Festschrift für Johannes Köndgen 9783814554877, 3814554876, 9783814557762, 381455776X


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German Pages 712 [724] Year 2016

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Festschrift für Johannes Köndgen
 9783814554877, 3814554876, 9783814557762, 381455776X

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Festschrift für Johannes Köndgen zum 70. Geburtstag

Festschrift für Johannes Köndgen zum 70. Geburtstag 2016

herausgegeben von Matthias Casper, Lars Klöhn, Wulf-Henning Roth und Christian Schmies

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH ˜ Köln

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Geleitwort Am 1. Mai 2016 vollendet Johannes Köndgen sein siebzigstes Lebensjahr. Freunde, Wegbegleiter, Kollegen und Schüler haben sich zusammengefunden, um mit der vorliegenden Festschrift den Jubilar zu ehren, dessen weit gespanntes wissenschaftliches Oeuvre sich in der thematischen Vielfalt der Beiträge widerspiegelt. Johannes Köndgen wurde in Freudenstadt geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er im Württembergischen. Nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium in Ravensburg studierte er Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin und an der Universität Tübingen, absolvierte 1969 das Erste Juristische Staatsexamen und, nach einer dreijährigen Referendarzeit in Stuttgart, 1973 das Zweite Juristische Staatsexamen, beide in glanzvoller Weise. Prägend für seinen Werdegang war die Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent bei Josef Esser an der Universität Tübingen, den er als „Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie“ bewunderte und der seine Dissertation über „Haftpflichtfunktionen und Immaterialschaden. Am Beispiel von Schmerzensgeld bei Gefährdungshaftung“ (1975) betreute. Mit der auch heute noch grundlegenden Schrift über „Selbstbindung ohne Vertrag“ habilitierte er sich 1980 an der Universität Tübingen. In beiden Arbeiten dokumentierte er seine ausgeprägte Fähigkeit, ausgetretene Pfade der juristischen Argumentation zu verlassen und unter Einbeziehung ökonomischer und soziologischer Aspekte und Perspektiven zu neuen Einsichten zu kommen. Noch im Jahr seiner Habilitation wurde Johannes Köndgen auf einen Lehrstuhl für Zivilrecht und Zivilprozessrecht an der Universität Hannover berufen, die damals noch der einstufigen Juristenausbildung nachging. Von 1983 bis 1990 war er als Professor für Privatrecht und Rechtssoziologie an der Universität Hamburg am traditionell orientierten Fachbereich I tätig, ab 1984 auch als Richter im Nebenamt am Hanseatischen Oberlandesgericht. 1990 zog es ihn in die Schweiz auf einen Lehrstuhl an der Hochschule St. Gallen. Den Ruf auf einen law & economics-Lehrstuhl an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg schlug er aus. Seit 1995 wirkte er als Direktor des Instituts für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Bonn. Auch

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Geleitwort

nach seiner Pensionierung im Jahre 2013 ist er in der Lehre aktiv geblieben. Die internationale Ausrichtung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit spiegelt sich – über seine Jahre in der Schweiz hinaus – in Forschungsaufenthalten an der University of California in Berkeley sowie Gastprofessuren an der University of Florida, der Universität Oxford, dem University College London und der Universität Straßburg. Das wissenschaftliche Werk Johannes Köndgens ist thematisch breit gestreut: Grundlegende Studien sind dem Haftpflichtrecht – dem Recht der Gefährdungshaftung und dem Umweltdeliktsrecht –, und dem allgemeinen Vertragsrecht und für beide Bereiche auch dem Recht der Sanktionen gewidmet. Die Diskussion um die „dritte Spur“ zwischen Vertrag und Delikt verdankt ihm ganz wesentliche Einsichten und Anregungen. Zu einem Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist in den letzten zwanzig Jahren das Bankvertragsrecht, das Recht des Zahlungsverkehrs, das Kapitalmarktrecht, das (Bank-)Insolvenzrecht und vor allem das Investmentrecht geworden, dessen Entwicklung er auch durch mehrere Kommentierungen kritisch begleitet hat. Als Gründer und geschäftsführender Mitherausgeber der interdisziplinären Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft (ZBB) hat er auf diesen Gebieten wichtige Impulse gegeben und die wissenschaftliche Diskussion mitverantwortet. Zugleich hat der Jubilar aber auch weiterhin grundlegende Beiträge zu allgemeinen Entwicklungen im Recht verfasst. Stichworte sind hier: Privatisierung des Rechts und transnationale Standardsetzung. Will man das Werk des Jubilars charakterisieren, so ist es nicht nur durch einen sicheren methodischen Zugriff und eine sich diesen Zugriffs versichernde Reflektion gekennzeichnet. Vielmehr wird in vielen seiner Arbeiten die Neugier erkennbar, die Bedeutung und die Grenzen der ökonomischen Theorie und Empirie für die juristische Dogmatik und die rechtspolitische Diskussion zu erkunden. Johannes Köndgen gehört zu den Wenigen, die von Anfang an law & economics nicht nur für die Rechtswissenschaft fruchtbar gemacht, sondern auch mit sicherer Hand – verbunden mit soziologischen und rechtsvergleichenden Perspektiven – an konkreten Problemlagen erprobt haben.

Geleitwort

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Der Jubilar lebt für die Wissenschaft. Daher darf man sich nicht wundern, wenn sein Ehrgeiz nicht darin bestanden hat, möglichst viele Ämter und Positionen innerhalb oder außerhalb der Universität zu akkumulieren. Natürlich hat er aber die ihm angetragenen Ämter pflichtbewusst wahrgenommen: So war er Dekan an der Hamburger und an der Bonner Fakultät. In Bonn war er auch Studiendekan sowie für eine Reihe von Jahren Geschäftsführender Direktor des Bonner Juristischen Seminars. Freilich wird man ihm nicht zu nahetreten, wenn man vermutet, dass sein Enthusiasmus für die Aus- und Umarbeitung von Prüfungsordnungen (die er mit Erfolg betrieben hat) durchaus begrenzt gewesen ist. Bei Fakultätssitzungen, an denen er ganz regelmäßig teilnahm, hat er bisweilen den Eindruck hinterlassen, dass (was natürlich zutreffend ist) diese ihn von wissenschaftlicher Tätigkeit (oder aber vom Violinspiel) abhielten, was sich bisweilen in knappen, nicht immer ganz charmanten Wortmeldungen widerspiegelte. Sein Ehrgeiz galt neben der Lehre zuvörderst der Wissenschaft, der er bevorzugt auch in seinem Haus in der Provence nachgegangen ist. Daneben darf die Arbeit für die ZBB als sein besonders geliebtes Kind betrachtet werden. Seine Kommentare zu den eingesandten Beiträgen waren – wie auch seine Wortmeldungen auf Tagungen – oft von einer gewissen Direktheit und Schärfe geprägt. Wer ihn kennt, weiß aber, dass es ihm stets allein um die Sache ging. Seine Kritik traf zudem stets ins Schwarze. Viele Beiträge in der ZBB haben durch seine Durchsicht ungemein gewonnen, auch wenn der Autor seinen Beitrag danach nicht selten gründlich zu überarbeiten hatte. Dabei wurde Johannes Köndgen durch das Lektorat im RWS-Verlag unterstützt, dem auch an dieser Stelle zu danken ist, namentlich der langjährigen Lektorin der ZBB Ulrike Jung sowie der aktuellen ZBB-Redakteurin Isabell Meyer-Unser und Iris ThevesTelyakar für die umsichtige Begleitung dieser Festschrift. In der Bonner Fakultät gehört der Jubilar zu den Kollegen, die neben ihrem exzellenten wissenschaftlichen Ruf zugleich Anerkennung als hervorragende Musiker gefunden haben. Nicht wenige (denen man ein fachkundiges Urteil zutraut) behaupten, dass er allerdings doch den meisten um einiges voraus sei. Als Fan der französischen (Lebens-)Kultur überrascht es wenig, dass er nicht nur ein großer Weinkenner ist, sondern vor allem auch seine Kochkunst in einem Ausmaß perfektioniert hat, dass eine Essenseinladung in seinem Hause dem Besuch manch gutem Restaurant vorzuziehen ist.

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Geleitwort

Vor diesem Hintergrund wünschen die Herausgeber dem Jubilar im Namen aller Autoren noch viele Jahre voller Schaffenskraft, aber auch Zeit und Muße für die Violine, das gute Kochen und schöne Stunden am Rhein und in der Provence. Münster, Berlin, Bonn, Frankfurt im Februar 2016 Prof. Dr. Matthias Casper Prof. Dr. Lars Klöhn Prof. Dr. Wulf-Henning Roth Dr. Christian Schmies

Inhaltsverzeichnis Geleitwort ..................................................................................................... V THOMAS ACKERMANN Public und private enforcement im Wirtschaftsrecht: Eine fragwürdige Dichotomie ................................................................ 1 GREGOR BACHMANN Schadensersatz beim Bruch einer Haltevereinbarung (lock-up-agreement) – Möglichkeiten und Grenzen kapitalmarktrechtlicher Selbstbindung – ..................................................................................... 17 THEODOR BAUMS Kündigung von Unternehmensanleihen .............................................. 43 JENS-HINRICH BINDER „Alternativen: Keine“? Gesetzesfolgenabschätzung in der Finanzmarktregulierung ....................................................................... 65 GEORG BITTER Pfändungsschutzkonto – Aktuelle Entwicklungen ............................ 83 MATTHIAS CASPER Delisting – das Ende einer unendlichen Geschichte? ....................... 117 JEAN NICOLAS DRUEY Sorgfaltspflicht als Selbstbindung ...................................................... 149 ANDREAS ENGERT Sollten Fondsverwalter für fehlerhafte Anlageentscheidungen haften? ............................................................................ 167 GUIDO FERRARINI Investment-based Crowdfunding: Policy Issues and Regulatory Responses ......................................................................... 183

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Inhaltsverzeichnis

HOLGER FLEISCHER Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschaftsund GmbH-Geschäftsanteile – Eine rechtsvergleichende Skizze – .................................................. 201 STEFAN GRUNDMANN Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum – Wie viel Einheit? Welcher Methodendiskurs? – ............................ 221 BRIGITTE HAAR Gestaltung von Finanzmärkten durch Vertrag – Eine Skizze anhand von Asset-Backed Securities und Collective Action Clauses – ............................................................... 251 SUSANNE KALSS Das Gegenangebot im österreichischen Übernahmerecht .............. 265 CHRISTOPH KASERER Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung – Rechtlicher Rahmen und wirtschaftliche Folgen – .......................... 287 LARS KLÖHN „Überholende Kausalverläufe“ und Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität ............................................................................... 311 JENS KOCH Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG ............................. 329 MICHAEL KÖHLER Vertragsfreiheit und Tauschgerechtigkeit im System der Gerechtigkeitsformen – Besonders erörtert am Tatbestand der Laesio enormis – ............... 353 KATJA LANGENBUCHER Sein und Schein im Überweisungsrecht – Zur Geltung von Rechtsscheingrundsätzen bei der Autorisierung des Überweisungsauftrags sowie im Bereicherungsausgleich – ....... 383 NIAMH MOLONEY Conduct Rules and Investor Protection: the Evolution of the EU’s Approach ........................................................................ 397

Inhaltsverzeichnis

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PETER O. MÜLBERT Barsicherheiten im Negativzinsumfeld .............................................. 413 PETER NOBEL Schweizerische Finanzmarktgesetzgebung im internationalen und europäischen Kontext: Neue Architektur ................................. 437 WULF-HENNING ROTH Das Haftungsregime für Ratingagenturen zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht ........................................................... 453 HANS-BERND SCHÄFER Eurobonds aus rechtsökonomischer Perspektive ............................. 479 ERICH SCHANZE Risikoteilungen bei Vertragsschluss .................................................. 501 GOTTFRIED SCHIEMANN Ein belletristisches Beispiel für testamentarische Bedingungen ...... 519 CHRISTIAN SCHMIES Die Leistung von Initial Margin bei Derivatgeschäften – nicht „insolvenzfest“? ................................................................................... 533 UWE H. SCHNEIDER Die neue Konzeption der Regeln zur Offenlegung der Stimmrechte bei börsennotierten Aktiengesellschaften ................... 549 URS SCHWEIZER Effiziente Pflichtverletzungen ........................................................... 563 PAUL VAN SETERS Can the European Banking Union Bridge the Gap between Capitalism and Democracy? ............................................................... 579 ROLF SETHE Einige kritische Anmerkungen zum geplanten Schweizer Finanzdienstleistungsgesetz ............................................................... 599 GERALD SPINDLER Produkthaftung für Finanzmarktprodukte? – Parallelen und Unterschiede – ......................................................... 615

XII

Inhaltsverzeichnis

ERIK THEISSEN, zusammen mit CHRISTIAN ANDRES, MARKUS DOUMET, ERIK FERNAU Die Auswirkungen der Zulassung von Aktienrückkäufen auf die Dividendenausschüttungen deutscher Aktiengesellschaften .......... 637 GERHARD WAGNER Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement .................................................... 649 DIRK ZETZSCHE Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investment-Drei- und -Viereck .................................................... 677 Autorenverzeichnis ................................................................................... 701 Schriftenverzeichnis .................................................................................. 705

Public und private enforcement im Wirtschaftsrecht: Eine fragwürdige Dichotomie THOMAS ACKERMANN Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Der Ausgangspunkt: Funktionale statt institutioneller Differenzierung III. Fließende Übergänge zwischen privatund öffentlich-rechtlicher Normdurchsetzung 1. Die Initiierung der Normdurchsetzung 2. Instrumente der Normdurchsetzung

3. Die (Letzt-)Entscheidung über die Normdurchsetzung IV. Optimale Normdurchsetzung: Bewertungskriterien 1. Effizienz der Normdurchsetzung 2. Alternative Maßstäbe V. Normdurchsetzung im Kartell- und im Kapitalmarktrecht: Tentative Schlussfolgerungen

I. Einführung Johannes Köndgen ist kein Freund konventioneller Unterscheidungen. Seine Habilitationsschrift unterläuft bereits mit ihrem Titel „Selbstbindung ohne Vertrag“ die traditionelle Gegenüberstellung autonomer Bindung durch Vertrag und heteronomer Bindung durch Gesetz.1) Sein Vortrag auf der Zivilrechtslehrertagung 2005 wendet sich gegen die strikte Trennung zwischen Rechtsnormen und gesellschaftlichen Normen, wie sie dem herrschenden positivistischen, vom Staat ausgehenden Rechtsbegriff entspricht.2) Neben der Freude am Rennradfahren ist es dieser auch und gerade vor Grundsätzlichem nicht haltmachende Widerspruchsgeist, in dem ich mich seit gemeinsamen Bonner Tagen mit dem Jubilar verbunden fühle und aus dem dieser Beitrag entstanden ist. Eine Unterscheidung, die hier gegen den Strich gebürstet werden soll, ist die Dichotomie von public und private enforcement im Wirtschaftsrecht, auf Deutsch (in annähernder, wenn auch nicht perfekter Übersetzung): von öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Durchsetzung wirtschaftsrecht-

1) 2)

Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981. Köndgen, Privatisierung des Rechts, AcP 206 (2006), 477.

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licher Normen.3) Mit der Einsicht, dass Ge- und Verbote oft einer Durchsetzung durch privat- und/oder öffentlich-rechtliche Mechanismen zugänglich sind, deren Auswahl kein triviales Problem ist, hat auch der rechtspolitische Leistungsvergleich zwischen privat- und öffentlich-rechtlicher Normdurchsetzung an Interesse gewonnen. Hybride Formen der Normdurchsetzung lassen jedoch die Grenzen zwischen Privat- und öffentlichem Recht verschwimmen. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die Unterscheidung zwischen public und private enforcement für die Diskussion über optimale Normdurchsetzung überhaupt ausreichend ist. Man könnte selbstverständlich an feinere Differenzierungen denken, um den im Grenzland zwischen Privat- und öffentlichem Recht angesiedelten Mechanismen der Normdurchsetzung besser gerecht zu werden. Mit diesem Beitrag möchte ich jedoch einen anderen Weg beschreiten und eine funktionale Differenzierung vorschlagen, die quer zur angestammten Unterscheidung zwischen privat- und öffentlich-rechtlicher Normdurchsetzung liegt, aber meines Erachtens besser als die konventionelle Sicht geeignet ist, die Diskussion um die Optimierung von Durchsetzungsmechanismen sinnvoll zu strukturieren. Illustriert wird diese hier nur in ihren allgemeinen Grundzügen zu skizzierende Differenzierung anhand des Kartell- und des Kapitalmarktrechts. Beiden Rechtsgebieten ist ein Nebeneinander privat- und öffentlich-rechtlicher Instrumente gemeinsam, deren angemessene Mischung und Abstimmung bereits seit längerem und jüngst wieder verstärkt diskutiert wird.4)

3)

4)

Nicht Gegenstand dieses Beitrags ist die Durchsetzung privaten (im Sinne: nicht-staatlichen) Rechts, wie von Köndgen, AcP 206 (2006), 477, thematisiert. Vielmehr geht es um die Gegenüberstellung unterschiedlicher Mechanismen zur Durchsetzung staatlichen Wirtschaftsrechts. Vgl. etwa zum enforcement im Kartellrecht die Beiträge in Hüschelrath/Schweitzer (Hrsg.), Public and Private Enforcement of Competition Law in Europe, 2014; zum enforcement im Kapitalmarktrecht R. La Porta/F. Lopez-de-Silanes/A. Shleifer, What works in securities laws?, 61 J.Fin. (2006), 1; H. E. Jackson/M. J. Roe, Public and Private Enforcement of Securities Laws: Resource-Based Evidence, 93 J.Fin.Econ. 207 (2009), sowie aus dem aktuellen deutschsprachigen Schrifttum Bohrer, Kapitalmarktrecht zwischen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Normdurchsetzung, Ansätze für ein Finanzmarkt-Enforcement 3.0, in: Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Enforcement im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht 2015, 2015, S. 243; Veil/Brüggemeier, Kapitalmarktrecht zwischen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Normdurchsetzung, in: Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Enforcement im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht 2015, 2015, S. 277.

Public und private enforcement im Wirtschaftsrecht: Eine fragwürdige Dichotomie

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II. Der Ausgangspunkt: Funktionale statt institutioneller Differenzierung Den Hintergrund jeder Diskussion um optimale Normdurchsetzung bilden die Archetypen privat- und öffentlich-rechtlicher Instrumente: der von einer Privatperson geltend gemachte Anspruch und die von einer staatlichen Behörde mittels Verwaltungsakts ausgesprochene, ggf. sanktionsbewehrte Anordnung. Gerade die in der Frühzeit der ökonomischen Analyse des Rechts von Becker und Stigler5) sowie Landes und Posner6) mit divergierenden Ergebnissen angestellten Effizienzvergleiche zwischen private und public enforcement beruhen auf der Gegenüberstellung dieser auch in der Welt des common law vergleichbar tradierten, wenn auch unterschiedlich akzentuierten Vorstellungen. Wie bereits eingangs angedeutet, hat es jedoch in einer variabel gewordenen Gesetzgebungslandschaft wenig Sinn, nur die traditionell vorgeprägten institutionellen Arrangements der Normdurchsetzung zum Vergleich heranzuziehen. Vielmehr bietet es sich an, statt zwei (oder, im Falle weiterer Differenzierungen: mehrerer) Gesamtkonzeptionen der Normdurchsetzung einzelne (ggf. unterschiedlich kombinierbare) Elemente von Durchsetzungsmechanismen zu identifizieren, die i. R. der Normdurchsetzung eine bestimmte Funktion wahrnehmen und auf ihre Tauglichkeit zur Erfüllung dieser Funktion geprüft und verglichen werden können. In dieser Betrachtung der Normdurchsetzung setzt sich eine Sicht auf das materielle Wirtschaftsrecht fort, die sich in Deutschland seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts etabliert und wissenschaftlich durchgesetzt hat:7) Mit der staatlichen Normsetzung intendiert und vom Rechtsanwender in der Normauslegung nachzuvollziehen ist die Steuerung des Verhaltens der Wirtschaftsteilnehmer. Über die Durchsetzung der für die Verhaltenssteuerung als sinnvoll erachteten Ge- und Verbote entscheidet nicht deren (vermeintliche) „Natur“ als privat- oder öffentlich-rechtlich, sondern die Abwägung der Vor- und Nachteile verschiedener Durchsetzungsoptionen. Unabhängig von privat- und öffentlich-rechtlichen Zuordnungen sind die rechtspolitisch relevanten Grundfragen stets, wer für die Durchsetzung zuständig sein sollte und welche Instrumente sich hier-

5) 6) 7)

G. J. Becker/G. S. Stigler, Law Enforcement, Malfeasance, and Compensation of Enforcers, 3 J. Legal Stud. 1 (1974). W. M. Landes/R. A. Posner, The Private Enforcement of Law, 4 J. Legal Stud. 1 (1975). Grundlegend Steindorff, Politik des Gesetzes als Auslegungsmaßstab im Wirtschaftsrecht, in: FS für Larenz, 1973, S. 217.

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für anbieten. Dabei weist die Frage nach dem „Wer“ zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Dimensionen auf: Die Akteure, die die Normdurchsetzung initiieren dürfen, sind nicht notwendig mit denjenigen identisch, die zur Entscheidung über das Ob und Wie der Normdurchsetzung befugt sind. Das versteht sich bei der Verwirklichung privatrechtlicher Ansprüche durch Klage vor einem ordentlichen Gericht von selbst, gilt aber etwa auch für die Rechtsdurchsetzung mit strafrechtlichen Mitteln, bei denen die (anklage-)behördliche Initiierung und die Entscheidung durch ein Gericht klar auseinanderfallen. Aus funktionaler Perspektive kommt es daher im Wesentlichen auf drei Aspekte der Normdurchsetzung an: die Initiative, die Instrumente und die (Letzt-)Entscheidung. Bei allen drei Aspekten sind privat- und öffentlich-rechtliche Sphären weniger klar zu trennen, als es bei erstem Hinsehen den Anschein haben mag (dazu III). Die Bewertung rechtlicher Arrangements, mit denen staatlichen oder privaten Akteuren die Initiierung von und Entscheidung über Durchsetzungsmaßnahmen mit Hilfe hierfür zur Verfügung gestellter Instrumente zugewiesen wird, folgt Zweckmäßigkeitserwägungen, die einer Rationalisierung nach ökonomischen Effizienzgesichtspunkten zugänglich, wenn auch durch diese womöglich nicht abschließend zu bestimmen sind (dazu IV). Hieraus lassen sich einige tentative Schlussfolgerungen für das Mit- und Nebeneinander von public und private enforcement in den Referenzgebieten des Kartell- und des Kapitalmarktrechts ziehen (dazu V). III. Fließende Übergänge zwischen privat- und öffentlich-rechtlicher Normdurchsetzung 1. Die Initiierung der Normdurchsetzung Als Initiatoren privat- und öffentlich-rechtlicher Normdurchsetzung stehen sich oberflächlich betrachtet der über sein hoheitliches Eingreifen entscheidende „Staat“ und über die Geltendmachung ihrer Rechte disponierende „Private“ gegenüber. Indes liegt bereits in dieser Bezeichnung der Akteure die Gefahr einer Vergröberung, die die Bewertung der Anreize zur Initiierung der Normdurchsetzung zu verzerren droht. So spielt es auf der einen Seite bei staatlicher Durchsetzung eine Rolle, ob die Durchsetzungsinitiative einer weisungsabhängigen oder einer unabhängigen Behörde anvertraut ist: Gesichtspunkte politischer Opportuni-

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tät werden bei letzterer naturgemäß weniger zu Buche schlagen als bei ersterer;8) umgekehrt mag es sich beim Risiko des regulatory capture verhalten.9) Relevant ist auch, ob und inwieweit die Behörde mit einem Aufgreifermessen ausgestattet ist: Das manifeste Problem mangelnder Anreize beamteter Entscheidungsträger, im Einzelfall gegen Normverletzungen vorzugehen oder diesen vorzubeugen,10) erledigt sich, soweit Private auf dem Rechtsweg eine behördliche Intervention erzwingen können – allerdings nur um den Preis eines möglichen over-enforcement, wie es auch bei der privaten Rechtsdurchsetzung zu besorgen ist. Auf der anderen Seite griffe es zu kurz, die Initiative zur klassischen individuellen Normdurchsetzung mit den Mitteln des Privatrechts als isolierte Entscheidung des mit der Aktivlegitimation ausgestatteten Individuums zu analysieren. Ob und in welcher Weise Rechte geltend gemacht werden, hängt auch und vor allem vom Einfluss von Rechtsbeiständen und anderen Intermediären wie Verbraucherberatungsstellen ab.11) Deren Rolle und Anreize können wiederum je nach Ausgestaltung eines Rechtssystems variieren. Zumindest möglich ist es, dass eine steuernde Begleitung privater Anspruchsinhaber durch Intermediäre überindividuelle Interessen (etwa an einer für den Einzelnen ökonomisch uninteressanten, aber gesamtwirtschaftlich relevanten Normdurchsetzung bei Streuschäden) zur Geltung bringt und dadurch eine gewisse Annäherung individuellen Klägerverhaltens an die Handhabung des Aufgreifermessens durch öffentlicher Stellen stattfindet. 8)

9)

10)

11)

Vgl. zur Legitimation der Unabhängigkeit von Behörden etwa F. Gilardi, Delegation to Independent Regulatory Agencies in Western Europe, in: Braun/Gilardi (Hrsg.), Delegation in Contemporary Democracies, 2006, S. 125 ff.; G. Majone, The Regulatory State and its Legitimacy Problems, West European Politicy 22 (1999), S. 1 ff. Vgl. zum Problem des regulatory capture etwa J. Laffont/J. Tirole, The Politics of Government Decision-Making: A Theory of Regulatory Capture, Quarterly Journal of Economis 106 (1991), S. 1089 ff.; M. E. Levine/J. L. Forrence, Regulatory Capture, Public Interest and the Public Agenda: Toward A Synthesis, Journal of Law, Economics, & Organization 6 (1990), Special Issue, S. 167 ff. Dazu plastisch Klöhn, Die privatrechtliche Durchsetzung des Marktmanipulationsverbots, Europarechtliche Vorgaben und rechtsökonomische Erkenntnisse, in: Kalss/Fleischer/ Vogt (Hrsg.), Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2013, S. 229, 240 („Freizeitpräferenz“). Vgl. die Diskussion um Governance-Probleme bei der class action; etwa J. C. Coffee, The Regulation of Entrepreneurial Litigation: Balancing Fairness and Efficiency in the Large Class Action, 54 U.Chi.L.Rev. 877 (1987); J. C. Coffee, Litigation Governance: Taking Accountability Seriously, European Corporate Governance Institute Law Working Paper No. 145/2010; Issacharoff, Class Action Conflicts, 30 U.C. Davis L.Rev. 805 (1997).

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Vor allem aber sind die Grenzen zur öffentlich-rechtlichen Normdurchsetzung im Bereich privatrechtlicher kollektiver Durchsetzungsmechanismen verwischt, insbesondere wenn diese mit einer Klagebefugnis für Verbände implementiert werden, die womöglich staatlich alimentiert und hinsichtlich ihrer Zusammensetzung staatlich kontrolliert sind.12) Das gilt auch in umgekehrter Richtung: Staatliche Entscheidungen über die Initiierung der Normdurchsetzung geraten in die Nähe privater Entscheidungen, wo sie in die Hände von Institutionen der Selbstverwaltung (wie etwa Kammern) gelegt werden, auf deren Handeln Private unmittelbaren Einfluss ausüben.13) 2. Instrumente der Normdurchsetzung Die Effektivität der Normdurchsetzung hängt nicht nur von der Konfiguration der Akteure ab, die mit der Durchsetzungsinitiative betraut sind, sondern auch von den Instrumenten, die die Rechtsordnung ihnen hierfür zur Verfügung stellt. Eine in den Kategorien des öffentlichen und des Privatrechts befangene Begrifflichkeit („Verwaltungsakt“,„Anspruch“) bleibt insoweit an äußeren Formen haften und trifft weder den Inhalt noch die Wirkungsweise der eingesetzten Instrumente. Für den normunterworfenen Akteur ist es bspw. einerlei (und ebenso wenig spielt es für eine Beurteilung nach übergeordneten Kriterien eine Rolle), ob die ihm aufgegebene Unterlassung normwidrigen Verhaltens Gegenstand einer behördlichen Verfügung oder eines Zivilurteils ist, solange nur die Vollstreckung in beiden Fällen vergleichbar ist. Stellt man vor diesem Hintergrund auf mögliche inhaltliche Gestaltungen der Durchsetzungsinstrumente ab, wird deutlich, dass sich privat- und öffentlich-rechtliche Mechanismen überschneiden und bis zu einem gewissen Grad austauschbar sind. Das gilt zunächst für verhaltensbezogene Abhilfemaßnahmen, deren typische Fälle Anordnungen zur Unterlassung normwidrigen oder zur Vornahme normgerechten Handelns sind. Solche remedies sind rechtsgebietsübergreifend anzutreffen und nicht schon ihrer Natur nach nur in einem privat- oder öffentlich-rechtlichen Kontext um-

12) 13)

Dazu kritisch European Law Institute, Statement on Collective Redress and Competition Damages Claims, 2014, S. 25. Nicht zuletzt deshalb unterliegen Kammern als Unternehmensvereinigungen dem Kartellrecht; vgl. etwa EuGH, Urt. v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 (Wouters), ECLI:EU:C:2002:98.

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zusetzen.14) Es kommt vielmehr darauf an, welche Akteure und Verfahren am besten geeignet sind, dieses Instrument mit größtmöglicher Wirkung bei geringstmöglichen Kosten einzusetzen. Entsprechendes gilt für finanzielle Sanktionen, mit denen die Rechtsordnung auf Normbrüche reagiert, um präventiv auf künftige Normbefolgung hinzuwirken. Zwar sind Geldbußen mit präventiver Ausrichtung im herkömmlichen deutschen Wirtschaftsrecht ordungswidrigkeitenrechtlich ausgestaltet und damit Teil des Verwaltungsstrafrechts, in dem die behördliche Verhängung im Falle eines Einspruchs mit einer Anknüpfung an strafprozessuale Regeln kombiniert wird.15) Längst nicht mehr zu leugnen ist aber auch der Präventions- und damit zugleich der Sanktionscharakter privatrechtlicher Schadensersatzpflichten, die gerade im Wirtschaftsrecht zunehmend mit dem Zweck der Verhaltenssteuerung und nicht allein mit einem sich selbst genügenden Kompensationsziel eingesetzt werden.16) Üblicherweise dem öffentlichen Recht zugewiesen und in die Hand des Staates gelegt sind allerdings mit Rücksicht auf grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährleistungen besonders eingriffsintensive Instrumente der Normdurchsetzung. Hierzu gehören zum einen persönliche Sanktionen, namentlich Kriminalstrafen, die zu beantragen regelmäßig staatlichen Anklagebehörden vorbehalten ist,17) und zum anderen strukturelle Maßnahmen, namentlich die Entflechtung delinquenter Unternehmen, die als ultima ratio wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Handelns in Betracht kommt.18) Jedoch sollte auch hier die kategoriale Zuordnung zum public enforcement in ihrer Bedeutung für die Wirkungsweise dieser Instrumente bei der Normdurchsetzung nicht überschätzt werden: Soweit Privaten die Möglichkeit gewährt wird, die öffentliche Klageerhebung bei Straftaten zu erzwingen, oder ihnen Ansprüche auf behördliches Tätigwerden gewährt werden, die bei fehlendem oder auf Null reduziertem Ermessen die Verhängung einer bestimmten Maßnahme umfassen (was bei strukturellen Maßnahmen freilich ein eher theoretischer Fall sein dürfte), konvergieren 14) 15) 16) 17)

18)

Vgl. etwa § 33 Abs. 1 GWB für das Kartellprivatrecht und § 32 GWB für das Kartellverwaltungsrecht. Vgl. §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG. Dazu grundlegend und statt vieler Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht – Anmaßung oder legitime Aufgabe?, AcP 206 (2006), 352. Vgl. als Beispiele für im Wirtschaftsrecht vorgesehene Kriminalstrafen § 38 WpHG und § 54a KWG sowie Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. (EU) Nr. L 173/179. Etwa auf der Grundlage von § 32 Abs. 2 GWB.

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auch diese Instrumente ungeachtet ihrer öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung mit Instrumenten, die unsere Rechtsordnung von vornherein der Wahrnehmung durch Private überlässt. 3. Die (Letzt-)Entscheidung über die Normdurchsetzung Anders als bei den Fragen, welche Akteure die Normdurchsetzung initiieren und welche Instrumente ihnen hierfür zu Verfügung stehen, gibt es auf die Frage, wer letztlich über das Ob und Wie der Normdurchsetzung entscheidet, prima facie eine Privat- und öffentliches Recht überwölbende Antwort: In einer Rechtsordnung, die wie das deutsche und das Unionsrecht Rechtsstaatlichkeit und effektiven Rechtsschutz durch den Zugang zu staatlichen Gerichten garantiert, sind es stets Gerichte, die das letzte Wort über die Normdurchsetzung haben, sei es, dass sie durch Zivilurteil über im Klagewege geltend gemachte Ansprüche entscheiden, sei es, dass sie in Verwaltungs- oder Strafsachen mit der Überprüfung behördlicher Anordnungen oder der Verhängung staatliche Strafen befasst sind. Die Rolle der Gerichtsbarkeit variiert indes bei näherem Hinsehen beträchtlich und ist, was ihren Beitrag zur Effektivität der Normdurchsetzung angeht, keineswegs en quelque façon nulle.19) So ist ein Gericht ganz klar selbständiger Akteur der Normdurchsetzung, wenn ihm – wie bei der Verhängung straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Sanktionen – ein diskretionärer Entscheidungsspielraum zusteht. Doch selbst dort, wo sich die richterliche Rolle (wie im Zivilprozess) auf die Rechtsanwendung auf einen nach Überzeugung des Gerichts (aufgrund Beweises oder unstreitigen Parteivortrags) feststehenden Sachverhalt oder (wie im Verwaltungsprozess) auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer vorgängigen behördlichen Entscheidung beschränkt, resultieren Handlungsspielräume und damit die Möglichkeit eines Gerichts, auf die Wirksamkeit der Rechtsdurchsetzung Einfluss zu nehmen, aus der richterlichen Kompetenz zur Auslegung und Fortbildung des auf den Einzelfall anzuwendenden materiellen und Verfahrensrechts. Darüber hinaus hängt die Gestaltung der Normdurchsetzung in nicht unerheblichem Umfang davon ab, inwieweit das zur Streitentscheidung angerufene Gericht eine aktive oder eine passive Rolle im Prozess einnimmt. 19)

So das berühmte Diktum Montesquieus, De l’esprit de lois, 1748, Deuxième Partie, Livre XI, Chap. 6.

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Ein Gericht mit inquisitorischer Funktion steuert, auch wenn es den Prozess nicht selbst initiieren kann, sondern für sein Tätigwerden auf eine (An-)Klage angewiesen ist, weitgehend das Verfahren bis zum Urteil und kann über die Richtung und das Ausmaß der angestellten Ermittlungen auf das Ob und – je nach Bindung an die gestellten Anträge – auch das Wie der Normdurchsetzung Einfluss nehmen. Naturgemäß eng begrenzt, wenn auch nicht völlig ausgeschlossen ist ein solcher Einfluss im adversarischen Verfahren. Für unsere Zwecke ist es wichtig zu sehen, dass das adversarische Verfahrensmodell ebenso wenig notwendig mit dem Privatrecht verbunden ist, wie das inquisitorische Modell stets an das öffentliche Recht (einschließlich des Strafrechts) gekoppelt ist: So ist die gerichtliche Überprüfung von EU-Kartellgeldbußen adversarisch ausgestaltet,20) während die Durchsetzung des EU-Verbrauchervertragsrechts im Zivilprozess aufgrund der Anforderungen an nationale Gerichte, die der Europäische Gerichtshof dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz entnimmt, inquisitorische Züge trägt.21) Schließlich ist bei jeder Beurteilung des institutionellen Arrangements, in das die Normdurchsetzung eingebettet ist, mitzubedenken, ob gerichtliche Entscheidungen über Durchsetzungsmaßnahmen von spezialisierten oder von nicht spezialisierten Spruchkörpern gefällt werden. Ein spezialisiertes Gericht (oder, wie im Falle der Kartellsenate des OLG Düsseldorf und des BGH, ein spezialisierter Spruchkörper innerhalb eines Gerichts), das bspw. i. R. verwaltungs- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Normdurchsetzung permanent mit Klagen oder Einsprüchen gegen Entscheidungen ein und derselben Aufsichtsbehörde befasst ist, entwickelt, wenn die personelle Fluktuation unter den Richtern nicht allzu hoch ist, ein Expertentum, das dem einer Fachbehörde durchaus vergleichbar und – mit seinen Licht- und Schattenseiten – entsprechend zu bewerten ist. Das gilt auch dann, wenn eine Spezialisierung nicht gesetzlich vorgegeben ist, sondern sich, wie etwa bei Patentstreitigkeiten,22) im Wettbewerb der Gerichts20)

21)

22)

Dies wird als grundrechtskonform bestätigt durch EuGH, Urt. v. 8.12.2011 – Rs. C272/09 P (KME), Rz. 131, ECLI:EU:C:2011:810; EuGH, Urt. v. 8.12.2011 – Rs. C386/10 P (Chalkor), Rz. 66 f., ECLI:EU:C:2011:815. Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), Rz. 42 ff., ECLI:EU:C:2015:357; aus der Lit. H. W. Micklitz/N. Reich, The Court and the Sleeping Beauty: The Revival of the Unfair Contract Terms Directive, (UCTD), CMLRev. 51 (2014), 771. Zum Wettbewerb der Patentgerichtsstände in Europa, bei dem (einzelne) deutsche Gerichte führend sind, K. Cremers u. a., Patent Litigation in Europe, ZEW – Centre for European Economic Research, Discussion Paper No. 13-072, 2013.

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stände herausgebildet hat. Wiederum handelt es sich um eine Differenzierung, die quer zur Dichotomie von public und private enforcement liegt: Die Spezialisierung von Richtern mit dem Aufbau entsprechender Expertise, aber auch dem Risiko des regulatory capture, ist eine Gestaltungsoption, die sich sowohl bei privat- als auch bei öffentlich-rechtlichen Durchsetzungsmechanismen bietet. IV. Optimale Normdurchsetzung: Bewertungskriterien Die komparativen Vor- und Nachteile unterschiedlicher Gestaltungen der Normdurchsetzung sollten, so die Quintessenz der im vorigen Abschnitt skizzierten Überlegungen, nicht durch die Gegenüberstellung stilisierter Modelle privat- und öffentlich-rechtlicher Durchsetzungsmechanismen bestimmt werden. Was es vergleichend zu bewerten gilt, sind – unabhängig von ihrer Einbettung in einen privat- oder öffentlich-rechtlichen Kontext – die für die Initiierung, Instrumentierung und (Letzt-)Entscheidungsbefugnis relevanten Elemente von Durchsetzungsmechanismen gleich welcher Provenienz und deren Zusammenspiel. Welche Maßstäbe eine rechtspolitisch aussagekräftige Bewertung erlauben, steht freilich auf einem anderen Blatt. 1. Effizienz der Normdurchsetzung Von nach wie vor unübertroffener Einfachheit und Klarheit ist die aus dem normativ aufgefassten Effizienzkriterium abzuleitende Forderung, Normdurchsetzungsmechanismen so zuzuschneiden und auszurichten, dass dadurch die Summe der durch Normübertretungen verursachten Wohlfahrtsverluste und der Durchsetzungskosten minimiert wird. Das ist der gemeinsame Ausgangspunkt der grundlegenden rechtsökonomischen Studien von Becker und Stigler auf der einen und Landes und Posner auf der anderen Seite.23) Entgegengesetzt sind allerdings die Folgerungen, die beide Seiten für die Alternative von public und private enforcement ziehen. Nicht anders als bei Gütermärkten sehen Becker und Stigler im Wettbewerb privater Akteure den Schlüssel zur effizienten Normdurchsetzung, 23)

G. J. Becker/G. S. Stigler, 3 J. Legal Stud. 1 (1974); W. M. Landes/R. A. Posner, 4 J. Legal Stud. 1 (1975). Instruktiv zu der hier nur gerafft vorgetragenen Diskussion L. Klöhn, Private versus public enforcement of laws – a Law & Economics Perspective, in: Schulze (Hrsg.), Compensation of Private Losses, 2011, S. 179 ff.

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vorausgesetzt, die Anreize sind so kalibriert, dass der mit der Normdurchsetzung zu erwirtschaftende Gewinn dem Gewinn aus Normübertretungen mindestens entspricht. Suggestiv formulieren sie die Grundidee eigennütziger kompetitiver Rechtsdurchsetzung: „Society does not pretend to be able to designate who the bakers should be – this is left to personal aptitudes and tastes. Why should enforcers of law be chosen differently?”24) Landes und Posner beantworten diese Frage, indem sie auf die Gefahr des over-enforcement im Wettbewerb der private attorney-generals verweisen. Stehen zur Normdurchsetzung etwa finanzielle Sanktionen zur Verfügung, deren Ertrag privaten Akteuren zufließt, die die Verhängung der Sanktionen im Klageweg betreiben, drohen Überinvestitionen in private Durchsetzungsaktivitäten jedenfalls dann, wenn die sozial optimale, da die Summe aus Schäden und Durchsetzungskosten minimierende Aufdeckungsrate für Normverletzungen unter 100 % liegt.25) Dieses Problem vermeidet ein staatliches Durchsetzungsmonopol, das zumindest im Idealfall am sozialen Durchsetzungsoptimum ausgerichtet werden kann, wie Landes und Posner grundsätzlich zu Recht feststellen. Dafür handelt man sich freilich andere Defizite ein: Wie jeder Monopolist verfügen auch exklusiv mit der Normdurchsetzung betraute staatliche Akteure normalerweise nicht über hinreichende Anreize, effiziente Durchsetzungsaktivitäten zu entfalten. Hinzu kommt im Falle sektorspezifisch tätiger Aufsichtsbehörden das Risiko der Kollusion mit den Aufsichtsunterworfenen (regulatory capture). Für die rechtspolitische Diskussion um optimierte Normdurchsetzung folgt aus den Einwänden, denen jedes dieser beiden konträren Modelle ausgesetzt ist, freilich nicht die Nutzlosigkeit ökonomischer Überlegungen. Generell wäre es weder realistisch noch zielführend, stilisierte Vorstellungen von privat- und öffentlich-rechtlicher Normdurchsetzung als implementierbare Enforcement-Konzepte vorzuschlagen. Was rechtspolitisch anzustreben ist, sind vielmehr institutionelle und verfahrensmäßige Arrangements der Normdurchsetzung, die Defizite vorhandener Mechanismen beheben, ohne dass die Risiken und Nebenwirkungen überhand nehmen, die sich mit puristischen Konzeptionen verbinden. Zudem sollte generell nicht die Übernahme am Reißbrett entworfener Modelle der Normdurchsetzung, sondern die inkrementelle Verbesserung vorhandener Strukturen 24) 25)

G. J. Becker/G. S. Stigler, 3 J. Legal Stud. 1, 14 (1974). W. M. Landes/R. A. Posner, 4 J. Legal Stud. 1, 15 (1975).

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im Vordergrund der Diskussion stehen. Die Pfadgebundenheit der Rechtsentwicklung legt es nahe, eine Optimierung zu suchen, die möglichst nicht mit tradierten Paradigmen bricht, jedenfalls solange sich damit Ergebnisse erzielen lassen, die nicht deutlich hinter den potentiellen Vorteilen einer disruptiven Erneuerung zurückbleiben. Ökonomische Argumente können, selbst wenn sie aus stilisierten Modellen abgeleitet sind, Orientierung für solche schrittweisen Veränderungen bieten. 2. Alternative Maßstäbe Nur kursorisch sei zu alternativen Maßstäben für die rechtspolitische Ausrichtung und Bewertung wirtschaftsrechtlicher Normdurchsetzung Stellung genommen. Bekanntlich ist die utilitaristische Grundierung des ökonomischen Effizienzdenkens eine überaus angreifbare Gerechtigkeitsvorstellung. Die Ausklammerung jeglicher Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit ist in der Tat ein kaum zu leugnender fundamentaler Mangel einer rein ökonomischen Sicht auf das Recht. Indes handelt es sich hierbei um ein Defizit, das i. R. der hier erörterten Fragestellung keine oder nur geringe Bedeutung haben dürfte: Während es selbstverständlich legitim (wenn auch nicht notwendig effizient) ist, Ge- und Verbote in einer Rechtsordnung nach redistributiven Zielsetzungen auszugestalten, gilt dies doch kaum für die Regeln zu ihrer Durchsetzung. Selbst redistributive Normen sollten grundsätzlich kostenminimierend und d. h. effizient durchgesetzt werden. Umgekehrt wäre es nicht gerechtfertigt, nicht-redistributive Normen mit Instrumenten durchzusetzen, die Umverteilungsziele verfolgen, und damit die durchgesetzte Norm ihrem Zweck zu entfremden. Vor diesem Hintergrund haben Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit, so sehr man sie auf der primären Ebene der Gestaltung der Rechte und Pflichten des einzelnen durch Rechtsnormen für relevant halten mag, auf der nachgeordneten Ebene der Durchsetzung dieser Normen wenig zu suchen. Ebenso verhält es sich bei der Interpretation von Normdurchsetzungsinstrumenten, insbesondere der Ausstattung Privater mit im Klagewege durchsetzbaren Ansprüchen, als Mittel zur Förderung demokratischer Partizipation.26) Die individuelle Freiheitssphären definierenden Normen des Wirtschaftsrechts wie auch die Entscheidung über die Verfahren und

26)

Hierfür Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, 2006, S. 378; dagegen zu Recht Franck, Marktordnung durch Haftung, 2016 (im Erscheinen), § 2 B I.

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Institutionen ihrer Durchsetzung bedürfen fraglos einer demokratischen Legitimation. Ob die Normdurchsetzung dann jedoch in die Hand Privater gelegt wird oder dem Staat vorbehalten bleibt, ist, soweit diese Entscheidung selbst demokratisch getroffen wurde, für die demokratische Legitimation unerheblich. Die Entscheidung eines zur Normdurchsetzung aktivlegitimierten Individuums, von seiner Berechtigung Gebrauch zu machen und sie im Wege der Klage zu verwirklichen, trägt als solche nicht zur Rückbindung des Normgehalts an den Volkswillen bei. Das gilt auch insoweit, als die Klage dem urteilenden Gericht Anlass zur Konkretisierung und Fortbildung des auf den Fall anzuwendenden Rechts gibt: Wie auch immer das Richterrecht in einem demokratischen Gemeinwesen zu verorten sein mag, so ist es doch jedenfalls nicht die Veranlassung durch einen privaten Kläger, die ihm ein demokratietheoretisch befriedigendes Fundament zu geben vermag. Allerdings sei nicht geleugnet, dass eine an ökonomischer Effizienz orientierte Bewertung vernachlässigt, dass ein auf private Initiative setzendes Durchsetzungskonzept einem staatlichen Durchsetzungsmonopol unabhängig vom Wohlfahrtergebnis sozialethisch vorzuziehen sein könnte: Folgt man dem von Sen und Nussbaum geprägten capabilities approach,27) ist die Qualität einer sozialen Ordnung nicht an der Summe der erzielten Gesamtwohlfahrt, sondern an den Verwirklichungschancen zu messen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern für die Gestaltung ihres Lebens nach ihren Wünschen bietet. Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, die Gewährung individueller Durchsetzungsrechte als Beitrag zum empowerment oder – anders gewendet – als Beitrag zur Stärkung individueller Autonomie zu deuten:28) Ein Ergebnis, das der einzelne seiner eigenen Initiative verdankt, wird von diesem höher bewertet als das gleiche, jedoch auf staatliche Zuteilung zurückzuführende Resultat. Doch abgesehen davon, dass der durch Ansprüche und Klagerechte vermittelte Autonomiegewinn ein trügerischer sein mag, hat er auch eine soziale Kehrseite: Weil oft gerade die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft ihre Rechte nicht wahrnehmen, kann jedenfalls ein nur auf private Initiative setzendes Durchsetzungssystem soziale Ungleichheit zementieren, statt (Chancen-)Gleichheit zu fördern. 27) 28)

Grundlegend M. Nussbaum, Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, 2009; A. Sen, The Idea of Justice, 2010. In dieser Richtung etwa H. W. Micklitz, Social Justice and Accesss Justice in European Private Law, EUI Working Paper Law No. 2011/02.

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V. Normdurchsetzung im Kartell- und im Kapitalmarktrecht: Tentative Schlussfolgerungen Sowohl das europäische Kartellrecht als auch das europäische Kapitalmarktrecht setzen traditionell primär auf öffentlich-rechtliche Durchsetzungsmechanismen. Private enforcement steht jedoch zunehmend im Fokus. Im europäischen Kartellrecht wurde diese Entwicklung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Effektivitätsgrundsatz angestoßen29) und durch Sekundärrecht gefestigt.30) Im Kapitalmarktrecht bleibt die Intensivierung der privatrechtlichen Normdurchsetzung noch weitgehend nationalen Gesetzgebern und Gerichten vorbehalten.31) Dass deren Fortschreiten teilweise als zu zögerlich empfunden wird, zeigt sich etwa an Bestrebungen, kartellprivatrechtliche Ansprüche zur Schließung von Lücken im privatrechtlichen Instrumentarium des Kapitalmarktrechts einzusetzen.32) Das Bedürfnis, in beiden Rechtsgebieten privatrechtliche Mechanismen zu stärken, verdankt sich dem nicht unberechtigten Eindruck, dass die behördliche Durchsetzung durch Kartellbehörden (wie das Bundeskartellamt) und die Kapitalmarktaufsicht (wie die BaFin) tendenziell nicht mit der gebotenen Intensität betrieben wird, weil es Behörden und ihren Mitarbeitern womöglich an Ressourcen, Erfahrung, Kompetenz, vor allem aber an Anreizen zu hinreichenden Anstrengungen fehlt. Die mangelnde Durchsetzungsinitiative öffentlicher Stellen soll, so der Grundgedanke, durch die Ausstattung Privater mit präventiv wirkenden Schadensersatzansprüchen ausgeglichen werden.33) Die durch solche Ansprüche vermit-

29)

30)

31) 32)

33)

EuGH, Urt. v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 (Courage), ECLI:EU:C:2001:465; EuGH, Urt. v. 13.7.2006 – Verb. Rs. C-295 – C-298/04 (Manfredi), ECLI:EU:C:2006:461; EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – Rs. C-557/12 (Kone), ECLI:EU:C:2014:1317. Vgl. die Harmonisierung des Kartellschadensersatzes durch Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. (EU) Nr. L 349/1. Vgl. hierzu die Bestandsaufnahme bei Veil/Brüggemeier, in: Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Enforcement im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht 2015, 2015, S. 277, 294 ff. Vgl. die Diskussion um die kartellrechtliche Bewertung des Cornering; hierzu Fleischer/ Bueren, Cornering zwischen Kapitalmarkt- und Kartellrecht, ZIP 2013, 1253; Thomas, Die kartellrechtliche Bewertung des sog. kapitalmarktrechtlichen „cornering“, ZWeR 2014, 119. Deutlich etwa Wagner, AcP 206 (2006), 355, 441 f.

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telten finanziellen Anreize sollen das Durchsetzungsniveau dem sozialen Optimum zumindest annähern. Allerdings handelt es sich hierbei um eine voraussetzungsreiche Annahme. Präventiv wirkende Normdurchsetzung mit Hilfe von Schadensersatzansprüchen funktioniert am besten, wenn die Summe der liquidierten privaten Schäden, die durch Verletzungen der sanktionsbewehrten Norm verursacht werden, dem Wert des verletzungsbedingten sozialen Schadens entspricht. Beweisnot und Zuordnungsprobleme bei marktvermittelten Vermögensschäden führen jedoch dazu, dass die tatsächlich von privaten Klägern erzielten Beträge oft hinter der für eine Anreizoptimierung erforderlichen Summe zurückbleiben. Umgekehrt mag etwa die Einbeziehung von Vermögensverlusten, die Ausdruck rein redistributiver Effekte der Normverletzung sind, in die Schadensberechnung für übermäßige Durchsetzungsanreize sorgen. Voraussetzungen (wie Kausalitäts- und Zurechnungsanforderungen) und Folgen von Schadensersatzansprüchen (wie die Gewährung überkompensatorischer Ansprüche) lassen sich gewiss so kalibrieren, dass die Risiken zu geringer oder übermäßiger privater Durchsetzungsaktivitäten verringert werden.34) Aber die Einsicht, dass es sich hierbei regelmäßig nur um Second-best-Lösungen handelt, mahnt bei aller Freude am private enforcement doch zu einer gewissen Zurückhaltung, was den Leistungsvergleich mit staatlicher initiierter Normdurchsetzung betrifft: Immerhin sind auch Second-best-Lösungen (wie Rechte Betroffener, ein staatliches Eingreifen zu erzwingen) denkbar, die das Anreizproblem beim public enforcement zumindest mildern. Diese Einsicht spricht für eine differenzierte Sicht des Neben- und Miteinanders privat- und öffentlich-rechtlicher Normdurchsetzung im Wirtschaftsrecht. Exemplarisch hierfür sind das Kartell- und das Kapitalmarktrecht. Im Kartellrecht reicht in Anbetracht der beträchtlichen Geheimhaltungswahrscheinlichkeit gerade der gravierendsten Verstöße die Gewährung eines nur kompensatorischen Schadensersatzanspruchs nicht aus, um der privaten Durchsetzung mehr als nur eine ergänzende Rolle im Anschluss an behördliche Ermittlungs- und Durchsetzungsmaßnahmen (i. R. sog. follow on-Klagen) zu verleihen.35) Während insoweit immerhin die Multiplikation des einklagbaren Schadensersatzes mit einem die Geheimhaltungswahrscheinlichkeit reflektierenden Faktor für Abhilfe sorgen 34) 35)

Hierzu eingehend Franck, Marktordnung durch Haftung, 2016 (im Erscheinen). Dazu etwa Editorial Comments: A little more action please!, CMLRev. 45 (2008), 609.

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könnte, ist fraglich, wie ein selbsttragendes Kapitalmarktdeliktsrecht jemals umfassend das zur Erhaltung liquider Kapitalmärkte erforderliche Investorenvertrauen gewährleisten könnte: Individuelle Verluste, die Anleger infolge Marktmanipulation oder Insiderhandel erlitten haben, reflektieren nur unvollkommen die Sozialschädlichkeit kapitalmarktrechtlich inkriminierten Verhaltens. Vor diesem Hintergrund griffe es zu kurz, mangelnde Durchsetzungsinitiative in einem öffentlich-rechtlich dominierten System ausschließlich durch die Einführung und Stärkung privatrechtlicher Mechanismen beheben zu wollen. Als Alternative erwogen werden sollten auch Verbesserungen der öffentlich-rechtlichen Durchsetzung, welche außer durch das „Zuckerbrot“ der Belohnung von Anstrengungen auch durch die „Peitsche“ der Erzwingung behördlichen Handelns durch Private (ggf. ergänzt durch die Staatshaftung für versäumtes Einschreiten) bewirkt werden könnten.

Schadensersatz beim Bruch einer Haltevereinbarung (lock-up-agreement) – Möglichkeiten und Grenzen kapitalmarktrechtlicher Selbstbindung – GREGOR BACHMANN Inhaltsübersicht I. Börsengang und Anlegervertrauen II. Haltevereinbarungen beim Börsengang III. (Kein) Schadensersatz bei Bruch von Haltevereinbarungen? 1. „Weiche“ und „harte“ Haltevereinbarungen 2. Herrschende Meinung: Keine Anspruchsgrundlage 3. Ansätze für einen Schadensersatzanspruch a) „Kapitalmarktrechtliche Vertrauenshaftung“ b) Vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) IV. Das Halteversprechen als haftungsrechtlich sanktionierte „Selbstbindung“? 1. Selbstbindung durch Rechtsgeschäft

a) Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) b) Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter 2. Selbstbindung ohne Rechtsgeschäft a) Das Modell vertragloser Selbstbindung b) Halteversprechen als haftungsträchtige Selbstbindung? c) Wie man mit dem geschriebenen Recht doch zur Haftung gelangen kann V. Empfehlungen für die Praxis 1. Haftungsvermeidung 2. Anlegerschutz durch BaFin und Gesetzgeber VI. Zusammenfassung

Wer etwas verspricht, der muss es auch halten – sollte man meinen. Juristen wissen, dass ein Versprechen zwar ethisch, nicht jedoch rechtlich immer verbindlich ist. Einen problematischen Testfall liefert das sog. Lock-up-agreement, mit dem Altaktionäre sich verpflichten, nach dem Börsengang vorläufig keine weiteren Aktien auf den Markt zu werfen. Nach h. M. kann es sanktionslos gebrochen werden. Folgt man der vom Jubilar begründeten These einer Selbstbindung durch öffentliches Marktversprechen, stellen sich die Dinge möglicherweise anders dar. I. Börsengang und Anlegervertrauen Nachdem der „Neue Markt“ der Frankfurter Wertpapierbörse Anfang des Jahrhunderts spektakulär gescheitert war, sind Börsengänge heute wieder en vogue. Von Seiten des deutschen und des europäischen Gesetzgebers

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werden diverse Anstrengungen unternommen, um auch jungen und kleinen Unternehmungen – namentlich den oft mit Vorschusslorbeeren bedachten „start-ups“ – den Zugang zum Kapitalmarkt zu erleichtern. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Neue Markt seinerzeit nicht allein an seiner privatrechtlichen Verfassung gescheitert ist,1) sondern auch und vor allem daran, dass unreife, halbseidene und bisweilen sogar kriminelle Elemente den Börsengang als Instrument entdeckt hatten, um sich auf Kosten anderer unlauter zu bereichern.2) Das ohnehin nie stark ausgeprägte Vertrauen deutscher Anleger in die Seriosität des Kapitalmarktes wurde dadurch nachhaltig geschädigt. Wer nicht nur leicht zugängliche, sondern stabile Kapitalmärkte schaffen will, muss daher zuallererst für Anlegervertrauen sorgen. Diese Binsenweisheit ist leicht ausgesprochen, aber nicht ganz so leicht umgesetzt. Während sich im Gefolge der Finanzkrise ein hoheitlicher Regulierungstsunami ergießt, gilt es daran zu erinnern, dass vertrauensbildende Maßnahmen durchaus privatautonom getroffen werden können. So etablierte sich schon im Neuen Markt der Usus, Anlegern zuzusichern, den Markt nach der Emission nicht sofort mit weiteren Aktien zu fluten.3) Derartige „lock-up-agreements“ gehören heute zum Standardrepertoire eines IPO. Doch werden sie, wie schon zu Zeiten des Neuen Marktes, nicht immer eingehalten.4) Damit ist die Frage nach Sanktionen angeschnitten, der in diesem Beitrag ausschnittweise nachgegangen werden soll. II. Haltevereinbarungen beim Börsengang In einer Haltevereinbarung („Lock-up-agreement“) verpflichten sich die abgebenden Alt-Aktionäre, ihre Aktien für einen bestimmten Zeitraum 1)

2) 3)

4)

Zur damals erkennbar gewordenen Schwierigkeit, Verschärfungen eines privaten Regelwerks gegen den Willen einzelner Emittenten durchzusetzen, siehe Bachmann, Regelwerk und Rechtsgeschäft, WM 1999, 1793 ff. Mitunter reißerisch, aber dennoch sehr aufschlussreich Ogger, Der Börsenschwindel, 2001. Näher Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen (IPO-lock-up-agreements) im deutschen und US-amerikanischen Recht, 2006, S. 21 ff. Aufsehen erregte seinerzeit der Fall der Haffa-Brüder („EM.TV“), die ihre Aktien unter Verstoß gegen die Haltevereinbarung veräußerten, siehe dazu OLG Frankfurt/M., Urt. v. 6.7.2004 – 5 U 122/03, ZIP 2004, 1411 ff. und LG Frankfurt/M., Urt. v. 17.1.2003 – 3-07 O 26/01, ZIP 2003, 400 ff. Aus neuerer Zeit siehe den Zalando-Fall, dazu nur Manager-Magazin v. 11.3.2015: „Samwer-Brüder machen Kasse vor Ablauf der Haltefrist“, abrufbar unter: http://www.manager-magazin.de/unternehmen/it/samwers-undweitere-grossaktionaere-machen-kasse-bei-zalando-a-1022949.html.

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nach der Emission (in der Regel sechs bis zwölf Monate) nicht zu veräußern.5) Vertragspartner einer solchen Vereinbarung ist entweder der Emittent oder die Emissionsbank (bzw. der Konsortialführer). Da die Verpflichtung gegenüber der Bank in der Praxis den Regelfall darstellt, widmen sich die nachfolgenden Ausführungen ausschließlich dieser Konstellation. Mit Hilfe solcher auch als „Marktschutzklausel“ bezeichneten Abreden soll einerseits vermieden werden, dass durch ein plötzliches Überangebot der Kurs der an die Börse gebrachten Aktie abrutscht. Zum anderen signalisieren die Altaktionäre, die häufig auch die Gründer und Organmitglieder des Emittenten sind, dass sie nicht nur schnell Kasse machen wollen, sondern nach dem Start weiter mit an Bord bleiben.6) Sowohl die Kursstabilisierung als auch das Vertrauenssignal sind nicht Selbstzweck, sondern wollen dadurch, dass sie den Erfolg der Emission fördern, die Reputation des Emittenten bzw. der Emissionsbank insbesondere für künftige Emissionen schützen. Zugleich wirkt die Haltevereinbarung, die im Prospekt publik gemacht wird (und auch publik gemacht werden muss7), verkaufsfördernd, weil sie Neuanlegern Vertrauen einflößt. Man kann Haltevereinbarungen also als „vertrauensbildende Maßnahmen“ bezeichnen, die allerdings nicht altruistisch, sondern eigennützig motiviert sind. Was derartige Vereinbarungen wert sind, zeigt sich, wenn sie gebrochen werden. Da ein Lock-Up-Agreement wegen § 137 BGB keine dingliche Wirkung entfaltet, sind Alt-Aktionäre nicht daran gehindert, entgegen der getroffenen Vereinbarungen ihre Aktien vorzeitig zu veräußern. Verhindert werden kann das dadurch, dass ihre Aktien in ein Sperrdepot gegeben werden, abgeschreckt wird ein Bruch der Haltevereinbarungen durch eine

5)

6)

7)

Hierzu und zum Folgenden nur Singhof/Weber in: Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 3. Aufl. 2013, § 4 Rz. 36 f.; Meyer in: Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Hdb. der börsennotierten AG, 3. Aufl. 2014, § 8 Rz. 98 ff.; Veil, Gewinnabschöpfung im Kapitalmarktrecht, ZGR 2005, 155, 158 ff.; ausführlich und m. w. N. Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen, 2006, S. 7 ff. Zum anders gelagerten (und i. d. R. besser gesicherten) lock-up i. R. von Investorenvereinbarungen Seibt/Wunsch, Investorenvereinbarungen bei öffentlichen Übernahmen, Der Konzern 2009, 195, 207 ff. Veil, ZGR 2005, 155, 158 ff., sieht einen weiteren und entscheidenden Zweck in der Prävention von Insidergeschäften. Hierauf zielt auch Art. 19 Abs. 11 MAR, wonach Führungskräften die Veräußerung von Anteilen während einer geschlossenen Periode von 30 Tagen vor Veröffentlichung eines Zwischenberichts oder des Jahresabschlusses verboten ist. Vgl. Ziff. 7.3 des Anhangs III zur EU-Prospektverordnung (Verordnung (EG) Nr. 809/ 2004), ABl. (EU) Nr. L 149/1.

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Vertragsstrafe. Beide Vorkehrungen sind in der Praxis ungebräuchlich.8) Ins Zentrum rückt damit die Frage nach etwaigen Schadensersatzansprüchen. III. (Kein) Schadensersatz bei Bruch von Haltevereinbarungen? Schadensersatzansprüche wegen Kursverlusten werfen schwierige Fragen hinsichtlich der Kausalität, der Schadensberechnung und der Beweislastverteilung auf. Diese müssen hier auf sich beruhen. Betrachtet werden soll allein die Frage, ob es für einen Schadensersatzanspruch überhaupt eine Anspruchsgrundlage gibt. 1. „Weiche“ und „harte“ Haltevereinbarungen Dabei ist danach zu unterscheiden, ob es sich bei der Haltevereinbarung um eine unbedingte („harte“) oder um eine unter Dispensvorbehalt stehende („weiche“) handelt. Gebräuchlich sind „weiche“ Lock-up-agreements, bei denen die Emissionsbank den Alt-Aktionären die vorzeitige Veräußerung gestatten kann. Wird der Dispens erteilt, scheiden Schadensersatzansprüche von vornherein aus, da die Veräußerung in diesem Fall nicht pflicht- oder rechtswidrig ist. Es fragt sich allein, ob die Emissionsbank bei der Erteilung des Dispenses im Interesse der Neu-Aktionäre in ihrem Ermessen beschränkt ist. Dies ist grundsätzlich zu verneinen, weil die Bank eine entsprechende Ermessensbindung ersichtlich nicht eingehen will und eine solche im Übrigen kaum justiziabel wäre. Für Schadensersatzansprüche bei vorzeitiger Veräußerung bleibt somit nur Raum, wenn eine „harte“ Haltevereinbarung verletzt wurde oder wenn beim „weichen“ lock-up die Veräußerung ohne Dispens erfolgt. Auch im letzteren Fall scheidet eine Haftung – wie noch zu sehen sein wird – regelmäßig aus, solange den Anlegern nur hinreichend deutlich gemacht wird, dass die Bank nach eigenem Ermessen dispensieren kann.9)

8)

9)

Vgl. Singhof/Weber in: Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 3. Aufl. 2013, § 4 Rz. 37; anders Stoll, Der Konzern 2007, 561, 564 („üblich“), aber mit dem Hinweis, dass die Strafandrohungen so niedrig seien, „dass sie kaum abschreckende Wirkung entfalten“. Näher unten, IV 2 b.

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2. Herrschende Meinung: Keine Anspruchsgrundlage In der Literatur werden Schadensersatzansprüche von Neuanlegern wegen gebrochener Haltevereinbarungen fast durchweg abgelehnt.10) Die Rechtsprechung hat sich, soweit ersichtlich, bislang nur vereinzelt mit der Fragestellung befasst und Schadensersatzansprüche dabei lediglich dann in Erwägung gezogen, wenn der Bruch der Haltevereinbarung dem Kapitalmarkt nicht ordnungsgemäß kommuniziert worden ist.11) Unzweifelhaft ist zunächst, dass die Bank als Vertragspartner der Halteabrede gegen den vorzeitig veräußernden Altaktionär einen Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB hat. Dieser ist jedoch bedeutungslos, weil der Bank zwar möglicherweise ein Reputationsverlust, nicht jedoch ein nachweisbarer Vermögensschaden entsteht.12) Als denkbare Anspruchsgrundlage der Neuanleger wird vor allem der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter diskutiert, der im Ergebnis mangels Interessengleichlaufs und/oder wegen Unüberschaubarkeit des Kreises der potenziell geschützten Dritten allgemein abgelehnt wird.13) Der den Dritten durch das Halteversprechen faktisch vermittelte Schutz sei lediglich „Reflex“, nicht jedoch rechtlich sanktionierter Anspruch.14) Prospekthaftungsansprüche scheitern daran, dass der Prospekt nicht unrichtig ist, wenn er die Haltevereinbarung nur korrekt wiedergibt.15) Schadensersatz10)

11) 12)

13)

14) 15)

Vgl. nur Veil, ZGR 2005, 155, 160 ff., 170 („lässt sich im System des geltenden Rechts nicht begründen“); Singhof/Weber in: Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 3. Aufl. 2013, § 4 Rz. 37 („dogmatisch kaum begründbar“); Meyer in: Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Hdb. der börsennotierten AG, 3. Aufl. 2014, § 8 Rz. 164; Hopt, Die Verantwortlichkeit der Banken bei Emissionen, 1991, S. 20 ff.; Lutter/Drygala, Rechtsfragen beim Gang an die Börse, in: FS für Raisch, 1995, S. 239, 249 f.; C. Schäfer, Vereinbarungen bei Aktienemissionen, ZGR 2008, 455, 469 (anders nur, wenn Halteversprechen gegenüber Emittenten abgegeben wurde); Lenenbach, Kapitalmarkrecht, 2. Aufl. 2010, Rz. 10.167; grundsätzlich auch Fleischer, Marktschutzvereinbarungen beim Börsengang, WM 2002, 2305, 2311 f., der aber eine Vertrauenshaftung in Betracht zieht, dazu unten III 3 a). Vgl. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 10.5.2005 – 5 U 133/03, AG 2006, 162, 167. Unstr., siehe statt aller Fleischer, WM 2002, 2305, 2311. Anders, wenn die Bank ihrerseits einem Ersatzanspruch der Neuanleger ausgesetzt ist, siehe dazu unten bei Fn. 45 und Fn. 61 (§ 434 Abs. 3 BGB analog). Vgl. nur Lutter/Drygala in: FS für Raisch, 1995, S. 239, 249 f.; Stoll, Vereinbarung und Missachtung von lock up agreements aus kapitalmarktrechtlicher Sicht, Der Konzern 2007, 561, 564 f.; Veil, ZGR 2005, 155, 161 f.; C. Schäfer, ZGR 2008, 455, 469; Seibt/ Wunsch, Der Konzern 2009, 195, 212 („uferlose Ausweitung“). Lutter/Drygala in: FS für Raisch 1995, S. 239, 250. Unstr., siehe Stoll, Der Konzern 2007, 561, 565; Fleischer, WM 2002, 2305, 2311; Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen, 2006, S. 54.

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ansprüche wegen unterlassener oder fehlerhafter Ad-hoc-Mitteilungen (§§ 37b, 37c WpHG) kommen nicht in Betracht, weil der Versprechende nicht meldepflichtig und der meldepflichtige Emittent von der Haltevereinbarung nicht unmittelbar betroffen ist. Im Übrigen gilt auch hier, dass eine Haftung ausscheidet, wenn die etwa meldepflichtigen Umstände (z. B. Bruch der Haltevereinbarung) nur korrekt kommuniziert werden. In jüngerer Zeit wird diskutiert, ob sich eine Schadensersatzpflicht aus dem Verbot der Marktmanipulation (Art. 12 Marktmissbrauchsverordnung – MAR, früher: § 20a WpHG) i. V. m. § 823 Abs. 2 BGB ergeben kann. Dafür müssen zwei Hürden überwunden werden: Zum einen müsste es sich bei § 20a WpHG (bzw. Art. 12 MAR) um ein Schutzgesetz handeln, was vom Bundesgerichtshof und der h. L. mit guten Gründen abgelehnt wird.16) Zum anderen müsste der Bruch einer Haltevereinbarung eine verbotene Marktmanipulation darstellen. Im Schrifttum wird das zum Teil mit dem Argument bejaht, dass die frühzeitige Veräußerung irreführende Signale an den Kapitalmarkt sende (vgl. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MAR), denn die übrigen Kapitalmarktteilnehmer erwarteten, dass der betreffende Börsenkurs sich ohne vorzeitige Aktienverkäufe der Alt-Aktionäre bilde.17) Diese Auffassung ist nicht überzeugend, da das Signal in diesem Fall nicht von der Transaktion, sondern von der Haltevereinbarung selbst ausgeht. Eine Marktmanipulation kann daher allenfalls angenommen werden, wenn schon bei Abschluss der Haltevereinbarung beabsichtigt ist, diese später zu Lasten der Neu-Aktionäre zu brechen.18) Ob darin eine Täuschungshandlung i. S. von Art. 12 MAR liegt, kann hier aber dahinstehen, weil der Nachweis einer solchen Absicht in der Praxis nicht gelingen wird. 3. Ansätze für einen Schadensersatzanspruch Mit den genannten Anspruchsgrundlagen ist das Ende der zivilrechtlichen Fahnenstange noch nicht erreicht. Als mögliche Anspruchsgrundlagen 16)

17) 18)

Vgl. BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 = ZIP 2012, 318 m. zust. Anm. Bachmann, JZ 2012, 578 ff.; Spindler, Haftung für fehlerhafte und unterlassene Kapitalmarktinformationen – ein (weiterer) Meilenstein, NZG 2012, 575, 576; a. A. Hellgardt, Praxis- und Grundsatzprobleme der BGH-Rechtsprechung zur Kapitalmarktinformationshaftung, DB 2012, 673, 678. So Grüger, Veräußerung von Aktien entgegen einer Lock-up-Vereinbarung, WM 2010, 247, 250; Stoll, Der Konzern 2007, 561, 568. So Mock in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2013, § 20a Rz. 406 ff.; Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen, 2006, S. 79 f.

Schadensersatz beim Bruch einer Haltevereinbarung (lock-up-agreement)

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bleiben eine Vertrauenshaftung sowie – als „last resort“ – die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB). Beide Ansätze werden im Schrifttum in Erwägung gezogen, ohne dass die Frage ausdiskutiert ist. a) „Kapitalmarktrechtliche Vertrauenshaftung“ Eine kapitalmarktrechtliche Vertrauenshaftung wird von Fleischer bejaht.19) Mit der Offenlegung der Haltefrist im Prospekt werde ein Vertrauenstatbestand geschaffen, auf den sich die Neuanleger von Rechts wegen verlassen dürften. Die Vereinbarung einer Sperrfrist im Verein mit den ebenfalls verkündeten Sicherungsmaßnahmen lasse für einen verständigen Anleger nur den Schluss zu, dass der Emittent die Alt-Aktionäre vor Ablauf der Sperrfrist nicht aus ihrer Halteverpflichtung entlassen werde. Ganz ähnlich argumentieren diejenigen, die eine verbotene Kursmanipulation bejahen: Der Manipulationswert folge „im Ergebnis aus dem Handeln entgegen dem zuvor zurechenbar gesetzten Rechtsschein“.20) Diese Überlegung ist intuitiv plausibel. Sie krankt indes daran, dass das deutsche Recht keinen allgemeinen Tatbestand einer Vertrauenshaftung kennt. Zwar hat es im 20. Jh. nicht an Versuchen gefehlt, einen solchen zu formulieren,21) doch konnten sich diese nicht allgemein durchsetzen und blieben stets dem Vorwurf ausgesetzt, mit „Vertrauen“ einen ubiquitären, wenig greifbaren Topos zum Angelpunkt zu erheben und damit zugleich die Grenzen der Rechtsgeschäftslehre auszuhebeln. Das Gesetz hebt Vertrauenstatbestände nur punktuell in den Stand der Anspruchsgrundlage, so namentlich das Vertrauen auf den Bestand eines vertraglichen Versprechens (§ 122 BGB) oder einer behaupteten Vollmacht (§ 179 BGB), ferner das Vertrauen auf die Richtigkeit bestimmter Werbeaussagen (§ 434 Abs. 3 Satz 3 BGB) oder Prospektangaben (z. B. § 22 WpPG). Generell geschützt wird dagegen nur, wenn man es überhaupt so formulieren will,

19)

20) 21)

Fleischer, WM 2002, 2305, 2312 (unter Hinweis auf Hausmaninger/Splechtna, Marktschutzvereinbarungen – Ausgestaltung und Rechtsfolgen, ÖBA 2002, 37, 41, 43); siehe auch Fleischer, Empfiehlt es sich, im Interesse des Anlegerschutzes und zur Förderung des Finanzplatzes Deutschland das Kapitalmarkt- und Börsenrecht neu zu regeln?, Gutachten F für den 64. DJT, 2002, F 141 f. Stoll, Der Konzern 2007, 561, 568, mit dem zusätzlichen Hinweis, dass die vorzeitige Veräußerung „das durch die Haltevereinbarung vereinnahmte Vertrauen frustriert“. Gerne zitiert, aber wenig gelesen Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1972. Canaris behandelt dort die „positive“ Vertrauenshaftung und erklärt diese zum Ausnahmefall.

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das Vertrauen auf die Unversehrtheit von Leben, Gesundheit und anderen absoluten Rechten bzw. Rechtsgütern (§ 823 Abs. 1 BGB). Dass mithin nicht jedes Vertrauen genügen kann, um den Schutz eines fehlenden rechtsgeschäftlichen Versprechens zu substituieren oder enttäuschte Erwartungen zu kompensieren, ist unbestritten. Allein wo und wie die Grenze zu ziehen ist, ist Gegenstand endloser Diskussionen. Der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform hat versucht, in § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB eine Trennlinie zu markieren, die derjenige überschreitet, der „in besonderem Maße“ Vertrauen für sich in Anspruch nimmt. Doch abgesehen davon, dass damit erkennbar nur eine bestimmte, den Reformern vor Augen stehende Fallgruppe adressiert worden ist – nämlich die „erhebliche“ Beeinflussung des Vertragsschlusses oder der Vertragsverhandlungen durch einen Dritten (Sachwalterhaftung) – spricht das Gesetz hier nur aus, was ohnehin unstreitig ist: Enttäuschtes Vertrauen an sich bildet keine Anspruchsgrundlage. b) Vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) § 826 BGB wird im Schrifttum nur am Rande und eher resignierend zitiert, ohne dass man sich die Mühe macht, die Norm durchzuprüfen.22) Dies erweckt den Eindruck, dass die Hürden des § 826 BGB so hoch sind, dass sie im hier interessierenden Fall kaum zu überspringen sind. Was das Tatbestandsmerkmal der vorsätzlichen Schädigung betrifft, wird man dieses aber ohne Weiteres bejahen können, denn die Altanleger nehmen zumindest billigend in Kauf, dass durch den Bruch der Haltevereinbarung ein Kursverlust bei anderen Aktionären eintritt,23) und ein derartiger dolus eventualis genügt für § 826 BGB.24) Die entscheidende Frage lautet, ob der Bruch der Haltevereinbarung sittenwidrig i. S. der Vorschrift ist. Eigentlich liegt es nahe, die Frage ohne Umschweife zu bejahen, denn wer andere dadurch schädigt, dass er etwas verspricht, was er später nicht hält, handelt prima facie unfair. Wie bei der Vertrauenshaftung droht aber auch hier die 22)

23)

24)

Vgl. Stoll, Der Konzern 2007, 561, 569; Fleischer, WM 2002, 2305, 2322 („liegt nicht gänzlich fern“); Veil, ZGR 2005, 155, 162 („nur in Ausnahmefällen“); Lenenbach, Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2010, Rz. 10.167; nähere Prüfung bei Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen, 2006, S. 168 ff., der die Tatbestandsmäßigkeit mangels Sittenwidrigkeit verneint. Zweifelnd aber Stoll, Der Konzern 2007, 561, 569 (unter Hinweis auf Ekkenga, Fragen der deliktischen Haftungsbegründung bei Kursmanipulationen und Insidergeschäften, ZIP 2004, 781, 784). Unstr., siehe nur Sprau in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 826 Rz. 11.

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Sprengung des Systems, wenn ein rechtsgeschäftlich unverbindliches Wort, dessen Bruch die Erwartungen Dritter enttäuscht, ohne weiteres Zutun automatisch zur Haftung führt. IV. Das Halteversprechen als haftungsrechtlich sanktionierte „Selbstbindung“? Mit der Kritik an den bisherigen Ansätzen ist der Stab über einen möglichen Schadensersatzanspruch noch nicht gebrochen. Man muss den Ansätzen „Vertrauenshaftung“ und „sittenwidrige Schädigung“ aber schärfere Konturen verleihen, um die Frage endgültig entscheiden zu können. Dazu bietet es sich an, auf einen Ansatz zurückzugreifen, mit dem der Jubilar sich früh Meriten erworben hat, und mit dem sein Name bis heute aufs engste verbunden ist: Den Gedanken einer über das Rechtsgeschäft i. e. S. hinausgreifenden Selbstbindung. 1. Selbstbindung durch Rechtsgeschäft Vorab: Über eine Selbstbindung ohne Vertrag muss nicht räsoniert werden, wo eine klare vertragliche Vereinbarung getroffen wurde. So scheint es bei Haltevereinbarungen zu liegen, deren rechtsgeschäftlicher – und damit verbindlicher – Charakter, soweit ersichtlich, nirgends in Frage gestellt wird. Der Haken besteht darin, dass Neuanleger nicht Partei dieser Vereinbarung sind und daher aus diesem zunächst einmal keine Rechte für sich ableiten können. Damit ist die oben bereits angerissene Frage aufgeworfen, ob die Haltevereinbarung zwischen Bank und Altaktionär drittbegünstigende Wirkung entfaltet. a) Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) Die Literatur kapriziert sich auf den sog. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (siehe oben), schließt den Vertrag zugunsten Dritter damit implizit als fernliegend aus. Ganz so einfach sollte man es sich nicht machen, denn § 328 BGB lenkt das Augenmerk zutreffend darauf, dass es nach dem Grundsatz der Privatautonomie zunächst und zuvörderst Sache der Parteien ist, über Art und Umfang einer etwaigen Drittbegünstigung zu befinden.25) Dass diese nicht ausdrücklich vereinbart wurde, steht, wie 25)

Dies betont zu Recht auch Köndgen, Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, in: Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 3, 16.

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die Auslegungsregel in § 330 BGB zeigt, einer Drittbegünstigung nicht im Wege. Mangels anderweitiger Anhaltspunkte gebietet § 328 Abs. 2 BGB, auf die Umstände, „insbesondere auf den Zweck des Vertrages“, abzustellen. Der Zweck einer Haltevereinbarung besteht darin, den Kurs nach der Erstemission vorläufig stabil zu halten. Nutznießer dieser Stabilisierungswirkung sind neben den Neuanlegern die Emissionsbank und der Emittent, denen die Platzierung erleichtert und deren Reputation für künftige Emissionen gesichert wird, u. U. auch die Halteverpflichteten selbst, falls diese beabsichtigen, später mit einer weiteren Emission an den Markt zu gehen und dafür einen Vertrauensvorschuss erwerben wollen. Der Umstand, dass die Neuanleger von der Abrede mitbegünstigt werden, reicht nicht aus, um sie nach § 328 BGB als anspruchsberechtigt anzusehen.26) Denn wie sich an § 330 BGB zeigt, der die – durchaus paradigmatischen – Fälle von Lebensversicherung, Leibrente und Abfindung anspricht, muss für den begünstigten Dritten ein besonderes, im Extremfall existenzsicherndes Bedürfnis vorhanden sein, um selbst aktiv legitimiert zu werden. Dieses Bedürfnis fehlt den enttäuschten Neuanlegern. Hinzu kommt, dass jede Form von Drittberechtigung dem Grundsatz der Relativität des Schuldverhältnisses zuwiderläuft, der – wie Köndgen zutreffend betont hat27) – nicht lediglich ein formales Ordnungsprinzip ist, sondern materialen Gehalt trägt, indem er das Berechtigt- und Verpflichtet-Sein prinzipiell auf diejenigen beschränkt, die, im Falle des vertraglichen Schuldverhältnisses, ein Versprechen abgegeben und/oder eine Gegenleistung erbracht haben. Das schließt die Drittberechtigung, wie allein § 328 BGB zeigt, nicht aus, rechtfertigt aber doch die (ungeschriebene) Auslegungsregel, sie im Zweifel zu verneinen. Stellt man mit der Kommentarliteratur schließlich auf die Vorstellung redlicher, mit den Verkehrssitten vertrauter Parteien ab,28) spricht auch dies gegen eine Drittberechtigung, denn der angelsächsisch geprägten Emissionspraxis wäre ein solches Ver-

26) 27)

28)

Für lock-ups i. R. einer Investorenvereinbarung auch Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, 195, 212. Vgl. Köndgen, Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, in: Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 22 ff. („haftungskanalisierendes Prinzip“); relativierend (für die Absatzkette) Köndgen, Zur Theorie der Prospekthaftung, 1983, S. 24 (Haftung der die Marketingkette beherrschenden Person). So z. B. Gottwald in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 328 Rz. 33.

Schadensersatz beim Bruch einer Haltevereinbarung (lock-up-agreement)

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ständnis wohl fremd,29) und wer angelsächsische Usancen übernimmt, muss diese auch als Folie für die Auslegung entsprechender Erklärungen heranziehen.30) b) Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Trotz der – nicht zuletzt vom Jubilar unternommen31) – Aufräumarbeiten ist der sog. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ein dogmatisches Minenfeld geblieben. Ob es sich um eine ergänzende Erweiterung des Vertrags zugunsten Dritter mit vornehmlicher Basis im (mutmaßlichen) Parteiwillen, um eine Fortbildung des Deliktsrechts mit quasi-vertraglichen Mitteln, um eine Spielart von „Vertrauenshaftung“ oder um eine aus all diesen Elementen zusammengerührte Mixtur handelt,32) ist Gegenstand leidenschaftlicher Debatten und letztlich offen. Der Jubilar mag es mir nachsehen, wenn ich dieses Minenfeld hier meide und mich schlicht auf die schulmäßigen Prüfungsschritte konzentriere, denen jenseits der „richtigen“ dogmatischen Einordnung das plausible und von allen Lehren geteilte Anliegen innewohnt, den vertraglichen Drittschutz sachgerecht zu begrenzen. Betrachten wir zunächst die Leistungsnähe des Dritten, mag diese noch bejaht werden, denn vom Versprechen des Altaktionärs profitiert der Neuanleger nicht viel anders als die Emissionsbank.33) Problematischer ist die Gläubigernähe, denn die Bank ist trotz ihrer bankvertraglichen und aufsichtsrechtlichen (§§ 31 ff. WpHG) Bindung an das Kundeninteresse 29)

30)

31)

32)

33)

Zu möglichen Schadensersatzansprüchen nach US-amerikanischem Recht (im Ergebnis verneinend) Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen, 2006, S. 104 ff., 161 ff., 185 f. (bejahend nur bei kollusivem Zusammenwirken von Bank und Altaktionär). Verfehlt aus diesem Grund die in Deutschland verbreitete Vorstellung, den aus dem angelsächsischen Raum importierten Grundsatz des „Comply-or-Explain“ (§ 161 AktG) haftungsrechtlich zu sanktionieren, siehe Bachmann, Der „Deutsche Corporate Governance Kodex“ – Rechtswirkungen und Haftungsrisiken, WM 2002, 2137 ff. Vgl. Köndgen, Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, in: Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 3, 27 ff., dort mit dem Versuch, die Grenzen der Drittberechtigung in erster Linie durch (ergänzende) Auslegung unter Zuhilfenahme des ökonomischen Modells vom vollständigen Vertrag zu gewinnen. Vgl. Köndgen, Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, in: Karlsruher Forum 1998, 1999, der das dogmatische Gebäude vertraglicher Drittberechtigungen als „Amalgam aus Widersprüchen, Scheinbegründungen und diffuser Schutzrhetorik“ brandmarkt. Ebenso Stoll, Der Konzern 2007, 561, 564; Veil, ZGR 2005, 155, 161; Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen, 2006, S. 142 f.

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nicht für das „Wohl und Wehe“ der Neuanleger verantwortlich. Darauf kommt es in der neueren Rechtsprechung und Lehre zwar nicht an, soweit der Dritte nur bestimmungsgemäß mit der Leistung des Versprechenden in Kontakt kommt und ein besonderes Einbeziehungsinteresse besteht.34) Hier aber wird es enger, denn anders als in den paradigmatischen Gutachterfällen ist die versprochene Leistung – in casu: das Halten der Aktien – nicht ausschließlich oder auch nur vornehmlich für die Neuanleger gedacht, sind diese also, in den Worten des Jubilars, nicht „intendierter Benefiziar“.35) An der weiteren Voraussetzung einer Erkennbarkeit für den Schuldner würde es hingegen nicht fehlen, denn diesem ist die Leistungsnähe des Neuanlegers ebenso wie dessen Verhältnis zur Bank bekannt. Ebenso wenig mangelt es an der Schutzbedürftigkeit, denn (sonstige) eigene vertragliche Ansprüche gegen die Altaktionäre hat der Neuanleger nicht, und die Bank haftet für das Verhalten der Altaktionäre nicht, da diese nicht ihre Erfüllungsgehilfen sind.36) Wiewohl also zumindest einige der Tatbestandsmerkmale des Vertrags mit Schutzwirkung klar erfüllt sind, wird man diesen am Ende – ganz im Einklange der oben skizzierten h. M. – eher verneinen müssen, wobei „eher“ andeutet, dass angesichts der Biegsamkeit dieses Rechtsinstituts bei einigem Argumentationsgeschick auch eine andere Sichtweise vertretbar ist. Die h. M. sichert ihr Ergebnis deshalb mit der Zusatzüberlegung ab, dass der Kreis der Drittbegünstigten beim Halteversprechen unüberschaubar (und insofern nicht „erkennbar“) ist.37) Vollends erledigen lässt sich der Vertrag mit Schutzwirkung damit nicht, denn selbst wenn man die Wurzel der Haftung aus Vertrag mit Schutzwirkung im vertraglichen Versprechen sieht, ist es durchaus denkbar, dass ein solches an einen großen und im Einzelnen unbestimmten Adressatenkreis gerichtet ist, mag sich eine solche Erklärung an das Publikum auch quer zum individualistisch konstruierten Bürgerlichen Gesetzbuch stellen.38) Mit einem dem Anleger34)

35) 36) 37) 38)

Vgl. nur BGH, Urt. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, NJW 2012, 3165 Rz. 15 f.; Grüneberg in: Palandt, BGB, 74. Auf. 2015, § 328 Rz. 17a. Auch der fehlende „Interessengleichlauf“ schließt – entgegen der oben (Fn. 13) referierten Sicht – die Schutzwirkung nicht aus. Köndgen, Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, in: Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 44; Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 363. Allerdings kommt eine Haftung der Bank analog § 434 Abs. 3 Satz 3 BGB in Betracht, siehe dazu unten, bei Fn. 45 und Fn. 61. Siehe oben Fn. 13. Näher Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 284 ff.; für die Möglichkeit einer Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit auch Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 297 f.

