewertungskontrolle zu praktizieren, wie in den bisher behandelten Fällen über eine Anfechtungsklage nach § 243 Abs. 2 AktG zu befinden ist. Ein weiterer nahe liegender Einwand könnte sich auf die in § 9–12 UmwG geregelte Verschmelzungsprüfung stützen, die durch unabhängige Verschmelzungsprüfer durchzuführen und mit einem Prüfungsbericht zu dokumentieren ist. Auch dieser Einwand lässt sich relativ leicht entkräften. Es wäre ein Missverständnis, wenn man die hier vertretene Ansicht als Freistellung von gesetzlichen Vorschriften verstehen wollte. Deshalb wird an dem Erfordernis der Verschmelzungsprüfung, der Bestellung von Verschmelzungsprüfern und der Prüfungsberichte auch nicht im Geringsten gerüttelt. Das hiesige Anliegen zielt auf eine Reform des Bewertungsmaßstabs, der im Wesentlichen der Dispositivität der an der Verschmelzung beteiligten Unternehmen unterliegen soll. Sie können zwischen Börsenkurs und Ertragswert auswählen, sie können aber auch ein von diesem Bewertungsverfahren unabhängiges Umtauschverhältnis vereinbaren. Die gesetzliche Regelung ist in dieser Hinsicht offen52. Nach § 8 Abs. 1 UmwG muss das Umtauschverhältnis rechtlich und wirtschaftlich erläutert und begründet werden. Diese Darlegungs- und Dokumentationslast tragen die beteiligten Unternehmen selbstverständlich auch dann, wenn sie das Umtauschverhältnis frei vereinbaren. Sie müssen dann im Einzelnen darlegen, warum sie von einem Umtauschverhältnis entsprechend der Börsenkursbewertung oder entsprechend dem Ertragswertverfahren abgewichen sind. Dazu bedarf es sicherlich Gründe, die objektivierbar und von genügender Überzeugungskraft sind. Schließlich sollen die Aktionäre durch diesen Verschmelzungsbericht veranlasst werden, dem nach § 65 UmwG erforderlichen Hauptversammlungsbeschluss zuzustimmen. Diese Überzeugungskraft ist vor allem gegenüber jenen Aktionären unabdingbar, für die ein nach dem Börsenkurs oder dem Ertragswert bemessenes Umtauschverhältnis günstiger wäre. Für diese Aktionäre bedarf es wesentlicher Gründe, um sie gleichwohl zur Zustimmung zu veranlassen. Dabei ist schließlich auch an den Multiplikatoreffekt der Wirtschaftsmedien zu erinnern. Die Dispositivität des Umtauschverhältnisses sollte deshalb nicht zu der vorschnellen Ansicht verleiten, die Umsetzung eines frei vereinbarten Umtauschverhältnisses werde zukünftig keine Schwierigkeiten bereiten. Das mag in rechtlicher Hinsicht zutreffen; in tatsächlicher Hin-
__________ 52 So auch Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 5 Rz. 23. Auch das WpÜG und die
damit verbundene WpÜG-AngebotsVO finden in diesem Zusammenhang grundsätzlich keine Berücksichtigung, weil die Verschmelzung von zwei unabhängigen Gesellschaften nicht die Voraussetzungen einer Übernahme erfüllt; dazu näher Gude (Fn. 6), S. 45 ff.
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sicht sollten aber die Egoismen der Aktionäre nicht vernachlässigt werden. Um so bedeutsamer ist es, dass im Verschmelzungsbericht das frei vereinbarte Umtauschverhältnis ausführlich erläutert und begründet wird. Dieser rechtlichen Offenheit des Umtauschverhältnisses steht auch nicht die Regelung des § 12 Abs. 2 UmwG über den Inhalt des Prüfungsberichts entgegen. Dieser Prüfungsbericht ist mit einer Erklärung abzuschließen, ob das vorgeschlagene Umtauschverhältnis angemessen ist. „Dabei ist anzugeben, (1) nach welchen Methoden das vorgeschlagene Umtauschverhältnis ermittelt worden ist; (2) aus welchen Gründen die Anwendung dieser Methoden angemessen ist; (3) welches Umtauschverhältnis oder welcher Gegenwert sich bei der Anwendung verschiedener Methoden, sofern mehrere angewandt worden sind, jeweils ergeben würde; zugleich ist darzulegen, welches Gewicht den verschiedenen Methoden bei der Bestimmung des vorgeschlagenen Umtauschverhältnisses oder des Gegenwerts und der ihnen zugrunde liegenden Werte beigemessen worden ist und welche besonderen Schwierigkeiten bei der Bewertung der Rechtsträger aufgetreten sind“. Es ist auffällig, dass der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang lediglich in abstractro von der Angemessenheit des Umtauschverhältnisses und den Bewertungsmethoden spricht. Eine Konkretisierung ist bewusst unterblieben, um die weitere Entwicklung betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse zur Unternehmensbewertung nicht zu blockieren. Deshalb ist dieser Kanon zulässiger Bewertungsmethoden von Gesetzes wegen offen und kann im Rahmen der Angemessenheitsprüfung durch weitere Bewertungsmethoden ergänzt werden. Dass auch die gleichgewichtige Verhandlung unabhängiger Parteien über das angemessene Umtauschverhältnis grundsätzlich als geeignete Methode zu verstehen ist53, kann ernsthaft nicht bestritten werden. Nach dieser Methode wird Preisgerechtigkeit Tag für Tag in unendlicher Hülle und Fülle erzielt. Vom Ansatz her weist keine Methode eine derartige Richtigkeitsgewähr auf wie die Verhandlungsmethode54. Allerdings wird dadurch die Aufgabe der Verschmelzungsprüfer nicht unerheblich verändert. Im Rahmen dieser Vertragsverhandlungen geht es zumeist nicht oder jedenfalls nicht in der Hauptsache um einzelne Bewertungsfaktoren, sondern um grundsätzliche Fragen zukünftiger Unternehmenspolitik oder auch nur um die Frage, welche unabdingbaren Voraussetzungen für den einen oder anderen Rechtsträger erfüllt werden müssen, damit er der Verschmelzung zustimmt. Derartige Konstellationen sind insbesondere dann zu erwarten, wenn der eine Rechtsträger von einem Mehrheitsaktionär beein-
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53 Zum Vertragsmodell als geeignete Bewertungsmethode vgl. Fleischer, ZGR 2001, 1
(25 ff.). 54 Auch die Vereinbarkeit dieses Ergebnisses mit dem Europäischen Gesellschafts-
recht, speziell mit der dritten Richtlinie 78/855/EWG v. 9.10.1978, der Verschmelzungsrichtlinie, dürfte wohl außer Frage stehen; denn auch diese Richtlinie legt keine Bewertungsmethode fest; dazu im Einzelnen Ganske, DB 1981, 1551 (1553) sowie Gude (Fn. 6), S. 48 ff.
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flusst wird, während der andere Rechtsträger durch ein breit gestreutes Aktienkapital geprägt wird. Die Verhandlungssituationen können mithin sehr unterschiedlich sein, und entsprechend unterschiedlich sind dann auch die individuellen Verhandlungsstrategien. Gelangt man schließlich zu einem Kompromiss, lässt sich dieser Kompromiss oftmals nicht an den qua Börsenwert oder Ertragswert ermittelten Unternehmenswerten bemessen. Die Angemessenheitserklärung kann deshalb nur als allgemeine Erklärung der Plausibilität oder Vertretbarkeit abgegeben werden. Aus der bisher praktizierten Rechenoperation wird ein unternehmenspolitischer Abwägungsprozess, der den Unternehmen weitestgehende Entscheidungs- und Bewertungsspielräume überlässt. Diese Entscheidungsfreiheiten sind auch in diesem Zusammenhang wiederum Ausdruck der Business Judgment Rule, die nach richtigem Verständnis nicht nur auf das geschäftspolitische Verhalten von Vorstand und Aufsichtsrat Anwendung findet, sondern auch auf Strukturentscheidungen, über die die Hauptversammlung zu befinden hat55. Wenn somit keine prüfungs- und bewertungstechnischen Bedenken bestehen, ist damit selbstverständlich noch nicht die Frage nach der Zulässigkeit und Wirksamkeit frei vereinbarter Umtauschverhältnisse beantwortet. Aus meiner Sicht ergibt sich die Antwort aus der wertungsmäßigen Konsequenz der zunächst behandelten Konstellationen. Wenn der Beteiligungserwerb gegen Aktienkapital weitestgehend der Parteidisposition unterliegt, muss man diesen Erwerbsfall nur in seiner äußersten Konsequenz fortentwickeln. Erwirbt die aufnehmende Gesellschaft den 100 %igen Beteiligungsbesitz an einer anderen Gesellschaft, dann hat sie damit alle wesentlichen Voraussetzungen erfüllt, die den wirtschaftlichen Gehalt einer Verschmelzung ausmachen. Die rechtliche Verschmelzung, die nachfolgend vollzogen wird, hat lediglich noch formalrechtliche Bedeutung. Weder bedarf es eines Verschmelzungsberichts noch einer Verschmelzungsprüfung und somit auch keines Prüfungsberichts (§§ 8 Abs. 3, 9 Abs. 3, 12 Abs. 3 UmwG). Derselbe Befund lässt sich auch in Fällen der Vermögensübertragungen feststellen. Kommt es zur Vergemeinschaftung der Unternehmensvermögen, dann ist – jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht – der wesentliche Zweck einer Verschmelzung schon erreicht. Der nachfolgende Vollzug der rechtstechnischen Verschmelzung führt nur zur formalen Perfektion. Die bisherigen Beteiligungsträger gehen unter und an ihre Stelle treten ihre vormaligen Aktionäre. An den Werteverhältnissen ändert sich nichts. Die Bewertungswürfel sind schon anläßlich der Vermögensübertragungen gefallen, so dass das verschmelzungsrechtliche Umtauschverhältnis daran ohne weitere Komplikationen anknüpfen kann.
__________ 55 Zu den dogmatischen Grundlagen ausführlich Paefgen, AG 2004, 245 ff.; für eine
analoge Anwendung in diesem Zusammenhang Boese, Die Anwendungsgrenzen des Erfordernisses sachlicher Rechtfertigung bei HV-Beschlüssen, 2004, S. 97.
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Bewertungsspielräume bei Fusionen und fusionsähnlichen Strukturänderungen
Wenn man also von der Bewertungsfreiheit eines Beteiligungserwerbs gegen Aktienkapital und der Bewertungsfreiheit einer Vermögensübertragung gegen Anteilsbesitz ausgeht, ist es nur konsequent, auch die von unabhängigen Rechtsträgern vollzogene Verschmelzung von einer strikten Bewertungskontrolle freizustellen. Natürlich lassen sich dafür auch noch weitere Argumente entwickeln. Man muss sich nur die Vielgestaltigkeit denkbarer Verschmelzungen bewusst machen. Wir haben uns an das Leitbild eines Merger of Equals gewöhnt, insbesondere in der Form einer Elefantenhochzeit. Selbstverständlich gibt es auch Verschmelzungen, die durch Übertragung einer relativ kleinen Gesellschaft auf eine relativ große Gesellschaft vollzogen werden. In diesen Fällen den gesetzlichen Verschmelzungsaufwand zu verlangen, obwohl die Gesellschaften unabhängig und je für sich die Verschmelzung beschlossen haben, wäre sicherlich unverhältnismäßig. Wie man alle diese Argumente dreht und wendet: Letztlich steht hinter allen Argumenten das Bekenntnis zur Verhandlungsfreiheit: der Freiheit eine Gasse!
V. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Die Gerechtigkeit der Unternehmensbewertung ist nichts anderes als die Gerechtigkeit der Preisfindung. In einer Wettbewerbswirtschaft ist aber der Preis ein Produkt von Angebot und Nachfrage, also Preisgerechtigkeit durch Verfahren. In der bisherigen Diskussion zur Unternehmensbewertung ist dieser Gerechtigkeitsaspekt nahezu gänzlich vernachlässigt worden – eine erstaunliche Unterlassung, wird doch im Übrigen völlig zu Recht die Freiheit der Preisbemessung als ein grundlegendes Axiom unserer freiheitlichen Wettbewerbswirtschaft beschworen. Besteht allerdings zwischen den beteiligten Unternehmen eine Abhängigkeit, insbesondere eine Konzernabhängigkeit, dann kommt eine solche Vermutung der Preisgerechtigkeit offensichtlich nicht in Betracht, und an ihre Stelle tritt die Vermutung der Wahrnehmung einseitiger Parteiinteressen mit der Folge, dass eine strikte Preis- oder Bewertungskontrolle erforderlich ist. 2. Auf die Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage findet die Vorschrift des § 255 Abs. 2 AktG analoge Anwendung. Aber diese analoge Anwendung führt zu ganz unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben. Der konkrete Bewertungsmaßstab richtet sich jeweils nach den Besonderheiten der Sacheinlage. Er ist relativ streng, sofern die Sacheinlage einen Marktpreis hat und marktgängig ist; er ist weitestgehend offen, wenn die Sacheinlage ohne Marktpreis für die Gesellschaft von großer unternehmerischer Bedeutung ist und der Inferent gleichsam über das Einbringungsmonopol verfügt. Unter diesen zuletzt genannten Voraussetzungen besteht ein Gemenge von sehr unterschiedlichen Preiserwägungen, die der Richter weder abstufen noch gewichten kann. Deshalb herrscht in derartigen Fällen eine weitestgehende Preis- und Bewertungsfreiheit.
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3. Auch im Modell der Vermögensgemeinschaft durch Übertragung mehrerer Unternehmensvermögen nach §§ 179a AktG, 123 Abs. 3 UmwG besteht weitestgehende Bewertungsfreiheit. Diese Freistellung von einer gerichtlichen Kontrolle des Umtauschverhältnisses ist auch in der Sache begründet. Sofern die übertragenden Gesellschaften voneinander unabhängig sind, also nicht von einem Mehrheitsgesellschafter beherrscht werden, beruhen die Wertrelationen auf einem freien Verhandlungsprozess, in dem nicht nur die Vermögenswerte, sondern u. U. auch die unterschiedlichen Gemeinschaftsinteressen der übertragenden Gesellschaften ausgehandelt werden. In diesen Prozess des freien Aushandelns unterschiedlicher Vermögens- und Vergemeinschaftsinteressen kontrollierend einzugreifen, ist der Richter nur unter der Voraussetzung einer eindeutigen Gesetzesregelung befugt. 4. Entgegen der bisher nahezu einhelligen Ansicht in Literatur und Rechtsprechung ist zukünftig für die Dispositivität der Verschmelzungswertrelation auch in Fällen der rechtlichen Vollverschmelzung zu plädieren. Diese Freistellung von einer engmaschigen Bewertungskontrolle im gerichtlichen Spruchverfahren ist eine Konsequenz des Beteiligungserwerbs gegen Sacheinlagen und der Vermögensübertragung. Was für die fusionsähnlichen Strukturänderungen gilt, muss auch für die Vollfusion gelten. Ausgenommen sind wiederum die konzerninternen Verschmelzungen unter Berücksichtigung der Interessen außenstehender Aktionäre.
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Zur Funktionsinadäquanz von Bilanzen Inhaltsübersicht I. Einführung II. Bilanziell ermittelter Gewinn als grundsätzlich entziehbarer Betrag? 1. Liquiditätsrestriktionen 2. Prospektiv zu konzipierende Entziehbarkeit 3. Bedeutung der prospektiv verstandenen Entziehbarkeit für Gewinnverwendungsentscheidungen III. Bilanzielle Vermögens-, Finanz- und Ertragslage als Indikator der wirtschaftlichen Unternehmenslage?
1. Das auf die Gewinnerwartungen gerichtete Informationsinteresse der Adressaten 2. Bereinigte Gewinngrößen als brauchbare Indikatoren der Gewinnerwartungen? 3. Konsequenzen für eine Reform des informationellen Teils der Rechnungslegung IV. Zusammenfassung
I. Einführung Bilanzen werden zwei wichtige Schutzfunktionen zugeschrieben: Bilanzielle Gewinnermittlung dient der Bemessung von Gewinnansprüchen und soll damit nicht nur Gewinnberechtigte (einschließlich des Fiskus) vor Gewinnverkürzungen bewahren, sondern zugleich, im Interesse insbesondere von Gläubigern – vor allem bei Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen –, Gewinnaufblähungen verhindern. Daneben sollen Bilanzen der Information über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage dienen und damit den zu schützenden Adressaten interessengerechte Entscheidungen ermöglichen. Gesetzgeber und diverse Standardisierungsausschüsse bemühen sich bekanntlich seit langem, die bilanziellen Ansatz-, Bewertungs-, Gliederungs- und Erläuterungsvorschriften aufgabenadäquater zu gestalten, Bestrebungen, die im Folgenden vernachlässigt werden, lässt sich doch bisher nicht erkennen, dass sie den Kern des Problems treffen. Geprüft werden soll hier vielmehr, welche fundamentalen Aussagegrenzen Bilanzen und insbesondere einer bilanziellen Gewinnermittlung gesetzt sind und welche rechtlichen Konsequenzen sich hieraus ergeben müssen.
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II. Bilanziell ermittelter Gewinn als grundsätzlich entziehbarer Betrag? Der Nestor des deutschen Bilanzrechts, Georg Döllerer, hat mit Recht betont, „daß der ermittelte Gewinn nicht nur eine tote Zahl in der Bilanz ist, sondern ein Betrag, über den nunmehr verfügt werden kann. Er kann, von allen Besonderheiten des Gesellschaftsrechts einmal abgesehen, grundsätzlich an die Gesellschafter ausgeschüttet werden“1. Der bilanziell ermittelte Gewinn (bei Döllerer wie im Folgenden immer verstanden als Jahresüberschuss im Sinne von § 275 Abs. 2 Nr. 20 HGB) müsse daher dieser Aufgabe entsprechend konzipiert sein. 1. Liquiditätsrestriktionen Es versteht sich von selbst, dass der als Gewinn entziehbare Betrag nicht gemeint sein kann als zum Ausschüttungszeitpunkt verfügbarer liquider Überschuss: Zwar wird der bilanzielle Gewinn auch liquiditätsorientiert ermittelt – die Ertragsrealisierungsprinzipien beruhen unter anderem auf diesem Kriterium2 –, aber das besagt nicht etwa, dass die Gewinnrechnung eine Liquiditätsrechnung sein muss oder auch nur sein kann. Einmal zugegangene liquide Überschüsse können bis zum Ausschüttungszeitpunkt längst wieder investiert, zur Schuldentilgung verwendet oder auf sonstige Weise abgegangen sein. Die Bereitstellung der zum Ausschüttungszeitpunkt erforderlichen liquiden Mittel ist Aufgabe der Finanzplanung, nicht der Gewinnermittlung. 2. Prospektiv zu konzipierende Entziehbarkeit Der als Gewinn entziehbare Betrag wird grundsätzlich verstanden als der im Geschäftsjahr erzielte Reinvermögensüberschuss (unter Berücksichtigung von Geschäftsjahrseinlagen und -entnahmen). Gewinn in diesem Sinne ergibt sich erst, wenn das bilanzielle Ausgangsreinvermögen erhalten ist: Das Reinvermögen soll in seiner Eigenschaft als Gewinnquelle unangetastet bleiben. So sinnvoll es indes erscheint, die Gewinnquelle nicht durch Ausschüttung von (Schein-)Gewinnen zu beeinträchtigen, so wenig kann das bilanzielle Reinvermögen dieser Aufgabe gerecht werden. Die Grundsatzdiskussion darüber, ob der erzielte Reinvermögensüberschuss den entziehbaren Betrag sinnvoll wiederzugeben vermag, ist alt und reicht über das Bilanzrecht hinaus. Sie wurde bereits in den Anfängen der Finanzwissenschaft (unter steuerlichen Aspekten) geführt als Auseinandersetzung
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Döllerer, BB 1959, 1217 (1219). Vgl. zu Einzelheiten Beisse, DStJG 4 (1981), 20; Euler, Grundsätze ordnungsmäßiger Gewinnrealisierung, 1989; Woerner, BB 1988, 769 (777); BFH, BFHE 171, 448.
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zwischen den Anhängern der Reinvermögenszugangstheorie3 und der Quellentheorie4. Nach der Quellentheorie soll, anders als nach der Reinvermögenszugangstheorie, nicht der gesamte Reinvermögenszugang als Gewinn erfasst (und besteuert) werden, sondern nur jener Teil, der „Aussicht auf Wiederholung“5 hat, von dem also zu erwarten ist, dass er mit einer gewissen Regelmäßigkeit aus der Gewinnquelle fließen wird. Die Bedeutung des Unterschieds zwischen beiden Gewinnkonzeptionen lässt sich an einem einfachen Zahlenbeispiel veranschaulichen: Ein festverzinsliches Wertpapier mit einer Laufzeit von 10 Jahren und einer Verzinsung von 8 % habe im Ausgabezeitpunkt (0) einen Marktwert von 1 Mio. Euro. Nach einem Jahr sei der Marktzinssatz auf 6 % gefallen; der Marktwert des Wertpapiers steigt hierdurch nach Ausschüttung der dann fälligen Zinsen von 80.000 Euro auf 1.136.060 Euro. Wird das Wertpapier zu diesem Zeitpunkt verkauft, ergibt sich ein Überschuss (Veräußerungserlös abzüglich Anschaffungskosten) in Höhe von 136.060 Euro; dessen Entnahme lässt den ursprünglich investierten Betrag von 1 Mio. Euro unangetastet. Was indes nicht unangetastet bleibt, und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend, ist die Gewinnquelle: Wenn der Betrag von 1 Mio. Euro wieder investiert wird, jetzt zum neuen Marktzinssatz von 6 %, vermindert sich der jährliche Gewinn (Zinsertrag) auf 60.000 Euro. Eine Gewinnquellenerhaltung im Sinne einer Erhaltung des ursprünglichen wirtschaftlichen Potentials, also der ursprünglichen Gewinnerwartungen (80.000 Euro jährlich), schließt die Entnahme des Reinvermögenszugangs von 136.060 Euro aus: Nur die Wiederanlage des Gesamtbetrags von 1.136.060 Euro sichert die Erhaltung des ursprünglichen Gewinnstroms von 80.000 Euro. Der gerade skizzierte Gedankengang lässt sich auf die bilanzielle Gewinnermittlung übertragen; auch hier kann trotz bilanzieller Reinvermögenserhaltung ein Gewinn ermittelt werden, der die Gewinnquelle angreift. Das Verdienst der Quellentheoretiker liegt gerade darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die Funktion der Reinvermögenserhaltung gelenkt haben: Die Gewinnquelle soll nicht retrospektiv gesehen werden, sie wird also nicht durch die Einlagenhöhe als solcher bestimmt, sondern durch die in diesen Einlagen verkörperten Gewinnerwartungen. Nichts anderes ist gemeint, wenn die „Aussicht auf Wiederholung“ als Gewinnkriterium gilt: Als entziehbarer Betrag soll nur gelten, was mit einer gewissen Regelmäßigkeit anzufallen pflegt und infolgedessen die Vermutung einer (grob zu verstehenden) Extrapolierbarkeit für sich hat.
__________ Gewinn als Betrag, über den eine Person verfügen kann, „ohne ihr bisheriges Vermögen selbst zu mindern“ (Schanz, Finanz-Archiv 1896, I-1 [23]). 4 Vgl. insbes. Fuisting, Die Einkommensbesteuerung der Zukunft, 1903, und Strutz, Kommentar zum EStG, Bd. I, 1927, S. 33. 5 Strutz (Fn. 4), S. 33. 3
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Bilanziell ermittelte Gewinne sind retrospektiv gedacht: Sie bestimmen sich nach den in der zurückliegenden Abrechnungsperiode erzielten Erträgen und den entsprechenden Aufwendungen. Zwar hängen Ansatz und Bewertung vieler Bilanzposten von erwarteten Entwicklungen ab6 – man denke etwa an abnutzbare Anlagegegenstände oder Rückstellungen –, aber das ändert nichts daran, dass der bilanziell ermittelte Gewinn vergangenheitsbezogen konzipiert ist, dass er die in der vergangenen Periode erreichte Reinvermögensmehrung erfasst: Selbst wenn künftige Änderungen von Erträgen bzw. Aufwendungen zum Zeitpunkt der Bilanzerstellung bereits festliegen, bleiben sie bei der Gewinnermittlung unberücksichtigt. Das Bilanzrecht kennt keine Posten „Allgemeines Wagnis“ oder „Allgemeine Chancen“. So mag etwa ein Unternehmen im Geschäftsjahr den bisher üblichen Umfang von Investitionen im Bereich von Forschung und Entwicklung oder der Kundenwerbung erheblich vermindert haben, obgleich die entsprechenden Aufwendungen zur Gewinnstabilisierung unbedingt notwendig erscheinen. Die negativen Gewinnauswirkungen solcher Entscheidungen werden im Allgemeinen erst mit einer gewissen Verzögerung eintreten, der Gewinn des betreffenden Geschäftsjahrs kann aber wegen der niedrigeren Aufwandsbelastung der GVR erheblich steigen. Die Ausschüttung dieses Mehrgewinns lässt dann zwar das bilanzielle Ausgangsreinvermögen unangetastet, nicht jedoch die von diesem Ausgangsreinvermögen verkörperte Gewinnquelle, die Ertragskraft des Unternehmens. 3. Bedeutung der prospektiv verstandenen Entziehbarkeit für Gewinnverwendungsentscheidungen Die Fragwürdigkeit des bilanziell ermittelten Gewinns als entziehbarem Betrag mag selbstverständlich erscheinen; die Trennung von Gewinnermittlung und Gewinnverwendung trägt der Problematik grundsätzlich Rechnung. Ob sich die Praxis bei Gewinnverwendungsüberlegungen dieser Fragwürdigkeit indes in ihrer ganzen Breite bewusst ist, wird man bezweifeln müssen. So lässt sich etwa aus dem Wortlaut von § 122 Abs. 1 HGB (Entnahmerestriktion, sofern die Entnahme „zum offenbaren Schaden der Gesellschaft gereicht“) auf ein eher enges Verständnis des Gewinnverwendungsspielraums schließen. Wegen der Fragwürdigkeit des bilanziell ermittelten Gewinns als entziehbarem Betrag war es dagegen grundsätzlich sinnvoll, dass mit dem Bilanzrichtlinien-Gesetz das zuvor bei GmbH geltende Vollausschüttungsgebot aufgehoben wurde (§ 29 Abs. 2 GmbHG). Doch lässt sich das Problem, ob ein von der Gesellschaftermehrheit gefasster Gewinnverwendungsbeschluss wegen sachlich nicht vertretbarer Reservenzuführung die Minderheitsinteressen grob verletzt und daher einen Rechtsmissbrauch bildet, nicht gerade einfacher lösen, wenn man die Fragwürdigkeit
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Vgl. insbes. Clemm in FS Beusch, 1993, S. 131.
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des als Gewinn entziehbaren Betrags in ihrer ganzen Breite berücksichtigt: Es ist keineswegs ausgemacht, dass eine sachlich nicht vertretbare Reservenzuführung nur vorliegt, wenn Verlustausweise bis hin zur Gefährdung des Unternehmensfortbestands drohen, wenn die „Lebens- und Widerstandsfähigkeit“7 des Unternehmens tangiert ist. Überträgt man das erwähnte Wertpapierbeispiel auf generelle Unternehmensverhältnisse, so kommt eine vertretbare Reservenzuführung hinsichtlich des Gewinns von 136.060 Euro durchaus in Betracht; die Entnahme dieses Betrags brächte zwar keine Verlust- bzw. Bestandsgefahren mit sich, hätte aber einen „offenbaren Schaden“ für die Gesellschaft insofern zur Folge als das Gewinnerwartungsniveau deutlich abgesenkt wird. Das Gesellschaftsinteresse orientiert sich ja nicht nur am Fortbestand des Unternehmens; die Gesellschafter sind vielmehr auch an einem bestimmten Gewinn-Niveau interessiert. Die gesellschaftliche Treuepflicht kann es bei einer deutlichen Absenkung des GewinnNiveaus und bei Fehlen unvertretbarer Härten für die Minderheit dieser im Einzelfall durchaus gebieten, einer Gewinnzurückbehaltung zuzustimmen.
III. Bilanzielle Vermögens-, Finanz- und Ertragslage als Indikator der wirtschaftlichen Unternehmenslage? Es könnte selbstverständlich erscheinen, dass die Aktivseite einer Bilanz die Vermögenslage des Unternehmens wiedergibt, die Passivseite die Finanzlage und der bilanziell ermittelte Gewinn die Ertragslage. In einer formalen Betrachtung ist das auch insofern richtig, als die Aktivseite Vermögensgegenstände (einschließlich aktiver Rechnungsabgrenzungsposten) vereinigt, die Passivseite Schulden (einschließlich passiver Rechnungsabgrenzungsposten) sowie das Eigenkapital und der Gewinn nichts anderes bildet als den erzielten Reinertrag. Bilanzanalytiker errechnen dementsprechend die verschiedensten Kennzahlen zur Vermögensstruktur, zur Kapitalstruktur, zu den Beziehungen zwischen beiden und, unter Heranziehung der Gewinn- und Verlustrechnung, zur Ertragsstruktur; hieraus glaubt man verlässliche Schlüsse ziehen zu können auf die wirtschaftliche Unternehmenslage. Diese wirtschaftliche Unternehmenslage wird dabei allzu leicht gleichgesetzt dem, was das Ergebnis solcherart Analysetechnik bildet. 1. Das auf die Gewinnerwartungen gerichtete Informationsinteresse der Adressaten Wenn das Gesetz die Bilanz des Kaufmanns „einen das Verhältnis seines Vermögens und seiner Schulden darstellenden Abschluss“ nennt (§ 242 Abs. 1 Satz 1 HGB), so kann das leicht allzu wörtlich genommen, das heißt missverstanden werden im Sinne einer bilanziellen Erfassung des wirtschaft-
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BGH, JZ 1996, 856; RG, RGSt 61, 275.
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lichen Reinvermögens. Auf dieses richten sich indes die Informationsinteressen der zu schützenden Adressaten, die den Effektivwert des Unternehmens beurteilen wollen, nicht einen bloßen Buchwert; bilanziell lässt sich jedoch wegen der aufgrund des zwingenden Einzelbewertungsprinzips unvermeidlichen Vernachlässigung des im Allgemeinen sehr gewichtigen originären Geschäfts- oder Firmenwerts nur dieses bloße Buchvermögen erfassen. Adressaten benötigen daneben Informationen über die Finanzlage im Sinne sowohl der kurzfristigen als auch der nachhaltigen Liquiditätserwartungen; auch insoweit sind Bilanzen überfordert, vor allem, weil sie nur zum geringen Teil die liquiditätsbestimmenden künftigen Ein- und Auszahlungen enthalten. Wenn sich Adressaten schließlich für die Ertragslage interessieren, so sind das die Gewinnerwartungen: Danach bestimmt sich der Wert der Unternehmensanteile, davon hängen die Liquiditätserwartungen entscheidend ab, nach deren Entwicklung wird die Qualität der Unternehmensleitung beurteilt etc. Gewinnerwartungen lassen sich anhand bilanziell ermittelter Gewinne auch nicht halbwegs verlässlich bestimmen: Nicht einmal die Veränderungsrichtung des bilanziell ermittelten Gewinns muss mit der Veränderungsrichtung der Gewinnerwartungen übereinstimmen; einer Verminderung (Erhöhung) des bilanziell ermittelten Gewinns in der Rechnungsperiode kann eine Erhöhung (Verminderung) der Gewinnerwartungen gegenüberstehen. Es ist bekannt, dass die Bildung bzw. Auflösung so genannter stiller Reserven hier verzerrend wirkt; doch sollte man die Bedeutung von Tendenzen zur Einschränkung stiller Reserven und allgemein des Vorsichtsprinzips nicht überschätzen: Mindestens von gleichem Gewicht sind die bereits erwähnten, aus dem zwingenden Einzelbewertungsprinzip resultierenden stillen Vermögenswerte und stillen Lasten, die sich einer bilanziellen Darstellung entziehen und deren Veränderungen daher der bilanzielle Gewinn nicht erfasst. 2. Bereinigte Gewinngrößen als brauchbare Indikatoren der Gewinnerwartungen? Soll der bilanziell ermittelte Gewinn die Gewinnerwartungen anzeigen, muss er im Sinne der Quellentheoretiker „Aussicht auf Wiederholung“ haben, extrapolierbar sein. Das setzt indes voraus, dass sich die im betreffenden Geschäftsjahr wirksam gewordenen Gewinndeterminanten perpetuieren – eine völlig unrealistische Annahme, lässt sich doch beobachten, dass die den Geschäftsjahrgewinn beeinflussenden Faktoren nach Art und Umfang einem erheblichen Wechsel unterliegen, dass sie nicht einmal auf lange Sicht eine gewisse Kontinuität aufweisen. Gesetzgeber und Standardisierungsausschüsse versuchen, die Indikatorfunktion des Gewinns hinsichtlich der Gewinnerwartungen durch Gewinnbereinigungen zu erreichen: Die Gewinnkomponenten sollen hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Prognosetauglichkeit gesondert ausgewiesen und erläutert 1012
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werden. Dem Erfolg solcher Bemühungen steht zunächst entgegen, dass sich auf diese Weise zwar Effekte bereits wirksam gewordener Gewinndeterminanten isolieren lassen, aber nicht die erwarteten Effekte von erst künftig wirksam werdenden Determinanten: Man kann zum Beispiel die Effekte einer Rückstellungsauflösung (als „aperiodischen“ Ertrag) ebenso gesondert zeigen wie Beeinflussungen des Geschäftsjahrsgewinns, deren Ursachen außerhalb der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit liegen („außerordentliche“ Gewinnkomponenten); die Auswirkungen einer mit dem neuen Geschäftsjahr in Kraft tretenden Erhöhung etwa der Rohstoff- oder Personalaufwendungen sind dagegen durch solcherart Gewinnbereinigungen nicht wiederzugeben. Es kommt hinzu, dass das Gesetz derzeit nur sehr partielle, unzureichende Gewinnbereinigungen erzwingt8. 3. Konsequenzen für eine Reform des informationellen Teils der Rechnungslegung „Financial statements deal with the financial position of an enterprise at the end of its reporting period and not its possible positon in the future“9. Die „Erwartung schlechter Ergebnisse“ bleibt bei der bilanziellen Gewinnermittlung unberücksichtigt; deswegen etwa eine Rückstellung zu passivieren, „würde die Bilanzpraxis als unmögliches Verfahren empfinden“. „Wenn die Gefahr nur darin besteht, dass die Gewinne aufhören oder gar Verluste entstehen können, dann wirkt sich das zwar auf den Wert des Unternehmens im ganzen aus, aber nicht auf die jährliche Erfolgsrechnung; denn es widerspricht dem Sinn einer Erfolgsrechnung, dass ein voraussichtliches Ergebnis, sei es Gewinn oder Verlust, bereits vorweggenommen wird“10. Wenn es dem „Sinn einer Erfolgsrechnung“ nicht entspricht, die entscheidenden Informationsinteressen der Adressaten zu befriedigen, so heißt das nicht nur, dass sich ein breites Publikum von seiner Bilanz- bzw. Gewinnfixierung lösen muss, sondern auch der Gesetzgeber. Dieser könnte sich dabei an dem Vorbild des US-amerikanischen Wertpapierrechts orientieren: Zutreffend hebt die SEC hervor, „a numerical presentation and brief accompanying footnotes alone may be insufficient for an investor to judge the quality of earnings“. Entscheidend für ihn sei die „likelihood that past performance is indicative of future performance“; gefordert wird daher „a historical and prospective analysis … with particular emphasis on the registrant’s prospectus for the future“11.
__________ 8 Vgl. zur Begründung Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003,
S. 267 ff. 9 International Financial Reporting Standards, Standard Nr. 37 par 18 Satz 1. 10 Schmalenbach, Dynamische Bilanz, 13. Aufl. 1962, S. 170 (alle Zitate). 11 Securities and Exchange Commission, Codification of Financial Reporting Policies,
§ 501.01 (alle Zitate).
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Die SEC kennt die Forderung nach „forward looking statements“ bereits seit 1972. Bemerkenswerterweise waren es Juristen, die im Schrifttum damals für die Neuorientierung plädierten. Die frühere Zurückhaltung der SEC gegenüber prognoseorientierten Informationen wurde hart als „nonsense“ kritisiert: Erforderlich sei eine Transformation „of all of the plethora of information into a projection for the future“ anstelle einer „unmanageable and unfocussed flood“ von Rechnungslegungsinformationen12.
IV. Zusammenfassung 1. Bilanzen wird die Aufgabe zugeschrieben, einen Gewinn auszuweisen, der als entziehbarer Betrag taugt und zudem als Indikator der wirtschaftlichen Unternehmenslage dienen kann. Es wurde zu zeigen versucht, dass die bilanzielle Gewinnermittlung für beide Aufgaben ungeeignet ist. 2. Als entziehbar gilt grundsätzlich der sich unter Berücksichtigung von Periodeneinlagen und -entnahmen ergebende Reinvermögensüberschuss; das Ausgangsreinvermögen der Periode soll als Gewinnquelle erhalten bleiben. Erhaltung des bilanziellen Ausgangsreinvermögens kann indes vorliegen, obgleich die von diesem Ausgangsreinvermögen verkörperten Gewinnerwartungen und damit das wirtschaftliche Potential des Unternehmens in der Abrechnungsperiode erhebliche Einbußen erfahren haben. Das darf bei der Beurteilung, ob eine von der Gesellschaftermehrheit beschlossene Rücklagenzuführung einen Rechtsmissbrauch darstellt, nicht unberücksichtigt bleiben. 3. Wenn der bilanziell ermittelte Gewinn aber die im Geschäftsjahr eingetretene Entwicklung des wirtschaftlichen Potentials auch nicht halbwegs zuverlässig zu erfassen vermag, bildet er einen geradezu gefährlichen Indikator der wirtschaftlichen Unternehmenslage. Rechnungslegung kann ihrer Schutzfunktion gegenüber den Informationsadressaten nur gerecht werden, wenn sich die Erkenntnis verbreitet, dass ein so komplexer Sachverhalt wie die wirtschaftliche Unternehmenslage auch komplexe Informationsinstrumente erfordert; die oft beklagte „Erwartungslücke“ lässt sich anders nicht beseitigen.
__________ 12 Kripke, NYULRev. 1970, 1151 (zitiert nach Seligman, Fordham Law Review 1995,
1953 [1955]). Vgl. insbes. Wüstemann, Institutionenökonomik und internationale Rechnungslegungsordnungen, 2002, S. 131 ff.
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Anteilswert oder anteiliger Unternehmenswert? – Zur Frage der Barabfindung bei der kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaft Inhaltsübersicht I. Zur Fragestellung II. Gegenstand der Überlegungen III. Gegenstand der Barabfindung 1. Die Aktie als Anteil am Unternehmenswert 2. Die Bewertungsmethoden und das Kriterium der Angemessenheit 3. Die börsennotierte Aktie als derivatives Instrument 4. Die Gegenargumente
5. Zwischenergebnis IV. Börsenkurs und Relationsbewertung 1. Abfindung und Umtausch 2. Relationsbewertung V. Bewertungsstichtag 1. Gesetzliche Regelung 2. Die Lösung des BGH 3. Betriebswirtschaftliche Stimmen VI. Thesen
„Der Markt hat immer Recht, es gibt keine andere Instanz.“ Klaus Zumwinkel anlässlich des Börsengangs der Postbank „Der Wert eines Unternehmens wird nicht von seinen Vorständen festgelegt, sondern von der Börse.“ Jean-François Dehecq anlässlich der Aventis-Übernahme
I. Zur Fragestellung 1. Als Vorsitzender des II. Zivilsenats des BGH hat sich der Jubilar mit seinem Senat wie kaum ein anderer (vielleicht ausgenommen das OLG Düsseldorf) mit dem Problem der Angemessenheit von Abfindungen und damit mit Bewertungsfragen auseinander gesetzt und wegweisende Entscheidungen getroffen. Stellvertretend seien nur die Fälle DAT/Altana und Macrotron genannt. Nach der Grundsatzentscheidung des BVerfG, die den Börsenkurs als Untergrenze der Abfindung für ausscheidende außenstehende Aktionäre zementiert hat1, und in Ansehung des Umstands, dass sich die Rechtsprechung die sog. Ertragswertmethode oder auch Wirtschaftsprüfermethode faktisch als
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BVerfG, Beschl. v. 27.4.1999, ZIP 1999, 1436 ff. (DAT/Altana).
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allgemein gültige Methode zu Eigen gemacht hat2, sollte man meinen, dass von Rechts wegen zu Bewertungsfragen nicht mehr sehr viel anzumerken bleibt, zumal die Praxis so verfährt und die Methode auch den Segen der Literatur erhalten hat3. Dessen ungeachtet seien nachfolgend einige kritische Anmerkungen versucht. Sie haben ihre Ursache in dem Störgefühl des Autors, dass ein befriedigender Abgleich zwischen methodisch abgeleitetem Anteilswert und Börsenpreis bisher nicht recht geglückt und dass die Methodik in der Gesamtschau nicht widerspruchsfrei ist. Börsenpreis und Unternehmenswert (nach welcher Methode auch immer ermittelt) sind zwei verschiedene Dinge. Vermischt ergibt sich vielleicht ein schmackhafter Brei, aber nicht immer ein brauchbares Resultat. Wenn der Markt wirklich die einzige Instanz ist, das kann man ja einem erfahrenen Unternehmensführer wie Herrn Zumwinkel abnehmen, und der Wert eines Unternehmens nicht von seinen Vorständen (und schon gar nicht von irgendwelchen Unternehmensbewertern), sondern von der Börse festgelegt wird, wie ein nicht minder erfahrener Unternehmensführer wie Herr Dehecq meint, so stellt sich doch die Frage, wieso es in Abfindungsfällen bei börsennotierten Wertpapieren überhaupt noch auf einen gutachterlich ermittelten und schlussendlich durch Spruchentscheid festgestellten „Unternehmenswert“ ankommen soll. Ist es nicht ein Glücksfall, einen Preis auf einem transparenten und gegen Insidermanipulationen weitgehend abgeschirmten Markt zu haben, statt eines „Wertes“ oder realistischerweise vieler „Werte“ aus Bewertungsgutachten, die unterschiedlichen Methoden und Schulen folgen? Es muss auch die Frage beantwortet werden, warum ein Aktionär ggf. Anspruch auf mehr haben soll als der relevante Markt, nämlich die Börse, bereit ist zu bezahlen; mit anderen Worten: Ist die verfassungsmäßige Untergrenze im Regelfall nicht auch die angemessene Obergrenze? Schließlich ist auch zu klären, ob es für die Relationsbewertung im Vergleich zweier Unternehmen (z. B. bei der Verschmelzung) richtigerweise nur auf die Methodengleichheit, nicht aber auf irgendwelche Untergrenzen i. S. d. Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung ankommt. Auf diese Fragen sollen nachfolgend einige Gedanken verwendet werden.
__________ Vgl. IdW Standard, IdW S1, WPg. 2000, 825 ff. und Entwurf einer Neufassung IdW ES1 n. F. WPg. 2005, 28 ff.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 31.1.2003, AG 2003, 329 (332); BGH v. 12.3.2001, AG 2001, 417; BGH v. 16.12.1991, WM 1992, 264; OLG Düsseldorf v. 8.7.2003, AG 2003, 688. 3 Vgl. nur Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 305 Rz. 19; Bilda in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 305 Rz. 64; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 3. Aufl. 2003, § 305 AktG Rz. 51 ff.; Koppensteiner in KölnerKomm.AktG, 3. Aufl. 2004, § 305 Rz. 35; Hüffer/Schmidt-Aßmann/Weber, Anteilseigentum, Unternehmenswert und Börsenkurs, 2005 (konnte im Einzelnen nicht mehr berücksichtigt werden). 2
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2. Um für die Bewertungs- (besser: Bepreisungs)problematik ein richtiges Bild zu bekommen, ist es m. E. erforderlich, den bepreisungsmäßig relevanten Gehalt einer börsennotierten Aktie zu bestimmen. Ist sie ein Gesellschaftsanteil wie jeder andere (z. B. an einer Personengesellschaft oder an einer GmbH) oder setzt sie sich inhaltlich von diesen Instrumenten ab und erhält durch den Handel an einem regulierten Markt auch bewertungsmäßig eine Eigenständigkeit in der Art eines Derivats, bei dem das Unternehmen der AG zwar den Basiswert (underlying), aber eben nicht alle weiteren Wertkomponenten positiver und negativer Art abbildet? Die Problematik für den börsennotierten Anteil liegt m. E. darin, dass bisher der Anteilswert für Zwecke der Abfindung unterschiedslos gleichgesetzt wird mit dem anteiligen Unternehmenswert. Am deutlichsten bringt diese Anschauung der IdW-Standard zur Unternehmensbewertung zum Ausdruck4: „Der objektivierte Wert des Unternehmensanteils entspricht dem quotalen Wertanteil am objektivierten Gesamtwert des Unternehmens.“ Die Kapitalgesellschaft ist sozusagen transparent und zerfällt zu Bruchteilen auf ihre Anteilseigner. Gegen diesen Ansatz ist gar nichts einzuwenden, wenn es um Anteile geht, für die es keinen Markt im eigentlichen Sinne gibt, schon gar keinen geregelten Markt, der nach nichtdiskretionären Regeln arbeitet. Hier muss auf Notbehelfe ausgewichen werden, auf Lösungsansätze, die mögliche Marktpreise oder Verkehrswerte zu simulieren vermögen. Bewerten heißt vergleichen5, und zwar vergleichen mit Gegenständen, die einen Preis haben. Gesucht ist schlussendlich ein Preis, der einen bestimmten Wert unter vielen möglichen Werten darstellt. Dazu sind Bewertungsmodelle, die eigentlich Erklärungsmodelle für mögliche Preise sind, nicht nur hilfreich, sondern unersetzbar. Man muss sich dabei aber immer bewusst sein, dass die Unternehmensbewertung nur zu einem fiktiven und nicht zu einem realen Preis führt. Unternehmensbewertungsmodelle sind extrem streitanfällig. Sie müssen mit vielfachen Annahmen, subjektiven Einschätzungen und Wertungen arbeiten – auch wenn sie sich noch so sehr um Objektivität oder Objektivierung bemühen – und sie sind so komplex, dass der Nachvollzug selbst Experten Schwierigkeiten bereiten kann. Damit werden sie aber auch zum dankbaren Spekulationsobjekt für ausscheidende oder ausscheidenswillige (Minderheits-)Gesellschafter, denen das BVerfG auch noch das Risiko abgenommen hat, dass eine Bewertung etwa weniger als den Börsenkurs ergeben könnte. Eine friedensstiftende Wirkung geht jedenfalls von Sachverständigengutachten nicht aus, was sich in den Gutachterschlachten vor den Spruchstellen zeigt. Um wie viel einfacher ist da der Preis! Er ist ein schlichtes Fak-
__________ 4 5
IdW S1 (Fn. 2), Rz. 13, wortgleich im Entwurf einer Neufassung IdW ES1 Rz. 13. Vgl. Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 1983, S. 123.
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tum; er ist real und nicht fiktiv. Sollte das etwa nur eine scheinbare Einfachheit sein? Erstaunlicherweise begegnet die Bewertungstheorie (dort ist es verständlich) und auch die Bewertungspraxis dem Preis, insbesondere dem Börsenpreis mit Skepsis bis Ablehnung. Bis zum Beschluss des BVerfG v. 27.4.1999 hat er praktisch keine Rolle gespielt6. Aber auch danach sind weder das IdW noch die überwiegende Bewertungsliteratur noch die Rechtsprechung bereit, uneingeschränkt den Börsenkurs als maßgeblichen Wert anzuerkennen. Das IdW benutzt ihn lediglich zur Plausibilisierung des nach betriebswirtschaftlichen Verfahren ermittelten Unternehmenswerts und zur besonders kritischen Sichtung erhobenen Datenmaterials7, sträubt sich aber sichtbar, den Börsenpreis für den Anteilswert uneingeschränkt zu akzeptieren. Auch in der Festschriftenliteratur hat die Zurückhaltung gegenüber dem Börsenkurs erst jüngst wieder gewichtige Stimmen gefunden8. Zu bemerken ist allerdings, dass ebenso gewichtige Stimmen ebenfalls in jüngster Zeit eine Weiterentwicklung der Grundsätze der Unternehmensbewertung zu mehr Marktnähe fordern. Insbesondere sollen für den Kapitalisierungszinssatz Kapitalmarktrenditen für börsennotierte Aktien zur Anwendung kommen, die Rendite in ihre Komponenten „Dividende“ und „Kursgewinn“ aufgeteilt werden und die Vollausschüttungshypothese durch die Annahme eines realistischen Ausschüttungsverhaltens ersetzt werden9. Aber auch bei diesen Vorschlägen spielt der Börsenkurs der Papiere selbst allenfalls eine untergeordnete Rolle.
II. Gegenstand der Überlegungen 1. Gegenstand nachfolgender Überlegungen ist ausschließlich die Bemessung der Gegenleistung für börsennotierte Wertpapiere bei Ausscheiden aus der Gesellschaft. Drei Fälle kann man unterscheiden: (1) Der Minderheitsaktionär muss aus der Gesellschaft zwangsweise ausscheiden.Das sind die Fälle der Eingliederung durch Mehrheitsbeschluss (§§ 320, 320a AktG) und des Ausschlusses (Squeeze out, §§ 327a ff. AktG). (2) Der Minderheitsaktionär kann aus einer strukturveränderten Gesellschaft ausscheiden, kann aber auch Gesellschafter bleiben. Das sind die Fälle des Unternehmensvertrages (§ 305 AktG), der Umwandlung durch Mehrheitsbeschluss (§ 29 UmwG) und des Delisting.
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Vgl. Stehle, WPg. 2004, 906 (907). IdW S1 (Fn. 2), Rz. 15. Böcking in FS Drukarczyk, 2003, S. 59 ff.; Hüffer in FS Hadding, 2004, S. 461 ff. Vgl. Wagner/Jonas/Ballwieser/Tschöpel, WPg. 2004, 889 ff. Dem will der Entwurf einer Neufassung des IdW-Standards IdW ES1 Rechnung tragen.
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(3) Der Aktionär hat die freie Wahl, in einer (jedenfalls zunächst) nicht strukturveränderten Gesellschaft zu bleiben oder auszuscheiden. Das sind die Fälle des freiwilligen oder Pflichtübernahmeangebots (§ 31 WpÜG). In allen drei Fällen äußert sich das Gesetz recht allgemein dahin, dass die Anteile gegen eine „angemessene Abfindung“ oder „angemessene Barabfindung“ (§§ 305 Abs. 1, 320b Abs. 1, 327a AktG, § 29 Abs. 1 UmwG) oder gegen eine „angemessene Gegenleistung“ (§ 31 Abs. 1 WpÜG) zu erwerben seien. Bei der näheren Bestimmung der Angemessenheit lassen sich aber unterschiedliche Ansatzpunkte des Gesetzgebers erkennen: Bei den Zwangsausscheidensfällen (§§ 320b Abs. 1 Satz 5; 327b Abs. 1 Satz 1 AktG) muss die Barabfindung „die Verhältnisse der Gesellschaft im Zeitpunkt der Beschlussfassung […] berücksichtigen“. Ebenso verhält es sich im Falle des wahlweisen Ausscheidens bei strukturverändernden Maßnahmen (§ 305 Abs. 3 Satz 2 AktG: „[…]. muss die Verhältnisse der Gesellschaft im Zeitpunkt der Beschlussfassung […] berücksichtigen“). Im Falle der absolut freien Entscheidung beim Übernahmeangebot sind bei Bestimmung der angemessenen Gegenleistung „grundsätzlich der durchschnittliche Börsenkurs der Aktien der Zielgesellschaft“ oder die bezahlten „Vorerwerbspreise“ innerhalb der letzten drei Monate vor Angebotsveröffentlichung zu berücksichtigen (§ 31 Abs. 1 Satz 2 WpÜG; § 4 WpÜG-AngebotsVO). Es ist signifikant, dass das jüngste Gesetz, nämlich das WpÜG (v. 20.12.2001), das allerdings nur auf börsennotierte Papiere Anwendung findet, für die Angemessenheit nicht auf „die Verhältnisse der Gesellschaft“, sondern auf den „durchschnittlichen Börsenkurs“ oder auf tatsächlich bezahlte Vorerwerbspreise abstellt. Weiterhin ist bemerkenswert, dass die Gesetze generell nur anordnen, dass die „Verhältnisse“ oder der „Börsenkurs“ „zu berücksichtigen“ sind, nicht aber, dass sie den allein maßgeblichen Wertmaßstab darstellen. 2. Damit ist zunächst einmal festzuhalten, dass sich nach derzeitiger Rechtslage die „angemessene Gegenleistung“ wie folgt ergibt: nach WpÜG ausschließlich nach gestellten Preisen (Vorerwerbspreis oder Börsenkurs); nach AktG und UmwG rechtsformneutral unter Berücksichtigung der „Verhältnisse der Gesellschaft“, aber – nach der Rechtsprechung des BVerfG – mit dem Börsenkurs als Untergrenze. Wenn auch in unterschiedlicher Wertigkeit ist bei börsennotierten Papieren der Börsenkurs immer zu beachten. Zur Abrundung des Bildes sei – wenn auch für den Gesellschaftsrechtler etwas sachfremd – das Steuerrecht zitiert. Soweit im Steuerrecht der sog. gemeine Wert (er entspricht dem Verkehrswert: § 9 Abs. 2 BewG) eine Rolle spielt, werden Wertpapiere, die an einer deutschen Börse zum Handel zugelassen sind, mit dem niedrigsten am Stichtag für sie im amtlichen Handel notierten Kurs angesetzt (§ 11 Abs. 1 BewG). Nun könnte man sagen, dass es sich hier um eine vereinfachende Betrachtung handelt, die dem steuerlichen Massenverfahren Rechnung trägt und der gleichmäßigen Steuerfestsetzung dient. Aber nach Abschaffung der Gewerbekapital- und der Vermögenssteuer 1019
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hat diese Bestimmung vorrangig nur noch bei der doch sehr individuellen Erbschaftsbesteuerung Bedeutung und die Gleichbehandlung kann durchaus auch im Gesellschaftsrecht ihre Rolle spielen. Steuerlich wird jedenfalls ein Abweichen vom Kurswert nur in extremen Ausnahmefällen zugelassen, wenn der amtlich festgestellte Kurs nicht der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse (nicht etwa den inneren Verhältnissen der Gesellschaft) entspricht10. Dies kann praktisch kaum vorkommen, da nach § 24 Abs. 1 BörsenG Börsenpreise „ordnungsmäßig zustande kommen und der wirklichen Marktlage des Börsenhandels entsprechen“ müssen.
III. Gegenstand der Barabfindung 1. Die Aktie als Anteil am Unternehmenswert a) Die entscheidende Frage in dieser Problematik hat erstmals Hüffer11 in aller Deutlichkeit gestellt: Was soll eigentlich bewertet werden? Ist es der quotale Anteil am Gesellschaftsunternehmen oder ist es vielleicht doch die Aktie als eigenständiges, auf organisierten Kapitalmärkten handelbares Gut? Hüffer entscheidet sich für den ersten Lösungsweg: Seiner Ansicht nach gibt es keinen Konzeptionswechsel, weder durch das Urteil des BVerfG noch durch den Wandel betriebswirtschaftlicher Bewertungskonventionen. Die vom BVerfG entwickelte Wertuntergrenze erklärt er aus den Besonderheiten des Anteilseigentums der Kleinaktionäre und der Wahrnehmung diesbezüglicher Schutzfunktionen. Seiner Meinung nach – und so ist auch die ganz herrschende Meinung – ist der volatile Börsenkurs keinesfalls den üblichen Bewertungsmethoden überlegen, um dem Aktionär den vollen Wert seines Anteils zu gewährleisten. Auch in Hüffers Meinung spiegelt sich die Reserve gegenüber der Richtigkeit des Börsenkurses wider. b) Im Ergebnis bleibt es also auch nach Hüffer dabei, dass die börsennotierte Aktie bewertungsmäßig ein Gesellschaftsanteil wie jeder andere ist und Bewertungsgegenstand das „quotale Unternehmenseigentum“ bleiben muss. Der Börsenkurs als Bewertungsuntergrenze ist dabei eine mehr oder weniger in Kauf zu nehmende Arabeske, geboren aus der Schutzfunktion des Art. 14 GG: Der Minderheitsaktionär darf jedenfalls nicht weniger erhalten, als er „bei einer freien Deinvestitionsentscheidung zum Zeitpunkt des Unternehmensvertrags oder der Eingliederung erlangt hätte“12. Übrigens, dies sei hier nur am Rande vermerkt, ist die These von der Untergrenze keine originäre Erfindung des BVerfG; Drukarczyk hat diese Auffassung schon 1973 überzeugend vertreten13. Logischerweise muss es dann aber neben dem an der Börse gestellten Preis noch einen, allenfalls zufällig mit diesem identischen,
__________ 10 11 12 13
BFH, BFH/NV 2002, 319. Hüffer (Fn. 8), S. 461 (464). BVerfG, ZIP 1999, 1436 (1440). Drukarczyk, AG 1973, 357 (361 ff.).
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„Verkehrswert“, „vollen Wert“ oder „wahren Wert“ geben, dessen Feststellung in die Kompetenz der Entscheidungsträger im Unternehmen (Vorstand, Aufsichtsrat, Hauptgesellschafter), der Gutachter und Sachverständigen und schlussendlich in das richterliche Ermessen fällt (§ 287 Abs. 2 ZPO). Dieser Wert, der wohlgemerkt kein Preis ist und schon gar kein an einem Markt zustande gekommener Preis, genießt das größere Vertrauen als ein vom Verkehrswert offenbar verschiedener Börsenkurs. Gelegentliche Zweifel an der Richtigkeit dieser These haben sich nicht durchgesetzt14. Hüffer sieht zwar Mängel in der Gutachterpraxis, meint aber, man könne dem Problem mit verfahrensökonomischen Verbesserungen (Gutachter als Schätzgehilfe mit beschränktem Auftrag) abhelfen15. Ich meine dagegen, dass zunächst das richtige Verständnis dafür zu wecken ist, was von einer Bewertungsmethode oder besser von der Vielfalt von Bewertungsmethoden überhaupt erwartet werden kann. Erst nach einer solchen Analyse und der Erkenntnis, dass zwischen Werten und dem Preis ein beachtlicher qualitativer Unterschied besteht, kann eine in sich schlüssige These entwickelt werden. 2. Die Bewertungsmethoden und das Kriterium der Angemessenheit a) Die Unternehmensbewertung ist eine heute bis ins Feinste ausgesponnene (um nicht zu sagen manchmal versponnene) Methodenlehre, die letztlich unter der Zielsetzung der Gewinnmaximierung Investitionsentscheidungen anhand des Kapitalwertkriteriums vorbereiten, absichern und rechtfertigen hilft. Der Wertbegriff setzt immer ein Subjekt-Objekt-Verhältnis voraus16 und nur in diesem Verhältnis können in sich schlüssige Werte gefunden und abgeleitet werden. Dies folgt allein schon daraus, dass die für sämtliche Bewertungsmethoden vorzugebenden Parameter (Erlös- und Ertragserwartungen, Risikoneigung, Kapitalisierungszinsfuß usw.) als objektive Größen schlicht nicht vorhanden sind. Die sog. objektive oder objektivierte Werttheorie, die das Unternehmen bewertet „wie es steht und liegt“ (stand alone) hat diese Kritikpunkte m. E. nie befriedigend ausräumen können, denn es gibt schlechterdings keinen Wert, der losgelöst von Personen und ohne Berücksichtigung ihrer besonderen Situation eine wirkliche Aussage und verlässliche Größe darstellt. Auch die sog. funktionale Werttheorie, die versucht, zwischen subjektiver und objektiver Werttheorie zu vermitteln, und einen fairen und angemessenen Einigungspreis (Arbitriumswert) zu ermit-
__________ 14 Vgl. BayObLG, AG 1999, 43 (45): „[…] so wird er [der Börsenkurs] in der Regel den
‚Verkehrswert‘ mindestens ebenso zutreffend angeben, wie eine langwierige Berechnung des Unternehmenswertes durch Sachverständige nach der Ertragswertmethode“. Vgl. auch Götz, DB 1996, 259 (265); Aha, AG 1997, 26 (28); Wenger, ZIP 1993, 321 (327). 15 Hüffer (Fn. 8), S. 461 (474). 16 Peemöller in Peemöller (Hrsg.), Praxishandbuch der Unternehmensbewertung, 2001, S. 3.
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teln trachtet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass für einen fairen Einigungspreis die (subjektive) Situation aller Beteiligten wenigstens einigermaßen berücksichtigt werden muss. Sinnvoll und nützlich kann es nur sein, die Grenzpreise des Verkäufers (Preisuntergrenze) und die Grenzpreise des Käufers (Preisobergrenze) auf subjektiver Basis zu ermitteln und auf dieser Bandbreite einen fairen Einigungspreis zu bestimmen. Mit Recht stellt Böcking fest, dass eine theoretische Fundierung des objektiven Unternehmenswerts aus Sicht der Betriebswirtschaftslehre nicht gefunden werden kann: „Im Ergebnis bleibt zu erkennen, daß subjektive Grenzpreise trotz der bekannten Ermittlungsschwierigkeiten im Gegensatz zum objektiven Unternehmenswert theoretisch begründet sind“17. Man kann den Begriff nicht treffender umschreiben als dies Pratt18 getan hat: „Value, like beauty, is in the mind of the beholder.“ b) Nun leistet die Unternehmensbewertung überall dort unschätzbare Dienste, wo es einen Markt und bezahlte Preise nicht gibt: Das ist das Transaktionsgeschäft (Investition und Deinvestition) mit Unternehmen und Unternehmensteilen, mit Beteiligungen, aber auch mit Anteilen. Grenzpreisüberlegungen kommen überall dort zum Zuge, wo letztlich eine Einigungssituation besteht und unterschiedliche Wertvorstellungen schlussendlich in einem Preis zum Ausgleich kommen. Wo es diesen Ausgleich jedoch nicht gibt – das sind die Fälle des zwangsweisen Ausscheidens – kann jegliche Unternehmensbewertung, gleich in welcher Funktion und nach welcher Methode auch immer, nur ein Notbehelf sein, um mit allen Ungereimtheiten, Annahmen, typisierten Erwartungen und Unterstellungen zur Lösung eines Konfliktfalls beizutragen. Wenn es aber einen Preis oder ein relevantes Umfeld mit Preisen gibt, dann ist es schon erstaunlich und begründungsbedürftig, warum für eine definitive Festlegung auf ein so unsicheres Instrument wie die Unternehmensbewertung zurückgegriffen werden soll. c) Hinzu kommt noch Folgendes: Es gibt zwar i. d. R. Preise an verschiedenen Handelsplätzen, zu verschiedenen Stichtagen, in verschiedenen Währungen. Das lässt sich aber in einem Zeitfenster vernünftig harmonisieren. Es gibt aber eine Vielzahl verschiedener Bewertungsmethoden, die heute durchaus den Regeln der Kunst entsprechen und grundsätzlich von der Rechtsprechung anerkannt werden müssen, denn es wäre von der Rechtsprechung vermessen, in diesem Punkt die Hoheit über die Betriebswirtschaft zu beanspruchen. Von den Gesamtbewertungsverfahren, die Zukunftserfolgswerte zugrunde legen, seien nur genannt: Dividend Discount Methode, Discounted Cashflow-Methode, Ertragswertmethode und Residualgewinnmodell; Vergleichswerte legen zugrunde die Multiplikatorverfahren (z. B. aus Börsenkur-
__________ 17 Böcking (Fn. 8), S. 59 (72); äußerst kritisch, aber überzeugend zum objektivierten
Wert: Hering/Brösel, WPg. 2004, 936 (939). 18 Pratt S. P., Valueing a business, 1981, S. 37.
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sen oder aus Transaktionen)19. Manche dieser Verfahren mögen über die Zeitachse (Totalperiode) zu identischen Unternehmenswerten kommen, aber kaum zu denselben Stichtagen20. Neben der Methodenvielfalt sind noch nicht berücksichtigt die vielen Ermessensentscheidungen und Weichenstellungen innerhalb der jeweiligen Methode. In sich bergen die einzelnen Methoden wieder eine Fülle von Streitfragen, die zu erheblichen Wertdifferenzen führen. Bei der Ertragswertmethode sei nur hingewiesen auf die Bestimmung des Kapitalisierungszinsfußes, der Risikoprämie und die Berücksichtigung der Steuerbelastung21. Es ist ganz unvermeidlich, dass bei aller Objektivität die subjektive Einschätzung des Gutachters oder Richters den letzten Ausschlag gibt. Dies ist alles zu bedenken, wenn man den Gutachter- oder Richterwert neben (oder über) den Börsenpreis stellt. 3. Die börsennotierte Aktie als derivatives Instrument a) Es ist auf die Hüffer’sche Grundfrage vom Bewertungsgegenstand zurückzukommen: Ist Bewertungsgegenstand die börsennotierte Aktie mit ihren besonderen Inhalten oder ist es das Gesamtunternehmen, „gequotelt“ auf die Aktionäre? Die Besonderheit der börsennotierten Aktie als Eigentumsobjekt hat das BVerfG in seinem DAT/Altana-Beschluss erkannt und die Verkehrsfähigkeit als Eigenschaft des Aktieneigentums zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Bei der Bepreisung der börsennotierten Aktie ist nicht nur der (quotale) Wert des Unternehmens als Wirtschaftseinheit, sondern auch die besondere Verkehrsfähigkeit der Aktie ins Kalkül zu ziehen22. Damit kommt neben der Vermögenskomponente schon im Beschluss des BVerfG eine weitere bewertungsrelevante Komponente ins Spiel, nämlich die besondere Verkehrsfähigkeit. Diese Überlegung hat sich die Rechtsprechung zu Eigen gemacht und berücksichtigt nunmehr diese besondere Verkehrsfähigkeit als weitere relevante Bewertungskomponente neben dem klinisch reinen Unternehmenswert23. Gerade diese Komponente kommt aber im Börsenkurs zum Ausdruck. Es gibt bisher kein sinnvolles Verfahren, die Komponente „Verkehrsfähigkeit“ zu isolieren und für sich zu bewerten bzw. zu bepreisen, jedenfalls nicht nach Auffassung des BGH. Deshalb kommt das Gericht
__________ 19 Überblicke bei Schultze, Methoden der Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 2003,
20 21 22 23
S. 71 ff.; W. Müller in Semler/Volhard (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Unternehmensübernahmen, 2001, S. 397 (412 ff.). Besonders kritisch Hering/Brösel, WPg. 2004, 936 (937): „[…] die Methodenwahl de facto das Ergebnis determiniert“. Vgl. Wagner/Jonas/Ballwieser/Tschöpel, WPg. 2004, 889 ff.; Stehle, WPg. 2004, 906 ff. BVerfG, ZIP 1999, 1436 (1440). Vgl. BGH, DB 2001, 969 ff.; OLG Düsseldorf, AG 2003, 329 ff.; OLG Düsseldorf, ZIP 2003, 1247 ff.; OLG Düsseldorf, AG 2003, 688 ff.; OLG Stuttgart, ZIP 2004, 712 ff.
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im Macrotron-Fall24 zu der radikalen Lösung, dass nur ein Pflichtangebot der ausgelisteten AG selbst über den Kauf ihrer Aktien zu einem adäquaten Minderheitenschutz führt. Für dieses Pflichtangebot wird wieder der Börsenkurs Wertuntergrenze sein müssen, denn nur im Kurs schlägt sich die besondere Verkehrsfähigkeit nieder. b) Die besondere Verkehrsfähigkeit ist aber nicht das einzige Kriterium, das die börsennotierte Aktie zu einem besonderen und eigenständigen Vermögensgegenstand macht. Die Verkehrsfähigkeit führt zu besonderen Nutzungsmöglichkeiten und damit zu einem besonderen Nutzungswert; allein dieser ist aus ökonomischer Sicht der maßgebliche Bewertungsgegenstand25. Natürlich ist auch für die börsennotierte Aktie das Unternehmen der AG der wesentliche bewertungsrelevante Baustein. Aber es gehen in die börsennotierte Aktie Bewertungselemente ein, die bei der Unternehmensbewertung nur teilweise bis gar nicht berücksichtigt werden, als da sind: Beurteilung der allgemeinen volkswirtschaftlichen Lage, Einschätzung der Branche, Einschätzung der politischen Lage, die Lage am Arbeitsmarkt, die Lage an den Rohstoffmärkten, Fusions- und Übernahmephantasie, Vorwegnahme von Synergieeffekten, Spekulationserwartungen, die allgemeine Anlagestimmung, die Unternehmensgröße, Aufnahme in einen und Verbleib in einem Börsenindex (Euro Stoxx 50, Stoxx 50, Dax, M-Dax, Tec-Dax, S-Dax), Corporate Governance, die Entwicklungen an Auslandsbörsen usw. Eine gewichtige Rolle spielt auch die mitgliedschaftsrechtliche Seite der Aktie, die bei der klassischen Unternehmensbewertung keinen Stellenwert hat. Zu denken ist an die unterschiedliche Bewertung von Stimmrechtsaktien und stimmrechtslosen Aktien, an Sonderrechte (sofern sie nicht in einem Gewinnvoraus bestehen), aber auch an den Lästigkeitswert, der sich in der möglichen Geltendmachung vom Gesetz selbst eingeräumter Schutzmechanismen für Minderheitsgesellschafter niederschlägt. Schon aus diesen Gründen kann m. E. die börsennotierte Aktie als Bewertungsgegenstand nicht mit gewöhnlichen Gesellschaftsanteilen gleichgesetzt werden. c) Hinzu kommt noch ein Weiteres: Die börsennotierte Aktie ist ein verkehrsfähiger Gegenstand, der darauf angelegt ist, als selbständiges Gut ohne wirklichen Bezug auf einen quotalen Unternehmenstransfer auf einem eigenen Markt, der gerade nicht der Markt für Unternehmen und Unternehmensanteile ist, ge- und verkauft zu werden. Bezugspunkt für den Aktionär ist in erster Linie der Markt, die Börse und erst in zweiter Linie das Unternehmen. Wer sich auf die börsennotierte Aktie einlässt, lässt sich auf einen marktbestimmten Wert ein, der sich im Börsenkurs niederschlägt und nicht auf einen wie immer gutachterlich zu ermittelnden „vollen“ oder „wahren“
__________ 24 BGH, ZIP 2003, 387 (390); so auch LG München, DB 2004, 242 ff. und LG Köln, ZIP
2004, 220 (222). Das LG Köln lehnt eine Zuzahlung analog § 15 Abs. 1 UmwG als Entschädigung für das Delisting ausdrücklich ab. 25 Vgl. Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 48 ff.
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Wert. Die Zielsetzung der Aktionäre ist die Maximierung des Marktwerts ihrer Anteile (shareholder value). Der Kurs drückt damit das Urteil der Kapitalanleger über den zeitpunktbezogenen Wert dieses besonderen Gutes, nämlich der börsengehandelten Anteile, aus, der keineswegs mit dem Urteil von sachverständigen Bewertern über das Unternehmen selbst übereinstimmen muss. Nur in einen so zustande gekommenen Marktwert hat sich der Aktionär eingekauft und nur auf diesen, in seiner marktmäßigen Fortentwicklung, hat er m. E. bei einem zwangsweisen Ausscheiden Anspruch. Es gibt keinen anderen vollen oder wahren Wert. Natürlich gehen als wesentliche Werttreiber in den Börsenkurs Unternehmensbewertungsüberlegungen derjenigen ein, die maßgeblich die Kursentwicklung beeinflussen, so z. B. der Analysten, der institutionellen Anleger, der Rating-Agenturen oder derjenigen, die Kurspflege betreiben. Dies sind i. d. R. Bewertungsverfahren, die auf extern zugänglichen Informationen beruhen und vergleichbare Marktdaten verarbeiten. Die Analysten arbeiten zwar weitgehend auch mit ertragswertorientierten Verfahren, insbesondere mit Discounted Cash Flow (DCF)-Verfahren in verschiedenen Ausprägungen oder mit einem Residualgewinnmodell, bekannt als Economic Value Added (EVA)-Konzept. Diese Verfahren werden verbunden mit Benchmarking-Techniken, die auf der Überlegung beruhen, dass sich die Unternehmen einer Branche an „best practices“ einer Referenzgruppe ausrichten26. Diese Verfahren und Methoden sind jedoch nicht transparent und werden mit Ausnahme der Ergebnisse nicht offen gelegt. Letztendlich sind es Meinungen und Empfehlungen im Marktgeschehen. Vielfach wird auch gar nicht mit den (theoretisch richtigeren) Ertragswertverfahren, sondern mit Vergleichswertverfahren (Multiplikatorverfahren) gearbeitet27. Diese an Vergleichsunternehmen orientierten Methoden sind praktisch, verständlich, benutzerfreundlich und vor allem marktnah. Sie erheben keinen absoluten Richtigkeitsanspruch. Schließlich sind sie nur Anhaltspunkt und Richtmarke, nicht aber der Börsenpreis selbst. Der Börsenpreis ist, wie jeder Marktpreis, ein Kurzfristpreis; er ist naturgemäß volatil und atmet mit der allgemeinen Anlagestimmung. Als solcher ist er aber auch Inhalt des Nutzungswerts der börsennotierten Aktie im Positiven wie im Negativen. Was abzufinden ist, ist dieser Nutzungswert und kein anderer. d) Die klassischen zukunftsorientierten Ertragswertverfahren auf der Basis von unternehmensinternen Informationen sind im Gegensatz zur Marktbewertung an der Börse (insbesondere im Gegensatz zur Multiplikator-Marktbewertung) langfristig orientierte Verfahren. Diskontiert werden langfristig
__________ 26 Vgl. Nicolai/Thomas, zfbf 2004, 452 (461). 27 Z. B. für den Gesamtunternehmenswert (Eigen- + Fremdkapital) bezogen auf EBIT,
EBIDA, Umsatz, Brutto-Free Cash Flow u. Ä. oder für den Wert des Eigenkapitals bezogen auf Gewinn, Cash Flow, Netto-Free Cash Flow u. Ä.; vgl. Schultze, Methoden der Unternehmensbewertung, 2003, S. 156 ff.
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zukunftsorientierte Erfolgsgrößen in der Regel auf eine Laufzeit über die Totalperiode der Existenz des Unternehmens, im Zweifel also unendlich. Dabei spielt es vom Grundsatz her keine Rolle, ob nun Ausschüttungen, Gewinne, Residualgewinne oder Cashflows diskontiert werden. Diese Verfahren sind entwickelt worden für den unternehmerischen Investor (sei es in assets, sei es in shares) und dort führen sie auch zu zutreffenden Ergebnissen (Preisober- und Preisuntergrenzen). Für den nichtunternehmerischen Investor, also den Gesellschafter der kein synergetisches unternehmerisches Interesse haben kann und für den ein objektiver oder objektivierter Unternehmenswert festgestellt werden soll, kann es sich dabei nur um Hilfsverfahren in Ermangelung des Vorhandenseins von Preisen handeln. Die Börsenbewertung geht von einem anderen Datenmaterial aus, nämlich den extern zugänglichen Informationen (Jahresabschlüsse, Halbjahres- und Quartalsberichte, ad hoc-Mitteilungen, Presse- und Analystenkonferenzen, Corporate Governance, Branchenentwicklung, volkswirtschaftliche Entwicklung, Anlagestimmung usw.). Dies muss zu anderen, aber keineswegs falschen Werten führen. Man muss sich nur von dem Gedanken lösen, dass die Börsenkapitalisierung mit dem Zukunftserfolgswert des Unternehmens nach Ertragswert, DCF-Verfahren oder Value-Added-Verfahren vergleichbar sein oder gar zu identischen Werten führen müsse. Dabei würden unterschiedliche Funktionen und unterschiedliche Bewertungsobjekte miteinander vermengt. Mit anderen Worten sind m. E. die Verfahren zur Feststellung des Unternehmensgesamtwerts durch Diskontierung zukunftsorientierter Erfolgsgrößen von ihrer Funktion her nicht geeignet, einen börsennotierten Anteil angemessen zu bepreisen. 4. Die Gegenargumente a) Gegen die Maßgeblichkeit des Börsenkurses wird die starke Volatilität und Instabilität, die Abhängigkeit von Tagesereignissen ins Feld geführt28. Dies ist aber gerade das Charakteristikum des jederzeit und ohne Rücksichtnahme und Beziehung zum Unternehmen handelbaren Anteils. Man darf für die Bewertung dieses Charakteristikum nicht ins Abseits stellen. Mit der DAT/Altana-Entscheidung ist der volatile Börsenpreis nunmehr Preisuntergrenze für eine angemessene Abfindung geworden. Dies hat wohl auch dann zu gelten, wenn sich der gesamte Aktienmarkt in einer Hochphase befindet (New Economy) und die Börsenkapitalisierung generell oder auch nur branchenspezifisch über den diskontierten Zukunftserfolgswerten liegt. Wenn dem so ist, so bleibt die Rechtsprechung im umgekehrten Fall aber eine Begründung schuldig, warum für einen Anteil mehr als der börsenmäßig abgestützte Marktpreis (Verkehrswert) bezahlt werden soll: Nur weil eine funktional nicht passende Verkehrswertschätzung des Gesamtunternehmens
__________ 28 Vgl. BayObLG, AG 1999, 43 (45); IdW S1 (Fn. 2), Rz. 14–16.
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Anteilswert oder anteiliger Unternehmenswert?
einen höheren quotalen Anteilswert ergibt, der am Markt aber nicht bezahlt wird? So lag z. B. die Börsenkapitalisierung deutscher Banken im August 2004 unter ihrem ausgewiesenen Eigenkapital29, was sicherlich nicht dem Ergebnis einer Unternehmensbewertung nach anerkannten Methoden entsprochen hätte. Aber der Markt hatte seine Gründe. Warum sollen diese Gründe für einen ausscheidenden Aktionär nicht ebenfalls Gültigkeit haben? Es bedeutet doch nicht mehr, aber auch nicht weniger, dass bewertungstechnisch ein Goodwill sicherlich vorhanden ist, dass aber niemand bereit ist, ihn im Aktienpreis zu vergüten. b) Auch Marktenge ist m. E. kein durchschlagender Einwand gegen die Maßgeblichkeit des Börsenpreises. Insbesondere kann es nicht darauf ankommen, dass ein bestimmter Prozentsatz des gezeichneten Kapitals (noch) gehandelt werden müsste, z. B. 5 % oder 3 %: Dann käme z. B. bei einem Squeeze out oder einer Mehrheitseingliederung der Börsenpreis ex definitione nicht zum Zuge. Dem ist mit Recht schon der BGH im DAT/Altana-Urteil entgegengetreten30. Gerade aus der Marktenge kann sich die Erwartung eines Unternehmensvertrages, einer Eingliederung, eines Squeeze out ergeben; die Börse wird preislich echte und unechte Synergieeffekte vorwegnehmen und diese sind mit Recht zu entschädigen. Was vermieden werden muss, ist eine Spekulationserwartung und -vergütung auf einen funktionsfremden „vollen“ oder „wahren“ anteiligen Unternehmenswert (Gutachterwert). Diese Hoffnung wird dann im Börsenpreis nicht mehr vergütet, wenn man für die Abfindung allein und nicht nur als Preisuntergrenze vom Börsenkurs ausgeht. Solange ein Börsenpreis gestellt wird, muss m. E. von einem ordnungsgemäß zustande gekommenen und funktionsfähigen Preis ausgegangen werden (§ 24 Abs. 1 und Abs. 2 BörsenG). Böcking31 hat darauf hingewiesen, dass man als Anhaltspunkt für die Funktionsfähigkeit ggf. § 5 Abs. 4 WpÜG-AV heranziehen kann. Danach sind Börsenkurse dann nicht maßgeblich, wenn während der letzten 3 Monate vor Veröffentlichung des Angebots an weniger als einem Drittel der Börsentage Börsenkurse festgestellt worden sind und mehrere nacheinander festgestellte Börsenkurse um mehr als 5 % voneinander abweichen. Dann ist nach WpÜG-AV eine Bewertung des Unternehmens durchzuführen. Mit Übernahme dieser Regelung wäre zumindest ein börsenimmanentes und damit dem Bewertungsgegenstand entsprechendes Verfahren sichergestellt. c) Schließlich ist es die Manipulierbarkeit, die der Maßgeblichkeit des Börsenkurses entgegengehalten wird. Schon 1973 hat Drukarczyk dieses Argument für wenig glaubwürdig gehalten32. Böcking hat darauf mit Recht kürz-
__________ 29 30 31 32
FAZ v. 13.8.2004, S. 23. DB 2001, 969 (972). Böcking (Fn. 8), S. 59 (81). AG 1973, 357 (363).
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lich wieder Bezug genommen33. Die Börse ist kein Wild-West-Areal, sondern ein regulierter und beaufsichtigter Markt. Die Ausgestaltung, die die Markttransparenz erhalten hat, zuletzt insbesondere durch das Anlegerschutzverbesserungsgesetz, engt die legalen Möglichkeiten der Marktbeeinflussung auf das Maß ein, das zu Recht seinen Niederschlag im Preis finden darf. Hinzuweisen ist auf die unverzügliche Veröffentlichungspflicht kursrelevanter Informationen durch den Emittenten (§ 15 WpHG), die Mitteilungspflicht von Insidergeschäften (§ 15a WpHG) und vor allem das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG). Verstöße können natürlich immer vorkommen; sie sind aber zivil- und strafrechtlich sanktioniert und sind kein methodisches Gegnerargument. Besonders bemerkenswert erscheint es mir aber, dass die Unternehmensbewertung, insbesondere die Zukunftserfolgsbewertung, keinesfalls weniger manipulationsanfällig ist als der Börsenkurs. Die Auffassung, den „wahren“ oder „richtigen“, also nicht „beeinflussten“ Abfindungsbetrag durch eine Unternehmensbewertung ermitteln zu können, zeugt von einem beeindruckenden Glauben an deren Richtigkeitsgewähr34. Die Zuverlässigkeit einer Unternehmensbewertung lebt nicht so sehr von ihrer methodischen Grundlage und formelhafter Ableitung, sondern von den verarbeiteten Informationen, Prämissen, Prognosen, Erwartungen, Risikoeinschätzungen. Diese werden entscheidend vom Management oder vom beherrschenden Gesellschafter geprägt oder beeinflusst. Der Bewerter wird einleuchtende und begreifbare (plausible) Informationen akzeptieren. Es sollte klar sein, dass das Informationssteuerungspotenzial erheblich und durch einen noch so akribischen, neutralen Gutachter nur schwer zu falsifizieren ist. 5. Zwischenergebnis Für eine börsennotierte Aktie ist m. E. der Börsenpreis grundsätzlich die „angemessene“ Abfindung. Er ist nicht nur Unter-, sondern auch Obergrenze. Dies folgt schon daraus, dass es beim Börsenkurs nicht um eine Bandbreitenermittlung zwischen subjektiven Preisuntergrenzen und subjektiven Preisobergrenzen wie i. d. R. bei Unternehmensbewertungen geht, sondern
__________ 33 Böcking (Fn. 8), S. 59 (77). 34 Der Entwurf einer Neufassung des IdW Standards IDW ES1 n. F. (WPg. 2005, 28 ff.)
führt durch eine Änderung der Bewertungsparameter (Aufgabe der Vollausschüttungshypothese; Bestimmung des Kapitalisierungszinsfußes anhand eines Aktienportfolios als Alternativanlage und Versuch der Beseitigung des sog. Steuerparadoxons) zu Unternehmenswerten, die erheblich (z. T. 20 % oder mehr) unter den Werten nach dem bisher angewandten Standard IDW S1 liegen. Nun liegt auf der Hand, dass sich durch eine bloße Formel- oder Parameteränderung ceteris paribus zwar das Bewertungsergebnis, aber doch keinesfalls der wie auch immer verstandene „Wert“ des Unternehmens oder des Gesellschaftsanteils ändern kann. Lediglich ein als fehlerhaft erkanntes – aber von Rechtsprechung und Praxis treu befolgtes – Erklärungsmodell ist durch ein anderes ersetzt worden.
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um einen Preis als marktgegebenes Faktum. Ein Preis erübrigt jede weitere Bewertung. Ein Preis falsifiziert darüber hinaus Bewertungsergebnisse und Bewertungsmethoden für denselben Bewertungsgegenstand, wenn deren Ergebnisse außerhalb einer vertretbaren Toleranz um den Marktpreis liegen. Ausnahmen zu diesem Grundsatz kann es m. E. nur in Extremfällen geben, z. B. wenn ein ordentlicher Börsenhandel i. S. d. § 24 BörsenG nicht stattgefunden hat. Ggf. kann § 5 Abs. 4 WpÜG-AV entsprechend herangezogen werden. Einzuräumen bleibt, dass für börsennotierte Aktien die Bezugnahme des Gesetzes auf „die Verhältnisse der Gesellschaft“ missverständlich ist, wenn man die Bezugnahme nicht nur als Bestimmung des Zeitpunkts der Wertfeststellung (Zeitpunkt der Beschlußfassung) versteht. Eine Klarstellung dahin gehend, dass generell in allen Gesetzen – nicht nur im WpÜG – für börsennotierte Papiere auf den Börsenkurs oder zeitnahe Vorerwerbe abgestellt wird, wäre wünschenswert. Sie würde auch der Spekulation auf höhere Bewertungsgutachtens-Abfindungsbeträge ein Ende bereiten.
IV. Börsenkurs und Relationsbewertung 1.
Abfindung und Umtausch
Abfindungsansprüche sind die Folge eines zwangsweisen oder wahlweisen Ausscheidens aus der AG, eine Deinvestition mit Geldausgleich (typische Fälle des Zwangsausscheidens: § 327b AktG; § 305 Abs. 2 Nr. 3 AktG). Ein Umtausch hingegen ist eine Fortsetzung der Investition in einem strukturell identischen (börsennotierte AG in börsennotierte AG) oder strukturell abweichenden (börsennotierte AG in nicht börsennotierte AG, GmbH oder Personengesellschaft) Rechtsträger. Dies sind die klassischen Umwandlungsfälle (insbesondere die Verschmelzung). Bei ihnen kommt es idealiter nicht auf einen absoluten Betrag, sondern auf eine Relation (das „Umtauschverhältnis“) an. Bei der Feststellung des Umtauschverhältnisses geht es nicht um den Wertvergleich börsennotierter Aktien zweier oder mehrerer AGs in ihrer jeweiligen Ausgestaltung und nach jeweiliger Marktlage als Bewertungsobjekt, sondern hier geht es tatsächlich um den Wertevergleich von Unternehmen als ökonomische Gesamtheiten von materiellen und immateriellen Gütern. Die Unternehmen, nicht verkehrsfähige Anteile, sind Bewertungsobjekte. 2. Relationsbewertung Bei der Ermittlung von Umtauschverhältnissen hat deshalb die Unternehmensbewertung in allen Ausgestaltungen ihren wirklichen und sachlogischen Platz. Für die Unternehmen gibt es keinen relevanten Marktpreis. Es wäre ganz verfehlt, die Börsenkapitalisierung (Anzahl der Aktien multipli1029
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ziert mit dem Börsenkurs) als solchen anzusehen. Das Unternehmen und selbst unternehmerisch gehaltene Beteiligungen werden nicht an der Börse gehandelt35. Darüber hinaus sind die Bestimmungsfaktoren des Börsenkurses nicht identisch mit denjenigen des Unternehmenswerts. Nun hat es das BVerfG in der DAT/Altana-Entscheidung für richtig befunden, auch für die Abfindung in Aktien (§§ 320b Abs. 1 Satz 2, 305 Abs. 2 AktG), die gleichen Kriterien wie an die Barabfindung anzulegen: Auch für die Bestimmung der Verschmelzungswertrelation müsse der Börsenwert als Untergrenze der Bewertung fungieren36. Irritierenderweise soll dies aber nur für die Bewertung der abhängigen Gesellschaft gelten. „Verfassungsrechtlich“ sei es nicht geboten einen Börsenwert der herrschenden oder Hauptgesellschaft als Obergrenze der Bewertung heranzuziehen. Dies mag verfassungsrechtlich richtig sein, nicht aber für eine sachlogische Entscheidung und einen angemessenen Ausgleich. Ein Umtauschverhältnis ist nur dann vertretbar, wenn alle Bewertungsobjekte nach derselben Methode und gleichen Prämissen bewertet werden. Eine Rechnung mit Börsenkapitalisierung einerseits und Unternehmensbewertung andererseits kann dies nicht leisten. Die Rechtsprechung hat das Problem erkannt, umschifft es aber bisher dadurch, dass durch glücklich gelagerte Sachverhalte entweder die Börsenkapitalisierung aller betroffenen Unternehmen höher als der „Unternehmenswert“37 oder umgekehrt niedriger als der Unternehmenswert38 ist. Damit wird einmal nur mit der Börsenkapitalisierung, ein andermal nur mit dem Unternehmenswert gerechnet. Das OLG Düsseldorf stellt aber mit Recht heraus, dass „entweder nur die jeweiligen Börsenwerte oder nur die jeweiligen Ertragswerte beider Gesellschaften ins Verhältnis gesetzt werden können“39.
V. Bewertungsstichtag 1. Gesetzliche Regelung a) Die gesellschaftsrechtlichen Abfindungsregeln äußern sich ganz einheitlich zum Bewertungsstichtag: Die Barabfindung muss die Verhältnisse der Gesellschaft im Zeitpunkt der Beschlussfassung ihrer Hauptversammlung über die fragliche Maßnahme (Unternehmensvertrag, Eingliederung, Squeeze Out, Verschmelzung, Spaltung, Formwechsel) berücksichtigen. Damit ist der
__________ 35 Allerdings ist der Pakethandel mit eigener Preisgestaltung heute eingeschränkt
36 37 38 39
durch die Notwendigkeit zur Abgabe eines Pflichtangebots nach Kontrollerwerb: § 35 WpÜG. ZIP 1999, 1436 (1442). BGH, DB 2001, 969 (972 ff.) (DAT/Altana). OLG Düsseldorf, AG 2003, 688 (Veba AG). AG 2003, 688 (693); vgl. dazu auch W. Müller in Semler/Volhard (Fn. 19), S. 397 (452).
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Bewertungsstichtag festgelegt. Für die Unternehmensbewertung wird dies auch so gehandhabt und nicht weiter problematisiert. Anders jedoch, wenn sich die Barabfindung nach dem Börsenkurs bemisst. Die geplanten Maßnahmen werden nicht erst mit der Hauptversammlung, sondern spätestens mit der Einladung, ggf. schon vorher durch ad hoc-Mitteilungen (§ 15 WpHG) bekannt, so dass der Börsenkurs ganz spezifisch auf die geplanten Maßnahmen reagieren kann. Daraus ergibt sich die Frage, ob solche Ausschläge nicht eliminiert werden müssen. b) Die kapitalmarktrechtlichen Abfindungsregeln (dort: angemessene Gegenleistung) folgen einem anderen Konzept. Dort kommt es nicht auf die Durchführung, sondern auf die Ankündigung der Angebotsabsicht an (§§ 10 Abs. 1, 35 Abs. 1 WpÜG i. V. m. § 5 WpÜG-AV). Nach § 5 Abs. 1 WpÜG-AV muss die Gegenleistung mindestens dem gewichteten durchschnittlichen inländischen Börsenkurs der Aktien während der letzten drei Monate vor der Veröffentlichung entsprechen. Das Kapitalmarktrecht stellt auf Publizität, das Gesellschaftsrecht auf Beschlusslagen ab. 2. Die Lösung des BGH Der BGH40 sieht das Dilemma zwischen Stichtag und Vorankündigung und fürchtet die Steuerung durch interessierte Marktteilnehmer. Wiederum kommt die Reserve gegenüber der Kursbildung deutlich zum Ausdruck. „Aus Gründen der Rechtssicherheit“ konstruiert er einen auf den Stichtag bezogenen Durchschnittskurs aus einer Referenzperiode von drei Monaten vor der Hauptversammlung. Was den Referenzzeitraum von drei Monaten angeht, so kann man vielleicht noch einen gewissen Anhaltspunkt in der kapitalmarktrechtlichen Regelung des § 5 WpÜG-AV finden. Höchst problematisch ist es aber, diese Referenzperiode nicht auf Umsatzhäufigkeit, Kursausschläge und sonstige relevante Daten zu analysieren und die Werte entsprechend zu aktualisieren und zu gewichten. Davon einmal abgesehen bleibt aber festzuhalten, dass ein Durchschnittskurs kein Marktpreis und damit kein Verkehrswert, sondern ein synthetischer Wert ist und schon gar nicht für einen bestimmten Stichtag Gültigkeit hat. Das Wesen des Preises ist seine Stichtagsgültigkeit und damit seine Volatilität; dies ist auch der Inhalt des Abfindungsanspruchs. Eine Durchschnittsbildung wird diesen Anforderungen nicht gerecht. 3. Betriebswirtschaftliche Stimmen Die Vertreter der Betriebswirtschaft haben mit überzeugenden Argumenten dargelegt, dass eine Kursmittlung (z. B. über drei Monate) nicht den korrek-
__________ 40 DB 2001, 969 (971) (DAT/Altana).
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ten Weg zur Berechnung der Barabfindung darstellen kann41. M. E. muss deshalb für jegliche Form der Abfindung am Stichtagsprinzip festgehalten werden; sowohl Preis als Wert sind stichtagsabhängig. Dieser Grundsatz darf nicht durch periodisierte Werte durchbrochen werden. Diskussionsbedürftig ist die Frage, welcher Stichtag maßgeblich sein soll. Es spricht einiges dafür, auf den Tag der Publikation abzustellen; dies würde kapitalmarktrechtlichen Prinzipien entsprechen42. Dann müsste allerdings der Gesetzgeber die gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen in diesem Punkte speziell für börsennotierte Papiere ändern. M. E. ist jedoch durchaus vertretbar, an der derzeitigen Stichtagsregelung festzuhalten, da nach der Ausgestaltung des Kapitalmarktrechts die Manipulationsmöglichkeiten beschränkt sind. Sollten Manipulationen vorkommen, wird Abhilfe durch eine Kurskorrektur auf den Stichtag geschaffen werden können.
VI. Thesen 1. Barabfindungen börsennotierter Aktien sind nach dem Börsenkurs zu bemessen. Der anteilige Unternehmenswert spielt ohne Rücksicht darauf, ob er höher oder niedriger ist, keine Rolle. Neben dem Börsenwert gibt es für die börsennotierte Aktie keinen davon abweichenden Verkehrswert, vollen Wert oder richtigen Wert. 2. Maßgeblich ist der Börsenwert zum gesetzlich vorgegebenen Stichtag, i. d. R. dem Tag der Hauptversammlung. Es wäre allerdings sinnvoll, wenn der Gesetzgeber generell auf die Bekanntmachung (sei es Tag der Einladung, der Veröffentlichung oder einer früheren ad hoc-Mitteilung) abstellen würde. 3. Eine Periodisierung des Stichtagswerts z. B. durch Bildung eines Durchschnittskurses über die vorangehenden drei Monate, entspricht weder den gesetzlichen Vorgaben noch dem betriebswirtschaftlichen Inhalt des Verkehrswerts, des Marktwerts oder des vollen Werts.
__________ 41 Vgl. insbesondere die überzeugende Darstellung von Weber, ZGR 2004, 280 ff.;
ferner Böcking (Fn. 8), S. 59 (81 ff.); Beckmann, WPg. 2004, 620 (623 f.). 42 So schon Drukarczyk, AG 1973, 357 (363); so wohl auch Böcking (Fn. 8), S. 59 (83 f.).
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Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsrecht und Bilanzrecht unter dem Einfluss international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze Inhaltsübersicht I. Der Siegeszug international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze als Folge der Globalisierung der Finanzmärkte 1. Folgen der Globalisierung für die Finanzmärkte a) Veränderung des Marktverhaltens als Folge verschärften Wettbewerbs b) Unterschiede zwischen kontinental-europäischen und angelsächsischen Finanzierungsund Anlagesystemen aa) Das kontinental-europäische Finanzierungs- und Anlagesystem bb) Das angelsächsische Finanzierungs- und Anlagesystem c) Verändertes Marktverhalten auf globalen Finanzmärkten 2. Der „Siegeszug“ international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze II. Flexibilisierung der Bilanzierungszwecke im Zuge der Globalisierung 1. Ausgangspunkt: Die doppelte Maßgeblichkeit im deutschen Bilanzrecht a) Handels-, Steuer- und Konzernbilanz: Doppelte Maßgeblichkeit trotz unterschiedlicher Bilanzzwecke b) Die Einheitsbilanz als Vorteil c) Die Überlagerung der Bilanzzwecke als Nachteil
2. Aushöhlung der doppelten Maßgeblichkeit a) Durchbrechungen der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Konzernbilanz b) Durchbrechung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz III. Beibehaltung oder Änderung der gesellschaftsrechtlichen Grundlagen des Handelsbilanzrechts? 1. Ausgangspunkt: Verzahnung von Gesellschafts- und Bilanzrecht 2. Verselbständigung der IAS Informationsbilanz gegenüber Handels- und Steuerbilanz als Anlass für Reformüberlegungen 3. Reformansätze a) Übernahme des „US-amerikanischen Modells“? b) Abschaffung des Gewinnanspruchs des Gesellschafters? c) Aufgabe des Grundsatzes der bilanziellen Kapitalerhaltung? d) Suche nach Ersatzmöglichkeiten für den bilanziellen Kapitalerhaltungsgrundsatz aa) Ausreichender Gläubigerschutz durch financial covenants? bb) Ausreichender Gläubigerschutz durch solvency tests und -statements? IV. IAS/IFRS als starting point für eine common European tax base? V. Ausblick
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Das deutsche Wirtschaftsrecht ist durch eine enge Verzahnung von Gesellschafts- und Bilanzrecht geprägt. Dies gilt unmittelbar für die (der bilanziellen Kapitalerhaltung dienende) Handelsbilanz und mittelbar über die sog. doppelte Maßgeblichkeit – trotz unterschiedlicher Bilanzzwecke – auch für die Steuer- und die Konzernbilanz. Gleichwohl zeigt die weltweit wachsende Verbreitung international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze, die sich als Folgeerscheinung der Globalisierung darstellt, Wirkung auch in Deutschland (s. u. I. 1.). Dieser „Siegeszug international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze“ (s. u. I. 2.) führt im Zuge der Globalisierung in Deutschland zu einer Flexibilisierung der Bilanzzwecke, insbesondere zu einem zunehmenden Abbau der sog. doppelten Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für Konzern- und Steuerbilanz und zur Bedrohung der in Deutschland üblichen Einheitsbilanz. (s. u. II.). Dabei blieb zunächst die Verzahnung von Bilanz- und Gesellschaftsrecht unverändert, insbes. gilt nach wie vor für die Handelsbilanz das dem Gläubigerschutz dienende bilanzielle Kapitalerhaltungssystem. Allerdings stellt sich seither die Frage nach einer Reform oder Modernisierung des Handelsbilanzrechts (s. u. III.). Neue Aspekte für das europäische Steuerrecht ergeben sich im Gefolge des Siegeszugs der international anerkannten Rechnungslegungsgrundsätze aus der Idee, sie als starting point für eine common europe tax base zu nutzen (s. u. IV.). Dabei stellt sich die Frage, ob eine solche aus der IAS/IFRS-Bilanz abgeleitete Steuerbilanz ausreichende Vorsichtselemente zur bilanziellen Kapitalerhaltung aufweist, so dass doch wieder eine Einheitsbilanz (Handelsbilanz = Steuerbilanz) ermöglicht würde (s. u. V.).
I. Der Siegeszug international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze als Folge der Globalisierung der Finanzmärkte 1. Folgen der Globalisierung1 für die Finanzmärkte a) Veränderung des Marktverhaltens als Folge verschärften Wettbewerbs Global tätige Unternehmen „stehen in einem äußerst scharfen Wettbewerb, als Erste das beste Erzeugnis zum niedrigsten Preis zu produzieren“2. Es gilt also, sich gleichzeitig der Forderung nach Verbesserung der Wettbewerbs-
__________ Zum Begriff und Bedeutung der Globalisierung vgl. Schlussbericht der EnqueteKommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“, BT-Drucks. 14/9200 v. 12.6.2002) eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestags v. 15.12.1999 (BT-Drucks. 14/2350) unter dem Vorsitz von ErnstUlrich von Weizsäcker (im Folgenden zitiert Enquete-Kommission). 2 Worth, Marktzugang in der globalen Wirtschaft, in OECD Dokumente, Neue Dimensionen des Marktzugangs im Zeichen der wirtschaftlichen Globalisierung, Paris 1996, S. 97. 1
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position hinsichtlich Zeit, Qualität und Kosten zu stellen, insbesondere durch Nutzung moderne Informationstechnologien3. Aber nicht nur auf dem Absatzmarkt für Güter und Dienstleistungen verschärft sich der Wettbewerb. Im Zuge der Globalisierung wachsen die Aufgaben der Unternehmer schneller als ihre Ressourcen4. Dadurch entsteht ein verschäfter Wettbewerb auch auf den Beschäftigungsmärkten, insbesondere bei den Anstrengungen der Unternehmen zur Befriedigung ihres Kapitalbedarfs. Bei wachsenden Märkten mit verschärftem Wettbewerb ist auch eine Veränderung des Marktverhaltens zu beobachten, selbst in Bereichen, die stark regional (lokal) bestimmt sind, wie beim Konsum5, kommt es zu globalen aber u. U. durchaus gegenläufigen Trends: Inzwischen gibt es Weltmarken für „Cross-culture-groups“ – d. h. Länder übergreifende homogene Zielgruppen –, die durch den American way of life bestimmt werden. Aber auch Gegenbewegungen, etwa die aus Italien stammende Slow food-Bewegung zeigen Globalisierungstendenzen6: Es entwickelt sich auf den Konsumgütermärkten eine Konkurrenz zweier Systeme.
Trotz des Trends zur Vereinheitlichung des Konsums prägen Mentalitätsunterschiede das Konsumverhalten vor allem in Krisenzeiten; die regional vorherrschende Neigung zum Konsumverzicht zu Gunsten des Sparens (z. B. in Deutschland im Gegensatz zu den USA) erlangt rasch gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Gravierender ist die Situation im Bereich der Finanzmärkte: Hier treten im Zuge der Globalisierung zwei Systeme in Konkurrenz, die sich typisierend als angloamerikanisches und kontinental-europäisches Finanzierungs- und Anlagesystem charakterisieren lassen7.
__________ Vgl. Overlak, Wettbewerbsvorteile durch Informationstechnologie, 1988. Dies führt zu ressourcenorientierten Unternehmensstrategien, vgl. Raupach, Wechselwirkung zwischen der Organisationsstruktur und der Besteuerung multinationaler Konzernunternehmungen, in Theisen, Der Konzern im Umbruch – Organisation, Besteuerung, Finanzierung und Überwachung, 1998, S. 59, 67–69. 5 Vgl. Interview mit Morris Tabaksblat „Konsum ist lokal“, Wirtschaftswoche v. 27.2.1997, Heft Nr. 10, 1997, S. 130; über Markenartikelkonzepte s. Raupach (Fn. 4), S. 67. 6 Die Slow food-Bewegung wurde 1989 als Protest gegen die Eröffnung des ersten italienischen Fast-Food-Lokals gegründet. Auf der Feinschmeckermesse der Bewegung „Salone del Gusto“ in Turin stellten in diesem Jahr schon über 600 Produzenten aus aller Welt aus; gleichzeitig waren 5000 Produzenten aus aller Welt zu einer Konferenz geladen (SZ v. 26.10.2004, S. 14). 7 In ähnlicher Weise wurden früheren Vor- und Nachteile des „angelsächsischen“ und des „rheinischen Kapitalismus“ und die daraus abgeleiteten Systeme der Unternehmenskontrolle verglichen. 3 4
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b) Unterschiede zwischen kontinental-europäischen und angelsächsischen Finanzierungs- und Anlagesystemen Zwischen beiden Systemen besteht ein grundlegender Unterschied, der sich auf unterschiedliche Rechts- und Steuersysteme abstützt und das Verhalten der Anleger und das Nachfrageverhalten der bei der Kapitalbeschaffung im Wettbewerb stehenden Unternehmen wesentlich beeinflusst: So stehen in Deutschland rd. 680 börsennotierte Kapitalgesellschaften in den USA rd. 15 000 gegenüber8; während die USA über einen hoch entwickelten öffentlichen Kapitalmarkt verfügen, war die kontinentaleuropäische insbesondere die deutsche Situation von erheblichem Einfluss der Banken und einer geringeren Rolle privater Anleger geprägt. Dementsprechend ist das deutsche System eher vom Gläubigerschutz und das US-System vom Investoreninteresse bestimmt9. Im Einzelnen: aa) Das kontinental-europäische Finanzierungs- und Anlagesystem Das kontinental-europäische Anlegerverhalten lässt sich vereinfacht wie folgt beschreiben: Die langfristige Anlage dient in erste Linie der Erzielung von Zinsen und Dividenden, also der Vermögensnutzung; dabei wird traditionellerweise der Börsenwert als diskontierter Wert zukünftiger Erträge10 verstanden. Ausschüttungen dienen daher nicht zuletzt der Kurspflege. Diesem Konzept entspricht es, dass dem Gesellschafter gesellschaftsrechtlich ein gesetzlicher Anspruch auf Gewinn eingeräumt wird. Deswegen bedarf der Fremdkapitalgläubiger des Schutzes vor überhöhten Ausschüttungen an die Gesellschafter. Dieser Schutz ist durch gesetzliche Mindestkapitalien und bilanzrechtlich durch das Prinzip der Vorsicht als obersten Grundsatz und durch das Realisations- und Imparitätsprinzip als abgeleitete Prinzipien gesichert (bilanzielle Kapitalerhaltung). Diesem Konzept entspricht ein Steuersystem, das Kapitalerträge ausschließlich als Erträge der Kapitalnutzung versteht11 und traditionellerweise Veräußerungsgewinne mit Ausnahme von Spekulationsgeschäften (§ 23 EStG a. F.) und von Veräußerungen wesentlicher Beteiligungen (§ 17 EStG a. F.)
__________
8 Ballwieser, Chancen und Gefahren einer Übernahme amerikanischer Rechnungs-
legung, in FS Beisse, Handelsbilanzen und Steuerbilanzen, 1997, S. 25 (27). 9 Hans-Joachim Jacob, Die Grundsätze der Rechnungslegung in direkter neuerer
Entwicklung, in FS Welf Müller, 2001, S. 195 (199) m. w. N. 10 So z. B. Moxter, Jahresabschluss in Widerstreit der Interessenten – Ziel und Ziel-
erreichung –, in Baetge (Hrsg.), Vortragsreihe des Instituts für Revisionswesen an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 1982/WS 1982/1983, Düsseldorf 1983; dagegen aber Schreib, Der Jahresabschluss aus der Sicht der Streubesitzaktionäre, in Baetge (Hrsg.), Der Jahresabschluss im Widerstreit der Interessen, 1983, S. 320. 11 Vgl. die Definition der (Einkünfte aus) Vermögensverwaltung in § 14 Satz 3 AO „Eine Vermögensverwaltung liegt in der Regel vor, wenn Vermögen genutzt, zum Beispiel Kapitalvermögen verzinslich angelegt … wird.“
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nicht besteuerte; es handelt sich um einen Grundsatz, der auch nach Änderung der §§ 17 und 23 EStG im Zuge der Körperschaftssteuerreform nicht voll überwunden ist12. Bei der Unternehmensfinanzierung hat die Fremdfinanzierung insbesondere durch Hausbanken besonderes Gewicht, da die Eigenkapitalquote, besonders bei kleinen und mittleren Unternehmen (sog. KMU)13, gering ist. Einflussreichste Anteilsinhaber sind die Unternehmen selbst und Banken14. Auch das Vermögen von Investmentfonds konzentriert sich in Deutschland zu 80 % auf die drei Großbanken und die Sparkassen- und Genossenschaftsbankzentralen15. bb) Das angelsächsische Finanzierungs- und Anlagesystem Dagegen entspricht es dem angelsächsischen Prinzip, dass der Anleger seinen shareholder value16 zu realisieren versucht. Dies geschieht in erste Linie
__________
12 Es entsprach dem sog. Dualismus der Einkunftsarten (vgl. Zugmaier in Herrmann/
13
14 15 16
Heuer/Raupach, Loseblatt, § 2 EStG Anm. 520–522), dass gem. § 2 Abs. 2 EStG zu unterscheiden ist zwischen Gewinneinkünften, die im Regelfall durch (bilanziellen) Betriebsvermögensvergleich (§§ 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1 EStG) und Überschusseinkünften, die als Überschuss der Einnahmen und Ausgaben nach dem Zu- und Abflussprinzips ohne Berücksichtigung von Vermögensgewinnen und -verlusten ermittelt werden (§§ 8, 9, 11 EStG). Eine Ausnahme machten gem. §§ 17 und 23 EStG a. F. nur Veräußerungsgewinne aus wesentlichen Beteiligungen (ursprünglich mehr als 25 %, ab 1999 auf 10 % gesenkt) und sog. Spekulationsgewinne bei Überschreitung von Fristen (sechs Monaten bei Kapitalvermögen, ein Jahr bei Grundstücken). Dabei werden die Gewinne nicht als Einkünfte aus Kapitalvermögen, sondern als gewerblicher Gewinn (§ 17 EStG wegen Nähe der wesentlichen Beteiligungen zum Mitunternehmer) bzw. als sonstige Einkünfte (§§ 22 Nr. 2 i. V. m. § 23 EStG) erfasst. Im Zuge der Körperschaftssteuerreform hätte es nahe gelegen die Ausnahmen des §§ 17, 23 EStG zu einer allgemein capital gains-Besteuerung mit ermäßigten Steuersatz auszubauen. Stattdessen wurde im StSenkG v. 23.10.2000 (BStBl. I S. 1428) der Prozentsatz in § 17 EStG auf 1 % gesenkt. Außerdem wurden im StBereinG v. 22.12.1999 (BStBl. I 2000 S. 13) die Fristen in § 23 EStG verlängert auf ein bzw. zehn Jahre. Die neuen Grenzen erscheinen willkürlich und nehmen den Dualismus der Einkunftsarten in § 2 Abs. 2 EStG die sachliche Rechtfertigung (Raupach, Die Neuordnung des Körperschaftsgesetzes, in: Seeger, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung, DStJG 25, S. 9, 18/19). Die 1 %-Grenze in § 17 EStG taugt auch nicht als „Bagatellgrenze“, da der „Bagatell“-Satz von 1 % je nach Höhe des Stamm- oder Grundkapitals 250 Euro, aber auch hunderte von Millionen ausmachen kann. Nach EU-Definition gelten als KMU unabhängige Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten oder einem Jahresumsatz bis zu 40 Mio. Euro oder einer Bilanzsumme von weniger als 27 Mio. Euro (vgl. Enquete-Kommission [Fn. 1], S. 83). Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 87. Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 66. Unter shareholder value wird der Marktwert des Eigenkapitals verstanden, der vom cash flow als der Differenz zwischen betrieblichen Einzahlungen und Auszahlungen ermittelt wird (vgl. Ballwieser, Shareholder Value-Ansatz,1994, S. 1380 (1383 ff.).
1037
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nicht durch Dividenden, sondern durch Veräußerung von Aktien und durch Kapitalrückzahlungen mit dem Ziel der Wiederanlage. Dem entspricht es gesellschaftsrechtlich, dass der Gesellschafter keinen Anspruch auf Gewinn hat, vielmehr entscheidet der board of directors über die Gewinnausschüttungen17. Es gibt keine (oder nur ausnahmsweise) Mindestkapitalien und keinen bilanziellen Gläubigerschutz durch ein Vorsichtsprinzip. Vielmehr müssen sich Großgläubiger durch vertragliche Vereinbarungen (financial covenants) vor überhöhten Ausschüttungen schützen18. Mit diesem System ist es steuerrechtlich vom Grundsatz her durchaus vereinbar, wenn im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Steuerrecht in den USA traditionell eine ungeminderte wirtschaftliche Doppelbelastung von Gesellschaftsgewinnen kombiniert mit einer ermäßigten capital gains-Besteuerung gilt. Der amerikanische Kapitalmarkt ist stärker als der deutsche ein Eigenkapitalmarkt19. Die meisten Aktien befinden sich in den USA im Besitz von institutionellen Anlegern (Versicherung, Investmentfonds und Pensionsfonds)20. Auch das Fremdkapital wird auf dem Kapitalmarkt statt wie bei uns auf dem Kreditwege beschafft21. Seit dem Aufkommen des „shareholder value-Konzepts“ im Zuge der Liberalisierung der Finanzmärkte Ende der 70er Jahre in USA gewann bei der Unternehmensfinanzierung die Finanzierung aus dem cash flow zunehmende Bedeutung22. Der Unternehmenswert läst sich als diskontierter Wert des künftig erwarteten cash flows verstehen. c) Verändertes Marktverhalten auf globalen Finanzmärkten Die zunehmende Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs führt zur wachsenden Mobilität des Kapitals. Als zusätzlicher Globalisierungseffekt ergab sich eine Entkoppelung von Waren- und Finanzierungsströmen: Das Volumen der Kapitalbewegungen übersteigt das des Leistungsverkehrs um ein Mehrfaches: Die heute mögliche gleichzeitige Information der weltweit agierenden Anleger und Spekulanten führt auf Grund verbesserter Transfermöglichkeiten – gelegentlich aus unbedeutenden Anlässen – durch
__________ 17 Vgl. Merkt, US-amerikanische Gesellschaftsrecht, 1991, S. 276. 18 Vgl. John J. Greedon, A Business Lawyer Reminisces 88 Bus. Law (1992), S. 315;
19 20 21 22
vgl. auch Kleindiek, Gestaltungsaufgaben der Bilanzrechtsreform, in Kleindiek/ Oehler (Hrsg.), Die Zukunft des deutschen Bilanzrechts im Zeichen internationalen Rechnungslegung und privater Standardsetzung, 2000, S. 4 m. w. N. Kleindiek (Fn. 18), S. 4. Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 87. Biener, Das DRSC: Auftrag und Perspektiven, in Kleindiek/Oehler (Fn. 18), S. 141. Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 86.