Schadensersatz beim Bruch einer Haltevereinbarung (lock-up-agreement)

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publikum kundgetanen Versprechen ist indessen die Grenze dessen, was mithilfe des Vertrags mit Schutzwirkung ehrlicherweise zu leisten ist, überschritten,39) denn Anknüpfungspunkt für die Haftung ist dann nicht mehr der Vertrag (hier: zwischen Altaktionär und Emissionsbank), sondern das durch die Kundgabe dieses Vertrags bei den Neuanlegern erzeugte und schließlich enttäuschte Vertrauen.40) Mit der damit angesprochenen Vertrauenshaftung sind wir bei der oben aufgeworfenen Frage angelangt, ob eine Reformulierung der „Vertrauenshaftung“ als vertragloser Selbstbindung der Haftung beim gebrochenen Halteversprechen Kontur verleihen kann. 2. Selbstbindung ohne Rechtsgeschäft a) Das Modell vertragloser Selbstbindung Was auf den ersten Blick wie ein Selbstwiderspruch anmutet, ist der vom Jubilar in seiner 1981 erschienenen Habilitationsschrift eindrucksvoll unternommene Versuch, „unterhalb“ des Rechtsgeschäfts einen Selbstbindungstatbestand (mit haftungsrechtlichen Konsequenzen) zu begründen. Dieser fußt darauf, dass jemand durch intentionales kommunikatives Verhalten bei anderen legitime Erwartungen weckt, die nicht sanktionslos enttäuscht werden dürfen.41) Anschauliches Paradigma ist die Werbebotschaft, mit der beim Publikum absichtlich eine bestimmte Qualitätserwartung geweckt und kommerziell ausgenutzt wird.42) Dogmatisch zielt dieser Ansatz darauf, eine vertragsähnliche Haftung für Vermögensschäden außerhalb der engen Grenzen der klassischen Rechtsgeschäftslehre zu begründen, ohne zu Hilfskonstrukten wie Vertragsfiktion, „ergänzender“ Vertragsauslegung etc. zu greifen, und ohne die ebenfalls engen Tatbestände der deliktischen culpa-Haftung zu einer Quasi-Vertragshaftung umzupolen. 39)

40)

41) 42)

Zutreffend Fleischer, WM 2002, 2305, 2311: „würde sich sehr weit von seinem ursprünglichen Begründungskern entfernen“; für restriktive Handhabung grundsätzlich auch Köndgen, Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, in: Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 22 ff. Für Verortung der notorischen Gutachterfälle bei der Vertrauenshaftung (statt beim Vertrag mit Schutzwirkung) denn auch Canaris, Die Haftung des Sachverständigen zwischen Schutzwirkungen für Dritte und Dritthaftung aus culpa in contrahendo, JZ 1998, 603 ff.; Neuner, Der Schutz und die Haftung Dritter nach vertraglichen Grundsätzen, JZ 1999, 126 ff. So die Grundthese von Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981. Vgl. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 284 ff.

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In diesem Anliegen weiß sich die Selbstbindungslehre mit den verschiedenen Modellen einer Vertrauenshaftung einig, die sie denn auch nicht ersetzen, sondern reformulieren will, und die wie die Selbstbindung ohne Vertrag als „dritte Spur“ zwischen die Haftung aus Vertrag und Delikt tritt.43) Von der Vertrauenshaftung grenzt sich die Selbstbindungslehre nicht nur durch ein anderes, soziologisch gefärbtes Vokabular (z. B. „legitime Erwartung“ statt „berechtigtes Vertrauen“) ab, sondern vor allem durch das Bemühen um eine sozialwissenschaftliche Fundierung und den gleichzeitig erhobenen Anspruch, mit dieser präzisere, weniger dem Rechtsgefühl geschuldete Ergebnisse zu produzieren. Die Selbstbindungslehre hat respektvolle Anerkennung, aber auch scharfe Ablehnung erfahren.44) Letztlich vermochte sie sich weder mit ihrer bemerkenswerten Kritik am idealisierten Vertragsschlussmodell des Bürgerlichen Gesetzbuchs noch mit dem weiterreichenden Versuch einer Vertragshaftung ohne Vertrag durchsetzen.45) Rechtsgeschäftslehre wird heute wieder (bzw. immer noch) so gelehrt, wie es die Pandektisten taten, und wo ihre Grenzen überschritten sind, greift man auf „Richterrecht“ (Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter) oder die Vertrauensformel zurück. Die Gründe für das Scheitern der Selbstbindungslehre mögen darin liegen, dass sie die Leistungskraft der Rechtsgeschäftslehre unterund diejenige soziologischer Modelle überschätzt hat.46) In den klassischen Problemfällen leistet auch die sozialwissenschaftliche Analyse bzw. 43)

44)

45)

46)

Köndgen hat sich gegen die Vorstellung einer „dritten Spur“ gewandt und die Selbstbindung ohne Vertrag als Kontinuum zwischen den Polen von Rechtsgeschäft und Delikt modelliert (Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 420). Später hat er sie als „QuasiVertrag“ bezeichnet und damit zwischen diesen Polen (wenn auch näher am Rechtsgeschäft) positioniert (siehe Köndgen, Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, 1999, S. 91). Zustimmend etwa M. Weber, Vormitgliedschaftliche Treuebindungen, 1999, S. 220; Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, S. 502 ff.; ablehnend u. a. Canaris, Schutzgesetze – Verkehrspflichten – Schutzpflichten, in: FS für Larenz II, 1983, S. 27, 93 f.; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 89 ff.; Schwarze, Vorvertragliche Verständigungspflichten, 2001, S. 193 f. Beachte aber die mit der Schuldrechtsmodernisierung positivierte Haftung des Verkäufers für Werbeaussagen (§ 434 Abs. 3 Satz 3 BGB), die durchaus verallgemeinerungsfähig ist, siehe Köndgen in: Schulze/Schulte-Nölke (Hrsg.), Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 231, 239 f.; Bachmann in: Bachmann/Casper/Schäfer/Veil (Hrsg.), Die Steuerungsfunktion des Haftungsrechts im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, 2008, S. 93, 105. Exemplarisch sei dazu vermerkt, dass soziologische Figuren wie Rolle, Markt, Risiko etc. auch in der traditionellen Rechtsgeschäftslehre aufscheinen, nämlich beim sog. Rechtsbindungswillen, dessen Vorliegen nicht subjektiv, sondern objektiv anhand eines „bunten Straußes“ (Medicus) von Indizien ermittelt wird.

Schadensersatz beim Bruch einer Haltevereinbarung (lock-up-agreement)

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Untermauerung meist nicht mehr als eine andere Umschreibung dessen, was der Jurist mit seinen Abgrenzungsformeln („berechtigtes Vertrauen“) zu „erfühlen“ versucht. Diese andere Umschreibung eröffnet den interdisziplinären Brückenschlag, was sie reizvoll, aber wegen ihrer nicht immer leicht zugänglichen Terminologie auch rezeptionsfeindlich macht.47) Hier ist nicht weiter darüber zu sinnieren, ob der Faden, den die soziologischen Zivilrechtslehren der siebziger Jahre haben fallen lassen, wieder mit Gewinn aufgegriffen werden könnte. Wohl aber ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Selbstbindungslehre, weitgehend unbemerkt, in institutionenökonomischem Gewand heute wieder Anhänger findet. So knüpft insbesondere Ackermann, versteckt im Untertitel seiner Habilitationsschrift zur Haftung auf das negative Interesse, explizit an die Selbstbindungslehre Köndgens an. Ausgehend von einer funktionalen Perspektive der Rechtsgeschäftslehre rücken er und andere die soziale Leistung des Vertragsrechts in den Vordergrund und erkennen diese darin, voraussetzungsvolles Handeln von Marktteilnehmern zu ermöglichen und dadurch wohlfahrtsfördernde Kooperation zu fördern.48) Kooperationsförderung ist auch die entscheidende Leistung, welche die rechtliche Sanktionierung von Selbstverpflichtungen erbringt: Wenn ich mich auf das Wort eines anderen – sei es rechtsgeschäftlicher, sei es anderer Natur – verlassen kann bzw. für mein enttäuschtes Vertrauen in das gegebene Wort wenigstens kompensiert werde, bin ich zu Investitionen bereit, die andernfalls wegen unrentabler Vorsorge- oder Transaktionskosten unterblieben. Akzeptiert man diesen Ausgangspunkt, ist die rechtliche Konsequenz beinahe zwingend: Wer mich durch sein Versprechen, gleich in welcher Gestalt, bewusst zu einer Investition veranlasst, hat prinzipiell dafür geradezustehen, wenn er mein Vertrauen enttäuscht und die Investition dadurch frustriert wird. Eine dergestalt funktionale Betrachtung des Rechtsgeschäfts erlaubt nicht nur, die vertragsähnliche Haftung trotz fehlgeschlagenen Vertragsschlusses plausibel zu erklären, sondern auch, andere Formen 47)

48)

Zitat: „Normative Erwartungen im Rahmen sozialer, dyadischer Interaktion, die zum akzeptierten moralischen Code zählen, informieren tendenziell auch den Pflichtenbestand der Vertragsethik“ (Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 117). Das mir zur Verfügung stehende Leseexemplar aus der FU-Bibliothek trägt daneben den – augenscheinlich von einem Kollegen stammenden – handschriftlichen Vermerk: „Chinesisch“. Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses – Zur Verknüpfung von Selbstbindung und Sanktion im Privatrecht, 2007, S. 110 ff.; ebenso Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 73 f., 83, 230, 249 ff. Siehe auch schon Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 13 („Ermutigung kooperativen Verhaltens“).

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der Selbstverpflichtung (wie z. B. private Normsetzung) in das geltende Zivilrecht zu integrieren.49) Die ethische Basis der klassischen Rechtsgeschäftslehre wird dabei nicht verlassen, sondern um eine wohlfahrtsökonomische ergänzt. Bei gleichem Ausgangspunkt bleiben die neueren Ansätze allerdings in zwei Punkten bewusst hinter der soziologischen Selbstbindungslehre zurück. Zum einen betonen sie den freiheitswahrenden Charakter des „altliberalen“ (Köndgen) Vertragsrechts, das mit seinem binären Code „Rechtsgeschäft ja/nein“ nicht jede soziale „Selbstbindung“ in Rechtsbindung übersetzt.50) Dadurch wird den Beteiligten die Freiheit gelassen, ihre Beziehungen außerhalb des (Vertrags-)Rechts zu ordnen und aus Enttäuschung zu lernen.51) Lernprozesse sind für den Enttäuschten schmerzhaft, können gesamtwirtschaftlich aber förderlich sein. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass Selbstbindung der rechtlichen Sanktionierung oftmals gar nicht bedarf, ja diese sich sogar störend auswirkt, weil und wenn selbststeuernde Mechanismen – wie insbesondere ein Reputationsverlust – ohne Zuhilfenahme des Rechts genügend Anreiz geben, ein gegebenes Wort zu halten oder für das nicht gehaltene einzustehen.52) Wenden wir uns mit diesen Einsichten dem Ausgangsproblem zu, so ist nunmehr zu untersuchen, ob das Halteversprechen einen Selbstbindungstatbestand darstellt, der deshalb haftungsrechtliche Sanktionen auslöst, weil andernfalls legitimes Erwarten der Anleger enttäuscht und ihre Investition frustriert würde. Mit dieser allgemeinen Umschreibung lässt sich das Problem freilich noch nicht bewältigen. Ebenso wie für die klassische Frage, ob eine Erklärung mit Rechtsbindungswillen abgegeben wurde und daher sanktionsträchtig ist, muss auch für die hier gestellte Frage nach der Haftungsträchtigkeit eines kapitalmarktrechtlichen Versprechens ein Kranz von Topoi bemüht werden, wie wir sie sowohl in den traditionellen juristischen Diskursen als auch in moderneren, sozialwissenschaftlich infor49) 50) 51)

52)

Ersteres ist das Anliegen der Habil.-Schrift von Ackermann, letzterem widmet sich meine eigene Habil.-Schrift (zu beiden siehe Fn. 48). Vgl. Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 247; Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 87. Auch Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 117, betont, dass es keinen „Automatismus“ zwischen sozialer und rechtlicher Bindung gibt, und bezeichnet den Transformationsprozess als „prekär“. Seine Schrift ist aber wohl doch als Plädoyer für eine eher unvermittelte Übersetzung sozialer in rechtliche Bindung zu lesen. Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 247 f.; Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 86 f. u. (vertieft) S. 220 ff.

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mierten Modellen finden. Wichtiger als die Frage, ob die zwischen Individualkontrakt („Halte Wort!“) und Delikt („Schädige niemanden!“) siedelnde Haftung für enttäuschtes Vertrauen vertraglicher oder doch eher deliktische Natur ist, ist das Auffinden, Benennen und gewichtende Ordnen derartiger Gesichtspunkte.53) Dass dabei die Grundwertungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, namentlich die besondere Begründungsbedürftigkeit der Haftung für bloß fahrlässig verursachte Vermögensschäden, nicht außer Acht gelassen werden dürfen, versteht sich. b) Halteversprechen als haftungsträchtige Selbstbindung? Der Grund, warum wir eine Haftung gegenüber Anlegern wegen gebrochenen Halteversprechens überhaupt in Betracht ziehen, liegt nicht in dem Versprechen, dessen Adressat allein die Bank ist und dass nach dem Willen der Parteien keinen Drittschutz vermittelt (siehe oben), sondern darin, dass das Versprechen durch den Prospekt publik gemacht wird und dadurch eine entsprechende Erwartung der Anleger schürt. Weil der Prospekt nicht falsch ist, scheidet eine Prospekthaftung zwar aus.54) Begreift man den Prospekt aber i. S. der Selbstbindungslehre als Qualitätsversprechen an die Öffentlichkeit,55) dann liegt es nicht fern, auch solche Prospektaussagen zum Haftungsgrund zu erheben, die kein Wissen (z. B. über Bilanzkennziffern), sondern ein Wollen zum Ausdruck bringen. Denn aus Sicht des Anlegers macht es keinen Unterschied, ob er durch Wissens- oder Willenserklärungen zum Vertragsschluss verleitet wurde, ja das Versprechen, etwas zu tun oder nicht zu tun, weckt im Zweifel höheres Vertrauen als die Aussage über irgendwelche Fakten, die immer fehleranfällig ist. So bindet denn auch die nicht ernst gemeinte oder versehentlich abgegebene Willenserklärung zwar nicht dauerhaft, liefert aber sehr wohl die Grundlage für einen (verschuldensunabhängigen!) Anspruch auf Ersatz des dadurch verursachten Vertrauensschadens (§§ 116, 122 BGB), während die Haftung für falsche Auskünfte im Grundsatz ausgeschlossen ist (§ 675 Abs. 2 BGB).

53)

54) 55)

In diesem Sinne auch Hirte, Berufshaftung, 1996, S. 412, 424; siehe auch Hopt, Nichtvertragliche Haftung außerhalb von Schadens- und Bereicherungsausgleich, AcP 183 (1983), 608, 705, 710 ff. Siehe oben bei Fn. 15. So Köndgen, Zur Theorie der Prospekthaftung, 1983, S. 18 ff. Für deliktische Einordnung dagegen Assmann, Prospekthaftung, 1985.

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Mit der Erkenntnis, dass ich für ein nicht eingehaltenes Versprechen auch dann haften kann, wenn seine Einhaltung rechtlich nicht erzwingbar ist, ist die Haftung der Altaktionäre noch nicht belegt. Ein nur scheinbar vordergründiges Problem stellt dabei die Suche nach der Anspruchsgrundlage dar, denn sowohl das Bürgerliche Gesetzbuch als auch die wirtschaftsrechtlichen Normen lassen den falsch Versprechenden nur punktuell haften, und § 311 Abs. 3 BGB zeigt, dass eine darüber hinausgehende, allein auf enttäuschtes Vertrauen gestützte Haftung besonders begründungsbedürftig ist. Gleich, wie man hier vorgeht, kommt man an dem Datum nicht vorbei, dass das deutsche Recht keineswegs alles, was versprochen wird, rechtlich sanktioniert, wie schon die – auch von der Selbstbindungslehre nicht in Frage gestellten – Lehrbuchbeispiele der Einladung zum Abendessen oder des missachteten Verhütungsversprechens zeigen. Ein erster, weithin anerkannter Topos, der hier eine Vorsortierung erlaubt, ist die Frage, ob das Versprechen am Markt abgegeben wurde, denn „am Markt wird nichts verschenkt“ und „marktbezogene Erklärungen werden per se ernstgenommen“.56) Diese Frage kann hier ohne Umschweife bejaht werden, ist der Kapitalmarkt doch nicht nur irgendein Markt, sondern gilt in der ökonomischen Theorie geradezu als (wenn auch fehleranfälliger) Markt schlechthin. Eine zweite, ebenfalls unbestrittene Vorsortierung hat danach zu erfolgen, ob es sich um ein ganz vages bzw. ersichtlich prahlerisches Versprechen handelt.57) Auch diese Frage ist hier klar zu beantworten, da das Halteversprechen einen eindeutigen und durchaus ernst gemeinten Inhalt hat. Was sodann die Person des Versprechenden betrifft, mögen wir es zwar nicht mit einem „Experten“ (i. S. der Gutachter- oder Berufshaftung) zu tun haben, doch geht es hier nicht um die Verlässlichkeit einer Auskunft, sondern um ein publik gemachtes Versprechen, für das es genügt, wenn der Versprechende ein „Profi“ ist, der weiß, was er tut. Zweifeln mag man daran, ob der Einsatz des öffentlichen Versprechens mit Absicht zu Werbezwecken erfolgt, weil die entsprechende Prospektangabe gesetzlich vorgeschrieben ist. Doch ob vorgeschrieben oder nicht, erfüllt der Prospekt mit all seinen Angaben jedenfalls auch eine Marketingfunktion, was den Beteiligten selbstverständlich bewusst ist. Schließ-

56) 57)

So treffend Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 276. Vgl. nur Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 512 f.; Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 302.

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lich werden auf Seiten des Vertrauenden durch das Halteversprechen schützenswerte Erwartungen geweckt, denn auch wenn das Halteversprechen nicht conditio sine qua non für den Erwerbsentschluss sein mag, wird die Kaufentscheidung dadurch jedenfalls mitmotiviert. Zumindest darf der Erwerber davon ausgehen, dass der Wert der erworbenen Anteile nicht durch den Bruch des lock-up-agreements verwässert und er dadurch geschädigt wird. An dieser Stelle wirkt sich allerdings erneut die oben beschriebene Unterscheidung in „harte“ und „weiche“ Haltevereinbarungen aus. Im Falle „weicher“, d. h. unter Dispensvorbehalt stehender lock-ups werden die Anleger dann nicht in ihrem Vertrauen enttäuscht, wenn – wie es geboten und auch gebräuchlich ist – die Dispensmöglichkeit im Prospekt korrekt wiedergegeben wird. Neuanlegern wird dann hinreichend deutlich vor Augen geführt, dass Anteilsveräußerungen möglich bleiben.58) Wurde ohne den vereinbarten Dispens veräußert, bleiben Altanleger nach dem Gedanken des rechtmäßigen Alternativverhaltens haftungsfrei, wenn die Bank den Dispens erteilt hätte. Weil die Bank in ihrem Ermessen zur Dispenserteilung grundsätzlich frei ist,59) können Anleger aber auch sonst nicht darauf vertrauen, dass die Bank den Dispens verweigert, so dass insgesamt keine legitime Erwartung auf Einhaltung des Versprochenen gebildet werden kann. Haftungsträchtig bleiben unter dem Gesichtspunkt einer quasi-vertraglichen Selbstbindung somit nur diejenigen Fälle, in denen die Prospektverlautbarung den Eindruck vermittelt, dass die Halteverpflichtung unter allen Umständen eingehalten oder nur in ganz exzeptionellen Fällen durchbrochen wird. Selbst in diesen Fällen fragt sich, ob das Vertrauen der Anleger so schützenswert ist, dass es eine quasi-vertragliche Haftung ohne gesetzliche Grundlage trägt. Hält man sich nochmals die Wertung von § 311 Abs. 3 BGB vor Augen, bestehen hieran einige Zweifel. Denn die Norm unterstreicht, was auch die neueren Selbstbindungslehren betonen: Das durch hartes, rechtsgeschäftliches Wort nicht gesicherte Vertrauen von Marktteilnehmern auf ein bestimmtes Verhalten anderer Marktteilnehmer kann und muss nicht mit rechtlichen Sanktionen versehen werden, wenn und soweit soziale Mechanismen dafür sorgen, dass ein Versprechen nicht leichtherzig gebrochen wird. Solche Mechanismen kommen auch auf dem 58) 59)

Zutreffend Fleischer, WM 2002, 2305, 2312. Siehe oben III 1.

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Kapitalmarkt zum Tragen, bei dem der Aufbau und Verlust von Reputation – ein wesentliches Element sozialer Selbstkontrolle – eine erhebliche Rolle spielt. Reputationserhaltung ist denn auch ein wesentliches Motiv für die Emissionsbank, sich überhaupt ein Halteversprechen geben zu lassen. Die Bank handelt dabei nicht unmittelbar im Fremdinteresse der Anleger, sondern im ureigenen Interesse, was maßgebend zur Verneinung des Drittschutzes der Haltevereinbarung beitrug, und was nun auch bei der Frage der haftungsrechtlich abzusichernden Legitimität der Anlegererwartung nicht unberücksichtigt bleiben darf. Solange Emissionsbanken nicht auf das (wiederholte) Geschäft mit einem dominierenden Altaktionär angewiesen sind und die Neu-Anleger ihrerseits als erfahrene „repeat player“ lern- und absorptionsfähig sind, besteht ökonomisch gesehen keine Notwendigkeit, das gebrochene Halteversprechen durch Schadensersatzansprüche Dritter zu sanktionieren. Die Banken haben es dann selbst in der Hand, das Halteversprechen zum Aufbau und Erhalt ihrer Reputation durchzusetzen, und die Anleger sollten wissen, dass sie der Abrede zwischen Bank und Altaktionär kein allzu großes Gewicht beimessen dürfen. Natürlich kann man daran zweifeln, dass all diese Bedingungen auf dem IPO-Markt real gegeben sind, denn Banken buhlen um Emissionen und sind daher – wie der praktisch offenbar übliche Verzicht auf Erzwingungsmechanismen (z. B. Vertragsstrafen) indiziert – möglicherweise bereit, den wortbrüchigen Altaktionär ungeschoren davonkommen zu lassen. Andererseits kann auch nicht unterstellt werden, dass Emissionshäuser ihrerseits so wenig Wettbewerb ausgesetzt sind, dass sie das Interesse potenzieller Abnehmer neuer Aktien ungestraft außer Acht lassen.60) Dieser offene Befund nötigt m. E. dazu, eine ungeschriebene Vertrauenshaftung auch auf Grundlage außervertraglicher Selbstbindungsmodelle eher zu verneinen. Rechtlich ist die Situation im Ergebnis also keine andere als bei dem von der Herstellerwerbung enttäuschten Käufer, der sich bei seinem Händler beschweren oder vom Kauf derartiger Produkte künftig Abstand nehmen kann, dem das Recht jedoch keinen direkten Zugriff auf den Produzenten selbst gestattet. In analoger Anwendung von § 434 Abs. 3 Satz 3 BGB (Werbung als Beschaffenheitsangabe) mag dem Anleger ein Schadenser-

60)

Die Banken befinden sich hier in einem „Rollenkonflikt“, ganz ähnlich wie der Gutachter, siehe dazu Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 374 ff.; Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses, S. 543.

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satzanspruch gegen die Bank zugestanden werden.61) Sie ist es ja auch, die sich das Vertrauen der Anleger zunutze macht, die in besonderer Weise auf das Kundeninteresse verpflichtet ist (§§ 31 ff. WpHG) und mit der die unmittelbare vertragliche Bindung besteht. Ein „Durchgriffsanspruch“ gegen den Alt-Aktionär ist dagegen erst dann in Betracht zu ziehen, wenn die Mechanismen, die die Bank dazu anhalten, von sich aus für eine Durchsetzung des Halteversprechens zu sorgen, völlig versagen. Weil diese – empirische – Frage nicht vom Richter beantwortet werden kann, spricht viel dafür, die Antwort dem Gesetzgeber zu überlassen (dazu unten, V 2). c) Wie man mit dem geschriebenen Recht doch zur Haftung gelangen kann Das gewonnene Ergebnis – keine Haftung aus (ungeschriebener) Selbstbindungs- oder Vertrauenshaftung – ist nicht zwingend. Man mag ihm entgegenhalten, dass mit der auf die Selbsthilfekräfte des Marktes abstellenden Argumentation auch der Prospekthaftung und der zwingenden Kapitalmarktpublizität die Legitimationsgrundlage entzogen wäre, wiewohl beide zum etablierten Standard entwickelter Kapitalmärkte gehören. Beide Institute fußen indes auf der zwar nicht unumstrittenen, aber doch theoretisch und empirisch einigermaßen gut belegten Einsicht, dass Marktunvollkommenheiten ein effizientes Maß an freiwilliger Kapitalmarktinformation hindern, sodass das Recht zu Hilfe kommen muss.62) Das Problem der Selbstbindungs- oder Vertrauenshaftung besteht demgegenüber darin, dass ein solches Marktversagen speziell für das Halteversprechen nicht dargetan und die Haftung auf ungeschriebener Grundlage daher mit Zweifeln behaftet ist. Wer dagegen verlangt, dass jedes dem Anleger gegebene Wort rechtlich sanktioniert sein sollte, weil nur so dauerhaft für ein generelles Zutrauen der Anleger in den Kapitalmarkt und damit für dessen Funktionsfähigkeit und Effizienz gesorgt ist, mag zwar gute Argumente auf seiner Seite haben. Er muss sich mit seinem Anliegen jedoch an den Gesetzgeber wenden (dazu unten, V 2). Alternativ bleibt die Möglichkeit, auf Grundlage des geschriebenen Rechts zu einer Haftung zu gelangen und so die Schranken 61)

62)

Dafür mit ausführlicher Begründung Bachmann in: Bachmann/Casper/Schäfer/Veil (Hrsg.), Die Steuerungsfunktion des Haftungsrechts im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, 2008, S. 93, 103 ff. Näher Fox, Retaining Mandatory Securities Disclosure: Why Issuer Choice is not Investor Empowerment, 85 Virgina L.R. (1999), 1335 ff.

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und Unwägbarkeiten einer auf Vertrauen und Selbstbindung setzenden Haftung zu umgehen. Hierzu bietet sich einmal ein ausdehnendes Verständnis der Prospekthaftung an, die ja nicht nur falsche, sondern auch unvollständige Aussagen „bestraft“. Als unvollständig kann man den Prospekt dann ansehen, wenn er ein Halteversprechen wiedergibt, aber nicht erläutert, dass sein Bruch praktisch ohne rechtliche Konsequenzen bleibt. Vorbildhaft kann man sich dazu auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs berufen, der die Wirkung eines Beherrschungsvertrags in einem Prospekt nicht richtig beschrieben fand.63) Zum zweiten ist die von der h. M. eilig verworfene Haftung für vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) noch einmal in Augenschein zu nehmen. Entgegen ihrer strengen äußeren Erscheinung und ihrer Vernachlässigung in der juristischen Lehre bietet diese durchaus beträchtliches Potenzial, auch und gerade im Bereich des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts.64) Wie oben schon gesagt, nimmt der sein Versprechen brechende Altaktionär die Schädigung der Neuanleger billigend in Kauf, sodass sich allein die Frage stellt, ob sein Verhalten als „sittenwidrig“ zu brandmarken ist. Entgegen den zurückhaltenden Stimmen im Schrifttum sollte sich, parallel zum Wettbewerbsrecht (vgl. § 3 UWG), hier die Einsicht durchsetzen, dass nicht erst besonders verwerfliches, sondern jedes gegen die Standards marktgerechten Verhaltens verstoßende Agieren dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zuwider streitet.65) Damit wird keineswegs die Haftung für alles und jedes postuliert, denn Handlungen unterhalb einer bestimmten Relevanzschwelle bleiben weiterhin allein sozial sanktioniert: Wer sich z. B. in der Käuferschlange vordrängelt und dadurch das letzte Schnäppchen ergattert, zieht sich den Unmut der anderen zu, bleibt vom Recht aber unbehelligt. Ist der Fall des gebrochenen Halteversprechens mit diesem Fall vergleichbar? Die richtige Antwort lautet „nein“, weil der Bruch des eigenen Wortes jedenfalls dann unanständig ist, wenn damit zuvor öffentlich geworben wurde. Durch die Hintertür des § 826 BGB kann sich „Selbstbindung ohne Vertrag“ also durchaus haftungsauslösend auswirken. Sie erweitert dann zwar nicht den Tat63) 64) 65)

Vgl. BGH, Urt. v. 18.9.2012 – XI ZR 344/11, NZG 2012, 1262 = ZIP 2012, 2199. Vgl. nur Kiethe, Die Renaissance des § 826 BGB im Gesellschaftsrecht, NZG 2005, 333 ff. Überzeugend Sester, Gläubiger- und Anlegerschutz bei evidenten Fairnessverstößen über eine deliktsrechtliche Haftung der handelnden Personen, ZGR 2006, 1, 30: „Gegenbegriff zum redlichen, verkehrsüblichen Verhalten“; gleichsinnig Bachmann in: Bachmann/Casper/Schäfer/Veil (Hrsg.), Die Steuerungsfunktion des Haftungsrechts im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, 2008, S. 132.

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bestand des Rechtsgeschäfts, hilft aber, die Enge des am Zufallskontakt orientierten Deliktsrechts systemimmanent zu überwinden. V. Empfehlungen für die Praxis 1. Haftungsvermeidung Für die Praxis ist die theoretische Frage, ob und wie man Selbstbindungsphänomene rechtswissenschaftlich einfangen kann, nicht von Interesse. Sie interessiert allein, ob der Altaktionär für den Bruch eines harten „lockup-agreements“ haftet. Wie gezeigt, ist eine solche Haftung entgegen der h. M. durchaus begründbar, sei es auf einer – hier im Ergebnis verneinten – quasi-vertraglichen Grundlage (Selbstbindung ohne Vertrag, Vertrauenshaftung), sei es i. R. von § 826 BGB. Gut vertretbar ist auch, die Emissionsbank analog § 434 Abs. 3 Satz 3 BGB für das Haltversprechen des Altaktionärs eintreten zu lassen oder die Prospekthaftung extensiv zu interpretieren. Emissionsbegleiter werden sich damit beruhigen, dass eine Haftung jedenfalls aus praktischen Gründen nicht realisiert werden wird, da der Schadensund Kausalitätsnachweis kaum zu führen ist.66) Weil man nicht weiß, ob die Rechtsprechung hier mit Beweiserleichterungen helfen wird, tut der an Haftungsvermeidung Interessierte gleichwohl gut daran, schon den Tatbestand einer Haftung für gebrochenes Halteversprechen nach Möglichkeit auszuschließen. Im Prospekt sollte daher vorsorglich darauf hingewiesen werden, dass das dort wiedergegebene lock-up-agreement auch in harter Form praktisch unverbindlich, da sanktionslos ist.67) In jedem Fall sollte angegeben werden, dass die Bank bei ihrer Freigabeentscheidung keiner Ermessensbindung unterliegt. Weiter könnte klargestellt werden, dass das Versprechen gegenüber der Emissionsbank keinen drittschützenden Charakter hat. Eine Haftung aus § 826 BGB kann so zwar nicht sicher vermieden werden, doch ist es weniger anstößig, ein Versprechen zu brechen, das von vornherein als nicht völlig verlässlich markiert worden ist. Am Ende bliebe dann nur eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB, falls man

66) 67)

Gegen einen (nachhaltigen) Schaden spricht, dass sich der Kurs nach gebrochenem Halteversprechen oftmals bald wieder beruhigt. In der Praxis wird das Fehlen von Sicherungen zur Einhaltung von Haltevereinbarungen nicht als prospektpflichtig angesehen, siehe Stoll, Der Konzern 2007, 561, 563 („beredtes Schweigen“).

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im Bruch des lock-up-agreements eine Marktmanipulation und im Verbot derselben ein Schutzgesetz sieht. Beides wurde hier zwar mit der bislang h. M. verneint, doch wurde auch auf Stimmen hingewiesen, die dazu einen anderen Standpunkt vertreten, und die sich möglicherweise durchsetzen werden.68) 2. Anlegerschutz durch BaFin und Gesetzgeber Aus Anlegerschutzsicht ist das Fehlen einer verlässlichen Sanktion für gebrochene Halteversprechen misslich.69) Die Frage ist aber, ob Anlegern mit Schadensersatzansprüchen – wie auch immer begründet – gedient ist. Statt sich im Nachhinein darüber zu streiten, ob überhaupt ein Schaden entstanden ist, wie dieser nachweisbar ist und wer ihn ggf. zu ersetzen hat, sollten präventive Mechanismen dafür sorgen, dass wenigstens die „harten“ Halteversprechen nicht nur auf dem Papier stehen. Da die Emissionsbanken, aus welchen Gründen auch immer, augenscheinlich nicht bereit sind, derartige Versprechen effektiv (z. B. mit Vertragsstrafen) zu sanktionieren, und da auch die Börsen offenbar keine Sanktionen verhängen können oder wollen, bleiben am Ende nur staatliche Instanzen, konkret: die BaFin. Gestützt auf allgemeine Ermächtigungsgrundlagen (§ 4a Abs. 1 WpHG) kann und muss sie versuchen, Altanleger, die nicht halten, was sie dem Markt versprochen haben, zur Räson zu bringen. Langfristig ist eine gesetzliche Sanktionierung der Haltevereinbarungen anzustreben.70) Eine Überregulierung kann man darin schon deshalb nicht erblicken, weil es weiterhin der freien Entscheidung von Altaktionär und Emissionsbank obliegt, eine Halteverpflichtung zu vereinbaren und diese hart oder weich auszugestalten.

68) 69)

70)

Siehe oben bei Fn. 17. So bereits Veil, ZGR 2005, 155, 158 ff., der sich für eine Abführung des aus dem vorzeitig vorgenommenen Geschäft erzielten Gewinns ausspricht. Sieht man den zentralen Zweck der Marktschutzvereinbarung in der Prävention des Insiderhandels (oben Fn. 6), ist das konsequent, denn die Gewinnabschöpfung ist hierfür die adäquate Sanktion, siehe näher Bachmann, Das Europäische Insiderhandelsverbot, 2015, S. 55 f. So – vor dem Hintergrund der Erfahrungen am Neuen Markt – auch schon Höhn, Ausgewählte Probleme bei Lock-up Agreements, 2004, S. 183 ff. (für Nichtigkeit bei vorzeitiger Veräußerung); für Gewinnabschöpfung Veil, ZGR 2005, 155, 198 und Schiffers, Haftung von Altaktionären bei Verstoß gegen Marktschutzvereinbarungen, 2006, S. 195 ff.

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VI. Zusammenfassung 1.

In der Emissionspraxis ist es üblich, dass abgebende Altaktionäre der Emissionsbank versprechen, für eine längere Frist nach der Emission keine Aktien aus ihren Beständen auf den Markt zu werfen (sog. lock-up-agreement). Dadurch soll der Kurs stabilisiert, der Erfolg der Emission gesichert und die Reputation der Bank gewahrt werden. Derartige Haltevereinbarungen bestehen mit und ohne Erlaubnisvorbehalt („weicher“ bzw. „harter“ lock-up). Die Frage nach rechtlichen Sanktionen stellt sich nur, wenn ohne vereinbarten und erteilten Dispens gegen eine Haltepflicht verstoßen wird.

2.

Die h. M. lehnt Schadensersatzansprüche von Neuanlegern, die durch den Bruch des Halteversprechens geschädigt wurden, ab. Namentlich seien diese nicht in den Schutzbereich des zwischen der Bank und den Altanlegern geschlossenen lock-up-agreements einbezogen. Jüngere Stimmen sehen im gebrochenen Halteversprechen eine verbotene Marktmanipulation (Art. 12 MAR), weil die Anleger davon ausgingen, dass sich der Kurs ohne Beeinflussung durch derartige Geschäfte bildet. Da dieses Verbot aber keinen Schutzgesetzcharakter trägt, führt auch dieser Weg, so man ihm überhaupt folgt, nicht zu einem Ersatzanspruch.

3.

Hier wurde untersucht, ob sich ein Schadensersatzanspruch daraus ergibt, dass durch den Bruch des Halteversprechens das berechtigte Vertrauen der Neuanleger auf Einhaltung desselben enttäuscht wird. Dazu wurde die vom Jubilar entwickelte Überlegung dienstbar gemacht, ein öffentliches Marktversprechen als haftungsrechtlich sanktionierte Selbstbindung zu begreifen. Die Überlegung stützt sich auf die im jüngeren Schrifttum mit institutionenökonomischer Argumentation wiederbelebte Einsicht, dass derjenige, der durch ein Qualitätsversprechen am Markt Vertrauen einkauft, dafür auch bezahlen muss – dies auch dann, wenn sich das Versprechen nicht in das Korsett einer Willenserklärung pressen lässt.

4.

Obwohl das im Prospekt öffentlich gemachte lock-up-agreement die Voraussetzungen eines Selbstbindungstatbestandes erfüllt, dürfte eine quasi-vertragliche Haftung dennoch ausscheiden. Denn das erteilte Versprechen ist zwar publik gemacht, richtet sich aber allein an die Bank, was den Anlegern bekannt ist. Nach der Wertung des § 328 BGB obliegt es grundsätzlich der Bank, ob sie Dritte an der Gunst

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des ihr erteilten Versprechens teilhaben lassen will. Das gebrochene Wort bleibt dadurch nicht ungesühnt, weil es – einen wettbewerbsoffenen Emissionsmarkt unterstellt – soziale Sanktionen in Gestalt von Reputationseinbußen auslöst. 5.

Korrigieren lässt sich dieses Ergebnis mit § 826 BGB, wenn man die Missachtung der Spielregeln marktgerechten Verhaltens per se als sittenwidrig i. S. der Norm brandmarkt. Zu diesen Spielregeln gehört es, dem Anleger nicht öffentlich etwas zu versprechen, was hinterher nicht gehalten wird. Die Selbstbindung durch öffentliches Versprechen zeitigt so mittelbar – nämlich durch Prägung dessen, was dem Anstandsgefühl widerspricht – rechtliche Wirkung.

6.

Letztlich fragt sich, ob Anlegern mit Schadensersatzansprüchen wegen missachteter Halteversprechen gedient ist. Praktisch dürften diese am Nachweis von Kausalität und Schaden sowie, mangels effektiver Kollektivrechtsbehelfe, am dadurch bedingten Prozessrisiko scheitern. Soweit die Selbststeuerungskräfte des Kapitalmarkts nicht ausreichen, um für Disziplin bei abgebenden Altaktionären zu sorgen, muss die Einhaltung von lock-up-agreements von der BaFin durchgesetzt werden. Längerfristig ist eine gesetzliche Lösung der Problematik wünschenswert.

Kündigung von Unternehmensanleihen THEODOR BAUMS Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Kündbarkeit einzelner Teilschuldverschreibungen III. Kein Ausschluss gesetzlicher Kündigungsrechte durch das Schuldverschreibungsgesetz IV. Kein genereller Ersatz des Kündigungsrechts durch Möglichkeit der Veräußerung V. Ausschluss des Kündigungsrechts wegen bewusster Risikoübernahme? VI. Zwischenbilanz VII. Kündigung entsprechend § 490 Abs. 1 BGB VIII. Kündigung gemäß § 314 BGB 1. Bestehen eines Dauerschuldverhältnisses 2. Kündigung als Sanktion für wesentliche Leistungsstörungen

3. Kündigung wegen Unzumutbarkeit aus sonstigen Gründen 4. Verhältnis zu § 490 Abs. 1 BGB IX. Einschränkungen des Einzelkündigungsrechts 1. Ermächtigung eines gemeinsamen Vertreters 2. Ausschluss und Modifikation von Kündigungsrechten in den Anleihebedingungen a) § 490 Abs. 1 BGB b) § 314 BGB 3. Einzelfallbeschlüsse gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG und nachträgliche Änderung von Anleihebedingungen 4. „Kollektivierung“ von Kündigungsrechten gemäß § 5 Abs. 5 SchVG

I. Einleitung Anleihen werden in der Regel in zahlreiche Teilschuldverschreibungen aufgespalten und diese an verschiedene Investoren verkauft. Dies begründet, der Zahl der umlaufenden Teilschuldverschreibungen entsprechend, jeweils unterschiedliche Schuldverhältnisse zwischen dem Emittenten und dem jeweiligen Investor. Hält ein Investor mehrere Teilschuldverschreibungen, so entstehen dementsprechend mehrere rechtlich voneinander zu unterscheidende Schuldverhältnisse mit gleichem Inhalt.1) Diese können jeweils ein unterschiedliches rechtliches Schicksal haben, z. B. getrennt voneinander übertragen werden. Sie können auch, von atypischen Gestaltungen abgesehen, je einzeln vom Gläubiger gekündigt werden, wenn die Anleihebedin1)

Näher dazu m. w. N. Horn, Die Stellung der Anleihegläubiger nach neuem Schuldverschreibungsgesetz und allgemeinem Privatrecht im Licht aktueller Marktentwicklungen, ZHR 173 (2009), 12, 46 ff.

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gungen insoweit keine Vorkehrungen treffen. Die folgenden Bemerkungen dazu befassen sich zunächst mit der umstrittenen Frage, ob auch eine Kündigung aus wichtigem Grund seitens eines Gläubigers gemäß §§ 490 Abs. 1, 314 BGB in Betracht kommt (im Folgenden II bis VIII). Die Kündigung einzelner Teilschuldverschreibungen kann nachteilige Auswirkungen sowohl für den Emittenten wie für die übrigen Gläubiger haben. Anleihebedingungen können daher hinsichtlich der Ausübung des Kündigungsrechts eine „kollektive Bindung“ der Teilschuldverschreibungen vorsehen. Sie können insbesondere festlegen, dass eine Einzelkündigung ausgeschlossen sein, und eine Kündigung nur möglich sein soll, sofern ein bestimmtes Quorum von Teilschuldverschreibungsgläubigern sich dem anschließt, und weitere Einschränkungen vorsehen. Darauf ist zum Schluss einzugehen (unten IX). II. Kündbarkeit einzelner Teilschuldverschreibungen Vorab ist festzuhalten, dass einzelne Teilschuldverschreibungen nach allgemeiner Auffassung kündbar sind, wenn die Anleihebedingungen dies vorsehen.2) Tatsächlich bestimmen Anleihen nach deutschem Recht häufig, dass bei Vorliegen eines wichtigen Grundes, der in einem Katalog spezifiziert sein mag, jeder Gläubiger die von ihm gehaltenen Schuldverschreibungen kündigen kann.3) Die Einzelkündigung führt die Fälligkeit der jeweils gekündigten Teilschuldverschreibung, nicht die der gesamten Anleihe herbei. Bei diesem Recht zur Kündigung handelt es sich um ein Hilfsrecht, das mit der Übertragung der Teilschuldverschreibung entfällt. Ob es in der Person des Erwerbers neu entsteht, ist eine andere Frage.4) Von der Kündbarkeit einzelner Teilschuldverschreibungen geht auch das Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) aus. Zwar schließen das Prinzip der

2)

3)

4)

Eine Besonderheit gilt insoweit für die gedeckten Schuldverschreibungen i. S. des Pfandbriefgesetzes. Nach § 6 Abs. 2 PfandBG darf den Pfandbriefgläubigern kein Kündigungsrecht eingeräumt werden. Pfandbriefe unterfallen nicht dem Schuldverschreibungsgesetz (§ 1 Abs. 2 SchVG) und werden im Folgenden nicht behandelt. Bliesener/H. Schneider, Gesetz über Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen (Schuldverschreibungsgesetz – SchVG), in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, BankrechtsKommentar, 2013, 17. Kap., S. 1129 Rz. 64; Auflistung typischer Kündigungsgründe bei Hartwig-Jacob, Das Schuldverschreibungsgesetz (SchVG), in: Ekkenga/Schröer, Hdb. AG-Finanzierung, 2014, Kap. 12, Rz. 353 f. Vgl. zum Schicksal „unselbständiger Gestaltungsrechte“ bei der Abtretung von Forderungen Grüneberg in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 401 Rz. 4.

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kollektiven Bindung und das Gleichbehandlungsgebot (§ 4 SchVG) eine inhaltlich unterschiedliche Ausgestaltung von Teilschuldverschreibungen aus einer Gesamtemission aus. Das gilt aber nicht für das Fälligstellen einzelner Teilschuldverschreibungen durch Kündigung. Das Schuldverschreibungsgesetz sieht nicht vor, dass die Teilschuldverschreibungen einer Emission nur gemeinsam, durch Gesamtkündigung der Anleihe, fällig gestellt werden können, um einen liquiden Markt für alle aufrechtzuerhalten, ein Windhundrennen der Teilschuldverschreibungsgläubiger auszuschließen oder aus anderen Gründen. Die Kündigung einer großen Anzahl, aber nicht aller Teilschuldschuldverschreibungen aus einer Emission engt zwar den Markt für die nicht gekündigten Teilschuldverschreibungen ein und kann die Effizienz der Preisbildung hierfür beeinflussen. Auf der anderen Seite lässt aber das Schuldverschreibungsgesetz selbst erkennen, dass das Prinzip der Gleichartigkeit der ausgegebenen Teilschuldverschreibungen nicht bedeutet, dass die ausgegebenen Teilschuldverschreibungen nur alle gleichzeitig abgelöst werden können. So kann der Emittent selbst einzelne Teilschuldverschreibungen zurückerwerben und so dem Markt entziehen (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 SchVG). Auch § 5 Abs. 5 SchVG belegt, dass Kündigungen gesondert erfolgen können, so dass sich insofern ein unterschiedliches rechtliches Schicksal der gekündigten und der fortbestehenden Teilschuldverschreibungen ergibt.5)

Ferner geht auch § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG davon aus, dass jedem Inhaber einer Teilschuldverschreibung ein Kündigungsrecht zusteht, das durch nachträglichen Mehrheitsbeschluss ausgeschlossen oder beschränkt werden kann. Es bleibt demnach den Beteiligten überlassen, ob sie die mit einer Einzelkündigung verbundenen Nachteile hinnehmen wollen oder nicht.6) Damit liegt es bei ihnen zu entscheiden, ob Einzelkündigungen im Interesse einer geordneten Sanierung des Emittenten beschränkt oder ausgeschlossen werden. Auch aus dem Wesen der Anleihe ist nicht abzuleiten, dass eine Einzelkündigung ausgeschlossen ist, wenn die Anleihebedingungen nicht ausdrücklich etwas Abweichendes bestimmen. Die Möglichkeit einer Kündigung ist schon deshalb unverzichtbar, weil bei der Abwicklung des 5)

6)

In der Literatur ist allerdings umstritten, ob auch eine Kollektivkündigung gemäß § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG Kündigungswirkung nur für die Schuldverschreibungen derjenigen Gläubiger hat, die sich an der Kündigungserklärung beteiligt haben (dafür etwa Schmidtbleicher, Das Schuldverschreibungsgesetz (SchVG), in: Ekkenga/Schröer, Hdb. AG-Finanzierung, 2014, Kap. 12, S. 1097 f. m. N. unter Berufung auf BT-Drucks. 16/ 12814, S. 19 li. Sp.). Vertreten wird unter Berufung auf die internationale Anleihepraxis auch, dass einer solchen Kollektivkündigung Kündigungswirkung für alle Teilschuldverschreibungen zukomme (in diesem Sinne Bliesener/H. Schneider in: Langenbucher/ Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2013, 17. Kap., S. 1127 ff.). Zu den Nachteilen der Kündigung einzelner Teilschuldverschreibungen und zu Vorkehrungen dagegen unten IX.

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Pflichtenprogramms Leistungsstörungen, z. B. Verzug mit mehrfachen Zinszahlungen, auftreten können, die ein Fälligstellen der Schuldverschreibungen erfordern. In Betracht käme daher allenfalls, in einem solchen Fall ein Gesamtkündigungsrecht aller Gläubiger hinsichtlich der Gesamtemission anzunehmen, sofern die Anleihebedingungen kein Einzelkündigungsrecht vorsehen. Praktisch führt die Annahme eines Gesamtkündigungsrechts aller Gläubiger aber nicht weiter, weil ein solches Kündigungsrecht wegen der damit verbundenen Koordinations- und Kollektivhandlungsprobleme in der Regel nicht ausgeübt werden könnte. Diese Annahme widerspräche auch der zwingenden (§ 5 Abs. 1 Satz 2 SchVG) Bestimmung des § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG. Dieser Norm liegt nicht die Vorstellung zugrunde, dass der Regelfall ein Gesamtkündigungsrecht aller Gläubiger einer Gesamtemission, und ein Einzelkündigungsrecht der in den Anleihebedingungen festzulegende Ausnahmefall ist. Sondern die Vorschrift geht von dem Fall aus, dass die Anleihebedingungen ein Einzelkündigungsrecht ausschließen und bestimmen, dass die Kündigung von ausstehenden Schuldverschreibungen „nur von mehreren und einheitlich“ erklärt werden kann. In diesem Fall darf der für die Kündigung erforderliche Mindestanteil der ausstehenden Schuldverschreibungen nicht mehr als 25 % betragen. Damit ist die Annahme, dass grundsätzlich, ohne abweichende Regelung in den Anleihebedingungen, nur alle Gläubiger gemeinschaftlich die Kündigung der ausstehenden Schuldverschreibungen erklären könnten, unvereinbar. Auch ein Rückgriff auf die Bestimmung des § 351 Satz 1 BGB scheidet aus, wie angefügt werden mag. Nach dieser Vorschrift kann ein Rücktrittsrecht nur von allen und gegen alle ausgeübt werden, wenn bei einem Vertrag auf der einen oder der anderen Seite mehrere beteiligt sind. Ungeachtet der Frage, ob diese Norm auch auf die Ausübung des Kündigungsrechts anzuwenden ist,7) scheidet ein Rückgriff hierauf dann aus, wenn mehreren Personen jeweils ein selbständiger (Teil-)Anspruch gegen einen Dritten zusteht, und es nur um die Aufhebung oder das Fälligstellen dieses Teilanspruchs geht.8)

III. Kein Ausschluss gesetzlicher Kündigungsrechte durch das Schuldverschreibungsgesetz In der Rechtsprechung der Instanzgerichte und der Literatur zum Schuldverschreibungsgesetz ist umstritten, ob eine Kündigung auch auf gesetz7) 8)

Verneint von RG, Urt. v. 19.6.1917 – III. 25/17, RGZ 90, 328, 330. RG, Urt. v. 12.6.1936 – V 285/35, RGZ 151, 304, 311.

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lich normierte Kündigungsrechte (§§ 490 Abs. 1, 314 BGB) gestützt werden kann.9) Aus dem Schuldverschreibungsgesetz selbst ergibt sich kein Hinweis darauf, dass ein Rückgriff auf gesetzliche Kündigungsrechte, insbesondere gemäß § 314 BGB, ausgeschlossen sein soll. § 5 Abs. 5 SchVG (vgl. auch § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG) befasst sich nur mit der Frage, ob ein Kündigungsrecht, wenn es besteht, von einzelnen Teilschuldverschreibungsgläubigern oder nur von mehreren und einheitlich ausgeübt werden kann. Diese Bestimmung lässt offen, ob sie sich nur auf ein in den Anleihebedingungen festgelegtes Kündigungsrecht oder auch auf gesetzliche Kündigungsrechte bezieht. Jedenfalls ist das Schuldverschreibungsgesetz aber nicht als abschließende gesetzliche Sonderregelung konzipiert, die einen Rückgriff auf das Leistungsstörungsrecht des Schuldrechts ausschließen würde. Auch das Skripturerfordernis des § 2 Satz 1 SchVG steht der Anwendung der §§ 490 Abs. 1, 314 BGB nicht entgegen. Nach dieser gesetzlichen Vorgabe müssen sich zwar die Rechte und Pflichten des Schuldners und der Gläubiger (die Anleihebedingungen) aus der Schuldverschreibungsurkunde ergeben. Das Skripturerfordernis dient der Fungibilität der Schuldverschreibungen und dem Schutz der Teilschuldverschreibungsgläubiger. Es stellt aber nur ein Transparenzerfordernis auf, reicht dagegen nicht soweit, die Geltung selbst zwingender gesetzlicher Bestimmungen zu beschränken oder auszuschließen, welche die Rechte und Pflichten der Beteiligten ausgestalten.10) Ob solche Rechte und Pflichten der Beteiligten, die sich aus zwingenden oder auch aus nicht abbedungenen dispositiven gesetzlichen Vorschriften ergeben, zwecks Information des (internationalen) Anlegerpublikums in die Anleihebedingungen aufgenommen werden müssen oder aufgenommen werden sollten, ist eine andere, hier nicht zu erörternde Frage. IV. Kein genereller Ersatz des Kündigungsrechts durch Möglichkeit der Veräußerung Nach dem Vorstehenden ist weder eine Kündbarkeit einzelner Teilschuldverschreibungen grundsätzlich ausgeschlossen, noch versperrt das Schuld9) 10)

Nachweise siehe im Folgenden. § 314 BGB ist „in seinem Kern“ zwingend; Grüneberg in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 314 Rz. 3; zur Abdingbarkeit des § 490 Abs. 1 BGB Weidenkaff, Palandt, BGB, 74 Aufl. 2015, § 490 Rz. 1; siehe dazu auch noch unten IX 2.

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verschreibungsgesetz den Rückgriff auf die Kündigungsrechte gemäß §§ 490 Abs. 1, 314 BGB. Ein allgemeiner Einwand gegen die Anwendbarkeit dieser Normen lautet aber, dass ein Rückgriff hierauf nicht erforderlich sei, weil der Investor seine Schuldverschreibung, die er am Markt erworben habe, auch wieder veräußern könne.11) Dem ist entgegenzuhalten, dass ein informierter Erwerber der Schuldverschreibung in relevanten Fällen einen entsprechenden Preisabschlag fordern würde, so dass der Verkauf der Schuldverschreibung für den Veräußerer zu einem Nachteil für ihn führen müsste, sofern die Anleihebedingungen nicht in anderer Weise hiergegen Vorkehrungen treffen. Der Umstand, dass der Investor seine Teilschuldverschreibungen veräußern kann, stellt daher jedenfalls keine gleichwertige Alternative zur Kündigung dar. Angenommen sei, dass ein Emittent mit ausgezeichneter Bonität eine Anleihe aufgelegt hat, ohne hierfür Sicherheiten zu stellen. In der Folge tritt in den Ertrags- und Vermögensverhältnissen des Emittenten eine wesentliche Verschlechterung ein, so dass auch das Rating herabgesetzt wird. In aller Regel werden die Anleihebedingungen in einem solchen Fall ein Recht auf Nachbesicherung oder, wenn eine Nachbesicherung nicht erfolgt, ein Kündigungsrecht vorsehen. Gewähren die Anleihebedingungen solche Rechte dagegen nicht, und will der Investor im Hinblick auf die gestiegene Ausfallwahrscheinlichkeit seine Schuldverschreibung veräußern, wird ein Erwerber bei gleichbleibendem Zins wegen der gestiegenen Ausfallwahrscheinlichkeit einen Abschlag vom Kaufpreis fordern; der Kurs der Schuldverschreibungen sinkt.12) § 490 Abs. 1 BGB räumt für den Fall eines von den Vertragsparteien eines Darlehensvertrages nicht vorhergesehenen wesentlichen Anstiegs der Ausfallwahrscheinlichkeit dem Darlehensgeber ein außerordentliches Kündigungsrecht ein, sofern dessen berechtigter Erwartung, der Darlehensschuldner werde seinen Zahlungspflichten nachkommen, nicht auf andere Weise, insbesondere durch Nachbesicherung, Rechnung getragen wird. Diese Norm ist wegen der identischen Interessenlage der Parteien im Anleiherecht entsprechend anwendbar, kann freilich in den Anleihebedingungen abbedungen werden.13)

11)

12)

13)

Maier-Reimer, Rechtsfragen der Restrukturierung, insbesondere der Ersetzung des Schuldners, in: Baums/Cahn (Hrsg.), Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 136; Trautrims, Anm. zu LG Köln, Urt. v. 26.1.2012 – 30 O 63/11 (BB 2012, 1821), BB 2012, 1823 f.; Bliesener/H. Schneider in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, BankrechtsKommentar, 2013, 17. Kap., S. 1132 Rz. 86. Hartwig-Jacob in: Friedl/Hartwig-Jacob, FK-SchVG, 2013, § 5 Rz. 120 m. w. N. Das widerspricht nicht der Hypothese, dass ein informationseffizienter Kapitalmarkt von vorneherein erkennen würde, dass die Anleihebedingungen bei einer Herabstufung des Rating keinen Anpassungsmechanismus vorsehen. Diese Hypothese besagt nicht, dass der tatsächliche Eintritt des negativen Ereignisses von vorneherein in den Kurs der Schuldverschreibung „eingepreist“ ist. Zur Debatte um die Informationseffizienz von Kapitalmärkten etwa Brealey/Myers/Allen, Principles of Corporate Finance, 10. Aufl. 2011, S. 340 ff. Dazu noch unten VII.

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Der Nachteil eines Absinkens des Erwartungswerts der Teilschuldverschreibungen wegen eines wesentlichen Anstiegs der Ausfallwahrscheinlichkeit ist von den Teilschuldverschreibungsgläubigern nur hinzunehmen, wenn der Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeit bei Emission der Anleihe erkennbar antizipiert und entweder eine Regelung getroffen worden ist, die den berechtigten Erwartungen der Investoren auf ordnungsgemäße Vertragserfüllung in anderer Weise Rechnung trägt (z. B. soll sich bei Ratingverschlechterung der Anleihezins erhöhen, oder es sind Sicherheiten zu bestellen), oder eine Einzelkündigung wegen wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten (§ 490 Abs. 1 BGB analog) ausgeschlossen worden ist. Letzteres muss aber ausdrücklich geschehen; zumindest muss für den verständigen Anleger (§ 3 SchVG) erkennbar sein, dass ihm bei Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten kein Einzelkündigungsrecht zustehen soll.14) Die Einführung der Schuldverschreibungen an der Börse soll für die Investoren die Möglichkeit zur jederzeitigen Veräußerung zu einem fairen Preis schaffen und daher gewiss die ordentliche Kündigung ersetzen. Einen Ersatz für die Kündigung wegen Vermögensverfalls des Emittenten oder wesentlicher Leistungsstörungen stellt die Veräußerbarkeit an der Börse dagegen nicht dar. V. Ausschluss des Kündigungsrechts wegen bewusster Risikoübernahme? Nun könnte man einwenden, dass der denkbare Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeit immer ein von den Vertragsparteien einer Anleiheemission bedachter Umstand sei, der jedenfalls durch die Höhe des Anleihezinses reflektiert und kompensiert werde, wenn Kündigungsrechte oder andere Vorkehrungen zugunsten der Investoren für diesen Fall nicht vorgesehen sind. Dieser Einwand stößt aber auf verschiedene Bedenken. Schon für den individuell ausgehandelten Darlehensvertrag ist festzuhalten, dass die Kündigungsregeln der §§ 490 Abs. 1, 314 BGB per se gelten, wenn sie nicht, soweit zulässig, abbedungen oder modifiziert sind.15) Dies kann durch eine ausdrückliche Klarstellung oder durch eine Vereinbarung geschehen, aus der sich im Wege der Auslegung ergibt, dass damit das gesetzliche Kündigungsrecht ausgeschlossen oder in bestimmter Weise modifiziert sein 14) 15)

Dazu näher unten IX 2 a. § 490 Abs. 1 BGB ist abdingbar. Das Kündigungsrecht gemäß § 314 BGB kann zwar im Einzelnen ausgestaltet werden, ist dagegen in seinem Kern zwingend; siehe oben Fn. 10 und unten IX 2 b.

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soll. Es kann aber nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Parteien die Geltung des Kündigungsrechts gemäß § 490 Abs. 1 BGB nicht gewollt haben, weil der Darlehensgeber bereits durch den Darlehenszins für den Anstieg des Ausfallrisikos hinreichend kompensiert werde, und eine Kündigung die vertraglich festgelegte Risikoverteilung im Nachhinein in Frage stellen würde. Für die Anleihe, deren Bedingungen nicht zwischen dem Emittenten und den späteren Investoren ausgehandelt werden, muss dies erst recht gelten.16) Hier kann gleichfalls nicht einfach unterstellt werden, dass die am Aushandeln der Anleihebedingungen Beteiligten durch den gewählten Anleihezins auch einen wesentlichen späteren Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeit erfassen und abgelten und dadurch die Anwendbarkeit des § 490 Abs. 1 BGB ausschließen wollen. Wenn dies aber gewollt ist, müssen die Anleger jedenfalls in transparenter Weise (vgl. § 3 SchVG) darauf hingewiesen werden, dass ein Einzelkündigungsrecht bei krisenhafter Entwicklung des Schuldnerunternehmens ausgeschlossen sein soll. Hinzu kommt Folgendes: Bisher haben unsere Ausführungen nur den Fall des § 490 Abs. 1 BGB in den Blick genommen. § 314 Abs. 1 BGB gewährt ein Kündigungsrecht sowohl, wenn bei der Abwicklung wesentliche, von den Vertragsparteien antizipierbare Vertragsverletzungen vorkommen, als auch aus sämtlichen sonstigen Gründen, die eine Durchführung des Dauerschuldverhältnisses für eine hieran beteiligte Partei unzumutbar machen.17) Dieses Kündigungsrecht bei Dauerschuldverhältnissen ist dem Umstand geschuldet, dass bei auf eine längere Zeitdauer berechneten Verträgen Umstände eintreten können, die die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses für die Zukunft unzumutbar machen. Hierzu rechnen nicht nur wesentliche Leistungsstörungen. Sondern das soll auch dann gelten, wenn keine der Parteien bei Vertragsschluss den Eintritt solcher Umstände voraussehen oder vermeiden konnte. Für diese Fälle kann gleichfalls nicht einfach unterstellt werden, dass die am Aushandeln der Anleihebedingungen Beteiligten auch den Eintritt sämtlicher auch unvorhersehbarer Umstände erfassen und durch den Anleihe-

16)

17)

Allgemein zu den Mechanismen und der Wirkung der Marktkontrolle beim Aushandeln von Anleihebedingungen von Randow, Die Inhaltskontrolle von Emissionsbedingungen: Abschied vom AGB-Recht, in: Baums/Cahn (Hrsg.), Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 25, 55 ff. Näher dazu unten VIII 2, 3.

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zins abgelten wollen, welche die weitere Durchführung der Schuldverhältnisse unzumutbar machen würden, so dass in keinem Fall für eine Kündigung aus wichtigem Grund Platz wäre. Abgesehen davon ist zu beachten, dass selbst eine ausdrückliche Klausel der Anleihebedingungen in diesem Sinne sich nicht mit der im Kern zwingenden Regelung des § 314 BGB in Widerspruch setzen darf.18) VI. Zwischenbilanz Demnach kann folgende Zwischenbilanz gezogen werden: 1.

Teilschuldverschreibungen können grundsätzlich einzeln gekündigt werden, wenn die Anleihebedingungen dies vorsehen. Das Schuldverschreibungsgesetz steht dem nicht entgegen. Die Annahme, dass grundsätzlich, ohne abweichende Regelung in den Anleihebedingungen, nur alle Gläubiger gemeinschaftlich die Kündigung der ausstehenden Schuldverschreibungen erklären könnten, ist mit der zwingenden Regelung des § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG unvereinbar (oben II).

2.

Das Schuldverschreibungsgesetz versperrt nicht den Rückgriff auf die gesetzlichen Kündigungsrechte gemäß §§ 490 Abs. 1, 314 BGB (oben III).

3.

Das Recht zur Kündigung gemäß §§ 490 Abs. 1, 314 BGB erübrigt sich nicht deshalb, weil der Gläubiger seine Teilschuldverschreibung veräußern kann (oben IV).

4.

Im Darlehensrecht gelten die Kündigungsregeln der §§ 490 Abs. 1, 314 BGB per se, wenn sie nicht, soweit zulässig, abbedungen oder modifiziert sind. Wenn die Parteien von den §§ 490 Abs. 1, 314 BGB abweichen wollen, muss entweder eine ausdrückliche Klarstellung erfolgen oder (soweit zulässig) eine Vereinbarung getroffen sein, deren Auslegung ergibt, dass damit das gesetzliche Kündigungsrecht ausgeschlossen oder in bestimmter Weise modifiziert sein soll. Auch für das Anleiherecht kann nicht einfach und ohne Anhaltspunkte hierfür in den Anleihebedingungen unterstellt werden, dass die am Aushandeln der Anleihebedingungen Beteiligten einen wesentlichen späteren Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeit oder gar den Eintritt aller Umstände, welche die weitere Durchführung der Schuldverhält-

18)

Siehe zu zulässigen Modifikationen des § 314 BGB in Anleihebedingungen unten IX 2 b.

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nisse unzumutbar machen würden, erfassen, durch den vereinbarten Anleihezins abgelten und dadurch eine Kündigung aus wichtigem Grund erübrigen wollten. Ist dies aber gewollt, müssen die Anleger jedenfalls in transparenter Weise darauf hingewiesen werden. Ferner darf sich eine solche Klausel nicht ihrerseits mit der im Kern zwingenden Regelung des § 314 BGB in Widerspruch setzen (oben V). Nach diesen Vorüberlegungen ist nun auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 490 Abs. 1, 314 BGB im Einzelnen und auf die Fragen einzugehen, die sich bei der Anwendung dieser Normen im Anleiherecht stellen. VII. Kündigung entsprechend § 490 Abs. 1 BGB § 490 Abs. 1 BGB räumt dem Darlehensgeber ein Lösungsrecht für den Fall ein, dass sich im Nachhinein ein wesentliches Ausfallrisiko entwickelt, es sei denn, dass die Parteien bei Vertragsschluss eine Kündigung aus diesem Grund ausgeschlossen haben. Die Frage ist, ob auch der einzelne Teilschuldverschreibungsgläubiger hierauf eine Kündigung seiner Teilschuldverschreibung stützen kann, wenn die Anleihebedingungen keine zulässige abweichende Bestimmung treffen.19) § 490 BGB setzt ein „Darlehensverhältnis“ voraus. Zwischen dem Rechtsverhältnis aus einer Teilschuldverschreibung und dem Darlehensverhältnis besteht zunächst ein Unterschied im Entstehungsgrund: Bei der Begründung des in der Schuldverschreibung verbrieften Schuldverhältnisses handelt es sich nach überzeugender h. M. nicht um einen Darlehensvertrag,

19)

Offengelassen in OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.9.2014 – 4 U 97/14, ZIP 2014, 2176, 2178 re. Sp. In mehreren Entscheidungen wird ein Kündigungsrecht wegen wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten nicht auf die (dispositive) Bestimmung des § 490 Abs. 1 BGB, sondern auf die (im Kern zwingende) Vorschrift des § 314 BGB gestützt (OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.9.2014 – 4 U 97/14, ZIP 2014, 2176, 2177 f.; LG Köln, Urt. v. 26.1.2012 – 30 O 63/11, BB 2012, 1821, 1822 f. m. abl. Anm. Trautrims, BB 2012, 1823 f.; LG Bonn, Urt. v. 25.3.2014 – 10 O 299/13, ZIP 2014, 1073, 1074 f.). Zum Verhältnis der §§ 490 Abs. 1, 314 BGB zueinander siehe aber Text unten zu Fn. 23, 24. – Gegen eine analoge Anwendung des § 490 Abs. 1 BGB im Anleiherecht Maier-Reimer in: Baums/Cahn (Hrsg.), Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 136 f.; Bliesener/Schneider in: Langenbucher/Bliesener/ Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2013, 17. Kap., S. 1132 Rz. 83 ff.; wohl auch Paulus, Schuldverschreibungen, Restrukturierungen, Gefährdungen, WM 2012, 1109, 1111 f.; ferner m. w. N. Seibt/Schwarz, Anleihekündigung in Sanierungssituationen, ZIP 2015, 401, 407 f.

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sondern um einen gemischten Vertrag mit kaufvertraglichen Pflichten.20) Der Emittent verkauft den Übernehmern gegen sich selbst gerichtete Forderungen, die durch die im Zusammenhang damit getroffene abstrakte Begebungsvereinbarung begründet werden. Die Frage ist freilich, ob dies die entsprechende Anwendung des § 490 Abs. 1 BGB hindert. Das Kündigungsrecht gemäß § 490 Abs. 1 BGB beruht auf folgendem Gedanken: Der Darlehensgeber trägt hinsichtlich des dem Darlehensnehmer zur Nutzung überlassenen Kapitalbetrags das Ausfallrisiko. Dieses Ausfallrisiko kann u. a. durch Bestellen von Sicherheiten reduziert, oder die Übernahme kann durch die Höhe der in die Nutzungsvergütung einbezogenen Risikoprämie entgolten werden. Wenn sich aber die von den Parteien vorausgesehene, durch den Vertragsschluss übernommene und vergütete Risikoverteilung zu Lasten des Darlehensgebers verschiebt, weil sich im Nachhinein ein wesentliches Ausfallrisiko entwickelt, das die Parteien bei Vertragsschluss gerade nicht vorhergesehen und berücksichtigt haben (Wertverfall der bestellten Sicherheiten; negative Entwicklung der Ertrags- und Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers, dem ein Darlehen zu Konditionen für besser bewertete Schuldner eingeräumt worden war), soll dem Darlehensgeber ein Lösungsrecht zustehen; er braucht nicht erst den Eintritt des Verzugs mit einzelnen Teilleistungen abzuwarten. Aus dem Vorstehenden ergibt sich zwanglos, dass ein Investor nicht entsprechend § 490 Abs. 1 BGB kündigen könnte, der in Kenntnis des Vermögensverfalls des Emittenten Teilschuldverschreibungen zu einem Kurs erworben hat, in den der Vermögensverfall eingepreist ist, um dann aufgrund einer Kündigung entsprechend § 490 Abs. 1 BGB den Nominalbetrag der erworbenen Teilschuldverschreibungen vom Emittenten zu fordern.

Gegen eine entsprechende Anwendung des § 490 Abs. 1 BGB im Anleiherecht wird aber eingewandt, dass Einzelkündigungen wegen wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten generell der Zielsetzung des Schuldverschreibungsgesetzes widersprechen, Sanierungen des in der Krise befindlichen Schuldnerunternehmens zu erleichtern.21) Ein unkoordiniertes Windhundrennen der Schuldverschreibungsgläubiger, die bei Anzeichen oder Offenbarwerden einer Krise ihre Schuldverschreibungen bereits vor Verzugseintritt kündigen und damit eine Sanierung vereiteln, lässt sich aber dadurch ausschließen, dass in den Anleihebedingungen das Kündigungsrecht entsprechend § 490 Abs. 1 BGB abbedungen oder beschränkt wird.22)

20)

21)

22)

Einsele, Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2014, § 7 Rz. 22; eingehend m. w. N. Diekmann, Übernahmevertrag bei Anleiheemissionen, in: Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 3. Aufl. 2013, § 31 Rz. 22 ff. In diesem Sinne etwa Trautrims BB 2012, 1823, 1824; Lürken, Restrukturierung in der operativen Krise, in: Theiselmann, Hdb. Restrukturierungsrecht, 2. Aufl. 2013, Kap. 5, Rz. 42. Näher dazu unten IX 2 a.

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Für die entsprechende Anwendbarkeit der Vorschrift im Anleiherecht lässt sich geltend machen, dass das Rechtsverhältnis zwischen dem Emittenten und dem Investor im wesentlichen Punkt völlig dem zwischen Darlehensnehmer und Darlehensgeber nach der Auszahlung der Darlehensvaluta entspricht: In beiden Fällen beschränkt sich das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien auf die Verpflichtung des Kreditnehmers bzw. Emittenten zur Zinszahlung und zur Zahlung des geschuldeten Kapitalbetrags bei Fälligkeit. Bis dahin hat der Darlehensgeber bzw. Anleihegläubiger dem Kreditnehmer den Kapitalbetrag zu belassen, und tragen Darlehensgeber bzw. Anleihegläubiger das Ausfallrisiko. Erhöht sich dieses Ausfallrisiko aber im Vergleich mit der Lage bei Vertragsschluss wesentlich zum Nachteil der Kapitalgeberseite, und haben die Beteiligten diese Entwicklung nicht vorausgesehen und durch eine abweichende Gestaltung berücksichtigt, steht dem Darlehensgeber kraft Gesetzes „in der Regel“ (vgl. § 490 Abs. 1 a. E. BGB)23) ein Lösungsrecht zu, das auch dem Anleihegläubiger nicht verwehrt werden kann, wenn es in den Anleihebedingungen nicht ausdrücklich wirksam ausgeschlossen und auch keine wirksame abweichende Gestaltung gewählt worden ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass bei der Schuldverschreibung nicht der derzeitige Gläubiger, sondern ein Rechtsvorgänger den dem Emittenten überlassenen Kapitalbetrag gezahlt, und der derzeitige Gläubiger von dem Ersterwerber der Schuldverschreibung oder von dessen Rechtsnachfolgern die Schuldverschreibung gekauft hat. Im Verhältnis zwischen Emittenten und derzeitigem Teilschuldverschreibungsgläubiger bleibt es dabei, dass dieser das Ausfallrisiko des Emittenten trägt und ihm daher ein eigenes Kündigungsrecht zusteht.24) Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass er die Teilschuldverschreibungen nicht in Kenntnis der Gefährdung der Zahlungen auf sie erworben hat. § 490 Abs. 1 BGB will nur den Gläubiger schützen, zu dessen Nachteil sich ein unerwartetes und unabgesichertes Ausfallrisiko ergaben hat.

23)

24)

Siehe dazu BT-Drucks. 14/6040, S. 254. Diese Formulierung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass sich gerade durch die Kündigung und das Rückfordern des Darlehensbetrags in einer Summe die Vermögenssituation des Schuldners so sehr verschlechtern kann, dass er insolvent wird, während ihm bei Belassen des Darlehens jedenfalls ein ratenweises Rückführen möglich wäre. Werden einzelne Teilschuldverschreibungen gekündigt, stellt sich insoweit die Frage, ob bei der Abwägung auf den Betrag der gekündigten Teilschuldverschreibung (in diesem Sinne LG Köln, Urt. v. 26.1.2012 – 30 O 63/11, BB 2014, 1821, 1823) oder auf den Betrag der gesamten Anleihe abzustellen ist; das muss hier offen bleiben. Zum Schicksal des Rechts zur Fälligkeitskündigung bei Veräußerung der Teilschuldverschreibung oben Text zu Fn. 4.

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VIII. Kündigung gemäß § 314 BGB 1. Bestehen eines Dauerschuldverhältnisses Bei der Kündigung gemäß § 314 BGB stellt sich zunächst eine vergleichbare Frage wie bei der Debatte um die Anwendbarkeit des § 490 BGB. Es wird geltend gemacht, dass es sich bei der einzelnen Schuldverschreibung nicht um ein „Dauerschuldverhältnis“ i. S. dieser Vorschrift handele.25) Dagegen lässt sich wiederum einwenden, dass das Rechtsverhältnis zwischen dem Emittenten und dem Investor im wesentlichen Punkt völlig dem zwischen Darlehensnehmer und Darlehensgeber nach der Auszahlung der Darlehensvaluta entspricht: In beiden Fällen beschränkt sich das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien auf die Verpflichtung des Kreditnehmers bzw. Emittenten zur Zinszahlung und zur Zahlung des geschuldeten Kapitalbetrags bei Fälligkeit. Bis dahin hat der Kreditgeber dem Kreditnehmer den Kapitalbetrag zu belassen.26) Der Unterschied im Entstehungsgrund (der Übernahmevertrag ist kein Darlehensvertrag) besagt nicht, dass bei der Abwicklung dieses Schuldverhältnisses eine andere Pflichtenstruktur als im Fall des Darlehens besteht. Für das Darlehensverhältnis ordnet das Gesetz aber ausdrücklich die Geltung des § 314 BGB an (§ 490 Abs. 3 BGB). 2. Kündigung als Sanktion für wesentliche Leistungsstörungen Bedeutsamer ist ein Blick auf den Zweck der Vorschrift. § 314 BGB trägt verschiedenen Regelungsbedürfnissen Rechnung, die bei Dauerschuldverhältnissen auftreten können und für die Diskussion um die Anwendbarkeit der Vorschrift im Anleiherecht getrennt betrachtet werden sollten. 25)

26)

Maier-Reimer in: Baums/Cahn (Hrsg.), Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 129, 134 ff.; Bliesener/H. Schneider in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, BankrechtsKommentar, 2013, 17. Kap., S. 1132 Rz. 82; Schmidtbleicher, Die Anleihegläubigermehrheit, 2010, S. 336 ff. m. w. N.; a. A. Hartwig-Jacob in: Ekkenga/Schröer, Hdb. AG-Finanzierung, 2014, Kap. 12, Rz. 356 m. N.; für Schuldverschreibungen „mit darlehensnahem Charakter“ auch Horn, Das neue Schuldverschreibungsgesetz und der Anleihemarkt, BKR 2009, 446, 450; kritisch dazu auch Florstedt/von Randow, Die Kündigung des Anleiheschuldverhältnisses aus wichtigem Grund, ZBB 2014, 345, 346 f. Weitere Nachweise bei Reps, Rechtswettbewerb und Debt Governance bei Anleihen, 2014, S. 335; Seibt/Schwarz, ZIP 2015, 401, 408 re. Sp.; Baums, Recht der Unternehmensfinanzierung, 2016, § 37 VI. 2. c), Rz. 99. Eingehender zum Begriff des Dauerschuldverhältnisses Huber, Leistungsstörungen, Bd. 2, 1999, § 46 I. 1.

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Theodor Baums Das sei wiederum am Beispiel des verzinslichen Darlehens erläutert. Ist die Darlehenssumme ausgezahlt und gerät der Darlehensnehmer mit der Zinszahlung oder mit Ratenzahlungen in Verzug, geht es neben dem Ersatz des Verzögerungsschadens darum, ob der Darlehensgeber wegen dieser Vertragsverletzung das gesamte Vertragsverhältnis auflösen kann.27) Die mit einem Rücktritt verbundene Rückabwicklung eines bis zum Verzug mit einzelnen fälligen Teilleistungen ordnungsgemäß abgewickelten Vertragsverhältnisses (§§ 346 ff. BGB) wäre in diesem Fall in der Regel eine unangemessene Rechtsfolge.

Das Regelungsanliegen des § 314 BGB besteht in Bezug auf diesen Fall der Leistungsstörung (Verzug mit Zins- oder Ratenzahlungen) also vor allem darin, an die Stelle des Rechtsbehelfs des Rücktritts den Rechtsbehelf der Kündigung mit der Folge der Auflösung des Vertragsverhältnisses ex nunc zu setzen. Ein weiteres Regelungsanliegen des § 314 BGB besteht darin, insbesondere Parteien in Dauerrechtsverhältnissen mit personenrechtlichem Einschlag sowie derjenigen Partei, die in einem Dauerrechtsverhältnis mit einer zeitbezogenen persönlichen „Leistungsanspannung“ belastet ist, ein außerordentliches Lossagungsrecht einzuräumen, und zwar gerade auch dann, wenn dem Erklärungsgegner keine Vertragsverletzung vorgehalten werden kann. Das kommt allerdings nur in Betracht, wenn, wie es in § 314 Abs. 1 Satz 2 BGB heißt, „dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses […] nicht zugemutet werden kann“.

Auf die Frage, ob Anleihegläubiger auch diesen Kündigungsgrund geltend machen können, ist zurückzukommen.28) Was dagegen die Kündigung als Sanktion für wesentliche Leistungsstörungen angeht, steht im Ergebnis außer Frage, dass dieser gesetzliche Rechtsbehelf gemäß § 314 BGB auch dem einzelnen Gläubiger hinsichtlich der von ihm gehaltenen Teilschuldverschreibungen zusteht, sofern nicht die Anleihebedingungen bereits selbst ein solches Kündigungsrecht vorsehen29) oder in zulässiger Weise dieses Kündigungsrecht modifizieren.30) 27)

28) 29)

30)

Einzelheiten dazu, wann bei Darlehen (außerhalb der Sonderregelung für Verbraucherdarlehen in § 498 BGB) bei Verzug mit Einzelleistungen ein wichtiger Grund i. S. des § 314 BGB anzunehmen ist, bei Mülbert in: Staudinger, BGB, 12. Aufl., Neubearb. 2011, § 488 Rz. 137 f. Unten 3. Nach H. Schneider, Die Änderung von Anleihebedingungen durch Beschluss der Gläubiger, in: Baums/Cahn (Hrsg.), Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 69 Fn. 24 fehlen nur in den Anleihebedingungen von Emittenten mit allerhöchster Bonität außerordentliche Kündigungsrechte der Gläubiger. So auch Florstedt/von Randow, ZBB 2014, 345, 351 re. Sp.

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Sähen die Anleihebedingungen für den Verzug mit mehreren Zinszahlungen oder sonstigen Teilleistungen weder ein Einzelkündigungsrecht noch eine „Kollektivierung“ i. S. des § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG vor, und würde man auch einen Rückgriff des einzelnen Schuldverschreibungsgläubigers auf das gesetzliche Kündigungsrecht gemäß § 314 BGB für ausgeschlossen halten, so wären die Anleihegläubiger im Verzugsfall darauf beschränkt, ihren Verzögerungsschaden geltend zu machen. Hinsichtlich der noch nicht fälligen Ansprüche auf Zins und Kapitalrückgewähr müssten sie jeweils abwarten, ob sich der Emittent auch insoweit pflichtwidrig verhält. Für eine solche Abweichung vom allgemeinen Leistungsstörungsrecht bei Anleihen ist kein überzeugender Grund ersichtlich. Die alternative Annahme, dass das gesetzliche Kündigungsrecht gemäß § 314 BGB mangels abweichender Gestaltung in den Anleihebedingungen der Gläubigergesamtheit zustehe und nur von allen gemeinschaftlich ausgeübt werden könne, wäre nicht nur praktisch untauglich, sondern auch mit der zwingenden Vorschrift des § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG nicht zu vereinbaren.31) 3. Kündigung wegen Unzumutbarkeit aus sonstigen Gründen Außer bei wesentlichen Leistungsstörungen können Dauerschuldverhältnisse gemäß § 314 Abs. 1 BGB auch aus sonstigen Gründen gekündigt werden, wenn diese die Fortsetzung des Rechtsverhältnisses für den Kündigenden unzumutbar machen. Die Generalklausel des § 314 Abs. 1 BGB stellt insofern den Endpunkt einer Entwicklung dar, die zunächst mit Dauerrechtsverhältnissen mit personenrechtlichem Einschlag und mit Rechtsverhältnissen, die den Schuldner zu einer zeitbezogenen persönlichen „Leistungsanspannung“ verpflichten, ihren Anfang genommen hat. Die Generalklausel in ihrer heutigen Fassung ist gewissermaßen induktiv aus den speziellen Ausformungen für solche Rechtsverhältnisse entwickelt worden.32) Zweifellos fallen auf Zahlungsansprüche beschränkte Schuldverhältnisse nicht in diese Kategorie personenbezogener Dauerrechtsverhältnisse. Ebenso unzweifelhaft ist heute freilich, dass die Generalklausel des § 314 Abs. 1 BGB hierauf nicht beschränkt ist. Jenseits der wesentlichen Leistungsstörungen (dazu oben 2) dürfte für ein Kündigungsrecht wegen Unzumutbarkeit bei auf Zahlungsansprüche beschränkten Dauerschuldverhältnis-

31) 32)

Siehe dazu bereits oben II. Florstedt/von Randow, ZBB 2014, 345, 348.

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Theodor Baums

sen allerdings nur ein schmaler Raum verbleiben.33) Als Beispiele könnte man an Fälle denken, in denen ähnlich wie im Fall des § 490 Abs. 1 BGB die Zahlung künftiger Zinsen und die Rückzahlung des Kapitals durch Maßnahmen des Emittenten oder sonstige Entwicklungen gefährdet wird, und weder die Anleihebedingungen noch sonstige gesetzliche Schutzbestimmungen zum Schutz der Gläubiger des Emittenten (wie z. B. bei Kapitalherabsetzungen oder Umwandlungen, s. nur § 225 AktG, § 23 UmwG) einen alternativen Schutz gewähren. 4. Verhältnis zu § 490 Abs. 1 BGB Zu beachten ist, dass die entsprechend anwendbare (oben VII) dispositive Vorschrift des § 490 Abs. 1 BGB lex specialis gegenüber der im Kern zwingenden Generalklausel des § 314 Abs. 1 BGB ist.34) Schließen also die Anleihebedingungen eine Kündigung wegen wesentlicher Vermögensverschlechterung i. S. des § 490 Abs. 1 BGB aus, kann auf diesen Umstand auch keine Kündigung gemäß § 314 BGB gestützt werden.35) IX. Einschränkungen des Einzelkündigungsrechts Das unkoordinierte Kündigen von Teilschuldverschreibungen durch einzelne Gläubiger kann, wie mit Recht geltend gemacht wird, zu Nachteilen sowohl für den Emittenten, für die übrigen Gläubiger als auch für die kündigenden Gläubiger selbst führen. Darüber hinaus wäre auch die Attraktivität des geltenden deutschen Anleiherechts erheblich beeinträchtigt, wenn dieses abweichende Gestaltungen auch da nicht zulassen würde, wo diese transparent gestaltet sind und die Anleger nicht unangemessen benachtei33)

34) 35)

Siehe dazu auch Florstedt/von Randow, ZBB 2014, 345, 351 ff., die eine Kündigung aus wichtigem Grund für den Fall des Bruchs von Auflagen (covenants) erörtern und verneinen, auch sofern die Anleihebedingungen insoweit keine oder keine abweichende Sanktion vorsehen. Mülbert in: Staudinger, BGB, 12. Aufl., Neubearb. 2011, § 490 Rz. 122. Nicht überzeugend insoweit die Entscheidungen in Sachen Solarworld (siehe nur OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.9.2014 – 4 U 97/14, ZIP 2014, 2176, 2177; LG Köln, Urt. v. 26.1.2012 – 30 O 63/11, BB 2012, 1821, 1822 f. m. abl. Anm. Trautrims BB 2012, 1823 f.; LG Bonn, Urt. v. 25.3.2014 – 10 O 299/13, ZIP 2014, 1073, 1074 f.), in denen das Kündigungsrecht wegen wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse nicht auf die (dispositive) Vorschrift des § 490 Abs. 1 BGB, sondern auf die im Kern zwingende Bestimmung des § 314 BGB gestützt wird. Im Ergebnis bejaht das OLG Frankfurt/M. (a. a. O.) allerdings, dass die Anleihebedingungen das Kündigungsrecht des Teilschuldverschreibungsgläubigers in zulässiger Weise beschränkt haben.