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Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsrecht und Bilanzrecht
unkontrollierbare Schneeballeffekte zu gewaltigen gleichgerichteten Kapitalströmen rund um den Globus23. Das eigentlich dynamische Moment der Finanzmärkte ist der Handel (im Unterschied zur Emission) insbesondere von Anleihen und Aktien24. Darüber hinaus werden nicht zuletzt unter angelsächsischem Einfluss laufend „Derivate“25 als alternative Finanzprodukte entwickelt. Die Halter von Liquidität, also Banken, Fonds und multinationale Unternehmen, versuchen diese höchst rentierlich anzulegen und dabei die Kursund Zinsdifferenz auf globalen Märkten durch zumeist kurzfristige Engagements auszunutzen26. Diese rasante Entwicklung wäre ohne die Öffnung der nationalen Finanzmärkte und ohne moderne Informations- und Kommunikationstechnologien nicht möglich gewesen27. Diese Entwicklung bewirkte zugleich, dass auch kontinental-europäische Unternehmen sich zum Gang an ausländische Börsen entschlossen und dabei angelsächsische Strategien wie die des shareholder value übernahmen. Beim Gang an die New Yorker Börse kam es – wie noch darzustellen sein wird – zur Konfrontation zwischen angelsächsischen und kontinental-europäischen Bilanzierungsgrundsätzen, ohne dass sich zunächst die kontinentaleuropäischen gesellschaftsrechtlichen Grundlagen der Bilanzierung änderten. Die Globalisierung der Finanzmärkte führte zu zunehmender Angleichung, wobei ganz offensichtlich das angelsächsische System stärkere Durchsetzungskraft bewies: Der shareholder value-Ansatz als Konzept der Unternehmensführung28 gewann an Bedeutung. Bei der externen Finanzierung gab es Veränderungen zu Lasten der Banken und zu Gunsten der Wertpapier-, insbesondere der Aktienfinanzierung. Die Fremdfinanzierung ging angesichts der Stärkung der Eigenkapitalmärkte zurück; dies führte zu einem wachsenden Bedürfnis nach flexibleren Strukturen für Eigenkapitalgeber29. Die Anleihefinanzierung spielt aber für den Unternehmenssektor in Europa – anders als in der USA – nach wie vor eine geringere Rolle. 1999 lagen die
__________ 23 Rössner, Globale Wettbewerb, 1996, S. 176 f. 24 Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 68. 25 Der Begriff Derivate bezeichnet eine ganze Palette unterschiedlicher Finanzpro-
26 27 28 29
dukte z. B. futures, optionen, swaps. Gemeinsam ist allen Derivaten, dass sie an den Finanzmärkten gehandelte Termingeschäfte darstellen, es sich also um schwebende Kaufgeschäfte über Waren, Divisen und Finanztitel handelt (vgl. Becker, Lexikon Terminhandel, 1994, S. 168 f.; Wach, Der Terminhandel in Recht und Praxis, 1986, S. 2). Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 64. Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 64. Vgl. Zimmerman/Wortmann, Der Shareholder-Value-Ansatz als Institution zu Kontrolle der Führung vor Publikumsgesellschaften, DB 2001, 289 ff. Vgl. W. Schön, Die Zukunft der Kapitalaufbringung/-erhaltung, Der Konzern 2004, 162/163.
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Bankkredite in der Europäischen Union sechsmal so hoch wie die Anleihefinanzierung30. Die „Umschlaggeschwindigkeit“ von Aktien beschleunigt sich: Während 1990 jede Aktie durchschnittlich noch 19 Monate gehalten wurde, waren es 1999 nur noch elf Monte und 2000 nur noch gut sechs Monate31. Die Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“ bemerkt dazu32: „Die Veränderungen, die sich aus den Tendenzen der Globalisierung für das Unternehmensmanagement ergeben, sind … radikal, da Finanzinnovationen, Unternehmensverfassung, Mitarbeiterbeteiligung, Altersversorgung, Unternehmensfinanzierung und Managementstil aufeinander ‚systematisch’ bezogen sind und miteinander im Einklang stehen müssen, wenn das Unternehmen Erfolg haben soll. Mit anderen Worten: Wenn mit dem Konzept des shareholder value die Managemententscheidungen stärker als bisher an die Interessen der Kapitaleigner (Shareholder) gebunden werden sollen, müssen auch andere institutionelle Rahmen-Bedingungen, in die das jeweilige Unternehmen eingebettet ist, geändert werden. So erklärt es sich, dass die Mitbestimmung unter Druck gerät oder das Verhältnis eines Unternehmens zur „Hausbank“ gelockert wird, weil die Kreditfinanzierung gegenüber der Aktien- und Anleihenfinanzierung an Bedeutung verliert. Die Unternehmensstrategie richtet sich verstärkt daran aus, die Wertsteigerung im Interesse der Anteilseigner zu maximieren, um in der Konkurrenz um Kapital an vorderster Front mithalten zu können und um nicht einer Übernahme ausgesetzt zu sein, wenn der Börsenwert des Unternehmens zurückgeht.“
Auf globalen Finanzmärkten wächst das Interesse am Vergleich von Anlagemöglichkeiten. Dabei spielen Rating-Agenturen und Ranking-Tabellen über die „Performance“ von Unternehmen eine besondere Rolle33. Sie benötigten vergleichbare Informationen, die sie aus (Quartals-)Berichten und aus Informationsbilanzen nach international anerkannten Bilanzierungsstandards beziehen. Ihr Vordringen ist die Folge der Globalisierung34. Es wird angenommen, dass z. B. mit deutschen Jahresabschlüssen eine Kapitalmobilisierung auf ausländischen Finanzierungsmärkten offensichtlich nicht mehr möglich ist35. 2. Der „Siegeszug“ international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze Die Hinwendung zu international anerkannten Rechnungslegungsgrundsätzen begann, als die Daimler Benz AG für das Jahr 1993 nach deutschen Grundsätzen einen Gewinn von 615 Mio. DM und nach US-GAAP einen
__________ Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 68. Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 68. Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 86. Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 86. Vg. Großfeld, Wirtschaftsprüfer und Globalisierung – zur Zukunft des Bilanzrechts, WPg. 2001, 129 ff. 35 Vgl. Wagner, DB 1998, 2073. 30 31 32 33 34
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Verlust von 1,8 Mrd. DM veröffentlichte36. Biener sprach treffend von einer „Schockwelle“, die „um den Erdball“ ging. Das Problem verschärfte sich dadurch, das US-Pensionsfonds so lange nicht in deutsche Aktien investieren wollten, wie nicht die betreffenden Unternehmen die amerikanischen Rechnungslegungsvorschriften übernommen hatten. Die Voraussetzung für eine Bilanzierung nach international anerkannten Rechnungslegungsgrundsätzen schuf das Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz (KapAEG) v. 20.4.199837. Nach dem durch dieses Gesetz eingefügten § 292a HGB dürfen Mutterunternehmen eine nach internationalen anerkannten Rechnungslegungsgrundsätzen aufgestellten Konzernabschluss erstellen, wenn von dem Mutter- oder dem Tochterunternehmen ausgegebene Wertpapiere zum Handel am organisierten Markt nach § 2 Abs. 1 WpHG zugelassen sind. Mit international anerkannten Rechnungslegungsgrundsätzen sind gemeint – –
die US-amerikanischen General Accepted Accounting Principles (USGAAP) und die International Accounting Standards (IAS), jetzt International Financial Reporting Standards (IFRS).
Bereits im Juni 2000 vollzog auch die EU-Kommissison mit der Ankündigung ihrer „neuen Rechnungslegungsstrategie“38 eine grundlegende Weichenstellung für eine Reform des europäischen Bilanzrechts. Nach der IAS-Verordnung39 der EU v. 19.7.2002 sind Wertpapieremittenten in einem organisierten Kapitalmarkt ab 2005 verpflichtet, in ihren Konzernabschlüssen zwingend die IAS (jetzt IFRS) anzuwenden. Rund 7000 börsenorientierten Aktiengesellschaften in der EU, darunter 1000 in Deutschland, müssen daher ab dem 1.1.2005 nach den IAS/IFRS bilanzieren. Für die Konzernabschlüsse der übrigen, nicht am organisierten Kapitalmarkt tätigen Unternehmen und für die Einzelabschlüsse aller Kapitalgesellschaften sieht Art. 5 der IAS-VO die Anwendung der IAS/IFRS als Option vor, d. h., die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, die Anwendung dieser Bilanzgrundsätze vorzuschreiben oder als Unternehmenswahlrecht zuzulassen.
__________ 36 Biener, Fortentwicklung des Bilanzrechts aus deutscher Sicht, in Schruff (Hrsg.),
Zu Bilanzrecht und dem Einfluss internationale Reformzwänge, 1996, S. 7. 37 BGBl. I 1998, S. 707. 38 EU-Kommission, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Par-
lament: Rechnungslegungsstrategie der EU: Künftiges Vorgehen, KOM (2000) 359. 39 Verordnung EG Nr. 160/2002 des Europäischen Parlaments und des Rats v.
19.7.2002, ABlEG Nr. L 253, S. 1; vgl. Buchheim/Gröner, Anwendungsbereich der IAS-Verordnung an der Schnittstelle zu deutschen und zu EU-Bilanzrecht, BB 2003, 953.
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Das Bilanzrechtsreformgesetz (BilRefG)40 v. 9.12.2004 folgt weitgehend einem Maßnahmenkatalog der Bundesregierung v. 25.2.200341. Es sieht vor, –
für den Konzernabschluss – ein umfassendes Wahlrecht für alle Unternehmen die in das EG-Recht übernommenen IAS/IFRS anzuwenden und – eine Verpflichtung zur IAS/IFRS-Konzernbilanzierung über die IAS-VO hinaus für Mutterunternehmen, die die Zulassung eines Wertpapiers zum Handel an einem geregelten Markt beantragt haben (§ 315a Abs. 2 HGB) und
–
für den Einzelabschluss – ein Wahlrecht, beschränkt auf die informatorische Funktion des Einzelabschlusses IAS/IFRS;
im Übrigen wird aber am traditionellen HGB-Abschluss festgehalten. Es kann keinen „befreienden“ Einzelabschluss nach IAS/IFRS geben, solange der gesellschaftsrechtliche bilanzorientierte Kapitalschutz erhalten bleibt (s. dazu unten III.)42.
II. Flexibilisierung der Bilanzierungszwecke im Zuge der Globalisierung Infolge der wachsenden Bedeutung des Informationsbedürfnisses der Anleger befindet sich die Rechnungslegung in Deutschland „im stürmischen Umbruch“43, die zunächst die Konzernbilanz von an ausländischen Börsen gelisteten Unternehmen betrifft, aber über die Durchbrechung des Grundsatzes der sog. doppelten Maßgeblichkeit auf Handels- und Steuerbilanz zurückstrahlt und die deutsche Einheitsbilanz (Handelsbilanz = Steuerbilanz) bedroht44.
__________ 40 Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Siche-
41 42
43 44
rung der Qualität der Abschlussprüfung, BGBl. I 2004 S. 3166; vgl. Ernst, Die Zukunft des handelsrechtlichen Einzelabschlusses, StbJb 2003/2004, S. 69 ff. Vgl. Ernst, Auswirkungen des 10-Punkte-Programms „Unternehmensintegrität und Anlegerschutz“ auf das Bilanzrecht, BB 2003, 1487. Kleindiek, Die Zukunft der Rechnungslegung in kleinen und mittleren Unternehmen, in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2002, 2003, S. 142. Hommelhoff, Konzeptionelle Grundfragen einer Bilanzrechtsreform, in Kleindiek/ Oehler (Fn. 18), S. 141. Vgl. Raupach, Wandel von Bilanzierungszwecken?, in FS Welf Müller (Fn. 9), S. 793 ff.
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Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsrecht und Bilanzrecht
1. Ausgangspunkt: Die doppelte Maßgeblichkeit im deutschen Bilanzrecht a) Handels-, Steuer- und Konzernbilanz: Doppelte Maßgeblichkeit trotz unterschiedlicher Bilanzzwecke Das deutsche Bilanzrecht kennt – abgesehen von Spezialbilanzen (z. B. Liquidations- oder Umwandlungsbilanzen) – insbesondere drei Arten von Bilanzen, die sich in ihren Zwecken unterscheiden: –
Die Handelsbilanz ist Ausschüttungsbilanz; sie dient der bilanziellen Kapitalerhaltung und damit dem Gläubigerschutz und erst in zweiter Linie Gesellschafterinteressen.
–
Die Steuerbilanz knüpft an die Handelsbilanz an (Maßgeblichkeitsprinzip), begrenzt aber im Interesse des Fiskus den Gewinn nach unten durch Aktivierungsgebote, Passivierungsverbote und Bewertungsvorschriften; sie dient der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.
–
Die Konzernbilanz knüpft an die Handelsbilanzen der verbundenen Unternehmen an (Maßgeblichkeitsprinzip) und dient Informationsinteressen der potentiellen Kapitalanleger und erst in zweiter Linie der Fremdkapitalgeber.
Diese doppelte Maßgeblichkeit ist Stärke und zugleich Schwäche des deutschen Bilanzrechts: b) Die Einheitsbilanz als Vorteil Trotz unterschiedlicher Normzwecke der Bilanzen, nämlich – – –
Kapitalerhaltungs- und Gläubigerschutzprinzip der Handelsbilanz, Gewinnprinzip der Steuerbilanz, Anlegerinformationsprinzip der Konzernbilanz,
entspricht es deutscher Tradition, ein Nebeneinander von Bilanzierungen nach Möglichkeit zu vermeiden und zu einer Einheitsbilanz zu kommen. Dies hat vor allem angesichts der starken Verbreitung von Personengesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland Bedeutung. Bei ihnen hat sich wie bei der GmbH die gesellschaftsvertragliche Bestimmung durchgesetzt, dass die Bilanzierung, soweit handelsrechtlich zulässig, nach steuerlichen Vorschriften zu erfolgen hat. Die Tatsache, dass es gem. § 60 Abs. 2 EStDV nicht notwendig ist, eine eigene Steuerbilanz aufzustellen, sondern dass Abweichungen von der Handelsbilanz durch Zusätze und Anmerkungen ausreichen, hat die Entwicklung zur Einheitsbilanz „Handelsbilanz = Steuerbilanz“ gefördert45. Es wird geschätzt, dass etwa 95 % der Einzelunterneh-
__________ 45 Döllerer, Handelsbilanz = Steuerbilanz, in Baetge (Fn. 10), S. 131 ff.
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men, Personengesellschaften und nicht börsenorientierten Kapitalgesellschaften solche Einheitsbilanzen aufstellen46. c) Die Überlagerung der Bilanzzwecke als Nachteil Allerdings führt die doppelte Maßgeblichkeit zu einer Überlagerung der Bilanzzwecke, die mit den Wertungen, die den unterschiedlichen Bilanzzwecken zu Grunde liegen, nicht vereinbar ist: –
Das Vorsichtprinzip verringert den Informationswert der Handelsbilanz.
–
Die so genannte „umgekehrte Maßgeblichkeit“, d. h. der Zwang, Steuervergünstigungen (also Sonderabschreibungen, erhöhte Absetzung und steuerfreie Rücklagen) auch in der Handelsbilanz „in Anspruch“ zu nehmen, führt zu nicht aussagekräftigen Handelsbilanzen47.
–
Die Maßgeblichkeit der nichtaussagefähigen handelsrechtlichen Einzelabschlüsse für die Konzernbilanz nimmt diesen den erforderlichen Informationswert48.
Im Einzelnen: Aufgrund des Maßgeblichkeitsprinzips übernimmt die Steuerbilanz das Vorsichtsprinzip und die Ausschüttungsbegrenzungen aus der Handelsbilanz. Diese Maßgeblichkeit der Handelbilanz für die Steuerbilanz ist vom Bilanzierungsziel her zwar begründbar, aber umstritten: Döllerer49 sieht die Verbindung zwischen Handelsrecht und Steuerrecht darin, dass der Gesellschafter von seiner Gesellschaft nicht mehr fordern könne als den realisierten Gewinn; der Fiskus könne ebenfalls nicht mehr verlangen, da er keinen Gewinn besteuern könne, der noch nicht verwirklich ist; nur der Gewinn, nicht die Erwartung künftiger Gewinne unterliegt der Einkommensteuer. Diese Begründung hat zur Umkehrung des Maßgeblichkeitsgrundsatz geführt (so genannte „umgekehrte Maßgeblichkeit“): wenn der Fiskus aus Lenkungsgründen Gewinnminderungen (z. B. durch Sonderabschreibungen, erhöhte Absetzung oder steuerfreie Rücklagen) gegen sich gelten lasse, dann müssten diese Gewinnminderungen auch gegenüber den Gesellschafter als Ausschüttungssperre wirken. Die vom Vorsichtsprinzip und der umgekehrten Maßgeblichkeit geprägte Handelsbilanz mit einer Vielzahl von Wahlrechten ist als Informations-
__________ 46 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl.
1995, § 242 HGB Rz. 31. 47 Raupach, Von der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für steuerliche Gewinn-
ermittlung zur Prädominanz des Steuerrechts in der Handelsbilanz, BFuP 1990, 515 (516 ff., 525 f.); ders., Das Steuerrecht als unerwünschte Rechtsquelle der Handelsbilanz, in FS Moxter, Bilanzrecht und Kapitalmarkt, 1994, S. 101 ff. 48 Budde/Lust in BeckBilkomm., 3. Aufl. 1995, § 297 HGB Rz. 1. 49 Döllerer, Maßgeblichkeit der Handelsbilanz in Gefahr, DB 1971, 1334.
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bilanz und damit als Grundlage einer Konzernbilanz nicht geeignet. Konzernbilanzen, die internationale Standards folgen, erweisen sich als Informationsbilanzen den deutschen, aus den Handelsbilanzen abgeleiteten Konzernbilanzen überlegen. Damit ist die Maßgeblichkeit der Einheitsbilanz für die Konzernbilanz in Frage gestellt. 2. Aushöhlung der doppelten Maßgeblichkeit50 a) Durchbrechungen der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Konzernbilanz Wie eingangs dargestellt, hat sich im europäischen Bilanzrecht noch nicht allgemein die Auffassung durchgesetzt, dass Konzern- und Einzelabschluss grundsätzlich nach international anerkannten Rechnungslegungsregeln aufgestellt werden müssten. Eine solche Verpflichtung besteht nach Art. 4 der IAS-VO nur für Konzernbilanzen der nach dem 31.12.2004 beginnenden Geschäftsjahre der nach EG-Recht konsolidierungspflichtigen Gesellschaften, wenn am jeweiligen Bilanzstichtag ihre Wertpapiere an einem beliebigen Mitgliedstaat zum Handel in einem geregelten Markt zugelassen sind. Das Bilanzrechtsreformgesetz (BilRefG) sieht darüber hinaus eine Verpflichtung zur IAS/IFRS-Konzernbilanzierung (über die IAS-VO) für Mutterunternehmen vor, die die Zulassung eines Wertpapiers zum Handel an einem geregelten Markt beantragt haben (§ 315a Abs. 2 HGB). Außerdem ist im Bilanzrechtsreformgesetz (BilRefG) ein Wahlrecht zum Konzernabschluss nach IAS/IFRS und ein Wahlrecht für die Aufstellung von Einzelabschlüssen nach IAS/IFRS vorgesehen; dieses Wahlrecht soll sich nur auf die informatorische Funktion der Einzelabschlüsse beziehen, im Übrigen wird am traditionellen HGB-Abschluss festgehalten. b) Durchbrechung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz Unter dem Schlagwort „Objektivierung der Gewinnermittlung“ wird die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz zunehmend durch Einschränkungen des Vorsichtsprinzips durchbrochen51.
__________ 50 Vgl. Himmelreich, Folgen der Aushöhlung des Maßgeblichkeitsprinzips, in FS Welf
Müller (Fn. 9), S. 613 ff. 51 Im Rahmen des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform (Gesetz
v. 29.10.1997), BGBl. I 1997 S. 2590, des Steueränderungsgesetzes 1989 (Gesetz v. 19.12.1989), BGBl. I 1989 S. 3816) und des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/ 2002 (Gesetz v. 24.3.1999), BGBl. I 1999 S. 402); vgl. dazu ausführlich Himmelreich (Fn. 50).
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Gravierend war insbesondere die Einführung des § 5 Abs. 4a in das EStG mit dem Verbot des steuerlichen Ansatzes von handelsrechtlich gebotenen Drohverlustrückstellungen52. Gelegentlich wurde versucht, die „Angriffe“ gegen die doppelte Maßgeblichkeit – in Verkennung der unterschiedlichen Motive – argumentativ zusammenzubinden: „Die handelsrechtliche Gewinnermittlung ist inzwischen nicht nur im Hinblick auf die enge Verknüpfung der steuerlichen Gewinnermittlung unbefriedigend. Die deutschen Vorschriften werden zunehmend kritisiert, da ihre, auf den Gläubigerschutz basierenden Prinzipien nur einen eingeschränkten Blick auf die tatsächliche Ertragslage ermöglichen. Sie behindert auch die Globalisierungsbemühungen der deutschen Unternehmen. Daher wird die steuerliche Gewinnermittlung im Zuge der Steuerreform objektiviert“53.
Hier wird versucht, die Triebkraft internationaler Anlagetrends als Trittbrett für nationale fiskalische Interessen zu benutzen. In diesem Zusammenhang habe ich vor einer Loslösung der Steuerbilanz von der Handelsbilanz gewarnt54: „Nicht auszudenken, welches Chaos die Steuergesetzgebung im Bilanzrecht anrichten werde, wenn sie die ‚Fessel’ der Handelsbilanz abwerfen würde.“
Ich würde heute hinzufügen, dass dies jedenfalls dann gilt, wenn die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz aufgegeben und nicht durch eine Bindung an andere anerkannte Bilanzierungsgrundsätze ersetzt wird.
III. Beibehaltung oder Änderung der gesellschaftsrechtlichen Grundlagen des Handelsbilanzrechts? 1. Ausgangspunkt: Verzahnung von Gesellschafts- und Bilanzrecht Im deutschen Recht sind Bilanz- und Gesellschaftsrecht eng verzahnt: „Dabei stellt der Gesetzgeber den Jahresabschluss in den Dienst eines mehrdimensionalen Interessenausgleichs im Blick auf Gesellschaft, Gesellschafter und Gläubiger. Namentlich wo Akteure das Privileg des Wirtschaftens mit beschränkter Haftung nutzen, weist der Gesetzgeber der regelrecht zu erstellenden Bilanz eine zentrale Funktion bei der gläubigerschützenden Sicherung der Unternehmenssubstanz zu. Notwendige Bedingungen für die Funktionsfähigkeit dieses Systems ist die Bilanzie-
__________ 52 Vgl. statt vieler Herzig, Konkurrenz zwischen Drohverlustrückstellung und Teil-
wertabschreibung?, in FS Welf Müller (Fn. 9), S. 599 ff. 53 Bemerkung in der so genannten „Schleußer-Liste“ Anfang 1989, benannt nach dem
Finanzminister von NRW Schleußer. 54 Raupach (Fn. 47), S. 124; dagegen Bärenz, Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts
auf das Steuerbilanzrecht – zugleich ein Beitrag zur Verweisungslehre, 2004, S. 181.
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Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsrecht und Bilanzrecht rung unter Beachtung von Anschaffungskostenprinzip, Realisationsprinzip und Imparitätsprinzip“55.
Das deutsche Gesellschaftsrecht geht unverändert von einem Anspruch des Gesellschafters auf den Gewinn aus, der es nötig macht, die Gläubiger der Gesellschaft vor Ausschüttungen zu bewahren, die das Kapital der Gesellschaft angreifen. Dabei hat sich der Gesetzgeber zu einer bilanziellen Kapitalerhaltung entschlossen, geht aber mit einem differenzierten Regelungssystem weit über eine gesetzliche Ausschüttungsbeschränkung hinaus56. Mit der Öffnung des Einzelabschlusses für IAS würde der gesetzliche vermögensabhängige Gläubigerschutz wirkungslos57, d. h., er wäre abgeschafft58. Um diese Konsequenz zu vermeiden, sieht das Bilanzrechtsreformgesetz (BilRefG) zwingend die Beibehaltung des HGB-Einzelabschlusses vor und gibt dafür folgende Begründung59: –
Als Ausschüttungsbemessungsgrundlage sei ein IAS/IFRS-Abschluss kaum geeignet, denn in Konsequenz der Verfolgung des „fair value“ komme es zum Ausweis noch nicht realisierter Gewinne (z. B. bei bloßen Wertschwankungen aufgrund der Veränderungen von Aktienkursen, Zinsen o. Ä.). Es gebe auch bisher keinen gesellschaftsrechtlichen Ersatz zum bilanziellen Kapitalerhaltungsgrundsatz.
–
Ebenso erscheinen die IAS/IFRS als Grundlage für die Besteuerung wenig geeignet, auch hier wegen der Vorverlegung von Gewinnen. Außerdem fehle eine gesetzliche Grundlage für das von einem privaten Gremium, den IASB, beschlossene Regelwerk. Auch scheine eine Abkopplung der Steuer- von der Handelsbilanz durch Schaffung eines eigenständigen Steuerbilanzrechts derzeit nicht geboten.
Richtig ist, dass unverändert übernommene IAS/IFRS als Konkretisierung der Zahlungsbemessungs- und Sperrfunktion des Jahresabschluss ungeeignet sind60. Auch die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzliche Öffnung für private Rechnungslegungsstandards haben Gewicht61.
__________ 55 Kleindiek in Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2000 (Fn. 42), S. 141. 56 Vgl. dazu im Einzelnen Ute Schmiel, Die Öffnung des Einzelabschlüsse für IAS:
57 58 59 60
61
Das Ende der gesetzlichen vermögensabhängigen Gläubigerschutzes, in Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2002 (Fn. 42), S. 143 (145 ff.). Ute Schmiel (Fn. 56), S. 152. Ute Schmiel (Fn. 56), S. 152 (154). Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandarts und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (BT-Drucks. 15/3419 v. 24.9.2004). Vgl. Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372 (2374); ebenso der Handelsrechtsausschuss des DAV in einer Stellungnahme zur IAS-VO und Reform des HGB, ZIP 2003, 459 (460). Vgl. Hellermann, NZG 2000, 1097 (1100 ff.); Kirchhof, ZGR 2000, 681 (685 ff.).
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2. Verselbständigung der IAS Informationsbilanz gegenüber Handels- und Steuerbilanz als Anlass für Reformüberlegungen Bei Unternehmen, die von dem Wahlrecht Gebrauch machen, Einzelabschlüsse als Informationsabschlüsse auf der Grundlage der IAS/IFRS aufzustellen, kommt es zur Aufgabe der sog. Einheitsbilanz. Denn es sind zwei, wenn nicht gar drei Bilanzen aufzustellen: – – –
Der freiwillig aufgestellte IAS/IFRS-Abschluss, die Einheitsbilanz nach dem Konzept „Handelsbilanz = Steuerbilanz“ oder die getrennte Aufstellung von Handels- und Steuerbilanzen, wie bei Publikumsgesellschaften üblich.
Angesichts der praktischen Schwierigkeiten, die sich aus der Aufstellung mehrere Bilanzen ergeben, fragt sich, ob sich rechtspolitisch eine Entkopplung von Gesellschafts- und Bilanzrecht erreichen lässt mit dem Ziel, neben Informationsbilanzen nach international anerkannten Rechnungslegungsgrundsätzen die zusätzliche Aufstellung von Handelsbilanzen auf der Grundlage des bilanziellen Kapitalerhaltungsgrundsatzes zu vermeiden (s. u. III. 3.). Dieses Problem ist zu unterscheiden von der Frage nach dem Schicksal der Steuerbilanz, falls diese ihre Grundlage in den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung verliert, d. h., wenn der Maßgeblichkeitsgrundsatz der Handelsbilanz für die Steuerbilanz aufgegeben würde (s. u. V.). 3. Reformansätze a) Übernahme des „US-amerikanischen Modells“? Eine Abkopplung des Bilanzrechts vom Gesellschaftsrecht ließe sich erreichen, wenn es sachdienlich wäre, die ganz anders geregelte gesellschaftsrechtliche Grundstruktur aus dem US-amerikanischen Recht zu übernehmen: Dies könnte dadurch geschehen, dass dem Gesellschafter der Anspruch auf den Gewinn genommen, die Gewinnausschüttungen in das Ermessen der Geschäftsführung gestellt und für den Gläubigerschutz auf eine bilanzielle Kapitalerhaltung verzichtet würde. Eine Vorbildfunktion des „US-amerikanischen Modells“ wird allerdings nicht zuletzt wegen der damit verbundenen GAAP-Bilanzen für börsennotierte Gesellschaften bezweifelt. Die Enquete-Kommission bemerkt dazu62: „Bislang galten die US-amerikanischen ‚Generally Accepted Accounting Principles’, kurz US-GAAP genannt, als Vorbild an Klarheit und Transparenz, was die Information der Anleger über das Unternehmen betrifft. Viele europäische Unternehmen bilanzieren ebenfalls nach dem US-GAAP. Jedoch ist das gesamte System der USRechnungslegung nach dem Bankrott des texanischen Energiekonzerns Enron sowie dem Zusammenbruch von Pacific Gas & Electric und K-Mart in Verruf geraten.“
__________ 62 Enquete-Kommission (Fn. 1), S. 87.
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Die Fragestellung bezieht sich insbesondere auf die Aufgabe des Grundsatzes der bilanziellen Kapitalerhaltung der deutschen Handelsbilanz und die Suche nach Ersatzmöglichkeiten (s. u. III. 3. c und d). b) Abschaffung des Gewinnanspruchs des Gesellschafters? Soweit ersichtlich wird im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum nicht ernsthaft erörtert, dem Gesellschafter seinen Gewinnanspruch durch Änderungen des Gesellschaftsrechts zu nehmen. Selbst wenn man dies rechtspolitisch für erstrebenswert und für durchsetzbar hielte, würde dies wohl nur für neue, nicht aber für bestehende Gesellschaftsverhältnisse gelten können. Eine Lösung des Problems kann also auf diesem Wege nicht gefunden werden. c) Aufgabe des Grundsatzes der bilanziellen Kapitalerhaltung? Wolfgang Schön63 geht davon aus, dass der Druck in Richtung einer Annährung handelsrechtlicher und internationaler Rechnungslegungsgrundsätze nicht nachlassen wird, auch wenn das Bilanzrechtsreformgesetz (BilRefG) für den Einzelabschluss an der traditionellen HGB-Bilanz festhält. Er geht sogar so weit, im Zusammenbruch des kontinentalen Konzepts eine realistische Perspektive zu sehen, da die Gemeinschaftsgesetzgebung zum Schutz von Gesellschaften und Dritten nach Art. 44 Abs. 2 EG-Vertrag – anderes als im Mitbestimmungs- oder Steuerrecht – keines einstimmigen Votums im Ministerrat bedarf. Bei seiner Untersuchung über alternative Konzepte unterscheidet Schön64 drei Elemente des deutschen Kapitalschutzes: 1. Die gesetzlichen Regeln über die Höhe des Mindestkapitals, 2. die Satzungsbestimmungen über das gezeichnete Kapital und 3. die bilanzrechtlichen Kapitalerhaltungsregeln als Ausschüttungssperre. Zu Recht weist Schön darauf hin, dass diese Elemente in ganz unterschiedlichem Umfang Bestandsschutz in der künftigen Gesetzgebung beanspruchen können: Regeln über das Mindestkapital (Ziff. 1) erscheinen auch unter Berücksichtigung angloamerikanischer Erfahrungen als entbehrlich: Angesichts der relativ geringen Höhe für Stamm- und Grundkapital im deutschen Recht entsteht für Gläubiger kein besonderer Risikoschutz. Anderseits verspricht m. E. der Verzicht auf Mindestkapitalien, dessen rechtspolitische Durchsetzung problematisch würde, für sich genommen keine Lösung der Probleme. Es geht vielmehr um Kapitalerhaltungsregeln für das gezeichnete Kapital (s. o. Ziff. 2 und 3).
__________ 63 Schön, Die Zukunft der Kapitalaufbringung/-erhaltung, Der Konzern 2004, 162 (164). 64 Schön (Fn. 63), S. 164 m. w. N.
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Die Frage abweichender gesetzlicher Regelungen anstelle der Kapitalerhaltungsregeln stellt sich in zweierlei Hinsicht: –
Ist ein privater Gläubigerschutz verglichen mit einem gesetzlichen Gläubigerschutz ausreichend oder gar effizienter65; konkret gefragt: Reichen vertraglich vereinbarte Ausschüttungsbeschränkungen in den Kreditverträgen mit einzelnen Gläubigen (financial covenants) aus?
–
Kann auf ein bilanzorientiertes System des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes im Hinblick auf die Insolvenzprophylaxe durch solvency tests und solvency statements der Geschäftsführung verzichtet werden?
Einen Verzicht auf Kapitalschutzregelungen schlägt z. B. Elisabeth StroblHaarmann66 im Interesse einer raschen europäischen Harmonisierung des Bilanzrechts vor. Man wird aber mit Wolfgang Schön konstatieren können: „Wer den Gläubigerschutz aus dem Gesellschaftsrecht entfernen will, der muss diesen Zusammenhang von Gesellschafterrechten und Gläubigerschutz auflösen und einen überzeugenden Ersatz bieten“67. d) Suche nach Ersatzmöglichkeiten für den bilanziellen Kapitalerhaltungsgrundsatz aa) Ausreichender Gläubigerschutz durch financial covenants? Vereinbarungen mit Großgläubigen haben den Vorteil, die Kapitalsicherung den konkreten Verhältnissen angepasst regeln zu können. Dem steht der Nachteil gegenüber, dass nur ein ausgeglichenes Machtverhältnis zwischen Kapitalgesellschaft und Großgläubiger eine ausgeglichene Regelung erwarten lässt. Kleingläubigern bleibt nur die Möglichkeit im „Windschatten“ von Großkreditgebern reflexartig geschützt zu werden; im Übrigen wird auch bei vertraglichen Ausschüttungsbegrenzungen in der Regel eine vorsichtige Bilanzierung als Beurteilungsgrundlage gewünscht68. bb) Ausreichender Gläubigerschutz durch solvency tests und -statements? Soweit solvency tests und -statements lediglich verhindern sollen, dass die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft durch die Auszahlung von Kapitalbeträgen an die Gesellschafter geschmälert wird, stellen sie ohnehin eher einen Liquiditäts- als einen Kapitalschutz dar. Überdies würde der derzeitige Gläubigerschutz mit seinem Nebeneinander von Kapitalerhaltungsvorschrif-
__________ 65 Vgl. dazu Schön (Fn. 63), S. 166 m. w. N. 66 Strobl-Haarmann, IASC-Rechnungslegung
und Gläubigerschutzbestimmungen nach deutschem Recht, in FS Clemm 1996, S. 389 ff. 67 Schön (Fn. 63), S. 170. 68 Schön (Fn. 63), S. 167 ff. m. w. N.
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ten und Regeln des Insolvenzrechts eine deutliche Verschlechterung erfahren. Ein solcher doppelter Schutz ist nur durch ein neben dem Insolvenzrecht stehendes bilanzorientiertes System des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes möglich. So gesehen kann es allenfalls um vereinfachte Ausschüttungssperren als Alternative gehen69. Wohl zu Recht lehnt aber Ute Schmiel solche vereinfachte Ausschüttungssperren als Alternative wegen der praktischen Schwierigkeiten, insbesondere bei der Anpassung an veränderte IAS/IFRS-Regeln ab. Vorzuziehen wäre dagegen eine Modernisierung des Handelsbilanzrechts, wie sie durch das angekündigte Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz70 vorgesehen ist, das das HGB zur Anpassung an europäische und internationale Rechnungslegungsregeln fortentwickeln soll, und zwar –
für den Konzernabschluss: § 290 HGB soll nicht mehr auf das Merkmal der Beteiligung, sondern auf das international übliche Merkmal der Beherrschung (control) abstellen und
–
für den Einzelabschluss – Abschaffung von unzeitgemäßen Berwertungswahlrechten, m. E. insbesondere der umgekehrten Maßgeblichkeit – Änderung der Rückstellungsbewertung durch Berücksichtigung der zukünftigen Entwicklungen bei Löhnen, Preisen und Gehältern bei marktgerechter Abzinsung, – Übernahme der fair value-Bewertung für Finanzinstrumente: allerdings umstritten wegen der damit verbundenen Durchbrechung des Realisationsprinzips71.
Allerdings gibt es einen weiteren Ansatzpunkt für die Frage, ob nicht eine Verlagerung des Gläubigerschutzes von Gesellschafts- in das Insolvenzrecht stattfinden sollte72. Motiv für eine solche Reformierung, insbes. des GmbHRechts, ist die Sorge vor dem ungehinderten Zuzug ausländischer Gesellschaften, insbes. englischer privater limited by shares73 im Gefolge der „Inspire Art“-Entscheidung des EuGH74.
__________ 69 Ute Schmiel (Fn. 56), S. 159 ff. 70 Ernst, Die Zukunft des handelsrechtlichen Einzelabschlusses, StbJB 2003/2004,
S. 69 ff. 71 Vgl. dazu insbesondere Strobl-Haarmann (Fn. 66), S. 608 ff. 72 M. Fischer, Die Verlagerung des Gläubigerschutzes von Gesellschafts- in das Insol-
venzrecht nach „Inspire Art“, ZIP 2004, 1477. 73 S. dazu den Vorteilhaftigkeitsvergleich bei Heinz, Englische Limited und Deutsche
GmbH – eine vergleichende Darstellung, AnwBl. 2004, 612, der bei der deutschen GmbH deutliche Zeichen von Überreglementierung in Bereichen der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung feststellt. 74 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, ZIP 2003, 1885.
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Arndt Raupach
IV. IAS/IFRS als starting point für eine common European tax base? Was bedeutet die beschriebene Entwicklung für das Steuer-, insbesondere das Steuerbilanzrecht? In der Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk habe ich unter dem Titel „Gemeinschaftsweite Unternehmensbesteuerung, die den Anforderungen des Binnenmarktes gerecht wird – Flucht aus dem Chaos in eine Utopie?“75 folgende Denkansätze für eine europäische Unternehmensbesteuerung vorgestellt: – – –
–
Rückkehr zum klassischen Körperschaftssteuersystem (inzwischen in Deutschland vollzogen), Umformung zu einem Betriebssteuerkonzept, Einführung einer Konzerneinheitsbesteuerung (inzwischen in Österreich mit dem Übergang von der Organschaft mit Ergebnisabführungsvertrag zur Gruppenbesteuerung vollzogen) und internationale Rechnungslegungsstandards als Ausgangspunkt für eine einheitliche Gewinnermittlung und -konsolidierung.
Inzwischen wurden verschiedene Modelle für eine konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage in der EU entwickelt76: – – – –
Home state taxation (HST) Common consolidated tax base (CCTB) Single compulsory harmonised tax base European Union company income tax (EUCIT)
Bei Abwägung der Vor- und Nachteile der Modelle erscheint die common consolidated tax base (CCTB) am vorzugswürdigsten77 und am ehesten als aussichtsreich. Norbert Herzig78 bemerkt dazu in einem Gutachten für die
__________
75 Raupach in Schön (Hrsg.), GS Knobbe-Keuk, 1997. 76 Vgl. dazu Lausterer, Konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage in der
EU, in Pohl/Raupach, Praxis des Internationalen Steuerrechts, Arbeitsunterlage zur Tagung, 2004, S. 227 ff. m. w. N. 77 Lausterer (Fn. 76), S. 232. 78 Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung – Eigenständige Steuerbilanz und modifizierte Überschussrechnung – Gutachten für das Bundesfinanzministerium, 2004, S. 31. Herzig verweist dazu auf Europäische Kommission, Konsultationspapier, Die Anwendung der „International Accounting Standards“ (IAS) ab 2005 und ihre Implikationen für die Schaffung einer konsolidierten Steuerbemessungsgrundlage für die grenzüberschreitende Unternehmenstätigkeit, Brüssel 2003. Im Februar 2003 begannen öffentliche Konsultationen zum Thema „Anwendung der International Accounting Standards – IAS und ihre Implikationen für die Schaffung einer konsolidierten Steuerbemessungsgrundlage für die grenzüberschreitende Unternehmertätigkeit in der EU“.
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Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsrecht und Bilanzrecht
Bundesregierung, unter Beibehaltung des Maßgeblichkeitsgedankens könnte die Steuerbilanz künftig auch an einen IAS/IFRS-Einzelabschluss gebunden werden79. Dem Konzept eine IAS/IFRS-Maßgeblichkeit könnte zudem Bedeutung auf dem Weg zu einer EU Harmonisierung der steuerlichen Bemessungsgrundlage (zumindest im Bereich der Unternehmensbesteuerung) zukommen; in diesem Kontext liege die Überlegung nahe, die IAS/IFRS als Ausgangspunkt einer common or harmonised tax base heranzuziehen. Unter dem Titel „International Accounting Standards – Starting point for a common European tax base?“ ist Wolfgang Schön80 dieser Frage näher nachgegangen. Alle Untersuchungen weisen allerdings darauf hin, dass es bei der Anknüpfung der steuerlichen Gewinnermittlung an die IAS/IFRS zwei Probleme gibt: –
Die inhaltlichen Besonderheiten der IAS/IFRS, die lediglich Informationszwecken dienen, nicht aber der „richtigen“ Gewinnermittlung für Steuerzwecke und
–
die fehlende gesetzliche rechtstaatliche Grundlage der von privaten standard settern aufgestellten Grundsätze für das Steuerrecht als Eingriffsrecht: Ob das in der EU vorgesehene Komitologieverfahren dafür ausreicht, ist umstritten81.
Mit Ausnahme des fair value concept (Verkehrswertansatz) bestehen aber wohl keine allzu großen Schwierigkeiten, die Unterschiede zwischen Informations- und Besteuerungszweck zu überwinden82.
V. Ausblick Es könnte sich durchaus lohnen, die Diskussionen über steuerlich erforderliche Korrekturen der IAS/IFRS fortzuführen und einen Konsens anzustreben. Eine Einigung darüber, was im Regelwerk der IAS/IFRS für Besteuerungszwecke nicht passt, dürfte jedenfalls leichter fallen als die „synthetische“ Erarbeitung einer harmonisierten, von den Finanzministern der europäischen Staaten akzeptierten Steuerbemessungsgrundlage. Eine einheitliche Steuerbemessungsgrundlage bietet bei Einigung über Zerlegungsschlüssel außerdem die Chance, anstelle der derzeit praktizierten Gewinnabgrenzung zwischen den Staaten durch Verrechnungspreiskorrekturen eine Aufteilung und Zuordnung der einheitlichen Steuerbemessungs-
__________ 79 Vgl. dazu Schüppen, Die Zukunft der Rechnungslegung in kleinen und mittleren
Unternehmen, in Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2002 (Fn. 42), 2002, S. 163 (175 ff.). 80 Schön, European Taxation, 2004, S. 426. 81 S. zum ganzen Herzig (Fn. 78), S. 31 ff. 82 Vgl. Schön (Fn. 80), S. 440.
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Arndt Raupach
grundlage nach Art des Unitary-Tax-Systems83 vorzunehmen84. Die bisherige internationale Verrechnungspreispolitik mit ihren nationalen Dokumentationsanforderungen ist jedenfalls geeignet, Betriebsabläufe zu zerschneiden und einheitliche Märkte zu segmentieren85. Allerdings entsteht bei dem von mir vorgeschlagenen Alternativkonzept die Gefahr einer dreifachen Bilanzierung: – – –
eine zwingend aufzustellende Handelsbilanz zur Kapitalerhaltung, eine wahlweise aufgestellte IAS/IFRS-Bilanz für Inforamtionszwecke und eine aus der IAS/IFRS-Bilanz abgeleitete Steuerbilanz.
Erleichterung ließe sich erreichen, soweit es gelänge, eine IAS/IFRS-Bilanz als Einheitsbilanz aufzustellen, in der steuerliche Abweichungen lediglich entsprechend der heutigen Regelung des § 60 Abs. 2 EStDV in Ergänzungsrechnungen festgehalten werden. Weiter wäre zu untersuchen, ob eine aus den IAS/IFRS abgeleitete Steuerbilanz so ausgestaltet werden könnte, dass sie auch Kapitalerhaltungszwecken genügt. Dabei würde es sich um eine nach IAS/IFRS-Regeln „modernisierte“ Handelsbilanz handeln. Das würde voraussetzen, dass die für Steuerzwecke entwickelten Abweichungen von der IAS/IFRS-Bilanz zugleich eine ausreichende Kapitalerhaltung sichern. Aussichtslos scheint mir eine solche Untersuchung, die auf eine Erhaltung einer Einheitsbilanz zielt, nicht zu sein.
__________ 83 Vgl. Jacob, Internationale Auswirkungen der Unitary Taxation der amerikanischen
Bundesstaaten, DB 1985, 15; Luttermann, Unitary Taxation and U.S. Supreme Court, IStR 1994, 489; Böck/Mayer, Die kalifornische Unitary Tax vor dem Supreme Court der USA, RIW 1994, 500; Luttermann, Besteuerung multinationaler Konzerne in den Vereinigten Staaten von Amerika, RIW 1996, 935; Vogel, Doppelbesteuerungsabkommen, 3. Aufl. 1996, Art. 9 Rz. 171. 84 Raupach in GS Knobbe-Keuk (Fn. 75), S. 723 ff., insb. Fn. 183; für den Fall des Übergangs zur Einheitsbesteuerung in Konzernen Raupach (Hrsg.) Verrechnungspreissystem multinationaler Unternehmen, 1999, S. 125 gegen Becker, ebenda S. 123/124. 85 Vgl. Raupach (Fn. 4), S. 89 (153).
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Harald Ring
Entwicklung einheitlicher Unabhängigkeitsregeln in Europa – Beitrag des europäischen Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Arbeiten der FEE und ihre Auswirkungen 1. Ausgangslage 2. Erstes Positionspapier 1995 3. Weitere Entwicklung in Europa
4. Bezug zum IFAC Code of Ethics und zu den EU-Empfehlungen zur Unabhängigkeit 5. Mitwirkung in der ISB Task Force/USA 6. Bilanzrechtsreformgesetz 7. Ausblick
I. Einleitung Fragen der Unabhängigkeit des Wirtschaftsprüfers – insbesondere in den in § 319 Abs. 2 und 3 HGB beschriebenen Sachverhalten – haben in der Literatur1 stets eine beachtliche Rolle gespielt. Die Rechtsprechung hat sich mit dieser Thematik nur in vergleichsweise geringem Umfang beschäftigen müssen2. Die gleiche Feststellung lässt sich in Bezug auf die Voraussetzungen treffen, unter denen eine Besorgnis der Befangenheit des Abschlussprüfers anzunehmen ist, bei deren Vorliegen der Wirtschaftsprüfer gemäß § 49 WPO seiner Tätigkeit zu entsagen hat und bei denen gemäß § 318 Abs. 3 HGB eine gerichtliche Ersetzung des Abschlussprüfers nach Maßgabe der dort getroffenen Regelungen in Betracht kommt. Von allen die Praxis besonders berührenden potentiellen Konfliktbereichen dürfte die Frage nach der Vereinbarkeit der Beratung eines Auftraggebers in wirtschaftlichen und steuerlichen Angelegenheiten mit der Abschlussprüfung durch denselben Wirtschaftsprüfer die größte Bedeutung besitzen. Aus diesem Grunde war dieser Problemkreis über Jahre hinweg auch immer wieder Gegenstand der kontroversen Diskussionen in der Literatur.
__________ Vgl. z. B. die bei Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung von Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 319 HGB unter „Schrifttum“ aufgeführten Literaturstellen. 2 In erster Linie ist der Beschluss des BayObLG v. 17.9.1987 – WM 1987, 1361 – zu nennen; vgl. im Übrigen z. B. OLG Köln, Urt. v. 1.7.1992, BB 1992, 2108; OLG Hamburg, Beschl. v. 11.6.1992, BB 1992, 1533; LG Köln, Urt. v. 1.4.1997, AG 1997, 431. 1
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Harald Ring
Eine erste grundlegende höchstrichterliche Klärung der Vereinbarkeit von Prüfung und Beratung in wirtschaftlichen und steuerlichen Angelegenheiten ist durch die viel beachtete „Allweiler-Entscheidung“ des II. Zivilsenats des BGH vom 21. April 19973 unter dem Vorsitz von Volker Röhricht herbeigeführt worden. Der II. Senat hat sich in dieser Entscheidung die Abgrenzung zwischen erlaubter Beratung einerseits und untersagter Mitwirkung an der Abschlusserstellung unter Rückgriff auf Begriff und Funktion der Beratung einerseits sowie an der Wahrung der Unabhängigkeit der Abschlussprüfung andererseits orientiert und deutlich gemacht, dass eine zulässige Beratung dann und so lange angenommen werden kann, als der Rat in wirtschaftlichen und steuerlichen Angelegenheiten lediglich eine Entscheidungshilfe für den zur Entscheidung berufenen Unternehmer darstellt. Erst wenn die Beratung des Abschlussprüfers über die Darstellung von Alternativen im Sinne einer Entscheidungshilfe hinausgeht, der Wirtschaftsprüfer insbesondere anstelle seines Mandanten eine unternehmerische Entscheidung trifft, werde die Grenze zulässiger Beratung überschritten. Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die von der überwiegenden Literaturauffassung gebilligten Grundsätze der „Allweiler-Entscheidung“ in einem weiteren viel beachteten Urteil vom 25.11.20024 bestätigt, in dieser Entscheidung allerdings das Vorliegen einer Besorgnis der Befangenheit des gewählten Abschlussprüfers angenommen. Die Tatsache, dass der BGH damit innerhalb von nur fünf Jahren zweimal grundlegend zu Unabhängigkeitsfragen Stellung genommen hat, ist für den nationalen Bereich ein Indiz dafür, was international in noch stärkerem Umfang festzustellen ist: Unabhängigkeitsfragen sind längst aus dem Dornröschenschlaf erweckt und in das Zentrum des Interesses gerückt worden, und zwar nicht erst durch Skandalfälle wie z. B. ENRON, World-Com, Balsam und Schneider. Bei den seit Jahren verstärkt geführten Diskussionen geht es zum einen um die Rolle der unternehmensleitenden Organe, zum anderen aber auch um die Frage, inwieweit im konkreten Fall die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers gewahrt war. Vor diesem Hintergrund mag es von Interesse sein, die Bemühungen des Berufsstandes zur Fortentwicklung, Konkretisierung und Festigung der Unabhängigkeitsgrundsätze im internationalen Bereich zu beleuchten und hier schwerpunktmäßig die europäische Entwicklung zu betrachten, zumal die Aktivität des europäischen Berufsstandes von besonderer Bedeutung war und ist.
__________ 3 4
BGHZ 135, 260. BGHZ 153, 32 – Hypo-Vereinsbank.
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Entwicklung einheitlicher Unabhängigkeitsregeln in Europa
II. Arbeiten der FEE und ihre Auswirkungen 1. Ausgangslage Auf europäischer Ebene hat sich insbesondere die Fédération des Experts Comptables Européens (FEE) bemüht, für den europäischen Berufsstand einheitliche Grundsätze zu Fragen der Unabhängigkeit zu entwickeln. Dass dies keine leichte Aufgabe war, zeigt die Historie deutlich, da schon die Vorgängerorganisationen der FEE, d. h. die Groupe d’Etudes sowie die Union des Experts Comptables (UEC), aus deren Zusammenschluss die FEE gebildet worden ist, zweimal vergeblich versucht hatten, gemeinsame europäische Grundsätze zur Unabhängigkeit zu entwickeln. Aus der Sicht des europäischen Berufsstandes war diese Aufgabe allerdings unumgänglich, denn Art. 24 der 8. EG-Richtlinie forderte von den Mitgliedstaaten, Regelungen zur Unabhängigkeit der gesetzlichen Abschlussprüfer festzulegen. Die einzelnen Länder haben diesem Auftrag durch unterschiedliche Maßnahmen gesetzgeberischer Art, berufsständische Regelungen sowie andere Vorschriften entsprochen, in Abhängigkeit von divergierenden Vorstellungen vom Konzept der Selbstregulierung. Die Schwierigkeit, gemeinsame Prinzipien zu definieren, ist im Bereich der Unabhängigkeit deutlich größer als bei der Vereinheitlichung mancher anderer Fragen, die für die berufliche Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer von Bedeutung sind, insbesondere bei der Entwicklung von Rechnungslegungs- und Prüfungsnormen. Dies beruht darauf, dass im Bereich der Unabhängigkeit in den verschiedenen europäischen Ländern über Jahrzehnte hinweg nicht nur unterschiedliche Regeln entstanden sind, sondern sich vielmehr unterschiedliche Überzeugungen entwickelt haben. Man kann diese Tatsache mit der Erfahrung erklären: Was man lange praktiziert hat und womit man vertraut ist, wird regelmäßig auch als „richtig“ angesehen, so dass sich häufig aus langer Rechtsanwendung auch eine schwer zu ändernde Überzeugung entwickelt. Diese Überzeugungen basieren – wie erwähnt – zum Teil auf einer jahrzehntelangen Berufspraxis, teilweise aber auch darauf, dass unterschiedliche Rechtssysteme unterschiedliche historische Quellen haben. So lässt sich feststellen, dass etwa die Unterschiede zwischen den kontinental-europäischen Staaten und ihren vergleichsweise verwandten Rechtstraditionen einerseits und den angelsächsisch geprägten Vorstellungen andererseits auch zu unterschiedlichen Auffassungen darüber führen, auf welche Art und Weise Unabhängigkeitsfragen geregelt werden sollten. Die kontinental-europäischen Staaten neigen stärker dazu, auch Unabhängigkeitsfragen durch die Schaffung klarer Normen – z. B. durch Verbote oder auch Erlaubnisse – zu regeln, während die angelsächsischen Länder eher einen prinzipien-orientierten Ansatz bevorzugen und demzufolge z. B. einer Auflistung bestimmter Verbotstatbestände (Prohibitions) kritisch gegenüberstehen; sie begründen dies mit dem nicht von der Hand zu weisenden Hinweis, dass klar definierte 1057
Harald Ring
Verbote im Zweifel immer Schlupflöcher für Umgehungskonstruktionen eröffnen, wohingegen ein konzeptioneller Ansatz – zumindest theoretisch – alle denkbaren Fallgestaltungen abdeckt. 2. Erstes Positionspapier 1995 Trotz dieser beschriebenen Schwierigkeiten ist es der FEE gelungen, nach dreijähriger Arbeit im Jahre 1995 ein erstes Positionspapier unter dem Titel „Indépendance et Objectivité de l’Auditeur“ zu verabschieden. Obwohl das Positionspapier von 1995 konkrete Aussagen zu den wichtigsten Problembereichen der Unabhängigkeit enthält, ist das Arbeitsergebnis von mancher Seite kritisch kommentiert worden, vor allem deshalb, weil es nicht präzise genug und für die praktische Anwendung daher kaum verwendbar sei. Diese Kritik dürfte im Kern durchaus ihre Berechtigung haben. Dennoch war die Verabschiedung des Positionspapiers im Conseil der FEE, in dem alle Mitgliedsländer vertreten sind, ein wesentlicher Schritt nach vorne, insbesondere deshalb, weil erstmals innerhalb des europäischen Berufsstandes ein Konsens über die meisten wesentlichen Unabhängigkeitsfragen erzielt worden ist, und dies – was besonders erwähnungsbedürftig ist – obwohl verschiedene Aussagen des Positionspapiers im klaren Gegensatz zu fortbestehenden nationalen gesetzlichen Regelungen standen. Einige wichtige Mitgliedsorganisationen der FEE haben sich also damals bereitgefunden, aufgrund der intensiven Diskussionen Abstand von lieb gewonnenen Gewohnheiten zu nehmen und auf die Herausbildung einheitlicher europäischer Grundsätze hinzuwirken. 3. Weitere Entwicklung in Europa Nachdem dieser wichtige Schritt getan war, vollzog sich die weitere Entwicklung sehr viel schneller. Im Zusammenhang mit einer Initiative der Europäischen Kommission hat die FEE im Januar 1996 eine „Studie“ unter dem Titel „Rôle, Statut et Responsabilité du Contrôleur Légal des Comptes dans l’Union Européenne“ erarbeitet und im Monat Oktober 1996 eine Stellungnahme zu den Fragen des Grünbuch der Kommission5 gegeben. Die Kommission ihrerseits hat die FEE aufgefordert, an der Entwicklung eines „Common Core of Principles for the Guidance of the European Profession“ mitzuwirken. Die FEE ist dieser Aufforderung gefolgt und hat in der Zeit bis Juli 1998 ein umfassendes Papier unter dem Titel „Indépendance et Objectivité du Contrôleur Légal des Comptes“ entwickelt, das den Untertitel „Corps de Principes Essentiels pour l’Orientation de la Profession Européenne – Premières Recommandations“ trägt.
__________ 5
ABl. 1996 C 32; WPK-Mitteilungen 1996, 279.
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Entwicklung einheitlicher Unabhängigkeitsregeln in Europa
Das Papier aus 1998 zeichnet sich im Wesentlichen durch zwei Merkmale aus: Zum einen behandelt es die wesentlichen Unabhängigkeitsfragen sehr viel detaillierter und umfangreicher, als dies in dem Papier aus dem Jahre 1995 der Fall war. Viel wesentlicher ist jedoch das erstmalige konsequente Bekenntnis zu einem konzeptionellen Ansatz (Framework Approach), der jedoch zusätzlich mit der Beschreibung spezifischer und typischer Einzelsituationen einhergeht. Das Papier enthält – abgesehen von wenigen Fällen – keine Verbote bestimmter unvereinbarer Tätigkeiten und steht damit im Widerspruch zu vielen nationalen Regelungen, insbesondere in Kontinentaleuropa. Stattdessen werden jeweils für die im Einzelnen beschriebenen typischen Situationen, aus denen erfahrungsgemäß Unabhängigkeitsrisiken erwachsen können, eine Reihe von Maßnahmen bzw. Vorkehrungen angeboten, mit deren Hilfe Unabhängigkeitsrisiken vermieden oder auf ein akzeptables Maß reduziert werden können. Die Einführung des konzeptionellen Ansatzes (Framework Approach) ist innerhalb der FEE nach kontroversen Diskussionen und nur im Kompromisswege mit der Maßgabe möglich gewesen, das Papier in zwei grundsätzliche Bereiche aufzuteilen. In dem ersten Teil des Dokumentes finden sich Ausführungen grundsätzlicher Art, insbesondere die allgemeine Beschreibung der Risiken und Gefahren für die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, die Erläuterung des Unterschiedes zwischen der tatsächlichen Unabhängigkeit (Independance of mind) einerseits und der aus der Sicht eines objektiven Dritten wahrgenommenen Unabhängigkeit (Independance in appearance). In einem zweiten Teil werden dann aus der Erfahrung des Berufsstandes heraus die meisten typischen Situationen beschrieben, in denen die Unabhängigkeit und Objektivität des Abschlussprüfers tatsächlich gefährdet werden oder gefährdet erscheinen. Die Ausführungen im zweiten Teil des Dokuments sollen insbesondere dazu dienen, die praktische Verwendbarkeit des konzeptionellen Ansatzes zu verdeutlichen. Die Zweiteilung des Papiers hatte zudem den Vorteil, Anpassungen an zukünftig sich verändernde Unabhängigkeitsrisiken durch eine einfach vorzunehmende Ergänzung des zweiten Abschnitts bewirken zu können. 4. Bezug zum IFAC Code of Ethics und zu den EU-Empfehlungen zur Unabhängigkeit Rückblickend lässt sich feststellen, dass die beschriebenen Arbeiten der FEE – insbesondere die ersten Empfehlungen aus Juli 1998 – wesentlichen Einfluss auf die anschließende Diskussion der Unabhängigkeitsfragen innerhalb und außerhalb Europas gehabt haben.
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Harald Ring
Dies gilt zunächst international in Bezug auf den „Code of Ethics“ der International Federation of Accountants (IFAC), der unmittelbar anschließend an die Arbeiten innerhalb der FEE grundlegend überarbeitet worden ist und hinsichtlich seines Inhaltes weitgehend mit dem FEE-Papier aus 1998 übereinstimmt. Dies mag auch daran gelegen haben, dass Berufsangehörige, die maßgebend an der Entwicklung des FEE-Papiers beteiligt waren, z. T. zeitgleich ihre bei der FEE gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse in die Diskussionen innerhalb der IFAC einbringen konnten bis hin zur Hilfestellung bei der Formulierung des Code of Ethics. Für die europäische Entwicklung bedeutsam ist jedoch der Umstand, dass auch die Empfehlung der Europäischen Kommission zur Unabhängigkeit des gesetzlichen Abschlussprüfers in der EU vom 16.5.20026 in hohem Maße auf Überlegungen und Erkenntnissen aufbauen, die bereits im FEE-Papier aus dem Jahre 1998 zum Ausdruck gebracht worden sind. Dies wird man nicht zuletzt darauf zurückführen können, dass Vertreter der FEE Gelegenheit hatten, an allen Sitzungen des Committee on Auditing der EU-Mitgliedstaaten mitzuwirken, in denen die Entwürfe der Europäischen Kommission über einen längeren Zeitraum hinweg im Einzelnen diskutiert worden sind. Inhaltlich stellen die Empfehlungen der Europäischen Kommission zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers einen gewissen Endpunkt in der Entwicklung dar. Diese Aussage rechtfertigt sich wegen der umfassenden Behandlung der in der Diskussion befindlichen Unabhängigkeits-Fragen sowie auch im Hinblick auf die im Verlaufe einer mehr als einjährigen Diskussion gewachsenen, ausgewogenen Ausgestaltung des Papiers. So werden bei der Darstellung des Rahmenkonzeptes neben Erläuterungen zu der Objektivität, Integrität und Unabhängigkeit sowie zur Verantwortung des Abschlussprüfers alle weiteren wesentlichen Faktoren behandelt, aus denen sich Risiken für die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers im Allgemeinen ableiten lassen. Daneben werden – zunächst ebenfalls in allgemeiner Form – die Maßnahmen und Vorkehrungen genannt, durch die Unabhängigkeitsrisiken ausgeschlossen oder auf ein akzeptables Maß gemindert werden können einschließlich der Maßnahmen zur Qualitätssicherung. Das Dokument enthält darüber hinaus eine ins Einzelne gehende Darstellung aller wesentlichen Risikobereiche, in denen es zu einer Gefährdung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers kommen kann. Zur Erläuterung dient schließlich ein umfangreicher Anhang, der als Hilfestellung für die Interpretation der in der Empfehlung aufgeführten Grundprinzipien dient und damit eine weitere wertvolle Erkenntnisquelle liefert. Die EU-Empfehlungen zur Unabhängigkeit verfolgen die Absicht, die Mitgliedstaaten bei der Schaffung von Regeln, Standards und/oder Vorschriften über die Unabhängigkeit des Abschluss-
__________ 6
ABl. EG Nr. L 191/22 v. 19.7.2002.
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Entwicklung einheitlicher Unabhängigkeitsregeln in Europa
prüfers zur Beachtung der in den Empfehlungen dargelegten Grundprinzipien anzuhalten. Die Kommission hat bei der Veröffentlichung der Empfehlungen deutlich gemacht, dass sie die weiteren nationalen Rechtsentwicklungen beobachten werde und sich gegebenenfalls weitere regulatorische Maßnahmen vorbehalte. Was den Aufbau der EU-Empfehlungen zur Unabhängigkeit anbelangt, so ist interessant, dass – wie auch der Code of Ethics der IFAC – eine Zweiteilung des Dokuments in eine allgemeine Erläuterung des Framework-Ansatzes sowie eine anschließende Behandlung der spezifischen, die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers gefährdenden Situationen vorgenommen worden ist, so wie dies erstmals innerhalb des FEE-Dokuments über die Unabhängigkeit und Objektivität des gesetzlichen Abschlussprüfers geschehen ist. 5. Mitwirkung in der ISB Task Force/USA Das Dokument der FEE aus dem Jahre 1998 hat auch einen gewissen Einfluss auf die Überlegungen ausgeübt, die in den Vereinigten Staaten angestellt worden sind. Auch dort ist der Versuch unternommen worden, von einer Vielzahl inzwischen unübersehbar gewordener Regelungen zu einem neuen und verständlichen Regelwerk auf der Grundlage eines Conceptual Framework zu gelangen. Diese Überlegungen sollten – beginnend im Frühjahr 1999 – in der Task Force des Independance Standards Board (ISB) entwickelt werden, dem maßgebliche Vertreter interessierter Parteien angehörten, wie z. B. Hochschullehrer, Mitglieder führender Anwaltskanzleien, institutionelle Anleger, Vertreter der SEC und Wirtschaftsprüfer. Die FEE ist aufgrund der von ihr geleisteten Vorarbeiten eingeladen worden, an den Arbeiten der Task Force des Independance Standards Board mitzuwirken und hat diese Gelegenheit auch wahrgenommen. Die ersten Ergebnisse der ISB Task Force waren vielversprechend. Dennoch sind die Arbeiten nicht mit dem gewünschten Erfolg abgeschlossen worden, was in erster Linie darauf beruht, dass die in der Task Force vertrete SEC einen regulatorischen Ansatz verfolgte und die Entwicklung der Unabhängigkeitsfragen selbst in die Hand nehmen wollte. Hierdurch sind die Bemühungen um eine internationale Harmonisierung sicher nicht erleichtert worden. Mit Wirkung vom 31.7.2001 hat der ISB schließlich seine Tätigkeit vollständig eingestellt, nachdem die SEC eigenständige Unabhängigkeitsregeln entwickelt hatte, die im November 2000 angenommen worden waren. 6. Bilanzrechtsreformgesetz Aus deutscher Sicht ist naturgemäß die jüngste Entwicklung im Bereich der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in Deutschland von besonderem Interesse. Das Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechts1061
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reformgesetz) vom 4.12.20047 betrifft eine ganze Reihe von Regelungsbereichen, wobei die Änderungen der Unabhängigkeitsgrundsätze zu den Schwerpunkten der gesetzlichen Neuregelung gehören. Durch das Bilanzrechtsreformgesetz wird zum einen § 319 HGB völlig neu gefasst und zum anderen mit der erstmals geschaffenen Vorschrift § 319a HGB eine Sonderregelung für solche Unternehmen geschaffen, die einen organisierten Markt i. S. d. § 2 Abs. 5 WpHG in Anspruch nehmen. In der Gesetzesbegründung8 wird ausdrücklich auf die Kommissionsempfehlung zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers Bezug genommen, ebenso wie auf den Entwurf der 8. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie (Abschlussprüferrichtlinie), die die EU-Kommission am 16.3.2004 vorgelegt hat. Das Bilanzrechtsreformgesetz soll zugleich – was die Regelungen zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers anbelangt – der Umsetzung der Nr. 5 des 10-Punkte-Programms „Unternehmensintegrität und Anlegerschutz“ der Bundesregierung vom 25.2.2003 dienen. Schließlich bestand das Anliegen des Gesetzgebers auch darin, die USamerikanische Entwicklung nicht außer Betracht zu lassen, die als Reaktion auf den ENRON-Skandal sowie die Vorgänge bei World-Com zu dem am 30.7.2002 unterzeichneten Sarbanes-Oxley-Act geführt hat. Der SarbanesOxley-Act sieht u. a. die Einsetzung eines Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB) vor, der die Tätigkeiten der Abschlussprüfer börsennotierter Unternehmen überwachen soll und dem unter Aufsicht der SEC weitgehende Einwirkungsmöglichkeiten auf die Tätigkeit der Prüfungsgesellschaften zustehen bis hin zur Zulassung der Prüfungsgesellschaften, der Festlegung von Prüfungs- und Qualitätskontrollstandards, zur Einleitung von Disziplinarmaßnahmen und der Einsichtnahme in Arbeitspapiere. Sowohl in den Regelungen in § 319 HGB als auch in § 319a HGB finden sich deutlich die Grundsätze wieder, die der II. Senat des BGH in seiner Allweiler-Entscheidung entwickelt hat. Diese Tatsache ist gewiss der besonderen Erwähnung wert. 7. Ausblick Kommt man auf die Rolle des europäischen Berufsstandes zur Entwicklung einheitlicher internationaler – insbesondere europäischer – Unabhängigkeitsregeln zurück, lässt sich durchaus feststellen, dass der Berufsstand frühzeitig und lange vor den inzwischen allgegenwärtigen Skandalfällen in und außerhalb der USA einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine Verbesserung und Konkretisierung der Unabhängigkeitsanforderungen getan und Anstöße für die weitere Entwicklung innerhalb Europas gegeben hat. Er hat darüber
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BGBl. I 2004 S. 3166. Abschn. VI. Unabhängigkeit des Abschlussprüfers.
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Entwicklung einheitlicher Unabhängigkeitsregeln in Europa
hinaus maßgeblich die Ausgestaltung des IFAC-Code of Ethics beeinflusst, dessen Weiterentwicklung er zudem kontinuierlich proaktiv begleitet. Aus der Sicht der Abschlussprüfer, ebenso wie aus der Sicht der betroffenen Unternehmen sowie der für die Berufsaufsicht zuständigen Behörden und Organisationen ist dennoch nicht abzusehen, dass mit dem zu erwartenden In-Kraft-Treten der 8. EU-Richtlinie sowie – was Deutschland anbelangt – mit dem Wirksamwerden des Bilanzrechtsreformgesetzes Unabhängigkeitsfragen abschließend geregelt und die hierauf bezogenen Diskussionen bis auf weiteres beendet wären. Zum einen bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen sich aus der weiteren Tätigkeit des PCAOB auf die in New York gelisteten ausländischen – auch deutschen – Unternehmen und deren Tochtergesellschaften ergeben. Hier bestehen über die mit der Zulassung an der New Yorker Börse verbundenen Anforderungen erhebliche Einflussmöglichkeiten der SEC bzw. PCAOB auf ausländische Unternehmen und deren Tochtergesellschaften, durch die nationale Unabhängigkeitsregeln, ebenso wie entsprechende Regeln auf europäischer Ebene, überspielt werden können. Die in der Vergangenheit intensiv zwischen der Kommission, den nationalen Regierungen und Vertretern des Berufsstandes einerseits und der SEC sowie dem PCAOB andererseits geführten Gespräche haben dies überdeutlich gezeigt. Ein weiterer Bereich, der der Beobachtung und gegebenenfalls auch der Hilfestellung seitens des europäischen Berufsstandes bedarf, betrifft die Umsetzung des in den EU-Empfehlungen zur Unabhängigkeit enthaltenen konzeptionellen Ansatzes (Framework Approach) im Rahmen nationaler gesetzlicher und/oder berufsständischer Regeln. Wie bereits dargelegt, besteht das wesentliche Merkmal des konzeptionellen Ansatzes in der Analyse der im Einzelfall bestehenden Bedrohung für die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers mit dem Ziel, in einem zweiten Schritt geeignete Gegenmaßnahmen bzw. Vorkehrungen zu treffen, durch die bestehende Unabhängigkeitsrisiken ausgeschlossen oder auf ein akzeptables Maß reduziert werden können; nur wenn derartige Vorkehrungen nicht oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, hat der Abschlussprüfer seiner Tätigkeit zu entsagen. Gesetzestechnisch ist ein solches Procedere nicht unbedingt leicht umzusetzen. Es bleibt abzuwarten, wie die nationalen Gesetzgeber vorgehen. Erste Erfahrungen liegen vor. Der konzeptionelle Ansatz findet sich im Bilanzrechtsreformgesetz – wenn überhaupt – nur kaum merklich wieder. So bestimmt § 319 Abs. 2 HGB, dass eine Tätigkeit als Abschlussprüfer nur dann ausgeschlossen sein soll, „wenn Gründe, insbesondere Beziehungen geschäftlicher, finanzieller oder persönlicher Art, vorliegen, nach denen die Besorgnis der Befangenheit besteht“. Lediglich in der Gesetzesbegründung zu § 319 Abs. 2 HGB wird ausgeführt, dass die Besorgnis der Befangenheit u. U. im Einzelfall ausgeräumt werden kann, wenn das geprüfte Unternehmen oder der Abschlussprüfer 1063
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Maßnahmen zur Reduzierung erkannter Risiken und zur Wahrung der Objektivität getroffen haben. Welche Anforderungen zukünftig an derartige risikoausschließende oder -mindernde Maßnahmen zu stellen sind, bedarf sicher vertiefender Überlegungen und weiterer Diskussionen. Gerade die umfassenden Darlegungen in den EU-Empfehlungen zur Unabhängigkeit können und sollten hierbei eine wertvolle Hilfe bieten. Schließlich besteht die wesentliche Aufgabe fort, auf eine weitere Harmonisierung der EU-rechtlichen Regelungen mit dem IFAC-Code of Ethics hinzuwirken. Der IFAC-Code of Ethics bindet zwar lediglich die einzelnen nationalen Mitgliedsorganisationen der IFAC und nicht die nationalen Gesetzgeber. Die IFAC-Regeln schlagen sich jedoch letztlich in der Arbeit der Wirtschaftsprüfer als Mitglieder der nationalen Institute, Verbände oder Kammern nieder, so dass schon aus diesem Grunde widersprechende oder unabgestimmte nationale Vorschriften einerseits und berufständische Vorgaben andererseits vermieden werden müssen. Vor diesem Hintergrund hat sich die FEE entschlossen, ein weiteres Papier zu entwickeln, dessen Hauptzweck darin besteht, –
die Empfehlungen der europäischen Kommission zur Unabhängigkeit mit den geltenden IFAC-Code of Ethics zu vergleichen und
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Erläuterungen und Überlegungen zur Implementierung des konzeptionellen Ansatzes anzubieten.
Die Arbeiten der FEE an dem vorgenannten Papier sind inzwischen abgeschlossen. Bei der Erarbeitung des Papiers sind fortlaufend auch die Entwicklungen in den meisten europäischen Mitgliedsländern einbezogen worden. Aus deutscher Sicht lässt sich – zumindest im Kern – die Feststellung treffen, dass eine weitgehende Übereinstimmung der vorgesehenen nationalen Regelungen mit den Unabhängigkeitsempfehlungen der Kommission, mit dem vorliegenden Entwurf der 8. Richtlinie sowie auch mit dem IFAC-Code of Ethics besteht. In einer Reihe anderer europäischer Länder ist dies deutlich anders. Auch vor diesem Hintergrund wird sich der europäische Berufsstand der Wirtschaftsprüfer intensiv darum bemühen, seinen Beitrag zur weiteren Angleichung der Unabhängigkeitsregeln innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu leisten.
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Grenzüberschreitende Tätigkeit von betrieblichen Pensionsfonds und Pensionskassen in Europa: zur EG-Rechtswidrigkeit von § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG Inhaltsübersicht I. Problemlage II. Sachverhalt III. Beurteilung nach deutschem Recht IV. Vereinbarkeit der unterschiedlichen Behandlung mit Europarecht 1. Anwendung von europarechtlichen Normen 2. Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG a) Eröffnung des Schutzbereichs b) Erfordernisse des „Erwerbszwecks“ 3. Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 i. V. m. Art. 55 und Art. 48 EG
4. Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 56 EG 5. Vergleichbarkeit von Pensionsfonds und Pensionskassen a) Grundsätzliche Vergleichbarkeit von Pensionsfonds und Pensionskasse b) Die besonderen Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG 6. Keine Rechtfertigung der Diskriminierung V. Ergebnis
I. Problemlage Nach langjährigen Beratungen hat der Rat der Europäischen Union die Richtlinie über die Tätigkeit und Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung angenommen1. Die Richtlinie legt den aufsichtsrechtlichen Rahmen für die Verwaltung und Anlage der Vermögenswerte von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, z. B. Pensionsfonds, fest. Ziel der Richtlinie ist es, den betrieblichen Altersversorgungssystemen die uneingeschränkte Nutzung der mit dem Binnenmarkt verbundenen Vorteile zu ermöglichen. Die Beseitigung steuerlicher Hindernisse für die grenzüberschreitende betriebliche Altersversorgung ist nach einer Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19.4.20012 von größter Bedeutung. Die steuerliche Diskriminierung verhindert, dass Pensionsfonds von der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen.
__________ Richtlinie 2003/41/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3.6.2003 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, ABl. EG Nr. L 235 v. 23.9.2003, S. 10–21. 2 Vgl. IP/03/179 v. 5.2.2003. 1
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Nach den deutschen Rechtsvorschriften sind bestimmte betriebliche Versorgungseinrichtungen gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG von der Körperschaftsteuer befreit (entsprechend gewerbesteuerbefreit gemäß § 3 Nr. 9 GewStG). Die Steuerbefreiung ist von der Erfüllung zusätzlicher Voraussetzungen abhängig und gilt nur für unbeschränkt Steuerpflichtige. Diese Ungleichbehandlung verstößt gegen die in Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit, gegen die in Art. 49 EG garantierte Dienstleistungsfreiheit sowie gegen die in Art. 56 EG garantierte Kapitalverkehrsfreiheit3. Bisher hatte der BFH4 und dem folgend Teile der Literatur5 angenommen, dass in der unterschiedlichen Behandlung von beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 KStG a. F.) kein Verstoß gegen europarechtliche Vorschriften zu sehen ist. Abweichend von dieser Rechtsprechung hat der BFH nunmehr in seinem Beschluss vom 14.7.2004 – I R 94/026 Zweifel geäußert, ob der Ausschluss der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 KStG a. F.) für den Bereich des Gemeinnützigkeitsrechts den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen standhält und ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet. Vorliegend soll am Beispiel eines EU-ausländischen Pensionsfonds die Vereinbarkeit von § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG anhand der einschlägigen europarechtlichen Vorschriften untersucht werden.
II. Sachverhalt Ein von einem Unternehmen (Trägerunternehmen) mit Sitz und Geschäftsleitung in einem Mitgliedstaat nach dem Recht des Sitzstaates des Trägerunternehmens gegründeter Pensionsfonds investiert im Rahmen seiner Vermögensanlagen in bebaute Grundstücke in Deutschland und erzielt daraus Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Satzungsgemäßer Zweck des Pensionsfonds ist es, die Altersversorgung der Mitglieder und der ehemaligen Mitglieder des Trägerunternehmens unter Beachtung der aufsichtsrechtlichen Regeln des Sitzstaates zu gewährleisten. Bei den Bezugsberechtigten handelt es sich ausschließlich um Arbeitnehmer und ehemalige Arbeitnehmer des Trägerunternehmens. Sitz und Geschäftsleitung des Pensionsfonds befinden sich im Sitzstaat des Trägerunternehmens. Im Inland besteht weder eine Betriebsstätte noch ist ein ständiger Vertreter bestellt. Das Vermögen des Pensionsfonds ist im We-
__________ EuGH, Slg. 1999, I-7447. BFH, BStBl. II 1977 S. 175; BFH, BStBl. II 1984 S. 9. Sauter in Erle/Sauter, KStG, 2003, § 5 Rz. 379; a. A. von Twickel in Blümich, KStG, Loseblatt, Stand: Aug. 2004, § 5 Anm. 292. 6 BFH, IStR 2004, 752. 3 4 5
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sentlichen in Wertpapieren, liquiden Mitteln und Immobilien angelegt. Die Immobilieninvestitionen erfolgen sowohl im Sitzstaat des Pensionsfonds als auch in Deutschland.
III. Beurteilung nach deutschem Recht Der Pensionsfonds hat im Inland weder Sitz noch Geschäftsleitung und ist deshalb gemäß § 2 Nr. 1 KStG im Inland beschränkt steuerpflichtig. Die Steuerbefreiung des § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG findet keine Anwendung, da diese Vorschrift nur für Gesellschaften mit Sitz und Geschäftsleitung im Inland gilt. § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG schließt die Steuerbefreiung von beschränkt steuerpflichtigen Versorgungseinrichtungen aus, d.h., ausländische Pensionsfonds und Pensionskassen, die im Inland weder Sitz noch Geschäftsleitung haben, sind mit ihren inländischen Einkünften aus Vermögensanlagen im Inland i. S. d. § 49 EStG i. V. m. §§ 2 Nr. 1, 8 Abs. 1 KStG körperschaftsteuerpflichtig, auch wenn sie bei unbeschränkter Steuerpflicht unter die Befreiungen des § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG fallen würden. Die von dem ausländischen Pensionsfonds erzielten Vermietungseinkünfte unterliegen somit gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 6 i. V. m. § 21 EStG und § 2 Nr. 1, § 8 Abs. 1 KStG der beschränkten Steuerpflicht. Würde es sich bei dem Pensionsfonds um eine inländische Pensionskasse handeln, wären die bei der Vermietung erzielten Einkünfte bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG steuerfrei.
IV. Vereinbarkeit der unterschiedlichen Behandlung mit Europarecht Gründe, die eine Diskriminierung EU-ausländischer Pensionsfonds und Pensionskassen rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Ausschluss der Steuerbefreiung in § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG für EU-ausländische Pensionsfonds stellt einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 i. V. m. Art. 55 und Art. 48 EG) und der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EG) dar, wenn der EU-ausländische Pensionsfonds mit einer Pensionskasse i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG vergleichbar ist. 1. Anwendung von europarechtlichen Normen Der Schutzbereich der Grundfreiheiten des EG-Rechts, insbesondere der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG, ist eröffnet für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, sofern es sich nicht um einen Sachverhalt mit reinem Inlandsbezug handelt7. Auch Gesellschaften und sonstige juristische Perso-
__________ 7
Bröhmer in Callies/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 43 EG Rz. 5.
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nen des öffentlichen und privaten Rechts fallen in den Schutzbereich dieser Grundfreiheiten, insbesondere der Niederlassungsfreiheit, sofern sie einen „Erwerbszweck“ verfolgen (Art. 48 Abs. 2 EG). Eine europarechtlich geschützte grenzüberschreitende Betätigung darf weder behindert noch wirtschaftlich weniger attraktiv gemacht werden8. Nach der Rechtsprechung des EuGH9 bestimmt sich die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zu einer Rechtsordnung eines Mitgliedstaats der EU nach ihrem jeweiligen Sitz. Bei einem Pensionsfonds oder einer Pensionskasse eines Trägerunternehmens in einem Mitgliedstaat handelt es sich in der Regel – entsprechend den aufsichtsrechtlichen Vorschriften – um eine rechtlich selbständige juristische Person. Der Pensionsfonds fällt damit grundsätzlich in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten gemäß Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG. Soweit der Pensionsfonds mit Sitz in einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat in Immobilien investiert, handelt es sich auch um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt und damit nicht um einen reinen Inlandsbezug. Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse auch im Bereich des Steuerrechts unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben und deshalb jede offensichtliche oder versteckte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit unterlassen, obwohl den Mitgliedstaaten im Bereich des Steuerrechts die Gesetzgebungskompetenz zusteht10. Eine Ungleichbehandlung aufgrund des steuerlichen Sitzes hat der EuGH als mittelbare Diskriminierung angesehen11. Die Grundfreiheiten sind daher auch im Bereich des Steuerrechts für die Mitgliedstaaten zu beachten. 2. Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG a) Eröffnung des Schutzbereichs Zu den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts gehört die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG. Das Niederlassungsrecht umfasst „die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten jeder Art, die Gründung und Leitung von Unternehmen und die Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats“12. Die Niederlassungsfreiheit gibt den Wirtschaftsteilnehmern das Recht, in dem Aufnahmemitgliedstaat eine dauernde selbständige Tätigkeit auszu-
__________ EuGH, Slg. 1999, I-7641; EuGH, DB 2001, 517. EuGH, Slg. 1986, 273. EuGH, Slg. 1995, I-225; EuGH, Slg. 1995, I-2493. EuGH, Slg. 1986, 273; EuGH, Slg. 1993, I-4017; EuGH, Slg. 1994, I-1137; EuGH, Slg. 1998, I-1897; EuGH, Slg. 1999, I-4809. 12 EuGH, EuZW 1998, 124. 8 9 10 11
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üben bzw. eine Niederlassung zu gründen unter den gleichen Bedingungen wie ein Inländer. Der ausländische Pensionsfonds ist mit der Vermietung des Grundbesitzes in Deutschland tätig und kann sich daher gegenüber dem Aufnahmestaat auf das Gemeinschaftsrecht berufen. Die Niederlassungsfreiheit verbietet grundsätzlich eine steuerliche Benachteiligung im Aufnahmestaat der Niederlassung. Der BFH kommt in seinem Vorlagebeschluss vom 14.7.200413 für eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz und Geschäftsleitung in Italien, die inländische Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielt, zu dem Schluss, dass der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet ist. Nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG gilt die Befreiung des § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG für beschränkt Steuerpflichtige, d.h. Pensionsfonds mit Sitz oder Geschäftsleitung im Ausland, nicht. In Deutschland ansässige betriebliche Pensionsfonds sind dagegen mit ihren Erträgen aus Vermietung und Verpachtung steuerfrei. Die Vorschrift des § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG diskriminiert beschränkt steuerpflichtige betriebliche Pensionseinrichtungen, die mit ihren im Inland erzielten Einkünften aus der Vermögensverwaltung nicht wie vergleichbare unbeschränkt steuerpflichtige Pensionskassen von der Körperschaftsteuer befreit sind. Diese Diskriminierung beeinträchtigt die Ausübung der Niederlassungsfreiheit. Es entspricht dem Zweck der Niederlassungsfreiheit, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die freie Standortwahl zu schaffen und die insoweit bestehenden Hindernisse zu beseitigen. b) Erfordernisse des „Erwerbszwecks“ Nach der „Erwerbszweck-Klausel“ gemäß Art. 48 Abs. 2 EG sind juristische Personen vom Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit (und der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 55 EG i. V. m. Art. 48 Abs. 2 EG) ausgeschlossen, wenn sie keinen Erwerbszweck verfolgen. Die Frage, ob vermögensverwaltende Aktivitäten – wie im vorliegenden Fall die Vermietung von Grundbesitz – Erwerbszwecken i. S. v. Art. 48 Abs. 2 EG dienen, wird in der Literatur nicht einheitlich beantwortet. Nach Auffassung des BFH in dem Vorlagebeschluss vom 14.7.2004 – I R 94/02 sind „Erwerbszwecke“ im Sinne der Art. 58 Abs. 2 EGV, Art. 48 Abs. 2 EG wohl keine rein ideellen oder altruistischen Ziele. Aber auch eine Gewinnmaximierung wird nicht verlangt14. Nach der ganz überwiegenden Meinung sind Gesellschaften mit einem Erwerbszweck15 solche, die als „rechtlich konfigurierte Marktakteure“ im Rechtsverkehr auftreten, „soweit sie keine Hoheitsrechte ausüben“ und die nicht ausschließlich kulturell und karitativ
__________ 13 BFH, IStR 2004, 752. 14 BFH, IStR 2004, 752; Scheuer in Lenz/Borchardt, EU und EG-Vertrag, 3. Aufl. 2003,
Art. 48 EG Rz. 1. 15 Müller-Graff in Streinz, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 48 EG Rz. 2.
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tätig sind16. Das Erfordernis des wirtschaftlichen Erwerbszwecks i. S. v. Art. 48 EG wird dabei gleichbedeutend mit der „Erwerbstätigkeit“ i. S. v. Art. 43 EG natürlicher Personen angesehen17. Der einschränkende Zusatz in Art. 48 Abs. 2 EG ist nach teilweise vertretener Auffassung18 so zu verstehen, dass es auf die „Binnenstruktur der Gesellschaft“ ankomme. Inhaltlich habe die Beschränkung die Funktion, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Der Begriff „Erwerbszweck“ wird unter Heranziehung des in Art. 2 EG gebrauchten Begriffs „Wirtschaftsleben“ ausgelegt19. Demzufolge sind alle Tätigkeiten, die dem Wirtschaftsleben zuzurechnen sind, auch von dem Schutzbereich des Art. 43 EG bzw. Art. 48 EG erfasst. Die herrschende Meinung geht dementsprechend davon aus, dass der Begriff des Erwerbszwecks weit zu verstehen sei20. Danach ist unter Erwerbstätigkeit jede Art von wirtschaftlichem Tätigwerden zu verstehen, die entgeltlich ausgeführt wird und in eigener Verantwortung und weisungsfrei erfolgt21. Auch der EuGH hat in seiner Rechtsprechung mehrmals angenommen, dass der Begriff Erwerbszweck weit zu verstehen sei22. Ohne zu dem Begriff des Erwerbzwecks ausdrücklich Stellung zu nehmen, hat der EuGH das Vorliegen eines Erwerbszwecks u. a. auch bei einem wirtschaftlichen Tätigwerden im kulturellen und sozialen Bereich und für den Bereich des Sports bejaht23. Gleichfalls einen Erwerbszweck angenommen hat der EuGH bei dem wirtschaftlichen Tätigwerden einer Religionsgemeinschaft24. Der BFH25 hat sich der herrschenden Meinung angeschlossen und geht von einem weiten Begriff des Erwerbszwecks aus. Gleichzeitig hat der BFH in seinem Beschluss einen funktionalen Ansatz für die Definition des Begriffs „Erwerbzweck“ zugrunde gelegt26. Maßgeblich ist nach Ansicht des BFH
__________ 16 Tiedje/Troberg in van der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 48 EG
17 18 19 20
21 22 23 24 25 26
Rz. 5; Müller-Graff in Streinz (Fn. 15), Art. 43 EG Rz. 12 m. w. N.; EuGH, Slg. 1997, I-3395. Scheuer in Lenz/Borchardt (Fn. 14), Art. 48 EG Rz. 1. Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt, Art. 48 EG Rz. 8. Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf (Fn. 18), Art. 43 EG Rz. 14. Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf (Fn. 18), Art. 43 EG Rz. 16; Müller-Graff in Streinz (Fn. 15), Art. 43 EG Rz. 12; Bröhmer in Callies/Ruffert (Fn. 7), Art. 43 EG Rz. 9; Tiedje/Troberg in van der Groeben/Schwarze (Fn. 16), Art. 43 EG S. 1496; Scheuer in Lenz/Borchardt (Fn. 14), Art. 48 EG Rz. 1. Tiedje/Troberg in van der Groeben/Schwarze (Fn. 16), Art. 43 EG S. 1497. EuGH, Slg. 1985, 1819; EuGH, Slg. 1985, 593; EuGH, Slg. 1997, I-3395; EuGH, Slg. 1974, 1405; Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf (Fn. 18), Art. 43 EG Rz. 15. Vgl. Fn. 22. EuGH, NVwZ 1990, 53. BFH, IStR 2004, 752. BFH, IStR 2004, 752.
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allein das entgeltliche Tätigwerden, ohne dass es darauf ankommt, ob der jeweilige Akteur als solcher gemeinnützig ist. Entgegen der teilweise in der Literatur vertretenen Auffassung27 geht der BFH davon aus, dass ein Erwerbszweck auch verfolgt werden kann, wenn keine Konkurrenz zu kommerziellen Unternehmen besteht28. Dies entspricht der überwiegenden Meinung, die eine vermögensverwaltende Tätigkeit, wie die Vermietung von Grundbesitz, als Erwerbszwecken dienend ansieht29. Die gegenteilige Auffassung wird damit begründet, dass es bei gemeinnützigen Aktivitäten überhaupt an einem Erwerbszweck fehle30 und es sich deshalb bei diesen Einrichtungen nicht um Gesellschaften i. S. v. Art. 48 EG31 handele. Betriebliche Pensionsfonds verfolgen im Rahmen ihrer Vermögensverwaltung ausschließlich die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder. Es handelt sich bei den betrieblichen Pensionsfonds und Pensionskassen um soziale Einrichtungen, deren satzungsmäßiger Zweck es in der Regel ist, ihren Mitgliedern zusätzlich zu der gesetzlichen Rente eine betriebliche Altersversorgung zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der Anlagebestimmungen wird eine Vermögensanlage angestrebt, die die künftigen Altersversorgungsleistungen sicherstellen soll. Insoweit unterscheidet sich ein betrieblicher Pensionsfonds wesentlich von einer gemeinnützigen Stiftung, die nach den Gemeinnützigkeitserfordernissen (§ 55 AO) verpflichtet ist, selbstlos zu handeln. Nach der Rechtsprechung des BFH verfolgt eine Körperschaft in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke, wenn sie vorrangig eigene wirtschaftliche Interessen oder die ihrer Mitglieder verfolgt32. In diesem Sinne ist ein betrieblicher Pensionsfonds im Rahmen seiner Vermögensverwaltung eigenwirtschaftlich tätig. Die Erzielung der Mieterträge durch den Pensionsfonds dient demzufolge einem Erwerbszweck i. S. v. Art. 48 EG. Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sind deshalb von dem Schutzbereich des Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG umfasst. 3. Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 i. V. m. Art. 55 und Art. 48 EG Zu den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts gehört auch die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 i. V. m. Art. 55 und Art. 48 EG. Die Dienstleistungsfreiheit gilt gegenüber der Niederlassungsfreiheit nur subsidiär.
__________
27 Benicke in Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 2000, S. 937. 28 BFH, IStR 2004, 752. 29 Vgl. Thömmes, JbFStR, 1999/2000, 123; Helios, BB 2002, 1893; Helios/Müller, BB
2004, 2332; Schäfers, IStR 2004, 755; Eicker, IWB, Gruppe 11, S. 365. 30 Isensee, DStJG 26 (2003), 93. 31 Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf (Fn. 18), Art. 48 EG Rz. 35; dem folgend
Heger in Gosch, KStG, 2005, § 5 Rz. 362; so im Ergebnis auch Ipsen, Soziale Dienstleistungen und EG-Recht, 1997, S. 55. 32 BFH, BStBl. II 1979 S. 782; BFH, BStBl. II 1992 S. 62.
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Die Tätigkeit betrieblicher Versorgungseinrichtungen in Form von Pensionsfonds und Pensionskassen unterfallen auch dem Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 i. V. m. Art. 55 und Art. 48 EG. Der EuGH hat unter Bezugnahme auf Artikel 50 EG festgestellt, dass Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, als Dienstleistungen gelten33. Wesensmerkmal des Entgelts i. S. v. Art. 50 EG ist nach Auffassung des EuGH, dass es die wirtschaftliche Gegenleistung für die betreffende Leistung darstellt34. Ebenso wie die Niederlassungsfreiheit erfordert die Dienstleistungsfreiheit das Vorliegen eines Erwerbszwecks35. Insoweit kann auf die Ausführungen zur Niederlassungsfreiheit verwiesen werden. Ob die Tätigkeit als moralisch oder sozial eingestuft wird, ist irrelevant, solange ein Erwerbszweck verfolgt wird36. Von der Rechtsprechung als Dienstleistung qualifiziert werden u. a. auch Immobiliengeschäfte37. Die Vermietung erfolgt entgeltlich und ist daher als Dienstleistung anzusehen. Die zu zahlende Miete stellt auch die Gegenleistung für die Überlassung des Gewerberaums dar. Die Vermietungstätigkeit des Pensionsfonds ist damit auch vom Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit erfasst. 4. Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 56 EG Zu den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts gehört auch die Freiheit des Kapitalverkehrs (Art. 56 EG). Unter Kapitalverkehr wird eine einseitige Werteübertragung in Form von Sach- oder Geldkapital, die zu Forderungen und Verpflichtungen führt, verstanden38. Dabei umfasst der Kapitalverkehr alle finanziellen Transaktionen, die nicht direkt durch den Waren- oder Dienstleistungsverkehr bedingt sind39. Von der Kapitalverkehrsfreiheit werden nach überwiegender Auffassung auch Immobilieninvestitionen erfasst40. Dafür spricht auch, dass die Kapitalverkehrsrichtlinie 88/361, die eine nicht abschließende Nomenklatur von Kapitalverkehrsgeschäften mit 13 Unterpositionen enthält, auch ausdrücklich Immobilieninvestitionen behandelt. Auch nach Fortfall der frühe-
__________ 33 EuGH, HFR 2003, 1011. 34 EuGH, Slg. 1988, 5365. 35 Hakenberg in Lenz/Borchardt (Fn. 14), Art. 49 EG Rz. 9; Helios/Müller, BB 2004,
2332. 36 Hakenberg in Lenz/Borchardt (Fn. 14), Art. 49 EG Rz. 9. 37 EuGH, Slg. 1992, I-4097. 38 Kiemel in van der Groeben/Schwarze (Fn. 16), Art. 56 EG Rz. 1; Weber in Lenz/
Borchardt (Fn. 14), Art. 56 EG Rz. 5. 39 Kiemel in van der Groeben/Schwarze (Fn. 16), Art. 56 EG Rz. 1. 40 Weber in Lenz/Borchardt (Fn. 14), Art. 56 EG Rz. 5.
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ren Rechtsgrundlage (Art. 69 und 70 EWG-Vertrag) gilt aufgrund von Art. 3 EU-Vertrag die Kapitalverkehrsrichtlinie 88/361 weiter fort41. Von dem Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit werden alle Beschränkungen einschließlich der indirekten Beschränkungen erfasst42. Etwaige Beschränkungen können nur durch zwingende Gründe oder das Allgemeininteresse gerechtfertigt werden43. Dementsprechend hat der EuGH auch Genehmigungspflichten bei einem Grundstückserwerb als unzulässige Beeinträchtigung der Kapitalverkehrsfreiheit angesehen44. Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit ist nach teilweise vertretener Auffassung auch neben der Kapitalverkehrsfreiheit möglich45. Im Übrigen ist im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit Art. 48 Abs. 2 EG nicht anwendbar46, d.h., die Verfolgung eines „Erwerbszwecks“ ist nicht erforderlich. Die Kapitalverkehrsfreiheit ist objektbezogen ausgestaltet47. Der EuGH hat jüngst die Auffassung vertreten, dass der Erwerb von Immobilien von Todes wegen Kapitalverkehr sei48. Die Grundfreiheit des Kapitalverkehrs gemäß Art. 56 EG ist im Fall der Vermögensanlagen im Inland durch ausländische Pensionsfonds wegen § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG verletzt. Direkte Immobilieninvestitionen ausländischer Pensionsfonds werden durch die Steuerpflicht der Vermietungseinkünfte mittelbar diskriminiert. 5. Vergleichbarkeit von Pensionsfonds und Pensionskassen Der EuGH hat eine Diskriminierung in den Fällen festgestellt, in denen unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewendet werden oder in denen dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewendet wird, sofern kein objektiver Unterschied zwischen beiden Gruppen von Steuerpflichtigen besteht, der eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen würde49. Demzufolge liegt eine Diskriminierung vor, sofern ein binnengrenzüberschreitender Sachverhalt gegenüber einem vergleichbaren inländischen Sachverhalt schlechter behandelt wird50.
__________ 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50
Kiemel in van der Groeben/Schwarze (Fn. 16), Art. 56 EG Rz. 3. EuGH, Slg 1995, I-3955; EuGH, Slg. 1998, I-7875; EuGH, Slg. 1999, I-1661. EuGH, Slg. 1993, I-487. EuGH, Slg. 2002, I-4731. Kiemel in van der Groeben/Schwarze (Fn. 16), Art. 56 EG Rz. 22. Schäfers, IStR 2004, 755. Schäfers, IStR 2004, 755. EuGH, RIW 2004, 462. EuGH, Slg. 1995, I-225. Müller-Graff in Streinz (Fn. 15), Art. 43 EG Rz. 42.
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a) Grundsätzliche Vergleichbarkeit von Pensionsfonds und Pensionskasse Nach dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG sind nur rechtsfähige Pensionskassen unter gewissen weiteren Voraussetzungen von der Körperschaftsteuer befreit. Pensionsfonds fallen dem Wortlaut nach nicht unter die Befreiung des § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG. Allerdings ist anerkannt, dass juristische Personen eines Mitgliedstaates nicht deswegen diskriminiert werden dürfen, weil ihre Rechtsform in der Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates nicht vorgesehen ist. Daher verstoßen steuerrechtliche Bestimmungen, die ohne rechtfertigenden Grund eine EU-Gesellschaft ungünstiger behandeln als eine inländische Gesellschaft, gegen die Niederlassungsfreiheit51. Da es in Deutschland bislang Pensionsfonds nicht gab, sie dementsprechend auch nicht von der Körperschaftsteuer befreit sein konnten, ist als Vergleichsobjekt die Pensionskasse zu wählen. Maßgebliches Prüfungskriterium ist somit, ob nach ihrem Wesen und ihrer Ausrichtung vergleichbare Rechtsgebilde vorliegen. Hinsichtlich einer Vergleichbarkeit von Pensionskasse und Pensionsfonds lässt sich feststellen, dass es sich bei einem Pensionsfonds um einen Durchführungsweg zur betrieblichen Altersversorgung handelt, der, anders als die Pensionskasse, aus historischen Gründen in Deutschland bisher nicht vorgesehen war. Wesen und Zielrichtung von Pensionsfonds und Pensionskassen sind aber vergleichbar. Die grundsätzliche Vergleichbarkeit und Gleichwertigkeit ist durch den Gesetzgeber nunmehr in § 1 b Abs. 3 Satz 1 BetrAVG klargestellt worden, der im Zuge der Rentenreform Pensionsfonds eingeführt hat. § 1 b Abs. 3 Satz 1 BetrAVG lautet wörtlich: „Wird die betriebliche Altersversorgung von einer rechtsfähigen Versorgungseinrichtung durchgeführt, die dem Arbeitnehmer oder seinen Hinterbliebenen auf ihre Leistungen einen Rechtsanspruch gewährt (Pensionskasse oder Pensionsfonds), …“.
Daraus folgt, dass Pensionskasse und Pensionsfonds gleichgestellt sind. Das Steuerrecht enthält in § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG keine eigene Definition der „Pensionskasse“, sondern übernimmt die früher in § 1 Abs. 3 BetrAVG a. F. enthaltene Begriffsbestimmung, wonach unter einer Pensionskasse eine rechtsfähige Versorgungseinrichtung zu verstehen ist, die dem Arbeitnehmer oder seinen Hinterbliebenen auf ihre Leistungen einen Rechtsanspruch gewährt52. Mit der Richtlinie über die Tätigkeit und Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung vom 3.6.200353 wurde ein Rechtsrahmen
__________ 51 EuGH, Slg. 1999, I-6161. 52 Herrmann/Heuer/Raupach, Kommentar zum EStG/KStG, Loseblatt, § 5 KStG
Rz. 73. 53 Vgl. Fn. 1.
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für die Tätigkeit von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung festgelegt, der zu einer weitgehenden Vergleichbarkeit dieser Einrichtungen europaweit führt. b) Die besonderen Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG Der EU-ausländische Pensionsfonds müsste die weiteren Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG erfüllen: –
Rechtsfähigkeit § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG setzt die Rechtsfähigkeit der Kasse voraus54. Bei einem Pensionsfonds handelt es sich in der Regel um eine rechtsfähige Versorgungseinrichtung, die dem jeweiligen Recht des Mitgliedstaates unterliegt.
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Beschränkung auf einen bestimmten Personenkreis Die Steuerfreiheit wird gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 lit. a KStG u. a. solchen Kassen gewährt, die sich mit ihrer Tätigkeit beschränken auf Zugehörige oder frühere Zugehörige einzelner oder mehrerer wirtschaftlicher Geschäftsbetriebe. Zu den Zugehörigen oder Arbeitnehmern zählen jeweils auch deren Angehörige im Sinne des § 15 AO55. Diese Voraussetzung wird in der Regel von betrieblichen Pensionsfonds erfüllt.
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Sicherstellung als soziale Einrichtung Die Kasse muss nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 lit. b KStG nach dem Geschäftsplan und nach Art und Höhe der Leistungen eine soziale Einrichtung darstellen. Diese Voraussetzung dürfte in aller Regel von den EU-ausländischen Pensionsfonds erfüllt sein. Denn der Pensionsfonds erbringt in der Regel seine Leistungen ausschließlich für die Arbeitnehmer des Trägerunternehmens.
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Sicherung des Kassenvermögens § 5 Abs. 1 Nr. 3 lit. c KStG fordert die ausschließliche und unmittelbare Verwendung des Vermögens und der Einkünfte des Pensionsfonds nach der Satzung und der tatsächlichen Geschäftsführung für die Zwecke des Pensionsfonds. Auch bezüglich dieser Vorschrift dürfte es bei den typischen EU-ausländischen Pensionsfonds keine Abweichung geben.
–
Höhe des Vermögens – keine Überdotierung Ob eine Überdotierung i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 3 lit. d KStG vorliegt, dürfte bei EU-ausländischen Pensionsfonds nicht immer klar zu beantworten sein, da insoweit die aufsichtsrechtlichen Bestimmungen hinsichtlich der gesetzlich zulässigen Formen der Anlagen unterschiedlich sind.
__________
54 von Twickel in Blümich, KStG, § 5 Rz. 30. 55 Schwarz in Mössner/Seeger, Kommentar zum KStG, Loseblatt, § 5 KStG Rz. 20;
Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 5 KStG, Rz. 78.
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Bei den EU-ausländischen Pensionsfonds im Rahmen betrieblicher Versorgungseinrichtungen handelt es sich in der Regel um soziale Einrichtungen, deren satzungsmäßiger Zweck es ist, den Mitgliedern zusätzlich zu der gesetzlichen Rente eine betriebliche Altersversorgung zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne sind die in Rede stehenden Pensionsfonds mit Pensionskassen i. S. d. § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG vergleichbar. Es sind keine Gründe ersichtlich, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen würden. 6. Keine Rechtfertigung der Diskriminierung Eine europarechtliche Diskriminierung kann infolge des Kohärenzgrundsatzes gerechtfertigt sein. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ist eine Diskriminierung unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz gerechtfertigt, wenn ein in der Gegenwart gewährter Vorteil in unauflösbarem Zusammenhang damit steht, dass dasselbe Steuersubjekt die vorläufig aufgeschobene Steuer zu einem späteren Zeitpunkt an denselben Steuergläubiger zahlt56. Die Kohärenz als Rechtfertigungsgrund ist danach nur dann gegeben, wenn bei dem betroffenen Steuerpflichtigen ein „unmittelbarer Zusammenhang“ bzw. eine strenge Wechselbeziehung zwischen dem steuerlichen Nachteil und einer diesen kompensierenden steuerlichen Begünstigung besteht57. Der erforderliche Zusammenhang liegt dementsprechend dann nicht vor, wenn die auszugleichenden Begünstigungen und Benachteiligungen jeweils unterschiedliche Steuersubjekte betreffen58. Die in der Literatur teilweise vertretene Auffassung, dass der Begriff der Kohärenz im Rahmen der Gemeinnützigkeit erweitert auszulegen ist59, hat der BFH in seinem Beschluss vom 14.7.200460 mit der Begründung abgelehnt, dass nach den Besonderheiten des deutschen Gemeinnützigkeitsrechts (§ 52 Abs. 1 AO 1977) die Korrespondenz zwischen innerstaatlicher Vorteilserlangung und innerstaatlicher Steuerbefreiung nicht an die Zielsetzung der gemeinnützigen Stiftungszwecke anknüpft, sondern an den Umstand der unbeschränkten oder beschränkten Steuerpflicht. Eine solche Unterscheidung ist nach Auffassung des BFH in dem Beschluss vom 14.7.200461 nicht mehr kohärent. Der EuGH hält in der Manninen-Entscheidung für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung durch Kohärenz am Erfordernis eines zwingenden unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Steuervorteil einerseits und Besteue-
__________ 56 EuGH, RIW 2000, 804; so auch Rädler/Lausterer in FS W. Müller, 2001, S. 360 57 58 59 60 61
m. w. N. Helios, BB 2004, 2332; Schäfers, IStR 2004, 755. EuGH, Slg. 2000, I-4071. Isensee, DStJG 26 (2003), 93; Jachmann, BB 2003, 990. BFH, IStR 2004, 752. BFH, IStR 2004, 752.
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Grenzüberschreitende Tätigkeit von betrieblichen Pensionsfonds und Pensionskassen
rung andererseits bei demselben Steuerpflichtigen hinsichtlich derselben Steuer nicht mehr fest62. Nach dem neueren Kohärenzbegriff, der auf die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott63 in dem Manninen-Verfahren zurückgeht, soll eine Regelung ausnahmsweise auch dann kohärent sein, wenn eine Belastung bei einem Steuerpflichtigen durch eine Entlastung bei einem anderen Steuerpflichtigen ausgeglichen wird, sofern sich die Besteuerung auf dieselben Einnahmen oder denselben wirtschaftlichen Vorgang bezieht und durch die rechtliche Ausgestaltung des Systems gewährleistet ist, dass der Vorteil nur dann gewährt wird, wenn der Nachteil bei dem anderen Steuerpflichtigen tatsächlich in demselben Umfang eintritt. Der EuGH hat sich dieser Betrachtungsweise in seinem Urteil vom 7.9.200464 angenähert und festgestellt, dass der Ausgleich eines Nachteils bei unterschiedlichen Steuerpflichtigen kohärent sein kann65. Ein derartiger Zusammenhang besteht jedoch zwischen der Gewährung einer Steuerbefreiung für Pensionsfonds, die ihren Sitz in Deutschland haben, und der Besteuerung von Pensionsfonds, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, nicht. Es handelt sich um zwei getrennte Besteuerungen von zwei verschiedenen Steuerpflichtigen, die nicht in demselben wirtschaftlichen Zusammenhang stehen. Sowohl unter Berücksichtigung der bisherigen als auch der neueren Sicht der steuerlichen Kohärenz greift im Hinblick auf die Steuerpflicht von beschränkt steuerpflichtigen Pensionskassen und Pensionsfonds das Argument der Kohärenz nicht ein. Eine Verletzung der Grundfreiheiten unter Berufung auf den Gesichtspunkt der Kohärenz lässt sich vorliegend auch nicht dadurch rechtfertigen, dass der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG für inländische Pensionsfonds eine Entlastungsfunktion im Sinne einer Übernahme von staatlichen Aufgaben der Altersversorgung gegenübersteht. Aus den gleichen Erwägungen kann es auch nicht darauf ankommen, dass durch den ausländischen Pensionsfonds die Altersversorgung der ausländischen Arbeitnehmer in dem EU-Sitzstaat des Pensionsfonds sichergestellt wird und nicht die der inländischen Arbeitnehmer. Für eine Ungleichbehandlung inländischer und EUausländischer Pensionsfonds gibt es keine Gründe. Die in § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG angeordnete Ungleichbehandlung lässt sich nicht mit dem vom EuGH aufgestellten strengen Begriff der Kohärenz in Einklang bringen66. Die Benachteiligung beschränkt Steuerpflichtiger gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG wird nämlich nicht durch eine korrespondierende Vorzugsbehandlung wieder ausgeglichen67.
__________ 62 63 64 65 66 67
EuGH, ZIP 2004, 1452; EuGH, IStR 2004, 680. IStR 2004, 313. IStR 2004, 680. Englisch, IStR 2004, 685. Vgl. Schäfers, IStR 2004, 755. Schäfers, IStR 2004, 755; Helios/Müller, BB 2004, 2332.
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Auch aus Gründen der wirksamen steuerlichen Kontrolle und der sachgerechten Anwendung des deutschen Rechts dürfte sich eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten vorliegend nicht rechtfertigen lassen. Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist nach diesem Grundsatz eine Beeinträchtigung nur dann zulässig, wenn der generelle Ausschluss aller beschränkt steuerpflichtigen Pensionsfonds von der Steuerbefreiung des § 5 Abs. 1 Nr. 3 KStG zwingend erforderlich wäre68. Eine solch zwingende Notwendigkeit liegt nicht vor, vor allem vor dem Hintergrund der Richtlinie vom 3.6.2003 über die Tätigkeit und Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung69. Weder der Gesichtspunkt der Kohärenz noch der Gesichtspunkt der steuerlichen Kontrolle rechtfertigen die vorliegende Ungleichbehandlung des EUausländischen Pensionsfonds und einer inländischen Pensionskasse. Es fehlt an dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem steuerlichen Nachteil und einer diesen kompensierenden steuerlichen Begünstigung.
V. Ergebnis Der vorliegende Sachverhalt fällt in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Der Ausschluss der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG führt dazu, dass beschränkt steuerpflichtige Pensionsfonds bzw. Pensionskassen mit Sitz in einem anderen Mitgliedsland für ihre Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung im Inland steuerpflichtig sind, während vergleichbare inländische Pensionsfonds diese Erträge aus Vermögensanlagen steuerfrei vereinnahmen können. Diese Ungleichbehandlung aufgrund des Sitzes verletzt die im EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 43 i. V. m. Art. 48 EG, Art. 49 EG und Art. 56 EG) und ist daher europarechtswidrig. Die Erwerbszweck-Klausel des Art. 48 Abs. 2 EG steht der Berufung auf den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit nicht entgegen. Die Verletzung der Grundfreiheiten kann auch nicht mit dem Grundsatz der Kohärenz gerechtfertigt werden, weil es an einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem steuerlichen Nachteil und einer diesen kompensierenden steuerlichen Begünstigung bei demselben Steuerpflichtigen fehlt. Auch der Gesichtspunkt der steuerlichen Kontrolle greift als Rechtfertigungsgrund nicht durch, weil es an einer zwingenden Notwendigkeit für eine solche Kontrolle fehlt.
__________ 68 EuGH, Slg. 1979, 649; hierzu Schäfers, IStR 2004, 757. 69 Vgl. Fn. 1.
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Vertrautes und Neues zu § 15a EStG Inhaltsübersicht I. Die Typisierungen des § 15a EStG 1. Negatives Kapitalkonto und Handelsrecht 2. Negatives Kapitalkonto und Steuerrecht 3. Die Regelungen des § 15a EStG (Überblick) II. Aus der jüngeren Rechtsprechung des BFH
1. Statuswechsel a) Vom Komplementär zum Kommanditisten b) Vom Kommanditisten zum Komplementär 2. Vorgezogene Einlagen 3. Verlustdeckungszusage III. Schluss
I. Die Typisierungen des § 15a EStG Bekanntlich hat der Große Senat des BFH mit Beschluss v. 10.11.19801 – also vor 25 Jahren – nicht nur die bisherige Rechtsprechung zur steuerrechtlichen Berücksichtigung des negativen Kapitalkontos eines Kommanditisten im Grundsatz bestätigt. Er hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass diese Beurteilung auch dem unmittelbar vor Ergehen seiner Entscheidung2 in das Einkommensteuergesetz eingefügten § 15a zugrunde liege. Auch diese Vorschrift erkenne das negative Kommanditistenkapital an, verleihe ihm aber nur die Wirkung eines Verlustvortrags. Der Gesetzgeber habe damit – so lesen wir weiter – einen Weg beschritten, der durch das „Handelsrecht vorgezeichnet“ sei. Angesichts dieses Hinweises, der offenkundig auch darauf zielte, § 15a EStG an der Dignität des Handelsrechts teilhaben zu lassen, muss die harsche und nicht selten überzogene Kritik, die die Vorschrift bis heute erfährt, überraschen. Sie hat auch vor den jüngsten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, deren Inhalt und Bewertung vor allem Gegenstand dieses Beitrags sein sollen, nicht Halt gemacht. Nicht überraschen wird den Leser und, so hoffe ich, vor allem den Jubilar, dass gerade das Zusammenspiel von Handels- und Steuerrecht in den Reigen der Festgaben eingestellt werden soll. 1. Negatives Kapitalkonto und Handelsrecht Nach dem gesetzlichen Grundmodell des HGB ist die haftungsrechtliche Stellung des Kommanditisten dadurch gekennzeichnet, dass er einerseits im
__________ 1 2
GrS 1/79, BStBl. II 1981 S. 164. Änderungsgesetz v. 20.8.1980, BGBl. I 1980 S. 1545 = BStBl. I 1980 S. 589.
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Innenverhältnis der Verpflichtung unterliegt, seine bedungene Einlage (sog. Pflichteinlage) durch Geld- oder Sachleistungen zu erbringen, und hiervon andererseits die die Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern bestimmende, in das Handelsregister einzutragende und mit der bedungenen Einlage nicht notwendigerweise identische Haftsumme zu unterscheiden ist (§§ 171 Abs. 1, 1. Halbs. und 172 Abs. 1 HGB). Die Einstandspflicht des Kommanditisten im Außenverhältnis ist aber nicht nur nach Maßgabe der Haftsumme begrenzt, sie entfällt zudem, wenn und soweit er Einlagen geleistet und diese nicht wieder zurückerhalten hat (§§ 171 Abs. 1, 2. Halbs., 172 Abs. 4 HGB)3. Gleichwohl erkennt das Handelsrecht auch nach Verbrauch der haftungsbefreienden Einlage an, dass dem Kommanditisten (weitere) Verluste zugerechnet werden und hierdurch ein negatives Kapitalkonto entsteht oder ein solches durch die Verlustzuweisungen vertieft wird. § 167 Abs. 3 HGB, nach dem der Kommanditist am Verlust der KG nur bis zum Betrag seines Kapitalanteils und seiner noch rückständigen Einlage teilnimmt, steht dem – vorbehaltlich einer abweichenden Vereinbarung der Gesellschafter – nicht entgegen. Die Vorschrift verbietet den Ausweis eines negativen Kapitalanteils nur in der Auseinandersetzungs- oder Liquidationsschlussbilanz; sie besagt darüber hinaus nach ganz h. M. lediglich, dass der Kommanditist keine Nachschüsse leisten muss und deshalb nur dazu verpflichtet ist, den Negativsaldo durch spätere Gewinnanteile zu neutralisieren (Verlustausgleichspflicht; vgl. § 169 Abs. 1 Satz 2 HGB)4. 2. Negatives Kapitalkonto und Steuerrecht Wie eingangs erwähnt, folgt das Steuerrecht grundsätzlich dieser Betrachtung. Da das Ertragsteuerrecht allerdings nicht an äußere rechtliche Erscheinungsformen gebunden ist, sondern an den wirtschaftlichen Gehalt des in Frage stehenden Sachverhalts anknüpft, steht die steuerrechtliche Anerkennung des negativen Kapitalkontos unter dem Vorbehalt, dass – so der Große Senat des BFH5 – der Ausgleich des negativen Kapitalkontos mit zukünftigen Gewinnanteilen (einschl. der stillen Reserven des Gesellschaftsvermögens) nicht nur das Papier ziere, sondern erwartet werden könne. Stehe demgemäß bereits vor Aufgabe des Gewerbebetriebs (Liquidation der Gesellschaft) fest, dass ein solcher Ausgleich nicht mehr in Betracht komme, falle das negative Kommanditistenkapital – zu Lasten der anderen Gesellschafter (Komplementäre, Kommanditisten mit positivem Kapitalkonto) – bereits zu diesem Zeitpunkt weg und ergebe sich in dieser Höhe – als zwin-
__________ Zu allem Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 54, S. 1558 ff.; ders. in MünchKomm.HGB, 2002, §§ 171, 172 (passim). 4 Weipert in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 2001, § 167 Rz. 11 ff.; zu abweichenden Abreden s. von Gerkan in Röhricht/Graf von Westphalen, HGB, 2001, § 167 Rz. 16. 5 GrS 1/79, BStBl. II 1981 S. 164. 3
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gende Folge der früheren Verlustzurechnung – ein steuerbarer laufender Gewinn (sog. Nachversteuerung)6. Wie gleichfalls bereits angedeutet, liegt diese Sicht erkennbar auch § 15a EStG zugrunde. Das mit dieser Vorschrift verfügte Ausgleichs- und Abzugsverbot (Abs. 1 Satz 1) – d. h. das Verbot, die von den Tatbeständen des § 15a EStG erfassten Verluste mit in der nämlichen Besteuerungsperiode aus anderen Einkunftsquellen erzielten positiven Einkünften des Kommanditisten auszugleichen oder (interperiodisch) von solchen Einkünften abzuziehen (§ 10d EStG; Verlustrück- oder -vortrag) –, ginge ins Leere, wenn Verlustanteile unter Anfall eines negativen Kapitalkontos einem beschränkt haftenden Gesellschafter (Prototyp: Kommanditist) mit steuerrechtlicher Wirkung nicht zugerechnet werden könnten. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Gesetzgeber mit dieser Verwertungsbeschränkung auch die bunten Spielwiesen der Verlustzuweisungsgesellschaften ausdünnen wollte; auch mag man darüber räsonieren, ob dieser Zielsetzung heute noch die nämliche Aktualität zufällt. Kein Zweifel kann aber darüber bestehen, dass die Vorschrift ihre systematische Verankerung im Handelsrecht findet, da das negative Kapitalkonto auch zivilrechtlich keine aktuelle Leistungsverpflichtung des Kommanditisten, sondern lediglich die Höhe seines „Verlustvortrags“7 und damit seine – zudem auflösend bedingte8 – Verpflichtung abbildet, zukünftige Gewinnanteile zur Neutralisierung des Kapitalkontos zu verwenden. So gesehen ist der Weg, den § 15a EStG einschlägt – Zuweisung lediglich verrechenbarer Verluste und deren Saldierung mit späteren Gewinnen (§ 15a Abs. 2 EStG) –, nicht nur im Sinne der zitierten Formulierung des Großen Senats9 „durch das Handelsrecht vorgezeichnet“, er ist vielmehr dessen „Spiegelbild“10. 3. Die Regelungen des § 15a EStG (Überblick) Indes ist auch diese Beschreibung der Grundkonzeption des § 15a EStG unvollständig und bedarf deshalb der Präzisierung. Sie lässt außer Acht, dass entsprechend dem ausdrücklichen und – wie der BFH in ständiger Rechtsprechung11 erkannt hat – verfassungsrechtlich unbedenklichen Willen des Gesetzgebers12 die Regelungen des § 15a EStG sowohl zur Vermeidung von Missbräuchen als auch im Interesse einer möglichst praktikablen Hand-
__________
6 Vgl. Schmidt/Wacker, EStG, 23. Aufl. 2004, § 15a Rz. 13 ff. m. w. N. 7 Vgl. Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personenge-
sellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 283. Weipert in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 167 Rz. 11 f. Beschl. v. 10.10.1980 – GrS 1/79, BStBl. II 1981 S. 164 (169). BFH v. 19.5.1987 – VIII B 104/85, BStBl. II 1988 S. 5 (9). Z. B. BFH v. 14.12.1999 – IX R 7/95, BStBl. II 2000 S. 265; Verfassungsbeschwerde 2 BvR 375/00; a. A. Lüdemann in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Loseblatt, § 15a EStG Rz. 31 m. w. N. 12 Vgl. insbesondere BT-Drucks. 8/3684, S. 16 f. und 8/4157, S. 2 f. 8 9 10 11
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habung durch Typisierungen gekennzeichnet ist, die sich insbesondere im Rahmen eines Überblicks über den Norminhalt erschließen: (1) Nach der Grundregel des § 15a Abs. 1 Satz 1 sind Verlustanteile des Kommanditisten nicht ausgleichsfähig, sondern lediglich verrechenbar, soweit durch die Verlustzurechnung ein negatives Kapitalkonto entsteht oder sich erhöht. Zwar sind hierbei – im Einklang mit dem Handelsrecht – die Aktiva und Passiva des Sonderbetriebsvermögens des Kommanditisten (z. B. an die KG vermietete Grundstücke einschl. hierfür oder zur Einlagenfinanzierung aufgenommener Darlehen) ebenso auszuscheiden wie Sonderbetriebseinnahmen oder -ausgaben. Das Kapitalkonto i. S. v. § 15a EStG ist jedoch – angesichts des Normziels, die Verwertung steuerlicher Verluste zu begrenzen – nicht nach Handelsbilanzrecht, sondern unter Einschluss einer etwaigen Ergänzungsbilanz des Gesellschafters nach den Regeln des Steuerbilanzrechts zu ermitteln13. Es wird demgemäß durch (steuerrechtliche) Verluste gemindert und durch Gewinngutschriften sowie Einlagen erhöht; Letzteres allerdings nicht nach Maßgabe des der Parteidisposition unterworfenen Innenverhältnisses14, sondern nur in Höhe des Betrags der tatsächlich geleisteten Einlage i. S. v. § 171 Abs. 1 HGB (s. dazu Abschn. II 3). Zudem bedarf es mit Rücksicht auf die Frage, ob durch die (steuerrechtliche) Verlustzuweisung ein – nach den beschriebenen Regularien des Steuerrechts zu bestimmendes – negatives Kapitalkonto „entsteht oder sich erhöht“ des Vergleichs zwischen dem Kapitalkonto zum Ende des Verlustjahres mit demjenigen zum Ende der Vorperiode (sog. stichtagsbezogener Kapitalkontenvergleich). Demgemäß sind Einlagen, die erst nach dem Bilanzstichtag erbracht werden, grundsätzlich nicht geeignet, die Qualifikation der bis dahin angefallenen Verluste zu beeinflussen15. Entsprechendes gilt für nachträgliche Haftsummenerhöhungen (s. nachfolgend zu (2)). (2) Trotz Anfall eines negativen (steuerrechtlichen) Kapitalkontos sind die zugerechneten Verluste dann, aber auch nur dann ausgleichfähig, wenn die am Bilanzstichtag in das Handelsregister eingetragene Haftsumme (§ 171 Abs. 1 HGB) den Betrag der bis zum Bilanzstichtag geleisteten Einlagen überschreitet (§ 15a Abs. 1 Satz 2 EStG). Dieser Ausnahmetatbestand der sog. überschießenden Außenhaftung ist damit nicht nur inhaltlich dichotomer Natur – negatives Kapitalkonto nach Steuerrecht; Außenhaftung entsprechend Haftsummenvermerk nach Handels- und Handelsbilanzrecht16 –, er schließt es vielmehr auch aus, dass andere – d. h. nicht durch die Haftsum-
__________ 13 BFH v. 14.5.1991 – VIII R 31/88, BStBl. II 1992 S. 167; v. 30.3.1993 – VIII R 63/91,
BStBl. II 1993 S. 706. 14 Dazu Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, §§ 171, 172 Rz. 11. 15 Zu Ausnahmen bei Aufgabe/Veräußerung des Betriebs oder Mitunternehmeranteils
vgl. Schmidt/Wacker, EStG, § 15a Rz. 181, 224, 236. 16 H. M.; vgl. Lüdemann in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 15a EStG Rz. 105;
Ruban in FS Klein, 1994, S. 781 (792 ff.).
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meneintragung unterlegte – Haftungsrisiken, insbesondere also diejenigen aus der Inanspruchnahme von Bürgschaften für Schulden der KG, Schuldbeitritten oder internen Freistellungs- oder Nachschusspflichten bereits vor ihrer Erfüllung17, d. h. vor dem Zeitpunkt der tatsächlichen Einlageleistung (s. o. zu (1)) das Verlustausgleichsvolumen des Kommanditisten erhöhen18. (3) Nach den vorstehenden Grundsätzen lediglich verrechenbare Verluste sind gesondert festzustellen (§ 15a Abs. 4 EStG). Sie mindern aber die Gewinnanteile des Kommanditisten, die ihm aus seiner Beteiligung (einzelne Einkunftsquelle) für spätere Wj zugerechnet werden (§ 15a Abs. 2 EStG). Durch die Nichtbesteuerung dieser Gewinnanteile wird der verrechenbare Verlust – gleich der handelsrechtlichen Vorstellung eines Verlustvortrags (s. o. zu I. 1) – aktiviert und damit im Ergebnis (d. h. zeitversetzt) in einen ausgleichsfähigen Verlust überführt. (4) Abweichend von der Behandlung nachträglicher Einlagen, die – wie ausgeführt – die Feststellung verrechenbarer Verluste unberührt lassen, haben Entnahmen (Einlageminderung), aufgrund derer – ohne Wiederaufleben der Außenhaftung (§ 15a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. §§ 171 Abs. 1, 172 Abs. 4 HGB) – ein negatives Kapitalkonto entsteht oder sich erhöht, zur Folge, dass die ausgleichsfähigen Verluste des Jahres der Entnahme sowie der vorangegangenen 10 Wj (elfjähriger Korrekturzeitraum) in verrechenbare Verluste umqualifiziert werden (§ 15a Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG). Rechtstechnisch geschieht dies allerdings nicht durch Änderung der für die Vorjahre ergangenen Feststellungsbescheide, sondern dadurch, dass dem Kommanditisten für das Jahr der Entnahme im Umfang der Einlageminderung ein Gewinn zugerechnet und in gleicher Höhe ein verrechenbarer Verlust festgestellt wird. Entsprechendes gilt für den Fall der nachträglichen Verminderung der Haftsumme (§ 15a Abs. 3 Satz 3 EStG). (5) Die vorstehenden Rechtssätze gelten grundsätzlich auch für andere Gesellschafter, deren Haftung vergleichbar der eines Kommanditisten beschränkt ist, insbesondere also für atypisch stille Gesellschafter (Innengesellschafter; § 15a Abs. 5 Nrn. 1 und 2 EStG). Zu beachten ist hierbei jedoch, dass für diese eine erweitere Außenhaftung nach § 171 Abs. 1 HGB und damit auch ein erweitertes (d. h. das steuerrechtliche Kapitalkonto überschreitendes) Verlustausgleichspotential nach § 15a Abs. 1 Satz 2 EStG nicht zur Verfügung steht.
__________ 17 Zur Einlage durch Aufrechnung mit dem Regressanspruch gegenüber der Gesell-
schaft vgl. Abschn. II. 3. 18 Vgl. z. B. BFH v. 10.7.2001 – VIII R 45/98, BStBl. II 2002 S. 339.
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II. Aus der jüngeren Rechtsprechung des BFH Zwar sind gesetzliche Vorschriften, die steuererhebliche Vorgänge nur in ihrer Typizität, also in ihren – gemessen am Belastungsgrund – modellhaften Eigenheiten erfassen, verfassungsrechtlich insbesondere dann nicht zu beanstanden, wenn sie der Vereinfachung des Verwaltungsvollzugs sowie der Missbrauchsvermeidung dienen und die nach dem Norminhalt nicht zu berücksichtigenden Einzelfallumstände der individuellen Gestaltung zugänglich sind19. Auch hat der Gesetzgeber nach m. E. zutreffender Ansicht des BFH mit den in § 15a EStG angelegten und vorstehend aufgezeigten Typisierungen diesen verfassungsrechtlichen Rahmen nicht überschritten20. Andererseits erzeugen die hierdurch bedingten Sollbruchstellen zwischen Handels- und Steuerrecht offenbar ein Spannungsverhältnis, das die Betroffenen immer wieder dazu bewegt, die Besonderheiten „ihres Falles“ dem BFH zur Entscheidung vorzulegen. Nur so ist auch die jüngste Rechtsprechungssequenz zu erklären, mit der das Gericht einerseits Kurs gehalten, andererseits aber die Vergröberungen des § 15a EStG – unter dem Blickwinkel der Binnensystematik der Vorschrift – der korrigierenden Gesetzesauslegung unterworfen hat. 1. Statuswechsel a) Vom Komplementär zum Kommanditisten Wechselt, wie im Sachverhalt, der dem Verfahren VIII R 81/0221 zugrunde lag, der bisherige persönlich haftende Gesellschafter unterjährig in die Stellung des Kommanditisten und führt der dem Gesellschafter für das Jahr des Statuswechsels zuzurechnende Verlustanteil dazu, dass ein negatives Kapitalkonto entsteht oder sich erhöht, so ist nach Ansicht des BFH § 15a EStG für das gesamte Wj zu beachten. Dem Ansinnen, den Ergebnisanteil zeitanteilig zu spalten, d. h. die auf die Zeit der Komplementärstellung entfallenden Verluste als ausgleichsfähig zu behandeln, hat der VIII. Senat nicht entsprochen, da es dem Stichtagsprinzip, d. h. der Maßgeblichkeit der Rechtsverhältnisse zum Ende des jeweils zu beurteilenden Wj (s. o. I. 3 zu (1)), widerstreite. Auch der Einwand, damit bliebe die Nachhaftung nach § 160 Abs. 3 HGB unberücksichtigt, vermochte das Blatt nicht zu wenden, weil – so der BFH – dieser Haftungstatbestand von den typisierenden Bestimmungen des § 15a Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG (Maßgeblichkeit der geleisteten Einlage; Haft-
__________ 19 Vgl. z. B. BVerfG v. 7.7.1999 – 2 BvR 301/98, BStBl. II 2000 S. 162 (166); Tipke/
Lang, Steuerrecht, 17. Aufl., 2002, S. 96 m. w. N. 20 S. bereits oben zu Fn. 11. 21 BFH v. 14.10.2003 – VIII R 81/02, BStBl. II 2004 S. 118.
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summeneintrag im Handelregister22, s. o. zu I. 3) nicht erfasst würde. Diese bewusste Ausgrenzung (Typisierung) sei von den Gerichten zu respektieren. Der Entscheidung ist auch und vor allem im Hinblick auf die Aussagen zu § 160 Abs. 3 HGB beizupflichten, da andernfalls die Handhabung des § 15a EStG in nicht vertretbarer Weise erschwert würde. Eine auf die Zeit der Kommanditistenstellung begrenzte Anwendung des § 15a EStG würde nicht nur die schätzweise Aufteilung des Gesamtverlusts, sondern zudem erfordern, dass auch der Stand des Kapitalkontos (unter Einschluss von zeitgerecht zugeordneten Entnahmen und Einlagen) auf den Zeitpunkt der Beteiligungsumwandlung ermittelt werden müsste. Es versteht sich von selbst, dass es gerade das Ziel vergröbernder Rechtsvorschriften ist, Erschwernissen dieser Art mit allgemeiner Wirkung – und damit unabhängig davon, ob sie im Einzelfall leicht und mit hoher Treffsicherheit bewältigt werden könnten – zu begegnen. Sie beanspruchen damit – ungeachtet dessen, dass der BFH in anderen Zusammenhängen geneigt ist, zur Milderung steuerschädlicher Rechtsfolgen auf das aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abgeleitete Gebot der Proportionalität zurückzugreifen23 – auch dann Geltung, wenn die Beteiligtenstellung unmittelbar vor Ablauf des Wj geändert wird. Hieran anknüpfend wurde aus dem Urteil die zutreffende – weil dem Stichtagsprinzip entsprechende – Empfehlung abgeleitet, die Ausgleichfähigkeit der bisher aufgelaufenen Verlustanteile dadurch zu erhalten, dass entweder der Statuswechsel auf den Beginn des folgenden Wj verlegt oder das Wj umgestellt wird24. Zu der gleichfalls praxisrelevanten Frage des Zeitpunkts der Statusänderung hat der IV. Senat zwischenzeitlich entschieden, dass hierfür nicht auf die Handelsregistereintragung, sondern – im Einklang mit dem Handelsrecht – auf die rechtswirksame Änderung des Gesellschaftsvertrags abzustellen sei (s. hierzu nachfolgend zu b). Nur hingewiesen sei schließlich darauf, dass in der Literatur erwogen wird, die Gewinnzurechnung nach § 15a Abs. 3 EStG (s. dazu I. 3) analog auch für den Fall des Wechsels von der Komplementär- in die Kommanditistenstellung bei Vorliegen eines negativen Kapitalkontos oder bei späteren Entnahmen unter Anfall eines negativen Kapitalkontos greifen zu lassen25. b) Vom Kommanditisten zum Komplementär Wechselt der bisher beschränkt haftende Gesellschafter während des Wj in die Komplementärstellung, so kann nach dem Stichtagprinzip kein Zweifel
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22 Zur haftungsbefreienden Einlageleistung nach § 171 Abs. 1, 2. Halbs. HGB durch
Einbuchung in Form der Umbenennung eines negativen Kapitalkontos vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, §§ 171, 172 Rz. 45; Wilke, INF 2004, 69 (71 f.). 23 Vgl. zur Abfärbewirkung nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG BFH-Urteil v. 11.8.1999 – XI R 12/98, BStBl. II 2000 S. 229; krit. Schmidt/Wacker, EStG, § 18 Rz. 44 m. w. N. 24 Herff, KÖSDI 2004, 14253/-8. 25 Instruktiv Wilke, INF 2004, 69 (72 f.).
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daran bestehen, dass der gesamte Verlustanteil dieses Jahres nicht mehr § 15a EStG untersteht und damit – vorbehaltlich anderer steuerrechtlicher Verwertungsbeschränkungen – auch der Teil als ausgleichsfähig anzuerkennen ist, der in diesem Wj auf den Zeitraum vor der Beteiligungsumwandlung entfällt26. Hiermit begnügte sich indes der Kläger des Verfahrens VIII R 38/02 nicht. Da für das Wechseljahr ein geringer Gewinn ermittelt, auf das Ende des Vorjahres aber ein beträchtlicher und angesichts der bis dahin bestehenden Kommanditistenstellung lediglich verrechenbarer Verlust festgestellt wurde (§ 15a Abs. 4 EStG), begehrte er dessen Umqualifikation in einen ausgleichsfähigen Verlust allein aufgrund der Beteiligungsumwandlung mit dem in der Literatur27 teilweise vertretenen Argument, in seiner Stellung als Komplementär unterstehe der Gesellschafter nicht mehr § 15a EStG. Damit sei aber zugleich die Grundlage für die fortdauernde Feststellung verrechenbarer Verluste, die nur beschränkt haftende Gesellschafter treffen könne, entfallen. Dem ist der VIII. Senat – wiederum zu Recht – nicht gefolgt28. § 15a EStG spreche den Wechsel in die Komplementärstellung nicht an, sondern sehe lediglich die Saldierung der verrechenbaren Verluste mit späteren Beteiligungsgewinnen vor (Abs. 2; s. o. zu I. 3). Die Vorschrift enthalte mithin eine Regelungslücke, die durch folgerichtiges „Zu-Ende-Denken“ der typisierenden Strukturprinzipien des § 15a EStG geschlossen werde müsse. Da diese aber nach dem Stichtagsprinzip dadurch gekennzeichnet seien, dass ein Kommanditist die 15a-Qualifikation der Vorjahresverluste weder durch nachträgliche Haftsummenerhöhungen noch durch nachträgliche Einlage beeinflussen könne, und zwar selbst dann, wenn sie die (verlustbegründenden) Verbindlichkeiten der Gesellschaft überträfen (s. o. zu I. 3), sei der Gesellschafter auch im Falle eines Wechsels in den Komplementärstatus – ungeachtet seiner Haftung nach § 130 HGB – darauf verwiesen, die im Zusammenhang mit seiner Kommanditistenstellung angefallenen verrechenbaren Verluste entweder mit den zukünftigen Gewinnen zu saldieren (§ 15a Abs. 2 EStG) oder bei Aufgabe des Unternehmens oder Veräußerung seines Mitunternehmeranteils geltend zu machen. Aus dem Urteil, das angesichts seiner harten Folgen nicht ohne Kritik geblieben ist29, ergibt sich zum einen, dass die Rechtsfolgen des § 15a EStG Nachwirkungen nicht nur für den Statuswechsels eines Gesellschafters unabhängig davon entfalten, ob die Gesellschaft weiterhin in der Rechtsform
__________
26 BFH v. 14.10.2003 – VIII R 81/02, BStBl. II 2004 S. 118. 27 Authenrieth in Steuerrecht und Gesellschaftsrecht als Gestaltungsaufgabe, Freun-
desgabe für F. J. Haas zur Vollendung des 70. Lebensjahres, 1996, S. 7 (12). 28 Urt. v. 14.10.2003 – VIII R 38/02, BStBl. II 2004 S. 115; ebenso bereits BFH-Urteile
in BFHE 177, 466 (471); v. 10.3.1998 – VIII R 76/96, BStBl. II 1999 S. 269 (272). 29 Z. B. Ley, KÖSDI 2004, 14374/-85; zur Replik, die sich im Kern auf die wiedergege-
bene Begründung des Urteils v. 14.10.2003 (Fn. 28) beschränkt s. BFH-Urt. v. 12.2.2004 – IV R 26/02, DStRE 2004, 937; Kempermann, DStR 2004, 1515.
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der KG geführt wird oder identitätswahrend diejenige einer OHG oder GbR annimmt. Gleiches gilt darüber hinaus, wenn das Unternehmen der KG vom Kommanditisten übernommen wird30. In all diesen Fällen ist das Feststellungsverfahren (§ 15a Abs. 4 EStG) für die verrechenbaren Kommanditistenverluste unter Berücksichtigung der Saldierung mit den nach der Beteiligungs- oder Unternehmensumwandlung erzielten Gewinnen oder Gewinnanteilen des vormaligen Kommanditisten fortzuführen. Ungeklärt ist allerdings, ob diesem die Verrechnung mit sämtlichen Gewinnen aus dem Unternehmen der geänderten oder neuen Rechtsform gestattet ist oder ob er – was der grundsätzlichen Konzeption des § 15a EStG als einer einkunftsquellenbezogenen Verlustverwertungsbeschränkung entspräche (s. o. zu I. 3) – insoweit einer gegenständlichen Beschränkung mit Rücksicht auf den Gewinnanteil unterliegt, der aus dem früheren KG-Vermögen erzielt wird. Unabhängig hiervon ist ferner anzumerken, dass – wie ausgeführt – die Annahme der Komplementärstellung den Verlust des Wechseljahres dem Anwendungsbereich des § 15a EStG entzieht und deshalb die Frage zu beantworten ist, auf welchen Zeitpunkt der Statuswechsel steuerrechtlich wirksam wird. Der IV. Senat31 hat sich dabei für die Maßgeblichkeit des (rechtswirksamen) Gesellschafterbeschlusses entschieden; er ist damit dem Handelsrecht gefolgt, nach dem der Handelsregistereintragung (vgl. §§ 107, 143 Abs. 2, 162 Abs. 3 HGB) nur deklaratorische Bedeutung zukommt32. Dem ist zwar beizupflichten. Allerdings ist hierbei nicht nur in der Situation der EinMann-GmbH & Co. KG das Erfordernis der Befreiung von den Vertretungsbeschränkungen des § 181 BGB zu beachten; darüber hinaus muss, wenn die Finanzbehörde den behaupteten Zeitpunkt der Beteiligungsumwandlung in Zweifel zieht, der Tatrichter zur Überzeugung gelangen, dass der Gesellschafterbeschluss vor Ablauf des Wj gefasst wurde. Gelingt den Gesellschaftern ein solcher Nachweis nicht, geht dies zu ihren Lasten (Feststellungslast). Es ist deshalb anzuraten, noch im Wechseljahr die Statusänderung zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden33. 2. Vorgezogene Einlagen In der Sache VIII R 32/0134 ging es um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Einlagen, die ein negatives Kapitalkonto ausgleichen, geeignet sind, den Anfall verrechenbarer Verluste in späteren Wj zu vermeiden. Dies soll zunächst an folgendem Fallbeispiel verdeutlicht werden:
__________ 30 Vgl. zur sog. Übernahme Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 140 Rz. 25. 31 BFH mit Urt. v. 12.2.2004 – IV R 70/02, BStBl. II 2004 S. 423. 32 Dazu z. B. Hillmann und Strohn in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 130 Rz. 5, 9,
§ 176 Rz. 29 jeweils m. w. N. 33 Zu Alternativen s. Kempermann, DStR 04, 1515/-6: Hinterlegung bei FA/Notar
oder Steuerberater. 34 Urt. v. 14.10.2003, BStBl. II 2004 S. 359.
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Roland Wacker Wj 01 (Verlust) KapKo des K. zum 1.1. GuV-Anteil Einlagen/Entnahmen
Wj 02 (Einlage)
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KapKo des K. zum 31.12
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verrechenbarer Verlust
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Unstreitig transformiert die Einlage des Wj 02 nach dem Stichtagsprinzip den verrechenbaren Verlust des Wj 01 nicht rückwirkend in einen ausgleichsfähigen Verlust (s. dazu ausführlich Abschn. I. 3 und II. 1b). Zweifelsfrei ist ferner, dass ein Verlust, der in das Wj der Einlage (02) fiele, in dem Umfang ausgleichsfähig wäre, in dem er durch die (zeitkongruente) Einlage neutralisiert würde (hier: 30). Nach dem Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG ist dies jedoch im Fallbeispiel für den im Wj 03 angefallen Verlust anders, weil er – wiederum unter Beachtung des Stichtagsprinzips – dazu führt, dass erneut ein negatives Kapitalkonto entsteht (hier: in Höhe von 30). Bei diesem Ergebnis wollte (und will, dazu unten) die Finanzverwaltung35 ebenso wie das FG Berlin36 stehen bleiben, weil es nach dem Willen des Gesetzgebers nicht Plan des § 15a EStG sei, in allen Fällen die Möglichkeit zum Verlustausgleich dem konkreten Haftungsumfang anzugleichen. Die Nichtberücksichtigung vorgezogener Einlagen sei auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da sie jedenfalls bei Liquidation der KG als ausgleichsfähige Verluste geltend gemacht werden könnten; darüber hinaus trage diese Beurteilung zur Vereinfachung der Vorschrift bei und beuge etwaigen Manipulationen vor. Trotz ihres Gewichts hat der BFH dieser Argumentation die Gefolgschaft verweigert und m. E. zu Recht entschieden, dass Einlagen, die ein negatives Kapitalkonto ausgleichen und im Wj der Einlage nicht durch ausgleichsfähige Verluste aufgezehrt werden, im Wege der den Gesetzeswortlaut korrigierenden Rechtsfortbildung Nachwirkung für die Ausgleichsfähigkeit der in den Folgeperioden zugewiesenen Verlustanteile des Kommanditisten entfalten. Rechtstechnisch geschehe dies dadurch, dass der Einlagebetrag – beschränkt auf die Höhe des negativen Kapitalkontos – als (außerbilanzieller) Korrekturposten mit der Folge festgehalten werde, dass er die Verluste späterer Wj, die erneut zum Anfall eines negativen Kapitalkontos führten (oder dieses erhöhten) – abweichend vom Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG – bis zum Verbrauch des Postens in ausgleichsfähige Verluste umqualifiziere. Selbstverständlich konnten im Rahmen des Besprechungsurteils, bei dem
__________ 35 OFD Frankfurt a. M. v. 17.1.2002, NWB F 3, 11909 zu Abschn. I. 36 EFG 2002, 1303, rkr. mit zustimmender Anm. von R. Braun.
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Vertrautes und Neues zu § 15a EStG
lediglich über die eingangs geschilderte Fallkonstellation (Einlage im Wj 02, Verlust im Wj 03 i. V. m. negativem Kapitalkonto) zu entscheiden war, nicht im Stile eines umfassenden Gutachtens auf sämtliche denkbaren Entwicklungsmöglichkeiten des Korrekturposten eingegangen werden. Dies gilt bspw. für die Frage, ob auch Gewinngutschriften auf dem Kapitalkonto die Bildung eines Korrekturpostens auslösen oder ob spätere Gewinne oder Entnahmen den Posten ersatzlos entfallen lassen. Diese Folgefragen sollen auch im Rahmen dieses Beitrags ausgeklammert bleiben, da sie zum einen Gegenstand einer ausführlichen Diskussion im Schrifttum waren (und sind)37 und zum anderen, worauf insbesondere Kempermann (Mitglied des IV. Senats des BFH) hingewiesen hat, ihre Bewältigung bei näherer Betrachtung keine größeren Schwierigkeiten bereitet38. Kempermann sieht deshalb „auch wenig Chancen für eine Änderung der eingeschlagenen Richtung“39. Dem wäre nichts hinzuzufügen, hätte die Finanzverwaltung nicht mit BMF-Schreiben v. 14.4.200440 die Nichtanwendung des Besprechungsurteils angeordnet. Dies ist nicht nur in Form deshalb erstaunlich, weil das BMF – trotz Zustellung des zunächst ergangenen Gerichtsbescheids – dem Verfahren des VIII. Senats nicht beigetreten ist und sich somit die Diskussion in der mündlichen Verhandlung, die der Senat gerne mit der Spitze der Verwaltung geführt hätte, auf einen Gedankenaustausch mit dem zuständigen FA beschränken musste. Inhaltlich kommt aber vor allem hinzu, dass – was die Kritiker des Besprechungsurteils und u. U. auch das Nichtanwendungsschreiben zu verkennen scheinen – die Rechtsfortbildung des VIII. Senats auf m. E. zwingenden verfassungsrechtlichen Überlegungen beruht, die zwar einerseits die Typisierungen des § 15a EStG – in der Tradition der bisherigen Rechtsprechung – im Grundsatz akzeptieren, andererseits aber deren gleichheitsrechtliche Schranken aufzeigen. Kehren wir deshalb zur Illustration dieses Gedankengangs zu unserem Eingangsbeispiel zurück und modifizieren wir dieses dahin, dass (Variante 1) Kommanditist K. im Wj 02 sein negatives Kapitalkonto nicht durch eine Einlage ausgleicht, sondern die Haftsumme im Handelsregister erhöht. Folge hiervon wäre, dass der Verlust des Wj 03 nach § 15a Abs. 1 Satz 2 EStG (sog. überschießende Außenhaftung; s. o. Abschn. I. 3) ausgleichsfähig wäre, da der Wortlaut dieser Bestimmung nicht darauf abstellt, ob Haftsummenerhöhung (hier: Wj 02) und Verlustentstehung (hier: Wj 03) in das nämliche Jahr fallen. Bereits dieser Vergleich lässt die Vermutung aufkommen, dass die Verlustverwertungsmöglichkeit
__________ 37 Vgl. z. B. unter Zustimmung zum Besprechungsurteil Ley, KÖSDI 2004, 14374;
Kempermann, DStR 2004, 1515 m. w. N.; Hempe u. a., DB 2004, 1460; Niehus u. a., FR 2004, 677; Wacker, DB 2004, 11; kritisch aber HG, DStR 2004, 28, Mitglied des VIII. BFH-Senats; Brandenberg, DB 2004, 1632; a. A., wenn auch teilweise irreführend, Claudy u. a., DStR 2004, 1504. 38 DStR 2004, 1515. 39 DStR 2004, 1515 (1517). 40 BStBl. I 2004 S. 463.
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Roland Wacker
im Rahmen der Grundregel des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG (Verlustausgleich entsprechend tatsächlich geleisteter Einlage) nicht hinter derjenigen des nur komplementären Ausnahmetatbestands nach § 15a Abs. 1 Satz 2 EStG (Verlustausgleich in Höhe der Differenz zwischen Haftsumme und geleisteter Einlage) zurückstehen kann. Die Vermutung wird zur Gewissheit, wenn wir das Eingangsbeispiel dahin abwandeln, dass (Variante 2) K. im Wj 02 nicht nur die Haftsumme erhöht, sondern in nämlichem Umfang auch eine Einlage auf das Haftkapital erbringt. Da in dieser Situation der Ausnahmetatbestand des § 15a Abs. 1 Satz 2 EStG – mangels Divergenz von Haftsumme und geleisteter Einlage – nicht greifen kann, wäre K. – würde man der Verwaltungsansicht folgen und die Nachwirkung der im Wj 02 erbrachten Einlage für die in den Folgejahren angefallenen Verluste ablehnen (so Nichtanwendungsschreiben) – deshalb gegenüber Variante 1 benachteiligt (bloße Haftsummenerhöhung), weil er in Variante 2 (Haftsummenerhöhung und tatsächliche Einlage) beiden gesetzlichen Typisierungsvorgaben des § 15a EStG zur Erlangung ausgleichsfähiger Verluste genügt. Dies wäre aber nicht nur mit den Worten des Besprechungsurteils „in jeder Hinsicht sinnwidrig“, sondern evident gleichheitswidrig. Anders ausgerückt: die Rechtsfortbildung des BFH ist der Binnensystematik geschuldet, sie stellt nicht die Geltungsgrenzen der Typisierungen des § 15a Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG in Frage, sondern ist zur Wahrung ihres gleichheitsgerechten Zusammenspiels unabdingbar. Darüber hinaus verdeutlicht der systematische Zusammenhang zwischen den Regelungen des § 15a Abs. 1 EStG, dass die Rechtsfortbildung des VIII. Senats das Vereinfachungsanliegen der Vorschrift nicht unterläuft. Letzteres deshalb, weil auch im Rahmen der überschießenden Außenhaftung (§ 15a Abs. 1 Satz 2 EStG) die Differenz zwischen Haftsumme und geleisteter Einlage außerbilanziell festzuhalten und entsprechend ihrem Verbrauch (Zuweisung ausgleichsfähiger Verluste) fortzuentwickeln ist; nicht anderes gilt – wie dargelegt – für den den Grundtatbestand des § 15a Abs. 1 Satz 1 (Ausgleichsfähigkeit der Verluste aufgrund geleisteter Einlage) konkretisierenden und gleichfalls außerhalb der Bilanz zu entwickelnden Korrekturposten. Er überschreitet somit nicht das Normprogramm der Vorschrift, sondern ist strukturell in der Typisierung des § 15a Abs. 1 Satz 2 EStG angelegt und durch diese inhaltlich vorgezeichnet. 3. Verlustdeckungszusage Als letzte Station unseres Rundgangs ein Blick auf den im BStBl. veröffentlichten und offensichtlich von der Verwaltung akzeptierten Aussetzungsbeschluss des IV. Senats v. 18.12.200341, in dem für folgenden Sachverhalt die zivilrechtlichen Grundlagen einer gegenwärtig gängigen „Ausweichstrategie“ zu erörtern waren:
__________
41 Az. IV B 201/03, BStBl. II 2004 S. 231; inhaltlich gleichlautend Urt. v. 7.10.2004 –
IV R 50/02, n. v., juris.
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Die U-KG erzielte in den Streitjahren (1997 und 1998) Verluste in erheblicher Höhe (rd. 3 bzw. 4 Mio). Jeweils vor Ablauf der Wirtschaftsjahre (Dezember 1997 und 1998) verpflichtete sich die einzige Kommanditistin (O-KG) ausweislich der Protokolle zu den Gesellschafterversammlungen dazu, „(abweichend vom Gesellschaftsvertrag) einen sich aus dem Geschäftsjahr (1997/1998)… ergebenden Verlust zu übernehmen und auszugleichen.“ Nach Ansicht des BFH erhöhte diese Erklärung das Kapitalkonto der O-KG nicht, so dass – wie auch vom FA vertreten – für die Kommanditistin (O-KG) verrechenbare Verluste nach § 15a Abs. 4 EStG festzustellen waren. Zur Begründung führte der IV. Senat wörtlich aus: „Der Kommanditist kann eine bedungene Einlage je nach gesellschaftsvertraglicher Vereinbarung u. U. auch durch Übernahme eines Verlustes der KG erbringen. Die Einlageverpflichtung kann … als Erhöhung der bisherigen Einlage geschuldet sein oder als Sacheinlage an die Stelle einer anderen Einlageverpflichtung treten. In beiden Fällen stellt die bloße Erklärung der Verlustübernahme aber noch keine tatsächliche Leistung (Hervorhebung durch Verfasser) der Einlage dar, die eine Erhöhung des Kapitalkontos i. S. des § 15a EStG bewirken würde. Eine wirtschaftliche Belastung (Hervorhebung durch Verfasser) tritt bei dem zur Verlustübernahme Verpflichteten nämlich erst dann ein, wenn die Forderung geltend gemacht wird oder wenn der Verpflichtete zumindest ernsthaft mit ihrer Geltendmachung rechnen muss. Davon ist etwa dann auszugehen, wenn die Forderung an einen Gesellschaftsgläubiger abgetreten wird. Solange die Forderung aber nur im Innenverhältnis besteht und nicht geltend gemacht wird, trifft den verpflichteten Kommanditisten noch keine gegenwärtige wirtschaftliche Belastung“. In der Literatur42 wurde hieraus geschlossen, die für die Erhöhung des Kapitalkontos erforderliche wirtschaftliche Belastung sei – über die im Beschluss ausdrücklich angesprochene Abtretung der Einlageforderung hinaus – auch im Falle der Offenlegung der Verlustüberverpflichtung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern (z. B. Banken) zu bejahen43. M. E. ist nicht nur gegenüber diesen Folgerungen, sondern auch gegenüber den Beschlussgründen – ungeachtet dessen, dass sie zwischenzeitlich durch Urteil v. 7.10.200344 bestätigt worden sind – Zurückhaltung geboten. Letztere stellen mit der Aussage, der Kommanditist könne seine bedungene Einlage je nach gesellschaftsvertraglicher Vereinbarung u. U. auch durch Übernahme eines Verlustes der KG erbringen, erkennbar auf das Innenverhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern ab45. Dieses unterliegt in der Tat
__________ 42 Autenrieth, NWB Nr. 12/2004, S. 809, Blickpunkt Steuern; Rodewald, GmbHR
2004, 563; Hettler, KFR F. 3, § 15a 5/04, S. 180. 43 Zurückhaltend Kempermann, DStR 2004, 1515 (1517). 44 IV R 50/02, juris. 45 Zur umstr. Gläubigerstellung der Gesamthandsgemeinschaft für Beitragsleistungen
s. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 3), S. 577.
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Roland Wacker
der Parteidisposition, so dass nach allerdings nicht unbestrittener Ansicht des BGH die Kommanditisten ihre sog. Pflichteinlage auch durch bloße Übernahme einer Bürgschaft erbringen können46. Nach (bisheriger und m. E. zutreffender) Auffassung des BFH nehmen Einlagen dieser Art aber keinen Einfluss auf den Stand des Kapitalkontos i. S. v. § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG. Maßgeblich hierfür ist vielmehr – wie der Regelungszusammenhang zur überschießenden Außenhaftung in § 15a Abs. 1 Satz 2 EStG zeigt –, ob die Einlage in dem Sinne tatsächlich geleistet wird, dass sie geeignet ist, im Verhältnis zu den Gesellschaftsgläubigern haftungsbefreiende Wirkung zu entfalten. Dies wiederum ist auch dann nach den für das Außenverhältnis geltenden gesellschaftsrechtlichen Regeln des § 171 Abs. 1 HGB und damit nach den sowohl für Geld- als auch für Sacheinlagen zu beachtenden Grundsätzen der effektiven Kapitalaufbringung – d. h. dem Erfordernis der Aufbringung werthaltiger Mittel durch Kapitalzuführung oder Einbuchung47 – zu beurteilen, wenn Einlagen in Frage stehen, die die für den Kommanditisten eingetragene Haftsumme überschreiten48. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass das so bestimmte Kapitalkonto selbst bei Aktivierung49 der Verlustübernahmeverpflichtung nicht erhöht wird50. Demgemäß kann nicht nur dahinstehen, ob im Verfahren IV B 201/0351 unbedingte – und m. E. nicht als Sach-, sondern als Geldeinlage geschuldete – Nachschusspflichten zu beurteilen waren oder ob sie unter dem Vorbehalt zukünftiger – d. h. die bisher aufgelaufenen Verluste neutralisierender – Gesellschaftsgewinne standen. Entgegen den Anmerkungen des Schrifttums ist ferner unerheblich, ob der Kommanditist dadurch, dass die KG vor dem Bilanzstichtag die Erfüllung der Verlustübernahmeverpflichtung einfordert oder den Anspruch (erfüllungshalber) abtritt, noch vor Ablauf des Verlustentstehungsjahres wirtschaftlich belastet wird. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn die Zession an Erfüllungs statt (§ 364 BGB) vereinbart würde und deshalb mit dem Wegfall einer Fremdverbindlichkeit der Gesellschaft verbunden wäre52.
__________
46 BGH v. 10.10.1994 – II ZR 220/93, BB 1994, 2375 = NJW 1995, 197; a. A. Karsten
47 48
49
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Schmidt in MünchKomm.HGB, §§ 171, 172 Rz. 9: Bürgschaftsübernahme nur Beitrag, nicht jedoch Einlage. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, §§ 171, 172 Rz. 46 ff. Vgl. z. B. BFH v. 29.8.1996 – VIII B 44/96, BFHE 182, 26 = FR 1997, 655; Lüdemann in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 15a EStG Rz. 87; Schmidt/Wacker, EStG, § 15a Rz. 81 jeweils m. w. N. Vgl. hierzu bereits Knobbe-Keuk, StuW 1981, 97 (101 f.); FG Münster, EFG 2003, 535; bestätigt durch BFH, VIII B 51/03, juris. Zu § 264c HGB s. Förschle/Hoffmann in BeckBilKomm., 5. Aufl. 2003, § 264c Rz. 31. Ebenso BFH, VIII B 51/03, juris. BStBl. II 2004 S. 231. Str., s. Strohn in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, § 171 Rz. 72 m. w. N.; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 3), S. 1569; BFH, VIII B 44/96, BFHE 182, 26 = FR 1997, 655: ernstlich zweifelhaft, ob Vermögensabfluss bei Kommanditisten erforderlich.
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Zu bedenken ist schließlich, dass nur diese Beurteilung den Gleichklang zur ständigen Rechtsprechung des BFH sichert, nach der selbst Bürgschaftsverpflichtungen das Ausgleichsvolumen des Kommanditisten nicht beeinflussen53. Das Kapitalkonto erhöht sich vielmehr erst dann, wenn der Bürge die Schuld erfüllt und auf seine Regressansprüche gegen die KG verzichtet oder hiermit gegen deren Ansprüche aufrechnet54.
III. Schluss Lässt man das Vorstehende Revue passieren, so wird man der Einschätzung, bei § 15a EStG handle es sich um eine „komplizierte und perfektionistische Missgeburt“55 des Gesetzgebers, ebenso wenig wie der Befürchtung beipflichten können, die Vorschrift werde „am Ende doch noch scheitern“56. § 15a EStG nimmt vielmehr die Grundwertungen des Handelrechts auf und zielt mit seinen Typisierungen – nicht zuletzt im Interesse der Alltagstauglichkeit – auf die Selektion signifikanter Haftungstatbestände. Die Vorschrift bewegt sich damit in der – m. E. interessengerecht austarierten und durch die Rechtsprechung bestätigten – Mitte zwischen der steuerrechtlicher Nichtanerkennung des negativen Kapitalkontos einerseits und – was in den Gesetzesmaterialien ausführlich dokumentiert und völlig zu Recht verworfen worden ist57 – der Berücksichtigung sämtlicher Haftungsrisiken anderseits. Indes scheint dieser Wertungskompromiss auf dem politischen Prüfstand zu stehen, da, wie zu hören ist, die Finanzverwaltung – in Reaktion auf die BFH-Rechtsprechung zur vorgezogenen Einlage (s. Abschn. II. 2) – die Einsetzung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe beschlossen hat, die Vorschläge zur „Vereinfachung des § 15a EStG erarbeiten soll“. Was auch immer dieses Tun den Betroffenen bescheren wird, so ist doch zu hoffen, dass gerade im Einsteinjahr der Rat des großen Genius, „die Dinge so einfach wie möglich zu machen, aber auch nicht einfacher“, nicht ungehört verhallt.
__________ 53 Z. B. BFH v. 13.11.1997 – IV B 119/96, BStBl. II 1998 S. 109; s. dazu auch BT-
Drucks. 3/3648, S. 16 f. 54 Dazu Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, §§ 171, 172 Rz. 48 a. E., 50, 58 bis
60; zum Ausfall des Ersatzanspruchs bei Beendigung der KG s. Schmidt/Wacker, EStG, § 15a Rz. 130. 55 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 487 m. w. N. 56 HG, DStR 2004, 28. 57 BT-Drucks. 8/3648, S. 17.
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Lösung des Doping-Problems durch den Staatsanwalt? Inhaltsübersicht A. Einleitung B. Vor- und Nachteile eines AntiDoping-Gesetzes I. Argumente der Befürworter II. Kritik 1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 2. Gleichheitsgrundsatz 3. Bestimmtheitserfordernis 4. Ermessen a) Pflicht des Staates?
b) Recht zur Bestrafung aa) Bestehende Strafbarkeitslücke? bb) Defizite der verbandseigenen Doping-Verfolgung? (1) Ermittlungsverfahren (2) Hauptverfahren (3) Strafen (4) Vollstreckung C. Ergebnis
A. Einleitung Seitdem die Doping-Seuche im Sport in ihrem Ausmaß und ihren Wirkungen erkannt und ernsthaft bekämpft wurde, bestand – jedenfalls in Deutschland – breiter Konsens, dass es originäre Aufgabe des Sports selbst sei, für Fairness zu sorgen und deshalb Doping-Vergehen zu verfolgen und zu sanktionieren. Die Sportverbände seien aufgrund ihrer Sachkunde und Sachnähe in erster Linie hierzu in der Lage. Sie könnten dies besser und schneller als der Staat mit seinen Strafverfolgungsorganen. Dieser solle nur Straftaten im Freizeitsport und im Umfeld des organisierten Sports verfolgen, etwa Körperverletzungsdelikte oder Vergehen gegen das Arzneimittelgesetz (AMG). Diese Arbeitsteilung entspricht auch der nach wie vor in Fachkreisen herrschenden Ansicht, wonach der Staat sich in die Belange des organisierten Sports grundsätzlich nicht einmischen und nur subsidiär tätig werden soll1. Nach einer entsprechenden Ankündigung der Regierungsfraktionen SPD und Grüne2 und einem engagierten Plädoyer für ein „Gesetz zum Schutz des Sports“ von Professor Dr. Ulrich Haas, dem früheren Vorsitzenden der Anti-
__________ Vgl. Steiner, Doping aus verfassungsrechtlicher Sicht, in Röhricht/Vieweg (Hrsg.), Doping-Forum, 2000, S. 125 (128 f.); Zypries, Anti-Doping-Politik des Bundes, in Röhricht/Vieweg a. a. O., S. 95 (96); Schild, Doping in strafrechtlicher Sicht, in Schild (Hrsg.), Rechtliche Fragen des Dopings, 1986, S. 13 (34) m. w. N.; Schily, FAZ v. 12.8.2004, S. 28; Bach, FAZ v. 24.7.2004, S. 28; Tettinger, NZZ v. 17.2.2000, S. 44; Kinkel, Die Welt v. 4.7.2001; vgl. allgemein auch Vieweg, SpuRt 2004, 194 ff. m. w. N. 2 Pressemitteilung des DSB v. 10.2.2004. 1
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Doping-Kommission des deutschen Sports, zu Beginn des Jahres 20043 geriet dieser Konsens abrupt ins Wanken. Obwohl der Präsident des DSB noch wenige Wochen zuvor Forderungen nach einem entsprechenden Anti-DopingGesetz weit zurückgewiesen hatte4, vernahm die erstaunte Fach-Öffentlichkeit alsbald auch aus der Führung des Deutschen Leichtathletikverbandes den Ruf nach dem Gesetzgeber5. Sodann rief in einer Klausurtagung vom 22.3.2004 – so eine Pressemeldung – „der Sport in Sachen Doping nach der Hilfe des Staates“6. Dopende Sportler müssten durch ein Anti-DopingGesetz oder Gesetz zum Schutz des Sports unter Strafe gestellt werden. Eine Expertengruppe wurde eingesetzt unter der Bezeichnung „Rechtskommission des Sports gegen Doping“. Diese soll „einen Forderungskatalog des Sports zur härteren Bekämpfung der Doping-Seuche … erarbeiten“. Die Ergebnisse sollen den Sportverbänden und vor allem der Politik als Empfehlungen vorgelegt werden7. Die Gründe für diesen plötzlichen Sinneswandel bei einigen maßgeblichen Vertretern des Sports sind unklar. Es ist nicht ersichtlich, dass die Zahl oder die Qualität der entdeckten Doping-Fälle oder gar eine fehlende Effektivität der Doping-Verfolgungsmaßnahmen seitens der deutschen Sportverbände und ihrer Gerichtsbarkeit hierfür den Ausschlag gegeben hätten. Möglicherweise waren der Schock über die Enttarnung des „Saubermannes“ Dieter Baumann, des Aushängeschildes des DLV auch im Kampf gegen Drogen, sowie die Aufdeckung des systematischen Dopings in der US-SpitzenLeichtathletik für diesen Meinungsumschwung im Lager des DLV mit ursächlich. Bevor derartige Forderungen vom Gesetzgeber umgesetzt werden, muss gründlich analysiert werden, ob ein verschärftes Strafrecht, insbesondere ein Straftatbestand Doping, eine realistische Hilfe in diesem Kampf gegen Doping sein könnte. Die Flut von neuen Gesetzen, die tagtäglich auf die Bürger niederprasseln – im Jahre 2003 umfassten alleine die neuen Bundesgesetze 3144 Seiten (!) des Bundesgesetzblattes – und die im Gegensatz dazu stehende Jahrzehnte alten Forderungen nach drastischer Eindämmung der Regelungsflut sowie nach einer gewissenhaften Gesetzesfolgenabschätzung vor Erlass neuer Vorschriften gemahnen in der Tat zur Behutsamkeit. Eine gewissenhafte Analyse des Pro und Contra der Verschärfung der staatlichen Doping-Straftatbestände ist jedenfalls unerlässlich. Wäre die Umsetzung dieser Vorschläge verfassungsgemäß? Was könnte von solchen Vorschriften erwartet werden? Welche Vorteile hätten sie für einen sauberen Sport? Könnte der Staatsanwalt mit ihr die Doping-Seuche aus-
__________ 3 4 5 6 7
FAZ v. 27.2.2004, S. 36. Pressemitteilung des DSB v. 4.11.2003. Pressemitteilung des DSB v. 6.4.2004. FAZ v. 24.3.2004, S. 41. Presseerklärung des DSB v. 15.6.2004.
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rotten oder den Kampf gegen Doping wenigstens wirksam unterstützen? Oder würde sich auch dieses Gesetz – wie so viele andere – in vordergründigem Aktionismus, in Symbolik und damit zugleich in Täuschung der Öffentlichkeit erschöpfen?
B. Vor- und Nachteile eines Anti-Doping-Gesetzes I. Argumente der Befürworter Der Ruf einiger Sportfunktionäre nach stärkerer Unterstützung durch den Staat in dem schwierigen, aufwändigen und auch kostspieligen Kampf gegen Doping ist im Grundsatz verständlich. Der Staat, der dem Sport, insbesondere dem organisierten Sport, enorme finanzielle Mittel gewährt und diese Förderung zu Recht von der Einhaltung der Regeln abhängig macht, muss auch selbst alle rechtlichen Möglichkeiten zur wirksamen Unterstützung dieses Kampfes gegen die Doping-Seuche einsetzen. Er darf die Verbände in ihrem steten, energischen Bemühen nicht alleine lassen, Doping mit allen sinnvollen und rechtsstaatlich zulässigen Mitteln zu bekämpfen. Die Befürworter eines Anti-Doping-Gesetzes fordern die staatliche Unterstützung der Verbände im Anti-Doping-Kampf durch stärkere Strafverfolgung des Umfeldes der Sportler, also insbesondere der Trainer, Betreuer, Ärzte, Berater etc. Hilfreich sei es, in § 6a AMG auch den Besitz von Dopingmitteln zu verbieten und unter Strafe zu stellen. Vor allem müsse die Trennlinie zwischen strafloser Selbstschädigung der Sportler und strafbarer Handlung neu gezogen werden. In Zukunft solle auch strafbar sein, wer Doping-Substanzen bei sich anwendet oder besitzt. Da den Verbänden nach jetziger Rechtslage wesentliche Mittel der Sachverhaltsaufklärung, insbesondere Durchsuchungen und die Beschlagnahme von Beweismitteln nicht zur Verfügung stünden und mit dem Instrumentarium der Doping-Kontrolle allenfalls die „Spitze des Eisberges“, nämlich der Eigengebrauch der Athleten, aufgedeckt werden könne, müsse der Staat mit den Mitteln der Strafverfolgung unterstützend tätig werden. Das sei für eine effektive DopingBekämpfung unerlässlich8. II. Kritik Die Kritik an diesen Vorschlägen und der damit verbundenen Aufgabe des Subsidiaritätsprinzips9 ließ nicht lange auf sich warten. Sie wendet sich vor allem dagegen, Doping-Handlungen der Sportler an sich selber unter Strafe zu stellen; außerdem sei es problematisch, bereits den Besitz von verbotenen
__________ 8 9
Vgl. Haas (Fn. 4); ähnlich Digel, www.leichtathletik.de v. 16.3.2004. Vgl. Steiner (Fn. 1), S. 128; ders., DÖV 1983, 176.
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Stoffen zu bestrafen10. In der Tat sind gegen die Reformvorschläge erhebliche Bedenken angebracht. Diese können hier nur skizziert werden. Die Befugnis des Staates, entsprechende Strafnormen zu schaffen oder auszuweiten, findet ihre Schranken in den verfassungsgemäßen Kompetenzzuordnungen, in der Abwägung widerstreitender Grundrechte und sie ist nach Ermessen auszuüben. 1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Es bestehen Bedenken, ob der Bundesgesetzgeber die verfassungsrechtliche Kompetenz besitzt, die sich selbst dopenden Sportler sowie den Besitz von Medikamenten, die auf der Dopingliste stehen, mit Strafe zu bedrohen. Berufssportler und solche, die sich auf eine Karriere im bezahlten Sport vorbereiten, – also ein sehr großer und nur schwer abgrenzbarer Personenkreis – können sich auf das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) berufen, andere Sportler oder das Umfeld der Athleten zumindest auf das der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)11. Der Bund hat zwar die Kompetenz für das Strafrecht. Die Arzneimittel betreffende spezielle Kompetenznorm Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, die eng auszulegen ist12, deckt aber eine Vorschrift nicht, die den Konsum oder den Besitz verbotener Arzneimittel unter Strafe stellt, da sie sich nur auf deren „Inverkehrbringen“ bezieht. Das ist auch die bisherige Haltung der zuständigen Bundesminister13. 2. Gleichheitsgrundsatz Bedenken gegen eine Strafbarkeit der Athleten für eigenes Doping sind auch im Hinblick auf Art. 3 GG angebracht. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz gebietet, Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln. Dabei obliegt es dem Gesetzgeber zu entscheiden, welche Elemente der zu ordnenden Lebensverhältnisse er als maßgebend dafür ansieht, sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln. Der Gleichheitssatz ist allerdings verletzt, wenn sich – bezogen auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs – ein vernünftiger, aus der Natur der Sache folgender oder sonst wie einleuchtender Grund für die betreffende Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt. Derartige Zweifel sind hier begründet.
__________ 10 Vgl. Vieweg, SpuRt 2004, 194 ff.; Nolte, Staatliche Verantwortung zur Bestrafung
des Dopings? (Zur Veröffentlichung vorgesehener Vortrag bei der 5. Interuniversitären Tagung Sportrecht an der Universität Köln am 5.8.2004). 11 Steiner (Fn. 1), S. 129 f. 12 BVerfG, NJW 2000, 857 (Frischzellen). 13 S. den „Bericht zum Verbot von Arzneimitteln zu Dopingzwecken im Sport, Januar 2003“ des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung, nicht veröffentlicht; Schily (Fn. 1); Zypries (Fn. 1).
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Denn es erscheint bedenklich, wenn Sportler und ihr Umfeld für Handlungen strafrechtlich verfolgt werden, die ansonsten allgemein geduldet sind. Tatsächlich sind vielfältige Methoden zur künstlichen Leistungssteigerung, insbesondere die Einnahme von Medikamenten und (legalen) Drogen, in vielen Lebensbereichen üblich, ohne unter Strafe gestellt zu sein. Man denke nur an die Bereiche Kunst, Kultur, Akrobatik usw.; aber auch Wissenschaftler, Mediziner, Manager, Richter oder andere versuchen offensichtlich, sich durch künstliche Mittel Vorteile im harten täglichen Konkurrenzkampf zu verschaffen. Rechtlich beachtliche Unterschiede zu Berufssportlern sind insoweit kaum zu erkennen. Es erscheint gleichermaßen bedenklich, wenn ein Sportler einerseits oder ein Artist, Schauspieler, Geigenvirtuose, Jurist, Arzt oder Professor andererseits, jedenfalls jemand, der täglich im Beruf Höchstleistungen vollbringen will und sich dabei auch Wettbewerbsvorteile erhofft, ein Mittel zur künstlichen Leistungssteigerung zu sich nimmt. Die vorgeschlagene Ungleichbehandlung wird nur schwer mit dem gesteigerten öffentlichen Interesse an dem publikumswirksamen Sport oder dem verbreiteten Streben zu rechtfertigen sein, das Sportethos oder das erhebliche wirtschaftliche Interesse an einem fairen Sport zu wahren. Solche Interessen gelten ebenso Künstlern, Mitgliedern des Showbusiness, Wissenschaftlern, Ärzten u.s.w. Eine besondere Rechtfertigung, ein Sonderrecht für Sportler zu schaffen, ist jedenfalls nicht ersichtlich. 3. Bestimmtheitserfordernis Gemäß Art. 103 Abs. 2 GG muss ein Straftatbestand aus Gründen der Rechtssicherheit und zum Schutz der Freiheitsrechte der Betroffenen normativ hinreichend bestimmt sein. Nur der Gesetzgeber darf nämlich abstraktgenerell über die Strafbarkeit eines Tuns oder Unterlassen entscheiden14. Er muss also die Voraussetzungen der Strafbestimmung so genau umschreiben, dass der Anwendungsbereich für den Normadressaten schon aus dem Gesetz zu entnehmen ist oder sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lässt. Die Legislative darf nicht anderen Gewalten oder sogar privaten Dritten die Entscheidung überlassen, welche Handlungen bestraft werden. Nach diesem Grundsatz muss der Gesetzgeber selbst den Kreis der unzulässigen Hilfsmittel definieren. Er kann insoweit nicht auf die Doping-Liste der Sportverbände verweisen. Da diese Liste aber ständig den neuesten Erkenntnissen angepasst und aktualisiert werden muss, müsste der Staat stets „hinterherlaufen“ und das Strafgesetz anpassen15. Äußerst misslich wäre es im Übrigen, wenn ertappte Sportler, die von den Verbandsgerichten bestraft wurden, wegen veralteter Listen vor den staatlichen Gerichten freigesprochen werden müssten.
__________ 14 Vgl. BVerfGE 105, 135 (152 f.); BVerfGE 95, 96 (131); 75, 329 (341). 15 § 6a Abs. 2 AMG verweist auf eine Liste von 1994.
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Ein weiteres Problem im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG stellen die Stoffe dar, die im Körper ohnehin vorhanden sind und die deshalb erst nach Überschreiten eines Grenzwertes als Doping im Sinne der Sportbestimmungen angesehen werden. Beispiele sind Nandrolon, Testosteron oder Epo16. Sehr problematisch wäre eine Regelung für Substanzen, die konsumiert werden dürfen, wie Koffein, bei denen aber Grenzwerte einzuhalten sind, oder für Stoffe, die durch Passivrauchen in den Körper gelangen können, wie bei Haschisch und Marihuana (THC). Schwierig zu lösen wäre auch die Frage der Medikamente, die aus therapeutischen Gründen ärztlich verordnet worden sind oder werden sollen und die nicht als Doping-Verstoß gelten, sofern sie vor dem Start deklariert werden17. Wie sollen diese Tatbestände bestimmt genug umschrieben werden? Jedenfalls würden die Ermittlungen bei solchen Sachverhalten häufig eingestellt oder die Gerichte müssten nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ in Grenzbereichen freisprechen, während – wie noch ausgeführt wird – die insoweit strikteren Sportgerichte bestrafen würden. Soweit bereits der Besitz derartiger Stoffe unter Strafe gestellt werden sollte, könnte ohnehin nicht auf deren Vorhandensein oder die Überschreitung festgelegter Grenzwerte im Urin abgestellt werden. Die Substanzen müssten in besonderen Listen für den unerlaubten Besitz erfasst werden. Problematisch sind dann aber Stoffe, die in bestimmten Mengen oder – wie manche Medikamente – unter besonderen Umständen und bei Einhaltung der Förmlichkeiten erlaubt sind. Ihr Besitz wäre einmal strafbar und einmal nicht. Sollen dann das Asthmamittel in der Hausapotheke oder der zu große Vorrat an Cola-Kästen unter Strafe stehen? Wie soll das Gesetz derartige Sachverhalte umschreiben? Und welche neuen Ausreden werden hier den Schuldnachweis erschweren? Schließlich ist im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG auch problematisch, wie die Rechtsnormadressaten abgegrenzt werden sollen. Sollen nur Berufssportler oder alle Leistungssportler erfasst werden; und wie steht es um die, die auf dem Wege sind, Sport zu ihrem Beruf zu machen? Und noch viel schwieriger: Wie soll deren Umfeld definiert werden? 4. Ermessen a) Pflicht des Staates? Nach allgemeiner Auffassung besteht keine Pflicht des Staates, Doping-Handlungen von Sportlern mit seiner schärfsten Waffe, dem Strafrecht, zu bekämpfen oder den Tatbestand des § 6a AMG auf den Besitz von unerlaubten
__________ 16 Vgl. Schänzer, Dopinganalytik und Grenzwertproblematik, in Röhricht/Vieweg
(Fn. 1), S. 17 (21 ff.). 17 Vgl. Schänzer (Fn. 16), S. 18 ff.
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Mitteln auszudehnen18. Der Staat hat aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG keine Pflicht, das Ansehen oder die Menschenwürde der Sportler vor Eigengefährdungen zu schützen. Denn sie selbst haben schon keine „Menschenwürdepflicht“. Der Staat ist nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch nicht verpflichtet, Athleten mit Hilfe des Strafrechts vor selbstverursachten Gesundheitsgefahren zu bewahren. Das gilt jedenfalls für erwachsene und voll zurechnungsfähige Sportler19. Die Herstellung fairer Bedingungen im wirtschaftlichen Wettbewerb und die Wahrung des Sportethos, das die Sportverbände im Rahmen der ihnen durch Art. 9 Abs. 1 GG verliehenen Vereinigungsfreiheit zur bindenden Regel erhoben haben, zwingen den Staat ebenfalls nicht zum fürsorglichen Einschreiten mit den Mitteln des Strafrechts. Das alles ist weitgehend unbestritten20. b) Recht zur Bestrafung Auch wenn keine Pflicht des Staates zum Erlass weiterer Strafbestimmungen besteht, könnte er die Befugnis hierzu haben. Der Staat darf grundsätzlich entscheiden, ob er tätig wird und ggf. welche Mittel er hierzu einsetzt. Ungeachtet der oben angesprochenen fraglichen Kompetenz für weitere Straftatbestände im Rahmen des Arzneimittelrechtes und der Bedenken aus Art. 3 und 103 Abs. 2 GG wäre die Einführung der vorgeschlagenen Strafvorschriften aber nur zulässig, wenn dies sachgemäßer Ermessensausübung entspräche. Das wäre der Fall, wenn die Maßnahme verhältnismäßig, d. h. zur Erreichung des legitimen Zieles – Herstellung des sauberen Sports – erforderlich, geeignet und angemessen wäre. Erforderlich ist eine Norm, wenn nicht andere gleich wirksame, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkende Mittel zur Erreichung des angestrebten Zweckes zur Verfügung stehen. Geeignet ist sie, wenn mit ihrer Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann. Angemessen wäre die Norm, wenn sie nicht unverhältnismäßig wäre, wenn sie nicht gegen das Untermaß- oder Übermaßverbot verstieße21. Hierbei steht dem Normgeber ein Beurteilungsspielraum zu, der nur begrenzt überprüfbar ist22. Ein eingehender Blick auf die Realität des Anti-Doping-Kampfes spricht aber dafür, dass der Gesetzgeber hier sein Handlungsermessen verletzen würde.
__________ 18 Steiner (Fn. 1); Vieweg, SpuRt 2004, 194 ff.; Nolte (Fn. 10); Bach (Fn. 1); Schily (Fn. 1). 19 Steiner, NJW 1991, 2729 (2733 ff.) m. w. N. 20 Steiner (Fn. 1); Fritzweiler in Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishdb. Sportrecht,
1998, 1. Teil Rz. 10; Summerer, ebda., 2. Teil Rz. 213; Tettinger in Vieweg (Hrsg.), Doping – Realität und Recht, 1998, S. 89 (99); Turner, ZRP 1992, 121 f.; Nolte (Fn. 10); Ansätze lege lata aber für einen strafbewehrten Wettbewerbsschutz im Sport bei: Fritzweiler, SpuRt 1998, 234 und Cherkeh/Momsen, NJW 2001, 1745 (1750 ff.). 21 Nolte (Fn. 10). 22 Vgl. BVerfGE 90, 145 (172 f.); 96, 10 (23) m. w. N.
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Denn es muss stark bezweifelt werden, dass die erprobten und immer mehr geschärften Waffen der Verbände im Kampf gegen Doping denen des Staates tatsächlich unterlegen sind und Staatsanwälte diesen Kampf auch nur wesentlich unterstützen könnten. Erforderlichkeit, Geeignetheit und Angemessenheit der vorgeschlagenen Strafgesetze sind sehr fraglich. aa) Bestehende Strafbarkeitslücke? Der in der Öffentlichkeit gelegentlich bestehende Eindruck, das Umfeld der Sportler könne ungestraft an Doping-Handlungen teilnehmen, trifft auch nach derzeitiger Rechtslage nicht zu. Wenn Trainer, Ärzte oder andere Personen Sportlern Doping-Mittel verschaffen oder verabreichen, etwa durch Injektionen, Infusionen oder oral, ist dies bereits jetzt in den meisten Fällen strafbar. Insoweit sind keine neuen Straftatbestände erforderlich. Betrug i. S. v. § 263 StGB liegt zwar generell nicht vor23. Da es sich bei Doping – jedenfalls auf längere Sicht – oft um eine körperschädigende Maßnahme handelt, macht sich aber derjenige, der Sportler dopt, ggf. einer Körperverletzung, unter Umständen mit Todesfolge, schuldig, §§ 223, 224, 226, 227 StGB. Wenn der Täter heimlich handelt, steht dieses Ergebnis außer Frage. Aber auch wenn das Opfer – der Sportler – einwilligt, dürfte eine Straftat vorliegen. Bei jugendlichen Opfern ist dies unbestritten, soweit ihnen die Einwilligungsfähigkeit fehlt. Aus diesem Grund wurden nach der Wiedervereinigung zahlreiche Verantwortliche wegen des planmäßigen Dopens von minderjährigen Sportlern in der DDR verurteilt. Das Ergebnis dürfte nicht anders sein, wenn der einwilligende Sportler volljährig ist. Es wird zwar die Meinung vertreten, eine derartige Einwilligung sei generell wirksam24. Mit guten Gründen lässt sich jedoch vertreten, dass sie gemäß § 228 StGB unbeachtlich ist, weil die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt25. Das ist stets der Fall, wenn durch das Doping vorhersehbar der Tod oder eine schwerwiegende Gesundheitsschädigung verursacht wird26. Schwere Schäden treten bei systematischem Doping
__________ 23 Vgl. Dury, Haftung des Trainers, in Dury (Hrsg.), Der Trainer und das Recht, 1997,
S. 9 (23) m. w. N.; gegenüber dem Sponsor kann aber Betrug vorliegen, s. Cherkeh/ Momsen, NJW 2001, 1748 f. 24 Schild (Fn. 1), S. 24; Kohlhaas, NJW 1970, 1959 f.; Ahlers, Doping und strafrechtliche Verantwortlichkeit, 1994, S. 169 ff. 25 Schwab, Zivilrechtliche Haftung beim Doping, in Schild (Fn. 1), S. 35 (38); Dury (Fn. 23), S. 21 ff.; a. A. Schild (Fn. 1), S. 24; Stree in Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, § 228 Rz. 18 m. w. N. 26 Stree (Fn. 25) a. a. O.; Steiner in Pfister/Steiner (Hrsg.), Sportrecht von A-Z, 1995, S. 49; Otto, SpuRt 1994, 15; Linck, NJW 1987, 2545 (2551).
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im Hinblick auf die negativen Langzeitwirkungen vieler Mittel27 häufig ein. Aber auch in Fällen, in denen die Doping-Gabe nur zu leichten Körperschäden führt, kann die Einwilligung wegen des verwerflichen Zweckes der Tat, aufgrund ihres ethisch-sozialen Unwertes, als unbeachtlich angesehen werden28. Doping wird – zumindest im Leistungssport – nach dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ als betrügerisches Verhalten bewertet; es wird weltweit scharf missbilligt und generell als Manipulation abgelehnt29. Es handelt sich eben nicht nur um eine private Angelegenheit, wie z. B. eine Selbstschädigung durch Zigaretten und Alkohol. Das ist allgemeine Überzeugung und die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass die Sportwettkämpfe fair und unter Wahrung der Chancengleichheit durchgeführt werden müssen, so wie es die Regeln gebieten. Durch Doping werden aber Gegner, Zuschauer und die sportinteressierte Öffentlichkeit hinters Licht geführt und überdies werden erhebliche wirtschaftliche Schäden hervorgerufen, nicht nur durch Krankheitskosten, sondern auch durch entgangene Preis- und Sponsorengelder30, durch den Einbruch des Marktwertes eines skandalbehafteten Wettbewerbs oder durch den Verlust öffentlicher Zuschüsse. Bei Doping durch Betäubungsmittel kommen überdies Straftaten gemäß §§ 29 ff. BtmG in Betracht. Darüber hinaus stellt die Änderung des Arzneimittelgesetzes v. 7.9.1998 in §§ 6a, 95 AMG Mitwirkungshandlungen an Doping im Umfeld der Sportler unter Strafe – abgesehen von den oben dargestellten Körperverletzungsdelikten. Es ist danach verboten, Arzneimittel zu Doping-Zwecken im Sport in Verkehr zu bringen, zu verschreiben oder bei anderen anzuwenden. Die Strafandrohung reicht gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG von Geldstrafe bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe, nach Abs. 3 in besonders schweren Fällen von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Für die Praktiker nicht überraschend handelt es sich dabei aber ganz überwiegend um „totes Recht“. In einem Bericht zu § 6a AMG vom Januar 200331 hat das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung die Ergebnisse einer Länderumfrage über Vollzugserfahrungen mit diesem neuen Tatbestand bekannt gegeben. Der Erfahrungsbericht zeigt, dass § 6a AMG nur äußerst geringe Praxisrelevanz besitzt. In vier Jahren wurden lediglich 14 Ermittlungsverfahren gegen Ärzte aufgrund dieser Vorschrift geführt; über
__________ 27 Schild (Fn. 1), S. 23 f.; Schwab (Fn. 25), S. 36. 28 Schwab (Fn. 25), S. 38; Turner, MDR 1991, 569 (573 f.); Linck, NJW 1987, 2550 f.;
Friedrich, SpuRt 1995, 9; Derleder/Deppe, JZ 1992, 116 (117); Dury (Fn. 23), S. 21 f.; anders die jetzt herrschende Rechtsprechung., die grundsätzlich nicht auf den Zweck der Körperverletzung abstellt, vgl. BGH, NJW 2004, 2458 (2459) m. w. N. 29 Vgl. Tettinger, Fairneß als Rechtsbegriff im deutschen Recht, in Scheffen (Hrsg.), Sport, Recht und Ethik, 1998, S. 33 ff.; Karlsruher Erklärung zum Fair Play des Konstanzer Arbeitskreises für Sportrecht e.V., SpuRt 1998, 261 f. 30 Dury (Fn. 23) m. w. N.; vgl. auch Haas/Prokop, SpuRt 1997, 56 (58 f.). 31 S. Fn. 12.
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eine nicht rechtskräftige Verurteilung eines Arztes wurde berichtet. Im Übrigen handelte es sich um Verfahren gegen Personen aus der Bodybuilding-Szene, die ebenfalls zumeist wegen unzureichender Beweislage eingestellt werden mussten. In der Pfalz wurden allerdings drei Angeklagte aus diesem Milieu zu Freiheitsstrafen auf Bewährung bis zu einem Jahr und neun Monaten verurteilt; sie hatten gemeinschaftlich handelnd 15450 Pillen mit anabolen Stereoiden aus Rumänien eingeschmuggelt. Die Umfrage belegt, dass sich die Ermittlungen im Bereich des § 6a AMG wegen der besonderen Verschwiegenheit der Anwender regelmäßig sehr schwierig gestalten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der bisher schon bestehende strafrechtliche Schutz gegen Doping-Missbrauch nicht am Fehlen strengerer oder zusätzlicher Strafvorschriften leidet. Sie werden nicht vermisst. Die äußerst geringe Zahl von Verurteilungen liegt vielmehr an dem hier bestehenden Schweigekartell. Entweder werden die Substanzen heimlich beigebracht oder die Beteiligten handeln einvernehmlich. Das ist nur schwer aufzuklären. Und es liegt auf der Hand, dass dieselben Hindernisse auch bei den vorgeschlagenen neuen Straftatbeständen zu beklagen wären. Deshalb ist auch ihre Eignung zur Erreichung des erstrebten Zweckes stark zu bezweifeln. bb) Defizite der verbandseigenen Doping-Verfolgung? Soweit Athleten durch die von den Sportverbänden durchgeführten Kontrollen des Dopings überführt werden, scheinen zusätzliche Straftatbestände neben den verbandsrechtlichen Sanktionen nicht hilfreich und deshalb auch nicht erforderlich zu sein. Die auf dem Welt-Anti-Doping-Code (WADC)32 der WADA oder ähnlichen Regelwerken der Verbände basierenden Kontrollen sind ebenso wie die sportrechtlichen Verfahren nach positiven DopingBefunden sehr effektiv, schnell und infolge der äußerst günstigen Beweisregeln erheblich wirksamer als das staatliche Strafrecht. Überdies treffen die verhängten Sanktionen und Strafen die manipulierenden Athleten erheblich härter als es das staatliche Strafrecht vermag. (1) Ermittlungsverfahren (a) Nach dem Anti-Doping-Recht der Verbände bedarf es keines Tatverdachtes, keiner Entdeckung und keiner Anzeige eines Dritten, um Ermittlungen durchzuführen. Doping wird vielmehr schon vorbeugend von Amts wegen auf der Grundlage des immer engmaschiger werdenden, weltweit eingerichteten Kontrollsystems bekämpft. Das ist nur möglich, weil sich die Athleten in zivilrechtlich zulässiger Weise, etwa durch Unterzeichnen der Athletenvereinbarungen oder mit ihrem Antrag auf Erteilung eines Startpasses, dem
__________ 32 Stand 1.1.2004.
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Anti-Doping-Code und damit allen Kontrollmaßnahmen in und außerhalb der Sportstätten in der ganzen Welt unterwerfen33. Die Kontrollen sind sehr effektiv, weil das gesamte Verfahren standardisiert ist. Mit Hilfe von akkreditierten Instituten lassen sich verlässliche Befunde schnell erheben, auch unabhängig von Wettkämpfen durch sogenannte Trainingskontrollen. Ein Athlet verstößt gegen die Doping-Bestimmungen sogar dann, wenn er die notwendigen Informationen zu seiner jederzeitigen Erreichbarkeit nicht gibt, um Kontrollen durchführen zu können (Art. 2.4 WADC), oder wenn er ohne zwingenden Grund sich weigert oder es unterlässt, sich einer Probenahme zu unterziehen (Art. 2.3 WADC). Dieses aufwändige System zeigt auch ganz erhebliche Erfolge: Die Zahl der positiven Proben gerade vor und bei den Olympischen Spielen in Griechenland beweist eindrücklich seine Wirksamkeit, nicht wie oft suggeriert wird, die Unzulänglichkeit des Anti-Doping-Kampfes. Durch diesen Kontrolldruck werden – worauf es entscheidend ankommt – in Zukunft gewiss auch viele potentielle Täter abgeschreckt. (b) All dies könnten die staatlichen Ermittlungsbehörden angesichts der notorischen Überlastung der Justiz und der Polizei keinesfalls leisten, selbst wenn die nötigen Spezialkenntnisse vorhanden wären – etwa bei einzurichtenden Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Jedenfalls drohten derartige Sportdelikte angesichts der großen Zahl schwerer und umfangreicher Kapitalverbrechen oder Ermittlungen gegen organisierte Banden in der täglichen Arbeit leicht in die Bedeutungslosigkeit zu geraten. Das staatliche Ermittlungsverfahren ist dem Kontrollverfahren des Sports auch objektiv weit unterlegen. Ein Ermittlungsverfahren, das grundsätzlich einen erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Verdächtigen darstellt, kommt nach §§ 152 Abs. 2, 160 StPO nur in Gang, wenn die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält. Die Strafverfolgungsbehörden werden also nicht schon tätig, wenn z. B. ein Athlet eine für ihn überraschende Höchstleistung zeigt, wenn ein Konkurrent unsubstantiierte Vorwürfe erhebt, etwa der Sieger könne ihn nur mit Hilfe unerlaubter Mittel geschlagen haben, oder wenn ein Kollege aus demselben Team durch den Gebrauch von Doping aufgefallen ist. Ob eine positive Doping-Probe – angeordnet von den Sportverbänden – ausreicht, um den Athleten anzuklagen, ist sehr zweifelhaft. Denn er hat durch sein aktives Mitwirken bei der Probenahme – wozu er vertraglich verpflichtet war – seine Entlarvung erst ermöglicht. Das entwertet aber die gewonne-
__________ 33 Vgl. BGH, NJW 1995, 583 ff.; OLG Dresden, SpuRt 2004, 74 (76); Urteil des Sport-
schiedsgerichts des DSB v. 12.8.2003, SpuRt 2004, 35 (36) = SchiedsVZ 2004, 219; allg: Pfister, JZ 1995, 464 ff.; Haas/Adolphsen, NJW 1995, 2146 ff.
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nen Befunde wegen des verfassungsrechtlichen Verbots des Zwanges zur Selbstbelastung34. Es müssten deshalb weitere konkrete Beschuldigungen durch Zeugen oder zufällige Beobachtungen der Strafverfolgungsbehörden hinzukommen. Zufallsfunde der Polizei oder Hinweise von Mitwissern werden aber die ganz seltene Ausnahme bleiben. Telefonüberwachung oder Kronzeugenregelung dürften bei diesen Delikten wohl als unverhältnismäßig nicht in das Gesetz aufgenommen werden. (c) Auch das Argument, derjenige, bei dem eine größere Menge unerlaubter Substanzen im Gepäck gefunden werde, könne sich derzeit auf Eigengebrauch und damit auf Straflosigkeit berufen, berührt nur einen äußerst seltenen Ausnahmefall. Solche Zufallsfunde kommen in der Praxis kaum vor. Auch im Trainingscamp könnten weder der Staat noch der Verband ohne konkreten Verdacht „Spindkontrollen“ wie im Gefängnis oder beim Militär durchführen. Gegenteilige Vorstellungen35 überraschen. Im Übrigen können die Verbände, falls sie verdächtige Beobachtungen machen, schon jetzt darauf hinwirken, dass Athleten bzw. die Schützlinge aufgefallener Betreuer ganz gezielt mit Doping-Kontrollen überzogen werden. Und im Bereich der §§ 6a, 95 AMG oder der Körperverletzungsdelikte besteht – wie der Fall Springstein vom September 2004 zeigt36 – auch derzeit die Möglichkeit der Durchsuchung (§§ 102 ff. StPO) oder der Beschlagnahme von Beweismitteln (§§ 94 ff. StPO). Nötig ist aber ein konkreter Verdacht, an dem es allerdings häufig mangelt. (d) Weitere offene Fragen stellen sich bei Auslandstaten. Ob und wie ggf. die §§ 5 ff. StGB geändert werden müssten, lässt sich noch nicht überblicken. Insgesamt sind im Blick auf die Ermittlungen keine gewichtigen Vorteile zu erkennen, wenn der Staat weitere Straftatbestände zur Verfügung stellte. (2) Hauptverfahren (a) Ein gerichtliches Verfahren kann erst nach abgeschlossenen Ermittlungen, Erhebung der Anklage und ihrer Zulassung durch das Gericht, also in der Regel erst nach Monaten, durchgeführt werden, selbst wenn – wie gefordert – speziell geschulte Schwerpunktstaatsanwaltschaften existierten. Ein Doping-Strafverfahren wird kaum mit besonderer Beschleunigung bearbeitet werden. Es wäre bei den äußerst stark belasteten Gerichten auch nur ein Verfahren unter vielen anderen, die zumindest ebenso bedeutsam sind. Allenfalls könnte in einfach gelagerten Fällen, wenn ausnahmsweise ein
__________ 34 Vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene, für die Europäische Kommission erstell-
te Studie Vieweg/Siekmann, Legal Comparison and the Harmonisation of Doping Rules, zit. nach Vieweg, SpuRt 2004, S. 194 (195 Fn. 18). 35 Vgl. Haas (Fn. 3); Digel (Fn. 8). 36 S. FAZ v. 30.9.2004, S. 31.
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Geständnis vorliegt, ein beschleunigtes Verfahren nach §§ 417 ff. StPO zu einem relativ schnellen Ergebnis führen37. Resümee: Da Verfahren bei der hoch belasteten Strafrechtspflege, auch wegen der den Angeklagten zu gewährenden Rechtsgarantien, eine erhebliche Zeit dauern, fehlt hier die äußerst wichtige Möglichkeit der schnellen Sanktion, wie sie die Sportverbände besitzen. (b) Ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen Straf- und verbandsgerichtlichen Verfahren besteht darin, dass das Strafverfahren von dem Grundsatz „in dubio pro reo“ beherrscht wird38, der vor den Verbandsgerichten nicht gilt39. Denn hier handelt es sich nicht um die Anwendung von Straf-, sondern von Zivilrecht40. Das hat für die Verbände den Vorteil, dass günstigere Beweislastgrundsätze gelten und zwischen Athleten und Verbänden überdies Anti-Doping-Vereinbarungen getroffen werden können, die sich nicht nur auf das gesamte Kontroll- und Sanktionsverfahren beziehen, sondern auch die dort anzuwendenden Beweisgrundsätze präzisieren. Der Welt-Anti-Doping-Code ist beherrscht von dem eingeschränkten Grundsatz der „strict liability“. Jeder Athlet haftet für die in seinem Körper entdeckten unerlaubten Stoffe. Bei einem positiven Befund wird er deshalb von der Wettkampfveranstaltung disqualifiziert mit allen daraus entstehenden Konsequenzen wie Aberkennung von Punkten, Preisen etc., Art. 9, 10 und 11 WADC. Er kann die Sanktionen und vor allem die Verhängung einer Sperre für die Zukunft nach Art. 10.1, 10. 5 WADC nur ganz ausnahmsweise durch den Nachweis fehlenden Verschuldens verhindern. Nach deutschem Verfassungsverständnis gilt dagegen auch bei Verbandsstrafen das Verschuldensprinzip41. Der Athlet kann aber in Bezug auf eine Sperre den an einen positiven Dopingbefund anknüpfenden Anscheinsbeweis für eigenes Verschulden erschüttern42 oder – so die Mindermeinung43 – die Vermutung für ein Verschulden widerlegen. Zweifel müssen also stets zu Lasten der Athle-
__________ 37 Vgl. zur Praxis des Beschleunigten Verfahrens: Dury, DRiZ 2001, 207 ff.; kritisch
38 39 40
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Müller, Beschleunigtes Verfahren, in Jung/Luxenburger (Hrsg.), Beiträge zum Strafprozessrecht (1969–2001), 2003, S. 203 ff. Vgl. BVerfGE 39, 47. Vgl. Rössner, Die Verbandsstrafe im Sport. Strafverfahrensrechtliche Prinzipien im Zivilrecht?, in FS Meyer-Gossner, 2001, S. 741 (749 f.). Steiner (Fn. 1), S. 131; Haas/Adolphsen, NJW 1969, 2351 ff.; Röhricht, Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfahren nach deutschem Recht, in Röhricht (Hrsg.), Sportgerichtsbarkeit 1997, S. 19 (26 ff.); Urteil des Sportschiedsgerichts des DSB, SpuRt 2004, 35 (36); OLG Dresden, SpuRt 2004, 74 (76); OLG Frankfurt, NJW-RR 2000, 1117 ff.; differenzierend: Rössner (Fn. 39), S. 745 ff. m. w. N. Erklärung des Vorstands und Beirats des Konstanzer Arbeitskreises für Sportrecht e.V. v. 1999, in Röhricht/Vieweg (Fn. 1), S. 155 f.; Steiner (Fn. 1), S. 133. OLG Frankfurt, NJW-RR 2000, 1120; Walker, Beweisrechtliche und arbeitsrechtliche Probleme des Dopings, in Vieweg (Fn. 20), S. 135 (143 ff.); Adolphsen, SpuRt 2000, 97; Diskussionsbeitrag Röhricht in Röhricht/Vieweg (Fn. 1), S. 149 f. Steiner (Fn. 1), S. 134.
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ten gehen, weil sie am ehesten fähig sind, Auskunft über ihren Körper zu geben44. (c) Die Vereinbarung der Anti-Doping-Bestimmungen enthält darüber hinaus den Ausschluss gewisser Beweismittel. Grundsätzlich ist der Athlet nach einer regelgerecht durchgeführten Doping-Kontrolle und ordnungsgemäßer Behandlung und Untersuchung seiner Proben an das Ergebnis der A- und BProbe gebunden. Eine C- oder D-Probe etc. kann er demnach grundsätzlich nicht verlangen45. Ebenso wenig kann er nach Auffassung eines unter dem Vorsitz des Verfassers gebildeten Schiedsgericht des DSB z. B. gegenbeweislich die Einholung eines DNA-Gutachtens fordern zum Beweis dafür, dass es sich bei den untersuchten Proben nicht um seine handelt, jedenfalls wenn er nicht substantiiert darlegen kann, wo in dem standardisierten Kontrollverfahren ein Fehler passiert sein kann46. Die Berufung auf unwahrscheinliche Zufälle oder Manipulation durch unbekannte Dritte muss nach diesen Verfahrensgrundsätzen in aller Regel erfolglos bleiben. Der hohe Standard der Kontrollverfahren rechtfertigt diese Strenge im Beweisverfahren. Diese zivilrechtlichen Verfahrensgrundsätze ermöglichen also eine äußerst effektive und schnelle Verfolgung von Verdächtigen. Die ihnen auferlegte Entlastung47 gelingt in der Praxis sehr selten. Vor den Strafgerichten wäre dies häufig anders, was zu Freisprüchen der Angeklagten führen müsste. (d) Hinzu kommt, dass die Entscheidungen der Verbandsgerichte nur mit der Berufung vor dem CAS, dem spezialisierten internationalen Sport-Schiedsgericht in Lausanne, angefochten werden können. Dessen Entscheidungen genießen weltweite Anerkennung und dienen der Rechtsfortbildung und -vereinheitlichung. Gegen Urteile der Amtsgerichte wären dagegen Berufung und Revision zu nicht spezialisierten Gerichten möglich, wodurch eine einheitliche Spruchpraxis wesentlich erschwert und der Verfahrensabschluss deutlich verzögert wird (3) Strafen (a) Ein weiterer wesentlicher Unterschied liegt in den möglichen Strafen. Ein Vergleich zu § 95 AMG und den Körperverletzungstatbeständen des StGB, an denen sich Doping-Straftatbestände orientieren müssten, zeigt, dass in der Praxis eine höhere Freiheitsstrafe nur unter ganz außergewöhnlich schwerwiegenden Gründen verhängt werden könnte. Die ersten Erfahrungen mit §§ 6a, 95 AMG bestätigen dies. Bei einem Ersttäter käme in aller Regel nur eine Geldstrafe in Betracht, wenn das Verfahren nicht sogar gegen Zah-
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44 Vgl allg.: Krähe, Beweislastprobleme bei Doping im internationalen Sport am Bei-
spiel des Olympic Movement Anti-Doping-Codes, in Fritzweiler (Hrsg.), Doping – Sanktionen, Beweise, Ansprüche, 2000, S. 39 ff. 45 OLG Dresden, SpuRt 2004, 74 (75). 46 Sportschiedsgericht des DSB, SpuRt 2004, 35 (37) = SchiedsVZ 2004, 219 (220). 47 Das Verfahren ist verfassungsrechtlich unbedenklich, vgl. Steiner (Fn. 1), S. 136.
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lung einer Geldbuße gemäß § 153a StPO eingestellt würde. Nur ausnahmsweise könnte eine Haftstrafe verhängt werden, dann allerdings in der Regel eine Bewährungsstrafe. Ganz anders die Strafandrohungen nach Art. 10 WADC: Ein Doping-Verstoß führt nach Wettkampfkontrollen zur Annullierung der Wettkampfergebnisse mit allen Folgen (Art. 9, 10.1 WADC). Doping-Sünder werden von der Veranstaltung ausgeschlossen und gesperrt (Art. 10 WADC). Bei großen Meisterschaften oder Olympischen Spielen stehen hierzu spezielle Organe bereit, die innerhalb von Stunden entscheiden können. Überführte Täter werden durch derartige prompte Sanktionen und die öffentliche Resonanz äußerst empfindlich getroffen48. Gegen einen Ersttäter wird grundsätzlich ein Wettkampfverbot von zwei Jahren verhängt, ein Wiederholungstäter wird lebenslang gesperrt. Das hat schon für den Ersttäter eine schwere Einbuße, für viele sogar das Ende ihrer Sportler-Karriere zur Folge. Für Berufssportler bedeutet dies in jedem Fall einen schweren Eingriff in ihre Berufsfreiheit. Der Verlust von Werbe- und Sponsorengeldern, von öffentlichen Zuschüssen für Kaderathleten, von Start- und Preisgeldern stellt für viele eine weit höhere Strafe dar, als die, die ein staatliches Gericht aussprechen könnte. Zumal eine Bestrafung durch das Sportgericht umgehend erfolgt und regelmäßig weit über die Zeit der Sperre hinaus wirkt: Denn der Athlet wird durch den Ansehensverlust auch in seinem Marktwert für die Folgezeit massiv geschädigt49. Die Praxis zeigt, wie solche Athleten, die bis dahin hoch bezahlte Super-Stars waren, sozial geächtet werden und in die Bedeutungslosigkeit, manchmal auch in soziale Not fallen. Allein die Furcht vor diesem Absturz muss einen größeren Abschreckungseffekt haben als jedes staatliche Strafverfahren mit ungewissem Ausgang. Um wie viel härter diese Verbandsstrafen sind als die der Gerichte, zeigt im Übrigen ein Blick auf die Rechtsprechung zu Berufsverboten nach § 70 StGB und die zur Amtsenthebung, z. B. bei Notaren oder Rechtsanwälten. (b) Wäre der ertappte Sportler zusätzlich noch nach dem StGB strafbar50, müsste diese Strafe gegenüber den schweren Sanktionen der Verbandes in aller Regel relativ gering erscheinen, zumal bei der Strafzumessung gemäß § 46 Abs. 2 StGB deren negativen Folgen angemessen berücksichtigt werden müssten.
__________ 48 Vgl. das Verfahren des Sportschiedsgerichts beim DSB, SpuRt 2004, 35 ff.: Doping-
probe in Südafrika am 24.1.2003, umgehende Suspendierung der Athletin durch die Verbandsorgane, Klage vom 6.6.2003, mündliche Verhandlung und Spruch des Ad-hoc-Schiedsgerichts am 12.8.2003(!), Berufungsentscheidung des CAS am 6.2.2004. Allg zu der Schiedsgerichtsbarkeit des DLV: Haug, SchiedsVZ 2004, 190 ff. 49 Vgl. Kreißig, Doping aus Athletensicht, in Röhricht/Vieweg (Fn. 1), S. 87 (91). 50 Die absolute Zahl der positiven Dopingproben in der BRD ist so gering, dass diese Frage – unabhängig vom fraglichen Verschuldensnachweis – ohnehin vernachlässigt werden könnte.
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Häufig müssten die Strafgerichte die Angeklagten wegen der – wie oben ausgeführt – für diese erheblich günstigeren Beweisgrundsätze jedoch freisprechen. Das wäre für das Ansehen des Sports allgemein und für die Sportgerichtsbarkeit im Besonderen äußerst negativ. Doping-Sünder würden in den Augen der uninformierten Öffentlichkeit durch staatliche Gerichte weißgewaschen. Nebenbei wäre dieses Ergebnis auch für das Ansehen der Justiz in der Öffentlichkeit sehr negativ. Wer eine zusätzliche Bestrafung des Athleten durch den Staat fordert, kann diese Negativwirkungen nicht bedacht haben und auch nicht den verheerenden Eindruck, der angesichts solch unterschiedlicher Entscheidungen bei Beobachtern in aller Welt entstehen müsste. Wer dies fordert, erweist somit dem Kampf gegen Doping in Deutschland einen Bärendienst. (4) Vollstreckung Auch hinsichtlich der Vollstreckung, also der praktischen Umsetzung der ausgesprochenen Strafen, hat die Verbandsgerichtsbarkeit einen deutlichen Vorteil gegenüber dem Staat. Die Sanktionen treten mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ohne weiteres in Kraft, und zwar mit weltweiter Anerkennung. Einer zusätzlichen, oft langwierigen Vollstreckung – wie bei staatlichen Strafen – bedarf es nicht51. Auch hier liegt ein klarer Vorteil der Verbandsgerichtsbarkeit.
C. Ergebnis Die Einführung der geforderten zusätzlichen Strafvorschriften erscheint nicht angebracht. Es bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf Art. 3, 74 Abs. 1 Nr. 19 und 103 Abs. 2 GG. Außerdem würde das gesetzgeberische Ermessen falsch ausgeübt, da derartige Straftatbestände zur Verfolgung des allseits anerkannten Zieles nicht erforderlich, ungeeignet und unangemessen erscheinen. Damit wäre das Übermaßverbot verletzt52. Es sollte deshalb bei dem bewährten Subsidiaritätsprinzip verbleiben. Der Staat verstieße anders auch gegen den liberalen Grundsatz, wonach Strafrecht die ultima ratio im Instrumentarium des Gesetzgebers sein muss53. Straftatbestände sind nur dort gerechtfertigt, wo weniger einschneidende Mittel für einen wirksamen Rechtsgüterschutz nicht ausreichen54. Manche Befürworter eines Anti-Doping-Gesetzes verweisen hinsichtlich des Eigenkonsums der Sportler auf den ähnlich gelagerten Sachverhalt der Strafbarkeit des Drogenmissbrauchs. Eine Parallele besteht indes nur auf den
__________ 51 52 53 54
Ausnahme: Rückgabe der Preise und Medaillen. Vgl. Nolte (Fn. 10). BVerfGE 39, 47. Nolte (Fn. 10).
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ersten Blick. In beiden Fällen geht es zwar um Selbstschädigung. Dopinggebrauch schränkt aber – im Gegensatz zum Drogenmissbrauch – die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit des Sportlers nicht ein (ausgenommen: Kokain, Heroin o. Ä.) und bei den meisten unerlaubten Mitteln besteht auch keine Suchtgefahr. Von einem dopenden Sportler geht deshalb – im Gegensatz zu einem Drogenkonsumenten – im allgemeinen keine öffentliche Gefahr aus. Die Befürworter der neuen Straftatbestände verweisen gerne auf das Vorbild anderer Länder, etwa Frankreich, Belgien und Italien55. Rechtsvergleichende Untersuchungen zeigen aber, dass nur Belgien den dopenden Sportler selbst bestraft, und dies ohne wesentliche Erfolge. Auch zusätzliche Straftatbestände in anderen Ländern konnten den Kampf gegen Doping nicht maßgeblich fördern56. Die in Frankreich sehr rüde durchgeführten Razzien bei der Tour de France 1998 waren eher politische Symbolik, deren rechtstaatliche Durchführung wie auch deren Erfolge in der strafrechtlichen Praxis eher zurückhaltend beurteilt werden. Nebenbei: Von den Folgejahren sind derartige Razzien nicht bekannt, obwohl kritische Stimmen über Doping gerade im Radsport nicht verstummen. Nationale Alleingänge bringen offensichtlich nicht den erhofften Erfolg. Eine wirksame Eindämmung des Dopings – ein Sieg im Doping-Kampf ist leider ebenso illusorisch wie eine Welt ohne sonstige Kriminalität – ist also nicht vom Staatsanwalt zu erwarten. Angesichts der aufgezeigten Realitäten wäre dies eine Illusion. Deshalb besteht kein Anlass, die grundlegenden Prinzipien unserer Rechtsordnung aufzugeben, wonach die bloße Selbstschädigung straflos ist und der Staat es grundsätzlich dem autonomen Sport überlässt, seine Probleme zu lösen. Die Doping-Schlachten sind nur im Sport und durch den Sport zu gewinnen. Notwendig sind mehr und effektivere Kontrollen – vor allem Trainingskontrollen, auch in abgelegenen Regionen –, verstärkte medizinische Forschung und Weiterentwicklung der schon sehr fortschrittlichen Analysemethoden, konsequente Ächtung jeder unlauteren Methode schon bei der Erziehung junger Sportler und vor allem beharrliche internationale Zusammenarbeit – im Sport, aber auch auf dem politischen Parkett. Das alles geschieht bereits57. Diese Bemühungen müssen fortgesetzt und intensiviert werden, zumal neue, äußerst riskante Dopingmethoden drohen, wie z. B. das GenDoping. Es wird gewiss sehr lange dauern, bis der hohe deutsche Standard, der dem von der WADA geforderten weitgehend entspricht, annähernd weltweit praktiziert wird. Insoweit ist Deutschland Weltmeister. Auch die ande-
__________ 55 Vgl. zu den sehr unterschiedlichen Ansätzen: Koch, Straf- und arzneimittelrecht-
liche Probleme des Dopings aus rechtsvergleichender Sicht, in Röhricht/Vieweg (Fn. 1), S. 53 ff. 56 Vgl. Studie Fn. 34. 57 Vgl. Studie Fn. 34 und Sportbericht der BReg., BT-Drucks. 14/1859 v. 26.10.1999.
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ren Nationen sehen aber nach und nach ein oder müssen es einsehen, dass nur ein sauberer Sport auf Dauer bestehen kann, weil nur er attraktiv ist und die notwendigen Vermarktungschancen bietet. Abschließend kann nur empfohlen werden, die bewährte Weisheit des französischen Rechtsphilosophen Montesquieu zu befolgen58: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen!
__________ 58 So auch Schily (Fn. 1). Der Verfasser hat an diesen bewährten Grundsatz schon bei
der sehr umstrittenen ZPO-Novelle erinnert, dort leider vergeblich, s. FAZ v. 3.2.2001, S. 8.
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Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Definition III. Entwicklung des World Anti-Doping Code IV. FIFA Doping Control Regulations V. Vom Doping-Kontroll-Personal zu erfüllende Voraussetzungen VI. Individual Case Management VII. Sportergänzungsnahrung
VIII. Die besondere Verantwortung des Arztes beim Doping IX. Gebrauch und Missbrauch nichtverbotener Substanzen während großer Wettbewerbe 1. Die ethischen und medizinrechtlichen Prinzipien der Schmerztherapie 2. Genetisches Doping
I. Einleitung Der Kampf gegen das Doping ist zu einer zunehmenden Dauerbelastung für nationale und internationale Sportorganisationen und Regierungen geworden. Sportorganisationen wie der Weltfußballverband FIFA haben die grundsätzlichen Ziele der Dopingkontrollen und des konsequenten Kampfes gegen das Doping bereits lange vor der Gründung der World Anti-Doping Agency und der nationalen Anti-Doping-Organisationen festgelegt: –
die Aufrechterhaltung und Sicherstellung der ethischen Prinzipien im Sport,
–
die Sicherstellung der körperlichen Gesundheit und der mentalen Integrität der Athleten,
–
die Sicherstellung gleicher Chancen für alle Athleten.
Diese grundlegenden Ziele wurden bereits 1994 in den FIFA Doping-Kontroll-Regularien festgelegt und regelmäßig adaptiert. Sie sind identisch mit denen des World Anti-Doping Code, wie er 2003 formuliert wurde. Die darin aufgeführten Ziele sind: –
das fundamentale Recht der Athleten zu schützen, an einem dopingfreien Sport teilzunehmen, und die Gesundheit, Fairness und Chancengleichheit für alle Athleten zu gewährleisten,
–
die Harmonisierung, Koordination und Effektivität des Kampfes gegen Doping auf internationaler und nationaler Ebene sicherzustellen, im Hinblick auf die Aufdeckung, die Abschreckung und die Prävention des Dopings. 1115
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II. Definition Doping ist jeder Versuch, entweder durch den Athleten oder durch die Einwirkung anderer Personen wie Manager, Trainer, Ärzte, Physiotherapeuten, Masseure, Betreuer u. a. m., die mentale und/oder physische Leistungsfähigkeit von Athleten unphysiologisch zu steigern, aber auch Krankheiten und Verletzungen zu behandeln, wenn dies medizinisch nicht gerechtfertigt ist, nur aus dem einzigen Grund, dass der Athlet an einem Wettbewerb teilnehmen kann. Dies schließt den Gebrauch (Einnahme oder Injektion), die Verabreichung oder die Verschreibung verbotener Substanzen kurz vor einem Wettbewerb ein. Diese Bedingungen umfassen für die Out-of-CompetitionKontrollen auch die anabolen Steroide und Peptidhormone sowie alle anderen Substanzen mit vergleichbaren Effekten. Andere verbotene Methoden, z. B. Blutdoping oder die Manipulation von Dopingproben, werden ebenfalls als Doping definiert. Doping widerspricht der Ethik im Sport und kann akute und chronische Gesundheitsschäden für die Athleten bedingen, mit möglichen fatalen Konsequenzen1. Die verbotenen Substanzen im Sinne dieser Regelungen werden regelmäßig durch das List Committee der WADA (World Anti-Doping Agency) überprüft, adaptiert und in der Liste der verbotenen Substanzen veröffentlicht2. Sie sind auch im Anhang A der jeweils aktuellen Doping Control Regulations des Weltfußballverbandes FIFA aufgelistet3. Die hier aufgelisteten Substanzen dürfen nicht eingenommen bzw. gebraucht werden, auch nicht bei Verschreibung an den Athleten oder bei medizinischer Indikation, wenn sich der Athlet auf einen Wettbewerb vorbereitet oder an einem Wettbewerb teilnimmt. Die einzige Ausnahme davon betrifft die Verwendung von Lokalanästhetika zur Schmerzbehandlung (mit Ausnahme von Kokain). Kortikosteroide dürfen nur für eine lokale Applikation verwendet werden, z. B. zur Behandlung von Ohren-, Augen- oder Hauterkrankungen, zur Inhalation, z. B. zur Behandlung von Asthma oder allergischer Rhinitis, bzw. auch zur lokalen oder intraartikulären Injektion, wenn die medizinische Indikation eindeutig ist und dies von einer unabhängigen medizinischen Institution geprüft und bestätigt wurde, wobei eine entsprechende Meldung an den Sportverband rechtzeitig vor dem Wettbewerb erfolgen muss. Dafür beinhaltet der World Anti-Doping Code die Regeln für die sog. Therapeutic Use Exemptions (TUE) einschließlich der Formulare für das vollum-
__________ 1 2 3
Berendonk, Doping – von der Forschung zum Betrug, 1992. The Prohibited List, WADA home page, 2004. Einzusehen unter www.fifa.com.
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fängliche und das abgekürzte Verfahren. In der Regel werden diese TUEs durch die entsprechenden Instanzen der übergeordneten Sportverbände geprüft und genehmigt, wenn die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Vor den Olympischen Spielen mussten die TUEs bis 29.7.2004 an die jeweiligen Internationalen Verbände, z. B. die FIFA, geschickt werden. Dort wurden sie durch die zuständigen Instanzen geprüft und gegenüber dem Nationalverband des jeweiligen Athleten unter Angabe einer Gültigkeitsfrist bestätigt. Danach war das IOC für diese Aufgabe zuständig, einschließlich eines bestimmten Zeitraumes nach den Olympischen Spielen, innerhalb dessen Doping-Nachkontrollen angekündigt wurden. Die Athleten, für die eine gültige TUE ausgestellt worden ist, sind verpflichtet, diese stets mit sich zu führen, um im Falle einer Kontrolle den Nachweis erbringen zu können, dass sie eine der bei gegebener medizinischer Indikation zulässigen Substanzen eingenommen haben oder verwenden, die ansonsten auf der Liste der verbotenen Substanzen aufgeführt sind.
III. Entwicklung des World Anti-Doping Code Entsprechend der Definition im World Anti-Doping Code wird von einem Dopingfall dann ausgegangen, wenn eine oder mehrere Verletzungen der geltenden Dopingregularien vorliegen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die sog. Rule of strict liability, welche besagt, dass allein das Vorhandensein einer verbotenen Substanz oder deren Metaboliten bzw. Markern im Körper des Athleten den Tatbestand des Doping erfüllt. Diese Regel, die von der WADA anfänglich als alleinige Tatbestandsvoraussetzung durchgesetzt werden und obendrein mit einer automatischen Zweijahressperre verbunden sein sollte, rief berechtigterweise erhebliche Kritik bei vielen, auch sehr renommierten Juristen hervor, aber auch bei Sportmedizinern, da sie nicht mehr mit den Erfordernissen einer notwendigen medizinischen Versorgung vereinbar war. Wenngleich die WADA z. B. beim World Anti-Doping Kongress 2001 in Kopenhagen durch ihre Juristen, die fast ausschließlich aus dem englischsprachigen Bereich und damit aus dem Common-Law-System stammten, hartnäckig darauf bestand, dass die Rule of strict liability in Verbindung mit einer automatischen Zweijahressperre im Mittelpunkt des World AntiDoping Code stehen müsse und führende Vertreter des IOC sich dieser Auffassung öffentlich anschlossen, regten sich kritische Stimmen, insbesondere aus den Reihen der International Olympic Teamsport Federations, die sich sachverständigen Rat eingeholt hatten, z. B. bei Prof. Dr. Günter Hirsch, dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs (BGH), vormals Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH).
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Die WADA, vertreten durch ihren Präsidenten Richard Pound, selbst Jurist, und den damals mit der Erstellung des World Anti-Doping Code beauftragten US-amerikanischen Anwalt Richard Young, berief sich bei ihrer Stellungnahme auf eine Expertise der beiden Schweizer Verfassungsrechtler Prof. Christine Kaufmann-Kohler und Prof. Giancarlo Zen-Ruffinen, die in einem von der WADA in Auftrag gegebenen Gutachten bestätigt haben sollen, dass gegen die damalige Version des World Anti-Doping Code keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken bestünden. Zwischenzeitlich hatte auch der Mainzer Jurist Prof. Dr. Ulrich Haas, selbst ein renommierter Anti-DopingExperte und damaliger Berater der WADA bei der Erstellung und Überarbeitung des World Anti-Doping Code eine bemerkenswerte Stellungnahme zur Frage der rechtlichen Aufarbeitung positiver Dopingfälle erarbeitet, in welcher er die Notwendigkeit begründete, dass selbstverständlich auch der World Anti-Doping Code die Kriterien der zivil- und strafrechtlichen Prozessordnungen zu beachten habe. Diese hätten u. a. täter-, tatplan- und tatmittelbezogene sowie sonstige Umstände zu berücksichtigen. Dementsprechend gingen sie von einem Strafmaß aus, welches einen Entscheidungsbereich von der Mindest- bis zur Höchststrafe bedinge. Nach Rücksprache mit ihm trafen sich noch in Kopenhagen mit Richard Pound, Richard Young und dem damaligen Generaldirektor der WADA, Harri Syvasalmi, Vertreter der Doping-Kontroll-Instanzen der International Olympic Teamsport Federations, um einen akzeptablen Weg aus dieser kritischen Situation zu finden. Seitens der Vertreter der Doping-Kontroll-Instanzen der International Olympic Teamsport Federations wurde die gemeinsame Durchführung einer Study on Sanctions vorgeschlagen, innerhalb derer abgeschlossene Dopingfälle vor verschiedenen Entscheidungsinstanzen (Disziplinarkommissionen von nationalen und internationalen Sportverbänden, ordentliche Gerichte, Sportgerichte bis hin zum CAS) dahingehend analysiert werden sollten, nach welchen Kriterien Sanktionsentscheidungen zustande gekommen waren, insbesondere auch im Hinblick auf die jeweils entdeckten verbotenen Substanzen und die von U. Haas formulierten Kriterien. Das Studiendesign wurde der WADA von den Vertretern der DopingKontroll-Instanzen der International Olympic Teamsport Federations wenige Wochen später im Rahmen eines Meetings mit der WADA in Montreal vorgestellt. Da Richard Pound diese Studie als „too academic“ bezeichnete und für unnötig erklärte, wurde sie anschließend durch T. Graf-Baumann in Zusammenarbeit mit den anderen International Olympic Teamsport Federations durchgeführt. Die eindeutigen Ergebnisse wurden im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der Sportmedizinischen Kommissionen der International Olympic Teamsport Federations im Februar 2003 in Basel vorgestellt. Die wesentlichen Punkte der „Study on Sanctions“ zeigen die folgenden Tabellen im Überblick:
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Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte Tabelle 1 Study on Sanctions – – – –
Number of analysed Doping Cases: 184 total Full documentation received for 36 cases Time period: January 1998 to August 2003 Involved sports: Soccer, Handball, Ice Hockey, Basketball, Volleyball, Track and Field, Triathlon, Cycling, Karate, Wrestling, Horseracing
Tabelle 2 Study on Sanctions Types of Doping Control: due to few information on the relevant documents no statistical information possible, most DCs during or after competitions Male/Female: male athletes 33, female athletes 2, horse 1 Age average: 25,7 (18–40) Involved decision bodies: Disciplinary Committees of NOCs, NADOs, IFs, NFs, Confederations, TAS, Federal Sport Courts Tabelle 3 Study on Sanctions: Summary of case interpretation We define the detection of banned substances including the cut-off-level aspects (for relevant substances) as an offence similar to an anti-doping violation as regard to the guilt related indications – the offence medium (tatmittelbezogen) like the list of prohibited substances – the individual circumstances of the offence plan (tatplanbezogen) like the therapeutic purpose – or other exceptional circumstances, which have to be defined by WADC, national law and/or judicial (court) decisions Tabelle 4 Study on Sanctions: Conclusion The sanction study carried out by Standing Conference of the International Olympic Teamsport Federations under the leadingship of FIFA has clearly made evident that the efficient organized antidoping bodies and disciplinary or penal institutions in sport are able to investigate doping cases, to manage each case on an individual basis following constitutional states legal systems and adjudicate appropriate sanctions. Less efficient prepared sport organisations require support either from their governing bodies like the IFs or NADOs if they exist. In countries where doping is under criminal law the code of criminal procedure and the award of punishment according to the national criminal code have to be considered.
Eine bemerkenswert umfassende Begründung zur Rule of strict liability hatte der CAS (Court of Arbitration in Sport) 1995 neben anderen Fällen im Zusammenhang mit dem Fall Quigley gegen UIT4 dargelegt: „It is true that a strict liability test is likely in some sense to be unfair in an individual case, such as that of Quigley, where the Athlete may have taken medication as the result of mislabelling or faulty advice for which he or she is not responsible – particularly in the circumstances of sudden illness in a foreign country. But it is also in some
__________ 4
TAS 95/129 – USA Shooting & Q. v. UIT (1995), Recueil du TAS S. 187 ff.