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ligen. Diesen Nachteilen ist allerdings nicht durch eine wenig überzeugende Einschränkung allgemeiner materieller Rechte des Forderungsgläubigers, sondern dadurch zu wehren, dass die durch das Schuldverschreibungsgesetz zur Verfügung gestellten Instrumentarien genutzt werden. 1. Ermächtigung eines gemeinsamen Vertreters Nachteile, die sowohl für den einzelnen Gläubiger wie für den Emittenten mit Einzelkündigungen verbunden sind, liegen zunächst einmal darin, dass sich jeder Anleger über die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines Kündigungsrechts informieren, diese prüfen und ggf. seine Ansprüche klageweise gegen den Emittenten durchsetzen muss.36) Dieser hat sich dann ggf. mit einer Vielzahl von Ansprüchen gesondert auseinanderzusetzen. Probleme, die bei girosammelverwahrten Wertpapieren im Fall zahlreicher Einzelkündigungen auftreten, kommen hinzu.37) Insoweit können Anleihebedingungen jedenfalls teilweise Abhilfe schaffen: In den Anleihebedingungen kann ein gemeinsamer Vertreter bestellt und damit beauftragt werden, die Entwicklung des Emittenten anhand von Finanzkennzahlen zu beobachten und die Gläubiger bei Krisenanzeichen oder Leistungsstörungen zu benachrichtigen. Der gemeinsame Vertreter kann darüber hinaus auch dazu ermächtigt werden, die Rechte der Teilschuldverschreibungsgläubiger, z. B. deren Kündigungsrechte,38) wahrzunehmen. Diese Ermächtigung kann sich auch auf die Kündigung aus wichtigem Grund gemäß §§ 490 Abs. 1, 314 BGB beziehen.39) In diesem Fall sind die einzelnen Gläubiger nicht befugt, ihre Rechte selbständig geltend zu machen, es sei denn, dass die Ermächtigung dies ausdrücklich vorsieht (§ 8 Abs. 4 i. V. m. § 7 Abs. 2 Satz 2 SchVG).

36) 37) 38) 39)

Das KapMuG steht insoweit nicht zur Verfügung; vgl. § 1 KapMuG. Dazu H. Schneider in: Baums/Cahn (Hrsg.), Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 69, 90 Fn. 35. Bliesener/Schneider in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2013, 17. Kap., S. 1142 Rz. 3. Für Zulässigkeit einer Ermächtigung, entsprechend § 5 Abs. 5 Satz 2 BGB bereits erfolgte Einzelkündigungen zurückzunehmen, Seibt/Schwarz, ZIP 2015, 401, 412 f.

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Ein solcher gemeinsamer Vertreter mit verdrängender Ermächtigung kann auch im Nachhinein bestellt werden, wenn die Anleihebedingungen dies vorsehen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 SchVG).40) 2. Ausschluss und Modifikation von Kündigungsrechten in den Anleihebedingungen a) § 490 Abs. 1 BGB § 490 Abs. 1 BGB ist abdingbar.41) Soll das Recht der Anleihegläubiger, wegen wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten oder der Werthaltigkeit bestellter Sicherheiten kündigen zu können, abbedungen oder modifiziert werden, muss dies in transparenter Weise geschehen (§ 3 SchVG). Entweder muss also das Einzelkündigungsrecht jedes Teilschuldverschreibungsgläubigers bei wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse oder des Werts bestellter Sicherheiten ausdrücklich ausgeschlossen werden, oder es muss zumindest für den verständigen Anleger (§ 3 SchVG) erkennbar sein, dass ihm bei Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten kein Einzelkündigungsrecht zustehen soll. Zum Beispiel können die Anleihebedingungen für den Fall der wesentlichen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse oder des Werts bestellter Sicherheiten eine Nachbesicherung oder Restrukturierungsmaßnahmen i. S. des § 5 Abs. 3 SchVG vorsehen und dadurch deutlich machen, dass ein Einzelkündigungsrecht aus diesem Grund ausgeschlossen sein soll. Bei transparenter Ausgestaltung scheidet eine unangemessene Benachteiligung der Anleihegläubiger wegen der in den Anleihebedingungen vorgesehenen Verkürzung gesetzlicher Rechte (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) grundsätzlich aus: Das Kündigungsrecht gemäß § 490 Abs. 1 BGB soll dem Kapitalgeber bei wesentlicher Erhöhung des Ausfallrisikos auch ohne bereits eingetretene Leistungsstörungen ein vorzeitiges Kündigungsrecht einräumen. Das Ausüben solcher Einzelkündigungsrechte kann freilich die negative Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Emittenten weiter beschleunigen, den Eintritt von Leistungsstörungen und den Ausfall fälliger Zahlungen auf die Schuldverschreibungen erst herbeiführen sowie eine im Interesse nicht nur des Emittenten, sondern auch aller Teilschuldverschreibungsgläubiger liegende Sanierung außerhalb eines Insolvenzverfahrens vereiteln. § 5 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Nr. 8 SchVG bestimmt ausdrücklich, dass die Anleihebedingungen vorsehen können, dass die Anleihegläubiger durch Mehrheitsbeschluss 40)

41)

Zu den Pflichten eines solchen gemeinsamen Vertreters und seiner Haftung Bliesener/ Schneider in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2013, 17. Kap., S. 1144 ff. Rz. 40 ff.; von Randow, Das Handeln des Gemeinsamen Vertreters – Engagiert oder „zur Jagd getragen“? Rückkopplungseffekte zwischen business judgment rule und Weisungserteilung, in: Baums (Hrsg.), Das neue Schuldverschreibungsrecht, 2013, S. 63 ff. Oben Fn. 10.

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auf ein im Einzelfall bestehendes Kündigungsrecht aller Gläubiger verzichten können. Ein solcher Verzicht kann sich auch auf das Kündigungsrecht entsprechend § 490 Abs. 1 BGB beziehen. Von dieser Möglichkeit wird die Mehrheit der Anleihegläubiger vor allem in Sanierungssituationen Gebrauch machen; die gesetzliche Ermächtigung, die Anleihebedingungen in dieser Weise auszugestalten, ist aber nicht auf (begrifflich schwer abgrenzbare) Sanierungssituationen beschränkt. Dann steht auch nichts entgegen, wenn die Anleihebedingungen von vorneherein ein Kündigungsrecht Einzelner wegen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten oder der Werthaltigkeit bestellter Sicherheiten in transparenter Weise ausschließen. Würde man dies anders beurteilen und ausschließlich Beschlüsse ex post (gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG) für zulässig halten, würde das vom Gesetzgeber des Schuldverschreibungsgesetzes verfolgte Ziel, vor allem in Krisensituationen Kündigungen aussetzen zu können, um Sanierungen auch im Interesse aller Anleihegläubiger zu ermöglichen, verfehlt werden. Denn solche Beschlüsse ex post bedürfen einer zeitaufwendigen Vorbereitung und können zu spät kommen, um Einzelkündigungen gut informierter Anleger noch aufhalten zu können.

Nicht selten enthalten die Anleihebedingungen einen Klauselkatalog, in dem Kündigungsrechte bei Eintritt näher bezeichneter Einzeltatbestände wie Herabstufung des Rating, Stellen eines Insolvenzantrags, Drittverzug (cross default) u. a. m. festgelegt sind. Es ist eine Frage der Formulierung bzw. der Auslegung der Anleihebedingungen, ob in anderen als den im Katalog aufgeführten Fällen einer Verschlechterung der Ertrags- und Vermögenslage des Emittenten eine Einzelkündigung ausgeschlossen sein soll. b) § 314 BGB Anders als § 490 Abs. 1 BGB ist § 314 BGB in seinem Kern zwingend.42) Auch das Schuldverschreibungsgesetz lässt keinen generellen Ausschluss des Kündigungsrechts durch die Anleihebedingungen zu.43) Nur Modifikationen sind möglich. So können die Anleihebedingungen festlegen, dass die Anleihegläubiger durch Mehrheitsbeschluss im Einzelfall auf das Ausüben eines gegebenen Kündigungsrechts verzichten oder dieses beschränken können (§ 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG). Das betrifft auch ein Kündigungsrecht gemäß § 314 BGB, z. B. wegen Verzugs mit Zinszahlungen.44) Sodann kann die Ausübung von Kündigungsrechten generell an die Mitwirkung anderer Schuldverschreibungsgläubiger geknüpft werden (§ 5 Abs. 5 SchVG).45) Fer-

42) 43)

44) 45)

Gaier in: MünchKomm-BGB, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, § 314 Rz. 4 m. N.; näher dazu Florstedt/von Randow, ZBB 2014, 345, 348. Horn, BKR 2009, 446, 450; Veranneman in: Veranneman, SchVG, 2010, § 5 Rz. 30; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.9.2014 – 4 U 97/14, ZIP 2014, 2176, 2177; zweifelnd Vogel in: Preuße, SchVG, 2010, § 5 Rz. 40. Dazu sogleich unter 3. Dazu unten unter 4.

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ner kann das Ausüben von Kündigungsrechten einem gemeinsamen Vertreter übertragen und dadurch die Kündigung jedes einzelnen Teilschuldverschreibungsgläubigers ausgeschlossen werden.46) Weitere Modifikationen des Kündigungsrechts gemäß § 314 BGB sind denkbar und möglich. So können die Anleihebedingungen näher die Voraussetzungen bestimmen, unter denen ein Verzug mit Teilleistungen (Zinszahlungen, Ratenzahlungen) zur Kündigung einer Teilschuldverschreibung berechtigen soll. In Betracht kommt auch, einzelne ausdrücklich angeführte Umstände, die an sich eine „Unzumutbarkeit“ i. S. des § 314 Abs. 1 BGB begründen würden, ausdrücklich zu benennen und eine Kündigung bei Eintritt dieser Umstände auszuschließen, wenn dies in transparenter Weise geschieht (§ 3 SchVG) und sich auch nicht aus anderen Gründen als nicht hinnehmbare, unangemessene Benachteiligung der Teilschuldverschreibungsgläubiger i. S. des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB darstellt.47) Enthalten die Anleihebedingungen einen Klauselkatalog, in dem Kündigungsrechte bei Eintritt näher bezeichneter Einzeltatbestände i. S. des § 314 Abs. 1 BGB festgelegt sind, kann bei nicht aufgeführten Umständen, die zur Kündigung gemäß § 314 Abs. 1 BGB berechtigen, unmittelbar auf diese Norm zurückgegriffen werden, wenn die Kündigung aus dem betreffenden Grund nicht ausdrücklich wirksam ausgeschlossen ist. Das gilt auch dann, wenn der Klauselkatalog ausdrücklich erklärt, eine abschließende Regelung vorzusehen. 3. Einzelfallbeschlüsse gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG und nachträgliche Änderung von Anleihebedingungen Die Anleihegläubiger können durch Mehrheitsbeschluss im Einzelfall auf die Ausübung eines gegebenen Kündigungsrechts verzichten oder dieses beschränken, wenn die Anleihebedingungen dies vorsehen (§ 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 8 SchVG). Das betrifft auch ein Kündigungsrecht gemäß § 314 BGB, z. B. wegen Verzugs mit Zinszahlungen.48)

46) 47)

48)

Dazu oben 1. So auch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.9.2014 – 4 U 97/14, ZIP 2014, 2176, 2177 f.; eingehend Maier-Reimer in: Baums/Cahn (Hrsg.), Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 140 ff.; Florstedt/von Randow, ZBB 2014, 345, 348 ff. Horn, BKR 2009, 446, 450.

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Wie § 5 Abs. 5 Satz 2 SchVG zeigt, lässt das Schuldverschreibungsgesetz zu, dass die Wirkung eines bereits ausgeübten Kündigungsrechts im Nachhinein durch Mehrheitsbeschluss beseitigt werden kann. Das gilt auch für Beschlüsse gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG. Hierfür genügt, wenn die Anleihebedingungen vorsehen, dass die Gläubiger Mehrheitsbeschlüsse i. S. des § 5 Abs. 3 SchVG fassen können; einer expliziten weiteren Ermächtigung, auch bereits ausgesprochene Kündigungserklärungen für unwirksam erklären zu können, bedarf es nicht.49) Durch in den Anleihebedingungen zugelassene Beschlüsse gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG kann nicht nur im Einzelfall auf die Ausübung eines gegebenen Kündigungsrechts verzichtet oder dieses beschränkt werden. Die Maßnahmen gemäß § 5 Abs. 3 SchVG können insbesondere auch dazu eingesetzt werden, die bisherigen Anleihebedingungen mit genereller Wirkung für die Zukunft anzupassen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 SchVG). Für solche generellen Ausgestaltungen der Anleihebedingungen hinsichtlich der Kündigung gelten aber die oben angeführten Einschränkungen.50) Die Anleihebedingungen können daher nicht die Mehrheit ermächtigen, eine Änderung der Anleihebedingungen in der Weise zu beschließen, dass das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund gemäß § 314 BGB künftig generell ausgeschlossen sein soll.51) 4. „Kollektivierung“ von Kündigungsrechten gemäß § 5 Abs. 5 SchVG Ein weiteres Instrument, nachteilige Wirkungen unkoordinierter Einzelkündigungen auszuschalten, stellt das Gesetz in § 5 Abs. 5 SchVG mit der „Kollektivierung“ von Kündigungsrechten zur Verfügung. Ist in Anleihebedingungen bestimmt, dass die Kündigung von ausstehenden Schuldverschreibungen nur von mehreren Gläubigern und einheitlich erklärt werden kann, darf der für die Kündigung erforderliche Mindestanteil der ausstehenden Schuldverschreibungen nicht mehr als 25 % betragen. Die Wirkung einer solchen Kündigung entfällt, wenn die Gläubiger dies binnen drei Monaten mit Mehrheit beschließen.

49) 50) 51)

A. A. LG Bonn, Urt. v. 25.3.2014 – 10 O 299/13, ZIP 2014, 1073, 1075. Oben 2 a, b. Ebenso Schmidtbleicher in: Ekkenga/Schröer, Hdb. AG-Finanzierung, 2014, Kap. 12, Rz. 127.

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Eine solche „Kollektivierung“ wird in der Regel nur für die ordentliche Kündigung oder für die Kündigung wegen Verletzung von Nebenpflichten des Emittenten vorgesehen, nicht pauschal für die Kündigung aus wichtigem Grund.52)

52)

Zur umstrittenen Frage, ob auch die Kündigung aus wichtigem Grund (§ 314 BGB) gem. § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG „kollektiviert“ werden kann, bejahend Horn, BKR 2009, 446, 450; a. A. Hartwig-Jacob in: Friedl/Hartwig-Jacob, FK-SchVG, 2013, § 3 SchVG Rz. 123 m. N.; Hartwig-Jacob in: Ekkenga/Schröer, Hdb. AG-Finanzierung, 2014, Kap. 12, Rz. 358.

„Alternativen: Keine“? Gesetzesfolgenabschätzung in der Finanzmarktregulierung JENS-HINRICH BINDER*) Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Standortbestimmung 1. Die Aufgabe 2. Unreflektierte Methodik, unklarer Nutzen? Der Ausgangsbefund a) Deutsche Gesetzgebung b) Europäische Rechtsetzung c) Vergleich und Folgefragen 3. Normative Einbettung im deutschen und im europäischen Recht

a) Deutsche Gesetzgebung b) Europäische Rechtsetzung 4. Fazit III. Zwei Problemschwerpunkte 1. Unklare Zielgröße, unklarer Maßstab 2. Informations- und Komplexitätsprobleme als wesentliche Hürden IV. Was folgt? Ein Fazit

*)

„Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie“ – so lautet der Untertitel eines Beitrags, in dem der Jubilar seinen akademischen Lehrer Josef Esser gewürdigt hat.1) Auch als Motto seines eigenen Oeuvres im Grenzbereich von Privat- bzw. Wirtschaftsrecht und Methodik (nicht nur, aber insbesondere der Rechtsökonomik) wären diese Worte nicht verfehlt: Lange bevor die Entdeckung von „Law and Economics“ in Deutschland breitflächig vollzogen war, hat sich Johannes Köndgen mit der ökonomischen Legitimation zivilrechtlicher Regeln auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang weitsichtige methodische Standards für die Vorbereitung privatrechtlicher Reformvorhaben formuliert.2) Auch in jüngerer Zeit hat er sich immer wieder

*)

1)

2)

Frau Jennifer Kaulbersch gilt herzlicher Dank für die Unterstützung bei der Beschaffung und Sichtung des Materials, Frau Dr. Friederike Lange für wertvolle Hinweise zur Praxis der deutschen Gesetzgebung. Köndgen, Josef Esser – Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie, in: Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. 1, 2007, S. 103 ff. Weitsichtig bereits in der Dissertation, die im Zusammenhang mit der Reform des Rechts des Schmerzensgeldes eingehende Überlegungen zur Gesetzgebungsmethode im Allgemeinen, zur empirischen Absicherung und zur Erfolgsprognose und Folgenkontrolle anstellt: siehe Köndgen, Haftpflichtfunktionen und Immaterialschaden am Beispiel von Schmerzensgeld bei Gefährdungshaftung, 1976, S. 126 ff.

66

Jens-Hinrich Binder

mit rechtsökonomisch informierten Beiträgen zu Wort gemeldet3) – und den Wert der ökonomischen Analyse zur Lösung konkreter Rechtsfragen auch dort bewiesen, wo die Rezeptionsbereitschaft im übrigen Schrifttum verhalten ausfiel.4) Der nachfolgende Beitrag greift vor diesem Hintergrund mit Fragen der Rechtsfolgenabschätzung einen Gegenstand auf, der bereits in der Dissertation des Jubilars – zu einem anderen Sachproblem – vorgezeichnet war.5) I. Einführung Nähert man sich dem Untersuchungsgegenstand rechtsvergleichend, ist der der Eindruck einer gewissen Rückständigkeit der deutschen Wirtschaftsrechtsdiskussion insoweit kaum von der Hand zu weisen: Insbesondere das US-amerikanische Schrifttum hat in Reaktion auf die Regulierungswelle in den letzten Jahren den Voraussetzungen und Problemen der Kosten-Nutzen-Analyse in der Finanzmarktregulierung erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet und Tauglichkeit und Nutzen kontrovers diskutiert.6) Bereits vor geraumer Zeit sind auch in der Schweizer Literatur ent3)

4)

5) 6)

Exemplarisch Köndgen, Die Relevanz der ökonomischen Theorie der Unternehmung für rechtswissenschaftliche Fragestellungen – ein Problemkatalog, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Unternehmensrechts, 1993, S. 128 ff.; Köndgen, Effizienzorientierung im Kapitalmarktrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, S. 100 ff. Besonders eindrucksvoll die interdisziplinäre Analyse komplexer Zinsderivate bei Köndgen/Sandmann, Strukturierte Zinsswaps vor den Berufungsgerichten: eine Zwischenbilanz, ZBB 2010, 77 ff.; vgl. sodann auch Köndgen, Grenzen des informationsbasierten Anlegerschutzes, BKR 2011, 283, 284 ff. zur Entscheidung des XI. Zivilsenats in der „Ille“-Entscheidung (BGH, Urt. v. 22.3.2011 – XI ZR 33/10, BGHZ 189, 13 = ZIP 2011, 756). Siehe nochmals Köndgen, Haftpflichtfunktionen und Immaterialschaden am Beispiel von Schmerzensgeld bei Gefährdungshaftung, 1976, S. 126 ff. Exemplarisch etwa R. B. Ahdieh, Reanalyzing Cost-Benefit Analysis: Toward a Framework of Function(s) and Form(s), 88 N.Y.U. L. Rev. 1983 (2013); J. C. Coates, CostBenefit Analysis of Financial Regulation: Case Studies and Implications, 124 Yale L.J. 882 (2015); E. A. Posner/G. Weyl, Cost-Benefit Analysis of Financial Regulations: A Response to Criticisms, 124 Yale L.J. Forum 246 (2015); C. R. Sunstein, Financial Regulation and Cost-Benefit Analysis, 124 Yale L.J. Forum 263 (2015) sowie die Beiträge im Symposiumsheft „Benefit-Cost Analysis of Financial Regulation“, 43 J. Legal Stud. no. S2 (2014); vgl. ferner C. Cecot/W. K. Viscusi, Judicial Review of Agency Benefit-Cost Analysis, 22 Geo. Mason L. Rev. 575 (2015); B. Kraus, Economists in the Room at the SEC, Yale L.J. Forum 280 (2015); B. Kraus/C. Raso, Rational Boundaries for SEC Cost-Benefit Analysis, 30 Yale J. on Reg. 289 (2013); Y. A. Lee, The Efficiency Criterion for Securities Regulation: Investor Welfare or Total Surplus?, 57 Ariz. L. Rev. 85 (2015); H. Peirce, Economic Analysis by Federal Financial. Regulators, 9 J.L. Econ. & Pol’y 569 (2013) (jeweils zur ökonomischen Analyse durch Aufsichtsbehörden).

„Alternativen: Keine“? Gesetzesfolgenabschätzung in der Finanzmarktregulierung

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sprechende Überlegungen angestellt worden.7) Hierzulande hat sich die Beschäftigung mit Fragen der Rechtsfolgenabschätzung dagegen in weitem Umfang auf die öffentlich-rechtlich dominierte Gesetzgebungswissenschaft beschränkt.8) Eine Adaption für die Finanzmarktregulierung ist bislang mit wenigen Ausnahmen unterblieben.9) Lediglich für das Unternehmensrecht im Allgemeinen finden sich tiefer lotende Betrachtungen, die sowohl die normativen Rahmenbedingungen als auch methodologi7) 8)

9)

Bernet/Zwahlen, Kosten/Nutzen-Analyse in der Finanzmarktregulierung, 2005. Exemplarisch Böhret, Gesetzesfolgenabschätzung (GFA): Heutiger Stand der Methodik und Erfahrungen mit der Integration in die Gesetzesvorbereitung in Deutschland, in: Schäffer (Hrsg.), Evaluierung der Gesetze/Gesetzesfolgenabschätzung in Österreich und im benachbarten Ausland, 2005, S. 31 ff.; Böhret/Konzendorf, Moderner Staat – Moderne Verwaltung: Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2000; Böhret/ Konzendorf, Hdb. Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001; Konzendorf, Politikwissenschaftliche Gesetzesfolgenabschätzung, in: Bizer/Führ/Hüttig (Hrsg.), Responsive Regulierung, 2002, S. 123 ff.; Konzendorf, Gesetzesfolgenabschätzung als zentrales Element von Better Regulation, in: Becker/Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, 2006, S. 540 ff.; Konzendorf, Die Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) als Instrument zur Vermeidung und Verminderung von Rechtsvorschriften?, in: Bohne (Hrsg.), Bürokratieabbau zwischen Verwaltungsreform und Reformsymbolik, 2006, S. 104 ff.; Kahl, Gesetzesfolgenabschätzung und Nachhaltigkeitsprüfung, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 13, S. 309 ff.; Kahl/Hilbert, Impact Assessment in der EU – Sicherung von Nachhaltigkeit durch Integration, in: FS für Kloepfer, 2013, S. 399 ff.; Karpen, Gesetzesfolgenabschätzung in der Europäischen Union, AöR 124 (1999), 400 ff.; Karpen, Gesetzesfolgenabschätzung in Deutschland und Europa, in: FS für Söllner, 2000, S. 479 ff.; Köck, Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzgebungslehre, VerwArch 93 (2002), 1 ff.; Maurer, Gesetzesfolgenabschätzung als notwendiges Element eines Programms zur besseren Rechtsetzung, ZG 2006, 377 ff.; Schroeder, Folgenabschätzung als Element der Gesetzgebung der Europäischen Union – Maßstab für die Zweckmäßigkeit oder Gegenstand gerichtlicher Kontrolle?, ZÖR 68 (2013), 225 ff.; knapp Reimer in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 9 Rz. 109 f.; Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 210 ff. und passim; aus der Literatur zur Rechtsetzungswissenschaft allgemein bereits Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 63 ff., insbesondere 86 ff. („Tatsachenanalyse“), 120 ff. („Kritik der Entwürfe“); sodann Blum, Wege zu besserer Gesetzgebung, Gutachten I zum 65. DJT, 2004, S. I 51 ff.; Müller/Uhlmann, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 3. Aufl. 2014, Rz. 77 ff. Vgl. aber die Ansätze zur Überprüfung von Regulierungsvorhaben bei Baums/ Theissen, Banken, bankeigene Kapitalanlagegesellschaften und Aktienemissionen, in: Hof/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 1, 1999, S. 65 ff. und neuerdings Oehler, Risiko-Warnhinweise in Kurzinformationen für Finanzdienstleistungen. Eine empirische Analyse, ZBB 2015, 208 ff. (zu Risikowarnhinweisen in Kurzinformationen für Finanzdienstleistungen); für das Privat- und Wirtschaftsrecht allgemein bereits Hopt, Finale Regelung, Experiment und Datenverarbeitung in Recht und Gesetzgebung, JZ 1972, 65 ff., insbesondere 68 ff.; Hopt, Simulation und Planspiel in Recht und Gesetzgebung, DVR 1 (1972), 1 ff.

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sche Aspekte der Gesetzesfolgenabschätzung erörtern.10) Dieser Befund ist schon deshalb unbefriedigend, weil Wirkungsvoraussetzungen und Anwendungsperspektiven der Gesetzesfolgenabschätzung kaum ohne Beachtung der Besonderheiten des jeweiligen Anwendungsgebietes bewertet werden können. Zwar lassen sich, wie das allgemeine Schrifttum belegt, durchaus sachgebietsübergreifende Probleme der Gesetzesfolgenabschätzung in methodologischer und qualitativer Hinsicht identifizieren. Dies gilt namentlich für die besonders verbreitete Methode der Kosten-NutzenAnalyse.11) Ebenso können, wenn auch auf hohem Abstraktionsniveau, sachgebietsübergreifende, prozedurale Leitlinien und Ablaufpläne für die Durchführung definiert werden.12) Die Aussagekraft von Regulierungsfolgenprognosen wird allerdings je nach Referenzgebiet sehr unterschiedlich ausfallen. Interessante Aufschlüsse verspricht der Blick auf das Potential und (vor allem auch) die Grenzen der Rechtsfolgenabschätzung gerade im Finanzmarktregulierungsrecht dabei nicht zuletzt mit Blick auf die komplexen Umwälzungen im Regulierungsrahmen, die sich in den vergangenen Jahren in Reaktion auf die globale Finanzkrise vollzogen haben und noch vollziehen. Damit ist das Thema des Beitrags abgesteckt, der sich notwendigerweise auf eine – willkürliche – Auswahl von Einzelaspekten beschränkt: Anliegen ist es vor allem, Probleme zu identifizieren, die eine (notwendig interdisziplinär anzulegende)13) vertieftere Aufarbeitung erfordern. Die nachfolgenden Ausführungen kreisen (sub II) zunächst anhand ausgewählter 10)

11) 12)

13)

Programmatisch Fleischer, Gesetzesfolgenabschätzung im Aktien- und Kapitalmarktrecht, in: FS für von Rosen, 2008, S. 595 ff.; aus Schweizer Perspektive eingehend jüngst Häusermann, Eine annahmenbasierte Rechtssetzungsmethode für das Handelsrecht, RW 1 (2015), 49 ff.; in eine ähnliche Richtung weisend Eidenmüller, Forschungsperspektiven im Unternehmensrecht, JZ 2007, 487, 491 (Bewertung der Realfolgen unternehmensrechtlicher Normen als Forschungsprogramm); vgl. auch Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 27 f. Hierzu und zu Alternativmodellen zuletzt Häusermann, RW 1 (2015), 49, 58 ff. m. w. N. Exemplarisch etwa Böhret/Konzendorf, Hdb. Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001, passim; Böhret/Konzendorf, Moderner Staat – Moderne Verwaltung: Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2000, abrufbar unter www.bmi.bund.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Broschueren/2000/Leitfaden_Gesetzfolgenabschaetzung.html (Abrufdatum: 26.11.2015); siehe darüber hinaus die Nachw. oben Fn. 8. Vgl. zu Stellenwert und Herausforderungen der Interdisziplinarität i. R. der Rechtsfolgenabschätzung stellvertretend etwa Bizer, Ökonomisch-juristische Institutionenanalyse – Ziele und praktische Anwendung, in: Bizer/Führ/Hüttig (Hrsg.), Responsive Regulierung, 2002, S. 144 ff.; Ewringmann, Interdisziplinarität – eine Herausforderung für Wissenschaft und Politik, in: Bizer/Führ/Hüttig (Hrsg.), Responsive Regulierung, 2002, S. 215 ff.

„Alternativen: Keine“? Gesetzesfolgenabschätzung in der Finanzmarktregulierung

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Beispiele den Untersuchungsgegenstand und seine normative Einbettung ein. Im Anschluss wird (sub III) auf offene Fragen und ungelöste Probleme eingegangen. Ein – eher pessimistisches – Resumée beschließt den Beitrag (sub IV). II. Standortbestimmung 1. Die Aufgabe Der Begriff der Gesetzesfolgenabschätzung bezeichnet nach einem inzwischen gefestigten Verständnis „Verfahren zur Erkundung und vergleichenden Bewertung von Folgen beabsichtigter bzw. bereits in Kraft getretener Rechtsvorschriften“.14) Zentrales Oberziel ist die Sicherung von Rationalität im Gesetzgebungsverfahren durch die Ermittlung der voraussichtlich zu erwartenden Rechtsfolgen unter Zugriff auf Expertenwissen.15) Gemeinhin unterschieden werden (a) die sog. prospektive Gesetzesfolgenabschätzung, die in der Frühphase der Gesetzgebung, noch vor den ersten (Referenten-)Entwürfen, zur Ermittlung des Handlungsbedarfs und der Regelungsalternativen vorgenommen wird, (b) die begleitende Gesetzesfolgenabschätzung, welche der Überprüfung eines bereits vorliegenden (Referenten-)Entwurfs dient und idealiter insbesondere die Vollzugspraktikabilität und die Kosten-NutzenRelation ermitteln soll, sowie

14)

15)

Exemplarisch Blum, Gutachten I zum 65. DJT, S. I 51; Böhret/Konzendorf, Moderner Staat – Moderne Verwaltung: Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2000, S. 7; Böhret/Konzendorf, Hdb. Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001, S. 1; Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 210; Ennuschat, Wege zu besserer Gesetzgebung, DVBl. 2004, 986, 992; aus Schweizer Perspektive Müller/Uhlmann, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 3. Aufl. 2014, Rz. 77. So prägnant Ennuschat, DVBl. 2004, 986, 992; gleichsinnig Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 210; vgl. auch Böhret/Konzendorf, Moderner Staat – Moderne Verwaltung: Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2000, S. 7; Böhret/Konzendorf, Hdb. Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001, S. 1 ff. Das Rationalitätsziel ist seit jeher Kernpostulat der Gesetzgebungswissenschaft, vgl. nur Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 54 ff., 63 f.; aus der jüngeren Literatur etwa Müller/Uhlmann, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 3. Aufl. 2014, Rz. 53 ff.; Schuppert, Governance und Rechtsetzung, 2011, S. 33 ff.

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Jens-Hinrich Binder

(c) die retrospektive Gesetzesfolgenabschätzung, die auf die Kontrolle der tatsächlichen Rechtsfolgen und damit der kritischen Überprüfung des jeweiligen Rechtsakts abzielt.16) Insgesamt geht es um die Ermittlung und Präzisierung des jeweiligen Handlungsbedarfs, die Ermittlung von Alternativen und die Abwägung von Aufwand und Ertrag.17) Vor diesem Hintergrund drängt sich die Finanzmarktregulierung prima facie als idealer Anwendungsbereich auf. Wie sonst in keinem anderen Rechtsgebiet sind Märkte, Marktteilnehmer und Marktinfrastruktur in Reaktion auf tatsächliche oder vermeintliche Lehren aus der globalen Finanzkrise binnen kürzester Zeit mit komplexen Rechtsakten grundstürzenden Veränderungen unterworfen worden. Prägnant ist von einem „Regulierungstsunami“18) gesprochen worden, der nicht nur die bereits zuvor erfassten Aktivitäten betrifft, sondern gänzlich neue Teilbereiche quasi regulatorisch „erschlossen“ hat.19) Damit drohen typische Risiken kriseninduzierter Rechtsetzung, die seit längerem nicht nur im angloamerikanischen,20) sondern auch im deutschsprachigen Schrifttum aufbe16)

17)

18)

19)

20)

Vgl. näher bspw. Böhret/Konzendorf, Hdb. Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001, S. 5 ff., 89 ff., 255 ff.; Kahl, in: Kluth/Krings, Gesetzgebung, 2014, § 13 Rz. 8 ff. und 27 ff.; Müller/Uhlmann, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 3. Aufl. 2014, Rz. 78, 80, 84 und 176 ff.; Ennuschat, DVBl. 2004, 986, 992 f.; knapp auch Fleischer, FS für von Rosen, 2008, S. 595, 660. Vgl. hierzu zu den jeweiligen Erscheinungsformen nochmals stellvertretend Böhret/ Konzendorf, Hdb. Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001, S. 5 ff., 89 ff., 255 ff.; Böhret/Konzendorf, Moderner Staat – Moderne Verwaltung: Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2000, passim; Bundesministerium des Inneren, Arbeitshilfe zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2009, abrufbar unter www.bmi.bund.de/SharedDocs/ Standardartikel/DE/Themen/OeffentDienstVerwaltung/Buerokratieabbau/ arbeitshilfe_gfa.html, S. 5 ff. (Abrufdatum: 26.11.2015); Kahl, in: Kluth/Krings, Gesetzgebung, 2014, § 13 Rz. 27 ff.; näher zur in Deutschland zugrunde gelegten Methode auch Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 218 ff. Für das Kapitalmarktrecht, aber verallgemeinerungsfähig Mülbert, Regulierungstsunami im europäischen Kapitalmarktrecht, ZHR 176 (2012), 369 ff.; monographisch kürzlich Pflock, Europäische Bankenregulierung, 2014, passim. Vgl. auf aktuellem Stand etwa die Übersichtsdarstellung bei Jung/Bischof, Europäisches Finanzmarktrecht, 2015, passim; für das Bankaufsichtsrecht monographisch Pflock, Europäische Bankenregulierung, 2014, passim. Grundlegend R. Romano, The Sarbanes-Oxley Act and the Making of Quack Corporate Governance, 114 Yale L.J. 1521 (2005); vgl. auch L. E. Ribstein, Bubble Laws, 40 Hous. L. Rev. 77 (2003); zuletzt für die europäische Bankenregulierung L. Enriques/ D. Zetzsche, Quack Corporate Governance, Round III? Bank Board Regulation Under the New European Capital Requirement Directive, Theor. Inq. in Law 16 (2015), 211.

„Alternativen: Keine“? Gesetzesfolgenabschätzung in der Finanzmarktregulierung

71

reitet worden sind:21) Angesichts der ökonomischen Konsequenzen der Krise werden Risiken – insbesondere das Wiederholungsrisiko – verzerrt eingeschätzt (sog. Verfügbarkeitsheuristik)22), was überschießende, vielfach nur symbolische Regulierung und Systembrüche provoziert. Dem könnte eine auf Rationalitätssicherung ausgelegte Gesetzesfolgenabschätzung mit segensreichen Folgen nicht allein für die jeweiligen Regulierungsadressaten, sondern für die Gesamtwirtschaft entgegenwirken. Die Frage nach der Tragfähigkeit der jeweils vorgelegten Analysen einerseits und ihrer Aussagekraft für die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der jeweiligen Vorhaben andererseits stellt sich dabei umso dringlicher, als sich die Regulierungswelle gerade nicht auf punktuelle Anpassungen im etablierten Regelungsgefüge beschränkt. Vielmehr wird eine Vielzahl regulatorischer Vorgaben parallel abgeändert, erweitert oder gar neu eingeführt und wird umfassend in die vorfindlichen ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Errichtung und den Betrieb von Marktteilnehmern und Marktinfrastrukturen eingegriffen. Speziell im Bankensektor wirken – insbesondere mit dem CRD IV-Paket zum qualitativen und quantitativen Bankaufsichtsrecht23) – die reformierten aufsichtsrechtlichen Vorgaben nicht allein auf Einzelaspekte der Organisationsverfassung und der Finanzverfassung ein. Wichtige Bausteine zielen vielmehr entweder (wie das Projekt einer umfassenden Bankenstrukturreform)24) auf grundsätzliche 21)

22) 23)

24)

Vgl. zum Folgenden eingehend Fleischer, Von „bubble laws“ und „quack regulation“ – Zur Kritik kriseninduzierter Reformgesetze im Aktien- und Kapitalmarktrecht, in: FS für Priester, 2007, S. 75 ff., insbesondere 84 ff. m. w. N.; siehe auch Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 300 f., 319. Vgl. L. E. Ribstein, SarbOx: The Road to Nirwana, 2004 Mich. St. L. Rev. 279, 293; im Anschluss daran auch Fleischer, in: FS für Priester, 2007, S. 75, 85. Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG, ABl. (EU) Nr. L 176/338 v. 27.6.2013 („CRD IV“); VO (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 646/2012, ABl. (EU) Nr. L 176/1 v. 27.6.2013 („CRR“). EU-Kommission, Vorschlag für eine VO des Europäischen Parlaments und des Rates über strukturelle Maßnahmen zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Kreditinstituten in der Union v. 29.1.2014, COM(2014) 43 final; im deutschen Recht § 3 Abs. 2 bis 4 KWG sowie § 25f KWG i. d. F. des Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen v. 7.8.2013, BGBl. I, 3090.

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Veränderungen in Geschäftsmodellen und rechtlicher Organisation von Instituten und Institutsgruppen ab oder (wie die Kompetenzen von Aufsichts- und Abwicklungsbehörden im Zusammenhang mit der Sanierungsund Abwicklungsplanung von Kreditinstituten)25) ermöglichen darauf gerichtete aufsichtsrechtliche Eingriffe. Die Gesetzesfolgenabschätzung steht damit vor einer herkulischen Aufgabe: Sollen zuverlässige Aussagen über die Eignung der skizzierten und der weiter relevanten Regulierungsvorhaben gewonnen werden, müssen ebenso vielfältige wie komplexe Einzelmaßnahmen in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen werden und kommt es gerade auf die Wechselwirkungen zwischen den ausgelösten Anpassungen im Markt und deren Implikationen für die Marktteilnehmer und ihre Gegenparteien an. 2. Unreflektierte Methodik, unklarer Nutzen? Der Ausgangsbefund a) Deutsche Gesetzgebung Regulierungsvorhaben auf dem Gebiet der Finanzmarktregulierung werden in Deutschland inzwischen standardmäßig unter Offenlegung des voraussichtlichen Umsetzungsaufwands vorbereitet. Auch auf dieser Grundlage wird jeweils lapidar gefolgert, die gewählte Gestaltung sei ohne Alternativen. Prägnante Beispiele bieten etwa der im Mai 2015 vorgelegte Regierungsentwurf eines „Gesetzes zur Anpassung des nationalen Bankenabwicklungsrechts an den Einheitlichen Aufsichtsmechanismus und die europäischen Vorgaben“, der zahlreiche Änderungen im materiellen Regulierungsrahmen vorsieht,26) und zuvor bereits die Entwürfe für das Gesetz zur Umsetzung der Basel III-Vorgaben (CRD IV-Paket) im deutschen

25)

26)

Dazu RL 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung [diverser Richtlinien und Verordnungen], ABl. (EU) Nr. L 173/190 v. 12.6.2014, Artt. 6 und 7 sowie Art. 15; siehe dazu – auch zur Übertragung auf die Bankenunion – Binder, Gleichung mit (zu?) vielen Unbekannten: Nachhaltige Bankenstrukturen durch Sanierungs- und Abwicklungsplanung?, ZBB 2015, 153, 159 ff.; zum Zusammenhang mit der Bankenstrukturreform bereits Binder, Ring Fencing: An Integrated Approach with Many Unknowns, EBOR 16 (2015), 97, 115 ff.; Binder, Resolution Planning and Structural Bank Reform within the Banking Union, in: Castaneda/Mayes/Wood (Hrsg.), European Banking Union – Prospects and Challenges, 2016, S. 129 ff. Sog. Abwicklungsmechanismusgesetz – AbwMechG, RegE v. 26.5.2015, BR-Drucks. 193/ 15, S. 47 ff.

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Recht aus dem Jahr 201227) sowie für das Trennbankengesetz aus dem Jahr 2013.28) Deren Begründungen heben zum Stichwort „Gesetzesfolgen“ in mehr oder weniger identischen Formulierungen jeweils knapp die „Nachhaltigkeit“ der Vorhaben hervor,29) um sodann, Vorschrift für Vorschrift, den für die „Wirtschaft“ einhergehenden „Erfüllungsaufwand“, berechnet nach Zeitaufwand und Fallzahlen, bis auf Centbeträge genau ausweisen. Dem wird der zu erwartende Verwaltungsaufwand gegenübergestellt. Knapper gehalten sind hingegen die Aussagen zum Erfüllungsaufwand im Regierungsentwurf zur Umsetzung der EU-Bankenrestrukturierungsrichtlinie, der für die Normadressaten lediglich einen Gesamtbetrag („23,60 Mio. €, davon 6,08 Mio. € Erfüllungsaufwand im engeren Sinne und 17,52 Mio. € aus Informationspflichten“) ausweist.30) Dabei wird jeweils auf nicht näher erläuterte „standardisierte Modelle“ verwiesen, die ausweislich einzelner Entwürfe von der BaFin (in Kooperation mit dem Statistischen Bundesamt) entwickelt worden sind.31) Hinsichtlich der mittelbaren Auswirkungen enthalten die Entwürfe letztlich nur Leerformeln: „Die Kosten für [scil. nicht aufsichtsunterworfene] Unternehmen und Verbraucher werden unmittelbar durch dieses Gesetz nicht berührt. Auswirkungen auf die Einzelpreise und das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucherpreisniveau, sind daher nicht zu erwarten.“32) 27)

28)

29)

30)

31)

32)

RegE eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/36/EU über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Anpassung des Aufsichtsrechts an die Verordnung (EU) Nr. 575/ 2012 über die Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen (CRD IV-Umsetzungsgesetz) v. 15.10.2012, BT-Drucks. 17/10974, S. 65 ff. RegE eines Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen v. 4.3.2013, BT-Drucks. 17/12601, S. 30 ff. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Gesetzesfolgenabschätzung und dem Prinzip der „Nachhaltigkeit“ etwa Kahl, in: Kluth/Krings, Gesetzgebung, 2014, § 13 Rz. 2 ff. und 35 ff.; monographisch Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, passim. RegE eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung [verschiedener Rechtsakte] (BRRD-Umsetzungsgesetz) v. 22.9.2014, BT-Drucks. 18/2575, S. 144. Vgl. insbesondere Begr. RegE Trennbankengesetz (Fn. 28), BT-Drucks. 17/12601, S. 31; siehe allgemein zur Messung der „Bürokratiekosten“ – mit umfassenden Recherchemöglichkeiten zu Einzelgesetzen – auch die Internetpräsenz des Statistischen Bundesamts unter https://www-skm.destatis.de/webskm/online (Abrufdatum: 26.11.2015). So wörtlich zuletzt Begr. RegE AbwMechG (Fn. 26), BR-Drucks. 193/15, S. 65; gleichsinnig insoweit Begr. RegE Trennbankengesetz (Fn. 28), BT-Drucks. 17/12601, S. 33 f.; Begr. RegE BRRD-Umsetzungsgesetz (Fn. 30), BT-Drucks. 18/2575, S. 144.

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Gerade diese Aussage ist wenig plausibel: Dass derart umfassende Eingriffe in etablierte Marktstrukturen und Markteilnehmer nicht mit (indirekten) Folgekosten – etwa in Gestalt gestiegener Preise für Bankdienstleistungen – verbunden sein sollen, ist nicht recht einsichtig. Letztlich beschränken sich die Entwürfe auf Vollzugs- und voraussichtliche Compliance-Kosten, während gesamtwirtschaftliche Folgekosten praktisch ausgeblendet bleiben.33) b) Europäische Rechtsetzung Blendet man über auf die europäische Rechtsetzung, ergibt sich ein anderes Bild. Hier hat die EU-Kommission begleitend zu den Entwürfen für sämtliche größere Regulierungsvorhaben in jüngerer Zeit sog. Impact Assessments vorgelegt, die ungleich weiter ausgreifen und schon im Umfang – in der Regel mit Anhängen mindestens 200 Seiten stark – mit den in den deutschen Entwürfen angestellten Kostenberechnungen nichts gemein haben. Die Texte diskutieren nicht nur die Regulierungsziele eingehend. Sie identifizieren vielmehr unterschiedliche Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die gegeneinander abgewogen und einer Analyse nicht nur im Hinblick auf den unmittelbaren Umsetzungsaufwand, sondern einer breit angelegten Kosten-Nutzen-Abwägung unter Einbeziehung der mittelbaren gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen unterzogen werden. Die beigefügten Anhänge bemühen sich um die weitere Aufklärung der relevanten Wirkungsdeterminanten unter ausführlicher Heranziehung der Literatur ebenso wie der in den vorangegangenen Konsultationsprozessen eingegangenen Antworten.34) Insbesondere die quantitativen Studien hierfür sind durch das Forschungszentrum der Kommission, das sog. Joint Research Centre (JRC), erstellt worden.35) Je genauer man allerdings die Texte in den Blick nimmt, desto stärker relativiert sich der damit skizzierte Eindruck. So beruft sich die Folgenabschätzung zum Entwurf der Bankenstrukturreform-Verordnung ausdrück33)

34)

35)

Zu den einzelnen Kostenelementen Bernet, Theoretische Überlegungen zur Kosten/ Nutzenfunktion der Finanzmarktregulierung, in: Bernet/Zwahlen, Kosten/NutzenAnalyse in der Finanzmarktregulierung, 2005, S. 1, 11; im Anschluss daran auch Fleischer, in: FS für von Rosen, 2008, S. 595, 603 f. Vgl. exemplarisch die Impact Assessments zur CRD IV v. 20.7.2011, SEC(2011) 952 final; zur CRR v. 20.7.2011, SEC(2011) 949 final; zur BRRD v. 6.6.2012, SWD(2012) 166 final sowie zur Bankenstrukturreform-VO v. 29.1.2014, SWD(2014) 30 final. Vgl. für die Finanzmarktregulierung die Internetpräsenz unter https://ec.europa.eu/ jrc/en/research-topic/financial-markets-regulation (Abrufdatum: 26.11.2015).

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lich nicht nur auf Risiken aus der Verbindung von Einlagen- und Investmentbankengeschäften, sondern auch auf Sanierungs- und Abwicklungshindernisse, die bei größeren, komplexeren Unternehmensgruppen stärker ausgeprägt seien als bei kleineren, einfach strukturierten Einheiten.36) Soweit aus den Anhängen ersichtlich, stützen die erhobenen Daten diese Thesen indes nur begrenzt.37) Eine vergleichende Analyse tatsächlich vorfindlicher Gruppenstrukturen und der damit einhergehenden Probleme für die Sanierungs- und Abwicklungsfähigkeit sowie der resultierenden Ansteckungsgefahren ist nicht unternommen worden; erst auf ihrer Grundlage jedoch könnten Zielprogramm und voraussichtliche Auswirkungen der Strukturreform präziser kalibriert bzw. ermittelt werden.38) Entsprechendes gilt für die Folgenabschätzung zur Bankensanierungs- und -abwicklungsrichtlinie (BRRD), die ebenfalls auf das Problem hinweist, eine empirische Aufarbeitung aber nicht unternimmt.39) Eine umfassende Bewertung bedürfte weiterer Detailuntersuchungen, die hier nicht geleistet werden können.40) Schon die obigen Beispiele zeigen indes nach alledem, dass auch die europäischen Rechtsetzungsinitiativen zentrale Determinanten für die Ausgestaltung des jeweiligen Regulierungsprogramms nicht oder bestenfalls unzureichend aufgeklärt haben. c) Vergleich und Folgefragen Vergleicht man die in den deutschen Gesetzentwürfen ausgewiesenen Informationen zu „Gesetzesfolgen“ mit den auf der Ebene der europäischen Gesetzgebung vorgelegten Aussagen, drängt sich der Eindruck auf, dass von vornherein ein anders gelagertes Informationsbedürfnis befriedigt werden soll: Die deutschen Entwürfe teilen – wie angedeutet: mit seltsam anmutender Detailfreude – im Wesentlichen unmittelbare Umsetzungs36) 37)

38) 39)

40)

Impact Assessment zur Bankenstrukturreform-VO, SWD(2014) 30 final, S. 11 ff. Siehe insbesondere Impact Assessment zur Bankenstrukturreform-VO, SWD(2014) 30 final, Anhang 4.2, wo Bankenratings mit dem Ziel der Ermittlung impliziter Staatsgarantien für große, komplexe, vernetzte Institute – mit nur bedingt aussagekräftigen Ergebnissen – ausgewertet werden. Vgl. dazu näher Binder, EBOR 16 (2015), 97, 116 f. Impact Assessment zu BRRD, SWD(2012) 166 final, insbesondere S. 96 ff. (Annex II) zu Ursachen größen-, komplexitäts- und vernetzungsinduzierter Probleme (ohne Detailanalyse der rechtlichen, organisatorischen und finanzierungsinduzierten Abhängigkeiten). Vgl. exemplarisch für das US-amerikanische Recht die Fallstudien bei J. C. Coates, 124 Yale L.J. 882, 926 ff. (2015).

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kosten mit, was offenbar ein besonderes Bedürfnis nach einer Reduktion von Bürokratieaufwand für Unternehmen und Verwaltung reflektiert.41) Der europäische Ansatz ist demgegenüber quasi ganzheitlich orientiert: Hier werden die im Planungsprozess berücksichtigten Gesichtspunkte umfassend dargestellt, gewichtet und einer sowohl quantitativen als auch qualitativen Analyse unterzogen. Auch wenn (gravierende) Defizite im Hinblick auf die Datenbasis zu konstatieren sind, wird dieser Ansatz dem theoretischen Anspruch einer auf die Rationalität des gesamten Rechtsetzungsprozesses ausgerichteten Gesetzesfolgenabschätzung42) jedenfalls auf den ersten Blick eher gerecht als die gegenständlich sehr eingeschränkte Perspektive des deutschen Modells. Die damit umrissenen Unterschiede und die für beide Ebenen konstatierten Schwächen verschärfen die eingangs aufgeworfenen Fragen nach der Tragfähigkeit und Aussagekraft der Gesetzesfolgenabschätzung für das Finanzmarktregulierungsrecht: Wie hilfreich ist die deutsche Konzentration auf eine kleinteilige Ermittlung des Umsetzungsaufwands? Ist das weiter ausgreifende, aber hinsichtlich der Datenbasis defizitäre europäische Modell vorzugswürdig? Ist eine wirklich umfassende, qualitative und quantitative Folgenabschätzung wirklich leistbar, oder reflektiert der deutsche Ansatz vielleicht nur die nüchterne Einsicht in die Leistungsgrenzen der Folgenprognose? Ob und inwieweit die Erwartungen an die Gesetzesfolgenabschätzung erfüllt werden, hängt bei alledem (auch) im untersuchten Referenzgebiet davon ab, welche Fragen sie eigentlich beantworten soll. Dafür kommt es auch auf die normative Einbettung an, die nachfolgend in den Blick zu nehmen ist. 3. Normative Einbettung im deutschen und im europäischen Recht a) Deutsche Gesetzgebung Die normative Verankerung der Gesetzesfolgenabschätzung ist bislang eher schwach ausgeprägt.43) Rechtsgrundlage ist die Gemeinsame Geschäfts41)

42) 43)

Vgl. in diesem Sinne – außerhalb des hier untersuchten Sachzusammenhangs, aber offensichtlich auf die Finanzmarktregulierung ohne weiteres übertragbar – allgemein bspw. Karpen, in: FS für Söllner, 2000, S. 479, 480 (gestiegenes „öffentliches Kostenbewusstsein“ als Hauptmotiv für den Ausbau der Gesetzesfolgenabschätzung mit der Folgerung, vom Gesetzgeber werde „vor allem eine Gesetzeskostenprognose erwartet“). Siehe hierzu nochmals oben sub 1. So zutr. Köck, VerwArch 93 (2002), 1, 13.

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ordnung der Bundesministerien (GGO)44), deren einschlägige Regelungen maßgeblich auf den Leitbild- und Programmbeschluss „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ der Bundesregierung vom 1. Dezember 1999 sowie den Kabinettsbeschluss „Initiative Bürokratieabbau“ vom 26. Februar 2003 zurückgehen.45) § 43 Abs. 1 Nr. 5 GGO verlangt Ausführungen zu Gesetzesfolgen als Bestandteil jeder Gesetzesbegründung. Die Regelung wird ergänzt durch § 44 GGO, der in Absatz 1 Sätze 1 und 2 den Begriff der Gesetzesfolgen definiert als die „wesentlichen Auswirkungen des Gesetzes […]. Sie umfassen die beabsichtigten Wirkungen und die unbeabsichtigten Nebenwirkungen“.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 4 GGO sind auch die „langfristigen Wirkungen“ zu identifizieren. Die Fokussierung auf die unmittelbaren Vollzugskosten ist somit nicht normativ vorgeprägt. Die (Selbst-)Beschränkung der Ministerialbürokratie könnte praktischen Problemen zuzuschreiben sein,46) vielleicht aber – jedenfalls im untersuchten Referenzgebiet47) – auch einem begrenzten Informationsbedürfnis der politisch verantwortlichen Akteure, das die direkten Vollzugskosten pragmatisch in den Vordergrund der Betrachtung stellt, indirekte Regulierungsfolgen – vielleicht im Interesse einer Maximierung der politischen Gestaltungsspielräume? – dagegen unterschlägt. Für letzteres spricht immerhin die Verengung der Perspektive, die für das im August 2006 verabschiedete Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates (NKRG)48) charakteristisch ist: § 1 Abs. 2 und 3 NKRG betonen die Ziele des „Bürokratieabbaus“ und der Überprüfung des „Erfüllungsaufwands neuer Regelungen für Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und öffentliche Verwaltung“, während Absatz 4 die Überprü44) 45)

46) 47)

48)

Abrufbar unter www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_21072009_ O11313012.htm, Stand: 1.11.2011 (Abrufdatum: 26.11.2015). Zum Hintergrund Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage v. 4.12.2003, BT-Drucks. 15/2131, S. 1; aus der Literatur z. B. Köck, VerwArch 93 (2002), 1, 3 f., 11 ff.; Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 210 ff. Zu diesen noch unten sub III. Vgl. zu weiter gefassten Folgenabschätzungen für andere Politikbereiche Bundesregierung, Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Praxistest zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2002, abrufbar unter www.verwaltung-innovativ.de (Abrufdatum: 26.11.2015). BGBl. I S. 1866; siehe dazu etwa Dietze/Färber, Ein Jahr Nationaler Normenkontrollrat, Verwaltung & Management 13 (2007), 283 ff.; Veit/Heindl, Politikberatung im Spannungsfeld zwischen Unabhängigkeit und Relevanz: Der Nationale Normenkontrollrat, ZPB 2013, 109 ff.

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fung der „angestrebten Ziele und Zwecke von Regelungen“ ausdrücklich ausklammert. Die Verengung der Perspektive auf unmittelbare Vollzugskosten i. S. des „Bürokratieabbaus“ dürfte sich mit der jüngst beschlossenen „One-in-one-out“-Initiative der Bundesregierung tendenziell noch verschärfen. Danach sollen künftig mit jedem Regelungsvorhaben, das neue Belastungen mit sich bringt, alte Belastungen in entsprechendem Umfang abgebaut werden, wobei explizit an die etablierten Methoden zur Ermittlung des Erfüllungsaufwands angeknüpft wird.49) b) Europäische Rechtsetzung Das Primäre Unionsrecht kennt keine Vorgaben zur Gesetzesfolgenabschätzung, auch wenn vereinzelt die Auseinandersetzung mit Regulierungsfolgen angemahnt wird.50) Konzeption und Durchführung beruhen auf Verlautbarungen der Kommission, welche die Gesetzesfolgenabschätzung als Bestandteil eines „Better Regulation“-Programms etabliert haben,51) sowie einer interinstitutionellen Vereinbarung aus dem Jahre 2003.52) Das Programm nimmt Vorschläge einer Expertenkommission unter dem Vorsitz des französischen Staatsratsvorsitzenden Mandelkern vom November

49)

50)

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Näher Bundesregierung, Kabinettsbeschluss v. 11.12.2014: Eckpunkte zur weiteren Entlastung der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie, abrufbar unter www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Buerokratieabbau/Programm/Pro gramm-Ueberblick.html?nn=392426, S. 2 f. (Abrufdatum: 26.11.2015); Bundesregierung: „Bürokratiebremse – Konzeption einer One in, one out-Regel, abrufbar unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/Buerokratieabbau/Anlagen/1503-25-one-in-one-out.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (Abrufdatum: 13.12.2015). Vgl. insbesondere Art. 39 Abs. 2 AEUV für die Agrarpolitik, Art. 114 Abs. 3 AEUV für die Binnenmarktpolitik, Art. 191 Abs. 3 AEUV für die Umweltpolitik, ferner Art. 5 Abs. 4 EUV und Art. 310 Abs. 4 AEUV, die Aspekte der Verhältnismäßigkeit thematisieren. Vgl. hierzu eingehend Schroeder, ZÖR 68 (2013), 225, 232 ff., 253. Vgl. zunächst EU-Kommission, Europäisches Regieren – Ein Weißbuch, 25.7.2001, KOM(2001) 428 endg.; EU-Kommission, Europäisches Regieren: Bessere Rechtsetzung, 6.6.2002, KOM(2002) 275 endg.; EU-Kommission, Aktionsplan Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds, 5.6.2002, KOM(2002) 278 endg.; EUKommission, Mitteilung über Folgenabschätzung, 5.6.2002, KOM(2002) 276 endg.; hierzu und zum Folgenden etwa Böllhoff, Bessere Rechtsetzung in der Europäischen Union, in: Bohne (Hrsg.), Bürokratieabbau, S. 123, 124 ff.; Kahl/Hilbert, in: FS für Kloepfer, 2013, S. 399 ff.; Konzendorf, in: Becker/Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, 2006, S. 540, 542 ff.; Lange, Gesetzesfolgenabschätzung auf der Ebene der Europäischen Union, ZG 2001, 268 ff.; Lund, Verwaltungsrundschau 2011, S. 87 ff.; Schroeder, ZÖR 68 (2013), 225 ff. ABl. (EU) 2003 Nr. C 321/1.

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2001 auf („Mandelkern-Bericht“).53) Grundlage für die Impact Assessments sind gegenwärtig Leitlinien der EU-Kommission in der Fassung von 2009, in welchen die Ziele und Methodik der Impact Assessments definiert werden und ausdrücklich die Notwendigkeit einer umfassenden, nicht lediglich Vollzugskosten erfassenden Folgenabschätzung betont wird.54) Im Zuge des „Regulatory Fitness“-Programms werden diese Grundlagen gegenwärtig umfassend überarbeitet.55) 4. Fazit Die Gründe für die unterschiedliche Intensität der Gesetzesfolgenabschätzung in der deutschen und der europäischen Finanzmarktregulierung liegen nicht im normativ-institutionellen Rahmen. Auf beiden Ebenen wird vielmehr – in Deutschland jedenfalls in der GGO der Bundesregierung, auf der EU-Ebene in den Leitlinien der Kommission – ein umfassender Ansatz postuliert, der sich nicht auf die Vollzugskosten beschränkt, sondern auf die umfassende Aufklärung der unmittelbaren und mittelbaren Regulierungsfolgen und eine Evaluierung der Zweck-Mittel-Relation abzielt. Zugespitzt ließe sich festhalten: Ziele und Maßstäbe für die Gesetzesfolgenabschätzung sind auf beiden Ebenen vergleichbar ambitioniert. Die deutsche Praxis bleibt mit der Fixierung auf unmittelbare Vollzugskosten indessen schon formal hinter diesem Anspruch zurück, die europäische Praxis dagegen „nur“ materiell, indem die vorgelegten Impact Assessments zwar konzeptionell deutlich weiter ausgreifen, die erforderliche Datenbasis aber nur unzureichend ermitteln. Beides ließe sich möglicherweise mit den faktisch-methodologischen Schwierigkeiten der Ge-

53)

54) 55)

Mandelkern Group on Better Regulation, Final Report v. 13.11.2001, abrufbar unter http://ec.europa.eu/smart-regulation/better_regulation/documents/ mandelkern_report.pdf, insbesondere S. 19 ff., 56 ff. (Abrufdatum: 26.11.2015); dazu nochmals Smeddinck, Optimale Gesetzgebung im Zeitalter des Mandelkern-Berichts, DVBl. 2003, 641, 643 f. EU-Kommission, Leitlinien zur Folgenabschätzung, 15.1.2009, SEK(2009) 92, insbesondere S. 37 ff. Vgl. dazu EU-Kommission, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (REFIT): Bestandsaufnahme und Ausblick v. 18.6.2014, COM(2014) 368 final sowie die Mitteilung v. 19.5.2015, Bessere Ergebnisse durch bessere Rechtsetzung – eine Agenda der EU, COM(2015) 215 final; ergänzend Commission Staff Working Document, Better Regulation Guidelines v. 19.5.2015, SWD(2015) 111 final, S. 16 ff.

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setzesfolgenabschätzung im hier untersuchten Referenzgebiet erklären, auf die daher der abschließende Blick zu richten ist. III. Zwei Problemschwerpunkte 1. Unklare Zielgröße, unklarer Maßstab Die Probleme der Gesetzesfolgenabschätzung in der Finanzmarktregulierung, auf die hier nur Schlaglichter geworfen werden können, beginnen bereits bei der Definition des Zielprogramms und des Bewertungsmaßstabs. Zwar gilt unverändert, dass jede Regulierungsmaßnahme der Trias Systemstabilität, Systemeffizienz und Kundenschutz zu dienen hat.56) Daraus folgt indes schon deshalb keine operationalisierbare Zielfunktion, weil das Verhältnis der einzelnen Variablen von komplexen Wirkungsdeterminanten abhängt, die ihrerseits nur unzureichend erforscht sind.57) Zudem bleibt gerade über der hektischen Regulierungstätigkeit der jüngsten Zeit offen, unter welchem Gesichtspunkt der Regelungsbestand eigentlich optimiert werden soll: Effektivität (i. S. der Wirksamkeit von Normbefehl und Sanktionenprogramm) oder Effizienz (i. S. eines angemessenen Kosten/ Nutzen-Verhältnisses)?58) Schon die Effektivität ist angesichts der unklaren Wirkungszusammenhänge ausgesprochen schwierig zu definieren und erst recht zu messen. Effizienzprognosen und Effizienzmessungen gehen an Komplexität noch darüber hinaus, weil sie zur Gewichtung von Kosten und (z. T. konfligierenden) Nutzenaspekten gerade auch im Hinblick auf die Fernwirkungen zwingen.59) 2. Informations- und Komplexitätsprobleme als wesentliche Hürden Diese Gesichtspunkte sind verknüpft mit dem Problem der Verfügbarkeit der für die Prognose von Rechtsfolgen erforderlichen Informationen. Erst 56) 57) 58) 59)

Vgl. allgemein Bernet, in: Bernet/Zwahlen, Kosten/Nutzen-Analyse, 2005, S. 1, 6 ff.; im Anschluss daran Fleischer, in: FS für von Rosen, 2008, S. 595, 602 f. Dazu sogleich unten sub 2. Zu beidem im hier untersuchten Zusammenhang Deckert, Zur Methodik der Folgenantizipation in der Gesetzgebung, ZG 1995, 240, 244 ff. Weiterführend hierzu aus der US-amerikanischen Literatur J. Cochrane, Challenges for Cost-Benefit Analysis of Financial Regulation, 43 J. Legal Stud. S63 (2014); J. N. Gordon, The Empty Call for Benefit-Cost Analysis in Financial Regulation, 43 J. Legal Stud. S351 (2004); siehe auch T. Philippon, Efficiency and Benefit-Cost Analysis of the Financial System, 43 J. Legal Stud. S107 (2014); vgl. auch Y. A. Lee, 57 Ariz. L. Rev. 85 (2015).

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auf deren Basis sind die qualitative Gewichtung ebenso wie eine Quantifizierung und empirische Aufarbeitung möglich.60) Rationale Rechtsetzung setzt, mit anderen Worten, eine hinreichende Informationsbasis unabhängig davon voraus, ob die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen gesetzlicher Eingriffe quantitativ („formal“) oder lediglich qualitativ bewertet werden sollen.61) Je komplexer das Referenzgebiet, d. h. je größer die Zahl der unabhängig voneinander bestehenden oder miteinander korrelierten Wirksamkeitsvoraussetzungen, desto schwieriger werden sich die Informationsbeschaffung und daher auch die auf ihrer Basis vorgenommene Folgenprognose erweisen.62) Vor diesem Hintergrund ist die Komplexität der exemplarisch Regulierungsvorhaben ein möglicherweise fatales Hindernis für eine tragfähige Folgenabschätzung: Gerade weil umfassend in Organisations- und Finanzverfassung, aber auch in Geschäftsmodelle eingegriffen wird, lassen sich die Auswirkungen einzelner Regulierungsmaßnahmen kaum mehr isoliert bewerten. Damit entziehen sie sich der methodisch tragfähigen, empirisch soliden Überprüfung. Das Problem ist keineswegs auf die Finanzmarktregulierung beschränkt,63) hier aber besonders augenfällig.64) Erschwerend kommt hinzu, dass sich die indirekten Folgekosten („social costs“) kaum quantifizieren lassen.65) Und selbst mit Blick auf die unmittelbaren Vollzugskosten suggerieren nicht zuletzt die

60)

61) 62)

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Häusermann, RW 1 (2015), 49, 58 f. und 62 ff.; allgemein bereits Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 35; Müller/Uhlmann, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 3. Aufl. 2014, Rz. 470 ff. Vgl. zum Unterschied zwischen qualitativer und quantitativer Kosten-Nutzen-Analyse wiederum Häusermann, RW 1 (2015), 49, 58 f. m. w. N. Vgl. wiederum Häusermann, RW 1 (2015), 49, 72 f.; deutlich auch bereits Smeddinck, DVBl. 2004, 641, 644; siehe nochmals – für das Unternehmensrecht, aber verallgemeinerungsfähig – auch Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 17 ff. Vgl. allgemein den sehr prägnanten Befund bei Reimer, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 9 Rz. 110: „Häufig unterstellt der Gesetzgeber einen starren Realbereich (d. h. ceteris-paribus-Situationen). In Wahrheit greift er stets in ein Mobile sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen ein.“ Vgl. allgemein jüngst M. T. Cappucci, Prudential Regulation and the Knowledge Problem, 9 Virg. L. & Bus. Rev. 1 (2014); R. Romano, Regulating in the Dark and a Postscript Assessment of the Iron Law of Financial Regulation, 43 Hofstra L. Rev. 25 (2014). Vgl. aus der US-amerikanischen Literatur im hier untersuchten Zusammenhang eingehend etwa J. C. Coates, 124 Yale L.J. 882, 997 ff. (2015); J. N. Gordon, 43 J. Legal Stud. S351 (2014); optimistischer dagegen bspw. C. R. Sunstein, 124 Yale L.J. Forum 263 (2015); E. A. Posner/G. Weyl, 124 Yale L.J. Forum 246 (2015); E. A. Posner/ G. Weyl, Benefit-Cost Paradigms in Financial Regulation, 43 J. Legal Stud. S 1 (2014).

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deutschen Gesetzentwürfe eine prognostische Treffsicherheit, die erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist.66) IV. Was folgt? Ein Fazit „Alternativen: Keine“? Polemisch zugespitzt, reflektiert diese in den deutschen Regierungsentwürfen stets wiederkehrende Beschwörung wenig mehr als eine „Anmaßung von Wissen“ (Hayek). Ob der Anspruch erreicht wird, durch umfassende Aufklärung von Handlungsmöglichkeiten und zu erwartenden Regulierungsfolgen die Rationalität der Gesetzgebung zu stärken, muss für die deutsche wie für die europäische Finanzmarktregulierung gegenwärtig bezweifelt werden. Ist die Gesetzesfolgenabschätzung damit a limine als „leeres Versprechen“, als Instrument zur scheinrationalen Verbrämung originär politisch festzulegender Bewertungen abzulehnen?67) Dieses Verdikt geht wohl zu weit, zumal die praktischen Anwendungsfälle das methodische Potential der Gesetzesfolgenabschätzung nicht ausreizen.68) Fehlt es – wie ausgeführt – nicht zuletzt an den erforderlichen empirischen Erkenntnissen zu den für die umfassenden strukturellen Veränderungen maßgeblichen Wirkungsdeterminanten, wäre hier anzusetzen, anstatt Ziele und Methoden der Gesetzesfolgenabschätzung in Gänze zu verwerfen.

66) 67) 68)

Deutliche Kritik angesichts erheblich divergierender Erhebungen aus der Branche etwa bei Nationaler Normenkontrollrat, Jahresbericht 2014, S. 35 f. In diese Richtung deutlich J. N. Gordon, 43 J. Legal Stud. S 351 (2014). Abzuwarten bleibt vielmehr die künftige Ex-post-Valuierung; vgl. dazu allgemein bereits Fleischer, in: FS für Priester, 2007, S. 75, 92; siehe auch die allgemeinen Überlegungen für eine Weiterentwicklung der Methodik bei Häusermann, RW 1 (2015), 49, 76 ff.

Pfändungsschutzkonto – Aktuelle Entwicklungen GEORG BITTER Inhaltsübersicht I. Einführung II. Kostenproblematik III. Problemfall: Debitorisches Konto 1. Kein Pfändungsschutz durch das Verrechnungsverbot des § 850k Abs. 6 ZPO 2. Generelle Unanwendbarkeit des § 850k ZPO beim debitorischen Konto 3. Freiwillige Einführung eines Zwei-Konten-Modells durch die Kreditwirtschaft IV. Gemeinschaftskonten und vervielfachter Pfändungsschutz durch das P-Konto V. Verfügungszeitpunkt bei nachträglichen Rückbuchungen VI. Monatsendproblematik, Doppel- und Nachzahlungen

1. Eilige Reparatur durch den Gesetzgeber 2. Differenzierte Lösung für Doppelzahlungen 3. Fortbestehende Problematik bei Nachzahlungen VII. Zwecklose Pfändung (§ 850l ZPO) VIII. Kontenleihe 1. Pfändung durch Gläubiger des kontoführenden Dritten 2. Pfändung des Anspruchs auf Auskehrung der eingegangenen Beträge 3. Kein Schutz über § 765a ZPO bei bewusster Nichtnutzung eines eigenen P-Kontos IX. Kontopfändung und Insolvenz X. Fazit

Am 24. April 2008 hatte ich das Vergnügen, im bankrechtlichen Praktikerseminar des Jubilars in Bonn zum Thema „Pfändungsschutzkonto und Girokonto für Jedermann – Vom Sinn und Unsinn verbraucherschützender Gesetzgebung und Rechtsprechung im Bankrecht“ vortragen zu dürfen.1) Kurz zuvor war der Regierungsentwurf des inzwischen in Kraft befindlichen Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes veröffentlicht worden, den ich als Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags sowie publizistisch kritisch begleitet hatte.2) Viele der damals vorhergesehenen Probleme mit dem neuen Pfändungsschutzkonto (P-Konto) haben sich später tatsächlich realisiert; andere nicht vorhergesehene Schwierigkeiten wie die Anwendung auf Gemeinschaftskonten (unten IV) oder die sog. Monatsendproblematik (unten VI) sind

1) 2)

Folien zum Vortrag auf www.georg-bitter.de unter „Lehrstuhlinhaber“/„Vorträge“. Bitter, Das Pfändungsschutzkonto – Ein untaugliches Konstrukt – Kritische Anmerkungen zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsrechts, WM 2008, 141 ff.

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hinzugekommen.3) Angesichts des frühen Interesses des Jubilars an der Problematik darf ich darauf hoffen, dass auch die nachfolgenden Überlegungen auf sein offenes Ohr – und natürlich auch auf das offene Ohr vieler anderer Leser der Festschrift – stoßen. Werden hier doch die aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre zum P-Konto aufgezeigt. I. Einführung Die Regeln zum Pfändungsschutz sollen dem Schuldner seine persönliche Lebensgrundlage erhalten und ihn zu weiterer entgeltlicher Tätigkeit motivieren.4) Das Gesetz gewährt diesen Schutz auch dann, wenn die dem Lebensunterhalt dienenden Beträge – etwa aus Arbeitseinkommen oder Sozialleistungen – auf ein Girokonto fließen.5) Mit dem Inkrafttreten des soeben erwähnten Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes am 1. Juli 20106) ist das gesetzliche Schutzkonzept grundlegend verändert worden.7) Das frühere, bis Ende 2011 zunächst noch als Alternative zum P-Konto fortgeltende System des Kontopfändungsschutzes knüpfte an den Eingang (partiell) unpfändbarer Beträge auf dem Konto an und verlängerte den Pfändungsschutz für den neuen Pfändungsgegenstand – die Forderung gegen die Bank – differenziert nach Arbeitseinkommen und Sozialleistungen.8) Das neue Schutzkonzept gewährt den Pfändungsschutz nun – beschränkt auf Guthaben (unten III) – ohne Rücksicht auf die Herkunft der Mittel pauschal i. H. bestimmter Festbeträge, dies aber nur noch auf dem speziellen P-Konto (§ 850k ZPO n. F.).

3)

4)

5) 6)

7)

8)

Dazu Bitter, Das neue Pfändungsschutzkonto (P-Konto) – eine Zwischenbilanz, ZIP 2011, 149 ff.; Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38b ff., zur Monatsendproblematik insbes. Rz. 38o. Völzmann-Stickelbrock, Das Kontokorrentkonto – Risikofaktor für den Pfändungsschutz von Arbeitseinkommen des Schuldners nach § 850k ZPO, ZVI 2005, 337 ff. mit Überblick zum alten Recht; Dieker/Remmert, Der Entwurf eines Gesetzes zur Neustrukturierung und Modernisierung des Pfändungsschutzes, NZI 2009, 708 f. Dazu Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 1 ff. Gesetz v. 7.7.2009, BGBl. I, 1707; dazu Schumacher, Ein großer Tag für Verbraucher und Selbstständige: Das Gesetz zur Reform des Kontopfändungsschutzes vom 7. Juli 2009, ZVI 2009, 313. Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 27a ff.; Überblick zur Entwicklung auch bei Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 55 ff. Dazu Völzmann-Stickelbrock, ZVI 2005, 337 ff.; Bitter, WM 2008, 141 f.; Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 27b ff.

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Auf anderen als P-Konten kann unter dem neuen Regime nur noch im ganz besonderen Ausnahmefall gemäß § 765a ZPO Schutz gewährt werden wegen einer „Härte, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist“.9) Eine solche ist jedoch insbesondere dann nicht gegeben, wenn der Betroffene (bewusst) nicht von der Möglichkeit des Schutzes über ein (eigenes) P-Konto Gebrauch macht.10) Im Übrigen ist aber die Anwendung des § 765a ZPO nicht generell durch § 850k ZPO ausgeschlossen,11) insbesondere zur Korrektur diverser Schutzlücken des neuen Pfändungsschutzsystems wie etwa bei debitorischen Konten (unten III 2), in einigen Fällen nachträglicher Erstattung des abgebuchten Betrags (unten V), bei Doppel- und Nachzahlungen (unten VI 2 und 3) oder bei der Kontenleihe (unten VIII). In der Insolvenz ist § 765a ZPO entsprechend anwendbar (unten IX). II. Kostenproblematik Im Mittelpunkt meines Bonner Vortrags vom 24. April 2008 stand die Problematik einer Kostenbelastung der Kreditinstitute durch Pfändungsmaßnahmen, welche es bereits unter dem alten System des Pfändungsschutzes

9)

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11)

Bejahend LG Essen, Beschl. v. 9.4.2014 – 7 T 58/14, JurBüro 2014, 436 (Abfindung auf regulärem Konto und versäumte Umwandlung in ein P-Konto); LG Saarbrücken, Beschl. v. 4.6.2012 – 5 T 189/12, VuR 2014, 69 (Sozialleistung auf regulärem Konto und versäumte Umwandlung in ein P-Konto); verneinend AG Schwarzenbek, Beschl. v. 24.5.2012 – 5 M 962/12, ZVI 2012, 354 und AG Bielefeld, Beschl. v. 12.6.2012 – 185 M 0640/12, ZVI 2012, 315 (Sparkonto); ausführlich und m. w. N. zu § 765a ZPO Schultheiß, Aktuelle Entwicklungen im Recht des Pfändungsschutzkontos – ein Rechtsprechungsbericht, ZBB 2013, 114, 117 f.; knapper Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 111; siehe auch Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 69. BVerfG, Beschl. v. 25.8.2014 – 1 BvR 2243/14, NJW 2014, 3771; BVerfG, Beschl. v. 29.5.2015 – 1 BvR 163/15, WM 2015, 1376 m. Anm. Bitter, WuB 2015, 601; LG Heilbronn, Beschl. v. 27.8.2012 – 1 T 209/12 Hn, BeckRS 2012, 20053; VG Göttingen, Beschl. v. 8.10.2012 – 1 B 240/12, BeckRS 2012, 58133; AG Bielefeld, Beschl. v. 12.6.2012 – 185 M 0640/12, ZVI 2012, 315 (zweiter Freigabeantrag); Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 656; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 90; näher Schultheiß, ZBB 2013, 114, 117 f.; großzügiger LG Saarbrücken, Beschl. v. 4.6.2012 – 5 T 189/12, VuR 2014, 69; siehe zur Kontenleihe auch noch unten VIII 3. Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 7; siehe auch BGH, Beschl. v. 13.2.2014 – IX ZB 91/12, NZI 2014, 414 = ZVI 2014, 184; offen zum Verhältnis des § 765a ZPO zu § 850k ZPO BVerfG, Beschl. v. 25.8.2014 – 1 BvR 2243/14, NJW 2014, 3771; sehr zurückhaltend zu § 765a ZPO für den Fall der unten unter VIII noch zu diskutierenden Kontenleihe sodann BVerfG, Beschl. v. 29.5.2015 – 1 BvR 163/15, WM 2015, 1376 m. Anm. Bitter, WuB 2015, 601.

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gab und die sich seit Einführung des P-Kontos nicht wesentlich verändert hat. Da Kontenpfändungen für die betroffenen Banken schon immer mit erheblichen Kosten verbunden waren – unter anderem durch die Pflicht zur Erteilung einer Drittschuldnererklärung, aber auch durch die laufende Überwachung des Kontos – und der Gläubiger dem Drittschuldner diese Kosten nach h. M. nicht zu erstatten hat,12) hatten verschiedene Kreditinstitute in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen die Verpflichtung des Kontoinhabers aufgenommen, der Bank für die Bearbeitung und Überwachung von Pfändungsmaßnahmen ein Entgelt zu bezahlen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind derartige Klauseln allerdings wegen eines Verstoßes gegen § 307 BGB (früher § 9 AGBG) für unwirksam erklärt worden.13) Dem habe ich seit jeher widersprochen,14) unter anderem auch in meinem damaligen Vortrag in Bonn. Es mag zwar zutreffend sein, dass die Bank bei Erteilung der Drittschuldnererklärung nach § 840 ZPO eine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt.15) Daraus folgt aber nicht, dass eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung, die den Kunden mit den daraus entstehenden Kosten belastet, gegen § 307 BGB (früher § 9 AGBG) verstößt.16) Denn insoweit ist zu berücksichtigen, dass auch diese Kosten im Zusammenhang mit der Führung 12)

13) 14)

15)

16)

Vgl. zu den Kosten der Drittschuldnererklärung BAG, Urt. v. 31.10.1984 – 4 AZR 535/82, ZIP 1985, 563 = NJW 1985, 1181 m. Anm. Petersen, BB 1986, 188; BVerwG, Urt. v. 8.12.1993 – 8 C 43/91, NVwZ-RR 1994, 698 = Rpfleger 1995, 261 (wo im Leitsatz hinsichtlich der Erstattungspflicht allerdings fälschlich vom Schuldner statt vom Gläubiger die Rede ist); w. N. bei Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 9 in Fn. 10. BGH, Urt. v. 18.5.1999 – XI ZR 219/98, BGHZ 141, 380 = ZIP 1999, 1090; BGH, Urt. v. 19.10.1999 – XI ZR 8/99, NJW 2000, 651 f. = ZIP 2000, 16. Vgl. eingehend gegen die Gebührenrechtsprechung des BGH Bitter, Wer schützt den Verbraucher vor dem Verbraucherschutz?, in: FS für Ott, 2002, S. 153 ff., hier insbes. S. 175 f. m. w. N.; Bitter, Bankpraxis zwischen Recht und Wirtschaft – Bankentgelte, Kreditkartenverfahren und weitergeleiteter Auftrag in juristisch-ökonomischer Betrachtung, ZBB 2007, 237, 240 ff.; Bitter, Echter und scheinbarer Verbraucherschutz in der Bankpraxis, ZIP 2008, 2155, 2156 f.; Bitter, Aufschub des Verjährungsbeginns bei unklarer und klarer Rechtslage? – Grenzen der Rückforderung von Abschlussentgelten beim Darlehen, JZ 2015, 170 ff. So insbes. BGH, Urt. v. 18.5.1999 – XI ZR 219/98, BGHZ 141, 380, 386 ff. = ZIP 1999, 1090 unter II 2a) aa) der Gründe; BGH, Urt. v. 19.10.1999 – XI ZR 8/99, NJW 2000, 651 f. = ZIP 2000, 16 unter II 2a) der Gründe. Wie hier auch Rösler, Inhaltskontrolle von Preisnebenabreden eines Kreditinstituts, BB 1999, 127, 128; allgemein für Entgeltklauseln auch Horn, Die richterliche Kontrolle von Entgeltklauseln nach dem AGB-Gesetz am Beispiel der Kreditwirtschaft, WM 1997, Sonderbeilage Nr. 1, S. 15; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 240.

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des Girokontos angefallen sind und daher betriebswirtschaftlich auf diese Dienstleistung der Banken umgerechnet werden müssen. Ist dies aber der Fall, dann erscheint es aus Gründen der Allokationseffizienz17) allein angemessen, auch gezielt denjenigen Kunden mit den entstehenden Kosten zu belasten, durch dessen Verhalten (= Nichterfüllung der Forderung des Pfändungsgläubigers) die Kosten verursacht wurden,18) wie dies nunmehr in § 675o Abs. 1 Satz 4 BGB ausdrücklich für die Unterrichtung über die Nichtausführung von Zahlungsaufträgen angeordnet wird.19) Die Position der Rechtsprechung enthält demgegenüber – wie auch die parallele20) Rechtsprechung zur Kostenerstattung bei Ein- und Auszahlungen am Bankschalter,21) bei Einrichtung und Änderung von Freistellungsaufträgen,22) bei Nichtausführung von Kundenaufträgen mangels Deckung23) bzw. der Benachrichtigung darüber24) – einen nur scheinbaren Verbraucherschutz.25) 17)

18)

19)

20)

21) 22)

23)

24)

25)

Vgl. zur Allokationseffizienz (= Zustand einer Gesellschaft, in dem die Verschwendung gleich Null ist) als Ziel der Rechtsanwendung Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XXXIX ff. und S. 14. Eingehend Bitter in: FS für Ott, 2002, S. 153 ff., zur Anwendbarkeit des „Verursacherprinzips“ beim Girovertrag insbes. S. 164 ff., hier speziell S. 175 f.; Bitter, ZBB 2007, 237 ff. Zur damit einhergehenden Veränderung des gesetzlichen Leitbildes Bitter, Problemschwerpunkte des neuen Zahlungsdiensterechts – Teil II – Kreditkartenzahlung und allgemeine Prinzipien, WM 2010, 1773, 1780 f.; ausführlich Herresthal, Das veränderte Leitbild der AGB-Kontrolle von Bankentgelten durch das Recht der Zahlungsdienstleistungen, in: FS für Coester-Waltjen, 2015, S. 1109 ff. m. w. N., insbes. S. 1121 f.; a. A. BGH, Urt. v. 22.5.2012 – XI ZR 290/11, Rz. 40, NJW 2012, 2571 = ZIP 2012, 1387. Vgl. Borges, Anm. zu BGH, Urt. v. 8.4.1997 – X ZR 62/97 (langfristige Bindung an einen Servicevertrag), WuB IV C. § 9 AGBG 5.99, der von einem „Aspekt aus der breiten Palette umstrittener Entgeltklauseln von Banken“ spricht. BGH, Urt. v. 30.11.1993 – XI ZR 80/93, BGHZ 124, 254 = ZIP 1994, 21; dagegen mit Recht kritisch Fischer, WuB IV B. § 8 AGBG 1.94. BGH, Urt. v. 15.7.1997 – XI ZR 269/96, BGHZ 136, 261 = ZIP 1997, 1638 sowie BGH, Urt. v. 15.7.1997 – XI ZR 279/96, NJW 1997, 2753 = ZIP 1997, 1640; a. A. mit Recht OLG München, Urt. v. 11.7.1996 – 29 U 1677/96, ZIP 1996, 1778. BGH, Urt. v. 21.10.1997 – XI ZR 5/97, BGHZ 137, 43 = ZIP 1997, 2151 sowie BGH, Urt. v. 21.10.1997 – XI ZR 296/96, NJW 1998, 456 = ZIP 1997, 2153; a. A. OLG Nürnberg, Urt. v. 2.7.1996 – 3 U 1182/96, WM 1996, 1627, 1628 = ZIP 1996, 1697. BGH, Urt. v. 13.2.2001 – XI ZR 197/00, BGHZ 146, 377 = ZIP 2001, 504; anders nunmehr die soeben im Text erwähnte Vorschrift des § 675o Abs. 1 Satz 4 BGB; zuvor schon mit Recht AG Buxtehude, Urt. v. 7.9.1998 – 31 C 682/98, WM 1999, 270, und AG Haßfurt, Urt. v. 12.11.1998 – 1 C 452/98, WM 1999, 271 mit zust. Anm. Sonnenhol, WuB I A 3. Nr. 17 AGB-Sparkassen 1993 2.99. Vgl. die Beiträge von Bitter in: FS für Ott, 2002, S. 153 ff. und ZIP 2008, 2155; Rösler, BB 1999, 127, 129 (Verbraucherschutz wird in sein Gegenteil verkehrt); im Zusammenhang mit den Entgeltklauseln für Ein- und Auszahlungen auch Fischer, Anm. zu BGH, Urt. v. 30.11.1993 – XI ZR 80/93, WuB IV B. § 8 AGBG 1.94 und Canaris, AcP 200 (2000), 273, 240 („Pyrrhus-Sieg“ der Verbraucherverbände).

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Denn sie zwingt die Banken durch das Verbot der Entgelterhebung zu einer Quersubventionierung der kostenverursachenden durch die preisbewussten und kostensparenden Kunden.26) Derartige ökonomische Überlegungen haben freilich den XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs noch niemals beeindruckt, weshalb er seine verfehlte Rechtsprechung mittlerweile auch auf das P-Konto ausgedehnt hat. Nach der Umwandlung des regulären Girokontos in ein P-Konto darf die Bank – wie bei der Ersteinrichtung eines P-Kontos – für jenes mit erheblichem Zusatzaufwand verbundene Konto nach Ansicht des Bundesgerichtshofs27) und der h. M.28) keine höheren Kontoführungsentgelte berechnen. Auch dem ist – wie bereits damals in meinem Bonner Vortrag vom 24. April 2008 – entschieden zu widersprechen.29) Indem jene Rechtsprechung und h. M. den wirtschaftlichen Druck in Richtung einer Kontenkündigung durch die Kreditinstitute erhöht, macht sie sich mitschuldig an der Kontolosigkeit vieler sozial schwacher Personen und ihrer dadurch hervorgerufenen prekären Lage.30) 26)

27)

28) 29)

30)

Vgl. Bitter in: FS für Ott, 2002, S. 153, 164 ff. mit Zusammenfassung S. 176 f.; Bitter, ZBB 2007, 237, 241 f.; Bitter, JZ 2015, 170 f.; ferner die zutreffende Argumentation bei Rösler, BB 1999, 127, 129 und AG Haßfurt, Urt. v. 12.11.1998 – 1 C 452/98, WM 1999, 271 = WuB I A 3. Nr. 17 AGB-Sparkassen 1993 2.99 (m. Anm. Sonnenhol). BGH, Urt. v. 13.11.2012 – XI ZR 500/11, BGHZ 195, 298 = ZIP 2012, 2489, und BGH, Urt. v. 16.7.2013 – XI ZR 260/12, ZIP 2013, 1809 = NJW 2013, 3163 m. w. N.; zust. Ahrens, Entgeltklauseln für Pfändungsschutzkonten, NJW 2013, 975 ff.; Ausdehnung auf Umgehungsversuche bei LG Leipzig, Urt. v. 7.3.2014 – 8 O 1980/13, WM 2014, 1341. Nachweise in den BGH-Urteilen sowie bei Ahrens, NJW 2013, 975 in Fn. 1 und Schultheiß, ZBB 2013, 114, 124 in Fn. 141. Wie hier LG Frankfurt/M., Urt. v. 29.9.2011 – 2/10 O 149/11, ZVI 2012, 32, 34 f. m. zust. Anm. Sudergat, und LG Frankfurt/M., Urt. v. 11.11.2011 – 2/10 O 192/11, ZIP 2012, 114, 116 f.; Homann, Das Pfändungsschutzkonto in der Schuldnerberatung (Teil 2), ZVI 2010, 405, 411; Sudergat, P-Konto und P-Kontopfändungsschutz aus Sicht eines Bankpraktikers, ZVI 2010, 445, 456 f.; Herresthal in: FS für Coester-Waltjen, 2015, S. 1109, 1117 f.; ausführlich Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen, Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 160 ff.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 73 ff., und Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1279 ff., in kritischer Auseinandersetzung mit der gegenteiligen BGH-Rechtsprechung: keine Preisnebenabrede (bei Sudergat Rz. 1308 ff.); Grenze aber § 138 BGB (bei Sudergat Rz. 1288, 1306). Siehe bereits Bitter, ZIP 2011, 149, 151; zust. Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 73 ff.; insoweit wie hier Büchel, Das neue Pfändungsschutzkonto aus Sicht der Kreditwirtschaft, BKR 2009, 358, 364; zum scheinbaren Verbraucherschutz durch ein Verbot der Entgelterhebung Bitter, ZIP 2009, 2155, 2156 f.; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 162 f.