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Toni Graf-Baumann sense unfair for an Athlete to get food poisoning on the eve of an important competition. Yet in neither case will the rules of the competition be altered to undo the unfairness. Just as the competition will not be postponed to await the Athlete’s recovery, so the prohibition of banned substances will not be lifted in recognition of its accidental absorption. The vicissitudes of competition, like those of life generally, may create many types of unfairness, whether by accident or the negligence of unaccountable persons, which the law cannot repair. Furthermore, it appears to be a laudable policy objective not to repair an accidental unfairness to an individual by creating an intentional unfairness to the whole body of other competitors. This is what would happen if banned performance enhancing substances were tolerated when absorbed inadvertently. Moreover, it is likely that even intentional abuse would in many cases escape sanction for lack of proof of guilty intent. And it is certain that a requirement of intent would invite costly litigation that may well cripple federations – particularly those run on modest budgets – in their fight against doping.“
An dieser Stelle muss die Frage gestellt werden, für welche der in der Prohibited List aufgeführten Substanzen ausreichend evidenzbasierte Daten vorliegen, ob, und falls ja, welche leistungssteigernde Wirkung sie de facto haben. Dazu hat der langjährige Mannschaftsarzt der Deutschen Olympiamannschaft und Internist der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft, selbst ehemaliger Silbermedaillengewinner über 4 x 400 m – Prof. Wilfrid Kindermann – jüngst einen klar formulierten Beitrag publiziert5. Zusammenfassend stellt er fest: „Das Konzept der Dopingliste besteht darin, Wirkstoffe und Methoden zu verbieten, welche die sportliche Leistungsfähigkeit beeinflussen, die potentiell gesundheitsgefährdend sind und die dem Geist des Sports widersprechen. Die Dopingliste kann keine Drogenliste sein, sondern sie soll Leistungsmanipulationen und daraus resultierende unfaire Wettkampfbedingungen verhindern. Deshalb sollte der leistungsbeeinflussende Effekt das primäre Kriterium für die Dopingliste sein. Nicht alles wirkt leistungssteigernd, was gegenwärtig verboten ist. Unter evidenzbasierten Gesichtspunkten müsste die Dopingliste neu geordnet werden. Anabole Steroide, Erythropoetin (EPO) und Analoga, Wachstumshormone und Stimulanzien vom Amphetamintyp sind die Hauptprobleme im heutigen Doping und sollten deshalb im Zentrum der Dopingbekämpfung stehen. Der bürokratische Aufwand für ergogen fragwürdige, aber für die Therapie von Sportlern bedeutsame Wirkstoffe wie Beta-2-Agonisten und Glukokortikosteroide erscheint nicht gerechtfertigt. Gesellschaftsdrogen wie Heroin und Cannabinoide sollten als sportwidriges Verhalten sanktioniert und mit einem eigenen Strafkatalog geahndet werden.“
Auch hier wird deutlich, dass Sanktionen, also Strafmaßnahmen, welche die weitere Karriere eines Athleten grundlegend beeinflussen können, differenziert gesehen werden müssen.
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Kindermann, Dtsch. ZS f. Sportmedizin 2004, 90.
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Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte
Mit Ausnahme der Entscheidungsfindung des CAS ist derzeit keine einheitliche Linie erkennbar, nach der die zuständigen Sportinstanzen – z. B. Disziplinarkommissionen der Nationalen und/oder Internationalen Sportverbände, der NADOs usw. – zu den jeweiligen Sanktionsentscheidungen kommen. Dies mag innerhalb einer bestimmten Sportart bei einem Nationalverband eher erkennbar sein. So sind etwa die Entscheidungen in Dopingfällen des DFB-Sportgerichtes nachvollziehbar, auch im Hinblick auf die Schwere des Dopingvergehens und die in der Person des Athleten liegenden besonderen Umstände. Aspekte wie die entdeckte Substanz (Gesellschaftsdrogen wie Cannabis oder aber anabole Steroide), Alter und Entwicklungsgrad des Athleten, Einsicht in die Tat, Reue, soziale und sportliche Prognose werden berücksichtigt. Die Dokumentation des FIFA Doping Control Subcommittee, das seit 2000 konsequent allen ihm von den Labors gemeldeten positiven Testergebnissen nachgeht, indem die zuständigen Nationalverbände standardisiert angefragt werden, die weitere Behandlung des Falles bis hin zur rechtsgültigen Entscheidung über das Strafmaß mitzuteilen, zeigt erhebliche Unterschiede: –
Die Mehrzahl der angefragten Nationalverbände erteilt die erforderlichen Auskünfte und übermittelt i. d. R. zugleich eine Kopie des schriftlichen Urteils.
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Nationalverbände aus Ländern, in denen Doping als Straftatbestand gilt, verweisen auf die Zuständigkeit der nationalen Behörden, von denen meist keine Auskünfte erteilt werden, da man sich auf die eigene ausschließliche Zuständigkeit beruft. Ist davon ein Spieler betroffen, der auch für die eigene Nationalmannschaft eingesetzt wird, kann die FIFA meist nur eigene Ermittlungen einleiten, wenn sie von der Suspendierung des betroffenen Athleten entweder durch die Presse oder auf anderem inoffiziellen Weg Kenntnis erhält. Nur dann kann nach Überprüfung des Falles entschieden werden, ob der Athlet auch für internationale Einsätze suspendiert werden kann.
–
Von bestimmten Nationalverbänden kommen trotz Sanktionsandrohungen durch die FIFA keine Rückmeldungen, wobei bislang noch unklar ist, welche Sanktionen in diesen Fällen ausgesprochen werden können.
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Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Schwere des Dopingvergehens und dem Strafmaß sind meist erhebliche Unterschiede festzustellen. Von einer einheitlichen Regelung z. B. im Hinblick auf die entdeckte Substanz kann derzeit noch nicht die Rede sein.
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Grundsätzlich ist erkennbar, aber noch nicht eindeutig evaluierbar, dass eher härtere Strafen als milde verhängt werden.
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Festgelegt ist der Instanzenweg, dessen letzte Station der CAS ist. Die Anrufung ordentlicher Gerichte ohne abschließende Entscheidung durch den CAS wird nicht toleriert. 1121
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IV. FIFA Doping Control Regulations Die FIFA hat heute eine außerordentlich funktionsfähige Doping-KontrollOrganisation. Die Doping-Kontroll-Regularien werden seit 1994 jährlich überarbeitet und weiterentwickelt, wobei in der Vergangenheit i. d. R. hinsichtlich der Liste der verbotenen Substanzen auf die Prohibited List des IOC zurückgegriffen wurde. Nach Einführung des World Anti-Doping Codes wurden alle wesentlichen Inhalte in die FIFA Doping-Kontroll-Regularien übernommen, diese wurden letztlich auch von der WADA offiziell bestätigt. Es gilt mit den sportartspezifischen Unterschieden die Prohibited List der WADA. Der wesentliche Unterschied besteht in der verbindlichen Regelung in den FIFA Doping-Kontroll-Regularien, dass jeder Fall im Rahmen eines strukturierten Individual Case Management behandelt wird. Sobald dem FIFA Doping Control Subcommittee ein positives Testergebnis gemeldet wird, werden einer Checkliste folgend alle Falldaten überprüft, ehe das Komitee eine schriftliche Beurteilung der medizinischen, pharmakologischen und medizinrechtlichen Aspekte an das zuständige Disziplinarkomitee weiterleitet. Checklist: 1. Name of the player 2. National team 3. Doping control – match – venue – date 4. Doping Control Officer involved 5. Laboratory 6. Result of the analysis 7. Remarks on form 0–1 about medications (Auf dem Formular 0–1 trägt der zuständige Teamarzt alle Medikamente ein, mit denen die Spieler in den letzten 72 Stunden vor der Dopingkontrolle behandelt wurden [Substanz, Dosierung, Applikationsform, Indikation, Dauer der Medikation]). 8. Other medical documents 9. Limit value comments 10. Individual remarks 11. Conclusion 12. Other persons involved – result of investigation Procedure: 1. Information to the Chief Doping Control Officer reponsible from Laboratory 2. CDCO informs FIFA Doping Control Subcommittee and FIFA Department for Medical Matters (DepMed)
1122
Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte 3. DepMed prepares all information, files and documents for DC-Subcommittee 4. If any documents are missing, DepMed investigates by order of DC-Subcommittee 5. DC-Subcommittee analyzes the Individual case by using the checklist and the Doping Control data bank (Hierbei handelt es sich um eine vierteljährlich adaptierte pharmazeutische Datenbank, aus der alle Substanzen [Generika] mit ihren weltweit eingesetzten Handelsnamen abrufbar sind, so dass i. d. R. Wirkstoff und Nebenwirkungen auch bei unbekannten Handelsnamen identifiziert werden können.) 6. If necessary he has to contact the laboratory 7. If necessary he contacts the Doping Control Officer involved 8. DC-Subcommittee prepares a written statement about the medical analysis of the case including an estimation of the medico-legal aspects (Dieser Vorgang dauert i. d. R. 12 bis 24 Stunden, in Ausnahmefällen – z. B. bei ungenügenden Kommunikationswegen [Drittweltländer] – bis zu 48 Stunden. That means estimation of seriousness of the individual case as – intentional (partly autonomous, but not fully self responsible acting), – deliberate (fully autonomous), – negligent. That means judgement of the importance of limit values e.g. for Nandrolon – negative case, – borderline case, – positive case. If any analysis of specimen B proves positive or sample A has been accepted as positive, the case shall be submitted to the Disciplinary Committee, which based on the medical report from the FIFA Doping Control Subcommittee, shall determine the degree of responsibility of the player and/or persons belonging to his/her national association. After Individual Case Management following FIFA’s checklist for positive doping tests the Disciplinary Committee will decide appropriate sanctions after hearing the player and/or his representative if requested6.
V. Vom Doping-Kontroll-Personal zu erfüllende Voraussetzungen Die FIFA setzt ausschließlich speziell ausgebildete Ärzte als Doping Control Officers (DCO) ein, lediglich in einigen Ländern Südamerikas werden aufgrund der dortigen Gesetze auch „Chemists“ und/oder „Pharmacists“ für Dopingkontrollen eingesetzt. Alle DCOs werden zunächst aus dem Sportärzte-Pool der Confederations und der Nationalen Fußballverbände selektiert. Sie müssen unabhängig von ihrer bisherigen Erfahrung als Dopingkontrolleure zunächst an einem FIFA Anti-Doping Instructional Course teilnehmen. Diese Kurse werden regel-
__________ 6
FIFA Doping Control Regulations, 2004.
1123
Toni Graf-Baumann
mäßig durch das FIFA Doping Control Subcommittee in allen Confederations durchgeführt. Die Kurse umfassen theoretische und praktische Module: –
Ablauf der Entnahme von Urin- und Blutproben,
–
Liste der verbotenen Substanzen,
–
Laboranalysen,
–
medizinische und rechtliche Aspekte des Dopings,
–
Fehler und kritische Situationen, die zu Fehlern führen können,
–
Anti-Doping-Prävention und Schulungsprogramme für Athleten, Trainer, Ärzte und Betreuer,
–
praktische Übungen einschließlich Fehleranalysen.
Alle Absolventen dieser Kurse werden in eine Datenbank als FIFA-akkreditierte Doping Control Officer aufgenommen, welche die persönlichen Daten, die berufliche und sportmedizinische Qualifikation, die Doping-KontrollEinsätze und ggf. aufgetretene Probleme enthält. Das so entstandene weltweite Netzwerk der FIFA-DCOs umfasst derzeit ca. 160 speziell ausgebildete Ärzte, die bei Anforderung auch für Dopingkontrollen anderer Teamsportverbände eingesetzt werden können. Die Aufnahme und der Verbleib im FIFA Doping Control Network erfordert zusätzlich: –
die Registrierung aller Doping-Kontroll-Einsätze und die generelle Verfügbarkeit des jeweiligen DCO,
–
die regelmäßige und verbindliche Teilnahme an qualitätssichernden Maßnahmen wie z. B. Refresherkursen,
–
die Dokumentation von Komplikationen und/oder Fehlern zur Reduzierung und Vermeidung solcher Probleme,
–
die Unabhängigkeit von nationalen Fußballvereinen und -verbänden,
–
die berufliche und persönliche Integrität.
Aus logistischen und wirtschaftlich-finanziellen Gründen werden DCOs aus möglichst allen Nationalverbänden rekrutiert, um sie aufgrund der Sprachund Mentalitätskenntnisse sowie aus Kostengründen weltweit möglichst sinnvoll für Dopingkontrollen bei nationalen Wettbewerben, solchen der Confederations und bei Out-of-competition-Kontrollen (Trainingslager) einsetzen zu können. Dazu ist eine rechtsverbindliche Erklärung der vollständigen Unabhängigkeit oder Unterordnung von bzw. unter den jeweiligen Nationalverband vorgeschrieben. Gewiss gibt es Bedenken gegen solche Regelungen im Hinblick auf die Frage der Unabhängigkeit bzw. Beeinflussbarkeit von Doping-Kontroll-Ärzten, die aus dem gleichen Land kommen wie die zu testenden Athleten, bzw. auch aus einem Land, das im Wettbewerb mit den zu testenden Athleten steht. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn durch bestimmte Anti-Doping-Institu1124
Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte
tionen nicht-ärztliche Dopingkontrolleure eingesetzt werden, z. B. durch die u. a. von der WADA per Vertrag beauftragte Firma IDTM, ein Geschäftsunternehmen. Die FIFA und inzwischen auch die anderen Internationalen Teamsportverbände lassen daher nur speziell ausgebildete Ärzte als Doping Control Officers (DCO) zu. Deren fachliche Kompetenz und persönliche Unabhängigkeit ist begründet durch –
die Prinzipien des Hippokratischen Eids,
–
das ärztliche Berufsrecht,
–
den Dienstleistungsvertrag mit der FIFA bzw. dem jeweiligen Internationalen Teamsportverband,
–
die relevanten Artikel/Paragraphen in den Doping-Kontroll-Reglementen und ihren Ad-hoc-Bestimmungen z. B. für Bluttests,
–
die schriftliche Erklärung zur absoluten Einhaltung der Vertraulichkeit und Ausschließlichkeit.
Der World Anti-Doping Code beschreibt die Anforderungen allgemeiner, da nicht auf Ärzte beschränkt: –
ADO = Anti-Doping-Organisation, welche einen DCO authorisiert, Dopingkontrollen gemäß den Dopingreglementen durchzuführen. Eine ADO ist in diesem Sinne z. B. das FIFA Doping Control Subcommittee in Zusammenarbeit mit seinem weltweiten Netzwerk speziell ausgebildeter DCOs.
–
DCO = ein Offizieller, der durch eine ADO ausgebildet und durch sie authorisiert wurde und im Rahmen einer Delegationsverantwortung die unmittelbare Urinentnahme zu Dopingtestzwecken übernimmt.
–
BCO = ein Offizieller, der dazu qualifiziert ist, im Auftrag einer ADO Blutentnahmen zu Dopingtestzwecken bei Athleten durchzuführen.
Die FIFA und die mit ihr kooperierenden Internationalen Teamsportverbände folgen dem Prinzip, dass ihre Doping-Kontroll-Institutionen kein Profitunternehmen sein dürfen, bzw. die Dopingtests von den DCOs nicht gegen Bezahlung durchgeführt werden (Tagesspesen werden ersetzt).
VI. Individual Case Management Wie bereits angedeutet7, ist das sog. Individual Case Management ein Grundprinzip der medizinischen, medizinrechtlichen und rechtlichen Behandlung aller positiven Testergebnisse und der weiteren Verfolgung des Falles. Wie weiter dargelegt8, folgt das Doping Control Subcommittee bei der
__________ 7 8
Vgl. oben III. Vgl. oben IV.
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Toni Graf-Baumann
Vorbereitung seiner Sachverständigenstellungnahme an die Disziplinarkommission einer Checkliste. Darüber hinaus hat es weitere relevante Umstände zu prüfen und in seine Expertise einzubeziehen, die bei der Anhörung der betroffenen Athleten durch die Disziplinarkommission zu berücksichtigen sind: –
die Beurteilung, ob eine medizinische Behandlung mit einer verbotenen oder teilverbotenen Substanz – außerhalb des TUE-Verfahrens – medizinisch geboten und lege artis durchgeführt wurde,
–
die Beurteilung, ob die vom Labor mitgeteilte Substanz tatsächlich auf der Liste der verbotenen Substanzen aufgeführt ist bzw. ob es sich bei diesem Labor tatsächlich um ein von der WADA akkreditiertes Labor handelt,
–
die Beurteilung, ob ggf. eine medizinisch-therapeutische Indikation vorlag,
–
die Beurteilung anderer in der Person des betroffenen Athleten liegenden Umstände, sofern sie der medizinischen Beurteilung bedürfen, z. B. – Alter und sozialer Hintergrund des Athleten, – Reife, – Einsichtsfähigkeit, – Mitarbeit bei der Klärung der medizinischen und die Laboranalysen betreffenden Aspekte des Falles. Diese Überprüfungen sind insbesondere dann erforderlich, wenn es sich um Athleten aus sog. Drittweltländern handelt, deren medizinische Betreuung häufig nicht den Standards entspricht, die Grundlage einer evidence based medicine sind. In Südamerika werden beispielsweise bisweilen Laboratorien mit Analysen von Urinproben beauftragt, die entweder keine oder nur eine beschränkte Akkreditierung haben. Auf internationaler Ebene werden insbesondere von Drittweltnationen Spieler eingesetzt, deren Alter nicht ohne Weiteres durch die Angabe des Geburtstermins in den Passdokumenten glaubhaft gemacht werden kann. Jugendliche Spieler aus solchen Ländern, die z. B. bei U-17-Weltmeisterschaften für ihr Land spielen, kommen häufig aus sozialen Verhältnissen, aufgrund derer die Einsichtsfähigkeit nicht ausreichend gegeben ist. Häufig fehlt es auch den betreuenden Ärzten an den erforderlichen Kenntnissen bzw. nehmen diese Athleten landesübliche bzw. „gesellschaftsübliche“ Naturprodukte ein, deren Inhalte nicht ausreichend bekannt sind, die aber verbotene Substanzen enthalten können, z. B. Stimulantien. Derzeit liegen noch keine ausreichenden Studien über solche herbal oder natural foods bzw. food supplements vor, um klare Warnungen abgeben zu können.
1126
Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte
Ein klassisches Beispiel für solche besonderen Umstände ist folgender Fall: Die A-Probe eines Nationalspielers aus einem afrikanischen Land enthielt die Substanz Furosemid. Die Dopingkontrolle wurde nach einem Qualifikationsspiel seiner Nationalmannschaft gegen ein anderes afrikanisches Nationalteam in dessen Land durchgeführt. Die Laboranalyse erfolgte in einem damals noch vom IOC akkreditierten Labor in Europa. Furosemid gehört zu den sog. Masking Substances, die selbst keine leistungssteigernde Wirkung haben, aber solche Substanzen verschleiern können (in Deutschland unter dem Handelsnamen Lasix bekannt). Insofern hätte es sich um einen Dopingfall gehandelt, wenn auch in der B-Probe Furosemid nachgewiesen worden wäre. Das FIFA Doping Control Subcommittee hat diesen Fall gemäß Checkliste geprüft und ist zu folgender Erkenntnis gekommen: Der betroffene Spieler hatte wenige Tage vor dem Länderspiel im Training eine Sprunggelenksdistorsion erlitten, einhergehend mit der typischen Schwellung des Sprunggelenks (Ödem), aber ohne Fraktur und ohne Bänderriss. Der Spieler wurde von seinem Mannschaftsarzt, einem durchschnittlich ausgebildeten afrikanischen General Practitioner zur Diagnostik und Therapieempfehlung in die örtliche Universitätsklinik der Stadt überwiesen, in der später das Qualifikationsspiel stattfand, also nicht in seinem Land. Ausweislich des Arztbriefes des orthopädischen Chefarztes dieser Universitätsklinik empfahl dieser dem Teamarzt eine Behandlung der Verletzung mit anti-entzündlichen Medikamenten, Antibiotika und Lasix über 3 bis 4 Tage zur Abschwellung des Ödems. Der Teamarzt folgte dieser Empfehlung einer universitären Kapazität. Fälschlicherweise gab er diese Substanz nicht auf dem Formular 0–1 an, auf dem alle Medikamente aufgelistet werden müssen, welche die Spieler in den letzten 72 Stunden vor dem Spiel erhalten haben. Er war der Meinung, dass die Lasixbehandlung vor der 72-Stundenfrist stattgefunden habe, weshalb er es nicht hätte angeben müssen. Insofern handelte er falsch, denn Substanzen, die über einen längeren Zeitraum im Urin nachgewiesen werden können, müssen unabhängig von dieser Frist angegeben werden. Dies war aber nicht dem Spieler anzulasten, denn dieser konnte auf eine ärztliche Behandlung vertrauen, die obendrein durch eine universitäre Instanz bestätigt schien. Unabhängig davon gehört die Behandlung des mit einer Sprunggelenksdistorsion einhergehenden Ödems mit Furosemid gemäß der einschlägigen Literatur nicht zu den Standards einer effektiven Behandlung, um die ödematöse Schwellung zu reduzieren. Insofern unterlag der Teamarzt einem Verbotsirrtum, denn er hielt sich an die Anweisung einer vermeintlich übergeordneten Instanz. Aus der Sicht des FIFA Doping Control Subcommittee konnte im Rahmen der Sachverständigenstellungnahme an die Disziplinarkommission insofern nur folgende Einschätzung des Falles abgegeben werden: 1127
Toni Graf-Baumann
–
Der Spieler wurde aufgrund übergeordneter Anweisung mit einem nichtindizierten Medikament, das zwar auf der Liste der verbotenen Substanzen steht, selbst aber keinerlei leistungssteigernden Effekt hat, fehlerhaft behandelt.
–
Es bestand keinerlei Verdacht auf die Verschleierung einer leistungssteigernden Substanz durch die Verabreichung von Furosemid.
–
Der Teamarzt hätte wissen müssen, dass er diese Behandlung im Formular 0–1 hätte angeben müssen.
–
Dem Spieler kann hier kein Dopingvorwurf gemacht werden.
–
Der Teamarzt wurde verwarnt.
Für die FIFA war dieser Fall ein Grund mehr, gerade in den Drittweltländern noch mehr die sportmedizinische Ausbildung zu fördern und damit einhergehend auch die Kenntnisse der Dopingregularien zu fördern. Das standardisierte Verfahren im Rahmen des „Individual Case Management“ wird nicht nur bei Fällen innerhalb von FIFA-Wettbewerben angewandt, sondern besonders auch dann, wenn der FIFA positive Testergebnisse innerhalb von nationalen Wettbewerben und solchen der Confederations gemeldet werden. Gerade hier ist es nicht selten erforderlich zu prüfen, ob bei der Behandlung des Falles alle vorgegebenen Regeln eingehalten und alle o.g. Aspekte berücksichtigt wurden.
VII. Sportergänzungsnahrung Ein besonderes Problem stellt die Einnahme sog. Sportergänzungsnahrung dar. Zwar hat die FIFA und haben einige andere Sportinstitutionen schon 1996 darauf hingewiesen, dass Produkte, die als Sportergänzungsnahrung angeboten werden, die große Gefahr beinhalten, dass unbemerkt verbotene Substanzen genommen werden, die in diesen Produkten enthalten sein können. Studien u. a. des Doping-Kontroll-Labors an der Sporthochschule in Köln haben gezeigt, dass ca. 20 % der für Sportler/innen frei erhältlichen Produkte verbotene Substanzen enthalten, ohne dass diese auf den Schachteln, Flaschen etc. angegeben sind, auch nicht in Ländern, in denen strenge lebensmittelrechtliche Vorgaben bestehen9. In einer aktuellen Mitteilung der WADA auf deren Homepage10 findet man einen Beitrag „Nahrungsergänzungsmittel – Fragen und Antworten“, aus dem hier auszugsweise zitiert wird: „In vielen Ländern besteht betreffend der Herstellung von Nahrungsergänzungsmitteln keine angemessene staatliche Regulierung. Dadurch ist es möglich, dass die tatsächlichen Inhaltsstoffe eines Produktes nicht mit den auf der Packung deklarierten
__________ 9 Dtsch. ZS f. Sportmedizin 2000, 378. 10 http://www.wada-ama.org.
1128
Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte übereinstimmen. In einigen Fällen können die nicht deklarierten Inhaltsstoffe Substanzen enthalten, die gemäß den Anti-Doping-Regeln verboten sind. Eine Vielzahl positiver Tests konnte auf die missbräuchliche Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln zurückgeführt werden. Selbst bei ausreichender Regulierung der Nahrungsergänzungsmittel-Industrie und Einhaltung aller Vorschriften kann eine zufällige oder absichtliche Verunreinigung erfolgen. Sportler/innen werden niemals mit absoluter Sicherheit davon ausgehen können, dass ein Nahrungsergänzungsmittel keine verbotene Substanz enthält. Die WADA und ebenso die FIFA bereits früher (FIFA Doping Control Regulations 1996) sind der Meinung, dass für Athleten/innen in internationalen Wettbewerben eine ausgewogene Ernährung äußerst wichtig ist. Beide haben ihrer großen Besorgnis über die hohe Zahl der Athleten/innen, die regelmäßig unkontrolliert Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, wiederholt Ausdruck gegeben, da über deren erwiesene Vorteile bzw. das Vorhandensein verbotener Substanzen keinerlei ausreichende Information vorliegt. Letztendlich liegt es im Verantwortungsbereich der Athleten/innen, sich über diese Aspekte vorher ausreichend zu informieren. Ein unvorschriftsmäßig etikettiertes Nahrungsergänzungsmittel wird in einem Dopingfall nicht als stichhaltiges Argument der Verteidigung akzeptiert, zumal in der Zwischenzeit mindestens ein Dutzend Informationsquellen meist per Internet zugänglich sind, auf denen sich die Athleten/innen und ihre medizinischen Betreuer ausreichend informieren können. Auch die Athlete’s Commission des IOC hat 2000 dazu eine ähnliche Erklärung abgegeben. Im Jahr 2003 erfolgte durch die Arbeitsgruppe Ernährung des IOC eine weitere klare Stellungnahme dazu.“
Zusammenfassend können folgende allgemeine Warnhinweise gegeben werden: –
Bei Nahrungsergänzungsmitteln, die mit „Muskelzuwachs“ oder „Fettabbau“ werben, ist das Vorhandensein verbotener Substanzen am wahrscheinlichsten. Dabei handelt es sich entweder um ein Anabolikum oder ein Stimulans.
–
Die Begriffe „pflanzlich“ und „natürlich“ stehen nicht zwingend für ein „sicheres“ Produkt.
–
Beispiele verbotener Substanzen, die in Nahrungsergänzungsmitteln vorhanden sein können: DHEA (Ehydroepiandrosteron), Androstendion/diol und Variationen, einschließlich der „19- und nor-Formen“, Ma huang, Ephedrin, Amphetamine, auch in Gesellschaftsdrogen wie Ecstasy enthalten.
–
Reine Vitamine und Mineralien sind als solche nicht verboten, doch wird den Athleten/innen geraten, die Produkte renommierter Firmen zu wählen und Kombinationsprodukte mit anderen Substanzen zu meiden.
–
Produkte des Schwarzmarkts oder unbeschriftete Produkte sind besonders fragwürdig; Athleten/innen sollten grundsätzlich nichts einnehmen, dessen Herkunft unbekannt ist, selbst wenn das Produkt von einem Trainer oder einem anderen Sportler angeboten wird.
–
Beim Kauf von Nahrungsergänzungsmitteln im Internet sind Firmen zu vermeiden, die außer einem Postfach keine Geschäftsadresse angeben 1129
Toni Graf-Baumann
oder die nur solche Kontaktadressen angeben, mit denen man sie nicht ausfindig machen kann, z. B. eine E-Mail-Adresse. Selbst bei strenger Beachtung aller Warnhinweise11 haben Athleten/innen keine Garantie, dass die Einnahme eines Nahrungsergänzungsmittels keinen positiven Dopingtest zur Folge hat12. Die Beweislast liegt stets bei den Athleten/innen, die den Nachweis zu erbringen haben, dass die verbotene Substanz durch die Einnahme eines Nahrungsergänzungsmittels in ihren Körper gelangt ist, obwohl sie alle Warnhinweise beachtet haben. Gelingt dieser Beweis, kann der/die betroffene Athlet/Athletin Schadensersatzansprüche gegen die Produktions- und/oder Vertriebsfirma geltend machen. Inwieweit auch strafrechtliche Konsequenzen bestehen, z. B. wegen Körperverletzung, ist juristisch noch nicht eindeutig geklärt. In Frage kommen auch rechtliche Konsequenzen wegen des Verstoßes gegen Regelungen des Arzneimittelgesetzes bzw. der lebensmittelgesetzlichen Regelungen13.
VIII. Die besondere Verantwortung des Arztes beim Doping In diesem Kapitel sei noch kurz auf die besondere Verantwortung der Ärzte und des medizinischen Betreuungspersonals im Zusammenhang mit Doping eingegangen. Dazu wurden in der juristischen deutschsprachigen Literatur zahlreiche kompetente Arbeiten publiziert, insbesondere in der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin, so dass diese Informationen auch der o.g. Zielgruppe zugänglich sind14. Daher sollen hier – basierend auf den vorbezeichneten Publikationen – nur einige Aspekte angesprochen werden, die seit Jahren Gegenstand der Aufklärungskampagnen der FIFA sind: –
Neben den zivilrechtlichen Ansprüchen können sich gegen den am Doping beteiligten Arzt/Physiotherapeuten auch straf-, berufs- und sportrechtliche Konsequenzen ergeben.
–
Allerdings stellt das Strafrecht nach Auffassung prominenter Strafrechtler (u. a. Franz u. Hartl) im Dopingbereich eine ultima ratio dar, weshalb dem Strafrecht für die Frage der rechtlichen Begrenzung des Dopings keine Leitfunktion zukommen sollte.
–
Betrachtet man Doping allerdings als ein primär gesellschafts- und/oder sportethisch zu lösendes Problem, gewinnt das Strafrecht zunehmend an Stellenwert.
–
Doping als eigenverantwortliche Selbstschädigung des Sportlers.
__________ 11 12 13 14
S. u. a. FIFA Doping Control Regulations 1996–2004. Geyer et al., Dtsch. ZS f. Sportmedizin 2000, 378. Vgl. http://www.wada-ama.org. Vgl. u. a. Striegel et al., Dtsch. ZS f. Sportmedizin 2000, 267; Parzeller, Dtsch. ZS f. Sportmedizin 2001, 162.
1130
Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte
–
Die Selbstschädigung des Sportlers durch die Einnahme von Dopingsubstanzen ist unter dem Gesichtspunkt eines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts für diesen nicht strafbar.
–
Beteiligt sich ein Arzt am Doping, läge strafrechtlich gesehen eine straflose Beteiligung an einem Selbstschädigungsdelikt vor.
–
Um die Frage der Strafbarkeit beantworten zu können, muss die Tatherrschaft betrachtet werden.
–
Hier kommt es im Wesentlichen auf die Beteiligung des Arztes an, der kraft seines überlegenen Wissens die Risiken der Verwendung von Dopingsubstanzen/-methoden besser erfassen kann als der dopende Athlet.
–
Außerdem gilt es, die Frage der Garantenstellung des Arztes gegenüber dem ihm anvertrauten bzw. ihm vertrauenden Athleten zu betrachten, die sich im Prinzip nicht von derjenigen unterscheidet, die dem ArztPatienten-Verhältnis zugrunde liegt.
–
Das überlegene Sachwissen des dopenden Arztes, die bessere Risikoerfassung durch den Arzt und die Autorität der Wissenschaft werden in der einschlägigen juristischen Literatur angeführt, welche die Eigenverantwortlichkeit des Athleten entfallen lassen und die Tatherrschaft des Arztes begründen können.
–
Haas und Prokop lehnen unter Hinweis auf das blinde Vertrauen, das auch erwachsene Sportler aufgrund ihrer Abhängigkeit vom sportlichen Erfolg dem Arzt entgegenbringen, eine Eigenverantwortlichkeit des betroffenen Sportlers allein strikt ab.
–
Wir haben demnach zu prüfen: – Doping als eigenverantwortliche Schädigung des Sportlers, – Doping als Fremdgefährdung, d.h. wenn ein Dritter das Geschehen beherrscht, – Doping als Tathandlung für eine vorsätzliche Tötung, – Doping als Tathandlung für eine fahrlässige Tötung, – Doping als Tathandlung für eine vorsätzliche Körperverletzung, – Doping als Tathandlung für eine fahrlässige Körperverletzung, – Doping als Vergehen gegen das Arzneimittelgesetz, – Doping als Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz, – Doping als Vermögensdelikt (Betrug).
–
Sorgfaltspflichtwidriges Verhalten des Arztes und die Vorhersehbarkeit des tödlichen und/oder Körperverletzungserfolgs sind für die Bewertung der Dopingtat von zentraler Bedeutung. Eine solche Sorgfaltspflichtverletzung wird i. d. R. bejaht, wenn bei der Verschreibung oder Verabreichung von Dopingsubstanzen durch den Arzt keine medizinische Indi1131
Toni Graf-Baumann
kation vorliegt. Auch die Vorhersehbarkeit des Erfolges wird dem Arzt aufgrund seiner speziellen beruflichen Qualifikation unterstellt. –
Zudem verfügt der Arzt über die notwendigen Informationen zu den Doping-Substanzen.
–
Wenn Doping ausschließlich der gezielten Leistungssteigerung dient, liegt nach einhelliger Auffassung in der juristischen Literatur kein Heileingriff vor, sondern eine zu anderen Zwecken dienende ärztliche Maßnahme, also eine tatbestandliche Körperverletzung.
–
Bei der systematischen Verabreichung von Dopingsubstanzen ist i. d. R. mit pathologischen Nebenwirkungen zu rechnen, so dass allemal ein Körperverletzungsdelikt objektiv tatbestandlich erfüllt ist.
–
Es kann aber auch eine gemeinschaftliche Begehung einer der o.g. strafbaren Handlungen geben, z. B. beim Zusammenwirken zweier Ärzte beim systematischen Doping oder im Zusammenwirken von Trainer und Arzt, da jede Form der Beteiligung durch die dem Täter für die Begehung einer rechtswidrigen Tat vorsätzlich geleistete Hilfe für eine gemeinschaftliche Begehung ausreichend ist.
–
Auch die Einwilligung des dopenden Sportlers in die Dopingmethoden des Arztes schützt diesen nicht gegen den Strafvorwurf, da die Tat gegen die guten Sitten verstößt.
–
Doping ist somit auch am Maßstab der guten Sitten, also am sog. Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zu messen.
–
Nun sind sportrechtliche Sanktionen beim Doping keine Reaktionen auf begangene Straftaten im strafrechtlichen Sinne.
–
Nichtsdestoweniger sind die juristischen Prinzipien des Strafrechts und der Strafprozessordnungen anwendbar.
–
Dies gilt sowohl für die Frage der Beweislast als auch z. B. im Hinblick auf den vorläufigen und definitiven Rechtsschutz des Athleten und seines Arztes.
–
Aus diesen Gründen sind sportrechtliche Sanktionen gegen die beteiligten Ärzte durch die zuständigen Sportverbände bei eindeutiger Beweislage gerechtfertigt.
–
Betroffenen Sportlern steht es frei, in Fällen der Beteiligung von Ärzten am Doping diese in Regress zu nehmen.
Berufsrechtliche Konsequenzen sind darüber hinaus durch die zuständigen Instanzen der ärztlichen Selbstverwaltung vorzunehmen.
1132
Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte
IX. Gebrauch und Missbrauch nicht-verbotener Substanzen während großer Wettbewerbe 1. Die ethischen und medizinrechtlichen Prinzipien der Schmerztherapie An der Grenze zwischen medizinisch indizierter Behandlung und zumindest medizinisch zweifelhafter Herstellung der Leistungsfähigkeit von Athleten/innen befindet sich heute die Therapie mit Schmerzmitteln und nichtsteroidalen anti-entzündlichen Substanzen (Analgetika und Antiphlogistika). Jeder Mensch hat das Recht auf eine effektive und konsequente Schmerztherapie, wenn die medizinische Indikation vorliegt. Dieser medizinisch, ethisch und rechtlich begründete Anspruch gilt für akute und chronische Schmerzen, z. B. rheumatische Schmerzen, krebsbedingte Schmerzen, chronische Kopf- und Rückenschmerzen u. a. m. Es gehört zu den ärztlichen Pflichten, akute und chronische Schmerzen adäquat zu behandeln, unabhängig von ihrer Erscheinungsform als Begleitsymptom einer Krankheit bzw. als Verletzungsfolge oder aber als selbstständige Schmerzkrankheit, entsprechend der jeweiligen Qualifikation des Arztes und den relevanten Leitlinien. Die ärztliche Berufsordnung gebietet ggf. die Hinzuziehung speziell weitergebildeter Schmerztherapeuten. Angesichts der zunehmenden Komplexität von Schmerzerkrankungen sowie der hohen Effektivität und pharmakologischen Potenz von Schmerzmitteln und/oder Narkotika, speziellen Opioiden, erfordert die moderne Schmerztherapie eine spezielle ärztliche Qualifikation und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Ein zentrales Ziel evidenzbasierter Schmerztherapie ist die Stabilisierung der körperlichen, mentalen und sozialen Integrität der Patienten. Das Maß der individuellen Lebensqualität als eines der Ziele suffizienter Schmerztherapie muss zwischen dem Arzt und dem Patienten vereinbart werden. Alle diese Aspekte erfordern ein besonderes ethisches Verantwortungsgefühl der beteiligten Ärzte. Die grundlegenden Kriterien für eine suffiziente Schmerztherapie basierend auf einer evidenzbasierten Medizin unterscheiden sich weitgehend von den Kriterien der Schmerztherapie im Sport, wo die Behandlung von Schmerzen nicht selten dazu benutzt wird, mehr oder weniger über die Grenzen eines physiologisch akzeptablen Trainings und/oder einer entsprechenden Leistung hinauszugehen. Schmerztherapie im Sport erfordert nicht dasselbe Maß an klinischer und pharmakologischer Kompetenz wie die spezielle Schmerztherapie15, aber eine vergleichbare ethische Verantwortung. Der sportmedizinisch tätige Arzt muss prinzipiell alle Aspekte der Schmerztherapie kennen: die Wirkungsweise der Medikamente, ihre Neben- und Wechselwirkungen und die mentalen Einflüsse. Andere essentielle rechtliche Aspekte
__________
15 Die spezielle Schmerztherapie erfordert eine in den Weiterbildungsordnungen der
Landesärztekammern geregelte spezielle Weiterbildung, deren Inhalte sich auf die konservative, interventionelle und operative Schmerztherapie einschließlich der Pharmakologie und Psychotherapie/Verhaltenstherapie beziehen.
1133
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betreffen die spezielle ärztliche Verantwortung aufgrund des überlegenen medizinischen Fachwissens. Sportmediziner und anderes medizinisches Assistenzpersonal im Sportbereich haben ein spezielles Verhältnis zu den von ihnen betreuten Athleten, welches dem Arzt-Patienten-Verhältnis gleichzustellen ist. Dieses spezielle Vertrauensverhältnis beruht auf der sog. Garantenstellung des Arztes. Auch Trainer können im Rahmen einer solchen Garantenstellung gesehen werden, denn auch sie sind für das körperliche und mentale Wohlbefinden und die Fitness ihrer Athleten verantwortlich. Daraus folgt, dass Personen, die eine solche Garantenstellung innehaben und die über ein überlegenes Fachwissen über die Konsequenzen von Verletzungen und Leistungseinschränkungen der ihnen anvertrauten Athleten verfügen – einschließlich der begleitenden Schmerzsymptome oder gar eines andauernden Schmerzes – und die solche Athleten nicht aus dem Training bzw. Wettkampf herausnehmen (zeitweise oder generell), gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen, indem sie nicht die gebotene Hilfeleistung erbringen. Dies kann und sollte zu Konsequenzen führen, auch unter rechtlichen Aspekten. Aus diesen Gründen kann Schmerz im Sport nicht als ein unbedeutendes Problem innerhalb und außerhalb des Trainings und Wettkampfes angesehen werden, sondern erfordert sorgfältiges Handeln und Behandeln, denn eine ungenügende und unkritische Schmerztherapie kann zu langwierigen, ernsthaften gesundheitlichen Konsequenzen führen. Ärzte, Physiotherapeuten, andere Betreuer und teilweise auch Trainer machen sich selbst schuldig und verantwortlich, wenn sie ihre jeweilige Verantwortung, ihr überlegenes Fachwissen und ihre Garantenstellung vernachlässigen. Dies gilt für alle Fälle fehlerhafter Entscheidungen und Handlungen bzw. Unterlassungen, wenn z. B. schmerzhafte Leistungseinschränkungen den Athleten an einer normalen Teilnahme an Training und Wettbewerb hindern. Dies gilt auch und insbesondere für die Herausnahme verletzter Athleten aus Training und Wettbewerb, solange diese unter medizinischen Gesichtspunkten nicht wieder vollständig fit sind bzw. mit einem reduzierten Aufbautraining beginnen können. Wenn bei einer Weltmeisterschaft von 1168 verabreichten Medikamenten an 425 verschiedene Athleten 1092 Schmerzmittel und 381 sog. nichtsteroidale anti-entzündliche und muskelrelaxierende Mittel betreffen, kann von einer medizinisch indizierten und ethisch verantwortbaren Schmerztherapie sicher nicht mehr durchweg ausgegangen werden. Dies bedeutet, anders interpretiert: Von 468 in diesem Wettbewerb eingesetzten Athleten/innen haben 425 regelmäßig Analgetika und/oder Antiphlogistika erhalten, um überhaupt am Wettkampf teilnehmen zu können. Im Prinzip ist es vom ethischen wie vom medizinrechtlichen Gesichtspunkt her gesehen nicht akzeptabel, wenn die Verabreichung von Schmerzmitteln erfolgt, auch wenn es sich um Begleitsymptome einer Überbeanspruchung 1134
Doping – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte
handelt, nur damit der Athlet früher zu Training und Wettkampf zurückkehren bzw. trotz leistungseinschränkender Schmerzen an beidem teilnehmen kann. Ein solches ärztliches Verhalten, ggf. auch auf Druck anderer Personen wie z. B. des Trainers, widerspricht ethischen und medizinischen Grundsätzen und kann ggf. als Verstoß gegen das Berufsrecht und u. U. auch als Körperverletzung gesehen werden. Es ist hinlänglich bekannt, dass solche Fälle i. d. R. allerdings keine Konsequenzen haben, da alle Beteiligten sozusagen „unter einer Decke“ stecken. Nichtsdestoweniger müssen gerade die Ärzte, die in übergeordneter Funktion z. B. im Rahmen der Dopingkontrollen oder wissenschaftlich-sportmedizinischer Studien Kenntnis von derartigen Vorgängen erhalten, konsequent gegen einen solchen Missbrauch von Analgetika und Antiphlogistika vorgehen. Letztendlich machen sich auch Athleten, insbesondere in den Teamsportarten, schuldig, wenn sie ernsthafte Verletzungen ihrer Gegner unter dem Einfluss von Stimulanzien, Kokain, Marihuana und Cannabis, Morphin, Tramadol und ggf. auch anderen Medikamenten billigend in Kauf nehmen, weil ihr Verhalten im Wettkampf nicht mehr von der erforderlichen Kontrolle, sondern stattdessen von einem unkontrolliert aggressiven Verhalten gekennzeichnet ist. Beispiele dafür finden sich in den Protokollen der Disziplinarkommissionen zur Genüge. Strenge Bestrafungen sind in solchen Fällen angezeigt. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass im Leistungssport, aber leider auch im oberen Bereich des Amateursports, die Trainings- und Wettkampfbelastungen immer größer werden, ohne dass dem damit verbundenen „Overusing“ von organisatorischer, medizinischer und trainingswissenschaftlicher Seite ausreichend Rechnung getragen wird. Versuche, z. B. den Spielkalender im Fußball auf nationaler und internationaler Ebene zu koordinieren, um derartige Überbelastungen zu reduzieren, hat die FIFA schon 1999 in die Medien gebracht. Diese Initiativen wurden rasch abgewiesen, denn zu viele finanzielle Interessen der Nationalen Verbände, der Confederations, der Medien und der Sponsoren standen dem entgegen. Aber auch ehemalige Spieler, die heute Funktionärspositionen bekleiden, haben sich – teilweise wider besseres Wissen – dagegen ausgesprochen. Vereine, die sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation einen großen Stamm an gleich qualifizierten Spielern erlauben können, sahen keine Gründe für eine solche Koordinierung. Andere Vereine sind die Leidtragenden im sportlichen Bereich, die betroffenen Spieler nicht selten auch im gesundheitlichen Bereich. Der Versuch des FIFA Medical Assessment and Research Center (F-MARC), eine wissenschaftliche Studie zum „Overusing“ in einer professionellen Fußball-Liga zu starten, wurde zunächst vom zuständigen Nationalverband unterstützt, scheiterte dann aber zumindest bei den Teams der 1. Liga der Männer am Widerstand der Trainer und teilweise auch der Mannschafts1135
Toni Graf-Baumann
ärzte, die offensichtlich nicht bereit waren, medizinische Daten ihrer Spieler selbst anonymisiert herauszugeben. Die 1. Liga der Frauen hingegen zeigte sich kooperativ. Die Ergebnisse befinden sich in der Auswertungsphase. Legt man die anfänglich zitierte Definition von Doping zugrunde, muss zumindest einer der Gründe, nämlich die Sicherstellung der körperlichen Gesundheit und der mentalen Integrität der Athleten, unter den Gesichtspunkten eines Einsatzes von erlaubten Analgetika und Antiphlogistika durch die Sportmedizin wesentlich kritischer betrachtet werden. Damit werden u. U. Symptome des „Overusing“ kaschiert, um die Athleten einsatzfähig zu machen bzw. zu erhalten, unter bewusster Inkaufnahme gesundheitlicher Folgeschäden, da die medizinisch indizierte Behandlung der der Schmerzsymptomatik zugrunde liegenden Verletzung/Erkrankung und die dann erforderliche Rehabilitationszeit unberücksichtigt bleiben. Leider fehlen aus den o.g. Gründen bis heute eindeutige wissenschaftliche Studien, um diese Hypothese belegen und damit ggf. die Überbelastungssituationen ändern zu können. 2. Genetisches Doping Betrachtet man den aktuellen Wissensstand zum Thema Genetisches Doping, so sprechen schon heute mehrere Aspekte dafür, dass man neben einer gezielten Schmerzausschaltung, z. B. im Bereich einer lokalisierten Muskelverletzung, durch den Einsatz gentechnologischer Verfahren, welche gezielt auf die Nozizeption der verletzten Struktur einwirken, ohne Einfluss auf die zentrale Schmerzperzeption und -verarbeitung, auch die Wiederherstellung der zerstörten Strukturen – etwa der Muskelfasern – schneller erreichen kann als mit üblichen Methoden. Dies geht i. d. R. einher mit einem Zuwachs an Muskelmasse, ohne Verlust der Belastungsfähigkeit der vorher verletzten Muskelstrukturen. Medizinisch gesehen mag das indiziert sein, wenn diese Behandlungsmethoden routinemäßig klinisch einsetzbar werden. Die gesundheitlichen Langzeitfolgen solcher gentechnologischer Therapieeingriffe sind heute noch nicht übersehbar. Eindeutig scheint zu sein, dass diese Therapie nicht nur sehr viel rascher zur Wiederherstellung der vollen Leistungsfähigkeit führt, sondern offensichtlich auch zu einem Leistungszuwachs. Das könnte als Doping definiert werden, wäre aber an der Grenze zur medizinisch indizierten und damit erlaubten Therapie. Niemand vermag heute diese Grenze im Sinne des Dopings bzw. der zulässigen Therapie zu definieren.
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Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball Inhaltsübersicht I. Abgrenzung der Vereinsgerichtsbarkeit zur Schiedsgerichtsbarkeit 1. Begriff 2. Rechtsfolgen 3. Abgrenzungskriterien
II. Die Schiedsgerichte im deutschen Fußball als echte Schiedsgerichte 1. Regelung in den Satzungen des DFB und des Ligaverbands 2. Absicht der Entscheidung durch echte Schiedsgerichte
Aus Anlass einer neuen Entscheidung des BGH befasst sich der folgende Beitrag mit der Frage, ob es sich bei den in den Satzungen des DFB und des Ligaverbands vorgesehenen Schiedsgerichten um echte ZPO-Schiedsgerichte oder um Verbandsgerichte handelt. Dabei wird das rechtstatsächliche Material deswegen ausgeklammert, weil es im Beitrag von Alfred Sengle in dieser Festschrift (S. 1205) gesondert dargestellt wird, worauf hier verwiesen wird. Vom Thema her ist der Beitrag in der Festschrift für Volker Röhricht gut aufgehoben. Das besondere Interesse des Jubilars am Sportrecht zeigt sich in zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen, und im Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit verfügt Volker Röhricht ebenfalls über reiche Erfahrungen. Dies gibt mir die Hoffnung, dass mein Beitrag trotz der darin enthaltenen kritischen Bemerkungen über seine Kollegen vom III. Zivilsenats auf das Interesse des Geehrten stößt.
I. Abgrenzung der Vereinsgerichtsbarkeit zur Schiedsgerichtsbarkeit 1. Begriff a) Zur Vereinsautonomie gehört es, dass in der Satzung die Möglichkeit vorgesehen werden kann, gegen ein Mitglied, das gegen Normen des Vereins (Satzung, Ordnungen) verstößt, Sanktionen verhängt werden können, die meistens als „Vereinsstrafe“ bezeichnet werden1. Viele Satzungen legen die Verhängung solcher Sanktionen in die Hand eines speziell dafür geschaffenen Vereinsorgans, das von seiner Bezeichnung her seine Tätigkeit häufig als Ausübung rechtsprechender Gewalt qualifiziert (z. B. „Sportgericht“, „Vereinsgericht“, „Ehrengericht“). Eine solche Bezeichnung ändert selbstverständlich nichts daran, dass die Tätigkeit eines solchen „Gerichts“ keine Rechtspre-
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S. dazu Westermann in Erman, BGB, 11. Aufl. 2004, § 25 Rz. 5 ff.; Hadding in Soergel, BGB, 13. Aufl. 2000, § 25 Rz. 37 ff.
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chung i. S. einer Entscheidung des jeweiligen Konflikts durch eine unabhängige und unparteiliche Instanz darstellt. Insbesondere erfüllt das „Gericht“ nicht die für die Annahme rechtsprechender Tätigkeit erforderliche Voraussetzung, dass die Entscheidung durch einen von den Parteien verschiedenen außenstehenden Dritten ergeht2. Das Vereinsgericht ist vielmehr ein Organ des Vereins, so dass dieser bei der Verhängung einer Vereinsstrafe in eigener Sache handelt. Nichts anderes gilt, wenn das die Vereinsstrafe verhängende bzw. in einem vereinsinternen Rechtsbehelfsverfahren überprüfende Organ in der Satzung als „Schiedsgericht“ bezeichnet wird3. Eine solche Bezeichnung macht aus dem Organ kein Schiedsgericht i. S. d. §§ 1025 ff. ZPO. Bei einem von ihm erlassenen „Schiedsspruch“ handelt es sich deshalb um keinen Schiedsspruch i. S. v. § 1054 ZPO, sondern um einen bloßen vereinsinternen Akt4. Maßgeblich ist nicht die Bezeichnung des Organs bzw. des von ihm erlassenen Aktes, sondern die jeweilige inhaltliche Qualifikation. b) Auch wenn nicht jedes so benannte Vereinsschiedsgericht ein Schiedsgericht i. S. d. §§ 1025 ff. ZPO ist, gibt es gleichwohl im Vereinsrecht auch echte Schiedsgerichtsbarkeit, die die Anforderungen der §§ 1025 ff. ZPO erfüllt. Dies folgt schon daraus, dass in der Satzung echte Schiedsgerichte eingesetzt werden können. Insoweit ist freilich manches streitig. Insbesondere diskutiert man darüber, ob sich die Rechtsgrundlage für die Wirksamkeit einer derartigen Satzungsbestimmung § 1066 ZPO bzw. § 1048 a. F. ZPO entnehmen lässt oder ob die Wirksamkeit der Einsetzung des Schiedsgerichts auf den Willen des einzelnen Mitglieds zurückgeführt werden können muss (mit praktischen Auswirkungen für Mitglieder, die einer satzungsändernden Schiedsklausel nicht zugestimmt haben, sowie für neu eingetretene Mitglieder)5. Die Tendenz geht dabei dahin, stärker als nach der h. M. angenommen6, den Willen des einzelnen Mitglieds für erheblich zu halten7. Dem muss hier deswegen nicht nachgegangen werden, weil unklar nur der Grenzverlauf zwischen der Vereinsgerichtsbarkeit und der Schiedsgerichtsbarkeit bei vereinsrechtlichen Streitigkeiten ist. Unabhängig davon, wo die Grenze verläuft, gibt es auf jeden Fall im Vereinsrecht echte Schiedsgerichtsbarkeit.
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Ausführlich dazu insbesondere Smid, Rechtsprechung, 1990, S. 48 ff., 153 ff. So in einer unlängst vom BGH entschiedenen Fallgestaltung (BGH, NJW 2004, 2226); s. ferner den Sachverhalt in BGHZ 128, 93. So zutreffend BGH, NJW 2004, 2226 (2227) und davor schon BGHZ 128, 93 (109 f.). S. dazu aus jüngster Zeit insbesondere BGHZ 144, 146 (dazu Haas, ZGR 2001, 325); Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 1066 Rz. 5 ff. Reuter in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 25 Rz. 58. So BGHZ 144, 146 (149 f.) für Vereine, bei denen das Mitglied auf die Mitgliedschaft angewiesen ist (kritisch dazu Haas, ZGR 2001, 325 [344 ff.]); s. weiter Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, § 1066 Rz. 10 ff.
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Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball
2. Rechtsfolgen Handelt es sich im Einzelfall bei dem als „Schiedsgericht“ bezeichneten Organ in Wirklichkeit um ein Vereinsgericht, so stellt dessen Entscheidung keinen Schiedsspruch dar. Die Entscheidung ist damit nach den allgemeinen Grundsätzen zur Überprüfung von Vereinsstrafen durch die staatlichen Gerichte überprüfbar, wobei es in unserem Zusammenhang nicht darauf ankommt, wie weit die Kontrollbefugnis der staatlichen Gerichte reicht und ob und inwieweit der Verein in seiner Satzung die Kontrollbefugnis der staatlichen Gerichte einschränken kann8. Zur Überprüfung der Entscheidung muss das Mitglied bei dem örtlich und sachlich in erster Instanz zuständigen Gericht Klage erheben. Erfüllt das in der Satzung vorgesehene Organ dagegen die an ein Schiedsgericht zu stellenden Anforderungen, womit es sich bei seiner Entscheidung um einen Schiedsspruch handelt, so kann dieser grundsätzlich nicht von den staatlichen Gerichten auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft werden. Hier kommt nur ein Aufhebungsantrag (§ 1059 ZPO) beim Oberlandesgericht (§ 1062 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) in Betracht, der wegen der Beschränkung der Aufhebungsgründe (§ 1059 Abs. 2 ZPO) nur einen stark eingeschränkten Rechtsschutz bietet. Für ein Vereinsmitglied, das sich gegen eine durch ein als „Schiedsgericht“ bezeichnetes Organ verhängte oder bestätigte Vereinsstrafe wehren will, können sich aus der unterschiedlichen Zuständigkeit und Kontrolldichte missliche Konsequenzen ergeben. Erhebt es vor dem erstinstanzlichen Gericht Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der verhängten Maßnahme, die mit der Begründung abgewiesen wird, die angegriffene Entscheidung stelle einen echten Schiedsspruch dar, so scheitert ein anschließend gestellter Aufhebungsantrag in aller Regel daran, dass inzwischen die Frist nach § 1059 Abs. 3 ZPO abgelaufen ist. Wird dagegen ein nach § 1059 ZPO gestellter Aufhebungsantrag deshalb abgewiesen, weil das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung keinen Schiedsspruch, sondern eine bloße Vereinsverwaltungsmaßnahme sieht9, so kann das Mitglied zwar Klage erheben, hat aber immerhin erheblich Zeit verloren. Überdies kann es im Einzelfall so sein, dass in der Satzung des Vereins für eine Klageerhebung eine Frist vorgesehen ist, die inzwischen abgelaufen ist. Das Risiko, sich für den falschen Weg zu entscheiden, kann dem Vereinsmitglied auch nicht durch eine Verweisung in entsprechender Anwendung von § 281 ZPO abgenommen werden10. Der Möglichkeit einer Verweisung steht entgegen, dass es um ganz unterschiedliche Verfahrensarten geht und überdies der Umfang der Kontrollmöglichkeit erheblich voneinander abweicht.
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8 S. zu diesem schwierigen und umstrittenen Problembereich Hadding in Soergel,
BGB, § 25 Rz. 57 ff. 9 So in dem Sachverhalt BGH, NJW 2004, 2226. 10 Für die Möglichkeit einer Verweisung aber Schlosser, LMK 2004, 169 (170).
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Im Interesse der Vereinsmitglieder ist es deshalb geboten, die Abgrenzung zwischen Vereinsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit an Hand möglichst klarer und eindeutiger Kriterien vorzunehmen und dadurch Unklarheiten darüber zu vermeiden, welchen Rechtscharakter die anzugreifende Maßnahme hat. 3. Abgrenzungskriterien a) Das Problem der Abgrenzung zwischen Vereinsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit ist Gegenstand einer Entscheidung des III. Zivilsenats des BGH v. 27.5.200411. Die Klägerin war dort vom Vorstand des Vereins (es handelt sich um einen Hundezüchterverein) aus wichtigem Grund aus diesem ausgeschlossen worden. Das darauf von der Klägerin angerufene, gemäß der Satzung eingerichtete „Schiedsgericht des DLC e.V.“ bestätigte die Entscheidung des Vorstands durch „Schiedsspruch“. Der von der Klägerin anschließend beim OLG gestellte Aufhebungsantrag (§ 1059 ZPO) hatte beim OLG Erfolg, wurde aber auf die von dem Verein eingelegte Rechtsbeschwerde hin vom BGH deshalb als unzulässig abgewiesen, weil es sich bei dem „Schiedsgericht“ in Wirklichkeit um ein Vereinsgericht handele, weshalb dessen Entscheidung keinen Schiedsspruch darstelle. Zur Begründung stellt der BGH nicht auf ein zentrales Kriterium, sondern auf eine Gesamtschau ab, bei der folgende vier Gesichtspunkte besonders hervorgehoben werden: –
Als Aufgabe des Schiedsgerichts werde in der Satzung an erster Stelle die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Mitgliedern von Vereinsorganen „insbesondere über deren Zuständigkeit“ genannt. Das spreche deswegen gegen eine Qualifikation des „Schiedsgerichts“ als echtes Schiedsgericht, weil die Erledigung von Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Mitgliedern von Vereinsorganen eine typisch vereinsinterne Verwaltungsmaßnahme sei.
–
Es sei nicht sichergestellt, dass das Verfahren fair und unparteiisch durchgeführt werde. So seien die Beteiligten nur „im Einzelfall“ zu hören bzw. ihnen Gelegenheit zur Äußerung und Stellungnahme zu geben. Weiter sei nicht niedergelegt, dass die Entscheidung nach Recht und Gesetz oder wenigstens nach Billigkeit ergehe.
–
Gegen die Einordnung des „Schiedsgerichts“ spreche weiter dessen Besetzung. Zwar sei die Mitgliedschaft im Vorstand satzungsmäßig mit der Mitgliedschaft im „Schiedsgericht“ unvereinbar, doch könnten die Parteien auf dessen Besetzung nicht paritätisch Einfluss nehmen. Die Mitglieder des „Schiedsgerichts“ würden nämlich für jeweils drei Jahre von der Mitgliederversammlung gewählt, weshalb das einzelne Vereinsmit-
__________ 11 NJW 2004, 2226 (dazu Schlosser, LMK 2004, 169 sowie Kröll, ZIP 2005, 13).
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glied bei einer Streitigkeit mit dem Verein keine rechtlich gesicherte Möglichkeit habe, im gleichen Umfang wie der Verein an der Zusammensetzung des „Schiedsgerichts“ mitzuwirken. –
Die Entscheidung des „Schiedsgerichts“ sei nicht zur Vollstreckung durch die staatlichen Vollstreckungsbehörden bestimmt, sondern werde der Satzung zufolge durch den Vorstand vollzogen. Sofern die Entscheidung nicht auf Ausschluss erkennt, werde das Mitglied, das sich der Entscheidung nicht fügt, von der Mitgliederliste gestrichen.
b) aa) Es gehört wenig Fantasie dazu vorherzusagen, dass dieses Urteil zu erheblicher Unruhe im Verbands- und Vereinswesen führen wird. Als Beitrag zur Rechtssicherheit kann die Entscheidung auf jeden Fall nicht gefeiert werden12. Vermutlich wird es in größerem Umfang zu Nachfolgeverfahren kommen, wobei deren Ausgang in den allermeisten Fällen kaum vorhergesagt werden kann. Diese Unsicherheit liegt im Wesen jeder Gesamtschau. Dabei ist es denkbar, dass im Einzelfall noch weitere Gesichtspunkte als die vom BGH in seinem Urteil berücksichtigten in die Gesamtschau einfließen. Es ist keineswegs so, dass es einen abschließenden Katalog von Gesichtspunkten gibt und es nur darum geht, im Einzelfall diese Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen. Die dringend gebotene Rechtssicherheit13 wird durch die Gesamtschau also keinesfalls erreicht. Damit ist nicht gesagt, dass das Abstellen auf eine Gesamtschau methodisch verfehlt ist. Ein derartiger Vorwurf wäre nur dann berechtigt, wenn es für die Abgrenzung von Vereinsgerichtsbarkeit und ZPO-Schiedsgerichtsbarkeit ein eindeutiges Kriterium gäbe, das das Betreten des ungewissen Terrains einer Gesamtschau entbehrlich machen würde. Ob es derartiges Kriterium gibt, erscheint zweifelhaft14. Zumindest soll hier nicht der Versuch unternommen werden, ein solches herauszuarbeiten. Eine andere Frage ist, ob die vom BGH in seiner Entscheidung verwendeten Gesichtspunkte überzeugen. Insoweit bestehen Bedenken. bb) Wenig aussagekräftig ist es zunächst, wenn der BGH meint, gegen die Qualifikation als echtes Schiedsgericht spreche es, dass das „Schiedsgericht“ Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Mitgliedern von Vereinsorganen zu entscheiden habe. Dabei mag es sich um eine typisch vereinsinterne Verwaltungsmaßnahme handeln, doch kann daraus allenfalls gefolgert werden, dass es sich bei einer Entscheidung eines derartigen Zuständigkeitsstreits um keinen Schiedsspruch i. S. v. § 1054 ZPO handelt. Damit ist nicht gesagt, dass Gleiches auch für Entscheidungen von Streitigkeiten zwischen dem Verein und einem seiner Mitglieder zu gelten hat. Hierbei handelt es sich
__________ 12 In diese Richtung auch Schlosser, LMK 2004, 169. 13 S. o. unter 2. 14 S. aber u. II. 2. a).
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nicht um eine vereinsinterne Verwaltungsmaßnahme, sondern um eine schiedsfähige Streitigkeit. Die Schwäche der Argumentation des BGH liegt darin, dass er offenbar meint, alle Entscheidungen des „Schiedsgerichts“ müssten notwendigerweise gleich eingeordnet werden. Eben dieser Schluss ist aber nicht zwingend. Es ist durchaus denkbar, dass es sich je nach der konkreten Art der Streitigkeit einmal um einen ZPO-Schiedsspruch, das andere Mal dagegen um die Entscheidung eines reinen Vereinsgerichts handelt. cc) Im Gegensatz zur Auffassung des BGH spielt es keine Rolle, dass in der Satzung nicht festgelegt ist, dass die Entscheidung nach Recht und Gesetz oder nach Billigkeit zu erfolgen hat. Eine derartige Festlegung ist nicht erforderlich. Eine Entscheidung nach Billigkeit setzt zwar voraus, dass die Parteien das Schiedsgericht dazu ausdrücklich ermächtigt haben (§ 1051 Abs. 3 ZPO), doch gilt Gleiches nicht auch für eine Entscheidung nach Recht und Gesetz. Enthält der Schiedsvertrag nichts zu den Kriterien, nach denen die Entscheidung getroffen werden soll, so muss das Schiedsgericht das einschlägige staatliche Recht anwenden (vgl. § 1051 Abs. 2 ZPO). Aus der Qualifikation als Schiedsgericht folgt, dass die Entscheidung auf dem staatlichen Recht beruhen muss. Nicht dagegen kann umgekehrt gefolgert werden, dass es sich um kein Schiedsgericht handeln kann, wenn im Schiedsvertrag bzw. in der das Schiedsgericht nach § 1066 ZPO anordnenden Verfügung nicht bestimmt ist, dass die Entscheidung nach Recht und Gesetz zu ergehen hat. Gewichtiger erscheint der Hinweis des BGH darauf, dass nach der Satzung des Vereins die Beteiligten nur „im Einzelfall“ zu hören seien. Da die Gewährung rechtlichen Gehörs auch im Schiedsverfahren zwingend geboten ist (§ 1042 Abs. 1 Satz 2 ZPO)15, kann es gegen die Qualifikation als Schiedsgericht sprechen, wenn die Gewährung rechtlichen Gehörs nicht in allen Fällen zwingend vorgesehen ist. Voraussetzung für eine derartige Folgerung ist allerdings, dass der Satzungsgeber um die zwingende Notwendigkeit der Gewährung rechtlichen Gehörs auch im Schiedsverfahren weiß. Fehlt es an diesem Wissen, so mag eine Klausel, die die Gewährung rechtlichen Gehörs nicht in allen Fällen vorsieht, unwirksam sein, erlaubt aber nicht den Schluss, dass das Entscheidungsorgan kein Schiedsgericht sein soll. Ebenso wenig wie die Qualifikation eines staatlichen Gerichts dadurch berührt wird, dass in einem Verfahrensgesetz die Gewährung rechtlichen Gehörs nicht sichergestellt ist, verliert ein Schiedsgericht diese Eigenschaft, wenn die Möglichkeit vorgesehen ist, dass es die Parteien nur im Einzelfall anhören muss. dd) Am schwersten unter den vom BGH gegen die Qualifizierung des „Schiedsgerichts“ als echtes Schiedsgericht verwendeten Argumenten wiegt der Hinweis darauf, dass die Beteiligten auf die Besetzung des „Schieds-
__________ 15 Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, Anh. § 1061 Rz. 83; Schwab/Walter, Schiedsgerichts-
barkeit, 6. Aufl. 2000, Kap 15 I 1.
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Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball
gerichts“ keinen paritätischen Einfluss nehmen können,, wodurch die Überparteilichkeit des „Schiedsgerichts“ nicht gesichert sei. Hierbei schwebt dem BGH offenbar die Besetzung eines auf einer Schiedsvereinbarung beruhenden Schiedsgerichts vor, wo die Parteien in aller Regel gleichgewichtige Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Besetzung des Schiedsgerichts haben (in der Regel dergestalt, dass jede Partei einen Schiedsrichter benennt, die sich ihrerseits auf den Obmann als dritten Schiedsrichter einigen). Daraus kann freilich nicht der Schluss gezogen werden, dass ungleiche Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Besetzung dem Charakter des Schiedsgerichts als ZPOSchiedsgericht entgegen stehen. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf § 1034 Abs. 2 Satz 1 ZPO hinzuweisen16. Danach kann eine durch die Schiedsvereinbarung bei der Zusammensetzung des Schiedsgerichts benachteiligte Partei beim staatlichen Gericht beantragen, einen oder alle Schiedsrichter abweichend von der erfolgten Benennung oder vereinbarten Ernennungsregelung zu bestellen. Anders als nach § 1025 Abs. 2 ZPO a. F. führt ein Besetzungsübergewicht also nicht zur Unwirksamkeit des Schiedsvertrags und beeinträchtigt damit auch nicht den Charakter des Schiedsgerichts als echtes Schiedsgericht. Macht die benachteiligte Partei von der Möglichkeit, das staatliche Gericht anzurufen, keinen Gebrauch, so handelt es sich bei der späteren Entscheidung um einen echten Schiedsspruch, und zwar ohne dass ein Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 2 ZPO gegeben wäre. Bei seiner Argumentation berücksichtigt der BGH weiter nicht, dass es sich im konkreten Fall um ein ständiges Vereinsschiedsgericht handelt. Bei derartigen Schiedsgerichten ist anerkannt, dass im Interesse einer kontinuierlichen und gleichmäßigen Rechtsprechung in allen den Verein betreffenden Rechtsstreitigkeiten für die Besetzung des Schiedsgerichts nicht dieselben Grundsätze wie bei einem auf einer Schiedsvereinbarung beruhenden Schiedsgericht gelten. So wird es etwa als zulässig angesehen, dass das Vereinsmitglied, das Partei in einem gegen den Verein geführten Schiedsverfahren ist, „ihren“ Schiedsrichter nur aus einer Liste vereinsangehöriger Schiedsrichter auswählen kann17. Noch weitergehend soll es möglich sein, das Schiedsgericht in einer feststehenden Besetzung entscheiden zu lassen, wenn die Schiedsrichter von einem Vereinsgremium (insbesondere von der Mitgliederversammlung) gewählt worden sind18. So lag der Sachverhalt bei der
__________ 16 Schlosser, LMK 2004, 169. 17 Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, § 1034 Rz. 4; Schwab/Walter (Fn. 15), Kap. 47 Rz. 1.
Die Entscheidung BGHZ 51, 55 ist hier nicht einschlägig. Dort ging es um keine Vereinsschiedsgerichtsbarkeit, sondern um eine vertragliche Schiedsklausel, bei der eine Partei den von ihr zu benennenden Schiedsrichter nur aus einer von der anderen Partei (einem Verband) aufgestellten Liste auswählen können sollte. 18 Schwab/Walter (Fn. 15), Kap. 47 Rz. 1; s. weiter Schlosser, LMK 2004, 169, der darauf hinweist, dass große Vereine auf ständige Schiedsgerichte mit fester Besetzung angewiesen sind.
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hier besprochenen Entscheidung des BGH. Auf die besonderen Probleme der Besetzung eines ständigen Schiedsgerichts wird dort nicht eingegangen. ee) Nicht überzeugen kann es schließlich, wenn der BGH als letzten Mosaikstein seiner Gesamtschau das Argument anführt, die Entscheidung des „Schiedsgerichts“ solle statt von den staatlichen Vollstreckungsbehörden der Satzung zufolge vom Vorstand vollzogen werden. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass die zu Lasten des Mitglieds angeordnete Rechtsfolge meistens von den staatlichen Behörden deshalb nicht vollstreckt werden kann, weil es um vereinsinterne Maßnahmen geht (z. B. Aussprechen einer Rüge, Verlust von Mitgliedschaftsrechten, Ausschluss von einzelnen Vereinseinrichtungen, Ausschluss der Wählbarkeit zu einem Vereinsamt, Ausschließung aus dem Verein). Alle solche Maßnahmen können nur vereinsintern getroffen, und nicht durch staatliche Vollstreckungsbehörden durchgesetzt werden. ff) Insgesamt bleiben also Zweifel, ob es sich bei der vom BGH entschiedenen Fallgestaltung tatsächlich um ein reines Verbandsorgan und nicht doch um ein echtes Schiedsgericht gehandelt hat. Letztlich soll diese Frage hier deswegen nicht beantwortet werden, weil Gegenstand dieses Beitrags allein der Charakter der Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball ist. Bevor darauf eingegangen werden soll, erscheint noch ein Hinweis darauf zweckmäßig, dass zahlreiche Vereine und Verbände, in deren Satzung ein Schiedsgericht vorgesehen ist, die neue Entscheidung des BGH zum Anlass dafür nehmen sollten, die rechtliche Qualifikation dieses Schiedsgerichts eindeutig, und zwar „BGH-treu“, klarzustellen (erforderlichenfalls durch Satzungsänderung).
II. Die Schiedsgerichte im deutschen Fußball als echte Schiedsgerichte 1. Regelung in den Satzungen des DFB und des Ligaverbands Im Rahmen dieses Beitrags ist es weder möglich noch erforderlich, die Bedeutung und die Zuständigkeiten der Schiedsgerichte innerhalb des vom DFB organisierten Fußballsports dazustellen. Insoweit wird auf den Beitrag von Alfred Sengle in dieser Festschrift19 hingewiesen, wo das rechtstatsächliche Material umfassend aufbereitet ist. Es reicht aus, auf die Satzungsbestimmungen hinzuweisen, auf denen die Entscheidung durch ein Schiedsgericht vorgesehen ist. In der DFB-Satzung findet sich die Grundlage für die Schiedsgerichtsbarkeit in § 17 Abs. 1. Danach werden Streitigkeiten zwischen dem DFB und seinen
__________ 19 S. u. S. 1205 ff.
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Mitgliedsverbänden sowie der Mitgliedsverbände untereinander, die sich aus dem Mitgliedschaftsverhältnis ergeben, durch ein Schiedsgericht entschieden. Beim Ligaverband stellt § 13 der Ligaverbandssatzung die Grundlage für die Entscheidung von Streitigkeiten durch ein Schiedsgericht dar. Obwohl die beiden Vorschriften untereinander nicht unerheblich voneinander abweichen (dies gilt vor allem für die Besetzung des Schiedsgerichts: Beim Schiedsgericht des Ligaverbands handelt es sich um ein ständiges Schiedsgericht mit weitgehend fester Besetzung, wohingegen beim Schiedsgericht nach § 17 DFB-Satzung jede Partei einen Schiedsrichter benennt, die sich auf den Vorsitzenden einigen), handelt es sich bei beiden Schiedsgerichten eindeutig um echte ZPO-Schiedsgerichte und nicht etwa nur um rein bezeichnungsmäßig aufgewertete Verbandsgerichte. Dies gilt unabhängig davon, ob man sich der besprochenen Gesamtschau des BGH einschließlich der vom BGH dabei herangezogenen Kriterien anschließt. 2. Absicht der Entscheidung durch echte Schiedsgerichte a) Aus mehreren, im Folgenden zu besprechenden Einzelheiten, ergibt sich unmissverständlich, dass es sich sowohl bei dem Schiedsgericht nach § 17 DFB-Satzung als auch bei dem nach § 13 der Satzung des Ligaverbands um echte ZPO-Schiedsgerichte handeln soll. Diese Absicht ist entscheidend für die Einordnung der beiden Schiedsgerichte als ZPO-Schiedsgerichte. Die bloße Absicht stellt selbstverständlich nicht sicher, dass damit ein einwandfreies Schiedsverfahren gewährleistet ist. Sowohl die Besetzung des Schiedsgerichts, als auch das von ihm eingeschlagene Verfahren sowie die Grundlagen, auf denen sein Spruch beruht, können fehlerhaft sein. Dagegen stehen innerhalb der §§ 1025 ff. ZPO Abhilfemöglichkeiten zur Verfügung (insbesondere § 1034 Abs. 2 ZPO bei Besetzungsmängeln sowie die Aufhebungsmöglichkeit nach § 1059 ZPO bei Verfahrensmängeln und inhaltlichen Mängeln des Schiedsspruchs). In Extremfällen mag die Grundlage, auf der das Schiedsgericht beruht oder der von ihm erlassene Schiedsspruch auch nichtig sein20, doch ändert dies nichts daran, dass es sich jeweils um eine spezifisch schiedsgerichtliche Problematik handelt. An dieser Stelle ist noch einmal auf die Entscheidung BGH NJW 2004, 2226 und die darin praktizierte Gesamtschau zurückzukommen. Die dabei vom BGH herangezogenen Gesichtspunkte mögen Indizien sein, die gegen die Absicht des Vereins sprechen, ein ZPO-Schiedsgericht zu installieren, sondern die Streitigkeit durch ein reines Vereinsgericht entscheiden zu lassen. Sollte die Entscheidung dagegen nach dem Willen des Satzungsgebers durch ein ZPO-Schiedsgericht ergehen, so machen die (hier unterstellten) Defizite
__________ 20 Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, § 1029 Rz. 26 (nichtige Schiedsvereinbarung) und
§ 1059 Rz. 7 (absolut unwirksamer Schiedsspruch).
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in der Besetzung des Schiedsgerichts und in seinem Verfahren sowie bei den rechtlichen Grundlagen seiner Entscheidung aus dem Schiedsgericht kein Vereinsgericht. Ein Vereinsgericht ist qualitativ etwas anderes als ein echtes Schiedsgericht und nicht etwa so etwas wie ein schlechtes Schiedsgericht. Wer ein Schiedsgericht einsetzen will, möchte keine Entscheidung durch ein Vereinsgericht und muss es nicht hinnehmen, dass das Gericht kurzerhand als Vereinsgericht klassifiziert wird. Umgekehrt gilt selbstverständlich nichts anderes. Ein als Vereinsgericht gewolltes Entscheidungsorgan wird nicht dadurch zum echten Schiedsgericht, dass seine Besetzung und sein Verfahren den an ein Schiedsgericht zu stellenden Anforderungen genügt. Die vom BGH praktizierte Gesamtschau mag demnach als Sammlung von Indizien gegen die Absicht der Installierung eines echten ZPO-Schiedsgerichts ihre Berechtigung haben. Steht diese Absicht aber fest, so wird das Schiedsgericht auch bei noch so großen Defiziten über eine Gesamtschau nicht zum Vereinsgericht. b) aa) Dass es sich bei den Schiedsgerichten des DFB und des Ligaverbands um echte ZPO-Schiedsgerichte handeln soll, ergibt sich zunächst daraus, dass beide Schiedsgerichte erst nach Ausschöpfung eines verbandsinternen Instanzenzugs zur Entscheidung berufen sind (§ 17 Abs. 1 DFB-Satzung, § 13 Satz 1 Satzung Ligaverband)21. Konkret handelt es sich dabei in erster Instanz um das Sportgericht (§ 42 DFB-Satzung), dem als Rechtsmittelinstanz das Bundesgericht übergeordnet ist (§ 43 Nr. 1 DFB-Satzung). In diesem Zusammenhang ist weiter der sog. Vermittlungsausschuss zu nennen, der bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem DFB und dem Ligaverband nicht nur vermittelnd tätig wird, sondern auch eine Entscheidung zu treffen hat (§ 16 d DFB-Satzung). Das Schiedsgericht darf auch hier erst nach Durchführung dieses verbandsinternen Vorverfahrens angerufen werden (§ 16 d Satz 2 DFB-Satzung). Für die Qualifizierung der beiden Schiedsgerichte als echte ZPO-Schiedsgerichte ist die Notwendigkeit der vorherigen Ausschöpfung des verbandsinternen Instanzenzugs deshalb von ausschlaggebender Bedeutung, weil nicht angenommen werden kann, dass über den beiden verbandsinternen Instanzen (Sportgericht und Bundesgericht) eine dritte verbandsinterne Instanz geschaffen werden sollte. So heißt es denn in § 17 Abs. 1 DFB-Satzung auch ausdrücklich, dass das Schiedsgericht „unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs“ entscheidet, und in § 13 Satzung Ligaverband ist vorgesehen, dass das Ständige Schiedsgericht „in Ersetzung des ordentlichen Rechts-
__________ 21 Insoweit stimmt die Funktion der beiden Schiedsgerichte nicht mit dem Sachver-
halt von BGH, NJW 2004, 2226 überein. Dort entschied das Schiedsgericht sofort, d. h. ohne einen vorgeschalteten innerverbandlichen Instanzenzug.
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Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball
wegs“ entscheidet. Beide Formulierungen bringen deutlich zum Ausdruck, dass ohne die Schaffung des Schiedsgerichts von der Zuständigkeit der staatlichen Gerichte ausgegangen wird, dass also das Gebiet der Verbandsgerichtsbarkeit verlassen ist. bb) Wesentliche Bedeutung für die Absicht der Schaffung echter ZPO-Schiedsgerichte kommt im Bereich des Ligaverbands ferner der Tatsache zu, dass die sowohl für Vereine bzw. Kapitalgesellschaften als auch für die Spieler erforderliche Lizenz für die Teilnahme am Spielbetrieb nur dann erteilt wird, wenn ein vom Ligaverband vorgegebener Schiedsgerichtsvertrag abgeschlossen worden ist. Dieser Schiedsgerichtsvertrag ist eindeutig als Schiedsvereinbarung i. S. v. § 1029 ZPO gedacht. Das wird in dem Schiedsvertrag zwar nicht expressis verbis formuliert, doch ist immerhin ausdrücklich das nach § 1062 Abs. 1 ZPO zuständige Oberlandesgericht bezeichnet. Es braucht hier nicht der Frage nachgegangen zu werden, welche rechtliche Bedeutung dieser Schiedsgerichtsvertrag angesichts der schon in den Satzungen geregelten Zuständigkeit eines Schiedsgerichts hat. Worauf es in dem hier interessierenden Zusammenhang allein ankommt, ist die Tatsache, dass auch aus diesem Schiedsvertrag gefolgert werden muss, dass die Entscheidung durch ein echtes ZPO-Schiedsgericht getroffen werden soll. Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass an einzelnen Punkten den Anforderungen der §§ 1025 ff. ZPO nicht Genüge getan wird (was hier nicht geklärt werden muss, wofür aber auch kaum Anhaltspunkte ersichtlich sind), könnte dies nichts daran ändern, dass es sich um keine Verbandsgerichte, sondern um echte Schiedsgerichte handelt. cc) Zugunsten der Eigenschaft des Schiedsgerichts nach § 17 DFB-Satzung als echtes Schiedsgericht lässt sich schließlich noch anführen, dass in § 17 Abs. 6 DFB-Satzung ausdrücklich vorgesehen ist, dass die Schiedsrichter außer an die Satzung und Ordnungen des DFB an die Vorschriften des materiellen Rechts sowie an die allgemeinen Vorschriften der ZPO gebunden sind. In § 13 Satzung Ligaverband fehlt es zwar an einer entsprechenden Klausel, doch ist in § 4 Ziff. II der Schiedsverträge für Vereine und Kapitalgesellschaften der Lizenzligen sowie für Nicht-Amateure mit Lizenz immerhin vorgesehen, dass die Vorschriften der ZPO entsprechend gelten. Diese Verweisungen auf die Vorschriften des staatlichen materiellen Rechts sowie der ZPO zeigen ebenfalls, dass kein Verbandsgericht, sondern ein echtes ZPO-Schiedsgericht entscheiden soll. Dabei ist noch einmal hervorzuheben, dass eventuelle Defizite in dem vorgesehenen schiedsgerichtlichen Verfahren nicht dazu führen, dass aus dem Schiedsgericht ein bloßes Verbandsgericht wird. Somit kann festgehalten werden, dass es sich bei der Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball um echte Schiedsgerichtsbarkeit i. S. d. §§ 1025 ff. ZPO 1147
Wolfgang Grunsky
und nicht um Vereinsgerichtsbarkeit handelt. Die Entscheidung des BGH22 sollte für viele Vereine und Verbände Anlass sein, die rechtliche Qualifizierung ihrer Rechtsprechungsorgane klarzustellen. Für den DFB und den Ligaverband besteht ein solcher Klarstellungsbedarf nicht.
__________ 22 NJW 2004, 2226. Die nach Abschluss des Manuskripts erschienene Besprechung
des BGH-Urteils von Kröll (ZIP 2005, 13) konnte inhaltlich nicht mehr verwertet werden. Die von Kröll erhobenen Bedenken gegen das Urteil gehen jedoch weitgehend in dieselbe Richtung, wie sie in diesem Beitrag formuliert worden sind.
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Ulrich Haas und Clemens Prokop
Der eingetragene nichtwirtschaftliche Verein und das Kapitalersatzrecht Inhaltsübersicht I. Verein und Krise II. Darlehen der Vereinsmitglieder in der Vereinspraxis III. Überblick über den Meinungsstand 1. Überblick zum deutschen Recht 2. Blick ins österreichische Recht a) Bisherige Rechtslage zum Kapitalersatzrecht b) Rechtslage nach In-Kraft-Treten der Reform c) Vergleichbarkeit des deutschen mit dem österreichischen nichtwirtschaftlichen Verein IV. Stellungnahme 1. Die vom Kapitalersatzrecht erfassten negativen Folgen der Finanzierung a) Überblick über die negativen Folgen der Krisenfinanzierung b) Die Rechtsformneutralität der Finanzierungsfolgen
2. Die Zurechnung der Finanzierungsfolgen a) Die Kriterien für eine Zurechnung der Folgenverantwortung aa) Überblick bb) Eigener Ansatz (1) Informationsvorsprung (2) Korrekturen b) Folgerungen für den nichtwirtschaftlichen Verein aa) Finanzierungsfolgeverantwortung und individuelles Informationsrecht bb) Finanzierungsfolgenverantwortung und Möglichkeiten der Einflussnahme cc) Anforderungen an die „Doppelrolle“ des Gesellschafters dd) Kapitalersatzrecht und vereinsrechtlicher Gläubigerschutz V. Zusammenfassung
I. Verein und Krise Im Jahr 2003 gab es in der Bundesrepublik Deutschland 39320 (Unternehmens-)Insolvenzen. Welcher Anteil hiervon auf nichtwirtschaftliche Vereine i. S. d. § 21 BGB entfällt, lässt sich nicht ohne weiteres sagen; denn Vereine werden in den Insolvenzstatistiken nicht gesondert ausgewiesen, sondern – zusammen mit Stiftungen, Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit, Genossenschaften und rechtsfähigen ausländischen Erscheinungsformen – unter den „sonstigen Rechtsformen“ aufgeführt. Die Zahl der auf „sonstige Rechtsträger“ entfallenden Insolvenzen hat von 240 im Jahre 1999 auf 329 im Jahre 2001 zugenommen1. Im Jahr 2002 entfielen gar 430 Insolvenzen auf diese Kategorie2. Das sind etwa 1,14% der Unternehmensinsolvenzen.
__________ 1 2
Mitteilungen NZI 2002, 196. Neuhoff, NZI 2004, 486.
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Ulrich Haas und Clemens Prokop
Schätzungen gehen für die Jahre 2002 bzw. 2003 von 60 bis 120 Vereinsinsolvenzen aus3. Besonders insolvenzanfällig unter den Vereinen sind die Sportvereine. Dies hängt damit zusammen, dass das Insolvenzrisiko für gewöhnlich umso höher ist, je intensiver die Teilnahme des betreffenden Rechtsträgers am Wirtschaftsverkehr ist; denn wirtschaftlicher Erfolg und wirtschaftliches Risiko sind zwei Seiten derselben Medaille. Auch wenn sich die real anzutreffenden Vereinstypen erheblich voneinander unterscheiden4, so kann doch insbesondere für den Lebensbereich „Sport“, in dem das Vereinswesen besonders verbreitet ist5, eine zunehmende Kommerzialisierung beobachtet werden. So wiesen 1998 etwa 10% aller im DSB organisierten Sportvereine ein jährliches Finanzvolumen von 92000 Euro und mehr auf6. Bei diesen Vereinen wird zunehmend die – wohl auch dem Gesetzgeber seinerzeit als Leitbild dienende – „Finanzierungs- und Ausgabekultur“ verlassen7. Das für kleinere Vereine typische Verhalten, nämlich investive Risiken zu vermeiden und sich an langfristigen Sicherheitsstrategien zu orientieren, wird bei diesen Sportvereinen immer öfter zugunsten einer unternehmerisch ausgerichteten Geschäftsführung aufgegeben8.
II. Darlehen der Vereinsmitglieder in der Vereinspraxis Der durch die Teilnahme am Wirtschaftsverkehr bedingte erhöhte Kapitalbedarf der Vereine wird in der Vereinspraxis oftmals nicht aus Eigen-, sondern aus Fremdmitteln gedeckt. Als Kreditgeber kommen dabei nicht nur institutionelle Geldgeber in Betracht. Vielmehr begegnet man in der Vereinspraxis zunehmend Fällen, in denen Vereinsmitglieder dem Verein ein Darlehen oder andere Hilfen gewähren, sei es um dringende Investitionen zu tätigen oder aber eine Krise abzuwenden. Stellvertretend sei insoweit auf
__________ 3 4 5
6 7
8
Neuhoff, NZI 2004, 486 (487). S. etwa für Sportvereine die empirische Studie von Emrich/Pitsch/Papthanassiou, Die Sportvereine, 2001. Die Zahl – etwa der eingetragenen Sportvereine – hat sich in Deutschland beständig erhöht. Allein in den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der dem Deutschen Sportbund (DSB) unmittelbar und mittelbar angeschlossenen Vereine von 74802 auf 87717. Insgesamt geht man für das Jahr 2000 von ca. 540000 Vereinen aus (davon ca. 215000 Sportvereine). S. zur Entwicklung der Vereine in der Fußballbundesliga Bäune, Kapitalgesellschaften im bundesdeutschen Lizenzfußball, 2001, S. 1 ff. Möglich gemacht hat dies das so genannte „Nebenzweckprivileg“, s. hierzu RGZ 83, 231 (237); 154, 343 (354); BGHZ 85, 84 (93); Hadding in Soergel, BGB, 13. Aufl. 2000, §§ 21, 22 Rz. 33 ff. S. die Ergebnisse der empirischen Untersuchung in Emrich/Pitsch/Papthanassiou (Fn. 4), S. 24 ff.; s. auch Kreißig, Der Sportverein in Krise und Insolvenz, 2004, S. 1 ff.; Neuhoff, NZI 2004, 486 (487).
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Der eingetragene nichtwirtschaftliche Verein und das Kapitalersatzrecht
folgenden in der DSB-Presse zitierten Fall verwiesen, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag9: Der Großflottbeker Tennis-, Hockey- und Golf-Club in Hamburg musste 350000 Euro als Darlehen aufnehmen, um die im Februar 2003 beschlossenen Investitionen durchzuführen. Weil der Vorstand den Kapitalmarkt nicht in Anspruch nehmen wollte (und konnte), bat er seine Mitglieder um ein Darlehen, das mit 4% pro Jahr verzinst werden sollte. Die geliehene Summe sollte im Einzelfall nicht unter 10000 Euro liegen und durch 5000 Euro teilbar sein. Die Modalitäten über Darlehen, Zinsen, Tilgung und Kündigungen regelte ein (Standard-)Darlehensvertrag, der in den „Club-Nachrichten“ des Vereins veröffentlicht wurde.
Mit der Aufnahme von Fremdmitteln steigt das Risiko einer späteren Insolvenz10. Das gilt vor allem dort, wo der Verein – wie im Regelfall üblich – aufgrund der geringen Kapitalmarktfähigkeit über ein geringes Eigenkapital verfügt. Realisiert sich dann dieses Risiko, d.h. gerät der Verein in eine wirtschaftliche Schieflage, stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Vereinsmitglieder in der Krise Rückzahlung des einstmals gewährten Darlehens verlangen oder ihre Forderung im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Vereins anmelden können. Im GmbH-Recht jedenfalls wird die schuldrechtliche Darlehensbeziehung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft in der Gesellschaftskrise – unter bestimmten Voraussetzungen – durch die Wertungen des Kapitalersatzrechts überlagert11. Danach trifft den Gesellschafter, der der Gesellschaft in der Krise eine Gesellschafterhilfe gewährt oder belässt, eine Finanzierungsfolgenverantwortung. Letztere bewirkt, dass der GmbH-Gesellschafter – unter bestimmten Voraussetzungen – das Darlehen in der Krise nicht bzw. nur nachrangig geltend machen kann bzw. ein in der Krise zurückbezahltes Darlehen an die Gesellschaft erstatten muss. Ihre Grundlage findet diese „Finanzierungsfolgenverantwortung“ des GmbHGesellschafters einerseits im Gesetz (§§ 32a, 32b GmbHG, §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO, § 6 AnfG) und andererseits in den so genannten Rechtsprechungsregeln, d.h. der entsprechenden Anwendung der §§ 30, 31 GmbHG. Die Frage ist nun, ob diese – in erster Linie für das GmbH-Recht entwickelten Grundsätze – auch auf das Vereinsrecht Anwendung finden.
__________ 9 DSB Presse Nr. 47 v. 18.11.2003, S. 47. Bei der DSB-Presse handelt es sich um das
zentrale Mitteilungsblatt des Deutschen Sportbundes. 10 So schon Levy, Konkursrecht, 2. Aufl. 1926, S. 11: „Die Quelle aller Konkurse ist
der Kredit“. 11 S. zu den Rechtsfolgen des Kapitalersatzrechts Lutter/Hommelhoff, GmbHG,
16. Aufl. 2004, §§ 32a/b Rz. 91 ff.; Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 32a Rz. 83 ff.
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Ulrich Haas und Clemens Prokop
III. Überblick über den Meinungsstand 1. Überblick zum deutschen Recht Auf welche Rechtsträger das Kapitalersatzrecht Anwendung findet, ergibt sich aus den Rechtsquellen zum Kapitalersatzrecht nicht mit der notwendigen Sicherheit; denn diese haben in der Vergangenheit eine wechselvolle Geschichte durchlebt12. Bis 1980 hatte das Kapitalersatzrecht nämlich überhaupt keinen Niederschlag im Gesetz gefunden. Vielmehr war es bis dahin reines „Richterrecht“. Dabei hatte die ältere Rechtsprechung das Kapitalersatzrecht zunächst – rechtsformneutral – in § 826 BGB verortet13. Später hat der BGH das Kapitalersatzrecht dann (in ständiger Rechtsprechung) bei der Kapitalerhaltung (§ 30 Abs. 1 GmbHG) verankert14. Diese entwicklungsgeschichtliche Nähe des Kapitalersatzrechts zur Kapitalerhaltung darf jedoch nicht überbewertet werden; denn sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Bezug auf die Tatbestandsvoraussetzungen zwischen dem Auszahlungsverbot in § 30 Abs. 1 GmbHG und dem Kapitalersatzrecht kein innerer Zusammenhang besteht bzw. bestand. Sowohl der zeitliche als auch der sachliche und persönliche Anwendungsbereich des Kapitalersatzrechts unterschiedet sich von dem Auszahlungsverbot in § 30 Abs. 1 GmbHG erheblich15. Mit der GmbH-Novelle von 1980 hat der Gesetzgeber dann versucht, das Kapitalersatzrecht auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen (§§ 32a, b GmbHG, §§ 129a, 172a HGB, § 3b AnfG – jetzt § 6 AnfG –, § 32a KO – jetzt §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO). Diese Vorschriften sind teilweise rechtsformspezifisch (GmbHG und HGB), teilweise rechtsformneutral ausgestaltet (AnfG und KO/InsO). Letzteres geschah auch nicht ohne Grund. So hat der Gesetzgeber in § 6 AnfG, §§ 39, 135 InsO ganz bewusst die allgemein gehaltene Formulierung „Forderungen … auf Rückgewähr eines kapitalersetzenden Darlehens“ gewählt, um der Rechtsprechung Raum zu lassen, das Kapitalersatzrecht auf andere Rechtsformen zu übertragen. Insbesondere wollte der Gesetzgeber hierdurch die Rechtsprechung des BGH bestätigen, wonach das Kapitalersatzrecht – mit gewissen Modifikationen – auch auf Aktiengesellschaften Anwendung findet16. Die Rechtsprechung hat diesen im AnfG, KO/InsO eingeräumten Spielraum jedoch nicht genutzt, sondern – aufgrund der aus ihrer Sicht unzureichenden gesetzlichen Regelung17 – entgegen dem
__________ 12 S. für einen Überblick K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, §§ 32a, 32b
Rz. 11 ff.; Heidinger in Michalski, GmbHG, 2002, §§ 32a, 32b Rz. 13. 13 RG, JW 1938, 862 (864 f.); RG, JW 1939, 229 (231). 14 BGHZ 31, 258 (271); 67, 171 (174); 75, 334 (336); 76, 326 (328); 81, 252 (260 ff.); 81,
311 (314). 15 S. auch Fastrich in FS Zöllner, 1998, S. 156 f.; Haas, NZI 2001, 1 (3). 16 S. etwa die Begründung zu § 150 RegE InsO BR-Drucks. 1/92, S. 161. 17 Hommelhoff in von Gerkan/Hommelhoff (Hrsg.), Handbuch des Kapitalersatz-
rechts, 2. Aufl. 2002, Rz. 1.2; s. auch Bayer, ebenda Rz. 11.2.
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Der eingetragene nichtwirtschaftliche Verein und das Kapitalersatzrecht
Willen des Gesetzgebers die bisherigen Rechtsprechungsregeln (analoge Anwendung der Kapitalerhaltungsvorschriften) auch weiterhin neben den gesetzlichen Vorschriften angewendet18. Eine allgemeine Aussage darüber, ob und inwieweit das Kapitalersatzrecht rechtsformübergreifend Anwendung findet, ist vor diesem Hintergrund kaum möglich. Es verwundert daher nicht, wenn hierzu im Schrifttum unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Eine im Vordringen befindliche Ansicht qualifiziert jedenfalls das Kapitalersatzrecht als rechtsformneutral und will dieses auch jenseits der allgemein gesicherten Fälle (GmbH, kapitalistische OHG und KG, AG und atypische stille Gesellschaften) anwenden19. Diskutiert wird dies etwa für die Stiftung20, die Kommanditgesellschaft auf Aktien, die Genossenschaft21, die einfache Kommanditgesellschaft22 und ganz vereinzelt auch für den Verein23. Die wohl überwiegende Ansicht begegnet dieser Ausweitung des Kapitalersatzrechts eher mit Skepsis24. 2. Blick ins österreichische Recht Anders als in der Bundesrepublik Deutschland wird in Österreich die Frage, ob und inwieweit das Kapitalersatzrecht auf den nichtwirtschaftlichen Verein Anwendung findet, in Literatur und Rechtsprechung lebhaft diskutiert. Das österreichische Recht kennt – ebenso wie das deutsche Recht – das Rechtsinstitut des Kapitalersatzrechts. Lange Zeit war dieses in Österreich nicht gesetzlich geregelt und damit eine Domäne der Rechtsprechung. Erst vor kurzem ist dieser Rechtszustand beseitigt worden. a) Bisherige Rechtslage zum Kapitalersatzrecht Das Eigenkapitalersatzrecht wurde in Österreich – ebenso wie in Deutschland – primär am Leitbild der GmbH entwickelt. Im Ausgangspunkt steht dabei eine Entscheidung des öOGH aus dem Jahr 1991, mit der dieser die in der Bundesrepublik Deutschland entwickelten Grundsätze des Eigenkapital-
__________ 18 Seit BGHZ 90, 370 (376) ständige Rechtsprechung. 19 So insbesondere K. Schmidt, ZHR 147 (1983), 165 (171 ff.); ders., ZIP 1991, 1 ff.;
s. auch Bayer in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 11.1. 20 Oepen, NZG 2001, 209 ff. 21 Blöse, GmbHR 2004, 412 (413); Hommelhoff/Goette/Kleindiek, Eigenkapitalersatz-
recht in der Praxis, 3. Aufl. 2003, Rz. 154, 165; s. hierzu aber auch Bayer in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 11.58 ff.; ders., DStR 1999, 1815 (1820 f.). 22 K. Schmidt in MünchKomm.HGB, 2003, § 172a Rz. 5; ders. in MünchKomm.HGB, 2002, § 129a HGB Rz. 14 f. 23 Kreissig, Der Sportverein in der Insolvenz, 2004, S. 223 ff.; s. auch K. Schmidt in Konecny (Hrsg), Insolvenz – Forum 2003, S. 147. 24 S. nur Hommelhoff/Goette/Kleindiek (Fn. 21), Rz. 154 ff.; vgl. auch Karollus, ÖBA 1997, 105 (106 f.).
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Ulrich Haas und Clemens Prokop
ersatzrechts in das österreichische Recht transformiert hat25. Seither waren in Österreich im Rahmen der Rechtsanwendung sowohl die deutsche Meinung als auch die österreichische Lehre und Judikatur zum Kapitalersatzrecht zu beachten26. Dogmatisch verankert wurde das Kapitalersatzrecht in Österreich – anders als in Deutschland – bei § 74 öGmbHG, der dem § 30 Abs. 2 dtGmbHG entspricht und die Zulässigkeit der Rückzahlung geleisteter Nachschüsse regelt. In der Folgezeit hat die österreichische Rechtsprechung mit weitgehender Zustimmung der Lehre das Kapitalersatzrecht auch auf die AG27, die atypische stille Gesellschaft28 sowie die KG ausgeweitet, bei der keine natürliche Person „Vollhafter“ ist29. Letztlich ist damit in Österreich die Entwicklung des Kapitalersatzrechts allenfalls zeitlich versetzt, im Übrigen aber nahezu parallel und inhaltsgleich zu derjenigen in Deutschland verlaufen30. Mit der Entscheidung des Handelsgerichts Wien v. 15.5.199831 wurde – soweit ersichtlich erstmals – das Eigenkapitalersatzrecht auch auf ein Mitglied eines Idealvereins angewendet. Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Sportverein hatte etwa vier Monate vor der Konkurs- bzw. Insolvenzeröffnung von einem Vereinsmitglied, das zugleich Sponsor war, ein – in verschiedener Hinsicht atypisch ausgestaltetes – Darlehen in Höhe von ca. 285000 Euro erhalten. Im Gegenzug wurden dem Vereinsmitglied umfangreiche Rechte eingeräumt, die dazu führten, dass Geschäftsführung und Vertretung letztlich allein in Händen dieses Vereinsmitglieds lagen. Im Konkurs bzw. in der Insolvenz des Vereins wollte das Vereinsmitglied sodann auf die zur Sicherung seiner Forderung seitens des Vereins bestellten Sicherheiten zugreifen. Hiergegen wendete sich der Insolvenzverwalter mit der Begründung, dass die Forderung kapitalersetzend und mithin auch die bestellten Sicherheiten nicht mehr durchsetzbar seien.
Das Gericht gab in seiner Entscheidung dem Insolvenzverwalter Recht. Der Verein sei – so das Handelsgericht Wien – unternehmerisch tätig gewesen und habe schon allein dadurch dieselbe Risikolage verwirklicht, wie die dem Kapitalersatzrecht typischerweise unterliegende GmbH. Folglich seien auch auf den Verein dieselben Grundsätze wie für die GmbH anzuwenden. Das Vereinsmitglied habe eine vom Kapitalersatzrecht erfasste Gesellschafterhilfe gewährt. Aufgrund der atypischen Ausgestaltung des Darlehens sei dieses als materielles Eigenkapital zu qualifizieren. Die atypische Ausgestaltung ergebe sich u. a. aus der jederzeitigen Rückforderbarkeit des Darlehens,
__________
25 OGH, SZ 64/53, S. 292 f.; s. auch OGH, WBl 1993, 124 (125); ZIK 1998, 107 (108);
K. Schmidt in Konecny (Fn. 23), S. 146. Thiele, ZIK 1999, 50 (52). OGH, ZIK 2001, 330. OGH, ÖBA 1997, 300; ZIK 1996, 71. OGH, SZ 69/208; ZIK 1998, 107 (108). So Koppensteiner, öGmbHG, 2. Aufl. 1999, § 74 Rz. 11. Näher zum Entwicklungsprozess auch Karollus/Schulyok, Eigenkapitalersetzende Leistungen, 1998, S. 37 ff. 31 HG Wien, Urt. v. 15.5.1998 – 5 S 844/97w, auszugsweise abgedr. in ecolex 1999, 35. 26 27 28 29 30
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Der eingetragene nichtwirtschaftliche Verein und das Kapitalersatzrecht
der grundsätzlichen Unverzinslichkeit der Darlehensforderung sowie der fehlenden Bestimmung über eine regelmäßige Rückzahlung der Darlehenssumme. Darüber hinaus habe das Vereinsmitglied im Vergleich zu anderen Vereinsmitgliedern über außerordentlich weitgehende Rechte verfügt. Das Vereinsmitglied habe – so das Handelsgericht Wien – über einen über die Stellung eines „normalen“ dritten Darlehensgebers oder Pfandgläubigers weit hinausgehenden Einfluss gehabt, der einer Beherrschung des Vereins gleichkomme. Aufgrund dieser besonderen Stellung treffe das Vereinsmitglied im konkreten Fall eine dem GmbH-Gesellschafter vergleichbare Verantwortung für eine ordnungsgemäße Unternehmensfinanzierung. Die Entscheidung des Handelsgerichts Wien ist in der Lehre ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen32. Mitunter wird gar die Ansicht vertreten, dass das Eigenkapitalersatzrecht nicht auf unternehmerisch tätige Vereine zu beschränken sei33. Teilweise wird auch eine Entscheidung des OGH34 als Beleg dafür zitiert, dass in Österreich das Kapitalersatzrecht auf den Idealverein Anwendung findet35. Dies ist jedoch nur bedingt zutreffend36. Dem besagten Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin hatte die Mitgliedschaft in einem Verein und damit verbunden ein Ferienwohnrecht in einem Hotel erworben. Der Preis für den Erwerb der Mitgliedschaft betrug ca. 8800 Euro. Gemäß der Vereinssatzung hatten die Vereinsmitglieder – außer dem Recht auf ungestörte Nutzung und auf Besitz der erworbenen Ferienwohnrechte – einen Anspruch auf den auf das Ferienwohnrecht entfallenden Anteil des Liquidationserlöses bei Auflösung des Vereins und Verwertung des Vereinsvermögens und zwar im Verhältnis der ursprünglichen Erwerbspreise der einzelnen Ferienwohnrechte. Im Konkurs (bzw. in der Insolvenz) des Vereins meldete die Klägerin ihre Forderung in Höhe des ursprünglichen Erwerbspreises an.
Der OGH lehnte einen „Teilhabeanspruch“ des Vereinsmitglieds in der Insolvenz des Vereins mit der Begründung ab, dass der verbunden mit dem Erweb der Vereinsmitgliedschaft für das Nutzungsrecht entrichtete Kaufpreis „funktionell als Zufuhr von Eigenmitteln“ einzuordnen sei und mithin in der Insolvenz des Vereins erst nach Befriedigung aller übrigen Gläubiger geltend gemacht werden könne. Mithin stand im konkreten Fall nicht eine eigenkapitalersetzende Leistung zur Diskussion, sondern eine Leistung, bzgl.
__________ 32 S. Krejci/Bydlinski/Rauscher/Weber-Schallauer, Vereinsgesetz 2002, 2002, § 23
Rz. 53 f.; Saria/Wagner, ecolex 1999, 31 ff. 33 Saria/Wagner, ecolex 1999, 31 (34); s. auch Karollus/Schulyok (Fn. 30), S. 78. 34 OGH, Urt. v. 26.11.1998 – 8 Ob 286/98m, auszugsweise wiedergegeben in ZIK
1999, 70. 35 In diesem Sinne Thiele, ZIK 1999, 50 (53); s. auch ErläutRV zu § 4 EGKG. 36 Saria, RdW 1999, 705 ff.; Krejci/Bydlinski/Rauscher/Weber-Schallauer (Fn. 32),
§ 23 Rz. 54.
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Ulrich Haas und Clemens Prokop
derer – nach Ansicht des OGH – die Parteien einen Nachrang vereinbart hatten. Allerdings legen die Ausführungen des OGH nahe, dass er einer Anwendung des Kapitalersatzrechts auf den Verein eher offen gegenübersteht37. b) Rechtslage nach In-Kraft-Treten der Reform Mit dem zum 1.1.2004 in Kraft getretenen Eigenkapitalersatz-Gesetz (EKEG) und den insolvenzrechtlichen Begleitregelungen hierzu wurde das Eigenkapitalersatzrecht in Österreich umfassend kodifiziert38. Die Regelungen weichen von der bisherigen Rechtsprechung in wesentlichen Punkten ab und gehen in wichtigen Fragen neue Wege39. So definiert das Gesetz nunmehr in § 4 EKEG den rechtsformbezogenen Anwendungsbereich des Kapitalersatzrechts. Einbezogen sind danach die Kapitalgesellschaften, Genossenschaften mit beschränkter Haftung sowie die Personengesellschaften, bei denen kein unbeschränkt haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist. Nicht erfasst sind demnach nach neuem Recht die Vereine. In den Erläuterungen der Regierungsvorlage wird die Nichtaufnahme des Vereins in die Liste der Gesellschaften damit begründet, dass der Verein nicht auf Gewinn gerichtet und die Mitglieder eines Vereins grundsätzlich keinen wirtschaftlichen Ertrag aus der Mitgliedschaft zu erwarten hätten40. Diese Begründung wird ganz überwiegend kritisch bewertet41. Sie fordert nämlich dort zur Analogiebildung heraus, wo der Verein eine erlaubte erwerbswirtschaftliche Tätigkeit entfaltet42. So erwägt man etwa eine analoge Anwendung des Kapitalersatzrechts auf solche Vereine, die genossenschaftliche Zwecke verfolgen, also ihre Mitglieder dadurch wirtschaftlich fördern, indem sie ihnen wirtschaftlich wertvolle Leistungen zu günstigen Konditionen anbieten43. Darüber hinaus stellt sich im Lichte dieser Gesetzesbegründung die Frage, ob bei einer „non-profit“-GmbH der an sich eröffnete Anwendungsbereich des Kapitalersatzrechts womöglich teleologisch zu reduzieren ist. c) Vergleichbarkeit des deutschen mit dem österreichischen nichtwirtschaftlichen Verein Sowohl nach In-Kraft-Treten des EKEG, insbesondere aber für die Rechtslage davor, finden sich in Österreich gewichtige Stimmen in Schrifttum und
__________ 37 Saria, RdW 1999, 705; Krejci/Bydlinski/Rauscher/Weber-Schallauer (Fn. 32), § 23 38 39 40 41 42 43
Rz. 54. S. hierzu etwa Dellinger/Mohr, EKEG, 2004; Striegel/Weger, GmbHR 2004, 412. Dellinger/Mohr (Fn. 38), Vorwort. S. hierzu Reisch, ecolex 2002, 320 f.; Dellinger/Mohr (Fn. 38), § 4 Rz. 10. S. etwa Saria/Wagner, ecolex 1999, 31 (34). Dellinger/Mohr (Fn. 38), § 4 Rz. 10. Dellinger/Mohr (Fn. 38), § 4 Rz. 11.
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Der eingetragene nichtwirtschaftliche Verein und das Kapitalersatzrecht
Rechtsprechung, die das Kapitalersatzrecht auf den Idealverein anwenden wollen. Fruchtbar gemacht werden kann dieser Blick in das österreichische Recht für das deutsche Recht aber nur dann, wenn der in Frage stehende Rechtsträger (Idealverein) in beiden Rechtsordnungen ähnlich ausgestaltet ist. Viele der für den deutschen Idealverein prägenden Merkmale finden sich auch im österreichischen Recht. Hierzu zählt in erster Linie der Vereinsbegriff. Sowohl nach deutschem als auch nach österreichischem Recht bezeichnet dieser einen freiwilligen, auf Dauer und auf Grund von Statuten (bzw. einer Satzung) angelegten Zusammenschluss von Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks44. Von einem Idealverein spricht man in beiden Rechtsordnungen, wenn der Zweck auf die Verfolgung ideeller Ziele gerichtet ist. Nach beiden Rechtsordnungen setzt der Verein eine körperschaftliche Verfassung voraus. Hierzu gehört, dass der Verein durch seine Organe seinen Willen bildet und handelt. Dies sind – sowohl im österreichischen Recht als auch im deutschen Recht – zumindest die Mitgliederversammlung und der Vorstand (Leitungsorgan)45. Zur körperschaftlichen Verfassung gehören ferner46 die Unabhängigkeit vom Wechsel der Mitglieder, das Mehrheitsprinzip und das einheitliche Auftreten nach außen unter einem Gesamtnamen. Sowohl im deutschen als auch im österreichischen Recht ist der Verein – unter bestimmten Voraussetzungen – rechtsfähig und kann damit als Zuordnungssubjekt Träger von Rechten und Pflichten sein. Parallelen gibt es auch im Hinblick auf die Haftungsverfassung. Im deutschen wie im österreichischen Recht haftet für die Verbindlichkeiten des Vereins nur das Vereinsvermögen, nicht aber das einzelne Vereinsmitglied persönlich. Das System des gesetzlichen Mindestkapitals kennen beide Rechtsordnungen für den Idealverein nicht. Gemeinsamkeiten gibt es schließlich auch bei der Abwicklung des Vereins. Insolvenzrechtlich abzuwickeln ist dieser – im deutschen47 wie im österreichischen48 Recht – im Falle der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung. In beiden Fällen trifft den Vorstand nach beiden Rechtsordnungen eine haftungs- und strafbewehrte Konkurs- bzw. Insolvenzantragspflicht49. Wird der Verein aus anderen Gründen als dem der
__________ 44 Während es im deutschen Recht an einer Definition des Begriffs „Verein“ im Ge-
45 46
47 48 49
setz fehlt und damit die Kriterien von Rechtsprechung und Literatur herausgearbeitet wurden (s. hierzu nur Hadding in Soergel, BGB, Vor § 21 Rz. 44; Reichert, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 9. Aufl. 2003, Rz. 1), findet sich im § 1 Abs. 1 VereinsG 2002 eine entsprechende Definition. S. für das österr. Recht § 5 Abs. 1 VereinsG 2002. S. aus deutscher Sicht Hadding in Soergel, BGB, Vor § 21 Rz. 44; Schwarz in Bamberger/Roth, BGB, 2003, Vor § 21 Rz. 17; Reuter in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, §§ 21, 22 Rz. 1 ff. S. §§ 17 Abs. 1, 19 Abs. 1 InsO. S. §§ 66, 67 KO. Für das österr. Recht § 69 Abs. 3 KO; s. hierzu Krejci/Bydlinski/Rauscher/WeberSchallauer (Fn. 32), § 23 Rz. 8 ff. Für das deutsche Recht s. u. a. § 42 Abs. 2 BGB, vgl. dazu Schwarz in Bamberger/Roth, BGB, § 42 Rz. 8 ff.