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Die Einführung des P-Kontos sollte zwar nach der Idee des Gesetzgebers zu einer Vereinfachung führen,31) hat aber in Wahrheit diverse Probleme mit sich gebracht.32) Insbesondere wurde der erhebliche Arbeitsaufwand im Pfändungsschutz weg von den Vollstreckungsgerichten hin zu den Kreditinstituten verlagert, ohne im Gegenzug einen Anspruch der Kreditinstitute auf Ersatz ihrer Kosten vorzusehen.33) Die schon früher feststellbare Tendenz, gepfändete Konten zu kündigen, nimmt deshalb kaum ab,34) zumal das neue Schutzsystem nicht nur sehr kompliziert und damit personalintensiv ist, sondern bei fehlerhafter Handhabung durch die Kreditinstitute auch Schadensersatzansprüche35) und Anträge auf einstweilige Verfügungen36) der P-Konto-Inhaber drohen, ferner bei unrichtiger Auszahlung an den 31) 32)

33)

34)

35) 36)

Vgl. BT-Drucks. 16/7615, S. 14; Schumacher, ZVI 2009, 313 ff. Kritisch zum Entwurf Bitter, WM 2008, 141; zum Gesetz Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 73. Aufl. 2015, § 850k Rz. 1 f., 23, 47, 49, 76, 78; Jäger, Siebzig Tage neues Kontopfändungsrecht – eine Kurzbilanz aus Gläubigersicht, ZVI 2010, 325 ff.; Bitter, ZIP 2011, 149 ff.; umfassend die Werke von Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, und Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013; ferner die partielle Kritik bei Stöber, Forderungspfändung, 16. Aufl. 2013, Rz. 1285; Saager, Pfändungsschutzkonto – Anmerkungen aus kreditwirtschaftlicher Sicht, ZVI 2010, 332. Dazu kritisch Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 73. Aufl. 2015, § 850k Rz. 47 (verfassungsrechtliche Bedenken) und 49; Bitter, WM 2008, 141, 146 f.; Büchel, BKR 2009, 358, 360; Jungmann, Neue Wege zum Pfändungsschutzkonto, ZVI 2009, 1, 3; Saager, ZVI 2010, 332, 334; Fölsch/Janca, Die Reform des Kontopfändungsschutzes auf der Grundlage des Regierungsentwurfs, ZRP 2007, 253, 255; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 809 ff., 1368; Sudergat, ZVI 2010, 445, 448; Ehlenz, Pfändung von Bankguthaben wegen privilegierter Forderungen, insbesondere Unterhaltsansprüchen, JurBüro 2011, 342, 347; siehe auch Bitter, ZIP 2008, 2155, 2156 f.; Eggert, Die Reform des Kontenpfändungsschutzes, ZRP 2008, 66; das Gesetz verteidigend hingegen Schumacher, ZVI 2009, 313, 318 f.; Graf-Schlicker/Linder, Die Reform des Kontopfändungsschutzes – ein Gewinn für alle Beteiligten, ZIP 2009, 989, 993. Dazu Goebel, Reform des Kontopfändungsschutzes, ZVI 2007, 294, 297, 300; Rumma, Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes, BKR 2007, 215, 216; Bitter, WM 2008, 141, 146 f.; Bitter, ZIP 2011, 149, 158 f.; Eggert, ZRP 2008, 66; Jungmann, ZVI 2009, 1, 3 f.; Büchel, BKR 2009, 358, 364, 365; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 162; Neiseke, Einführung des neuen Pfändungsschutzkontos („P-Konto“) durch Gesetz zur Reform des Kontopfändungsschutzes, jurisPR-BKR 10/2009 Anm. 1 unter C.; Obermüller, Das Pfändungsschutzkonto in der Insolvenz des Kontoinhabers, in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 203 f.; zurückhaltend auch Lücke, Das P-Konto im Lichte der ZKA-Empfehlung zum Girokonto für jedermann, BKR 2009, 457 ff.; anders die Erwartung des Rechtsausschusses (BT-Drucks. 16/12714, S. 20) sowie von Graf-Schlicker/ Linder, ZIP 2009, 989, 990, 992 f. Zur Haftung gemäß § 280 Abs. 1 i. V. m. § 675f Abs. 2 BGB siehe z. B. BGH, Urt. v. 4.12.2014 – IX ZR 115/14, Rz. 16, ZIP 2015, 163 = WM 2015, 177, 179. Beispiel bei AG Bremen, Urt. v. 24.8.2010 – 4 C 412/10, ZVI 2010, 353 = VuR 2011, 26.

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Kontoinhaber die Pflicht, nochmals an den Pfändungsgläubiger leisten zu müssen.37) Da der Kunde allerdings im Grundsatz einen Anspruch auf Umwandlung seines Girokontos in ein P-Konto hat (§ 850k Abs. 7 Satz 2 ZPO),38) gehen viele Kreditinstitute dazu über, bis zum Ausspruch der nach Nr. 19 Abs. 1 AGB-Banken (derzeit noch) jederzeit möglichen Kündigung39) eine gewisse „Schonfrist“ von etwa einem halben Jahr abzuwarten, zumal der Bundesgerichtshof bislang die streitige Frage offengelassen hat, ob die Bank allein das Umwandlungsverlangen zum Anlass für eine Kündigung nehmen darf.40) Sind kostendeckende Gebühren für P-Konten in der Praxis nicht durchsetzbar, weil sie nach der nur scheinbar verbraucherschützenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht höher bepreist werden dürfen als reguläre Girokonten, kann man die sodann folgerichtige Kontenkündigung einem wirtschaftlich denkenden Institut nicht verübeln.41) Jede unterlassene Kündigung zwingt nämlich – wie dargelegt – zur Quersubventionierung und 37) 38) 39)

40)

41)

Siehe z. B. Ehlenz, JurBüro 2011, 342, 343 für fehleranfällige Pfändungen wegen Unterhaltsansprüchen. Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38d. Siehe zum allgemeinen Kündigungsrecht BGH, Urt. v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, ZIP 2013, 304 = NJW 2013, 1519; Herresthal, Die Kündigung von Girokonten durch private Banken nach dem Recht der Zahlungsdienstleistungen, WM 2013, 773 ff.; die Grenzen aus der „ZKA-Empfehlung: Girokonto für jedermann“ sind rechtlich nicht bindend (OLG Bremen, Urt. v. 22.12.2005 – 2 U 67/05, ZIP 2006, 798 = BKR 2006, 294; Günther, Girokonto für jedermann – Quo Vadis?, WM 2014, 1369, 1370 f.); anderes gilt nur beim Kontrahierungszwang einzelner Sparkassen; vgl. Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1340 ff. BGH, Urt. v. 13.11.2012 – XI ZR 500/11, Rz. 56, BGHZ 195, 298, 321 = ZIP 2012, 2489; BGH, Urt. v. 16.7.2013 – XI ZR 260/12, Rz. 35, ZIP 2013, 1809 = NJW 2013, 3163, 3166; zur Kreditkündigung auch BGH, Urt. v. 10.2.2015 – XI ZR 187/13, Rz. 36, ZIP 2015, 624 = ZVI 2015, 132; umfassend zum Kündigungsrecht Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 99 ff. Dazu Bitter, ZIP 2008, 2155, 2156 f.; Bitter, ZIP 2011, 149, 158 f.; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 73. Aufl. 2015, § 850k Rz. 78; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen, Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 162 ff.; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 81 ff.; ähnlich Fölsch/Janca, ZRP 2007, 253, 255, und Herresthal, WM 2013, 773, 778 ff. m. w. N.: Kündigung unbenommen; Seiler in: Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl. 2015, § 850k Rz. 2 a. E.: „das ordentliche Kündigungsrecht bleibt bestehen“; ausführlich Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 99 ff.; siehe auch Obermüller in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 203 f.; Schultheiß, ZBB 2013, 114, 115; a. A. Ahrens, Das neue Pfändungsschutzkonto, NJW 2010, 2001, 2003: Kündigung unzulässig; Ahrens, NJW 2013, 975, 977: sachlicher Grund erforderlich; Busch, Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes, VuR 2007, 138, 143: „treuwidrige Maßnahme“.

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damit zu einer – bereits beobachtbaren42) – Erhöhung der Gebühren für alle Girokonten,43) die ihrerseits einen Wettbewerbsnachteil für das jeweilige Institut mit sich bringt. Zur Vermeidung der dauerhaften Subventionierung von P-Konten und des daraus folgenden Wettbewerbsnachteils besteht im Interesse der Anteilseigner sogar eine gesellschaftsrechtliche Pflicht der Bankvorstände, von bestehenden Kündigungsrechten Gebrauch zu machen (§ 93 AktG, § 43 GmbHG, § 34 GenG).44) Nur verschließen der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs und die h. M. vor all dem offenbar bewusst die Augen in dem Gefühl, den Inhabern von P-Konten (scheinbar) Gutes zu tun. Abzuwarten bleibt nun, wie sich die geplante Einführung eines gesetzlichen Anspruchs auf ein Girokonto in §§ 31 ff. Zahlungskontengesetz (ZKG)45) auswirken wird, zumal seine Erstreckung auf ein nach der BGH-Rechtsprechung verpflichtend zu subventionierendes P-Konto auch verfassungsrechtlich bedenklich erscheint.46) Die gesamtwirtschaftlichen Kosten für die P-Konten gehen jedenfalls schon jetzt klar nach oben, weil sich überschuldete Personen zunehmend dauerhaft mit dem von allen Kunden quersubventionierten P-Konto einrichten anstatt ein Verbraucherinsolvenzverfahren zu durchlaufen. May spricht insoweit plastisch vom „Insolvenzkiller“ P-Konto.47)

42) 43) 44) 45)

46)

47)

Siehe May, Das P-Konto und der Rückgang der Verbraucherinsolvenzen, ZVI 2013, 2, 4 f. Dazu auch Schultheiß, ZBB 2013, 114, 126; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 73. Aufl. 2015, § 850k Rz. 2, 47. Bitter, Die Pflicht des Bankvorstands zur Kündigung von Pfändungsschutzkonten, ZIP 2015, 1807. Gesetzentwurf der Bundesregierung in BR-Drucks. 537/15 v. 6.11.2015 mit Stellungnahme des Bundesrats v. 18.12.2015; zur zugrunde liegenden Bankkonto-Richtlinie 2014/92/EU, die auch den Zugang zu einem Basiskonto regelt, siehe Linardatos, Die Basiskonto-Richtlinie – Ein Überblick, WM 2015, 755, 760 ff.; siehe auch Homann, Das P-Konto als Experimentierfeld der Praxis, DGZV 2015, 45, 53 mit Hinweis auf die Umsetzungsfrist bis 18.9.2016; ferner Günther, WM 2014, 1369 ff. Vgl. Bitter, ZIP 2008, 2155, 2157; Bitter, ZIP 2015, 1807; schon für die geltende Rechtslage Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 73. Aufl. 2015, § 850k Rz. 47; zurückhaltend auch Herresthal, WM 2013, 773, 779; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 101 f. May, ZVI 2013, 2, 3 ff.

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III. Problemfall: Debitorisches Konto Als zweites bedeutsames Problem hatte ich seinerzeit in meinem Bonner Vortrag das debitorische Konto ausgemacht. Leider hat nämlich der Gesetzgeber den neuen Pfändungsschutz gemäß § 850k ZPO trotz meiner warnenden Hinweise im Gesetzgebungsverfahren48) bewusst auf Guthaben49) beschränkt und für debitorische Konten eine Regelung unterlassen,50) obwohl vermutlich 30 bis 50 % der gepfändeten Konten debitorisch geführt werden.51) Für all diese Konten ist damit – vorbehaltlich eines freiwilligen Entgegenkommens der Kreditinstitute (dazu sogleich unter 3) – kein Pfändungsschutz mehr zu erlangen.52) 1. Kein Pfändungsschutz durch das Verrechnungsverbot des § 850k Abs. 6 ZPO Ein solcher Schutz folgt auch nicht in begrenztem Umfang aus der Vorschrift des § 850k Abs. 6 ZPO, in welcher für Sozialleistungen und Kindergeld ein spezielles Verrechnungsverbot zulasten des Kreditinstitutes für die Dauer von 14 Tagen seit der Gutschrift angeordnet wird. Diese gesonderte Anordnung des Verrechnungsverbots ist im neuen Schutzsystem vor allem deshalb überraschend, weil der insoweit intendierte Schutz vor-

48) 49) 50)

51)

52)

Bitter, WM 2008, 141, 144 ff. sowie Bitter im Rahmen der Anhörung in Berlin. Zu diesem Begriff und seiner Gleichsetzung mit einem positiven Saldo des Kontos Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 168 f. Graf-Schlicker/Linder, ZIP 2009, 989, 993; Schumacher, ZVI 2009, 313, 314 bei Fn. 18; BT-Drucks. 16/12714, S. 19; dazu mit Recht kritisch Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 697 ff.: „ein großes Manko der Reform“; zu Problemen bei partiell debitorischen Konten Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 104 ff. So Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 701; siehe auch Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 62 f.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 169. Bitter, ZIP 2011, 149, 151 f.; ebenso Büchel, ZInsO 2010, 20, 27 in Fn. 54; du Carrois, Das P-Konto und seine Auswirkungen im Insolvenzverfahren, ZInsO 2009, 1801, 1804; Meller-Hannich in: Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Hk-ZV, 3. Aufl. 2016, § 850k Rz. 13; Bach-Heuker in: Heller/Steuer, BuB, Stand: 7/2015, Rz. 2/1242; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 108k; Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 62; a. A. Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 52.

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rangig für debitorische Konten von Bedeutung ist,53) für die jedoch das neue Schutzkonzept des P-Kontos ohnehin nicht gilt. Da § 850k Abs. 6 ZPO nur ein Verrechnungsverbot regelt, nicht aber eine Unpfändbarkeit anordnet54) und jene bei debitorischen Konten mangels „Guthabens“ auch nicht aus § 850k Abs. 1 und 2 ZPO folgt,55) ergibt sich für debitorische Konten die groteske Konsequenz, dass in Zukunft zwar die Kreditinstitute an einer Aufrechnung gehindert sind, jeder Gläubiger aber – was häufig übersehen wird56) – auf die Beträge zugreifen kann,57) wenn man – mit der Rechtsprechung58) – den Anspruch auf Auszahlung eines Dispositionskredits für pfändbar hält.59) Dieser von mir schon bisher vertretenen Ansicht60) ist zwar in jüngerer Zeit entgegengehalten worden, in der Verfügung bis zur Höhe der Gutschrift liege keine (neue) Gewährung eines Kontokorrentkredits.61) Doch würde dies eine echte Separierung der Gutschrift von Sozialleistungen und Kindergeld vom P-Konto voraussetzen, die aber in § 850k Abs. 6 ZPO nicht angelegt ist. Zudem hätte sie auch zur Folge, dass der Kontoinhaber trotz des Eingangs der Sozialleistung oder des Kindergeldes weiter Zinsen 53) 54) 55) 56)

57) 58) 59) 60) 61)

Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 37; so auch ausdr. BT-Drucks. 16/12714, S. 20; Graf-Schlicker/Linder, ZIP 2009, 989, 991. Dies übersieht Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 171 und S. 200. Auch dies übersieht Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 171 bei seinem Verweis auf den Freibetrag. Meller-Hannich in: Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Hk-ZV, 3. Aufl. 2016, § 850k Rz. 52; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 108k; Brögelmann, Automatischer Pfändungsschutz durch das P-Konto, NJ 2010, 407, 410 m. w. N., Homann, ZVI 2010, 405, 406 f. und du Carrois, Aktuelle Probleme beim P-Konto in der Insolvenz des Schuldners, ZInsO 2010, 2276, 2277, die fälschlich ein Verfügungsrecht des Schuldners annehmen, dabei Homann sogar dessen Privilegierung bei debitorischem Konto; auch Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 713 ff. diskutiert eine solche Privilegierung, lehnt sie aber im Ergebnis ab; bei Homann, Anwendung der befristeten Anordnung der Unpfändbarkeit des Guthabens auf einem P-Konto, ZVI 2013, 6, 8, wird demgegenüber richtig festgehalten, dass § 850k Abs. 6 ZPO keine Auswirkung auf den Umfang des Pfändungsschutzes hat; unklar Homann, DGZV 2015, 45, 52. Bitter, ZIP 2011, 149, 156. Nachweise bei Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 69 ff., der aber selbst a. A. ist. Nach BT-Drucks. 16/12714, S. 19, bleibt es dem Gläubiger unbenommen, etwaige Kreditauszahlungsansprüche zu pfänden; dazu auch Büchel, BKR 2009, 358, 363. Bitter, ZIP 2011, 149, 156; Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38r. So Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 63 f.

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auf den vorherigen Debetsaldo zahlen müsste.62) Geht man deshalb naheliegend davon aus, dass der Eingang zugunsten des Kontoinhabers zunächst das (zinspflichtige) Debet schmälert, dann wird es durch die spätere Verfügung wieder vergrößert, also erneut Kredit gewährt, der sodann nach der BGH-Rechtsprechung von der Pfändung erfasst wird. Eine ansonsten mögliche Vermeidung der Pfändbarkeit durch Umstellung auf einen nur geduldeten Überziehungskredit63) nützt dabei nichts, eben weil der Kunde auf Grund des Verrechnungsverbots einen Anspruch auf die Auszahlung im debitorischen Bereich hat.64) Es bleibt deshalb dabei, dass sich allein aus dem Verrechnungsverbot des § 850k Abs. 6 ZPO kein Verfügungsrecht des Kontoinhabers über das debitorische Konto ergibt. 2. Generelle Unanwendbarkeit des § 850k ZPO beim debitorischen Konto Da zumindest der in § 850k Abs. 7 Satz 3 ZPO geregelte Anspruch auf nachträgliche Umwandlung des regulären Kontos in ein P-Konto an die erfolgte Pfändung eines Guthabens anknüpft und der Kunde bei debitorischem Konto – wie dargelegt – ohnehin keinen Pfändungsschutz genießt, ist entgegen der inzwischen h. M.65) daran festzuhalten, dass ein Anspruch auf (nachträgliche) Umwandlung in ein P-Konto bei debitorischen Konten nicht besteht.66) Jedenfalls könnte ihm aber ein fälliger Anspruch auf Rückzahlung eines Überziehungskredits67) gemäß § 273 BGB einredeweise entgegengehalten werden.68) Insbesondere besteht kein Anspruch gegen die Bank, dem Kunden seine Kreditschulden zu erlassen und ihm einen Neu-

62) 63) 64) 65)

66)

67)

68)

Siehe bereits Bitter, ZIP 2011, 149, 156 in Fn. 123. Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 84. Dazu Bitter, ZIP 2011, 149, 156. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 25.4.2013 – 3 U 240/12, Rz. 14, juris; Kessal-Wulf/Lorenz in: Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 6. Aufl. 2016, § 850k ZPO Rz. 4; Büchel, ZInsO 2010, 20, 25; Ehlenz/Hell, ZVI 2013, 340 f. (Urteilsanm.); Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 170 f. So AG Bergen, Urt. v. 25.3.2013 – 23 C 432/12, ZVI 2013, 339 f. = DGVZ 2013, 142 im Anschluss an Bitter, ZIP 2011, 149, 151; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 2. Aufl. 2012, Rz. 566 (anders jetzt 3. Aufl. 2013, Rz. 705). Unrichtige Erweiterung auf den Dispokredit bei Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 171 in Fn. 769. Dort ist der Rückzahlungsanspruch jedenfalls vor einer Kündigung nicht fällig, weshalb § 273 BGB nicht eingreift. Bitter, ZIP 2011, 149, 151; a. A. Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 23, 52; Meller-Hannich in: Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Hk-ZV, 3. Aufl. 2016, § 850k Rz. 56; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 171 f.

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start bei null mit einem P-Konto auf Guthabenbasis zu ermöglichen.69) Da Ende 2011 zudem noch das frühere Schutzsystem70) ausgelaufen ist, gibt es bei debitorischen Konten allenfalls noch im Einzelfall Pfändungsschutz über § 765a ZPO.71) Eine analoge Anwendung des § 850k ZPO kommt demgegenüber im debitorischen Bereich schon mangels Regelungslücke,72) aber auch wegen der unpassenden Rechtsfolgen nicht in Betracht.73) 3. Freiwillige Einführung eines Zwei-Konten-Modells durch die Kreditwirtschaft Denkbar und in der Praxis der Regelfall ist aber, dass die Bank ein P-Konto auf Guthabenbasis freiwillig einrichtet und mit dem Kontoinhaber eine Vereinbarung trifft, dass dieser den auf dem bisherigen Konto aufgelaufenen und auf ein Sonder-/Kreditkonto umgebuchten Kreditsaldo in Raten tilgt (sog. „Zwei-Konten-Modell“).74) Handelt es sich bei jenem Sonderkonto allerdings nur um ein Unterkonto des in ein P-Konto umgewandelten Girokontos, dürfte diese „bloße faktische Handhabung“75) nichts daran ändern, dass ein Guthaben auf dem gesamten, das Unterkonto einschließenden Girokonto nicht besteht und folglich immer aus dem Kredit verfügt

69)

70) 71)

72)

73) 74)

75)

Wie hier Obermüller in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 203; Bach-Heuker in: Heller/ Steuer, BuB, Stand: 7/2015, Rz. 2/1242; Meller-Hannich in: Kindl/Meller-Hannich/ Wolf, Hk-ZV, 3. Aufl. 2016, § 850k Rz. 56; tendenziell anders Ahrens in: Prütting/ Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 24, 38. Siehe dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 27b – 38. Bitter, ZIP 2011, 149, 152 mit Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH zur sog. Kontenleihe (dazu unten VIII und Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 29, 34); siehe auch Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 77; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 173; zur Anwendung des § 765a ZPO bei Ablehnung der Umwandlung in ein P-Konto auch Ehlenz/Hell, ZVI 2013, 340, 341 (Urteilsanm.); a. A. wohl Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850k Rz. 15 a. E. AG Bergen, Urt. v. 25.3.2013 – 23 C 432/12, ZVI 2013, 339 = DGVZ 2013, 142 im Anschluss an Bitter, ZIP 2011, 149, 152; zust. auch Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 61. Nach der Begr. zu Nr. 7 der Beschlüsse des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/12714, S. 19, wird die Unpfändbarkeit ausdr. nicht auf Kreditauszahlungsansprüche erstreckt. Dazu Bitter, WM 2008, 141, 146. Dazu Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 64 f.; umgekehrt Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 721 ff., und Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 172 f.: P-Konto als neues (Unter-)Konto. So BGH, Urt. v. 16.7.2013 – XI ZR 260/12, Rz. 39, ZIP 2013, 1809 = NJW 2013, 3163, 3166.

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wird. Dann ist nicht nur ein Pfändungsschutz unmöglich, sondern es kommt nach der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs wegen der regelmäßigen Kreditpfändung zudem zu einer gänzlichen Kontenblockade,76) welche das Ziel des P-Kontos konterkariert.77) Die folglich im Interesse des Kunden liegende automatische Beendigung des Dispositionskredits durch eine bei Umwandlung des Girokontos in ein P-Konto mit dem Kreditinstitut geschlossene Zusatzvereinbarung ist deshalb entgegen der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs78) keine unangemessene Benachteiligung des Kunden,79) sondern ganz im Gegenteil wäre es die fehlende Beendigung des Kredits.80) Dann nämlich ist der mit der Umwandlung in ein P-Konto vom Kunden bezweckte Pfändungsschutz gar nicht erreichbar.81) Die Rechtsprechung des XI. Zivilsenats, welche eine ausdrückliche Kündigung des Kreditvertrags verlangt, verhindert demgegenüber den Pfändungsschutz für den Zeitraum bis zum Wirksamwerden der Kündigung, sodass selbst dann, wenn man eine außerordentliche Kündigung zulässt,82) eine Schutzlücke verbleibt, weil die Kündigung als Gestaltungsrecht – anders als die Umwandlung per gesetzlicher Anordnung83) – nicht zurückwirken kann. IV. Gemeinschaftskonten und vervielfachter Pfändungsschutz durch das P-Konto Als problematisch hat sich die Anwendung des neuen Pfändungsschutzrechts mit dem P-Konto auch bei Gemeinschaftskonten84) erwiesen. Allgemein anerkannt ist insoweit nur, dass Eheleute und Lebenspartner kein gemeinsames P-Konto in Gestalt eines Und- bzw. Oder-Kontos einrichten können. Besteht bereits ein Gemeinschaftskonto, kann aber wohl die 76) 77) 78)

79) 80) 81) 82) 83) 84)

Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 41, 87 ff. Ähnlich Sudergat, ZVI 2013, 460, 461. BGH, Urt. v. 16.7.2013 – XI ZR 260/12, Rz. 29 ff., ZIP 2013, 1809 = NJW 2013, 3163, 3165 f.; BGH, Urt. v. 10.2.2015 – XI ZR 187/13, Rz. 38, ZIP 2015, 624 = ZVI 2015, 132. Wie hier auch Sudergat, ZVI 2013, 460, 461. Bitter, ZIP 2015, 1807. Zutreffend Sudergat, ZVI 2013, 460, 461: „das genaue Gegenteil von Pfändungsschutz“. Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 92. Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38d. Zur Pfändbarkeit derartiger Gemeinschaftskonten siehe Bitter in: Schimansky/Bunte/ Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 112 ff.

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Umwandlung in zwei getrennte P-Konten verlangt werden.85) Dem jeweils anderen Kontoinhaber kann sodann eine Kontovollmacht erteilt werden.86) Nun wird allerdings die in § 850k Abs. 1 Satz 4 ZPO angeordnete Rückwirkung der Einrichtung eines P-Kontos verbreitet bei der Umwandlung von Gemeinschaftskonten ganz abgelehnt,87) weshalb dann wieder § 765a ZPO als Notnagel herhalten müsste.88) Doch ist dafür nach der gesetzlichen Konzeption m. E. kein Grund ersichtlich, auch wenn die Rückwirkung bei der Aufspaltung des Guthabens auf mehrere Konten ohne Beeinträchtigung der berechtigten Belange des Gläubigers nicht leicht zu realisieren ist. Man wird jedem Kontoinhaber das Recht zusprechen müssen, einen Betrag i. H. des für ihn maßgeblichen Schutzbetrags (Sockelfreibetrag zuzüglich Aufstockungsbetrag)89) auf sein P-Konto transferieren und insoweit rückwirkenden Pfändungsschutz in Anspruch nehmen zu können, während das restliche Guthaben an den Pfändungsgläubiger abzuführen ist.90) Letzteres gilt freilich nur vorbehaltlich einer beim Oder-Konto denk85)

86)

87)

88) 89) 90)

Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 20, 40, 107; MellerHannich in: Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Hk-ZV, 3. Aufl. 2016, § 850k Rz. 63; Seiler in: Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl. 2015, § 850k Rz. 4; Schuschke in: Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 6. Aufl. 2016, Anh. zu § 829 ZPO Rz. 8; Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850k Rz. 17 im Anschluss an Bitter, ZIP 2011, 149, 153; Graf-Schlicker/Linder, ZIP 2009, 989, 993; Jaquemoth/Zimmermann, Grundzüge und Funktionsweise des Pfändungsschutzkontos (sog. P-Konto), ZVI 2010, 113, 115; Dörndorfer, Das neue Pfändungsschutzkonto, JurBüro 2009, 626, 627; Details bei Ahrens, NJW 2010, 2001, 2003; Homann, ZVI 2010, 405, 409; a. A. mit beachtlichen Gründen Büchel, BKR 2009, 358, 363; ferner Bach-Heuker in: Heller/Steuer, BuB, Stand: 7/2015, Rz. 2/1272; Günther, Das Pfändungsschutzkonto in der Insolvenz des Bankkunden, ZInsO 2013, 859 in Fn. 4; zurückhaltend auch Kessal-Wulf/Lorenz in: Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 6. Aufl. 2016, § 850k ZPO Rz. 5; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 607 ff.; siehe ferner den differenzierenden Ansatz bei Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 32 ff. Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850k Rz. 17; Kohte, Das Drei-Stufen-Modell der neuen Regeln zur Kontenpfändung, VuR 2010, 257, 258; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 606; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 143. Büchel, BKR 2009, 358, 363; Homann, Das P-Konto als Experimentierfeld der Praxis, DGVZ 2015, 45, 48; Bach-Heuker in: Heller/Steuer, BuB, Stand: 7/2015, Rz. 2/1237; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 93; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 33; wohl auch Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 616 (mit Verwechslung von Pfändungsgläubiger und -schuldner). Dafür Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 33. Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38h ff. In diesem Sinne wohl auch Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 40 f.

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baren Drittwiderspruchsklage desjenigen Kontoinhabers, gegen den sich die Pfändungsmaßnahme nicht richtet und dem die Guthabenforderung ganz oder teilweise wirtschaftlich zusteht.91) Dass sich der Pfändungsschutz durch Übertragung des Guthabens auf mehrere P-Konten vervielfacht, ist kein Argument gegen die Rückwirkung des Pfändungsschutzes bei Gemeinschaftskonten, sondern schlichte Folge der von mir bereits im Bonner Vortrag vom 24. April 2008 kritisierten, durchaus problematischen Konstruktion des P-Kontos. Der Schutzumfang lässt sich nämlich ganz generell gegenüber dem früheren Recht bei einem Ehepaar verdoppeln bzw. bei einer Familie mit mehreren Kindern vervielfachen, weil nun jede natürliche Person für sich Pfändungsschutz beanspruchen kann unabhängig davon, ob sie überhaupt unpfändbares Einkommen bezieht; ferner besteht der Pfändungsschutz auf dem P-Konto des Schuldners auch dann (erneut) in vollem Umfang, wenn der pfändungsfreie Teil des Arbeitseinkommens oder die Sozialleistung bereits zuvor vom Arbeitgeber oder Sozialamt bar an den Schuldner ausgezahlt wurden.92) V. Verfügungszeitpunkt bei nachträglichen Rückbuchungen Die grundlegende Neuerung gegenüber dem früheren Schutzkonzept liegt darin, dass der Pfändungsschutz auf dem P-Konto pauschal für bestimmte Sockel- und Aufstockungsbeträge gewährt wird und es nicht mehr darauf ankommt, ob das Guthaben auf dem Eingang von Beträgen beruht, die ihrerseits unpfändbar sind.93) Da jene Sockel- und Aufstockungsbeträge monatlich gewährt werden, kann sich die bankrechtlich interessante Frage ergeben, wie in solchen Fällen zu verfahren ist, in denen in einem Monat eine Abbuchung auf dem P-Konto erfolgt, der Betrag jedoch aufgrund eines

91) 92)

93)

Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 119 sowie auch noch unten VIII 1 a. E. in Bezug auf die sog. Kontenleihe. Daher kritisch zum Entwurf Bitter, WM 2008, 141, 144; zust. Seiler in: Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl. 2015, § 850k Rz. 1; Jungmann, ZVI 2009, 1, 2; Büchel, BKR 2009, 358, 364; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 612; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 157 f.; a. A. Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 66 f.; das Gesetz verteidigend auch Graf-Schlicker/Linder, ZIP 2009, 989, 994; dagegen wiederum Bitter, ZIP 2011, 149, 152; siehe auch Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38g. Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38g ff.; eingehend Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 119 ff.

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Rückerstattungsverlangens des Kontoinhabers (aus § 675u oder § 675x BGB) in einem anderen Monat wieder gutgeschrieben wird. Ob eine Verfügung in einem bestimmten Monat vorgenommen wurde, bestimmt sich grundsätzlich nach dem Wertstellungsdatum i. S. von § 675t BGB. Macht der Kontoinhaber bei Lastschriften von seinem achtwöchigen Rückbuchungsanspruch Gebrauch (§ 675x Abs. 2 BGB i. V. m. den Lastschrift-AGB für das Einzugsermächtigungs- und SEPA-Basislastschriftverfahren), bewirkt dies – anders als der Widerruf nach dem bis 2012 praktizierten, auf der Genehmigungstheorie aufbauenden Einzugsermächtigungsverfahren – keine rückwirkende Stornierung der ursprünglichen Belastung. Diese bleibt vielmehr in ihrem Bestand unberührt und es kommt nur zur neuen Buchung einer Gutschrift des vom Lastschriftgläubiger zurücktransferierten Betrags.94) Folglich bleibt die auf einer Einzugsermächtigung oder einem SEPA-Mandat beruhende Belastungsbuchung – was häufig übersehen wird95) – weiterhin im Monat ihrer Vornahme als Verfügung zu berücksichtigen. Anderes gilt hingegen, wenn der Kontoinhaber – etwa bei einer Abbuchung trotz fehlender bzw. unwirksamer Lastschriftabrede mit dem Gläubiger – von seinem Rückerstattungsanspruch wegen fehlender Autorisierung Gebrauch macht, weil es in diesem Fall zu einer Rückwirkung kommt (vgl. § 675u Satz 2 BGB). Die pfändbaren Beträge müssen dann ggf. für bis zu dreizehn zurückliegende Monate (vgl. § 676b Abs. 2 BGB) unter Außerachtlassung jener Abbuchung neu berechnet werden.96) Für die Kreditinstitute ergibt sich daraus die Problematik, dass sie für das P-Konto eine Unterscheidung treffen müssen, die ihnen ansonsten zumindest in den ersten acht Wochen ab Buchung erspart bleibt. Kommt nämlich ein „normaler“ Kunde innerhalb jener Frist zu seiner Bank und verlangt die Erstattung einer Lastschrift-Belastungsbuchung, kann die Bank offenlassen, ob eine Autorisierung vorlag oder nicht, weil selbst bei bestehender Autorisierung ein Rückbuchungsanspruch besteht. Da sich dieser Anspruch aus § 675x Abs. 2 BGB lediglich im Wertstellungzeitpunkt von jenem 94)

95)

96)

Zur dogmatischen Einordnung der Rückforderung siehe Bitter, Problemschwerpunkte des neuen Zahlungsdiensterechts – Teil I – Überweisung und Lastschrift, WM 2010, 1725, 1731 f. Bei Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 679 ff., Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 99 und Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 180 f. Insoweit wie hier auch Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 679 ff.

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aus § 675u BGB unterscheidet, wird man dem Kunden im Zweifel den belasteten Betrag rückwirkend gutschreiben, wenn die Klärung einer vorhandenen oder fehlenden Autorisierung höhere Kosten als der dadurch verursachte Zinsnachteil verursacht. Beim P-Konto muss aber nun auch innerhalb der achtwöchigen Frist streng zwischen der rückwirkenden Erstattung wegen fehlender Autorisierung (§ 675u BGB) und dem selbstständigen und nicht zurückwirkenden Rückerstattungsverlangen bei Lastschriften (§ 675x Abs. 2 BGB) unterschieden werden, weil Kunde und Bank insoweit nicht über das Recht des pfändenden Gläubigers verfügen und zu dessen Lasten die monatlichen Freibeträge verändern können. Insgesamt von der Stornierung durch die Bank zu unterscheiden sind Fälle, in denen ein Vertragspartner des Kontoinhabers unberechtigt, insbesondere aus Versehen, eine Abbuchung tätigt und den Betrag nach einer Reklamation – ggf. sogar im selben Monat – erstattet. In diesem Fall kann der später erstattete Abfluss nicht einfach durch die Bank bei der Bemessung des Freibetrags unberücksichtigt gelassen werden, sondern der Kontoinhaber muss gemäß § 765a ZPO eine einmalige Erhöhung seines Freibetrags beantragen, weil die erstattete Verfügung nicht seinem Lebensunterhalt zu dienen geeignet war.97) Das Gleiche muss dann auch gelten, wenn die Rückerstattung einer im Valutaverhältnis unberechtigten Abbuchung auf dem soeben dargelegten Wege des § 675x Abs. 2 BGB erfolgt, während für eine Anordnung gemäß § 765a ZPO kein Anlass besteht, wenn der Kontoinhaber trotz einer berechtigten Forderung seines Gläubigers den Rückerstattungsanspruch des § 675x Abs. 2 BGB geltend macht. Auch Abbuchungen für (Online-)Einkäufe, die später wegen Reklamationen, der Ausübung verbraucherschützender Widerrufsrechte oder aus Kulanz zurückerstattet werden, dadurch aber kontenmäßig nicht ungeschehen gemacht sind, dürften im Regelfall keinen Anlass zu einmaligen Erhöhungen des Freibetrags nach der Ausnahmevorschrift des § 765a ZPO geben. VI. Monatsendproblematik, Doppel- und Nachzahlungen Als problematisch erwies sich das neue Schutzkonzept in der ursprünglichen Gesetzesfassung bei zum Monatsende eingehenden Beträgen aus Einkom-

97)

Beispiel bei AG Frankfurt/O., Beschl. v. 20.11.2013 – 3 IK 187/13, ZVI 2014, 149.

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men oder Sozialhilfe.98) Hat der Schuldner während des laufenden Monats zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bereits i. H. des Sockel- und Aufstockungsbetrags über das Konto verfügt, konnte das zum Monatsende neu entstehende Guthaben nicht in den Folgemonat übertragen werden,99) weil insbesondere die Regelung zur Übertragung nicht ausgenutzter Guthaben in § 850k Abs. 1 Satz 2 ZPO a. F. (= Satz 3 n. F.) nicht eingriff.100) Jedes Guthaben, das zum Monatsende noch besteht und das nicht jener Regelung zum Übertrag nicht ausgenutzter Guthaben unterfällt, ist zugunsten des Gläubigers pfändbar und war damit nach der ursprünglichen Gesetzesfassung grundsätzlich auch an den Pfändungsgläubiger abzuführen.101) 1. Eilige Reparatur durch den Gesetzgeber Diese kurz nach dem Inkrafttreten des neuen Pfändungsschutzsystems erkannte sog. „Monatsend-“ bzw. „Monatsanfangsproblematik“102) ist mit einer eiligen und partiell rückwirkenden103) Änderung des Gesetzes104) gelöst 98) Dazu BGH, Beschl. v. 14.7.2011 – VII ZB 85/10, WM 2011, 1565 = NJW-RR 2011, 1433; BGH, Beschl. v. 28.7.2011 – VII ZB 92/10, NZI 2011, 717 = JurBüro 2012, 41; BGH, Urt. v. 4.12.2014 – IX ZR 115/14, Rz. 7, WM 2015, 177, 178 = ZIP 2015, 163; Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 48; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 790 ff.; Bitter, WuB VI D. § 850k ZPO 1.11; Richter/Zimmermann, Das sog. Monatsanfangsproblem beim P-Konto, ZVI 2010, 359 sowie die Kundeninformation in ZVI 2010, 361; Krüger, Das P-Konto und das Monatsanfangsproblem, ZVI 2010, 458 ff.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 188; Rechenbeispiele bei Homann, Ansparübertrag und Moratoriumsübertrag auf dem P-Konto, ZVI 2012, 37 ff.; das Gesetz verteidigend Nolte/ Schumacher, Pfändungsschutz auf dem Prüfstand, ZVI 2011, 45, 48 ff. 99) A. A. AG Leipzig, Beschl. v. 25.8.2010 – 440 M 20050/10, ZVI 2010, 351; dem folgend LG Münster, Beschl. v. 23.9.2010 – 5 T 577/10, ZVI 2010, 479; ferner AG Köln, Beschl. v. 11.10.2010 – 142 C 441/10, WM 2011, 31 = ZIP 2011, 168 = BKR 2011, 84 m. krit. Anm. Bitter, WuB VI D. § 850k ZPO 1.11. 100) Auf den Wortlaut hinweisend BGH, Urt. v. 4.12.2014 – IX ZR 115/14, Rz. 7, ZIP 2015, 163 = WM 2015, 177. 101) Näher Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38o; Bitter, WuB VI D. § 850k ZPO 1.11. 102) Siehe Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38o m. N. 103) BGH, Beschl. v. 14.7.2011 – VII ZB 85/10, WM 2011, 1565 = NJW-RR 2011, 1433; BGH, Beschl. v. 28.7.2011 – VII ZB 92/10, NZI 2011, 717 = JurBüro 2012, 41; BGH, Beschl. v. 10.11.2011 – VII ZB 32/11, Rz. 9, WuM 2012, 113. 104) Die Änderung wurde an das Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder angehängt, das in der Fassung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 14.2.2011 (BT-Drucks. 17/4776) am 24.2.2011 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde (Gesetz v. 12.4.2011, BGBl. I, 615 f.); dazu Becker, Mängelbeseitigung beim Kontopfändungsschutz, NJW 2011, 1317; Ahrens, Gesetzliche Regelung des sog. Monatsanfangsproblems beim Pfändungsschutzkonto, NZI 2011, 183.

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worden,105) indem ein neuer Satz 2 in § 850k Abs. 1 ZPO mit folgendem Wortlaut eingefügt wurde: „Zum Guthaben im Sinne des Satzes 1 gehört auch das Guthaben, das bis zum Ablauf der Frist des § 835 Absatz 4 nicht an den Gläubiger geleistet oder hinterlegt werden darf.“

Jener damals eingefügte Absatz 4 des § 835 ZPO lautet: „Wird künftiges Guthaben auf einem Pfändungsschutzkonto im Sinne von § 850 k Absatz 7 gepfändet und dem Gläubiger überwiesen, darf der Drittschuldner erst nach Ablauf des nächsten auf die jeweilige Gutschrift von eingehenden Zahlungen folgenden Kalendermonats an den Gläubiger leisten oder den Betrag hinterlegen. Das Vollstreckungsgericht kann auf Antrag des Gläubigers eine abweichende Anordnung treffen, wenn die Regelung des Satzes 1 unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Schuldners für den Gläubiger eine unzumutbare Härte verursacht.“

Die über den Pfändungsfreibetrag hinausgehenden und damit zunächst am Monatsende zugunsten des Gläubigers gepfändeten Beträge werden also gemäß § 835 Abs. 4 Satz 1 ZPO bis zur Höhe der in dem jeweiligen Monat zu verzeichnenden Eingänge106) einem gesetzlichen Moratorium unterworfen, das – anders als das Moratorium des § 835 Abs. 3 Satz 2 ZPO107) – nicht nur für vier Wochen ab Eingang, sondern bis zum Ende des Folgemonats läuft und sich damit in das der Vereinfachung dienende, auf den Kalendermonat abstellende Schutzsystem des P-Kontos besser einfügt.108) Die gepfändeten, aber bis zum Ende des Folgemonats (vorläufig) nicht an den Gläubiger abzuführenden Beträge unterfallen auf Grund der Klarstellung in § 850k Abs. 1 Satz 2 ZPO ab dem ersten Tag des Folgemonats dem neuen Pfändungsfreibetrag des § 850k Abs. 1 Satz 1 ZPO, wodurch die bereits erfolgte Pfändung zunächst suspendiert und sodann durch Verfügungen des Kunden im Rahmen des Freibetrags i. H. der Verfügungen endgültig aufgehoben wird.109) Die Verfügungen sind auch nach dem Eingang neuer Beträge im Folgemonat zunächst auf die dem Moratorium des § 835 Abs. 4 Satz 1 ZPO unterfallenden Guthaben und erst dann auf die neu eingegangenen Beträge anzurechnen, sodass die neuen Beträge zum Monatsende ihrerseits wieder dem Moratorium des § 835 Abs. 4 Satz 1 ZPO unterfallen können.110)

105) Dazu Richter, Die Möglichkeiten der monatsweisen Übertragung von Guthaben auf dem gepfändeten P-Konto, VIA 2015, 25 ff.; Homann, ZVI 2012, 37 ff. und Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 188 ff. mit Rechenbeispielen. 106) Vgl. den Wortlaut des Gesetzes: „jeweilige Gutschrift von eingehenden Zahlungen“. 107) Dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 4. 108) Ausführlich und mit Beispielen zu § 835 Abs. 4 ZPO Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 992 ff. 109) Dazu auch Richter, VIA 2015, 25, 26. 110) Rechenbeispiele bei Homann, ZVI 2012, 37 ff.

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In der praktischen Abwicklung wird also schlicht die sich zum Monatsende aus der Regelung zur Übertragbarkeit nicht ausgeschöpfter pfändungsfreier Guthaben ergebende „Abschöpfungsgrenze“ pauschal um den Betrag der jeweiligen monatlichen Eingänge zu Lasten des Pfändungsgläubigers erhöht111) und dies unabhängig vom Zeitpunkt jener Eingänge. Nicht hingegen wird dadurch der durch die Pfändungsfreibeträge vorgegebene freie Verfügungsrahmen des Kontoinhabers für den laufenden (und die Folgemonate) verändert.112) 2. Differenzierte Lösung für Doppelzahlungen Gelöst ist mit dieser Gesetzesänderung auch der Fall einer Doppelzahlung, bei welcher Arbeitseinkommen oder Sozialleistungen zufällig zweifach in einem Monat eingehen, nämlich einmal zum Monatsanfang und nochmals zum Monatsende.113) Weil das Moratorium des § 835 Abs. 4 Satz 1 ZPO für jeden Eingang gilt, erfasst es unmittelbar den doppelten Betrag, sodass über den zweiten Eingang vom Monatsende problemlos im Rahmen des Freibetrags des Folgemonats verfügt werden kann. Als problematisch können sich aber weiterhin Fälle einer versehentlichen Doppelzahlung zum gleichen Zeitpunkt erweisen, falls regelmäßig gegen Monatsende gezahlt wird. Da das Moratorium (für den doppelten Betrag) nur bis zum Ende des ersten Folgemonats gilt und in den zweiten Folgemonat auch kein Übertrag gemäß § 850k Abs. 1 Satz 3 ZPO möglich ist,114) fehlen dem Betroffenen in jenem Monat verfügbare Gelder, weil er erst gegen Ende des zweiten Folgemonats neues Geld zu erwarten hat. Falls der

111) Die Wirkung zu Lasten des Pfändungsgläubigers zeigt Homann, ZVI 2012, 37 ff., insbes. 44 f. 112) BGH, Urt. v. 4.12.2014 – IX ZR 115/14, Rz. 13, ZIP 2015, 163 = WM 2015, 177, 179; Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850k Rz. 3a; Homann, ZVI 2012, 37, 42; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 189; unklar insoweit die Formulierung bei BGH, Beschl. v. 14.7.2011 – VII ZB 85/10, Rz. 14, WM 2011, 1565 = NJW-RR 2011, 1433; BGH, Beschl. v. 28.7.2011 – VII ZB 92/10, Rz. 15, NZI 2011, 717 = JurBüro 2012, 41; BGH, Beschl. v. 10.11.2011 – VII ZB 32/11, Rz. 9, WuM 2012, 113; dazu Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 993, wobei die dort behauptete Klarstellung durch den VII. Senat des BGH m. E. nicht erfolgt ist. 113) Homann, ZVI 2012, 37, 41; vgl. etwa den zum alten Recht entschiedenen Fall des LG Dresden, Beschl. v. 11.2.2011 – 2 T 53/11, ZVI 2011, 253. 114) Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38i m. w. N.

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Empfänger die rechtsgrundlose Doppelzahlung nicht zurückweist,115) wird man ihm auch in diesem Fall nur über § 765a ZPO helfen können.116) 3. Fortbestehende Problematik bei Nachzahlungen Gar nicht gelöst ist der Fall einer Nachzahlung (von Gehalt oder Sozialleistungen) für mehrere zurückliegende Monate. Zwar ist in § 850k Abs. 4 ZPO eine Befugnis für das Vollstreckungsgericht geregelt, den Sockel- und/oder Aufstockungsbetrag auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalls konstitutiv festzulegen.117) Bei Nachzahlungen ist jene Vorschrift des § 850 Abs. 4 ZPO aber nicht einsetzbar, weil das Gesetz eine rückwirkende Verteilung auf jene Monate, für die die Nachzahlung gedacht ist, nicht vorsieht.118) Das bei irrtümlichen Doppelzahlungen bestehende Zurückweisungsrecht greift zudem bei Nachzahlungen nicht, weil die Zahlung mit Rechtsgrund erfolgt.119) Ob mit § 765a ZPO geholfen werden kann, ist eine Frage des Einzelfalls.120) VII. Zwecklose Pfändung (§ 850l ZPO) In der Praxis gehen häufig auf einem gepfändeten Konto über Monate oder Jahre nur unpfändbare Beträge ein (z. B. nur der unpfändbare Teil des Arbeitseinkommens, Arbeitslosenhilfe eines Langzeitarbeitslosen, Er115) Dazu Mayen in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 47 Rz. 16 ff.; BGH, Urt. v. 19.9.1989 – XI ZR 150/88, ZIP 1989, 1317 = NJW 1990, 323, für Eingänge auf einem debitorischen Konto; zur Wirkung gegenüber dem Pfändungsgläubiger Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 293. 116) AG Jena, Beschl. v. 26.1.2011 – 52 M 2080/09, JurBüro 2011, 496, aber ohne die hier vorgenommenen Differenzierungen. 117) Dazu Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 77 ff.; Stöber, Forderungspfändung, 16. Aufl. 2013, Rz. 1287; Jaquemoth/Zimmermann, ZVI 2010, 113, 115; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 125 ff.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 162 ff. 118) LG Berlin, Beschl. v. 14.10.2013 – 51 T 656/13, ZVI 2013, 479 = VuR 2014, 110 („in praeteritum non vivitur“); ähnlich AG Kassel, Beschl. v. 24.1.2012 – 620 M 4387/11, ZVI 2012, 199; a. A. Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 45; zu dem nach der Pfändung fehlenden Anspruch auf nochmalige Leistung von ALG II LSG Bayern, Beschl. v. 9.1.2015 – L7 AS 846/14 B ER, ZVI 2015, 333 = NZS 2015, 268. 119) Bei Zahlungen mit Rechtsgrund lehnt der BGH sogar bei Eingang auf einem falschen Konto das Zurückweisungsrecht ab; vgl. Mayen in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankRHdb, 4. Aufl. 2011, § 47 Rz. 18. 120) Ablehnend AG Kassel, Beschl. v. 24.1.2012 – 620 M 4387/11, ZVI 2012, 199; hilfsweise befürwortend Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 45.

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werbsunfähigkeits- oder Altersrente), sodass die Pfändung nicht zu einer Befriedigung des Gläubigers führt. Die Kontenpfändung dient in solchen Fällen zumeist nur dem Zweck, den Kontoinhaber durch die Unannehmlichkeiten, die mit der Pfändung und ggf. daraus resultierenden Sperrung des Kontos verbunden sind, zu „freiwilligen“ Ratenzahlungen aus dem unpfändbaren Vermögen zu bewegen,121) wobei der Gläubiger regelmäßig anbietet, die Kontenpfändung für die Dauer solcher Ratenzahlungen auszusetzen bzw. ruhend zu stellen.122) Da die Kontenpfändung bei den Banken schon immer erhebliche Kosten verursachte, die nach der BGH-Rechtsprechung nicht auf den Kunden abgewälzt werden dürfen (oben II), und sich die Banken auf die für sie ggf. haftungsträchtige Aussetzung der Pfändung durch den Gläubiger mit Recht nicht einlassen,123) forderten sie die Kontoinhaber oft dazu auf, beim Vollstreckungsgericht eine Aufhebung der Pfändung zu beantragen, weil anderenfalls das Konto gekündigt werde.124) Unter dem früheren System des Pfändungsschutzes haben die Gerichte überwiegend die beantragte Aufhebung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses gemäß § 765a ZPO mangels erkennbarer Gläubigerinteressen angeordnet bzw. – wenn künftig eine Änderung möglich erscheint – zumindest die Zwangsvollstreckung vorläufig eingestellt.125) Vor diesem Hintergrund konnte die ggf. fehlende Bereitschaft des Kontoinhabers, einen solchen Antrag nach § 765a ZPO (bzw. in der Verwaltungsvollstreckung nach den Regelungen des VwVG) zu stellen, vom Kreditinstitut zum Anlass für eine Kündigung genommen werden.126) Mit der Reform des Kontopfändungsschutzes hatte der Gesetzgeber die Problematik der zwecklosen Pfändung zunächst in § 833a Abs. 2 Satz 1 ZPO a. F. ausdrücklich aufgegriffen: Danach hatte das Vollstreckungsgericht eine doppelte Entscheidungsmöglichkeit. Es konnte auf einen – in jedem Einzelverfahren (gegen jeden vollstreckenden Gläubiger) zu stellen121) Vgl. dazu LG Hamburg, Beschl. v. 27.2.2004 – 309 T 19/04, juris; Fischer, InVo 2004, 384 (Urteilsanm.). 122) Dazu Ehlenz/Joeres, Kann der Pfändungsgläubiger eine Kontopfändung einseitig aussetzen oder ruhendstellen?, JurBüro 2010, 62, 64 f.; siehe auch Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 80h; Bach-Heuker in: Heller/Steuer, BuB, Stand: 7/2015, Rz. 2/1312 f. 123) Dazu ausführlich und überzeugend Ehlenz/Joeres, JurBüro 2010, 62 ff. 124) Vgl. Fischer, Zur Aufhebung einer Kontopfändung, Rpfleger 2002, 163; Bitter, WM 2008, 141, 143 f.; zur Kündigung wegen Pfändungsmaßnahmen siehe oben II. 125) Nachweise bei Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38. 126) Auch dazu Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 38.

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den – Antrag des Schuldners die Pfändung aufheben (Nr. 1) oder die Pfändbarkeit des Kontos – allgemein gegenüber allen Gläubigern – für einen Zeitraum bis zu zwölf Monaten aussetzen (Nr. 2), wenn der Schuldner nachweist, dass dem Konto in den letzten sechs Monaten vor Antragstellung ganz überwiegend nur unpfändbare Beträge gutgeschrieben worden sind, und er glaubhaft macht, dass auch innerhalb der nächsten zwölf Monate nur ganz überwiegend nicht pfändbare Beträge zu erwarten sind.127) Leider war diese Regelung bis Ende 2011 befristet, sodass nunmehr ein Schutz vor zwecklosen Pfändungen nur noch auf dem – bei debitorischem Konto nicht notwendig zur Verfügung stehenden – P-Konto und auch nur beschränkt über § 850l ZPO gewährt wird.128) Von den beiden früher gemäß § 833a Abs. 2 Satz 1 ZPO a. F. zur Verfügung stehenden Optionen enthält § 850l ZPO nur noch die zweite Alternative der Aussetzung für einen Zeitraum bis zu zwölf Monaten,129) während die Aufhebung der Pfändung nicht mehr möglich ist.130) Aufgrund dieser zwar misslichen, aber bewussten Entscheidung des Gesetzgebers kommt eine ergänzende Heranziehung des § 765a ZPO für Fälle zweckloser Pfändungen im Hinblick auf den abschließenden Charakter der Neuregelung nicht mehr in Betracht.131) Hin-

127) Dazu Schumacher, ZVI 2009, 313, 322; du Carrois, ZInsO 2010, 2276, 2279; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 29 ff., 37 ff.; zum Entwurf Fölsch/Janca, ZRP 2007, 253, 255 f.; zum jetzigen § 850l ZPO Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 204 ff. 128) Vgl. Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850l Rz. 5; Zimmermann, Gesetzestexte zur Reform des Kontopfändungsschutzes, ZVI 2010, 117, 119; GrafSchlicker/Linder, ZIP 2009, 989, 992; ausführlich Homann, ZVI 2013, 6 ff.; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 951 ff.; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 111 ff. 129) Zu den rechtlichen Wirkungen Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850l Rz. 7; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 970 ff.; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 114 ff.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 208 ff.; Homann, ZVI 2013, 6, 9 ff.; Homann, DGVZ 2015, 45, 47. 130) Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850l Rz. 7; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 969; Homann, ZVI 2013, 6, 9. 131) Ebenso AG Schwäbisch Hall, Beschl. v. 18.6.2012 – 1 M 892/12, ZVI 2012, 314; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 111; wohl auch Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850l Rz. 2; Homann, ZVI 2010, 405, 413; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 38; a. A. Kessal-Wulf/Lorenz in: Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 6. Aufl. 2016, § 850l ZPO Rz. 1.

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sichtlich anderer Gründe bleibt § 765a ZPO aber selbstverständlich daneben anwendbar (oben I).132) Unter dem neuen System des Pfändungsschutzes haben die Schuldner wegen der Verfügbarkeit des P-Kontos, das nach der verfehlten BGHRechtsprechung zum selben Preis wie ein reguläres Girokonto angeboten werden muss (oben II), freilich wenig Anreiz, Anträge nach § 850l ZPO zu stellen, zumal dies für sie je nach den vom Gericht gestellten Anforderungen an die Darlegungslast133) erheblichen Aufwand bedeutet.134) Die zur Entlastung der Kreditwirtschaft gedachte Regelung läuft damit in der Praxis weitgehend leer, weil das Kreditinstitut selbst kein Antragsrecht besitzt.135) Um zu vermeiden, dass sich die Bequemlichkeit des Kontoinhabers auf Kosten des Kreditinstituts durchsetzt, sollte man auch unter dem neuen Pfändungsschutzsystem eine nebenvertragliche Pflicht des Kontoinhabers zur Stellung eines Antrags gemäß § 850l ZPO befürworten, dessen Verletzung nach entsprechender Mahnung und Kündigungsandrohung das Kreditinstitut zur außerordentlichen Kündigung berechtigt.136) Auch dies nützt freilich nichts, wenn sodann das Vollstreckungsgericht die Notwen-

132) Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850l Rz. 11; Goebel, Kontopfändung unter veränderten Rahmenbedingungen. Die Reform der Kontopfändung, 2010, S. 32; in diesem Sinne wohl auch Seiler in: Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl. 2015, § 850k Rz. 9. 133) Dazu Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850l Rz. 3 f.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 206 ff.; Beispiele: AG Lichtenberg, Beschl. v. 4.11.2010 – 31 M 4294/06, ZVI 2011, 101; AG Hannover, Beschl. v. 1.9.2010 – 705 M 56015/10, ZVI 2011, 230; AG Heilbronn, Beschl. v. 4.4.2011 – 5 M 861/10, ZVI 2011, 260; AG Heidelberg, Beschl. v. 25.3.2011 – 61 M 20556/07, ZVI 2011, 261; AG Frankfurt, Beschl. v. 28.2.2011 – 82 M 19519/10, ZVI 2011, 262; AG Brühl, Beschl. v. 10.2.2011 – 47 M 1136/08, JurBüro 2011, 270; zur insoweit zu beklagenden Rechtszersplitterung Homann, ZVI 2013, 6, 7. 134) Dazu Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 952 ff.; ferner Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, S. 68. 135) Auch dazu Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 952; ferner Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 111 und 113; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 211; siehe auch Homann, ZVI 2013, 6, 7 f.: Entlastung frühestens mittelfristig; zum fehlenden Antragsrecht der Kreditinstitute auch Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850l Rz. 2; Kessal-Wulf/Lorenz in: Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 6. Aufl. 2016, § 850l ZPO Rz. 2; eine Änderung de lege ferenda fordernd Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 204 f., 211, 236. 136) Ebenso Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 954; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 81d und 119.

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digkeit eigenen Tätigwerdens im Hinblick auf das P-Konto verneint137) und so die gesetzliche Regelung leerlaufen lässt.138) VIII. Kontenleihe Nach dem früheren Recht war der Pfändungsschutz gemäß § 850k ZPO a. F. (später: § 850l ZPO a. F.) sowie nach § 55 Abs. 1 SGB I bzw. § 76a EStG ausgeschlossen, wenn das Arbeitseinkommen oder die Sozialhilfe auf das Konto eines Dritten, z. B. des Ehegatten, überwiesen wurde (sog. Kontenleihe).139) In diesem Fall konnte nach der BGH-Rechtsprechung nur Schutz gemäß § 765a ZPO gewährt werden.140) Für das neue System des Pfändungsschutzkontos (P-Konto) ist noch deutlicher als bisher zwischen zwei Konstellationen zu trennen, nämlich erstens der Kontopfändung durch Gläubiger des kontoführenden Dritten (unten 1) und zweitens der Pfändung durch den Gläubiger des Schuldners, welcher dessen aus dem Auftragsverhältnis folgenden Anspruch auf Auskehrung der eingegangenen Beträge gegen den (treuhänderischen) Inhaber des Drittkontos pfändet (unten 2).141) 1. Pfändung durch Gläubiger des kontoführenden Dritten Soweit ein Pfändungsgläubiger Konten pfändet, auf denen Beträge einer anderen (wirtschaftlich berechtigten) Person eingehen, ist – was das Bundesverfassungsgericht jüngst übersehen hat142) – unter dem neuen System des P-Kontos der Pfändungsschutz im Grundsatz auch auf dem Konto des 137) AG Hannover, Beschl. v. 1.9.2010 – 705 M 56015/10, ZVI 2011, 230, Rz. 9, juris, zur Vorgängerregelung in § 833 Abs. 2 ZPO a. F.; in Bezug auf § 765a ZPO auch AG Brühl, Beschl. v. 10.2.2011 – 47 M 1136/08, JurBüro 2011, 270, Rz. 15, juris; w. N. bei Homann, ZVI 2013, 6, 7. 138) Zur Gesetzwidrigkeit solcher Verfahrensweisen spätestens seit der Neufassung des § 850l ZPO siehe Homann, ZVI 2013, 6, 8. 139) Siehe die Nachweise bei Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 29 (Arbeitseinkommen) und Rz. 34 (Sozialhilfe). 140) BGH, Beschl. v. 4.7.2007 – VII ZB 15/07, Rz. 14 ff., NJW 2007, 2703 = ZVI 2008, 18 m. zust. Anm. Kohte, VuR 2008, 29 f.; BGH, Beschl. v. 27.3.2008 – VII ZB 32/07, Rz. 11 ff., NJW 2008, 1678 = WM 2008, 930; a. A. noch Meyer, Kontenschutz gemäß § 765a ZPO?, Rpfleger 2007, 513, 514 ff. 141) Siehe zum Folgenden bereits Bitter, WuB 2015, 601, 603 ff. 142) BVerfG, Beschl. v. 29.5.2015 – 1 BvR 163/15, WM 2015, 1376 (dazu Bitter, WuB 2015, 601, 603); übersehen wohl auch bei Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850l Rz. 11, der bei Kontenleihe sehr allgemein auf § 765a ZPO verweist.

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Dritten möglich, weil die Pfändungsfreiheit des P-Kontos von dem Eingang unpfändbaren Einkommens abgekoppelt wurde. Folglich verfügt auch ein Dritter, der keine eigenen Bezüge hat, über den Pfändungsfreibetrag, wenn sein Gläubiger das Konto pfändet.143) Allerdings kann der wirtschaftlich Berechtigte nicht selbst den Antrag auf Umwandlung des Drittkontos in ein P-Konto stellen.144) Zudem kann, wenn der Dritte den Antrag stellt oder er bereits ein P-Konto führt, sein Freibetrag im Hinblick auf die Aufstockungsbeträge von dem des Arbeitnehmers bzw. Sozialhilfeberechtigten abweichen, wenn beispielsweise nur die Letzteren unterhaltspflichtig sind und nicht auch der Dritte. In diesem Fall besteht weiterhin Bedürfnis für eine Anwendung des § 765a ZPO für jenen Zeitraum, bis zu dem der Arbeitnehmer bzw. Sozialhilfeberechtigte sich selbst ein P-Konto einrichten und zukünftig die ihm zustehenden Beträge aus Arbeitseinkommen oder Sozialhilfe auf jenes P-Konto mit dem höheren Aufstockungsbetrag umleiten kann.145) Gleiches sollte gelten, wenn der Freibetrag des Dritten bereits durch dessen eigenes Einkommen (weitgehend) erschöpft ist und folglich für das im Wege der Kontenleihe entgegengenommene Geld (partiell) kein Freibetrag mehr zur Verfügung steht.146) Die Anwendung des § 765a ZPO ist in den genannten Fällen nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Schutz für Gelder begehrt wird, die wirtschaftlich nicht dem Pfändungsschuldner als Kontoinhaber zustehen.147) Neben dem Pfändungsschutz ist ferner zu prüfen, ob der wirtschaftlich Berechtigte der Pfändung durch Gläubiger des Kontoinhabers mit der Drittwiderspruchsklage (§ 771 ZPO) begegnen bzw. in der Insolvenz des Kontoinhabers aussondern kann (§ 47 InsO). Nach den von der Rechtspre-

143) Zutreffend Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 656; Casse, 5 Jahre P-Konto – Streitpunkte und offene Fragen, ZInsO 2015, 1033, 1038; siehe auch Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 39; zur damit verbundenen Vervielfachung des Pfändungsschutzbetrags oben IV. 144) LG Braunschweig, Beschl. v. 3.11.2014 – 8 Qs 197/14, Rz. 15, juris = StraFo 2015, 65. 145) Bitter, WuB 2015, 601, 603 f.; allgemein für die Anwendung des § 765a ZPO bei Kontenleihe auch Stöber in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 850l Rz. 11. 146) Bitter, WuB 2015, 601, 604; zurückhaltend insoweit AG Aschaffenburg, Beschl. v. 5.7.2012 – 11 M 13521/03 und 11 M 13927/02, ZVI 2012, 469; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 656. 147) So aber AG Schwarzenbek, Beschl. v. 24.5.2012 – 5 M 962/12, ZVI 2012, 354 mit Hinweis auf AG Hannover v. 6.6.2008 – 705 M 55427/08, juris, ferner AG Wilhelmshafen, Beschl. v. 9.1.2012 – 14 M 583/09, ZVI 2012, 245, 246 in m. E. unrichtiger Einschränkung von BGH, Beschl. v. 27.3.2008 – VII ZB 32/07, NJW 2008, 1678 = WM 2008, 930 (vgl. Bitter, WuB 2015, 601, 604).

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chung für Treuhandkonten entwickelten – freilich angreifbaren148) – Grundsätzen ist dies allerdings nur möglich, wenn der Kontoinhaber das Konto ausschließlich für den anderen führt, nicht hingegen bei Mischkonten.149) 2. Pfändung des Anspruchs auf Auskehrung der eingegangenen Beträge Ein Schutz der auf einem Drittkonto eingehenden Beträge gemäß § 850k ZPO ist allerdings dann nicht möglich, wenn der Gläubiger des Sozialhilfeempfängers oder Arbeitnehmers dessen aus dem Auftragsverhältnis folgenden Anspruch auf Auskehrung gegen den (treuhänderischen) Inhaber des Drittkontos pfändet (§ 667 BGB150)).151) Denn in diesem Fall ist kein „Guthaben bei einem Kreditinstitut“ i. S. von § 850k ZPO gepfändet.152) Bis zur (tatsächlich möglichen) Umleitung der Beträge auf ein eigenes P-Konto sollte aber auch hier über § 765a ZPO geholfen werden.153) 3. Kein Schutz über § 765a ZPO bei bewusster Nichtnutzung eines eigenen P-Kontos Wird freilich der Weg über ein eigenes Pfändungsschutzkonto bewusst nicht genutzt, kann im Regelfall auch kein Schutz über § 765a ZPO mehr beansprucht werden.154) Nur im extremen Ausnahmefall kann § 765a ZPO längerfristig angewendet werden, wenn eine fortdauernde Kontenleihe – etwa wegen Alkohol- oder Drogenabhängigkeit des Schuldners – geboten ist.155)

148) Siehe Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 105 ff. 149) Siehe auch Casse, Neue Überlegungen zum Giro- und P-Konto im Insolvenzverfahren, ZInsO 2012, 1402, 1406 f. 150) Zur Pfändung jenes Anspruchs aus § 667 BGB siehe Bitter in: Schimansky/Bunte/ Lwowski, BankR-Hdb, 4. Aufl. 2011, § 33 Rz. 108. 151) Insoweit zutreffend BVerfG, Beschl. v. 29.5.2015 – 1 BvR 163/15, WM 2015, 1376 m. Anm. Bitter, WuB 2015, 601, weil die in BGH, Beschl. v. 4.7.2007 – VII ZB 15/07, Rz. 13, NJW 2007, 2703, 2704 = ZVI 2008, 18 m. w. N. und BGH, Beschl. v. 27.3.2008 – VII ZB 32/07, Rz. 10, NJW 2008, 1678 = WM 2008, 930, entwickelten Grundsätze (nur) diesbezüglich im neuen Recht fortgelten. 152) Bitter, WuB 2015, 601, 605; LG Mönchengladbach, Beschl. v. 26.7.2013 – 1 O 217/12, JurBüro 2014, 102 Rz. 26, juris. 153) Bitter, WuB 2015, 601, 604 f. 154) BVerfG, Beschl. v. 29.5.2015 – 1 BvR 163/15, WM 2015, 1376; dazu Bitter, WuB 2015, 601, 605; anders noch zum alten zweispurigen System AG Wilhelmshafen, Beschl. v. 9.1.2012 – 14 M 583/09, ZVI 2012, 245, 246. 155) LG Hamburg, Beschl. v. 23.10.2014 – 325 T 114/14, ZVI 2015, 13; Ahrens in: Prütting/ Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 7.

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IX. Kontopfändung und Insolvenz Die Neuordnung des Pfändungsschutzes hat auch Bedeutung für die Insolvenz des Kontoinhabers. Nach § 36 InsO gehören unpfändbare Gegenstände nicht zur Insolvenzmasse. In diese Vorschrift wurde nun ausdrücklich auch ein Verweis auf die Regelung zum Pfändungsschutzkonto (P-Konto) in § 850k ZPO aufgenommen. Damit soll für natürliche Personen auch während eines laufenden Insolvenzverfahrens die Möglichkeit gegeben werden, mit dem P-Konto am bargeldlosen Zahlungsverkehr teilzunehmen. Die Details der Änderung können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass der Girovertrag nach ganz h. M. zumindest für ein bei Insolvenzeröffnung bereits existentes156) P-Konto mit Verfahrenseröffnung nicht (mehr) gemäß §§ 115, 116 InsO erlischt.157) Dem Schuldner stehen die gemäß § 850k ZPO pfändungsfreien Guthaben nun in jedem Fall automatisch zu, während der Überschuss, z. B. ein nicht in den Folgemonat übertragbares Guthaben, der Masse – nicht hingegen

156) Zur Umwandlung nach Insolvenzeröffnung siehe einerseits Ahrens in: Prütting/ Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 121; Günther, ZInsO 2013, 859, 861 ff.; Casse, ZInsO 2012, 1402 ff.; Casse, ZInsO 2015, 1033, 1034 f.; Schmidt, Der zuweilen beschwerliche Weg des gar nicht mehr so neuen P-Kontos durch die Ebenen der insolvenzrechtlichen Praxis, InsBüro 2013, 14 ff.; Sudergat, Das Pfändungsschutzkonto in der Insolvenz, ZVI 2013, 169, 170 ff.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 217 f.; andererseits Stritz, Aktuelle Fragen rund ums Pfändungsschutzkonto, InsBüro 2012, 207 ff.; Obermüller in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 200 f.; offen BGH, Beschl. v. 13.2.2014 – IX ZB 91/12, Rz. 10, ZInsO 2014, 687 = ZVI 2014, 184. 157) So LG Verden, Urt. v. 19.9.2013 – 4 S 3/13, ZIP 2013, 1954 = ZVI 2013, 479; AG Nienburg, Urt. v. 24.1.2013 – 6 C 516/12, ZIP 2013, 923 = ZVI 2013, 198; Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 850k Rz. 122; Seiler in: Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl. 2015, § 850k Rz. 4a; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 73. Aufl. 2015, § 850k Rz. 78; Bitter, ZIP 2011, 149, 158; Büchel, ZInsO 2010, 20, 26; Casse, ZInsO 2012, 1402, 1403 f.; Casse, ZInsO 2015, 1033, 1034; Grote, Aufleben einer Kontenpfändung nach Aufhebung des Verfahrens?, ZInsO 2014, 1746; Günther, ZInsO 2013, 859, 860 f.; Ehlenz, Pfändung in Bankkonten und andere Vermögenswerte, 8. Aufl. 2015, Rz. 94; Obermüller in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 193; Schmidt, InsBüro 2013, 14, 16 f.; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1046; Sudergat, ZVI 2013, 169 ff. m. w. N. in Fn. 3; Stritz, InsBüro 2012, 207, 210; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 214 ff.; inzident auch AG Neubrandenburg, Urt. v. 17.1.2013 – 103 C 514/12, NZI 2014, 37; AG Friedberg, Beschl. v. 30.10.2013 – 61 IK 146/13, VuR 2014, 109; a. A. Keller in: Kreft, InsO, 7. Aufl. 2014, § 36 Rz. 83; Knees, Und es erlischt doch!, ZInsO 2011, 511 ff.; du Carrois, ZInsO 2009, 1801, 1805; partiell einlenkend du Carrois, ZInsO 2010, 2276, 2279 f.

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dem Pfändungsgläubiger158) – gebührt.159) Die Kreditinstitute müssen also dem früher standardmäßigen Abfordern von Guthaben durch die vorläufigen Insolvenzverwalter/Treuhänder entgegentreten160) und die früher in Verbraucherinsolvenzverfahren übliche Freigabe des schuldnerischen Kontos ist in vielen Fällen nicht nur entbehrlich,161) sondern wäre sogar pflichtwidrig.162) Wird die Freigabe mitsamt einer selbstständigen Tätigkeit des Insolvenzschuldners gemäß § 35 Abs. 2 InsO erklärt,163) wirkt sie nur ex nunc.164) Eine vor Insolvenzeröffnung vom Schuldner bewirkte (rückwirkende) Umwandlung des regulären Kontos in ein P-Konto unterliegt nicht der Insolvenzanfechtung, weil es keine relevante Gläubigerbenachteiligung i. S. von § 129 InsO darstellt, wenn der Schuldner von dem gesetzlich vorgesehenen Pfändungsschutz Gebrauch macht.165) Sein Vermögen ist von dieser ihm jederzeit zustehenden Möglichkeit gleichsam schon vorher „belastet“ gewesen. Zahlungen, die der Schuldner vor Insolvenzeröffnung aus dem gemäß § 850k ZPO unpfändbaren Guthaben an seine Gläubiger geleistet hat, sind ebenfalls mangels Gläubigerbenachteiligung nicht an-

158) Deutlich Grote, ZInsO 2014, 1746, 1747: Keine Abführung mehr an den Pfändungsgläubiger. 159) AG Braunschweig, Urt. v. 25.2.2014 – 118 C 3210/13, NZI 2014, 659 = ZVI 2014, 389; Büchel, ZInsO 2010, 20, 27; Grote, ZInsO 2014, 1746 f.; Günther, ZInsO 2013, 859, 860 und 863; Obermüller in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 196 f.; Sudergat, ZVI 2013, 169, 171. 160) Büchel, ZInsO 2010, 20, 25; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1027. 161) Fölsch/Janca, ZRP 2007, 253, 257; Büchel, ZInsO 2010, 20, 28; Günther, ZInsO 2013, 859, 863; Casse, ZInsO 2015, 1033, 1036; Obermüller in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 194; Sudergat, ZVI 2013, 169, 171 f.; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 219 f.; ferner Grote, ZInsO 2014, 1746 („seltener geworden“); siehe aber auch du Carrois, ZInsO 2010, 2276, 2281. 162) Günther, ZInsO 2013, 859, 862 und 863. 163) Dazu Casse, ZInsO 2012, 1402, 1405; Casse, ZInsO 2015, 1033, 1036; Stritz, InsBüro 2012, 207, 211. 164) AG Braunschweig, Urt. v. 25.2.2014 – 118 C 3210/13, NZI 2014, 659 = ZVI 2014, 389 zum P-Konto; allgemein auch BGH, Urt. v. 18.4.2013 – IX ZR 165/12, Rz. 23, ZIP 2013, 1181 = WM 2013, 1129 = NZI 2013, 641; Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 14. Aufl. 2015, § 35 Rz. 99. 165) A. A. Obermüller in: FS für Haarmeyer, 2013, S. 191, 202.

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fechtbar.166) Der von mir in der Festschrift für Karsten Schmidt entwickelte Grundsatz, dass auch unpfändbare Gegenstände eine „potenzielle Insolvenzmasse“ bilden, deren Weggabe durch einen (späteren) Insolvenzschuldner gläubigerbenachteiligend ist,167) bedarf insoweit der Einschränkung, wie die Unpfändbarkeit dem laufenden Lebensunterhalt dient. Die mit dem Pfändungsschutz verfolgte Idee, dem Schuldner insoweit eine freie Verfügungssphäre zu verschaffen, kann nämlich nur erreicht werden, wenn der Schuldner seine Gläubiger nicht nur (zunächst) befriedigen kann, sondern diese die Beträge auch behalten dürfen (etwa Mieten, Strom, Gas und Telefon). Für die Anfechtung gilt insoweit das Gleiche wie für den Lastschriftwiderruf.168) Hatte der Schuldner vor der Insolvenz über sein (nach altem oder neuem Pfändungsschutzrecht) unpfändbares Guthaben im Wege einer Einzugsermächtigungslastschrift nach dem früheren, auf der Genehmigungstheorie aufbauenden Einzugsermächtigungsverfahren verfügt, durfte der Insolvenzverwalter solche Lastschriften ausnahmsweise nicht widerrufen.169) Lag der Verfügungsbetrag über der Pfändungsfreigrenze, hatte der Schuldner ein Bestimmungsrecht, welche Lastschriften im Umfang des Pfändungsschutzes nicht widerrufen werden sollen.170) Seitdem die Kreditwirtschaft das nationale Einzugsermächtigungsverfahren – einer Anregung des

166) Vallender, Die originäre Anfechtungsbefugnis des Insolvenzverwalters im reformierten Verbraucherinsolvenzverfahren, NZI 2014, 535, 538; anders OLG Zweibrücken, Urt. v. 17.5.2013 – 2 U 86/12, ZVI 2013, 448 = ZInsO 2013, 2061 (Unanwendbarkeit des § 36 InsO vor Insolvenzeröffnung); AG Potsdam v. 20.6.2013 – 27 C 152/12, juris, ausdr. gegen BGH, Urt. v. 14.10.2010 – IX ZR 16/10, Rz. 8 a. E., ZIP 2010, 2358 = WM 2010, 2319, wo der BGH die Anfechtbarkeit von der Zahlung aus pfändbarem Vermögen abhängig macht. 167) Bitter in: FS für Karsten Schmidt, 2009, 123 ff.; dazu kritisch Morgen/Fleisch, Pfändungsschutz als Gläubigerschutz?, ZVI 2015, 125, 128. 168) Siehe die Überlegungen bei BGH, Urt. v. 20.7.2010 – IX ZR 37/09, Rz. 13 ff., insbes. Rz. 19 a. E., BGHZ 186, 242 = ZIP 2010, 1552 = WM 2010, 154; zu eng demgegenüber das von Morgen/Fleisch, ZVI 2015, 125 ff. und 164 ff. entwickelte Konzept, welches trotz Zahlung aus dem „Schonvermögen“ eine Anfechtung zulässt, andererseits bei Weggabe unpfändbarer Gegenstände wie Fernseher und Kameras unnötig die Anfechtbarkeit einschränkt. 169) BGH, Urt. v. 20.7.2010 – IX ZR 37/09, BGHZ 186, 242 = ZIP 2010, 1552 = WM 2010, 154; Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1056; Günther, ZInsO 2013, 859, 864; zuvor schon Foerste, Lastschrift-Widerruf und Kontenpfändungsschutz, ZInsO 2009, 646 ff.; AG Hannover, Urt. v. 6.11.2009 – 568 C 9396/09, ZVI 2009, 504. 170) Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1058; Günther, ZInsO 2013, 859, 864; dazu auch du Carrois, ZInsO 2010, 2276, 2282 f.

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XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs folgend171) – im Jahr 2012 dem SEPA-Basislastschriftverfahren angeglichen hat,172) hat sich die Problematik gänzlich erledigt,173) weil die Lastschrifteinzüge nach der BGH-Rechtsprechung nun insolvenzfest sind, der Insolvenzverwalter sie also generell nicht mehr widerrufen kann.174) X. Fazit Das P-Konto bereitet der Praxis auch mehrere Jahre nach seiner Einführung noch erhebliche Schwierigkeiten, die überwiegend auf die Unzulänglichkeit der gesetzlichen Regelung zurückzuführen sind. An diversen Stellen muss die eigentlich auf echte Ausnahmefälle zugeschnittene Regelung des § 765a ZPO als Notnagel für die Versäumnisse des Gesetzgebers herhalten. Als großes Manko der Reform ist der fehlende Pfändungsschutz bei debitorischen Konten bezeichnet worden.175) Allerdings ist dieses Manko weitgehend durch ein freiwilliges Entgegenkommen der oft zu Unrecht gescholtenen Kreditwirtschaft ausgeglichen worden. Das von ihr angebotene Zwei-Konten-Modell mit notwendiger Beendigung des Kontokorrentkredits hätte jedenfalls dann gut funktionieren können, wenn der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs der Kreditwirtschaft nicht mit einer kontraproduktiven Rechtsprechung zur angeblichen Unwirksamkeit jener Regelung in die Parade gefahren wäre. Nach wie vor drängend ist die enorme Kostenbelastung der Kreditwirtschaft durch die komplexe Regelung des P-Kontos. Diese löst wegen des vom Bundesgerichtshof oktroyierten Verbots einer auch nur annähernd kostendeckenden Bepreisung einen natürlichen Druck zur Kontenkündigung aus. Diesen Druck hat die Politik mitverursacht, weil sie sich beharrlich weigert, ökonomisch zu denken. Statt die Kosten von Pfändungsmaß-

171) BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, BGHZ 186, 269 = ZIP 2010, 1556 (LS 2). 172) Dies übersehen offenbar Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1055 ff.; Günther, ZInsO 2013, 859, 864; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 220 und Meller-Hannich in: Kindl/Meller-Hannich/Wolf, HkZV, 3. Aufl. 2016, § 850k Rz. 67, wenn sie in den Jahren 2013, 2014 bzw. 2016 noch auf die alte Rechtslage rekurrieren. 173) Ebenso in Bezug auf SEPA Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 1063; Weiß, Das Pfändungsschutzkonto de lege lata et ferenda, 2014, S. 221. 174) BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, BGHZ 186, 269 = ZIP 2010, 1556 (LS 1 und 2); siehe aber auch die Bedenken von Bitter, WM 2010, 1725, 1734 f. 175) Sudergat, Kontopfändung und P-Konto, 3. Aufl. 2013, Rz. 697 ff.

Pfändungsschutzkonto – Aktuelle Entwicklungen

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nahmen von den Kreditinstituten weg zu verlagern, ist der Gesetzgeber mit der Einführung des P-Kontos den exakt umgekehrten Weg gegangen. Nur weil die Kreditwirtschaft auf diese Oktroyierung von Kosten genau so reagiert hat, wie man es von Wirtschaftsunternehmen erwarten kann (und im Interesse der Anteilseigner erwarten muss), wird nun die Einführung eines gesetzlichen Anspruchs auf ein Girokonto vorangetrieben. Hoffen wir, dass zumindest das Bundesverfassungsgericht die Milchmädchenrechnung des Gesetzgebers und des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs durchschaut und dem volkswirtschaftlich verschwenderischen Zwang zur (Quer-)Subventionierung von P-Konten ein Ende bereitet.

Delisting – das Ende einer unendlichen Geschichte? MATTHIAS CASPER Inhaltsübersicht I.

Zum Anliegen dieses Beitrages, Terminologie II. Die unendliche Geschichte im Schnelldurchlauf III. Die schwierige Ermittlung der Rechtstatsachen 1. DAI-Studie von 2009 2. Die Studie der Solventis Wertpapierhandelsbank von Dezember 2014 3. Eigene Plausibilitätskontrolle der Solventis-Studie am Lehrstuhl des Verfassers im Mai 2015 4. Das Working Paper von Karami/Cserna/Schuster (März 2015) 5. Working Paper von Doumet/Limbach/ Theissen (Mitte September 2015) 6. Die Untersuchung von Aders/ Muxfeld/Lill (November 2015) 7. Zwischenfazit IV. Das Für und Wider für eine gesetzliche Regelung 1. Schutzwürdige Interessen des Anlegers

2. Das legitime Interesse des Emittenten nach Beendigung der Börsenzulassung 3. Hätte eine Interessenabwägung ein milderes Mittel geboten? V. Ein erster Blick auf die Neuregelung in § 39 Abs. 2 – 6 BörsG 1. Die Neuregelung in § 39 BörsG im Überblick 2. Bewertung a) Regelungsstandort b) Gewichteter Durchschnittskurs statt Unternehmenswert als Regelfall c) Rückkehr zum Unternehmenswert bei Marktmanipulation oder Falschinformation d) Kein valider, gewichteter Börsenkurs verfügbar (§ 39 Abs. 3 Satz 4 BörsG n. F.) e) Rechtsschutz VI. Summa

I. Zum Anliegen dieses Beitrages, Terminologie In einer Festschrift zum Delisting zu schreiben, ist heikel. So könnte doch manch einer auf falsche Gedanken kommen und das Thema auf den Jubilar beziehen. Wer indes Johannes Köndgen kennt, weiß, dass diese Befürchtung völlig unberechtigt ist. Wenn man zudem seit zehn Jahren das Vergnügen hat, mit ihm im Rahmen der ZBB zusammenzuarbeiten, wird noch offenkundiger, dass seine gedankliche Präzision und sein scharfer dogmatischer Blick, der stets auch interdisziplinär und rechtsvergleichend ausgerichtet ist, auch in Zukunft unverzichtbar sind. Um im Bild zu bleiben: Blue Chips sind noch nie vom Markt genommen worden. Dies vorausgeschickt, möchte der nachfolgende Beitrag zwei Fragen im Zusammenhang mit der dieser Tage in Kraft getretenen Neuregelung des

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Delisting untersuchen. Zum einen, ob nach der Frosta-Entscheidung des Bundesgerichtshofs1) überhaupt ein Anlass für ein Eingreifen des Gesetzgebers bestand. Zum anderen, ob der gewählte Ansatz in § 39 Abs. 2 – 6 BörsG überzeugen kann, wozu auch erste Einzelfragen aufzuwerfen sein werden. All dies kann in diesen Zeilen aus Zeitgründen und wegen der bei Festschriften heutzutage üblichen Sachzwänge nur schlaglichtartig geschehen, weshalb sich der Beitrag als Vorstudie zu einer umfangreicheren Untersuchung versteht. Nach einem kurzen Überblick über die unendliche Geschichte des Delisting (II), soll in einem ersten Schritt mittels einer etwas ausführlicheren Analyse des rechtstatsächlichen Materials (III) und einer Abwägung der Interessen des Emittenten gegen diejenigen des Kleinanlegers bei einem Börsenrückzug (IV) der Frage nachgespürt werden, ob für den Gesetzgeber überhaupt ein Sachgrund bestand, tätig zu werden. Anschließend wird der in § 39 BörsG n. F. gewählte Weg einer ersten kritischen Würdigung unterzogen (dazu sodann unter V). Der Begriff des Delisting, also des Rückzugs von der Börse, ist wegen der vielen Marktsegmente schillernd.2) Wenn im Folgenden vom Delisting die Rede ist, soll er nur im engeren Sinne als freiwilliger Totalrückzug von einem regulierten Markt verstanden werden. Ob die Aktien anschließend noch im Freiverkehr oder über andere außerbörsliche Handelsplattformen (also sog. Multilaterale Handelssysteme i. S. des § 2 Abs. 3 Nr. 8 WpHG) gehandelt werden können, ist danach folglich unerheblich. Ebenfalls nicht untersucht wird im Folgenden der Rückzug aus dem Freiverkehr. Ebenso bleibt das partielle Delisting außer Betracht, also der Rückzug von nur einem Handelsplatz. Die Ausklammerung des Freiverkehrs hat ihre Rechtfertigung in den geringeren Transparenzanforderungen sowie der fehlenden öffentlich-rechtlichen Erlaubnis und Organisationsform. Dieser Umstand weist vorliegend jedoch mehr eine Begrenzungsfunktion der zu untersuchenden Aufgaben auf, als dass damit die Aussage verbunden sein soll, der Rückzug aus dem Freiverkehr sei aus Sicht der Anleger weniger gefährlich. Dies gilt umso mehr, als mit der Umsetzung der MiFiD II eine weitere Angleichung des Freiverkehrs an den regulierten Markt zu verzeichnen sein wird. Ebenfalls außer Betracht bleibt das Delisting von Amts wegen 1) 2)

BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146 ff. = ZBB 2013, 415. Vgl. zum Diskussionsstand etwa Groß, Rechtsprobleme des Delisting, ZHR 165 (2001), 141, 145 ff.; Auer, Der Rückzug von der Börse als Methodenproblem, JZ 2015, 71, 72; Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2015, § 20 Rz. 3 ff.; ausführlich auch Probst, Rechtsfragen des regulären Börsenrückzugs, 2013, S. 27 ff.

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(§ 39 Abs. 1 BörsG) sowie das „kalte Delisting“, etwa durch Verschmelzung einer börsennotierten AG auf eine GmbH (§ 29 UmwG). II. Die unendliche Geschichte im Schnelldurchlauf Als Michael Ende 1979 erstmals seinen Roman „Die unendliche Geschichte“ veröffentlichte und Johannes Köndgen noch an seinem 1981 erschienenen Meisterstück schrieb,3) war das Delisting in Deutschland weder ein Thema, noch gesetzlich geregelt. In der Zeit von Johannes Köndgens Wirken in Hamburg, Hannover, St. Gallen und schließlich in Bonn hat es hingegen eine wechselhafte Geschichte durchlaufen. Da diese bekannt ist, sei sie an dieser Stelle nur noch einmal schlagwortartig ins Gedächtnis gerufen. Mit dem dritten Finanzmarktförderungsgesetz von 1998 griff der Gesetzgeber die Thematik in § 43 Abs. 4 BörsG a. F. erstmals auf, inhaltlich entsprach die Regelung im Wesentlichen dem § 39 Abs. 2 BörsG i. d. F. bis November 2015. Zuvor war das Delisting allein als Widerruf der öffentlichrechtlichen Zulassung ausgestaltet. Erst mit der Einführung eines Delisting auf Antrag des Emittenten 1998 wurde den Börsenordnungen, die die Möglichkeit eingeräumt, strengere Vorgaben zum Anlegerschutz bereitzuhalten (§ 39 Abs. 2 Satz 5 BörsG a. F.). Insbesondere die Börsenordnung der Frankfurter Wertpapierbörse sah bis zum Frühjahr 2002 im Regelfall ein freiwilliges Kaufangebot als Voraussetzung für das Delisting vor, dessen Preis in einem angemessenen Verhältnis zum höchsten Börsenkurs der letzten sechs Monate vor Stellung des Antrags auf Widerruf der Börsenzulassung stehen musste (§ 54a BörsO FWB i. d. F. von 1998 – 2002).4) Nach dem Zusammenbruch des Neuen Marktes, der auch an anderen Segmenten eine Bereinigung erforderte, entschied sich der Börsenrat der Frankfurter Wertpapierbörse zu einer Liberalisierung und führte eine Fristenlösung als Regelfall ein, die durch ein Kaufangebot abgekürzt werden konnte.5) Dies rief sodann im November 2002 den II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit seiner Macroton-Entscheidung6) auf den Plan, 3) 4) 5)

6)

Köndgen, Die Selbstbindung ohne Vertrag, 1981. Vgl. dazu etwa Richard/Weinheimer, Der Weg zurück: Going Private, BB 1999, 1613, 1618 f. Kritisch dazu etwa Wilsing/Kruse, Die Änderung des § 54a BörsO/Ffm – Ein Schritt in die richtige Richtung?, NZG 2002, 807, 809; vgl. näher auch Streit, Delisting Light – Die Problematik der Vereinfachung des freiwilligen Rückzugs von der Frankfurter Wertpapierbörse, ZIP 2002, 1279 f. BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 ff. = ZBB 2003, 122.

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der aufgrund des erfahrungsgemäß eintretenden Kursverlusts durch die Ankündigung eines Delisting einen zweifachen Schutz der Minderheitsaktionäre einführte. Zum einen verlangte er einen vorherigen Beschluss der Hauptversammlung, zum anderen eine am Unternehmenswert orientierte Barabfindung der Aktionäre. Zur Begründung wurde maßgeblich auf die Verkehrsfähigkeit der Aktie abgestellt, die vom verfassungsrechtlich in Art. 14 GG verbrieften Schutz des Aktieneigentums umfasst sei. Dies sollte auch für die Hauptversammlungskompetenz gelten, die nicht unter Rückgriff auf die Holzmüller-Rechtsprechung begründet wurde.7) Streitigkeiten um die Höhe der Abfindung wurden dem Spruchverfahren überwiesen. Auch wenn die Kritik an der Macroton-Entscheidung nie vollständig abgeklungen war,8) kam erst mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 20129) neuer Schwung in die Debatte. Sowohl unterlegene Minderheitsaktionäre der Lindner KGaA, die ein Spruchverfahren beim Wechsel vom regulierten Markt in den Münchener Freiverkehr in Gang setzen wollten, wie ein Mehrheitsaktionär der MVS Zeppelin AG, der – in einem anderen Verfahren – sich gegen die Ingangsetzung eines Spruchverfahrens zur Überprüfung eines erfolgten Abfindungsangebots wehrte, da die MVS-Aktie vor dem Delisting praktisch keinen Umsatz mehr verzeichnet hatte, erhoben Verfassungsbeschwerde. Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts wies beide Verfassungsbeschwerden zurück.10) Zwar gebiete Art. 14 GG weder ein Mitspracherecht der Hauptversammlung, noch ein Abfindungsangebot, da die Eigentumsgarantie nur die rechtliche, nicht aber die faktische Verkehrsfähigkeit der Aktie schütze. Jedoch sei dem Bundesgerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung gestattet, ein derartiges Schutzniveau aufzubauen.11) Damit lag der Ball wieder im Feld des II. Zivilsenats. Dieser trat in seiner Frosta-Entscheidung für Viele überraschend die Rolle rückwärts an und verzichtete nicht nur auf das 7) 8)

9) 10) 11)

BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, 53 ff., 56 ff. = ZBB 2003, 122. Vgl. zur Kritik an Macroton etwa Ekkenga, „Macroton“ und das Grundrecht auf Aktieneigentum – der BGH als der bessere Gesetzgeber?, ZGR 2003, 878 ff.; zustimmend, aber den Weg über Art. 14 GG verneinend etwa Spindler, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten – wohin führt der Weg?, in: FS für Goette, 2011, S. 513, 521 ff. BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99, 119 ff. = ZBB 2012, 297. BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99, 119 ff. = ZBB 2012, 297. BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99, 125 f. = ZBB 2012, 297.

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Hauptversammlungserfordernis, sondern auch auf die Pflicht der Gesellschaft oder des Mehrheitsaktionärs, ein Kaufangebot abgeben zu müssen. Dieser Pflicht sei durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts „die Grundlage entzogen“, da für eine einfachgesetzliche Analogie (etwa gestützt auf §§ 305, 320b, 327b AktG, §§ 29, 207 UmwG) mangels Strukturänderung kein Raum sei.12) Anders noch als in seiner Macroton-Entscheidung erachtete der II. Senat nunmehr den Schutz auf Basis des § 39 Abs. 2 BörsG in Kombination mit einer Fristenlösung in den Börsenordnungen für ausreichend.13) Damit war ab Oktober 2013 der Wettbewerb der Börsenordnungen wiedereröffnet. Die wichtigsten Börsen (Frankfurt, Stuttgart und München) setzten auf eine reine Fristenlösung.14) Demgegenüber musste an den Börsenplätzen in Berlin, Hamburg und Hannover regelmäßig ein am WpÜG orientiertes Kaufangebot erfolgen, während die Börsenordnung der Börse Düsseldorf zusätzlich noch einen Hauptversammlungsbeschluss forderte.15) Allerdings griff das Pflichtangebot dann nicht ein, wenn nur ein Downgrading in den Freiverkehr der Börse Düsseldorf stattfand.16) Während im Schrifttum, insbesondere von der Beraterseite der Emittenten, Zustimmung zum overruling der Macroton-Entscheidung vorherrschte,17) stieß dies nicht nur bei den Aktionärsvereinigungen, sondern auch in der Wissenschaft auf teils vehemente Kritik.18) Der Ruf nach dem

12) 13) 14) 15)

16) 17)

18)

BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 147 ff. = ZBB 2013, 415. BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148 f. = ZBB 2013, 415. Vgl. § 46 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 BörsO FWB; § 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BörsO Stuttgart; § 51 Abs. 2 Nr. 3 BörsO München. Vgl. § 51 Abs. 2 Satz 1 BörsO Berlin; § 42 Abs. 2 lit. b BörsO Hamburg; § 43 Abs. 2 lit. b BörsO Hannover; § 56 Abs. 4 BörsO Düsseldorf; vgl. zu den verschiedenen Regelungen auch Brellochs, Der Rückzug von der Börse nach „Frosta“, AG 2014, 633, 639 f. Vgl. § 56 Abs. 3 Nr. 3 BörsO Düsseldorf. Vgl. etwa Arnold/Rothenburg, BGH-Entscheidung zum Delisting: Alle Fragen geklärt?, DStR 2014, 150, 155; Kocher/Widder, Delisting ohne Hauptversammlungsbeschluss und Abfindungsangebot, NJW 2014, 127, 128 f.; Paschos/Klaaßen, Delisting ohne Hauptversammlung und Kaufangebot – der Rückzug von der Börse nach der FrostaEntscheidung des BGH, AG 2014, 33, 36. Die wichtigsten Protagonisten waren Walter Bayer (Bayer, Die Delisting-Entscheidungen „Macrotron“ und „Frosta“ des II. Zivilsenats des BGH, Ein Lehrstück für die Suche nach der „richtigen“ Problemlösung und zugleich die Analyse einer unzulänglichen Gesetzgebung und einer gescheiterten Rechtsfortbildung, ZfPW 2015, 163 ff.; Bayer, Aktionärsschutz beim Delisting: Empfehlungen an den Gesetzgeber, ZIP 2015, 853 ff.) sowie Mathias Habersack (Habersack, JZ 2014, 147, 148 [Urteilsanm.]); vgl. ferner Koch/ Harnos, Die Neuregelung des Delistings zwischen Anleger- und Aktionärsschutz, NZG 2015, 729 ff.

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Gesetzgeber ließ nicht lange auf sich warten.19) Im Arbeitskreis Finanzmarktgesetzgebung beim Bundesfinanzministerium stand das Thema bereits im Herbst 2014 auf dem Programm. Allerdings herrschte in der Gruppe die Meinung vor, dass die rechtstatsächlichen Daten seit Oktober 2013 noch nicht ausreichten, um schon mit Sicherheit einen Handlungsbedarf des Gesetzgebers zu konstatieren.20) Ganz überwiegend hielt man es für sinnvoll, die Entwicklung weiter zu beobachten und auf weitere, qualifizierte Studien und nicht ausschließlich auf die damals allein im Umlauf befindliche DAI-Studie zu vertrauen.21) In der Politik, namentlich in der CDU/CSU-Fraktion,22) wurde aber ein zeitnaher Handlungsbedarf gesehen, nachdem in der Wirtschaftspresse über eine zunehmende Zahl von Delistings mit einem teils dramatischen, nicht wieder aufzuholenden Kursverfall zulasten der Anleger berichtet worden war.23) Dies führte zunächst am 24. Mai 2015 zu einer Expertenanhörung im Kreise von Rechtspolitikern der Regierungskoalition und anschließend zu einer Erörterung im Rechtsausschuss i. R. der Aktienrechtsnovelle 2015.24) Nachdem sich aber eine kapitalmarktrechtliche Lösung mit Standort im Börsengesetz abzeichnete, wollte man die ohnehin schon überfällige Aktienrechtsnovelle 2015, deren Startschuss im Jahr 2011 fiel, nicht unnötig belasten. Stattdessen hat man das nach der ersten Lesung im Bundestag schon laufende Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der TransparenzrichtlinieÄnderungsrichtlinie genutzt, um das Delisting „huckepack“ zu nehmen. 19) 20)

21) 22)

23)

24)

Habersack, JZ 2014, 147, 148; Bayer, ZfPW 2015, 163, 281 ff.; ablehnend aber z. B. Auer, JZ 2015, 71, 76. Verfasser ist Mitglied dieses Arbeitskreises, dessen Ergebnisse nicht veröffentlicht werden. Das BMF gab sodann eine Studie in Auftrag, die jedoch später wegen der Aktivitäten im Rechts- und Finanzausschuss zurückgezogen wurde. Sie ist inzwischen gleichwohl verfügbar, vgl. Fn. 53. Vgl. die Nachw. unten in Fn. 29. Es wird vor allem der Name des CDU Finanzpolitikers Middelberg genannt, vgl. zum Streit um die geistige Urheberschaft den Nachw. bei Bayer, Delisting: Korrektur der Frosta-Rechtsprechung durch den Gesetzgeber, NZG 2015, 1169, 1171 in Fn. 42. Ein weiterer geistiger Vater ist dem Vernehmen nach auch der inzwischen zum Bundestagsabgeordneten avancierte Kollege Heribert Hirte. Zu dessen Rolle vgl. BTPlenarprotokolle 18/127, S. 12382, 12384 und seine Selbsteinschätzung auf S. 12385: „Der Erfolg hat viele Väter, […]“. Vgl. z. B. Brächer/Schier, Flucht vom Parkett, Handelsblatt v. 14.2.2015, S. 1 sowie S. 4 f. mit Blick auf die Solventis-Studie; Jahn, Kursverluste beim Delisting, FAZ v. 18.2.2015, S. 18; WirtschaftsWoche v. 30.6.2014, S. 72 ff.; Lang, Delistings: Aus dem Staub gemacht, Euro am Sonntag v. 28.6.2014, S. 27. Vgl. näher Buckel/Glindemann/Vogel, Delisting nach „Frosta“ – Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung, AG 2015, 373 ff.

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Eine „Formulierungshilfe“ des Bundesfinanzministeriums vom 17. August 2015 wurde in der entscheidenden Sitzung des Finanzausschusses am 7. September 2015 nach Anmahnung von Änderungsbedarf durch die Vertreter der Anlegerschutzverbände und des Rechtsausschusses in der finalen Sitzung des Finanzausschusses am 30. September 2015 noch erheblich geändert.25) Die Regelung ist am 26. November 2015, ein Tag vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die geänderte Transparenzrichtlinie, in Kraft getreten. § 39 Abs. 2 – 6 BörsG n. F. ist gemäß § 59 Abs. 9 BörsG n. F. allerdings mit Rückwirkung zum 7. September 2015 in Kraft getreten, da man befürchtete, dass anderenfalls die Zwischenzeit für einen massenhaften Exodus von der Börse zu den „billigen“ Frosta-Konditionen genutzt werden könnte. III. Die schwierige Ermittlung der Rechtstatsachen Dass sich der Gesetzgeber auf Rechtstatsachen stützt, um sein Handeln zu legitimieren, kommt durchaus immer wieder – wenn auch nicht durchweg – vor. Bei der Neuregelung des Delisting beriefen sich die Befürworter unisono auf erhebliche Kurseinbrüche nach der Ankündigung des Delisting.26) Der eilige Leser konnte die maßgebliche Solventis-Studie (sub 2) dahin interpretieren, 25 % Kursverfall sei an der Tagesordnung, im Einzelfall auch ein Einbruch von 80 %.27) Exemplarisch sei auch auf die Begründung des Finanzausschusses verwiesen, wo es heißt: „Nach Ankündigung des Delisting habe der Aktionär zwar noch die Möglichkeit, seine Aktien zu verkaufen, allerdings könne es bereits unmittelbar nach Ankündigung zu erheblichen Kursverlusten kommen.“28)

Studien werden hingegen nicht erwähnt, obwohl es sie in geringem Umfang durchaus gab.

25) 26)

27) 28)

Vgl. BT-Drucks. 18/6220 v. 30.9.2015, S. 83 ff. (lektorierte Fassung). Vgl. etwa Buckel/Glindemann/Vogel, AG 2015, 373, 375; Koch/Harnos, NZG 2015, 729 unter Rückgriff auf die Solventis-Studie; Bayer, ZIP 2015, 853, 856; Bayer, ZfPW 2015, 163, 199 ff.; Bayer/Hoffmann, Die Folgen von Frosta: Zur vorläufigen empirischen „Schadensbilanz“ von BGH v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, AG 2013, 877, AG 2015, R 55 ff., dies aufgreifend Jahn, FAZ v. 18.2.2015, S. 18. Vgl. etwa die Kurzwiedergabe bei Buckel/Glindemann/Vogel, AG 2015, 373, 375, wenn auch mit differenzierter Würdigung der Marktsegmente. BT-Drucks. 18/6220, S. 78. Aus dem rückschauenden, neueren Schrifttum stellvertretend abermals Bayer, NZG 2015, 1169, 1171, 1173.

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1. DAI-Studie von 2009 Bereits das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung im Jahre 2012 auf die Studie des DAI aus dem Jahre 2009 hingewiesen,29) als es die Schlussfolgerung zog: „Auch mag bezweifelt werden, dass es regelmäßig zu negativen Kursentwicklungen für die nicht mehr im regulierten Markt gehandelte Aktie kommt; ausgeschlossen erscheint dies jedoch nicht.“30)

Die DAI-Studie kam zu dem Ergebnis, dass in dem Untersuchungszeitraum 2001–2009 kein gravierender Kursverfall zu beobachten sei. Ein wenig überraschendes Ergebnis, da im Großteil des Untersuchungszeitraums bereits das Barabfindungsangebot nach Macroton galt und im Jahre 2001 die meisten Börsenordnungen, wie die der FWB (oben II), noch ein Kaufangebot vorsahen. Man hätte also einen Untersuchungszeitraum wählen müssen, in dem kein Kaufangebot bestand oder zumindest Fälle mit und ohne Kaufangebot vergleichen müssen. Auch die in der DAI-Studie erwähnte Untersuchung von Eisele/Walter mit dem Berichtszeitraum 1995 – 2002, also vor Macroton, weist diese Schwierigkeit auf, da die meisten der dort untersuchten Delistings im Zusammenhang mit einer abfindungspflichtigen Strukturmaßnahme erfolgten.31) Zudem wurde allein auf den Tag der Veröffentlichung der Delisting-Entscheidung abgestellt, ohne zu berücksichtigen, ob diese Entscheidung nicht schon zuvor am Markt bekannt war (z. B. durch den Hauptversammlungsbeschluss oder Presseberichterstattungen) und somit eventuell bei Bekanntmachung bereits eingepreist war.32) Auch wurde nicht versucht, allgemeine Markteffekte, die den Kurs ebenfalls nach unten oder nach oben beeinflusst haben können,

29)

30) 31)

32)

Wiedergegeben in der Stellungnahme des DAI für das Verfahren vor dem BVerfG Az. 1 BvR 3142/07, S. 18 ff., abrufbar unter https://www.dai.de/files/dai_usercontent/ dokumente/positionspapiere/2010-10-08 Stellungnahme VB 3142-07.pdf; vgl. auch die Darstellung der Studie bei Heldt/Royé, Das Delisting-Urteil des BVerfG aus kapitalmarktrechtlicher Perspektive, AG 2012, 660, 667 ff. BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, Rz. 40 f., 83, BVerfGE 132, 99, 115 f., 133 = ZBB 2012, 297. Eisele/Walter, Kursreaktionen auf die Ankündigung von Going Private-Transaktionen am deutschen Kapitalmarkt, zfbf 2006, 337 ff.; Bayer/Hoffmann, Kapitalmarktreaktionen beim Delisting, AG 2013, R 371 f. Weit. Nachw. älteren Schrifttums bei Doumet/ Limbach/Theissen, Ich bin dann mal weg: Werteffekte von Delistings deutscher Aktiengesellschaften nach dem Frosta-Urteil, CFR-Working Paper No. 15-14, S. 4, abrufbar unter http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2660074, bei denen aber ebenfalls nur Fälle mit einem Pflichtangebot betrachtet worden sind. Zu Recht kritisch deshalb bereits Bayer/Hoffmann, AG 2013, R 371, R372 f.

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zu berücksichtigen. Ebenso wenig wurde eine Korrelation zu vergleichbaren Unternehmen ohne Delisting oder ein Vergleich mit der Entwicklung eines Branchenindexes vorgenommen. Wie sich der II. Senat in seiner FrostaEntscheidung angesichts dieser auch für Juristen offenkundigen methodischen Schwächen der DAI Studie so blind auf ihre Aussage verlassen konnte, wenn er meint, „[d]ass schon die Ankündigung des Börsenrückzugs regelmäßig zu einem Kursverlust führt, lässt sich nicht feststellen“33), bleibt rätselhaft. 2. Die Studie der Solventis Wertpapierhandelsbank von Dezember 2014 Die erste Untersuchung in der Nach-Frosta-Zeit wurde von der Solventis Wertpapierhandelsbank vorgelegt.34) Studienabschluss war der 12. Dezember 2014, Beginn das Datum der Frosta-Entscheidung. Die Studie analysiert 44 Delistings, wovon fünf wegen Insolvenz des Emittenten und fünf weitere Fälle wegen des Vorliegens eines Übernahmeangebots jedoch wieder aussortiert wurden. Um sowohl kurzfristige, wie mittel- bis langfristige Ergebnisse zu untersuchen, wurde nicht nur der Kurs am Tag vor und nach Ankündigung, sondern zum einen auch der volumengewichtete DreiMonats-Durchschnittskurs vor Ankündigung mit dem Kurs am Tag nach der Ankündigung verglichen. Die prozentuale Abweichung lag im Durchschnitt für den Zeitraum t(+1)/t(-3M) bei: -13,82 % mit einem Median von –6,56 %; beim Vergleich von t(+1)/t(–1) bei –9,58 mit einem Median von –3,74 % (unter Herausrechnung der Fälle mit einem Barabfindungsangebot).35) Zum anderen wurde der volumengewichtete Drei-MonatsDurchschnittskurs vor Ankündigung mit dem letzten verfügbaren Kurs verglichen. Soweit das Delisting noch nicht vollzogen war, wurde der Tag des Studienabschlusses verwendet. Insoweit wurde ein Kurseinbruch von durchschnittlich –23,67 % bei einem Median von –12,18 % festgestellt. Diese Zahlen wirken auf den ersten Blick eindeutig und scheinen eine Rechtfertigung für das Eingreifen des Gesetzgebers zu liefern. Indes bleiben auch hier methodische Zweifel, auch wenn diese deutlich geringer als bei 33) 34)

35)

BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, Rz. 14, NJW 2014, 146, 149 = ZBB 2013, 415. Solventis Wertpapierhandelsbank GmbH (Hrsg), Delisting nach Frosta – Investoren, Börsen und Gesetzgeber sind gefordert, v. 12.12.2014, erhältlich auf Anfrage bei der Solventis Wertpapierhandelsbank; Kurzfassung bei Schlotte/Schmitt, HV-Magazin 2015, 26 f. Vgl. auch die Darstellung bei Bayer/Hoffmann, AG 2015, R 55, R 57.

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der DAI-Studie ausfallen. Vor allem stellt sich auch insoweit das Problem, dass allgemeine Kurseffekte oder besondere, allein unternehmensbedingte Ursachen für einen Kurssturz außer Betracht bleiben.36) Dies zeigt exemplarisch der Fall der cycos AG, deren Kurs bis zum Vollzug des Delisting um 30 % gefallen war und sich nach Ankündigung des Delisting auch nicht zwischenzeitlich erholt hatte. Mustert man indes die Ad-hocMitteilungen des Unternehmens im Zeitraum zwischen Ankündigung und Vollzug des Börsenrückzugs durch, fallen sehr schlechte Geschäftszahlen und eine negative Zukunftsprognose auf,37) die ganz unabhängig von dem Delisting einen erheblichen Einfluss auf den Verfall des Börsenkurses gehabt haben dürften. Zu kritisieren ist ferner, dass der für den zweiten Vergleich zu Grunde gelegte letzte ermittelbare Kurs in vielen Fällen durch den zufälligen Tag des Studienabschlusses (12. Dezember 2014) bestimmt ist. Hätte der Studienabschluss nur einige Tage früher oder später stattgefunden, wäre aufgrund der hohen Volatilität der Kurse möglicherweise eine ganz andere prozentuale Veränderung eingetreten. Der gewichtigste Kritikpunkt ist jedoch die mangelnde Differenzierung zwischen Delistings aus dem regulierten Markt und „Delistings“ aus dem einfachen oder qualifizierten Freiverkehr. Ein unter Anlegerschutzgesichtspunkten rechtlich relevantes Delisting stellt nach einhelliger Auffassung allein der Rückzug aus dem regulierten Markt dar.38) Nach einer Untersuchung von Bayer/Hoffmann fanden im Jahr 2014 überhaupt nur zwölf Rückzüge aus dem regulierten Markt unmittelbar ins „außerbörsliche Nirwana“39) statt, wovon zwei ein Pflichtangebot enthielten, 20 Rückzüge erfolgten hingegen aus dem Freiverkehr, hinzu kamen 25 Downgradings aus dem regulierten Markt in den Freiverkehr.40) Vergleicht man die zehn Rückzüge ohne Kaufangebot aus dem regulierten Markt ins „Nirwana“ mit denjenigen aus dem Freiverkehr in das Dunkelfeld ohne Handel, zeigt sich, dass die negativen Kurseffekte beim Rückzug aus dem Freiverkehr deutlich höher ausfallen.41)

36) 37)

38) 39) 40) 41)

Zu Recht kritisch deshalb auch schon Bayer/Hoffmann, AG 2015, R 55, R 56. Vgl. Mitteilung nach § 37x WpHG v. 15.8.2014, abrufbar unter http://www.dgap.de/ dgap/News/ire/cycos-zwischenmitteilung-der-geschaeftsfuehrung-halbjahr-desgeschaeftsjahres/?companyID=603&newsID=812862. Vgl. nur Ernemann, Das Reguläre Delisting, 2006, S. 5. Also auch kein Handel mehr im Freiverkehr angestrebt war. Vgl. näher Bayer/Hoffmann, AG 2015, R 55, R 56 ff., wobei die Autoren von einer Probe von 54 Unternehmen ausgehen. Zu den Zahlen vgl. Bayer/Hoffmann, AG 2015, R 55, R 56 ff.

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3. Eigene Plausibilitätskontrolle der Solventis-Studie am Lehrstuhl des Verfassers im Mai 2015 Vor dem Hintergrund dieser Ungereimtheiten wurden am Lehrstuhl des Verfassers für den Zeitraum von Januar 2014 bis Mai 2015 die zehn, nicht insolventen, inländischen Unternehmen untersucht, die ein Delisting aus dem regulierten Markt einer inländischen Börse vollzogen oder angekündigt hatten, ohne eine Notierung an einer anderen Börse oder im Freiverkehr aufrechtzuerhalten, also ins börsenrechtliche Nirwana abtauchten.42) Klammert man dabei die zwei Fälle mit Barangebot aus,43) ergab sich analog des ersten Untersuchungsschritts der Solventis-Studie bei bloßer Betrachtung des Kurses am Vortag der Ankündigung und am Tag danach nur ein durchschnittlicher Kursrückgang um –4,28 % (Median –3,54 %). In den Fällen ohne Barabfindung, in denen das Delisting bereits vollzogen wurde, wurde zudem der Kurs am Vortag der Delisting-Bekanntgabe mit dem Kurs am Tag vor Vollzug des Delisting verglichen. Hier war eine prozentuale Veränderung von durchschnittlich –9,2 % festzustellen (Median –8,42 %).44) Dies sind deutlich geringere Zahlen als in der SolventisStudie. Zudem wurde der höchste Kurs jedes Unternehmens ohne Barangebot in der auf die Ankündigung des Delisting folgenden Zeit (bis zum Vollzug des Delisting bzw. Abschluss der eigenen Studie im Mai 2015) ermittelt, um zu untersuchen, ob in der Folgezeit der Kurs vor Ankündigung des Rückzugs wieder erreicht wurde. Dies war in 50 % der Fälle ohne Barabfindung zu beobachten.45) Freilich besteht auch bei dieser internen Untersuchung ein Großteil der oben unter 2 skizzierten Einwände, insbesondere die fehlende Berücksichtigung externer Effekte. Zudem konnte aus Kapazitätsgründen nicht der gewichtete Dreimonatskurs vor Ankündigung ermittelt werden. Auf42)

43) 44) 45)

Verf. dankt Herrn Niklas Gasse für die Zusammenstellung. Untersucht wurden folgende Unternehmen: cycos, elexis, Hahn Immobilien, OnVista, Pironet NDH, primion Technology, Schlossgartenbau, Swarco Traffic Holding, Württembergische Lebensversicherung sowie die ZEAG Energie. Ein Barangebot hatten die Württembergische Lebensversicherung und die ZEAG Energie vorgenommen. Die genauen Zahlen finden sich unter http://www.jura.uni-muenster.de/go/organisation/ institute/zivilrecht/ukr1/forschen/bisherige-publikationen/aufsaetze.html. Bei zwei der positiven Fälle, in denen der Kurs vom Vortag wiedererreicht wurde (OnVista und Swarco Traffic), wurde später ein Squeeze-Out durchgeführt. In den beiden anderen Fällen (elexis und Hahn Immobilien) war die Kursentwicklung insgesamt konstant und wies keine großen Schwankungen auf.

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fällig ist aber, dass die Effekte geringer ausfallen als in der SolventisStudie, da der Rückzug aus dem Freiverkehr unberücksichtigt blieb. 4. Das Working Paper von Karami/Cserna/Schuster (März 2015) Bisher sind nur drei qualitative Studien, die versuchen, den Effekt der Ankündigung des Delisting in Beziehung zu allgemeinen Kurseffekten zu setzen, bekannt geworden. Bei der ersten handelt es sich um die noch nicht veröffentlichte Studie von Karami/Cserna/Schuster mit Stand März 2015, die bisher nur als Working Paper vorliegt.46) Ausgehend von der ECMH-These ist die Studie als Ereignisstudie (Event Study) angelegt. Untersucht werden 89 Ankündigungen im Zeitraum von Januar 2013 bis Februar 2015, wobei aber auch Downlistings in den Freiverkehr, reine Rückzüge aus dem Freiverkehr, als auch Segmentwechsel und partielle Delistings von einzelnen Börsenplätzen erfasst sind. Sodann wird untersucht, ob die Aktienkursentwicklung nach der Ankündigung eines Börsenrückzuges in signifikanter Weise von einer „normalen“ Kursentwicklung abweicht. Dazu wird versucht, abnormale Renditen zu ermitteln,47) wobei untersucht wird, ob die am Ereignistag tatsächlich gemessene Rendite signifikant von den erwarteten Renditen auf Basis eines kapitalmarkttheoretischen Modells abweicht. Mittels eines Marktmodells48) wird die Rendite mit derjenigen eines Vergleichsportfolios verglichen.49) Ohne hier die Einzelheiten der Untersuchung näher wiedergeben zu müssen, kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass sich abnormale Renditen mit einer statistischen Signifikanz auf Basis eines 5 %igen Signifikanzniveaus (Fehlerwahrscheinlichkeit) nur bei Rückzügen aus dem Freiverkehr, nicht jedoch beim Rückzug von einem regulierten Markt zeigen. Die über die Ereignisperiode kumulierten durchschnittlichen abnormalen Renditen beim 46)

47)

48) 49)

Karami/Cserna/Schuster, Wie frostig ist die „Frosta“-Entscheidung des BGH in der Rechtsrealität? Kurseffekte bei Delisting-Ankündigungen im Lichte der aktuellen Medienberichterstattung – (Teil-)Ergebnisse einer empirisch-ökonomischen Untersuchung“, Working Paper v. März 2015, abrufbar unter www.bewertung-im-recht.de, die vollständige Studie ist allerdings erst nach einer Registrierung verfügbar. Abnormale Renditen drücken die Differenz zwischen der tatsächlich beobachteten Rendite und derjenigen Rendite aus, die ohne den Effekt der Ankündigung eines außergewöhnlichen Ergebnisses zu erwarten gewesen wäre, vgl. Doumet/Limbach/Theissen, CFR-Working Paper No. 15-14, S. 12. Die Grundidee eines Marktmodells basiert auf dem auf Sharpe zurückgehenden Indexmodell, vgl. Sharpe, Management Sciences 1963, S. 281 ff. Die Autoren nehmen insoweit auf das Modell von MacKinlay, Event Studies in Economics and Finance, Journal of Economic Literature, 35 (1997), 13, 15 ff., Bezug.

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Rückzug aus dem Freiverkehr betragen –23,29 %, während der Wert beim regulären Delisting nur bei etwa –4,5 % liegt, was die Autoren nicht mehr für statistisch signifikant erachten. Ohne die Richtigkeit der durchgeführten Untersuchung qualifiziert evaluieren zu können, deckt sich der Befund doch zumindest in der Tendenz mit der von Bayer/Hoffmann vorgenommenen Plausibilisierung und der eigenen Hinterfragung der SolventisUntersuchung. Dieses Working Paper wurde inzwischen durch eine deutlich überarbeitete Studie ersetzt, die nunmehr Fälle vom Zeitpunkt der Frosta-Entscheidung bis Ende Juni 2015 untersucht und noch deutlicher zwischen den verschiedenen Marktsegmenten unterscheidet und mehr Testverfahren und Vergleichsreihen durchführt. Für diese Studie zeichnen nur noch Karami und Schuster verantwortlich.50) Für den Rückzug aus dem regulierten Markt kommen die Autoren nunmehr zu dem Ergebnis, dass auch hier überwiegend eine statistisch signifikante negative abnormale Rendite zu verzeichnen ist.51) In einer späteren Kurzfassung erachteten sie die Einführung einer Abfindung aber nicht zwingend für geboten.52) 5. Working Paper von Doumet/Limbach/Theissen (Mitte September 2015) Die statistisch wohl aussagekräftigste Studie wurde – ebenfalls noch als Working Paper – Mitte September zur Diskussion gestellt. Doumet/ Limbach/Theissen53) untersuchen in dem Zeitraum vom 8. Oktober 2013 (also dem Tag der Frosta-Entscheidung) bis zum 31. Mai 2015 24 Rückzüge nur vom regulierten Markt, wobei danach unterschieden wird, ob anschließend noch ein Handel im Freiverkehr stattfindet (Downlisting)

50)

51) 52)

53)

Karami/Schuster, Eine empirische Analyse des Kurs-und Liquiditätseffekts auf die Ankündigung eines Börsenrückzugs am deutschen Kapitalmarkt im Lichte der „Frosta“Entscheidung des BGH, abrufbar unter www.bewertung-im-recht.de, die vollständige Studie ist allerdings erst nach einer Registrierung verfügbar. Karami/Schuster, Eine empirische Analyse des Kurs-und Liquiditätseffekts, S. 35 ff. Karami/Schuster, Kritische Anmerkungen zur Neugestaltung des Anlegerschutzes beim Widerruf der Börsenzulassung zum regulierten Markt, S. 5, abrufbar unter http:// bewertung-im-recht.de/blog/kritische-anmerkungen-zur-neugestaltung-desanlegerschutzes-beim-widerruf-der-boersenzulassung. Doumet/Limbach/Theissen, CFR-Working Paper No. 15-14, abrufbar unter http://papers. ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2660074.

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oder gänzlich ins Dunkelfeld abgetaucht wird.54) Die Untersuchung geht nach Auskunft von Erik Theissen gegenüber dem Verf. auf die zurückgezogene Studie zurück, die das BMF im Frühjahr 2015 ausgeschrieben hatte. Es handelt sich ebenfalls um eine qualitative Ereignisstudie, die mit abnormalen Renditen arbeitet und als Vergleichsgröße auf den CDAX abstellt. Die Studie zeigt bei einem 1 %-Signifikanzniveau, dass eine durchschnittliche abnormale Rendite von –5,77 % erzielt wird, wenn man die Kurse am Tag vor und am Tag der Ankündigung vergleicht. Die kumulierte abnormale Rendite am Ankündigungstag und am Folgetag beträgt sogar –6,41 %. Betrachtet man nur den Ankündigungstag, beträgt die abnormale Rendite immerhin noch –3,88 %.55) Interessant ist ferner die Beobachtung, dass diese Effekte deutlich geringer ausfallen, wenn man nur die Unternehmen beleuchtet, die bereits bei der Ankündigung darauf hingewiesen haben, dass noch ein Handel im Freiverkehr stattfinden wird. Allerdings weisen die Autoren auch darauf hin, dass die Geld-Brief-Spanne deutlich steigt und deshalb der Handel im Freiverkehr „hinsichtlich der erwarteten Transaktionskosten dem Handel im regulierten Markt […] deutlich unterlegen ist“.56) Die Frage, ob sich der Kurs bis zum Vollzug des Delisting wieder erholt, wird hingegen nicht untersucht,57) die abnormalen Renditen über einen Zeitraum von 20 Tagen zeigen vor allem in einem Zeitraum von ca. zwölf Tagen starke Auffälligkeiten.58) Interessant sind auch die Zahlen zur Marktliquidität und zum Streubesitz, die signifikant geringer als im CDAX ausfallen.59) 6. Die Untersuchung von Aders/Muxfeld/Lill (November 2015) Zeitgleich mit dem Abschluss der Arbeiten an diesem Manuskript ist eine weitere Untersuchung erschienen, die sich einer ganz ähnlichen Untersu54)

55) 56) 57) 58) 59)

Doumet/Limbach/Theissen, CFR-Working Paper No. 15-14, S. 10: Die ursprüngliche Anzahl wurde um insolvente Unternehmen und solche Rückzugskandidaten bereinigt, die nach Ankündigung des Rückzugs Gewinnwarnungen oder andere für die Kursentwicklung signifikante Umstände ad-hoc-publiziert hatten. Doumet/Limbach/Theissen, CFR-Working Paper No. 15-14, S. 3 f., 10 ff., 36. Doumet/Limbach/Theissen, CFR-Working Paper No. 15-14, S. 22. Vgl. auch die Kritik bei Bungert/Leyendecker-Langner, Unternehmensbewertung oder Durchschnittsbörsenkurs beim Delisting?, DB 2015, 2251, 2253. Doumet/Limbach/Theissen, CFR-Working Paper No. 15-14, S. 32. Doumet/Limbach/Theissen, CFR-Working Paper No. 15-14, S. 17; Tagesdurchschnitt des Handelsvolumens im Sampel 1,1 Mio., im CDAX 16,2 Mio. €, Streubesitzanteil nur 29,75 % statt 49,45 % im CDAX.

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chungsmethodik wie die Studie von Karami/Cserna/Schuster bedient.60) Sie fragt ebenfalls nach atypischen Renditen und kommt am Tag der Ankündigung zu einem um sog. „Sticky Prices“ bereinigten Kursrückgang von 7,1 %. Über einen Zeitraum von 20 Tagen ab Ankündigung liegt der ebenfalls bereinigte Kursrückgang bei Zugrundelegung einer durchschnittlichen kumulierten Rendite bei –13 %, die sich auf –9,4 % verringert, wenn man die atypischen Effekte berücksichtigt. Auf die Berücksichtigung eines Signifikanzniveaus wurde hingegen – anders als bei Karami/ Cserna/Schuster – verzichtet.61) Ein klares Manko der Analyse bildet auch der Umstand, dass das Datensampel, das sich auf 33 Fälle im Zeitraum von Februar 2014 bis Juli 2015 bezieht,62) keine Differenzierung zwischen den verschiedenen Marktsegmenten ermöglicht. Es wird darin also auch eine signifikante Zahl von Rückzügen aus dem Freiverkehr erfasst. Interessant ist hingegen die parallele Untersuchung zur Marktkapitalisierung und Liquidität der Rückzugskandidaten. Die Marktkapitalisierung der die Flucht ins Private antretenden Kandidaten ist oft sehr gering. Nur zehn der insgesamt 33 Rückzugskandidaten verfügten bei Ankündigung über eine Marktkapitalisierung von mehr als 50 Mio. €, nur fünf von ihnen rissen sogar die Schwelle von 100 Mio. €.63) Auch war bei vielen Kandidaten das Handelsvolumen gering. Die Hälfte der Emittenten erfüllte das Kriterium in § 39 Abs. 3 Satz 3 lit. a BörsG n. F., neun die Schwelle in lit. b. Allerdings erfüllten nur vier Kandidaten beide Kriterien kumulativ, sodass nach neuem Recht in nur 12 % der Fälle eine Abfindung zum Unternehmenswert hätte vorgenommen werden müssen.64) 7. Zwischenfazit Das bisherige rechtstatsächliche Material – zumindest vor Veröffentlichung der Studien von Doumet/Limbach/Theissen, Aders/Muxfeld/Lill und der neuen Studie von Karami/Schuster – war nicht geeignet, eine verlässliche

60) 61) 62)

63) 64)

Aders/Muxfeld/Lill, Die Delisting-Neuregelung und die Frage nach dem Wert der Börsennotierung, Corporate Finance 2015, 389, 393 ff. Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 395 mit Fn. 42. Vgl. die Auflistung bei Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 393; insoweit nimmt es allerdings Wunder, dass zehn der 33 Beispiele kein bereinigtes Sample sind. Auch bleibt offen, wie die 33 untersuchten Fälle aus einer Gesamtzahl von 76 Rückzügen (vgl. a. a. O., S. 389 mit Fn. 2) ausgewählt wurden. Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 393 f. Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 396 f., vgl. dazu auch noch unter V 2 d).

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Beurteilung des rechtspolitischen Handlungsbedarfs zu ermöglichen. Der Gesetzgeber handelte also „ins Blaue hinein“.65) Insbesondere die Behauptung, es gebe gesicherte Rechtstatsachen, die ein Handeln des Gesetzgebers geradezu erzwangen,66) war zumindest im August bzw. Anfang September 2015 noch weitgehend offen. Insbesondere das Abstellen auf die Solventis-Studie67) war ebenso fragwürdig wie das Berufen des II. Zivilsenats auf die DAI-Studie68). Aus rechtsempirischer Sicht hätte man sich einen längeren Beobachtungszeitraum gewünscht, der nun aber mit der Neuregelung in § 39 BörsG beendet wurde. Andererseits überzeugt es auch nicht, aus dem bisherigen Zahlenmaterial die Schlussfolgerung zu ziehen, dass ein Handeln des Gesetzgebers im Bereich des regulierten Marktes nicht geboten war. Auch wenn die Untersuchungen teilweise zeigen, dass es durch die Ankündigung nicht immer zu unaufholbaren Kursverlusten kommt, besteht doch andererseits eine gewisse, wenn nicht sogar eine hohe Plausibilität, dass es zumindest in einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Einzelfällen dazu kommen kann, dass der Anleger nach der Ankündigung des Börsenrückzuges seine Aktie nicht mehr ohne Verlust verkaufen kann.69) Indes ist dieser Effekt wohl deutlich geringer als in der Politik und in der Presse vermutet, zumal die Verluste umso geringer ausfallen, wenn nur ein Downlisting in den Freiverkehr erfolgt, was für das Eingreifen des neuen § 39 BörsG ebenfalls genügt. Berücksichtigt man andererseits das Primat der Politik, wonach der Gesetzgeber den Schutz der Anleger über das Interesse der Emittenten stellen darf, erscheint die Regulierung des Delisting vom regulierten Markt auch unter Berücksichtigung der Rechtstatsachen durchaus gut vertretbar. Nimmt man hingegen die neueren qualitativen Studien hinzu, wird deutlich, dass der Gesetzgeber, obwohl er ins Blaue hinein handelt, gleichwohl ins Schwarze getroffen zu 65)

66) 67)

68) 69)

Ob ihm ggf. eine Vorabfassung der am 18.9. bei SSRN hochgeladenen Studie von Doumet/Limbach/Theissen oder der endgültigen Studie von Karami/Schuster vorgelegen hat, lässt sich nicht ermitteln (dagegen spricht deren Stellungnahme zum Änderungsantrag vom 29.9.2015 (vgl. Fn. 52), die wohl für die letzte Sitzung des Finanzausschusses vorbereitet wurde). Die Entscheidung legislativ aktiv zu werden, war zu diesem Zeitpunkt freilich ohnehin schon gefallen. Vgl. den Nachw. oben in Fn. 26. So Buckel/Glindemann/Vogel, AG 2015, 373, 375; Koch/Harnos, NZG 2015, 729; deutlich differenzierter, mit eigenen Analysen, aber in der Sache nicht anders Bayer/ Hoffmann, AG 2015 R 55 ff.; Bayer, ZfPW 2015, 163, 199 ff.; beachtliche Kritik dagegen zu Recht bei Karami/Cserna/Schuster, Working Paper v. März 2015, S. 11, abrufbar unter www.bewertung-im-recht.de. Vgl. oben Fn. 33. Ähnlich ambivalentes Fazit bei Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 399.

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haben scheint. Auch wenn die neueren, qualitativen Studien nicht mit letzter Sicherheit für den gewählten Weg streiten,70) besteht jetzt doch eine deutlich höhere Plausibilität, dass das gesetzgeberische Zurückpfeifen des II. Zivilsenats gerechtfertigt war und durch die Neuregelung des § 39 BörsG eine Lücke im Recht des Anlegerschutzes geschlossen worden ist. Für die Zukunft sollte indes als Lehre mitgenommen werden, dass das eigentliche Problem beim Rückzug aus dem Freiverkehr liegt, den der Gesetzgeber bisher ausgespart hat. Dies sollte man mit der Umsetzung der MiFiD II abermals auf den Prüfstand stellen. Freilich wird man zu berücksichtigen haben, dass ein Pflichtangebot bei bloßer Einbeziehung des Emittenten in den Freiverkehr nicht sachgerecht wäre und auch aufgrund der unterschiedlichen Transparenzpflichten zumindest bisher nicht ohne weiteres überzeugen würde. IV. Das Für und Wider für eine gesetzliche Regelung Ließ sich aus den Rechtstatsachen zumindest im Zeitpunkt der Verhandlungen im Finanzausschuss noch kein unmittelbarer Zwang für den Gesetzgeber tätig zu werden, nachweisen, so bleibt der Frage nachzuspüren, ob nicht zumindest eine Interessenabwägung das erfolgte gesetzgeberische Eingreifen legitimiert. Dabei sind die Interessen des Anlegers an einer möglichst einfachen Möglichkeit zur Veräußerung seiner Aktien gegen die Interessen des Emittenten an einer möglichst kostengünstigen Beseitigung der mit der Börsenzulassung verbundenen Folgepflichten und Kosten gegeneinander abzuwägen. Aufgrund des unter I. skizzierten Anliegens dieser Untersuchung können nur einige wesentliche Aspekte der umfangreichen Debatte der beiden vergangenen Jahre gewürdigt werden.71)

70) 71)

Ebenso Bungert/Leyendecker-Langner, DB 2015, 2251, 2253. Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge von Auer, JZ 2015, 71 ff.; Bayer, NZG 2015, 1169 ff.; Bayer, ZfPW 2015, 163 ff.; Bayer, ZIP 2015, 853 ff.; Brellochs, AG 2014, 633 ff.; Buckel/Glindemann/Vogel, AG 2015, 373 ff.; Habersack, JZ 2014, 147 ff.; Heldt/Royé, AG 2012, 660 ff.; Kiefner/Gillessen, Die Zukunft von „Macrotron“ im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG, AG 2012, 645 ff.; Koch/Harnos, NZG 2015, 729 ff.; Paschos/Klaaßen, AG 2014, 33 ff.; Roßkopf, Delisting zwischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, ZGR 2014, 487 ff.; Thomale, Minderheitenschutz gegen Delisting – die MACROTRON-Rechtsprechung zwischen Eigentumsgewähr und richterlicher Rechtsfortbildung, ZGR 2013, 686 ff.; Wicke, Aktionärsschutz beim Delisting – Reformüberlegungen nach der Frosta-Entscheidung des BGH, DNotZ 2015, 488 ff.

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1. Schutzwürdige Interessen des Anlegers Im Wesentlichen unstreitig ist, dass die Möglichkeit einer schnellen und effizienten Veräußerung von Aktien oder anderen Finanzprodukten ein anerkennenswertes Interesse der Anleger bildet, man kann es als Liquidationsinteresse charakterisieren.72) Es ist zwar, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem MSV/Lindner-Urteil zu Recht hervorgehoben hat, nicht durch den Schutz des Aktieneigentums erfasst, da die Veräußerung der Aktien möglich bleibt.73) Die rechtliche Struktur des Wertpapieres bleibt unverändert. Indes kommt es für den Kleinaktionär nicht nur auf die rechtlich mögliche Übertragbarkeit an, sondern gerade auch auf eine einfache Fungibilität des Papiers zu einem leicht feststellbaren Marktpreis ohne signifikante Aufwendungen für den Vertragsabschluss. Mit dem Erwerb eines Papiers am regulierten Markt erwirbt der Anleger auch ein schutzwürdiges Interesse, sich rational apathisch verhalten zu dürfen. Dies setzt als zentrales Kennzeichen voraus, nur den Kurs beobachten zu müssen und jederzeit beim Nichtgefallen der Unternehmenspolitik oder der Ertragsaussichten den Exit über die Börse wählen zu dürfen. Die Möglichkeit, das Papier später über Systematische Internalisierer oder andere verfestige OTC-Foren veräußern zu können, ist kein hinreichender Ausgleich. Dies gilt im Grundsatz auch bei einem Rückzug aus dem regulierten Markt in den Freiverkehr, da die Transparenzanforderungen hier – zumindest bisher – deutlich geringer sind. Noch schwerer wiegt die Gefahr, dass anschließend ohne weitere Kontrollmechanismen ein vollständiger Rückzug in das Dunkelfeld möglich ist.74) Freilich ist das Interesse der Anleger beim bloßen Rückzug in den Freiverkehr geringer zu bewerten. Auch wenn der Hinweis richtig ist, dass das Delisting keine Strukturmaßnahme ist, da die Vermögens- und Mitverwaltungsrechte aus der Aktie unverändert bleiben,75) ist doch die veränderte Informationsmöglichkeit über die Gesellschaft als zentraler Aspekt für die Abwägung in die Waagschale zugunsten des Anlegers zu werfen. Mit dem Rückzug entfällt nicht nur die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität, auch andere wichtige Informations-

72) 73) 74) 75)

Vgl. Ernemann, Das Reguläre Delisting, 2006, S. 35 f. BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, Rz. 56 ff., BVerfGE 132, 99, 120 ff. = ZBB 2012, 297. Ebenso Thomas, Delisting und Aktienrecht, 2009, S. 86 ff. Vgl. statt Vieler Auer, JZ 2015, 71, 73 f.

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quellen, wie die Finanzberichterstattung oder die Beteiligungstransparenz, hören mit dem Eintauchen in das Dunkelfeld auf zu leuchten. Neben der Möglichkeit des Anlegers sich selber aktiv zu informieren, verschwindet die in der Praxis viel wichtigere Möglichkeit, sich über Finanzintermediäre zu unterrichten. Wertpapieranalysten, Ratingagenturen oder Stimmrechtsberater interessieren sich oft nicht mehr für das nun kapitalmarktferne Unternehmen. Auch entfällt die Verpflichtung, sich über die Einhaltung des Deutschen Corporate Governance Kodex zu erklären (§ 161 AktG). Auch wenn zwar die Aktie wie die Mitgliedschaft rechtlich unverändert bleiben, bildet das Delisting doch eine hohe faktische Änderung einer wirtschaftlichen Position, die oft in der Entscheidung münden wird, die Aktien nun so schnell wie möglich abzustoßen, um rechtzeitig vor dem „getting dark“ auszusteigen. Stand bei den bisherigen Überlegungen eher der individuelle Anleger im Vordergrund, lassen sich diese Überlegungen aber auch auf den Institutionenschutz übertragen. Eine zu einfache Ermöglichung des Börsenrückzugs gefährdet auch das Vertrauen der Anlegergesamtheit in den Kapitalmarkt.76) Das Delisting beinhaltet ein „normatives Überraschungsmoment“,77) da es der „normtypischen Laufrichtung“78) widerspricht. Hiervor zu schützen, ist Aufgabe des Kapitalmarktrechts. Andererseits darf nicht verkannt werden, dass es kein Vertrauen auf eine ewige Marktliquidität jedes einzelnen Papiers geben kann. Deshalb ist das Interesse der Anleger umso geringer zu bewerten, je geringer die Marktkapitalisierung des Papiers ist und je häufiger im Verlauf der Notierung eine reguläre Preisbildung aussetzt, da ein Handel nicht mehr stattfindet, wie auch aus § 39 Abs. 1 BörsG normativ abzulesen ist.79) Vorboten hierfür sind oft steigende Spreads zwischen Angebots- und Nachfragekurs sowie eine zunehmende Volatilität der Kursbildung bei einem ansonsten stabilen Marktumfeld, insbesondere dann, wenn ein Market Maker vorhanden ist. Auch wenn somit eine hohe Schutzwürdigkeit des Anlegers anzuerkennen ist, bleibt festzuhalten, dass auch die bisherige Fassung des § 39 Abs. 2 76) 77) 78) 79)

Vgl. statt Vieler Probst, Rechtsfragen des regulären Börsenrückzugs, 2013, S. 270 ff. So zutreffend Thomale, ZGR 2013, 686, 711; ähnlich auch bereits Vollmer/Grupp, Der Schutz der Aktionäre beim Börseneintritt und Börsenaustritt, ZGR 1995, 459, 475. Vollmer/Grupp, ZGR 1995, 459, 475. Probst, Rechtsfragen des regulären Börsenrückzugs, 2013, S. 161. Ebenso Krämer/ Theiß, Delisting nach der Macrotron-Entscheidung des BGH, AG 2003, 225, 233; Heldt/Royé, AG 2012, 660, 672.

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BörsG den Anleger nicht schutzlos stellte. Es bleibt also die Frage zu beantworten, ob diese Schutzbedürftigkeit – in einem ersten Schritt, also noch vor einer Abwägung mit den gegenläufigen Interessens des Emittenten – ein Barabfindungsgebot rechtfertigt. Normativ könnte man zunächst bei der Wertung aus §§ 305, 320b, 327b AktG ansetzen. Es ist aber wiederholt zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Börsenrückzug weder dem Abschluss eines Beherrschungsvertrages oder einer Eingliederung noch einem Hinausdrängen durch Mehrheitsbeschluss vergleichbar ist,80) da die Mitgliedschaft – wie bereits erwähnt – unverändert bleibt. Eine Mehrheits-/Minderheitssituation ist bereits regelmäßig zuvor eingetreten, da ein Delisting bei einer Gesellschaft mit breitem Streubesitz ohne Mehrheitsgesellschafter praktisch nicht zu beobachten ist. Näher läge es dann schon, auf die Wertung in §§ 29, 207 UmwG zurückzugreifen. Insbesondere ein Rückgriff auf § 29 UmwG scheint denkbar, da diese Vorschrift seit 2007 erstmals einen Abfindungsanspruch trotz eines gleichbleibenden Rechtskleides an den bloßen Wechsel von einer börsennotierten in eine geschlossene Aktiengesellschaft knüpft, um das sog. kalte Delisting zu erfassen.81) Auch wenn das Motiv des Gesetzgebers 2007 vor allem eine Gleichbehandlung von kaltem und regulärem Delisting auf der damaligen Macroton-Basis bildete,82) scheint der Bundestag bereits 2007 von der Wertung ausgegangen zu sein, dass die Interessen des Aktionärs durch ein Pflichtangebot hinreichend geschützt sind. Daraus aber auch zwingend eine Wertung zur Abfindung zum per Gutachten zu ermittelnden Unternehmenswert abzuleiten, scheint hingegen zu weitgehend. Dass der Gesetzgeber 2007 nicht erwogen hat, einen gewichteten Börsenkurs einzuführen, dürfte nicht nur mit dem Vorbild Macroton, sondern vor allem auch mit der Systematik des Umwandlungsgesetzes zusammenhängen, das in allen anderen Abfindungsfällen stets auf den gesondert zu ermittelnden Unternehmenswert abstellt. Damit bleibt einstweilen festzuhalten, dass eine isolierte Betrachtung der Interessen des Anlegers für ein wie auch immer ausgestaltetes Abfindungsangebot der Gesellschaft oder des Mehrheitsgesellschafters vor einem regulären Delisting aus dem regulierten Markt streitet.

80) 81) 82)

Vgl. statt Vieler etwa Thomale, ZGR 2013, 686, 708. Vgl. zum Normzweck des § 29 UmwG nur Grunewald in: Lutter, UmwG, § 29 Rz. 3. Vgl. hierzu Kiefner/Gillessen, AG 2012, 645, 655 ff.

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2. Das legitime Interesse des Emittenten nach Beendigung der Börsenzulassung Damit bleibt zu überlegen, ob es nicht höhergewichtige Interessen des Emittenten gibt, die diesem Vorgehen entgegenstehen. Unstreitig hat der Emittent ein anerkennenswertes Interesse daran, die Börsenzulassung, die für ihn mit zahlreichen kapitalmarktrechtlichen Folgepflichten und somit auch mit hohen Kosten verbunden ist,83) beenden zu können. Dies gilt insbesondere, wenn die Vorteile aus dem Listing, wie die Möglichkeit einer vereinfachten Eigenkapitalfinanzierung oder eines höheren Unternehmensimages, in keinem Verhältnis mehr zu den Kosten stehen.84) Dies gilt vor allem dann, wenn der Handel mit den Aktien weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Auch ist nicht zu verkennen, dass die zukünftige Kapitalbeschaffung trotz bestehender Börsennotiz oft höhere Kosten als die außerbörsliche Finanzierung über einen finanzkräftigen Investor verursachen kann.85) Insgesamt spricht viel für die These, dass das Delisting bei einer nutzlos gewordenen Börsennotiz langfristig den Unternehmenswert steigert, also auch den Minderheitsaktionären zugutekommt.86) Ob man wirklich so weit gehen kann, Beschränkungen eines Delisting als Eingriff in die von Art. 12 GG geschützte unternehmerische Handlungsfreiheit zu begreifen, der also einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf,87) scheint mir eher zweifelhaft, da sich der Emittent mit der Zulassung der Papiere insoweit seiner unternehmerischen Freiheit begeben hat88). Zumindest bleibt festzuhalten, dass der Gesetzgeber jedenfalls aufgrund des einfachen Gesetzesvorbehaltes in Art. 12 GG den § 39 BörsG entsprechend ändern konnte.

83)

84) 85) 86) 87) 88)

Pluskat, Rechtsprobleme des Going Private, 2002, S. 11 berichtet bereits 2002 bei größeren Unternehmen von Kosten bis zu 2 Mio. € p. a. Dass diese angesichts der seither deutlich gestiegenen Regulierung heute geringer sind, wird man ausschließen dürfen. Vgl. statt Vieler: Thomas, Delisting und Aktienrecht, 2009, S. 77. Vgl. nur Probst, Rechtsfragen des regulären Börsenrückzugs, 2013, S. 19. So z. B. Ernemann, Das Reguläre Delisting, 2006, S. 193 ff., 207; Heldt/Royé, AG 2012, 660, 671 f. So Krolop, Der Rückzug vom organisierten Kapitalmarkt (Delisting), 2005, S. 120 ff. m. w. N. Anders aber wohl BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, Rz. 88, BVerfGE 132, 99, 132 = ZBB 2012, 297 – MSV/Lindner: „Die Berufsfreiheit in Gestalt der unternehmerischen Handlungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), die die Freiheit des Zugangs zur Börse wie auch des Rückzugs von ihr umfasst, […]“.

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3. Hätte eine Interessenabwägung ein milderes Mittel geboten? Versucht man nun eine Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen, so sprechen gute Gründe dafür, das Interesse der Anleger vor allem auch mit Blick auf den Funktionenschutz höher zu gewichten, als das Interesse des Emittenten an einem schnellen und billigen Rückzug. Man kann die mit einem Pflichtangebot unstreitig verbundenen, nicht unerheblichen Kosten mit Fug und Recht als kapitalmarktrechtliche Folgekosten begreifen, die durch die Entscheidung, an die Börse zu gehen, bereits angefallen waren. Wirft man nun allerdings auch noch die mit Frosta aufgegebene Hauptversammlungskompetenz mit in die Waagschale, so sprechen gute Gründe dafür, dass zumindest auf diese Hürde im Kontext einer Gesamtabwägung zu verzichten ist. Dies rechtfertigt sich auch vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegung, dass es sich beim Delisting gerade nicht um eine §§ 119 Abs. 1, 179, 182 ff. AktG vergleichbare Strukturmaßnahme handelt.89) Hinzu kommt, dass die Hauptversammlung im praktischen Regelfall das Delisting nicht verhindern kann, wenn der Mehrheitsaktionär es wünscht und bereit ist, die Kosten für ein Abfindungsangebot zu berappen. Allein auf das Auskunfts- und das Anfechtungsrecht zu verweisen, überzeugt nicht, da eine sachliche Rechtfertigung für die Entscheidung des Mehrheitsaktionärs anders als beim Bezugsrechtsausschluss gerade nicht verlangt werden kann und somit in erster Linie den Berufsklägern, die Anfechtungsklagen provozieren, in die Hände spielen würde. Allerdings scheint es zumindest gut vertretbar, mit Blick auf die hier im Interesse der Anleger grundsätzlich befürwortete Abfindung im Rahmen der Interessenabwägung danach zu fragen, ob nicht eine entsprechend lange Fristenlösung den Anleger ebenfalls hinreichend und adäquat schützen würde. Damit ist man wiederum bei der obigen Diskussion um die Rechtstatsachen (vgl. sub III) angelangt. Dies wäre dann zu bejahen, wenn das rechtstatsächliche Material zumindest unter Herausrechnung sonstiger negativer Kurseinflüsse in der Mehrzahl der Fälle eine realistische Chance nahelegen würde, dass der Anleger die Papiere vor dem Vollzug des Delisting noch zu einem Kurs verkaufen kann, der in etwa dem vor Ankündigung des Delisting entspricht. Dies konnte zwar in einigen Fällen, aber eben nicht durchweg gezeigt werden. Mangels validerer Datenmassen lässt sich diese Frage aber nicht mit abschließender Gewissheit solide empi-

89)

Vgl. den Nachw. oben in Fn. 75.

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risch absichern. Unter Anerkennung des Primats der Politik ist der eingeschlagene Weg zumindest gut vertretbar. Damit bleibt die Frage, ob die Abwägung der gegenseitigen Interessen zumindest einen Fingerzeig in Richtung der für den Emittenten deutlich weniger aufwendigen Abfindung zu einem gewichteten Durchschnittskurs vor der Ankündigung statt der Heranziehung des durch ein Expertengutachten ermittelten Unternehmenswerts gibt. Dafür sprechen gute Gründe, insbesondere wenn man sich vor Augen führt, dass die Börsenzulassung in vielen Delistingfällen ihre eigentliche Funktion für den Emittenten schon eingebüßt hat. Entscheidend ist aber vor allem, dass gerade die Anleger in ihrer Gesamtheit auch unter Berücksichtigung des Institutionenschutzes nicht auf mehr als einen durchschnittlichen Kurswert vertrauen können. Anders als beim Squeeze Out oder bei der Verschmelzung werden sie nicht aus der Gesellschaft gedrängt oder in eine andere, nicht gewollte Rechtsform hineingedrängt. Vielmehr rechtfertigt gerade das oben herausgearbeitete Interesse an einer einfachen Möglichkeit zur Liquidation des Aktienwertes allein den Rückgriff auf einen gewichteten Börsenkurs und das Vertrauen darauf, dass dieser dem aktuellen Unternehmenswert hinreichend nahekommt. Nur wenn diese Funktion nachhaltig durch Marktmanipulation gestört worden ist, scheint diese Überlegung nicht mehr zu tragen, weshalb auch der gesondert zu ermittelnde Rückfall auf den Unternehmenswert in den Fällen des § 39 Abs. 3 Satz 3 BörsG n. F. unter dem Gesichtspunkt einer Interesseabwägung konsequent ist. Die Interessen des Emittenten haben nach einem marktschädlichen Verhalten hintanzustehen. Dies vor Augen ist aber die umgekehrte Ausnahme vom gewichteten Durchschnittskurs beim Fehlen hinreichend valider Kursdaten zweifelhaft und mit einem Fragezeichen zu versehen, da dieser Umstand nicht aus der Sphäre des Emittenten stammt, sondern vielmehr wie das Risiko einer wirtschaftlichen Abwärtsbewegung zum allgemeinen, vom Aktionär zu tragenden Markrisiko gehört (vgl. näher sogleich unter V 2 d). V. Ein erster Blick auf die Neuregelung in § 39 Abs. 2 – 6 BörsG 1. Die Neuregelung in § 39 BörsG im Überblick Da die Neuregelung vorstehend schon angeklungen ist, seien ihre wesentlichen Merkmale hier nur nochmals schlagwortartig benannt: Ein Delisting von Aktien und anderer aktienähnlicher Papiere i. S. des § 2 Abs. 2

140

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WpÜG setzt künftig eine Angebotsunterlage i. S. des Wertpapierübernahmegesetzes voraus (§ 39 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 BörsG). Darauf kann nur dann verzichtet werden, wenn die Papiere an einem anderen inländischen regulierten Markt oder einem vergleichbaren regulierten Markt innerhalb der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums gelistet bleiben (§ 39 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 BörsG). Ein partielles Delisting bleibt mithin auch weiterhin ohne Pflichtangebot möglich, dieses greift mit anderen Worten nur beim vollständigen Delisting aus allen regulierten Märkten, womit auch der Wechsel in den Freiverkehr in den sachlichen Anwendungsbereich des neuen § 39 Abs. 2 BörsG fällt.90) Das nach dem Wertpapierübernahmegesetz zu erstellende Abfindungsangebot muss jedoch – abweichend von § 31 WpÜG – in jedem Fall in einer Gegenleistung in Geld bestehen und mindestens „dem gewichteten durchschnittlichen inländischen Börsenkurs der letzten sechs Monate vor der Veröffentlichung“ der Ankündigung des Delisting91) entsprechen (§ 39 Abs. 3 Satz 2 BörsG n. F.). Lag hingegen während des Zeitraumes von mindestens sechs Monaten, in dem der gewichtete Durchschnittskurs zu ermitteln ist, ein Verstoß gegen §§ 15, 20a WpHG vor, hat der Emittent den Unterschiedsbetrag zwischen der in der Angebotsunterlage genannten Gegenleistung (also dem Betrag auf Basis des gewichteten Durchschnittskurses) und dem gesondert zu ermittelnden Unternehmenswert zu zahlen. Sollte dieser Abfindungsbetrag auf Basis der Unternehmensbewertung niedriger sein, entlastet dies den Emittenten nicht, er hat dann vielmehr den höheren, in der Angebotsunterlage genannten Betrag zu zahlen (§ 39 Abs. 3 Satz 3 BörsG n. F.). Nach § 39 Abs. 3 Satz 4 BörsG n. F. ist auch dann auf den Unternehmenswert zurückzugreifen, wenn in den sechs Monaten vor Ankündigung des Rückzugs an weniger als einem Drittel der Börsentage ein Kurs festgestellt wurde und mehrere nacheinander festgestellte Kurse um mehr als 5 % voneinander abweichen. In diesem Fall wird vermutet, dass der gewichtete Durchschnittskurs keine tragfähige Basis zur Ermittlung des Unternehmenswerts ist. Verstöße gegen § 39 Abs. 3 BörsG n. F., 90)

91)

Der persönliche Anwendungsbereich ergibt sich aus § 39 Abs. 4 BörsG, neben inländischen Emittenten sind auch solche erfasst, die ihren Sitz zwar im Ausland haben, aber im Inland gelistet sind. Abgestellt wird auf die Mitteilung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 bzw. § 35 Abs. 1 Satz 1 WpÜG. Darüber hinaus ordnet § 39 Abs. 5 BörsG n. F. an, dass die Geschäftsführung der Börse den Antrag auf Widerruf der Zulassung unverzüglich im Internet zu veröffentlichen hat und der Zeitraum zwischen dieser Veröffentlichung der Ankündigung und dem Wirksamwerden des Widerrufs zwei Jahre nicht überschreiten darf.

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etwa die Durchführung einer Abfindung auf Basis des gewichteten Durchschnittskurses, trotz eines Verstoßes gegen § 15 WpHG, berührt die Rechtmäßigkeit des erfolgten Widerrufs nicht (§ 39 Abs. 6 BörsG n. F.). Rechtsschutz ist folglich insoweit nicht vor den Verwaltungsgerichten durch Anfechtung der Widerrufsentscheidung, sondern durch Erhebung einer Klage auf Zahlung der höheren Abfindung vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltend zu machen. Diese Verfahren sind musterverfahrensfähig i. S. des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 3 KapMuG n. F.), die Anwendbarkeit des Spruchverfahrens ist nicht eröffnet92). 2. Bewertung Damit ist die Neuregelung abschließend einer summarischen Bewertung zu unterziehen, die ebenfalls kurz auszufallen hat, da bei Abschluss dieses Manuskripts die Druckertinte im Bundesgesetzblatt noch nicht getrocknet war.93) a) Regelungsstandort Mit der Neuregelung hat sich die sog. kapitalmarkrechtliche Lösung gegenüber einer wie auch immer gearteten gesellschaftsrechtlichen Regelung durchgesetzt.94) Dies ist nachhaltig zu begrüßen, da – wie oben gezeigt – das Delisting weder eine gesellschaftsrechtliche Strukturänderung ist, noch in den rechtlichen Bestand der Aktie und ihre rechtliche Fungibilität eingreift. Es geht allein um die Frage nach einem kapitalmarktrechtlichen Schutz vor Kursverfall und einer künftig verringerten Informationsdichte. Auch war es richtig, die Regelung ins Börsengesetz und nicht ins Wertpapierhandelsgesetz aufzunehmen, da es sich beim Delisting um den actus contrarius zur Börsenzulassung handelt, der seit jeher zu Recht im Börsengesetz beheimatet ist.

92) 93)

94)

BT-Drucks. 18/6220, S. 86. Für einen ersten, teilweise etwas detaillierten Überblick ist ferner auf Bayer, NZG 2015, 1169 ff. zu verweisen. Nach Abschluss des Manuskripts haben sich Groß, Die Neuregelung des Anlegerschutzes zum Delisting, AG 2015, 812 ff.; Harnos, Aktionärsschutz beim Delisting, ZHR 179 (2015), 750, 754 ff. und Zwirner/Kähler, (Unternehmens-)Bewertung beim Delisting: Auswirkungen der Neuregelung des § 39 BörsG auf KMU, BB 2016, 171 ff. geäußert. Zum im Vorfeld ausgetragenen Streit um das Für und Wider der kapitalmarktrechtlichen Lösung vgl. ausführlich Bayer, ZfPW 2015, 163, 220 ff.; Bayer, ZIP 2015, 853, 857.

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b) Gewichteter Durchschnittskurs statt Unternehmenswert als Regelfall Die Befürworter einer Rückkehr zu Macroton in Gestalt des Bundesgesetzblattes, hatten sich für eine Abfindung anhand des gesondert zu ermittelnden Unternehmenswerts mit Überprüfung im Spruchverfahren stark gemacht.95) Dies kann aber aus drei Gründen nicht überzeugen. Wie bereits in der Interessenabwägung (oben IV 3) dargelegt, hat der Anleger nur auf den über den Börsenkurs ermittelten Unternehmenswert ein berechtigtes Vertrauen. Zweitens lässt sich der gewichtete Börsenkurs deutlich leichter ermitteln und überprüfen,96) was Kosten für den Emittenten spart und Streitigkeiten reduziert. Schließlich ist auch die gutachterliche Ermittlung des Unternehmenswerts mit großen Unsicherheiten behaftet und führt nicht zwangsläufig zu treffsicheren Ergebnissen. Beurteilungsspielräume sind an der Tagesordnung. Abweichend von § 31 WpÜG und § 5 Abs. 1 WpÜG-AngebotsVO ist für den gewichteten Durchschnittskurs aber nicht ein Zeitraum von drei, sondern von sechs Monaten zugrunde zu legen.97) Die Begründung der Ausschussmehrheit im Finanzausschuss verweist lediglich recht kryptisch darauf, dass somit dem von Übernahmesituationen regelmäßig abweichenden Börsenumfeld bei Delisting-Fällen Rechnung getragen wird.98) Daran ist richtig, dass so gerade dem häufig illiquiden Marktumfeld im Vorfeld eines Delisting Rechnung getragen wird. Mit sechs Monaten steht regelmäßig eine breitere und validere Datenbasis zur Verfügung. Da aufgrund der oft hohen Volatilität infolge des illiquiden Marktumfelds bereits weniger gravierende Umstände einen erheblichen Kurseffekt entfalten können, wird durch die Verlängerung der Frist sichergestellt, dass derartige Sondereffekte eher ausgeglichen werden. Demgegenüber wird von den Kritikern ins Feld geführt, dass gerade die Verlängerung auch eine erhöhte Chance biete, dass es überhaupt zu solchen Kursfriktionen kommt.99) Auch wenn es richtig ist, dass es bei einem doppelt so langen Zeitraum mit einer höheren Wahrscheinlichkeit überhaupt zu einer Kursverzerrung kommen kann, dominiert in einer Gesamtschau doch der positive Effekt, 95) 96) 97) 98) 99)

Vgl. z. B. Bayer, ZIP 2015, 853, 857; ebenso im Ergebnis auch Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 397 f. Hierauf zu Recht hinweisend auch Begr. Finanzausschuss, BT-Drucks. 18/6220, S. 84. Zu den Einzelheiten vgl. Bayer, NZG 2015, 1169, 1174: Freiverkehrskurse seien nicht zu berücksichtigen; sowie Harnos, ZHR 179 (2015), 750, 758 ff. BT-Drucks. 18/6220, S. 84. Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 398.

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dass es durch die Verlängerung zu einer sachgerechten Preisermittlung kommt.100) c) Rückkehr zum Unternehmenswert bei Marktmanipulation oder Falschinformation Auf den ersten Blick ebenfalls überzeugend scheint der Ausnahmekatalog in § 39 Abs. 3 Satz 3 BörsG. Eine Marktmanipulation oder ein Verstoß gegen die Ad-hoc-Publizitätspflicht erfordert eine Abfindung zum Unternehmenswert auf Basis eines WP-Gutachtens, sofern sich dieses zugunsten des Anlegers auswirkt. Ist die so ermittelte Abfindung geringer, bleibt es beim gewichteten Durchschnittskurs. Fraglich ist indes, ob dieser nunmehr so zu korrigieren ist, dass die Marktmanipulation herauszurechnen ist. Lag die Abfindung nach einer Unternehmensbewertung z. B. bei 95, laut Angebotsunterlage zum Durchschnittskurs aber bei 100, läge es nahe, den Emittenten zu einer Nachzahlung zu verpflichten, wenn die Abfindung unter Herausrechnung der Marktmanipulation bei 105 läge. Auch wenn dies im § 39 Abs. 3 Satz 3 BörsG n. F. nicht angelegt ist, könnte die Intention des Gesetzgebers hierfür sprechen. Dagegen lässt sich jedoch ins Feld führen, dass es einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch bei Verstößen gegen § 20a WpHG gerade nicht gibt.101) Dies ist bei Verstößen gegen § 15 WpHG infolge der §§ 37b, 37c WpHG indes anders. Die Diskussion dieser Frage wird fortzusetzen sein. Liegt umgekehrt bei einer Herausrechnung der Manipulation die Abfindung nur bei 98, so ist der Emittent unstreitig zur Zahlung der 100 laut Angebotsunterlage verpflichtet, da ihn das Berufen auf seine Marktmanipulation nicht zum Vorteil gereichen darf. Interessant ist zudem die zeitliche Perspektive. Der Gesetzeswortlaut stellt allein auf Verstöße innerhalb des Zeitraums ab, in dem der gewichtete Durchschnittskurs ermittelt wird, also den Sechs-Monats-Zeitraum. Verstöße, die zuvor begangen wurden, sind also grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Das überzeugt aber nur dann, wenn die Auswirkungen des Verstoßes auch vor Beginn der Berechnungsperiode abgeschlossen waren, da andernfalls eine übertriebene Sanktionierung von Fehlverhalten in der Vergangenheit vorliegen würde. Gute Gründe sprechen jedoch dafür, dass

100) Im Ergebnis ebenso Bayer, NZG 2015, 1169, 1175. 101) Schwark in: Schwark/Zimmer, KMR-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 20a WpHG Rz. 7.

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auch solche Verstöße zu berücksichtigen sind, die zwar vor Beginn der Sechs-Monats-Periode begangen wurden, deren Folgen aber noch erheblich in die Berechnungsperiode hineinwirken.102) Gegen eine derartige Ausdehnung könnte freilich streiten, dass die Gewichtung der Kurse zu Beginn der Periode geringer als spätere Kurse ausfallen. Letztlich streitet aber der Gesetzeszweck für eine Ausdehnung, sofern man sicherstellt, dass ein geringfügiges „Hineinwirken“ aussortiert wird. Dies allerdings folgt bereits aus der allgemeinen Regel in § 39 Abs. 3 Satz 3 letzter Halbsatz BörsG n. F., wonach solche Verstöße keine Rückkehr zur Unternehmensbewertung auslösen, die nur „unwesentliche Auswirkungen“ auf den Durchschnittskurs zeitigen. Die Reichweite dieser Gegenausnahme wird noch weiter auszuleuchten sein, einstweilen bleibt die Prognose zu wagen, dass ihre Rechtspraktikabilität alles andere als trivial sein dürfte. d) Kein valider, gewichteter Börsenkurs verfügbar (§ 39 Abs. 3 Satz 4 BörsG n. F.) Eine Rückkehr zum Unternehmenswert soll auch dann erfolgen, wenn in dem Referenzzeitraum nur ein eingeschränkter Handel stattgefunden hat, da der gewichtete Durchschnittskurs dann nicht hinreichend aussagekräftig ist. Dies ist nach der Neuregelung dann der Fall, wenn nur an weniger als einem Drittel der Börsentage ein Börsenkurs festgestellt werden konnte und – kumulativ – „mehrere nacheinander festgestellte Börsenkurse um mehr als 5 % voneinander“ abweichen. Dies ist eine hohe Hürde. Nach einer Studie von Aders et al. lagen in einer Stichprobe von 33 Delistings (allerdings einschließlich von Rückzügen aus dem Freiverkehr) beide Voraussetzungen nur in vier Fällen (12,5 %) vor, obwohl bei einer isolierten Betrachtung beider Merkmale in 16 Fällen nicht genügend Kursnotierungen zu verzeichnen waren, und in neun Fällen die erforderliche Kursschwankung vorlag.103) Es ist anzuraten, im Nachgang weitere rechtstatsächliche Untersuchungen durchzuführen, ob der Gesetzgeber hier eine wirklich treffsichere Schwelle gewählt hat. Sollte sie zu hoch liegen, ist ggf. nachzujustieren.

102) So auch Bayer, NZG 2015, 1169, 1175 f.; Hirte, BT-Plenarprotokolle 18/127, S. 12385. 103) Aders/Muxfeld/Lill, Corporate Finance 2015, 389, 396 f. Ähnliche Zahlen bei Karami/ Schuster, Eine empirische Analyse des Kurs- und Liquiditätseffekts, S. 29 mit Tab. 1: acht Fälle einer Marktenge bei insgesamt 103 untersuchten Delisting/DownlistingFällen.

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Rechtspolitisch kann man allerdings an der Rechtsfolge, also dem Rückfall auf die Abfindung zum Unternehmenswert, Zweifel anmelden. Man könnte auch andersherum argumentieren. Hat der Anleger den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg verpasst, verfügt er nur noch über eine illiquide Aktie, mit dem Delisting erfährt er also keinen Nachteil. Seine Aktie war bereits im Zeitpunkt der Ankündigung nicht mehr einfach über die Börse liquidierbar. Da bekanntlich an der Börse nicht zum Ausstieg bei drohenden Kursverlusten geläutet wird, liegt es nahe, dem Anleger neben dem allgemeinen Marktrisiko auch das Liquiditätsrisiko zuzuweisen.104) Folglich könnte man auch die Schlussfolgerung ziehen, dass es in dieser Konstellation keiner Abfindung bedurft hätte, sondern eine Fristenlösung genügt hätte. Der Gesetzgeber hat den Anlegerschutz auch insoweit höher gewichtet. Unter dem Gesichtspunkt des Primats der Politik ist das vertretbar, zwingend war es aber nicht, zumal ein gewisser Wertungswiderspruch zu § 39 Abs. 1 BörsG entsteht, wonach die Geschäftsführung der Börse bei fehlender Markttiefe auch von Amts wegen ohne Abfindung ein Delisting betreiben könnte.105) Schließlich hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, eine Ausnahme vom Abfindungserfordernis vorzusehen, sofern bereits sechs Monate vor der Ankündigung des Delisting ein Abfindungsangebot nach dem Wertpapierübernahmegesetz vorlegen hat, dass der Aktionär nicht angenommen hat (sog. Vorerwerbsmöglichkeit).106) Eine derartige Regelung hätte allerdings allenfalls dann nahegelegen, wenn das Delisting bereits in der Angebotsunterlage angekündigt worden wäre.107) Letztlich scheint der jetzige Verzicht auf diese Ausnahme aber gut vertretbar, da der Anleger bei einem Übernahmeangebot frei über das Für und Wider der Übernahme befinden darf und nicht schon mit Blick auf ein hinterher drohendes Delisting faktisch zur Annahme des Übernahmeangebots gezwungen werden darf.

104) Ebenso Buckel/Glindemann/Vogel, AG 2015, 373, 379. 105) Näher zu dieser Konstellation des § 39 Abs. 1 BörsG vgl. nur Heidelbach in: Schwark/ Zimmer, KMR-Kommentar, § 39 BörsG Rz. 4 ff.; siehe auch oben unter IV 1. 106) So noch die Formulierungshilfe des BMF v. August 2015; so auch die Forderung von Seibt in der Anhörung vor dem Finanzausschuss am 7.9.2015, Stellungnahme abrufbar unter: http://www.bundestag.de/blob/386948/33e87f205911ce0a8fa5e30e79baa357/ 10---prof--seibt-data.pdf; ebenso: Bayer, ZIP 2015, 853, 856; Buckel/Glindemann/ Vogel, AG 2015, 373, 377. 107) Einer älteren Untersuchung von Blättchen/Götz, Übernahmen börsennotierter Unternehmen in Deutschland im ersten Halbjahr 2003, FB 2003, 573, 574 zufolge, ist dies regelmäßig der Fall.

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e) Rechtsschutz Ebenfalls Zustimmung verdient die Bündelung des Rechtsschutzes gegen eine zu niedrige Abfindung bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit unter Einbeziehung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, aber unter Ausklammerung des Spruchverfahrens. Gegen das Spruchverfahren spricht seine auch weiterhin enorme Länge. Vor allem wurde aber zu Recht darauf verzichtet, unter Rückgriff auf die Figur einer drittschützenden Entscheidung der Geschäftsführung über das Delisting die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dem Streit über die Höhe der Abfindung zu belasten.108) Da es in solchen Rechtsstreitigkeiten in Zukunft vor allem um die Frage gehen dürfte, ob der gewichtete Durchschnittskurs richtig ermittelt ist oder ob eine Marktbeeinflussung vorgelegen hat, ist der Rückgriff auf die ordentliche Gerichtsbarkeit sachgerecht. Ebenfalls nachhaltige Zustimmung bedarf die Abkoppelung des Streits über die korrekte Abfindungshöhe von der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Delisting, also der Entscheidung der Börsengeschäftsführung, wie sie jetzt in § 39 Abs. 6 BörsG n. F. statuiert ist. VI. Summa Hat die unendliche Geschichte des Delisting mit der Neuregelung ein Ende gefunden? Trotz der hier geäußerten überwiegenden Zustimmung zum Eingreifen des Gesetzgebers und seines gewählten Lösungsweges, darf angesichts der komplexen Neuregelung bezweifelt werden, dass sie zu einem vollständigen Abschluss kommen wird. Es steht aber zu prognostizieren, dass die unendliche Geschichte wiederum in ruhigeres Fahrwasser gerät, spannend bleibt die Auslotung des § 39 Abs. 2– 6 BörsG n. F. gleichwohl. Der vorstehende Beitrag lehrt ein Weiteres, was er zugleich selbst sträflich vernachlässigt. Die Ermittlung von zuverlässigen Rechtstatsachen erfordert zum einen ausreichend Zeit sowie eine hinreichende Datenmenge. Zum anderen aber erfordert sie das kollektive Zusammenwirken von Ökonomen und Juristen, es fehlte im Vorfeld des gesetzlichen Overruling der Frosta-Entscheidung einmal mehr. Johannes Köndgen hat dieses interdisziplinäre Zusammenwirken immer wieder mit

108) Davon abzugrenzen bleibt die Frage, ob gegen die Entscheidung der Geschäftsführung der Börse als solche, z. B. wegen formaler Fehler, Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben werden kann, was zu bejahen sein dürfte, vgl. Begr. Finanzausschuss BT-Drucks. 18/6220, S. 86; ebenso jetzt und ausführlich zum Ganzen Harnos, ZHR 179 (2015), 750, 774 ff.

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Vehemenz eingefordert und als sichtbares Zeichen dafür eine interdisziplinäre Zeitschrift, die ZBB, die Bankrecht und Bankwirtschaft unter einem Dach vereint, vor nunmehr über 27 Jahren gegründet. Da es graue Männer, die die Zeit stehlen, gottlob nur in der Phantasie von Michael Ende gibt, bleibt zu wünschen, dass unser Jubilar noch lange seine Stimme zu all den unendlichen Geschichten im Bank- und Kapitalmarktrecht erhebt und wie bisher als Pionier auf neue Themen hinweist. In diesem Sinne: Ad multos annos!

Sorgfaltspflicht als Selbstbindung JEAN NICOLAS DRUEY Inhaltsübersicht I.

II.

Das Thema 1. Selbstbindung 2. Sorgfaltspflicht Rechts- und Sachproblem 1. Sorgfalt als Pflicht a) Sorgfaltspflicht und –pflichten b) Objektivität und Subjektivität c) Berufsordnungen und andere Spezifikationen der Sorgfaltspflicht 2. Sorgfalt als Umsicht a) Wissensvorsprung b) Abwägung

c) Zwei Modelle: Exekution oder Geschäftsführung III. Rollenübernahme als Selbstbindung 1. Sorgfaltspflicht als Rollenübernahme 2. Außerrechtliches, aber rechtsrelevantes Handeln 3. Mehr Komplexität heißt weniger Rationalität IV. Schluss 1. Bindungskraft menschlicher Interaktion 2. Tragweite

I. Das Thema 1. Selbstbindung Köndgens Buch zur Selbstbindung ohne Vertrag,1) eine der herausragenden Habilitationsschriften, enthält unter anderen den (von Luhmann übernommenen) Kernsatz: „Jede Selbstdarstellung bindet […].“2)

Dieser Satz steht wissenschaftlich vor allem auf drei Pfeilern. Eingeflossen ist die Lehre von der Selbstdarstellung mit ihren zwei Aspekten: Einesteils als Grundlage zwischenmenschlicher Aktion, im Buch3) vertreten insbesondere durch Erving Goffman,4) und anderenteils als Grundlage für die Formung des „Ich“ nach der Theorie von George Herbert Mead.5) Der dritte 1) 2) 3) 4) 5)

Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, Tübinger wiss. Abh. 53, 1981. Köndgen, Selbstbindung, 1981, S. 167. Köndgen, Selbstbindung, 1981, S. 165 – 167. Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, zit. nach 2. Aufl. 1959. Siehe Köndgen, Selbstbindung, 1981, S. 167, ohne Zitat. Meinerseits benutzt George H. Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviourist, Erstaufl. Chicago 1934 (17. dt. Ausgabe Geist, Identität und Gesellschaft, 2013).

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Pfeiler ist eben die Vertrauenslehre von Niklas Luhmann,6) welche in der Selbstdarstellung eine Selbstbindung erkennt, so erscheinen zu wollen. Als Grundlage scheint aber auch mehrfach Emile Durkheims „solidarité organique“ auf, die durch Arbeitsteilung erforderte Verlässlichkeit.7) Das sind freilich alles soziologische Aussagen. Auch wenn Köndgen gewisse juristische Konstruktionen kritisiert, weil sie „asoziologisch“ seien, so ist doch sein eigentliches Augenmerk auf die Findung der Ankerplätze für diese Selbstbindungsmechanismen im Recht gerichtet. Auch für ihn können diese gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht mehr sein als ein Druck, eine Herausforderung zur konzeptionellen Weiterarbeit am Recht im Dienst seiner Realitätsnähe. In dem Sinn findet die Arbeit eine eindrücklich reiche Anzahl von Gefäßen, in welche das soziologische Gedankengut einfließen kann, und diese werden als „quasivertraglich“ gesamthaft ins Rechtssystem eingeordnet. Zulassung und Ausgestaltung bleiben mithin doch Fragestellungen oder Wünsche an das Recht selber. Soziologisch festgestellte Erwartungen werden nicht von selber zu Rechtsansprüchen. Es bleibt aber die Frage, ob denn die Verbindlichkeit menschlicher Interaktionen sich rechtlich auf die Zuerkennung von Ansprüchen beschränkt. Dass sich Köndgens Untersuchung diese Grenze setzt, ist nichts als verständlich, ja die einzig richtige, ihren Tiefgang erst ermöglichende Lösung. Doch interessiert sich das Recht nicht gleichermaßen wie hinsichtlich der Rechtsfolgen für die Interaktionen auf der Tatbestandsseite? Will ich als Radfahrer nach links abbiegen, so soll ich das dem nachfolgenden Fahrzeug anzeigen. Hier stellt sich nicht nur wieder neu die ewige Qualifikationsfrage von Vertrag versus Delikt, welche die Juristen immer wieder in den Bann zieht, und welche Köndgen in seinem Kontext m. E. zutreffend in Richtung Vertrag beantwortet.8) Vielmehr ist schon die Durchlässigkeit des Rechts für interaktionsgeborene Normen neu zu erkunden.