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Insolvenz aufgelöst, so ist das Vereinsvermögen abzuwickeln. Dieses fällt dann nach Abzug der Schulden grundsätzlich – sowohl im deutschen als auch im österreichischen Recht – an die in der Satzung bzw. den Statuten genannten Anfallberechtigten (§ 45 BGB bzw. § 30 Abs. 2 VereinsG 2002). Freilich gibt es in den beiden Rechtsordnungen auch Unterschiede. So schreibt das deutsche Recht in § 56 BGB vor, dass im Zeitpunkt der Eintragung mindestens sieben Personen an dem Verein mitwirken müssen. Im österreichischen Recht reicht es hingegen aus, wenn alle Gründer (mindestens zwei) die Errichtung ihres Vereins gegenüber der Vereinsbehörde anzeigen (§ 11 VereinsG 2002). Unterschiede gibt es auch in Bezug auf die Erlangung der Rechtsfähigkeit. Nach deutschem Recht ist hierfür die Eintragung in das Vereinsregister konstitutiv. Im österreichischen Recht ist die Eintragung hingegen nur deklaratorisch. Hier erlangt der Verein die Rechtsfähigkeit schon dann, wenn die Untersagungsfrist des § 12 VereinsG 2002 abläuft oder wenn vor Ablauf der Frist ein Genehmigungsbescheid i. S. d. § 13 VereinsG 2002 erteilt wird50. Wie eine ideelle von einer sonstigen Zweckverfolgung abzugrenzen ist, wird ebenfalls im Detail unterschiedlich beurteilt. Einigkeit besteht lediglich im Ausgangspunkt, nämlich dass den (ideellen) Vereinen nicht grundsätzlich verwehrt ist, einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb bzw. ein auf Gewinn zielendes Unternehmen zu betreiben. Im deutschen Recht differenziert die wohl überwiegende Ansicht danach, ob der in Frage stehende Verein einem bestimmten Typus eines unternehmerischen Vereins zuzuordnen ist und ob der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb den Haupt- oder Nebenzweck des Vereins bildet (so genanntes wirtschaftliche Nebenzweckprivileg)51. In Österreich ist die h. M., insbesondere die Repr. demgegenüber liberaler. Danach kommt es auf einen Haupt- oder Nebenzweck nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob der Verein seine Gewinne an die Mitglieder ausschüttet oder aber Dritten eine Gewinnbeteiligung gewährt (siehe auch § 1 Abs 2 VereinsG 2002)52. Bleiben die Gewinne im Verein und verwendet dieser sie zur Finanzierung seiner statutenmäßigen Tätigkeiten, dann verfolgt der Verein eine ideelle Zwecksetzung. Eine (verbotene) Gewinnausschüttung i. d. S. liegt aber nicht schon dann vor, wenn den Mitgliedern – soweit dies der Vereinszweck vorsieht – wirtschaftlich werthaltige Vereinsleistungen (z. B. Sach- oder Dienstleistungen) erbracht werden. Wirtschaftliche Vorteile aus einer Vereinsmitgliedschaft werden im österreichischen Recht grundsätzlich nicht als verbotene Gewinnausschüttungen gewertet. Dies gilt selbst dann nicht, wenn sich der Vereinszweck in der Verschaffung dieser wirtschaftlichen Vorteile erschöpft. Der wirtschaftlichen Tätigkeit
__________ 50 Krejci/Bydlinski/Rauscher/Weber-Schallauer (Fn. 32), § 2 Rz. 25 ff. 51 S. hierzu Reuter in MünchKomm.BGB, §§ 21, 22 Rz. 7 f.; Schwarz in Bamberger/
Roth, BGB, § 21 Rz. 13 ff. 52 S. zum Ganzen Krejci/Bydlinski/Rauscher/Weber-Schallauer (Fn. 32), § 1 Rz. 28 ff.
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des ideellen Vereins ist damit in Österreich ein erheblich breiterer Raum eröffnet als in Deutschland. Folglich können etwa Buch-53, Mähdresch-54, time-sharing-55 oder car-sharing56-Gemeinschaften zwar nach österreichischem, nicht aber ohne weiteres aus deutscher Sicht in der Form eines ideellen Vereins gegründet werden. Besieht man sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem deutschen und dem österreichischen Idealverein, so überwiegen die Gemeinsamkeiten bei weitem. Unterschiede bestehen in den beiden Rechtsordnungen lediglich im Detail. Einem „Rechtsprechungsexport“ nach Deutschland und damit einer Vorbildfunktion des österreichischen Rechts für das deutsche Recht stehen diese Unterschiede jedenfalls nicht von vornherein entgegen.
IV. Stellungnahme 1. Die vom Kapitalersatzrecht erfassten negativen Folgen der Finanzierung Ausgangspunkt für die Übertragung des Kapitalersatzrechts auf den Idealverein muss der Normzweck dieser Regelungen sein. Dieser ist bekanntlich umstritten. Das Handelsgericht Wien sieht jedenfalls den Sinn und Zweck des Kapitalersatzrechts im Schutz der Gläubiger vor den von einer wirtschaftlichen Unternehmung ausgehenden Gefahren. Das entspricht sowohl in Deutschland57 als auch in Österreich58 der herrschenden Ansicht. Danach soll das Kapitalersatzrecht verhindern, dass der Gesellschafter die mit einer unzureichenden Krisenfremdfinanzierung verbundenen negativen Folgen auf die Gläubigergesamtheit abwälzt59. In der Regierungsvorlage zum österr. EKEG heißt es insoweit60: „Eine Zuführung von Gesellschafterkrediten in der Krise darf nicht dazu führen, dass das Risiko teilweise auf die Gesellschaftsgläubiger verlagert wird.“ Schlagwortartig umschrieben wird dies
__________ 53 S. aus deutscher Sicht Reichert (Fn. 44), Rz. 126. 54 S. etwa aus deutscher Sicht LG Lübeck, SchlHA 1962, 102; Stöber, Handbuch des
Vereinsrechts, 9. Aufl. 2004, Rz. 60. 55 S. hierzu aus deutscher Sicht BayObLGZ 1989, 124; Stöber (Fn. 54), Rz. 60. 56 S. hierzu aus deutscher Sicht Schöner, BB 1996, 438 (439 ff.); Stöber (Fn. 54), Rz. 59;
Reichert (Fn. 44), Rz. 127. 57 S. etwa BGHZ 75, 334 (336); 76, 326 (329); 90, 381 (388 f.); Heidinger in Michalski,
GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 7; Hommelhoff/Goette/Kleindiek (Fn. 21), Rz. 1; Haas, NZI 2001, 1 (2). 58 S. nur OGH, WBl 1993, 124 (125); ZIK 1998, 107 (108); NZG 2000, 1126. 59 BGHZ 90, 381 (388 f.); K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 4; Fleck in FS Werner, 1984, S. 117; Casper/Ullrich, GmbHR 2000, 472. Für Österreich s. OGH, WBl 1993, 124 (125); ZIK 1998, 107 (108). 60 ErläutRV 3.1.
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– sowohl im deutschen als auch im österr. Recht – mit dem Begriff der Finanzierungsfolgenverantwortung des Gesellschafters61. Der Begriff der Finanzierungsfolgenverantwortung ist freilich zunächst inhaltsleer62. Fraglich ist nämlich, welche Gefahren mit einer Krisenfinanzierung für die Gläubiger verbunden sind. Nur wenn hierüber Klarheit herrscht, lässt sich die Prämisse des Handelsgerichts Wien überprüfen, dass die Gefahren, die von einem vom Verein bzw. einer GmbH geführten wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ausgehen, identisch sind. a) Überblick über die negativen Folgen der Krisenfinanzierung Ganz überwiegend werden der Gesellschafterfremdfinanzierung ein ganzes Bündel von gläubigerbenachteiligenden Wirkungen nachgesagt63. So wird teilweise behauptet, dass der Kredit in der Krise den Grundstein für eine Gläubigergefährdung legt; denn der ausgereichte Kredit ermöglicht der Gesellschaft, ihren wirtschaftlichen Aktionsradius zu vergrößern bzw. aufrecht zu erhalten, wo sie dies aus eigener Kraft nicht kann. Die Gesellschaft wird dadurch in die Lage versetzt, neue Verbindlichkeiten zu begründen mit der Folge, dass weitere Gläubiger mit dem schuldnerischen Insolvenzrisiko belastet werden. Misslingt dann die Konsolidierung der Finanzstruktur, werden aufgrund des ausgereichten Kredits mehr Personen in den Strudel des wirtschaftlichen Niedergangs gezogen als wenn die Unternehmung sofort liquidiert worden wäre. Als weitere negative Folge der Krisenfinanzierung wird immer wieder genannt, dass das Hinzutreten eines Gesellschafters als weiterer (Darlehens-) Gläubiger den Verteilungskonflikt unter den übrigen bereits vorhandenen Gläubigern verschärft. Hierauf stellt u. a. auch die Regierungsvorlage zum EKEG ab, wenn sie die Benachteiligung der Gläubiger darin sieht, dass bei „einem Misserfolg (der Krisenfinanzierung) die Gesellschafter ihre Rückforderungsansprüche geltend machen und so den Haftungsfonds der Gläubiger
__________ 61 Für Deutschland s. BGHZ 127, 336 (344 f.); Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff,
GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 32a Rz. 17; Roth/Altmeppen, GmbHG, § 32a Rz. 18; Heidinger in Michalski, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 11; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 4; Henckel in Jaeger, InsO, 2004, § 39 Rz. 43; für Österreich s. Regierungsvorlage zum EKEG ErläutRV Nr. 3.1; s. auch OGH, NZG 2000, 1126. 62 So zu Recht Reiner in FS Boujong, 1996, S. 422; Grunewald, GmbHR 1997, 7 (10); Haas, NZI 2001, 1 (2). S. für das österr. Recht auch Karollus/Schulyok (Fn. 30), S. 29. 63 Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 32a Rz. 17; Heidinger in Michalski, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 8 ff.; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 3; Hommelhoff in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 2.20; Haas, NZI 2001, 1 ff.; Götz/Hegerl, DB 2000, 1483 (1486); Ehricke, Das abhängige Konzernunternehmen in der Insolvenz, S. 152 f.; a. A. aber K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 4 ff., 15. Für das österr. Recht s. OGH, SZ 64/53, S. 291 f.; WBl 1992, 124 (125); WBl 1996, 249 (250).
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schmälern“64. Eng hiermit im Zusammenhang steht der Hinweis darauf, dass eine unzureichende Krisenfinanzierung zur Insolvenzverschleppung führt mit der Folge, dass vorhandenes Vermögen verbraucht, weitere Gläubiger hinzukommen und sich die Befriedigungsaussichten für die Gläubigergesamtheit insgesamt verschlechtern. Die Regierungsvorlage zum EKEG führt hierzu aus: „Die Regelungen (zum Kapitalersatz) bezwecken mittelbar auch, die rechtzeitige Eröffnung von Insolvenzverfahren zu erreichen. Ein Gesellschafter wird vor der Gewährung eines Kredits genauer prüfen, wie hoch die Sanierungschance ist, wenn ihm bei Konkurseröffnung nicht einmal ein Anspruch auf die Konkursquote zusteht oder eine für den Kredit von der Gesellschaft eingeräumte Sicherheit verliert. Die Konkursverschleppungshaftung bildet hierzu nur teilweise ein Korrektiv, weil sie sich grundsätzlich nicht gegen den Gesellschafter, sondern gegen den Geschäftsführer richtet“65. Schließlich wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Gesellschafterkredit dazu beiträgt, Dritte über das von ihnen eingegangene Risiko zu täuschen; denn ein der Gesellschaft gewährter Kredit sei geeignet, bei Dritten den Anschein zu erwecken, dass die Gesellschaft wirtschaftlich gesund bzw. kreditwürdig und damit aus eigener Kraft lebensfähig ist66. b) Die Rechtsformneutralität der Finanzierungsfolgen Die dem Kapitalersatzrecht zugrunde liegenden negativen Folgen einer Krisenfinanzierung (Gläubigertäuschung, Verschärfung des Verteilungskonfliktes in der Insolvenz, Gläubigergefährdung) sind offensichtlich rechtsformneutral; denn sie treten völlig unabhängig davon ein, wie die Organisations-, Haftungs- oder Finanzverfassung des Kreditnehmers ausgestaltet ist. Ob die „Kredithilfe“ mithin einer GmbH oder einem Verein in der Krise gewährt wird, macht – im Hinblick auf die hiermit verbundenen Gläubigergefahren – grundsätzlich keinen Unterschied67. Folglich ist der Ausgangspunkt der Entscheidung des Handelsgerichts Wien richtig, nämlich dass der Normzweck des Kapitalersatzrechts rechtsformneutral und damit einer Übertragung auf das Vereinsrecht im Grundsatz nicht entgegensteht. 2. Die Zurechnung der Finanzierungsfolgen Die negativen Folgen einer „Unternehmensfinanzierung“ sind nicht nur unabhängig davon, wie der Rechtsträger ausgestaltet ist, sondern grundsätzlich
__________ 64 ErläutRV Nr. 3.1. 65 ErläutRV Nr. 3.2. 66 Kritisch zu diesem Aspekt T. Bezzenberger in FS G. Bezzenberger, 2000, S. 35;
Haas, NZI 2001, 1 (4). 67 S. auch Saria/Wagner, ecolex 1999, 31 (33).
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auch unabhängig davon, wer die Krisenfinanzierung gewährt. Eine Verschärfung des Verteilungskonfliktes unter den Gläubigern, die Gefahr einer Gläubigertäuschung oder eine Gläubigergefährdung ist bei einer Krisenhilfe durch einen Gesellschafter ebenso wahrscheinlich wie bei einem gesellschaftsfremden Dritten68. Damit stellt sich aber die Frage, warum gerade der Gesellschafter – ganz anders als der gesellschaftsfremde Dritte – aufgrund des Kapitalersatzrechts mit einer Folgenverantwortung belastet wird. Welches sind also die hinter der Zurechnung der Folgenverantwortung stehenden Wertungsgesichtspunkte? Auffallend ist jedenfalls, dass zumindest im deutschen Recht – je nach Gesellschaftsform – unterschiedliche Voraussetzungen für die Zurechnung der Finanzierungsfolgen bestehen. So sind bei einer GmbH beispielsweise die negativen Folgen der Finanzierung nur einem solchen Gesellschafter zuzurechnen, der entweder mit mehr als 10% am Gesellschaftsvermögen beteiligt oder aber auch Geschäftsführer der Gesellschaft ist (§ 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG). In einer Aktiengesellschaft dagegen rechnet die ganz überwiegende Ansicht dem Aktionär die negativen Folgen seiner Kreditierung grundsätzlich nur dann zu, wenn dieser mit mehr als 25% am Gesellschaftsvermögen beteiligt ist69. Auch wenn also der Normzweck des Kapitalersatzrechts rechtsformneutral ist, scheint dies im deutschen Recht zumindest rechtsformspezifische Differenzierungen auf der Tatbestandsebene – insbesondere im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich des Kapitalersatzrechts – nicht auszuschließen70. Im österreichischen Recht ist die Rechtslage anscheinend anders. Hier finden sich die Voraussetzungen für die Zurechnung der Folgenverantwortung in § 5 EKEG. Kennzeichnend ist danach – sieht man einmal von § 5 Abs. 1 Nr. 3 EKEG ab –, dass für eine Zurechnung der Folgenverantwortung stets dieselben Schwellenwerte gelten. Erfasst sind danach die Gesellschafter, die kontrollierend oder mit einem Anteil von mindestes 25% beteiligt sind, und zwar bei einer Kapitalgesellschaft am Nennkapital, bei einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung am Geschäftsanteilskapital und bei einer Personengesellschaft am Gesellschaftsvermögen. a) Die Kriterien für eine Zurechnung der Folgenverantwortung aa) Überblick Im deutschen Recht werden zur Rechtfertigung einer Verantwortung des Gesellschafters für die negativen Folgen seiner Finanzierung immer wieder
__________ 68 S. Haas, NZI 2001, 1 (2 f.). 69 S. hierzu Habersack, ZHR 162 (1998), 201 (218 ff.); Heidinger in Michalski,
GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 38. 70 So zu Recht Bayer in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 11.4.
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folgende Gesichtspunkt genannt71: der (potentielle) unternehmerische Einfluss des die Hilfe gewährenden Gesellschafters auf die Geschicke der Gesellschaft, der Informationsvorsprung des Gesellschafters gegenüber außen stehenden Gläubigern sowie die Zwitterstellung (bzw. das widersprüchliche Verhalten) des darleihenden Gesellschafters, nämlich zum einen Gesellschafter zu sein und zum anderen der Gesellschaft wie ein außenstehender Gläubiger gegenüber zu treten. Wie diese verschiedenen Kriterien sich zueinander verhalten, ist wenig gesichert. Insbesondere besteht keine Klarheit darüber, ob alle drei Kriterien im Grundsatz kumulativ vorliegen müssen oder nicht. bb) Eigener Ansatz Die Finanzierungsfolgenverantwortung im Kapitalersatzrecht knüpft an einer persönlichen Finanzierungsentscheidung des Gesellschafters an, die darin besteht, dass dieser zwischen „Liquidation und Sanierung“ der Gesellschaft wählt72. Vorwerfbar sind dem Gesellschafter die hieraus resultierenden Folgen aber nur, wenn dieser die Rolle eines außenstehenden Kreditgebers verlässt, es also widersprüchlich wäre, ihn auf seine Stellung als Fremdkapitalgeber zu reduzieren. Dies ist dann der Fall, wenn zum einen der Gesellschafter aufgrund seiner gesellschaftsrechtlichen Stellung einen Informationsvorsprung hat, d.h. anders als die außenstehenden Gläubiger um die wirtschaftliche Schieflage der Gesellschaft weiß, und zum anderen dieses Wissen zum Nachteil der Gläubigergesamtheit im Rahmen seiner Finanzierungsentscheidung ausnutzt. Letzteres trifft etwa dann zu, wenn der Gesellschafter eine vergleichsweise geringe Fortführungschance der kriselnden Gesellschaft ergreift, um sich die mit seiner Gesellschafterstellung verbundenen Vorteile zu erhalten. Misslingt dann der Sanierungsversuch, stellen sich die Gesellschaftsgläubiger in aller Regel schlechter als vorher. Hier spekuliert der Gesellschafter also auf Kosten der (unwissenden) Gläubiger, die – hätten sie denselben Informationsstand – ihre Außenstände augenblicklich eingezogen und damit die Gesellschaft in den Zusammenbruch geführt hätten. Letztlich nimmt der Gesellschafter – wirtschaftlich besehen – seinen Sanierungsversuch auf dem Rücken der übrigen Gläubiger vor, anstatt auf ein geordnetes (die Interessen aller Gläubiger angemessen berücksichtigendes) Liquidationsverfahren hinzuwirken73. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der Grund für einen besonderen Verantwortungsbeitrag des
__________
71 S. etwa Hommelhoff in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 2.20; Hommelhoff/
Goette/Kleindiek (Fn. 21), Rz. 8; Haas, NZI 2001, 1 (2 ff.); ders., NZI 2002, 457 (459); s. auch Habersack, ZGR 2000, 384 (393 ff.); für Österreich s. auch OGH, SZ 64/53, S. 291 f. und Karollus/Schulyok (Fn. 30), S. 30 f. 72 S. BGHZ 67, 171 (175); 121, 31 (36); BGH, ZIP 1984, 698 (700); Habersack, ZHR 162 (1998), 201 (204 f.); ders., ZHR 161 (1997), 457 (467); Johlke/Schröder in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 5.92 und 5.95; Haas/Dittrich, ebenda Rz. 8.33. 73 S. auch Haas, NZI 2001, 1 (8 f.).
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Gesellschafters in dem Ausnutzen einer gesellschaftsrechtlichen Insiderstellung in der Krise liegt. Mit diesem Verhalten tritt der Gesellschafter aber aus dem „Schatten“ eines schlichten Kreditgebers heraus. (1) Informationsvorsprung Grundlage für eine Finanzierungsentscheidung des Gesellschafters und damit der Wahl zwischen Liquidation und Sanierung ist in erster Linie, dass der Gesellschafter über entsprechende Informationsmöglichkeiten verfügt, die ihm – im Vergleich zu einem „normalen“ Kreditgeber – einen Informationsvorsprung in der Gesellschaftskrise verschaffen. Einen die Finanzierungsfolgenverantwortung i. S. d. Kapitalersatzrechts auslösenden Informationsvorsprung können freilich nur solche Möglichkeiten der Informationsverschaffung begründen, die sich von denen eines „normalen“ Kreditgebers unterscheiden74. Hiervon geht auch das österr. EKEG aus. So heißt es etwa in § 5 Abs. 1 Nr. 3 EKEG, dass kreditvertragstypische Informations- und Einflussrechte eine individuelle Finanzierungsfolgenverantwortung nicht auslösen können. Anknüpfungspunkt für eine Finanzierungsfolgenverantwortung sind damit in erster Linie nur „Insiderrechte“, d.h. gesellschaftsrechtliche Instrumente der Informationsbeschaffung. Letztere können – grundsätzlich – in zwei unterschiedlichen Formen daherkommen75. Zum einen kann sich der Informationsvorsprung auf ein individuelles Auskunftsrechts des Gesellschafters gründen. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass dieses tauglich ist, ein zeitnahes, umfassendes und vollständiges Bild über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft zu vermitteln. Zum anderen kann der Informationsvorsprung aber auch Folge einer gesellschaftsrechtlich vermittelten Einflussmöglichkeit auf die Geschicke der Gesellschaft sein; denn wer (potentiell) Einfluss auf die Gesellschaft besitzt, kann diesen auch zur Informationsgewinnung einsetzen. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Informationsverschaffung erklären auch, warum die Schwellen für eine Zurechnung der Finanzierungsfolgeverantwortung im GmbH- und im Aktienrecht – grundsätzlich – unterschiedlich sind. Im GmbH-Recht steht jedem einzelnem Gesellschafter ein individuelles, zwingendes und jederzeit ausübbares Auskunfts- und Einsichtsrecht
__________
74 Freilich kann auch das Ausnutzen eines Informationsvorsprungs, der auf kreditver-
tragstypischen Informations- bzw. Einflussrechten beruht, eine Haftung – zwar nicht nach den Grundsätzen des Kapitalersatzrechts, wohl aber nach allgemeinen Regeln (§ 826 BGB) – auslösen, s. hierzu im Einzelnen Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 6. Aufl. 2002, S. 737 ff. 75 So auch die Gesetzesbegründung zum so genannten Kleinbeteiligungsprivileg (§ 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG), s. hierzu ZIP 1996, 1362: „… gefährden eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen die Belange der außenstehenden Gesellschaftsgläubiger, die nicht Gesellschafter sind und deshalb die Gesellschaftsinterna und ihre Entwicklung nicht überblicken (sog. Insiderstellung des Gesellschafters)“; kritisch hierzu Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 32a Rz. 88.
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gegenüber der Gesellschaft (§ 51a GmbHG) zu76. Dieses individuelle Auskunfts- und Einsichtsrecht ist so ausgestaltet, dass es dem Gesellschafter einen vollständigen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft gewährt. Im Aktienrecht besteht zwar ebenfalls ein individuelles Auskunftsrecht des einzelnen Aktionärs gegenüber der Gesellschaft (§ 131 AktG). Letzteres kann aber – anders als im GmbHG – nicht jederzeit, sondern nur im Rahmen der Hauptversammlung ausgeübt werden und ist damit zur Begründung eines Informationsvorsprungs grundsätzlich ungeeignet. Einen Informationsvorsprung kann sich ein Aktionär daher mithilfe gesellschaftsrechtlicher Instrumente nur dann verschaffen, soweit er auf die Geschicke der Gesellschaft Einfluss nehmen kann. Letzteres nehmen Rechtsprechung und Literatur in der Regel77 und damit typisierend dann an, wenn der Aktionär über eine Beteiligung von mindestens 25 % am Grundkapital verfügt. (2) Korrekturen Die Annahme, dass derjenige, der Zugang zu (Insider-)Informationen hat, diesen Informationsvorsprung auch zum Nachteil der Gläubigergesamtheit ausnutzt, ist freilich eine – mitunter grobe – Typisierung. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen die Folgenverantwortung des Gesellschafters zuvörderst mit dem individuellen Informationsrecht begründet wird. Dass nämlich jeder GmbH-Gesellschafter (einschließlich der so genannten „Erbtante“) von dem individuellen Informationsanspruch auch tatsächlich Gebrauch macht, geht – zumindest dort, wo der Gesellschaftsanteil als Kapitalanlage gehalten wird – an der Lebenswirklichkeit vorbei78. Aus diesem Grund hat der deutsche Gesetzgeber – in erster Linie mit Blick auf den GmbH-Gesellschafter79 – in § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG eine Korrektur vorgenommen. Danach unterliegt – grundsätzlich – nur der Gesellschafter der
__________ 76 Der Informationsanspruch des GmbH-Gesellschafters kann jederzeit und an jedem
Ort geltend gemacht werden, d. h. sowohl innerhalb als auch außerhalb einer Gesellschafterversammlung, s. Hüffer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1990, § 51a Rz. 20; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 51a Rz. 21 ff.; Römermann in Michalski, GmbHG, § 51a Rz. 106; s. auch Bopp, Die Informationsrechte des GmbH-Gesellschafters, 1991, S. 56 ff. 77 Zu der Frage, ob und inwieweit im Einzelfall auch eine unter 25% liegende Beteiligung die Finanzierungsverantwortung auslösen bzw. eine über 25% liegende Beteiligung vom Kapitalersatzrecht befreit sein kann, s. Bayer in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 11.6 ff.; Henckel in Jaeger, InsO, § 39 Rz. 95; Habersack, ZHR 162 (1998), 201 (218 ff.). 78 Haas, NZI 2002, 457 (459 f.). Dies übersieht Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 32a Rz. 88. 79 Ob und inwieweit diese Grundsätze auch auf andere Gesellschaftsformen oder aber auf den so genannten wirtschaftlichen Gesellschafter Anwendung finden, ist sehr umstritten, s. hierzu etwa Haas in Gottwald (Hrsg), Insolvenzrechtshandbuch, 3. Aufl. 2005, § 92 Rz. 378.
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Finanzierungsfolgenverantwortung, der mindestens 10 % am Stammkapital hält. Dahinter steht die Vorstellung, dass der Gesellschafter, dessen wirtschaftliche Interessen eng mit denen der Gesellschaft verbunden sind, typischerweise auch von den ihm zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten im Rahmen einer Finanzierungsentscheidung Gebrauch macht80. Freilich handelt es sich auch hier wiederum um eine (mehr oder weniger grobe) Typisierung; denn das Näheverhältnis und das gesellschaftsinterne Engagement des einzelnen Gesellschafters lassen sich mithilfe einer abstrakten Beteiligungshöhe nicht abschließend messen81. Dies hat auch der Gesetzgeber gesehen und den § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG um eine weitere Alternative bereichert. Danach kommt es für die Zurechnung der Folgenverantwortung auf die Höhe der Beteiligung am Stammkapital dann nicht an, wenn der Gesellschafter auch Geschäftsführer der Gesellschaft ist. Beruht also die Möglichkeit der Informationsverschaffung darauf, dass der Gesellschafter auf die Geschicke der Gesellschaft einen weitgehenden Einfluss hat, so ist – nach den Vorstellungen des Gesetzgebers – das (erforderliche) Näheverhältnis stets und unabhängig davon gegeben, wie hoch die Beteiligung des Gesellschafters, d.h. inwieweit das wirtschaftliche Eigeninteresse des Gesellschafters mit dem Wohlergehen der Gesellschaft verknüpft ist82. In diesem Fällen bleibt es also bei der Vermutung, dass ein solcher Gesellschafter grundsätzlich von der ihm zustehenden Möglichkeit der Informationsverschaffung auch tatsächlich Gebrauch macht. b) Folgerungen für den nichtwirtschaftlichen Verein Überträgt man nun die vorstehenden Grundsätze auf das Vereinsrecht, so kommt eine Finanzierungsfolgenverantwortung der Vereinsmitglieder grundsätzlich unter zwei Aspekten in Betracht, nämlich entweder auf der Grundlage eines Informationsanspruchs oder aber aufgrund von Einflussmöglichkeiten auf die Geschicke des Vereins. aa) Finanzierungsfolgeverantwortung und individuelles Informationsrecht Anders als das GmbH- oder das Aktienrecht regelt das Vereinsrecht den individuellen Informationsanspruch des Vereinsmitglieds nicht. Dies gilt für
__________ 80 S. auch Hommelhoff/Goette/Kleindiek (Fn. 21), Rz. 114; Lutter/Hommelhoff,
GmbHG, §§ 32a/b Rz. 66. 81 Zur umstrittenen Frage, ob von der 10%-Schwelle aufgrund der Besonderheiten des
konkreten Sachverhalts ebenso abgewichen werden kann wie von der 25%-Hürde im Aktienrecht, s. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 67 und 68; Pentz, GmbHR 1999, 437 (446); K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 182. 82 Lutter/Hommelhoff, GmbHG, §§ 32a/b Rz. 73; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 182.
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das deutsche ebenso wie für das österreichische83. Dennoch ist – zumindest für das deutsche Recht – anerkannt, dass es auch im Vereinsrecht ein solches Recht gibt84. Streitig ist allerdings, wo das individuelle Auskunftsrecht rechtlich zu verorten ist. Teilweise wird es – wie das kollektive Informationsrecht – aus §§ 27 Abs. 3, 666 BGB abgeleitet85, teilweise mit einer Analogie zu § 131 Abs. 1 AktG begründet86. Wieder andere sehen das individuelle Auskunftsrecht als immanenten Bestandteil des Mitgliedschaftsrechts87. Unabhängig von der dogmatischen Grundlage stellt sich freilich die Frage, ob und inwieweit das individuelle Informationsrecht dem einzelnen Vereinsmitglied einen umfassenden und aktuellen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse gewährt, die dieser zur Grundlage einer Kreditentscheidung machen könnte. Letzteres wird man wohl verneinen müssen. Da nämlich die aus der Mitgliedschaft fließenden Rechte des Vereinsmitglieds auf Mitwirkung an der vereinsrechtlichen Willensbildung auf die Mitgliederversammlung beschränkt sind (§ 32 BGB), kann nach überwiegender Auffassung auch das als Annexrecht zur Mitgliedschaft zu verstehende individuelle Auskunftsrecht nicht außerhalb der Mitgliederversammlung ausgeübt werden88. Eine Minderansicht will zwar demgegenüber – entsprechend § 51a GmbHG – das Auskunfts- und Informationsrecht des einzelnen Mitglieds auch außerhalb von Mitgliederversammlungen zumindest dann zulassen, wenn das Mitglied ein berechtigtes Interesse aufweisen kann89. Auch nach dieser Ansicht soll jedoch – in Anlehnung an § 131 Abs. 1, 3 AktG – ein jederzeitiges Auskunftsrecht ausgeschlossen sein, wenn es sich bei dem Verein um eine Großorganisation handelt. Letztlich sprechen die besseren Gründe dafür, eine Analogie zu § 51a GmbHG abzulehnen. Zu groß sind die Strukturunterschiede zwischen der GmbH und dem Idealverein. Steht aber das Vereinsmitglied – in Bezug auf den individuellen Informationsanspruch –
__________ 83 S. für das österreichische Recht, Krejci/Bydlinski/Rauscher/Weber-Schallauer
(Fn. 32), § 20 Rz. 17. 84 Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 213; K. Schmidt,
85
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89
Informationsrechte in Gesellschaften und Verbänden, 1984, S. 21; Bopp, Die Informationsrechte des GmbH-Gesellschafters, 1991, S. 22 f. Reichert (Fn. 44), Rz. 885; LG Stuttgart, NJW-RR 2001, 1478 (1479); Michalski/ Arends, NZG 1999, 780; so wohl auch BGH, ZIP 2003, 345 (347); KG, NZG 1999, 779. Hadding in Soergel, BGB, § 38 Rz. 17; Grunewald, ZIP 1989, 962 (963); Lebke, NJW 1966, 2099. K. Schmidt (Fn. 84), S. 21 ff. KG, NZG 1999, 779; BayObLG, MDR 1972, 691; Hadding in Soergel, BGB, § 38 Rz. 17 und § 27 Rz. 22a; Grunewald, ZIP 1989, 962 (963); Reuter in MünchKomm.BGB, § 27 Rz. 21; Weick in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1995, § 27 Rz. 25; Stöber (Fn. 54), Rz. 305. Michalski/Arendt, NZG 1999, 780; Linnenbrink, SpuRt 1999, 224 (227); Reichert (Fn. 44), Rz. 889; Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, 17. Aufl. 2001, Rz. 336; noch weiter Segna, Vorstandskontrolle in Großvereinen, 2002, S. 266 ff.
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einem Aktionär näher als einem GmbH-Gesellschafter, dann scheidet in einem gesetzestypischen Verein eine Finanzierungsfolgeverantwortung desselben gestützt auf ein individuelle Informationsrecht ebenso aus wie beim Aktionär (s. oben III. 2. a) bb) (1)). bb) Finanzierungsfolgenverantwortung und Möglichkeiten der Einflussnahme In der oben zitierten Entscheidung des Handelsgerichts Wien hat das Gericht den Grund für die besondere Verantwortung des Vereinsmitglieds für die von ihm ausgelösten Finanzierungsfolgen nicht in einem gesetzlichen Informationsanspruch, sondern in weit reichenden Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Geschicke des Vereins gesehen. Das Gericht spricht insoweit von einem „Einfluss, der einer Beherrschung gleichkomme“. Ist diese – hohe – Schwelle überschritten, ist auch für das deutsche Vereinsrecht zumindest nach der hier vertretenen Ansicht eine Finanzierungsfolgenverantwortung des Vereinsmitglieds zu unterstellen. Zu der Frage, wann diese Schwelle erreicht ist, enthält die Entscheidung des Handelsgerichts Wien leider keine Angaben. Ein Ausnutzen einer Insiderstellung wird man – typischerweise – unterstellen können, wenn das Vereinsmitglied auch Vorstand ist oder aber ein Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand besitzt und diesen damit quasi beherrscht. Hier kann – im Grundsatz – nichts anders gelten als im Rahmen des § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG. Problematischer sind hingegen die Fälle zu bewerten, in denen der Verein dem Vereinsmitglied mitgliedschaftliche Sonderrechte i. S. d. § 35 BGB einräumt, die zwar einen maßgeblichen bzw. kontrollierenden, nicht aber einen beherrschenden Einfluss vermitteln. Zu denken wäre etwa an ein erhöhtes Stimmrecht in der Mitgliederversammlung oder aber ein Zustimmungsvorbehalt bzw. Vetorecht gegen Entscheidungen des Vorstands90. Letztlich stellen aber auch diese Einflussmöglichkeiten eine hinreichende Grundlage für eine die Finanzierungsfolgenverantwortung auslösende Insiderstellung dar. Auch insoweit kann grundsätzlich nichts anderes gelten als für die Kapitalgesellschaften. cc) Anforderungen an die „Doppelrolle“ des Gesellschafters Ausgangspunkt für eine Finanzierungsfolgenverantwortung des Gesellschafters ist – wie oben ausgeführt – dessen „anstößige“ Doppelrolle, die es ausschließt, ihn auf die Stellung eines „normalen“ Kreditgebers zu reduzieren.
__________ 90 S. hierzu Reuter in MünchKomm.BGB, § 35 Rz. 5; Schwarz in Bamberger/Roth,
BGB, § 35 Rz. 7; Reichert (Fn. 44), Rz. 565 ff.
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Fraglich ist nun, ob schon allein der gesellschaftsrechtlich begründete Informationsvorsprung die Stellung des Gesellschafters zu einer „anstößigen“ i. S. d. Kapitalersatzrechts macht oder ob noch weitere Umstände hinzukommen müssen. Kennzeichnend für die Gesellschafterstellung im GmbHRecht ist jedenfalls, dass diese nicht nur einen Informationsvorsprung begründet, sondern dass der Gesellschafter aufgrund seiner Mitgliedschaft auch am Erfolg der Gesellschaft wirtschaftlich partizipiert. Dass es auf diesen Aspekt entscheidend ankommt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der NurGeschäftsführer – trotz seines Informationsvorsprungs – dem Kapitalersatzrecht nicht unterstellt ist91. Dies bringt auch § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG klar zum Ausdruck, der neben der Geschäftsführerstellung eine Beteiligung am Stammkapital der Gesellschaft voraussetzt. Deutlich wird dies aber auch in den Fällen, in denen Rechtsprechung und Literatur das Kapitalersatzrecht nach § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG auf Nichtgesellschafter erstrecken. Letzteres geschieht nämlich nur dort, wo der Dritte – ähnlich wie ein Gesellschafter – an der Gesellschaft wirtschaftlich interessiert ist92. Setzt eine Spekulation auf Kosten der Gläubiger aber nicht nur einen Informationsvorsprung, sondern auch eine durch das Gesellschaftsrecht vermittelten wirtschaftlichen Teilhabe voraus, so kann das Kapitalersatzrechts nicht vorbehaltlos auf den Verein übertragen werden; denn – anders als der GmbH-Gesellschafter – ist das Vereinsmitglied grundsätzlich nicht am Vereinsvermögen beteiligt. Hiervon geht letztlich auch der österreichische Gesetzgeber aus, wenn er die Einbeziehung des Vereins in den Kreis der dem Kapitalersatzrecht unterliegenden Gesellschaften u. a. mit der Begründung ablehnt, dass die Vereinsmitglieder grundsätzlich keinen wirtschaftlichen Ertrag aus ihrer Mitgliedschaft erhalten93. Soll daher die (wirtschaftliche) Vergleichbarkeit mit einem GmbH-Gesellschafter gewahrt bleiben, kann mithin ein Vereinsmitglied dem Kapitalersatzrecht nur dann unterworfen sein, wenn die Spekulation auf Kosten der übrigen Gläubiger dem Vereinsmitglied wirtschaftlich – zumindest mittelbar – zugute kommen kann. Wie eine solche wirtschaftliche Teilhabe am Rechtsträger ausgestaltet sein muss, um eine die Finanzierungsfolgen auslösende „Doppelrolle“ des Vereinsmitglieds zu begründen, ist allerdings fraglich. Unklar ist insbesondere, ob hierfür eine Ergebnisbeteiligung ausreicht oder ob eine (schuldrechtliche) Beteiligung am Vereinsvermögen erforderlich ist.
__________ 91 S. BGH, ZIP 1994, 1103 (1106); Medicus, GmbHR 1993, 533 (536); Johlke/Schröder
in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 5.26. 92 Heidinger in Michalski, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 192; Ulmer in Hachenburg,
GmbHG, 8. Aufl. 1991, §§ 32a, 32b Rz. 84; Hommelhoff/Goette/Kleindiek (Fn. 21), Rz. 120 ff. 93 ErläutRV zu § 4; s. auch Dellinger/Mohr (Fn. 38), § 4 Rz. 10.
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Diese Frage wird in Literatur und Rechtsprechung etwa im Hinblick auf den (atypischen) stillen Gesellschafter kontrovers diskutiert94. So hat der BGH in einem Fall das Kapitalersatzrecht auf einen (atypischen) stillen Gesellschafter mit der Begründung angewandt, dass dieser hinsichtlich seiner Beteiligung am Gesellschaftsvermögen und seines Einflusses auf die Geschicke der Gesellschaft einem GmbH-Gesellschafter gleichstehe95. In einem anderen Fall hat der BGH die Einbeziehung des atypischen stillen Gesellschafters damit gerechtfertigt, dass diesem weitgehende Mitbestimmungsrechte und auch gewisse Gewinnvorrechte eingeräumt worden waren96. In der Literatur wird – neben den stets erforderlichen Mitwirkungsrechten – mitunter eine Ergebnisbeteiligung für ausreichend erachtet97, überwiegend aber eine (schuldrechtliche) Beteiligung am „Vermögen des Unternehmens“ verlangt98. Umstritten ist schließlich auch, inwieweit ein Weniger an wirtschaftlicher Beteiligung durch ein Mehr an Informations-, Kontroll- und Mitwirkungsrechten im Einzelfall ausgeglichen werden kann99. Für das Vereinsrecht bedeutet dies, dass in jedem Fall eine die Doppelrolle des Mitglieds begründende wirtschaftliche Teilhabe besteht, wenn die Vereinssatzung vorsieht, dass das Vereinsvermögen im Falle der Auflösung des Vereins (nach Abzug der Schulden) ganz oder teilweise (auch) an das kreditgebende Vereinsmitglied auszukehren ist (§ 45 Abs. 1 BGB). Gleiches gilt, wenn dem kreditierenden Vereinsmitglied ein Sonderrecht i. S. d. § 35 BGB eingeräumt wird, etwa auf vorzugsweise Befriedigung im Rahmen des Liquidationsverfahrens100. Ob eine hinreichende wirtschaftliche Teilhabe auch dann vorliegt, wenn der Verein wirtschaftlich wertvolle Leistungen (Sachoder Dienstleistungen) auf Grundlage der Satzung oder eines Sonderrechts (§ 35 BGB) an die Vereinsmitglieder erbringt, ist ungeklärt. Im Einzelfall wird man dies u. U. dann bejahen können, wenn das Weniger an wirtschaftlicher Beteiligung durch ein Mehr an Einflussnahme aufgewogen wird.
__________ 94 S. für einen Überblick Johlke/Schröder in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17),
95 96 97
98
99 100
Rz. 5.18 ff. Zum österreichischen Recht s. die Erläuterungen bei Dellinger/Mohr (Fn. 38), § 10 Rz. 2 ff. BGH, ZIP 1989, 95 (96 f.). S. BGH, ZIP 1985, 347 f.; s. auch BGH, ZIP 1992, 1300. Johlke/Schröder in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 5.26; s. auch Henckel in Jaeger, InsO, § 39 Rz. 86: „schuldrechtlich am Gesellschaftsvermögen beteiligt oder Geschäftsführungsbefugnisse eingeräumt …“. S. etwa K. Schmidt in Scholz, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 139; Pentz in Rowedder/ Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 32a Rz. 75; Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 32a Rz. 22; Heidinger in Michalski, GmbHG, §§ 32a, 32b Rz. 198; s. auch Oepen, NZG 2001, 209 (212 ff.). S. Johlke/Schröder in von Gerkan/Hommelhoff (Fn. 17), Rz. 5.26; s. auch Henckel in Jaeger, InsO, § 39 Rz. 86. S. zu dieser Möglichkeit Reuter in MünchKomm.BGB, § 35 Rz. 5; Hadding in Soergel, BGB, § 35 Rz. 15.
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dd) Kapitalersatzrecht und vereinsrechtlicher Gläubigerschutz Das Kapitalersatzrecht ist – wie bereits ausgeführt – ein Instrument des Gläubigerschutzes. Auf umfangreiche gläubigerschützende Regelungen hat der (deutsche) Gesetzgeber aber bei der Ausgestaltung des Vereinsrechts seinerzeit verzichtet101. Letztlich beschränken sich die Gläubigerschutzvorschriften im Vereinsrecht auf die Insolvenzantragspflicht des Vorstands (§ 42 Abs. 2 BGB) sowie auf die Pflichten der Liquidatoren (§§ 51–53 BGB). Dahinter steht wohl die Vorstellung, dass dort, wo sich der Verein dem gesetzlichen Leitbild entsprechend verhält und allein ideell tätig wird, die von einer solchen Tätigkeit ausgehenden Risiken für die Gläubiger gering sind und daher hinnehmbar erscheinen. Anders ist dies freilich bei einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Da hier die Gläubigerinteressen in besonderem Maße tangiert werden, verweist der Gesetzgeber mit Blick auf den Gläubigerschutz für derartige Zwecksetzungen auf die dafür zur Verfügung stehenden handelsrechtlichen Formen102. Bei Letzteren ist freilich das Gläubigerschutzkonzept nicht auf das Marktaustrittsverfahren beschränkt. Im Lichte dieses historischen Leitbilds stellt sich nun die Frage, ob die Anwendung des Kapitalersatzrechts auf solche Idealvereine zu beschränken ist, die (aufgrund des liberal gehandhabten Nebenzweckprivilegs) Aktivitäten in einer Art und in einem Umfang entfalten, die als unternehmerischer Geschäftsbetrieb anzusehen sind. Anklänge für eine solche Beschränkung des Anwendungsbereichs des Kapitalersatzrechts finden sich in der Entscheidung des Handelsgerichts Wien, wenn dieses – bewusst oder unbewusst – die Anwendung der Kapitalersatzregeln auf „unternehmerisch“ tätige Vereine beschränkt, um eine Vergleichbarkeit mit den GmbH-spezifischen Gläubigerrisiken sicherzustellen. Auch die Regierungsvorlage zum österr. EKEG greift dieses Argument auf, soweit es die Nichteinbeziehung des Vereins in den Kreis der Gesellschaften nach § 4 u. a. damit ablehnt, dass „Vereine nicht auf Gewinn gerichtet sind“103. Richtiger Ansicht nach kommt es aber für die Anwendung der Kapitalersatzregeln nicht auf eine wirtschaftliche Tätigkeit der Vereine an. Abgesehen von den Abgrenzungsschwierigkeiten ist nämlich eine solche Differenzierung in mehrfacher Hinsicht problematisch. So kann beispielsweise auch eine GmbH zur Verfolgung ideeller Zwecke gegründet werden, ohne dass dies zur Nichtanwendbarkeit des Kapitalersatzrechts führen würde104. Wel-
__________ 101 Anders dagegen der österr. Gesetzgeber, s. insoweit beispielsweise die qualifizier-
te Rechnungslegung für große Vereine (§ 22 VereinsG 2002). S. auch § 26 VereinsG 2002 wonach der Verzicht auf oder der Vergleich über Ersatzansprüche des Vereins gegen Organwalter oder Prüfer den Gläubigern des Vereins gegenüber unwirksam ist. 102 Stöber (Fn. 54), Rz. 49. 103 ErläutRV zu § 4. 104 Saria/Wagner, ecolex 1999, 31 (34).
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chen Zweck eine Kapitalgesellschaft (etwa eine GmbH) verfolgt oder welchen Geschäftsumfang sie hat, ist für den Anwendungsbereich des Kapitalersatzrechts ohne Belang. Hinzu kommt, dass – jenseits des Kapitalersatzrechts – Literatur und Rechtsprechung die Anwendung gläubigerschützender Aspekte des Kapitalgesellschaftsrechts auf den Verein diskutieren, und zwar unabhängig davon, ob und inwieweit ein Verein (auch) wirtschaftlich tätig ist105. Dies gilt etwa für die Lehre des so genannten Haftungsdurchgriffs106. Dies gilt aber auch für den Übergang der Rechte und Pflichten vom VorVerein auf den eingetragenem Verein107, die Handelndenhaftung108, die Haftungsverfassung des Vor-Vereins109 oder aber in Bezug auf die Geschäftsführerhaftung wegen Insolvenzverschleppung110.
V. Zusammenfassung (1) Bei den vom Kapitalersatzrecht erfassten negativen Folgen einer Gesellschafterfremdfinanzierung handelt es sich durchweg um rechtsformneutrale Erscheinungen. Es gibt daher keine dem Kapitalersatzrecht immanente Schranke, die einer Übertragung dieser Grundsätze auf den Idealverein entgegensteht. (2) Zuzurechnen sind einem Gesellschafter die negativen Folgen seiner Finanzierung grundsätzlich dann, wenn dieser eine Finanzierungsentscheidung in der Krise getroffen hat, bei der er seine Insiderstellung zum Nachteil der Gläubigergesamtheit ausnutzt, um sich die aus seiner Gesellschafterstellung fließenden wirtschaftlichen Vorteile zu erhalten. Für die Frage, ob dies zutrifft oder nicht, gehen Rechtsprechung und Gesetz von mehr oder weniger groben Typisierungen aus. (3) Eine die Finanzierungsfolgenverantwortung auslösende Insiderstellung kann entweder auf einem (umfassenden) gesellschaftsrechtlichen Informationsanspruch oder aber darauf beruhen, dass der Gesellschafter über einen gesellschaftsrechtlich vermittelten (maßgeblichen bzw. beherrschenden) Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft verfügt. (4) Da der individuelle Informationsanspruch im Vereinsrecht grundsätzlich nicht außerhalb der Mitgliederversammlung ausgeübt werden kann, ergibt sich ein Informationsvorsprung im Vereinsrecht allenfalls auf der
__________ 105 S. etwa Schwarz in Bamberger/Roth, BGB, Vor § 21 Rz. 13 ff. 106 S. hierzu etwa Hadding in Soergel, BGB, Vor § 21 Rz. 35 ff.; Reuter in Münch-
Komm.BGB, Vor § 21 Rz. 21 ff. 107 Reuter in MünchKomm.BGB, §§ 21, 22 Rz. 81 ff.; Hadding in Soergel, BGB, Vor
§ 21 Rz. 42. 108 S. Hadding in Soergel, BGB, Vor § 21 Rz. 68. 109 Reuter in MünchKomm.BGB, §§ 21, 22 Rz. 96 ff.; Hadding in Soergel, BGB, Vor
§ 21 Rz. 71 ff. 110 Hadding in Soergel, BGB, § 42 Rz. 12.
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Der eingetragene nichtwirtschaftliche Verein und das Kapitalersatzrecht
Grundlage eines maßgeblichen oder aber beherrschenden Einflusses auf die Geschicke des Vereins. (5) Neben dem Informationsvorsprung setzt eine die Finanzierungsfolgen auslösende Spekulation auf Kosten der Gesamtgläubiger voraus, dass das Vereinsmitglied aufgrund seiner Mitgliedschaft wirtschaftlich am Wohlergehen der Gesellschaft partizipiert. Letzteres ist nur ausnahmsweise der Fall, nämlich dann wenn das Vereinsmitglied am Vereinsvermögen (etwa im Rahmen des Liquidationsverfahrens) oder aber an den wirtschaftlich relevanten Erträgen des Vereins (etwa im Rahmen von Vereinsleistungen an die Mitglieder) teilhat. (6) Ohne Relevanz für eine Anwendung der Kapitalersatzvorschriften auf den Idealverein ist, ob dieser einen (privilegierten) Geschäftsbetrieb unterhält oder nicht.
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Harmonisierung des Lärmschutzes gegenüber Sport und Spiel – Rückschau und Ausblick Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Abgrenzung des Themas III. Die Entwicklung des Immissionsschutzes gegenüber Sportanlagen 1. Das Tennisplatz-Urteil und seine Folgen 2. Der Anstoß zur Harmonisierung des Immissionsschutzrechts 3. Die unterschiedlichen Ausgangslagen im bürgerlichen und im öffentlichen Nachbarrecht 4. Die Harmonisierung der Rechtsprechung 5. Maßnahmen des Gesetz- und Verordnungsgebers
a) Die Sportanlagenlärmschutzverordnung von 1991 b) Die Ergänzung des § 906 Abs. 1 BGB IV. Immissionsschutz gegenüber Kinderspielplätzen V. Immissionsschutz gegenüber Ballspielanlagen und ähnlichen Anlagen für freizeitsportliche Aktivitäten 1. Spielanlagen für Kinder bis zu 14 Jahren 2. Bolz- und Skaterplätze für ältere Jugendliche und junge Erwachsene VI. Zusammenfassung
I. Vorbemerkung Der Jubilar, in seiner Jugend ein hervorragender Leichtathlet, hat dem Sport in „altersgemäßer Anpassung“ die Treue gehalten und sein Augenmerk nicht nur seinen Hauptarbeitsfeldern im Handels- und Gesellschaftsrecht, sondern auch den vielfältigen mit der Sportausübung und -organisation verbundenen Rechtsfragen gewidmet. Dies mag es rechtfertigen, hier den Sport berührende Gedanken aus der Sicht eines Kollegen einzubringen, der früher ebenfalls auf der Aschenbahn seinen Schweiß vergossen hat, allerdings mit weniger herausragenden Leistungen, so dass das einer Festschrift angemessene „Bewunderungsgefälle“ gewahrt bleibt.
II. Abgrenzung des Themas Die folgenden Betrachtungen behandeln den Rechtsschutz gegenüber Lärmimmissionen von Sportanlagen im engeren Sinne, von Stätten sonstiger „sportlicher“ Betätigung, z. B. von Bolz- und Skaterplätzen, sowie von Kinderspielplätzen. Unter „Sportanlagen“ sollen gemäß der Legaldefinition des § 1 Abs. 2 der 18. BImSchV hier ortsfeste Einrichtungen im Sinne des § 3 Abs. 5 Nr. 1 BImSchG verstanden werden, die zur Sportausübung bestimmt sind. Demgegenüber werden als „Spielplätze“ kleinräumige Anlagen begrif1175
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fen, die für die körperliche Freizeitbetätigung von kleineren Kindern bestimmt sind. Als „sonstige“ der sportlichen Freizeitbetätigung dienende Anlagen sollen solche verstanden werden, die auf unorganisierte, ohne nennenswerte Beteiligung von Zuschauern und ohne Schiedsrichter oder Sportaufsicht stattfindende Aktivitäten zugeschnitten sind, vor allem Bolz- und Skaterplätze.
III. Die Entwicklung des Immissionsschutzes gegenüber Sportanlagen 1. Das Tennisplatz-Urteil und seine Folgen Das Problem des Verhältnisses von Sport und Umwelt ist spätestens seit dem Tennisplatz-Urteil des BGH v. 17.12.19821 verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten2. Dieses Urteil hat zunächst hitzige Auseinandersetzungen zwischen den Spitzenvertretungen des Sports, der Städte und der Gemeinden auf der einen Seite sowie den Verfechtern des Umweltschutzes auf der anderen ausgelöst3. Anfänglich richtete sich der Unmut der Städte und Gemeinden besonders gegen die Zivilgerichte, was wohl daran lag, dass im Tennisplatz-Fall die den Stein des Anstoßes bildenden beiden Tennisplätze von der Stadtgemeinde auf gemeindeeigenem Gelände angelegt und dem beklagten Sportverein zur Benutzung überlassen worden waren, so dass sich die Abwehrklage der Anwohnerin nach bürgerlichem Recht beurteilte und deshalb die Zivilgerichte zuständig waren. Aus der Sicht der Städteplaner verstärkte sich das Ärgernis dadurch, dass das Wohngrundstück der Klägerin in einem Mischgebiet lag und die Tennisplätze in einem Bebauungsplan als Sonderbaufläche ausgewiesen waren. Damit rückte das Verhältnis von zivilem Immissionsschutzrecht zum öffentlichen Bauplanungsund Bauordnungsrecht in den Mittelpunkt des Streits. Schon bald aber zeigte sich, dass die gleichen Probleme bei Sportstätten auftauchten, die von Stadtgemeinden schlicht-hoheitlich betrieben wurden und deshalb nach öffentlich-rechtlichen Maßstäben von den Verwaltungsgerichten zu beurteilen waren4. Damit gerieten auch die Verwaltungsgerichte in das Blickfeld der Kritik5.
__________ BGH, Urt. v. 17.12.1982 – V ZR 55/82, NJW 1983, 751. Zu vorangegangenen Entscheidungen von Zivil- und Verwaltungsgerichten vgl. die knappe Aufzählung bei Gerhard Lang, UPR 1985, 185. 3 Vgl. auch hierzu das in der vorigen Fn. zitierte Referat von Lang. 4 Zu erwähnen sind hier insbesondere die Urteile des BVerwG v. 19.1.1989 zum Bezirkssportplatz Tegelsbarg in Hamburg-Poppenbüttel (BVerwGE 81, 197) und v. 24.4.1991 zum städtischen Sportplatz in Dortmund-Sölde (BVerwG, DVBl 1991, 1151). 5 Näher und instruktiv hierzu: Berkemann, NuR 1998, 565. 1 2
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2. Der Anstoß zur Harmonisierung des Immissionsschutzrechts Mit dieser Zweigleisigkeit des Rechtsschutzes war die Gefahr divergierender Entscheidungen verbunden, die der Öffentlichkeit schwerlich zu vermitteln gewesen wären, weil die konfliktträchtigen Sachprobleme im Wesentlichen deckungsgleich sind. Warum sollte der Schutz gegenüber Sportanlagen, deren Betrieb privatrechtlich zu beurteilen ist, grundsätzlich weiter gehen als gegenüber öffentlich-rechtlich zu beurteilenden – und umgekehrt? Schon deswegen ist, wie gerade die Entwicklung des Immissionsschutzrechts gegenüber Sportstätten zeigt, eine strikte Trennung der rechtlichen Maßstäbe für privatrechtlichem Nachbarschutz einerseits und öffentlich-rechtlichen andererseits zumindest rechtspolitisch nicht durchzuhalten. Soweit sachliche Differenzierungsgründe fehlen, kann im Zweifel auch der Gesetzgeber eine unterschiedliche Behandlung nicht wollen. Deswegen vertrete ich schon de lege lata seit langem den Standpunkt, dass einander entsprechende Sachprobleme im Zweifel auch wertungskonform, d.h. nach einander entsprechenden rechtlichen Wertungen, gelöst werden sollten6. Um der Widerspruchsfreiheit des Rechtssystems willen sollte diese „Konformitätsvermutung“ nicht nur für die Gesetzesauslegung, sondern auch für die richterliche Rechtsfortbildung gelten. 3. Die unterschiedlichen Ausgangslagen im bürgerlichen und im öffentlichen Nachbarrecht Allerdings sind die gesetzlichen Beurteilungsmaßstäbe im Ansatz unterschiedlich ausgestaltet: Im bürgerlichen Recht gibt § 1004 BGB dem Eigentümer einen Anspruch auf Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung, sofern keine Pflicht zur Duldung besteht. Im Interesse einer sinnvollen Nutzung des nachbarlichen Raums beschränkt § 906 BGB den Eigentumsabwehranspruch gegenüber Immissionen, und zwar teils ohne jede Kompensation, teils gegen einen angemessenen Ausgleich in Geld; im Übrigen lässt er den Anspruch unberührt: Unwesentliche Beeinträchtigungen sind ohne weiteres zu dulden. Wesentliche Beeinträchtigungen brauchen dagegen, sofern sie auf einer nicht ortsüblichen Benutzung des anderen Grundstücks beruhen, keinesfalls hingenommen zu werden. Beeinträchtigungen auf Grund einer ortsüblichen Grundstücksnutzung können, soweit sie durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen vermeidbar sind, abgewehrt werden. Soweit sie durch solche Maßnahmen nicht vermieden werden können, müssen sie hingenommen werden, und zwar im Rahmen zumutbarer Beeinträchtigungen ohne jede Entschädigung, jenseits der Zumutbarkeitsschwelle gegen einen angemessenen Ausgleich. Das bürgerliche Nachbarrecht sieht also eine dreifache Differenzierung vor: 1. uneingeschränkte Duldungspflicht, 2. Duldungspflicht gegen Ausgleich in Geld, 3. uneingeschränkter Abwehr-
__________ 6
Erstmalig in der FS Karl Larenz zum 70. Geburtstag, 1973, S. 867 (868).
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anspruch. Differenzierungsmerkmale sind: a) die Frage der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung, b) die Frage der Ortsüblichkeit der Benutzung des emittierenden Grundstücks, c) die Frage der Vermeidbarkeit der Beeinträchtigung durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen seitens des Benutzers des emittierenden Grundstücks, d) die Frage der Zumutbarkeit des Umfangs der Beeinträchtigung. Im öffentlichen Recht fehlt eine entsprechende ausdrückliche gesetzliche Regelung. Dennoch gewähren die Verwaltungsgerichte gegenüber unzumutbaren Lärmimmissionen durch Anlagen, die im Rahmen hoheitlicher Verwaltung betrieben werden, einen öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch, für den die allgemeine Leistungsklage als Unterlassungsklage gegeben ist7. Dabei wird offen gelassen, ob es sich um den grundrechtlichen Anspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG handelt, ob § 1004 BGB analog angewendet wird oder ob ein öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch gegeben ist. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit solcher Immissionen wenden die Verwaltungsgerichte die Maßstäbe des Bundesimmissionsschutzgesetzes für die Schädlichkeit von Umwelteinwirkungen an. Nach der Legaldefinition des § 3 BImSchG sind schädliche Umwelteinwirkungen solche Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Nach §§ 5, 22 BImSchG sind genehmigungsbedürftige wie auch nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen nach dem Stand der Technik vermieden und, soweit unvermeidbar, auf ein Mindestmaß beschränkt werden8. Zu den schädlichen Umwelteinwirkungen zählen auch Geräusche, die nach Art, Ausmaß und Dauer geeignet sind, erhebliche Belästigungen für die Nachbarschaft herbeizuführen9. Auf den ersten Blick erscheint das Raster des öffentlichen Immissionsschutzrechts also „einfacher gestrickt“ als das bürgerlich-rechtliche, denn es scheint nur eine Alternative vorzusehen: Duldungspflicht oder Abwehranspruch. Differenzierungsmerkmal ist allein die Frage der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Einwirkung. Auf den zweiten Blick bleibt jedoch auch hier Raum für ein dreifach gestuftes Raster. Denn im Blick auf Art. 14 GG stellt sich auch im öffentlichen Recht bei duldungspflichtigen Eingriffen von hoher Hand die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Enteignungsentschädigung10 besteht und wann dies nicht der Fall ist. Soweit der primäre Abwehranspruch
__________ 7 8 9 10
BVerwGE 68, 62; 79, 254 (Feuersirene). § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 22 Abs. 1 BImSchG. So die Legaldefinition des § 3 Abs. 1 und 2 BImSchG. Vgl. BGHZ 48, 98 (101) (Staubimmissionen durch Bau öffentlicher Straßen); BGHZ 72, 289 (292) (Ausschachtungen an öffentlicher Straße); BGHZ 91, 20 (22) (Geruchsimmissionen durch gemeindliche Kläranlage).
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auf Unterlassung – sei es aus rechtlichen, sei es aus tatsächlichen Gründen – nicht in Betracht kommt, sieht also auch das öffentliche Recht dem Grunde nach ein dreifach gestuftes Rechtsschutzraster vor. Alles in allem liegen die Rechtsschutzmöglichkeiten und die Bewertungsmaßstäbe im bürgerlichen und im öffentlichen Recht nicht gar so weit auseinander. Der gegenteilige erste Eindruck beruht darauf, dass die Verwaltungsgerichte nur über Unterlassungsansprüche zu entscheiden haben, und hier gibt es in der Tat nur ein „Entweder-oder“, also ein zweistufiges Raster. Ob mit einer etwaigen Duldungspflicht ein Anspruch auf Entschädigung verbunden ist, ist dagegen eine Frage, die aus historischen Gründen nicht den Verwaltungsgerichten, sondern den Zivilgerichten zugewiesen ist. 4. Die Harmonisierung der Rechtsprechung Auf dieser Grundlage haben das BVerwG und der BGH seit Längerem durch richterliche Rechtsfortbildung auf eine Harmonisierung der Duldungsmaßstäbe im öffentlichen und im privaten Immissionsschutzrecht hingewirkt. Diese Entwicklung ist bekannt und vielfach dargestellt worden11. Sie soll hier nur skizzenhaft in Erinnerung gerufen werden, wobei allerdings ein neuer Akzent gesetzt wird. Den ersten Schritt zu einer Harmonisierung hat am 29.4.1988 das BVerwG im Feuersirenen-Urteil12 mit seiner These getan, es gebe keinen Anlass, die grundlegenden Maßstäbe, mit denen das private und das öffentliche Immissionsschutzrecht die Grenze für eine Duldungspflicht bestimmen, unterschiedlich auszulegen: Wesentliche Geräuschimmissionen im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB seien identisch mit den erheblichen Geräuschbelästigungen und damit schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne von § 3 Abs. 1, § 22 Abs. 1 BImSchG – und umgekehrt. Das bleibende Verdienst dieser Neuorientierung besteht darin, dass sie erstmals das Bestreben umsetzt, die Ergebnisse öffentlichen und privaten Immissionsschutzes zu harmonisieren. Allerdings war die Sicht des BVerwG zunächst insofern verengt, als es aus der Vielzahl von Tatbestandsmerkmalen des § 906 BGB das Merkmal der Wesentlichkeit herausgriff und dessen Zusammenspiel mit den weiteren Tatbestandselementen dieser Vorschrift, insbesondere mit dem Merkmal ortsüblicher Grundstücksbenutzung, ausblendete. Im Urteil zur Bezirkssportanlage Tegelsbarg in Hamburg vom 19.1.1989 wiederholte es die These, dass der Beurteilungsmaßstab im öffentlich-rechtlichen Nachbarschaftsverhältnis zu demselben Ergebnis führe wie der nach §§ 906, 1004 BGB im pri-
__________ 11 Vgl. etwa die Nachweise in meinem Aufsatz in NVwZ 1999, 413 (415 f.); ausführ-
lich neuerdings Johlen, Die Beeinflussung privater Immissionsabwehransprüche durch das öffentliche Recht, 2000, S. 72 ff. 12 BVerwGE 79, 254 (258).
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vatrechtlichen13. Nun fand es jedoch zu einer umfassenderen Sichtweise und wies darauf hin, dass wesentliche Beeinträchtigungen, die durch eine ortsübliche Benutzung des anderen Grundstücks herbeigeführt würden (und nicht durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen verhindert werden könnten) gegen einen Geldausgleich geduldet werden müssten. Im Volksfesturteil14 erklärte dann auch der BGH im Anschluss an die beiden Entscheidungen des BVerwG15, es bestehe kein Anlass, die grundlegenden Maßstäbe des privaten und des öffentlichen Nachbarrechts für eine Duldungspflicht unterschiedlich auszulegen, und erklärte wesentliche Geräuschimmissionen i. S. v. § 906 Abs. 1 BGB für identisch mit den erheblichen Geräuschbelästigungen und schädlichen Umwelteinwirkungen i. S. v. § 3 Abs. 1, § 22 Abs. 1 BImSchG. Wiederum wenig später formulierte der 7. Senat des BVerwG vorsichtiger, der Duldungsmaßstab nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz sei identisch mit dem des § 906 BGB gemäß „den Merkmalen der Wesentlichkeit und der Ortsüblichkeit“16. Dabei bezog er sich zwar allgemein17 auf seine früheren Entscheidungen im Feuersirenen-Fall18 und im Fall der Bezirkssportanlage Tegelsbarg19 sowie auf das inzwischen ergangene Urteil des BGH im Volksfest-Fall20, ging aber auf die dort vollzogene engere Gleichsetzung von Wesentlichkeit und Erheblichkeit nicht ein. Im Rahmen der Harmonisierungsbestrebungen folgte der BGH dem BVerwG21 auch darin, dass die Erheblichkeit und damit die Zumutbarkeit von Geräuschimmissionen von wertenden Elementen mit geprägt werde, wie z. B. von der Herkömmlichkeit, der sozialen Adäquanz und einer allgemeinen Akzeptanz. Auch öffentlich-rechtliche Wertungen, wie z. B. die Lärmschutzverordnung des Landes Rheinland-Pfalz, konnten danach nicht mehr unberücksichtigt bleiben22, weil ein Lärmemittent privatrechtlich nicht besser gestellt werden dürfe als nach öffentlichem Recht. Diese Harmonisierungstendenz hat der BGH in seinen späteren Entscheidungen fortgesetzt. So wechselte er z. B. im Froschteichfall23 den Maßstab für die Beurteilung einer Lärmbeeinträchtigung als wesentlich und erklärte nicht mehr das „Empfinden eines Durchschnittsbenutzers des betroffenen Grundstücks“ für maßgeblich, sondern stellte stattdessen erstmalig auf das Empfinden eines
__________ 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
BVerwGE 81, 197 (200). BGH, Urt. v. 23.3.1990 – V ZR 58/89, BGHZ 111, 63 = NJW 1990, 2465. BVerwGE 79, 254 = NJW 1988, 2396 und BVerwGE 81, 197 = NJW 1989, 1291. Urt. v. 23.5.1991, BVerwGE 88, 210 (213) (Truppenübungsplatz). „vgl. dazu schon …“. BVerwGE 79 254. BVerwGE 81, 197 (200). BGHZ 111, 63. BVerwGE 68, 62 (liturgisches Glockengeläute); 79, 254 (Feuersirene); 90, 163 (165). BGHZ 111, 63 (68) (Volksfestfall). So z. B. im Froschteichurteil BGHZ 120, 239 = ZIP 1993, 200 = NJW 1993, 925.
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„verständigen Durchschnittsmenschen“ ab. Im Jugendzeltplatz-Urteil24 knüpfte er ausdrücklich an ein Urteil des BVerwG zur Bezirkssportanlage Tegelsbarg in Hamburg-Poppenbüttel25 an und würdigte die Randlage des lärmbetroffenen Grundstücks in einem reinen Wohngebiet dahin, dass beim Zusammentreffen von Gebieten unterschiedlicher Qualität die Grundstücksnutzung mit einer spezifischen gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme belastet sei; deshalb müsse der Betroffene Nachteile hinnehmen, die er außerhalb eines solchen Grenzbereichs nicht zu dulden brauche. Im Schrifttum ist dieser Harmonisierungsschritt überwiegend auf Zustimmung gestoßen, vereinzelt aber auch kritisiert worden26. So wird die Aufgabe des früheren „objektiv-differenzierten“ Maßstabs u. a. mit dem Einwand bekämpft, eine Immission werde nicht dadurch unwesentlich, dass dem Verursacher gute Gründe zur Seite stünden; massive Störungen der Nachtruhe würden auch bei einem „veränderten Umweltbewusstsein“ nicht zu unwesentlichen Beeinträchtigungen führen27. Dieser Kritik ist entgegenzuhalten, dass auch ein wertungs- und abwägungsoffener Maßstab, wie er in dem Merkmal der „Verständigkeit“ des Beurteilers formelhaft umschrieben wird, durchaus möglich und zulässig ist; denn es ist eine Frage der Gesetzesauslegung, von wessen Standpunkt aus und/oder nach welchen Kriterien die Frage der Wesentlichkeit zu beurteilen ist. Nach Vieweg und Röthel28 ist dieser wertungsoffene Maßstab sogar verfassungsrechtlich geboten. Als unbefriedigend erscheint mir der Rückgriff auf so diffuse Merkmale wie „Herkömmlichkeit“, „Toleranz“, „soziale Adäquanz“ und „allgemeine Akzeptanz“. Diese unscharfen Begriffe entbehren unmittelbarer dogmatischer Relevanz und verweisen in verschlüsselter Form auf die Notwendigkeit einer Abwägung hin. Der Vollzug dieser Abwägung erfordert die Benennung der Abwägungsfaktoren, nämlich der gegeneinander abzuwägenden Rechtswerte oder Schutzgüter, denn nur so bleibt die Rationalität, die Transparenz und damit auch die Diskussionsfähigkeit der jeweiligen Lösung gewährleistet. Ein anderer Einwand geht dahin, bei einer Verlagerung der maßgeblichen Wertungen schon in das Tatbestandsmerkmal der Wesentlichkeit stelle sich die Frage, inwieweit noch Raum für die Prüfung der Ortsüblichkeit bleibe29. Da § 906 BGB nun einmal mehrere „Stellschrauben“ zur Feinabstimmung zur Verfügung stellt und die Rechtsfolgen ausdifferenziert, liegt es in der Tat
__________ 24 BGHZ 121, 248. 25 BverwGE 81, 197 (207 ff.) = NJW 1989, 1291 (1293). 26 Aus neuerer Zeit umfassend Johlen (Fn. 11), S. 76 ff.; kritisch u. a. Berkemann,
NuR 1998, 565 (571 f.). 27 Roth in Staudinger, BGB, Neubearb. 2002, § 906 Rz. 159 (gegen BGHZ 120, 239 ff.
[Froschlärm]); insoweit zustimmend Johlen (Fn. 11), S. 80. 28 Vieweg/Röthel, NJW 1999, 969. 29 Säcker in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 906 Rz. 22 ff., 24.
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nicht fern, sie alle zu benützen. Der jüngere Standpunkt des BVerwG, wonach mit dem Merkmal der „Erheblichkeit“ im öffentlichen Immissionsschutzrecht die Tatbestandsmerkmale der „Wesentlichkeit“ und der „Ortsüblichkeit“ gleichgesetzt werden müssten30, erscheint mir deshalb systemkonformer. Über das wertungsoffene Merkmal der Zumutbarkeit bei ortsüblichen Grundstücksnutzungen lässt sich so auch die gesetzliche Unterscheidung zwischen solchen Grundstücksnutzungen fruchtbar machen, die eine Verpflichtung zu angemessenem Ausgleich begründen, und solchen, die entschädigungslos hingenommen werden müssen. Damit werden alle Möglichkeiten des dreistufigen Interessenausgleichs ausgeschöpft. In diese Richtung habe ich übrigens schon 1985 als Mitglied des zuständigen V. Zivilsenats des BGH mit dem Hinweis gedeutet, eine als unabweisbar notwendig erkannte Harmonisierung des Bauplanungsrechts mit dem privaten Nachbarrecht lasse sich „am zwanglosesten über eine normative, auch am Bauplanungsrecht ausgerichtete Anreicherung des Begriffs ‚Ortsüblichkeit’ im Sinne von § 906 BGB erreichen“, eine solche Rechtsfortbildung „hätte zugleich den Vorteil, dass damit auch die Frage eines angemessenen Ausgleichs in Geld durch die klare und ausgewogene Regelung des § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB systemkonform beantwortet wäre“31. Eine Disharmonie zwischen öffentlichem und privatem Immissionsschutzrecht besteht scheinbar noch im Blick auf die Priorität. Das BVerwG bewertet als berücksichtungswürdigen Gesichtspunkt, welche Nutzung jeweils früher vorhanden32 oder geplant33 war. So weit ist die zivilrechtliche Judikatur bisher nicht gegangen. Verbal verharrt sie auf dem vom RG34 begründeten Standpunkt, dass ein besseres Recht kraft früheren Bestehens nicht anerkannt werde, weil sonst jeder Fortschritt gehemmt werde35. Diese strikte Ablehnung des Prioritätsgedankens habe ich an anderer Stelle vorsichtig in Zweifel gezogen36. Der Sache nach hat sich inzwischen auch der BGH zu einer Auflockerung des Berücksichtigungsverbots durchgerungen37. Wer sich in Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis einer vorhandenen Immissionsquelle (in casu Industrielärm einer Hammerschmiede) ansiedelt, ist nach dieser Entscheidung zwar nicht uneingeschränkt zur Duldung jeglicher Immission, wohl aber zur Duldung derjenigen verpflichtet, die sich in den
__________ 30 BVerwGE 88, 210 (213). Ähnlich Engler, Der öffentlich-rechtliche Immissionsab31 32 33 34 35 36 37
wehranspruch, Diss. Göttingen 1995; Säcker in MünchKomm.BGB, § 906 Rz. 12. Hagen, Sportanlagen im Wohnbereich, UPR 1985, 192 (200). BVerwGE 81, 197 (206) (Tegelsbarg). BVerwG, NVwZ 1992, 884 (885) (Bolzplatz). Vgl. RGZ 154, 161 (165) m. w. Nachw. BGHZ 15, 146 (148); BGH, NJW 1976, 1204; BGH, WM 1977, 87. Hagen in FS Medicus, 1999, S. 161 ff. BGH, Urt. v. 6.7.2001 – V ZR 246/00, BGHZ 148, 261 = NJW 2001, 3119 = ZfIR 2001, 918 (Hammerschmiede).
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Grenzen der zulässigen Richtwerte hält. Der BGH begründet seine Entscheidung zwar ausdrücklich nicht mit dem Prioritätsgedanken, sondern stützt ihn auf den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) in der besonderen Ausprägung des nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses und der hieraus entspringenden Pflicht zu gesteigerter gegenseitiger Rücksichtnahme sowie auf den verwandten Gedanken der Situations(vor)belastung. Diese zurückhaltende Argumentation entspricht der bewährten „Methode der kleinen Schritte“38 bei einer Neuorientierung der Rechtsprechung. Der Sache nach ist mit dieser Entscheidung die Tür zu einer (Mit-)Berücksichtigung der Priorität geöffnet. 5. Maßnahmen des Gesetz- und Verordnungsgebers Im Konflikt zwischen den Werten sportlicher Betätigung und des Schutzes der Umwelt haben Gesetz- und Verordnungsgeber schließlich eine politische Entscheidung zugunsten des Sportbetriebs getroffen39. a) Die Sportanlagenlärmschutzverordnung von 1991 Die Sportanlagenlärmschutzverordnung wurde auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 BImSchG als 18. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes erlassen. Sie war eine Reaktion auf das TegelsbargUrteil40 und das Sölde-Urteil41, durch welche die Bundesregierung den Bestand von Sportanlagen, die durch Bebauungspläne festgesetzt waren, in Frage gestellt sah42. Die Verordnung gilt für die Errichtung, die Beschaffenheit und den Betrieb von nicht nach § 4 BImSchG genehmigungsbedürftigen Sportanlagen, soweit diese zum Zwecke der Sportausübung betrieben werden43. Sie konkretisiert das für erforderlich gehaltene Lärmschutzniveau differenzierend nach Gebietscharakter, nach Tages-, Nacht- und Ruhezeiten sowie nach Sonn- und Feiertagen durch Festlegung bestimmter Immissionsrichtwerte und des Verfahrens für die Ermittlung und Beurteilung von Geräuschimmissionen44. Danach müssen die von einer Sportanlage ausgehenden Lärmbelästigungen gemäß § 906 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB als unwesentliche Beeinträchtigung „in der Regel“ geduldet werden. Damit geht die Sportanlagenlärmschutzverordnung für den Regelfall davon aus, dass Immissionen von Sportanlagen keine schädlichen Umwelteinwirkungen
__________ 38 39 40 41 42 43 44
Vgl. dazu meine Ausführungen in DRiZ 1997, 157. Vgl. BVerwGE 77, 285 (290). BVerwGE 81, 197. BVerwG, DVBl 1991, 1151. Tettinger/Kleinschnittger, JZ 1992, 109. § 1 Abs. 1 SportanlagenlärmschutzVO. S. § 2 SportanlagenlärmschutzVO.
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sind, wenn sie trotz möglicher Vorbelastungen aus andersartigen Anlagen bei Anwendung des in der Verordnung festgelegten Mess- und Beurteilungsverfahrens die darin festgelegten Richtwerte nicht überschreiten45. Die Funktion der Sportanlagenlärmschutzverordnung ist eine doppelte: Einerseits privilegiert sie den Sportlärm gegenüber den Geräuschimmissionen von Gewerbebetrieben u. Ä. Andererseits setzt sie ihm aber auch Grenzen und schafft damit eine gewisse Rechtssicherheit. Allerdings ist der zentral verwendete Begriff der „Sportausübung“ schwer abzugrenzen und begründet Auslegungsprobleme46, die einer erweiternden Anwendung Vorschub leisten. Die Sportanlagenlärmschutzverordnung war mit der Erwartung verbunden, dass ihre Bestimmungen und Richtwerte auch von den Zivilgerichten als Anhalt für die Bewertung der Wesentlichkeit von Lärmimmissionen berücksichtigt würden47. Diese Erwartung wurde enttäuscht, als das OLG Koblenz eine Orientierung an den Richtwerten der Verordnung ablehnte48. b) Die Ergänzung des § 906 Abs. 1 BGB Um dieser Disharmonie zwischen privatem und öffentlichem Immissionsschutzrecht abzuhelfen, hat der Gesetzgeber durch das Sachenrechtsänderungsgesetz49 mit Wirkung vom 1.10.1994 eingegriffen und hat § 906 Absatz 1 BGB um die Sätze 2 und 3 ergänzt50. Danach liegt eine unwesentliche Beeinträchtigung in der Regel vor, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgesetzten Grenz- oder Richtwerte von den nach diesen Vorschriften ermittelten und bewerteten Einwirkungen nicht überschritten werden. Gleiches gilt für Werte in allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die nach § 48 BImSchG erlassen worden sind und den Stand der Technik wiedergeben. Damit wollte der Gesetzgeber die von BGH und BVerwG getragene Harmonisierungstendenz nachzeichnen und widersprüchlichen Tendenzen auf der Ebene der Oberlandesgerichte51 entgegentreten. Im Ergebnis hat er die enge Verzahnung des öffentlichen und privaten Immissionsschutzrechts weiter verstärkt. Allerdings folgt nach zutreffender Ansicht aus der Einhaltung der Grenz- oder Richtwerte im Sinne des § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht etwa eine Umkehrung der Beweislast, sondern lediglich eine indizielle Wirkung dahin, dass nur eine unwesentliche Beeinträchtigung vorliegt; dem Be-
__________ 45 BVerwG, NVwZ 2001,1167 (1169). 46 Vgl. etwa Berkemann, NuR 1998, 565 (575). Eingehend Arndt, NuR 2001, 445 ff. 47 Kregel, NJW 1994, 2599; Dury, NJW 1994, 302 (303 f.); Spindler/Spindler, NVwZ
1993, 225 (230 f.). 48 OLG Koblenz, NVwZ 1993, 301 (302). 49 Art. 2 § 4 SachenRÄndG v. 21.9.1994, BGBl. I, S. 2457. 50 Zur verschlungenen Gesetzgebungsgeschichte vgl. Hagen, ZfBR 1995, 61 (65);
Fritz, NJW 1996, 573; Johlen (Fn. 11), S. 92 f. 51 Einerseits OLG Zweibrücken, NJW 1992, 1242 (harmonisierend); andererseits OLG
Koblenz, NVwZ 1993, 225 [230 f.]).
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einträchtigten obliegt es dann, Umstände darzulegen und zu beweisen, die diese Indizwirkung erschüttern52.
IV. Immissionsschutz gegenüber Kinderspielplätzen Dass herkömmliche Kinderspielplätze im Immissionsschutzrecht eine Sonderstellung genießen müssen, ist so gut wie unumstritten53, denn dafür sprechen unumstößliche Sachargumente54. Kinderspielplätze sind für die altersgemäße Entwicklung von Kindern wünschenswert, wenn nicht gar erforderlich. Sie ermöglichen ihnen einen ungestörten Aufenthalt im Freien und geben ihnen Gelegenheit, beim Spielen mit anderen Kindern Sozialverhalten einzuüben. Ihrem Alter entsprechend sind kleinere Kinder beim Verweilen auf dem Spielplatz sowie auf dem Hin- und Rückweg auf eine Beaufsichtigung angewiesen. Deshalb gehören Kinderspielplätze als sinnvolle Ergänzung in die unmittelbare Nähe der Wohnbebauung55. Diese Sachgründe schlagen unabhängig davon durch, dass es auf Kinderspielplätzen lebhaft und laut zugehen kann und ihrem Zweck entsprechend wohl auch zugehen soll. Im Bauplanungsrecht ist deshalb anerkannt, dass grundsätzlich selbst in einem reinen Wohngebiet Kinderspielplätze errichtet werden dürfen56. Die mit der Benutzung unvermeidlich verbundenen Geräusche werden als ortsüblich und sozialadäquat angesehen und müssen deshalb von den Nachbarn hingenommen werden57. Im Immissionsschutzrecht kann nichts anderes gelten. Dass die Nachbarn den Betrieb des Kinderspielplatzes etwa verbieten oder eine Entschädigung verlangen könnten, liegt fern; bei Abwägung der kollidierenden Belange erscheinen die immissionsbedingten Beeinträchtigungen als zumutbar. Im zivilrechtlichen Fachschrifttum ist eine Privilegierung der Nutzung von Kinderspielplätzen im Kern ebenfalls unumstritten. Rechtsdogmatisch tadeln einige Autoren die Zuordnung der maßgeblichen Wertungsfrage zum Tatbestandsmerkmal der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung und befürworten stattdessen ihre Ansiedlung im Rahmen der „ortsüblichen“ Benutzung58. Speziell zu dem Lärm von Kinderspielplätzen betont Roth, dieser sei in aller Regel „ortsüblich“ und stehe im Übrigen unter einem besonderen „Toleranz-
__________ 52 So BGH, Urt. v. 13.2.2004 – V ZR 217/03, NJW 2004, 1317 m. Nachw. z. Streit-
stand; vgl. auch schon BGHZ 148, 261 (264 f.). 53 Einschränkend allerdings wohl Arndt, NuR 2001, 445 (449). 54 Vgl. zum Folgenden z. B. BVerwG, NJW 1992, 1779. 55 So auch OVG Schleswig, NVwZ 1995, 1019 unter Hinweis auf § 9a SchlHBauO:
„… in Sicht- und Rufweite gelegener Spielplatz“. 56 BVerwG, Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 148 = DVBl. 1974, 777; BVerwG, NJW 1992,
1779 (1780). 57 BVerwG, NJW 1992, 1779 (1780). 58 Vgl. z. B. Säcker in MünchKomm.BGB, § 906 Rz. 22 ff.; Roth in Staudinger, BGB,
§ 906 Rz. 177 ff.
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gebot“59. Für die Herleitung einer Duldungspflicht ist der Rückgriff auf einen so schillernden Begriff wie Toleranz dogmatisch allerdings problematisch; denn er lässt zwar das Motiv für eine privilegierende Bewertung von Kinderlärm erkennen, liefert aber keinen unmittelbaren rechtlichen Ansatzpunkt für die Ableitung einer Rechtsfolge60. Vielmehr bedürfte er der dogmatischen Transformation in das positive Recht (§ 906 BGB), und zwar entweder über das Tatbestandsmerkmal der (un)wesentlichen Beeinträchtigung oder der ortsüblichen Benutzung. Der Ansatz bei der (un)wesentlichen Beinträchtigung setzt eine Öffnung für wertende Kriterien voraus, wie sie in der Kurzformel vom „verständigen Durchschnittsmenschen“ verschlüsselt sind, und wird von Roth ablehnt. Die Privilegierung von Kinderlärm im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der ortsüblichen Benutzung führt zum Maßstab der Zumutbarkeit, der nicht nur sachgerecht ist, sondern in § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB unmittelbar anklingt. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass das Gesetz in dieser Vorschrift die Duldungspflicht dem Grunde nach voraussetzt und nur den auszugleichenden Teil der Beeinträchtigung regelt. Letztlich wird auch auf diesem Begründungsweg das Merkmal der Ortsüblichkeit mit wertenden Elementen angereichert, die im Ergebnis dem Maßstab eines „verständigen Durchschnittsmenschen“ entsprechen.
V. Immissionsschutz gegenüber Ballspielanlagen und ähnlichen Anlagen für freizeitsportliche Aktivitäten Bolz- und Skaterplätze sowie ähnliche Einrichtungen für spielerische oder sportliche Freizeitbetätigung dienen je nach ihrem Zuschnitt älteren Kinder oder Jugendlichen und auch jungen Erwachsenen61. Wegen der größeren Selbständigkeit ihrer Benutzer brauchen sie nicht alle in gleichem Maße wie Kinderspielplätze in unmittelbarer Nähe zum Wohnbereich angelegt zu werden und beeinträchtigen zudem ihre Umgebung stärker als jene62. Deshalb müssen und können sie nicht ohne weiteres und nicht in jeder Hinsicht mit Kinderspielplätzen gleichgestellt werden. Vielmehr ergibt sich eine Staffelung je nach dem Alter der Benutzer sowie der Eigenart und Lage der Anlage. 1. Spielanlagen für Kinder bis zu 14 Jahren Kindgerechte Ballspielplätze und ähnliche Einrichtungen zur Befriedigung der Freizeitbedürfnisse von Kindern bis zu 14 Jahren stehen nach ihrer Zweckbestimmung, nach ihrem Benutzerkreis und nach ihrem Zuschnitt
__________ 59 60 61 62
In Staudinger, BGB, § 906 Rz. 193 und 162. Näherzu hierzu s. o. unter III. 4. Vgl. BVerwG, NVwZ 1992, 884. BVerwG, NVwZ 1992, 884.
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einem Kinderspielplatz in der Regel näher als einem Bolzplatz, der auch älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen Gelegenheit zur spielerischen und sportlichen Betätigung bietet63. Wie das BVerwG überzeugend dargelegt hat, müssen auch solche kleinräumigen Anlagen für ältere Kinder wegen ihrer sozialen Funktion regelmäßig wohngebietsnah sein. Den strengeren Regeln für Sportanlagen im Sinne der Sportanlagenlärmschutzverordnung können sie nicht zugeordnet werden64, denn die Beschreibung des Anwendungsbereichs der Verordnung sowie die in ihrem § 3 vorgesehenen Maßnahmen ließen erkennen, dass sich der Verordnungsgeber dort am Leitbild einer Sportanlage orientiert habe, die dem Vereinssport, dem Schulsport oder vergleichbar organisiertem Freizeitsport diene65. Das ergebe sich aus der Verpflichtung des Betreibers, bestimmte Anforderungen an Lautsprecheranlagen und ähnliche technische Einrichtungen zu beachten66, Vorkehrungen zur Minderung des von den Zuschauern verursachten Lärms zu treffen67, sowie An- und Abfahrtswege durch Maßnahmen betrieblicher und organisatorischer Art lärmmindernd zu gestalten68. Solche Vorschriften passten nicht auf kleinräumige Anlagen, die auf körperlich-spielerische Aktivitäten von Kindern zugeschnitten seien, welche unorganisiert, ohne nennenswerte Beteiligung von Zuschauern und ohne Schiedsrichter oder Sportaufsicht stattfänden; ebenso wenig passten hierfür die Anforderungen der Sportanlagenlärmschutzverordnung in ihrer Differenzierung des Lärmschutzniveaus nach dem Gebietscharakter, nach Tages-, Nacht- und Ruhezeiten sowie in ihrer Festlegung genereller Immissionsrichtwerte; deshalb müsse die Frage der Zumutbarkeit von Geräuschen, die von Kinderspielplätzen ausgehen, der tatrichterlichen Wertung im Einzelfall vorbehalten bleiben, wobei je nach der Gebietsart wertende Elemente wie Herkömmlichkeit, soziale Adäquanz und allgemeine Akzeptanz mitbestimmend sein sollten. Im Zivilrecht hat der BGH im Jugendzeltplatz-Fall69 die Frage der Wesentlichkeit von Immissionen nach dem Empfinden eines „verständigen“ Durchschnittsmenschen beurteilt und im Interesse der Allgemeinheit an einer kinder- und jugendfreundlichen Umgebung auch den Bewohnern eines reinen Wohngebietes Lärm als Begleiterscheinung kindlichen und jugendlichen Freizeitverhaltens in höherem Maße zugemutet, als dies sonst in reinen Wohngebieten zulässig ist. Bei der dogmatischen Begründung wiederholt sich hier die – schon bei der Privilegierung von Kinderspielplätzen erörterte – Problematik, ob man die
__________ 63 64 65 66 67 68 69
BVerwG, NVwZ 2003, 751. BVerwG, Beschl. v. 11.2.2003, NVwZ 2003, 751. Vgl. hierzu und zum folgenden BVerwG, Beschl. v. 11.2.2003, NVwZ 2003, 751. § 3 Abs. 5 Nr. 1 BImSchG. § 3 Abs. 5 Nr. 3 BImSchG. § 3 Abs. 5 Nr. 4 BImSchG. BGHZ 121, 248 (255 f.).
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maßgebliche Wertung an das Tatbestandsmerkmal der „wesentlichen Beeinträchtigung“ oder an das Merkmal der „ortsüblichen Benutzung“ anknüpft. Angesichts der Vielgestaltigkeit solcher Spiel- und Freizeitanlagen ist jedenfalls die individuelle Würdigung unverzichtbar, und deshalb muss die tatrichterliche Beurteilung im Einzelfall den Ausschlag geben70. Die Sportanlagenlärmschutzverordnung kann hierfür insofern einen Anhalt bieten, als die dort festgelegten Richtwerte auch hier als zumutbar anzusehen sein sollten. 2. Bolz- und Skaterplätze für ältere Jugendliche und junge Erwachsene Auch auf solche Anlagen für sportliche und spielerische Freizeitgestaltung ist die Sportlärmschutzverordnung nicht unmittelbar anwendbar. Je älter die bestimmungsgemäßen Benutzer sind, umso mehr verblassen allerdings die Argumente für eine bevorzugte Behandlung solcher Anlagen. Bauplanungsrechtlich müssen sie aber jedenfalls wie Anlagen für sportliche Zwecke behandelt werden, die allgemein71 oder zumindest ausnahmsweise72 in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig sind und dann auch an ein reines Wohngebiet angrenzen können. Ebenso wie ein Sportplatz darf ein Bolzplatz grundsätzlich in einem Bebauungsplan neben einem reinen Wohngebiet festgesetzt werden73. Nach dem Gebot der Rücksichtnahme kommt es allerdings hier wie dort im Einzelfall zu einer Interessenabwägung (§ 15 BauNVO), in welche die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, einzubeziehen ist74. Dafür lassen sich feste Regeln nicht aufstellen; entscheidend ist eine Gesamtschau der Beeinträchtigungen. Ob Bolzplätze für ältere Jugendliche und jüngere Erwachsene immissionsschutzrechtlich nach der Sportanlagenlärmschutzverordnung zu beurteilen sind, hat das BVerwG bisher offen gelassen. Für Freizeitanlagen verweist es auf die Freizeitlärm-Richtlinie als Beurteilungsgrundlage mit Indizcharakter75. Das OVG Schleswig befürwortet für Bolzplätze eine entsprechende Anwendung der Sportanlagenlärmschutzverordnung76. Für den zivilrechtlichen Immissionsschutz bleibt ebenfalls festzuhalten, dass die Sportanlagenlärmschutzverordnung unmittelbar nicht anzuwenden ist, so dass eine Bindung gemäß § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB unter diesem Gesichtspunkt ausscheidet. Allerdings könnte sich die Frage stellen, ob eine
__________ 70 So für den öffentlich-rechtlichen Immissionsschutz zutreffend BVerwG, NVwZ
2003, 438. 71 § 4 Abs. 1 Nr. 3 BauNVO 1990. 72 § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO 1977; nach § 3 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO 1990 ausnahmsweise 73 74 75 76
sogar in einem reinen Wohngebiet. BVerwG, NVwZ 1992, 884 m. w. Nachw. BVerwG, NVwZ 1992, 884. BVerwG, NVwZ 2001, 1167. OVG Schleswig, NVwZ 1995, 1020.
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solche Bindung anzunehmen wäre, wenn man mit dem OVG Schleswig eine entsprechende Anwendung der Sportanlagenlärmschutzverordnung für geboten hielte. Dann wäre der Zivilrichter grundsätzlich an eine Regelung gebunden, die der Verordnungsgeber für andere als Sportanlagen gerade nicht getroffen hat. Diese Frage kann hier nicht mehr vertieft werden. Die besseren Gründe dürften dafür sprechen, die zivilrechtliche Beurteilung, wie auch sonst, nach dem Maßstab eines „verständigen Durchschnittsmenschen“ vorzunehmen und je nach den Umständen des Einzelfalls zu entscheiden, wobei die Freizeitlärm-Richtlinie einen Anhaltspunkt bieten kann.
VI. Zusammenfassung Alles in allem bleibt festzuhalten, dass der Sport beim Ausbau und bei der Harmonisierung von öffentlichem und privatem Immissionsschutzrecht eine Vorreiterrolle gespielt hat. Aus politischen Gründen haben der Gesetzund der Verordnungsgeber ihm gegenüber Gewerbelärm u. Ä. eine bevorzugte Stellung zugewiesen. Diese Privilegierung ist in der Sportanlagenlärmschutzverordnung zwar auf Sportanlagen i.e.S. beschränkt worden, strahlt aber mit ihrem privilegierenden Grundgedanken auf Stätten sonstiger sportlicher Betätigung aus. Kinderspielplätze genießen aus zwingenden Sachgründen einen noch weitergehenden Schutz.
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Beschränkung der persönlichen Haftung des Vereinsvorstands durch Ressortverteilung Inhaltsübersicht I. Einleitung und Problemstellung II. Haftung des Vorstands gegenüber Dritten 1. Meinungsstand im Schrifttum 2. Meinungsstand in der Judikatur a) Bundesgerichtshof und Oberlandesgerichte b) Bundesfinanzhof 3. Stellungnahme
4. Zwischenfazit 5. Folgeprobleme a) Form der Ressortverteilung b) Ausmaß und Ausgestaltung der Überwachungspflicht III. Haftung des Vorstands gegenüber dem Verein IV. Fazit
I. Einleitung und Problemstellung Eine Auswertung der rund 600 in Deutschland existierenden Vereinsregister im Jahr 2001 hat zu dem Ergebnis geführt, dass es seinerzeit hierzulande 544701 eingetragene Vereine gab, worunter sich 215439 Sportvereine befanden1. Wie die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, haben nicht zuletzt wegen der zunehmenden Insolvenzanfälligkeit von eingetragenen, rechtsfähigen nichtwirtschaftlichen Vereinen i. S. d. § 21 BGB die Haftungsrisiken von Vorstandsmitgliedern ein erhebliches Ausmaß erreicht. Dies betrifft nicht nur bekannte Vereine der Profisportligen, sondern auch Idealvereine von regionaler oder gar nur lokaler Bedeutung. Sobald auch kleine Vereine über Angestellte verfügen, semiprofessionelle Sportler in der einen oder anderen Weise entlohnen oder sich mit außergewöhnlichen Investitionen (z. B. Errichtung einer Tennishalle) in wirtschaftlicher Hinsicht übernehmen, drohen den zumeist ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen Haftungsrisiken, die vielfach unterschätzt werden: Nicht ordnungsgemäß abgeführte Sozialabgaben, nicht gezahlte Steuern oder verspätet gestellte Insolvenzanträge stellen nur einen Ausschnitt derjenigen Konstellationen dar, die einerseits
__________ 1
Vgl. FAZ v. 1.10.2001, S. 11 unter Bezugnahme auf eine Studie der V & M Service GmbH aus Konstanz. Demgegenüber geht eine andere Sportstudie des Kölner Marktforschungsinstituts Sport + Markt von ca. 87000 Sportvereinen aus, vgl. FAZ v. 13.10.2001, S. 40, auch im Vorwort zu Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 1998 sowie von Linnenbrink, SpuRt 1999, 224 wird diese Zahl zugrunde gelegt.
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eine persönliche Haftung des Vereinsvorstands, andererseits aber auch strafrechtliche Sanktionen zu begründen vermögen2. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass zuletzt die Möglichkeiten der Haftungsbegrenzung für Idealvereine3, insbesondere aber auch für deren Vorstandsmitglieder4 in den Fokus des Interesses gerückt sind. Im Hinblick auf die persönliche Haftung von Vorstandsmitgliedern kommen dabei unterschiedliche Formen und Ansätze der Haftungsbegrenzung in Betracht. Es können entsprechende haftungsbeschränkende Regelungen in der Satzung oder in einer Vereinsordnung getroffen werden, man kann sich auf eine so genannte Vereinsobservanz, d.h. auf eine ständige Übung der Vereinsmitglieder und deren entsprechende Akzeptanz, berufen oder vertragliche Haftungsbeschränkungen vereinbaren5. Die rechtliche Zulässigkeit, Reichweite und damit letztlich Effektivität derartiger Regelungsinstrumente ist umstritten. Zudem darf nicht vernachlässigt werden, dass sie sich nicht problemlos umsetzen lassen, weil man auf unwägbare Umstände wie die Mitwirkung der Vereinsmitglieder (Satzungsänderung, gegebenenfalls Erlass einer Vereinsordnung) oder der Vertragspartner (vertragliche Haftungsbeschränkungen) oder aber auf den Ablauf eines gewissen Zeitraums (Vereinsobservanz) angewiesen ist. Deutlich einfacher lässt sich demgegenüber eine Haftungsbeschränkung möglicherweise dadurch realisieren, dass die Vorstandsmitglieder hinsichtlich der zu erfüllenden Geschäftsführungsaufgaben eine Ressortverteilung vornehmen, wie man sie auch bis in die kleinsten Sportvereine hinein findet (z. B. Vorsitzender des Vereinsvorstands, Kassenwart, Sportwart, Jugendwart, Platzwart usw.). Hierdurch können nicht nur die Leitungsprozesse innerhalb eines Vereins optimiert werden, sondern es stellt sich die – bislang in Rechtsprechung und Schrifttum kontrovers diskutierte – Frage, ob auf diese Weise die persönliche Verantwortlichkeit und Haftung einzelner Vorstandsmitglieder zumindest auf ihr eigenes Ressort beschränkt werden können. Es ist zu erwarten, dass der Jubilar, selbst Mitglied zahlreicher Vereinigungen in der Rechtsform des eingetragenen Vereins i. S. d. § 21 BGB und hierbei mitunter auch als Vorstand tätig (wie etwa seit vielen Jahren im Konstanzer Arbeitskreis für Sportrecht e.V. – Vereinigung für Deutsches und Internationales Sportrecht), als versierter und geschätzter Kenner u. a. auch des Vereinsrechts in eigener Sache allenfalls geringen Bedarf – wenn überhaupt –
__________ Vgl. hierzu stellvertretend Heermann/Götze, Zivilrechtliche Haftung im Sport, 2002, S. 61 ff. m. w. N. 3 Vgl. hierzu ausführlich die demnächst erscheinende Dissertation von Küpperfahrenberg, Haftungsbeschränkungen für Verein und Vorstand unter besonderer Berücksichtigung von Sportvereinen, 2005, 2. Teil, B. m. w. N. 4 Küpperfahrenberg (Fn. 3), 3. Teil, B. und 4. Teil, B. jeweils m. w. N. 5 Zur Versicherbarkeit des persönlichen Haftungsrisikos durch eine so genannte Directors’ and Officers’ Liability Insurance (D & O-Versicherung) für Vereinsmitglieder vgl. Küpperfahrenberg (Fn. 3), 5. Teil. 2
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hinsichtlich der angedeuteten Haftungsbeschränkungsmöglichkeiten hat. Dies gilt indes nicht für Vereinsvorstände im Allgemeinen. Mag die Mehrzahl der übrigen Vorstandsmitglieder deutscher Idealvereine zwar zumeist gleichfalls ehrenamtlich und ohne entsprechenden Versicherungsschutz Leitungsaufgaben in Vereinen ausüben, so mangelt es ihnen doch zumeist an jeglichem Problembewusstsein hinsichtlich der in den letzten Jahrzehnten rasant angestiegenen Haftungsrisiken. In Ermangelung anderer haftungsbeschränkender Vereinbarungen bleibt im Haftungsfall damit oftmals eine auf Vorstandsebene praktizierte Ressortverteilung der einzige rechtliche Ansatzpunkt für die Begründung einer Beschränkung der persönlichen Haftung. Wenn deshalb der praktische Eigennutzen für den Jubilar auch begrenzt ist, so möge doch die Analyse der komplexen vereinsrechtlichen Ausgangsfrage, zu der sich weder der II. Zivilsenat des BGH unter dem scheidenden Vorsitzenden noch ein anderer Zivilsenat bislang abschließend geäußert hat, sein Interesse finden.
II. Haftung des Vorstands gegenüber Dritten 1. Meinungsstand im Schrifttum Das vereinsrechtliche Schrifttum hat sich wiederholt mit der Frage der Haftungsbeschränkung von Vereinsvorständen durch Ressortverteilung beschäftigt; die rechtlichen Einschätzungen decken überraschenderweise fast das gesamte denkbare Meinungsspektrum ab. So soll nach einer Ansicht eine Ressortverteilung haftungsbeschränkende Wirkung lediglich im Innenverhältnis entfalten6 (vgl. hierzu nachfolgend III.), während die vorherrschende Gegenauffassung aus der Ressortverteilung eine grundsätzliche Verantwortlichkeit jedes Vorstandsmitglieds allein für das jeweils von ihm betreute Sachgebiet im Außenverhältnis ableitet7. Innerhalb der letztgenannten Auffassung ist sodann umstritten, ob und inwieweit eine Pflicht der Vorstandsmitglieder zur gegenseitigen Überwachung besteht. Überwiegend wird eine solche Überwachungspflicht abgelehnt8, andere nehmen sie generell9 oder doch zumindest dann an, wenn Anhaltspunkte für eine nicht ordnungs-
__________ Stöber, Handbuch zum Vereinsrecht, 9. Aufl. 2004, Rz. 287a. Aus der Kommentarliteratur vgl. Hadding in Soergel, BGB, Band 1, Allgemeiner Teil (§§ 1–103), 13. Aufl. 2000, § 27 Rz. 23; Reuter in MünchKomm.BGB, Band 1 (§§ 1–240), 4. Aufl. 2001, § 27 Rz. 40; H. P. Westermann in Erman, BGB, Band 1 (§§ 1–853), 11. Aufl. 2004, § 27 Rz. 7; aus dem vereinsrechtlichen Schrifttum Reichert, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 9. Aufl. 2003, Rz. 1486 a. E.; Waldner in Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, 17. Aufl. 2001, Rz. 250 (im Hinblick auf satzungsmäßige Ressortverteilungen). 8 Hadding in Soergel, BGB, § 27 BGB Rz. 23; Waldner in Sauter/Schweyer/Waldner (Fn. 7), Rz. 250; H. P. Westermann in Erman, BGB, § 27 Rz. 7. 9 Reichert (Fn. 7), Rz. 1493; Steffen in RGRK, BGB, Band I (§§ 1–240), 12. Aufl. 1982, § 27 Rz. 7. 6 7
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gemäße Erfüllung der Aufgaben durch ein zuständiges Vorstandsmitglied vorliegen10. Auffällig ist in diesem Zusammenhang zweierlei: Zum einen bevorzugt die im Schrifttum vorherrschende Auffassung mit der Zulässigkeit einer Haftungsbeschränkung zugunsten des Vereinsvorstands durch Ressortverteilung ohne das Erfordernis einer gegenseitigen Überwachungspflicht einen die Leitungsorgane eines Vereins prinzipiell begünstigenden Ansatz; zum anderen entbehrt dieser vielfach einer nachvollziehbaren Begründung. 2. Meinungsstand in der Judikatur a) Bundesgerichtshof und Oberlandesgerichte Die BGH hat sich – soweit ersichtlich – bislang noch nicht ausdrücklich mit der Ausgangsproblematik im Vereinsrecht beschäftigt. Indes hat im Jahr 1996 der VI. Zivilsenat im Hinblick auf das GmbH-Recht bereits festgestellt11, dass die Geschäftsführer einer GmbH kraft ihrer Amtsstellung grundsätzlich für alle Angelegenheiten der Gesellschaft zuständig seien. Deshalb treffe, auch wenn mehrere Personen zu Geschäftsführern bestellt seien, im Grundsatz jeden von ihnen die Pflicht zur Geschäftsführung und damit auch für die Geschäftsführung im Ganzen, denn die Führung der Geschäfte umfasse nicht in erster Linie die Besorgung bestimmter Geschäfte, sondern die verantwortliche Leitung der Geschäfte in ihrer Gesamtheit. Dieser vom Gesetz vorgesehenen Allzuständigkeit des Geschäftsführers stehe eine entsprechend umfassende Verantwortung für die Belange der Gesellschaft gegenüber. In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung hat sich das OLG Celle in einem Fall betreffend die Haftung eines Schützenvereinsvorstandes aus Verkehrssicherungspflichtverletzung zur vereinsrechtlichen Problematik mit knappen Worten geäußert12. So seien Ressortverteilungen innerhalb eines Vereinsvorstands, die die Geschäftsführung und die daraus resultierende Gefahrenabwehrzuständigkeit beträfen, zulässig; unberührt bleibe davon allerdings die Pflicht aller Vorstandsmitglieder erkannte drohende Schäden unabhängig von der internen Zuständigkeit abzuwehren. Eine weitere Begründung dieses Ergebnisses erfolgt nicht. b) Bundesfinanzhof Anders als die Zivilgerichte hat sich der BFH bereits vor mehr als 40 Jahren erstmalig mit der Außenhaftung von GmbH-Geschäftsführern wegen Nicht-
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10 Waldner in Sauter/Schweyer/Waldner (Fn. 7), Rz. 250; vgl. auch Reuter in Münch-
Komm.BGB, § 27 Rz. 40 (Pflicht, erkannte drohende Schäden unabhängig von der internen Zuständigkeit abzuwehren). 11 BGHZ 133, 370 (376 f.). 12 OLG Celle, Urt. v. 28.6.2000 – 9 U 182/99, Juris Dokument-Nr. KORE588072000, Rz 95.
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abführung einbehaltener Lohnsteuer beschäftigt, seine Rechtsprechung sodann fortentwickelt und schließlich auf die Vorstandsmitglieder eingetragener Vereine ausgedehnt. Da auch der BGH in der im vorangehenden Abschnitt geschilderten Entscheidung auf diese Rechtsprechung des BFH Bezug nimmt13, sei sie in ihren wesentlichen Grundzügen nachgezeichnet. Im Jahr 1962 stellte der BFH fest14, dass zwar sämtliche Geschäftsführer einer GmbH die steuerlichen Pflichten ihrer Gesellschaft zu erfüllen hätten, jedoch regelmäßig nur derjenige Geschäftsführer persönlich in Anspruch genommen werden könne, den nach der internen Geschäftsverteilung die Zuständigkeit für die Bearbeitung der betreffenden Steuerangelegenheiten treffe. Ein anderer Geschäftsführer könne lediglich unter besonderen Umständen in Anspruch genommen werden, wenn er etwa dadurch seine Pflichten grob verletze, dass er trotz Kenntnis von Unregelmäßigkeiten nichts zu deren Beseitigung unternommen habe. Diesen Ansatz modifizierend wies der BFH im Jahr 1984 darauf hin15, bei einer GmbH mit mehreren bestellten Geschäftsführern treffe jeden von ihnen die Pflicht zur Geschäftsführung und grundsätzlich die Verantwortung für die Geschäftsführung im Ganzen. Zur Begründung merkte der BFH an, die Führung der Geschäfte umfasse nicht in erster Linie die Besorgung eines bestimmten Geschäftsbereichs, sondern die verantwortliche Leitung der Geschäfte in ihrer Gesamtheit. Im Fall einer Aufgabenverteilung verlange diese Gesamtverantwortung von jedem Geschäftsführer zumindest eine gewisse Überwachung der Geschäftsführung im Ganzen. Wenn etwa die Pflichten zur Abführung von Steuern durch Ressortverteilung einem von mehreren Geschäftsführern zugewiesen seien, träfen diese Pflichten in erster Linie diesen Geschäftsführer. Im Hinblick auf die übrigen Geschäftsführer trete der Umfang ihrer Geschäftsführungspflichten nur insoweit und so lange als Überwachungspflicht zurück, wie kein Anlass zu der Annahme bestehe, die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft würden durch den zuständigen Geschäftsführer nicht ordnungsgemäß erfüllt. Diese Grundsätze, die der BGH – wie bereits dargelegt – zumindest teilweise übernommen hat, hat der BFH in der Folge wiederholt bestätigt16 und schließlich in den Jahren 1998 und 2000 ausdrücklich auf Vorstandsmitglieder eingetragener Vereine ausgedehnt17. 3. Stellungnahme Der Umstand, dass sich der BFH lange vor der Zivilgerichtsbarkeit mit der Haftungsbeschränkung von Leitungsorganen in einer GmbH und in einem
__________ BGHZ 133, 370 (377). BFHE 75, 206 (208 f.). BFHE 141, 443 (446). BFHE 146, 23 (24 ff.); BFH/NV 1987, 550 (552 f.); BFH/B/NV 1989, 4 (5 f.); BFH/NV 1993, 143 (144). 17 BFH/NV 1998, 1460 (1461 f.); BFHE 186, 132 (137 ff.); BFH/NV 2001, 413 (413 f.). 13 14 15 16
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eingetragenen Verein beschäftigt hat, vermag nicht zu überraschen. In der Vergangenheit hat sich die zuständige Finanzgerichtsbarkeit mit der Nichtabführung einbehaltener Lohnsteuer schon in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auseinandergesetzt, während die in die Zuständigkeit der Zivilgerichtsbarkeit fallende Nichtabführung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung auch aufgrund der erst nachträglich ins Strafgesetzbuch eingefügten Spezialvorschrift (§ 266a StGB) erst entsprechend später zum Gegenstand eines Verfahrens vor den Zivilgerichten gemacht werden konnte. Dass jeweils Leitungsorgane der GmbH betroffen waren, kommt angesichts der seit jeher starken Verbreitung dieser Gesellschaftsform18, der wesentlich höheren Anzahl der dort beschäftigten Arbeitnehmer sowie der daraus resultierenden erhöhten Haftungsrisiken gleichfalls nicht überraschend. Einer näheren Betrachtung bedarf allerdings die vorangehend dargestellte, zunächst vom BFH und inzwischen auch vom OLG Celle vollzogene Übertragung der zunächst zur Haftungsbeschränkung von GmbH-Leitungsorganen infolge Ressortverteilung gewonnenen Erkenntnisse auf Vorstandsmitglieder eines eingetragenen Vereins. Hierbei ist zwischen zwei in der Judikatur vernachlässigten Vorfragen zu differenzieren. Zunächst ist zu klären, ob sich die Rechtsprechung des BFH zur Ressortverteilung bei steuerlichen Pflichten in der GmbH bei dieser Gesellschaftsform auf sämtliche Geschäftsführungsbereiche ausdehnen lässt. Sodann ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob und inwieweit diese Erkenntnisse zum Recht der GmbH auf das Vereinsrecht übertragen werden können. Nach der gesetzlichen Konzeption, wie sie insbesondere in § 35 Abs. 1 und 2 GmbHG zum Ausdruck kommt, ist bei einer GmbH mit mehreren bestellten Geschäftsführern jeder von ihnen zur Geschäftsführung verpflichtet, die Geschäftsführungsaufgaben sind ihnen vom Gesetz in ihrer Gesamtheit – und eben nicht nur jeweils für bestimmte Einzelbereiche – zugewiesen (vgl. etwa §§ 41 Abs. 1, 64 Abs. 1 und 2 GmbHG). Hiervon können freilich abweichende Vereinbarungen beispielsweise im Wege einer Ressortverteilung getroffen werden. Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, wenn der BGH die Rechtsprechung des BFH zu den steuerlichen Pflichten von Geschäftsführern auf sämtliche Geschäftsbereiche ausgedehnt hat19. Als problematischer könnte sich die Übertragung dieser Grundsätze auf das Vereinsrecht darstellen. Im Vergleich zur GmbH wird das finanzielle Haftungsrisiko von Vereinsvorständen im Vergleich zu demjenigen von GmbHGeschäftsführern zwar regelmäßig geringer sein, was aber nicht notwendigerweise der Fall sein muss (man denke etwa an Großvereine wie den ADAC). Indes führen auch insoweit gesetzessystematische Erwägungen zur
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18 Derzeit geht man in Deutschland von insgesamt ca. 800 000 Gesellschaften mit
beschränkter Haftung aus, vgl. Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, Einl. Rz. 110. 19 BGHZ 133, 370 (376 ff.).
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Ausdehnung der Rechtsprechung zur Ressortverteilung in der GmbH auf Idealvereine20. Denn auch bei diesen werden die Leitungsaufgaben durch Gesetz dem Vorstand als solche zugewiesen (z. B. §§ 26 Abs. 2, 32 Abs. 1 Satz 1, 42 Abs. 2 Satz 1 BGB). Diese insoweit im GmbH- und Vereinsrecht übereinstimmende Regelungssystematik ist letztlich konsequent, stellt doch der Verein sowohl aus rechtshistorischer als auch rechtssystematischer Perspektive die Urform aller privatrechtlichen Körperschaften dar21. Wenn damit eine Ressortverteilung als Instrument der Haftungsbeschränkung auch für Vereinsvorstände zulässig ist, wird hierdurch freilich nicht die sich aus der Gesetzessystematik ergebende Gesamtverantwortung des jeweiligen Vereinsvorstands aufgehoben, sondern das gesetzliche Haftungsregime wird für dessen einzelne Mitglieder lediglich gelockert und modifiziert. In dem Umfang, in dem die Leitungspflichten eines einzelnen Vorstandsmitglieds aufgrund der erfolgten Ressortverteilung zurücktreten, muss diese Einbuße an individueller Leitungskompetenz aufgrund der weiterhin bestehenden Gesamtverantwortlichkeit des Vereinsvorstands durch entsprechende Pflichten zur Überwachung der zuständigen Vorstandsmitglieder kompensiert werden. 4. Zwischenfazit In Übereinstimmung mit der vorherrschenden Auffassung22 kann aus der Ressortverteilung eine grundsätzliche Verantwortlichkeit jedes Vorstandsmitglieds eines Idealvereins nur für das jeweils von ihm betreute Sachgebiet im Außenverhältnis abgeleitet werden. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht, sofern nach dem Gesetz bestimmte Pflichten zwingend und unabhängig von der Ressortverteilung jedem Vorstandsmitglied obliegen (z. B. die Insolvenzantragspflicht nach § 42 Abs. 2 Satz 1 BGB). Eine weitere Ausnahme gilt – entgegen der im vereinsrechtlichen Schrifttum vorherrschenden Auffassung23 – in Fällen einer Verletzung der Überwachungspflicht, die jedes Vorstandsmitglied trifft, soweit es aufgrund einer Ressortverteilung für bestimmte Leitungsaufgaben nicht (mehr) zuständig ist. Art und Umfang dieser Überwachungspflicht werden nachfolgend zu klären sein24.
__________ 20 I.E. ebenso Küpperfahrenberg (Fn. 3), 3. Teil, B. I. 3. 21 Vgl. BGH, NJW 1991, 1727 (1729); Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen
Rechts, 1. Band, 2. Teil – Die juristische Person, 1983, § 4 I (S. 95 ff.); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 23 I 2 (S. 660). 22 Vgl. Nachweise in Fn. 7. 23 Vgl. Nachweise in Fn. 8. 24 Vgl. Abschnitt II. 5. b).
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5. Folgeprobleme a) Form der Ressortverteilung Eine Ressortverteilung unter den Mitgliedern eines Vereinsvorstands kann in unterschiedlicher Weise erfolgen. Denkbar sind mündliche und schriftliche Vereinbarungen. Letztere können getroffen werden in einem etwaigen Anstellungsvertrag des Vorstandsmitglieds, in einer vom Vorstand aufgestellten Geschäftsordnung, in einem protokollierten Beschluss der Mitgliederversammlung, in einer Vereinsordnung oder in der Vereinssatzung. In der finanzgerichtlichen Judikatur ist im Hinblick auf steuerliche Pflichten umstritten, ob mündlich vereinbarte oder rein faktische Aufgabenverteilungen zur Haftungsbeschränkung einzelner Vorstandsmitglieder ausreichend sind25. Sicherlich besteht in solchen Fällen die Gefahr, dass sich im Haftungsfall sämtliche Vorstandsmitglieder auf die Zuständigkeit eines anderen berufen, was für eine Unzulässigkeit nicht schriftlich vereinbarter Ressortverteilungen sprechen könnte26. Indes sollte man auch den entgegengesetzten Fall in Betracht ziehen, dass eine mündliche Vereinbarung oder faktische Aufgabenverteilung unstreitig ist oder nach Überzeugung des mit der Sache befassten Gerichts im Haftungszeitpunkt vorlag. Es ist nicht ersichtlich, weshalb auch in derartigen Konstellationen von der Unzulässigkeit der beschriebenen Formen der Ressortverteilung auszugehen sein sollte. Stattdessen ist deren generelle Wirksamkeit zu unterstellen. Wenn aber behauptete entsprechende mündliche Vereinbarungen oder faktische Aufgabenverteilungen streitig bleiben, geht dieser Umstand infolge gemeinsamen Organisationsverschuldens zu Lasten sämtlicher Vorstandsmitglieder, so dass in einem solchen Fall die beabsichtigte Beschränkung der persönlichen Haftung unwirksam ist. Aus Beweisgründen empfiehlt sich deshalb eine schriftliche Fixierung der Ressortverteilung. Eine solche soll nach einer im vereinsrechtlichen Schrifttum vertretenen Ansicht nur dann haftungsbeschränkende Wirkung entfalten, wenn die Regelung in der Satzung selbst erfolgt27 oder aber zumindest auf einer satzungsmäßigen Ermächtigung beruht28. Diese Auffassung widerspricht den Grundsätzen der vereinsrechtlichen Verfassung. Bereits im Jahr 1967 hat der II. Zivilsenat in einem das Vereinsrecht betreffenden Verfahren beiläufig festgestellt29, nur die das Vereinsleben bestimmenden Grundentscheidungen müssten als „Verfassung“ des Vereins kraft zwingender Vor-
__________ 25 In diesem Sinne zumindest für die Geschäfte des laufenden Geschäftsverkehrs zum
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Verein BFH/NV 1998, 1460 (1461); zur GmbH BFHE 141, 443 (447 f.); BFHR 146, 23 (26); BFH/NV 1987, 550 (552); a. A. zum Verein BFHE 186, 132 (137 f.); zur GmbH BFH/NV 1988, 6 (7); BFH/NV 1989, 4 (5 f.); BFH/NV 1993, 143 (144). So Küpperfahrenberg (Fn. 3), 3. Teil, B. I. 5. in Fn. 944. Waldner in Sauter/Schweyer/Waldner (Fn. 7), Rz. 250. Reichert (Fn. 7), Rz. 1486, 1490. BGHZ 47, 172 (177).
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schrift in die Satzung aufgenommen werden (§§ 25, 71 Abs. 1 Satz 1 BGB), soweit sie nicht bereits im Gesetz enthalten seien. Zu diesen Grundentscheidungen ist eine Ressortverteilung hinsichtlich der Vorstandsaufgaben aber nicht zu rechnen. Letztlich ist die Ressortverteilung lediglich ein Instrument der vereinsinternen Organisation der Leitungsaufgaben. Die sich aus § 27 Abs. 3 BGB ergebende Geschäftsführungspflicht jedes Vorstandsmitglieds wird hierdurch nicht abbedungen, was in der Tat nur durch Satzungsregelung erfolgen könnte (§ 40 BGB). Denn die Überwachungspflicht sämtlicher Vorstandsmitglieder besteht als Ausfluss ihrer Gesamtverantwortung für den Verein fort. Damit muss die Ressortverteilung nicht notwendigerweise in der Satzung erfolgen30, sondern auch die übrigen eingangs aufgelisteten Möglichkeiten einer schriftlichen Vereinbarung – insbesondere auch Geschäftsordnungen der Vorstandsmitglieder31 – sind insoweit zulässig. Die Vorstandsmitglieder eines Vereins sollten im eigenen Interesse eine klare und eindeutige Festlegung der Ressortverteilung vornehmen32, weil insoweit verbleibende Unklarheiten auf eine Verletzung der Organisationspflicht hindeuten und zur Unwirksamkeit der beabsichtigten Haftungsbeschränkung führen können. Die Regelungsintensität hängt von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Als Maxime kann daran festgehalten werden, die schriftliche Ressortverteilung umso detaillierter auszugestalten, je größer die Gefahr von unbeabsichtigten Kompetenzüberschneidungen ist. b) Ausmaß und Ausgestaltung der Überwachungspflicht Aufgrund der bereits erfolgten Erwägungen zur Übertragbarkeit von Rechtsgrundsätzen, die zunächst für das GmbH-Recht entwickelt worden sind, auf das Vereinsrecht, ist es nahe liegend, auch im Hinblick auf den Umfang der – zu Unrecht überwiegend abgelehnten – Überwachungspflicht von Vereinsvorständen auf diejenigen Erkenntnisse zurückzugreifen, die bislang im Kapitalgesellschaftsrecht gewonnen worden sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass einerseits die Überwachungspflicht der Kompensation für die infolge Ressortverteilung eingeschränkte Leitungsmacht einzelner Vorstandsmitglieder dient, dass andererseits inquisitorische Aktivitäten die mit der Ressortverteilung erhofften Effizienzgewinne und damit die Arbeitsteilung im Vorstand nicht unmöglich machen dürfen. Hierzu hat die Rechtsprechung
__________ 30 Hadding in Soergel, BGB, § 27 Rz. 23; Reuter in MünchKomm.BGB, § 27 Rz. 40;
Küpperfahrenberg (Fn. 3), 3. Teil, B. I. 5. 31 Hierfür bedarf es keiner Satzungsermächtigung oder eines entsprechenden Be-
schlusses der Mitgliederversammlung, vgl. BGHZ 47, 172 (174); Hadding in Soergel, BGB, § 27 Rz. 8a. 32 In diesem Sinne auch BFH/NV 1998, 1460 (1461) im Hinblick auf steuerliche Pflichten; Reichert (Fn. 7), Rz. 1490.
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im GmbH-Recht ein ausgewogenes und abgestuftes Kontrollsystem entwickelt, das auf das Vereinsrecht übertragen werden kann. Zunächst ist die Überwachungspflicht durch jedes Vorstandsmitglied so auszuüben, dass eine grundsätzliche Kenntnis von der Art und Weise der Geschäftsführung durch andere Vorstandsmitglieder ermöglicht wird. Der Arbeit in den anderen Ressorts ist eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen, in Abständen sind Stichproben etwa durch Fragen an das zuständige Vorstandsmitglied oder im Wege der Einsichtnahme in Geschäftsführungsunterlagen durchzuführen33. Im Interesse einer vertrauensvollen Zusammenarbeit sollten derartige Punkte möglichst in den ohnehin regelmäßig stattfindenden Vorstandssitzungen geklärt werden, um auf diese Weise eine ordnungsgemäße Geschäftsführung innerhalb der Ressorts und eine frühzeitige Aufdeckung etwaiger Unregelmäßigkeiten zu gewährleisten. Solange derartige Überwachungsmaßnahmen nicht zu Zweifeln an der pflichtgemäßen Erfüllung von Leitungsaufgaben durch die jeweils zuständigen Vorstandskollegen führen, sind die Überwachungspflichten hinreichend beachtet34. Wenn hingegen erste Verdachtsmomente die Vermutung nahe legen, dass ein Vorstandskollege die Leitungspflichten innerhalb seines Ressorts nicht ordnungsgemäß erfüllt hat, geht die Überwachungspflicht in eine intensive Kontrollpflicht über35. Sofern die Überwachungsmaßnahmen sogar konkrete Anhaltspunkte dafür liefern, dass ein Vorstandskollege seine Leitungspflichten verletzt hat, lässt sich aus dem Prinzip der Gesamtverantwortung des Vorstands eine Pflicht der nach der Ressortverteilung an sich unzuständigen Vorstandsmitglieder zum unmittelbaren Eingreifen ableiten36. Insoweit ist unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zunächst auf eine pflichtgemäße Aufgabenerfüllung durch das zuständige Vorstandsmitglied hinzuwirken. Wenn auf diese Weise eine ordnungsgemäße Geschäftsführung nicht gewährleistet werden kann, müssen die übrigen Vorstandsmitglieder als ultima ratio die betreffenden Geschäfte selbst in die Hand nehmen37 und die erforderlichen (rechtlichen) Schritte veranlassen.
III. Haftung des Vorstands gegenüber dem Verein In diesem abschließenden Abschnitt ist zu klären, ob und inwieweit die zur Haftung des Vorstands im Außenverhältnis entwickelten Grundsätze auch auf dessen Haftung gegenüber dem Verein übertragen werden können. Das Vereinsrecht weist – anders als das Recht der Aktiengesellschaft, GmbH
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FG Saarbrücken, EFG 1993, 493 (495) zur Ressortverteilung in einer GmbH. Vgl. auch BFH, ZIP 1986, 1247 (1247 f.) zum GmbH-Recht. BFH/NV 2001, 413 zum Vereinsrecht. BGH, WM 1985, 1293 (1294); BGH, WM 1986, 789 jeweils zum GmbH-Recht. BFHE 186, 132 (138 f.) zum Vereinsrecht; BGH, WM 1985, 1293 (1294); BGHZ 133, 370 (379) jeweils zum GmbH-Recht.
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oder Genossenschaft (§§ 48, 93, 117 AktG; § 43 GmbHG; § 34 GenG) – insoweit keine speziellen Vorschriften zur Vorstandshaftung auf. Stattdessen sind die allgemeinen Vorschriften anwendbar (insbesondere Verletzung von Pflichten i.R.d. Anstellungsverhältnisses oder des organschaftlichen Rechtsverhältnisses; vgl. §§ 280 Abs. 1 und 3, 281–283, 241 Abs. 2 BGB)38. Die Haftung des Vereinsvorstands gegenüber dem Verein ist nicht länger eher theoretischer Natur. Gerade in jüngster Zeit hat die gerichtliche Geltendmachung von Haftungsansprüchen durch zwei Vereine der Fußballbundesligen (Karlsruher SC e.V.39, 1. FC Kaiserslautern e.V.40) gegen (ehemalige) Vorstands- bzw. Aufsichtsratsmitglieder für Aufsehen gesorgt. Je stärker die Haftungsrisiken im Innenverhältnis zunehmen, desto dringlicher stellt sich die Frage, ob insoweit eine Beschränkung der persönlichen Haftung des Vereinsvorstands durch Ressortverteilung zulässig ist. Die im Schrifttum vorherrschende Auffassung geht mit jeweils allenfalls knappen Begründungen ebenso wie beim vereinsrechtlichen Außenverhältnis auch im entsprechenden Innenverhältnis von einer grundsätzlich haftungsbeschränkenden Wirkung der Ressortverteilung aus41 und lehnt zugleich eine gegenseitige Überwachungspflicht der Vorstandsmitglieder ab42. Die Ressortverteilung führt insoweit in der Tat zu Haftungsbeschränkungen für die Vorstandsmitglieder, zumal auch das Innenverhältnis vom Prinzip der Gesamtverantwortung des Vorstands bestimmt wird und die organschaftliche Pflicht zur Geschäftsführung die Vorstandsmitglieder gegenüber dem Verein – nicht jedoch gegenüber Dritten – trifft43. Wenn die Ressortverteilung rechtlich in der Vereinssatzung, einer Vereinsordnung, den Anstellungsverträgen mit Vorstandsmitgliedern oder einem Beschluss der Mitgliederversammlung verankert ist, wird hierdurch im Verhältnis zwischen Vorstand und Verein einvernehmlich der Pflichtenkreis der Vorstandsmitglieder und damit auch deren Haftung begrenzt. Fraglich ist, ob dies auch gilt, wenn Ressortverteilungen einseitig durch eine vorstandseigene Geschäftsordnung, sonstige Vereinbarungen der Vorstandsmitglieder untereinander oder rein faktische Aufgabenteilungen erfolgen44. Hiergegen scheint die Gefahr zu sprechen, dass sich die Vorstandsmitglieder
__________ 38 Vgl. stellvertretend Heermann/Götze (Fn. 2), S. 68 f.; Reichert (Fn. 7), Rz. 1923. 39 FAZ v. 28.9.2002, S. 28; FAZ v. 3.12.2002, S. 32. 40 FAZ v. 7.11.2002, S. 31; FAZ v. 5.3.2003, S. 31; FAZ v. 8.7.2003, S. 31; FAZ v.
7.8.2003, S. 29. 41 Hadding in Soergel, BGB, § 27 Rz. 23; Reichert (Fn. 7), Rz. 1486, 1490, 1492 f.; Reu-
ter in MünchKomm.BGB, § 27 Rz. 40; Stöber (Fn. 6), Rz. 287a; Waldner in Sauter/ Schweyer/Waldner (Fn. 7), Rz. 250; H. P. Westermann in Erman, BGB, § 27 Rz. 7; Linnenbrink, SpuRt 2000, 55 (57). 42 Vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 8, zur Gegenauffassung vgl. Nachweise in Fn. 9 f. 43 Hadding in Soergel, BGB, § 27 Rz. 21, 23; OLG Düsseldorf, MDR 1983, 488. 44 Ablehnend Küpperfahrenberg (Fn. 3), 4. Teil, B. III. 6. a).
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auf diese Weise eigenmächtig von ihren gesetzlichen Pflichten befreien könnten. Diese Bedenken vermögen indes nicht zu überzeugen. Vielmehr sind die genannten, vom Vorstand einseitig aufgestellten Ressortverteilungen grundsätzlich zulässig und wirksam, sofern nicht die Satzung oder die Gesellschafterversammlung ein solches Vorgehen ausdrücklich untersagt. Ausgehend von dem Grundsatz der Gesamtverantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder eines Vereins ist diesen das Recht zuzusprechen, bei Fehlen gegenteiliger Satzungsklauseln oder Gesellschafterbeschlüsse selbständig zu bestimmen, welche Aufgaben etwa von einem Vorstandsmitglied allein, welche nur gemeinsam zu erledigen sind und welche Pflichten jedes Vorstandsmitglied mindestens zu erfüllen hat. Wenn im Haftungsfall eine vom beklagten Vorstandsmitglied zu seiner Verteidigung behauptete entsprechende mündliche Vereinbarung oder faktische Aufgabenverteilungen sich nicht nachweisen lässt, geht dieser Umstand infolge gemeinsamen Organisationsverschuldens zu Lasten sämtlicher Vorstandsmitglieder, so dass in einem solchen Fall sich die beabsichtigte Beschränkung der persönlichen Haftung als unwirksam erweist. Ebenso wie hinsichtlich der Außenhaftung des Vorstandsmitglieds sollte die Ressortverteilung mit Blick auf die Innenhaftung bei schriftlicher Fixierung möglichst klar und eindeutig formuliert werden. Allerdings ist bei Zweifelsfragen dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Verein im Gegensatz zu Drittgläubigern zu den Vorstandsmitgliedern in einem organschaftlichen Rechtsverhältnis steht, das regelmäßig durch ein Anstellungsverhältnis ergänzt wird. Die Mitgliederversammlung des Vereins kann etwa durch satzungsrechtliche Vorgaben, durch den Erlass einer Vereinsordnung oder auch durch Beschluss Einfluss auf die Ressortverteilung nehmen, die Mitglieder sind zudem aufgrund besonderer Bekanntmachung oder aber ständiger Übung mit den Details oder zumindest Grundzügen der Ressortverteilung vertraut. Die durch eine Ressortverteilung erfolgte Konkretisierung und Einschränkung der Pflichten eines nur für ein bestimmtes Ressort verantwortlichen Vorstandsmitglieds bedarf indes einer gewissen Kompensation durch eine für sämtliche Vorstandsmitglieder fortbestehende Überwachungspflicht. Die gegenteilige herrschende Meinung45 vernachlässigt insoweit wiederum den auch für den Vereinsvorstand geltenden Grundsatz der Gesamtverantwortung.
IV. Fazit In Übereinstimmung mit der vorherrschenden Auffassung kann sowohl im Außen- als auch im Innenverhältnis aus der Ressortverteilung eine grundsätzliche Verantwortlichkeit jedes Vorstandsmitglieds eines Idealvereins nur für das jeweils von ihm betreute Sachgebiet abgeleitet werden. Dieser Grund-
__________ 45 Vgl. Nachweise in Fn. 8.
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Beschränkung der persönlichen Haftung des Vereinsvorstands
satz gilt jedoch nicht, sofern nach dem Gesetz bestimmte Pflichten zwingend und unabhängig von der Ressortverteilung jedem Vorstandsmitglied obliegen (z. B. die Insolvenzantragspflicht nach § 42 Abs. 2 Satz 1 BGB). Entgegen der im vereinsrechtlichen Schrifttum vorherrschenden Auffassung muss die Einbuße an individueller Leitungskompetenz durch entsprechende Pflichten zur Überwachung der zuständigen Vorstandsmitglieder kompensiert werden. Im Normalfall sind Stichproben ausreichend, bei ersten Verdachtsmomenten ist die Kontrollpflicht zu intensivieren, bei konkreten Verdachtsmomenten ist auf das pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglied einzuwirken, erforderlichenfalls sind dessen Geschäftsführungsaufgaben von den übrigen Vorstandsmitgliedern zu übernehmen. Ressortverteilungen können auf mündlichen und schriftlichen Vereinbarungen (Anstellungsvertrag, eine vom Vorstand aufgestellte Geschäftsordnung, protokollierter Beschluss der Mitgliederversammlung, Vereinsordnung oder Vereinssatzung) beruhen. Die Vorstandsmitglieder eines Vereins sollten im eigenen Interesse eine klare und eindeutige Festlegung der Ressortverteilung vornehmen, weil insoweit verbleibende Unklarheiten auf eine Verletzung ihrer Organisationspflicht hindeuten und zur Unwirksamkeit der beabsichtigten Haftungsbeschränkung führen können.
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Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball (DFB)* Inhaltsübersicht I. Die Ausgangslage II. Die Ausgestaltung der Verbandsgerichtsbarkeit des DFB III. Die Ausgestaltung der Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball 1. Ständiges Schiedsgericht für Vereine und Kapitalgesellschaften der Lizenzligen 2. Ständiges Schiedsgericht für Lizenzspieler
3. Ständiges Schiedsgericht für Trainer 4. Ständiges Schiedsgericht für Vereine der Regionalliga 5. Ständiges Schiedsgericht für Vereine der Frauen-Bundesligen 6. Schiedsgericht für die A-JuniorenBundesliga-Vereine 7. Schiedsgericht für Verbände IV. Schlussbemerkung und Ausblick auf die Schiedsgerichtsbarkeit im internationalen Fußball
I. Die Ausgangslage Einen Meilenstein in der nicht mehr ganz jungen Historie und in der Entwicklung der Disziplin des Sportrechts1 stellt neben zahlreichen anderen2
__________ * Der vorstehende Beitrag erhebt keinen Anspruch darauf, die rechtswissenschaftliche und dogmatische Diskussion der juristischen Probleme zu bereichern. Er versteht sich vielmehr als Ergänzung dieser Diskussion im Sinne der Darlegung einiger rechtstatsächlicher Grundlagen und Gegebenheiten. Auch diesem Bereich hat der Jubilar, wie sowohl seine Veröffentlichungen im Sportrecht als auch seine mehrfache Mitwirkung bei den alljährlich stattfindenden Sportrechtseminaren des Württembergischen Fußballverbandes für Richter und Staatsanwälte und sein besonderes Engagement als Präsident der „Deutschen Vereinigung für Sportrecht e. V. (Konstanzer Arbeitskreis)“ ausweisen, stets sein Interesse gewidmet. Deshalb mag diesem Beitrag, der gleichzeitig dem Jubilar einen kleinen Dank abstatten soll, auch in einer wissenschaftlichen Festschrift ein Platz eingeräumt sein. 1 S. dazu die Schriftenreihen „Recht und Sport“ (RuS – seit 1984), hrsg. vom Konstanzer Arbeitskreis für Sportrecht (ab 2004: Deutsche Vereinigung für Sportrecht), „Beiträge zum Sportrecht“, hrsg. von Kühl, Tettinger, Vieweg, und des Württembergischen Fußballverbandes (Schr. des WFV – seit 1976), insbesondere Band 43, Sportrecht damals und heute, 2001, oder beispielsweise auch F.-C. Schroeder/ H. Kaufmann (Hrsg.), Sport und Recht, 1972; U. Steiner, Aktuelle Entwicklungen des Verhältnisses von Sport und Recht, in Sport im Spiegel, FS Heinz Lutter, 1994; Scherrer, Sportrecht – Eine notwendige Sonderdisziplin ?, Schweizerische JuristenZeitung (SJZ) 1988, 1 ff. 2 Beispielsweise gerichtliche Entscheidungen aus unterschiedlichen Rechtsgebieten: BGHZ 63, 140; BGH, NJW 1976, 95 zur zivilrechtlichen Haftung bei Körperverlet-
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der sog. Bundesligaskandal3 aus dem Jahre 1971 und seine rechtsförmliche Aufarbeitung durch den Deutschen Fußball-Bund dar. Diese zwang den DFB nicht nur dazu, seine satzungs- und ordnungsrechtlichen Grundlagen zu überdenken und zu reformieren, sondern brachte auch die Erkenntnis, dass die aus Art. 9 GG abzuleitende Vereins- und Verbandsautonomie für die interne Verbandsgerichtsbarkeit keine rechtsfreien Räume im Sport garantiert, sondern dass die Wertungen des Grundgesetzes und der staatlichen Rechtsordnung eine rechtliche, ja verfassungsrechtliche Durchdringung der Rechtsgrundlagen der Sportverbände fordern4. Auch einer juristisch nicht bewanderten Öffentlichkeit ist damals bekannt und bewusst geworden, dass es eine Verbandsgerichtsbarkeit gibt, die – vergleichbar der staatlichen Gerichtsbarkeit – als Strafen bezeichnete Sanktionen, wie beispielsweise befristete und unbefristete Sperren gegen ProfiFußballspieler verhängt, die sich partiell als Berufsverbote auswirken und damit erhebliche Eingriffe in die Berufsausübung bedeuten. Die Terminologie „Strafe“ und „Sportgerichtsbarkeit“ hat sich der Öffentlichkeit jedenfalls seit dieser Zeit fest eingeprägt. Immerhin wurden seinerzeit gegen 51 Lizenzspieler, sechs Vereinsfunktionäre, zwei Fußball-Lehrer und zwei Bundesligavereine zum Teil drastische Sanktionen verhängt5. Nur durch diesen Kraftakt konnte die existenzbedrohliche Krise des Berufsfußballs bewältigt werden. Sportgerichtsbarkeit ist, wie bereits in einer früheren Entscheidung des Bundesgerichtshofs ausgeführt6, eine Folge ausgeübter selbstständiger Vereinsgewalt, die auch im Sport den ihm zuzuordnenden Organisationen, also den Vereinen und Verbänden, gegenüber Mitgliedern und deren Mitgliedern auf der Grundlage selbstgegebener Normen zusteht und praktizierte Rechtsanwendung darstellt. Geltungsgrundlage der Sportgerichtsbarkeit ist die auf der Koalitionsfreiheit des Art. 9 GG beruhende Vereinsautonomie, die sich auf die mit dem Beitritt eines Mitglieds verbundene Unterwerfung unter das Satzungs- und Ordnungsrecht der jeweiligen Organisation stützt und die durchaus als „rechtliche Teil-Autonomie“ der Sportverbände bezeichnet werden kann7. Diese sog. Sportgerichtsbarkeit ist jedoch keine Gerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne, versteht man darunter die auf Verwirklichung der bestehenden
__________ 3 4
5 6 7
zungen; EuGH, NJW 1996, 505 (sog. Bosmann-Urteil); BVerfG, SpuRt 1998, 116 ff. zum Recht auf Kurzberichterstattung im Fernsehen. Rauball, Bundesliga-Skandal, 1972. So schon U. Steiner, Amateurfußball und Grundrechte, neuerdings in Tettinger/ Vieweg (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Sportrechts, Ausgewählte Schriften von Udo Steiner, Beiträge zum Sportrecht, Bd. 17, 2004. O. Beck, Wir haben den Sumpf trocken gelegt, in 100 Jahre DFB, 1999, S. 440. BGHZ 13, 11. J. Chr. Müller, Das Lizenzierungsverfahren für die Fußball-Bundesliga, in Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 2003, 556 ff.
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Rechtsordnung gerichtete, als rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraute Tätigkeit der staatlichen Gerichte bei der Rechtsanwendung im Einzelfall8. Allein diese staatliche Gerichtsbarkeit ist in Art. 92 GG, der das staatliche Rechtsprechungsmonopol garantiert, angesprochen. Die genannte rechtliche Teilautonomie gewährt den Sportverbänden die Befugnis, sich selbst zu verwalten. Von dieser Befugnis haben sie auch ausdrücklich Gebrauch gemacht und zwar in zweifacher Hinsicht9. Zum einen haben sie die Rechtsbeziehungen zwischen sich, ihren Mitgliedern und deren Mitgliedern durch den Erlass von Satzungen und Ordnungen zur Erreichung des Verbandszwecks geregelt. Zum anderen haben sie sich satzunggebende, verwaltende und rechtsprechende Organe geschaffen, die die sich aus diesen mitgliedschaftlichen Rechtbeziehungen und den zugrundegelegten selbstgegebenen Normen abzuleitenden Aufgaben und Befugnisse wahrnehmen. Das zunehmende Bewusstsein für rechtliche Grundwertungen und für rechtsstaatliche Strukturen hat – auch das eine Folge der Notwendigkeit der Bewältigung des Bundesligaskandals und der in diesem Zusammenhang zu Recht geübten rechtswissenschaftlichen Kritik10 – zu erheblichen Veränderungen im Verbandswesen geführt. Sie sind gekennzeichnet durch einen sich strikt an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierenden internen Verbandsrechtsnormrahmen und seine Verbandsrechtsprechung, eine Verbandsrechtsprechung, die insbesondere durch das verfassungsmäßige Verhältnismäßigkeitsgebot und fundamentale Verfahrensgrundsätze, die weitgehend entsprechend dem Gegenstand der häufigsten sportgerichtlichen Verfahren aus der staatlichen Strafprozessordnung übernommen sind, geprägt ist. Zu den wichtigsten Verfahrensgrundsätzen der Sportgerichtsbarkeit des DFB zählen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Weisungsunabhängigkeit und Neutralität (Befangenheits- und Inkompatibilitätsregelungen) der Sportrichter, das rechtliche Gehör, vorschriftsmäßige Besetzung und Zuständigkeit, Nachweis von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Verschulden, satzungsgemäße Verankerung der Sanktion, Ladung und Einhaltung von Fristen, Grundsatz des „ne bis in idem“, Vertretungsrecht durch Rechtsanwälte, Schriftlichkeit der Urteile mit Begründungszwang, Rechtsmittelbelehrung, Verbot der „reformatio in peius“. All dies ist heute alltäglich11, gleichwohl Ausfluss steten und fortdauernden Bemühens, die Verbandsgerichtsbarkeit
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8 Schaible, Lexikon der Ethik im Sport, 1998, Stichwort „Sportgerichtsbarkeit“,
S. 507 ff. 9 Bei den nachfolgenden Ausführungen zur Verbandsrechtsprechung des DFB danke
ich Robert Weise, Justitiar des DFB, für wertvolle Hinweise. 10 H. P. Westermann, Die Verbandsstrafgewalt und das allgemeine Recht, 1972; ders.,
Zur Legitimität der Verbandsgerichtsbarkeit, JZ 1972, 537 ff. 11 Bei der Darstellung der DFB-Sportgerichtsbarkeit und des Verhältnisses zur staat-
lichen Gerichtsbarkeit folge ich weitgehend dem Beitrag von Eilers (Chefjustitiar des DFB), Doppelpass mit Justitia, in 100 Jahre DFB, 1999, S. 523 ff.
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Rechtsstaatsprinzipien zu unterziehen, angesichts des hochkommerziell gewordenen Profi-Fußballs eine schiere selbstverständliche Notwendigkeit und zwingendes Gebot für die Bestandskraft dieser verbandsautonomen Akte im Hinblick auf ihre gerichtliche Überprüfung. Da die selbstgegebenen Normen nur die Mitglieder (und deren Mitglieder im Weg des Durchgriffs) zu binden vermögen, ist Voraussetzung für die Mitwirkung an den Vereinseinrichtungen im Fußball, also insbesondere an den Wettbewerben in sämtlichen Spielklassen durch Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Funktionäre usw. die Mitgliedschaft in einem Verbandsverein, der seinerseits verpflichtet ist, durch seine Satzung und Ordnungen die Wirksamkeit der „übergeordneten“ Verbandsnormen zu garantieren. Um darüber hinaus sicher zu stellen, dass im Profifußball für den einzelnen Spieler die Bindungswirkung vorliegt, ist Voraussetzung für die Erteilung der individuellen Spielerlizenz die Unterwerfung des Spielers unter die Vereinsgewalt des DFB durch einen gesonderten Lizenzvertrag (s. dazu unter II. und III. 2.). Das bereits genannte staatliche Rechtsprechungsmonopol steht in untrennbarem Zusammenhang mit der Rechtsweggarantie des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4), die zu Recht gebietet, dass jede Maßnahme eines Verbandes, durch die ein anderer betroffen wird, nach Ausschöpfung des verbandsinternen Rechtswegs der Nachprüfung durch die staatliche Gerichtsbarkeit unterliegt12. Die Respektierung der Vereinsautonomie führt dabei allerdings zu einer für die Verbände und Vereine äußerst wichtigen Beschränkung in der Nachprüfbarkeit. Nach gesicherter, schon auf Entscheidungen des Reichsgerichts13 beruhender Rechtsprechung muss sich jede Verbandsentscheidung und -maßnahme daran messen lassen, ob sie ihre Grundlage in der Satzung findet, gesetz- oder sittenwidrig oder offenbar unbillig ist und ob das im Regelwerk vorgeschriebene Verfahren eingehalten ist14. Einzelheiten und Grenzen der gerichtlichen Überprüfung verbandsautonomer Akte sind streitig15, wobei jedoch Tendenzen unverkennbar sind, zu einer vollständigen, auch inhaltlichen Kontrolle der Verbandsentscheidungen zu gelangen. Die Ursachen sind mannigfaltig. Sie sind zum einen vor allem in der zunehmenden Verselbstständigung der umfangreichen und mehr und mehr verfeinerten und differenzierten Regelwerke im Sport, die im Zusammenhang mit der
__________
12 S. dazu auch Haas, Die Nationale Anti-Doping-Agentur und ein künftiges Schieds-
gericht, in ders. (Hrsg.), Schiedsgerichtsbarkeit im Sport, RuS Nr. 31, 2003, S. 10, insbesondere dort Fn. 4 und 5. 13 RGZ 125, 340. 14 BGHZ 21, 370; 28, 103; 29, 352. 15 Vgl. etwa Grunsky, Überprüfung der Sportrechtsprechung durch die ordentliche Gerichtsbarkeit, in Sportrechtsprechung, Schr. des WFV Nr. 38, 1997, S. 15 ff.; Eilers, Verbandsrechtsprechung am Beispiel der Sportgerichtsbarkeit des DFB, in Fußballsport und Strafrecht, Schr. des WFV Nr. 11, 1978, S. 19 ff.; Kauffmann u. a., Verbandsrechtsprechung und staatliche Gerichtsbarkeit, Schr. des WFV Nr. 24, 1988; V. Röhricht (Hrsg.), Sportgerichtsbarkeit, RuS Nr. 22, 1997; U. Steiner, Sport und Justiz, in Tettinger/Vieweg (Fn. 4), S. 216.
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Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball
Globalisierung, Internationalisierung und vor allem auch seiner Kommerzialisierung stehen, zu sehen. Zum andern liegen sie in den erheblichen materiellen Interessenkonflikten im Profisport und seiner Verknüpfung insbesondere mit dem Wettbewerbs- und dem Arbeitsrecht, gerade auch auf der Ebene des europäischen Rechts, begründet16. Die selbstverständlich nicht zu bestreitende Befugnis der Rechtsprechung zur staatlichen Kontrolle verbandlicher Entscheidungen und Maßnahmen führt so dazu, die durch die Verbandsautonomie eingeräumten Möglichkeiten einzuschränken und eben diese staatliche Kontrolle auszuweiten. Während noch zu Zeiten des genannten Bundesligaskandals die von den Verbänden getroffenen tatsächlichen Feststellungen der gerichtlichen Überprüfung nicht unterlagen und eine Inhaltskontrolle über die aufgezeigten Schranken hinaus nicht stattfand, unterzieht die Rechtsprechung inzwischen auch die Tatsachenfeststellung einer Überprüfung17. Sie hat außerdem die Anforderungen an die Beurteilung der Angemessenheit und Billigkeit verschärft, die auf eine Befassung mit der Zweckmäßigkeit und „Richtigkeit“ der Verbandsentscheidung hinauslaufen. Es ist Eilers in seiner Kritik an dieser Tendenz der Rechtsprechung18, die Grenzen der Verbandsautonomie immer enger zu ziehen und in der vollständigen Inhaltskontrolle das Ende der Autonomie der Sportverbände zu sehen19, zuzustimmen. Der staatliche Richter darf nicht berufen sein, die Verbandsentscheidungen durch seine eigenen zu ersetzen. Vielmehr hat er seinerseits unter Beachtung der eben durch diese Verbandsautonomie gezogenen Grenzen den Kernbereich des Sports zu respektieren. Dieser wird bestimmt durch den dem Sport immanenten Grundsatz des Fair Play, seine nicht zwangsläufig allgemein rechtlich verbindlichen Spielregeln20, sein sportspezifisches Wettbewerbsreglement und einen sich daraus ableitenden Ermessens- und Bewertungsspielraum21, den der staatliche Richter zu tolerieren angehalten ist22.
__________ 16 Fritzweiler, Rechtsprechung zum Sportrecht in den Jahren 2002 und 2003, SpuRt
2004, 989. 17 BGHZ 87, 337 entgegen BGH, WM 1966, 772 ff.; s. dazu auch H. P. Westermann,
18
19 20
21
22
Verbandsautonomie und staatliches Rechtsprechungsmonopol, in Verbandsrechtsprechung und staatliche Gerichtsbarkeit, Schr. des WFV Nr. 24, 1988, S. 41 ff. Zur Entwicklung der BGH-Rechtsprechung s. Röhricht, Inhaltskontrolle verbandsrechtlicher Entscheidungen, in Schr. des WFV Nr. 24, 1988, S. 75 ff.; Röhricht, Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfahren nach deutschem Recht, in Sportgerichtsbarkeit, RuS Nr. 22, 1997, S. 19 ff. Eilers (Fn. 11), S. 529. Interessante Überlegungen dazu bei Schild, Sportregeln und Rechtsnormen, in Fairness-Gebot, Sportregeln und Rechtsnormen, Schr. des WFV Nr. 46, 2004, S. 19 ff.; ders., Sportstrafrecht, 2002, S. 25 ff. Sehr weitgehend D. Reuter, Rechtliche, wirtschaftliche und sportliche Aspekte der Ablösesummen, in Rechtsprobleme beim Vereinswechsel eines Fußballspielers, Schr. des WFV Nr. 18, 1983, S. 54 ff. Zum Spannungsverhältnis zwischen Verbandsautonomie und gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten s. Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 7 ff.
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So unbestritten die Rechtsweggarantie des Grundgesetzes auch hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung der verbandsautonomen Akte nach Erschöpfung des verbandsinternen Instanzenzugs ist, so sehr ist gleichwohl nicht zu verkennen, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Verbandsmaßnahme durch die staatliche Gerichtsbarkeit und das Durchlaufen ihres Instanzenzugs häufig zu zeitraubenden, länger andauernden Verfahren führt. Im Sport ist dieses angesichts der Notwendigkeit rascher und endgültiger Entscheidungen im laufenden oder beginnenden sportlichen Wettbewerb höchst unpraktikabel. Den Ausweg aus diesem Zielkonflikt bietet die ebenfalls auf staatlicher Gesetzgebung beruhende und anstelle der staatlichen Gerichtsbarkeit anerkannte Schiedsgerichtsbarkeit gemäß §§ 1025 ff. ZPO. Sie bietet zudem aus der Sicht des Sports den Vorteil, dass Schiedsgerichte in ihrer Besetzung die besondere Nähe und Sachkunde der Richter zum Verfahrensgegenstand, dem Sport, gewährleisten. Dass auch im Fußballsport die Vereinbarung von Schiedsgerichten anstelle der ordentlichen Gerichtsbarkeit zulässig ist, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen beachtet sind, ist heute nicht mehr zweifelhaft23. Auch die Schiedsgerichtsbarkeit ist freilich in ihrem Überprüfungsumfang an die von der Rechtsprechung für die allgemeine Gerichtsbarkeit aufgestellten Grundsätze gebunden. Auf die Probleme der Abgrenzung zwischen Schiedsgerichten nach §§ 1025 ff. ZPO und sog. „Verbandsschiedsgerichten“, die diese gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllen, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden24. Erst in jüngerer Zeit hat der BGH25 hierzu in einer vielbeachteten Entscheidung wieder einmal Stellung genommen26. Schon nach Einführung der professionellen Bundesliga als oberste Spielklasse des DFB (im Jahre 1963) existierte im Bereich des Fußballs ein ständiges Schiedsgericht für Lizenzvereine, Lizenzspieler und Trainer, an dessen Rechtmäßigkeit, Zulässigkeit und Zuständigkeit immer wieder Kritik geübt wurde27. Eine der Konsequenzen bei der Bewältigung der sportrechtlichen Probleme des erwähnten Bundesligaskandals war denn auch der Ausbau und die Verfeinerung dieses sportspezifischen Kontrollmechanismus. Die Institutionalisierung der Schiedsgerichtsbarkeit im Sport mit seiner deutlichen Tendenz zur Entstaatlichung des Sportrechts28 erfasste in der Folgezeit weitere Felder des Sports national und international, so etwa – und hier nur bei-
__________ 23 Haas, Die Abgrenzung von Vereinsgerichten zu echten Schiedsgerichten, SpuRt
2000, 228 ff.; ders. (Hrsg.), Schiedsgerichtsbarkeit im Sport, RuS Nr. 31, 2003. 24 S. beispielsweise BGH, NJW 1995, 583 ff.; OLG Koblenz v. 17.6.99 – 2Sch2/99 25 26 27 28
(nicht veröffentlicht). BGH, NJW 2004, 2226 ff., dazu die Anm. von Schlosser, LMK 2004, 169 f. S. dazu auch den Beitrag von Grunsky in dieser Festschrift, S. 1137. Eilers (Fn. 15), S. 43 ff. B. Heß, Mehr Instanzen, weniger Rechtsschutz?, in Sportrecht damals u. heute, Schr. des WFV Nr. 43, 2001, S. 69 und Anm. 4.
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Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball
spielsweise genannt – beim Problem des Dopings im Sport29, beim Recht auf Zulassung zum und zur Teilnahme am Wettbewerb, bei der Überprüfung von Wettkampfergebnissen30. Die Struktur und Ausgestaltung dieser Schiedsgerichtsbarkeit im Fußball soll anschließend dargestellt werden. Zusätzlich und neben der Verbandsgerichtsbarkeit und der Schiedsgerichtsbarkeit im Fußball haben sich im Bereich des DFB weitere Streitschlichtungsmechanismen unterschiedlicher Art zur Konfliktbereinigung im Fußball etabliert und bewährt, auf die hier einzugehen nicht angezeigt erscheint, die aber der Vollständigkeit halber erwähnt zu werden verdienen. Es handelt sich um Sonderfälle von Schlichtungsverfahren und Mediationsverfahren, die den sportgerichtlichen, schiedsgerichtlichen und staatlichen gerichtlichen Verfahren vorgeschaltet sind und sie im Erfolgsfalle ersetzen. Hier sind zu nennen Schlichtungsverfahren zur Bereinigung und Beilegung von Konflikten zwischen Trainern und Vereinen, von arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Lizenzverein und Lizenzspielern, von Meinungsverschiedenheiten zwischen DFB und Ligaverband (siehe dazu unter III. 7.) und von Streitigkeiten über die Auslegung des auch national verbindlichen FIFA-Transferreglements sowie Mediationsverfahren bei Auftreten von Gewaltvorfällen im Zusammenhang mit Fußballspielen31.
II. Die Ausgestaltung der Verbandsgerichtsbarkeit des DFB Die Verbands(sport)gerichtsbarkeit im nationalen Fußball betrifft nicht nur die eigene Sportrechtsprechung im Deutschen Fußball-Bund zu den von ihm und der Deutschen Fußball-Liga (DFL) veranstalteten Fußballspielen (s. dazu nachstehend), sondern auch die Sportrechtsprechung der Regional- und Landesverbände für alle in deren Zuständigkeit durchgeführten Fußballspiele, die insoweit nach im Wesentlichen ähnlichen und vergleichbaren, eigenen materiellen und formellen Verbandsrechtsnormen durch ihre Sportrechtsinstanzen alle auftretenden Sportrechtsfälle, einschließlich der Sportvergehen, behandeln und entscheiden32. Immerhin handelt es sich dabei im Bereich des DFB jährlich um eine sechsstellige Zahl33 sportgerichtlicher Ver-
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29 Haas (Hrsg.), Schiedsgerichtsbarkeit im Sport, RuS Nr. 31, 2003; vgl. auch die Fälle
Katrin Krabbe und Dieter Baumann. 30 http://www.stern.de/sport-motor/olympia2004/aktuell/?eid=527150&id=528702&
s=8&nv=ex_rt. 31 Sengle, Konfliktbewältigung im gerichtsfernen Bereich, Zeitschrift für Konflikt-
Management (ZKM) 2003, 208 ff. 32 S. beispielsweise Kühl, Die sportrechtlichen Straftatbestände in: Verbandsrecht-
sprechung und staatl. Gerichtsbarkeit, Schr. des WFV Nr. 24, 1988, S. 22 ff.; Fritz, Rechtliche Strukturen des WFV und dessen Sportrechtsprechung, in Sportrechtsprechung, Schr. des WVF Nr. 38, 1997, S. 6 ff. 33 Die Gesamtzahl der Verfahren vor den Sportgerichten der Landesverbände und Regionalverbände ist leider nicht verlässlich zu ermitteln. Zum einen existieren nur teilweise verbandsbezogene Statistiken, zum anderen sind die Zuständigkei-
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fahren. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf die „eigene“ Sportrechtsprechung des DFB und deren konkrete Ausgestaltung. Instrument der verbandsinternen Sportgerichtsbarkeit des DFB sind die beiden Rechtsorgane, nämlich das Sportgericht als Eingangsinstanz und – regelmäßig – das Bundesgericht als Rechtsmittelinstanz sowie der Kontrollausschuss als eine Art Anklageorgan, häufig in der Öffentlichkeit als „Staatsanwaltschaft des DFB“ bezeichnet. Entsprechend dem verfassungsmäßigen und rechtsstaatlichen Prinzip der Gewaltenteilung sind die Mitglieder der Rechtsorgane bei ihren Entscheidungen und in den Verfahren unabhängig und keinen Weisungen unterworfen, während der Kontrollausschuss ein Verwaltungsorgan gleich anderen DFB-Ausschüssen darstellt. Das hat unter anderem zur Folge, dass beispielsweise seine Entscheidungen durch das DFB-Präsidium aufgehoben werden können34, nicht jedoch solche der Rechtsorgane. Die Aufgabe des Kontrollausschusses besteht darin, Ermittlungen und Voruntersuchungen durchzuführen, Anklage zu erheben oder Verfahrenseinstellungen vorzunehmen, schriftlich oder in den Sitzungen der Rechtsorgane in beiden Instanzen mündlich Anträge zu stellen und Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen einzulegen. Darüber hinaus sind ihm durch die DFB-Ordnungen weitere Verwaltungsaufgaben und -entscheidungen, beispielsweise bei der sog. Reamateurisierung und im Bereich der Transferentschädigungen, übertragen, die nicht die Sportrechtsprechung betreffen, weshalb an dieser Stelle nicht näher darauf einzugehen ist. Hauptgegenstand der Verfahren des Kontrollausschusses – und damit auch der anschließenden Sportgerichtsverfahren – sind die sog. Sportstrafverfahren, die sich pro Spieljahr auf einige Hundert35 – insgesamt bei allen DFB-
__________ ten, aber auch die Strukturen der sog. Rechtssprechungsorgane recht unterschiedlich, so dass nicht nur die Zuordnung einiger Entscheidungsbereiche problematisch ist, sondern auch die Basis der jeweils erhobenen Verfahrenszahlen. Man wird für das Spieljahr 2003/04 von folgenden unvollständigen Zahlen ausgehen dürfen (vgl. zusätzlich Fn. 35): Fünf Regionalverbände ca. 1600, 13 Landesverbände (von 21) ca. 65 000. Es fehlen die Verfahrenszahlen der restlichen acht Verbände. Diese acht fehlenden Verbände betreffen 37 % der DFB-Mitgliedsvereine, ebenfalls mit 37 % gemeldeter Mannschaften. Deshalb kann auf eine sechsstellige Gesamtzahl von Verfahren geschlossen werden. 34 § 34 Abs. 9 DFB-Satzung. Satzung und Ordnungen des DFB und des Ligaverbandes sind unter www.dfb.de/dfb-info/interna (DFB) sowie www.bundesliga.de/intern in das Internet gestellt oder als Loseblatt-Ausgabe erhältlich beim Deutschen-Fußball-Bund, Zentralverwaltung, Otto-Fleck-Schneise 6, 60528 Frankfurt am Main. 35 Im Spieljahr 2003/2004 (1. Juli bis 30. Juni) waren beim Kontrollausschuss im Bereich der beiden Lizenzligen und der Frauen-Bundesliga insgesamt 239, im Bereich der Regional- und der Junioren-Bundesliga 240 Verfahren anhängig. Die erstgenannten Verfahren führten zu 80 Einstellungen und 159 Entscheidungen durch das Sportgericht (150 Einzelrichterentscheidungen im schriftlichen Verfahren, neun
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Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball
Spielklassen und Wettbewerben – belaufen, von denen etwa 20 % zur Verfahrenseinstellung und der Rest zu Anklagen oder Bestrafungsanträgen führt. Die Einstellungsbeschlüsse betreffen in der Regel nicht Verfahren gegen Spieler, sondern fast ausschließlich solche erstmalig gegen Vereine, Trainer und andere im Innenraum des Stadions tätige Personen anhängige. Zur Klarstellung sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass eine Verfahrenseinstellung grundsätzlich nicht möglich ist, wenn ein Spieler vom Schiedsrichter des Feldes verwiesen worden ist (sog. rote oder gelb-rote Karte). In diesen Fällen ist der Spieler automatisch für jeglichen weiteren Spielverkehr gesperrt und hat nach den zwingenden Vorschriften des übergeordneten Dachverbandes FIFA36, auch bei einem unsportlichen Vergehen leichtester Art die für unsportliches Verhalten vorgesehene Mindestsperre von einem Spiel einzuhalten. Die sachliche Zuständigkeit des Kontrollausschusses in diesen Sportstrafverfahren deckt sich mit denjenigen der Rechtsorgane. Dem Sportgericht obliegt nach § 42 DFB-Satzung insbesondere die Rechtsprechung bei sportlichen Vergehen in und im Zusammenhang mit Bundesspielen37. Das Sportgericht entscheidet in den meisten Fällen durch den Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung. In den übrigen Fällen entscheidet das Sportgericht aufgrund mündlicher Verhandlung in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern in unterschiedlicher Zusammensetzung, je nach Verfahrensgegenstand und Betroffenem. Das DFB-Bundesgericht ist insbesondere als Rechtsmittelinstanz gegen erstinstanzliche Entscheidungen des Sportgerichts berufen. Es entscheidet stets in einer Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern; für die Besetzung gilt das zum Sportgericht ausgeführte entsprechend. Einzelheiten zur Zuständigkeit, zur Besetzung und zu den Verfahren vor den Rechtsorganen sind den Vorschriften der §§ 38 ff. der DFB-Satzung und der DFB-Rechts- und Verfahrensordnung zu entnehmen. Die Darstellung wäre jedoch unvollständig, würde sie nicht noch auf drei Besonderheiten der verbandsgerichtlichen Verfahren eingehen: das Einzelrichterverfahren (§ 15 Rechts- und Verfahrensordnung des DFB), die Beweisaufnahme vor den Rechtsorganen und die Zuständigkeit der DFB-Sportgerichtsbarkeit für die von der Liga/DFL veranstalteten Bundesspiele.
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auf Grund mündlicher Verhandlung vor dem Spruchkörper), die letztgenannten zu 61 Einstellungen und 179 Entscheidungen durch das Sportgericht (178 +1). Vor dem Bundesgericht waren im 3-Jahreszeitraum insgesamt nur 20 Verfahren anhängig, von denen 16 streitig entschieden wurden. 36 Art. 19 Abs. 4 und Art. 39 CDF (FIFA-Disziplinarreglement); vgl. auch die FIFAZirkulare Nr. 821 v. 1.10.2002 und Nr. 866 v. 24.9.2003. 37 Die übrigen Zuständigkeiten betreffen die Rechtsprechung über Verstöße von Vereinen und Tochtergesellschaften des Ligaverbandes und von Spielern usw., die Entscheidung über Einsprüche gegen die Wertung von Bundesspielen, die Rechtsprechung in Verfahren gegen Trainer und Schiedsrichter und eine Zuständigkeit gemäss besonderer Bestimmungen. Bundesspiele sind in §§ 40 ff. DFB-Spielordnung definiert.
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Das Einzelrichterverfahren betrifft vornehmlich die Bearbeitung der routinemäßigen Sportstrafverfahren nach Feldverweisen von Spielern. Hintergrund ist die angesichts der Häufigkeit aufeinander folgender Spieltage in unterschiedlichen Wettbewerben erforderliche möglichste Beschleunigung der Verfahren, der neben der Einhaltung der materiellen und formellen Vorschriften absolute Priorität einzuräumen ist. Durch die nach Einführung der entsprechenden Regelungen auf den DFB-Bundestagen in Mainz und Magdeburg (September 2000 und Mai 2001) beschlossenen Änderungen der DFB-Rechtsund Verfahrensordnung ist in diesen Routinefällen eine Optimierung der Arbeitsabläufe bei Kontrollausschuss, Verein und Spieler (und anwaltlicher Vertretung des Spielers) dahingehend gelungen, den weit überwiegenden Anteil dieser Einzelrichterverfahren ohne mündliche Verhandlung innerhalb kürzester Zeit nach dem Feldverweis einer abschließenden Entscheidung zuzuführen. Derzeitiger Praxis entspricht, dass einfache Standardverfahren, etwa Feldverweise von Spielern in Meisterschaftsspielen der Bundesligen und in Pokalspielen der DFB-Hauptrunde binnen 24 Stunden durch den Einzelrichter abschließend entschieden werden, sodass nach einem Spieltag am Wochenende in den meisten Fällen bereits am Montag das Strafmass für einen mit der roten Karte des Feldes verwiesenen Spieler feststeht. Kommt es dagegen zu Verfahren mit mündlicher Verhandlung, so ist Kernstück dieser Verhandlung, die ja dann in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern stattfindet, in aller Regel die Beweisaufnahme. Grundsätzlich sind alle Beweismittel zugelassen38; es gelten die Regeln der freien Beweiswürdigung. Dem entspricht auch, dass Fotoaufnahmen und Fernsehaufzeichnungen der deutschen Fernsehanstalten seit 1977 von der Sportgerichtsbarkeit des DFB in schon regelmäßiger Übung als zulässige Beweismittel behandelt wurden39. Auch private Filmaufnahmen wurden bereits vom DFB-Sportgericht (erstmals 1984) als Beweismittel zugelassen40. Schon mehrfach hat Erwähnung gefunden, dass in den Sportstrafverfahren von der Sportgerichtsbarkeit des DFB auch Vorfälle und Vorgänge entschieden werden, die sich bei den von der Liga/DFL veranstalteten Bundesspielen ereignen, bei denen also die Durchführung des Wettbewerbs in der ausschließlichen Kompetenz und Verantwortung der Liga liegt. Nach § 41 der DFB-Spielordnung werden vom Ligaverband als Bundesspiele veranstaltet: die Spiele der Bundesliga und der 2. Bundesliga, die Spiele um den Ligapokal, die Spiele um den Hallenpokal und die Qualifikationsspiele zu diesem sowie andere vom Ligaverband veranstaltete Wettbewerbe. Der Ligaverband ist Mitgliedsverband des DFB und wird eben von 2 x 18 Vereinen und Kapitalgesellschaften der Bundesliga und 2. Bundesliga, dem Profifußball, gebildet. Die wichtigste Aufgabe des Ligaverbandes ist es, die ihm vom DFB zur Nut-
__________ 38 Zu den Beweismitteln vgl. §§ 16 Nr. 6, 22 DFB-Rechts- und Verfahrensordnung. 39 Urteil des DFB-Sportgerichts v. 31.1.1977, Nr. 23 – 76/77 (nicht veröffentlicht). 40 Urteil des DFB-Sportgerichts v. 9.8.1984, Nr. 6 – 84/85 (nicht veröffentlicht).
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zung exklusiv überlassenen Vereinseinrichtungen Bundesliga und 2. Bundesliga zu betreiben und in den Wettbewerben der Lizenzligen den deutschen Fußballmeister und die Teilnehmer an den internationalen Wettbewerben zu ermitteln. Über die statutarischen, mitgliedschaftlichen Rechtsbeziehungen hinaus haben der DFB und der Ligaverband ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten in einem sog. Grundlagenvertrag41 geregelt. Dieser Grundlagenvertrag enthält als eine seiner wesentlichen Bestimmungen gerade auch die genannte pachtweise exklusive Überlassung der Vereinseinrichtung Bundesliga und 2. Bundesliga. Der Ligaverband unterwirft sich in § 3 seiner Satzung ausdrücklich diesem Grundlagenvertrag, der Satzung und den Ordnungen des DFB und erklärt sie für sich und seine Mitglieder als unmittelbar verbindlich. Das eigentliche, operative Geschäft des Ligaverbandes wird von der Deutschen Fußball-Liga (DFL), einer GmbH, deren Alleingesellschafter wiederum der Ligaverband ist, getätigt. Für die Sportrechtsprechung bestimmt § 16a, Abs. 1, Nr. 1. Satz 2 DFBSatzung, dass sich der Ligaverband zur Durchführung der Wettbewerbe der Lizenzligen, vor allem eben der Bundesligaspiele – „der Organe und Einrichtungen des DFB nach dessen Regelungen bedient.“ Damit wird dieser Bereich des operativen Geschäfts des Profifußballs, wie beispielsweise auch das Schiedsrichter- und das Trainerwesen u. a. m., nicht von der DFL selbst, sondern für diese vom DFB wahrgenommen – umgekehrt führt die DFL für den DFB das Zulassungsverfahren für die DFB-Spielklasse Regionalliga durch. Korrespondierend mit dieser DFB-Satzungsbestimmung (§ 16a) enthält § 5 Nr. 2. Satzung des Ligaverbandes die Regelung, dass für die Sportrechtsprechung die Bestimmungen der §§ 38 bis 44 DFB-Satzung und die DFBRechts- und Verfahrensordnung usw. gelten. § 5 Nr. 5. Liga-Satzung ergänzt dies dahin, dass die danach von den zuständigen Organen getroffenen Entscheidungen für die Mitglieder und deren Mitglieder und Spieler verbindlich sind. Die Verbindlichkeit für die Mitglieder gewährleistet § 11 Satzung des Ligaverbandes, der u. a. die Verpflichtung enthält, die Bestimmungen, Entscheidungen und Beschlüsse (der zuständigen Organe) des Ligaverbandes und des DFB zu befolgen. Folgerichtig führt § 2 Rechts- und Verfahrensordnung des DFB u. a. aus, dass für alle Vorkommnisse in den Bundesspielen usw. die Rechtsorgane des DFB nach dessen Rechts- und Verfahrensordnung allein zuständig sind und dass die (Sport-)Rechtsprechung gegen Lizenzspieler in jedem Fall diesen DFB-Rechtsorganen obliegt. Damit ist die Grundlage für die Zulässigkeit und Wirksamkeit der Tätigkeit der Rechtsorgane des DFB im Bereich des Lizenzfußball sichergestellt.
__________ 41 S. Fn. 34.
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III. Die Ausgestaltung der Schiedsgerichtsbarkeit im deutschen Fußball Im nationalen Fußball gibt es derzeit ein wenig übersichtliches, breitgefächertes System von Schiedsgerichten zur Beilegung von möglichen Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Beteiligten anstelle der staatlichen Gerichtsbarkeit. Diese haben damit – wie bereits ausgeführt – von der ihnen durch die allgemeine Rechtsordnung (§§ 1025 ff. ZPO) eingeräumten prozessualen Gestaltungsmöglichkeit in breitem Umfang Gebrauch gemacht und zwar in der Regelform des ständigen Schiedsgerichts und in der Form des ad-hoc-Schiedsgerichts. Diese Schiedsgerichtsbarkeit beruht sowohl zum Teil auf statuarischen Grundnormen, die jedoch durch jeweilige individuelle vertragliche Vereinbarungen ergänzt und präzisiert werden, als auch allein auf Letzteren. Schon an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass – sei es statuarisch, sei es vertraglich geregelt – in allen Fällen die Anrufung des Schiedsgerichts entsprechend der gesicherten Rechtsprechung des BGH42 – abgesehen von Eilanträgen43 – erst nach Ausschöpfung des DFB-verbandsinternen Instanzenzugs unter Vermeidung/Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs (z. B. §§ 14, 17 DFB-Satzung) bzw. bei Vorliegen einer endgültigen Entscheidung eines Organs oder Rechtsorgans des Verbandes (z. B. § 1 Abs. 2 des Schiedsgerichtsvertrages des Ständigen Schiedsgerichts für Vereine und Kapitalgesellschaften der Lizenzligen) erfolgen darf. Es handelt sich um folgende Schiedsgerichte, auf die nachfolgend einzugehen ist: –
Ständiges Schiedsgericht für Vereine und Kapitalgesellschaften der Lizenzligen für Streitigkeiten zwischen dem Ligaverband (Die Liga-FußballVerband e.V.), der DFL (Deutsche Fußball-Liga GmbH) und dem DFB (Deutscher Fußball-Bund) einerseits und den Teilnehmern an der Bundesliga und der 2. Bundesliga andererseits (dazu 1.).
–
Ständiges Schiedsgericht für Lizenzspieler zwischen Ligaverband, DFL und DFB einerseits und den Lizenzspielern andererseits (dazu 2.).
–
Ständiges Schiedsgericht für Trainer zwischen DFB und Fußball-Lehrern und Trainern mit A- und B- Lizenz (dazu 3.).
–
Ständiges Schiedsgericht für Vereine der Regionalliga zwischen DFB einerseits und dem an der Regionalliga teilnehmenden Verein andererseits (dazu 4.).
__________ 42 So schon BGHZ 13, 5. 43 Zu den Besonderheiten des einstweiligen Rechtschutzes im Sport vgl. Schr. des WFV
Nr. 22, 1986.
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Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball
–
Ständiges Schiedsgericht für Vereine der Frauen-Bundesliga und der 2. Frauen-Bundesliga zwischen DFB einerseits und Vereinen der FrauenBundesligen andererseits (dazu 5.).
–
Ad-hoc Schiedsgerichte für die A-Junioren-Bundesliga zwischen dem DFB und Vereinen/Teilnehmern der A- Junioren-Bundesliga (dazu 6.).
–
Ad-hoc-Schiedsgerichte für die Verbände zwischen DFB einerseits und den Mitgliedsverbänden des DFB (Ligaverband, Regionalverbände, Landesverbände) andererseits und zwischen den Mitgliedsverbänden untereinander (dazu 7.).
1. Ständiges Schiedsgericht für Vereine und Kapitalgesellschaften der Lizenzligen Dieses – fälschlicherweise – häufig als „DFB-Schiedsgericht“ bezeichnete Schiedsgericht ist durch die Fußball- und Medienöffentlichkeit in der Vergangenheit und Gegenwart mehrfach wahrgenommen worden, weil es über als spektakulär angesehene Sachverhalte und Streitigkeiten, insbesondere bei der Versagung der Zulassung zu den beiden Lizenzligen zu urteilen hatte44. Es findet seine rechtliche Grundlage, da es sich nicht um eine DFBeigene Spielklasse, sondern – wie ausgeführt – um eine vertraglich vom DFB dem Ligaverband zur Benutzung und Nutzung exklusiv überlassene Spielklasse handelt, in den Statuten des Ligaverbandes und in den darauf beruhenden bereits genannten Schiedsgerichtsverträgen (vgl. §§ 11, 13 Satzung des Ligaverbandes und § 4 Nr. 6 Lizenzordnung des Ligaverbandes). Der Abschluss der einzelnen Schiedsgerichtsvereinbarungen erfolgt jeweils vor Beginn der Spielsaison (1. Juli bis 30. Juni) im Zusammenhang mit der für jedes Spieljahr zu erteilenden Lizenz. Ohne auf nähere Einzelheiten des umfangreichen Lizenzierungsverfahren an dieser Stelle einzugehen45, erscheint es doch zum besseren Verständnis angezeigt, kurz den wesentlichen Verfahrensgang aufzuzeigen. Ligaverband und DFL bewältigen ihre Aufgabe durch ein eigenes Regelwerk. Im Folgenden soll der Einfachheit halber und trotz daraus resultierender Unschärfe zwischen Ligaverband und DFL nicht unterschieden werden. Voraussetzung für die Teilnahme an den Bundesspielen der Liga ist die Erteilung einer Lizenz. Dies geschieht in einem besonderen Verfahren, dem Lizenzierungsverfahren, das zum Ziel hat, dem Bewerber für die Dauer eines Jahres
__________ 44 So etwa aus jüngerer Zeit die Fälle Eintracht Frankfurt und SpVgg. Unterhaching,
vgl. den Schiedsspruch v. 3.7.2002, SpuRt 2002, 213 ff., das Urteil des OLG Stuttgart v. 16.7.2002, SpuRt, 2002, 207 ff. und den Beschluss des OLG Frankfurt v. 17.7.2002, SpuRt 2003, 79 ff. 45 Dazu Chr. Müller, Das Lizenzierungsverfahren für die Bundesliga, BFuPr, 2003, 556 ff.; ders., Wettbewerbsintegrität als Oberziel des Lizenzierungsverfahrens der DFL GmbH, Berlin, 2004.
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die Zulassung für die von der Liga/DFL veranstalteten Wettbewerbe zu erteilen. Mit Lizenzerteilung erfolgt der Abschluss des Lizenzvertrages. Dieser Lizenzvertrag zwischen Liga und Teilnehmer regelt die Zulassung, die Anerkennung und die Unterwerfung unter die gesamten Statuten der Liga und des DFB und die Entscheidungen der Organe dieser Verbände. Gegenstand des Lizenzierungsverfahrens ist die Überprüfung der sportlichen, technischen, organisatorischen und infrastrukturellen Voraussetzungen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Lizenzbewerbers/Teilnehmers; Ziel ist es, die Aufrechterhaltung eines geordneten Spielbetriebs und Wettbewerbs während einer Spielzeit zu garantieren. Zu den für die erstrebte Lizenzierung einzureichenden Unterlagen gehört unter anderem auch die Vorlage des Schiedsgerichtsvertrages, der bereits das Lizenzierungsverfahren als solches einschließt. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, ist im Hinblick auf die in den Satzungen, im Grundlagenvertrag und in weiteren Vereinbarungen zwischen DFB und Liga getroffenen Regelungen nicht nur der Ligaverband und die DFL einzubeziehen, sondern auch der DFB, weil es aus den insoweit gegebenen rechtlichen Verflechtungen auch zu Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Lizenzverein und DFB kommen kann. Dieses Schiedsgericht ist gemäß § 1 des Schiedsgerichtsvertrags zuständig für sämtliche Streitigkeiten, die sich zwischen Liga, DFL und DFB einerseits und dem Lizenzverein andererseits ergeben und die insbesondere betreffen: – – – – – – – – –
die Nutzung und Benutzung der Bundesliga und der 2. Bundesliga und Betätigungen in diesen Ligen die Zulassung/Nichtzulassung zur Bundesliga und zur 2. Bundesliga das Lizenzierungsverfahren den Entzug oder die Begrenzung der Berechtigung zur Benutzung der Bundesliga und der 2. Bundesliga die Verhängung von Sanktionen durch Organe der Liga und des DFB und deren Wirksamkeit die Herabsetzung von Vertragsstrafen die Überprüfung und Ersetzung sonstiger (nach § 315 BGB) vom Ligaverband getroffener Festsetzungen und Bestimmungen die Zuständigkeit des Schiedsgerichts die Wirksamkeit des Schiedsgerichtsvertrags und den Vertrag selbst
Dieses ständige Schiedsgericht entscheidet in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern. Der Vorsitzende und der derzeit nicht benannte ständige Vertreter sind bzw. werden von den Parteien, also den Vereinen und Kapitalgesellschaften einerseits, dem Ligaverband, der Deutschen Fußball-Liga und dem Deutschen Fußball-Bund anderseits, einvernehmlich bestimmt, die Beisitzer sind bzw. werden von der jeweiligen Partei benannt. Die Beisitzer auf Seiten der Vereine und Kapitalgesellschaften, also den ein1218
Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball
zelnen Mitgliedern des Ligaverbandes, werden auf deren Versammlung gewählt. Bei Verhinderung oder Ausscheiden der Schiedsrichter sind Ersatzbestimmungen und -benennungen binnen kurzer Fristen durch die jeweiligen Parteien des konkreten Verfahrens vorgesehen. Diese Bestimmungen gelten nur für das jeweilige Schiedsgerichtsverfahren. Schließlich ist bei Scheitern ersatzweise ein gestuftes Benennungsrecht durch die Präsidenten des Oberlandesgerichts und der Rechtsanwaltskammer vereinbart. 2. Ständiges Schiedsgericht für Lizenzspieler Von geringerer praktischer Bedeutung ist das ständige Schiedsgericht für Lizenzspieler. Dies belegt eine Zahl: Seit 1981 haben nur zwei Lizenzspieler dieses Schiedsgericht nach einer Verurteilung zu einer Sperrstrafe durch die Rechtsorgane des DFB angerufen. Auch der einzelne Spieler, nicht nur der Lizenzverein bedarf zur Mitwirkung in den beiden Bundesligen, so er denn als Lizenzspieler Fußball spielen will, einer Lizenz, die die Liga/DFL erteilt. Entsprechend dem Lizenzierungsverfahren bei Lizenzerteilung gegenüber dem Lizenzverein werden auch in diesem Verfahren auf Lizenzerteilung des Spielers als Voraussetzung seiner Spielberechtigung die in der Lizenzordnung Spieler des Ligaverbandes niedergelegten Essentialia geprüft, wobei sich die Prüfung im Wesentlichen auf formale Kriterien und auf die Einhaltung des Transferreglements bezieht. Dazu gehört auch ein Schiedsgerichtsvertrag zwischen Liga/DFL/DFB und Spieler, der mit den Unterlagen zur Bewerbung um Erteilung der Spielerlizenz einzureichen ist und von der Abgabe der Bewerbung bis zum Ausscheiden als Lizenzspieler wirksam ist, unabhängig von der jeweiligen Mitgliedschaft im Lizenzverein (vgl. § 1 Abs. 4 des Schiedsgerichtsvertrags). Dieses Schiedsgericht ist – im Einzelnen vergleichbar mit der Zuständigkeitsregelung im Schiedsgerichtsvertrag der Lizenzvereine und Kapitalgesellschaften, deshalb hier nur in verkürzter Darstellung – gemäß § 1 des Vertrags für sämtliche Streitigkeiten der Beteiligten, die sich aus der Betätigung des Spielers in den Lizenzligen und aus einer Teilnahme an den Spielen der beiden Bundesligen ergeben, zuständig. Für die Besetzung auch dieses Schiedsgerichts gilt das zum Ständigen Schiedsgericht für Vereine und Kapitalgesellschaften Ausgeführte. Das Benennungs- und Bestimmungsrecht für den am Verfahren beteiligten Spieler wird von der Vereinigung der Vertragsfußballspieler e.V., kurz VdV genannt, einer berufsständischen Vereinigung der Lizenzfußballspieler, ausgeübt. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass mit den Spielern der Lizenzvereine, deren Spielerlaubnis sich nicht auf die Lizenzerteilung gründet, sondern die als Nicht-Amateure ohne Lizenz oder Amateure in den Lizenzligen spielberechtigt sind, keine individuellen Schiedsgerichtsverträge abgeschlossen werden. In diesen Fällen verbleibt es deshalb bei der Möglichkeit, die staatlichen Gerichte anzurufen. 1219
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3. Ständiges Schiedsgericht für Trainer Von noch geringerer praktischer Relevanz ist das ständige Schiedsgericht für Trainer. Es beruht auf einem Schiedsgerichtsvertrag, der zwischen den Beteiligten bei Erteilung der verschiedenen Trainer-Lizenzen durch den DFB und seine Landesverbände in aller Regel abgeschlossen wird. Die Streitigkeiten, die keine arbeitsrechtlichen Inhalte haben, weil Arbeitgeber der Trainer die jeweiligen Vereine sind, betreffen Meinungsverschiedenheiten über die Erteilung, Beschränkung oder Entziehung der Ausbildungserlaubnis sowie über die Zulassung als Fußball-Trainer. Nach Kenntnis des Verfassers gab es in den letzten 25 Jahren kein schiedsgerichtliches Verfahren mit einem Fußball-Lehrer, also dem Fußball-Trainer mit der höchsten Qualifikation. An dieser Stelle mag auf eine Besonderheit hingewiesen werden, die sich nicht auf die möglichen schiedsgerichtlichen Auseinandersetzungen mit Trainern bezieht, sondern auf die angesichts der im Fußballgeschäft, insbesondere im Spitzenfußball bei den bekanntermaßen häufigen Trainerentlassungen, nicht ausbleibenden Streitigkeiten aus den Anstellungsverträgen der Trainer bei den Vereinen. Die zwingende Gesetzeslage (vgl. § 101 ArbGG) weist solche Streitigkeiten den Arbeitsgerichten zu. Sie findet ihren Niederschlag in § 27 Nr. 1 der Ausbildungsordnung des DFB, wonach wiederholt wird, dass für Streitigkeiten eben dieser Art die staatlichen Gerichte zuständig sind. § 27 Nr. 4 DFB-Ausbildungsordnung sieht jedoch (vgl. dazu oben I. a.E.) ein vorgeschaltetes Schlichtungsverfahren mit dem Ziel vor, eine gütliche Beilegung des Streits zu erreichen. Dieses Schlichtungsverfahren hat sich bei solchen Streitigkeiten der Bundesliga- und Regionalliga-Trainer außerordentlich bewährt, haben sich doch in der Vergangenheit die streitenden Parteien fast ausnahmslos unter dem in aller Regel als Schlichter von ihnen berufenen, äußerst erfahrenen und kundigen Chefjustitiar des DFB geeinigt und sich damit die Durchführung arbeitsgerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen Trainer und Lizenzverein erspart. 4. Ständiges Schiedsgericht für Vereine der Regionalliga Von größerer Relevanz ist hingegen wiederum das ständige Schiedsgericht für Vereine der Regionalliga, der höchsten eigenen Spielklasse des DFB (Herren). Ein Beispiel für ein in der Fußballöffentlichkeit beachtetes Verfahren aus jüngerer Zeit bietet der Rechtsstreit des SSV Reutlingen gegen den Deutschen Fußball-Bund um die Zulassung zur Regionalliga46. Rechtliche Grundlagen für dieses ständige Schiedsgericht bilden zum einen statuarische Bestimmungen in § 69 Nr. 1 DFB-Spielordnung und § 16 Regionalligastatut, zum anderen ein zwischen dem Regionalligaverein oder (im Fall der Teilnahme der sog. Amateur- oder 2. Mannschaften) dem Lizenzverein als Teil-
__________ 46 Der Schiedsspruch v. 16.7.2003 ist abgedr. in SpuRt 2003, 255 ff.
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Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball
nehmer an der Regionalliga und dem DFB, der diese Spielklasse als Vereinseinrichtung betreibt, abzuschließender Schiedsgerichtsvertrag. Ähnlich dem Lizenzierungsverfahren für Lizenzvereine müssen sich auch alle Vereine, die an der Regionalliga teilnehmen wollen, also auch die Aufstiegsaspiranten der Oberligen, vor jedem Spieljahr einem Zulassungsverfahren durch den DFB stellen, der bei Vorliegen der Voraussetzungen gegebenenfalls die Zulassung erteilt, die dann im Abschluss eines Zulassungsvertrags ihren Niederschlag findet. Wie beim Lizenzierungsverfahren der Lizenzligen wird in diesem Verfahren als Bewerbungsunterlage in einer getrennten Urkunde auch der Schiedsgerichtsvertrag schriftlich abgeschlossen. Dieses ständige Schiedsgericht ist gemäß § 1 des Schiedsgerichtsvertrags für die Entscheidung sämtlicher Streitigkeiten zwischen DFB und dem an der Regionalliga teilnehmenden Verein zuständig, die der Kasuistik beim Ständigen Schiedsgericht für Lizenzvereine entsprechen. Auch die Besetzung und die Benennung der Schiedsrichter folgt diesen Regelungen. 5. Ständiges Schiedsgericht für Vereine der Frauen-Bundesligen Nach Kenntnis des Verfassers ist dieses Schiedsgericht in der freilich noch jungen Geschichte der Frauen-Bundesliga (Beginn in der Spielzeit: 1997/ 1998) und der 2. Frauen-Bundesliga (Beginn in der Spielzeit: 2004/2005), beides eigene Spielklassen des DFB, bisher nicht tätig geworden. Es hat seine rechtlichen Grundlagen einmal in § 62 Nr. 4 der DFB-Spielordnung und in einem jeweils zwischen DFB und Verein der Frauen-Bundesligen abgeschlossenen Schiedsgerichtsvertrag. Auch für die Teilnahme an den beiden FrauenBundesligen, die nach Prüfung in einem Zulassungsverfahren durch einen Zulassungsbescheid erfolgt, bedarf es der Bewerbung, in der entsprechend den Teilnahmevoraussetzungen verschiedene Unterlagen einzureichen sind, zu denen auch der Schiedsgerichtsvertrag gehört. Der Vertrag entspricht dem Regionalliga-Schiedsgerichtsvertrag mit denselben Regelungen. 6. Schiedsgericht für die A-Junioren-Bundesliga-Vereine Im Unterschied zu den bisher aufgezeigten Schiedsgerichten handelt es sich hier um ein ad-hoc-Schiedsgericht, also nicht um ein Ständiges Schiedsgericht. Auch dieses wurde nach Kenntnis des Verfassers bisher nicht angerufen, ein Faktum, das seine Ursache auch darin haben mag, dass diese oberste Junioren-Spielklasse des DFB erstmalig zu Beginn der Spielsaison 2003/2004 den Spielbetrieb aufnahm. Rechtgrundlage sind §§ 23, 31 DFB-Jugendordnung und ein Schiedsgerichtsvertrag zwischen DFB und teilnehmenden Vereinen. Für den Abschluss des Schiedsgerichtsvertrags im Zulassungsverfahren und für die Zuständigkeit und die Besetzung gilt das zum Schiedsgericht der Frauenligen Ausgeführte, auf das Bezug genommen werden darf.
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Alfred Sengle
7. Schiedsgericht für Verbände Bei diesem ad-hoc-Schiedsgericht zwischen dem DFB einerseits und seinen Mitgliedsverbänden andererseits (Ligaverband, fünf Regionalverbände, 21 Landesverbände) mit ihren seinerseits 36 Lizenzvereinsmitgliedern und ca. 26.000 Fußballvereinen, die als Mitglieder mit ihrerseits ca. 6,2 Millionen Einzelmitgliedern den übrigen Verbänden angehören, müsste es sich um das Schiedsgericht mit der größten Gewichtung handeln. Denn es soll doch im Gesamtverband zwischen den Beteiligten auftretende Streitigkeiten, die bei der unterschiedlichen Interessenlage trotz des gemeinsamen übereinstimmenden vordringlichen Hauptzwecks, nämlich das Fußballspiel zu fördern, unausweichlich sind, verbindlich entscheiden. Gleichwohl tendiert seine praktische Bedeutung gegen null. Nach Kenntnis des Verfassers ist dieses Schiedsgericht bisher nur einmal vor längerer Zeit angerufen worden, in einem Fall, in dem es um die Gebietszugehörigkeit eines Vereins zu den Verbänden ging. Die Ursache für die geringe praktische Bedeutung mag darin begründet sein, dass Meinungsverschiedenheiten intern in den jeweiligen Gremien und Organen, insbesondere dem Bundestag, dem Vorstand und dem Präsidium des DFB ausgetragen und einer Entscheidung zugeführt werden, die dann von den Mitgliedsverbänden akzeptiert, mindestens respektiert wird und dass zusätzlich andere funktionierende Streitbeilegungsmechanismen die Anrufung des Schiedsgerichts nicht notwendig machen. Rechtliche Grundlage für dieses ad-hoc-Schiedsgericht bilden §§ 14 Nr. 5, 17 DFB-Satzung. Zuständig wäre ein solches Schiedsgericht für die in diesen Vorschriften aufgeführten Streitigkeiten aus dem Mitgliedschaftsverhältnis, horizontal und vertikal.
IV. Schlussbemerkung und Ausblick auf die Schiedsgerichtsbarkeit im internationalen Fußball Die dargestellten Verbandsgerichts- und Schiedsgerichtsverfahren im nationalen Fußball, in die die Ergebnisse der Praxis und der Erfahrungen vieler Jahre eingeflossen sind und die den Grundsätzen rechtsstaatlicher Anforderungen ebenso entsprechen müssen, wie denen der spezifischen Gegebenheiten des Sports, aber auch den nicht minder zu beachtenden Notwendigkeiten des kommerziellen Profifußballs mit den sich daraus in mehrfacher Hinsicht ergebenden Problemen, stellen den durch die rechtsstaatlichen Prinzipien vorgegebenen rechtlichen Rahmen dar, innerhalb dessen der DFB als mitgliedsstärkster Sportfachverband der Welt mit seinen Mitgliedern und Organen seinen Verbandszweck zu erfüllen trachtet. Die nationale Schiedsgerichtsbarkeit im Fußball findet ihre Entsprechung auf der Ebene des internationalen Fußballs durch den Court of Arbitration
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Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball
for Sport (CAS)47. Auf dem a.o. Kongress der FIFA am 19.10.2003 in Doha sind die FIFA-Statuten48 in Abschnitt VIII. (Artt. 59 bis 61) dahingehend geändert worden, dass dieses internationale Schiedsgericht des Sports an die Stelle des vorher bestehenden internationalen Fußball-Schiedsgerichts (TAF) trat. Der in Art. 61 FIFA-Statuten enthaltenen Verpflichtung der nationalen Fußballverbände (FIFA-Mitglieder), „das CAS als unabhängige richterliche Instanz anzuerkennen und dafür zu sorgen, dass sich ihre Mitglieder sowie die ihnen angeschlossenen Spieler und Offizielle den Entscheidungen des CAS fügen“, sind sowohl der Ligaverband in seiner Mitgliederversammlung v. 31.7.2004 in Berlin als auch der DFB auf seinem ordentlichen Bundestag v. 22./23.10.2004 in Osnabrück nachgekommen. § 3 Nr. 6. der Satzung des Ligaverbandes lautet: Der Ligaverband und seine Mitglieder erkennen das Internationale Schiedsgericht für Sport TAS/CAS (Tribunal Arbitral du Sport/Court of Arbitration for Sport) mit Sitz in Lausanne als unabhängige schiedsgerichtliche Instanz an. Der Ligaverband und seine Mitglieder verpflichten sich, unter Ausschluss des ordentlichen Rechtsweges sämtliche den Bereich des DFB überschreitende Auseinandersetzungen den zuständigen Instanzen der UEFA und FIFA und dem TAS zu unterbreiten, sofern nicht zwingende gesetzliche Bestimmungen entgegenstehen49. Auf die Art. 59 bis 63 der FIFA-Statuten wird verwiesen.
In der Begründung des entsprechenden Satzungsänderungsantrags wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die auf dem Schiedsgerichtsvertrag basierende nationale Schiedsgerichtsbarkeit durch die vorgenommene Satzungsergänzung nicht berührt wird. § 14, Nr. 1. lit. e u. lit. f der Satzung des DFB lauten: Die Mitgliedsverbände sind verpflichtet, 1. (a-d) e) dafür zu sorgen, dass sie selbst und ihre Mitglieder und deren Einzelmitglieder sowie die Organe und Mitarbeiter der Kapitalgesellschaften den Court of Arbitration of Sport (CAS) mit Sitz in Lausanne (Schweiz) als unabhängige richterliche Instanz in internationalen Streitigkeiten anerkennen und sich den Entscheidungen des CAS
__________ 47 Deutsche Fassung der CAS-Schiedsordnung in Haas/Haug/Reschke, Handbuch des
Sportrechts, 80/00/09. Die Literatur dazu ist vielfältig, s. beispielsweise Netzle, Das Internationale Sport-Schiedsgericht in Lausanne, und Wyler, Die Schiedsabrede im Sportrecht, beide in Röhricht (Hrsg.), Sportgerichtsbarkeit, RuS Nr. 22, 1997, S. 9 ff. und S. 43 ff.; K. Hofmann, Das Internationale Sportschiedsgericht (CAS), SpuRt 2002, 7 ff.; Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit, 2005; D. Reuter, Das selbstgeschaffene Recht des internationalen Sports usw., in Sportrechtsprechung, Schr. des WFV, Nr. 43, 2001, S. 69 ff. 48 In Kraft getreten zum 1.1.2004; ins Internet gestellt unter www.fifa.com oder zu beziehen beim Generalsekretariat der FIFA, Hitzigweg 11, CH 8030 Zürich. 49 Die Formulierung war hinsichtlich des Vorrangs zwingenden nationalen Rechts bereits auf dem a.o. FIFA-Kongress in Buenos Aires (7.7.2001) umstritten; vgl. dazu das offizielle FIFA-Protokoll, S. 13 ff.
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Alfred Sengle unterwerfen, soweit zwingendes nationales oder internationales Recht nicht entgegensteht oder die FIFA-Reglemente Ausnahmen zulassen. f) dafür zu sorgen, dass ihre Mitglieder und deren Einzelmitglieder sowie ihre Organe und Mitarbeiter der Kapitalgesellschaften sämtliche Streitigkeiten, die aus der Mitgliedschaft mit diesem Mitgliedsverband oder mit anderen Vereinen oder Kapitalgesellschaften erwachsen, nicht vor ein ordentliches Gericht bringen, sondern den zuständigen Verbands-Organen des Mitgliedsverbandes, des DFB, der UEFA oder der FIFA zur Entscheidung vorlegen, soweit zwingendes nationales oder internationales Recht nicht entgegensteht oder die FIFA-Reglemente Ausnahmen zulassen.
Dies wird vervollständigt durch den neu eingeführten § 17 a) DFB-Satzung: Court of Arbitration for Sport (CAS) Der DFB anerkennt den Court of Arbitration for Sport (CAS) mit Sitz in Lausanne (Schweiz) als unabhängige richterliche Instanz in internationalen Streitigkeiten und unterwirft sich den Entscheidungen des CAS, soweit zwingendes nationales oder internationales Recht nicht entgegensteht oder die FIFA-Reglemente Ausnahmen zulassen.
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Udo Steiner
Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland Inhaltsübersicht I. Der Staat als „Hauptsponsor“ des Sports 1. Erscheinungsformen der staatlichen Förderung des Spitzensports 2. Sportförderung durch sportfreundliche Gesetzgebung 3. Sport und Justiz II. Zur Philosophie der staatlichen Förderung des Spitzensports III. Zu einem Sonderkapitel im Verhältnis von Staat und Sport: Förderung des bezahlten Spitzensports durch die Gemeinden
1. Die Gemeinden als „vierte Kraft“ der Sportförderung 2. Spitzensportpflege zwischen Sportund Wirtschaftsförderung 3. Gleichwertigkeit von Sport- und Kulturförderung IV. Zukunftsfragen des Verhältnisses von Staat und Sport 1. Der grundgesetzliche Verfassungsrahmen des Sports 2. Die Sicherung der Autonomie des Sports – eine Staatsaufgabe? 3. Staat und Sport – eine res mixta
I. Der Staat als „Hauptsponsor“ des Sports 1. Erscheinungsformen der staatlichen Förderung des Spitzensports a) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Sportstaat. Sie ist es nicht mit der budgetären Energie des Sozialstaats, nicht mit der umfassenden Präsenz des Rechtsstaates und nicht mit der Zudringlichkeit des Steuerstaates. Aber sie ist nicht weniger Sportstaat als sie Kulturstaat ist. Das gilt für Bund, Länder und Gemeinden gleichermaßen. „Hauptsponsor“ des deutschen Spitzensports hat Bundesinnenminister Otto Schily den Bund genannt1. Länder und Gemeinden kommen als öffentliche Sponsoren des Sports hinzu, und die Ausgaben aller ihrer „Hände“ für den Sport werden im 10. Sportbericht der Bundesregierung 2002 für das Jahr 2000 mit 12 Mrd. DM beziffert2. Viele
__________ S. Jahrbuch des Sports 2004/2005; zit. nach DSB Presse Nr. 32 – 34 v. 3.8.2004, Dokumentation VI. Die Sponsoringaktivitäten der Unternehmen in Deutschland zugunsten des Sports werden auf eine Milliarde Euro geschätzt. S. DSB Presse Nr. 42 v. 14.10.1997, S. 3. 2 S. 10. Sportbericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/9517 v. 20.6.2002 und dazu Empfehlung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages v. 7.5.2003, BTDrucks. 15/952. Umfangreiches Datenmaterial in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU im Deutschen Bundestag BTDrucks. 14/8865 v. 24.4.2002. Speziell zur Situation des Sports in Ostdeutschland nach der Deutschen Einheit BT-Drucks. 14/1950 v. 9.9.2002, S. 93 f.; BT-Drucks. 1
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Udo Steiner
Facetten hat das Thema „Staat und Sport“. Im Folgenden gilt das Interesse vor allem dem Verhältnis von Staat und Spitzensport, dem meist beruflich oder berufsähnlich ausgeübten Sport, und nicht dem Leistungssport allgemein, und auch eher am Rande dem Schul-, Freizeit-, Breiten-, Behindertenund Gesundheitssport. b) Bund, Länder und Gemeinden sind Träger und Financiers von Sportstätten für den Spitzensport. Für den Bau und die Modernisierung der Fußballstadien der Fußballweltmeisterschaft 2006 stellt allein der Bund fast 500 Mio. Euro zur Verfügung. Hinzu kommen milliardenschwere Maßnahmen der öffentlichen Infrastruktur, insbesondere für den Verkehrswegebau und den Öffentlichen Personennahverkehr3. Zwischen 150 und 200 Mio. Euro gibt das Bundesinnenministerium nach eigenen Angaben für Training und Teilnahme von Spitzensportlern an Wettbewerben in solchen Sportarten jährlich aus, die sich nicht selbst über den „Markt“ ganz oder überwiegend finanzieren4. Das ist ungefähr ein Zehntel der Ausgaben für die staatliche Ausbildungsförderung nach BAföG und 10-mal so viel wie für das Bundesverfassungsgericht. In beiden Richtungen – könnte man sagen – stimmen die Relationen. 14 Bundesministerien und oberste Bundesbehörden befassen sich mit Angelegenheiten des Sports, bei einem Ausgabenvolumen von 330 Mio. Euro5. Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Zoll bieten Athleten bei sozialer Absicherung Trainingsmöglichkeiten wie im Berufssport6. Medaillenspiegel der Deutschen, bei den Olympischen Spielen beispielsweise, sind folgerichtig weithin eine Leistungsschau des öffentlichen Dienstes. In Salt Lake City 2002 stellte die Bundeswehr7 44% der deutschen Teilnehmer. Diese 44% gewannen 71% der Medaillen, 25 von 358. Verteidigungsminister Struck ist Dienstherr von 704 Athleten, darunter 150 weiblichen Sportsoldaten9. Auch zeitaufwendige Spitzenämter im Sportverbandswesen sind mit öffentlich-
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15/1550 v. 17.9.2003, S. 87 f. und zur Sportförderung des Bundes im Ausland BTDrucks. 15/2575 v. 2.3.2004. Vgl. ferner umfassend Nolte, Staatliche Verantwortung im Sport, 2004, sowie zu den Fakten und zur Praxis auch Hockenjös, Öffentliche Sportförderung in der Bundesrepublik, 1995. S. auch Fn. 30. S. Fn. 2. S. zu diesen und anderen Fakten und Zahlen DSB Presse Nr. 40/41 v. 1.10.2002, S. 4 und Nr. 13 v. 23.3.2004, S. 5. Zum Zoll-Ski-Team 2003/2004 gehörten u. a. Maria Riesch und Monika BergmannSchmuderer. S. Näheres in der Broschüre Zoll-Ski-Team Saison 2003/2004, hrsg. v. d. Oberfinanzdirektion Nürnberg, 2004. Auch der Bundesgrenzschutz ist beteiligt. Die sonst so bildscheue FAZ bietet am 17.4.2002 (Nr. 89, S. 44) ein hübsches Foto: Bundesinnenminister Otto Schily küsst seine erfolgreichste Grenzschützerin Claudia Pechstein auf die Wangen. In Sydney gewannen Bundeswehr-Sportler 70% der deutschen Medaillen (SZ Nr. 193 v. 21./22.8.2004, S. 17). Ganze 0,5 Promille des Verteidigungshaushaltes machen die Aufwendungen der Bundeswehr für den Spitzensport aus (vgl. FAZ Nr. 11 v. 14.1.2004, S. 29). Gleichwohl sollen sie gekürzt werden. S. FAZ Nr. 204 v. 2.9.2004, S. 31.
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rechtlichen Dienst- und Treueverhältnissen kompatibler als mit Arbeitsverträgen10. Einbürgerung von Spitzensportlern ist Einbürgerung mit politischem Rückenwind, eine der wenigen fast bürokratiefreien Zonen in Deutschland11. Das ist die Antwort eines Landes ohne koloniale Substanz auf germanische Leistungslücken. c) Staat und Spitzensport weisen – oft verdeckt – originelle Symbiosen auf. Nur ein Beispiel: Ein Bundesland, offenbar teilidentisch mit einem prominenten, aber immer wieder Not leidenden Verein des deutschen Fußballsüdwestens entsendet einen Regierungsdirektor aus der Staatskanzlei zur Mitwirkung im Vereinsvorstand. Für diese Tätigkeit wird er zum Ministerialrat befördert12, wahrscheinlich konsequent, handelt es sich doch bei der Wahrnehmung der Vorstandsaufgaben aus der Sicht der Beteiligten um eine Art außerdienstliches öffentliches Amt. Ohne aufwendigen Polizeieinsatz – ein anderes Beispiel effektiver staatlicher Sportförderung – sind viele Sportveranstaltungen in Deutschland nicht mehr durchzuführen13, in anderen Ländern übrigens auch nicht: Für 20 Spieltage der ersten Fußballliga Italiens („Seria A“), inzwischen wohl dem härtesten Fußball-„Tatort“ Europas, hat der italienische Staat in einem Jahr 32 Mio. Euro zur Finanzierung der Ordnungs- und Sicherheitskräfte ausgegeben14. Die staatliche Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit bei großen Sportereignissen macht es möglich, dass in Deutschland sogar Fußballländerspiele gegen England noch ausgetragen werden können. Die Einwerbung der Ausrichtung internationaler Großsportereignisse ist ohne ein Bündnis von Sport und Staat nicht vorstellbar15. d) Es gehört zu den interessanten verfassungsrechtlichen Asymmetrien, dass allen diesen und zahlreichen anderen eindrucksvollen staatlichen Leistungen auf der Seite des Sports praktisch keine Rechtsansprüche und schon gar nicht ein verfassungsrechtlicher Anspruch entspricht16. Daran hat sich auch
__________ 10 Dabei machen die deutschen Dienstherrn aber Unterschiede. Der Autorennsport
scheint weniger in ihrer Gunst zu sein. S. „Spiegel“ v. 20.10.2003, S. 43. 11 S. z. B. im Eiskunstlauf SZ Nr. 29 v. 5.2.2004, S. 28; zum Schach SZ Nr. 297 v.
27./28.12.2003, S. 36. 12 S. FAZ Nr. 37 v. 13.2.2003, S. 32. 13 S. dazu die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU im Deutschen Bundestag
„Voraussetzungen für eine friedliche Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland“, BT-Drucks. 15/3519 v. 29.6.2004. Extreme, bisher nicht bekannte Kosten hat das Sicherheitskonzept der Olympischen Spiele 2004 in Athen ausgelöst. 14 SZ Nr. 45 v. 24.2.2003, S. 31. 15 S. auch Daumann/Langer, Zur staatlichen Förderung von Sport-Großveranstaltungen, in Ordo, Bd. 53, 2002, S. 279. Zu einem konkreten Beispiel FAZ Nr. 277 v. 28.11.2003, S. 30 (Weltreiterspiele in Aachen). 16 S. zusammenfassend Tettinger, Sport als Verfassungsthema, in Tettinger (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, 2001, S. 9; ders., Sport als Verfassungsgut, in Württ. Fußballverband (Hrsg.), Ballspiel-Symposium, Karlsruhe 2002, 2003, S. 171 ff.; ders., 10 Jahre Sport in der Verfassung des Landes NRW, SpuRt 2003, 45.
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durch die Aufnahme von Sportförderklauseln in die Landesverfassungen nichts geändert. Diese Vorschriften17, die Länder und Gemeinden zur Förderung, zum Schutz und zur Pflege des Sports verpflichten, stehen in dem dringenden Verdacht, symbolische Normen zu sein. Sie werten den Sport protokollarisch auf, stellen ihn mit Kunst und Kultur gleich, betonen die vorrangige Verantwortung der Länder und Kommunen für den Sport, geben gewiss eine Statushilfe, sind aber normativ eher schwach18, sicher nicht wirkungslos19, aber doch auch nicht wirklich effizient, vorzuschlagen für den Oskar für die beste Nebenrolle im Landesverfassungsrecht. Die Wirkungsschwäche der Sportförderungsklausel zeigt sich gerade in diesen Tagen wieder sehr deutlich bei einem zentralen Problemstück des Sports in Deutschland. Es gibt keine wirklichen verfassungsrechtlichen Gegenmittel dort, wo sich die öffentliche Hand aus der Verantwortung für den Schul-, Jugend- und Kindersport zurückzieht20. Zwar mögen die Sportförderungsklauseln in den Landesverfassungen Staat und Gemeinden der Tendenz nach zu haushaltswirtschaftlicher Offensive im Sportbereich verpflichten. Aber diese Offensive bleibt im Kern – in der Sprache des Fußballs – eine politisch kontrollierte Offensive. Sie bleibt es auch, soweit man den Gesichtspunkt der staatlichen Schutzpflicht für die Gesundheit seiner Bürger in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ins Feld führt. Zu weit ist das Ermessen des Staates bei der Erfüllung dieser Pflicht. Auch das Sozialstaatsprinzip zielt nicht auf die Bekämpfung von Bewegungsarmut. Das Grundgesetz kennt bekanntlich kein spezielles Grundrecht von Kindern und Jugendlichen auf Entwicklungsperspektiven, kein verfassungsmäßiges Recht auf staatliche Vorsorge für eine kindgemäße sportliche Bewegung. Bei der Formulierung der Erziehungsziele in den Länderverfassungen spielen die körperlichen Belange der Schüler keine hervorgehobene Rolle. Einseitig intellektuell ist die Ausrichtung unserer Curricularchitekten. Beklagt wird auch, dass Schul- und Hochschulsport heute wenig zur Talentfindung und Talentförderung im Spitzensport – anders als etwa in den USA, Russland oder China – beitragen21.
__________ 17 S. die Nachweise bei Neumann, Sport auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen,
2002, S. 70. 18 Ein Beispiel: BGH, SpuRt 1999, 64. Immerhin spricht Peter Lerche davon, dass all-
gemeine Staatszielbestimmungen „eine verändernde Atmosphäre“ schaffen können (Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in Festgabe Theodor Maunz, 1971, S. 285 [291]). Man sollte ihren Wert nicht allein daran messen, wie schnell sie konkret in der Staatspraxis umgesetzt werden. 19 Zur normativen Tragweite s. z. B. Unger/Wellige, Sport und Verfassung, NdsVBl. 2004, 1 ff.; Hebeler, Das Staatsziel Sport – Verfehlte Verfassunggebung?, SpuRt 2003, 221. 20 S. dazu U. Steiner, Verfassungsrechtliche Probleme des Kindersports, in Württ. Fußballverband (Hrsg.), Kindersport, Schriftenreihe Nr. 41, 2000, S. 30 = Tettinger/ Vieweg (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Sportrechts – Ausgewählte Schriften von Udo Steiner, 2004, S. 160. 21 S. Digel in DSB Presse Nr. 49 v. 3.12.2002, S. 5.
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2. Sportförderung durch sportfreundliche Gesetzgebung Zentrale Bedeutung für die Situation des Sports in einem Land kommt der Sportfreundlichkeit der Rechtsordnung zu22. Arbeitserlaubnis mit Aufenthaltsrecht wird beispielsweise Sportlern aus Nicht-EU-Ländern unter Berücksichtigung der Belange des Sports zugestanden; solche Belange können andererseits, wie bekannt, auch in eine gegensätzliche Richtung weisen und zur Verbesserung der Nachwuchsförderung eine restriktive Praxis der Arbeitserlaubnis begründen. Das Bau-, Planungs- und Umweltrecht hat sich schon längere Zeit verstärkt den Interessen des Sports zugewandt. Auch das Steuerrecht ist mit seinen Vorschriften über die Gemeinnützigkeit dem Sport gewogen, steuersystematisch nach Meinung mancher Experten falsch, politisch aber erfolgreich durchgesetzt23. Größere internationale Sportereignisse in Deutschland, wie Olympische Spiele beispielsweise oder die Fußballweltmeisterschaft 2006, können – wie schon erwähnt – von den Deutschen als angeblichen Organisationsweltmeistern ohne politische Unterstützung und staatliche Garantien nicht eingeworben werden. Wenn es Bedingung des ausschreibenden internationalen Sportverbands ist, bei der Durchführung der Veranstaltung in Deutschland Steuerverschonung bei den Ertragssteuern zu erhalten, verspricht der Staat jedenfalls bei den Massensportarten – politisch sehr umstritten –, seine Gesetzgebung darauf einzustellen24. Deutschland stellte zur Unterstützung der Leipziger Olympiabewerbung das Olympische Emblem und die olympischen Bezeichnungen unter gesetzlichen Schutz25. Auf der anderen Seite könnten Straßenverkehrsrecht und Straßenrecht dem Sport freundlicher gesonnen sein und allgemeine Verkehrsflächen großzügiger als bisher für die Sportausübung zur Verfügung stellen. Der Sport hat seine großen politischen Koalitionen. Sie helfen beispielsweise dem Fußballsport, wenn dessen Verbände und wenn deren Statuten und Verträge vom Kartellrecht bedrängt werden. § 31 GWB ist bekanntlich ein Kind dieser großen strategischen Liebe. Er war die Reaktion auf die Niederlage des Deutschen Fußballbundes im Verfahren vor dem Kartellsenat des Bundesgerichtshofs im Jahre 199726.
__________ 22 S. auch Thom, Sportförderung und Sportförderungsrecht als Staatsaufgabe, 1992. 23 S. in diesem Zusammenhang Jachmann in Igl (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedin-
gungen bürgerschaftlichen Engagements, 2002, S. 111. 24 S. zu solchen und anderen rechtlichen Zugeständnissen (etwa: zollrechtliche Im-
munität von Funktionären) DSB Presse Nr. 28 v. 6.7.2004, S. 11 und BT-Drucks. 15/1425 v. 15.7.2003. S. auch Klimmer, Besteuerung international tätiger Sportler in der Bundesrepublik Deutschland, 2003. 25 S. zur Diskussion des Themas SZ Nr. 90 v. 17./18.4.2003, S. 35; BT-Drucks. 15/1669 v. 9.10.2003. 26 S. statt vieler Heermann, Professionelle Sportligen auf der Flucht vor dem Kartellrecht, RabelsZ Bd. 67 (2003), 106.
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3. Sport und Justiz Im Verhältnis von Staat und Sport findet das Aufeinandertreffen von Sport und Justiz, dem das rechtswissenschaftliche Interesse des Jubilars gilt27, eher auf einem Nebenplatz statt, ist keine Begegnung für den Center Court. Einige Bemerkungen dazu seien gleichwohl erlaubt. Die staatliche Justiz hält sich aus wohl überlegten Gründen regelmäßig aus dem Körperverletzungsgeschehen der Kampfsportarten an den Wochenenden heraus. Sie wird für diese „sportfreundliche“ Zurückhaltung aber dadurch „entschädigt“, dass sich die Staatsanwaltschaften – offenbar in jüngerer Zeit eher zunehmend – mit Betrugs-, Untreue- und Insolvenzdelikten bei Vereinen mit Mannschaften in Profiligen beschäftigen dürfen. Ganz neu ist diese Rolle für die Justiz nicht. Sie hatte schon in den 70er Jahren bei der Aufarbeitung des Bestechungsskandals in der Fußballbundesliga Gelegenheit zum strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen „Üben“28. Für das Sportgeschehen selbst ist sehr viel bedeutsamer, dass sich die am Sport Beteiligten – Athleten, Vereine und Verbände, Sponsoren, Vermarkter, Manager und Spielervermittler – nicht in einem justizfreien Raum bewegen. Der Rechtsschutzauftrag des Grundgesetzes und die Vorstellung von der Ausstrahlung der Grundrechte auch in den privatrechtlich organisierten Sport hinein gaben und geben der Justiz schon seit langem an die Hand, was sie braucht, um auch den Raum des Sports zu betreten und ihn mit rechtlichen Vorstellungen zu besetzen. Das ist hier nicht noch einmal auszuführen29. Sport und Justiz haben aufs Ganze gesehen einen modus vivendi gefunden. Gleichwohl ist von immer neuer Brisanz, wenn Eilrechtsschutz in Sportrechtsverfahren vor den ordentlichen Gerichten begehrt wird, etwa wenn es um die Startrechte von Athleten oder die Zulassung von Vereinen oder Mannschaften an Wettbewerben geht. Schadensersatzprozesse haben die Justiz beschäftigt, vor allem im Zusammenhang mit angeblich unzulässigen Dopingsperren. Auch dies ist hier nur nachrichtlich zu vermerken.
II. Zur Philosophie der staatlichen Förderung des Spitzensports 1. Die politische, ideelle, organisatorische und fiskalische Energie, die der Staat dem Spitzensport in Deutschland zuwendet, ist kein grundsätzliches
__________ 27 S. z. B. neben den Arbeiten über „Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfah-
ren nach deutschem Recht“ in Sportgerichtsbarkeit (1997) und „Probleme des Beweisrechts im Sport“ (2001) die gedanken- und faktenreiche Besprechung der Arbeit von Grunewald (Der Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, 1987) durch Volker Röhricht (AöR 189 [1989], 386). 28 Dazu O. Beck, Wir haben den Sumpf trockengelegt, in 100 Jahre DFB, 2. Aufl. 1999, S. 433. 29 S. hier und zum Folgenden U. Steiner, Die Autonomie des Sports, 2003, S. 9 ff. = Gegenwartsfragen des Sportrechts (Fn. 20), S. 222 (227).
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Thema der öffentlichen Diskussion. Kritik entzündet sich eher an einzelnen staatlichen Förderaktivitäten. Das gilt beispielsweise in Bezug auf die staatlichen Infrastrukturaktivitäten für die WM 200630. Man darf vermuten, dass der beachtliche öffentliche Gesamtaufwand für den Spitzensport nicht erbracht würde, ginge es allein um eine Begabungs- und Talententfaltung. Es geht aber durchaus auch darum – und insoweit kann man ehrlich argumentieren, weil die Erfahrung und die tägliche Beobachtung dafür sprechen –, dass der Freizeit-, Breiten- und Gesundheitssport von den Erfolgen der die einzelne Sportart repräsentierenden Spitzenathleten Nutzen zieht. Transferwirkung nennen die Fachleute diesen Motivationszusammenhang, und man kann ihn am Auf und Ab der Breitenattraktivität einzelner Sportarten in den letzten Jahrzehnten nachvollziehen, am Tennis beispielsweise. Auch der Schulsport braucht nicht nur geräumige Stundentableaus, zeitgemäße Sportstätten und motivierte Lehrer. Er braucht auch sportliche Vorbilder, die vorrangig im medienvermittelten Spitzensport zu finden sind31, mag auch der Behindertenleistungssport die bewegenderen Signale aussenden. 2. Zum Kern der Philosophie der staatlichen Sportförderung in Deutschland stößt man vor, wenn zwei Erwägungen in den Vordergrund gerückt werden: Die Bundesrepublik – als Gesamtstaat und als Gesamtheit der Länder – ist von der Vorstellung bestimmt, dass die Leistungsfähigkeit unseres Landes unteilbar ist, sich ausdrückt vor allem in wirtschaftlichen, sozialstaatlichen, kulturellen, ingenieurtechnischen und wissenschaftlichen Leistungen, aber auch in den Leistungen des nationalen Sports32. Man sollte hier nicht von der Sportmacht Deutschland sprechen, weil es nicht um Macht geht, sondern um Ansehen33. Dieses Ansehen aber ist dem Staat wichtig, und er rechnet es sich in durchaus direkter Weise im internationalen Zusammenhang selbst zu. Hinzu kommt auch aus deutscher Sicht: Die deutschen Sportler treten bei internationalen Wettbewerben unter den Symbolen der deutschen Staat-
__________ 30 S. z. B. SZ Nr. 273 v. 27.11.2003, S. 17 und speziell zur Verkehrsinfrastruktur BT-
Drucks. 15/2522 v. 14.2.2004 und BT-Drucks. 15/2644 v. 9.3.2004. 31 Damit ist keineswegs eine unkritische Bewertung des Spitzensports verbunden.
Vgl. zu den problematischen Seiten Franck, Sportethische Kasuistik, in Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 4, 1999, S. 520 ff. 32 Zum Spitzensport als Repräsentationsmodell für eine funktionierende Leistungsgesellschaft „made in Germany“ s. Hecker/Reinsch, FAZ Nr. 61 v. 12.3.2004, S. 34; als „Spiegelbild“ der Gesellschaft L.Schulze, SZ Nr. 131 v. 9./10.6.2004, S. 37. Gegenwärtig intensiv diskutiert die zeitgeschichtliche Bedeutung des sog. Wunders von Bern. S. dazu statt vieler Seitz, Was symbolisiert das „Wunder von Bern“, in Das Parlament B 26/2004, 3 und A. Heinrich, Drei zu Zwei, in Blätter für deutsche und internationale Politik, 2004, S. 869; Gertz, Als die Wahrheit noch auf dem Platz lag, SZ Nr. 238 v. 16.10.2003, S. 15 und Kilz, 4. Juli 1954, SZ Nr. 151 v. 3./4.7.2004, S. 4. 33 Pointiert Hans-Olaf Henkel zur Beteiligung einer deutschen Yacht beim America’s Cup: „Unser Land hat die einmalige Gelegenheit, seine Kompetenz zu beweisen“. – Kritisch zur Zukunft des Sportlandes Deutschland: Bundesverband deutscher Banken (Hrsg.), Interesse Heft 4, 2001, S. 7 f.
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lichkeit an (übrigens nicht der DFB; dessen Adler älter ist als der Bundesadler). Erfolgreiche Sportfeste, vor allem solche mit Erfolgen von Nationalmannschaften, sind Staatsfeste, die die Deutschen auch emotional ansprechen und deren Selbstwertgefühl stärken34. Die Scheu der Deutschen gegenüber der Nutzung staatlicher Symbole entfällt, wenn sie im Zusammenhang mit dem Sport zur Geltung kommen. Man könnte hier vom Sportpatriotismus der Deutschen sprechen, im Ergebnis ähnlich wie in den USA35. Akademischer ausgedrückt: Wir haben – sieht man von den Aktivitäten des Sozialstaats36 und der Amtsführung durch den Bundespräsidenten ab – kein wirklich wirksameres Mittel der Staatsintegration als den international ausgeübten und international wahrgenommenen Spitzensport37. Die Selbstdarstellung der Bundesrepublik in der globalen Spitzensportkonkurrenz gibt der Gesellschaft Gelegenheit zur Identitätsfindung, zur staatlichen Gemeinschaft zu werden. Erfolgreicher Spitzensport ist positive Staatserfahrung, ist Staatspflege38, auch wenn das Staatsvolk nicht identisch ist mit dem Sportvolk und auch nicht mit dem Fußballvolk39. Regierungen erwarten sich weltweit von Sporterfolgen Motivationsschübe für ihre Völker in krisenhaften Zeiten, Antidepressiva bei Antriebsschwäche40. Gleichwohl bleibt die deutsche Sportberichterstattung – und dies ist hier auch hervorzuheben – angenehm pathosfrei und fair gegenüber den Athleten anderer Länder, vorbildlich könnte man eigentlich sagen41. Europäisch gewendet sind freilich noch zwei Bemerkungen angezeigt: Wahrscheinlich wäre die europäische Einigung schon weiter, würden sich die europäischen
__________ 34 Zum Problem der Deutschen mit den Gedenktagen s. die feine Studie von Ramm,
Der Jurist und das kollektive Erinnern, JZ 2004, 689. 35 S. Krüdewagen, Die Selbstdarstellung des Staates, 2002, S. 177 ff. 36 Zur Integrationskraft des Sozialstaats s. U. Steiner, Sozialer Konflikt und sozialer
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Ausgleich – zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit, in Horn (Hrsg.), Recht im Pluralismus, FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 335 (351). Grundlegend nach wie vor Winkler in Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977, S. 109 ff. S. zur integrativen Kraft von Nationalmannschaften Berthold, Fußball global, in FAZ Nr. 146 v. 26.6.2004, S. 11. Außenminister Fischer formuliert, der Fußball sei „der wichtigste nicht politische Bereich, der politisch wahrgenommen wird“ (FAZ Nr. 211 v. 10.9.2004, S. 34). – International wird der Zusammenhang von Sport und Identitätsstiftung ähnlich gesehen, von IOC-Präsident Jacques Rogge beispielsweise, in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung (vgl. FAZ Nr. 137 v. 16.6.2003, S. 31): „Von Goethe über Gutenberg bis Oliver Kahn – es gibt viel, worauf Deutschland stolz sein kann“. Schon etwas anspruchsvoller formuliert hier Sir Peter Ustinov über Boris Becker: „Er hat den Deutschen neuen Patriotismus geschenkt. Deswegen verziehen sie ihm fast alles“. Bei der Vorstellung der neuen Mitglieder der Europäischen Union 2004 in der FAZ („Willkommen im Club“) wird bei den wichtigsten Landesdaten auch der Platz in der Fußballweltrangliste vermerkt. S. z. B. für Ungarn FAZ Nr. 288 v. 11.12.2003, Seite R 1. S. dazu Gertz, Das letzte Leuchten, SZ Nr. 228 v. 4./5.10.2003, S. I. Freilich gibt es auch darüber Diskussionen. S. FAZ Nr. 208 v. 28.8.2004, S. 41.
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Völker als Fußballvölker nicht immer wieder über Europameisterschaften trennen. Zum Europabewusstsein trägt der Sport jedenfalls noch zu wenig bei. Seine Wettbewerbe machen die nationalstaatlichen Grundlagen der Europäischen Union eher sichtbar als dass sie sie überlagern; sie haben eher völkertrennende als völkerverbindende Tendenz. Europäische Mannschaften beispielsweise könnten – über den wohl weniger beachteten Golfwettbewerb „Ryder Cup“ hinaus – in der sportlichen Auseinandersetzung mit anderen Erdteilen zur europäischen Bewusstseinsbildung beitragen42.