6)

7) 8)

Köndgen, Selbstbindung, 1981, S. 167 (siehe schon S. 165), zitiert Luhmann, Rechtssoziologie I 74, 1972, und Luhmann, Vertrauen – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 2. Aufl. 1973, S. 69. Köndgen, Selbstbindung, 1981, insb. S. 144 – 151, zitiert Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977. Köndgen, Selbstbindung, 1981, S. 418 – 421 und passim zuvor.

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2. Sorgfaltspflicht In dieser ganz breiten Perspektive soll das Thema der Sorgfaltspflicht die Rolle des Einzelbeispiels übernehmen. Dabei ist diese für sich selber ein Riesengebiet. Auch hier lässt sich schon über Konzeptuelles trefflich streiten, vor allem aber ist die Reichweite dieser Institution schlechthin unbeschränkt. Vergleichbar den Blutgefässen sind Sorgfaltspflichten die Kapillaren des Rechts, die den ganzen (Rechts-)Körper mit der zentralen Idee der Sorgfalt alimentieren. Doch gerade diese enorme Weite macht die Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Durchlässigkeit für „bloß“ soziales Geschehen verdächtig. Die Frage ist diejenige aller Generalklauseln: Woher kommt der Füllstoff? Das Problem hat noch nicht genügende Aufmerksamkeit erhalten, was besonders im Zeitalter, das die richterliche Interessenabwägung zu üppiger Blüte brachte, kein gutes Licht auf die Leistungsfähigkeit der Rechtswissenschaft wirft. Dabei verlangt die Konkretisierung der allgemeinen Sorgfaltspflicht noch wesentlich ausgeprägter als die Abwägung von Interessen eine Erfassung von Interaktionen. Sie ist primär nicht auf eine Wertung ausgerichtet, sondern auf eine Feststellung der Abläufe, wie sie durch die Zuständigen bestimmt und wie sie abgewickelt wurden. Diese radikale Konkretisierung liegt jedoch jenseits dessen, was das Recht leisten kann. Recht will Regelbildung. Das führt zu einem weiteren rechtswissenschaftlichen Traktandum. Die Frage ist, ob und wie weit es, als vermittelnde Stufe, konkretisierende Regeln gibt, welche die Betrachtung des Einzelfalls zugunsten solcher generalisierter Tatbestände verdrängen. Es ist also die Frage, ob Konkretisierungen in staatlichen Erlassen oder in Standards, Berufsethiken, Usancen und dergleichen bloß exemplifikative oder in irgendeiner Hinsicht abschließende Wirkung zuzuschreiben ist. Auch dies ist freilich noch viel zu konkret in Ansehung dessen, was ein Festschriftbeitrag leisten kann. Hier wird sich die Untersuchung auf das ganz Grundsätzliche beschränken, das will heißen auf Aussagen zu der Sorgfaltspflicht als einem Typus rechtlicher Pflichten. Ich baue dabei durch Generalverweisung auf vorausgehenden Arbeiten auf.9) Darin wird auch das 9)

Insb. Druey, Der Kodex des Gesprächs, Baden-Baden 2015, Kap. 4 IV. 3. a, zudem Druey, Verantwortlichkeit und Information, in: Liber amicorum für Peter Nobel, Bern 2015, S. 3 – 20; Druey, Standardisierung der Sorgfaltspflicht? Fragen zur Business Judgment Rule, in: FS für Goette, 2011, S. 57 – 73.

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Anliegen der Beschäftigung mit dem Thema sichtbar: Die Sorge um eine lebendige Gerechtigkeit, um ein Recht, das gesellschaftliche Kraft besitzt, weil es nicht nur grundsätzlich, wertverankert, sondern auch beweglich ist. II. Rechts- und Sachproblem 1. Sorgfalt als Pflicht a) Sorgfaltspflicht und -pflichten „Sorgfalt“ ist ein Einheitlichkeit beanspruchender Begriff („Er hat es an der nötigen Sorgfalt fehlen lassen“). Man handelt entweder sorgfältig oder unsorgfältig – tertium non datur. Damit ist aber noch nicht allzu viel ausgesagt. „Sorgfalt“ ist zunächst bloß eine strukturelle Kennzeichnung. Sie charakterisiert die betreffende Pflicht als gebunden an eine Aufgabe und legt eine Modalität ihrer Erfüllung fest. Das impliziert auch, dass jede rechtlich gesetzte Aufgabe mit einer Sorgfaltspflicht verbunden ist. Denn unsorgfältige Leistung kann nicht Erfüllung der Aufgabe sein. Immerhin wird auch inhaltlich der Weg gewiesen: Gegenstand der Pflicht ist die „Sorge“: Es geht um die Wahrung von Interessen, als Gegenstand einer Pflicht um die Wahrung fremder Interessen. Doch alles Weitere wird durch die jeweilige Aufgabe bestimmt. Offen bleibt also dreierlei. Offen ist das Maß der Sorgfalt (Wieviel muss ich tun, um einen Schaden zu verhüten?) und offen ist natürlich die Rechtsfolge einer Verletzung der Sorgfaltspflicht. Zudem aber sind die Sachumstände mit kompetentem Urteil zu prüfen, um das geeignete Vorgehen festzulegen. Welches Verhalten die Sorgfaltspflicht gebietet, lässt sich erst aufgrund einer Würdigung der Situation sagen. Insofern enthält jede Feststellung einer Sorgfaltspflicht ein Sachproblem. Das Wort von der „nötigen“ oder nach § 276 BGB „erforderlichen“ Sorgfalt ist eine jener sprachlichen Leistungen, welche – i. S. der Erhaltung des Pathos der Grundidee – sich schillernd über diese pluralistische Natur der Institution legen. Die Pflichten des Arztes und diejenigen des diligens pater familias, die Haftung aus Kontoführung und diejenige aus Teilnahme am Straßenverkehr haben zwar völlig verschiedene Konturen, aber irgendwo liegt doch ein gemeinsames Ethos, das dem Wort „Sorgfalt“ und seinem eingeschriebenen Altruismus innewohnt. Diese ethische Dimension ist gerade darum von Bedeutung, weil Sorgfalt ein Rechtsbegriff ist: Das Recht verweist mithin darauf.

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b) Objektivität und Subjektivität In Deutschland10) wie in der Schweiz11) betont die als herrschend bezeichnete Lehre den objektiven Charakter der Sorgfaltspflicht. Maßstab soll das aus der Situation gebotene Verhalten sein, unabhängig von den nach Subjekten variierenden Fähigkeiten. Die Nervosität des Prüflings, der Schock des Unfallverursachers oder die fehlende Erfahrung des jungen Beraters sollen demnach außer Acht bleiben. Der Grundsatz der Objektivität der Sorgfaltskriterien stellt aber erst eine Frage und gibt noch keine Antwort dazu. Sucht man ihn anzuwenden, so kommt es notwendig zum Flackern. Klar ist zwar, dass ein Chirurg, der das falsche Bein amputiert hat, nicht durch den Nachweis entlastet wird, dass er nun einmal vergesslich sei. Aber warum ist das klar? Doch wohl, weil er in der Lage ist, seine Vergesslichkeit einzusehen und das Nötige dagegen vorzukehren. Wenn dagegen ein junger Bankbeamter den Eindruck gewinnt, ihm sitze ein Großbetrüger gegenüber, so kann er mangels Kontaktierbarkeit von erfahrenen Kollegen nicht getadelt werden, wenn er die Polizei verständigt, auch wenn er sich getäuscht hat. Man wird ihn nicht damit abfertigen können, seine Jugend und Unerfahrenheit sei nun einmal sein Problem. Die besonderen Umstände und der daraus sich ergebende Handlungsbedarf sollten doch wohl entscheidend sein. Selbstverständlich haben die Kriterien der Sorgfaltspflicht in dem Sinn objektiv zu sein, wie alles Recht objektiv sein soll. Doch diese Objektivität, das Urteil „ohne Ansehen der Person“, verbietet zwar die Differenzierung der Personen „nach den blauen Augen“, nicht aber aus sachlichen Motiven. So steht auch ohne weiteres fest, dass die Maßstäbe der Sorgfalt durch die Rolle determiniert werden, die der curator übernimmt; vom Spezialarzt darf man mehr fachspezifische Kenntnisse erwarten als vom Allgemeinpraktiker. Auch die Ausrichtung des Sorgfaltsbegriffs auf den „Verkehr“ gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB versteht sich wohl am ehesten in diesem Sinn. Freilich gibt es zwei Möglichkeiten: Der Erwartungsschutz, der sich mit dem Hinweis auf den „Verkehr“ verbindet, kann sich entweder darauf beziehen,

10) 11)

Siehe Grundmann in: MünchKomm-BGB, 2012, § 276 Rz. 56. Siehe Fellmann/Kottmann, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 2012, Rz. 532 – 558, „Objektivisten“ in Fn. 1234, „Subjektivisten“ (doch ansehnlich nach Zahl und Namen) in Fn. 1237.

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dass das Erforderliche geschieht, oder dass die Person das tut, was man von ihr erwarten darf. Ohne dass ich beanspruchen könnte, die riesige deutsche Diskussion um Verschulden und Rechtswidrigkeit zu überblicken, scheint mir ersichtlich, dass Sorgfalt, wie ihre Heimat in § 276 auch äußerlich bezeugt, an den Verschuldensbegriff gekoppelt ist und gerade nicht eine vom Verschulden unabhängige Kausalhaftung begründen soll.12) Das Kriterium der Vorwerfbarkeit und so die Betrachtung der konkreten Person in der konkreten Lage kann darum nicht ersatzlos wegfallen. Mehr als die Verlässlichkeit der Person kann darum die Sorgfaltspflicht m. E. für den Verkehr nicht leisten.13) Das kann indessen hier auf sich beruhen bleiben.14) Auch wenn eine Außensicht, diejenige des „Verkehrs“, angewendet wird, richtet sie sich auf das Verhalten einer spezifischen Person. Das reicht als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen. c) Berufsordnungen und andere Spezifikationen der Sorgfaltspflicht Sorgfaltspflicht ist keine Checkliste, sie kann nicht durch Abhaken einer Anzahl von Vorgaben erfüllt werden. Das mindert nicht den Wert, wenn die leges artis von den jeweiligen Berufszweigen festgehalten oder in Urteilssammlungen durch Synthese festgestellt werden. Namentlich im deliktischen Bereich leistet auch der Gesetz- und Verordnungsgeber selber seinen wesentlichen Beitrag zur Konkretisierung. Er schreibt vor, wie man sich im Straßenverkehr in typischen Lagen zu verhalten oder wie eine Abwasserreinigungsanlage zu funktionieren hat. Doch Vielecke werden nie zu Kreisen, generelle Normen können die konkrete Situation nicht antizipieren. Sorgfalt gilt immer der Bewältigung

12) 13)

14)

Für die Schweiz, wo ein Hinweis auf den „Verkehr“ fehlt, Fellmann/Kottmann, Schweiz. Haftpflichtrecht, 2012, Rz. 532 m. Zit. Der wohl eindeutiger vertragsrechtliche Ursprung der Sorgfaltspflicht in der Schweiz (insb. OR 321a betr. Arbeitsverhältnis und 398 betr. Auftrag) hebt greifbarer das Moment des Anvertrauens heraus. Die gründlichen monographischen Bearbeitungen des Themas von Deutsch, Fahrlässigkeit, 1995, S. 126, 468 – 475 et passim (für Deutschland) und Jaun, Haftung für Sorgfaltspflichtsverletzung, 2007, S. 258 et passim (für die Schweiz) ergaben auf unterschiedlichen Wegen, dass objektiv/subjektiv keine echte Alternative darstellen. Der Weg der vorliegenden Studie führt aus der diskursiven Entstehung von Sorgfaltspflichten zu demselben Ergebnis. Die Bildung von Erwartungen ist immer ein Vorgang inter personas. Selbstverständlich ist, wie Jaun sagt, keine Wertung der Person das Erkenntnisziel, wohl aber der vorwerfbare Widerspruch zwischen Erzeugung und Erfüllung der Erwartung.

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einer konkreten Situation. Verbandsrecht, Usancen, Urteilsmotive usw. können die Grundnorm der Sorgfaltspflicht deshalb nicht ersetzen, und sie könnten es auch dann nicht, wenn sie Gesetzesautorität hätten. Ihre – allenfalls hohe – Orientierungskraft haben sie indessen namentlich in der Frage der Zumutbarkeit des von der Sache her erforderlichen Aufwands, eine Grenze, die sich eben nicht aus der Sache, sondern nur aus einer Wertung ergibt. 2. Sorgfalt als Umsicht a) Wissensvorsprung Sorgfalt muss auch dort, und dort noch ganz besonders gelten, wo der Pflichtige sich selbst überlassen ist. Seine Pflichtträgerschaft ergibt sich immer aus einem Vorsprung an Wissen oder Fähigkeiten, die ihn in bestimmter Hinsicht besser als Andere qualifizieren. Das ist nicht nur offensichtlich in der beruflichen oder amtlichen Tätigkeit, sondern auch der subalterne Mitarbeiter hat etwas „in der Hand“, ein Werkzeug, eine Fertigkeit oder Erfahrung, oder auch einfach eine Absonderung vom Betrieb etwa beim Kundenbesuch; all dies lässt das Sorgfaltsgebot aufkommen. Auch dem Autofahrer erwächst seine Sorgfaltspflicht im Verkehr daraus, dass er und nur er seinen Boliden in der Hand hat. Diesen Vorsprung hat der Pflichtige auch gegenüber allen generellen Kodizes schon unabhängig davon, ob die generellen Vorgaben sein Problem wirklich lösen. Denn ihm/ihr allein obliegt, die konkrete Situation zu klären und darüber zu entscheiden, ob sie unter eine solche Norm fällt. Geben die generellen Regeln keine oder keine hinreichende Antwort, was fast immer der Fall sein dürfte, so hat er/sie aufgrund der Erkenntnis der Lage die Maßnahmen zu ihrer Bewältigung zu bestimmen. Umgrenzt wird dieses Pflichtfeld durch die Rolle, welche die Person in diesem Zusammenhang übernommen hat. Die für Abmagerungskuren zuständige Klinik im Schwarzwald hat keine qualifizierten Dienste für Beinbrüche bereitzuhalten. Der Bankkunde, der ausschließlich den Rat eines Fernostspezialisten gesucht hat, kann nicht allgemein Warnungen vor Verschiebungen im Euro-/Frankenkurs erwarten. Wissensvorsprünge bedeuten in Solidaritätsverhältnissen, wie sie durch Sorgfaltspflichten begründet werden, dass die wissende Person auch entscheiden soll. Menschliche Interaktion ist damit Teil des Programms, dies

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sowohl am Anfang wie in den beiden Phasen der Abwicklung. Am Anfang steht die Rollendefinition, die im Gegenübertreten von Erwartungsadressat und Erwartenden geschehen muss. Sodann, in der Abklärung des Handlungsraums, hat der Erwartungsträger Wissen zu beschaffen, sei es von den Erwartenden oder Dritten. Und schließlich in der Maßnahmenphase: Sie ist an sich immer durch „Einsamkeit“ gekennzeichnet, muss aber immer das (Fremd-)Interesse im Auge haben, welches das Verhalten bestimmen soll. Das bedarf nach Möglichkeit der Fühlung mit den Interessierten. b) Abwägung Entscheidung heißt Abwägung. Was immer die Bedenken sind, die man gegen die Abwägung als juristische Monopolmethode – „schlicht und alles ergreifend“ – hat und haben muss, so ist sie doch unumgänglich, wo immer eine Situation zu beurteilen ist, wo also eine Mehrheit von Fakten in einen einheitlichen Verhaltensplan zu überführen ist. In der Beschaffung wie in der Verarbeitung dieser kognitiven Grundlage liegt deshalb eine subjektive Pflicht zur Sorgfalt. Diese Abwägung ist aber, so ließe sich sagen, nicht nur subjektiv bestimmt, sondern „gesteigert subjektiv“ in dem Sinn, dass sie nicht nur im Augenblick des Geschehens dem Subjekt überlassen ist, sondern auch nachträglich keiner schlüssigen Richtigkeitsprüfung unterworfen werden kann. Plausibilität muss genügen. Denn die quantitative Austarierung kategoriell verschiedener Gesichtspunkte ist rational nicht möglich. Die Abwägung zwischen den zahlreichen sachlichen und zeitlichen, materiellen und immateriellen, Mehrheiten oder Minderheiten betreffenden Momenten usw. ist immer ein Stück weit „Geschmackssache“; Quantifizierungen sind Selbstbetrug. Nicht als Ausnahme, nicht als „Privileg“, sondern als Teil der Aufgabe, nicht nur als Dürfen sondern als Sollen, gilt freies Ermessen. c) Zwei Modelle: Exekution oder Geschäftsführung Damit stehen beim Versuch, Sorgfalt zu beschreiben, zwei verschiedene Bilder zur Wahl. Auf der einen Seite bedeutet Sorgfalt die Umsetzung eines Pflichtenkatalogs. Sorgfältig handeln heißt dann, eine Anzahl extrinsischer Vorgaben im konkreten Tun und Lassen zu beachten. In der zweiten Optik kommt der Gesichtspunkt ins Spiel, dass der Weg vom Allgemeinen zum Konkreten immer einen „qualitativen Sprung“ darstellt.

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Wer mit einer Sorgfaltspflicht belastet ist, trägt auch eine Entscheidungslast. Der Pflichtenkatalog kann ihn nicht bis zum Ende begleiten, gleichgültig, ob die Modalitäten eines Tuns oder die Bedingungen eines Unterlassens zu bestimmen sind. Man könnte diese beiden Modelle mit den beiden Durkheim’schen Typen der „mechanischen“ bzw. der „organischen“ Solidarität zu kennzeichnen suchen.15) Sachgerechte Konkretisierung des rechtlichen Gedankens wird entweder nicht erwartet oder erwartet. Im ersten Fall soll die normative Vorgabe ausschließliche Verhaltenssteuerung sein, im zweiten wird die „Landung“ in der konkreten Landschaft individuell gesteuert. Rechtlich gesprochen ist die Idee in dem einen Fall der Vollzug, in dem anderen die Geschäftsführung. Letztgenannte ist zwar nicht weniger auf eine ordnungsmäßige Abwicklung ausgerichtet, doch muss allenfalls der mutmaßliche Wille der Interessierten genügen.16) Die Wahl zwischen den beiden Varianten ist zunächst kein echtes Dilemma. Ein reines Normativsystem, das vor Überraschungen bei der Umsetzung in die Praxis gefeit wäre, kann es nicht geben, so genau die Beschreibung der Aufgaben auch sein mag. Die besten Pflichtkataloge kommen ohne den Vertrauensvorschuss nicht aus, der allein auch die x-te Möglichkeit noch abdeckt. Das Modell „Geschäftsführung“ ist insofern strenger: Sorgfalt behält seinen Charakter als Generalklausel, mit der Pflicht, sich im Fall umzusehen und das Verhalten darauf auszurichten. Die Schranken gibt es auch so, aber sie folgen anderen Kriterien. Die Frage ist dann: Was ist der „Fall“? Oder anders gewendet: Mit welchen von den unzähligen möglichen Konstellationen hat der Pflichtige (meist implizit) in Aussicht gestellt sich zu befassen? III. Rollenübernahme als Selbstbindung 1. Sorgfaltspflicht als Rollenübernahme Betrachten wir nochmals unsere Überlegungen bis dahin. Zunächst rufen sie wieder in Erinnerung, wie gefährlich Begriffsoppositionen wie hier der Gegensatz von „objektiv“ und „subjektiv“ sind. Wir sind mindestens drei

15)

16)

Einstieg am ehesten über die Sekundärliteratur, etwa Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, Rz. 86, Thomas Raiser, Das lebende Recht, 2. Aufl. 1995, S. 99 f. („repressives“ und „restitutives“ Recht). § 677 BGB, OR 419.

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Motiven begegnet, die sich in der Eigenschaft „objektiv“ auszudrücken suchen. Was sich am ehesten „objektive (Verschuldens-)Theorie“ nennt, ist das Abstrahieren von besonderen Umständen bei der pflichtigen Person. Dies kann einerseits bloß den Einbezug von Verschulden auf Vorstufen meinen, also der actio libera in causa oder des Annahmeverschuldens. Anderseits wird teilweise aus der Orientierung der Sorgfaltspflicht auf den „Verkehr“ eine noch weitergehende Abstraktion abgeleitet, indem individuelle Umstände unabhängig von der Verschuldensfrage außer Acht bleiben sollen. Der Schutz des Verkehrs kann aber, drittens, auch dahin bestehen, dass nicht die persönlichen Verhältnisse, sondern das Auftreten der pflichtigen Person im Fokus liegt. Wie im vertragsrechtlichen Vertrauensprinzips wird der vom Pflichtigen gemeinte Sinn objektiviert in der Art, wie er vom Gegenpart verstanden werden durfte. Diese Mehrzahl von Alternativen besagt für sich schon, dass es nichts bringt, eine „objektive“ und eine „subjektive“ Theorie einander gegenüberzustellen.17) Jede von ihnen verlangt dabei eine spezifische Entscheidung. Unsere bisherigen Überlegungen haben denn auch zu diesen Entscheidungen hingeführt, einerseits indem wir uns dafür aussprachen, dass das Verschuldensprinzip nicht gestatte, von den Umständen abzusehen, unter welchen die Sorgfaltspflichten wahrgenommen werden,18) und anderseits – gerade deshalb – eine Schranke bei den erzeugten Erwartungen liegen müsse.19) Sprechen wir von „Erwartungen“, so entfernen wir uns freilich von den vorgeformten juristischen Gefäßen, ohne recht zu wissen, wo wir landen. Wir nehmen prinzipielle Distanz zu allem Recht, das Staatsziele verfolgt – und für Viele schon damit zum Recht überhaupt. Denn Erwartungen sind relational; sie entstehen und wirken zwischen spezifischen Personen. Erwartungen sind aber auch nicht relatives Recht. Sie werden nicht durch Akte erzeugt, die den Qualifikationen eines Rechtsgeschäfts genügen, sondern durch Interaktionen, welche aufeinander Bezug nehmen und entsprechende Vorstellungen wachsen lassen.20)

17) 18) 19) 20)

Dazu Fn. 14. Supra II 1 b. Supra II 1 b, II 1 c, II 2 c. Näheres siehe Druey, Der Kodex des Gesprächs, 2015, insb. Kap. 3 I. 7. und 8. (m. Zit.), zum hier nachfolgenden Abschnitt das Kap. 4.

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Erwartungen sind an sich ein normatives Phänomen im außerrechtlichen Raum. Auch wenn dies im politischen Bereich wachsender Unsicherheit unterliegt, lässt sich zumindest privatrechtlich durch einseitige Erwartung nichts herbeisehnen. Doch das Recht selber schafft vielfach das „Klima“, in welchem Erwartungen gedeihen können. Eines der Gebiete dieser Art ist die Sorgfaltspflicht. Ihr Thema ist die Arbeitsteilung: Welche Abläufe sind in wessen Hand? Wieder sind wir auf den Spuren Durkheims: Das Zusammenspiel zu sichern, ist nicht Sache kantiger Rechtsregeln, sondern ist angewiesen auf alle Signale, die von den Beteiligten und mangels solcher von den Umständen ausgehen.21) Diese ganz offene Rechtslage erfordert Fixierungen, Standardisierungen, die zwar nicht zu Rechtssätzen i. S. von Zuordnungen von Rechtsfolgen zu Tatbeständen verdichtet sind, aber Leitbilder darstellen, die – präziser lässt es sich nicht sagen – „ein Licht werfen“ auf die bestehenden Vorstellungen. Im Zentrum steht dabei der Begriff der sozialen Rolle, auf den auch Köndgen nachdrücklich hinweist.22) Berufe, soziale Positionen, Familienbeziehungen und Abhängigkeiten bündeln Erwartungen bestimmter Personen in bestimmten Situationen. Aber bei weitem nicht nur solche funktionalen, sondern auch vielfache andere Assoziationen können Rollen erzeugen: Der dumme August muss dumm sein, das Alphatier auf dem Vereinsausflug muss alles am besten wissen. Letztlich jedes Verhalten kann nach dem Ausdruck von David Lewis ein „salient“ bilden, d. h. Personen (oder Gegebenheiten) aus der Normalität herausheben und damit zum Anknüpfungspunkt von Erwartungen machen.23) 2. Außerrechtliches, aber rechtsrelevantes Handeln Unsorgfältig verhält sich also beispielsweise –

wer mit dem Hinweis, nicht Spezialist zu sein, sich der Behandlung eines akuten Falls entzieht;



aber ebenso, wer als Nicht-Spezialist den Fall ohne die mögliche Konsultation des Spezialisten behandelt;

21) 22) 23)

Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 1988, etwa S. 173 – 180. Köndgen, Selbstbindung, 1981, 2. Kap. III. Lewis, Convention, 2002, S. 35 f.

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wer als Radtour-Genosse dem verwundeten Kameraden sein Desinfektionsmittel nicht anbietet;



aber ebenso, wer als Verwundeter nach Erkennung des Desinfektionsbedarfs nicht um das Mittel bittet.

Die beiden Situationsbeispiele wollen die Rolle der Rolle illustrieren. Sie wollen sie aber auch offenhalten. Im Kontext der Sorgfaltspflicht ist etwa „Berufsrecht“ ein gefährlicher Begriff, weil er aus den Anforderungen an das Verhalten eine Haftungsbedingung macht. Auch der Taxifahrer, der ein Gespräch im Fonds des Wagens mitbekommt, ist zur Diskretion verpflichtet, obwohl er keinem Berufsgeheimnis im technischen Sinn untersteht. Was sich im Strafrecht unter dem Stichwort der Garantenstellung auf eng begrenzte Tatbestände beschränken sollte,24) scheint sich im Zivilrecht also stark auszuweiten. Indessen ist zu unterscheiden die Grundlage der Haftung von den situativen Verhaltensanforderungen. Der Taxifahrer steht in einem ohne weiteres als qualifiziert erkennbaren Verhältnis zum Kunden, nicht weniger als der Banker, Anwalt oder Priester. Auch zivilrechtlich ist der Kreis begrenzt. Anderseits ist das gebotene oder verbotene Handeln auch im Strafrecht situationsabhängig. Als Erwartung sind aber sowohl auf der Ebene der Entstehung einer Sorgfaltspflicht wie auf derjenigen des gebotenen Verhaltens faktische Umstände maßgebend. Nicht weil der Taxifahrer in einen Transportvertrag getreten ist, entsteht die Erwartung, sondern weil er dem Kunden einen individuellen Dienst im abgeschlossenen Auto leistet. Im Sammeltaxi gibt es keine Geheimhaltungspflicht. Erst sekundär, in Ausfüllung der Sorgfalts- oder Treuepflicht, wird daraus eine Rechtspflicht. Desgleichen was den Inhalt der Pflicht angeht. Hat der Fahrgast z. B. seinem Nachbarn gesagt, dass er sich operieren lassen müsse, und ist dies für weitere Kreise ohne Belang, so wird es der Fahrer seiner Frau im Gespräch über die vielen Operationen, von denen er hört, erwähnen dürfen. Rechtlich kann man solchen Sachverhalten in zweierlei Arten gegenüberstehen. Man kann alle solchen Umstände in eine stillschweigende Vereinbarung packen, oder, wie gerade skizziert, das Modell zweistufig sehen, in-

24)

Literatur und Praxis zeigen freilich eine „Explosionsgefahr“, die für das Legalitätsprinzip fürchten lässt; vgl. etwa Stree/Bosch in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 13 Rz. 16, Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 4. Aufl. 2011, § 14.

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dem die (faktische) Erwartung sich in einem weiteren Schritt das rechtliche Gefäß erst noch suchen muss. Zu Recht wählt Köndgen den zweiten Weg. Der erstgenannte, der Bindung annimmt, wann immer die Erwartung „schützenswert“ erscheint, sagt nichts aus. Nun ist aber auch der zweite Weg von dieser Gefahr nicht frei. An die Stelle des implizierten Konsenses tritt die Beanspruchung von Vertrauen; gestresst werden damit nicht Institutionen, sondern wird die Dogmatik. Die Figur des Quasivertrags dient als Auffangbecken. Köndgen ist freilich präziser: Er untersucht spezifische bestehende Normkomplexe, die Haftung für Zusicherungen, Berufs- und Sachwalterhaftungen, und gründet sich damit auf positive, wenn auch vorwiegend von der Gerichtspraxis ausgearbeitete Konzepte.25) Offen bleibt damit, wie weit diese Konzepte verallgemeinerungsfähig sind. Idee des vorliegenden Beitrags ist, am Beispiel der Sorgfaltspflicht auf eine andere Konstellation hinzuweisen, nämlich auf die zahlreichen Fälle, wo Selbstbindungsvorgänge nicht zur Entstehung weiteren Rechts führen, sondern wo der Raum dafür im vorhandenen Recht selber schon ausgespart ist. Diese Frage ist nicht mit dem Hinweis auf Treu und Glauben erledigt. Damit wird zwar ebenfalls informeller Interaktion eine Tür ins Recht eröffnet, doch wird so der Fächer der Arten rechtsgeschäftlicher Bindung erweitert. Doch Sorgfaltspflicht schließt alle themenbezogenen relationalen Ereignisse ein. Sorgfaltspflicht, eine rechtliche Pflicht, konkretisiert sich in zunächst außerrechtlichen Selbstbindungsprozessen. Schaut der Magen-Darm-Arzt am Ultraschallgerät nebenbei auch den Pankreas an und berichtet dem Patienten darüber, so entsteht bei diesem die Erwartung, dass dasselbe bei den späteren Kontrollen ebenfalls geschieht. Damit entfällt – das mag paradox klingen – just der Gegensatz von „soziologischer“ und rechtlicher Sicht.26) Denn das Sozio-/Psychologische wird ganz auf die Stufe des Tatbestands zurückgestellt. Der einzelne Akt, dem in der Sorgfaltsfrage dann Bedeutung beigemessen wird, hat selber nicht die Eigenschaft einer rechtsgeschäftlichen Willenserklärung, die für die Antwort eine bloße Ja/Nein-Alternative eröffnet. Vielmehr gilt eben das Bild des Raums, des „Amtes“ – in einem weitesten Sinn – einer Person gegenüber einer anderen. In diesen Raum wird nicht nur ein, sondern werden eine Vielzahl 25) 26)

Köndgen, Selbstbindung, 1981, Kap. 3. Köndgen, Selbstbindung, 1981, explizit S. 281 f.

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von Signalen gegeben. Ihr Schicksal als Auslöser von Erwartungen ist aber noch ungewiss, weil die Signale sich gegenseitig relativieren. Sagt der Arzt das nächste Mal, es reiche jetzt eine Kurzuntersuchung, so ist wohl, mangels Reaktion des Patienten, der Pankreas ausgeschlossen, der daran ist, ein Krebsgeschwür zu bilden. Diese Aussage ist jedoch bloße Vermutung. Jedes Datum in diesem „Raum“ hat Bezug zu jedem anderen. Erst ihre Summe sagt aus, was der „Stand der Angelegenheit“ ist, erst die Gesamtheit verleiht der einzelnen kommunikativen Handlung ihre Bedeutung. Das macht nicht nur die vorhandenen Daten zu einer Gesamtheit, sondern verbindet auch die Personen, die sich im „Raum“ befinden. Darin löst sich das scheinbare Paradox auf, dass („soziologische“) Erwartungen rechtliche Wirkungen erzeugen. Die Relevanz all der Umstände setzt ein gemeinsames Dach, eben einen „Raum“ voraus, der ihnen ihre Bedeutung und denjenigen, die den Raum miteinander teilen, die Rolle von „Teilnehmern“ verleiht. Sehr zu Recht spricht Köndgen, inspiriert durch die angelsächsische Lehre, von der promissory liability, vom „relationalen“ Moment der darauf gestützten Haftung.27) Rechtsrelevant sind diese Fragen dann, wenn der „Raum“ rechtlich geschaffen ist – so eben, wenn vom Recht gefragt wird, ob ein Verhalten unsorgfältig war. 3. Mehr Komplexität heißt weniger Rationalität Komplexität entsteht indessen aus folgendem Grund. Die vorhin ausgemalten Sachverhalte zeigen die für menschliche Interaktionen typische Reflexivität. Wer ist es nun eigentlich, der Erwartungen erzeugt, wenn Diskretion gelten soll? Der Fahrgast hat die Erwartung; der Fahrer tut nichts, doch er soll eben gebunden sein. Seine Bindung entsteht durch reine Passivität: Er muss erwarten, dass die Situation im Taxi den Gast erwarten lässt, dass er Diskretion wahrt. Durch sein Schweigen entsteht wiederum eine Erwartung beim Kunden, dass der Fahrer die Normsituation gleich versteht. Luhmann hat i. S. der Rechtssicherheit die Funktion des Rechts im Abschneiden dieser reflexiven Wirkungen gesehen.28) Sorgfalt, als situationsgerechtes Verhalten, ist indessen nur kasuell bestimmbar. Das nimmt den vielen generellen Konkretisierungen, welche 27) 28)

Köndgen, Selbstbindung, 1981, S. 416, 48 – 50. Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 38 f. et passim.

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spätestens seit dem hippokratischen Eid durch die Gesetzgeber, Gerichte und Berufsverbände angestrebt wurden, keineswegs ihren Wert. Sie müssen aber, wie gesehen, unter dem Vorbehalt des konkreten Falls stehen. Ein einziger Umstand kann die Gesichtspunkte grundsätzlich verändern: Die Sorge des Bergführers für einen verletzten Teilnehmer wird relativiert durch die Sorge um die ganze Seilschaft, wenn ein Gewitter naht. Generell formulierte Sorgfaltspflichten können nur Elemente der Beurteilung vorwegnehmen und so nur Richtlinien für die konkrete Wertung sein. Das nimmt ihnen angesichts der Undeutlichkeit vieler konkreter Sachverhalte ihre große Bedeutung nicht. Konzentration des Augenmerks auf den Einzelfall heißt also keineswegs Vereinfachung der Beurteilung, sondern gerade das Gegenteil. Eine Abwägung (oben II 2 b) ist immer erforderlich. Das ist, zumindest primär, zwar keine Abwägung von Gütern oder Interessen – wir lassen hier offen, ob etwa jener Bergführer erwägen darf, vier Leben seien mehr als eines. Vielmehr ist immer eine Vielzahl von faktischen Gegebenheiten in Betracht zu ziehen, abzuwägen sind Risiken hinsichtlich ihres Schadenspotenzials, ihrer Wahrscheinlichkeit, dem Aufwand ihrer Vermeidung, den Folgeschäden. Die rasant aufgeblühte Disziplin des risk management vermag dafür aber auch nur Schemata zur Verfügung zu stellen, ohne das eigentliche Problem zu lösen, dass nämlich potenzielle Kausalketten bis ins Unendliche zu verfolgen wären, um den Sicherheitsgrad der Prognosen festzustellen. Die Aufgabe, die sich dem Recht bei einer Verletzung der Sorgfaltspflicht stellt, ist also, den relevanten Sachverhalt möglichst umfassend mit möglichst geringem Aufwand festzustellen. IV. Schluss 1. Bindungskraft menschlicher Interaktion Köndgen hat mit dem Thema der Selbstbindung ein außerordentlich weites Feld betreten und eine Perspektive eröffnet, die noch über sein eigentliches Untersuchungsobjekt der Quasiverträge hinausweist. Im Grund geht es um die Verbindlichkeit menschlicher Interaktion überhaupt. Die prinzipielle Antwort wird zwar auch in Zukunft ein „Nein“ sein. Wenn der Nachbar mich nicht mehr grüßt, so habe ich auch bei völliger Willkür seines Verhaltens keinen Anspruch auf weiteres Gegrüßt-werden, ebenso

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wenig meine Frau darauf, dass ich mein Versprechen einhalte, am Sonntag den Kaffee zu kochen. Das sagt aber nur etwas über die rechtliche Verbindlichkeit aus; keineswegs ausgeschlossen ist damit jegliche Rechtsrelevanz. Was der Zeuge vor Gericht äußert, kann das Urteil beeinflussen, und meine bösen Worte an die Ehefrau können meine Position im Eheschutz- oder -scheidungsverfahren schwächen. Und so ist es mit der Sorgfaltspflicht. Die Arbeitsteilung, der sie entspringt, ergibt sich definitiv erst beim Arbeiten selbst. Mitbestimmt wird sie durch alle Kontakte zwischen den Beteiligten zum betreffenden Thema, weil jede Information dieser Art besser ist als nichts. Das lässt einen außerordentlich weiten Grundgedanken erkennen: Diese Relevanz aller Kontakte ist das Wesen der Organisation. Darin verbinden sich allgemeine Zuständigkeitsordnungen mit einer übergreifenden konkreten Optimierungspflicht. Leider ist die Rechtswissenschaft dem noch zu wenig nachgegangen – sie müsste zuerst Öffentlich- und Privatrechtler organisatorisch zusammenbringen! 2. Tragweite Die Aussage in alledem ist, dass Sorgfaltspflichten auch Pflichten enthalten, die unmittelbar dem Verhalten einer Partei entspringen, also „interaktionsgeboren“ sind. So what? Was bringt mir das, wenn ich als Banker bestimmen muss, was ich den Kunden über die Gefahren verschiedener Anlagen sagen oder schreiben soll? Was die vorliegenden Überlegungen zum Ausdruck bringen, mündet in der Tat just in kein Rezept „man nehme […] man gebe […] man mache“, sondern spricht einer Veränderung des Blickwinkels das Wort. Die Rechtsanwender sollen nicht zum gedankenlosen Gehorsam gegenüber Vorschriften und Bildschirmen, sondern im Gegenteil zu mehr autonomer Rechts-Findung verhalten werden. Der Blick richtet sich dabei auf alles, was zwischen den Parteien, Sorgfaltsgläubiger und -schuldner, „gegangen ist“. Drei Konsequenzen dieser Blickweise seien als abschließende Stichomythie hervorgehoben. –

Von zentraler Bedeutung scheint mir die prozessuale Behandlung zu sein. Verlangt wird vom Richter, in den konkreten Fall „einzusteigen“. Er soll die Entscheidungsmotive entsprechend nicht mittels

Sorgfaltspflicht als Selbstbindung

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Schablonen und Bausteinen namhaft machen. Das bedingt aber, um im zumutbaren Rahmen zu bleiben, dass er den Blick eingrenzt auf die Umstände, von welchen er substanzielle Entscheidungsrelevanz erwarten kann. –

Dem muss angesichts des Umgangs mit lauter Prognosen eine große Ermessensfreiheit zugestanden werden. Das muss im materiell- wie im prozessrechtlichen Sinn gelten, d. h. ebenso für die Beurteilung der Situation durch den Pflichtigen wie durch den Richter.



Zu postulieren ist der Vorrang des Kasuellen vor dem Generellen. Die Rollenverteilung ist primär Sache der Parteien.

Das mag provokant tönen. Aber auch dafür darf ich mich freundschaftlich auf den Jubilar berufen.

Sollten Fondsverwalter für fehlerhafte Anlageentscheidungen haften? ANDREAS ENGERT Inhaltsübersicht I. II.

Problemstellung Schadensersatzhaftung des fahrlässigen Fondsverwalters – eine rechtliche Selbstverständlichkeit III. Einwand: Schadensersatzhaftung als Verhaltensverzerrung 1. Schadensersatz bei fehlerhaften Anlageentscheidungen als Überkompensation

2. Unsicherheit bei der Feststellung eines Sorgfaltsverstoßes 3. Vergleich mit der gesellschaftsrechtlichen Organwalterhaftung IV. Anpassung der Schadensersatzhaftung V. Verhaltenssteuerung durch den Markt VI. Fazit

Johannes Köndgen ist ein kritischer Geist. Seine Freiheit als Wissenschaftler hat er stets dazu genutzt, Entwicklungen in der Rechtswirklichkeit aus unabhängiger Sicht zu bewerten und nötigenfalls auch gegen mächtige Interessen Stellung zu beziehen. Besondere Aufmerksamkeit hat er dem Schutz privater Anleger in Finanzmärkten gewidmet. Der Beitrag greift das häufig vernachlässigte, aber gerade von Johannes Köndgen besonders beachtete Investmentrecht heraus. Unter anderem hat sich Johannes Köndgen dafür eingesetzt, die Sorgfaltshaftung von Fondsverwaltern zugunsten der Anleger stärker zum Tragen zu bringen.1) Dieser Vorstoß soll im Folgenden mit rechtsökonomischen Erwägungen hinterfragt werden – in der Hoffnung, dem stets diskussionsbereiten Jubilar damit eine Freude zu bereiten. I. Problemstellung Investmentfonds dienen der gemeinschaftlichen Kapitalanlage.2) Die Initiative dazu geht in aller Regel nicht von den einzelnen Anlegern aus, sondern

1)

2)

Köndgen/Schmies in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 113 Rz. 137; siehe ferner die Auffächerung der Sorgfaltspflichten bei Köndgen in: Berger/ Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 9 InvG Rz. 23 ff. Statt „Investmentfonds“ spricht das Gesetz von „Investmentvermögen“, § 1 Abs. 1 KAGB.

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von einem professionellen Fondsverwalter.3) Die Investmentanlage ist daher wirtschaftlich gesehen eine Dienstleistung, die der Verwalter des Investmentfonds für die Anleger erbringt. Wie bei den meisten Finanzdienstleistungen besteht dabei eine Informationsasymmetrie zwischen Anbietern und Kunden: Die meisten Privatanleger wissen weitaus weniger über die Funktionsweise von Finanzmärkten und -produkten als der jeweilige Dienstleister. In jedem Falle werden die Anleger eines Investmentfonds die konkreten Anlageentscheidungen nicht nachvollziehen können, weil sie anderenfalls die Leistung des Verwalters überhaupt nicht in Anspruch zu nehmen bräuchten.4) Diese Informationsasymmetrie wirft die Frage auf, weshalb der Verwalter kostspielige Mühe aufwenden sollte, um das Kapital der Anleger bestmöglich zu investieren. Da die Anleger selbst die Handlungsweise des Verwalters nicht beurteilen können, scheinen sie zu einer wirksamen Disziplinierung außerstande.5) Von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als investmentrechtlicher Aufsichtsbehörde ist kaum mehr zu erwarten. Sie kann in der Regel nur leicht feststellbare Pflichtverstöße verfolgen. Einzelne Anlageentscheidungen überwacht sie nicht einmal stichprobenartig. Gleiches gilt für die Verwahrstelle trotz deren Kontrollfunktion (§§ 76, 83 KAGB) und den Abschlussprüfer (vgl. § 36 Abs. 3 KAGB).6) Eine Haftungsdrohung könnte hingegen ein wirksames Mittel bilden, um den Verwalter davon abzuhalten, zu Lasten der Anleger an Kosten und 3)

4) 5) 6)

Für deutsche Investmentfonds bezeichnet das Gesetz den Verwalter als die „Kapitalverwaltungsgesellschaft“, vgl. § 1 Abs. 14 – 16, § 17 KAGB. Zumeist handelt es sich dabei um „externe“, von dem Investmentfonds getrennte Kapitalverwaltungsgesellschaften. Seltener ist der Fall, dass ein gesellschaftsrechtlich verselbständigter Investmentfonds sich selbst verwaltet, die sog. interne Kapitalverwaltungsgesellschaft, § 17 Abs. 2 Nr. 2 KAGB. Auch bei internen Kapitalverwaltungsgesellschaften verfügen die Initiatoren allerdings in aller Regel über besondere Kontroll- und Vermögensrechte, vgl. die Unterscheidung in Unternehmens- und Anlageaktien in § 109 KAGB. Im praktischen Ergebnis bleibt es dabei, dass nicht die Anleger, sondern ein Anbieter den Investmentfonds gestaltet und kontrolliert. Gedacht ist hier an aktiv verwaltete Investmentfonds, bei denen der Verwalter die Zusammensetzung des Portfolios bestimmt. Siehe aber unten V. zur Marktdisziplin aufgrund der für den Investmentfonds insgesamt erzielten Renditen. Der Verwahrstelle – vor dem KAGB als „Depotbank“ bezeichnet – könnte man grundsätzlich eine weitergehende Überwachungspflicht zuschreiben, auch insoweit tendenziell streng Köndgen/Schmies in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-HdB., 4. Aufl. 2011, § 113 Rz. 134; Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 27 InvG Rz. 2 f. Gegen eine engmaschige, haftungsbewehrte Überwachungspflicht der Verwahrstelle sprechen indes ähnliche Gründe, wie sie im Folgenden für den Verwalter ausgeführt werden.

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Anstrengungen bei der Führung des Investmentfonds zu sparen. Als besonderen Vorteil einer Schadensersatzhaftung mag man es auffassen, dass ein unabhängiges Gericht erst im Schadensfall – wenn der Investmentfonds Verluste erlitten hat – über einen Sorgfaltsverstoß und damit über eine mögliche Haftung befindet. Dies hindert den Verwalter daran, über politische Einflussnahme oder die fortlaufende Beziehungspflege mit einer Aufsichtsbehörde das Risiko zu vermindern, mit seinem eigenen Vermögen Einbußen des Investmentfonds ausgleichen zu müssen. Der Haftungsprozess im Verlustfall könnte insofern besonders geeignet sein, doch noch Waffengleichheit zwischen Anleger und Verwalter herzustellen. Im Folgenden werden zunächst die rechtlichen Grundlagen einer Schadensersatzpflicht des Verwalters umrissen (siehe II.). Den Kern des Beitrags bildet die rechtsökonomische Kritik einer streng gehandhabten Verwalterhaftung. Sie würde zu einer kostspieligen Übervorsicht des Verwalters führen, die den Interessen der Anleger mehr schaden als nutzen würde (siehe III.). Die Haftung des Verwalters ist daher im Ergebnis auf Fälle offensichtlicher Sorgfaltsverstöße zu begrenzen (siehe IV.). Die Kontrolle des Verwalterhandelns sollte folglich weitgehend dem Markt überlassen bleiben (siehe V.). Ein kurzes Fazit beschließt den Beitrag (siehe VI.). II. Schadensersatzhaftung des fahrlässigen Fondsverwalters – eine rechtliche Selbstverständlichkeit Im juristischen Ausgangspunkt versteht es sich von selbst, dass der Verwalter für Sorgfaltsverletzungen einzustehen hat: Bei Investmentfonds in der klassischen Vertragsform ist die Kapitalverwaltungsgesellschaft zivilrechtlich ein Geschäftsbesorger der Anleger. Hieraus ergibt sich die Pflicht, das übertragene Geschäft sorgfältig zu führen. § 26 Abs. 2 Nr. 1 KAGB formuliert diese allgemeine Sorgfaltspflicht ausdrücklich.7) Wird sie ver-

7)

Allerdings ist zu fragen, ob diese Vorschrift (auch) vertragsrechtlich oder (nur) aufsichtsrechtlich zu qualifizieren ist. Die Vorgängernorm § 9 Abs. 1 InvG hat man gemeinhin auch als zivilrechtlich aufgefasst, vgl. etwa Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 9 InvG Rz. 23. Dagegen spricht erstens, dass der BGH die entsprechenden Verhaltenspflichten des WpHG nicht als vertragsrechtlich ansieht, BGH, Urt. v. 17.9.2013 – XI ZR 332/12, Rz. 16 ff., JZ 2014, 252 = ZIP 2013, 2001. Zweitens ist § 26 Abs. 2 Nr. 1 KAGB – anders als der alte § 9 Abs. 1 InvG – auch auf die „interne“ Kapitalverwaltungsgesellschaft anwendbar, also z. B. eine ihr eigenes Vermögen verwaltende Investmentaktiengesellschaft; diese kann aber keine vertragliche Beziehung mit sich selbst unterhalten.

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letzt, haftet der Verwalter nach § 280 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz. Bei der Gesellschaftsform – wenn also der Investmentfonds als eigenständige Gesellschaft organisiert ist – gilt dasselbe, sofern der Verwalter aufgrund eines Geschäftsbesorgungsvertrags mit dem Investmentfonds tätig wird („externe Kapitalverwaltungsgesellschaft“, § 17 Abs. 2 Nr. 1 KAGB).8) Komplizierter und vom Gesetzgeber nicht voll durchdacht ist die Rechtslage, wenn sich ein Investmentfonds in Gesellschaftsform selbst verwaltet („interne Kapitalverwaltungsgesellschaft“, § 17 Abs. 2 Nr. 2 KAGB). In diesem Falle ist der Investmentfonds zugleich Kapitalverwaltungsgesellschaft. Indes wird man auch im Investmentrecht Gesellschaftern keinen Anspruch gegen ihre eigene Gesellschaft gewähren können, wenn das Gesellschaftsvermögen aufgrund sorgfaltswidriger Geschäftsführung geschmälert wird. In Betracht kommen daher wohl nur Ansprüche gegen die Organwalter der Investmentgesellschaft.9) Da die „interne Kapitalverwaltungsgesellschaft“ in der deutschen Investmentpraxis keine bedeutende Rolle spielt, brauchen diese Fragen hier nicht vertieft werden. Die Haftungsdrohung spiegelt sich auch in zwei neuen aufsichtsrechtlichen Anforderungen wider: Zum einen hat ein Verwalter von alternativen Investmentfonds (also anderen als Wertpapier-Publikumsfonds) nach § 25 Abs. 6 KAGB für eine angemessene Deckung von Haftpflichtrisiken vorzusorgen.10) Zum anderen verlangen § 78 Abs. 3, § 89 Abs. 3 KAGB, dass die Kapitalverwaltungsgesellschaft unter anderem für „Fälle einer Verletzung von Anlagegrenzen oder Erwerbsvorgaben“ ein Entschädigungsverfahren festlegt. Die Verfahren müssen einen Entschädigungsplan und dessen Prüfung durch einen Wirtschaftsprüfer vorsehen. Die konkretisierende Rechtsverordnung der BaFin ist bislang nicht über einen Entwurf aus dem Jahre 2011 hinausgelangt.11)

Festzuhalten bleibt als Ausgangspunkt, dass ein Fondsverwalter in der Regel auf Schadensersatz haftet, wenn er die ihm anvertrauten Vermögensinteressen des verwalteten Investmentfonds nicht mit der gebotenen Sorgfalt wahrnimmt. In rechtsökonomischer Sicht lässt sich dies mit der einfachen Überlegung erklären, dass gewinnträchtige Anlageentscheidungen und überhaupt eine erfolgreiche Fondsverwaltung Aufmerksamkeit, Mühe und erheblichen Arbeitseinsatz erfordern. Ein eigennütziger Verwalter würde diese Kosten nicht aufwenden, sofern die entgehenden Gewinne oder 8) 9)

10) 11)

Zu „interner“ und „externer“ Kapitalverwaltungsgesellschaft vgl. oben Fn. 3. Die gesetzliche Prozessstandschaft der Depotbank nach § 78 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 89 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KAGB dürfte auf diese Ansprüche analog anwendbar sein. Für die Anleger könnte man eine entsprechende Anwendung der § 78 Abs. 1 Satz 2, § 89 Abs. 1 Satz 2 KAGB erwägen. Damit setzt der Gesetzgeber Art. 9 Abs. 7 AIFM-Richtlinie um. Herring in: Baur/Tappen, InvG, Bd. 1, 3. Aufl. 2014, § 78 KAGB Rz. 31.

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eintretenden Verluste nur den Anlegern zur Last fielen. Eine Schadensersatzhaftung erlegt diese Einbußen dem Verwalter auf, „internalisiert“ damit den externen Effekt und verbessert so die Handlungsanreize. III. Einwand: Schadensersatzhaftung als Verhaltensverzerrung Die Kritik an einer Schadensersatzhaftung von Fondsverwaltern muss an dieser einleuchtenden Grundüberlegung ansetzen. In einem ersten Schritt ist herauszuarbeiten, dass Schadensersatz als Rechtsfolge über eine Internalisierung hinausgehen würde (siehe 1.). Da zugleich die Sorgfaltspflichten des Verwalters mit erheblicher Unsicherheit behaftet sind, würde eine strenge Haftung zu einer ungewollten Überabschreckung führen (siehe 2.). Bei der gesellschaftsrechtlichen Organwalterhaftung ergibt sich eine ähnliche Problematik, allerdings mit wichtigen Unterschieden (siehe 3.). 1. Schadensersatz bei fehlerhaften Anlageentscheidungen als Überkompensation Der Einwand gegen eine strenge Schadensersatzhaftung von Fondsverwaltern fußt zunächst auf der Einsicht, dass Schadensersatz die Anleger aus ökonomischer Sicht überkompensieren würde. Besteht der „zum Ersatz verpflichtende Umstand“ (§ 249 Abs. 1 BGB) im Eingehen eines Risikos – z. B. einer bestimmten Anlageposition – so wird in der Regel nicht zwangsläufig ein Verlust eintreten. Auch schlechte Investitionen haben zumeist eine gewisse Gewinnchance. Sorgfaltswidrig ist eine solche Entscheidung, wenn und weil der statistische Erwartungswert der Rückflüsse geringer ist als bei einer sorgfältig gewählten Anlage. Ein fiktives Beispiel: Die vom Verwalter getätigte Investition führe mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 % zu einem Verlust von 100, mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 % aber zu einem Gewinn von 100. Der erwartete Rückfluss beträgt also (30 % – 70 %) u 100 = –40. Geboten wäre stattdessen (vielleicht angesichts besonderer Marktbedingungen) eine risikolose Anlage ohne Verzinsung mit einem sicheren Rückfluss von 0 gewesen. Haftet der Verwalter auf Schadensersatz, so muss er für Verluste des Investmentfonds aufkommen. Seine erwartete Haftung beträgt 70 % u 100 = 70, übersteigt also den Erwartungswert der Einbuße von 40. Auch wenn der Schadensersatz nach geltendem Recht zutreffend ermittelt ist, liegt darin gemessen an der angestrebten Internalisierung eine Über-

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kompensation. Dies beruht auf einer Asymmetrie: Der Verwalter hat eintretende Verluste auszugleichen, während die möglichen Gewinne den Anlegern zustehen. Die Schadensersatzhaftung zerschneidet die gleichläufige Zuordnung der Vor- und Nachteile zum Geschäftsherrn, wie sie eigentlich der fremdnützigen Geschäftsbesorgung entspräche.12) Die einseitige Überwälzung nur der Verluste beim Schadensersatz des Geschäftsbesorgers erinnert an die Diskussion über eine anteilige Haftung bei unaufklärbarer Kausalität, etwa im Arzthaftungsrecht. Dort kann sich das Problem stellen, dass ein ärztlicher Behandlungsfehler eine bereits bestehende Schadenswahrscheinlichkeit nur erhöht hat. So mag eine bestimmte Behandlung auch bei sorgfältiger Durchführung nur eine Heilungschance von 50 % bieten, während ein Kunstfehler des Arztes diese Chance auf 30 % verringert. In solchen Fällen ist nicht festzustellen, ob der Schaden – die ausgebliebene Heilung – auf eine nicht reduzierbare Ausgangswahrscheinlichkeit (die 30 %) oder auf die erhöhte Gefährdung (die zusätzlichen 20 Prozentpunkte) zurückzuführen ist. Die Alles-oder-nichts-Lösung des deutschen Rechts führt dann entweder zu einer Unterkompensation (wenn Kausalität und Anspruch verneint werden) oder zu einer Überkompensation (wenn voller Schadensersatz gewährt wird).13) Als Abhilfe wird eine anteilige Haftung vorgeschlagen.14) In dem eben gebildeten Beispiel gelingt eine genaue Internalisierung ohne Unter- oder Überkompensation, wenn man den Arzt auf den von ihm verursachten Anteil an der Wahrscheinlichkeit des eingetretenen Schadens haften lässt, also mit 40 % des Schadenswertes. Dies lässt sich wie folgt begründen: Angenommen, die ausgebliebene Heilung verursache eine in Geld messbare Einbuße von 100. Der Kunstfehler erzeugt dann einen erwarteten Schadenswert von (50 % – 30 %) u 100 = 20. Da aber die fehlerhafte Behandlung nur in 50 % der Fälle einen Schaden hervorruft und einen Anspruch auslöst, muss die Haftung in diesen Fällen auf 40 festgesetzt werden, um den Arzt einer erwarteten Haftung von 20 auszusetzen, also den externen Effekt genau zu internalisieren. Eben dies erreicht eine Haftungsquote von 40 %.15) Sie lässt sich zudem mit dem Gedanken rechtfertigen, der Schädiger solle nur für seinen (Wahrscheinlichkeits-)Anteil an dem entstandenen Schaden haften: Von der Schadenswahrscheinlichkeit von 50 % – die sich in dem eingetretenen Schaden verwirklicht hat – fallen 20 Prozentpunkte und damit 20/50 = 40 % dem Arzt zur Last.

12)

13) 14)

15)

Engert, Why manager liability fails at controlling systemic risk, in: Lomfeld/Somma/ Zumbansen, Reshaping Markets, Cambridge (Cambridge University Press), im Erscheinen, unter 7.2.2; Wagner, Organhaftung im Interesse der Verhaltenssteuerung – Skizze eines Haftungsregimes, ZHR 178 (2014), 227, 256 ff. Darstellung des Diskussionsstandes zum deutschen Recht etwa bei Stremitzer, Haftung bei Unsicherheit des hypothetischen Kausalverlaufs, AcP 208 (2008), 676, 679 ff. Siehe neben anderen Wagner, Neue Perspektiven im Schadensersatzrecht – Kommerzialisierung, Strafschadensersatz, Kollektivschaden, Gutachten A, 66. Deutscher Juristentag, Bd. 1, 2006, S. A 57 ff.; Stremitzer, AcP 208 (2008), 676; Urs Schweizer, Legal Damages for Losses of Chances, Int. Rev. L. & Econ. 29 (2009), 153. Eine wenig praktische Alternative läge darin, sogar den geheilten Patienten einen Anspruch zuzugestehen und die Haftungsquote auf 20 % festzusetzen, vgl. Stremitzer, AcP 208 (2008), 676, 693 ff.

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Die Schadensersatzpflicht eines fahrlässigen Geschäftsbesorgers könnte man grundsätzlich ebenfalls über Haftungsquoten absenken. Es ist aber zu bezweifeln, ob dies ähnlich praktikabel und überzeugend wäre. Anlageentscheidungen können zu sehr vielen unterschiedlichen, vorteilhaften oder nachteiligen Ergebnissen führen. Die richtige Haftungsquote hinge vom Erwartungswert der (fehlerhaften) Investition über diese verschiedenen möglichen Entwicklungen ab. Das oben gebildete, vereinfachende Beispiel mit nur zwei möglichen Erfolgen vermittelt insoweit einen falschen Eindruck. Zudem bestünde die pflichtgemäße Entscheidung als Referenzpunkt der Schadensberechnung kaum je in einer sicheren Anlage, sondern in aller Regel im Eingehen anderer Investitionsrisiken. Für eine Feinsteuerung der Haftung wäre schließlich von Bedeutung, wie häufig materiell bestehende Ansprüche erkannt und durchgesetzt werden. Eine einigermaßen genaue Internalisierung erscheint nach all dem unerreichbar. 2. Unsicherheit bei der Feststellung eines Sorgfaltsverstoßes Die drohende Überkompensation allein ist noch kein zwingender Einwand gegen eine Haftung von Fondsverwaltern. Sie zeigt zunächst nur, dass nicht bereits die Rechtsfolge der Schadensersatzhaftung das richtige Maß an Verhaltenssteuerung sicherstellt. Eine Gefährdungshaftung verbietet sich damit von vornherein,16) wird aber auch von niemandem befürwortet. Vielmehr setzt eine Haftung von Fondsverwaltern (selbstverständlich) eine Pflichtverletzung und ein Verschulden voraus. Auf den ersten Blick neutralisiert dies die überschießende und insoweit strafähnliche Rechtsfolge. Ein Fondsverwalter, so könnte man geltend machen, kann sich der scharfen Sanktion auf ebenso einfache wie zumutbare Weise entziehen, indem er die ihm obliegende Sorgfalt beachtet. Da eben dies angesichts der Haftungsdrohung von einem rationalen Verwalter zu erwarten wäre, würde die erstrebte Verhaltenssteuerung erreicht. Die Überkompensation wirkte sich nicht aus.

16)

Hierin liegt eine Abweichung von der grundlegenden rechtsökonomischen Einsicht, dass unter gewöhnlichen Umständen eine Gefährdungshaftung dieselben Verhaltensanreize setzt wie eine Verschuldenshaftung, dazu soweit ersichtlich erstmals John Prather Brown, Toward an Economic Theory of Liability, J. Legal Stud. 2 (1973), 323, 340 ff.; Überblick bei Steven Shavell, Liability for accidents, in: Polinsky/Shavell, Handbook of Law and Economics, Oxford (Elsevier), 2007, Bd. 1, S. 139, 142 ff. Zu der Abweichung bei Geschäftsbesorgern am Fall der Managerhaftung Engert in: Lomfeld/ Somma/Zumbansen, Reshaping Markets, Cambridge (Cambridge University Press), im Erscheinen, unter 7.2.

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Die Kritik an einer strengen Schadensersatzhaftung von Fondsverwaltern muss deshalb begründen, weshalb die überschießende Rechtsfolge selbst bei einer Verschuldenshaftung die Anreize des Verwalters verzerren sollte. Der entscheidende zusätzliche Gesichtspunkt liegt in der Schwierigkeit, die Anforderungen an eine sorgfältige Verwaltung von Investmentfonds richtig zu bestimmen. Mit „Schwierigkeit“ ist dabei gemeint, dass Fondsverwalter, Gerichte und Sachverständige trotz Fachkunde und aufrichtigen Bemühens häufig nicht zutreffend erkennen, welches Verhalten sorgfaltsgemäß wäre. In den einschlägigen Fällen ist sogar kaum je überhaupt zu klären, welche Sorgfaltsanforderungen objektiv, bei fehlerfreier Rechtsanwendung geboten wären. Die Schwierigkeit der Beurteilung lässt sich daher empirisch nur anhand der Dissenswahrscheinlichkeit erfassen. Je eher fachkundige und nicht interessengeleitete Personen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen – „reasonable people can reasonably disagree“ –, als desto schwieriger ist eine zu beurteilende Rechtsfrage anzusehen. Obgleich man auf diese Weise die Schwierigkeit einer rechtlichen Bewertung empirisch erfassen und sogar quantifizieren könnte, fehlen entsprechende Untersuchungen bislang.17) Es bleibt daher nur der Versuch einer plausiblen Einschätzung. Hierfür sollte man sich die Testfrage vorlegen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein anderer Beurteiler einen gegebenen Sachverhalt ebenso bewertet wie man selbst. So wäre bspw. zu fragen, welcher Anteil anderer Juristen ebenfalls zu dem Ergebnis gelangen würde, dass eine bestimmte Anlageentscheidung pflichtgemäß getroffen worden ist – also auf Grundlage ausreichender Informationen, einer nachvollziehbaren Abwägung sowie unter Beachtung der Anlagebedingungen und gesetzlichen Vorgaben. Setzt man diesen Anteil nahe 100 % an, handelt es sich um eine „einfache“, „eindeutige“ rechtliche Bewertung. Ist hingegen mit einem erheblichen Anteil abweichender Auffassungen zu rechnen, liegt eine „schwierige“ Frage vor. Der Verfasser kann an dieser Stelle nur seine subjektive Einschätzung anführen, wonach er für seine eigene rechtliche Beurteilung des Handelns von Fondsverwaltern in sehr vielen Fällen eine Übereinstimmungsquote von weitaus weniger als 100 % erwarten würde.18) Trifft diese Einschätzung 17) 18)

Ein eigener Versuch des Verfassers (mit Koautoren) findet sich in: Belitz/Engert/ Michl, Do lawyers know uncertainty when they see it?, Arbeitspapier 2015. Vorausgesetzt ist dabei ein strenger Maßstab in dem Sinne, dass dem Fondsverwalter – anders als in Abschnitt IV. unten vorgeschlagen – kein breiter Ermessensspielraum zugebilligt wird.

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zu, so müsste ein Fondsverwalter davon ausgehen, dass ein Gericht sein Verhalten häufig anders bewertet als er selbst. In einem breiten Spektrum von Fällen könnte er eine Haftung selbst dann nicht ausschließen, wenn er nach seiner eigenen, ehrlichen Auffassung sorgfältig handelt.19) Pflichtgemäßes und pflichtwidriges Verhalten wären nicht mehr eindeutig geschieden. Stattdessen gäbe es eine erhebliche Unsicherheitszone, in der eigentlich sorgfältiges Verhalten einem Haftungsrisiko ausgesetzt wäre, andererseits aber Sorgfaltsverstöße mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung entgingen. Wie eine derartige Unsicherheit das Verhalten des Regelungsadressaten beeinflusst, hängt von der Rechtsfolge ab:20) Eine Haftung nur auf den zusätzlichen, erwarteten Schadenswert aufgrund der Pflichtverletzung bewirkt eine zu geringe Abschreckung – der Regelungsadressat bleibt hinter dem zurück, was er selbst für geboten hält.21) Wie oben gezeigt würde ein Schadensersatz bei Fondsverwaltern hingegen weit über die Kompensation der Pflichtverletzung hinausgehen. In diesem Falle gerät die Abschreckungswirkung zu stark.22) Der Fondsverwalter wird vorsichtiger, als er es für eigentlich rechtlich gefordert hält.23) Im Ergebnis ist somit zu erwarten, dass eine streng gehandhabte Schadensersatzhaftung bei Fondsverwaltern über das angestrebte Ziel hinausschießen würde. Konkret würden Verwalter den Aufwand für ihre Tätigkeit und insbesondere für Anlageentscheidungen über ein sinnvolles Maß hinaus erhöhen. Dies wäre keineswegs im Interesse der Anleger. Denn die höheren Kosten würden vermutlich zu höheren Gebühren der Verwalter führen, ohne dass dem entsprechende Vorteile für den Investmentfonds gegenüberstünden. Andere Strategien zur Haftungsvermeidung würden den Erfolg des Investmentfonds unmittelbar mindern: Aufgrund der Asym19)

20)

21)

22)

23)

Auf den ersten Blick erschiene es naiv, den Verwalter bei der Beurteilung seines eigenen Handelns nicht für voreingenommen zu halten. Doch kann der Verwalter kein Interesse daran haben, sich selbst in der Handlungssituation über sein Haftungsrisiko zu täuschen. Aufarbeitung der rechtsökonomischen Forschungsergebnisse zu dieser Frage bei Engert, The bad man revisited: Rechtsunsicherheit in der Verschuldenshaftung, in: FS für Kirchner, 2014, S. 735, 740 ff. Vgl. Engert in: FS für Kirchner, 2014, S. 735, 741 f. m. N. Dabei wird angenommen, dass sich die Unsicherheit symmetrisch um die zutreffende (oder vom Regelungsadressaten für zutreffend gehaltene) Sorgfaltsanforderung verteilt. Dies gilt jedenfalls gemessen an der eigenen, durchschnittlichen Auffassung der Fondsverwalter von der zu beachtenden Sorgfalt. Weiter wird man aber auch annehmen dürfen, dass die (nicht interessengeleitete, vgl. Fn. 19) Einschätzung von Fondsverwaltern im Mittel in etwa zutrifft. Vgl. Engert in: FS für Kirchner, 2014, S. 735, 742 ff. m. N.

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metrie des Schadensersatzes kann der Verwalter seine erwartete Haftung senken, indem er die Gefahr größerer Verluste verringert. Dies wiederum kann er dadurch erreichen, dass er weniger Risiken für den Investmentfonds eingeht, also die Variabilität der Renditen senkt. Den Anlegern entgingen so Marktrenditen für (systematische) Risiken, vor allem aber mögliche Überrenditen aus einer aktiven Anlagepolitik.24) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass schwierig zu beurteilende Haftungsfälle aufwendige Rechtsstreitigkeiten nach sich ziehen. Diese Kosten treffen neben den Gerichten die klagenden Anleger und die beklagten Verwalter. Damit mindern sie ebenfalls die Attraktivität der Investmentanlage. 3. Vergleich mit der gesellschaftsrechtlichen Organwalterhaftung Die nachteiligen Folgen einer strengen Schadensersatzhaftung von Fondsverwaltern erinnern an ähnliche Probleme bei Organwaltern im Gesellschaftsrecht. In der Tat gleicht sich die Analyse im Kern: Eine Überkompensation aufgrund der Asymmetrie des Schadensersatzes ist für auf Interessenwahrung gerichtete Rechtsverhältnisse typisch. Desgleichen müssen Organwalter ebenso wie Fondsverwalter häufig komplexe Entscheidungen für ihre Geschäftsherren treffen, was die rechtliche Beurteilung besonders erschwert. Die beiden Elemente bilden denn auch die zutreffende Begründung dafür, Organwaltern im Gesellschaftsrecht einen Ermessensspielraum bei unternehmerischen Entscheidungen zuzugestehen, die business judgment rule. Der Vergleich mit dem Gesellschaftsrecht fördert jedoch wenigstens zwei Besonderheiten zutage, die eine strenge Haftung bei Fondsverwaltern schädlicher erscheinen lässt als bei Organwaltern. Die erste Abweichung ist rechtlich bedingt: (Externe) Kapitalverwaltungsgesellschaften erbringen ihre Leistung für den Investmentfonds in aller Regel durch Arbeitnehmer oder Subunternehmer, selten auch einmal durch ihre Geschäftsleiter. In jedem Fall haften sie für diese Personen nach § 278 BGB oder § 31 BGB. Demgegenüber haben Organwalter ihrer Gesellschaft gegenüber nicht für die von ihnen angeleiteten Arbeitnehmer oder sonstigen Hilfspersonen 24)

Entgegen verbreiteter Ansicht kann eine aktive Verwaltung in Wertpapierfonds Überrenditen erzielen. Die Diskussion kann hier nicht annähernd aufgearbeitet werden. Verwiesen sei nur auf die bahnbrechende Untersuchung von K. J. Martijn Cremers/Antti Petajisto, How Active Is Your Fund Manager? A New Measure That Predicts Performance, Rev. Fin. Stud. 22 (2009), 3329.

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der Gesellschaft einzustehen.25) Damit muss ein Fondsverwalter in erheblichem Umfang für ein Fehlverhalten Dritter einstehen, das er zwar beeinflussen, aber nicht voll kontrollieren kann. Das damit begründete Risiko wirkt sich umso stärker aus, je schwieriger die Anforderungen an ein sorgfältiges Vorgehen festzustellen sind und je mehr die betreffenden Hilfspersonen deshalb zu Aufmerksamkeit und Vorsicht angehalten werden müssen. Der zweite Unterschied betrifft die Anreizwirkung einer strengen Haftung. Für Organwalter kann sich eine Schadensersatzpflicht ruinös auswirken, weil das Privatvermögen einer natürlichen Person häufig nicht ausreicht, um die finanziellen Folgen einer unternehmerischen Fehlentscheidung auszugleichen. Hieraus könnte man folgern, dass Organwalter besonders haftungsempfindlich sind, weil ihnen der Verlust ihres gesamten pfändbaren Vermögens droht. Der Risikoabneigung eines Organwalters steht indes ihre faktische Haftungsbeschränkung gegenüber: Niemand kann mehr an Schadensersatz leisten, als er an Vermögenswerten hat und bis zu einer möglichen Restschuldbefreiung erwirtschaften kann. Bei hohen Schadenssummen kann die erwartete Haftung deshalb weit hinter den erwarteten Schäden zurückbleiben. Dies lässt erwarten, dass die gesellschaftsrechtliche Organwalterhaftung bei vielen unternehmerischen Entscheidungen weder nutzt noch schadet, sondern im Ergebnis leerläuft.26) Hingegen haben Kapitalverwaltungsgesellschaften ein größeres Vermögen als die meisten natürlichen Personen. Der Erwartungswert einer Schadensersatzhaftung ist für sie weitaus höher als für Organwalter. Dementsprechend würde eine strenge Haftung ihr Verhalten stärker verzerren – z. B. zu sehr vor riskanten Anlagestrategien zurückscheuen lassen – als dies bei der gesellschaftsrechtlichen Innenhaftung von Organwaltern der Fall wäre. IV. Anpassung der Schadensersatzhaftung Ungeachtet der im vorangegangenen Abschnitt erhobenen Kritik bleibt natürlich zu beachten, dass das geltende Recht eine Schadensersatzhaftung für Sorgfaltspflichtverletzungen von Fondsverwaltern anordnet. Dies könnte zunächst die Analyse selbst in Frage stellen. Denn in der Investmentpraxis 25)

26)

Anders nur, wenn ein Organwalter die Hilfsperson nicht im Namen der Gesellschaft, sondern für sich selbst einschaltet, BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), Rz. 17, NZG 2011, 1271 = ZIP 2011, 2097. Im Zusammenhang mit der Finanzkrise Engert in: Lomfeld/Somma/Zumbansen, Reshaping Markets, Cambridge (Cambridge University Press), im Erscheinen, unter 7.2.2.

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scheint kaum jemand zu beklagen oder zu befürchten, dass Fondsverwalter wegen der ihnen drohenden Haftung einen zu hohen Sorgfaltsaufwand betrieben oder zu geringe Anlagerisiken eingingen. Indes lässt sich das fehlende Problembewusstsein leicht damit erklären, dass Verwalter tatsächlich kaum je in Anspruch genommen werden.27) Nicht zuletzt Köndgen hat dies immer wieder bedauernd festgestellt und auf den mangelnden Anreiz der Anleger zur Rechtsverfolgung zurückgeführt.28) Zwar können einzelne Anleger Schadensersatzansprüche gegen die Kapitalverwaltungsgesellschaft geltend machen,29) jedoch tragen sie dabei das Prozesskostenrisiko, während sie nur Leistung an den Investmentfonds verlangen können.30) Für Anleger sind Klagen gegen den Verwalter daher individuell wenig attraktiv. Die Verwahrstelle ist zwar zur Rechtsverfolgung verpflichtet (§ 78 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 89 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KAGB), wird aber in der Regel kein Interesse daran haben, Sorgfaltsverstöße des Verwalters aktiv aufzuklären. Nach bisheriger Rechtslage sind Haftungsklagen daher kaum zu erwarten, solange eine Pflichtverletzung nicht ganz offensichtlich ist. Es darf bezweifelt werden, dass die neuen Entschädigungsverfahren nach § 78 Abs. 3, § 89 Abs. 3 KAGB daran viel ändern werden; bei Anlageentscheidungen betreffen sie nur die Verletzung von Anlagegrenzen, zudem müssen sie vom Verwalter betrieben werden.31) Insgesamt konnten sich Verwalter zumindest bisher auf die ausbleibende Durchsetzung von Haftungsansprüchen verlassen. Angesichts dieser (zutreffenden) Erwartung hätte eine zu strenge materielle Haftungsnorm ihr Verhalten nicht beeinflusst. 27)

28) 29)

30)

31)

Dem Verfasser bekannt sind nur: OLG Celle, Urt. v. 13.5.2009 – 3 U 137/08, WM 2009, 1652; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 3.7.2007 – 5 U 22/06, juris; OLG Frankfurt/ M., Urt. v. 2.7.2008 – 23 U 55/07, BKR 2008, 341. In allen drei Fällen bestand die Besonderheit, dass die Klage jeweils von dem einzigen (!) Anleger des Investmentfonds erhoben wurde. Überblick zur äußerst beschränkten Rechtsprechung zu regulierten Investmentfonds bei Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 9 ff. Köndgen/Schmies in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 113 Rz. 137, 139. Die Klagebefugnis ergibt sich bei der Vertragsform (Investmentfonds als Sondervermögen) richtigerweise aus der gemeinschaftlichen vertraglichen Berechtigung i. S. des § 432 BGB, bei der Gesellschaftsform aus einer den § 78 Abs. 1 Satz 2, § 89 Abs. 1 Satz 2 KAGB zu entnehmenden gesetzlichen Prozessstandschaft. So zumindest die bisher h. M. Die von Köndgen initiierte, deutlich vordringende Gegenauffassung möchte dem Anleger einen Anspruch auf Leistung an sich selbst geben, siehe (jeweils mit Nachweisen zur h. M.) Köndgen/Schmies in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 113 Rz. 139; Herring in: Baur/Tappen, InvG, Bd 1, 3. Aufl. 2014, § 78 KAGB Rz. 18 f.; Klusak in: Weitnauer/Boxberger/Anders, KAGB, 2014, § 78 Rz. 12; Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 797 f. Dazu oben Text zu Fn. 11.

Sollten Fondsverwalter für fehlerhafte Anlageentscheidungen haften?

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Damit stellt sich eigentlich nur die Frage, wie die Haftung der Verwalter materiell ausgestaltet und gehandhabt werden sollte, wenn ihre Durchsetzung – aus welchen Gründen auch immer – künftig effektiver würde. Die beste Lösung dürfte darin bestehen, dem Verwalter einen außerordentlich breiten Ermessensspielraum einzuräumen, eine investment judgment rule.32) Wie beim unternehmerischen Ermessen bedeutet dies, die Sorgfaltsprüfung vorrangig auf den Prozess der Entscheidungsfindung zu beziehen und das Entscheidungsergebnis allenfalls noch einer Evidenzkontrolle zu unterwerfen (vgl. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Noch wichtiger ist, dass der Prüfungsmaßstab insgesamt abgesenkt wird; denn auch die Anforderungen an die richtige Entscheidungsfindung sind häufig alles andere als eindeutig. Bezogen auf die oben getroffene Unterscheidung zwischen „schwierig“ und „eindeutig“ zu beurteilenden Sachverhalten läuft dies darauf hinaus, in schwierig zu beurteilenden Fällen eine Haftung des Verwalters durchweg zu verneinen. Der Verwalter sollte also – mit den Worten des Reichsgerichts – nur für das einstehen, „was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen“,33) also gleichsam nur für grobe Fahrlässigkeit. Zwar sieht das Gesetz eine solche Haftungsmilderung weder im allgemeinen Auftragsrecht noch im Investmentrecht ausdrücklich vor. Sie ergibt sich aber aus dem allgemeinen Grundsatz, dass sich Geschäftsbesorger bei eigenverantwortlichen Entscheidungen auf einen Ermessensspielraum berufen können, damit ihnen die Asymmetrie der Schadensersatzhaftung nicht Verlustrisiken aufbürdet, die eigentlich vom Geschäftsherren zu tragen sind.34) Die Rücknahme auf evidente Sorgfaltsverstöße macht die Haftung nicht bedeutungslos. Zum einen bleibt es sinnvoll, den Verwalter von besonders offensichtlichem Fehlverhalten abzuhalten. Zum anderen entfaltet die beschriebene Überkompensation eine Vorwirkung auch in Fällen weniger schwerwiegender Pflichtverletzungen. Die Grenze zwischen eindeutigen 32)

33) 34)

Vgl. Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 668: „Einschätzungsprärogative des Verwalters“, freilich ohne nähere Begründung. Eine investment judgment rule fordert Zetzsche hingegen für die Abweichung von Anlagegrenzen, Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 669 ff. In dieser Allgemeinheit erscheint dies zweifelhaft. RG, Urt. v. 26.5.1933 – VII 69/33, RGZ 141, 129, 131; RG, Urt. v. 4.2.1941 – VI 111/40, RGZ 166, 98, 101 f. In der Kodifizierung des unternehmerischen Ermessens von Vorstandsmitgliedern in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG fehlt der Begriff der „groben Fahrlässigkeit“ nur deshalb, weil der Gesetzgeber die objektive Verhaltenspflicht des Vorstandsmitglieds nicht mit dem Verschulden vermischen wollte, dazu BT-Drucks. 15/5092, S. 11.

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und weniger eindeutigen Verstößen ist nämlich ihrerseits nicht sicher zu ziehen. Angesichts der schwer wiegenden Sanktion wird der Verwalter diese Grenze nicht ausreizen wollen und einen Sicherheitsabstand einhalten. Grundsätzlich gäbe es noch eine zweite Möglichkeit, der Verhaltensverzerrung aufgrund von Überkompensation und unsicheren Sorgfaltsanforderungen zu begegnen: Statt den Pflichtenmaßstab zu lockern, könnte man die Haftungshöhe kürzen, um eine Überabschreckung zu vermeiden. Dies ist kürzlich für die Innenhaftung von Organwaltern vorgeschlagen worden.35) In der theoretischen Betrachtung sind die beiden Optionen zunächst gleichwertig. Für die Anreizwirkung kommt es auf den statistischen Erwartungswert der Haftung bei gegebenem Verhalten an. Um den Erwartungswert zu optimieren, kann man die Wahrscheinlichkeit einer Haftung verringern (indem man die Sorgfaltsanforderung senkt) oder die Haftungssumme herabsetzen. Die zweite Möglichkeit ist aber zumindest im deutschen Recht wenig gebräuchlich. Sie würde ein Gericht vor die ungewöhnliche Aufgabe stellen, den Schadensersatz erstens nach dem Grad der Eindeutigkeit des Sorgfaltsverstoßes und zweitens nach dem Ausmaß der Überkompensation zu kürzen.36) Im Vergleich dazu erscheint eine Lockerung des Sorgfaltsmaßstabs einfacher und für Fondsverwalter leichter nachvollziehbar. Eine vollständig optimale Verhaltenssteuerung ist ohnehin nicht erreichbar. V. Verhaltenssteuerung durch den Markt Im Ergebnis kann eine Schadensersatzhaftung nicht viel dazu beitragen, die Sorgfaltsanreize von Fondsverwaltern zu verbessern. Beschränkt man wie hier vorgeschlagen die Haftung auf ganz offensichtliche Pflichtverletzungen, so ist mit wenigen Schadensersatzklagen und noch weniger Verurteilungen zu rechnen. Die Rechtswirklichkeit könnte so weniger kritikwürdig sein, als es auf den ersten Blick scheint. Dieser skeptische Befund wird erträglicher, wenn man sich vor Augen führt, dass Fondsverwalter nicht nur rechtlichen Beschränkungen unterliegen. Am wichtigsten ist die Disziplinierung durch den Markt: Zwar hin35) 36)

Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 259 ff. Siehe die entsprechende Kritik zur Organwalterhaftung bei Engert in: Lomfeld/Somma/ Zumbansen, Reshaping Markets, Cambridge (Cambridge University Press), im Erscheinen, unter 7.4.2. Zur Schwierigkeit, durch Haftungskürzung eine Überkompensation zu vermeiden, bereits oben Text nach Fn. 12.

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dert die eingangs beschriebene Informationsasymmetrie Anleger daran, einzelne Anlageentscheidungen von Fondsverwaltern nachvollziehen zu können. Indes reagieren Anleger sehr wohl auf die von dem Investmentfonds insgesamt erzielte Rendite, insbesondere im Vergleich zu anderen, konkurrierenden Fonds.37) Betrachtet man Publikumsfonds – bei denen die Informationsasymmetrie am stärksten sein dürfte – so machen die Zuund Abflüsse einen erheblichen Anteil an der Fondsgröße aus.38) Da bei Publikumsfonds Verwalter in der Regel über eine prozentuale Gebühr des verwalteten Vermögens vergütet werden, richtet sich der Wert eines Investmentfonds für sie maßgeblich nach dessen Größe. Dies erzeugt einen starken Anreiz, höhere Renditen zu erzielen als Wettbewerber. Das beste Mittel dazu sind erfolgversprechende, sorgfältig getroffene Anlageentscheidungen. Selbstverständlich ist diese Verhaltenskontrolle über den Markt ebenfalls unvollkommen. So dürfte gerade der Konkurrenzdruck Verwalter teilweise dazu verleiten, das Risiko ihrer Investmentfonds zu erhöhen, ohne dafür entsprechende Renditevorteile zu erlangen.39) Zudem wird Fondsverwaltern vorgehalten, ihre Anlageentscheidungen zu wenig auf die eigenen Erkenntnisse und zu sehr auf die vorherrschende Marktmeinung zu stützen, also „der Herde zu folgen“.40) Indes eignen sich beide Vorwürfe kaum, um eine strengere Schadensersatzhaftung zu begründen. Denn sowohl das einzugehende Risiko als auch die Auswahl von Anlagepositionen gehören zu den Fragen, über die sachkundig und unvoreingenommen Urteilende leicht unterschiedlicher Ansicht sein können. Um einen Fondsverwalter wegen „Herdenverhaltens“ zu verurteilen, müsste sich das urteilende Gericht für klüger halten als eine große Zahl von Marktteilnehmern. Das erscheint wenig ratsam.

37)

38)

39) 40)

Aus der Vielzahl empirischer Belege siehe nur eine Untersuchung aus jüngerer Zeit: Zoran Ivkoviü/Scott Weisbenner, Individual investor mutual fund flows, J. Fin. Econ. 92 (2009), 223, 233 f. (relativer Anlageerfolg maßgeblich für Zu-, nicht aber für Abflüsse). Weitere Nachweise bei Engert, Die Regulierung der Vergütung von Fondsmanagern, ZBB 2014, 108, 111, Fn. 26. Auf Grundlage von Deutsche Bundesbank, Kapitalmarktstatistik November 2007, S. 53 f. errechnet sich, dass die jährlichen (Brutto-)Zuflüsse durchschnittlich 51 % des verwalteten Vermögens der deutschen Aktienfonds in den Jahren 2000 – 2006 erreichten. Überblick mit Nachweisen bei Engert, ZBB 2014, 108, 110 ff. Empirische Studie aus jüngerer Zeit mit Nachweisen auch zur theoretischen Literatur bei Nicole Choi/Richard W. Sias, Institutional industry herding, J. Fin. Econ. 94 (2009), 469.

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VI. Fazit Der Beitrag gelangt zu der Schlussfolgerung, dass eine strengere Kontrolle von Fondsverwaltern mit den Mitteln des Haftungsrechts nicht wünschenswert erscheint. Dem liegt kein grenzenloser Glaube an das freie Spiel der Kräfte zugrunde, sondern umgekehrt Skepsis in Bezug auf die Steuerungsfähigkeit des Rechts – nicht gegen jedes gesellschaftliche Übel wächst ein juristisches Kraut. Insbesondere fällt es in komplexen Zusammenhängen schwer, eindeutige und damit vorhersehbare Anforderungen an das Verhalten der Regelungsadressaten aufzustellen. Eine Haftung bleibt dann entweder wirkungslos oder schießt über das Ziel hinaus. Auch wenn dieses Ergebnis und seine Begründung im vorliegenden Zusammenhang Johannes Köndgen nicht zufriedenstellen mögen, wird er die Auseinandersetzung mit solchen Fragen doch zu schätzen wissen – und hoffentlich weiter an ihr mitwirken.

Investment-based Crowdfunding: Policy Issues and Regulatory Responses GUIDO FERRARINI Contents I. II.

Introduction Policy Issues 1. Expected benefits 2. Main risks 3. Key challenges III. Issuer Regulation 1. The JOBS Act 2. The Prospectus Directive IV. Investment Services Regulation

1. Financial instrument 2. Investment service V. Crowdfunding Regulation 1. United States 2. United Kingdom 3. France 4. Italy VI. Concluding remarks

This paper explores the policy and regulatory issues generated by investmentbased crowdfunding. Section II shows that crowdfunding raises serious investor protection concerns when directed to retail investors. Sections III and IV analyse the treatment of crowdfunding under European law, with particular reference to the Prospectus Directive and MiFID. Section V analyses the provisions adopted at national level to regulate investment-based crowdfunding with particular reference to the US, UK, France and Italy. Section VI concludes by highlighting the potential role of civil liability for false information in crowdfunding. I. Introduction In this paper, I explore the core issues generated by investment-based crowdfunding from a policy and regulatory perspective. I refer, in particular, to the use of reward-based crowdfunding for the offer of equity and debt securities issued by start-ups and small and medium-sized enterprises

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(SME) to investors.1) These offers are addressed to the general public on the Internet through digital platforms, which enable investors to subscribe the investment securities directly on the basis of information published through them by the issuer, concerning the latter and the offered securities.2) A variant of this model is represented by the “private”’ offer of investment securities issued by start-ups to either accredited or professional investors through digital platforms similar to those employed for crowdfunding in general.3) The concept of “marketplace investing” is sometimes used to cover both public and private offers on digital platforms.4) From a policy perspective, crowdfunding entails finding a balance between the benefits of an atomistic distribution of financial instruments, as allowed 1)

2)

3)

4)

For an up-to-date overview of crowdfunding in general, see OECD, New Approaches to SME and Entrepreneurship Financing: Broadening the Range of Instruments, 2015, http://www.oecd.org/cfe/smes/New-Approaches-SME-full-report.pdf, at p. 53 ff. Reward-based crowdfunding includes two types of transactions: lending, whereby investors/lenders receive the interest and the principal by the end of the lending period; equity, where a privately-held company offers securities to the general public through the medium of an online platform. The distinction is therefore made between loan-based crowdfunding – commonly referred to as peer-to-peer (P2P) lending – and equity or investment-based crowdfunding, which is analysed in this paper. A concise description of investment-based crowdfunding is offered by ESMA, Opinion: Investment-based crowdfunding, 18 December 2014 (ESMA/2014/1378), at p. 6 – 7, stating that “it involves at least three parties: the project owner seeking finance, the platform which acts as intermediary between the project and the investor, and the investor who forms part of the ‘crowd’ funding the project. At least one party must also issue an instrument, often but not always a security. Often this will be the project owner seeking the finance. In this case, investors invest directly in the project, either by buying the security or by acquiring the beneficial rights in the security which is held by the platform in a nominee account. In other cases a company, special purpose vehicle (SPV) or collective investment scheme (CIS) established by the platform or a third party will issue a security which is bought by the investor, such that the investor is indirectly exposed to the project“. See e. g. Yannis Pierrakis and Liam Collins, Crowdfunding: a new innovative model of providing funding to projects and businesses, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm? abstract_id=2395226, at p. 4, arguing that “these platforms are a welcome innovation to the field of business angel investing bringing transparency to what is an opaque process and greater visibility of potential investors for start-ups”. The concepts of marketplace and of platform are used interchangeably in alternative finance parlance to designate the web portals where either lending or securities transactions take place. The notion of marketplace lending refers in particular to loan-based crowdfunding, while that of marketplace investing refers to both investment-based and loan-based crowdfunding (and similar activities). See, amongst many, Ryan Caldbeck Why An Equity Crowdfunding Site Could Become The Largest Marketplace In The World, Forbes, November 11, 2013, http://www.forbes.com/sites/ryancaldbeck/ 2013/11/11/why-an-equity-crowdfunding-site-could-become-the-largest-marketplacein-the-world/.

Investment-based Crowdfunding: Policy Issues and Regulatory Responses

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by the internet, and the costs of investor protection in a system that by lowering the distribution costs makes fraud more likely.5) Moreover, insufficient control by investors will likely aggravate the moral hazard of issuers, for the low amounts invested by the individuals in the crowd may not justify the time and effort required for selecting and monitoring their investments. This raises the question whether and to what extent crowdfunding should be incentivised under capital markets law through carveouts in prospectus and investment services regulation.6) II. Policy Issues 1. Expected benefits In a 2014 Communication the European Commission explored the issues and perspectives of crowdfunding in the European Union, arguing that there is great potential in it to complement traditional sources of finance and contribute to the financing of the real economy.7) In the Commission’s opinion, crowdfunding can offer various benefits to a large spectrum of users.8) Indeed, access to finance is one of the most pressing problems for SMEs, due to deterioration in public financial support, ac-

5)

6) 7)

8)

On the comparative law, economics and policy aspects of crowdfunding, see Ross S. Weinstein, Crowdfunding in the U.S. and Abroad: What to Expect When You’re Expecting, 2013, 46 Cornell International Law Journal 427; Eugenia Macchiavello, Peer-to-peer lending and the “democratization” of credit markets: another financial innovation puzzling regulators, 2015, Columbia Journal of European Law (forthcoming). C. Steven Bradford, The New Federal Crowdfunding Exemption: Promise Unfulfilled, 2012, Securities Regulation Law Journal 195. See Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic Council and the Committee of the Regions, Unleashing the potential of Crowdfunding in the European Union, Brussels, 27.3.2014, COM(2014) 172 final, 2. On the general framework of the Commission’s initiatives in this area, see the Green Paper, Long Term Financing of the European Economy, COM(2013) 150 final 25.3.2013 (dealing with the different factors that enable the European economy to channel funds towards the long term investments needed to ensure economic growth) and the follow-up Communication on Long Term Financing of the European Economy, Brussels, 27.3.2014, COM(2014) 168 final (outlining priority areas where the Commission intends to take initiatives to help SMEs attract funding, one of which is crowdfunding). Communication, Unleashing the potential of Crowdfunding in the European Union, Brussels, 27.3.2014, COM(2014) 172 final, note 7, at p. 4, making reference to crowdfunding’s “flexibility, community engagement, and the variety of financing forms it can offer”.

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cess to loans, trade credit and the willingness of investors to invest in equity: “Many projects demand for financing is not met by any existing source of finance, which is referred to generally as the financing gap […] Crowdfunding matches small – or even bigger – contributors and investors directly with the projects in need of funds, mainly in the early stages”.9)

In addition, crowdfunding can foster entrepreneurship by offering “an additional market testing and marketing tool, which can help entrepreneurs acquiring relevant knowledge of customers and media exposure”.10)

Moreover, from the investors’ perspective, crowdfunding “offers direct choice over where to put one’s money and a sense of involvement with the project”.11)

Furthermore, it can stifle innovation by “financing innovative projects that do not have the level of maturity that traditional financial market sources require”.12)

Compared to other types of finance, it can also reduce transaction costs for SMEs.13) 2. Main risks Of course, there are risks to crowdfunding activities. An IOSCO working paper of February 201414) analyses the potential systemic risks of “financial return” (FR) crowdfunding (which includes peer-to-peer lending and equity crowdfunding) and the main investor protection concerns arising from these activities.15) No doubt, the size of the equity crowdfunding

9) 10) 11) 12)

13)

14) 15)

Ibid. Ibid., at p. 4 – 5. Ibid., at p. 5. Ibid.; see also Guido Ferrarini and Andrea Ottolia, Corporate Disclosure as a Transaction Cost: The Case of SMEs, European Review of Contract Law, 2013, 9, 363, at p. 382, highlighting the use of crowdfunding portals for the voluntary disclosure of e.g. rankings of VCs and angels investing in the issuer, online systems providing independent IPRs and business plan evaluation systems, in order to help investors to analyse the quality of innovation. Guido Ferrarini and Andrea Ottolia, Corporate Disclosure as a Transaction Cost: The Case of SMEs, European Review of Contract Law, 2013, 9, 363, note 12, at p. 375 ff., analysing crowdfunding as a tool for reducing information and transaction costs in general. Eleanor Kirby and Shane Worner, Crowd-funding: An Infant Industry Growing Fast, Staff Working Paper of the IOSCO Research Department, February 2014. Ibid., at p. 33 ff.

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market is small also in the UK, which is the country where marketplace investing is more successful.16) Globally, “there are very few equity crowdfunding platforms, with the majority focusing on angel investors or sophisticated investors due to regulatory requirements”.17)

This reduces concerns as to the relevance of equity crowdfunding to systemic stability. Nonetheless, several risks arise to investors participating in the relevant activities. –

Firstly, “there is little to no secondary market for the equity of startup companies”.18) The only realistic chance that an investor has of liquidating her holding in a start-up is in the case of a public float.19) Liquidity events, however, may also occur if the company is sold to another firm or to a private equity or venture capital investor.



Secondly, the crowdfunding market is highly concentrated as there are few established players; furthermore, there is the risk of investors’ exposure to a single asset. In the case of equity crowdfunding, “both the practices and regulations are designed to protect investors from concentration risk and prevent them from incurring losses”.20)



Thirdly, the crowdfunding market is relatively transparent, but there are risks to transparency in the absence of regulation, particularly if the equity offer does not fall under the prospectus obligation (see sec. III below). The lack of sufficient disclosure could lead retail investors to losses for they “may not adequately understand the risks involved, invest in a product not aligned with their risk appetite and ultimately incur a loss which they may not have the resources to absorb”.21)

16) 17) 18) 19)

Ibid., at p. 36. Ibid. Ibid., at p. 36 – 37. Ibid., where the authors specify that the liquidity risk will depend on the type of investors involved: “[…] if the investors in equity crowd-funding are inexperienced and unaware, they might overreact in times of stressed market conditions or difficult personal circumstances. This raises concerns about investor protection and has led to many jurisdictions placing limits on who can invest in such equity. In some cases platforms are only allowed to market to sophisticated investors, and/or are limited to the number of individuals such investments can be marketed to”. Ibid., at p. 41. Ibid.

20) 21)

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Fourthly, there are risks of fraud to investors (which are enhanced by the lack of disclosure) and of money laundering through crowdfunding platforms.

The IOSCO paper also highlights concerns relating to investor experience: “investors can and do make decisions based on personal biases and persuasive narrative, rather than on financial experience, due to the social networking aspect of peer-to peer lending platforms”22)

and of equity crowdfunding. 3. Key challenges Financial return crowdfunding is subject to several rules at both European Union and national level, which are intended to reduce some if not all the highlighted risks (some of them are analysed in sec. III and IV below).23) Moreover, some Member States have already taken specific regulatory action to facilitate crowdfunding, while also aiming to adequately protect investors (as shown in sec. V below). However, “the danger is that too burdensome and premature regulatory action could stymie the development of crowdfunding, while too lax policies could lead to losses to investors, harming consumer confidence and trust in crowdfunding”.24)

Moreover, the different approaches adopted in Member States, some of which rely on mere guidelines, may create legal uncertainty at European level, where different regimes are in place for investment-based crowdfunding possibly raising the need for harmonisation (see sec. VI below). III. Issuer Regulation The success of investment-based crowdfunding in practice is highly dependent on issuer regulation, for the issuers are either start-ups or SMEs that cannot afford high regulatory costs. In fact, this type of crowdfunding better develops under the radar-screen of regulation, i. e. where prospectus and disclosure duties either do not apply or apply more lightly than under ordinary rules. 22) 23)

24)

Ibid., at p. 44. Communication, Unleashing the potential of Crowdfunding in the European Union, Brussels, 27.3.2014, COM(2014) 172 final, note 7, at p. 6 – 7, citing the various EU directives in the areas of prospectuses, payment services, markets in financial instruments, capital requirements, alternative investments, consumer credit, distance marketing etc., and emphasizing that at national level different additional rules may apply. Ibid., at p. 7.

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1. The JOBS Act In the United States, the Jumpstart Our Business Start-ups Act (JOBS Act) sought to create more opportunities for start-ups to raise capital by issuing securities to investors. When the Act was passed in April 2012, the concept of reward-based crowdfunding was already established.25) However, regulation of public offers made it difficult for start-ups to sell equity to a broad range of investors. No doubt, Regulation D rule 506 allows firms to issue securities through private placements under specific exemptions, but the original rule 506 did not permit issuers to publicly advertise these offerings. Title II of the JOBS Act called the SEC to lift the relevant ban and in September 2013 new SEC rules went into effect. Under new Regulation D rule 506, issuers are enabled to use general solicitation and general advertising to offer their securities, provided that they take reasonable steps to verify that the buyers of the private securities are accredited. A similar provision has allowed equity crowdfunding-type of offers to develop, which are directed to accredited investors through digital platforms in accord with SEC’s no action letters.26) However, these private offers are a special type of crowdfunding, for they are not addressed to the general public. Title III of the JOBS Act seeks to facilitate the use of crowdfunding in general by adding a new section 4(6) offering registration exemption to the Securities Act.27) Section 4(6) exempts offerings of $ 1 million or less, provided that no investor exceeds an individual investment cap based on the investor’s annual income and net worth.28) The securities must be sold through a broker or funding portal that complies with the requirements of section 4A(a) of the Securities Act, 25)

26) 27) 28)

See C. Steven Bradford, Crowdfunding and the Federal Securities Laws, 2012, Columbia Business Law Review, 1, 16, stating that the reward crowdfunding model offers something to the investor in return for his contribution, but does not offer interest or part of the earnings of the business. In the pre-purchase model, the contributors receive the product that the entrepreneur is making. See e. g. no action letter to AngelList LLC, https://www.sec.gov/divisions/marketreg/ mr-noaction/2013/angellist-15a1.pdf. See C. Steven Bradford, The New Federal Crowdfunding Exemption: Promise Unfulfilled, 2012, 40 Securities Regulation Law Journal 197. The aggregate amount sold to any investor by an issuer should not exceed (i) the greater of $ 2,000 or 5 percent of the annual income or net worth of such investor, as applicable, if either the annual income or the net worth of the investor is less than 100,000; and (ii) 10 percent of the annual income or net worth of such investor, as applicable, not to exceed the maximum aggregate amount sold of $ 100,000, if either the annual income or net worth of the investor is equal to or more than $ 100,000.

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and the issuer must meet the disclosure requirements of new section 4A(b) (see sec. V, para. 1, below). 2. The Prospectus Directive In Europe, the Prospectus Directive (Directive 2003/71/EC, amended by Directive 2010/73/EU) offers room for crowdfunding under Article 1.2(h) stating that the Directive shall not apply to “securities included in an offer where the total consideration for the offer in the Union is less than EUR 5,000,0000 which shall be calculated over a period of 12 months”.

This allows Member States to introduce a corresponding exemption from the prospectus obligation for issues under the stated amount.29) Considering that the securities distributed on crowdfunding platforms are generally of a relatively small total amount, the present exemption is largely sufficient to allow for crowdfunding platforms to be exempt from prospectus obligations. However, individual jurisdictions may introduce disclosure obligations that the platforms should in any case comply with respect to the securities issued on them (see sec. V below). IV. Investment Services Regulation Investment-based crowdfunding implies some form of intermediation between issuers and investors. However, whether it also gives rise to an investment service in the legal sense and what kind of service is possibly involved are questions not always easy to answer. Firstly, the investment should refer to a financial instrument. Secondly, the digital platform should not restrain its activity to the listing of investment opportunities, but offer a facility for the execution of transactions between issuers and investors. 1. Financial instrument MiFID sets out a list of financial instruments at Section C of Annex 1. The financial instruments most likely to be used in crowdfunding are “transferable securities” such as shares or “mini-bonds”, though others 29)

On the Prospectus Directive’s exemptions and their rationale see Guido Ferrarini and Andrea Ottolia, Corporate Disclosure as a Transaction Cost: The Case of SMEs, European Review of Contract Law, 2013, 9, 363, note 12, at p. 374.

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would be allowed (e. g. units in collective investment undertakings).30) Some Member States, including Austria, Belgium, Germany and Sweden, have experience of investment-based crowdfunding using forms of participation that are not considered to be financial instruments under MiFID. Consequently, the relevant platforms do not have to be authorized as investment intermediaries.31) The absence of a financial instrument in principle bars loan-based crowdfunding from qualifying as an investment service. Nonetheless, the issuance of transferable securities is conceivable also for loan-based crowdfunding and is actually the practice in the United States, where the loans granted to individuals (P2P) or firms (P2B) are first securitised and then sold to the clients of crowdfunding platforms.32) Such a practice makes the two types of crowdfunding very similar and both subject to SEC jurisdiction. However, the analogy between investment-based and loan-based crowdfunding is strong even when the latter does not foresee the issuance of transferable securities, but the investors get slices of the loans collectively extended by them through the platform. Building on this analogy, UK law treats the two types of crowdfunding similarly, broadly applying the same rules to them (sec. V 2 below). 2. Investment service When the platform actively facilitates the execution of transactions concerning financial instruments, the need arises to identify the type of investment service performed.33) As argued by ESMA, the activity most likely to be carried out by investment-based crowdfunding platforms, in

30) 31) 32) 33)

ESMA, Opinion: Investment-based crowdfunding, 18 December 2014 (ESMA/2014/ 1378), note 2, at p. 14. Ibid. Eleanor Kirby and Shane Worner, Crowd-funding: An Infant Industry Growing Fast, Staff Working Paper of the IOSCO Research Department, February 2014. Some early-stage investment platforms restrain their activity to the listing of investment opportunities concerning start-ups: see e. g. Gust (https://gust.com/about) and AngelList (https://angel.co). To the extent that these platforms offer mere information services, US broker-dealer regulation does not seem to apply. Some US crowdfunding platforms do not offer brokerage services directly to investors, but partner with broker-dealers: e.g. EquityNet (https://www.equitynet.com) and CircleUp (https://circleup.com) which employs a wholly owned subsidiary registered as brokerdealer.

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the absence of regulatory constraints, is the reception and transmission of orders: “the platform receives orders from investors and transmits them to the issuer or another third party intermediary”.34)

This view is implicit in the Italian regime of equity crowdfunding platforms (sec. V 4 below), which is based on the optional exemption foreseen under Article 3 MiFID for firms providing only the service of reception and transmission of orders in transferable securities. ESMA further argues that the service/activity of investment advice is generally not part of the crowdfunding model; however, depending on how platforms present projects, they might in fact make recommendations constituting investment advice,35) which is defined by Article 4(1)(4) MiFID as ‘the provision of personal recommendations to a client, either upon its request or at the initiative of the investment firm, in respect of one or more transactions relating to financial instruments’. Nonetheless, ESMA acknowledges that reliance on the platform’s due diligence concerning the proposed investments could lead investors to consider that they are receiving advice even in the absence of personal communications.36) The French regime of crowdfunding platforms, which is based on the optional exemption foreseen by Article 3 MiFID with respect to firms that only provide investment advice to clients, pushes this view to the point of considering investment advice as a characterrizing feature of crowdfunding (see sec. V below). In theory, also the service/activity of placing could define crowdfunding from a MiFID’s perspective. Indeed, the question was examined by ESMA “whether platforms that undertake market offers for project owners are thereby carrying out the MiFID service/activity of placing without a firm commitment basis in regard to project owners”.37)

MiFID does not define this service, while traditional public and private placements are in many respects different in practice from crowdfunding through digital platforms. However, one cannot exclude a priori the case 34)

35) 36) 37)

ESMA, Opinion: Investment-based crowdfunding, 18 December 2014 (ESMA/2014/ 1378), note 2, at p. 16, mentioning that Article 4(1)5 of MiFID 2 clarifies that the concept of order is relevant both in primary and secondary markets. In ESMA’s opinion, the service/activity of execution of order on behalf of clients is generally excluded from the crowdfunding business model. Ibid., at p. 17 Ibid. Ibid.

Investment-based Crowdfunding: Policy Issues and Regulatory Responses

193

of a platform offering to its clients the service/activity of placing without a firm commitment basis.38) The agreements entered into between the platform and its clients and other circumstances will show whether the relevant activity should be defined as either receiving orders from investors or placing securities on behalf of issuers. The impact of the relevant choice depends on the applicable law and the relevant circumstances. In principle, the characterization of the service as placement may create a risk of liability for the platform, to the extent that the latter may be seen as bound to perform due diligence with respect to the offered securities and their issuer. V. Crowdfunding Regulation According to research by IOSCO, at least three regulatory regimes can be identified from a comparative perspective.39) The first bans equity crowdfunding altogether. The second treats crowdfunding as lawful, but creates high barriers to entry, so that there is no market in practice. The third regime regulates either the type or the number of investors allowed, the size of the issuers and other aspects. The JOBS Act in the United States, the UK crowdfunding rules, the French law on financement participatif and the Italian law on equity crowdfunding offer different examples of this enabling approach, as shown below in this section.40) 1. United States Title III of the Jumpstart Our Business Startups (JOBS Act) 2012 (also known as the Crowdfunding Act) tempers the requirements concerning public offers under the 1933 Securities Act so as to reduce the regulatory 38) 39)

40)

Ibid. Eleanor Kirby and Shane Worner, Crowd-funding: An Infant Industry Growing Fast, Staff Working Paper of the IOSCO Research Department, February 2014, note 14, at p. 29 ff. An example of light-touch regulation is offered in Europe by the Netherlands: see Ronald Kleverlaan, A view from the field – The Netherlands, in: Rober Wardrop et al., Moving Mainstream. The European Alternative Finance Benchmarking Report, University of Cambridge – EY, February 2015, 30: “There is no specific crowdfunding regulation in the Netherlands. At the moment, 30 companies have a licence or exemption to offer financial products through online platforms based on existing financial regulations. For investors, it is not permitted to either invest in more than 100 projects, invest more than € 20,000 in equity through an online platform, or invest more than € 40,000 in debt. For projects raising in excess of € 2,5m a prospectus is required”.

194

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costs of crowdfunding for the issuer and the platform, while maintaining a sufficient level of investor protection.41) New Art. 4 (a) (6) of the Securities Act, which carries exemptions from the registration requirement, exempts transactions involving the offer or sale of securities by an issuer provided that: –

the aggregate amount sold to all investors by the issuer, including any amount sold in reliance on the exemption at issue, during the 12 months period preceding the date of such transaction, is not more than $ 1,000,000;



the aggregate amount sold to any investor by an issuer, including any amount sold in reliance on the exemption at issue during the 12-month preceding the date of such transaction, does not exceed –

the greater of $ 2,000 or 5 per cent of the annual income or net worth of such investor, as applicable, if either the annual income or the net worth of the investor is less than $ 100,000; and



10 per cent of the annual income or net worth of such investor, as applicable, not to exceed a maximum aggregate amount sold of $ 100,000, if either the annual income or net worth of the investor is equal to or more than $ 100,000.

These “carve-outs” from prospectus regulation will become effective only after the SEC has adopted the Crowdfunding Regulation implementing the Crowdfunding Act.42) This Act was designed to help provide startups and small businesses with capital by making relatively low dollar offerings of securities less costly.43) They also permit Internet-based platforms to facilitate the offer and sale of securities without having to register with the Commission as brokers. However, the issuer must comply with the minimum information requirements specified by sec. 302(b) of the Crowdfunding Act, modifying sec. 4A of the Securities Act. They are relatively 41)

42)

43)

Title III of the Crowdfunding Act amended Securities Act Section 4 to add Section 4(6). However, Title II of the JOBS Act also amended Securities Act Section 4 and inserted subsections (a) and (b). The US Code implemented the amendment by adding paragraph (6) at the end of subsection (a). The SEC has proposed new rules and forms to implement Securities Act Sections 4(a)(6) and 4A and Exchange Act Sections 3(h) and 12(g)(6): Securities and Exchange Commission,17 CFR Parts 200, 227, 232, 239, 240 and 249 [Release Nos. 33-9470; 3470741; File No. S7-09-13] RIN 3235-AL37 Crowdfunding. Until these rules are adopted and become effective, issuers and intermediaries may not rely on the exemption provided under Section 4(a)(6). Ibid., p. 7, making reference to the relevant congressional works.

Investment-based Crowdfunding: Policy Issues and Regulatory Responses

195

wide in scope and require the issuance of relevant information to the SEC, investors, potential investors and intermediaries through which the offer is undertaken. The Crowdfunding Act was extensively criticized by an informed commentator,44) who argued that the complexity and costs of the relevant requirements for issuers and intermediaries will make crowdfunding too expensive, while the too generous limits within which the same is allowed will facilitate fraud and pose high risks for investors. 2. United Kingdom The UK Financial Conduct Authority announced its approach to crowdfunding in a 2013 Consultation Paper, where the distinction between investment-based and loan-based crowdfunding was introduced.45) The FCA already regulated investment-based crowdfunding, i. e. raising money by arranging the sale of unlisted equity or debt securities, and the firms operating the relevant platforms needed to be authorized. However, to protect retail investors, the FCA imposed restrictions on firms applying for authorization to operate a crowdfunding platform, placing limits on the type of client with whom firms could transact. The Consultation Paper proposed a new approach to conduct of business rules as applied to crowdfunding, which would become available to more retail investors than before “with appropriate safeguards to check that investors are able to understand and bear the risks involved”.46) Indeed, when investing in unlisted securities “that are hard to value independently or sell on a secondary market” investors face “significant risks”, which justify the requirement to offer investments on crowdfunding platforms (or using other media) only to certain types of retail investor, such as those who take regulated advice, those who qualify as high net worth or sophisticated investors, or those who confirm they will invest less than 10 % of their net assets in this type of security.47) Rules for investor protection were also introduced for loan-based crowdfunding, assuming however that investment via P2P and similar platforms 44) 45) 46) 47)

C. Steven Bradford, The New Federal Crowdfunding Exemption: Promise Unfulfilled, 2012, 40 Securities Regulation Law Journal 197. See FCA, The FCA’s regulatory approach to crowdfunding and similar activities, CP13/13, October 2013, p. 4. Ibid., p. 5. See FCA, The FCA’s regulatory approach to crowdfunding over the internet, and the promotion of non-readily realisable securities by other media. Feedback to CP13/13 and final rules, PS14/4, March 2014, p. 7, and FCA Handbook, COBS 4.7.7R to COBS 4.7.10R.

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is generally of lower risk than that made via investment-based platforms.48) The 2014 regime is based on FCA’s approach to investments and is primarily a disclosure regime. The rules that apply to protect investors “focus on ensuring that consumers interested in lending to individuals or business have access to clear information. This allows them to assess the risk and to understand who will ultimately borrow the money”.49)

Moreover, client money must be protected and firms must meet minimum capital standards. In addition, firms running the crowdfunding platforms are required to have a resolution plan in place, so that in the event of a platform collapsing loan repayments will continue to be collected and the lenders will not lose out.50) 3. France In 2014 France introduced a regime of financement participatif, which is applicable to both investment based and loan-based crowdfunding.51) The crowdfunding of financial instruments issued by non-listed companies must occur either through a crowdfunding investment advisor (Conseiller en Investissement Participatif – CIP) or an investment firm authorized to perform the service of investment advice (Prestataire en Services d’investissement – PSI).52) The crowdlending (prêt participative) should take place through a crowdfunding intermediary (intermédiaire en financement participatif – IFP), i. e. a web-platform that acts as an intermediary between lenders and borrowers.53) 48) 49) 50) 51) 52)

53)

See FCA, The FCA’s regulatory approach to crowdfunding and similar activities, CP13/13, October 2013, p. 6. See FCA, A review of the regulatory regime for crowdfunding and the promotion of non-readily realisable securities by other media, February 2015, p. 2. Ibid. Ordinance n°2014-559 of 30 May 2014 and implementing decree n°2014-1053 of 16 September 2014. The differences between a CIP and a PSI are quite relevant. A CIP can only deal in ordinary shares and fixed-rate bonds and cannot offer its services outside France in the EEA. In addition, it cannot hold instruments or money of its clients and is not subject to special capital requirements. A PSI can deal in all kinds of instruments and offer its services under a passport in all EEA countries. It is allowed to hold money and instruments of clients and is subject to capital requirements and other prudential requirements. Both CIPs and PSIs are subject to organization requirements and rules of conduct stated in the general regulation of the Autoritè de Marchès Financiers (AMF, the French securities supervisor). IFPs are registered in the national register of financial intermediaries and lack a European passport. Their activity is limited in scope to crowdlending, but can also be exercised by other financial intermediaries (such as banks, investment firms, insurance companies, etc.) and by CIPs.

Investment-based Crowdfunding: Policy Issues and Regulatory Responses

197

Investment-based crowdfunding is therefore characterized in France by the provision of advice to clients. As argued above, this does not reflect international practice, which sees the essence of crowdfunding either in the reception and transmission of orders or in the placement of financial instruments, while investment recommendations may be offered by the platform to its clients depending on the circumstances (sec. IV 2 above). The reference to investment advice helps to understand why a CIP, which is not an investment firm, can offer investment-based crowdfunding under the optional exemption foreseen by Article 3 MiFID (regarding firms that only offer services of “reception and transmission of orders in transferable securities and units in collective undertakings and/or the provision of investment advice in relation to such financial instruments”). Under the French crowdfunding regime, the platform must perform such service in the best interest of clients, including the selection of offers, the due diligence checks, the disclosure of risks and other information, and the adequacy test concerning the investment. In particular, the platform must provide investors with all the information needed to assess their investment, including that concerning the issuer’s project, its financial accounts, the securities offered and the relevant rights, such as voting rights, shareholder agreements and specific clauses of the articles of association, etc.54) 4. Italy In 2012 Italy adopted a special regime on equity crowdfunding,55) which was only applicable to the distribution of financial instruments issued by “innovative start-up” companies.56) In 2015 the law was amended to cover also the instruments issued by “innovative SMEs”, companies investing in 54)

55)

56)

The duty to inform investors implies that there is also a duty of the platform to get informed about the offered investment: see Régis Vabres, Les statuts et les obligations des plates-formes de crowdfunding equity, in: Anne-Valérie Le Fur (ed), Le cadre juridique du crowdfunding. Analyses prospectives, 51 – 168, at p. 163. Decree no. 179/2012 (so called “second growth decree”) regulating public offers undertaken through crowdfunding portals with respect to financial instruments issued by innovative start-ups companies (introducing new Article 100-ter, paragraph 1, Consolidated Financial Services Act) and Consob Regulation of 26 June 2013. In order to be defined as innovative start-up, a company must, alternatively, have made investments in research and development up to a relevant amount, employ a minimum number of highly qualified employee or consultants, hold (or be the licensee of) at least one intellectual property right. Furthermore at least 51 % of its shareholders must be individuals; the company should not have been incorporated for more than 48 months or be the result of a merger or transfer of business.

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innovative start-ups/SMEs and collective investment undertakings.57) The policy goal is to support innovative firms in general that typically suffer from financing problems caused by information inefficiencies58) and let them benefit of the lower transaction costs of equity crowdfunding.59) In order to contain regulatory costs, Italian law allows equity crowdfunding activities to be performed by online portals managed by firms other than banks or investments undertakings (under the optional exemption foreseen by Article 3 MiFID for the service of reception and transmission of orders). However, the portals should transmit their clients’ orders exclusively to banks or investment firms for execution. In addition, the firms managing these portals must be registered at Consob (the Securities Commission). Moreover, the law only applies to issuers offering less than € 5,000,000 over 12 months, the same threshold foreseen by the prospectus exemption as implemented in Italy (see sec. III above). However, unlike the US JOBS Act, the Italian regime does not contain any limitation as to the overall amount of financial instruments that can be sold to a single investor through crowdfunding.60) The Italian regime also includes significant disclosure obligations and other requirements meant to contain the risk of fraud by the issuers. –

Firstly, the managers of online portals must describe their activity, disclose the identity of their controlling shareholders and directors and the measures adopted for the prevention of frauds and conflicts of interests. They also have to provide investors with detailed information about the financial instruments issued through the crowdfunding portal and explain the relevant risks, including the risk of loss of capital and that of illiquidity of the relevant investment. In addition, shareholders agreements must be disclosed to investors.

57) 58)

See Legislative Decree 24 January 2015, No. 3, converted into Law 24 march 2015, No. 33. Curtis J. Milhaupt, The Small Firm Financing Problem: Private Information and Public Policy, 1998, Journal of Small and Emerging Business Law 177, at p. 178. J. Howe, Crowdsourcing: Why the Power of the Crowd is Driving the Future of Business, New York: Crown Business 2008, 247, stressing the point that investors and new ventures get connected regardless of the geographic areas of provenance. Rather, the Italian regime takes care of the illiquidity problem affecting the financial instruments issued through crowdfunding by requiring investors to be granted either a withdrawal right and/or drag-along obligation in the start-up company’s charter for the case that the controlling shareholders sell their shares to third parties (see rule 24.1 a) of Consob Regulation on crowdfunding.

59)

60)

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199

Secondly, any investment offered by way of equity crowdfunding must be finalized through a Consob registered broker-dealer (provided the individual amount invested is above € 500,00 per investment and € 1,000,00 per year). Moreover, professional investors should underwrite at least five per cent of the total amount of an issue. VI. Concluding remarks

This paper has shown that investment-based crowdfunding raises serious investor protection concerns particularly when it is directed to retail investors. The small size and relative opacity of the issuers, the absence of a business history for start-ups and the difficulty of assessing the business models of innovative firms aggravate the information asymmetries that are typical of capital market transactions. Moreover, the illiquidity of financial instruments issued on crowdfunding platforms makes an exit from the investment difficult if not impossible, except for cases in which a liquidity event occurs (such as an acquisition of the issuer by a venture capital company) and the outside investors are either allowed or required to sell their equity to the new entrants. Diversification is therefore important for managing the risks of investments on crowdfunding platforms, but only institutional investors or affluent individuals can create the portfolios required for efficient diversification. Also the information asymmetries characterizing investments in SMEs’ securities require the knowledge and competence of professional investors, while retail investors suffer from these asymmetries unless assisted by specialised advisors. All this explains some of the provisions adopted at national level to regulate investment-based crowdfunding. As already seen (sec. V 1), US regulation makes the exemption from the registration requirement of public offers conditional upon compliance with the limits to the aggregate amounts of securities sold by an issuer to an individual investor, so as to restrain the risk exposure of such investor in consideration of her income and/or net worth. Private offers benefit from another type of exemption from registration requirements, which has made it possible for US crowdfunding platforms in the field of angel investing to develop successfully by focussing on accreditted investors. UK regulation follows a similar approach (sec. V 2) by specifying the categories of retail investor who can get access to investment-based crowdfunding, depending on whether they take regulated advice or qualify as high net worth or sophisticated investors, or invest less than 10 % of their assets in the relevant securities.

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Other regulatory frameworks (like the French and Italian) do not make recourse to crowdfunding by retail investors conditional upon compliance with given requirements or limits, but emphasize the roles of disclosure and/or advice duties and of the intermediary’s liability for breach of similar duties as an investor protection mechanism (sec. V 3 and 4). However, the issue of civil liability is also underlined in the United States, where the implications of the Crowdfunding Act in this area have been thoroughly analysed by a securities regulation scholar who argued that the law on many of these questions is still unresolved.61) Indeed, the new rules require crowdfunding intermediaries to post detailed disclosure provided by issuers, so that a great deal of the information on crowdfunding platforms will be provided by people other than the intermediary. However, neither the statute nor the proposed SEC rules “have much to say about the intermediary’s obligation to verify that information or the intermediary’s liability if that information is false or misleading”.62)

The situation in Europe does not appear to be much different, given that both the platform’s obligation to verify the published material and its civil liability for posting fraudulent information and/or wrong advice are left undefined by the national crowdfunding provisions examined above.63) The resulting theoretical issues, that the present paper can only highlight by way of conclusion and future research will hopefully develop, are similar to the ones that Johannes Köndgen magisterially analysed more than 30 years ago in his well known paper on prospectus liability, where he suggested to focus on the economic roles played by the various parties of the relevant transaction and to identify liability criteria which functionally reflect these roles.64) Following his lesson, the economic roles and expectations of the parties to a crowdfunding transaction (issuer, platform/intermediary and investors) will have to be analysed in light of current multifarious practices and appropriate liability criteria will have to be designed for the intermediaries reflecting the roles played by each party in the different contexts examined throughout this paper. 61) 62) 63)

64)

C. Steven Bradford, Shooting the Messenger: The Liability of Crowdfunding Intermediaries for the Fraud of Others, 2014, University of Cincinnati Law Review, 83, 371. Ibid., at p. 372 – 373. See Régis Vabres, Les statuts et les obligations des plates-formes de crowdfunding equity, in: Anne-Valérie Le Fur (ed), Le cadre juridique du crowdfunding. Analyses prospectives, 51 – 168, note 54 above, at p. 162 ff. Johannes Köndgen, Zur Theorie der Prospekthaftung, Die Aktiengesellschaft 1983, 85, at p. 93 ff.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile – Eine rechtsvergleichende Skizze – HOLGER FLEISCHER Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Gewinn- und stimmrechtslose Anteile im Spiegel der Rechtsvergleichung 1. Gesellschaftsanteile ohne Gewinnbeteiligung 2. Gesellschaftsanteile ohne Stimmrecht 3. Gesellschaftsanteile ohne Gewinnund Stimmrecht

III. Gewinn- und stimmrechtslose Anteile im deutschen Recht 1. Gesellschaftsanteile ohne Gewinnbeteiligung 2. Gesellschaftsanteile ohne Stimmrecht 3. Gesellschaftsanteile ohne Gewinnund Stimmrecht IV. Ergebnisse

Johannes Köndgen hat in seinem reichen Oeuvre zum Privat- und Wirtschaftsrecht fast durchgängig auf die Kraft rechtsvergleichender Argumente vertraut. Seine besondere Vorliebe gilt dem US-amerikanischen Recht,1) aber auch andere Jurisdiktionen zieht er häufig heran.2) Daher hoffe ich auf sein Interesse, wenn ich mich hier mit einem Beitrag zur Gesellschaftsrechtsvergleichung in die Schar der Gratulanten zu seinem 70. Geburtstag einreihe – dies in dankbarer Erinnerung an viele anregende Gespräche im Bonner Juridicum. I. Einführung Nach der gesellschaftsrechtlichen Wandtafelsystematik pflegt man die Mitgliedschaftsrechte in Mitverwaltungs- und Vermögensrechte zu unterteilen.3) Anschaulicher spricht man in der französischen Doktrin auch von

1) 2)

3)

Vgl. etwa Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 17 ff. Vgl. etwa Köndgen, Haftpflichtfunktionen und Immaterialschaden am Beispiel von Schmerzensgeld bei Gefährdungshaftung, 1976, S. 105 ff. (Schweiz, England, Frankreich). Dazu Windbichler, Gesellschaftsrecht, 23. Aufl. 2013, § 7 Rz. 7 f.; noch weiter differenzierend zwischen Teilhabe-, Vermögens- und Schutzrechten etwa K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 19 III 3, S. 557 f.

202

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droits politiques und droits financiers.4) In die erste Rubrik fällt das Stimmrecht, in die zweite das Gewinnbezugsrecht. Der vorliegende Beitrag untersucht, ob diese beiden Rechte begriffsnotwendig mit einer Gesellschafterstellung verbunden sind: Gehören sie zu den essentialia einer Verbandsmitgliedschaft in Personengesellschaft und GmbH oder können sie im Gesellschaftsvertrag abbedungen werden? Ist es zulässig, einzelne Gesellschafter sowohl vom Stimm- als auch vom Gewinnrecht auszuschließen? Es empfiehlt sich, dieses Grundsatzproblem von den romanischen Rechten her aufzurollen, die traditionell vom caractère essentiel bestimmter Mitgliedschaftsrechte ausgehen (II).5) Anschließend werden mögliche Gestaltungsgrenzen für das deutsche Personengesellschafts- und GmbHRecht erörtert (III). II. Gewinn- und stimmrechtslose Anteile im Spiegel der Rechtsvergleichung 1. Gesellschaftsanteile ohne Gewinnbeteiligung Ein Rundgang durch die romanischen Rechte beginnt im Gesellschaftsrecht gewöhnlich mit den Basisvorschriften des Code civil (Cc) oder Code de Commerce (Ccom). Nach der Grundregel des Art. 1844-1 Abs. 2 Cc sind Gesellschaftsanteile ohne Gewinnbeteiligung unzulässig.6) Sie steht systematisch im allgemeinen Teil des französischen Gesellschaftsrechts und gilt damit sowohl für Personen- als auch für Kapitalgesellschaften.7) Ihr Regelungsgehalt lässt sich bis zur Ursprungsfassung des Code civil von 1804 zurückverfolgen.8) Er geht auf den großen französischen Rechtsgelehrten Robert Pothier zurück, der seinerseits auf die klassische Rechtsfigur der societas leonina – benannt nach der Fabel von der Löwen-

4) 5) 6)

7)

8)

So M. Cozian/A. Viandier/F. Deboissy, Droit des sociétés, 28. Aufl. 2015, Rz. 364 ff. Vgl. bereits die Zwischenüberschrift bei R. Pothier, Traité du contrat de société, 1807, vor Rz. 8: „De ce qui est de l’essence du contrat de société“. Die Vorschrift lautet wörtlich: „Toutefois, la stipulation attribuant à un associé la totalité du profit procuré par la société ou l’exonérant de la totalité des pertes, celle excluant un associé totalement du profit ou mettant à sa charge la totalité des pertes sont réputées non écrites.“ Vgl. J. Mestre/D. Velardocchio-Flores/A.-S. Mestre-Chami, Lamy Sociétés commerciales, 2015, Rz. 350: „La prohibition des clauses léonines a un caractère général: ces clauses sont prohibées tant dans les sociétés de personnes que de capitaux (SNC, SARL, SA, commandites).“ Vgl. Art. 1855 Abs. 1 Cc (1804): „La convention qui donnerait à l’un des associés la totalité des bénéfices, est nulle.“

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 203

gesellschaft bei Äsop und Phädrus9) – Bezug nahm: Eine Vereinbarung, die einem Gesellschafter den ganzen Gewinn zuweise, widerspreche dem Wesen der société und sei daher wie schon im römischen Recht nichtig, zumal sie auch im höchsten Maße ungerecht sei.10) Nachfolgende Generationen haben diese begrifflich-ontologische Begründungslinie bis in die Gegenwart fortgeführt: Eine clause léonine zerstöre den Gesellschaftsvertrag in seinem Wesen, so liest man noch heute in einem führenden Lehrbuch, und wäre auch ohne gesetzliche Regelung nichtig, da sie mit der Absicht der Parteien beim Vertragsschluss unvereinbar sei.11) Die Vorschrift erfasst in erweiternder Auslegung auch den Fall, dass ein Gesellschafter nur einen verschwindend geringen Gewinnanteil erhält.12) Rechtsfolge ist nach heute h. M. nicht mehr die Nichtigkeit des gesamten Gesellschaftsvertrages, sondern nur der leoninischen Klausel, an deren Stelle eine Gewinnverteilung nach Gesellschaftsanteilen tritt.13) Jenseits des Anwendungsbereichs des Art. 1844-1 Abs. 2 Cc kann der Gesellschaftsvertrag den Gewinnverteilungsschlüssel beliebig variieren.14) In Italien hatte der Codice civile von 1865 das französische Verbot der clause léonine wortwörtlich übernommen.15) Heute regelt der Codice civile von 1942 (Cod. civ.) das Verbot des patto leonino in Art. 2265: „Die Abmachung, mit der einer oder mehrere Gesellschafter von jeder Beteiligung am Gewinn oder Verlust ausgeschlossen werden, ist nichtig.“16)

9) 10)

11) 12) 13) 14)

15)

16)

Eingehend dazu Hingst, Die societas leonina in der europäischen Privatrechtsgeschichte, 2003, S. 42 ff. m. w. N. Vgl. R. Pothier, Traité du contrat de société, 1807, Rz. 12 unter Berufung auf Ulpian D. 17, 2, 29, 2: „[…] iniquissimum enim genus societatis est, ex qua quis damnum, non etiam lucrum spectet.“ So M. Germain/V. Magnier, Les sociétés commerciales, 21. Aufl. 2014, Rz. 1545. Vgl. M. Germain/V. Magnier, Les sociétés commerciales, 21. Aufl. 2014, Rz. 1545; J. Mestre/ D. Velardocchio-Flores/A.-S. Mestre-Chami, Lamy Sociétés commerciales, 2015, Rz. 350. Vgl. M. Cozian/A. Viandier/F. Deboissy, Droit des sociétés, 28. Aufl. 2015, Rz. 140; P. Le Cannu/B. Dondero, Droit des sociétés, 6. Aufl. 2015, Rz. 189. Dazu P. Le Cannu/B. Dondero, Droit des sociétés, 6. Aufl. 2015, Rz. 179: „Cependant les statuts peuvent très largement moduler le droit de chacun.“, Rz. 180: „Les statuts peuvent retenir d’autres répartitions, et accorder un bonus à certain(s) associés dans les bénéfices […].“ Vgl. Art. 1719 Cod. civ. von 1865: „È nulla la convenzione che attribuisce ad uno dei soci la totalità dei guadagni.“ (Die Abmachung, die einem der Gesellschafter alle Gewinne zuteilt, ist nichtig.). Wörtlich: „(Patto leonino.) È nullo il patto con il quale uno o píù soci sono esclusi da ogni partecipacione (1) agli utili o (2) alle perdite.“; rechtsvergleichend Frase, „Leoninische Vereinbarungen“ und Ergebnisbeteiligungspflicht im deutschen und italienischen Gesellschaftsvertrag, 2010.

204

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Die Vorschrift ist systematisch im Recht der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft (società semplice) angesiedelt, gilt nach h. M. aber auch für alle anderen Gesellschaftsformen.17) Zu ihrer inneren Rechtfertigung beruft man sich teils auf das Wesen der Gesellschaft, teils auf den Schutz des übervorteilten Gesellschafters, teils auf institutionelle Erwägungen.18) In den Gesetzesmaterialien hieß es, ein Gewinn- oder Verlustausschluss sei „in contrasto con la causa del contratto di società“19). Nach einem Urteil des italienischen Kassationshofs vom Oktober 1994 ist Art. 2265 Cod. civ. wirtschaftspolitischer Natur und bezweckt mittels einer notwendigen Risiko- und Gewinnbeteiligung, das Interesse aller Gesellschafter an einer guten Unternehmensführung sicherzustellen und Interessenkonflikte zwischen den Gesellschaftern zu vermeiden.20) Er wird nicht wörtlich ausgelegt, sondern findet – wie im französischen Recht – auch dann Anwendung, wenn ein Gesellschafter lediglich einen lächerlich geringen Gewinnanteil erhält.21) Rechtsfolge ist ebenfalls nur die Nichtigkeit der betreffenden Klausel, an deren Stelle eine Gewinnverteilung nach dem Verhältnis der Einlagen gemäß Art. 2263 Cod. civ. tritt.22) Jenseits des Anwendungsbereichsbereichs des Art. 2265 Cod. civ. genießen die Gesellschafter völlige Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Gewinnverteilung.23) Gleichsinnige Vorschriften wie in Frankreich und Italien finden sich für Belgien in Art. 32 des Code des sociétés, für Spanien in Art. 1691 des Código civil und für Portugal in Art. 994 des Codigo civil. Besondere Aufmerksamkeit verdient schließlich noch die „gespaltene“ Rechtslage in den Niederlanden. Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (maatschap) und damit auch für die anderen Personengesellschaften gilt noch immer die dem französischen Recht entlehnte Regelung in Art. 1676

17)

18) 19) 20) 21)

22) 23)

Vgl. L. Pisani in: M. Cian (Hrsg.), Diritto commerciale, Bd. II, 2013, § 40, S. 87: „La portata del principio codificato nell’art. 2265 viene pacificamente estesa a tutti i tipi societaria, ivi comprese le società di capitali.“ Zusammenfassend Frase, „Leoninische Vereinbarungen“ und Ergebnisbeteiligungspflicht im deutschen und italienischen Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 35 ff. m. w. N. Dazu A. Maffei Alberti, Commentario breve al diritto delle società, 2015, Art. 2265, I Rz. 2 m. w. N. Vgl. Cass. Civ., n. 8927, 29.10.1994, Società 1995, 178, 181; ähnlich auch N. Abriani, Il divieto di Patto Leonino, 1994, S. 38 f. Vgl. A. Maffei Alberti, Commentario breve al diritto delle società, 2015, Art. 2265, II Rz. 2: „La norma va intesa non in modo formale ma nel senso che ai soci deve, in ogni caso, essere riservata una partecipazione non irrisoria […].“ Vgl. M. Campobasso, Diritto delle società, 8. Aufl. 2012, S. 80 f. Vgl. M. Campobasso, Diritto delle società, 8. Aufl. 2012, S. 80: „massima libertà“.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 205

Abs. 1 Boek 7A des Burgerlijk Wetboek (BW, Bürgerliches Gesetzbuch) von 1838: „Eine Vereinbarung, durch die einem Gesellschafter alle Vorteile zuerkannt worden wären, ist nichtig.“24)

Demgegenüber hat man im Zuge der jüngsten GmbH-Reform von 2012 das Verbot der leeuwenvennootschap aufgegeben. Für die niederländische GmbH (besloten vennootschap, BV) kann die Satzung nach Art. 2:228 Abs. 7 des Nieuw Burgerlijk Wetboek (NBW) auch vorsehen, dass Anteile einer bestimmten Gattung kein oder nur ein eingeschränktes Gewinnrecht vermitteln.25) 2. Gesellschaftsanteile ohne Stimmrecht Nach der ebenfalls für alle Gesellschaften geltenden Grundregel des Art. 1844 Abs. 1 Cc hat jeder Gesellschafter das Recht, an der kollektiven Willensbildung mitzuwirken.26) Der französische Kassationshof hat diese Vorschrift 1999 in der Rechtssache Château d’Yquem für eine société anonyme wie folgt erweitert: „Tout associé a le droit de participer aux décisions collectives et de voter et que les statuts ne peuvent déroger à ces dispositions“.27)

Eine Folgeentscheidung aus dem Jahr 2007 hat diese Formel für eine société par actions simplifiée in der Weise präzisiert, dass der Gesellschaftsvertrag von dieser Regelung nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen abweichen kann.28) Im Schrifttum wird das Stimmrecht schon lange als „eine der heiligen Kühe des Gesellschaftsrechts“29) bezeichnet. Eine gerade erschienene, dogmengeschichtlich weit ausholende Doktorarbeit legt detail-

24) 25)

26) 27) 28) 29)

Wörtlich heißt es: „Het beding, waarbij aan een der vennooten alle de voordeelen mogten toegezegd zijn, is nietig.“ Dazu C. Van der Elst/E. P. Vermeulen in: É.-J. Navez/Y. De Cordt (Hrsg.), La simplification du droit des sociétés privées dans les États membres de l’Union européenne, 2015, S. 165, 180; ferner Hirschfeld, Die niederländische „bv“ nach dem Gesetz zur Vereinfachung und Flexibilisierung des bv-Rechts (flex-bv), RIW 2013, 134, 137; N. Zaman, Die niederländische Flex-BV, GmbHR 2012, 1062, 1064 f. Wörtlich heißt es: „Tout associé a le droit de participer aux décisions collectives.“ Cass. com., 9.2.1999, Rev. soc. 1999, 81 m. Anm. P. Le Cannu. Vgl. Cass. com., 23.10.2007, Rev. soc. 2007, 814: „[…] et les statuts ne peuvent déroger à ces dispositions que dans les cas prévus par la loi.“ mit Anm. P. Le Cannu. A. Viandier, Observations sur les conventions de vote, JCP E 1986, 15405: „L’une des vaches sacrées du droit des sociétés“; aus der Lehrbuchliteratur auch P. Merle, Sociétés commerciales, 18. Aufl. 2015, Rz. 361.

206

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liert dar, dass es bis heute zu den Wesensmerkmalen der Verbandsmitgliedschaft im französischen Gesellschaftsrecht gehört.30) In Italien bestimmt Art. 2479 Abs. 5 Cod. civ., dass jeder GmbH-Gesellschafter das Recht hat, an den in diesem Artikel vorgesehenen Entscheidungen teilzunehmen, und seine Stimme zählt entsprechend dem Maß seiner Beteiligung. Stimmrechtslose Geschäftsanteile sind grundsätzlich unzulässig.31) Eine Ausnahme gilt seit 2012 für Start-up-Unternehmen, die als GmbH organisiert sind. Danach kann der Gesellschaftsvertrag abweichend von Art. 2479 Abs. 5 Cod. civ. Gattungen von Geschäftsanteilen schaffen, die kein oder nur ein eingeschränktes Stimmrecht gewähren.32) Im Personengesellschaftsrecht wird die Frage stimmrechtsloser Anteile bisher kaum thematisiert. In den Niederlanden hat die schon erwähnte GmbH-Reform von 2012 nach breiter rechtsvergleichender Umschau33) auch für größere Liberalität bei der Stimmberechtigung gesorgt. Gemäß Art. 2:228 Abs. 4 und 5 NBW sind nunmehr auch beschränkt stimmberechtigte und stimmrechtslose Anteile zulässig.34) Für letztere kann ausweislich der Regierungsbegründung etwa bei Familienunternehmen ein Bedürfnis bestehen, wenn einzelne Gesellschafter nur dividenden-, aber nicht stimmberechtigt sein

30) 31)

32)

33)

34)

Vgl. C. Coupet, L’attribution du droit de vote dans les sociétés, 2015, Rz. 15 ff. unter der Zwischenüberschrift „Le droit de vote, un attribut essentiel de l’associé“. Vgl. A. Blandini, Categorie di quote, categorie di soci, 2009, S. 69: „Di norma, le restrizioni al diritto di voto sono inammissibili in una società a responsabilità limitatà.“; für die Zulässigkeit stimmrechtsloser GmbH-Anteile unter bestimmten Voraussetzungen aber M. Speranzin in: Studi in onore di G. E. Colombo, 2011, S. 127; siehe auch Notariatskammer Mailand, Massima notarile Nr. 138. Vgl. Art. 26 Abs. 3 des Gesetzesdekrets v. 18.10.2012, n. 179, umgewandelt mit dem Gesetz v. 17.12.2012, n. 212: „L’atto costitutivo della società di cui al comma 2 [s.r.l.], anche in deroga all’articolo 2479, quinto comma, del codice civile, puó creare categorie di quote che non attribuiscono diritti di voto o che attribuiscono al socio diritti di voto in misura non proporzionale alle partecipazione da questi detenuta ovvero diritti di voto limitati, a particolari argomenti o subordinati al verificarsi di particolari condizioni non meramente potestative.“ Vorbereitend Expertgroep, Vereenvoudiging en flexibilisering van het nederlandse bvrecht, Mai 2004, S. 67: „In verscheidene landen kunnen stemrechtloze aandelen worden uitgegeven.“ Dazu C. Van der Elst/E. P. Vermeulen in: É.-J. Navez/Y. De Cordt (Hrsg.), La simplification du droit des sociétés privées dans les États membres de l’Union européenne, 2015, S. 165, 180; ferner Hirschfeld, RIW 2013, 134, 137; N. Zaman, GmbHR 2012, 1062, 1065; monographisch jüngst R. Wolf, De kapitaalverschaffer zonder stemrecht in de BV, 2013.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 207

sollen.35) Dagegen steht man stimmrechtslosen Personengesellschaftsanteilen wohl noch immer kritisch gegenüber.36) 3. Gesellschaftsanteile ohne Gewinn- und Stimmrecht Was schließlich die Schaffung von Gesellschaftsanteilen ohne Gewinnund Stimmrecht anbelangt, ist ein Blick auf das neue niederländische GmbH-Recht aufschlussreich, das zugleich einen Bogen zum deutschen Recht schlägt. Nicht begründbar sind nach Art. 2:190 NBW Gesellschaftsanteile, die weder ein Stimmrecht noch ein Recht auf Gewinn oder (Liquidations-)Rücklagen haben.37) Der Bericht der vorbereitenden Expertengruppe bezieht sich insoweit auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1954, das stimmrechtslose GmbH-Geschäftsanteile billigte, aber in einem obiter dictum ergänzte, es könne ernstlich kaum bezweifelt werden, dass derjenige, der kein Stimmrecht, kein Gewinnrecht und kein Recht am Liquidationserlös besitze, kein Gesellschafter sei.38) III. Gewinn- und stimmrechtslose Anteile im deutschen Recht Hierzulande zeichnet sich das Binnenrecht von Personengesellschaft und GmbH seit jeher durch weitreichende Gestaltungsfreiheit aus (§ 109 HGB, § 45 Abs. 2 GmbHG). Dies gilt auch für die Ausgestaltung der Mitgliedschaftsrechte. Wo genau die Grenze der Gestaltungsfreiheit verläuft, war historisch aber keineswegs unumstritten und wird in den Einzelheiten bis heute kontrovers beurteilt.

35)

36) 37)

38)

Vgl. Memorie van toelichting, Kamerstukken II 2006/07, 31 058 Nr. 3, S. 11 f.; dazu auch Expertgroep, Vereenvoudiging en flexibilisering van het nederlandse bv-recht, Mai 2004, S. 66. Vgl. J. Maeijer in: C. Asser, Maatschap, vennootschap onder firma, commanditaire vennootschap, 6. Aufl. 1995, S. 50 ff. Wörtlich heißt es dort: „Rechten, die stemrecht noch aanspraak op uitkering van winst of reserves omvatten, worden niet als aandeel aangemerkt.“; dazu C. Van der Elst/ E. P. Vermeulen in: É.-J. Navez/Y. De Cordt (Hrsg.), La simplification du droit des sociétés privées dans les États membres de l’Union européenne, 2015, S. 165, 180; ferner Hirschfeld, RIW 2013, 134, 137. Vgl. Expertgroep, Vereenvoudiging en flexibilisering van het nederlandse bv-recht, Mai 2004, S. 67 mit Fn. 39 unter Berufung auf BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 270.

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1. Gesellschaftsanteile ohne Gewinnbeteiligung Die Diskussion um Gesellschaftsanteile ohne Gewinnbeteiligung drehte sich auch in Deutschland lange Zeit um die schillernde Figur der societas leonina, die in keinem Lehrbuch fehlen durfte.39) Der historische Gesetzgeber des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs und des Bürgerlichen Gesetzbuchs hatte auf ein ausdrückliches Verbot der societas leonina nach römisch-rechtlichem und französischem Vorbild nur deshalb verzichtet, weil er dieses Verbot für selbstverständlich hielt.40) Im Anschluss daran nahm man im personengesellschaftsrechtlichen Schrifttum früher vielfach an, dass alle Gesellschafter jedenfalls bei gewinnorientierten Gesellschaften am Gewinn beteiligt sein müssten.41) Andernfalls liege eine unzulässige Löwengesellschaft vor, die mangels gemeinsamen Zwecks oder wegen Missachtung des gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes42) in Wahrheit keine Gesellschaft, sondern – nach einem berühmten Wort von Windscheid – „eine unter dem Namen der Gesellschaft versteckte Schenkung“43) darstelle.44) Ähnliche Stimmen fanden sich in der älteren GmbH-rechtlichen Literatur. So äußerte sich ein angesehener Kommentator dahin, dass der Ausschluss eines einzelnen Gesellschafters

39)

40)

41)

42) 43) 44)

Vgl. etwa Flume, Die Personengesellschaft, 1977, § 3 V, S. 48 ff.; A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, § 1 I 1b, S. 4 mit Fn. 9; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 4 I 1, S. 58 f.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. II, Recht der Personengesellschaften, 2004, § 2 III 1a, S. 123 f. und § 7 I 1 a, S. 594. Vgl. Mugdan (Hrsg.), Die gesamten Materialien zum BGB für das Deutsche Reich, Bd. 2, 1899, S. 594: „Aus der Gemeinsamkeit des vereinbarten Zweckes folgt, dass im Wesen der Gesellschaft die Antheilnahme eines jeden Gesellschafters an diesem Zwecke liegt. Ein Vertrag, durch welchen ein Gesellschafter (1) von der Beitragspflicht befreit, aber zur Theilnahme am gemeinsamen Zwecke, also insbes. am Gewinn berechtigt, oder (2) zwar am Verluste, nicht aber am Gewinne betheiligt sein soll, ist hiernach kein Gesellschaftsvertrag. Es braucht dies nicht besonders im Gesetze ausgesprochen zu werden. […] Die entsprechenden Vorschriften mehrerer Kodifikationen stammen aus dem röm. Rechte, dessen Bestimmungen unverkennbar nur ein theoretischer Charakter beiwohnt. Schon bei der Berathung des [AD]HGB. wurde deshalb die Aufnahme einer ähnlichen Vorschrift abgelehnt.“ Vgl. Ballerstedt, Der gemeinsame Zweck als Grundbegriff des Rechts der Personengesellschaften, JuS 1963, 253, 255; Hachenburg, JW 1915, 1470 (Urteilsanm); SchulzeOsterloh, Der gemeinsame Zweck der Personengesellschaften, 1973, S. 22 ff.; Wieland, Handelsrecht, Erster Band, 1921, S. 462. Zuletzt noch Keßler in: Staudinger, BGB, 12. Aufl. 1991, vor § 705 Rz. 179. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl. 1906, § 405, S. 779. Vgl. etwa Keßler in: Staudinger, BGB, 12. Aufl. 1991, vor § 705 Rz. 179; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Zweiter Band, Besonderer Teil, 12. Aufl. 1981, § 60 I a, S. 372.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 209

vom Gewinnbezug mit dem Wesen der Gesellschaft in Widerspruch stehe.45) Es müsse begriffsnotwendig jeder Gesellschafter am Gewinn beteiligt sein. Wer in der Kapitalerwerbsgesellschaft ohne Anspruch auf Beteiligung am Gewinn Geld gebe, leihe es ihr oder schenke es oder „was sonst“; Gesellschafter sei er aber nicht.46) Diese hergebrachte Sichtweise vermochte sich in Rechtsprechung und Rechtslehre jedoch nicht zu behaupten. Für die GmbH hat der Bundesgerichtshof schon im Jahre 1954 entschieden, dass eine Gewinnbeteiligung eines jeden Gesellschafters für eine Gesellschafterstellung begrifflich nicht erforderlich sei. Die Teilnahme an der Gesellschaft könne dem Gesellschafter sonstige Vorteile bringen, aber auch der „vorteilslose“ Ausschluss vom Gewinnrecht sei keineswegs von der Hand zu weisen.47) Für eine von der KG zur GbR herabgesunkene Gesellschaft hat der Bundesgerichtshof im Jahre 1987 ausgesprochen, dass eine Person, die nicht am Gewinn und Verlust der Gesellschaft beteiligt ist, sondern als Geschäftsführer nur eine feste Tätigkeitsvergütung erhält, gleichwohl Gesellschafter sein könne.48) Die neuere Lehre stimmt dem fast einhellig49) zu und stützt sich im Personengesellschaftsrecht vor allem auf die Erwägung, dass zwischen dem gemeinsamen Zweck i. S. des § 705 BGB und der individuellen Motivlage eines jeden Gesellschafters zu unterscheiden sei: Ob letzterer mit seiner Beteiligung ein materielles oder ideelles Interesse verfolge, sei für das Vorliegen eines Gesellschaftsverhältnisses ohne Belang.50) Im GmbHRecht pflegt man auf die Disponibilität des § 29 GmbHG zu verweisen.51) Von diesem liberalen Rechtsstand wieder abzurücken, besteht auch im Lichte des rechtsvergleichenden Befundes keine Veranlassung. Die feh-

45) 46) 47) 48) 49)

50)

51)

So Brodmann, GmbHG, 2. Aufl. 1930, § 29 Anm. 2. Brodmann, GmbHG, 2. Aufl. 1930, § 29 Anm. 2. So BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 271 f. So BGH, Urt. v. 6.4.1987 – II ZR 101/86, NJW 1987, 3124, 3125 = ZIP 1987, 909. Vgl. etwa Westermann in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 705 Rz. 32; Flume, Die Personengesellschaft, 1977, § 3 V, S. 49 f.; Ulmer/Schäfer in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 705 Rz. 150; Hadding/Kießling in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2011, § 705 Rz. 151. So oder ähnlich Ehricke in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 121 Rz. 19; A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, § 1 I 1b, S. 4; Ulmer/ Schäfer in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 705 Rz. 151; eingehend Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 298 f. Vgl. BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 270, 272 f.; Ekkenga in: MünchKomm-GmbHG, 2. Aufl. 2015, § 29 Rz. 195; früher schon Feine, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 1929, § 27 I 1, S. 361.

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lende Kodifizierung des Verbots der societas leonina52) erleichterte es späteren Juristengenerationen, sich von dem entgegenstehenden Willen des historischen Gesetzgebers zu lösen und den dogmatischen Ordnungsbegriff des gemeinsamen Zwecks i. S. des § 705 BGB mit neuem Inhalt zu füllen. Dieser Bedeutungswandel vollzog sich umso leichter, als Argumente aus dem Wesen eines Rechtsinstituts im Gesellschaftsrecht zunehmend an Überzeugungskraft eingebüßt haben:53) Über das Essentiale einer Gesellschaft oder Verbandsmitgliedschaft lässt sich trefflich streiten. Anders als im römischen Vertragsrecht, das die Parteien – auch bei der societas – in ein starres Kontraktschema presste,54) herrscht im deutschen Personengesellschafts- und GmbH-Recht zudem Gestaltungsfreiheit:55) Gemäß § 109 HGB, § 45 Abs. 2 GmbHG können die Gesellschafter ihr Binnenrecht grundsätzlich auf ihre speziellen Bedürfnisse zuschneiden.56) Darüber hinaus zeigt der rechtsvergleichende Seitenblick, dass das hergebrachte Verbot des Gewinnausschlusses in hohem Maße umgehungsgefährdet ist: Will man Ausweichstrategien durch minimale Gewinnanteile in Übereinstimmung mit der französischen und italienischen Doktrin nicht zulassen,57) steht man vor der schwierigen Aufgabe, einen verbindlichen Mindestverteilungsschlüssel für den Gewinn zu finden – ein Problem, das man in der langen Entwicklungsgeschichte der societas leonina unter dem Stichwort des nummus unus, einer kleinen Münze als symboli-

52) 53)

54) 55)

56)

57)

Vgl. den Text zu und in Fn. 40. Vgl. im konkreten Fall bereits BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 270, 273; pointiert auch der ehemalige BGH-Richter Wolany, Rechte und Pflichten des Gesellschafters einer GmbH, 1964, S. 186: „Wir haben gleich am Anfang dieser Betrachtung betont, dass die einer Ausfüllung harrenden Größen: ‚Wesen der Gesellschaft’ und ‚Gesellschafterbegriff’ nicht unmittelbar fähig sind, der Freiheit, die das Gesetz dem GmbH-Leben verliehen hat – und die ein Rechtswert ist – die nötigen Schranken zu setzen.“ Allgemein zum römischrechtlichen Vertragstypenzwang Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 20. Aufl. 2014, S. 49 ff. Ebenso Flume, Die Personengesellschaft, 1977, § 3 V, S. 49: „Ferner besteht im Unterschied zum römischen Recht für die inhaltliche Gestaltung des Gesellschaftsverhältnisses Vertragsfreiheit.“; ähnlich Zöllner, Inhaltsfreiheit bei Gesellschaftsverträgen, in: FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 85, 122: „Gerade hier ist vielmehr Vertragsfreiheit voll in ihrem Element.“ Treffend für die GmbH BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 269 f.: „Das Recht der GmbH wird von dem Grundsatz der Satzungsautonomie beherrscht. Die Gesellschafter einer GmbH haben eine sehr weitgehende Freiheit bei der Ausgestaltung der Gesellschaft und bei der Regelung der Mitgliedschaftsrechte.“ Vgl. den Text zu Fn. 12 und zu Fn. 21.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 211

schen Gewinn, immer wieder erörtert hat.58) Schließlich lässt sich dem Verbot des Gewinnausschlusses – anders als dies in der italienischen Spruchpraxis anklingt59) – auch keine höhere rechtsökonomische Vernunft beilegen. Zwar mag es mitunter zutreffen, dass ein Gesellschafter ohne Gewinnbeteiligung unternehmerische Entscheidungen nur unter der Devise größtmöglicher Risikovermeidung mitträgt, doch rechtfertigt dies kein generelles Verbot solcher Gestaltungen, für die es im Einzelfall gute Gründe geben kann. Nach alledem verwundert es nicht, dass moderne Gesetzgeber – wie zuletzt i. R. der niederländischen GmbH-Reform – den römischrechtlichen Traditionsstrang durchtrennen und gewinnrechtslose Gesellschaftsanteile ausdrücklich anerkennen. Mit Schutzdefiziten für Minderheitsgesellschafter muss die Ausmusterung der societas leonina als gesellschaftsrechtlicher Grundfigur60) nicht einhergehen: Der „höchst ungerechten Art von Gesellschaft“61), die seit der überlieferten Ulpian-Stelle wortreich beklagt wird, lässt sich auch auf andere Weise als durch ein kategorisches Verbot des Gewinnausschlusses beikommen. Wie man im Schrifttum zunehmend erkennt, bietet sich als weniger einschneidendes Mittel eine Inhaltskontrolle des Gesellschaftsvertrages unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit an. Im Lichte aller Fallumstände kann sich dann ergeben, dass die konkrete Abrede wegen ihrer einseitigen Gestaltung gegen § 138 BGB verstößt.62) Dies sorgfältig zu prüfen, besteht vor allem deshalb Anlass, weil ein Ausschluss

58) 59)

60)

61) 62)

Einzelnachweise bei Hingst, Die societas leonina in der europäischen Privatrechtsgeschichte, 2003, S. 136 ff. Vgl. den Text zu Fn. 20; in diese Richtung auch N. Abriani, Il divieto di Patto Leonino, 1994, S. 44 f., der Art. 2265 Cod. civ. als eine Vorschrift des ökonomischen „ordre public“ versteht. Plastisch Müller-Gugenberger, Bemerkungen zur „societas leonina“. Fabelhaftes im Gesellschaftsrecht, in: GS für Rödig, 1978, S. 274, 281: „Ausgestopft mag dieser Löwe im Museum der Dogmengeschichte seinen Platz erhalten; im geltenden Recht hat er keine Existenzberechtigung mehr und sollte insoweit aus unseren Lehrbüchern und Kommentaren verschwinden.“ Ulpian, D. 17, 2, 29, 2; dazu bereits Fn. 10. Vgl. Flume, Die Personengesellschaft, 1977, § 3 V, S. 49; Hadding/Kießling in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2011, § 705 Rz. 36; Ulmer/Schäfer in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 705 Rz. 151.

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von jeglicher Gewinnbeteiligung recht selten vorkommt.63) Bei dieser Prüfung kann sich aber auch ergeben, dass für einen Gewinnausschluss plausible Gründe vorliegen; die Lehrwerke des Usus modernus sprachen anschaulich von einer iusta causa.64) Ein Schulbeispiel für einen solchen unverfänglichen Gewinnausschluss ist der Fall, dass Vater und Sohn eine Personengesellschaft gründen und der Vater, der anderweitige Einkünfte hat, zugunsten des Sohnes auf eine Gewinnbeteiligung verzichtet.65) Ebenso mag es liegen, wenn sich ein Gesellschafter statt eines Gewinnanteils eine feste Vergütung als Geschäftsführer ausbedingt.66) Ferner ist an die Komplementär-GmbH zu denken, die nach der üblichen kautelarjuristischen Ausgestaltung nicht am Gewinn der KG beteiligt ist.67) Solche und weitere Fallgestaltungen, für die es ein anerkennenswertes praktisches Bedürfnis gibt, lassen sich akkomodieren, wenn man statt eines starren Verbots der societas leonina die bewegliche Schranke des § 138 BGB zur Überprüfung eines Gewinnausschlusses heranzieht.68) Ein notwendiger 63)

64) 65)

66)

67)

68)

Dazu schon R. Fischer in: Staub, HGB, 3. Aufl. 1973, § 105 Rz. 9a mit der ergänzenden Bemerkung: „[E]s bedarf daher für die Annahme einer solchen Ausschlußklausel besonders greifbarer Gesichtspunkte.“; gleichsinnig Hadding/Kießling in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2011, § 705 Rz. 22; Ulmer/Schäfer in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 705 Rz. 151; Westermann in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 705 Rz. 32; ferner A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, § 1 I 1b, S. 5: „etwas Ungewöhnliches“. Dazu Hingst, Die societas leonina in der europäischen Privatrechtsgeschichte, 2003, S. 210 f. und 261 ff. m. w. N. So A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, § 1 I 1b, S. 4 mit dem erläuternden Zusatz: „Sein [des Vaters] Beweggrund für die Beteiligung an der Gesellschaft ist der Wunsch, dem Sohn eine Lebensstellung zu verschaffen, der Sohn will für sich selbst Gewinn erzielen; der Betrieb des Unternehmens aber ist der beiden gemeinsame Zweck.“; ähnlich Böhmer, Die Vereinbarung eines gemeinsamen Zwecks bei der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, JZ 1994, 982, 990; Flume, Die Personengesellschaft, 1977, § 3 V, S. 49 f.; Müller-Gugenberger in: GS für Rödig, 1978, S. 274, 280; Ulmer/ Schäfer in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 705 Rz. 149; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. II, Recht der Personengesellschaften, 2004, § 2 III 1a, S. 124; Windbichler, Gesellschaftsrecht, 23. Aufl. 2013, § 5 Rz. 4. Vgl. dazu bereits RG v. 13.7.1915 – II 99/15, JW 1915, 1428; RG v. 9.3.1917 – II 512/16, RGZ 90, 14, 16; Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 297 ff.; A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, § 1 I 1b, S. 4. Vgl. Hadding/Kießling in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2011, § 705 Rz. 36; Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 296, 299; Westermann in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 705 Rz. 32. Wie hier Hingst, Die societas leonina in der europäischen Privatrechtsgeschichte, 2003, S. 422: „Die Nichtigkeit eines Gewinnausschlusses ergibt sich nicht mehr starr qua societate leonina, sondern qua § 138 BGB bei einer sittenwidrigen Übervorteilung. Oder noch anders gewendet: Die soc. leon. ist unter den Voraussetzungen des § 138 BGB schlicht ein Fall von Sittenwidrigkeit, aber eben auch nur unter diesen Voraussetzungen.“

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Bestandteil oder gar ein Wesensmerkmal der Verbandsmitgliedschaft ist die Gewinnbeteiligung eines jeden Gesellschafters nach deutschem Recht jedenfalls nicht.69) 2. Gesellschaftsanteile ohne Stimmrecht Für die Frage, ob jedem Gesellschafter zwingend ein Stimmrecht zustehen muss, fehlt ein ähnlich fabelhaftes Beispiel wie die Löwengesellschaft. Vereinzelten Stellungnahmen in der Literatur, nach denen ein stimmrechtsloser GmbH-Geschäftsanteil gegen das Wesen der GmbH verstößt,70) ist der Bundesgerichtshof schon früh entgegengetreten: Die gesetzlichen Regelungen über stimmrechtslose Vorzugsaktien zeigten, dass das Stimmrecht nicht unerlässlicher Bestandteil einer Mitgliedschaft sei.71) Der Ausschluss vom Stimmrecht nehme dem GmbH-Gesellschafter nicht das Recht auf Teilnahme an der Gesellschafterversammlung, nicht das Recht auf Auskunft und nicht das Recht auf Einsicht in die Geschäftsbücher. Er behalte auch das Recht zur Anfechtung der Gesellschafterbeschlüsse. Zudem könne sein Stimmrecht so klein sein, dass es gegenüber dem Stimmrecht der übrigen Gesellschafter gar nicht ins Gewicht falle; der Unterschied zur Stimmlosigkeit sei solchenfalls gering.72) Die heutige Literatur pflichtet dem fast einhellig bei.73) Ein nur wenig später ergangenes Urteil des Bundesgerichtshofs führte diese Rechtsprechungslinie fort und billigte auch den Stimmrechtsausschluss eines Kommanditisten, allerdings mit einem Vorbehalt hinsichtlich des sog. Kernbereichs seiner Mitgliedschaft: „Das Stimmrecht eines Kommanditisten kann durch den Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen werden, jedoch nur insoweit, als es sich nicht um Gesellschaftsbeschlüsse handelt, die in die Rechtsstellung des Kommanditisten als solche eingreifen.“74)

Auch dies findet im Schrifttum überwiegend Beifall.75) Ob Gleiches für das Stimmrecht eines OHG-Gesellschafters und des persönlich haftenden 69)

70) 71) 72) 73)

74) 75)

Ebenso Müller-Gugenberger in: GS für Rödig, 1978, S. 284, 291: „So wichtig Gewinn für sehr zahlreiche Gesellschaften aus betriebswirtschaftlicher oder steuerlicher Sicht auch sein mag, im Gesellschaftsrecht kommt ihm im Grundsatz keine elementare Bedeutung zu.“ So Brodmann, GmbHG, 2. Aufl. 1930, § 47 Anm. 1a). So BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 270. Vgl. BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 271. Vgl. Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 207 ff.; Zöllner in: FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 83, 122; monographisch Schäfer, Der stimmrechtslose GmbH-Geschäftsanteil, 1997, S. 354 ff. (Zusammenfassung) und passim. BGH, Urt. v. 14.5.1956 – II ZR 229/54, BGHZ 20, 363 Leitsatz. Vgl. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. II, Recht der Personengesellschaften, 2004, § 7 II 1 a, S. 369 m. w. N.

214

Holger Fleischer

Gesellschafters einer KG gilt, ließ der Bundesgerichtshof damals ausdrücklich offen76) und brauchte es auch bislang nicht zu entscheiden. In einem Urteil von 1993 billigte er lediglich den Stimmrechtsausschluss der Komplementär-GmbH in der personengleichen GmbH & Co. KG.77) Eine beachtliche Lehrmeinung hält stimmrechtslose OHG-Anteile für unzulässig, weil sich der Stimmrechtsentzug nicht mit der unbeschränkten persönlichen Haftung des OHG-Gesellschafters vertrage und es daher nicht angängig erscheine, ihn trotz seiner persönlichen Haftung ständig von einer Mitwirkung an den Gesellschafterbeschlüssen auszuschließen.78) Die heute überwiegende Gegenauffassung belässt es bei dem grundsätzlichen Schutz des stimmrechtslosen OHG-Gesellschafters vermittels Kernbereichslehre und Belastungsverbot.79) Wie sich die jüngste Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Ersetzung der Kernbereichslehre durch eine einzelfallbezogene Treuepflichtkontrolle80) insoweit einfügt, kann hier nicht weiter verfolgt werden.81) Von dieser großzügigen Generallinie zum Stimmrechtsausschluss wieder abzurücken, besteht auch im Lichte des rechtsvergleichenden Befundes keine Veranlassung. Die restriktivere Haltung der französischen Doktrin 76) 77)

78)

79)

80) 81)

Vgl. BGH, Urt. v. 14.5.1956 – II ZR 229/54, BGHZ 20, 363, 367 f. Vgl. BGH, Urt. v. 24.5.1993 – II ZR 73/92, NJW 1993, 2100 = ZIP 1993, 1076, Leitsatz 2: „In einer personengleichen GmbH & Co. KG kann das Stimmrecht der Komplementär-GmbH in der Gesellschafterversammlung der KG ausgeschlossen werden. Das gilt grundsätzlich auch für Beschlüsse, die in den Kernbereich der Mitgliedschaftsrechte der GmbH eingreifen.“ Vgl. früher schon Heins, Betrachtungen zum Recht der OHG, NJW 1947, 252, 253; aus jüngerer Zeit Freitag in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 119 Rz. 23; Kindler in: Koller/Kindler/Roth/Morck, HGB, 8. Aufl. 2015, § 119 Rz. 2; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. II, Recht der Personengesellschaften, 2004, § 3 III 2 d, S. 219 ff. und § 7 II 1 a, S. 368 f. Vgl. Roth in: Baumbach/Hopt, HGB, 36. Aufl. 2014, § 119 Rz. 13; Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 44 ff.; A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, § 11 III 1, S. 109; Westermann, Die Gestaltungsfreiheit im Personengesellschaftsrecht in den Händen des Bundesgerichtshofs, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 245, 262 f.; Westermann in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 709 Rz. 24. Vgl. BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 84/13, Rz. 19, NJW 2015, 859 = ZIP 2014, 2231. Dem BGH folgend Wertenbruch, Abschied von Bestimmtheitsgrundsatz und Kernbereichslehre im Beschlussanfechtungssystem der Personengesellschaft, DB 2014, 2875; für eine Beibehaltung der Kernbereichslehre demgegenüber Altmeppen, Kernbereichslehre, Bestimmtheitsgrundsatz und Vertragsfreiheit in der Personengesellschaft, NJW 2015, 2065; Priester, Eine Lanze für die Kernbereichslehre, NZG 2015, 529; Schäfer, Gibt es noch einen Schutz des Kernbereichs der Mitgliedschaft?, ZIP 2015, 1313.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 215

ist unverkennbar dem institutionellen Denken unserer Nachbarn – der théorie de l’institution – geschuldet, die auch dort zunehmend auf Kritik stößt.82) Insbesondere bleibt bei einer institutionnalisation de la société häufig im Dunklen, warum einzelne Ausprägungen der Verbandsmitgliedschaft zwingend sein sollen. Parallelen zum Stimmrecht des Staatsbürgers83) und zum verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz führen nicht recht weiter; trotz gewisser Strukturparallelen überwiegen die Unterschiede zwischen Mitgliedschaft und Staatsbürgerschaft – nicht zuletzt deshalb, weil der Beitritt zu einem Personenverband freiwillig erfolgt:84) Eine GmbH oder Personengesellschaft ist kein Staat im Kleinen, die Geschäftsleitung keine Staatsregierung und die Gesellschafterversammlung kein Parlament. Nicht unbemerkt geblieben ist in der französischen Doktrin ferner, dass der Gesetzgeber gemäß Art. 228-11 Abs. 2 und 3 Ccom Vorzugsaktien ohne Stimmrecht anerkennt und damit eher pragmatisch denn streng-dogmatisch denkt.85) Noch eindrücklicher zeigen die Beispiele des holländischen und italienischen Reformgesetzgebers, dass in der Rechtspraxis ein anerkennenswertes Bedürfnis für stimmrechtslose Anteile besteht, etwa bei Familiengesellschaften86) oder Start-up-Unternehmen87). Weitere Gestaltungsanlässe ließen sich ergänzen.88) Der gebotene Minderheitenschutz erfordert kein vollständiges Verbot stimmrechtsloser Anteile, sondern lässt sich auf geschmeidigere Weise verwirklichen – neben den schon genannten Figuren (Kernbereichslehre, Belastungsverbot, Treuepflichtkontrolle) namentlich durch § 138 BGB, wenn der Stimmrechtsausschluss zu einer unzulässigen Abhängigkeit des betreffenden Gesell82)

83) 84)

85)

86) 87) 88)

Lehrreich M. Cozian/A. Viandier/F. Deboissy, Droit des sociétés, 28. Aufl. 2015, Rz. 9: „Si le recours au concept d’institution a été utile historiquement pour mettre en lumière les particularités du contrat de société, il a perdu cette vertu.“ Vgl. M. Cozian/A. Viandier/F. Deboissy, Droit des sociétés, 28. Aufl. 2015, Rz. 365: „L’associé est citoyen de cette cité qu’est la société, d’où ses prérogatives politiques.“ Näher Bachmann/Eidenmüller/Engert/Fleischer/Schön, Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 40 f.; relativierend denn auch M. Cozian/A. Viandier/ F. Deboissy, Droit des sociétés, 28. Aufl. 2015, Rz. 366: „Le principe d’égalité est une vertu d’ordre politique encore qu’elle n’ait pas la même portée qu’en droit constitutionnel.“ Dazu P. Le Cannu/B. Dondero, Droit des sociétés, 6. Aufl. 2015, Rz. 128: „On peut répondre que le législateur contemporain est moins dogmatique dans ce domaine que la jurisprudence, puis qu’il admet que des ‘actions’ puissent être privées de droit de vote […]. Une fois encore, le droit de l’économie préfère être pragmatique.“ Vgl. den Text zu Fn. 35. Vgl. den Text zu Fn. 32. Näher dazu für das deutsche Recht Schäfer, Der stimmrechtslose GmbH-Geschäftsanteil, 1997, S. 6 ff.

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schafters von der Willkür anderer Gesellschafter führt.89) Dies gilt gleichermaßen für stimmrechtslose OHG-Gesellschafter: Die Gefahr, dass sie für die Folgen eines verfehlten Beschlusses mit ihrem Privatvermögen einstehen müssen, besteht durchweg bei einem Mehrheitsprinzip – gleichviel, ob sie nun überstimmt werden oder von vornherein vom Stimmrecht ausgeschlossen sind.90) Unabhängig davon steht einem Gleichlauf von Mitsprachemöglichkeit und Haftung entgegen, dass jeder OHG-Gesellschafter in einer mehrgliedrigen Gesellschaft gemäß §§ 114 Abs. 1, 125 Abs. 1 HGB über Einzelgeschäftsführungsbefugnis und Einzelvertretungsmacht verfügt, die auch haftungsträchtige Geschäfte einschließt. 3. Gesellschaftsanteile ohne Gewinn- und Stimmrecht Zu untersuchen bleibt, ob man hierzulande auch Gesellschaftsanteile kreieren kann, die weder Gewinn- noch Stimmrechte vermitteln. Den Kristallisationspunkt der wissenschaftlichen Diskussion bildet die schon mehrfach erwähnte Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1954. Danach „kann ernstlich kaum bezweifelt werden, daß derjenige, der kein Stimmrecht, kein Gewinnrecht und keinen Liquidationsanteil besitzt, kein Gesellschafter ist“91). Diese Rechtsauffassung – in einem obiter dictum geäußert – findet in Teilen der Literatur bis heute Zuspruch.92) Der niederländische Reformgesetzgeber hat sie für seine GmbH jüngst sogar in Art. 2:190 NBW in Gesetzesform gegossen.93) Die herrschende Lehre in Deutschland zeigt sich mittlerweile liberaler: Ihr zufolge kann ein Beteiligungsinteresse sogar ohne Stimmrecht und Teilhabe am Ertrag bestehen; die Zulässigkeitsgrenze sei erst erreicht, wenn die Mitgliedschaft mangels sonstiger Rechte völlig sinnentleert sei94) oder wenn die betreffende Vereinbarung im Einzelfall aufgrund der Ausnutzung der Unterlegenheit

89) 90) 91) 92) 93) 94)

Vgl. A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, § 11 III 1, S. 109; R. Fischer in: Staub, HGB, 3. Aufl. 1973, § 119 Rz. 23. Überzeugend Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 47. BGH, Urt. v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 270. Vgl. Bayer in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 14 Rz. 11; früher schon Feine, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 1929, S. 523. Vgl. den Text zu Fn. 37. So Seibt in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 14 Rz. 33; Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 145 f. und 208 ff.; Raiser in: Ulmer, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 14 Rz. 37.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 217

einzelner Mitgesellschafter gegen § 138 Abs. 1 BGB verstoße95). Manche Literaturstimmen verlangen für die Zulässigkeit gewinn- und stimmrechtsloser Anteile allerdings einen sachlichen Grund.96) Für eine eigene Stellungnahme bedarf es zunächst der Klärung, ob eine solche „verdünnte“ Rechtsposition noch mitgliedschaftliche Züge trägt oder einem anderen Vertragstyp unterfällt. Ein Abgleich mit dem Aktienrecht könnte gegen die Zulässigkeit gewinn- und stimmrechtsloser Anteile sprechen: Nach § 140 Abs. 2 AktG lebt das Stimmrecht nämlich wieder auf, wenn die Vorzugsdividende nicht vollständig gezahlt wird.97) An diesem Junktim wird sich auch nach Inkrafttreten der Aktienrechtsnovelle 2014 nichts ändern,98) auch wenn der Gesetzgeber zukünftig Vorzugsaktien ohne Nachzahlungsrecht zulässt.99) Anders als im Aktienrecht gilt im Personengesellschafts- und GmbH-Recht aber grundsätzlich Gestaltungsfreiheit. Warum es trotz dieser legislatorischen Grundentscheidung keine Mitgliedschaft ohne Stimm- oder Ertragsbeteiligung geben können soll, dafür bleibt der Bundesgerichtshof eine Begründung schuldig.100) Immerhin behält der Rechtsinhaber in diesem Fall sein Teilnahmerecht an der Gesellschafterversammlung, das Auskunfts- und Einsichtsrecht sowie das Recht zur Anfechtung von Gesellschafterbeschlüssen. Daher verkümmert seine Rechtsposition nicht zu einem nudum ius, sondern ermöglicht es ihm, aktiv am Gesellschaftsleben teilzunehmen und so an der Förderung des gemeinsamen Zwecks mitzuwirken. Dies rechtfertigt nach wie vor eine Einordnung seiner Rechtsstellung als Verbandsmitgliedschaft.101)

95) So Fastrich in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 14 Rz. 15; Schäfer, Der stimmrechtslose GmbH-Geschäftsanteil, 1997, S. 136; Wolany, Rechte und Pflichten des Gesellschafters einer GmbH, 1964, S. 185 f. 96) So Reichert/Weller in: MünchKomm-GmbHG, GmbHG, 2. Aufl. 2015, § 14 Rz. 92; Pentz in: Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 5. Aufl. 2013, § 14 Rz. 19; dies erwägend auch Schäfer, Der stimmrechtslose GmbH-Geschäftsanteil, 1997, S. 136. 97) Darauf hinweisend Freitag in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 119 Rz. 23. 98) Vgl. Begr. RegE des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014), BT-Drucks. 18/4349, S. 26. 99) Vgl. Begr. RegE des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014), BT-Drucks. 18/4349, S. 25. 100) Ähnlich Seibt in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 14 Rz. 33. 101) Im Ergebnis ebenso Wolany, Rechte und Pflichten des Gesellschafters einer GmbH, 1964, S. 186: „ME besteht kein hinreichender Grund, den Gesellschafter, der nur die überhaupt nicht aufgebbaren Rechte besitzt, nicht mehr als Gesellschafter anzusehen. Gegen ‚Vergewaltigungen’ schützt § 138 BGB.“

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Richtig ist allerdings auch, dass eine solche doppelt-kupierte Mitgliedschaft sehr selten vorkommt. Daraus darf man schließen, dass sie in aller Regel nicht interessengerecht ist und auf eine Funktionsstörung der Privatautonomie hindeutet. Es besteht daher aller Anlass, sorgfältig zu prüfen, ob die betreffende Abrede nicht gegen § 138 BGB verstößt, weil sie die Unterlegenheit eines Mitgesellschafters in unbilliger Weise ausnutzt. Angesichts dieser ganz und gar ungewöhnlichen Vertragsgestaltung wird man sogar noch einen Schritt weitergehen und für einen gleichzeitigen Ausschluss von Gewinn- und Stimmrecht einen Sachgrund verlangen müssen. Er mag etwa vorliegen, wenn ein Gesellschafter auf Gewinn- und Liquidationserlös verzichtet hat, weil ihm stattdessen eine vorteilhafte Geschäftsverbindung zur GmbH zuteil wurde, und er zugleich sein Stimmrecht als Gegengabe für einen Dauersitz im Aufsichtsrat geopfert hat.102) Fehlt ein solcher Sachgrund, ist ein Sittenwidrigkeitsverdikt wohl unvermeidbar. IV. Ergebnisse 1.