III. Zu einem Sonderkapitel im Verhältnis von Staat und Sport: Förderung des bezahlten Spitzensports durch die Gemeinden 1. Die Gemeinden als „vierte Kraft“ der Sportförderung Staat, Wirtschaft und Medien sind die wichtigsten Geldgeber des bezahlten Sports. Es gibt aber noch eine vierte Kraft. Es sind die Gemeinden43, die (auch) den Berufssport innerhalb ihrer Gemarkung fördern44. Zunächst: Diese Förderung findet in Deutschland statt, offen, aber nicht besonders öffentlich, nicht selten aber auch verdeckt, vor allem in Gestalt der Realförderung: Stadien in städtischer Hand werden zu günstigen Konditionen Vereinen überlassen, einschließlich der Einnahmen aus der Bandenwerbung45. Spitzensportler werden im kommunalen Dienst auf der Grundlage sog. Phantomstellen beschäftigt. Sind Eishockeyspieler Mitarbeiter in kommunalen Sportämtern, was in Bayern in früheren Zeiten der Fall war, so wäre hier im ursprünglichen Sinne von „gleitender Arbeitszeit“ zu sprechen46. Zur Realförderung gehört auch der kommunale Erwerb von Vereinseinrichtungen und Vereinsimmobilien zu marktfernen Preisen. Kartenkontingente werden Vereinen mit professionellem Sportangebot zur kostenfreien Weitergabe an die Jugend abgekauft, um diesen so Geld zuzuführen. Man umgeht auf diese Weise und auf anderen Wegen das haushaltsrechtliche Veto, das von der
__________ 42 Zum Thema „Fußball und Europa“ s. Schümer, Europa ist rund. Wie der Fußball
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schafft, was der Politik nicht gelingt, FAZ Nr. 26 v. 27.6.2004, S. 21. Zur europäischen Betrachtung des Medaillenspiegels s. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 36 v. 5.9.2004, S. 18. S. allgemein Tettinger, Sport und Kommunen in Deutschland, BayVBl. 2004, 125. S. dazu U. Steiner, Kommunen und Leistungssport, in Deutsche Verwaltungspraxis 1987, 171 = Gegenwartsfragen des Sportrechts (Fn. 20), S. 43. Zur Förderung des Berufssports durch die Gemeinden mit umfangreichem Material Brych, Möglichkeiten und Grenzen der gemeindlichen Förderung des Berufssports aus rechtlicher Sicht, Diss. Regensburg 2004, dort insbesondere zum sog. StadionKomplex eingehend S. 12 ff. Solche Wege der Förderung („Phantomstellen“) sind heute freilich mit einem strafrechtlichen Risiko verbunden. S. zu Ermittlungen der Erfurter Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Anstellung von Gunda Niemann-Stirnemann als Bibliotheksmitarbeiterin des thüringischen Innenministeriums FAZ Nr. 12 v. 15.1.2004, S. 31.
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Kommunalaufsicht droht, wenn es um die Übernahme von Ausfallbürgschaften zugunsten von Gemeinden geht47. Besonders originell betätigte sich die Stadt Karlsruhe, um „ihrem“ KSC zur Lizenz zu verhelfen: Sie erwarb für 1 Mio. Euro Stadioninfrastruktur im eigentlich städtischen Stadion, die der Verein in guten Zeiten auf eigene Rechnung eingebaut hatte – VIP-Logen, den Lift zwischen Spielertrakt und Ehrengastbereich und anderes. 2. Spitzensportpflege zwischen Sport- und Wirtschaftsförderung Hier sind nicht die kommunalrechtlichen Einzelheiten gemeindlicher Förderungsaktivitäten auszuloten. Einige grundsätzliche Bemerkungen seien aber erlaubt: Der Staat selbst, obgleich selbst wenig haushälterisches Vorbild, behält sich gerne das Recht zur direkten konkreten Förderung des Berufssports vor48. Dieser bietet seinen Repräsentanten eine wichtige politische Bühne. So hat das Land Nordrhein-Westfalen beispielsweise Schalke 04 für den Bau der Arena eine Ausfallbürgschaft in einer dreistelligen Millionenhöhe gewährt. Bei den Gemeinden sollen solche und ähnliche Sachverhalte der Förderung des gewerblichen Sports dagegen außerhalb ihres Aufgabenkreises stehen. Die Gegenthese sei gewagt: Wenn die Gemeinden berufsmäßigen Sport mit finanziellen und organisatorischen Mitteln oder auf sonstige Weise fördern, so bewegen sie sich im Bereich der grundgesetzlich und landesverfassungsrechtlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung. Sie können dies tun als Bestandteil ihrer Sport- und Freizeitpolitik. Sie müssen diese Form der Sportpflege nicht im Gewande der Wirtschaftsförderung „verstecken“49. Staatliche Einschränkungen einer solchen Förderung, durch Gesetz oder durch Maßnahmen auf gesetzlicher Grundlage, haben sich vor dieser Garantie zu rechtfertigen. Kommunalrechtlich gewendet: Kreditähnliche Verpflichtungen und Sicherheiten für den Berufssport sind Aktivitäten zur Erfüllung gemeindlicher Aufgaben (vgl. Art. 72 BayGO)50. Es gilt jedoch auch hinzuzufügen: In der gegenwärtigen krisenhaften Situation der gemeindlichen Finanzen handelt es sich hier eher um eine theoretische Aussage; die Bevölkerung akzeptiert steuerfinanzierte Leistungen für den Berufssport zu Lasten der kommunalen Daseinsvorsorge nicht. Unrichtig wird der Grundsatz dadurch aber nicht.
__________ 47 Brych (Fn. 45), S. 26. S. auch Schünemann/Theisen, Der praktische Fall: Selbstver-
waltungsgarantie und Kommunalaufsicht, in Verwaltungsrundschau 1979, 244. 48 Brych (Fn. 45), S. 15 f. i. V. m. Fn. 51. 49 Gleichwohl gehen heute die Gemeinden (aber auch der Staat) den Weg des gerings-
ten politischen und rechtlichen Widerstandes und begründen ihre Leistungen an den Berufssport mit Gesichtspunkten der Wirtschaftsförderung („Förderung der mittelständischen Wirtschaft“). 50 Dazu im Einzelnen Brych (Fn. 45), S. 96 ff., auch mit Nachweisen zu der insoweit sehr unterschiedlichen kommunalaufsichtlichen Rechtsauffassung der Länder.
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3. Gleichwertigkeit von Sport- und Kulturförderung Kommunalrechtlich gibt es grundsätzlich keinen wirklich überzeugenden Unterschied zwischen der kommunalen Förderung des professionell organisierten Kunst- und Kulturbetriebs und dem Berufssport. Ein Ranking sieht hier auch das Grundgesetz nicht vor, obgleich es die Freiheit der Kunst schützt und den Sport als Gegenstand öffentlicher Zuwendung nicht kennt. Spätestens die Sportförderklauseln der Landesverfassungen haben für den Verfassungsraum der Länder ein konstitutionelles Gleichgewicht des kulturellen und des sportlichen Aufgabenfeldes hergestellt. Wege zur sportlichen Eigenprofilierung zu finden und zu gehen, gehört zum Recht der Gemeinden auf Eigenentfaltung, das im verfassungsmäßigen Recht auf kommunale Selbstverwaltung mit angelegt ist. Zum Gemeinschaftsleben, das die Identität einer Gemeinde bestimmt, gehört auch sportliche Professionalität. Berufssport sorgt für überregionale Bekanntheit, für kommunales Prestige, mit Folgen für die Attraktivität des Standorts und für die Lebensqualität einer Stadt. Wer dem Berufssport Geld gibt, bekommt bekanntlich auch Geld zurück. Das lässt sich ökonomisch belegen, freilich auch übertreiben. „Mit Olympia 2012 werden alle reich“ überschreibt die FAZ51 – bewusst überpointiert – ihren Bericht über die nationale Olympia-Bewerbung Frankfurts. Dabei wird die „Rücklaufrendite“ großzügig berechnet52. Man hat bei Lektüre der vorliegenden Studien53 den Eindruck, Deutschland brauche nur viele sportliche Großereignisse einzuwerben und habe seine Wachstumsprobleme und seine Staatsschulden bald los54. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht um ein Plädoyer für die Gewährung verlorener Zuschüsse an Verlorene. Im übrigen hat man gelernt: Wenn die privaten Geldgeber des Sports, weil insolvenz- oder ertragsgeschwächt, gehen, sollen der Staat und seine Gebietskörperschaften kommen. Selbst die von Exponenten des deutschen Profifußballs zeitweilig verachteten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten erhalten wieder Erstverwertungsrechte im Fußball, wenn private Medienreiche zerfallen. Die Gemeinden sind aber mehr als nur förderungsrechtliche Ersatzspieler. Im Grundsatz dürfen sie sich den Spitzensport auf Gemeindegebiet etwas kosten lassen, wie kulturelle Spitzenleistungen auch, und der Staat darf sie nicht auf die ideellen Mittel von Ehrenzeichen und Ehrenbürgerwürde verweisen. Die Geographie der deutschen Städte ist auch eine Geographie der sportlichen Zelebrität55.
__________
51 FAZ Nr. 264 v. 13.11.2002, S. 31. 52 S. zur Problematik Gans, Sportgroßveranstaltungen – ökonomische, ökologische
und soziale Wirkungen, 2003. 53 S. etwa SZ Nr. 15 v. 20.1.2004, S. 36 (Wirtschaftsstudie zur WM 2006). 54 S. dazu Brych (Fn. 45), S. 66 ff. speziell zu den WM 2006-Stadien in Deutschland. 55 Als besonderes Beispiel einer Identität von Fußball, Verein und Stadt gilt nach wie
vor Gelsenkirchen und Schalke 04. S. Stratmann, in FAZ Nr. 107 vom 8.5.2005, S. 3. Zu Borussia Dortmund und der Region s. SZ Nr. 294 v. 22.12.2003, S. 29.
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IV. Zukunftsfragen des Verhältnisses von Staat und Sport 1. Der grundgesetzliche Verfassungsrahmen des Sports Der Verfassungsstatus des deutschen Sports ist vor allem ein Status der Freiheit und – wie schon hervorgehoben – nicht ein Status der Ansprüche auf Staatsförderung. Aus freiheitlicher Sicht haben die deutschen Juristen den Sport in eine gute Position gebracht. Er ist grundrechtsgestützt: Jeder, der Sport treibt, kann die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG für sich in Anspruch nehmen. Übt er den Sport zur Schaffung seiner aktuellen oder künftigen Lebensgrundlagen aus, so steht ihm das Grundrecht der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG zur Seite. Dabei gehört es zu den spannenden juristischen Erfahrungen der Nachkriegszeit, dass sich die Freiheitsrechte des Sportlers mit der Entwicklung des wirtschafts- und medienfinanzierten Sports zu einem Freiheitsanspruch gegen die eigenen Sportorganisationen gewendet haben. Die Vereine und Verbände, nicht der die Sportfreiheit in Deutschland respektierende Staat werden durch Art. 12 Abs. 1 GG auf Freiheitskurs gehalten. Art. 9 Abs. 1 GG gibt den Sportvereinen und Sportverbänden – um auch diesen verfassungsrechtlichen Aspekt hervorzuheben – die Freiheit, den Sport nach ihren Vorstellungen zu organisieren, dabei auch dessen Regeln festzulegen, exklusiv die Befugnis wahrzunehmen und zu definieren, was sportlich ist und was unsportlich. Diese Befugnis gehört dem Sport und nicht den Sportministern56. Verfassungsrechtlich ist der Sport für die Zukunft gerüstet. 2. Die Sicherung der Autonomie des Sports – eine Staatsaufgabe? Freilich wirken alle diese Garantien, die Sportförderklauseln in den Verfassungen und Gesetzen der Länder eingeschlossen, verhältnismäßig treuherzig und naiv, seit der Sport zum Wirtschaftsgut, Sportler zu Kleinunternehmern und Sportvereine zu börsennotierten Unternehmen oder Börsenaspiranten geworden sind. Aus einer grundsätzlichen, auch für das Verhältnis von Staat und Sport bedeutsamen Perspektive ist zu vermerken, dass dieser durch den Einfluss der Geldgeber, insbesondere der sponsernden Wirtschaft und der Medien, die Fähigkeit verliert oder zu verlieren droht, seine Statuten, Ordnungen und Regeln nach sportspezifischen Gesichtspunkten autonom zu gestalten. Dies lässt sich vielfach belegen57. Aus der Sicht des vorliegenden
__________ 56 S. auch schon U. Steiner (Fn. 29), S. 28 ff. = Gegenwartsfragen des Sportrechts
(Fn. 20), S. 222 (241 ff.). 57 Der Sport ist längst der Hierarchie der Fernsehzeiten unterworfen, die Hierarchie
der Sportarten also von ihrer prime-time-Fähigkeit bestimmt. Die Medien nehmen Einfluss auf die Dramaturgie der Sportveranstaltung. Diese wird notfalls verlängert, um die Spitzenereignisse unter Berücksichtigung der Zeitverschiebung möglichst vielen Zuschauern life präsentieren zu können. Über die Zulassung von
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport
Themas stellt sich die Frage: Steht der Staat, wenn die sportliche Autonomie durch Dritte in Frage gestellt wird, in einer Garantenstellung? Landesverfassungen und Sportförderungsgesetze der Länder machen die Sicherung der Autonomie des Sports zur Staatsaufgabe. Soll diese Sicherung erfolgen durch den Erlass eines Sportverbandsgesetzes, der die Freiheit des Sports mit rechtlichen Mitteln gegenüber Dritten verteidigt? Die Frage ist zu verneinen: Der Staat kann die Abhängigkeit des Sports gegenüber nichtstaatlichen Geldgebern durch Einsatz eigener Mittel abschwächen. Er kann dort Einfluss nehmen, wo der von ihm geförderte Sport fremdbestimmt ist und nicht primär nach sportlichen Regeln abläuft. Die Geister, die der Sport aber durch das Geld gerufen hat, muss er selbst meistern. Der Staat könnte an einer solchen Aufgabe nur verlieren. Anders ausgedrückt: Der Sport muss seine Autonomie autonom sichern. Der berufliche Sport und seine Protagonisten geben sich – nicht nur in Deutschland – gegenwärtig alle Mühe, die Fans und die Freunde des Sports durch ihren Geld- und Geltungstrieb abzuschrecken. Gleichwohl hat der Staat hier kein pädagogisches Mandat. Seine Rolle zwischen Staat und Markt muss der Sport selbst definieren. Staat und Verfassung können nicht den erhöhen, der sich selbst erniedrigt. 3. Staat und Sport – eine res mixta Staat und Sport sind in Deutschland getrennt, auf Grund der Verfassungsrechtslage, aber auch aus sportpolitischer Überzeugung. Sie stehen andererseits in vielfältigen, facettenreichen, produktiven Beziehungen, teilweise sogar in Symbiose. Von hinkender Trennung könnte man in der Sprache der Staatskirchenrechtler reden, wäre das Bild nicht zu unathletisch, sprechen auch von einer res mixta. Dabei ist das Verhältnis von Staat und Sport nicht ganz so heil, wie es die Sportberichte der Bundesregierung zeichnen. Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Bundespräsident – Theodor Heuss – sich gemütlich als „Theodor im Bundestor“ bezeichnen durfte. Auch der Staat, der Sportpflegestaat ist, will für Steuergelder Leistungen sehen, wirkt auf die Effizienz der Organisation des Sports bei Bedarf ein, entschließt sich gelegentlich zu Mahnung und Abmahnung. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass nach dem Ende der Olympischen Spiele 2004 in Athen das Fördersystem im Hochleistungssport grundsätzlich und im Blick auf die Bilanz der einzelnen Sportfachverbände überprüft werden wird, und die politische Führung auf
__________ Sportarten zu Olympischen Spielen entscheidet zumindest auch ihre Medienwirksamkeit. Ein Sport, den man so gut wie nicht sieht, wie den Langstreckenschwimmer, verliert seinen Olympiastatus. Ökonomisch nachvollziehbar ist dies. Der Ausrichter der Olympischen Spiele 2012 darf mit einer Zuwendung des IOC in Höhe von 1,07 Mrd. Euro rechnen. Das ist Geld vor allem aus dem Verkauf der weltweiten Fernsehrechte.
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Organisationsreformen im Spitzensport drängen wird58. Die Bundesrepublik wird aber immer ein verhältnismäßig sanfter Förderriese bleiben. Zu den vorrangigen Problemzonen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft gehört der Sport in der Gegenwart nicht. Das darf man dankbar vermerken.
__________ 58 Vgl. aber auch FAZ Nr. 196 v. 24.8.2004, S. 27 (Sportminister Schily verspricht:
Kein finanzieller Schnitt in Athen). Zu den Verteilungskämpfen zwischen den Sportfachverbänden auf der Grundlage der Ergebnisse der Olympischen Spiele s. SZ Nr. 199 v. 28./29.8.2004, S. 2.
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Die Freizügigkeit für Sportlehrer im Binnenmarkt Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen 1. Grundfreiheiten des EG-Vertrags a) Einschlägige Grundfreiheiten b) Erforderliche Tatbestandsvoraussetzungen aa) Wirtschaftlicher Charakter der ausgeübten Tätigkeit bb) Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats cc) Grenzüberschreitende Tätigkeiten dd) Verpflichtungsadressaten c) Gewährleistungen der EGPersonenverkehrsfreiheiten d) Berechtigte Einschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten
2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht a) Grundlagen b) Die Hochschuldiplomanerkennungsrichtlinie 89/48/EWG c) Die Diplomanerkennungsrichtlinie II III. Die Realität des „Binnenmarktes“ 1. Die Realität des Binnenmarktes allgemein 2. Zugangshindernisse für Sportlehrer 3. Rechtschutzmöglichkeiten a) Direktklagen zum EuGH b) Rechtsschutz vor nationalen Gerichten IV. Ergebnis und Ausblick
I. Einleitung Die Auswirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf den Sport sind spätestens seit dem Bosman-Urteil1 evident. Niemand kann, wie damals im Verfahren noch versucht wurde, heute mehr ernsthaft behaupten, der „Sport“ habe mit dem Gemeinschaftsrecht nichts zu tun, die Sportverbände und –vereine seien daran nicht gebunden. Als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 2 EG fällt der gemeinschaftsrechtlich zu bestimmende Berufssport unter den Anwendungsbereich des EG-Vertrags. Einschlägig sind dabei insbesondere die Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes sowie das Kartellrecht2. Die Berechtigungen des Athleten aus den Grundfrei-
__________ EuGH, Rs. C-415/93 – Union royale belge des sociétés de football association ASBL u. a./Bosman, EuGHE 1995 I, 4921. 2 Dazu sind mittlerweile neben einer Vielzahl von Aufsätzen auch eine Reihe von Monographien erschienen, vgl. bereits die Dissertationen von Werner Schroeder, Sport und europäische Integration. Die Diskriminierung von Sportlern in der Europäischen Gemeinschaft, 1989, und Martin Klose, Die Rolle des Sports bei der Europäischen Einigung. Zum Problem von Ausländersperrklauseln, 1989, sowie – nach dem „Bosman-Urteil“, die Dissertationen von Dinkelmeier, Das „Bosman-Urteil“ des EuGH und seine Auswirkungen auf den Profifußball in Europa, 1999, Plath, 1
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heiten des EG-Vertrags sowie die Bindungen aus dem EG-Kartellrecht betreffen bei Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball oder Eishockey Einsatzklauseln, Transferentschädigungen oder Wechselfristen. Sie werfen aber auch Fragen bis hin zur Berechtigung von Nationalmannschaften auf, insbesondere nach der Berechtigung von Quotierungen auf einzelne Nationen in Einzelsportarten bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen, die leistungsstarke Sportler, die sich bei den nationalen Ausscheidungswettkämpfen nicht qualifizieren konnten, von diesen vor allem, aber nicht nur hinsichtlich der Folgevermarktung lukrativen und damit entscheidenden Wettkämpfen ausschließen3. Neben den Athleten, den Sportlern haben sich auch Sportlehrer, z. B. Fußballtrainer4 oder Snowboardlehrer5 mit Erfolg auf die Grundfreiheiten des EG-Vertrages berufen. Diese Lehrer des Sports üben eine wirtschaftliche Tätigkeit aus, da und soweit sie den Sport gegen Entgelt unterrichten, sei es als Angestellte – z. B. als Trainer bei einem Verein oder einem Verband oder als Ski-, Snowboard-, Segellehrer usw. bei einem Unternehmen, sei es als Selbständige, was bei den letztgenannten Tätigkeiten ebenso möglich ist. Ob die Trainierten bzw. Betreuten selbst den Sport berufsmäßig oder als Freizeitsportler ausüben, ist dabei unerheblich. Daneben ist die Freizügigkeit im Binnenmarkt auch für Sportlehrer an öffentlichen Schulen relevant. Die Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EG greift hier nicht6. Insoweit ist die Hochschuldiplom-Anerkennungsrichtlinie7 einschlägig. Dieser Aspekt soll hier aber außer Betracht bleiben.
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Individualrechtsbeschränkungen im Berufsfußball. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Bosman-Entscheidung des EuGH, 1999, Trommer, Die Transferregelungen im Profisport im Lichte des „Bosman-Urteils“, 1999, Heiersdorf, Ausländerklauseln im Profisport, 1998, Oberthür, Das Transfersytsem im Lizenzfußball, 2002, Thomas Groß, Eine unendliche Geschichte: Transferregelungen im lizenzierten Fußballsport, 2004 und Hannamann, Kartellverbot und Verhaltenskoordination im Sport, 2001, S. 299 ff. (Vereinbarkeit der Verhaltenskoordinationen im Sport mit dem Kartellverbot). Vgl. dazu Streinz, Die Freizügigkeit des Athleten, in Scherrer/Del Fabro (Hrsg.), Freizügigkeit im europäischen Sport, 2002, S. 99 (100 ff., 121 ff.) m. w. N. Vgl. EuGH, Rs. 222/86 – Union nationale des entraîneurs et cadres techniques professionnels du football (Unectef)/Georges Heylens u. a., EuGHE 1987, 4097. Cour d’ Appel de Grenoble, Urt. vom 22.4.2004 (Prinz/Ministère Public), SpuRt 2005, 24 f. mit Anmerkungen von Markus Kraus. Vgl. EuGH, Rs. 66/85 (Lawrie-Blum/Land Baden-Württemberg), EuGHE 1986, 2121, Rz. 24 ff. RL 89/48/EWG über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen, vom 21.12.1988, ABl. EG 1989 Nr. L 19/16. Geändert durch Art. 1 RL 2001/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.5.2001 zur Änderung der Richtlinien 89/48/EWG und 92/51/EWG usw., ABl. EG 2001 Nr. L 206/1 (3 f.). Vgl. dazu Tiedje/Troberg in von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 6. Aufl. 2003, Art. 47 EG Rz. 89 ff.
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Die Freizügigkeit für Sportlehrer im Binnenmarkt
II. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen 1. Grundfreiheiten des EG-Vertrags a) Einschlägige Grundfreiheiten Der EG-Vertrag enthält drei Regelungsbereiche, die für die Berufsausübung auf dem Gebiet des Sports relevant sind: Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EG), die die vorübergehende Ausübung von wirtschaftlichen Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitz- bzw. Sitzstaat ermöglicht; die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 ff. EG) für die Ausübung beruflicher Tätigkeiten in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen; die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 ff. EG), die die selbständige, auf Dauer angelegte wirtschaftliche Betätigung erfasst. Für die Trainer von Mannschaften und Verbandstrainer kommt die Freizügigkeit für Arbeitnehmer in Betracht, da sie eine weisungsabhängige Beschäftigung gegen Entgelt ausüben. Für Sportlehrer, die Freizeitsportler gegen Entgelt unterrichten, kann, soweit sie für ein Unternehmen in abhängiger Beschäftigung tätig sind, ebenfalls die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Betracht kommen, soweit sie selbständig tätig sind entweder die Dienstleistungsfreiheit oder die Niederlassungsfreiheit. Entscheidend ist insoweit, ob die Tätigkeit auf Dauer oder vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt wird. b) Erforderliche Tatbestandsvoraussetzungen Für alle genannten Grundfreiheiten sind folgende Tatbestandsvoraussetzungen erforderlich: aa) Wirtschaftlicher Charakter der ausgeübten Tätigkeit Wie beim Sportler muss auch beim Sportlehrer eine erwerbswirtschaftliche Betätigung und nicht lediglich eine persönliche Liebhaberei (Amateur im wahrsten Sinne des Wortes z. B. als rein ehrenamtlicher Jugendtrainer) vorliegen. Maßgeblich ist, ob die Betätigung gegen Entgelt erfolgt. Dabei ist die Schwelle relativ niedrig anzusetzen, weshalb auch ein Betrag, aus dem die Lebenshaltungskosten nicht bestritten werden könnten, genügt8. Erfasst werden auch geringfügig Beschäftigte oder Teilzeitbeschäftigte9. Außer Betracht bleiben nur solche Tätigkeiten, die sich als völlig untergeordnet oder unwesentlich darstellen10. Dafür können keine verbindlichen Grenzbeträge, sondern allenfalls gewisse Leitlinien festgestellt werden11.
__________ 8 EuGH, Rs. 139/85 (Kempf/Staatssekretaris von Justitie), EuGHE 1986, 1741, Rz. 14 f. 9 Vgl. EuGH, Rs. C-357/89 (Raulin/Minister van Onderwijs en Wetenschappen),
EuGHE 1992, I-1027, Rz. 13. 10 So EuGH, Rs. 53/81 (Levin/Staatssekretaris von Justitie), EuGHE 1982, 1035, Rz. 17. 11 Vgl. die Ansätze dafür bei Streinz, Die Rechtsprechung des EuGH nach dem Bos-
man-Urteil. Spielräume für Verbände zwischen Freizügigkeit und Kartellrecht und
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Rudolf Streinz
bb) Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats Berechtigt sind grundsätzlich allein die Staatsangehörigen (anderer) Mitgliedstaaten („Unionsbürger“, vgl. Art. 17 EG). Für juristische Personen ist erforderlich, dass sie nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründet sind und dort rechtmäßig tätig werden dürfen (Art. 48 Abs. 1 EG, ggf. i. V. m. Art. 55 EG). Die Staatsangehörigen von Drittstaaten können entweder aus abgeleitetem Recht als Familienangehörige oder durch Assoziationsabkommen der EG und derer Mitgliedstaaten mit ihrem Heimatstaat berechtigt sein12. Völlig gleichgestellt sind insoweit grundsätzlich allein die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), nämlich Island, Liechtenstein und Norwegen13. cc) Grenzüberschreitende Tätigkeiten Die Grundfreiheiten und damit auch die hier einschlägigen Personenverkehrsfreiheiten erfassen nur grenzüberschreitende Tätigkeiten. Damit ist erforderlich, dass ein Arbeitnehmer, Selbständiger oder Dienstleistungserbringer zum Zweck seiner wirtschaftlichen Betätigung von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat wechselt. Die Grundfreiheiten gelten nicht für reine Inlandssachverhalte, was zum Problem der sog. Inländerdiskriminierung führen kann14. Von den Grundfreiheiten erfasst wird dagegen ein Sportlehrer, der seine Ausbildung oder einen Teil derselben in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat und nun diese Tätigkeit in seinem Heimatstaat ausüben möchte. Grenzüberschreitendes Tätigwerden kann im Rahmen der Niederlassungsfreiheit z. B. durch Sitzverlagerung, aber auch durch die Eröffnung einer Filiale oder eines Tochterunternehmens erfolgen. Bei der Dienstleistungsfreiheit werden neben der sog. aktiven Dienstleistungsfreiheit, in der sich der Leistungserbringer in einen anderen Mitgliedstaat begibt, auch die sog. negative oder passive Dienstleistungsfreiheit, bei der sich der Leistungsempfänger in einen anderen Mitgliedstaat begibt, die sog. Korrespondenzdienstleistung, bei der allein die Dienstleistung die Grenze überschreitet und schließlich die sog. auslandsbedingte Dienstleistung, in der sich Leistungserbringer und Leistungsempfänger aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat begeben, erfasst15. Dies ist gerade für die
__________
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Verbandsautonomie, in Tettinger (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Bosman – Bilanz und Perspektiven, 2001, S. 27 (37 f.) m. w. N. Vgl. dazu Streinz, Berufliche Befähigungsnachweise im Sport auf dem Prüfstand des EG-Rechts, in Europäische Akademie des Sports (Hrsg.), EU-Recht und Sport II, 1999, S. 31 (36 ff.) m. w. N. Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) vom 2.5.1992, BGBl. 1993 II S. 267. Vgl. Art. 28 ff. i. V. m. 6 EWR-Abkommen. Vgl. dazu Streinz, Europarecht, 6. Aufl. 2003, Rz. 682 ff. Vgl. dazu Streinz (Fn. 14), Rz. 756.
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Die Freizügigkeit für Sportlehrer im Binnenmarkt
Tätigkeit von Sportlehrern im Rahmen touristischer Aktivitäten von Interesse, z. B. bei deutschen Skischulen, die in Österreich, Italien oder Frankreich tätig werden16. Entsprechendes gilt z. B. auch für in Deutschland ansässige Segelschulen, die auf Segeltörns in andere Mitgliedstaaten gehen, oder Tauchschulen, die Tauchreviere in den Hoheitsgewässern anderer Mitgliedstaaten aufsuchen. Dass dieselbe Staatsangehörigkeit von Leistungserbringer und Leistungsempfänger insoweit irrelevant ist, gilt auch für die Fälle, in denen eine „deutsche“ Segel- oder Tauchschule in einem anderen Mitgliedstaat betrieben wird und dort deutsche Schüler aufnimmt. dd) Verpflichtungsadressaten Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, aber auch die Gemeinschaften selbst und hinsichtlich der Personenverkehrsfreiheiten in bestimmten Fällen auch Private (sog. „Drittwirkung“)17. Dies ist gerade für den Sport von besonderer Bedeutung, wie das grundlegende Urteil im Fall Walrave und Koch18 und der Fall Bosman zeigen. c) Gewährleistungen der EG-Personenverkehrsfreiheiten Ungeachtet der gebotenen Differenzierungen haben alle Personenverkehrsfreiheiten zwei Gewährleistungen gemeinsam: Das Diskriminierungsverbot und das Beschränkungsverbot. Während nach dem Diskriminierungsverbot Angehörige anderer Mitgliedstaaten nicht auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit schlechter behandelt werden dürfen als Inländer, was sowohl offene als auch verdeckte Diskriminierungen, d. h. Anknüpfungen an Tatbestände, die regelmäßig nur von Ausländern erfüllt werden (etwa die Ansässigkeit in einem Mitgliedstaat), verbietet, erfasst das Beschränkungsverbot auch sog. „unterschiedslose“, d. h. für In- wie Ausländer gleichermaßen geltende Maßnahmen, die die Mobilität im Binnenmarkt behindern19. Dazu gehört insbesondere das „unterschiedslose“ Verlangen von Diplomen, die im jeweiligen Tätigkeitsland erworben wurden. d) Berechtigte Einschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten Die Personenverkehrsfreiheiten dürfen aus den ausdrücklich im EG-Vertrag genannten Rechtfertigungsgründen, nämlich aus Gründen der öffentlichen
__________ 16 Vgl. dazu Streinz/Hermann/Kraus, Ärger um die weiße Pracht – Skischulgesetze
der Alpenländer auf dem Prüfstand des Gemeinschaftsrechts, EWS 2003, 537 (537 ff.). 17 Vgl. dazu Streinz (Fn. 14), Rz. 707. 18 EuGH, Rs. 36/74 – Walrave und Koch/Association Union Cycliste International
(UCI) u. a., EuGHE 1974, 1405, Rz. 16/19. 19 Vgl. dazu Streinz (Fn. 14), Rz. 667 ff. m. w. N.
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Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 39 Abs. 3, Art. 46 Abs. 1, ggf. i. V. m. Art. 55 EG), sowie den vom EuGH entwickelten sog. „immanenten Schranken“, nämlich „zwingenden Gründen des Allgemeinwohls“20, eingeschränkt werden. Letztere, die abgesehen von wirtschaftlichen (protektionistischen) Zielsetzungen grundsätzlich beliebige Allgemeinwohl-Belange verfolgen können, sind nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH nur bei unterschiedslosen Maßnahmen zulässig. Einschlägig sind hinsichtlich Sportlehrern vor allem dem Schutz der Bevölkerung dienende Qualifikationsanforderungen. Alle Beschränkungsmaßnahmen müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d. h. zur Erreichung eines legitimen Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sein. Der EuGH hat seine Rechtsprechung im Gebhard-Urteil wie folgt zusammengefasst: „Aus der Rechtsprechung des Gerichthofes ergibt sich jedoch, dass nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen könnten, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist“21. Aus diesem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt z. B., dass Beschränkungen der auf eine vorübergehende Tätigkeit angelegten Dienstleistungsfreiheit nicht soweit gehen dürfen wie Beschränkungen der auf eine dauernde Tätigkeit angelegten Niederlassungsfreiheit22. Auch für Sportlehrer besonders relevant ist die primärrechtliche Verpflichtung, in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Qualifikationen ganz oder teilweise als gleichwertig anzuerkennen23. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt z. B., dass die zu Recht bestehende Forderung von Sprachkenntnissen der jeweiligen Tätigkeit angemessen sein muss und an ihren Erwerb und Nachweis keine ungerechtfertigten Bedingungen geknüpft sein dürfen24.
__________ 20 Grundlegend EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaal-
nijverheid), EuGHE 1974, 1299, Rz. 10/12 ff. 21 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard/Consiglio dell’ordine degli avvocati e procuratori di
Milano), EuGHE 1995, I-4165, Rz. 37. 22 Vgl. EuGH, Rs. C-76/90 (Säger/Dennemeyer), EuGHE 1991, I-4221, Rz. 13. 23 Grundlegend EuGH, Rs. C 340/89 (Vlassopoulou/Ministerium für Justiz, Bundes-
und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg), EuGHE 1991, I-2357, Rz. 16 ff., aufbauend auf dem für Sportlehrer grundlegenden Urteil im Fall Heylens (Fn. 4), EuGHE 1987, 4097, Rz. 11 ff. 24 Vgl. EuGH, Rs. 379/87 (Groener/Minister for Education and the City of Dublin Vocational Education Committee), EuGHE 1989, 3967, Rz. 19 ff.; Rs. C-281/98 (Angonese/Cassa di Risparmio di Bolzano), EuGHE 2000, I-4139, Rz. 38 ff.
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2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht a) Grundlagen Ungeachtet dieser primärrechtlichen Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von Befähigungsnachweisen, die wie alle Grundfreiheiten nach ständiger Rechtsprechung des EuGH unmittelbare Geltung hat und auf die sich die Berechtigten daher berufen können25, waren und sind sekundärrechtliche Regelungen zur gegenseitigen Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstiger Befähigungsnachweise nicht überflüssig. Denn nur dadurch konnten und können generelle Klarstellungen über den Einzelfall hinaus erreicht und Rechtsunsicherheiten, gerade hinsichtlich der Berechtigung nichtdiskriminierender Regelungen am Maßstab des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, beseitigt werden. Grundlage für entsprechende Richtlinien ist Art. 47 Abs. 1 EG, der ihren Erlass durch den Rat in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament (Verfahren der Mitentscheidung, Art. 251 EG) vorsieht. Nach mühsamen, aber wegen der Forderung nach einheitlichen Mindeststandards (vgl. Art. 47 Abs. 3 EG) unverzichtbaren Anstrengungen der Rechtsangleichung gelang 1988 mit der Hochschuldiplom-Richtlinie26 der Durchbruch des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens durch gegenseitige Anerkennung nationaler Regelungen ohne Harmonisierung. Diese Richtlinie wurde 1992 durch die Diplomanerkennungsrichtlinie II27 zur gegenseitigen Anerkennung anderer berufsqualifizierender Diplome ergänzt. Beide Richtlinien erfassen teilweise auch berufliche Befähigungsnachweise aus dem Bereich des Sports28. b) Die Hochschuldiplomanerkennungsrichtlinie 89/48/EWG Diese Richtlinie über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen, ist eine sog. horizontale Harmonisierungsmaßnahme. Dabei findet keine Angleichung von bestimmten Ausbildungsvorschriften oder Berufsregelun-
__________ 25 Vgl. dazu Streinz (Fn. 14), Rz. 349, Rz. 705 m. w. N. 26 S. Fn. 7. 27 RL 92/51/EWG des Rates vom 18.6.1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur
Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG, ABl. EG 1992 Nr. L 209/25. Geändert durch Art. 2 RL 2001/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.5.2001 zur Änderung der Richtlinien 89/48 EWG und 92/51/EWG usw., ABl. EG 2001 Nr. L 206/1 (4). Vgl. dazu Tiedje/Troberg in von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV-Kommentar, Art. 47 EG Rz. 93 f. 28 Da der Sportlehrerberuf weitgehend reglementiert ist, dürfte die darauf nicht abstellende RL 1999/42/EG (ABl. 1999 Nr. L 201/77) – vgl. dazu Tiedje/Troberg in von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV-Kommentar, Art. 47 EG Rz. 95 ff. – insoweit weniger relevant werden.
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gen statt, vielmehr wird ein allgemeines Verfahren zur Anerkennung von berufsqualifizierenden Hochschuldiplomen geregelt. Damit sollen über die bisher erlassenen speziellen Richtlinien für Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker und Architekten sowie für Rechtsanwälte29 hinaus sog. reglementierte Berufe im Aufnahmestaat den Bewerbern aus anderen Mitgliedstaaten, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte tätig werden wollen, geöffnet werden. Ein reglementierter Beruf ist eine berufliche Tätigkeit, deren Aufnahme oder Ausübung in einem Mitgliedstaat direkt oder indirekt durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften an den Besitz eines Diploms gebunden ist. Dafür muss eine mindestens dreijährige Hochschulausbildung erforderlich sein. Den staatlich reglementierten Berufen gleichgestellt ist eine berufliche Tätigkeit, wenn sie von den Mitgliedern eines Verbandes ausgeübt wird, dessen Ziel insbesondere die Förderung und Wahrung eines hohen Niveaus in dem betreffenden Beruf ist und der zur Verwirklichung dieses Ziels von einem Mitgliedstaat in besonderer Weise anerkannt wird. Hinzu kommen muss, dass der Verband seinen Mitgliedern ein Diplom verleiht und sicherstellt, dass seine Mitglieder die von ihm erlassenen Regeln beachten, sowie ihnen das Recht verleiht, einen Titel zu führen bzw. bestimmte Kennbuchstaben zu verwenden oder einen diesem Diplom entsprechenden Status in Anspruch zu nehmen. Wie die Begründungserwägungen der Richtlinie hervorheben, soll sich ein Berufsverband nicht auf seine private Natur berufen können, um die Anwendung der Richtlinie auf von ihm verliehene Diplome auszuschließen. Der Anhang der Richtlinie enthält eine nicht abschließende Liste solcher Verbände, von denen zumindest die britische „Chartered Society of Physiotherapy“ einen mittelbaren Bezug zum Sport hat. Demnach können Diplome nationaler Sportverbände zwar unter die Anerkennungsregeln der Richtlinie fallen. Jedoch verleiht bislang wohl noch kein Verband auf Grund eines Hochschulstudiums ein eigenes Diplom. Z. B. findet der Lehrgang zum Diplom-Fußball-Lehrer des DFB zwar an der Deutschen Sporthochschule in Köln statt, aber nicht im Rahmen eines Hochschulstudiums30. Diese Richtlinie hat daher bislang allein für DiplomSportlehrer und Absolventen der Fachrichtung Sport für das Lehramt an Schulen Bedeutung, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. c) Die Diplomanerkennungsrichtlinie II Erhebliche Bedeutung für gewerblich tätige Sportlehrer außerhalb des Schulbereichs hat dagegen die in Ergänzung zur Hochschuldiplom-Richtlinie er-
__________
29 Übersicht bei Müller-Graff in Streinz (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2003, Art. 47
EGV Rz. 28. Zu weitergehenden Vorhaben der Kommission vgl. ebd., Rz. 30. Vgl. zu den Richtlinien im Einzelnen Tiedje/Troberg in von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV-Kommentar, Art. 47 EG Rz. 67 ff. 30 Vgl. die Hinweise der Deutschen Sporthochschule Köln, abgedr. in Willi Klein (Hrsg.), Deutsches Sporthandbuch. Organisation, Recht, Verwaltung, Band I, Loseblatt.
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lassene Diplomanerkennungsrichtlinie II. Sie regelt die Anerkennung von Befähigungsnachweisen im sog. postsekundären Bereich, einer gleich gestalteten Ausbildung sowie einer Ausbildung, die einer kurzen oder langen Sekundarschulausbildung entspricht und ggf. durch eine Berufsausbildung oder durch Berufpraxis ergänzt wird. Auch sie betrifft zunächst nur staatlich reglementierte Berufe. Gleichgestellt sind aber auch hier von Berufsverbänden und Berufsorganisationen reglementierte Berufe, wenn diese Verbände insbesondere die Förderung und Wahrung eines hohen Niveaus in dem betreffenden Beruf zum Ziel haben und zur Verwirklichung dieses Ziels von einem Mitgliedstaat in besondere Form anerkannt werden. Sie müssen ihren Mitgliedern einen Ausbildungsnachweis ausstellen und sicherstellen, dass ihre Mitglieder die festgelegten Regeln für das berufliche Verhalten beachten, ferner ihnen das Recht verleihen, eine Berufsbezeichnung zu führen bzw. bestimmte Kennbuchstaben zu verwenden oder einen diesem Ausbildungsnachweis entsprechenden Status in Anspruch zu nehmen. Unter diesen Voraussetzungen können auch Sportverbände durch die Anerkennungsvorschriften der Richtlinie gebunden sein. Erfasst werden davon insbesondere die Befähigungsnachweise der Skilehrer der „Länder des Alpenbogens“31. Wie im Fall der Hochschuldiplom-Richtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Diplome gegenseitig anzuerkennen. Sie dürfen aber unter bestimmten Voraussetzungen zusätzliche Berufserfahrung bzw. einen höchstens dreijährigen Anpassungslehrgang oder eine Eignungsprüfung verlangen, wenn sich die bisherige Ausbildung wesentlich von den Anforderungen des Aufnahmestaates unterscheidet. Fordert der aufnehmende Mitgliedstaat ein Diplom und verfügt der Antragsteller nur über ein Prüfungszeugnis oder einen entsprechenden Ausbildungsnachweis, so ist das Prüfungszeugnis (bei Reglementierung im Herkunftsstaat) oder die zweijährige Berufsausübung im Anschluss an eine qualifizierte Ausbildung als gleichwertig anzuerkennen. In diesen Fällen kann der Aufnahmestaat verlangen, dass der Antragsteller einen höchstens dreijährigen Anpassungslehrgang absolviert oder eine Eignungsprüfung ablegt. Fordert der Aufnahmestaat ein Prüfungszeugnis, so ist ein Diplom oder eine zweijährige Berufstätigkeit im Anschluss an eine qualifizierte Ausbildung als gleichwertig anzuerkennen. Wenn der Antragsteller nur ein Prüfungszeugnis besitzt und seine bisherige Ausbildung sich wesentlich von den Anforderungen im Aufnahmestaat unterscheidet oder der Antragsteller weder über ein Diplom oder ein Prüfungszeugnis verfügt, so kann ein höchstens zweijähriger Anpassungslehrgang oder eine Eignungsprüfung verlangt werden. Wie bei der Hochschuldiplom-Richtlinie sind sog. Überkreuzanerkennungen geboten, d. h. die Anerkennung von Diplomen, die von
__________ 31 Vgl. die Antworten der Kommission vom 19.7.1993 auf die Schriftliche Anfrage
Nr. 943/93 von Herrn Jas Gawronski, ABl. EG 1993 Nr. C 301, S. 11, und vom 9.4.1997 auf die Schriftliche Anfrage P-0670/97 von Frau Angela Billingham, ABl. EG 1997 Nr. C 319, S. 154 (155). Zur Einstufung deutscher Skilehrerdiplome vgl. Streinz/Herrmann/Kraus, EWS 2003, 538 f.
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einem Mitgliedstaat ausgestellt sind, in einem zweiten Mitgliedstaat anerkannt werden und dort zur Ausübung eines reglementierten Berufes berechtigen, und die Anerkennung von Drittlandsdiplomen, wenn ein Mitgliedstaat sie anerkannt hat und der Antragsteller eine zweijährige (statt dort dreijährige) Berufserfahrung hat. Im Ergebnis führen diese Anerkennungsregelungen, ungeachtet der eventuell erforderlichen zusätzlichen Berufserfahrung, Anpassungslehrgänge oder Eignungsprüfungen, zu einer Gleichstellung von Ausbildungen, die entweder nach der Hochschulreife oder einer anderen berufsqualifizierenden Sekundarschulausbildung genossen wurden. Dabei strebt die Richtlinie an, in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Qualifikationsanforderungen für ein und denselben Beruf über zusätzliche Berufserfahrung, Anpassungslehrgänge oder Eignungsprüfungen auszugleichen. Diese Diplomanerkennungsrichtlinie II greift gerade im weiten Bereich obligatorischer Trainerlizenzen ein und eröffnet jedem Staatsangehörigen aus einem Mitgliedstaat, der über die gleichwertige berufliche Qualifikation im Sinne der Richtlinie verfügt, den Zugang zu einem „reglementierten Beruf“ in allen anderen Mitgliedstaaten.
III. Die Realität des „Binnenmarktes“ 1. Die Realität des Binnenmarktes allgemein Die Realität des Binnenmarktes, d. h. die tatsächliche Verwirklichung und Nutzung der Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes, ist – soweit ersichtlich – bislang nicht systematisch erforscht – vielleicht ist dies auch ein kaum mögliches Unterfangen. Ansätze dazu liefern die Binnenmarktberichte der EG-Kommission sowie deren Jahresberichte über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts. 1997 stellte die Kommission dabei fest, dass trotz der vertraglich garantierten Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit „zahlreiche Bürger die praktische Realität ihrer Unionszugehörigkeit in Zweifel ziehen“32. Im zuletzt veröffentlichten Zwanzigsten Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2002) wird unter der Rubrik „Binnenmarkt“ zum Bereich „Reglementierte Berufe: Anerkennung von Befähigungsnachweisen“ die Zahl der Beschwerden und Vertragsverletzungen bei den reglementierten Berufen in Verbindung mit den Befähigungsnachweisen als „verhältnismäßig stabil“ bezeichnet. Im Jahr 2002 wurde die Kommission mit rund 20 Beschwerden wegen Beschränkungen befasst, die gegen Art. 43 und Art. 49 EG sowie die Richtlinien zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von beruflichen Befähigungsnachweisen verstoßen33. Dies und die Anzahl der Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 EG und der Vorlagen gemäß Art. 234 EG deuten auf fortbestehende Defizite hin. Ihnen kann nur durch konsequente Anwendung
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32 ABl. 1997 Nr. C 332, S. 1 (29). 33 Dokument KOM (2003) 661 endgültig vom 21.11.2003, S. 56 ff. (63).
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und ggf. gerichtliche Durchsetzung der garantierten Rechte begegnet werden, ggf. auch durch Präzisierungen mittels sekundärem Gemeinschaftsrecht. Bei letzteren muss freilich beachtet werden, dass durch überzogene Vorgaben, die berechtigte Sicherheits- (z. B. Aufsicht über Finanzdienstleister, Versicherungen, Banken, Handwerksbetriebe, Bildungseinrichtungen) und Sicherungsinteressen (z. B. Verhinderung von Sozialleistungstourismus) der Mitgliedstaaten vernachlässigen, Widerstände in der Befolgung des Gemeinschaftsrechts erzeugt werden können. Dies gilt es bei der Auslegung bereits beschlossener Richtlinien, wie z. B. der neuen Richtlinie über die Harmonisierung der Bestimmungen über die Freizügigkeit34, und bei der Beschlussfassung über neue Richtlinien35 zu beachten. 2. Zugangshindernisse für Sportlehrer Der erste Fall eines Sportlehrers, der vor den EuGH gelangte, war der des Fußballtrainers Heylens, und zwar in einem Strafverfahren, das die französische Union nationale des entraîneurs et cadres techniques professionnels du football (Unectef) gegen ihn, einen belgischen Staatsangehörigen, und die Leiter der Société anonyme d’ économie mixte „Lille Olympic Sporting Club“ mit der Begründung angestrengt hat, diese hätten als Täter oder Teilnehmer gegen Bestimmungen des französischen Gesetzes über die Organisation und Förderung körperlicher und sportlicher Betätigung36 und gegen Art. 259 des französischen Code pénal (unbefugtes Führen von Titeln) verstoßen. In Frankreich hängt nämlich der Zugang zum Beruf des Fußballtrainers vom Besitz eines inländischen Fußballtrainerdiploms oder eines ausländischen Diploms ab, das durch Entscheidung des zuständigen Regierungsmitglieds nach Stellungnahme eines besonderen Ausschusses als gleichwertig anerkannt worden ist. Der Antrag von Heylens, der Inhaber eines
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34 RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über
das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der RL 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. 2004 Nr. L 58, S. 77. Kritisch dazu Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, 2185 (2189). 35 Vgl. den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur allgemeinen Anerkennung von Berufsqualifikationen, die die Richtlinien 1999/42/EG (Handel und Handwerk, s. Fn. 28) sowie die Hochschul-Diplomrichtlinie 89/48/EWG und die Diplomanerkennungsrichtlinie II (92/51/EWG) und die berufsspezifischen Richtlinien für medizinische Berufe und Architekten ersetzen soll. Ziel ist die Konsolidierung und Vereinfachung der bestehenden Regelungen sowie die Harmonisierung des Zugangs und der Ausübung aller reglementierten Berufe außer des Rechtsanwaltsberufs (ABl. 2002 Nr. C 181, S. 183). Kritisch dazu Henssler, Der Richtlinienvorschlag über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, EuZW 2003, 229 ff. 36 Loi Nr. 84-610 relative à l’organisation et la promotion des activités physiques et sportives vom 16.7.1984, Journal Officiel de la République Française 1984, 2288.
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belgischen Fußballtrainerdiploms war, auf Anerkennung der Gleichwertigkeit des belgischen Diploms wurde durch Entscheidung des zuständigen Regierungsmitglieds abgelehnt. Zur Begründung wurde auf eine negative Stellungnahme des zuständigen Ausschusses Bezug genommen, die selbst nicht mit Gründen versehen war. Das Tribunal de Grande Instance Lille hegte Zweifel, ob die französische Regelung mit den Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vereinbar ist, und legte eine entsprechende Auslegungsfrage zu Art. 48 EWGV (jetzt Art. 39 EG) gemäß Art. 234 EG vor. Die Zweifel bestanden zu Recht, denn der EuGH entschied: „Wenn in einem Mitgliedstaat der Zugang zu einer Berufstätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis vom Besitz eines innerstaatlichen Diploms oder eines als gleichwertig anerkannten ausländischen Diploms abhängt, gebietet es der in Artikel 48 EWG-Vertrag (jetzt Art. 39 EG) verankerte Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, dass die Entscheidung, mit der einem Arbeitnehmer, der Angehöriger eines anderen Mitgliedstaates ist, die Anerkennung der Gleichwertigkeit eines von diesem Mitgliedstaats ausgestellten Diploms versagt wird, gerichtlich auf ihre Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden und der Betroffene von den Gründen Kenntnis erhalten kann, auf denen die Entscheidung beruht“37. Probleme bereitete offenbar auch die Anerkennung von Segelsport-Lizenzen38. Bereits 1994 forderte daher das Europäische Parlament in seiner Entschließung „Die Europäische Gemeinschaft und der Sport“, „dass kurzfristig erforderliche Rechtsvorschriften über die Anerkennung von Diplomen und Befähigungsnachweisen ausgearbeitet werden, damit Trainer, Sportlehrer Betreuer usw. ohne Diskriminierung auf Grund ihrer Nationalität in der EU ihren Beruf ausüben können“39. Zu einer solchen, über die Diplomanerkennungsrichtlinie II hinausgehende spezifische Richtlinie für den Sportbereich – nach den Vorbildern der Richtlinien für Ärzte, Rechtsanwälte usw. – ist es bislang nicht gekommen. Probleme haben und hatten offenbar nach wie vor ausländische Skilehrer oder Snowboardlehrer in Frankreich, Italien und Österreich. Bei der EGKommission gingen Beschwerden seitens britischer und dänischer Skilehrer ein, die mit einer Geldstrafe belegt worden waren, weil sie ohne einen den französischen Erfordernissen entsprechenden Befähigungsnachweis in den französischen Alpen gearbeitet hatten40. In Frankreich sind Skilehrer und Skitrainer reglementierte Berufe, für die die beruflichen Qualifikationen auf
__________ 37 EuGH Rs. 222/86 (Fn. 4), EuGHE 1987, 4097, Rz. 17 und Entscheidungsformel. 38 Vgl. Coopers & Lybrand, Der Einfluß der Tätigkeit der Europäischen Gemein-
schaft auf den Sport. Abschlußbericht, erarbeitet für die Generaldirektion X der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Ausgabe Juli 1993, S. 113, Nr. 1007. 39 ABl. 1994 Nr. C 205, S. 486 (488), Nr. 10. 40 Vgl. Coopers & Lybrand, Der Einfluß der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft auf den Sport. Abschlußbericht, erarbeitet für die Generaldirektion X der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Ausgabe September 1995, S. 36, Nr. 1058.
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der Grundlage staatlicher Normen von den Skisportverbänden zuerkannt werden41. Das Problem lag darin, dass die von den nationalen Verbänden, hier dem Ski Council von England, Wales und Schottland und Nordirland sowie dem britischen Verband der Skilehrer (BASI) erteilten und von den zuständigen internationalen Sportgremien anerkannten Qualifikationen in Frankreich nicht akzeptiert wurden, sondern die Skilehrer einen „Test de capacité“ ablegen mußten, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen durften42. Die nationalen Verbände sprachen den internationalen Gremien die Zuständigkeit für die Anerkennung von Lehr- und Trainerbefähigungsnachweisen ab. Das Vorschreiben einer solchen Eignungsprüfung ist Frankreich – ebenso wie Österreich, Italien und Deutschland – durch eine Ausnahmegenehmigung der Kommission gemäß Art. 14 Diplomanerkennungsrichtlinie II gestattet43. Danach darf für die Anerkennung als Skilehrer bei wesentlichen Unterschieden in der Ausbildung grundsätzlich eine Eignungsprüfung vorgeschrieben werden, wobei die Behörden aber auch der Berufserfahrung des Bewerbers Rechnung tragen müssen. Die EG-Kommission verklagte Griechenland, weil dieses zwar die Diplomanerkennungsrichtlinie II durch einen Präsidialerlass 1998 umgesetzt hat, die Anwendung in der Praxis aber nicht stattfand. Dies hatte u. a. zur Folge, dass im Bereich des Sports vor allem Tauchlehrer immer noch auf die Anerkennung ihrer Diplome warten mussten und deshalb an der Wahrnehmung ihres Niederlassungsrechts gehindert wurden44. So verlangt Griechenland das Bestehen einer griechischen Sprachprüfung an einer bestimmten Adresse zu einem festgelegten Termin, was nach der Rechtsprechung des EuGH unverhältnismäßig und Gegenstand eines laufenden Vertragsverletzungsverfahrens ist45. Weitere Behinderungen verursachen das Erfordernis, dass Boote mit maximal zehn Meter Länge nur dann von Nichtgriechen in Griechenland gewerblich genutzt werden können, wenn in einer dafür zu gründenden Firma ein griechischer Staatsbürger 51 Prozent der Firmenanteile hält, weswegen Griechenland bereits vom EuGH verurteilt wurde46, sowie die Nichtanerkennung der PADI-Tauchlehrerdiplome, die als Diplome einer internationalen Organisation mit Sitz in den USA als
__________ 41 Vgl. dazu Streinz/Herrmann/Kraus, (Schneeball-)Schlacht um die Diplomanerken-
42 43
44 45
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nung – Die Vereinbarkeit französischer Berufsausübungsregelungen im Alpinsport mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, SpuRt 2005, 5 (6 f.). Vgl. die Anfrage der Abgeordneten Billingham (Fn. 31), ABl. EG 1997 Nr. C 319, S. 154. Entscheidung der Kommission vom 25.7.2000 über einen Abweichungsantrag gemäß Art. 14 der RL 92/51/EWG des Rates, der die Anerkennung bestimmter beruflicher Befähigungsnachweise im Bereich des Sports betrifft. Vgl. De Kepper, EU-Sportrecht aktuell, SpuRt 2001, 191 (191). Vgl. die Antwort von Frederik Bolkestein vom 15.4.2003 im Namen der Kommission auf die Schriftliche Anfrage E-0398/03 des Abgeordneten Karl von Wogau an die Kommission vom 17.2.2003, ABl. EG 2003 Nr. C 192E, S. 184 (185) unter Hinweis auf die in Fn. 24 zitierten Urteile des EuGH. EuGH, Rs. C-62/96 (Kommission/Griechische Republik), EuGHE 1997, I-6725, Rz. 27. Vgl. dazu die Antwort von Frederik Bolkestein (Fn. 45).
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Drittlandsdiplome nur im Wege der oben beschriebenen Überkreuzanerkennung möglich, bei Vorliegen der Voraussetzungen aber auch geboten ist47. Schließlich verurteilte der EuGH Italien wegen Verstoßes gegen die Diplomanerkennungsrichtlinie II, weil es das Rahmengesetz für den Beruf des Skilehrers und für ergänzende Bestimmungen zur Regelung des Berufes des Bergführers insoweit aufrechterhalten hat, als dieses die Anerkennung des Skilehrerdiploms von einem Gegenseitigkeitserfordernis abhängig macht48. Im Wintersport werden nationale Besitzstände offenbar besonders zäh verteidigt. Dies zeigen z. B. Regelungen des Vorarlberger Schischulgesetzes, die in mehrfacher Hinsicht nicht im Einklang mit dem EG-Recht stehen49, und zuletzt die strafrechtliche (!) Verfolgung eines deutschen Snowboardlehrers, der in Frankreich ohne das dort für erforderlich gehaltene Diplom eines Skilehrers (!) tätig war50. Dieser Fall zeigt freilich auch, dass es durchaus nicht aussichtslos ist, sich mit gemeinschaftsrechtlichen Argumente gegen solche Behinderungen zur Wehr zu setzen. 3. Rechtschutzmöglichkeiten a) Direktklagen zum EuGH Direktklagen zum EuGH sind für Individuen nach wie vor nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG und nur dann möglich, wenn sie sich gegen den Akt eines Gemeinschaftsorgans richten. Hier geht es aber um Behinderungen seitens nationaler Organe. Insoweit ist allein eine Beschwerde bei der EG-Kommission möglich, die den Fall aufgreifen und ggf. ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 EG einleiten kann. Darauf hat der Einzelne freilich keinen Anspruch. Er kann sich auch an einen Abgeordneten des Europäischen Parlaments wenden, der mit einer Anfrage (Interpellation) die Kommission mit dem Fall befassen kann. Diese Anfrage muss von der Kommission beantwortet werden (Art. 197 Abs. 3 EG)51. Beschwerden bei der Kommission oder Anfragen aus dem Europäischen Parlament waren nicht selten Anlass für entsprechende Vertragsverletzungsverfahren seitens der Kommission. b) Rechtsschutz vor nationalen Gerichten Im Übrigen besteht gegen administrative Behinderungsmaßnahmen Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten nach dem jeweiligen nationalen Recht.
__________ 47 Vgl. die Antwort von Frederik Bolkestein (Fn. 45). 48 EuGH, Rs. C-142/01 (Kommission/Italien), EuGHE 2001, I-4541 = SpuRt 2002, 237
mit Anm. Streinz, ebd., 238 f. 49 Vgl. Streinz/Herrmann/Kraus, EWS 2003, 541 ff. 50 Vgl. dazu Streinz/Herrmann/Kraus, SpuRt 2005, 8. 51 Vgl. z. B. die Antworten der Kommission auf die in Fn. 31 und 45 zitierten Anfra-
gen aus dem Europäischen Parlament.
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Die nationalen Gerichte haben dabei das vorrangige Gemeinschaftsrecht als Bestandteil des in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung geltenden Rechts anzuwenden und zur Geltung zu bringen. Als „Gemeinschaftsrechtsgerichte“ sind sie insoweit im wahrsten Sinne des Wortes „in erster Linie“ Wahrer des Gemeinschaftsrechts52. Dies gilt für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (einschließlich Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit) ebenso wie für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Ggf. sind Vorlagen an den EuGH gemäß Art. 234 EG angebracht (Abs. 2) oder sogar geboten (Abs. 3). Auch das Gericht, in dessen Zweiten Zivilsenat der Jubilar Vorsitzender war, der BGH, hat als vorlagepflichtiges letztinstanzliches Gericht (Art. 234 Abs. 3 EG) mehrfach den EuGH angerufen und in manchen Bereichen seine Rechtsprechung im Lichte des Gemeinschaftsrechts fortentwickelt53. In sportrechtlichen Fällen knüpfte der BGH ohne Vorlage an den EuGH, die hier auch nicht geboten war, weil die Rechtsprechung zutreffend berücksichtigt wurde, an dessen Bosman-Urteil an54. Von den gemeinschaftsrechtlichen Argumenten ließen sich auch die französischen Gerichte überzeugen, die den deutschen Snowboardlehrer freisprachen, weil das französische Gesetz, auf dem der Strafvorwurf basierte, insoweit gegen die Grundfreiheiten verstieß55.
IV. Ergebnis und Ausblick Als Ergebnis lässt sich zum einen festhalten, dass die Realisierung des Binnenmarktes auch im Bereich des Sports und hier der Sportlehrer nach wie vor eine bleibende Aufgabe ist. Berufständische Interessen der heimischen Sportlehrer, Unternehmen und Verbände führen in manchen Bereichen immer noch dazu, dass die nationale Legislative und Exekutive sich diese zu Eigen macht und gemeinschaftsrechtswidrige Abschottungen aufrechterhält. Davon zu unterscheiden sind berechtigte Qualitätsanforderungen an Sportlehrer zum Schutze der unterrichteten bzw. betreuten Sportler bzw. Kunden, die die Mitgliedstaaten nach wie vor mangels (vollständiger) gemeinschafts-
__________ 52 Vgl. dazu Streinz (Fn. 14), Rz. 574 ff. 53 Vgl. zur Vorlagepraxis die jährlichen Statistiken des EuGH. Zum BGH vgl. z. B.
Basedow, Der BGH, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in FS Brandner, 1996, S. 651 ff. Hervorzuheben ist z. B. der Wandel in der Rechtsprechung des BGH zum Wettbewerbsrecht hinsichtlich des Verbraucherleitbildes, das der EuGH gegenüber mitgliedstaatlichen Beschränkungsmaßnahmen (anders zumindest teilweise hinsichtlich gemeinschaftsrechtlicher Regelungen, vgl. Streinz (Fn. 14), Rz. 366a) entwickelt hat. Vgl. z. B. BGH, WRP 1999, 1155 (1159) (EG-Neuwagen II) und BGH, WRP 2000, 517 (Orient-Teppichmuster). Vgl. dazu Müller-Graff in von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV-Kommentar, Art. 28 EG Rz. 217 m. w. N. in Fn. 648. Zu den Auswirkung der EuGH-Rechtsprechung auf das entsprechende deutsche Recht eingehend Peter W. Heermann, Warenverkehrsfreiheit und deutsches Unlauterkeitsrecht, 2004, S. 115 ff. 54 Vgl. BGH, NJW 1999, 3552 = SpuRt 1999, 236; BGH, NJW 2000, 1028. 55 Vgl. oben Fn. 5 und Streinz/Herrmann/Kraus, SpuRt 2005, 9.
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rechtlicher Harmonisierung stellen dürfen. Andererseits geben die jüngsten Urteile der französischen Gerichte ein Beispiel dafür, dass es zwar mühsam und mit Kosten und Risiken und zeitlichen Verzögerungen, die zu Einnahmeausfällen führen, verbunden, aber doch nicht aussichtslos ist, „sein“ Gemeinschaftsrecht als Sportlehrer durchzusetzen56.
__________ 56 Vgl. dazu Streinz, Der Weg zum Binnenmarkt für Sportlehrer als Aufgabe der Ge-
richte, SpuRt 2004, 197 (198 f.).
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Klaus Vieweg
Fairness und Sportregeln – Zur Problematik sog. Tatsachenentscheidungen im Sport Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Entscheidungen des Court of Arbitration for Sport III. Tatsachenentscheidungen im System der Sportregeln 1. Begriff und Funktion der Sportregeln 2. Tatsachenentscheidungen 3. Probleme
IV. Tatsachenentscheidungen und Fairness-Prinzip 1. Inhaltliche Konturierung des Fairness-Prinzips 2. Grundlage und Geltung des Fairness-Prinzips 3. Konsequenzen im Hinblick auf Tatsachenentscheidungen V. Zusammenfassung und Ausblick
I. Einleitung Dem Sportrechtler Volker Röhricht ist der Fair Play-Gedanke immer ein großes Anliegen gewesen. Erwähnt seien zunächst nur seine Aktivitäten bei der rechtlichen Lösung der Dopingproblematik. Gern hat er 1991–1993 bei der Neuformulierung der „Rahmen-Richtlinien des Deutschen Sportbundes zur Bekämpfung des Dopings“1 mitgewirkt, wohl wissend, dass Dopingfälle letztlich in die Zuständigkeit „seines“ II. Zivilsenats fallen und nach der senatsinternen Aufgabenverteilung bei ihm auf dem Berichterstatter-Schreibtisch landen würden. Nicht zuletzt aufgrund des von ihm eingebrachten höchstrichterlichen Sachverstandes ist mit den „DSB-Rahmen-Richtlinien“ ein Meisterstück der Kautelarjurisprudenz entstanden. Dies mag man daran erkennen, dass der II. Zivilsenat sich lediglich einmal mit einem Dopingfall beschäftigen musste und sich in diesem Fall die Nichtzulassung der Revision auf den Fair Play-Gedanken stützen konnte. Auch bei der Neubestimmung des Umfangs der gerichtlichen Nachprüfung von Vereinsentscheidungen, namentlich bei sozialmächtigen Verbänden, hat Volker Röhricht nachdrücklich die Einhaltung elementarer rechtsstaatlicher Regeln hervorge-
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Vgl. hierzu Röhricht, Satzungsrechtliche und individualrechtliche Absicherung von Zulassungssperren als wesentlicher Bestandteil des DSB-Sanktionskatalogs, in Führungs- und Verwaltungs-Akademie Berlin des Deutschen Sportbundes (Hrsg.), Verbandsrecht und Zulassungssperren, 1994, S. 12 ff.; Kühl, Die Entstehung des DSB-Sanktionskatalogs als Empfehlung an die Spitzenverbände, ebd., S. 7 ff.
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Klaus Vieweg
hoben2, zugleich aber – ebenso nachdrücklich – für eine richterliche Zurückhaltung gegenüber den besonderen Wertvorstellungen und Maßstäben der Vereine und Verbände plädiert.3 Die im Wesentlichen aus seiner Feder stammende „Karlsruher Erklärung zum Fair Play“4 aus dem Jahre 1998 beschränkt sich nicht auf die Darstellung hehrer Prinzipien, sondern richtet sich an alle am Sport Beteiligten mit konkreten, wohlformulierten Forderungen. Im Mai 2005 stellt sich die Frage: Wird Volker Röhricht nach seiner Pensionierung die neugewonnene Freiheit von Nebentätigkeitsverboten nutzen und sich auch im Sport als höchst kompetenter Schiedsrichter zur Verfügung stellen? Fairness und Unfairness im Sport sind thematisch ein Dauerbrenner. Das haben wieder einmal die Olympischen Spiele in Athen gezeigt. Häufig, manchmal vorschnell oder auch gedankenlos wird mit dem Fair Play-Gedanken argumentiert, um ein gewolltes Ergebnis zu rechtfertigen. So wurde die Anrufung des Court of Arbitration for Sport (CAS) durch die Nationalen Olympischen Komitees Frankreichs, Großbritanniens und der USA mit dem Ziel, die Platzierung in der Vielseitigkeitsreiterei zu ändern, teilweise als unfair bezeichnet, weil damit bezweckt würde, aus formalen Gründen die sportlich am besten Qualifizierten um die verdiente Goldmedaille zu bringen.5 Der Präsident des Internationalen Turnerbundes (FIG), Bruno Grandi, appellierte an die Fairness des Olympiasiegers im Mehrkampf der Kunstturner, Paul Hamm, und forderte ihn auf, seine Goldmedaille an den Südkoreaner Yang Tae Young weiterzugeben, da dieser aufgrund eines Kampfrichterfehlers nicht Erster, sondern Dritter geworden sei.6 Die – mögliche – Korrektur der Wertung hatte die FIG nicht vorgenommen. Beim 200-MeterRücken-Finale der Männer erhielt Aaron Peirsol die Goldmedaille, obwohl er wegen eines Wendefehlers zunächst disqualifiziert worden war. Später wurde die Disqualifikation aufgrund eines Formfehlers zurückgenommen. Der zweitplatzierte Markus Rogan akzeptierte diese Entscheidung und stellte ausdrücklich die Freundschaft zu Aaron Peirsol über den Gewinn der
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Röhricht, Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfahren nach deutschem Recht, in Röhricht (Hrsg.), Sportgerichtsbarkeit, 1997, S. 19 (26) mit Hinweis auf die ständige Rechtsprechung, insb. BGH, NJW 1994, 2610 (2611) und BGHZ 128, 93 (110) = NJW 1995, 583 (587); ders., Inhaltskontrolle verbandsrechtlicher Entscheidungen, in Württembergischer Fußballverband e.V. (Hrsg.), Verbandsrechtsprechung und staatliche Gerichtsbarkeit, 1988, S. 75 (86). Röhricht, Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfahren nach deutschem Recht (Fn. 2), S. 32 f. m. w. N. Konstanzer Arbeitskreis für Sportrecht e.V. (jetzt: Deutsche Vereinigung für Sportrecht), Karlsruher Erklärung zum Fair Play, o. J. (1998). NOK-Vizepräsident Graf Landsberg-Velen: „Wo bleibt das Fairplay?“, Spiegel online, 22.8.2004: „Uns wurden die Medaillen vom Hals gerissen.“, http://www. spiegel.de/sport/sonst/0,1518,31446400.html. http://www.fig-gymnastics.com/cache/html/9124-8151-10001.html (abgerufen am 4.10.2004).
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Fairness und Sportregeln
Goldmedaille. Auf dem 10. Fair Play-Kongress in Wien erhielt er daraufhin den europäischen „Fair Play-Award“7. Die Frage nach dem Umfang der Nachprüfung sog. Tatsachenentscheidungen durch ein Gericht8 oder Schiedsgericht ist auf internationaler sportrechtlicher Ebene noch nicht abschließend geklärt. Die Entscheidung des Court of Arbitration for Sport (CAS) im Fall Young/KOC v. FIG befasst sich eingehend und grundsätzlich mit dieser Frage (dazu II.). Sie gibt allerdings auch Anlass, nach Zweck und Berechtigung sog. Tatsachenentscheidungen zu fragen. Insofern spielen die Funktion und das System der Sportregeln (dazu III.) sowie das Fairness-Prinzip eine vom CAS noch nicht vollständig gewürdigte Rolle. Dies zeigt das Beispiel der Regelungen im Kunstturnen besonders anschaulich (dazu IV.).
II. Die Entscheidungen des Court of Arbitration for Sport In seiner Leitentscheidung Young/KOC v. FIG9 geht es um folgenden Sachverhalt: Im Mehrkampffinale der Kunstturner erhielt bei den Olympischen Spielen in Athen der Südkoreaner Yang Tae Young am Barren die Wertung 9,712 Punkte. Der Schwierigkeitsgrad der Übung wurde aufgrund eines Kampfrichterfehlers (ein „Belle“ wurde als „Morisue“ notiert) um 0,1 Punkte zu gering berechnet. Bei einer Erhöhung der Note um 0,1 Punkte hätte Young mit 57,874 Punkten ein besseres Gesamtergebnis als Paul Hamm (57,823 Punkte) erzielt und wäre Olympiasieger geworden. Die FIG suspendierte die betreffenden Kampfrichter, beließ es aber bei der Wertung und damit bei der ursprünglichen Platzierung. In der Begründung seiner Entscheidung formuliert der CAS die Problematik der Tatsachenentscheidungen („field of play“-decisions) wie folgt: 3.13 The extent to which, if at all, a Court including CAS can interfere with an official’s decision is not wholly clear. An absolute refusal to recognize such a decision as justiciable and to designate the field of play as „a domain into which the King’s writ does not seek to run“ in Lord Atkin’s famous phrase (Balfour v Balfour 1919 2 KB at p. 919) would have a defensible purpose and philosophy. It would recognize that there are areas of human activity which elude the grasp of the law, and where the solution to disputes is better found, if at all, by agreement. It would contribute to finality. It would uphold, critically, the authority of the umpire, judge or referee, whose power to
__________ http://derstandard.at/?id=1767374 (abgerufen am 30.8.2004) und http://sport. austria.gv.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4146&Alias=sport&cob=7635 (abgerufen am 4.10.2004). 8 Vgl. zum deutschen Recht statt vieler Grunsky, Tatsachenfeststellungen im Sportrecht zwischen staatlichen Gerichten und Verbandsgerichten, in Württembergischer Fußballverband e.V. (Hrsg.), Verbandsrechtsprechung und staatliche Gerichtsbarkeit, 1988, S. 63 ff. 9 CAS 2004/A/704 Yang Tae Young v/FIG (http://www.tas-cas.org/en/pdf/yang.pdf; abgerufen am 6.4.05). 7
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Klaus Vieweg control competition, already eroded by the growing use of technology such as video replays, would be fatally undermined if every decision taken could be judicially reviewed. And, to the extent that the matter is capable of analysis in conventional legal terms, it could rest on the premise that any contract that the player has made in entering into a competition is that he or she should have the benefit of honest „field of play“ decisions, not necessarily correct ones.
Danach stellt er fest: „Sports Law does not, however, have a policy of complete abstention“ (3.14) und referiert die einschlägigen früheren CAS-Entscheidungen10, die er wie folgt zusammenfasst: 3.17 In short Courts may interfere only if an official’s field of play decision is tainted by fraud or arbitrariness or corruption; otherwise although a Court may have jurisdiction it will abstain as a matter of policy from exercising it.
Im Ergebnis bejaht der CAS also seine Überprüfungskompetenz, hält sich aber in der Sache aus Zweckmäßigkeitserwägungen zurück (judicial self restraint). Hinsichtlich des „concept of arbitrariness“ zitiert der CAS die Entscheidung KOC v. ISU: 5.1 The jurisprudence of CAS in regard to the issue raised by this application is clear, although the language used to explain that jurisprudence is not always consistent and can be confusing. Thus, different phrases, such as „arbitrary“, „bad faith“, „breach of duty“, „malicious intent“, „committed a wrong“ and „other actionable wrongs“ are used, apparently interchangeably, to express the same test (M. v/AIBA, CAS OG 96/006 and Segura v/IAAF, CAS OG 00/013). 5.2 In the Panel’s view, each of those phrases means more than that the decision is wrong or one that no sensible person could have reached. If it were otherwise, every field of play decision would be open to review on its merits. Before a CAS Panel will review a field of play decision, there must be evidence, which generally must be direct evidence, of bad faith. If viewed in this light, each of those phrases means that there must be some evidence of preference for, or prejudice against, a particular team or individual. The best example of such preference or prejudice was referred to by the Panel in Segura, where they stated that one circumstance where a CAS Panel could review a field of play decision would be if a decision were made in bad faith, eg. as a consequence of corruption. The Panel accepts that this places a high hurdle that must be cleared by any Applicant seeking to review a field of play decision. However, if the hurdle were to be lower, the flood-gates would be opened and any dissatisfied participant would be able to seek the review of a field of play decision. 5.3 Accordingly, the onus is on the Applicant who challenges that decision, to prove that in making the decision on technical matters specific to short track speed skating, the Respondent, by its appointed referees acted in bad faith in the sense described above.
__________ 10 Mendy v. AIBA (CAS OG 96/06); Segura v. IAAF (CAS OG 00/013) und Korean
Olympic Committee (KOC) v. International Skating Union (ISU) (CAS OG 02/007).
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Fairness und Sportregeln
Sodann weist der CAS auf die Sondersituation hin, dass es um die Konsequenzen eines zugegebenen Funktionärsfehlers geht und die „field of play“Rechtsprechung des CAS nicht direkt anwendbar ist. 4.7 … we consider that we should nonetheless abstain from correcting the results by reliance of an admitted error. An error identified with the benefit of hindsight, whether admitted or not, cannot be a ground for reversing a result of a competition. We can all recall occasions where a video replay of a football match, studied at leisure, can show that a goal was given, when it should have been disallowed (the Germans may still hold that view about England’s critical third goal in the World Cup Final in 1966), or vice versa or where in a tennis match a critical line call was mistaken. However, quite apart from the consideration, which we develop below, that no one can be certain how the competition in question would have turned out had the official’s decision been different, for a Court to change the result would on this basis still involve interfering with a field of play decision. Each sport may have within it a mechanism for utilising modern technology to ensure a correct decision is made in the first place (e.g. cricket with run-outs) or for immediately subjecting a controversial decision to a process of review (e.g. gymnastics;) but the solution for error, either way, lies within the framework of the sport’s own rules; it does not licence judicial or arbitral interference thereafter. If this represents an extension of the field of play doctrine, we tolerate it with equanimity. Finality is in this area all important: rough justice may be all that sport can tolerate. As the CAS Panel said in KOC v IOC: „There is a more fundamental reason for not permitting trial, by television or otherwise, of technical, judgmental decisions by referees. Every participant in a sport in which referees have to make decisions about events on the field of play must accept that the referee sees an incident from a particular position, and makes his decision on the basis of what he or she sees. Sometimes mistakes are made by referees, as they are players. That is an inevitable fact of life and one that all participants in sporting events must accept. But not every mistake can be reviewed. It is for that reason that CAS jurisprudence makes it clear that it is not open to a player to complain about a ‚field of play’ decision simply because he or she disagrees with that decision.“
Bei seiner Auseinandersetzung mit dem konkreten Fall geht der CAS auf die Kausalität ein, da die Startreihenfolge der betroffenen Turner am letzten Gerät anders gewesen wäre. 4.8 … So it needs to be clearly stated that while the error may have cost Yang a gold medal, it did not necessarily do so.
Weiterhin weist der CAS darauf hin, dass die FIG „in entire good faith“ drei Fehler gemacht habe: 4.9 … Firstly, they publicly accepted without qualification that there was an error in the judging of their own officials. True it is that there was an error in the start value identifiable when Yang’s performance was analysed with the aid of the Technical Video. However, an error identified only after a competition is complete is immaterial to the result of the competition under FIG’s rules: only an error identified during it, and successfully appealed, can affect such a result. Secondly, they publicly said that, but for such error, Yang would have won the event. This, for reasons we have already discussed, is something in realm of speculation, not of certainty. Thirdly, they sought
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Klaus Vieweg to persuade Hamm to surrender his gold medal to Yang when there was no reason for him to do so.
Interessant sind die Überlegungen des CAS zum Fair Play-Gedanken: 4.10 There was an instance drawn to our attention where in the World Trampoline Championship of 2001 an error in judging was made and the beneficiary of it, Ms Ka Aaeva gave her gold medal „in the spirit of friendship and fair play“ to the runner up Ms Dogonadze. She did so because there was, as was perceived, no way other than by an act of grace that the consequences of the error could be corrected. Hamm was invited to do the same by FIG. He declined to do so. He is, in our view, not to be criticized for this. He was not responsible for the judges’ error; and, as we have already observed, he can be no more certain than we as to what the outcome would have been had the judges not made the mistake.
Abschließend erklärt der CAS, sowohl Hamm als auch Young seien Opfer dieser außergewöhnlichen Abfolge von Ereignissen, er – der CAS – sei aber nicht Salomon: 4.11… nor can it mediate a solution acceptable to both gymnasts or their respective NOCs. CAS must give a verdict based on its findings of fact viewed in the context of the relevant law.
III. Tatsachenentscheidungen im System der Sportregeln 1. Begriff und Funktion der Sportregeln Unter dem Begriff Sportregeln werden im Folgenden die von den betreffenden internationalen Sportverbänden aufgestellten Regelungen zusammengefasst, die die Sportart definieren, die Wettkampfmodalitäten festlegen und bestimmen, wie diese Regeln angewendet und durchgesetzt werden. Sportregeln haben demgemäß als Grundfunktion die Definition der Sportart und die Konzeption ihrer – vor allem – wettkampfmäßigen Ausübung (Typisierungsfunktion11). So sind Fußball, American Football und Rugby sowie die verschiedenen Formen asiatischer Kampfsportarten durch Beschreibung der Spielidee (z. B. Ball hinter die Linie eines Tores platzieren) und der charakteristischen und verbotenen Bewegungsabläufe festzulegen und voneinander abzugrenzen.12 Zur Konzeption gehören die Frage des „Ob“ und des „Wie“ der wettkampfmäßigen Ausübung. Hier haben Abgrenzungen zur bloßen körperlichen Ertüchtigung (Wandern, Nordic Walking, Fitnessgymnastik u.s.w.) und zur Show (Artistik, Catchen u.s.w.) zu erfolgen. Die Sportregeln dienen insofern der Ermöglichung des Wettkampfs sowie der Führung von Rekordlisten (Aspekt der Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit). Zur Konzeption
__________ 11 Vieweg, JuS 1983, 825 (829). 12 Besonders anschaulich sind die nach den Regeln des Internationalen Schwimmver-
bandes (FINA) durchgeführten Wettkämpfe im Kunstspringen einerseits und die sog. „Arschbomben“-Wettkämpfe andererseits.
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Fairness und Sportregeln
sind weiterhin zu zählen die Umsetzung sportethischer Prinzipien: z. B. das Prinzip der Chancengleichheit als Zentralaspekt des Fair Play-Gedankens. Zur Verwirklichung der Konzeption einer definierten Sportart bedarf es vielfältiger Sportregeln mit unterschiedlicher Funktion. Festzulegen sind die technischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des Wettkampfs unter Berücksichtigung der sportethischen Prinzipien. Hierzu zählen Vorschriften zur Gestaltung der Sportstätte, des Sportgeräts, der Messinstrumente (z. B. elektronische Zeitmessung), der Ausrüstung (insbesondere Aspekt der Sicherheit), der Kleidung (Unterscheidbarkeit, Werbeträger, Attraktivität13), zum Einsatz von Personal (z. B. Kampfrichter, Schiedsrichter, Balljungen u.s.w.), dessen Ausstattung mit Technik (Telefon, Computer, Videogeräte u.s.w.). Beispiele für die Ausgestaltung der Chancengleichheit sind die Einteilung von Gewichthebern und Boxern in Gewichtsklassen, das Dopingverbot, die Zulassung von Sportgeräten und -materialien sowie das Verbot bestimmter Bewegungstechniken (z. B. beidbeiniger Absprung beim Hochsprung), Transferregelungen, Ausgleich des „Heimvorteils“ durch Heim- und Auswärtsspiele. Zu den wirtschaftlichen Modalitäten des Wettkampfs gehören insbesondere Werbe- und Vermarktungsvorschriften, ggf. zeitliche Vorgaben für Werbeunterbrechungen, sowie Wirtschaftlichkeitsprüfungen als Lizenzvoraussetzungen. Schließlich bedarf es Regelungen, die festlegen, wer die Regeln anwendet und ggf. durchsetzt (Zuständigkeit), wie Regelverletzungen festgestellt und ggf. sanktioniert werden. Insofern kommt den Sportregeln Streitvermeidungs- und Entscheidungsfunktion14 zu. 2. Tatsachenentscheidungen Von den unterschiedlichen Konzepten, die im Laufe der Zeit entwickelt worden sind, um die gerichtliche Überprüfung von Verbandsentscheidungen einzuschränken bzw. auszuschließen15, soll eines hervorgehoben werden: die Differenzierung zwischen Tatsachenentscheidungen und Regelverstößen.16
__________ 13 Besondere Kleidungsvorschriften bestehen nach den Regeln des Internationalen
Volleyballverbandes (FIVB) z. B. für Beach-Volleyball der Damen. 14 Vgl. Vieweg, JuS 1983, 825 (829). 15 Nach Kummer, Spielregel und Rechtsregel, Bern 1973, passim fallen Sport- bzw.
Spielregeln in den „Zuständigkeitsbereich“ der Sportverbände und unterliegen prinzipiell nicht der gerichtlichen Kontrolle. Anders soll es bei Rechtsregeln sein. Das Kummer’sche Konzept hat sich im Wesentlichen nur in der Schweiz durchsetzen können; vgl. auch Pfister, SpuRt 1998, 221 f. 16 Vgl. statt vieler Hennes, Regelverstoß, Tatsachenfeststellung und Überprüfung durch das Sportgericht, in Württembergischer Fußballverband (Hrsg.), Der Schiedsrichter und das Recht, 1989, S. 40 ff.; Eilers, SpuRt 1994, 79 f.; Waske, SpuRt 1994,
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Klaus Vieweg
Nach dem Konzept der Tatsachenentscheidung sollen Tatsachenfeststellungen endgültig auf dem Spielfeld getroffen und nicht nachträglich am „grünen Tisch“ korrigiert werden. Der Begriff der „Tatsachenentscheidung“ wird allerdings nicht einheitlich definiert. Im Kern geht es darum, solche Entscheidungen von Schiedsrichtern und Kampfrichtern, die sich unmittelbar aus einer Spiel- bzw. Wettkampfsituation ergeben und die im Nachhinein so nicht wiederholbar sind, als endgültig zu akzeptieren. Auf diese Weise soll der reibungslose Ablauf des Wettkampfs gewährleistet und die Autorität des Schiedsrichters bzw. Kampfrichters17 nicht untergraben werden. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass sich vier Arten von Tatsachenentscheidungen voneinander unterscheiden lassen: –
Eine „Tatsachenentscheidung“ im eigentlichen Sinne betrifft ein einmaliges, im Nachhinein nicht wiederholbares Ereignis im Wettkampf. Sie ist keine Frage der Regelauslegung oder der Subsumtion. Die Entscheidung erfolgt endgültig durch den Schiedsrichter/Kampfrichter aufgrund der von ihm selbst getroffenen Tatsachenfeststellungen. Er ist „allein verantwortlich“. Eine Abstimmung mit Assistenten („Vier-Augen-Prinzip“) und/oder die Unterstützung durch technische Hilfsmittel (Videoaufzeichnung, elektronische Startblockkontrolle, Spiellinienkontrolle, Ball mit eingebautem Chip18 u.s.w.) ist nicht vorgesehen. Ebensowenig wird die Möglichkeit eines Protestes beim Schiedsrichter bzw. Kampfrichter oder bei einem Wettkampfgericht eingeräumt. Der Zielkonflikt zwischen einer richtigen und damit gerechten Entscheidung einerseits und einer sofortigen, endgültigen Entscheidung andererseits wird aufgrund des Wettkampfkonzepts, der technischen und organisatorischen Möglichkeiten sowie der Zielsetzung, die Autorität des Schiedsrichters bzw. Kampfrichters zu schützen, zugunsten der sofortigen, endgültigen Entscheidung gelöst. Ausnahmen bestehen allerdings bei willkürlichen, grob fehlerhaften, offenkundig unrichtigen Entscheidungen eines Schiedsrichters bzw. Kampfrichters.19 In diesen Sonderfällen – auch z. B. bei ziel-
__________ 189 f.; Lenz/Imping, SpuRt 1994, 225 ff.; Summerer in Fritzweiler/Pfister/ Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 1998, Zweiter Teil, Rz. 334 ff.; Hilpert, SpuRt 1999, 49 ff.; Götze/Lauterbach, SpuRt 2003, 95 ff. u. 145 ff. 17 Gerade diesen Aspekt betont Hilpert, SpuRt 1999, 49 ff. Dem kann allerdings nicht pauschal gefolgt werden. Auf lange Sicht fördern Tatsachenfehlentscheidungen, die durch das Fernsehen kritisch beleuchtet werden, wohl kaum die Autorität des Schiedsrichters bzw. Kampfrichters. 18 Der Weltfußballverband (FIFA) will am 23.2.2005 beim englischen Liga-Cup-Finale einen von Adidas entwickelten Spielball mit eingebautem Mikrochip testen, der dem Schiedsrichter anzeigt, wenn sich der Ball komplett hinter der Torlinie befindet. Vgl. The Independent, online edition v. 6.1.2005 sowie The Independent v. 6.1.2005, S. 60 f.; FAZ v. 6.1.2005, S. 30. 19 Nach Hennes (Fn. 16), S. 42, werden von dem Anwendungsbereich der Regel V allerdings nicht Fälle erfasst, in denen der Schiedsrichter bewusst einen falschen Sachverhalt zugrunde gelegt oder grob fehlerhaft eine offenkundig unrichtige Ent-
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Fairness und Sportregeln
gerichteter, bewusster Manipulation des Ergebnisses eines Fußballspiels durch Fehlentscheidungen20 – wäre es verfehlt, die Autorität des Schiedsrichters auch im Nachhinein noch schützen zu wollen. Ob die Tatsachenentscheidung sich in diesem Fall auf das Spielergebnis beschränkt21 oder ob nicht Spielwiederholungen angemessen wären, lässt sich nur im Einzelfall unter Berücksichtigung des Gesamtablaufs des Wettbewerbs entscheiden. –
Die Tatsachenentscheidung nach Abstimmung bzw. technischer Entscheidungsunterstützung unterscheidet sich von der ersten Art nur dadurch, dass der Schiedsrichter bzw. Kampfrichter sich vergewissert, wie sein Assistent das Ereignis beobachtet hat (so z. B. im Fußball) oder sich die Videoaufzeichnung der zu entscheidenden Spielsituation am Spielfeldrand ansieht (so im Eishockey). Der erwähnte Zielkonflikt wird in derselben Weise entschieden. Die Verbesserung der Entscheidungsgrundlage überwiegt dabei den Nachteil der kurzfristigen Spielunterbrechung. So sieht z. B. Regel V Abs. 2 Satz 2 der FIFA-Fußballregeln eine Bindungswirkung in der Weise vor, dass die Sportgerichte negative und positive Tatsachenentscheidungen der Schiedsrichter insoweit hinzunehmen haben, als sie das Spielergebnis betreffen, auch dann, wenn der Schiedsrichter von einem objektiv unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist.22
–
Eine Tatsachenentscheidung mit der Möglichkeit anschließender verbandsinterner Überprüfung und ggf. Korrektur während des Wettkampfs (d. h. bis zur Siegerehrung) ist anzunehmen, wenn die Wettkampfregeln einen Protest beim Schiedsrichter bzw. Kampfrichter selbst oder bei einem Wettkampfgericht vorsehen.23 Möglicherweise kommen erst bei
__________
20 21
22
23
scheidung getroffen hat. Ausgeklammert werden sollen reine Willkürentscheidungen, die die allgemein anerkannten Wertmaßstäbe missachten und die sich so weit von den Tatsachen entfernen, dass sie nicht mehr hinnehmbar sind. Vgl. zum Fall R. Hoyzer insbesondere FAZ v. 28.1.2005, S. 32. So Hennes (Fn. 16), S. 42, demzufolge die Endgültigkeit der Tatsachenentscheidung nicht absolut, sondern nur relativ sei, soweit sie das Spielergebnis betreffe. Einen ähnlichen Ansatz vertritt der CAS mit dem „concept of arbitrariness“; vgl. oben II. Regel V FIFA-Fußballregeln lautet: „Entscheidungen des Schiedsrichters: Seine Entscheidungen über Tatsachen, die mit dem Spiel zusammenhängen, sind endgültig. Er darf eine Entscheidung nur ändern, wenn er festgestellt hat, dass diese falsch war, oder falls er es für nötig hält, auch auf einen Hinweis eines SchiedsrichterAssistenten. Voraussetzung hierfür ist, dass das Spiel noch nicht fortgesetzt war.“ Vgl. hierzu auch Hennes (Fn. 16), S. 42. Vgl. z. B. die ab 1.1.2003 geltende Leichtathletik-Fehlstartregel 162.7 Internationale Wettkampfbestimmungen, Ausgabe 2002, die nach der Interpretation von K. Schneider (Leiter DLV-Kampfrichterwesen) bedeutet, dass „der Wettkämpfer das Recht [hat], gegen die Fehlstartentscheidung einen sachlich begründeten Einspruch einzulegen. Dabei gelten grundsätzlich die in der IWB-Regel festgelegten Regularien, soweit sie sinnvoll und ohne Nachteil für andere Beteiligte sind.“ Der Einspruch sei in erster Instanz beim Schiedsrichter Bahn, hilfsweise beim Starter einzulegen. Diese könnten die Fehlstartentscheidung zurücknehmen, wenn durch die
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Klaus Vieweg
einem Protest technische Entscheidungshilfen (z. B. Videoaufzeichnung) zum Einsatz. –
Schließlich können Tatsachenfeststellungen, die erst nach Ende des Wettkampfs erfolgen (können), allerdings auch zu Ergebnisänderungen führen. Hier sind die Fälle positiver Dopingbefunde sowie der erst nach Spielende bemerkte Einsatz nicht spielberechtigter Spieler einzuordnen. Die Disqualifikation des betroffenen Sportlers sowie der nachträgliche Spielverlust sind in diesen Fällen die Konsequenzen, die von einer verbandsinternen Rechtsinstanz ausgesprochen werden. Ähnlich einzuordnen sind die bereits als Ausnahmen erwähnten willkürlichen, grob fehlerhaften, offenkundig unrichtigen Entscheidungen eines Schiedsrichters bzw. Kampfrichters. Der Zielkonflikt wird hier anders als in den drei vorgenannten Fällen gelöst. Zum Teil erfolgt eine Ergebniskorrektur (Disqualifikation, Spielverlust) deshalb, weil die Sanktionierung des Regelverstoßes als wichtiger angesehen wird als eine endgültige Entscheidung bis zum Wettkampfende. Zum anderen wird das Wettkampf-/Spielergebnis selbst nicht korrigiert, nicht zuletzt weil die alternativen Kausalverläufe bei einer „richtigen“ Entscheidung des Schiedsrichters/Kampfrichters kaum feststellbar wären. Zugleich werden aber z. B. im Nachhinein Sanktionen verhängt (z. B. die Sperre eines Fußballspielers aufgrund einer nach dem Spiel festgestellten „Schwalbe“, die zu einem – als Tatsachenentscheidung nicht anfechtbaren – Strafstoß und zum Siegtor in der letzten Spielminute geführt hat). Der Sonderfall der Manipulation des Spielergebnisses durch einen Schiedsrichter lässt sich – wie bereits erwähnt – nur im Einzelfall unter Berücksichtigung des weiteren Ablaufs des Wettbewerbs entscheiden.
__________ Aussage des Wettkämpfers oder anderer unmittelbar Beteiligter (z. B. Rückstarter) dies geboten erscheine. … In jedem Fall müsse die Entscheidung sehr rasch erfolgen, um den Fortgang des Wettbewerbs nicht zum Nachteil der anderen Wettkämpfer zu behindern. Im Normalfall werde der Schiedsrichter die Entscheidung des Starters nicht abändern, weil die exakte und eindeutige Beurteilung eines Starts nur möglich sei, wenn man in unmittelbarer Nähe des Starts stehe und alle Wettkämpfer im Blickwinkel habe. Werde der Einspruch vom Schiedsrichter bzw. Starter abgelehnt, dürfe der betreffende Wettkämpfer in diesem Lauf nicht mehr starten … Der Wettkämpfer oder sein Betreuer könnten anschließend Einspruch beim Schiedsgericht einlegen (IWB-Regel 146). Die frühere Fehlstartregel 128.1 lautete: „Der Starter hat die uneingeschränkte Kontrolle über die am Start befindlichen Wettkämpfer; er ist für die mit dem Start in Verbindung stehenden Vorgänge allein verantwortlich.“ Nach Auskunft des Technischen Komitees der IAAF bedeutet die Neuregelung, dass der Starter bei der Beurteilung des Startvorgangs keine sog. Tatsachenentscheidungen mehr treffe (http://www.leichtathletik.de/ dokumente/pressemitteilungen_view.asp?id=2290, abgerufen am 18.11.2004). Nach der hier vorgenommenen Systematisierung handelt es sich um eine Tatsachenentscheidung der dritten Kategorie.
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Fairness und Sportregeln
3. Probleme Das Konzept der Tatsachenentscheidung bewertet die rasche Endgültigkeit der Entscheidung generell als wichtiger als ihre Richtigkeitsgewähr. Hieraus resultieren Probleme: Erstens divergiert die Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Tatsachenfeststellung von Sportart zu Sportart. Weniger schwierig und damit weniger fehleranfällig ist z. B. die Feststellung von Zeitüberschreitungsfehlern beim Reiten oder Bodenturnen. Hingegen fordert die Beobachtung komplizierter, in bestimmter Weise definierter Bewegungsabläufe (z. B. wettkampfmäßiges Gehen, Kunstturnen) die (Wett-)Kampfrichter in besonderem Maße. Eine höhere Fehlerquote ist geradezu vorprogrammiert und damit regelimmanent. Zweitens bereitet die Abgrenzung von Tatsachenentscheidung und Regelauslegung Schwierigkeiten.24 Fehlerhafte Entscheidungen können auf einer Verkennung der Tatsachen oder auf einer fehlerhaften Regelauslegung, aber auch auf einer fehlerhaften Anwendung einer eigentlich richtig verstandenen Regel auf eigentlich richtig festgestellte Tatsachen – juristisch: auf Subsumtionsfehlern – beruhen. Mit diesen Abgrenzungsproblemen sind sprachliche Ungenauigkeiten verbunden. Vorzugswürdig erscheint daher die im englischen Sprachraum eingebürgerte Bezeichnung „field of play decision“. Drittens haben organisatorische Maßnahmen – wie der zweite Schiedsrichter im Handball und die Aufgabenverteilung auf zwei Kampfgerichte im Kunstturnen – sowie vor allem technische Entwicklungen – wie Videoaufzeichnungen und elektronische Zeitmessungen – eine zeitnahe Verbesserung der Richtigkeitswahrscheinlichkeit von Tatsachenfeststellungen ermöglicht, die die Lösung des genannten Zielkonflikts im Sinne von Tatsachenentscheidungen fraglich werden lässt.25 Zu fragen ist: Wie weit sollen die Bedingungen für die Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen optimiert werden? In welchem Maße darf der sportarttypische Ablauf durch Unterbrechungen und Verzögerungen gestört werden? Viertens ist zu fragen: Wie kann eine „Flucht in Tatsachenentscheidungen“ verhindert werden, die bezweckt, Kontrollen und Korrekturen jeder Art zu verhindern? Wem soll die endgültige Regelungs- und Entscheidungskompetenz zustehen? Wer soll die Voraussetzungen des Tatsachenentscheidungskonzepts definieren dürfen? Fünftens schließlich und damit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob das Konzept der Tatsachenentscheidung nicht Ausnahmen formulieren muss, um höherrangigen Werten (z. B. der Durch-
__________ 24 Besonders anschaulich ist die unterschiedliche Einstufung des Nürnberger „Phan-
tom-Tors“. Vgl. dazu Eilers, SpuRt 1994, 79 f.; Waske, SpuRt 1994, 189 f.; Lenz/ Imping, SpuRt 1994, 225 ff.; Hilpert, SpuRt 1999, 49 (53). 25 H. P. Westermann, Fairness als Rechtsbegriff, in Württembergischer Fußballverband e.V. (Hrsg.), Fairnessgebot, Sportregeln und Rechtsnormen, 2004, S. 79 (91 f.); Götze/Lauterbach, SpuRt 2003, 95 ff. u. 145 ff.; G. Wagner/Bücker, Haftung des Deutschen Fußball-Bundes für Fehlentscheidungen des Schiedsrichters, Bremen, 2001, S. 14 ff. bejahen eine Rechtspflicht zur Videoauswertung (abrufbar unter http://www.wagner-ohrt.de/0_frame.htm).
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setzung des Dopingverbots) zu entsprechen oder nicht akzeptable Fehler korrigieren zu können?26
IV. Tatsachenentscheidungen und Fairness-Prinzip Der Tatsachenentscheidung ist als Kompromissformel zur Lösung des Zielkonflikts zwischen richtiger und rascher Entscheidung das Fairness-Prinzip immanent. Zu überlegen ist, ob es zur Lösung der aufgezeigten Probleme beitragen kann. Dies setzt zunächst seine inhaltliche Konturierung voraus (dazu 1.), die sich namentlich aus Entwicklung und Verwendung ergibt. Danach sind Grundlage und Geltung zu erörtern (dazu 2.), bevor konkrete Konsequenzen für die die Tatsachenentscheidungen betreffenden Verbandsregelungen und das Verhalten der Sportler entwickelt werden (dazu 3.). 1. Inhaltliche Konturierung des Fairness-Prinzips Fairness ist zur beliebten Argumentationsfigur, zum häufig verwendeten Entscheidungskriterium geworden. Sowohl im Sport als auch im rechtlichen Bereich lässt sich geradezu eine Verwendungseutrophie27 beobachten, der Definitions- und Konkretisierungsbemühungen allerdings nur z. T. Rechnung tragen. Wie lässt sich also der Fairnessbegriff konkretisieren? Wenig hilfreich ist die schlichte Übersetzung, die unter Fairness Anständigkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit versteht.28 Auch etwas differenziertere Definitionen führen nicht viel weiter. Danach soll im allgemeinen Sprachgebrauch mit Fairness das vernünftige, den ungeschriebenen moralischen Gesetzen entsprechende Handeln gemeint sein. Im Sport – insbesondere als Fair Play – sei darunter ein den Regeln entsprechendes, anständiges und kameradschaftliches Verhalten zu verstehen.29 Dieses Verständnis ist gewiss zu eng. Gerade der nicht von den Regeln geforderte Verzicht auf Vorteile bildet ein wesentliches Element des Fair Play-Begriffs im Sport.30 Interessant – wenn auch nur beschränkt weiterführend – sind sprach- und sportwissenschaftliche Forschungsergebnisse. Das englische Wort „fair“ hat eine indogermanische Verbalwurzel. Sein gotischer Vorläufer „fagrs“ bedeutete passend, nützlich. Altnordisch und altdeutsch wurde es i. S. v. schön und freund-
__________ 26 S. oben Fn. 19. 27 Eine juris-Abfrage ergab am 2.11.2004, dass in der Rechtsprechung das Wort „fair“
2574 mal, das Wort „fairness“ 343 mal sowie in der Literatur das Wort „fair“ 1174 mal, das Wort „fairness“ 216 mal verwendet wurde. 28 Langenscheidts Fremdwörterbuch Englisch, 3. Aufl., 1991. 29 Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 7, 19. Aufl., 1988. 30 Karlsruher Erklärung zum Fair Play (Fn. 4), S. 1 „… mehr als nur die durch Androhung von Sanktionen erzwungene Beachtung der sportartspezifischen Regeln.“
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lich verwendet. Im 13. Jahrhundert trat dann eine ethische Bedeutungsvariante hinzu: „Fair“ entsprach dem Guten. Goeffrey Chaucer (ca. 1340– 1400) verwendete „fairnesse“ i. S. v. innerer Schönheit, d. h. von Tugend.31 Erste Verbindungen zu Wettkampf und Wettbewerb lassen sich der Robin Hood Ballad des Jahres 1510 entnehmen. Der Sheriff von Nottingham lud die besten Bogenschützen der Gegend zu einem Preisschießen ein. Im Originaltext heißt es: „… how the proud Sheriff of Nottingham did cry a full fair Play, that all the best archers of the North should come upon a day …“. Zuvor hatten schon die Ritterregeln des Lord Tiptofte, Earl of Worcester (1467) mit den Begriffen „fayre attaynt“ (fairer Stoß/Schlag) und „foule play“ (Nichteinhaltung der Regeln) einen gewissen Bezug zum Wettkampf.32 Im 16. Jahrhundert entwickelte sich „fair play“ im Zusammenhang mit Glücksspielen zu einem geläufigen Begriff. Es wurde ein Kontrapunkt zu den damals üblichen Begleiterscheinungen des Glücksspiels – Betrügereien, Lügen und Messerstechereien – gesetzt. Ein „nobleman“ durfte nur dann an einem Glücksspiel teilnehmen, wenn er und seine Mitspieler das „fair play“ einhielten.33 Eine entscheidende Ausweitung des Anwendungsbereichs des Begriffs „fair play“ über das Glücksspiel hinaus verdanken wir Shakespeare (1564–1616). In seinen Königsdramen verwendet er diesen Begriff mehrfach, jeweils im Zusammenhang mit Wettkampfsituationen zweier oder mehrerer Personen. Er verzichtet auf eine Definition und setzt voraus, dass man auch so versteht, was „fair play“ ist. Insofern entspricht die damalige Situation durchaus der heutigen. Mit der Shakespeare’schen Ausweitung des Begriffsverständnisses über das Glücksspiel hinaus wird eine Popularisierung erreicht. „Fair play“ wird zum festen Bestandteil des volkstümlichen Sprachschatzes vor allem im Bereich des Sports. Diese Rezeption des Fair Play-Begriffs im Sportbereich erfolgte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.34 Hinsichtlich der weiteren Entwicklung sei nur stichworthaft erwähnt, dass der Begriff „fair“ unter dem Aspekt der Gleichheit der Wettkampfbedingungen im 18. Jahrhundert Eingang in die Regeln des Fechtens und Boxens fand.35 Hier liegt der Ursprung für den rechtlichen Gesichtspunkt der Waffengleichheit, der heute ein wesentliches Element des juristischen Fairnessbegriffs ist. Das sportwissenschaftliche Schrifttum zu Fairness und Fair Play ist unübersehbar. Stellvertretend soll hier nur auf die Schriften des Philosophen und
__________ 31 Jost, Die Fairness – Untersuchung ihres Ursprungs und Wesensgehalts und ihrer 32 33 34 35
Bestimmung als ein pädagogischer Wertbegriff, 1970, S. 15 f. Jost (Fn. 31), S. 18 f. Jost (Fn. 31), S. 23. Jost (Fn. 31), S. 26 m. w. N. Jost (Fn. 31), S. 41.
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Olympiasiegers Hans Lenk36 verwiesen werden. Er unterscheidet zwischen formeller und informeller Fairness. Zur „formellen Fairness“ zählt er die Einhaltung der wesentlichen – konstitutiven und regulativen – Spiel- und Wettkampfregeln, die strikte Beachtung der Schiedsrichterentscheidung und die formale Gleichheit der Startchancen. Zur „informellen Fairness“ gehört nach seiner Auffassung die Achtung und Beachtung des Gegners als Spielpartner. In Anlehnung an die „goldene Regel“37 formuliert er: „Behandle und achte den Partner und Gegner, wie Du selbst von diesem behandelt und geachtet werden willst und wie Du willst, dass allgemeine Konkurrenzregeln eingehalten werden sollten.“ Der interdisziplinäre Exkurs zeigt, dass das Wort Fairness mit zweierlei Bedeutung verwendet wird: einerseits als Verfahrensvorgabe und andererseits als Verhaltensmaßstab38. Als Verfahrensvorgabe soll es der Gleichheit der Wettkampfbedingungen – allgemeiner: der Chancengleichheit und dem Abbau von Machtgefälle – dienen. Dieses Prozeduralelement ist nicht Selbstzweck. Letztlich soll es die Erzielung gerechter Ergebnisse fördern. Als Verhaltensmaßstab soll Fairness im Sport auf die Einhaltung der Regeln drängen und ggf. eine Bindung an eine darin enthaltene Sondermoral herstellen. Darüber hinausgehend sollen der tugendsame Verzicht auf (unverdiente) Vorteile und die Inkaufnahme von Nachteilen, um der Spielidee Geltung zu verschaffen – also die freiwillige Erfolgseinbuße –, als ethischer Wert positiv herausgestellt werden. Man kann dies als Fair Play im engeren Sinne bezeichnen. Auch als Rechtsbegriff hat Fairness in England und in anderen Common Law-Ländern eine jahrhundertelange Tradition. Neben „fair trial“ und „fair hearing“ seien nur z. B. „fair trade“ und „fair comment“39, „true and fair view“ sowie die Unterscheidung zwischen „fair and unfair dismissal“ erwähnt. Im deutschen Recht findet der Fairnessgedanke seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Dieses
__________ 36 Lenk, Fairness in der Siegergesellschaft?, Statement zur Preisverleihungsfeier 2001
der Fairness-Stiftung http://www.fairness-stiftung.de/FairPreisStatement.asp ?Statement=LenkStatement (abgerufen am 9.9.2004); Lenk/Pilz, Das Prinzip Fairness, Osnabrück/Zürich 1989; weitere Nachweise bei Tettinger, Der Staat 1997, 575 (591 Fn. 61). 37 Konfuzius, Lunyu XII: 2, Matthäusevangelium 7,12; Lukasevangelium 6, 31. 38 Ähnlich H. P. Westermann (oben Fn. 25), S. 90. 39 Lord Justice Scott führt in der Entscheidung Lyon v. The Daily Telegraph Ltd., 1943, K.B. 746, 753 (C.A.) aus: „The right of fair comment is one of the fundamental rights of free speach and writing, which are so dear to the British nation and it is of vital importance to the rule of law on which we depend for our national freedom.“ Ähnlich Lord Denning M.R. in Slim v. Daily Telegraph Ltd., 1968, All E.R. 497, 503 (C.A.).
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Fairness und Sportregeln
artikuliert seit 1969 das Gebot eines „fairen Verfahrens“40 und befindet sich dabei im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK – der Fair Trial-Garantie. Ein faires Verfahren vor staatlichen Instanzen setzt eine Selbstbeschränkung staatlicher Mittel gegenüber den beschränkten Möglichkeiten des Einzelnen im staatlich reglementierten Verfahren voraus. Berechenbarkeit, Missbrauchsund Schikaneverbot sowie Rücksicht gegenüber den Parteien gehören dazu. Der Einzelne darf nicht zum Objekt des Verfahrens werden, sondern muss die Möglichkeit haben, seine Rechte zu wahren und auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, insbesondere an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken. Waffengleichheit, Gewährleistung rechtlichen Gehörs, Wahrung des gesetzlichen Richters und der Neutralität des Gerichtes gehören dazu ebenso wie ein entsprechender äußerer Verfahrensablauf. Auch auf einfachgesetzlicher Ebene, z. B. auf der des Deliktsrechts, wird auf den Fairnessgedanken abgestellt, wenn der VI. Zivilsenat des BGH in seinem berühmten Komposthäckslerurteil41 ein faires Testverfahren von Seiten der Stiftung Warentest verlangt. Eine faire Beurteilung der in den Warenvergleich einbezogenen Geräte verbiete nicht, Geräte als „mangelhaft“ zu bewerten, auch wenn es noch schlechtere Geräte gebe, die nicht einmal in das Testverfahren aufgenommen worden seien. Übergreifend kann man auch hier von Fairness als Verfahrensmaßstab sprechen. Verfahrensfairness erweist sich insofern als übergreifende Argumentationsfigur, die ihrerseits konkretisiert werden muss. Entsprechend dem Prozesszweck – Durchsetzung des materiellen Rechts – dient das Gebot des fairen Verfahrens mittelbar der Erzielung materiell-rechtlich richtiger Ergebnisse. Fairness wird auch im deutschen Recht als Verhaltensmaßstab verwendet, namentlich im Wettbewerbsrecht42, im Bilanzrecht43 und im Medienrecht44. Wird Fairness als Verhaltensmaßstab verwendet, so geschieht das – wie bei der „journalistischen Fairness“ – zumeist in Form eines unbestimmten Rechtsbegriffes. Zudem wird Fairness als Begründungselement bei komplexen wertenden Entscheidungen herangezogen (z. B. unfaire Mitgliederabwerbung durch Gewerkschaften; Gebot fairen Verhaltens beim Arbeitskampf45). Insgesamt kennzeichnen Respekt des Gegners und Rücksichtnahme auf dessen Interessen sowie die Förderung der Chancengleichheit diese Bedeutungsvariante. Der freiwillige Verzicht auf Vorteile und die Inkauf-
__________ Tettinger, Der Staat 1997, 575 (577) m. w. N. BGH, NJW 1987, 2222 (2223) mit Besprechung von Vieweg, NJW 1987, 2726 f. Henning-Bodewig, GRURInt 2002, 389; H. P. Westermann (Fn. 25), S. 90. H. P. Westermann (Fn. 25), S. 87 ff. Vgl. z. B. § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Gesetz zum Staatsvertrag über den Norddeutschen Rundfunk v. 17./18.12.1991. Darin heißt es, der NDR habe sicherzustellen, dass „in seiner Berichterstattung die Auffassungen der wesentlich betroffenen Personen … fair berücksichtigt werden. Wertende und analysierende Einzelbeiträge haben dem Gebot journalistischer Fairness … zu entsprechen.“ 45 BVerfG, NJW 1993, 1379 (1380). 40 41 42 43 44
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nahme von Nachteilen, die zum Fair Play-Gedanken des Sports gehören, ist hingegen kein Bestandteil des juristischen Fairnessbegriffs.46 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ein Endpunkt der Konkretisierung des Fairnessbegriffs ist noch nicht erreicht. Zu vielfältig ist seine Verwendung. Fairness fasziniert – auch und gerade wegen ihrer begrifflichen Unschärfe. Soweit eine inhaltliche Konturierung möglich ist, ergeben sich zwei juristische Bedeutungskomponenten. Als Verfahrensmaßstab schützt die Fairness den Einzelnen gegenüber der übergeordneten Macht in einer hierarchischen Organisationsstruktur durch Einräumung der Möglichkeit, seine Rechte zu wahren sowie auf Gang und Ergebnis des Verfahrens insbesondere durch Mitwirkung an der Sachverhaltsfeststellung Einfluss zu nehmen. Als Verhaltensmaßstab kennzeichnen die Respektierung des Gegners, die Rücksichtnahme auf dessen Interessen und die Förderung der Chancengleichheit sowie generell die Beachtung der Regeln (einschließlich der Respektierung ihrer Anwendung) die Fairness als Rechtsbegriff. Die darüber hinausgehende Denkweise – freiwilliger Verzicht auf unverdiente Vorteile und Inkaufnahme von Nachteilen – prägen die Fairness als sportethisches Prinzip. Sie ist – da überobligatorisch – nicht Element des Rechtsbegriffs. Die Nichtbeachtung dieser Denkweise sollte nicht als „unfair“ bezeichnet werden. Unfair sind nur Regelverstöße. 2. Grundlage und Geltung des Fairness-Prinzips Ein universal verwendeter Rechtsbegriff wie der der Fairness kann nicht nur eine Grundlage haben. Exemplarisch sollen hier vier Rechtsgrundlagen mit ihren jeweiligen Geltungsansprüchen Erwähnung finden. Art. 6 EMRK normiert ausdrücklich das Recht auf ein faires Verfahren. Erfasst sind nicht nur Strafverfahren, sondern auch zivilgerichtliche Verfahren. Die inhaltliche Aufschlüsselung betrifft mit der Unschuldsvermutung und der effektiven Verteidigung nur die Strafverfahren. Das Recht auf eigene Mitwirkung an der Feststellung des Sachverhalts und auf Verhandlung vor einem unabhängigen und neutralen, gesetzlich vorgesehenen Gericht betrifft hingegen alle gerichtlichen Verfahren.47 Geltung und Wirkung von Art. 6 EMRK ergeben sich aus seiner rechtlichen Qualität. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der z. B. in Deutschland die Wirkung eines einfachen Gesetzes hat.48
__________ 46 Vgl. H. P. Westermann (Fn. 25), S. 90. Er sieht Fairness als Gewährleistung von
Chancengleichheit durch eine übergeordnete Instanz und zugleich eines Verhaltens der Wettbewerber, den anderen ihre Chance zu lassen. 47 Vgl. zur Relevanz im Sport Soek, Die prozessualen Garantien des Athleten in einem Dopingverfahren, in Röhricht/Vieweg (Hrsg.), Doping-Forum, 2000, S. 35 ff. 48 BVerfGE 19, 342 (347); 82, 106 (115); BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408).
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Fairness und Sportregeln
§ 242 BGB normiert den Grundsatz von Treu und Glauben. Die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH zieht § 242 BGB als einheitlichen Kontrollmaßstab für die Beurteilung der Wirksamkeit vereinsrechtlicher Entscheidungen heran.49 Als „Einbruchstelle“ für die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte eröffnet § 242 BGB unter dem Blickwinkel der praktischen Konkordanz, letztlich also nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, einen fairen50 Ausgleich der betroffenen Grundrechtspositionen.51 Zugleich verschafft § 242 BGB den Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren Geltung. Dies ist Volker Röhricht immer ein besonderes Anliegen gewesen.52 Drittens findet sich der Fairnessbegriff in Satzungen und Regelungen der Sportverbände sowie in internationalen Resolutionen und Deklarationen.53 So verlangen die Fundamental Principles der Olympic Charter „mutual understanding with the spirit of friendship, solidarity and fair play“.54 Im Ethik-Code des Internationalen Turnerbundes (FIG) heißt es: „The FIG representatives …. demonstrate fairness in all sport activities and decisions which might affect the reputation of the FIG“.55 Bisher fehlt eine systematische Untersuchung, die die Häufigkeit der Inkorporation des Fairnessbegriffs in Sportverbandsregelungen klärt.56 Die ausdrückliche Erwähnung der Fairness oder des Fair Plays hat aber jedenfalls die rechtliche Bedeutung einer Selbstbindung der Verbände und – bei entsprechender Regelung oder vertraglicher Gestaltung – der Bindung der den Regelungen Unterworfenen, insbesondere der Sportler. Schließlich, viertens, kommt in Betracht, Fairness als Prinzip der sog. „lex sportiva“ zu begreifen. Hierbei handelt es sich um ein Pendant zu dem im internationalen Handel herausgebildeten transnationalen Handelsrechts, der
__________ 49 BGHZ 128, 93 ff. (Reiterliche Vereinigung); dazu Vieweg, SpuRt 1995, 97 ff.; BGHZ
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105, 306 (316 ff.); BGHZ 87, 337 (344); dazu Vieweg, JZ 1984, 167 ff.; BGHZ 102, 265 (276); Röhricht, AcP 189 (1989), 386 (391); ders., Inhaltskontrolle verbandsrechtlicher Entscheidungen (Fn. 2), S. 75 ff.; ders., Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfahren nach deutschem Recht (Fn. 2), S. 19 ff.; ders. (Fn. 1), S. 12 ff. Der Nichtannahmebeschluss des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 16.6.1997 (Krabbe) wurde damit begründet, dass angesichts des vom Oberlandesgericht festgestellten bewussten groben Verstoßes gegen die Regeln der sportlichen Fairness die formalen Gesichtspunkte zurückzutreten hätten. Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990, S. 190 m. w. N. S. oben Fn. 2. UNESCO Declaration on Fair Play (1976), Council of Europe, Declaration on Sport, Tolerance and Fair Play (1996). § 6 Fundamental Principles, Olympic Charter. B.V Code of Ethics, approved by the FIG Executive Committee, November 30th, 2001. Die stichprobenhafte Durchsicht deutscher Sportverbandssatzungen erwies sich nach P. J. Tettinger, Der Staat 1997, 575 (592 ff.), als wenig ergiebig.
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lex mercatoria. Derzeit dürfte es verfrüht sein, von der Geltung einer lex sportiva57 zu sprechen. Der WADA-Code, dessen Zustandekommen Volker Röhricht durch Mitwirkung bei der Formulierung der deutschen Position begleitet hat, könnte sich allerdings als wichtiger Schritt auf diesem Weg erweisen.58 Schon jetzt ist es zulässig, dass die Parteien eines internationalen Schiedsverfahrens dem Schiedsgericht private, transnationale Rechtsregeln wie die lex mercatoria zuweisen. Für eine lex sportiva würde dasselbe gelten.59 Zu klären wäre dann, ob die Fairness zur lex sportiva zu zählen wäre.60 Unabhängig davon können die Parteien dem Schiedsgericht die Fairness sowohl als Verfahrens- als auch als Verhaltensmaßstab vorgeben. Auch ohne eine derartige ausdrückliche Vorgabe hat der CAS bereits vereinzelt auf den Fairnessaspekt61 sowie auf die damit in Zusammenhang stehenden allgemeinen Rechtsprinzipien des Gleichheitsgrundsatzes (principle of equality), des Prinzips der Chancengleichheit der Wettkämpfer (principle of equality of chances between competitors) und des Verhältnismäßigkeitsprinzips (principle of proportionality) abgestellt.62 3. Konsequenzen im Hinblick auf Tatsachenentscheidungen Hat das Fairnessprinzip – insbesondere aufgrund Verbandsregelung – Geltung, so ist zu fragen, welche Konsequenzen dies für die Regelung und Verbindlichkeit sog. Tatsachenentscheidungen hat. Hierzu ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass mit dem Konzept der Tatsachenentscheidung der Zielkonflikt zwischen richtiger und rascher Entscheidung gelöst werden soll. Es geht bei Geltung des Fairnessprinzips also darum, wie dieser Zielkonflikt fair gelöst werden kann. Weiterhin ist zu bedenken, dass eine Entscheidung im Sport dann als richtig anzusehen ist, wenn sie den drei elementaren Prin-
__________ 57 Hierzu zuletzt grundlegend Adolphsen, Eine lex sportiva für den internationalen
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Sport?, in Witt u. a. (Hrsg.), Jahrbuch der Gesellschaft junger Zivilrechtswissenschaftler, 2002, S. 281 ff.; ders., Internationale Dopingstrafen, 2003, S. 628 ff.; ders., SchiedsVZ 2004, 169 (172 ff.); Nafziger, International Sports Law, 2. Aufl. 2004, S. 61; ders., International Sports Law Journal 2004/1-2, 3 ff.; Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit, 2005, S. 351 ff.; Summerer, Internationales Sportrecht – eine dritte Rechtsordnung? in Aderhold (Hrsg.), FS H. Hanisch, 1994, S. 267; B. Heß, Voraussetzungen und Grenzen eines autonomen Sportrechts unter besonderer Berücksichtigung des internationalen Spitzensports, in Heß/Dressler, Aktuelle Rechtsfragen des Sports, 1999, S. 39 ff. Ebenso Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit (oben Fn. 57), S. 359. Adolphsen, SchiedsVZ 2004, 164 (174). Förderlich wäre, wenn die grundlegenden Anforderungen an ein faires Verfahren vom Court of Arbitration for Sport (CAS) präzisiert würden. Dahin geht die Empfehlung der für die Europäische Kommission erstellten und von Vieweg/Siekman herausgegebenen Studie „Legal Comparison and Harmonisation of Doping Rules“ (in Vorbereitung). CAS 2000/C/267 AOC, Advisory opinion at the request of the Australian Olympic Committee, at 19–21; Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit (Fn. 57), Fn. 1760. Nachweise bei Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit (Fn. 57), Fn. 1756–1758.
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zipien des Sports63 entspricht: dem Leistungsprinzip, dem Konkurrenzprinzip und insbesondere dem Gleichheitsprinzip. Deshalb kommt es darauf an festzustellen, wer unter gleichen Wettkampfbedingungen die bessere Leistung erbracht hat. Hieraus folgt: Die Formulierung eines Konzepts der Tatsachenentscheidung entspricht dann dem Fairnessprinzip, wenn die Regelung sicherstellt, dass innerhalb der vorgegebenen Zeit – z. B. bis zum Abschluss eines Spielzugs oder bis zum Ende des Wettkampfs – die Entscheidung mit der höchstmöglichen Richtigkeitsgewähr – mit anderen Worten: einer möglichst geringen Fehlerquote – getroffen wird. Die hierzu erforderlichen technischen, personellen und organisatorischen Maßnahmen divergieren von Sportart zu Sportart. Sie befinden sich in einem dynamischen Prozess des Wandels in Technik, Wirtschaft und Medien. Betrachtet man eine höchstkomplexe Sportart wie das Kunstturnen, so ist zunächst zwingend, dass das Wertungssystem die über mehrere hundert Elemente in ihren Schwierigkeitsgraden und die Ausführungsfehler mit adäquaten Abzügen festlegt.64 Weiterhin sind das Kampfgericht und das Verfahren so zu organisieren, dass die sportartimmanent recht hohe Bewertungsfehlerquote auf ein Minimum reduziert wird. Die Aufgabenverteilung auf zwei Kampfgerichte65 – zuständig für den Ausgangswert durch Addition der Schwierigkeitswerte der gezeigten Elemente sowie für die Addition der Abzüge aufgrund von Ausführungsfehlern – ist zweckmäßig. Insbesondere verhindert sie eine Überforderung der Kampfrichter, die bei einer Zuständigkeit für beide Komponenten der Bewertung zu besorgen wäre. Die aus Fairnessgesichtspunkten anzustrebende Minimierung der Fehlerquote erfordert allerdings darüber hinaus technisch-organisatorische Maßnahmen, die eine für nötig oder wünschenswert gehaltene Eigenkontrolle der Beobachtung der gezeigten Übung sowie eine optimierende Fremdkontrolle ermöglichen. Ansonsten können – dies zeigt gerade der Fall Young/Hamm sehr deutlich – selbst kleinste Berechnungsfehler gravierende Auswirkungen haben. Um Fehler zeitnah aufdecken und korrigieren zu können, ist zum einen eine technische Unterstützung der Kampfrichter durch Videoaufzeichnungen erforderlich.66 Zum anderen ist eine Fremdkontrolle durch die Superior Jury67 zweckmäßig. Zum Dritten erfordert der Fairnessgedanke, dass den von einer möglicherweise fehlerhaften Bewertung Betroffenen – das sind nicht nur der konkret betroffene Athlet selbst, sondern auch seine Konkurrenten – die Möglichkeit des Protestes gegeben wird. Insofern sind Detailregelungen
__________ Hierzu Adolphsen, SchiedsVZ 2004, 164 (170). S. im Einzelnen FIG, Code of Points. Reg. 7.8.2 Technical Regulations FIG 2002. Reg. 4.11.4: Judging Requirements: „… The following video equipment must be provided for the recording and showing of each gymnast’s exercise: 6 for Men’s competitions …“. 67 Reg. 7.8.1 para 2–4 Technical Regulations FIG. 63 64 65 66
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erforderlich, die Protestberechtigung, Anlass, Form, Frist und Adressat angeben. Als Beispiele können insofern die Regelungen anderer Verbände herangezogen werden.68 Der CAS hat zu Recht die lückenhafte und völlig unklare Regelung der FIG kritisiert. Seine Entscheidung hat er darauf gestützt, dass der Trainer Youngs den Protest hätte einlegen können und müssen. Dabei blieb allerdings unberücksichtigt, dass weder Turner69 noch Trainer70 während des Wettkampfs mit dem Kampfrichter sprechen bzw. Diskussionen führen dürfen.71 Wie hätten sie protestieren sollen? – Wenn die FIG ankündigt, ihre Regeln überarbeiten zu wollen72, so sollte sie bedenken, dass sie für sich selbst das Fairnessprinzip in ihrem Ethik-Code73 festgeschrieben hat. Für die betroffenen Sportler Young und Hamm ergibt der Fairnessgedanke Folgendes: Young muss die Tatsachenentscheidung akzeptieren, da sie den aktuellen Regeln entspricht. Hamm hat sich im rechtlichen Sinne nicht unfair verhalten, als er den Vorschlag des FIG-Präsidenten Grandi ablehnte, seine Goldmedaille an Young weiterzugeben. Der Verzicht auf nicht leistungsgerecht, aber regelgerecht erlangte Vorteile ist nicht vom rechtlichen Fairnessbegriff gefordert. Aber auch nach dem ethischen Fairnessbegriff hätte er seine Goldmedaille behalten können. Young war zwar aufgrund des Kampfrichterfehlers ein um 0,10 Punkte zu geringer Ausgangswert berechnet worden. Ein anderer Kampfrichterfehler – die Nichtberücksichtigung des regelwidrigen vierten Halts in der Barrenübung – hat allerdings zu einer genau um 0,1 Punkte zu geringen Abwertung geführt.
V. Zusammenfassung und Ausblick Bei den Olympischen Spielen in Athen hat sich die Frage der Fairness insbesondere im Zusammenhang mit den sog. Tatsachenentscheidungen mehrfach gestellt. Instruktiv ist die Entscheidung des Court of Arbitration for Sport (CAS) im Fall Young/KOC v. FIG, in der der CAS zwar eine Reihe von Fehlern aufführt, die Entscheidung der FIG über die Goldmedaille im Mehr-
__________ 68 Vgl. z. B. die ab 1.1.2003 geltende Leichtathletik-Fehlstartregel 162.7 Internationale
Wettkampfbestimmungen, Ausgabe 2002 (s. Fn. 23). 69 Art. 2 Ziff. 2g) der FIG-Vorschriften für Wettkampfteilnehmer. 70 Art. 3 Ziff. 2f) der FIG-Vorschriften für Wettkampfteilnehmer. 71 Reg. 5.4 General Observations on Conduct: „… During the entire competition, the
gymnasts, judges and coaches are absolutely prohibited from using cellular phones and other electronic communications device.“ 72 FAZ v. 25.9.2004, S. 28. 73 B.V Code of Ethics, approved by the FIG Executive Committee, November 30th, 2001; vgl. auch Art. 10 Ziff. 1i) der FIG-Vorschriften für Wettkampfteilnehmer: Der Vorsitzende des Kampfgerichts an einem Gerät hat unter anderem folgende Funktionen: „die Kampfrichterregeln hinsichtlich der Kontrolle der Kampfrichter mit Fairness … anzuwenden“.
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kampf der Turner aber bestätigt. Der Beitrag unterscheidet vier Formen der Tatsachenentscheidungen, ordnet sie in das System der Sportregeln ein und beschreibt die Probleme, die das Konzept der Tatsachenentscheidung mit sich bringt. Dieses Konzept besteht darin, den Konflikt zwischen einer raschen und einer richtigen Entscheidung zugunsten einer raschen, unanfechtbaren Entscheidung zu lösen. Weiter stellt der Beitrag einen Zusammenhang zwischen dem Konzept der Tatsachenentscheidung und der Fairness her. Fairness wird dabei als Verfahrens- und Verhaltensmaßstab verstanden, der seine rechtliche Verbindlichkeit aus verschiedenen Grundlagen herleitet. Das Konzept der Tatsachenentscheidung und das Fairnessprinzip lassen sich in Einklang bringen, wenn die Regeln des betreffenden Sportverbandes sicherstellen, dass innerhalb der vorgegebenen Zeit – z. B. bis Wettkampfende – mit dem höchsten Gewissheitsgrad das Ergebnis richtig festgestellt wird, d. h. dass derjenige besser platziert wird, der unter gleichen Wettkampfbedingungen die bessere sportliche Leistung erbringt. Zur Beachtung des Fairnessprinzips ist es u. a. erforderlich, die verfügbaren technischen Hilfsmittel einzusetzen und eine Fremdkontrolle in Form von Protesten der Betroffenen zuzulassen sowie im Einzelnen zu regeln. Hiermit wird eine „Flucht in die Tatsachenentscheidung“ vermieden und die Akzeptanz der „bestmöglichen“ Tatsachenentscheidung gesteigert. Die Befürchtung des CAS im Fall KOC v. ISU, dass „the flood-gates would be opened“, schätzt die Situation vermutlich zu pessimistisch ein. Der Vorteil des Fairnessgewinns überwiegt die befürchteten Nachteile. Fairness geht vor!
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Die Vertragsstrafe im Arbeitsvertrag des Sportlers am Beispiel des Lizenzfußballspielers Inhaltsübersicht I. Die Vertragsstrafe in Abgrenzung zur Vereins- und Verbandsstrafe und zur Betriebsbuße 1. Vertragsstrafen 2. Vereins- und Verbandsstrafen 3. Betriebsbußen II. Die praktische Relevanz der Vertragsstrafe im Sport 1. Zeitweise Nichterfüllung 2. Kritische Äußerungen 3. Vereinsschädigendes Verhalten bei der Ausübung des Sports 4. Missbilligtes außerdienstliches Verhalten 5. Verletzung sonstiger Nebenpflichten, insbesondere Dopingverstöße III. Der Sinn von Vertragsstrafen im Sport IV. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen der Vertragsstrafenvereinbarung 1. Hinreichende Bestimmtheit
2. Verletzung einer Verbindlichkeit a) Zeitweise Nichterfüllung b) Kritische Äußerungen c) Vereinsschädigendes Verhalten bei Ausübung des Sports d) Missbilligtes außerdienstliches Verhalten e) Verletzung sonstiger Nebenpflichten, insbesondere Dopingverstöße 3. Verschulden 4. Zulässige Höhe V. Die Besonderheiten bei formularmäßigen Vertragsstrafenvereinbarungen 1. Grundsatz: §§ 309 Nr. 6, 310 Abs. 4 Satz 2, 1. Halbs. BGB 2. Besonderheiten des Arbeitsrechts gem. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB a) Absicherung der Hauptpflicht b) Absicherung von Nebenpflichten 3. Grenzen des § 307 BGB
I. Die Vertragsstrafe in Abgrenzung zur Vereins- und Verbandsstrafe und zur Betriebsbuße Sanktionen wegen unerwünschten Verhaltens im Sport richten sich meistens gegen den Sportler, gelegentlich gegen den Trainer. In der Regel bestehen sie in der Verpflichtung zu Geldzahlungen. Wenn insoweit in der Medienberichterstattung vor allem aus dem Bereich des Lizenzfußballs von Geldstrafen oder Geldbußen die Rede ist, können damit juristisch durchaus verschiedene Sanktionen gemeint sein. 1. Vertragsstrafen Meistens wird es um eine Vertragsstrafe gehen, die der Fußballspieler an den Verein zahlen muss. Rechtsgrundlage ist dann § 339 BGB in Verbindung mit
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Wolf-Dietrich Walker
dem (Arbeits-)Vertrag zwischen Spieler1 und Verein2. Der vom DFB empfohlene Mustervertrag enthält sowohl in der bis Ende 2004 geltenden als auch in der ab 2005 vorgesehenen überarbeiteten Fassung eine entsprechende Vereinbarung. Diese wurde vom Bundesarbeitsgericht rechtlich auch als Vertragsstrafe eingeordnet3. Dem soll hier trotz kritischer Stimmen4 gefolgt werden. Der Sinn arbeitsvertraglich vereinbarter Vertragsstrafen besteht allgemein darin, die (gehörige) Erfüllung der Verbindlichkeiten durch den Arbeitnehmer zu sichern (Präventivfunktion)5 sowie bei einer Pflichtverletzung des Arbeitnehmers dem Verein den Schadensnachweis zu ersparen und ihm einen beweisfreien Mindestschadensersatz zu sichern (Schadensersatzfunktion)6. 2. Vereins- und Verbandsstrafen Von den Vertragsstrafen zu unterscheiden sind Vereins- und Verbandsstrafen. Sie dienen nicht der Erfüllungs- und Schadensersatzsicherung, sondern in erster Linie der Einhaltung der Vereins- oder Verbandsordnung7. Rechtsgrundlage ist dann die Vereins- oder Verbandssatzung, der sich der Sportler auf Grund seiner Mitgliedschaft oder rechtsgeschäftlich unterworfen haben muss8. Ein Beispiel für eine Verbandsstrafe sind die 15000 Euro, die das DFBSportgericht im August 2004 gegen den Spieler Ailton (Schalke 04) wegen zweier leichter „Ohrfeigen“ gegen Spieler des Gegners und wegen verspäteten Erscheinens bei der Dopingprobe verhängt hat9. 3. Betriebsbußen Von den Vertragsstrafen ebenfalls abzugrenzen sind Betriebsbußen. Sie dienen ähnlich wie die Vereins- und Verbandsstrafen nicht der Einhaltung der individuellen arbeitsvertraglichen Pflichten durch den Sportler, sondern der Beachtung der kollektiven betrieblichen Ordnung10 zwecks Sicherung des ungestörten Arbeitsablaufs und des reibungslosen Zusammenlebens und
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1 Außer Fußballspielern können auch andere Mannschaftssportler, insbesondere aus
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den Bereichen Eishockey, Basketball und Handball, von solchen Vereinbarungen betroffen sein, sofern sie Arbeitnehmer ihres Vereins oder der dazu gehörenden Kapitalgesellschaft sind. Nicht behandelt wird hier die Vertragsstrafenvereinbarung in § 3 Abs. 4 des Lizenzvertrages zwischen dem Ligaverband und dem Spieler. BAG, NZA 1986, 782. LAG Hamm, ZIP 1984, 1397 (1398 f.); Rybak, Das Rechtsverhältnis zwischen dem Lizenzfußballspieler und seinem Verein, 1999, S. 156 ff. OLG Frankfurt, MDR 1985, 934; Gottwald in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2003, vor § 339 Rz. 6. Vgl. Mot. II, 275; Gottwald in MünchKomm.BGB, vor § 339 Rz. 6; Blomeyer in MünchHdb.ArbR, 2. Aufl. 2000, § 56 Rz. 10. So schon BGH, NJW 1956, 1793. So z. B. § 1 Nr. 2 des Mustervertrages des DFB für Nichtamateure ohne Lizenz. FAZ v. 1.9.2004, S. 29. BAG, NZA 1986, 782 (783); Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 56 Rz. 12.
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Zusammenwirkens der Arbeitnehmer im Betrieb. Rechtsgrundlage ist nach h. M. eine im Betrieb vorhandene Bußordnung, die Bestandteil einer Betriebsordnung sein kann. Bei deren Aufstellung hat der Betriebsrat gem. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht. Betriebs- oder Bußordnungen kommen meist in Form von Betriebsvereinbarungen zustande. Im Sport spielen solche Bußordnungen schon deshalb keine Rolle, weil es bei den Vereinen jedenfalls derzeit keine Betriebsräte gibt11. Der durchaus umstrittenen Frage, ob solche Gegenstände, die inhaltlich Betriebsbußen sind, als Vertragsstrafen vereinbart werden können12, kann hier nicht nachgegangen werden. Das Bundesarbeitsgericht ist – wie erwähnt – in der Annahme grundsätzlich möglicher Vertragsstrafenvereinbarungen großzügig13.
II. Die praktische Relevanz der Vertragsstrafe im Sport Gerade im Fußballsport werden Vertragsstrafen von den Vereinen gegenüber ihren Spielern oft öffentlichkeitswirksam verhängt. Darüber wird nahezu laufend in den Medien berichtet. Die Anlässe für die Verhängung von Vertragsstrafen lassen sich im Wesentlichen in folgende Fallgruppen aufteilen: 1. Zeitweise Nichterfüllung Zunächst wird die zeitweise Nichterfüllung des Sportlers wie die verspätete Rückkehr aus dem Urlaub oder die Nichtteilnahme am Training häufig mit Geldstrafen sanktioniert. Mit 10000 DM wurde der Spieler Julio Cesar (Borussia Dortmund) belegt, weil er einmal nicht wie abgesprochen zum Training erschien14. Derselbe Spieler musste als Wiederholungstäter eine Geldstrafe von 30000 DM zahlen, weil er den Urlaub in seiner Heimat eigenmächtig verlängert hatte15. Die nicht genehmigte Reise des argentinischen Fußballprofis Juan Roman Fernandez in seine Heimat hat Borussia Dortmund gar mit einer Strafe von 100000 Euro geahndet16.
2. Kritische Äußerungen Die zahlenmäßig möglicherweise wichtigste Rolle spielen Vertragsstrafen wegen kritischer Äußerungen der Spieler über den Trainer, die Vereinsführung, Mitspieler oder den Schiedsrichter.
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11 Zur betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung im Sport s. Walker, Mitbe-
stimmung im Sport, 2001, S. 11, 28 ff. Verneinend s. Nachw. in Fn. 4. S. Fn. 3. FAZ v. 17.1.1995, S. 26. FAZ v. 20.1.1997, S. 22. Ebenfalls 30000 DM betrug die Geldstrafe für den Spieler Marcio Amoroso für seine Weigerung, aus einem Heimaturlaub nach Dortmund zurückzukehren. 16 FAZ v. 25.7.2003, S. 30. 12 13 14 15
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Wolf-Dietrich Walker Der Torwart Jens Lehmann (Schalke 04) musste eine Geldstrafe in nicht bekannter Höhe zahlen, weil er in einem Fernsehinterview nach einem verlorenen Spiel die Äußerung „Glück muss man sich erarbeiten, wir haben in letzter Zeit nicht genug gearbeitet“ gemacht und sich dadurch den Zorn des damaligen Trainers Jörg Berger zugezogen hat17. Ähnlich erging es dem Spieler Fredi Bobic (VfB Stuttgart), weil er in einem Interview die Personalpolitik des Vereins kritisiert und bemängelt hat, dass sich die Vereinsführung „manchmal viel zu sehr mit Firlefanz beschäftigt“18. 10000 DM mussten Mario Basler (Bayern München) für seine Kritik am Trainer19 und geschätzte 20000 Euro Michael Ballack (Bayern München) für seine öffentliche Kritik am Spielsystem seiner Mannschaft20 zahlen. Jürgen Kohler und Stefan Reuter (beide Borussia Dortmund) wurden sogar dafür mit einer Geldstrafe sanktioniert, dass sie nichtöffentlich in der Kabine unmittelbar nach einem verloren gegangenen Spiel ihrem Trainer Nevio Scala die Meinung gesagt haben21. Nationalspieler Thorsten Frings äußerte während der EM in Portugal im Juni 2004, nachdem sein Wechsel von Borussia Dortmund zu Bayern München feststand, beim BVB sei es zuletzt „drunter und drüber“ gegangen. Dafür drohte ihm angeblich eine Strafe von 25000 Euro22.
3. Vereinsschädigendes Verhalten bei der Ausübung des Sports Die dritte Fallgruppe bildet das vereinsschädigende Verhalten bei der Ausübung des Sports wie die Provozierung einer Roten Karte mit nachfolgender Sperre, obszöne oder andere beleidigende Gesten, Handgreiflichkeiten oder grobe Fouls beim Training gegenüber Mitspielern, aber auch die schlechte Leistung auf dem Spielfeld. So wurde über Geldstrafen für Samuel Kuffour (Bayern München) wegen eines Platzverweises23 und wegen einer Rangelei im Training mit einem Mannschaftskollegen24, für Marcio Amoroso (Borussia Dortmund) wegen eines groben Foulspiels25, für Geri Cipi (Eintracht Frankfurt) wegen des vorsätzlichen Fouls an einem Teamkollegen im Training, für Stefan Effenberg (Borussia Mönchengladbach) wegen einer gelb/roten Karte auf Grund Ballwegschlagens26 sowie für Manfred Bender und Sergej Kirjakow (beide Karlsruher SC) wegen eines Platzverweises auf Grund disziplinlosen Verhaltens27 berichtet. Thomas Helmer (FC Bayern München) musste 10000 DM Geldstrafe zahlen, weil er mit obszönen Gesten auf Auswechslungen durch den Trainer reagiert hat28. Über Marco Rehmer (Hertha BSC Berlin) hieß es in den Medien, dass er wegen eines Stellungsfehlers, der zu einem Tor des Gegners führte, angeblich eine Summe
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17 FAZ v. 6.12.1995, S. 36. 18 FAZ v. 7.9.1998, S. 40. 19 FAZ v. 1.3.1997, S. 31. Ähnliche Fälle gab es in Kaiserslautern (s. Kicker Online v. 20 21 22 23 24 25 26 27 28
6.9.1999 und FAZ v. 5.7.2001, S. 38). FAZ v. 26.2.2003, S. 30. Stützer, FAZ v. 18.10.1997, S. 32. Gießener Anzeiger v. 23.6.2004, S. 36. FAZ v. 14.3.2002, S. 40. FAZ v. 27.11.2002, S. 40. Kicker online v. 10.10.2001. FAZ v. 13.4.1996, S. 30. FAZ v. 13.10.1995, S. 40. FAZ v. 29.5.1999, S. 40.
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Die Vertragsstrafe im Arbeitsvertrag des Sportlers zwischen 5000 und 10000 DM an den Verein bezahlen musste29. Mario Basler (1. FC Kaiserslautern) musste 15000 DM zahlen, weil er Pfiffe des Publikums mit Händeklatschen und der Geste, noch lauter zu Pfeifen, quittiert hatte30.
4. Missbilligtes außerdienstliches Verhalten Den vierten Anwendungsbereich der Vertragsstrafe im Sport bildet das vom Verein missbilligte außerdienstliche Verhalten des Spielers wie die verbotene Teilnahme an nächtlichen Partys, alkoholbedingtes Fehlverhalten sowie sportliche Freizeitbeschäftigungen trotz verletzungsbedingter Dienstunfähigkeit. Beispielsweise musste der Torwart Oliver Kahn (Bayern München) eine Geldstrafe zahlen, weil er trotz Muskelfaserrisses einen Golf-Ausflug unternommen und bis morgens früh um 5.30 Uhr in einer Disko verbracht hatte31. Lothar Matthäus (Bayern München) wurde mit einer Geldstrafe von 10000 DM belegt, weil er trotz verletzungsbedingter Dienstunfähigkeit in Österreich Ski gefahren war32. 20000 DM betrug die Geldstrafe von Mario Basler (ebenfalls Bayern München), weil er sich in der Nacht zum Freitag vor einem Bundesliga Derby bis morgens um 3.00 Uhr in einem Münchener Nachtlokal aufgehalten hatte33. Für Steffen Karl (Borussia Dortmund) betrug die Geldstrafe 6000 DM, weil er unter Alkoholeinfluss einen Autounfall verursacht hatte34. Zu einer Geldstrafe von umgerechnet 400000 DM sind vier Fußballspieler von Chelsea London von ihrem Vereinsvorstand angewiesen worden, weil sie in betrunkenem Zustand amerikanische Staatsbürger übel beleidigt hatten35. Fußballstar David Beckham musste während seiner Zeit bei Manchester United eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 150000 DM zahlen, weil er trotz Ausgangssperre für die Mannschaft zwei Tage vor einem Auswärtsspiel in der Champions League zusammen mit seiner Ehefrau eine Modenschau besucht hatte36.
5. Verletzung sonstiger Nebenpflichten, insbesondere Dopingverstöße Schließlich wird gelegentlich die Verletzung sonstiger Nebenpflichten, insbesondere der Verstoß gegen Dopingbestimmungen, mit Vertragsstrafen belegt. Christian Fährmann (Union Berlin) musste eine Geldstrafe von 3000 Euro (später reduziert auf 1000 Euro) zahlen, weil er nach einer Krankmeldung den vom Verein bestimmten Termin beim Vereinsarzt nicht wahrgenommen hat37. Der Spieler Chen
__________ 29 30 31 32 33 34 35 36 37
FAZ v. 12.4.2001, S. 38. Kicker Online v. 7.11.2000. Kicker Online v. 28.10.2002; FAZ v. 29.10.2002, S. 35. FAZ v. 27.10.1998, S. 39. FAZ v. 31.8.1999, S. 45; FAZ a.S. v. 5.9.1999, S. 22. FAZ v. 17.2.1994, S. 30. FAZ v. 25.9.2001, S. 46. FAZ v. 2.10.1999, S. 40. VdV-Wir Profis, Heft 1/2004, S. 6. Das entsprechende Urteil des ArbG Berlin wurde bestätigt durch das LAG Berlin (Kurzmitteilung in Gießener Allgemeine v. 26.8.2004, S. 14).
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Wolf-Dietrich Walker Yang (Eintracht Frankfurt) erhielt eine Geldstrafe von 10000 DM, weil er einen vereinbarten Termin mit dem Sportdirektor des Vereins verstreichen ließ38. Mit einer Strafe von 60000 DM wurde der Spieler Roland Wohlfahrt (VfL Bochum) wegen eines Dopingverstoßes39 belegt40.
III. Der Sinn von Vertragsstrafen im Sport Ob Vereine mit derartigen Vertragsstrafen wirklich ihr Ziel erreichen, wird in den Medien zum Teil skeptisch beurteilt. Der pädagogische Wert sei zweifelhaft41. Insbesondere Geldstrafen wegen kritischer Meinungsäußerungen werden als ein Akt der Hilflosigkeit bewertet, mit dem eine verloren gegangene Autorität nicht wiederlangt werden könne42. Andererseits ist ein nachvollziehbares Interesse der Vereine, sich gegen Vertragsbruch, Disziplinlosigkeit, die Vereinssponsoren verärgerndes (Idolfunktion) und sonstiges vereinsschädigendes Verhalten zur Wehr zu setzen, nicht von der Hand zu weisen. Die sonst im Arbeitsrecht üblichen Mittel wie Kündigung und Suspendierung greifen nicht, weil sie nicht im Interesse des Vereins liegen. Die Geldstrafe scheint somit das einzige Mittel zu sein, das die erhoffte Wirkung verspricht. Ob es den Vereinen dabei wirklich auf die Einnahmen aus den Vertragsstrafenzahlungen ankommt, wie es von denen vermutet wird, die in den Zeiten weniger sprudelnder sonstiger Finanzquellen die Vertragsstrafen geradezu als Wirtschaftsfaktor ansehen43, ist allerdings zweifelhaft. Eher dürfte das Interesse der Vereine im Vordergrund stehen, dass sich ihre konsequente Sanktionierung von missbilligten Verhaltensweisen herumspricht. Das mag erstens die Präventivwirkungen der Vertragsstrafe erhöhen und zweitens jedenfalls den Schein vermitteln, dass sich die Vereinsführung von den Sportlern – mögen diese auch noch so bekannt und hoch bezahlt sein – nicht auf der Nase herumtanzen lässt. Gegen das Interesse an zusätzlichen Einnahmen spricht im Übrigen, dass angeblich höchstens 50 % der verhäng-
__________ 38 FAZ v. 14.9.2000, S. 81. 39 Auf den ersten Blick scheint hier auch der Fall einzuordnen zu sein, in dem Marco
40 41 42 43
Rehmer von Herta BSC Berlin wegen eines Verstoßes gegen die Anti-DopingRichtlinie (Einnahme eines Medikaments wegen einer Kieferverletzung, ohne das dem Verein oder dem DFB anzuzeigen; Folge: Sperre für neun Meisterschaftsspiele) von seinem Club eine Rekord-Geldstrafe von 320000 Euro erhalten hat (FAZ v. 12.7.2004, S. 24; in der Berliner Morgenpost v. 12.7.2004 war sogar von 380000 Euro die Rede). Juristisch war das allerdings keine Vertragsstrafe, sondern eher Gegenstand eines Vergleichs. Denn der Verein hatte seine zunächst ausgesprochene Kündigung des Vertragsverhältnisses mit der Maßgabe zurückgenommen, dass Rehmer für die Dauer von vier Monaten auf sein Gehalt verzichtet (so jedenfalls nach dem Bericht in der Berliner Morgenpost v. 12.7.2004). FAZ v. 16.2.1995, S. 33. Penders, FAZ v. 7.3.2003, S. 30. Stützer, FAZ v. 18.10.1997, S. 32. Penders, FAZ v. 7.3.2003, S. 30.
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ten Vertragsstrafen wirklich eingetrieben werden44, und das im Wesentlichen nur bei den sogenannten Hinterbänklern, während die Stars ihren Vereinen etwas husten45.
IV. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen der Vertragsstrafenvereinbarung Die grundsätzliche Zulässigkeit von Vertragsstrafenvereinbarungen in Arbeitsverträgen, die angeblich nahezu in jedem vierten Arbeitsvertrag getroffen werden46, ist mit der ganz h. M. zu bejahen47. Das folgt schon im Umkehrschluss aus den besonderen Vertragsstrafenverboten für bestimmte Einzelfälle (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 BBiG, § 75c HGB). Die Vertragsstrafe ist ein vom Gesetzgeber zur Verfügung gestelltes besonderes Rechtsinstitut des Bürgerlichen Rechts für Schuldverhältnisse, und der Arbeitsvertrag ist davon nicht ausgenommen. Insbesondere steht § 888 Abs. 3 ZPO nicht entgegen, selbst wenn es um die Sanktionierung der Arbeitsverweigerung geht. Danach kann zwar der Anspruch auf Arbeitsleistung nicht vollstreckt werden. Diese Vorschrift bezweckt aber nur, die Freiheit und die Menschenwürde des Arbeitnehmers dadurch zu schützen, dass er nicht durch Zwangsmittel zur Arbeitsleistung gezwungen werden darf. Dagegen soll sie nicht verhindern, dass der Arbeitnehmer finanziell mit der Pflicht zur Zahlung von Schadensersatz (vgl. § 61 Abs. 2 ArbGG)48 oder eben einer vereinbarten Vertragsstrafe belastet wird49. Die Wirksamkeit von Vertragsstrafenvereinbarungen kann aber gerade im Sport unter folgenden Gesichtspunkten problematisch sein: 1. Hinreichende Bestimmtheit Auf Grund der Vereinbarung muss feststehen oder jedenfalls im Wege der Auslegung bestimmbar sein50, welche Pflichtverletzung eine Bestrafung auslöst51. Das folgt aus dem Wortlaut des § 339 Satz 1 BGB. Danach kann eine
__________ 44 So angeblich der VDV-Geschäftsführer Thomas Hüser gegenüber dem Handelsblatt,
zit. nach dpa-Meldung v. 6.3.2003. 45 Stützer, FAZ v. 18.10.1997, S. 32. 46 Preis/Stoffels, Der Arbeitsvertrag, 2002, II V 30 Rz. 1. 47 BAG, NJW 1983, 1575; NZA 1984, 255; NZA 1986, 782; NZA 1995, 695; NZA
48 49 50 51
2004, 727 (728 f.); Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 57 Rz. 57; Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, 5. Aufl. 2005, §§ 339 ff. BGB Rz. 9 ff.; Corts in ArbR BGB, 2. Aufl. 2002, § 628 Rz. 26. Damit argumentierend schon BAG, DB 1984, 2143. Vgl. Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 7. Aufl. 2003, Rz. 1066. Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 15. BAG, NZA 1996, 762; Urt. v. 27.4.2000 – 8 AZR 301/99 (juris); Gottwald in MünchKomm.BGB, § 339 Rz. 7; Blomeyer in MünchHdb.ArbR, § 57 Rz. 56; Rieble in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 2001, § 339 Rz. 13; zu großzügig Schul/Wichert, SpuRt 2004, 229 (233).
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Wolf-Dietrich Walker
Vertragsstrafe nur für den Fall versprochen werden, dass der Schuldner seine Verbindlichkeit nicht oder nicht in gehöriger Weise erfüllt. Wenn in einem Vertrag einzelne Pflichten ihrerseits hinreichend bestimmt aufgelistet sind und anschließend eine Vertragsstrafe „bei Verstößen gegen diese Pflichten“ vereinbart ist, kann die hinreichende Bestimmtheit bejaht werden. Gleiches gilt für die Vereinbarung einer Vertragsstrafe „für den Fall des Vertragsbruchs“, denn dieser Begriff hat nach der eingefahrenen Rechtsprechung und im Schrifttum eine feste Bedeutung erlangt. Darunter wird allgemein die Lösung vom Vertrag durch Nichtaufnahme der Arbeit oder durch eine vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne rechtlichen Grund verstanden52. Die Veranlassung einer Kündigung durch den Verein wird von einer Vertragsbruch-Vertragsstrafe nicht erfasst53. Auch einzelne Vertragsverletzungen wie Verspätungen, die unentschuldigte Nichtteilnahme des Sportlers am angesetzten Training und die eigenmächtige Urlaubsverlängerung lassen sich nicht unter den arbeitsrechtlich definierten Begriff des Vertragsbruchs subsumieren, denn eine Lösung vom Vertrag liegt darin nicht. Sollen diese Verhaltensweisen erfasst werden, müssen sie in der Vertragsstrafenvereinbarung genannt werden. Die Anknüpfung der Vertragsstrafe an ein nicht näher definiertes „vereinsschädigendes Verhalten“ scheitert am Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit; denn auf Grund einer solchen Formulierung kann der Sportler nicht sicher vorhersehen, bei welchem konkreten Tun oder Unterlassen ihm eine Vertragsstrafe droht54. Auch globale Strafversprechen, wonach jede Art von Pflichtverletzung sanktioniert werden soll, unabhängig davon, ob es sich um die klar definierte Hauptpflicht oder um eine der zahlreichen, oft ungeregelten und nur aus den §§ 242, 241 Abs. 2 BGB abzuleitenden Nebenpflichten handelt, sind mangels hinreichender Bestimmtheit unwirksam55. Die erfassten Nebenpflichten müssen konkret benannt werden56. Dagegen gehört die Angabe der Höhe der Vertragsstrafe nicht zur hinreichenden Bestimmtheit. Diese Festlegung kann nach § 315 BGB dem Verein überlassen werden. Sie ist dann im Zweifel nach billigem Ermessen zu treffen. Üblich ist in der Praxis offenbar die Festlegung einer Obergrenze57 (s. z. B. § 5 Abs. 3 DFB-Mustervertrag i. d. F. bis Ende 2004). Notwendig ist
__________ BAG, NZA 1992, 215; LAG Berlin, AP § 339 BGB Nr. 4. BAG, NZA 1992, 215. BAG, AP Nr. 3 zu § 339 BGB. Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 15; Rybak (Fn. 4), S. 159 f.; Lohr, MDR 2000, 429 (432); i. d. S. auch Thüsing, FAZ v. 6.2.2004, S. 33; ohne Problembewusstsein insoweit noch BAG, NZA 1986, 782. 56 BAG, AP § 339 BGB Nr. 3; Urt. v. 27.4.2000 – 8 AZR 301/99 (juris). 57 So Van Look, Vereinsstrafen als Vertragsstrafen, 1990, S. 142. 52 53 54 55
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aber selbst das nicht58. Die Billigkeit wird bei einer Streitigkeit vom Gericht überprüft und durch Urteil festgelegt (§ 315 Abs. 3 BGB). Die in § 343 BGB vorgesehene Möglichkeit einer Herabsetzung spielt dann keine Rolle mehr59. 2. Verletzung einer Verbindlichkeit Eine Vertragsstrafe kann nur dann verwirkt werden, wenn der Sportler eine Verbindlichkeit nicht oder nicht gehörig erfüllt (§ 339 Satz 1 BGB). a) Zeitweise Nichterfüllung Diese Voraussetzung ist am wenigstens problematisch, wenn der Sportler vertragswidrig einen Heimaturlaub antritt, zu spät aus dem Urlaub zurückkehrt, am angesetzten Training oder einem Spiel oder einem anderen vereinbarten Termin nicht teilnimmt. Diese Art von Nichterfüllung ist ebenso wie der Vertragsbruch im engeren Sinne im Arbeitsrecht geradezu der typische Fall, für den eine Vertragsstrafe als zulässig anzusehen ist60. Hier ist auch das berechtigte Interesse des Vereins an der Sanktionierung mit einer Vertragsstrafe unbestritten, weil die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches angesichts der Schwierigkeit der Schadenssubstanziierung oft keine Aussicht auf Erfolg hat. b) Kritische Äußerungen Ob überhaupt und in welchem Umfang eine Verbindlichkeit der Spieler besteht, kritische Äußerungen gegenüber Trainer, Vereinsführung oder Mitspielern zu unterlassen, ist dagegen differenziert zu beurteilen. Sofern sie nicht ausdrücklich vereinbart ist, kann sie allenfalls als ungeschriebene Rücksichtnahmepflicht aus §§ 242, 241 Abs. 2 BGB hergeleitet werden61. Am ehesten lässt sich ein Verbot öffentlich geäußerter Kritik (Interviews für Fernsehen, Hörfunk und Presse) rechtfertigen. So ist für den Fall des sog. Whistleblowing anerkannt, dass ein Arbeitnehmer, der ein strafbares Verhalten seines Arbeitgebers beanstandet, allenfalls eine entsprechende Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, den Finanz- oder anderen Behörden erstatten darf, wenn er nicht sogar darauf verzichten und sich zunächst auf eine interne Beanstandung gegenüber dem Arbeitgeber beschränken muss. Jedenfalls
__________
58 Künzl in Kasseler Hdb., 2. Aufl. 2000, 2.1 Rz. 210; Lohr, MDR 2000, 429 (432);
Gottwald in MünchKomm.BGB, § 339 Rz. 27; Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 57 Rz. 59; a. M. Schul/Wichert, SpuRt 2004, 229 (230). 59 H. P. Westermann in Erman, BGB, 11. Aufl. 2004, § 343 Rz. 2; Gottwald in MünchKomm.BGB, § 339 Rz. 28; Heinrichs in Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, § 339 Rz. 5. 60 BAG, NZA 1984, 255; 1986, 782 (783); Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 18. 61 Vgl. Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 53 Rz. 82.
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darf er seinen Arbeitgeber nicht bei den Medien anschwärzen62. Ferner wird für öffentlich geäußerte Kritik des Arbeitnehmers am Arbeitgeber vertreten, dass darin eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht liege63. Allerdings lässt sich darüber diskutieren, ob diese Grundsätze auf den Sportler/Arbeitnehmer uneingeschränkt angewendet werden können. Dieser wendet sich selten von sich aus an die Medien. Er wird vielmehr – anders als sonstige Arbeitnehmer – umgekehrt von den Medien nach seiner Meinung gefragt. Oft werden unmittelbar im Anschluss an ein Spiel oder sogar während des Spiels etwa im Anschluss an eine Auswechslung mit Suggestivfragen kritische Antworten des Sportlers geradezu provoziert. Es lässt sich durchaus bezweifeln, ob in einer derart provozierten Kritik zum Beispiel an der Taktik, an der Einstellung, an der Vorbereitung oder an einer Auswechslung überhaupt die Verletzung einer Verbindlichkeit liegt (zum Verschulden s. noch unter 3.). Jedenfalls gibt es aber keine Nebenpflicht des Sportlers, selbst interne Kritik zum Beispiel am Spielsystem oder an einer Auswechslung, sofern sie etwa im Anschluss an ein Spiel oder an eine Halbzeit in der Kabine geäußert wird und keinen beleidigenden Charakter hat, zu unterlassen. Eine derartige Pflicht wäre weder mit der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) noch mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1, 2 Abs. 1 GG), die beide nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung64 über § 242 BGB auch im Verhältnis zwischen Verein als Arbeitgeber und Sportler als Arbeitnehmer gelten, unvereinbar. Das berechtigte Interesse des Vereins an der Einhaltung von Rücksichtnahme- und Loyalitätspflichten des Sportlers ist nämlich mit dessen Interesse auf freie Meinungsäußerung abzuwägen; Maßstab für diese Abwägung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz65. Deshalb gilt im Arbeitsverhältnis, dass der Arbeitnehmer unternehmerkritische Äußerungen nur insoweit unterlassen muss, als die Rücksichtnahme auf die unternehmerischen Interessen erforderlich und gegenüber dem Recht auf freie Meinungsäußerung auch nicht unverhältnismäßig ist66. Daraus folgt, dass jedenfalls kritische Äußerungen über den Verein oder einzelne Personen des Vereins die Rücksichtnahmepflicht des Sportlers nicht verletzen, soweit sie weder Schmähkritik noch Formalbeleidigungen darstellen und so lange nicht eine konkrete Störung des Betriebsfriedens oder des Vertrauensverhältnisses zum Verein vorliegt67. Eine derartige interne Kritik kann daher auch nicht mit einer Vertragsstrafe geahndet werden.
__________ 62 S. nur Söllner/Waltermann, Grundriss des Arbeitsrechts, 13. Aufl. 2003, Rz. 759. 63 Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 53 Rz. 91 f.; BAG, AP Nr. 2 zu § 134 BGB;
Buchner, ZfA 1979, 354 f.; Kissel, NZA 1988, 150. 64 Dazu BVerfGE 7, 198 (206); BAG (GS), NZA 1995, 702. 65 Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 53 Rz. 85. 66 Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 53 Rz. 85; vgl. ferner Schliemann in ArbR
BGB, 2. Aufl. 2002, § 611 Rz. 712. 67 Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 53 Rz. 91.
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c) Vereinsschädigendes Verhalten bei Ausübung des Sports Je nachdem worin das vereinsschädigende Verhalten bei Ausübung des Sports liegt, kann es sich um eine Pflichtverletzung in Form der Schlechtleistung oder um die Verletzung einer Nebenpflicht handeln. Eine Schlechtleistung im eigentlichen Sinne ist etwa anzunehmen bei einer Missachtung der vom Trainer vorgegebenen Taktik, möglicherweise auch bei einem „unverzeihlichen“ Stellungsfehler eines Spielers, der zum Tor der gegnerischen Mannschaft führt68. Aber auch das Provozieren einer roten Karte durch grobes Foulspiel oder Tätlichkeit beim Spiel dürfte als Schlechtleistung im Sinne einer nicht gehörigen Erfüllung der Hauptpflicht (vgl. §§ 339, 341 BGB) einzuordnen sein. Die Vereinbarung einer Vertragsstrafe für den Fall der Schlechtleistung wird grundsätzlich für zulässig gehalten69. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch die Verhängung einer Vertragsstrafe wegen objektiver Schlechtleistung im Einzelfall immer zulässig ist. Denn durch eine Vertragsstrafenvereinbarung dürfen die Regeln von der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung nicht umgangen werden70 (dazu noch unter IV. 3.). Eher als Nebenpflichtverletzung dürfte dagegen ein solches vereinsschädigendes Verhalten einzuordnen sein, das nicht unmittelbar bei der Ausübung des Sports, sondern nur bei Gelegenheit der sportlichen Tätigkeit erfolgt. Dazu gehören etwa abweisende oder obszöne Gesten gegenüber dem Publikum, möglicherweise auch Handgreiflichkeiten gegenüber eigenen Mitspielern während des Spiels oder Trainings; hier ist der Übergang zwischen Schlechtleistung und Verletzung von Nebenpflichten fließend. Die rechtliche Einordnung scheint deshalb von Bedeutung zu sein, weil zum Teil die Absicherung von bloßen Nebenpflichten durch eine Vertragsstrafe wegen des Wortlauts des § 339 BGB als problematisch angesehen wird71. Dem kann jedoch nicht zugestimmt werden. Es spricht nichts dagegen, auch Nebenpflichten durch Vertragsstrafen abzusichern72, sofern sie nur hinreichend bestimmt sind (dazu IV. 1.) und die Vereinbarung nicht gegen ein gesetzliches Verbot verstößt73. Auch durch Nebenpflichtverletzungen der Spieler können dem Verein zum Beispiel Imageschäden sowie solche Schäden entstehen, die durch Leistungsabfall und Abwanderungswilligkeit von Spielern
__________ 68 S. den Fall Marco Rehmer, Bericht in FAZ v. 12.4.2001, S. 38. 69 Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 25; Blomeyer in MünchHdb.
ArbR (Fn. 6), § 57 Rz. 58; a. M. Hümmerich, Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2002, § 1 Rz. 320. 70 Däubler, NZA 2001, 1329 (1336); Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB
Rz. 25; Thüsing in HWK, 2004, § 611 BGB Rz. 495; Künzl in Kasseler Hdb. (Fn. 58), 2.1 Rz. 202 ff.; Weber, AuA 1999, 551 (553). 71 Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 26; Söllner, AuR 1981, 97 (104). 72 BAG, AP Nr. 3 zu § 339 BGB; BAG NZA 1986, 782 (783); Gottwald in MünchKomm.BGB, Vor § 339 Rz. 23; Kümpel in FA-ArbR, 3. Aufl. 2001, Kap. 1 Rz. 523. 73 Gottwald in MünchKomm.BGB, Vor § 339 Rz. 17; Schaub/Linck, ArbeitsrechtsHandbuch, 11. Aufl. 2005, § 60 Rz. 6.
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auf Grund von Störungen des Klimas im Mannschaftskader entstehen und nur schwer nachweisbar oder bezifferbar sind. Deshalb spielt nach hier vertretener Ansicht die Einordnung derartiger Pflichten als Schlechtleistung oder Nebenpflichtverletzung keine Rolle. Ihre Verletzung kann auf jeden Fall durch Vertragsstrafen abgesichert werden, sofern nicht die Regeln der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung umgangen werden (dazu unter IV. 3.). d) Missbilligtes außerdienstliches Verhalten Ebenso wie andere Nebenpflichten können auch Pflichten im Zusammenhang mit dem außerdienstlichen Verhalten74 durch Vertragsstrafen gesichert werden. Voraussetzung ist nur, dass der Sportler wirklich zu einem bestimmten Verhalten im privaten Bereich verpflichtet ist. Das wird – soweit die Frage im Zusammenhang mit verhaltensbedingten Kündigungen erörtert wird – bejaht, sofern durch das außerdienstliche Verhalten die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung konkret beeinträchtigt wird, das Ansehen des Arbeitgebers leidet oder das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zum Beispiel wegen Zweifeln an dessen Zuverlässigkeit zerstört wird75. Allein ein so genannter lockerer oder unsittlicher Lebenswandel reicht dafür nicht aus76. Ferner ist es auch (zumindest außerhalb eines Turniers) sehr zweifelhaft, ob Fußballspieler pauschal ab 22.00 Uhr zur Nachtruhe verpflichtet werden können, mit der Folge, dass bei einem Verstoß selbst dann eine Vertragsstrafe verhängt wird, wenn der Spieler am nächsten Tag pünktlich zum Spiel oder Training erscheint und beste Leistungen erbringt. Allein der Wunsch des Vereins, für Disziplin seiner angestellten Sportler zu sorgen und das auch nach außen deutlich zu machen, rechtfertigt keine Pflichten, die außer der Disziplinierung keinen Sinn haben. Der Verein hat kein berechtigtes Interesse an einem unbedingten Gehorsam auch im privaten Lebensbereich. Anders verhält es sich etwa im Fall Marcelinho (nächtliches Samba-Trommeln und unentschuldigtes Fehlen beim Training am nächsten Tag77); hier sind die konkreten Auswirkungen auf die Erfüllung der Arbeitspflicht offensichtlich. Zulässig dürfte auch die Verpflichtung zur Unterlassung solcher sportlicher Betätigungen in der Freizeit sein, die der Wiederherstellung der verletzungsbedingt beeinträchtigten Gesundheit abträglich (Freizeitgolf trotz
__________ 74 Vgl. die Pflichtenaufzählung in § 2 (u. a. privates Verhalten ohne Beeinträchtigung
des Ansehens des Vereins, der Verbände und des Fußballsports; Befolgung der Anweisungen des Trainers bzgl. Lebensführung) sowie § 5 Abs. 2 (Befolgung von Weisungen auch bzgl. Spielvorbereitungen und Behandlungen) DFB-Mustervertrag. 75 Einzelheiten: Etzel in Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzrecht (KR), 7. Aufl. 2004, § 1 KSchG Rz. 450 ff. und Fischermeier in KR, § 626 BGB Rz. 113 f., 414. 76 Etzel in KR, § 1 KSchG Rz. 454. 77 Kicker-Online v. 15.12.2003.
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Muskelfaserrisses78 oder Skifahren trotz verletzungsbedingter Dienstunfähigkeit79) oder allgemein für die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit gefährlich sind (z. B. Skifahr-Verbot für Fußballspieler). Zu den ungeschriebenen Nebenpflichten eines angestellten Sportlers gehört es ferner, nicht durch alkoholbedingte Verkehrsdelikte, Raufereien, Randale oder Beleidigungen Dritter (insbesondere Ausländer) aufzufallen80; denn durch derartige Verhaltensweisen wird nicht nur das Ansehen der Sportler, sondern auch dasjenige des Vereins geschädigt, zumal für diesen die Idol- und Vorbildfunktion der Sportler wichtig ist. e) Verletzung sonstiger Nebenpflichten, insbesondere Dopingverstöße Dass Verstöße des Sportlers gegen Dopingbestimmungen Gegenstand einer Vertragsstrafenvereinbarung sein können, dürfte keinem Zweifel unterliegen81. Gegen die Zulässigkeit der (z. B. im Mustervertrag des DFB vorgesehenen) arbeitsvertraglichen Unterwerfung des Spielers unter die maßgeblichen Dopingbestimmungen bestehen keine Bedenken. Hier hat der Verein ein offensichtlich berechtigtes Interesse, weil er einerseits selbst verbandsrechtliche Sanktionen (z. B. Punktabzug) zu befürchten hat, andererseits Schwierigkeiten bei der Festlegung des daraus resultierenden Schadens haben kann. Ob dagegen eine Vertragsstrafe daran geknüpft werden kann, dass der Sportler sich im Fall der Krankheit immer vom Mannschafts- oder Vereinsarzt untersuchen lässt (Fall Fährmann)82, ist durchaus zweifelhaft. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG genügt jedenfalls der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch irgendeinen Arzt. Es gilt der auch auf Art. 2 Abs. 1 GG zurückgeführte83 Grundsatz der freien Arztwahl. Der Arbeitnehmer kann gerade nicht gezwungen werden, sich etwa an den Betriebs- oder Werksarzt zu wenden84. Auch im Sport besteht jedenfalls nicht immer ein berechtigtes Interesse des Vereins daran, dass bei jeder Art von Krankheit der Vereinsarzt konsultiert wird. Solange es an einem solchen Interesse fehlt, ist eine Einschränkung des Rechts auf freie Arztwahl zumindest bei den nicht durch die sportliche Tätigkeit verursachten Krankheiten kaum zu begründen85. Etwas anderes mag gelten, wenn es um medikamentöse Behandlungen geht und die
__________ 78 Bericht in FAZ über Oliver Kahn v. 29.10.2002, S. 35. 79 Bericht über Lothar Matthäus in FAZ v. 27.10.1998, S. 39. 80 Bericht über Ralf Sturm in FAZ v. 5.3.1994, S. 25; Bericht über Steffen Karl in FAZ
81 82 83 84 85
v. 17.2.1994, S. 30; Bericht über Spieler von Chelsea London in FAZ v. 25.9.2001, S. 46. Walker in Vieweg (Hrsg.), Doping – Realität und Recht, 1998, S. 135 (161); Fischer, FA 2002, 134 f. VdV-Wir Profis, Heft 1/2004, S. 6. Jarras/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 2 Rz. 12; v. Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 2 Rz. 29; BVerwGE 60, 367 (370); offen gelassen von BVerfGE 16, 286 (393 f.). Dörner in ErfKomm.ArbR, § 5 EFZG Rz. 25. Ebenso schon Rybak (Fn. 4), S. 102 ff.
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Gefahr des unbewussten Dopings durch einen insoweit nicht fachkundigen Arzt besteht. 3. Verschulden Die Vertragsstrafe setzt nach dem Wortlaut des § 339 Satz 1 BGB voraus, dass der Schuldner mit der gehörigen Erfüllung einer Pflicht in Verzug kommt, und Verzug tritt gem. § 286 Abs. 4 BGB nur bei Verschulden ein. Dem Verzug steht nach allgemeiner Ansicht die verschuldete Unmöglichkeit gleich86. Die Voraussetzung des Verschuldens wird von der h. M. entgegen dem Wortlaut des § 339 Satz 2 BGB und den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers87 auch bei dem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot angewendet88. Es spricht auch kein sachlicher Grund dafür, an die Verwirkung einer Vertragsstrafe durch einen Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot geringere Anforderungen zu stellen als bei einem Verstoß gegen eine Handlungspflicht. Allerdings besteht Einigkeit darüber, dass eine Vertragsstrafe grundsätzlich auch für den Fall der objektiven Pflichtverletzung ohne Rücksicht auf ein Verschulden ausbedungen werden kann89. Bei der Vertragsstrafenvereinbarung gerade im Arbeitsvertrag stellt sich allerdings die Frage, ob eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung des Arbeitnehmers wirksam vereinbart werden kann. Das wird für Individualvereinbarungen in Arbeitsverträgen, die allerdings bei Sportlern kaum vorkommen dürften, verbreitet bejaht90, ist jedoch problematisch, denn eine verschuldensunabhängige Vertragsstrafe ist mit den Grundsätzen der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung91 nicht vereinbar. Das Bundesarbeitsgericht hat sich in mehreren Entscheidungen dazu bekannt, dass „die aus einer entsprechenden Anwendung des § 254 BGB folgenden Regeln über die Haftung im Arbeitsverhältnis … einseitig zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht“ sind92, „von dem weder einzel- noch kollektivvertraglich zu Lasten der Arbeitnehmer abgewichen werden“ kann93. Die Regeln von der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung wurden durch die Schuldrechtsreform
__________ 86 S. nur Gottwald in MünchKomm.BGB, § 339 Rz. 32. 87 Mot. II, S. 278. 88 Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 32; BGH, NJW 1972, 1893
89 90 91 92 93
(1895); DB 1973, 764; Künzl in Kasseler Hdb. (Fn. 58), 2.1 Rz. 225; Gottwald in MünchKomm.BGB, § 339 Rz. 37; Heinrichs in Palandt, BGB, § 339 Rz. 4; Rieble in Staudinger, BGB, § 339 Rz. 117; Schaub/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch (Fn. 73), § 60 Rz. 11. BGH, NJW-RR 1997, 686 (688); NJW 1982, 759 (760); NJW 1971, 883; Gottwald in MünchKomm.BGB, § 339 Rz. 34; Heinrichs in Palandt, BGB, § 339 Rz. 3. So wohl Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 32; Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 57 Rz. 61 f. Dazu BAG (GS), NJW 1995, 210; Walker, JuS 2002, 736. BAG, NZA 2000, 715 (716); NJW 1999, 1049 (1052); vgl. auch NZA 2000, 727 (730). So ausdrücklich BAG, NJW 1999, 1049 (1052); NJW 2004, 2469 (2470).
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nicht abgeschwächt, sondern durch den neu formulierten § 276 Abs. 1 BGB und die damit verbundenen Vorstellungen des Gesetzgebers94 eher noch gestärkt. Ihr zwingender Charakter hat für Vertragsstrafenvereinbarungen von Arbeitnehmern, auch von angestellten Sportlern, gravierende Konsequenzen: Erstens kann der Sportler die Vertragsstrafe wegen Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit betrieblich veranlassten Tätigkeiten nur bei Verschulden verwirken. Zweitens reicht bei solchen Pflichtverletzungen nicht einmal jedes Verschulden aus; jedenfalls bei leichter Fahrlässigkeit kann die Vertragsstrafe überhaupt nicht verwirkt werden. Daher kann ein leicht fahrlässiger Fehler eines Fußballspielers (z. B. Stellungsfehler, Fehlpass), auch wenn er zum Tor der gegnerischen Mannschaft führt95, die Verhängung einer Vertragsstrafe nicht rechtfertigen. Unproblematisch ist dagegen, dass die Verwirkung der Vertragsstrafe von einem erhöhten Verschuldensgrad (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit) abhängig gemacht wird. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass etwa mit „Vertragsbruch“ nur der vorsätzliche Vertragsbruch gemeint ist96. Im Zusammenhang mit dem Verschulden gibt es mehrere Probleme. Zunächst ist die für die Vertragsstrafenverwirkung wichtige Abgrenzung zwischen leichter, mittlerer und grober Fahrlässigkeit schwierig. So dürfte es kaum einheitlich beurteilt werden, ob ein grobes Foulspiel, das zu einer roten Karte und anschließender Sperre führt, immer grob fahrlässig oder vorsätzlich begangen wird, auch wenn es im Eifer des Gefechts erfolgt. Entsprechendes gilt für spontane trainer- oder vereinskritische Äußerungen, zu denen sich ein Spieler unmittelbar nach einem Spiel, gegebenenfalls noch auf dem Spielfeld, provozieren lässt. Über den Verschuldensgrad wird man auch in bestimmten Fällen des Dopings streiten können, etwa wenn dieses auf den erhöhten Genuss von Kaffee97 oder die Einnahme von Hustenbonbons zurückzuführen ist. Ferner sind die Auswirkungen der bei einer Schadensersatzhaftung wegen mittlerer Fahrlässigkeit erfolgenden Haftungsquotelung auf die zulässige Höhe einer verwirkten Vertragsstrafe noch nicht geklärt. Schließlich ist im Einzelfall immer zu prüfen, ob die Regeln von der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung überhaupt eingreifen und sich auf die Verschuldensanforderungen an die Verwirkung einer Vertragsstrafe auswirken. Dafür muss die Pflichtverletzung nämlich im Rahmen einer betrieblich veranlassten Tätigkeit begangen worden sein98. Betrieblich veranlasst sind solche Tätigkeiten, die dem Mitarbeiter arbeitsvertraglich übertragen wor-
__________ 94 BT-Drucks. 14/6857, S. 48. 95 Fall Marco Rehmer, Bericht in FAZ v. 12.4.2001, S. 38. 96 BAG, NZA 1992, 215; LAG Berlin, AP § 339 BGB Nr. 4; zustimmend Müller-Glöge
in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 32. 97 Dazu DSV-Schiedsgericht, SpuRt 1994, 210. 98 Zur Voraussetzung der betrieblichen Veranlassung, die an die Stelle bis zum Jahr
1994 verlangten Gefahrneigung der Arbeit (s. nur BAG, NJW 1958, 235; NJW 1990, 468) getreten ist, s. BAG (GS), NJW 1995, 210; Walker, JuS 2002, 736 (737).
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den sind oder die er im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb ausführt99. Das dürfte bei Sportlern auf alle Pflichtverletzungen zutreffen, die unmittelbar mit der Ausübung des Sports zusammenhängen, wie zum Beispiel auf Schlechtleistung einschließlich unerlaubten Handspiels und der Verursachung einer roten Karte durch Fouls sowie auf Beleidigungen100. Unproblematisch zu verneinen ist dagegen die betriebliche Veranlassung bei Nebenpflichtverletzungen im außerdienstlichen Bereich wie Alkoholexzessen, ausländerfeindlichem Verhalten und Ähnlichem. Hier kann eine vereinbarte Vertragsstrafe auch bei leichtem Verschulden, bei entsprechender Vereinbarung auch ohne Verschulden verwirkt werden. Diskussionswürdig ist die betriebliche Veranlassung etwa beim Doping. Der Zusammenhang zwischen Doping und der Hauptleistungspflicht des Sportlers ist zwar nicht zu leugnen101. Andererseits handelt es sich beim Doping nicht um eine dem Sportler arbeitsvertraglich übertragene Tätigkeit, und sie liegt schon angesichts der Pflichten des Vereins gegenüber seinem Verband auch nicht im Interesse des Vereins102. Das spricht dafür, in Dopingfällen die Grundsätze von der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung nicht anzuwenden. 4. Zulässige Höhe Die Höhe der Vertragsstrafe ist zwar nicht unter dem Gesichtspunkt der hinreichenden Bestimmtheit, aber unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt von Bedeutung. Sie darf nach allgemeiner Ansicht nicht in einem unangemessenen Verhältnis zum Einkommen stehen103. Andernfalls kann die Vereinbarung wegen Sittenwidrigkeit nichtig sein (§ 138 BGB)104, oder (falls die Schwelle des § 138 BGB nicht erreicht ist) es kommt bei Individualvereinbarungen (zu Formularvereinbarungen s. V. 2. b) eine Herabsetzung nach § 343 BGB in Betracht. Die Arbeitsgerichte akzeptieren im Regelfall eine Höhe, die einem Monatsgehalt entspricht105. Ob diese Grenze von einem Monatsgehalt bei solchen Lizenzspielern, bei denen ein Monatsgehalt für den notwendigen Lebensbedarf nicht den gleichen Stellenwert hat wie bei anderen Arbeitnehmern, überhaupt sachgerecht ist, wird anderweitig noch zu diskutieren sein. Sie dürfte in den eingangs genannten Beispielen, in
__________ 99 BAG (GS), NJW 1995, 210. 100 Reichold, LdR-Arbeitsrecht, Sport, C IV; Walker (Fn. 81), S. 135 (161). 101 Deshalb für eine Anwendung der Regeln von der eingeschränkten Arbeitnehmer-
102 103 104 105
haftung wohl Friedrich, SpuRt 1995, 8 (10); Reichold (Fn. 100), C IV; Turner, NJW 1992, 720 (722). Walker (Fn. 81), S. 135 (161). BAG, AP Nr. 9 zu § 622 BGB; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 2002, § 6 Rz. 151; Blomeyer in MünchHdb.ArbR (Fn. 6), § 55 Rz. 48. LAG Köln, NZA-RR 1999, 350 (351). S. nur BAG, NZA 2004, 727 (733 f.); DB 1984, 2143; vgl. aus der Lit. Thüsing in HWK, § 611 BGB Rz. 492; Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 20 m. N.; Preis/Stoffels (Fn. 46), II V 30 Rz. 22, 31.
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denen Spitzenfußballer betroffen waren, angesichts von deren bekanntem oder vermutetem Jahreseinkommen meistens eingehalten sein. Die zulässige Höchstgrenze darf im Übrigen nicht bei jeder Verwirkung einer Vertragsstrafe ausgeschöpft werden. Vielmehr entspricht die vom Verein festgesetzte Höhe nur dann billigem Ermessen im Sinne des § 315 Abs. 1 BGB, wenn sie auch in einem angemessenem Verhältnis zu dem Interesse des Vereins an der Einhaltung der sanktionierten Pflichten steht. So dürfte ein Spieler mit einem Jahreseinkommen von 3 Millionen Euro für eine kritische Äußerung über die Vereinsführung kaum mit einer Vertragsstrafe von 250000 Euro (= 1 Monatsgehalt) belegt werden.
V. Die Besonderheiten bei formularmäßigen Vertragsstrafenvereinbarungen In aller Regel werden auch im Sport vorformulierte Vertragsstrafenvereinbarungen getroffen (siehe nur den vom DFB empfohlenen Mustervertrag). Hier gelten besondere Wirksamkeitsvoraussetzungen. 1. Grundsatz: §§ 309 Nr. 6, 310 Abs. 4 Satz 2, 1. Halbs. BGB Seit der Schuldrechtsreform unterliegen vorformulierte Vereinbarungen in Arbeitsverträgen einer beschränkten (§ 310 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbs. BGB) Einbeziehungskontrolle und einer Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB (vgl. § 310 Abs. 4 Satz 2, 1. Halbs. BGB). Nach § 309 Nr. 6 BGB sind Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, durch die dem Verwender für den Fall, dass der andere Teil sich vom Vertrag löst, die Zahlung einer Vertragsstrafe versprochen wird. Danach müssten Vertragsstrafenvereinbarungen für den Fall des Vertragsbruchs durch den Sportler unwirksam sein106. 2. Besonderheiten des Arbeitsrechts gem. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB Allerdings sind bei der Anwendung dieser Vorschrift auf Arbeitsverträge die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen (§ 310 Abs. 4 Satz 2, 1. Halbs. BGB). Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber unter anderem zum Ausdruck bringen, dass vor allem die besonderen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit des § 309 BGB nicht zwingend uneingeschränkt zur Anwendung kommen107.
__________ 106 So noch Däubler, NZA 2001, 1329 (1336); Dörner in DLW, 3. Aufl. 2002,
C Rz. 457; Fenn in FS Söllner, 2000, S. 333 (360 ff.). 107 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-
Drucks. 14/6857, S. 54.
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a) Absicherung der Hauptpflicht Seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 4.3.2004 ist höchstrichterlich geklärt, dass eine Besonderheit des Arbeitsrechts die Regelung des § 888 Abs. 3 ZPO bildet108. Zwar handelt es sich bei dieser Vorschrift nicht um eine Norm des Arbeitsrechts, aber ihre Auswirkungen zeigen sich (wenn auch nicht ausschließlich) gerade auf dem Gebiet des Arbeitsrechts109. Nach § 888 Abs. 3 ZPO unterliegt die Verpflichtung zur Arbeitsleistung nicht der Zwangsvollstreckung. Der Arbeitgeber hat also im Gegensatz zu anderen Gläubigern keine Möglichkeit, seinen Hauptleistungsanspruch aus dem Arbeitsvertrag durchzusetzen, obwohl ihm durch die Nichterfüllung große Schäden entstehen können. Aber selbst ein Ausgleich im Wege des Schadensersatzes scheitert oft daran, dass die Kausalität zwischen Vertragsbruch und Schaden sowie dessen Höhe nicht nachgewiesen werden können. Eine Besonderheit des Arbeitsrechts besteht mithin darin, dass dem Arbeitgeber praktisch keine anderen Instrumente als die Vertragsstrafe zur Verfügung stehen, um den Arbeitnehmer effektiv zur Einhaltung des Arbeitsvertrages anzuhalten und einen Vertragsbruch zu sanktionieren110. Deshalb folgt aus § 310 Abs. 4 Satz 2, 1. Halbs. BGB, dass trotz der grundsätzlichen Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB auf dem Gebiet des Arbeitsrechts die formularmäßige Vereinbarung von Vertragsstrafen entgegen § 309 Nr. 6 BGB grundsätzlich zulässig ist. Allerdings gilt § 888 Abs. 3 ZPO, aus dem sich die maßgebliche Besonderheit des Arbeitsrechts ergibt, nur für unvertretbare Handlungen. Dagegen ist der Anspruch auf Vornahme von vertretbaren Handlungen nach § 887 ZPO im Wege der Ersatzvornahme auf Kosten des Schuldners vollstreckbar. Daher stellt sich die Frage, ob die angestellten Sportler immer unvertretbare Handlungen schulden. Wenn man der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt, ist diese Frage schnell zu beantworten. Das Bundesarbeitsgericht sieht nämlich entgegen einer verbreiteten Ansicht111 jede Arbeitsleistung wegen der Pflicht zur persönlichen Erbringung (§ 613 Satz 2 BGB) als unvertretbar an112. Aber selbst dann, wenn man dieser insoweit zweifelhaften Rechtsprechung nicht folgt, darf die Unvertretbarkeit der von dem Sportler geschuldeten Handlung nicht vorschnell mit der Begründung verneint werden, jeder Mannschaftssportler sei notwendigerweise durch einen anderen ersetzbar, was sich schon im Falle der Verletzung, der Sperre oder des Vereinswechsels zeige. Denn „unvertretbar“ im Sinne von § 888 ZPO bedeutet nicht „unersetzbar“, was ohnehin praktisch auf niemanden zutrifft113. Für
__________ 108 109 110 111 112 113
BAG, NZA 2004, 727 (731 ff.). BAG, NZA 2004, 727 (732); Reichenbach, NZA 2003, 309 (311). Ähnlich Müller-Glöge in ErfKomm.ArbR, §§ 339 ff. BGB Rz. 11. S. nur Brox/Walker (Fn. 49), Rz. 1066; Reichenbach, NZA 2003, 309 (311). BAG, NZA 2004, 727 (732). Schuschke/Walker, ZPO, Bd. 1, 3. Aufl. 2002, § 888 Rz. 9.
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Die Vertragsstrafe im Arbeitsvertrag des Sportlers
die Anwendung des § 888 ZPO reicht es vielmehr aus, dass es dem Arbeitgeber nicht gleichgültig ist, wer die Arbeitsleistung erbringt und dass es ihm maßgeblich auf die Persönlichkeit des Arbeitnehmers ankommt114. Die Bejahung einer so definierten Unvertretbarkeit der von den angestellten Sportlern geschuldeten Handlungen lässt sich auch bei weniger prominenten Mannschaftssportlern durchaus begründen, denn selbst der sog. Hinterbänkler wird letztlich nach seiner Eignung und seinen persönlichen Fähigkeiten in eine Mannschaft und in das Spielsystem eingebaut. Deshalb spricht viel dafür, dass bei allen angestellten Sportlern wegen der Anwendbarkeit des § 888 Abs. 3 ZPO formularmäßige Vertragsstrafenvereinbarungen jedenfalls für die Verletzung der Hauptleistungspflicht grundsätzlich zulässig sind. b) Absicherung von Nebenpflichten Die Argumentation mit § 888 Abs. 3 ZPO passt nicht, soweit damit die Verletzung von solchen Nebenpflichten sanktioniert werden soll, bei denen es nicht um unvertretbare Handlungen geht. Soweit Unterlassungsansprüche aller Art betroffen sind, steht dem Verein die Vollstreckungsmöglichkeit nach § 890 ZPO zur Verfügung. Das gilt etwa für die Ansprüche auf Unterlassung vereinskritischer Äußerungen, auf Unterlassung verbotener Freizeitbeschäftigungen und auf Unterlassung von Doping. Trotzdem ist eine formularmäßige Vertragsstrafenvereinbarung für eine Verletzung derartiger Nebenpflichten nicht wegen Verstoßes gegen § 309 Nr. 6 BGB unwirksam; denn das dort geregelte Vertragsstrafenverbot gilt nur für den Fall, dass der andere Vertragsteil sich unberechtigt vom Vertrag löst, nicht dagegen für den Fall der Nebenpflichtverletzungen115. 3. Grenzen des § 307 BGB Allerdings können formularmäßige Vertragsstrafenvereinbarungen im Einzelfall nach dem unstreitig anwendbaren § 307 BGB116 wegen unangemessener Benachteiligung unwirksam sein. Eine unangemessene Benachteiligung in diesem Sinne kann zunächst auf einem Verstoß gegen das Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) sowie darauf beruhen, dass der Belastung des Sportlers keine begründeten und billigenswerten Interessen des Vereins gegenüberstehen117. Deshalb ist die formularmäßige Vereinbarung einer Vertragsstrafe wegen der Verletzung solcher Nebenpflichten, an deren Durch-
__________
114 S. nur Schuschke/Walker, ZPO, § 888 Rz. 9. 115 A. M. noch von Koppenfels, NZA 2002, 598 (601), die § 309 Nr. 6 BGB entspre-
chend anwenden will und für ein vollständiges Vertragsstrafenverbot im Arbeitsrecht plädiert. Diese Ansicht dürfte durch die Entscheidung des BAG v. 4.3.2004 (NZA 2004, 727) überholt sein. 116 BAG, NZA 2004, 727 (732). 117 Vgl. BGH, NJW 2000, 1110; NJW 1997, 3022; NJW 1987, 2431; DB 1984, 2143; BAG, NJW 2004, 728 (732).
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setzung der Verein nur ein begrenztes Interesse hat und deren Verletzung in der Regel ohnehin keinen Schaden beim Arbeitgeber verursacht, nach § 307 BGB unwirksam. Falls man etwa die pauschale Verpflichtung des Sportlers zur Nachtruhe ab 22.00 Uhr entgegen der hier vertretenen Ansicht (s. IV. 2. d) für wirksam hält, kann eine formularmäßig vereinbarte Vertragsstrafe wegen Verletzung dieser Pflicht trotzdem nach § 307 BGB unwirksam sein. Der Verein muss sich dann auf andere Sanktionen wie Abmahnung oder Geltendmachung des Anspruchs auf Ersatz eines konkreten (allerdings kaum darzulegenden) Schadens beschränken. Insbesondere im Fall des Vertragsbruchs bestehen dagegen an einem anerkennenswerten Interesse des Vereins an einer Vertragsstrafe keine Zweifel118. Das gleiche gilt auch für die Sanktionierung der Verletzung solcher Nebenpflichten, die regelmäßig keinen nennenswerten Schaden beim Arbeitgeber verursachen, so dass die schadensausgleichende Funktion der Vertragsstrafe leer läuft, an deren Einhaltung der Verein aber schon aus Imagegründen ein berechtigtes Interesse hat; denn es reicht aus, wenn von den beiden Funktionen der Vertragsstrafe deren Präventivfunktion zur Geltung kommt119. Ferner kann sich eine unangemessene Benachteiligung im Sinne von § 307 BGB aus der Höhe der Vertragsstrafe ergeben, falls eine solche konkret vereinbart ist. Wie ausgeführt, akzeptiert die Rechtsprechung grundsätzlich eine Obergrenze von einer Monatsvergütung120. Eine unangemessene Höhe der formularmäßig vereinbarten Vertragsstrafe führt zur Unwirksamkeit der ganzen Vereinbarung. Eine richterliche Herabsetzung gem. § 343 BGB liefe auf eine geltungserhaltende Reduktion hinaus, die aber durch § 306 Abs. 2 BGB ausgeschlossen ist121.
__________ 118 Vgl. BAG, NZA 2004, 728 (733). 119 BAG, NZA 2004, 728 (733); Singer, RdA 2003, 194 (202); Rieble in Staudinger,
BGB, Vor §§ 339 ff. Rz. 36. 120 BAG, NZA 2004, 728 (733 f.). Im Falle des Vertragsbruchs verringert sich diese
Obergrenze, wenn der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, sich unter Einhaltung einer kürzeren Frist auf rechtmäßige Weise ohnehin vom Vertrag zu lösen. Letzteres ist bei Sportlern mit regelmäßig befristeten Arbeitsverträgen jedoch grundsätzlich nicht der Fall. 121 BAG, NZA 2004, 728 (734); Reichenbach, NZA 2003, 309 (313); Schul/Wichert, SpuRt 2004, 229 (231); Thüsing in HWK, § 611 BGB Rz. 490.
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Johannes Wertenbruch
Vertragsnatur, Gewährleistung und Bilanzierung beim Spielerkauf nach Bosman Inhaltsübersicht I. Die dogmatische Einordnung des „Spielerkaufs“ II. Gewährleistung beim „Kauf“ eines Lizenzspielers
III. Schadensersatzhaftung aus culpa in contrahendo IV. Die Bilanzierung von „gekauften Spielern“ V. Zusammenfassung
I. Die dogmatische Einordnung des „Spielerkaufs“ Im Bereich des Profisports, insbesondere des Berufsfußballs, kommt es nach wie vor häufig vor, dass ein Lizenzspieler zu einem anderen Club wechselt und dieser an den bisherigen Verein eine sog. Ablösesumme zahlt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird dieser Vorgang als „Spielerkauf“ bzw. „Spielerverkauf“ bezeichnet. Das durch das Bosman-Urteil1 des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für unwirksam erklärte Transferentschädigungssystem wurde von nicht wenigen als „moderner Sklavenhandel“2 angesehen. Gleichwohl kommt es auch nach dem Bosman-Urteil des EuGH weiterhin zu „Spielerkäufen“ und damit zur Zahlung von Ablösesummen. Dies beruht darauf, dass das Bosman-Urteil sich nur auf Ablösesummen und Transferentschädigungen bezieht, die nach Vertragsablauf von einem übernehmenden Verein an den bisherigen Verein gezahlt werden mussten. Bis zu diesem Urteil waren die Spieler trotz Vertragsablaufs nicht frei: Sie konnten zwar im Rahmen der Vertragsfreiheit bei einem anderen Verein einen Arbeitsvertrag unterschreiben, dieser Verein bekam allerdings für diesen Spieler die für den Einsatz erforderliche Lizenz nur dann, wenn er eine Transferentschädigung an den bisherigen Verein zahlte. Mit den Transferentschädigungen nach Ablauf eines Arbeitsvertrages sollte der abgebende Verein ein Äquivalent für die Ausbildung des Spielers erhalten und eine Art Finanzausgleich
__________ EuGH, EuGHE 1995, I-4921 (Bosman) = EuZW 1996, 82 m. Anm. Wertenbruch = NJW 1996, 505 = ZIP 1996, 42. 2 Vgl. M.-N. Becker, Verfassungsrechtliche Schranken für die Regelung des Lizenzfußballsports in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Mainz 1982, S. 121; Schennen, Die Verfassungswidrigkeit von Ablösesummen im Berufsfußball, Diss. Münster 1984, S. 170; Wange, Die Profi-Berufssportler, Gladiatoren unserer Zeit, 1977, S. 69; H. P. Westermann, JA 1984, 394 (398). Vgl. dazu auch Wertenbruch, NJW 1993, 179. 1
1297
Johannes Wertenbruch
zwischen den wirtschaftlich starken und den kleineren Vereinen hergestellt werden3. Im Fall des EuGH war der belgische Fußballprofi Jean-Marc Bosman aufgrund eines Zweijahresvertrags bis zum 30.6.1990 an den belgischen Erstligaclub Standart Lüttich gebunden. Einen vom Club angebotenen neuen Vertrag, der ein geringeres Gehalt vorsah, lehnte Bosman ab. Er unterschrieb einen Vertrag beim französischen Zweitligaclub US Dünkirchen. Dieser Club einigte sich zwar mit Standart Lüttich über die Höhe einer nachvertraglichen Transferentschädigung, Lüttich verweigerte aber die formelle Freigabe, weil Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des US Dünkirchen aufkamen. Dadurch trat die für die Ablösevereinbarung erforderliche aufschiebende Bedingung nicht ein. Die fehlende Freigabe durch Standart Lüttich führte zu einer Sperre, die auf Antrag von Bosman durch gerichtliche einstweilige Anordnung des Tribunal de Première Instance Lüttich außer Kraft gesetzt wurde. Auf Vorlage der Cour d’ Appel Lüttich im Hauptsacheverfahren bejahte der EuGH einen Verstoß der nachvertraglichen Transferentschädigungssysteme gegen Art. 48 EWGV (Art. 39 EG n. F.). Sowohl das Bosman-Urteil4 als auch die nachfolgenden Urteile des BAG5 im Fall Kienass und des BGH6 zur Ausbildungsentschädigung für innerhalb der Regionalligen wechselnde Fußballvertragsamateure beziehen sich jedoch nicht auf Ablösesummen, die vor Ablauf eines geschlossenen Lizenzspielervertrages gezahlt werden. Bis zum Ablauf eines Lizenzspielervertrages ist der Spieler nach Vertragsrecht an seinen Club gebunden, für ihn gilt also der Grundsatz „pacta sunt servanda“. Der Anspruch des Vereins gegen den Spieler auf Erfüllung des Arbeitsvertrages kann zwar wegen § 888 Abs. 3 ZPO nicht zwangsweise durchgesetzt werden, gleichwohl scheitert das Tätigwerden für einen anderen Verein an einer fehlenden Spielerlizenz für diesen Verein. Das neue FIFA-Reglement bezüglich Status und Transfer von Spielern i. d. F. vom 1.9.2001 sieht Höchstlaufzeiten für Lizenzspielerverträge
__________ Vgl. dazu BGH, NJW 1976, 565 = MDR 1976, 382; Reuter, NJW 1983, 649 (654); Wertenbruch, NJW 1993, 179 ff. m. w. N. 4 Vgl. Fn. 1. Der EuGH formuliert im ersten Leitsatz ausdrücklich: „Art. 48 EWGV steht der Anwendung von durch Sportverbände aufgestellten Regeln entgegen, nach denen ein Berufsfußballspieler, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist, bei Ablauf des Vertrags, der ihn an einen Verein bindet, nur dann von einem Verein eines anderen Mitgliedstaates beschäftigt werden kann, wenn dieser dem bisherigen Verein eine Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung gezahlt hat.“ (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. dazu Hilf/Pache, NJW 1996, 1196 (1174); Kelber, NZA 2001, 11 (12); Pfister, EU-Recht und Sport 1998, 151 (157); Wertenbruch, EuZW 1996, 91 (92). 5 BAGE 84, 344 = NZA 1997, 647 = NJW 1997, 2065 = AP Nr. 12 zu § 611 BGB Berufssport = EWiR § 138 BGB 6/97, 439 (Reichold); vgl. dazu auch Arens, SpuRt 1997, 126. 6 BGHZ 142, 304 = NJW 1999, 3552 = ZIP 1999, 1807 = EWiR Art. 12 GG 1/2000, 27 (H. P. Westermann); vgl. dazu auch Stopper, SpuRt 2000, 1 (3 f.). 3
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Vertragsnatur, Gewährleistung und Bilanzierung beim Spielerkauf
vor7. Dies ändert aber nichts daran, dass ein wirksam geschlossener Arbeitsvertrag für die Dauer seiner Laufzeit auch vom Spieler eingehalten werden muss. Das Unterzeichnen eines Lizenzspielervertrages bei einem anderen Verein vor Ablauf des mit dem alten Verein geschlossenen Vertrages stellt eine positive Vertragsverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) des Arbeitsvertrages dar8. Insoweit steht dem alten Verein auch ein Unterlassungsanspruch zu, der auch im einstweiligen Rechtsschutz durchgesetzt werden kann9. Dem Spieler kann also bis zum Ablauf des Lizenzspielervertrages das Tätigwerden für einen anderen Verein untersagt werden. Ein Vereinswechsel vor Vertragsablauf ist nur möglich, wenn der bisherige Verein einem Aufhebungsvertrag zustimmt. Da der bisherige Verein nicht zum Abschluss eines solchen Vertrages verpflichtet ist, hängt ein vorzeitiger Wechsel in der Regel von der Zahlung einer Ablösesumme ab. Die Ablösesumme wird also für die auf Aufhebung des Arbeitsvertrages gerichtete Willenserklärung des bisherigen Clubs gezahlt. Die Höhe der Ablösesumme hängt insbesondere davon ab, wie lange der Spieler noch an seinen Verein gebunden ist. Da die Spieler nunmehr aufgrund des Wegfalls der nachvertraglichen Transferentschädigungssysteme bei Vertragsablauf ablösefrei wechseln können, sind die Ablösesummen bei einem Wechsel, der ein Jahr vor Vertragsablauf stattfindet, relativ niedrig. Hier ist es für den an einer Verpflichtung interessierten Verein günstiger, den Arbeitsvertrag mit dem Spieler ein Jahr vor Ablauf des noch mit dem anderen Verein bestehenden Vertrages mit Wirkung für den Zeitraum nach regulärer Beendigung zu schließen und anstelle einer Ablösesumme dem Spieler ein höheres Gehalt zu zahlen. Das Zahlen einer Abfindung als Gegenleistung für die vorzeitige Aufhebung eines Vertrages ist keine Besonderheit des Berufssports. Die Zahlung derartiger Abfindungen ist auch bei anderen befristeten Verträgen, insbesondere bei Mietverträgen, nicht selten10. Wenn bei laufenden Verträgen eine Partei, der kein Kündigungsrecht zusteht, eine Vertragsbeendigung begehrt, kann die andere Partei die Vertragsaufhebung von der Zahlung einer Abstandssumme abhängig machen. Ebenso wie im Rahmen der Vertragsfreiheit Verträge geschlossen werden können, können sie auch durch Aufhebungsvereinbarungen beendet werden. Bei diesen handelt es sich um schuldrechtliche Verein-
__________ 7 Das FIFA-Reglement bezüglich Status und Transfer von Spielern ist auf der Inter-
net-Seite der FIFA (www.fifa.com) abrufbar. Vgl. zum FIFA-Reglement Neuß, RdA 2003, 161 ff.; Reiter, SpuRt 2004, 55 (57 ff.). 8 Vgl. zur Verletzung der Leistungstreuepflicht Heinrichs in Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, § 280 Rz. 25; Roth in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2003, § 241 Rz. 72; Schulze in Handkomm.BGB, 3. Aufl. 2003, § 280 Rz. 7. 9 Vgl. dazu Putzo in Palandt, BGB, § 611 Rz. 39. 10 Vgl. dazu Blank in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 8. Aufl. 2003, Anh. § 542 Rz. 1 ff.; Blank/Börstinghaus, Miete, 2. Aufl. 2004, § 542 Rz. 147 ff.; Rolfs in Emmerich/ Sonnenschein, Miete, 8. Aufl. 2003, § 542 Rz. 63 ff.
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Johannes Wertenbruch
barungen sui generis. Entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch wird also ein Lizenzspieler, der bei einem anderen Verein unter Vertrag steht, mit der Zahlung einer Ablösesumme nicht im Sinne des § 433 BGB „gekauft“11. Es liegt auch kein Kauf von sonstigen Gegenständen im Sinne des § 453 Abs. 1 BGB vor.
II. Gewährleistung beim „Kauf“ eines Lizenzspielers Auch bei der Gewährleistung im Falle des „Spielerkaufs“ muss zwischen den alten Transferentschädigungssystemen und dem nach wie vor zulässigen „Herauskaufen“ aus einem laufenden Vertrag unterschieden werden. Wurde auf der Grundlage der durch das Bosman-Urteil weggefallenen Transferentschädigungssysteme nach Vertragsablauf eine Transferentschädigung gezahlt, so konnte deren Zweck – die Kompensation eines durch Ausbildung erlangten wirtschaftlichen Werts und ein Finanzausgleich zwischen den Ligaclubs – nicht erreicht werden, wenn der neuverpflichtete Spieler aufgrund einer gravierenden Verletzung, Erkrankung oder aus sonstigen Gründen auf Dauer nicht einsetzbar war12. Denn der Wertverlust war schon beim bisherigen Verein eingetreten, so dass dieser Verein durch die Zahlung der Transferentschädigung ungerechtfertigt bereichert wurde. Dem übernehmenden Verein stand daher ein Rückzahlungsanspruch aus § 812 BGB zu13. Im Falle des nach wie vor zulässigen „Herauskaufens“ aus einem laufenden Vertrag ist die Gewährleistung anders zu beurteilen als im Rahmen der früheren Transferentschädigungssysteme. Rechtsgrund für die Zahlung der Ablösesumme ist hier der Aufhebungsvertrag. Dieser entfällt nicht dadurch, dass der aus dem Vertrag „herausgekaufte“ Spieler beim neuen Verein dauerhaft nicht einsetzbar ist. Da mangels Vorliegens eines Kaufvertrages die kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüche nicht eingreifen, stellt sich die Frage, ob ein Wegfall der Geschäftsgrundlage im Sinne des § 313 BGB vorliegt. Der BGH hat in einem Fall, der sich im Jahre 1971 im Rahmen des sog. Bundesligaskandals ereignet hatte, einen Rückzahlungsanspruch des neuen Vereins wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage bejaht14. Im Fall des BGH war der Vertrag des transferierten Spielers W. beim VfB Stuttgart zwar abgelaufen; nach dem damals geltenden – später vom Deutschen Fußballbund (DFB) noch vor dem Bosman-Urteil15 aufgehobenen – Transferentschädigungs-
__________ 11 Berger in Jauernig, BGB, 11. Aufl. 2004, Vor §§ 433–480 Rz. 11; Heinrichs in
12 13 14 15
Palandt, BGB, Einf. v. § 433 Rz. 23; Huber in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1991, § 445 Rz. 4; Köhler in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1995, § 433 Rz. 52; Saenger in Handkomm.BGB, Vor §§ 433–480 Rz. 10; H. P. Westermann in MünchKomm.BGB, 3. Aufl. 1995, § 433 Rz. 20. Vgl. Wertenbruch, NJW 1993, 179 (181 ff.). Vgl. Wertenbruch, NJW 1993, 179 (181 ff.). BGH, NJW 1976, 565 = MDR 1976, 382. Vgl. Fn. 1.
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system musste allerdings auch bei Ablauf eines Lizenzspielervertrages vom alten Verein eine verbandsrechtliche Freigabe erteilt werden, die dieser von der Zahlung einer Ablösesumme abhängig machen konnte. Ohne diese Freigabe erteilte der DFB keine Lizenz für den Einsatz des Spielers im neuen Verein. Es wurde also, ähnlich wie beim „Herauskaufen“ aus einem laufenden Vertrag, eine Ablösesumme gegen Erteilung einer Freigabe gezahlt. Im Fall des BGH hatte der VfB Stuttgart als abgebender Verein hinsichtlich des Spielers W. einen Transfervertrag mit den Stuttgarter Kickers abgeschlossen. In diesem Vertrag verpflichtete sich der VfB Stuttgart zur Erteilung der verbandsrechtlichen Freigabe nach Vertragsablauf gegen Zahlung einer Ablösesumme in Höhe von 40000 DM. Vor Abschluss dieses Transfervertrages hatte der Spieler W. im Mai 1971 eine „Prämie“ dafür erhalten, im Spiel gegen Arminia Bielefeld nicht „auf Sieg“ zu spielen. Nach drei Spielen für den neuen Verein wurde die Bestechung bekannt und dem Spieler, der ein Geständnis ablegte, vom DFB die Spielerlizenz entzogen. Der BGH nahm an, dass die Vertragsparteien von einer Einsatzfähigkeit des Spielers und damit von der Nichtexistenz persönlicher Hinderungsgründe ausgegangen waren16. Der Spieler sei schon vor Zahlung der Ablösesumme durch die Verstrickung in den Bundesligaskandal für seinen alten Club VfB Stuttgart und auch für jeden anderen Verein objektiv wertlos geworden. Das Risiko, dass ein übernommener Spieler schon vor Abschluss des Transfervertrages an einer Bestechung beteiligt war, trage nicht der übernehmende, sondern der abgebende Verein. Die unbeschränkte Einsetzbarkeit des transferierten Lizenzspielers ist in gleicher Weise Geschäftsgrundlage für die nach wie vor zulässigen Verträge über die Zahlung einer Ablösesumme gegen Zustimmung zur Aufhebung des Lizenzspielervertrages. Insoweit ist es unerheblich, ob eine verbandsrechtliche Freigabe als Lizenzvoraussetzung „erkauft“ oder die Ablösesumme für eine schuldrechtliche Aufhebungsvereinbarung gezahlt wird. Ist der neu unter Vertrag genommene Spieler nicht einsetzbar, so liegen die Voraussetzungen des § 313 Abs. 2 BGB vor. Denn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, haben sich als falsch herausgestellt. Eine Vertragsanpassung gem. § 313 Abs. 1 BGB oder ein Rücktritt gem. § 313 Abs. 3 BGB kommt aber nur in Betracht, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann17.
__________ 16 BGH, NJW 1976, 565 (566) = MDR 1976, 382. 17 Dies galt auch schon vor der Kodifizierung der Regeln zum Wegfall der Geschäfts-
grundlage in der durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz eingeführten Vorschrift des § 313 BGB, vgl. BGHZ 2, 176 (188); 84, 1 (9); 121, 378 (393); 128, 230 (238), BGH, NJW 1995, 47 (48); Heinrichs in Palandt, BGB, 61. Aufl. 2002, § 242 Rz. 129; Fikentscher, Geschäftsgrundlage als Frage des Vertragsrisikos, 1971,
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Unproblematisch sind die Fälle, in denen der Spieler aufgrund einer leichten Verletzung oder wegen einer gewöhnlichen Sportstrafe (Sperre) für einige Spiele nicht eingesetzt werden kann. Das Risiko, dass ein Spieler wegen einer roten Karte beim letzten Spiel für den alten Verein zu Beginn der neuen Saison eine Sperre von bis zu acht Wochen „absitzen“ muss, trägt der neue Verein. Wer einen Spieler aus einem laufenden Vertrag „herauskauft“, muss damit rechnen, dass in den verbleibenden Spielen für den alten Verein noch Umstände eintreten, die zu einem kurzfristigen Einsatzhindernis führen. Schwieriger zu beurteilen ist der Fall, in dem ein Spieler aufgrund einer Verletzung oder Erkrankung längerfristig oder sogar auf Dauer, etwa wegen Sportinvalidität, nicht eingesetzt werden kann. Entsprechendes gilt, wenn der Spieler wegen eines Dopingvergehens oder, wie im Fall BGH, NJW 1976, 565, wegen einer Straftat längerfristig nicht einsetzbar ist. Mit solchen ungewöhnlichen Umständen muss ein übernehmender Verein nicht rechnen. Gegen eine volle Risikobelastung des übernehmenden Vereins spricht, dass die Umstände während der Tätigkeit für den alten Verein eingetreten sind. Dies gilt auch dann, wenn kein Zusammenhang mit der Berufsausübung beim alten Verein besteht. Im Fall einer nicht erkannten Sportinvalidität besteht ein solcher Zusammenhang ebenso wie im Falle einer Bestechung oder eines Dopingvergehens. Liegt ein solcher Umstand bereits zum Zeitpunkt der Ablösevereinbarung vor, so ist der betreffende Spieler wie eine Sache mit einem Mangel behaftet. Zieht man den Rechtsgedanken des § 446 BGB heran, so trägt der übernehmende Verein die Gefahr erst ab Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses. Dass sich eine schon früher bestehende Verletzung/Erkrankung oder ein rechtliches Einsatzhindernis erst nach Aufnahme der Tätigkeit beim neuen Verein zeigt, ändert nichts daran, dass der Mangel noch beim alten Verein begründet wurde. Ohne einen Vereinswechsel hätte sich das Einsatzhindernis beim alten Verein realisiert. Dass der übernehmende Verein die Vertragsunterzeichnung von einer sportärztlichen Untersuchung abhängig macht, führt nicht zu einer anderen Risikoverteilung18. Denn die Bedeutung einer solchen Untersuchung darf nicht überschätzt werden. Der untersuchende Arzt ist im besonderen Maße von den Angaben des Spielers abhängig, der aufgrund seines nachhaltigen Interesses am neuen Vertrag einen „gesunden“ Eindruck hinterlassen will. Der Transfer eines in Wirklichkeit nicht einsetzbaren Spielers führt zu einem Vorteil des abgebenden Vereins, dem keine adäquate Gegenleistung gegenübersteht. Er erhält eine Ablösesumme für einen Spieler, der in Bezug auf den Transfermarkt in Wirklichkeit wertlos ist. Ein weiterer Vorteil für
__________ S. 79 ff.; Köhler, Unmöglichkeit und Geschäftsgrundlage, 1971, S. 155; Roth in MünchKomm.BGB, 3. Aufl. 1994, § 242 Rz. 540; Teichmann in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, § 242 Rz. 245. 18 Vgl. dazu Dörner, JuS 1977, 227 f.; Wertenbruch, NJW 1993, 179 (183).
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den abgebenden Verein besteht im Falle einer Verletzung/Erkrankung darin, dass er aufgrund des Transfers vor Aufdeckung des Einsatzhindernisses keine Leistungen nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz erbringen muss. Gegen eine Risikobelastung des abgebenden Vereins lässt sich nicht einwenden, dass es mehr oder weniger auf Zufall beruhe, ob das Einsatzhindernis bei einem herausgekauften oder einem nach Vertragsablauf „ablösefrei“ verpflichteten Spieler auftritt. Denn die Ablösesumme zahlt der übernehmende Verein nur für die vorzeitige Einsetzbarkeit eines bestimmten Spielers. Bei einem aus einem Vertrag herausgekauften Spieler trägt daher der übernehmende Verein nicht das Risiko einer längerfristigen Nichteinsetzbarkeit, soweit es um die Frage der Rückzahlung geht, ob die Ablösesumme ganz oder zum Teil zurückzuzahlen ist. Eine Vertragsanpassung nach § 313 Abs. 1 BGB durch Herabsetzung der Ablösesumme kommt nicht in Betracht, wenn der Spieler entweder dauerhaft oder für einen großen Teil der Laufzeit des neuen Vertrages nicht einsetzbar ist. In diesem Fall kann der übernehmende Verein gemäß § 313 Abs. 3 BGB vom Vertrag zurücktreten und sodann nach § 346 Abs. 1 BGB die volle Ablösesumme zurückfordern. Ist dagegen bei einem geschlossenen Dreijahresvertrag der Spieler jedenfalls nach sechs oder zwölf Monaten einsetzbar, so steht dem übernehmenden Verein nur ein Anspruch auf Vertragsanpassung aus § 313 Abs. 1 BGB zu, d. h. die Ablösesumme muss herabgesetzt werden, wobei auch das vom neuen Verein für die Dauer des Nichteinsatzes zu zahlende Gehalt zu berücksichtigen ist.
III. Schadensersatzhaftung aus culpa in contrahendo Nimmt ein Club mit einem anderen Club Verhandlungen über die Ablösung eines Lizenzspielers auf, so ist der Club, bei dem der Spieler unter Vertrag steht, zur Aufklärung über Umstände verpflichtet, die einem Einsatz gegenwärtig oder künftig entgegenstehen19. Es handelt sich zwar aus den oben dargelegten Gründen nicht um einen Kaufvertrag i. S. d. § 433 BGB, in Bezug auf die Aufklärungspflicht über Umstände, die den Vertragszweck gefährden, besteht aber kein Unterschied zwischen einem Kaufvertrag und einer Ablösevereinbarung20. Insoweit kann sich der abgebende Verein nicht auf den Standpunkt stellen, vom übernehmenden Verein seien keine konkreten Fragen gestellt worden. Eine Aufklärungspflicht des bisherigen Vereins im Hinblick auf Verletzungen besteht neben einer entsprechenden Aufklärungspflicht des Spielers vor Abschluss des Arbeitsvertrages mit dem neuen Verein. Der abgebende Verein darf allerdings ebenso wie dessen Mannschaftsarzt Informationen über Verletzungen und Erkrankungen nur mit Zustimmung des betroffenen Spielers offenbaren.
__________
19 Vgl. dazu Dörner, JuS 1977, 225 (226). 20 Vgl. zur Aufklärungspflicht beim Abschluss von Kaufverträgen Grunewald in
Erman, BGB, 11. Aufl. 2004, § 433 Rz. 24; Huber in Soergel, BGB, § 433 Anh I Rz. 67 ff.; Putzo in Palandt, BGB, § 433 Rz. 23.
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Wird die bei Vertragsverhandlungen bestehende Informationspflicht wissentlich oder fahrlässig vom abgebenden Verein verletzt, so steht dem übernehmenden Verein ein Anspruch aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) zu. Der Schaden des übernehmenden Vereins besteht nicht nur darin, dass die Ablösesumme für einen nicht einsetzbaren Spieler gezahlt wurde, sondern darüber hinaus in den an den verpflichteten Spieler zu leistenden Gehaltszahlungen. Die Zahlungen an den Spieler stellen aber nur so lange eine Schadensposition dar, wie der Vertrag nicht durch Kündigung aufgehoben werden kann und – im Falle einer Verletzung/Erkrankung – eine Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung besteht.
IV. Die Bilanzierung von „gekauften Spielern“ Ein Spieler als solcher ist in der Bilanz des aufnehmenden Clubs nicht bilanzierungsfähig. Dies ist unbestritten. Die Frage der Bilanzierung bezieht sich darauf, ob eine gezahlte Ablösesumme als Gegenleistung für die vom betreffenden Sportverband – für den Bereich des Profifußballs also von der Deutschen Fußballliga (DFL) – zu erteilende Spielerlaubnis anzusehen ist und diese einen Vermögensgegenstand i. S. d. § 255 Abs. 1 HGB darstellt. Dass eine Bilanzierung der Ablösesummen aus Sicht der Vereine nicht unbedingt einen Vorteil darstellt, zeigt die Grundsatzentscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) aus dem Jahre 199221. Der gegen die Finanzverwaltung Nordrhein-Westfalen klagende Bundesligaverein Borussia Mönchengladbach wollte die gezahlten Ablösesummen nicht als Wirtschaftsgut aktivieren und über mehrere Jahre Absetzungen für Abnutzung (AfA) geltend machen, sondern als sofort abzugsfähige Betriebsausgaben berücksichtigt wissen. Ein Aktivierungsgebot bezüglich der gezahlten Ablösesummen verbessert zwar einerseits die Vermögensbilanz der Clubs, andererseits können diese die Ablösesummen nicht in vollem Umfang im Jahr der Zahlung als Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) berücksichtigen. Im Falle einer Bilanzierbarkeit ergäbe sich in der Regel eine lineare Abschreibung nach Maßgabe der Vertragsdauer. Wenn also eine Ablösesumme in Höhe von 2 Mio. Euro für einen Spieler gezahlt wird, der für vier Jahre unter Vertrag genommen wird, so könnten pro Jahr 500000 Euro als AfA geltend gemacht werden. Mit der sofortigen Abzugsfähigkeit von Ablösesummen in Millionenhöhe im Jahr des Spielererwerbs konnte sich der BFH offensichtlich nicht anfreunden. Bei Anerkennung einer sofortigen Abzugsfähigkeit ließe sich die Zahlung von Körperschaftsteuer relativ einfach dadurch vermeiden, dass noch rechtzeitig vor Ende des Wirtschaftsjahres in Höhe des zu erwartenden Gewinns eine Ablösesumme für einen neuen Spieler gezahlt wird.
__________ 21 BFH, BStBl. II 1992 S. 977 = NJW 1993, 222; kritisch dazu Jansen, DStR 1992, 1785 ff.;
zustimmend Hüttemann, DStR 1994, 490 ff.
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Der BFH ordnete die Ablösesummen zu Recht als Gegenleistung für den Erwerb einer Spielerlaubnis (Lizenz) ein, die als ähnliches Recht i. S. d. § 266 Abs. 2 A I. Nr. 1 HGB anzusehen ist. Im Ergebnis wird zwar dadurch der Spieler wie eine gekaufte Sache behandelt, dies ändert aber nichts daran, dass die Konstruktion des BFH auch für die Zeit nach Bosman überzeugt. Das Urteil des BFH bezieht sich ausdrücklich nicht nur auf die Transferentschädigungen, die nach Vertragsablauf aufgrund der inzwischen nicht mehr existierenden Transferentschädigungssysteme gezahlt wurden, sondern auch auf die zum Zwecke des „Herauskaufens“ aus einem Vertrag aufgewendeten Beträge22. Da sich andererseits das Bosman-Urteil23 nur auf die nachvertraglichen Transferentschädigungen bezieht und die Ablösesummen für noch gebundene Spieler ausdrücklich von den Urteilswirkungen ausgenommen wurden, wird das BFH-Urteil insoweit durch das Bosman-Urteil überhaupt nicht berührt. Soweit die Rechtsprechung des BFH in der Literatur24 kritisiert wird, kann man sich jedenfalls nicht auf das Bosman-Urteil berufen. Da durch dieses Urteil die nachvertraglichen Transferentschädigungen entfallen sind, stellt sich insoweit auch die Frage der Bilanzierbarkeit nicht mehr. Für die sonstigen Ablösesummen lässt sich nicht leugnen, dass der übernehmende Verein einen Betrag aufwendet, um einen vertraglich an einen anderen Verein gebundenen Spieler einsetzen zu können25. Ein vertraglich an einen Verein gebundener Spieler erhält erst dann für einen anderen Verein eine Spielerlaubnis (Lizenz), wenn der alte Verein einer Aufhebung des Arbeitsvertrages und dem Verzicht auf die ihm zustehende Spielerlaubnis zustimmt. Erst nach Anzeige dieses Verzichts gegenüber dem zuständigen Verband erhält der neue Verein eine Spielerlaubnis für den übernommenen Spieler. Dass die Spielerlaubnis nicht direkt vom alten Verein erworben, sondern vom zuständigen Verband erteilt wird, ist für die Frage der Einordnung der Lizenz als immaterieller Vermögensgegenstand (Wirtschaftsgut) ohne Bedeutung26. Denn die Erteilung der Lizenz durch den Verband hängt im Falle der Verpflichtung eines noch an einen anderen Verein gebundenen Spielers allein von der Zahlung der Ablösesumme ab, so dass insoweit ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Auch die Bewertbarkeit der Spielerlaubnis als immaterieller Vermögensgegenstand ist relativ unproblematisch, weil einerseits für die Spieler ein Transfermarkt besteht und andererseits gerade die vereinbarte Ablösesumme den Wert der Spielerlaubnis abbildet. Auch insoweit ist es unschädlich, dass die betroffenen Verkehrskreise mit der vereinbarten Ablösesumme den Spieler als solchen bewerten.
__________ BFH, NJW 1993, 222 (223); vgl. dazu Wertenbruch, EuZW 1996, 91 (92). Vgl. Fn. 4. Jansen, DStR 1992, 1785 ff.; Littkemann/Schaarschmidt, StuB 2002, 372 ff. Vgl. dazu BFH, NJW 1993, 222 (223); Reiter, SpuRt 2004, 55 (59); Söffing, BB 1996, 523 (524). 26 BFH, NJW 1993, 222 (224). 22 23 24 25
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Die vom neuen Verein gegen Zahlung der Ablösesumme erworbene Spielerlaubnis stellt als immaterieller Vermögensgegenstand ein abnutzbares Wirtschaftsgut dar27. Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer i. S. d. § 7 Abs. 1 Satz 2 EStG bemisst sich nach der Dauer des Arbeitsvertrages. Bei einer Vertragsdauer von vier Jahren beträgt also die Abschreibungsdauer ebenfalls vier Jahre. Denn mit Ablauf des Arbeitsvertrages erlischt die gegen Entgelt erworbene Spielerlaubnis. Die Neuerteilung einer Spielerlaubnis nach Vertragsbeendigung und Ablauf der Abschreibungsdauer hängt vom Abschluss eines neuen Lizenzspielervertrages ab, den der betreffende Spieler ohne Behinderung durch die nachvertraglichen Transferentschädigungsverpflichtungen alter Prägung mit jedem interessierten Verein abschließen kann. Das Bosman-Urteil und die nachfolgenden Urteile des BGH und des BAG haben zwar die verbandsrechlichten nachvertraglichen Transferentschädigungssysteme und damit eine Fallkonstellation des BFH-Urteils von 1992 eliminiert. Eine Ablösesumme, die für aus laufenden Verträgen „herausgekaufte“ Spieler gezahlt wird, ist aber nach wie vor auf der Grundlage dieses BFH-Urteils in der Bilanz als Gegenleistung für einen immateriellen Vermögensgegenstand zu aktivieren.
V. Zusammenfassung Beim „Herauskaufen“ eines Lizenzspielers aus einem laufenden Arbeitsvertrag kommt kein Kaufvertrag i. S. d. § 433 BGB, sondern eine schuldrechtliche Vereinbarung sui generis zustande. Im Falle der Nichteinsetzbarkeit des Spielers wegen einer Verletzung/Erkrankung oder aus sonstigen Gründen (z. B. „Wettbetrug“) fehlt die Geschäftsgrundlage i. S. d. § 313 BGB, sofern es sich nicht nur um kurzzeitige Hindernisse handelt und der Hinderungsgrund schon zum Zeitpunkt des „Gefahrübergangs“ vorlag. Die vom übernehmenden Verein für das Herauskaufen aus einem Vertrag aufgewendete Ablösesumme stellt in bilanzrechtlicher Hinsicht die Gegenleistung für die neue Spielerlaubnis (Lizenz) dar. Diese Lizenz ist als ähnliches Recht i. S. d. § 266 Abs. 2 A I. Nr. 1 HGB einzuordnen. Aufgrund des Aktivierungsgebots sind die Ablösesummen keine sofort abzugsfähigen Betriebsausgaben. Stattdessen müssen für die Lizenz als abnutzbares Wirtschaftsgut Abschreibungen geltend gemacht werden.
__________ 27 BFH, NJW 1993, 222 (224).
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