Gewinn- oder stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbHGeschäftsanteile stoßen international vor allem in den romanischen Rechten an Zulässigkeitsgrenzen. In Fortführung der römisch-rechtlichen Lehre von der societas leonina sind Gesellschaftsanteile ohne Gewinnbeteiligung in Frankreich (clause léonine) und Italien (patto leonino) bis heute explizit verboten. Gleiches gilt auch ohne ausdrückliche Gesetzesregelung für Gesellschaftsanteile ohne Stimmrecht. Gewinn- und Stimmrecht gehören demnach in beiden Ländern zum caractère essentiel der Verbandsmitgliedschaft.

2.

Hierzulande hat die herrschende Lehre die societas leonina entgegen dem historischen Gesetzgeberwillen als Grundfigur ausgemustert: Die Gewinnbeteiligung eines jeden Gesellschafters ist mit Recht kein notwendiger Bestandteil der Verbandsmitgliedschaft in Personengesellschaft oder GmbH mehr. Allerdings kann ein Ausschluss von jeglicher Gewinnbeteiligung im Einzelfall gemäß § 138 BGB sittenwidrig sein.

102) So das Beispiel von Wolany, Rechte und Pflichten des Gesellschafters einer GmbH, 1964, S. 186.

Gewinn- und stimmrechtslose Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile 219

3.

Ebenso darf nach Rechtsprechung und herrschender Lehre das Stimmrecht eines GmbH-Gesellschafters und Kommanditisten im Gesellschaftsvertrag grundsätzlich ausgeschlossen werden. Gleiches gilt nach überwiegender, aber nicht unangefochtener Auffassung für das Stimmrecht eines OHG-Gesellschafters und des persönlich haftenden Gesellschafters einer KG. Für den erforderlichen Minderheitenschutz sorgen § 138 BGB sowie eine Reihe weiterer Rechtsfiguren (Kernbereichslehre, Belastungsverbot, Treuepflichtkontrolle).

4.

Entgegen einer frühen Entscheidung des Bundesgerichtshofs sind sogar Personengesellschafts- und GmbH-Geschäftsanteile ohne Stimmrecht und Ertragsbeteiligung denkbar. Für sie muss allerdings ein hinreichender Sachgrund vorliegen, sonst fallen sie gemäß § 138 BGB dem Sittenwidrigkeitsverdikt anheim.

5.

Diese liberale Grundhaltung hinsichtlich der Variabilität von Mitgliedschaftsrechten liegt in der Fließrichtung des modernen Personengesellschafts- und GmbH-Rechts. Man darf daher gespannt sein, wie lange sich das gerontokratische Regime vom caractère essentiel bestimmter Mitgliedschaftsrechte in den romanischen Rechten noch wird halten können. Feine Risse in der Verteidigungsfront sind bereits sichtbar.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum – Wie viel Einheit? Welcher Methodendiskurs? – STEFAN GRUNDMANN Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung und Thema Einheit als Konzept – Bedeutung für Methode und Praxis 1. Einheit als Frage des jüngeren Methodendiskurses 2. Einheit als Frage von Binnenmarkt und Zahlungsgeschäft III. Einheit und Vielfalt im Zahlungsvorgang 1. Zahlungsauftrag 2. Leitwege, Ausführungsfristen und Abwicklungsvereinfachung

3. Widerrufs- und Widerspruchsmöglichkeiten IV. Einheit und Vielfalt im Haftungsregime 1. Haftungsfragen – Überblick 2. Sorgfalts- und Präventionspflichten (gegen Missbrauch) 3. Haftungsregeln (für Missbrauch) und integrationspolitische Bewertung V. Schlussfolgerungen

I. Einleitung und Thema Johannes Köndgen ist vieles, in meinen Augen zuvörderst moderner Theoretiker und Handels- sowie Wirtschaftsrechtler, mit Schwerpunkt im vielleicht wichtigsten wirtschaftsrechtlichen Querschnittsgebiet, dem Bankrecht, und ein streitbarer Jurist. Über das Dritte einen Festschriftbeitrag zu verfassen, wäre reizvoll, jedoch nur bei persönlicherer Kenntnis, als ich sie habe. Immerhin: „Nomen“ ist bei ihm fast schon gleich „Omen“, trägt er doch den Namen des Lieblingsjüngers des – wahrhaft streitbaren – Martin Luther. So bleiben allein die beiden anderen – stärker objektivierbaren – Kerncharakteristiken des Juristen Johannes Köndgen. Methodisch identifiziert sich Köndgen sicherlich mit der modernen Hermeneutik und versteht Rechtsfindung als prozesshaft, mit starker Fundierung auch in

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Stefan Grundmann

den Tatsachen.1) Über seinen Lehrer, Joseph Esser, Wegbereiter der modernen Hermeneutik in den Rechtswissenschaften, geht Köndgen jedoch insofern deutlich hinaus, als er diesen methodischen Grundansatz – durchaus Kind seiner Zeit – prominent mit der ökonomischen Analyse des Rechts verbindet, der sicherlich in den letzten Dekaden dominierenden Form einer interdisziplinären Analyse des Rechts.2) Seine Methodik ist jedoch gerade nicht die einer „Schule“ der Rechtsökonomik: Ebenso sehr in der Habilitation wie auch im großen Vortrag vor den Zivilrechtslehrern im Jahre 20063) ist sie stets an den modernen Phänomenen des Rechts ausgerichtet, materiell-rechtlich ausgerichtet in dem einen Fall, vorrangig normtheoretisch in dem anderen, stets jedoch einer modernen Methodik verschrieben, für die die brennendsten aktuellen Rechtsprobleme wichtiger sind als ein stets durchdekliniertes ökonomisches Effizienzparadigma. Schließlich ist Köndgen Wirtschafts-, vor allem Bankrechtler, unter Essers Schülern sicherlich der prominenteste Wirtschaftsund erst recht Bankrechtler. Er ist geschäftsführender Herausgeber der wichtigsten bankbetriebswirtschaftlich und bankrechtlich ausgerichteten Zeitschrift, der Zeitschrift für Bankrecht und Bankpraxis (ZBB), er ist Autor

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Köndgen, Joseph Esser – Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie, in: Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler – eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, 2 Bde., 2007 und 2010 (in Englisch bei Intersentia 2016), Bd. 1, S. 103; vgl. dazu außerdem Grundmann in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 41 – 65 (zu Esser, Hermeneutik und Positivismus). Früh: Köndgen, Ökonomische Aspekte des Schadensproblems – Bemerkungen zur Kommerzialisierungsmethode des Bundesgerichtshofs (Economic Aspects of the Damage Problem – Remarks on the ‚Commercializing Method‘ of the Bundesgerichtshof), AcP 177 (1977), 1; später etwa Köndgen, Bankgebühren – Ökonomie und Recht kreditwirtschaftlicher Entgeltgestaltung, ZBB 1997, 117; Köndgen, Immaterialschadensersatz, Gewinnabschöpfung oder Genugtuung in Geld bei vorsätzlichem Vertragsbruch?, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Probleme des Zivilrechts, 1991, S. 169; Köndgen, Die Relevanz der ökonomischen Theorie der Unternehmung für rechtswissenschaftliche Fragestellungen – ein Problemkatalog, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Unternehmensrechts, 1993, S. 128. Zur Bedeutung der Hermeneutik auch für die Konzeption von Rechtswissenschaften als interdisziplinärgesellschaftswissenschaftlich fundierte Wissenschaften vgl. Grundmann in: Grundmann/ Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 41 – 65. Einerseits Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag – zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, und andererseits Köndgen, Privatisierung des Rechts – Private Governance zwischen Deregulierung und Rekonstitutionalisierung, AcP 206 (2006), 477.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

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zahlreicher wichtiger Einzelbeiträge, großer Überblicksaufsätze,4) vielleicht legt er noch ein Lehrbuch des Bankrechts vor. Vor allem interessieren ihn immer wieder gerade die Schlüsselmomente, in denen ganze Teilgebiete in eine fundamental neue Phase eintreten, geradezu paradigmatisch im Recht des Zahlungsverkehrs, das im vorliegenden Beitrag aufgegriffen wird,5) aber auch etwa im Kreditrecht oder in Kernfragen des wertpapierhandelsrechtlichen Aufklärungsregimes.6) Wenn sich – i. S. des Gründungsvaters dieser Perspektive, Max Webers – die interdisziplinäre Sicht

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Etwa: Köndgen, Neue Entwicklungen im Bankhaftungsrecht, 1987; Köndgen, Die Entwicklung des privaten Bankrechts in den Jahren 1990/91, NJW 1992, 2263; Köndgen, Die Entwicklung des Bankkreditrechts in den Jahren 1991–93, NJW 1994, 1508; Köndgen, Die Entwicklung des privaten Bankrechts in den Jahren 1992 – 1995, NJW 1996, 558; Köndgen, Die Entwicklung des Bankkreditrechts in den Jahren 1995 – 1999, NJW 2000, 468; Köndgen, Die Entwicklung des privaten Bankrechts in den Jahren 1999 – 2003, NJW 2004, 1288. Etwa für die beiden großen EG-Richtlinien im Zahlungsverkehr (und ihre Umsetzung): Köndgen, Das neue Recht der Banküberweisung … und die heimliche Aushöhlung des AGB-Gesetzes, ZBB 1999, 103; Köndgen, Das neue Recht des Zahlungsverkehrs, JuS 2011, 481; und für die vielleicht entscheidende Änderung im neuen Regime – die Verantwortlichkeit und Haftung der erstbeauftragten Bank für den Erfolg des Zahlungsvorgangs über die ganze Bankenkette hinweg – bereits Köndgen, NJW 1992, 2263, 2268 (noch extreme Mindermeinung unter dem alten Regime); sowie Köndgen, Bankhaftung – Strukturen und Tendenzen, Generalbericht, in: Köndgen, Neue Entwicklungen im Bankhaftungsrecht, 1987, S. 133. Für das Kreditrecht vor allem die Neuordnung durch die Schuldrechtsmodernisierung: Köndgen, Darlehen, Kredit und finanzierte Geschäfte nach neuem Schuldrecht – Fortschritt oder Rückschritt?, WM 2001, 1637; aber auch die Übersichtsaufsätze speziell zum Kreditrecht oben Fn. 4 sowie in Reaktion auf die Finanzkrise: Köndgen, Policy Responses to Credit Crises – Does the Law of Contract Provide an Answer?, in: S. Grundmann/Y. M. Atamer (Hrsg.), Financial Services, Financial Crisis and General European Contract Law – Failure and Challenges of Contracting, 2011, S. 35. Vgl. auch, damals als Thema noch ganz neu: Köndgen, Financial Covenants – „Symbiotische“ Finanzierungsverträge im Spannungsfeld von Vertrags-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht, in: Prütting (Hrsg.), Insolvenzrecht 1996, 1997, S. 127. Für das wertpapierhandelsrechtliche Aufklärungsregime besonders grundsätzlich etwa Köndgen, Wieviel Aufklärung braucht ein Wertpapierkunde? Bemerkungen zum Richtlinienentwurf des Bundesaufsichtsamts für den Wertpapierhandel zu § 35 Abs. 2 WpHG, ZBB 1996, 361; Köndgen, Grenzen des informationsbasierten Anlegerschutzes – zugleich Anmerkung zu BGH, Urt. v. 22.3.2011 – XI ZR 33/10, ZIP 2011, 756 = BKR 2011, 283.

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Stefan Grundmann

des Rechts namentlich an der Wirtschaft zu beweisen hat,7) so beherzigt Köndgen dies in besonderer Weise und liegt es daher gerade in einer Festgabe für Köndgen nahe, eine zentrale Entwicklung des Bankrechts des letzten Jahrzehnts aus einer theoretischen – etwa normtheoretischen – Perspektive zu beleuchten. Für das Bankrecht ist unverkennbar die europäische Ebene zur zentralen Regelungsebene avanciert: schon seit einiger Zeit im Investment Banking, dann im Zahlungsgeschäft, nur im Kreditgeschäft noch immer weniger umfassend (allerdings im gesamten Verbraucherkredit auch hier), zuletzt jedoch auch kodifikatorisch verdichtet im Bankaufsichts- und -abwicklungsrecht.8) Die zwei Projekte, in denen die materiell-rechtliche Harmonisierung und die institutionelle Zentralisierung auf EU-Ebene im letzten Jahrzehnt wohl am intensivsten vorangetrieben wurden, neue Meilensteine setzend, bilden der sog. Einheitliche Euro-Zahlungsverkehrsraum (Single Euro Payments Area, SEPA) und die sog. Europäische Bankenunion. Dabei ist die Begrifflichkeit chiastisch „überkreuz“. Denn das Regime für den Einheitlichen „Euro“-Zahlungsverkehrsraum ist eines, das für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union – und sogar darüber hinaus auch für die EWR-Staaten und die Schweiz sowie Monaco und San Marino – gilt; es handelt sich also in Wirklichkeit um einen genuin Europäischen Zahlungsraum, der erst an den Grenzen zu Russland, Weißrussland und der Ukraine endet (mit Ausnahmen allein auf dem Balkan) und innerhalb dessen nur in Fragen der Abdingbarkeit und der Abwicklungsfristen danach differenziert wird, in welcher Währung die Zahlung erfolgt (in Euro oder einer anderen Währung). Und umgekehrt ist die „Europäische“ Banken7)

8)

Nicht von ungefähr wurde die Rechtssoziologie fast schon primär am Subsystem Wirtschaft entwickelt: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriß der verstehenden Soziologie, (Tübingen, 1922, Untertitel seit der Aufl. von 1956), vgl. Kap. 7, S. 378 – 513 und auch die neue Wirtschaftssoziologie entwickelte seit den 1980er/1990er Jahren wichtige alternative Erklärungsmodelle zur ökonomischen Theorie. Vgl. zu beidem Kurzübersicht und Diskussion zentraler Texte und Gedankenlinien bei Renner bzw. Grundmann in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 118 – 129, 1293 – 1317 und 1998 – 2018. So konzeptionell: Derleder/Knops/Bamberger, Hdb. BankR, 2. Aufl. 2009; breiter Überblick in: S. Grundmann, European Law and Principles on Commercial and Investment Banking Contracts: An Advanced Area of Codification, in: S. Hartkamp/ M. W. Hesselink/E. Hondius/Ch. Mak/E. du Perron (Hrsg.), Towards a European Civil Code, 4. Aufl. 2011, S. 787. Ganz als zumindest gleichgewichtig „europäisch“ ausgerichteter Kommentar konzipiert jetzt: Grundmann in: Großkomm-HGB, Bankvertragsrecht, 5. Aufl. 2015 und 2016 (Teile 1 – 3, Teil 4 zum Kreditrecht Renner). Dort auch der erste Teil zur neuen bankaufsichtsrechtlichen Architektur in der EU.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

225

union im Kern ein Aufsichtsregime mit Zentralisierung gerade auch der administrativen Aufsichts- und (aufsichtlichen) Abwicklungsbefugnisse bei der Europäischen Zentralbank (EZB) und beim Single Resolution Board (SRB) allein für die Banken der Eurozone, nicht für die Europäische Union allgemein (für die nur die materiell-rechtliche Harmonisierung des Aufsichtsrechts einheitlich gilt). Der sog. Euro-Zahlungsverkehrsraum ist also ein Europäischer Zahlungsverkehrsraum, umgekehrt die sog. Europäische Bankenunion eine Aufsichtszentralisierung für den Euroraum. Während die Europäische Bankenunion jüngeren Datums ist – die Europäische Zentralbank übt die einheitliche Aufsicht seit dem 4. November 2014 aus, der Single Resolution Board ist für die einheitliche Abwicklung gar erst zuständig seit dem 1. Januar 2016 – ist zwar der Einheitliche Europäische Zahlungsraum bereits seit einigen Jahren etabliert, immerhin enden die Übergangsfristen auch hier jedoch erst zum 1. Februar 2016 und fallen damit zu diesem Zeitpunkt die (für das deutsche Recht und die deutsche Rechtsentwicklung) so wichtigen Instrumente wie das Einzugsermächtigungsverfahren, aber auch die Zulassung einer Auftragserteilung im Inland ohne IBAN (mit klassischer Kontonummer und Bankleitzahl) weg. Erst zum 1. Februar 2016 ist also der Zahlungsraum wirklich flächendeckend „einheitlich Europäisch“ geworden. Wichtiger jedoch: Nach fast einer Dekade kann die nunmehr etablierte Praxis daraufhin befragt werden, wie einheitlich sie wirklich in Europa ist und ob das Maß der Einheit ein auch normativ überzeugendes ist. Und sicherlich liegt der Schwerpunkt der Arbeiten des Jubilars stärker im materiellen Bankvertragsrecht sowie der Normtheorie – mit den ökonomischen Grundlagen –, gerade auch im Zahlungsverkehrsrecht (siehe oben Fn. 5), als im Bankaufsichtsrecht und dem Recht der Bankenorganisation.9) Das Thema selbst lebt nun vom Spannungsbogen zwischen Bankvertragsrecht – hier Recht des Zahlungsverkehrs – und Normtheorie. Das Recht des Zahlungsverkehrs ist (nach einer stärker punktuellen Harmonisierung

9)

Für meine Sicht und parallele Untersuchungen zum neuen Bankaufsichtsrecht vgl. Grundmann, Europäisches Wirtschaftsrecht im Wandel – von der Wettbewerbsunion zur Finanzunion, in: FS 200 Jahre Heymans-Verlag, 2015, S. 193; Grundmann, Bankenunion und Privatrecht – Spannungspunkte, Einflusslinien, Beispiele, ZHR 179 (2015), 563.

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Stefan Grundmann

schon 1997/99, die auch nur das Überweisungsrecht betraf)10) mit Verabschiedung und Umsetzung der EG-Zahlungsdienste-Richtlinie (ZD-RL) in eine grundsätzlich neue Phase eingetreten,11) geprägt durch eine tiefergreifende und stärker flächendeckende Europäisierung des materiellen Rechts als in jedem anderen Teilgebiet des Vertragsrechts, namentlich auch mit der Wahl eines Vollharmonisierungsansatzes (dazu dann noch unten II unter 2). Methodisch interessant wird diese Entwicklung, wenn man sie primär normtheoretisch beleuchtet, im Hinblick auf den Nutzen von Einheit. Das soll im Folgenden geschehen. Köndgen selbst hat seinen vielleicht wichtigsten Beitrag im Bereich der Normtheorie mit dem Vortrag vor der Zivilrechtslehrervereinigung vorgelegt. In ihm beleuchtet er zentral die Fragen privater Regelsetzung (Private Ordering).12) Diese Auswahl durch Köndgen – und aufgegriffen wiederum im vorliegenden Beitrag – wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Entwicklung des jüngeren Methodendiskurses im Recht und der Privatrechtstheorie (dazu unten II unter 1):

10)

11)

12)

Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. (EG) 1997 Nr. L 43/25; umgesetzt durch Überweisungsgesetz v. 21.7.1999, BGBl. I, 1642. Zur Umsetzung in übereinstimmender Bewertung der Wichtigkeit: Köndgen, ZBB 1999, 103, und Grundmann, Grundsatz- und Praxisprobleme des neuen deutschen Überweisungsrechts, WM 2000, 2269. Ausführlichere Darstellung und Literatur etwa bei Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 64 et passim. Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. (EU) 2007 Nr. L 319/1; umgesetzt durch Art. 1 Nr. 47 des Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie zur Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufsund Rückgaberecht vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2355. Zur Umsetzung (wiederum) in übereinstimmender Bewertung der Wichtigkeit: Köndgen, JuS 2011, 481, und Grundmann, Das neue Recht des Zahlungsverkehrs – Teil 1, Grundsatzüberlegungen und Überweisungsrecht, WM 2009, 1109; Grundmann, Das neue Recht des Zahlungsverkehrs – Teil 2: Lastschrift, Kartenzahlung und Ausblick, WM 2009, 1157. Ausführlichere Darstellung und Literatur in etwa Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 2 – 12 et passim. Köndgen, ACP 206 (2006), 477, sowie etwa Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, 2006; H. Collins, Regulating Contracts, 1999, S. 56 – 62; Renner in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 1929 – 1939.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

227

II. Einheit als Konzept – Bedeutung für Methode und Praxis 1. Einheit als Frage des jüngeren Methodendiskurses Kern des klassischen Methodendiskurses ist die Lehre von der Auslegung und den Auslegungsmethoden. Sie lebt auch heute nicht nur vielfach und besonders prominent auch durch Fortschreibung der „Klassiker“ fort.13) Vielmehr wird sie heute auch – nachdem Fikentscher sie bereits vor einigen Jahrzehnten magistral auf die Ebene der Rechtsvergleichung gehoben hatte14) – vor allem für eine Europäische Methodenlehre fruchtbar gemacht,15) gleichsam als Export des Savigny’schen Kanons und erhebliche Erweiterung seines „Anwendungsbereiches“. Wenn freilich ein Thema den Methodendiskurs der letzten Jahrzehnte prägte wie kein anderes und dies weltweit, so ist dies m. E. weniger die genannte Fortschreibung und „Übersetzung“ der Auslegungslehre als vielmehr die Frage nach dem „besten“ Regelsetzer. Kernerkenntnis bzw. these ist insoweit, dass die Qualität der Normsetzung zusammenhängt mit der Frage danach, wer die Regeln setzt. Köndgen fragte danach (und generell bei der Analyse von Private Ordering zentral ist die Frage), ob private Regelsetzer nur eine Tendenz zur – wie auch immer zu beurteilenden – „Deregulierung“ hätten, oder ob nicht vielmehr Qualität – i. S. von treffendem Austarieren der Freiheits- und Schutzbedürfnisse – für sie gar besonders zentral ist, gleichsam als Gegentrend zur Deregulierung, um sich im Konzert der Regelgeber durchzusetzen („Konstitutionalisierung“, vgl. Fn. 3). Diese Frage nach dem „besten Regelgeber“ ist freilich viel breiter, viel vielfältiger Kernfrage des jüngeren Methodendiskurses für eine ganze 13)

14)

15)

Canaris/Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 2014; ansonsten bspw. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991; Zippelius, Juristische Methodenlehre – eine Einführung, 11. Aufl. 2012; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999; auch Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 5 Bde. 1975 – 1977 (mit wechselnden Untertiteln: nach Rechtskreisen geordnet Bd. 1–3, folgend der „Dogmatische Teil“, zuletzt Nachträge und Register). Riesenhuber, Europäische Methodenlehre – Hdb. für Ausbildung und Praxis, 3. Aufl. 2015; Gruber, Methoden des Einheitsrechts, 2004; Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013; auch das von Fleischer herausgegebene Sonderheft der RabelsZ von 2011, darin Grundmann, „Inter-InstrumentalInterpretation“ – Systembildung durch Auslegung im Europäischen Unionsrecht, RabelsZ 75 (2011), 882.

228

Stefan Grundmann

Reihe von Ansätzen und dies weltweit.16) Vier oder fünf von diesen Ansätzen stechen besonders ins Auge: Vielleicht am frühesten und kristallin klar hat den Konnex zwischen Qualität der Regelsetzung und Person des Regelsetzers die sog. Governance-Forschung herausgestellt, beginnend mit dem nobelpreisgekrönten Werk von Williamson (und insbesondere dem Aufsatz zur „Contractual Governance“ von 1979).17) Für diese Forschungsrichtung ist gerade dieser Konnex zwischen materiellem Recht und seinem Entstehungsumfeld stets zentral geblieben. Zentral wurde dieser Konnex dann auch für das Konzept vom sog. Wettbewerb der Regelgeber vor allem in den 1990er Jahren, mit dem die hoheitlichen Regelgeber konzeptionell ihres Regelsetzungsmonopols beraubt und in einen Wettbewerb gestellt wurden – weil ein solcher nicht primär qualitätsmindernd, sondern im Gegenteil qualitätssteigernd wirke (genauer: wirken könne): kein „race to the bottom“, sondern ein „rise to the top“.18) Erst an diese Diskussion schloss sich dann die – von Köndgen beleuchtete – Debatte um das Private Ordering an, die Frage danach, ob und in wieweit auch private Regelsetzer an diesem Wettbewerb teilnehmen und teilnehmen sollen. Und das Private Ordering ist nun – durch die Einführung einer neuen Art von Regelsetzern – sogar besonders radikal mit dem Gedanken verbunden, dass Recht 16)

17)

18)

Deswegen widmet die Privatrechtstheorie von Grundmann/Micklitz/Renner auch der Normsetzungsfrage – neben den materiell rechtlichen Fragen und der Vorstellung der herangezogenen Disziplinen – einen eigenen, den 5. Teil. O. Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, J.L. Econ., Vol. 22, No. 2, 233 (1979). Bei Williamson wird die Erkenntnis, dass die die dort behandelten vertraglichen Langzeitverbindungen so unterschiedlich, so wenig standardisiert seien, dass sich eine Einheitsregel verbietet, normtheoretisch dahingehend fruchtbar gemacht, dass Governancestandards vor allem von den Parteien selbst einzurichten und auszugestalten seien. Zu den zentralen Anwendungsgebieten der Corporate Governance und der – von Williamson zunächst angemahnten – Contract Governance vgl. nur die beiden Überblickswerke: K. Hopt/H. Kanda/ M. J. Roe/E. Wymeersch/S. Prigge, Comparative Corporate Governance – the State of the Art and Emerging Research, 1998; bzw. Grundmann/Möslein/Riesenhuber, Contract Governance – Dimensions in Law and Interdisciplinary Research, 2015; Überblick zur Einbettung des Ansatzes in Institutionenökonomik und Rechtswissenschaften bei Grundmann in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 167 – 195, 1293 – 1317. Bahnbrechend R. K. Winter, State law, shareholder protection, and the theory of the corporation, 6 J. Legal Stud. 251 (1977); Romano, Law as a product – some pieces of the incorporation puzzle, 1 J.L. Econ. & Org. 225, 233 – 235 (1985); kritischer/ differenzierter L. A. Bebchuk, Federalism and the Corporation – the desirable limits on state competition in corporate law, 105 Hav. L. Rev. 1435 (1992). Überblick zuletzt bei Micklitz in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 1723 – 1741.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

229

nicht mehr Monopol eines hoheitlichen Regelsetzers ist, etwa ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Regelgebern eröffnet wird, durch den bereits dem Privaten die Wahl des anwendbaren Regelkatalogs eröffnet wurde. Mit dem Konzept eines Wettbewerbs der Regelsetzer wiederum eng verbunden ist dann die für die Europäische Union so wichtige Frage nach Vor- und Nachteilen zentralisierter oder dezentraler Regelsetzung, wie sie vor allem in der sog. Förderalismustheorie und im Folgenden gestellt wird. Letztlich revolutionierte die Idee, dass die Person des Regelsetzers auch die Qualität der Regelsetzung beeinflusse, sogar auch die große globale Metaperspektive, die Methode der Rechtsvergleichung: Die funktionale Rechtsvergleichung – auch etwa noch die große Methodenvergleichung bei Fikentscher – hatte mit dem Vergleich grundsätzlich keine qualitative Wertung verbunden (oder allenfalls unterschwellig), sondern vor allem die Funktionserfüllung auf die verschiedensten (rechtskonstruktiven) Weisen betont und war (jedenfalls implizit) von einer Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen ausgegangen.19) Mit der Legal Origins Theorie wurde dies revolutioniert, an die Stelle der „funktional-neutralen“ Sicht trat die Beurteilung von Rechtsordnungen unter dem Gesichtspunkt, wie sehr sie zur wirtschaftlichen Entwicklung von Volkswirtschaften beitragen, eine scharf wertende Sicht, die zudem mit dem Rekurs auf statistische Methoden den Anspruch geradezu naturwissenschaftlich-exakter Messung verband.20) Der Ansatz mag vielfacher methodischer Kritik ausgesetzt sein, paradigmatisch für die Entwicklung des jüngeren weltweiten Methodendiskurses (und ungemein erfolgreich) ist er allemal. Vorliegend soll aus dem Kranz dieser Ansätze zur „Bewertung“ von Regelsetzern vor allem die sog. Föderalismustheorie und -forschung herausgegriffen werden. Sie stellt sich die Frage, in welchen Fällen Regelsetzung auf zentraler Ebene und in welchen auf dezentraler Ebene bessere Chancen auf hohe Qualität und Befriedigung der Bedürfnisse der Normadressaten 19)

20)

Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung: Auf dem Gebiet des Privatrechts, 3. Auf. 1996, etwa S. 12 – 30 et passim; kritischer Überblick bei Micklitz in: Grundmann/ Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 342 – 359 und 1723 – 1741. R. La Porta/F. Lopez-de-Silanes/A. Shleifer/R. W. Vishny, Law and Finance, 106 Journal of Political Economy 1113 (1998); R. La Porta/F. Lopez-de-Silanes/A. Shleifer, The Economic Consequences of Legal Origins, 46 Journal of Economic Literature 285 (2008); zu einer kritischen Stellungnahme aus deutscher Sicht etwa Lieder, Legal Origins und die empirische Rechtsvergleichung – zur Bedeutung des Rechts für die Entwicklung von Kapitalmärkten und Corporate-Governence-Strukturen, Zvgl.RWiss 109 (2010), 216; Micklitz in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2 Bde., 2015, S. 342 – 359.

230

Stefan Grundmann

hat. Mit dem Konzept eines Wettbewerbs der Regelsetzer ist diese Frage mindestens zweifach verbunden: weil Regelsetzung auf zentraler Ebene (etwa Harmonisierung) horizontalen Regelsetzerwettbewerb (durch Reduktion der Unterschiede) beschränken oder ausschließen (manchmal freilich auch befördern)21) kann; und weil sich im sog. vertikalen Regelsetzerwettbewerb zentrale Regelsetzung und dezentrale Regelsetzung sogar unmittelbar im Wettbewerb gegenüberstehen. Die Frage, in welchen Fällen Regelsetzung auf zentraler Ebene und in welchen auf dezentraler Ebene bessere Chancen auf hohe Qualität und Befriedigung der Bedürfnisse der Normadressaten hat, d. h. welche Art der Regelsetzung welche Vor- und Nachteile hat, wird bereits seit einigen Jahrzehnten diskutiert. Als Leitlinien können heute wohl Folgende gesehen werden:22) Für eine Regelsetzung auf zentralisierter Ebene – etwa EUEbene – werden als die drei wichtigsten Vorteile angeführt: 1.

die Schaffung von sog. Skalenerträgen (Gewinne durch häufigere Anwendung desselben [für seine Einrichtung kostenverursachenden] Prozesses), ein Vorteil, den die EU-Kommission für ihre Vorschläge regelmäßig besonders betont (vgl. etwa 1.– 4. Erwägungsgrund der EG-Zahlungsdienste-Richtlinie [ZD-RL]);

2.

Gewinne durch abgestimmte Rechtsanwendung, wenn ein bestimmter Vorgang andernfalls mehrere Jurisdiktionen betreffen würde und beide nicht in gleichem Maße aufeinander abgestimmt sind wie Regelsetzung auf zentralisierter Ebene; und

3.

die Zurückdrängung negativer externer Effekte in anderen (Teilstaat -)Jurisdiktionen, wenn bei Anwendung einer Rechtsordnung

21)

Zu den bahnbrechenden Beiträgen vgl. Nachw. oben Fn. 18. In Europa dann zentral der Gedanke, dass auch ein Wettbewerb der Regelgeber einer intelligenten Wettbewerbsordnung (bewussten Mischung) bedürfe, gerade auch im sog. Vertikalwettbewerb: vgl. nur F. Gomez/J. Ganuza, An Economic Analysis of Harmonization Regimes – Full Harmonization, Minimum Harmonization or Optional Instrument?, (2011) 7 ERCL 275; W. Kerber/S. Grundmann, An Optional European Contract Law Code – Advantages and disadvantages, (2005) 21 European Journal of Law and Economics 215; Grundmann, Kosten und Nutzen eines optionalen Europäischen Kaufrechts, AcP 212 (2012), 502. Vgl. neben den Nachw. Fn. 21 vor allem die besonders schöne und vollständige (auf eine breite Literaturauswertung gestützte) Übersicht von W. Kerber, European System of Private Laws – an Economic Perspective, in: F. Cafaggi/H. Muir-Watt (Hrsg.), Making European Private Law – Governance Design, 2008, 65, insb. 76 (mit Tabelle, die über die Aufzählung unten hinaus auch weitere, weniger wichtige Vor- und Nachteile auflistet).

22)

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

231

die Nachteile dieser Anwendung vor allem in anderen Jurisdiktionen auftreten (beide weiteren Vorteile ebenfalls in den genannten Erwägungsgründen zumindest angedeutet). Umgekehrt wird für eine Regelsetzung auf dezentraler – etwa mitgliedstaatlicher – Ebene vor allem angeführt: Sie kann 1.

auf lokale Präferenzen – etwa mehr Sicherheitsdenken in Deutschland als etwa in Großbritannien und Irland – zielgenauer abgestimmt sein; sie erlaubt

2.

eine Vielfalt an Lösungen, deswegen auch mehr Experimentieren (durch vervielfältigten „trial and error“), wichtig vor allem in Bereichen schnelllebiger Innovation; auch können

3.

die Verkrustungsgefahren (schwerfälliger Abänderungsprozess) geringer sein.

In den genannten Bemühungen um eine besonders angemessene Rahmenordnung für einen Wettbewerb der Regelgeber geht es im Kern darum, für ein gegebenes Rechtsgebiet – auf dem Hintergrund dieses Tableaus an Vor- und Nachteilen – nach einem besonders geeigneten „Mix“ zwischen zentraler und dezentraler Regelsetzung zu suchen. Dies soll im Folgenden konkret für das Zahlungsverkehrsrecht im Einheitlichen Europäischen Zahlungsraum geschehen. 2. Einheit als Frage von Binnenmarkt und Zahlungsgeschäft Das Zahlungsgeschäft kann – viel zu selten betont – als das erste Rechtsgebiet gelten, das insgesamt flächendeckend, mit erheblicher Regelungstiefe und vollharmonisiert auf Europäischer Ebene geregelt, also gleichsam „kodifiziert“ ist. Dass Breite, Tiefe und Maß der Vereinheitlichung (Vollharmonisierung) so zusammenkommen, ist für keinen anderen Bereich des Vertragsrechts so zu konstatieren – wenn man von gescheiterten Projekten wie dem eines Einheitlichen Europäischen Kaufrechts absieht. Denn die EG-Zahlungsdienste-Richtlinie erfasst (i) alle relevanten Zahlungsinstrumente (diejenigen, die elektronisch abgewickelt werden können), Überweisung, Lastschrift, Kartenzahlung, dies gerade auch aus Kostengründen (die Günstigsten fördern!) und unter Ausschluss nur folgender Instrumente: Scheck, Wechsel, Dokumentenakkreditiv und -inkasso – klassisch/historisch zwar wichtig, heute aber nur noch für 0,37 % des Zahlungsverkehrsvolumens in Deutschland verwandt. Darüber hinaus (ii)

232

Stefan Grundmann

wird auf Europäischer Ebene praktisch jede wichtige Frage des Zahlungsvorgangs (einschließlich Pflichtverstößen und Haftung) geregelt, ungeregelt bleiben praktisch nur das Valutaverhältnis (das den Zahlungsvorgang nur anstößt) und Teile des Interbankenverhältnisses (das insoweit in die Hände der Verbände und Aufsichtsbehörden gelegt wird). Schließlich wird (iii) nicht nur ein Mindestmaß festgelegt, sondern folgt die Richtlinie ausdrücklich dem Vollharmonisierungsansatz (Art. 86 ZD-RL), so dass die nationale Umsetzung weder hinter den Europäischen Vorgaben zurückbleiben darf, noch über sie hinausgehen darf,23) mithin punktgenau diese treffen muss. Dieser Bereich ist auch derjenige, für den diese (weitgehende) Vollharmonisierung kaum kritisiert wird, jedenfalls ungleich weniger als für andere Bereiche. Und dass gerade die neutrale Leistung jeweils „Europäisiert“ werden sollte – gleichsam für jeden Vertrag relevant – wenn es um die Förderung des Binnenmarktes geht, erscheint durchaus ebenfalls naheliegend. Deswegen scheint es auch angemessen, den Zahlungsverkehr selbst für den deutschen Rechtsverkehr in der Tat i. S. eines Kommentars für die Europäische Union zu kommentieren.24) Dies freilich ist nur die eine Seite der Medaille. Kommentare zum Europäischen Zahlungsraum sehen in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht nur aus „nationalem Beharrungsvermögen“ heraus weiterhin verschieden aus. Die Einheit ist vielmehr auf Grund von drei ebenfalls wichtigen Instrumenten keineswegs vollständig. Mit anderen Worten: Das Resultat, das man von der Föderalismustheorie her auch erwarten würde, prägt auch die Wirklichkeit und Praxis: Selbst der vollharmonisierte und flächendeckend auf EU-Ebene regulierte „Europäische“ Zahlungsraum besteht nicht nur aus Einheit, sondern ist gekennzeichnet auch durch Vielfalt. Die Instrumente, die dies ermöglichen, sind: (punktuelle) Zulassung von Privatautonomie, so dass in diesen Bereichen nationale AGB-Regelwerke

23)

24)

Zur Vollharmonisierung allgemeiner (auch zur EG-Zahlungsdienste-Richtlinie): Gsell/ Herresthal, Vollharmonisierung im Privatrecht, 2009; Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht, 2014, insb. S. 29 ff. und 170 ff. Für das Zahlungsgeschäft näher Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 7 f.; Wackwitz, Die Zahlungsdiensterichtlinie und ihre Umsetzung – Modell, Rechtsvergleich und allgemeine Lehren, 2013, insb. S. 26 – 29. So in der Tat der Anspruch von Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 (Zahlungsgeschäft). Dort auch (Rz. 1 – 19, 555) zu den eben genannten Zahlen zur Verbreitung der verschiedenen Zahlungsinstrumente und der Tiefe der Harmonisierung.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

233

möglich bleiben;25) Ausnahmen vom Vollharmonisierungsgrundsatz (vgl. Aufzählung in Art. 86 Abs. 1 ZD-RL und näher unten); Verweise auf eine Regelung und Ausgestaltung durch nationale Gesetzgeber und Wahlrechte. Wenn also zu flächendeckender und tief durchregulierter Einheit auch „Inseln“ an Vielfalt treten, stellt sich die – für die Föderalismustheorie zentrale – Frage nach der richtigen Verteilung. Sie soll im Folgenden für zwei Kernfragenbereiche des Zahlungsgeschäftsrechts – wohl die beiden zentralen überhaupt – erörtert werden. III. Einheit und Vielfalt im Zahlungsvorgang Erwägungsgründe 2 und 4 der EG-Zahlungsdienste-Richtlinie (ZD-RL) betonen zweierlei zentrale Punkte im Hinblick auf das Thema Einheit und Vielfalt: dass 1.

die „Zahlungsverkehrsmärkte der Mitgliedstaaten aufgrund ihrer nationalen Ausrichtung unterschiedlich organisiert“ (gewesen) seien, dass demgegenüber „auf Gemeinschaftsebene […] ein moderner und kohärenter rechtlicher Rahmen für Zahlungsdienste […] neutral ist [sein könne] und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Zahlungssysteme gewährleistet [gewährleisten könne] […]“; und

2.

dass der „Verbraucher auch weiterhin freie Wahl“ haben solle (offenbar auf der Grundlage eines für alle Zahlungsdiensteleister gleichen Rechts), „was im Vergleich zu den derzeitigen nationalen Systemen einen erheblichen Fortschritt in Bezug auf die Verbraucherkosten, die Sicherheit und die Effizienz bedeuten dürfte.“

Rechtseinheit soll also offenbar einerseits gleiches Recht für alle Zahlungsdiensteleister verbürgen, zentral jedoch auch dem Verbraucher Nutzen bringen, insbesondere in Form von höherer Effizienz und Kostenersparnis. 1. Zahlungsauftrag Umso mehr verwundert es auf den ersten Blick, dass die erste zentrale Durchbrechung des Vollharmonisierungs- und Einheitsregimes schon bei 25)

Vgl. etwa für die deutschen Überweisungsbedingungen Bunte, AGB-Banken, AGBSparkassen, Sonderbedingungen, 4. Aufl. 2015, Ordnungsnummer 4: SB ÜB; Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 543.

234

Stefan Grundmann

der Handlung (Willenserklärung) zu konstatieren ist, die den Zahlungsvorgang (im Regelfall einer bestehenden Kontokorrentbeziehung) initiiert, beim Zahlungsauftrag des Kunden: Denn § 675j Abs. 1 Satz 3 BGB sieht – in Umsetzung von Art. 54 Abs. 2 ZD-RL – ausdrücklich vor, dass für die Auslösung von Zahlungen die Einhaltung einer speziellen Form – etwa die Verwendung von Vordrucken oder Eingabemasken – vereinbart werden kann, was, wenn der Charakter von Zahlungsdiensten als Massengeschäft berücksichtigt wird, geradezu zwingend eine Abrede auch durch Allgemeine Geschäftsbedingungen umfassen muss. Daher wird auch Nr. 20 Abs. 1 Satz 2 lit. d AGB-Sparkassen, der solch eine Form vorsieht, aber auch die entsprechende Praxis bei den Privatbanken weit überwiegend und zu Recht als (AGB-rechtlich) wirksam und nicht als missbräuchlich eingestuft.26) Das ist durch die Gestattung in der ZD-RL geradezu zwingend vorgegeben. Für die Vorgaben zu der wichtigsten Handlung, die der Verbraucher vorzunehmen hat, gilt also gar kein Einheitsregime, obwohl die Einrichtung eines solchen nach dem 4. Erwägungsgrund vor allem oder jedenfalls zentral den Nutzen des Verbrauchers fördern sollte. Auch für den wichtigsten Fall, in dem von einer routinemäßigen Abwicklung abgewichen wird, dem Eilauftrag (etwa zur Gutschrift beim Empfängerinstitut noch am selben Tage), wird eine gesonderte Abrede getroffen, indem Nr. 11 Abs. 3 AGB-Banken einen besonderen Hinweis – außerhalb des gängigen Überweisungsauftrags – vorsieht. Fehlt er, so soll nur routinemäßige Abwicklung (i. R. der üblichen Fristen) geschuldet sein. Auch dies ist durch den Massencharakter des Geschäfts bedingt, der es verbietet, eilbedürftige Aufträge ohne solch einen gesonderten Hinweis aus der Masse der Aufträge herauszufiltern. Die Klausel wird – wiederum auf der Grundlage von § 675j Abs. 1 Satz 3 BGB (Art. 54 Abs. 2 ZD-RL) zwingend – praktisch einhellig als wirksam eingestuft.27) Allgemeiner statuiert 26) 27)

Vgl. etwa Bunte, AGB-Banken, 4. Aufl. 2015, AGB-Sparkassen Rz. 67; Casper in: Derleder/Knops/Bamberger, Hdb. BankR, 2. Aufl. 2009, § 3 Rz. 66. M. E. schon auf der Grundlage von § 307 Abs. 3 BGB, vgl. Grundmann in: GroßkommHGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 324, 327; i. Erg. ebenso Merkel, Die neuen Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken – Teil II (Nr. 11 – 20), WM 1993, 725, 726 f.; Seibert, Verzug, Mahnung und Warnobliegenheit beim Überweisungsvertrag, NJW 2006, 2357, 2362; Baumbach/Hopt, HGB, 36. Aufl. 2014, AGBBanken Nr. 11 Rz. 7; Bunte, AGB-Banken, 4. Aufl. 2015, AGB-Banken Rz. 228; Casper in: Derleder/Knops/Bamberger, Hdb. BankR, 2. Aufl. 2009, § 3 Rz. 63; Pamp in: Wolf/ Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 6. Aufl. 2013, 5. Teil, Klauseln (B) Rz. B48; a. A. offenbar Fuchs in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 11. Aufl. 2011, Teil 4 (2) Banken (Kreditinstitute) Rz. 37.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

235

solch eine besondere Hinweispflicht oder -obliegenheit Nr. 20 Abs. 1 Satz 2 lit. e AGB-Sparkassen für besondere Weisungen, die über die routinemäßige Abwicklung hinausgehen; auch diese Klausel wird deswegen praktisch einhellig als wirksam qualifiziert.28) So plausibel diese Abreden demnach erscheinen, stellt sich doch im Hinblick auf das Leitthema dieses Beitrages die Frage, ob die gefundene Lösung wirklich der individuellen Abrede überlassen werden sollte und nicht eher europaeinheitlich hätte vorgeschrieben werden sollen. Zur Beantwortung der Frage ist zunächst auf die rechtstatsächliche Grundlage hinzuweisen, dass Kreditinstitute Kundenkonten praktisch durchweg nur im Sitzland des Instituts halten, Kunden in anderen Ländern also entweder ein Konto bei einem Tochterinstitut in diesem anderen Land eröffnen oder ein Auslandskonto (im Sitzland des Kreditinstituts). Aus diesem Grunde ergehen Zahlungsaufträge an dasselbe Institut stets nur nach demselben Recht (Sitzrecht des Instituts), die Institute haben sich also für bei ihnen gehaltene Konten jeweils nur auf ein Recht einzustellen. Durch europaeinheitliche Regelung wären also für sie keine weiteren Skalenerträge zu erzielen. Allein die kleine Zahl an Kunden, die Inlands- und Auslandskonten halten, muss sich auf verschiedene Rechte einstellen. Dies freilich wiegt gering im Vergleich zu dem Vorteil, der sich daraus ergibt, dass das Regime des Kundenauftrages auf die konkreten Gegebenheiten im jeweiligen Land zugeschnitten werden kann, etwa auf die lokale Kleinteiligkeit oder das Maß der Elektronisierung des Bankgeschäfts im jeweiligen Land. Daher überzeugt aus Sicht der Föderalismustheorie ein Verweis auf eine Regelung auf dezentraler Ebene durchaus. Plastisch belegt dies auch eine weitere im deutschen Recht diskutierte Frage: Nach h. M. wird auf Grund der genannten Normen und Allgemeinen Geschäftsbedingungen die Annahme telefonischer Aufträge – obwohl sie durchaus vorkommt – keineswegs als (allgemein) geschuldet angesehen. Insbesondere ist eine Inkonsistenz zwischen Nr. 20 Abs. 1 Satz 2 lit. d AGB-Sparkassen und Nr. 10 AGB-Sparkassen (mündliche Auftragsübertragung manchmal möglich) nicht zu konstatieren.29) Die Gegenmeinung 28)

29)

Für Wirksamkeit dieser Klausel auch Bunte, AGB-Banken, 4. Aufl. 2015, AGBSparkassen Rz. 68; Casper in: Derleder/Knops/Bamberger, Hdb. BankR, 2. Aufl. 2009, § 3 Rz. 63; Fandrich in: v. Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 36. EL 2015, Banken und Sparkassen-AGB Rz. 53. So Fuchs in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 11. Aufl. 2011, Teil 4 (2) Banken (Kreditinstitute) Rz. 40.

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verkennt, dass auch im Massenverkehr den Banken jede mögliche Kundennähe und jedes mögliche Eingehen auf Kundenwünsche gestattet werden sollte, ohne sie damit zu zwingen, allgemein das Geschäft auf ein einzelfallbezogenes – nicht mehr massenhaft abgewickeltes – zuzuschneiden. „Inkonsistenz“ wäre nur anzunehmen, wenn davon auszugehen wäre, dass zwischen engen Bank-Kunden-Beziehungen, etwa in Kleinstadt und Dorf, und anonymem Massenverkehr kein faktischer Unterschied bestünde, den die Banken auch unterschiedlich handhaben können sollten. M. E. bedingen sich die Banken daher (wirksam) eine Form aus, die eine realistische Auftragserfüllung auch im Regelfall gewährleistet, können aber im Einzelfall auf Einhaltung verzichten, um individuelle Kundenbeziehungen besonders zu pflegen. Die Gegenmeinung würde dazu führen, dass allgemein telefonisch Überweisungsaufträge aufgegeben werden dürften und die Bank sie zu befolgen hätte – was eine sichere Abwicklung des Massenverkehrs praktisch illusorisch machen würde, dies zum Schaden aller. 2. Leitwege, Ausführungsfristen und Abwicklungsvereinfachung Leitwege, auf denen Zahlungsaufträge abgewickelt werden, geben die ZDRL und §§ 675c ff. BGB nicht vor. Davon dass Kunden sie vorgeben können, geht zwar etwa § 675z Satz 3 a. E. BGB aus. Im Regelfall bestimmt hierüber jedoch das erstbeauftrage Institut. Wiederum wird also hierfür eine europaeinheitliche Regelung nicht getroffen, in diesem Fall regelmäßig noch nicht einmal eine Abrede (etwa Regelung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen). Verständlich wird diese Rechtslage – und zugleich plausibel auch im Lichte der vorliegend gestellten Leitfrage nach Einheit und Vielfalt und den jeweiligen Vor- und Nachteilen – erst auf dem Hintergrund einer anderen Regelung, im Kern einem dreiteiligen Regime, das aus einer grundsätzlichen Erfolgshaftung, klaren Fristenvorgaben und einer Vereinfachung des Abwicklungsvorgangs besteht. Dieses dreiteilige Regime wird nun durchaus europaeinheitlich vorgegeben. Im Einzelnen: Das (i) erste Element betrifft den Haftungsrahmen, der dann unter IV mit einem anderen Kernaspekt nochmals aufgegriffen wird. Hier zunächst so viel: Das erstbeauftragte Institut trifft im Hinblick auf den Eingang der Valuta beim Empfängerinstitut – in richtiger Höhe und zum vorgegebenen Zeitpunkt – eine Erfolgshaftung für die gesamte Zahlungs-, etwa Überweisungskette. Und diese Vorgabe erfolgt nun in der Tat europaeinheitlich (und zwingend), d. h. durch die (vollharmonisierende) EG-Zahlungsdienste-Richtlinie, namentlich deren Art. 75 f. (§§ 675y,

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675z BGB). Beide Normen statuieren eine Ersatzpflicht europaeinheitlich und gegenüber Verbrauchern zwingend und dies keineswegs nur für den Euroraum, sondern die gesamte Europäische Union (vgl. § 675e Abs. 3 bzw. 4 BGB).30) Die Regelung beider Normen deckt alle möglichen Fehler/ Planwidrigkeiten bei der Ausführung ab, namentlich den Verlust der Valuta, die Einbehaltung von Gebühren aus der Valuta, vor allem jedoch auch den verspäteten Zahlungseingang (beim Empfängerinstitut, vgl. §§ 675y, 675z i. V. m. §§ 675q bis 675s Abs. 1 BGB). Letzteres ist vorliegend besonders wichtig. Denn in diesem zentralen Punkt – und nur in diesem – wird durchaus eine Abweichung zwischen den Mitgliedstaaten zugelassen: Während § 675y BGB eine vollumfängliche Erstattung der Valuta selbst (ex nunc) und § 675z BGB den Ersatz von Zinsschäden unbegrenzt vorsieht – auch wenn der Fehler bei einer zwischengeschalteten Bank lag – wird für sonstige Folgeschäden fehlerhafter Ausführung zwar ebenfalls eines Haftung – wiederum auch für Fehler bei zwischengeschalteten Banken – europaeinheitlich zwingend vorgesehen, jedoch den Mitgliedstaaten eine Beschränkung auf 12.500 € gestattet. Da nun (ii) zugleich die Ausführungsfristen europaeinheitlich zwingend vorgegeben sind – bei elektronischer bzw. beleggebundener Auftragserteilung ein bzw. zwei Tage, bzw., wenn eine Währungsumrechnung nötig wird, vier Tage bei entsprechender Abrede (§ 675s Abs. 1 BGB) – geht das Modell dahin, dass dem Kunden europaeinheitlich die Einhaltung einer bestimmten Ausführungsfrist garantiert wird, i. H. von 12.500 € gegenüber allen Schäden, vor allem auch allen Verspätungsschäden, in unbegrenzter Höhe mit einem Zinsschadensersatzanspruch und einem Erstattungsanspruch, Letzteres insbesondere falls der Transfer für ihn aufgrund der Fristverfehlung sein Interesse verloren hat und in den (eher seltenen Fällen) vollständigen Valutaverlusts. Die Begrenzung der sonstigen Verspätungsschäden auf 12.500 € erklärt sich aus dem Umstand, dass diese verschiedener Natur sein können und quer durch Europa ein Trennlinie verläuft zwischen den Staaten, die eine Haftung bei Pflichtverstößen auf vorhersehbare Schädigungen begrenzen, und denjenigen, bei denen (wie im deutschen Recht) dies grundsätzlich nicht der Fall ist31) – mit guten Gründen für 30)

31)

Vgl. Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 76 – 78, 82 (mit Tabelle zur durchaus komplexen Regelung der Ausnahmen vom Anwendungsbereich und zu den Fällen von Abdingbarkeit). Vgl. nur H. Beale/B. Fauvarque-Cosson/J. Rutgers/D. Tallon/S. Vogenauer, Cases, Materials and Texts on Contract Law, (2nd edn., Oxford, Hart, 2010), p. 1002 – 1011.

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beide Lösungen. Die Grundidee der Haftungsbegrenzung kann also dahin zusammengefasst werden, dass bis zur Höhe von 12.500 € ein sonstiger Folgeschaden auch im (sehr abstrakten, hinsichtlich der Umstände im Valutaverhältnis „inhaltsarmen“) Bank-Kunden-Verhältnis als vorhersehbar verstanden wird, für alle sonstigen Folgeschäden oberhalb von 12.500 € demgegenüber eine gesonderte Absprache („Versicherung“) nötig ist. Vollständig wird das (vollharmonisierte) europaeinheitliche Modell durch (iii) ein drittes Element – neben der Haftungsregel selbst und der Regelung zu den Ausführungsfristen: Das Richtlinienregime sieht eine Buchung allein nach der Kundenkennung, dem sog. IBAN vor, während nach früherem deutschen Überweisungsrecht bankseitig eine sog. Kontoanprüfung – der Abgleich auch mit dem angegebenen Kundennamen – geschuldet war und bei Diskrepanz zwischen Kontonummer und Empfängernamen Rückfrage beim Zahler genommen werden musste.32) Erst diese Vereinfachung der Abwicklung, mit der eine vollautomatisierte Abwicklung ohne Rückfragen ermöglicht wurde, erlaubt es, dass wirklich die oben genannten Fristen verlässlich zugesagt werden können bzw. der Gesetzgeber solch eine Zusage kraft Gesetzes den Banken legitimer Weise auferlegen kann. Und jedenfalls aus persönlicher Anschauung des Verfassers: Auch aus Italien ist die Verlässlichkeit – auch bei der Fristeinhaltung – absolut einwandfrei. Die entscheidende Frage ist, welchen „Preis“ diese Neuerung bei denjenigen Kunden hat, die den IBAN falsch angeben. Hier nun ist wichtig, dass der IBAN so aufgebaut ist, dass er immer durch 97 ohne Rest zu teilen sein muss und 22-stellig ist (2 Buchstaben als Länderkennung, 2 Stellen für die Prüfziffer, die die genannte Teilbarkeit gewährleistet, 8 Stellen als Bankidentifikator und die 10-stellige Kontonummer, ggf. aufgefüllt durch Nullen). Aufgrund des sog. MOD97-10-Verfahrens kann also schon rein formal bei fast allen Fällen des Verschreibens festgestellt werden, dass solch ein Fehler vorlag. Mit anderen Worten: Der „Preis“ ist nicht etwa der, dass flüchtige oder „verletzliche“ Verbraucher, etwa ältere Personen, ab und an oder gar häufig die Valuta durch Verschreiben verlören. Vielmehr hat ihre Unaufmerksamkeit in aller Regel nur die Folge, dass ihr Überweisungsauftrag nicht ausgeführt und sie hiervon benachrichtigt werden (zudem ohne Kostenfolge, vgl. § 675r Abs. 3 i. V. m. § 675f Abs. 4 Satz 2 BGB und § 675o Abs. 1 Satz 4 BGB e contra32)

Vgl. für das neue wie das alte Regime näher und statt aller (mit umfangreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum) Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 327, 329 – 331 bzw. 329.

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rio).33) Es wird also dafür optiert, allen Kunden eine feste Fristzusage europaweit geben zu können, damit sie etwa Termine (Zahlungsfristen, Skontotermine etc.) sicher einhalten können, umgekehrt aber den unvorsichtigen Kunden eine gewisse Zeitverzögerung und Initiativlast aufzuerlegen. Aus der Perspektive der Föderalismustheorie – unter dem Blickwinkel des Zusammenspiels von Einheit und Vielfalt – ist dieses (dreiteilige) europaeinheitliche Regime, das aus einer grundsätzlichen Erfolgshaftung, klaren Fristenvorgaben und einer Vereinfachung des Abwicklungsvorgangs besteht, bei gleichzeitiger Vielfalt und Freiheit der (Bestimmung der) Leitwege durchaus positiv zu bewerten: Einerseits betreffen die Leitwege – solange sie von den Banken bestimmt werden und diese Wahl die Rechte der Kunden nicht tangieren – allein das Interbankenverhältnis. Dieses ganz in die Hände der Banken zu legen, ggf. auch mit der Folge, dass unterschiedliche Modelle praktiziert werden, erlaubt einerseits ein Experimentieren und eine Fortentwicklung der Zahlungssysteme. Umgekehrt werden Dritte davon nicht tangiert (keine negativen externen Effekte) und liegt die Sorge um Kompatibilität der Systeme – soweit es überhaupt nicht nur um technische, sondern um rechtliche Kompatibilität geht – in den Händen der Banken selbst, also von Akteuren mit höchster Expertise in diesem Bereich, denen zudem alle Instrumente zur Verfügung stehen, ggf. für gänzlich einheitliche Rechtsverhältnisse zu sorgen (keine Problematik rechtlicher Inkompatibilitäten). Da demnach die Hauptgründe, die für eine Vereinheitlichung sprechen, nicht einschlägig sind, überzeugt für die Frage der Leitwege die Wahl eines Systems, in dem Vielfalt möglich bleibt, durchaus. Dies steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass Kundenrechte dadurch nicht negativ betroffen werden. Fragt man nach den Interessen des Kunden an europaweiter Einheitlichkeit der Regelung, so besteht solch ein Interesse nicht oder allenfalls peripher bei der Form des Auftrages (typischerweise immer dieselbe, weil immer im selben Land erteilt) und selbst bei der Haftung nur in Teilaspekten (dazu später), wohl aber sehr weitgehend bei den Ausführungsfristen und der Verlässlichkeit des Zahlungsvorgangs. Nur eine Standardisierung hierbei erlaubt es ihnen, verlässlich auch bei binnenmarktgrenzüberschreitenden Transaktionen zu zahlen und etwa Skonti, termingerechte Zahlung und auch Haftungsansprüche bei Planwidrigkeiten in einem vergleichbaren Maße zu planen wie bei Inlandstransak33)

Vgl. näher Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 329 – 334; prominent a. A. noch Hadding, Zur „Kundenkennung“ im neuen Recht der Zahlungsvorgänge, in: FS für Schneider, 2011, S. 443, 447 – 454.

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tionen. Umgekehrt werden aus Markt- und Unternehmenssicht nur auf diese Weise im Hinblick auf die Zahlung grenzüberschreitende Angebote gleichbehandelt gegenüber Inlandsangeboten in einem fremden Markt. 3. Widerrufs- und Widerspruchsmöglichkeiten In Abrundung zu den Überlegungen zum Zahlungsvorgang sei abschließend – und deutlich knapper – noch auf die Möglichkeit des Zahlers eingegangen, die Autorisierung nachträglich durch Widerruf bzw. Widerspruch zurückzunehmen (§ 675p BGB, Art. 66 ZD-RL bzw. § 675x BGB, Art. 62 f., 66 ZD-RL). So interessant das Regime des Widerrufs bei zahlerinitiierten Zahlungsvorgängen ist – insbesondere die radikale Zurückdrängung dieser Möglichkeit durch Verkürzung der Widerrufsfristen oder -zeiträume34) – von den Richtlinienzielen, integrationspolitisch und von der vorliegend erörterten Fragestellung her deutlich interessanter erscheint das Regime des Widerspruches bei empfängerinitiierten Zahlungsvorgängen, namentlich bei der Lastschrift. Eine der zentralen Zielsetzungen der Richtlinie bestand darin, ein Erfolgsmodell in der Europäischen Union allgemein zu etablieren, das sich gerade im deutschen Recht für die Begleichung (vor allem) von massenhaft gleich oder ähnlich bleibenden Beträgen in der täglichen Daseinsvorsorge ausgebildet hatte. Eine breiterflächige Praxis des Lastschrifteinzuges – statt der massenweise auszufüllenden bollettini – sehnte sich der deutsche Hochschullehrer in Italien in der Tat sehnlich herbei und sie wurde in den letzten zwei Jahren tatsächlich Wirklichkeit. Freilich hat die Richtlinie zwar die Möglichkeit, einen Lastschrifteinzug auch grenzüberschreitend anbieten zu können, zwingend eingeführt. Die Kernvorschrift in § 675x Abs. 2 BGB (Art. 62 Abs. 1 Unterabs. 4 ZD-RL) ist jedoch dahingehend zu verstehen, dass die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der (nationalen) Banken(verbände) festlegen können, ob und welche Widerspruchsfristen gelten, wenn die Lastschrift erfolgt ist: ob es also solch eine Widerspruchsmöglichkeit nur geben soll, wenn der Lastschriftbetrag nicht vorher klar festgelegt war (vgl. § 675x Abs. 1 BGB, Art. 62 Abs. 1 Unterabs. 1–3 ZD-RL), oder ob (innerhalb einer Acht-Wochen-Frist) ein Widerspruchsrecht ohne Grund 34)

Zu diesem Fragenkreis, in dem stark auf europaeinheitliche Lösungen gesetzt wurde und insb. das bisher abweichende deutsche Recht (mit deutlich längeren Widerrufsfristen) an den klaren europäischen Mehrheitstrend angepasst werden musste, vgl. etwa Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 303 f. (mit rechtsvergleichenden Hinweisen in Fn. 589).

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gewährt wird. Aus Sicht der Föderalismustheorie erscheint wichtig, dass zunächst einmal die Vorzüge der Lastschrift in vielen Mitgliedstaaten vor allem für den Inlandsverkehr erkannt werden müssen und dass daher das Hauptvolumen, das sich aufbauen soll, jeweils erst einmal für Inlandstransaktionen entwickelt werden muss und hier ohnehin nach einem einheitlichen (wenn auch nationalen Recht) abgewickelt wird. In Ländern ohne Lastschrifttradition ist es in solch einer Situation auch durchaus plausibel, dass sich ein hinreichendes Vertrauen bei den Gläubigern nicht aufbauen lassen wird, wenn mehrmonatiger Widerspruch zu befürchten ist. In Italien mag es deutlich mehr Schuldner geben, die – echte „furbi“ – wenn sie knapp bei Kasse sind, zwischenzeitlich einmal einen Widerspruch bei den Lastschrifteinzügen einlegen würden, für die die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist.35) Umgekehrt jedoch ist die Erfahrung deutscher Lastschriftgläubiger aufgrund der statistisch ausgesprochen niedrigen Widerspruchszahl so überwältigend gut, dass sie ein Regime gut akzeptieren können, das es dem Kunden wahrhaft leicht macht, eine Genehmigung zum Lastschrifteinzug zu erteilen, weil es ihm bei jedem Verdacht der Unredlichkeit der anderen Seite ein grundloses Widerspruchsrecht mit sehr komfortabler Überlegungszeit einräumt. Die Richtlinienlösung machte zwar im Dogmatischen eine grundlegende Reform des deutschen Lastschriftrechts unumgänglich,36) im Ergebnis jedoch erlaubt 35)

36)

Vergleichbar in Deutschland freilich die Insolvenzverwalter, teils mit Unterstützung des Insolvenzrechtssenats des BGH: vgl. zur Entwicklung etwa Berger, Das Lastschriftverfahren im Spannungsverhältnis zwischen Bank- und Insolvenzrecht, NJW 2009, 473; Eyber, Lastschrift und Insolvenz – Durchbruch in Rechtsprechung und Praxis oder unendliche Geschichte? – Anmerkung zu den Urteilen des XI. und IX. Zivilsenats des BGH v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07 und IX ZR 37/09, BGHZ 186, 269, ZInsO 2010, 2363; Langen/Lang, Auf dem Weg zur insolvenzfesten Lastschrift, NJW 2010, 3484; Nobbe, Lastschriften in der Insolvenz des Schuldners – Vorhang zu, alle Fragen offen? ZIP 2012, 1937; Köhler, Lastschriftverfahren in der Insolvenz des Schuldners – im Lichte der neuen BGH-Rechtsprechung, 2010. Stichwort: Ablösung des Einzugsermächtigungsverfahrens durch ein Lastschriftgenehmigungsregime. Vgl. unter den Urteilen bzw. Literaturfundstellen, die für die Neu-Konzeptualisierung im Dogmatischen besonders herausragen: BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07 und IX ZR 37/09, BGHZ 186, 269, insb. 280 – 283 und 287 ff. = WM 2010, 1546 = ZIP 2010, 155; Freitag, Die Geldschuld im europäischen Privatrecht, AcP 213 (2013), 128, insb. 153 f.; Hadding, Erfüllung der Geldschuld im SEPA-Basislastschriftverfahren, WM 2014, 97, 99 f.; Laitenberger, Das Einzugsermächtigungslastschriftverfahren nach Umsetzung der Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, NJW 2010, 192; Omlor, Die neue Einzugsermächtigungslastschrift – von der Genehmigungs- zur Einwilligungstheorie, NJW 2012, 2150; Werner, Zivilrechtliche Neuerungen im Recht der Lastschrift – insb. im Einziehungsermächtigungsverfahren, BKR 2012, 221; Schacht, Das neue Lastschriftrecht – unter besonderer Berücksichtigung der SEPA-Lastschriftverfahren, 2012.

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sie gleichermaßen Deutschland, sein Erfolgsmodell eines Lastschrifteinzuges mit erheblicher Widerspruchsfrist beizubehalten, wie Italien, ein Modell einzuführen, das Schuldneropportunismus ebenso sehr entgegenwirkt wie Gläubigeropportunismus. Die Zulassung von Vielfalt war hier – angesichts deutlich divergierender Ausgangslagen und Präferenzen – sichtlich Voraussetzung für die breitflächige Eröffnung des Lastschriftverfahrens europaweit und in der Tat vorzugswürdig. IV. Einheit und Vielfalt im Haftungsregime 1. Haftungsfragen – Überblick Haftungsfragen sollen ebenfalls nur exemplarisch angesprochen werden, namentlich die zwei wichtigsten Konstellationen. Stets sind die Pflichten, für deren Verletzung gehaftet wird, und das Haftungsregime in ihrem Zusammenhang zu sehen. Für den ersten großen Haftungskomplex, den die Richtlinie regelt und der auch in der Praxis zentrales Gewicht hat, wird dies im Folgenden erörtert: die Haftung für die Schäden, die durch Ausführung eines Auftrages entstehen, den nicht der Berechtigte erteilt oder genehmigt hat. Der Berechtigte und das kontoführende Institut haben insoweit weitgehend europaeinheitlich geregelte Sorgfalts- und Präventionspflichten, die solch einen Missbrauch möglichst weitgehend verhindern sollen (unten 2). Hingegen weichen die Haftungsregeln selbst in dem Punkt, der rechtsdogmatisch und rechtspolitisch in Europa am umstrittensten war, nicht unerheblich voneinander ab, bei der missbräuchlichen Nutzung von sog. Zahlungsauthentifizierungsinstrumenten, etwa Girocard mit PIN oder Online-Banking mit PIN und TAN (unten 3). Der zweite Hauptbereich der Haftung, der sich zeitlich anschließt, die Haftung für fehlerhafte Ausführung eines wirksam erteilten Zahlungsverkehrsauftrages, wurde demgegenüber bereits oben zusammen mit den Regeln über der Zahlungsvorgang erörtert, mit dem Ergebnis, dass relativ hohe Folgeschäden (über 12.500 €) nicht europaeinheitlich abgedeckt werden, genauer: in die Hände der Parteien und einer Parteiabsprache gelegt wurden, das sonstige Regime jedoch praktisch europaeinheitlich (und jedenfalls gegenüber dem Verbraucher auch zwingend) gilt.

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2. Sorgfalts- und Präventionspflichten (gegen Missbrauch) Das System der Sorgfalts- und Präventionspflichten unterfällt in einen Bereich für sog. Zahlungsauthentifizierungsinstrumente, mit denen eine besonders verlässliche Absicherung gegen Fälschungs- und Missbrauchsgefahren bezweckt wird, und einen Bereich, in dem keine solchen Instrumente eingesetzt werden, der ungleich weniger minutiös geregelt ist und nur annexweise am Ende kurz angesprochen werden soll. Für den Einsatz der Zahlungsauthentfizierungsinstrumente regeln Art. 55 – 57 ZD-RL und §§ 675k bis 675m BGB einander korrespondierende Präventionspflichten sowohl auf Kunden- als auch auf Kreditinstitutsseite (namentlich: des kartenemittierenden Instituts). Von einem Zahlungsauthentifizierungsinstrument ist nach Art. 4 Nr. 19 ZD-RL (§ 1 Abs. 5 Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz) auszugehen, wenn der Zahlungsdiensteleister mittels personalisierter Sicherheitsmerkmale die Authentizität des Auftrages überprüfen kann. Das Zahlungsauthentifizierungsinstrument, das in den meisten EU-Mitgliedstaaten rechtspolitisch die größte Rolle spielte und daher exemplarisch herausgegriffen werden soll, ist der Girocard-Einsatz unter Verwendung einer PIN.37) Hier ist das Präventionssystem dreiteilig: 1.

Der m. E. zentrale Baustein ist der der sog. Nutzungsbegrenzung (Art. 55 ZD-RL, § 675k BGB): In der Regel kann die Girocard pro Woche nur in einem begrenzten Umfang als Zahlungsidentifizierungs-

37)

Zur zweiten zentral wichtigen Verwendungsform eines Zahlungsauthentifizierungsinstruments, dem Online-Banking unter Verwendung von PIN und TAN, vgl. etwa Hossenfelder, Onlinebanking und Haftung – zu den Sorgfaltspflichten des Bankkunden im Lichte des neuen Zahlungsdiensterechts, CR 2009, 790; Schulte am Hülse/Klabunde, Abgreifen von Bankzugangsdaten im Onlinebanking – Vorgehensweise der Täter und neue zivilrechtliche Haftungsfragen des BGB, MMR 2010, 84; Herresthal in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 1. Aufl. 2013, 5. Kapitel: OnlineBanking, Einführung und §§ 675j bis 676c BGB; Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 254–257, 266; gute Übersicht auch in NJW 2012, 2422 (BGH, Urt. v. 24.4.2012 – XI ZR 96/11). Streitig ist darüber hinaus bei anderen Zahlungsverkehrsinstrumenten, namentlich der Kreditkartenzahlung im Fernabsatz unter Nennung von Kartennummer, Gültigkeitsdatum und Prüfziffer (sog. Mailorderverfahren), ob sie als Zahlungsauthentifizierungsinstrumente zu sehen sind. Vgl. hierzu Oechsler, Die Haftung nach § 675v BGB im kreditkartengestützten Mailorderverfahren, WM 2010, 1381, 1381; und Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 248 m. w. N.; a. A. namentlich Casper/Pfeifle, Missbrauch der Kreditkarte im Präsenz- und Mail-Order-Verfahren nach neuem Recht, WM 2009, 2343, 2349 (mit theoretisch durchaus überzeugenden Argumenten).

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instrument verwendet werden, an Geldautomaten und an Händlerkassen (unter Eingabe der PIN), unbegrenzt demgegenüber nur beim eigenen Institut am Schalter bei der Abhebung oder bei anderen Transaktionen, bei denen jeweils eine andere, nicht nur automatisierte Authentizitätskontrolle möglich ist. Dieser begrenzte Umfang entspricht regelmäßig nur einem Teil des regelmäßigen monatlichen Eingangs auf dem Konto, also etwa 1.000 € bis 2.000 €. Im deutschen Recht gesichert ist, was sich freilich auch europaweit m. E. einheitlich aus Art. 55 ZD-RL ergibt: Ist solch eine Nutzungsgrenze vereinbart, so geht es zu Lasten des Instituts, wenn eine abhanden gekommene Karte doch über die Nutzungsgrenze hinaus genutzt werden konnte.38) Die Nutzungsgrenze entfaltet also Risikobegrenzungswirkung zugunsten des Kunden. Diese Begrenzungswirkung ist vor allem im Zusammenspiel mit dem zweiten Element zu sehen: 2.

Dem Kunden ist eine Anzeigemöglichkeit bei Verlust zu gewährleisten und ab Anzeige ist der Kunde vom Risiko freigestellt; zugleich ist er zur Anzeige „unverzüglich“ verpflichtet (Art. 56 Abs. 1 lit. b ZD-RL, § 675l Satz 2 BGB), worauf dann das Kartensperrungsregime eingreift, jedenfalls jedoch die Gefahr auf das Institut übergeht, das auch eine jederzeit verfügbare Anzeigemöglichkeit bereitzustellen hat (vgl. Art. 55 Abs. 2 und vor allem Art. 57 Abs. 1 lit. c und d ZD-RL, § 675k Abs. 2 und vor allem § 675m Abs. 1 Nr. 3 und 4 BGB). Mit diesem zweiteiligen Regime von Missbrauchsprävention geht eine Begrenzung des (verbleibenden) Risikos auf ein für fast alle Karteninhaber zwar schmerzhaftes, aber unschwer tragbares Maß einher, weil der Karteninhaber es selbst in der Hand hat, durch Anzeige vor Beginn der nächsten (wöchentlichen) Nutzungsbegrenzungsperiode den Verlust sicher auf den verbliebenen Rest des verfügbaren Betrages (in der Regel ca. ein Wochengehalt) zu begrenzen. Die eigentliche Schwäche dieses (zweiteiligen) Nutzungs- und Risikobegrenzungssystems liegt darin, dass eine Nutzungsbegrenzung nur vereinbart werden „kann“, nicht „muss“, also in die Hände der Par-

38)

Im deutschen Recht wird Nichtbeachtung der Nutzungsbegrenzung als Pflichtverletzung des Instituts qualifiziert: BGH, Urt. v. 24.4.2012 – XI ZR 96/11, NJW 2012, 2422, 2425 = ZIP 2012, 1014, und BGH, Urt. v. 29.11.2011 – XI ZR 370/10, ZIP 2012, 217 = NJW 2012, 1277 (hingegen nicht die Nichtbeachtung des davon zu unterscheidenden Deckungsrahmens, insb. bei Missbrauch im Online-Banking, was vom Missbrauchsvorbeugeprinzip her m. E. fragwürdig ist; vgl. auch nächste Fn.).

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teien gelegt wird (Art. 55 Abs. 1 ZD-RL, § 675k Abs. 1 BGB). Ob nicht verbraucherpolitische Gründe dafür sprechen, eine Pflicht zur „angemessenen“ Nutzungsbegrenzung europaeinheitlich zwingend anzunehmen, und ob sich solch eine Pflicht nicht ggf. jedenfalls im deutschen Recht bereits aus Grundsätzen der Systemstimmigkeit und nach Treu und Glauben im allgemeinen Bank-Kunden-Verhältnis ergibt, muss hier nicht untersucht werden:39) Die Praxis scheint (auch aus Eigeninteresse) solch eine Nutzungsbegrenzung flächendeckend zu vereinbaren, durchaus auch im EU-Ausland,40) so dass das Problem allzu theoretisch erscheint. 3.

Das dritte Element des Präventionssystems betrifft dann die Vermeidung auch des genannten „Restschadens“ (innerhalb der Nutzungsbegrenzung, soweit sie in der fraglichen Periode noch nicht ausgeschöpft war). Insoweit trifft das Institut die Pflicht, dass es das Zahlungsauthentifizierungsinstrument dem Kunden so zur Verfügung stellt, dass kein anderer Zugriff hierauf erhält (Art. 57 Abs. 1 lit. a ZD-RL, § 675m Abs. 1 Nr. 1 BGB) – und es trägt insoweit auch die Gefahr (Art. 57 Abs. 2 ZD-RL, § 675m Abs. 2 BGB). Ein Dritter darf namentlich auch nicht Zugriff auf die verschiedenen Sicherungsmittel gemeinsam erhalten, weswegen das Institut etwa verpflichtet ist, Karte und PIN getrennt zu versenden, aber auch das sicherste Verschlüsselungssystem zu wählen, das wirtschaftlich tragbar erscheint.41) Und

39)

Dafür spricht, dass bei Fehlen einer Nutzungsbegrenzung, der Missbrauch finanziell ruinös wirken kann. Vgl. für diesen Aspekt und dafür, dass er bei der Ausgestaltung europaweit einheitlichen Verbraucherschutzes m. E. auch starken Paternalismus rechtfertigt: Grundmann, Funktionaler Verbraucherschutz, in: FS für Roth, 2015, S. 181, 189 – 191 und 194 f. Demgegenüber bildet die (fehlende) Abrede einer Nutzungsbegrenzung (und die fehlende Qualifikation jedenfalls des Deckungsrahmens als Grenze, vgl. oben Fn. 38) eines der Hauptprobleme beim rechtlichen Regime des Online-Banking, vgl. zu Lösungsvorschlägen bei Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 256, 280. Vgl. (primär für die Sicherheitsmerkmale, auf die Übertragungswege aber gut übertragbar): BGH, Urt. v. 24.4.2012 – XI ZR 96/11, NJW 2012, 2422 = ZIP 2012, 1014 (implizit: TAN 2008 „noch“ lege artis); KG Berlin, Urt. v. 29.11.2010 – 26 U 159/09, WM 2011, 493, 496 = ZIP 2011, 1048; Schulte am Halse/Klabunde, MMR 2010, 84, 88; schöne Übersicht zu den Sicherheitsmechanismen und ihrer Effizienz bei Koch, Missbrauch von Zahlungsauthentifizierungsinstrumenten – Haftungsverteilung zwischen Zahlungsdienstleister und Zahlungsdienstnutzer, 2012, S. 60–79. Zum Missbrauchsvorbeugeziel allgemeiner Casper in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 675l Rz. 1 f., § 675m Rz. 1; Schmalenbach in: Bamberger/Roth, BGB, 3. Aufl. 2012, § 675l Rz. 1; Omlor in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2012, § 675l Rz. 1, § 675m Rz. 1.

40)

41)

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den Kunden trifft die Pflicht, das Instrument vor unbefugter Nutzung durch Dritte zu schützen (Art. 56 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 ZD-RL, § 675l Satz 1 BGB), was dann insbesondere die (in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Institute europaweit ähnlich gesondert festgeschriebene) Pflicht umfasst, Karte und PIN getrennt voneinander aufzubewahren.42) Wird kein Zahlungsauthentifizierungsinstrument eingesetzt, etwa eine Überweisung klassisch mit Überweisungsträger getätigt, so geht die h. M. für das deutsche Recht davon aus, dass vergleichbare Kundenpflichten nicht bestünden. Namentlich § 676b Abs. 1 BGB wird überwiegend als bloße Obliegenheit verstanden, was sich schon aus der gesetzlichen Systematik ergäbe.43) Wenn etwa Buchungen aufgrund gefälschter Überweisungsaufträge erkennbar werden, führt danach die Nichtanzeige allenfalls dazu, dass Einwendungen des Kunden hinsichtlich dieser unautorisierten Buchung abgeschnitten werden, nicht jedoch dazu, dass er für zukünftige Schädigungen des Instituts aus diesem Sachverhalt haften würde. M. E. überzeugt das systematische Argument nicht, weil die EG-ZahlungsdiensteRichtlinie insoweit den Ausschlag geben muss, die die Frage für Zahlungsauthentifizierungsinstrumente und für andere Zahlungsverkehrsinstrumente gemeinsam in Art. 56 Abs. 1 lit. b und 58 ZD-RL regelt. Dort auch werden entsprechende Anzeigepflichten ausdrücklich nicht allein auf Un42)

43)

In Deutschland etwa bereits BGH, Urt. v. 17.10.2000 – XI ZR 42/00, BGHZ 145, 337 = ZIP 2000, 2196; auch in der Wohnung Trennung nötig: KG Berlin, Urt. v. 5.1.2000 – 24 U 5123/99, MDR 2000, 1022, und Nr. 6.3 Bedingungen [Privatbanken] für die Girocard. Vgl. Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 266, 547. Für Qualifikation als bloße Obliegenheit Graf v. Westphalen in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 676b Rz. 2; Schmalenbach in: Bamberger/Roth, BGB, 3. Aufl. 2012, § 676b Rz. 3; Sprau in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 675b Rz. 2; Casper in: MünchKommBGB, 6. Aufl. 2012, § 675b Rz. 4; Omlor in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2012, § 676b Rz. 3 – 6; unklar Meckel, Das neue zivile Zahlungsverkehrsrecht: Umsetzung der EUZahlungsdiensterichtlinie (Payment Services Directive – PSD) in das nationale deutsche Recht – Hintergründe, Praxisprobleme und Ausblicke (Teil 4), jurisPR-BKR 2/ 2010 Anm. 1, dort Ziff. 21.6. („Pflicht mit den Wirkungen einer Obliegenheit“). Umgekehrt wird jedoch die vertraglich vereinbarte Aufforderung zur Prüfung (Nr. 11 Abs. 4 AGB-Banken bzw. Nr. 20 Abs. 1 lit. g AGB-Sparkassen) meist als Pflicht gesehen (a. A. auch hier jedoch Casper in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 675b Rz. 6 f.; ggf. auch Graf v. Westphalen in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 676b Rz. 6), teils freilich als unwirksam vereinbart (Schmalenbach in: Bamberger/Roth, BGB, 3. Aufl. 2012, § 676b Rz. 10; Graf v. Westphalen in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 676b Rz. 6), teils jedoch auch als durchaus wirksam: Sprau in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 675b Rz. 1; Omlor in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2012, § 676b Rz. 7.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

247

regelmäßigkeiten bezogen, die im Zusammenhang mit dem Einsatz von Zahlungsauthentifizierungsinstrumenten stehen. 3. Haftungsregeln (für Missbrauch) und integrationspolitische Bewertung Das eigentliche Haftungsregime ist in Kernpunkten durch das bisher Gesagte bereits weitgehend umrissen: Dem Kunden muss europaweit – aufgrund einheitlicher Anordnung – ein Regime bereitgestellt werden, aufgrund dessen er die Schäden aus einer unbefugten Nutzung von Girocard und PIN sehr stark begrenzen kann: Nach hier favorisierter Meinung ergibt sich eine einheitlich geltende Pflicht, eine Nutzungsgrenze zu vereinbaren, jedenfalls ist solch eine Praxis europaweit einheitlich festzustellen. Dies, im Verbund mit der europaweit einheitlich gewährleisteten Möglichkeit, den Verlust der Karte jederzeit anzuzeigen und ab diesem Zeitpunkt von der Haftung gänzlich freigestellt zu sein, erlaubt es dem Kunden (europaweit einheitlich), das Risiko des Girocard-Einsatzes jedenfalls auf denjenigen Teil der Nutzungsbegrenzung (Bruchteil des monatlichen Eingangs) zu beschränken, der in der jeweiligen Periode noch nicht ausgeschöpft wurde. Nur für dieses Restrisiko ist das Haftungsregime uneinheitlich: Einerseits wird europaweit einheitlich eine verschuldensunabhängige Haftung des Kunden i. H. von (bis zu) 150 € vorgesehen, wenn und soweit dem Institut Schäden aus einem Kartenverlust und unbefugter Verfügung durch einen Dritten entstehen (Art. 61 Abs. 1 ZD-RL, § 675v Abs. 1 BGB). Verschuldensunabhängig wird diese Haftung ausgestaltet, weil die Umstände des Verlustes und des Einsatzes der PIN regelmäßig schwer aufklärbar sind und mit einem moderaten Betrag, der jedenfalls geschuldet ist, dem Kunden ein Anreiz für gesteigerte Aufmerksamkeit gegeben werden soll („Selbstbehalt“).44) Demgegenüber wird dem Kunden das genannte Restrisiko (unausgeschöpfter Teil der Nutzungsbegrenzung) auch nicht schon bei jedem Sorgfaltsverstoß auferlegt, sondern europaweit einheitlich erst bei grobem Sorgfaltsverstoß (Art. 61 Abs. 2 ZD-RL, § 675v Abs. 2 BGB). Freilich ist für die Frage, welche Umstände solch einen groben Sorgfaltsverstoß nahelegen und wie er zu beweisen ist, gerade 44)

Vgl. 32. Erwägungsgrund der ZD-RL: „Um dem Zahlungsdienstnutzer einen Anreiz zu geben […]“; vgl. auch (vor allem auch dazu, dass umgekehrt auch exzessive Belastung ausgeschlossen sein soll) Oechsler, WM 2010, 1381, 1383 (auch keine Mehrfachanwendung bei mehrfachem Missbrauch).

248

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keine – oder nur eine sehr rudimentäre – Richtlinienregelung getroffen worden (vgl. Art. 59 Abs. 2 ZD-RL, § 675w BGB), sondern das nationale Recht berufen (vgl. 33. Erwägungsgrund der Richtlinie) – was häufig als ein Fehlschlag bei der Vereinheitlichung in einem ganz zentralen Punkte kritisiert wird.45) Richtig ist, dass deswegen bspw. die französische Cour de Casssation (und die Richtlinienumsetzung) bei Nutzung der Karte und richtiger Eingabe der PIN keineswegs den ersten Anschein eines grobfahrlässigen Verstoßes als gegeben sieht, während der Bundesgerichtshof bekanntlich ebendies annimmt,46) sich beide höchstrichterlichen Rechtsprechungslinien also im Kernpunkt diametral entgegenstehen. Bewertet man dieses Regime unter dem Gesichtspunkt von Einheit und Vielfalt, so sind die Furcht vor Inkompatibilitäten zwischen Normen verschiedener Herkunft oder auch der Aspekt von Skalenerträgen beim Haftungsregime eher von sekundärer Bedeutung. Denn Privatkunden halten regelmäßig jeweils Konten bei Instituten im eigenen Land, haben sich also ohnehin nur auf ein Recht einzustellen (auch wenn dieses nationales Recht ist). Und für grenzüberschreitend verankerte unternehmeri45)

46)

Jeden Änderungsbedarf für das deutsche Recht unter der Richtlinie verneinend: BRDrucks. 848/08, S. 186; BT-Drucks. 16/11643, S. 115; Lohmann/Koch, Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt – Wesentliche Inhalte, Bewertung und mögliche Auswirkungen auf den europäischen Zahlungsverkehrsmarkt, WM 2008, 57, 63; Casper in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 675v Rz. 10 ff.; Sprau in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 675v Rz. 4; grds. ebenso, ausführlicher und mit Rechtsvergleich Koch, Missbrauch von Zahlungsauthentifizierungsinstrumenten, 2012, S. 183 – 192; ausführlicher Rechtsvergleich Stange, Bargeldloser Zahlungsverkehr und Drittmissbrauchshaftung in Europa – eine rechtsvergleichende Betrachtung der deutschen, englischen und spanischen Rechtsordnung mit besonderem Blick auf die Europäische Zahlungsdiensterichtlinie 64/2007/EG, 2010; dagegen Franck/Massari, Die Zahlungsdiensterichtlinie: Der Europäische „Uniform New Payments Code“, in: Riesenhuber (Hrsg.), Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts, 2008, S. 113, 135 – 148; zweifelnd auch Scheibengruber, Zur Zulässigkeit und Sinnhaftigkeit der Verlagerung des Missbrauchsrisikos bei Zahlungsdiensten auf die Nutzer – ein Beitrag zur Analyse der Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie in das BGB und die AGB der Banken, BKR 2010, 15, 20 f.; zu allem Grundmann in: Großkomm-HGB, 5. Aufl. 2015, Bankvertragsrecht – Teil 3 Rz. 443 – 445. Vgl. BGH, Urt. v. 5.10.2004 – XI ZR 210/03, ZIP 2004, 2226 = WM 2004, 2309; w. N. zum deutschen Recht auch vorige Fn.; zum französischen Recht etwa: Cour de Cassation, Com, 2.10.2007 JCP 2007 E2376; R. Bonhomme, Instruments de crédit et de paiement, 10. Aufl. 2013, S. 323 – 326; Halfmeier, Beweislast der Bank bei Missbrauch der Zahlungskarte – Anmerkungen zur Entscheidung der französischen Cour de Cassation vom 2.10.2007, ZEuP 2009, 613; A. Hontebeyrie, Perte ou vol d’une carte bancaire: quel régime probatoire? Réflexion sur la nature juridique du dispositif prévu à l’article L 132-3 du code monétaire et financier, Recueil Dalloz 2009, 1492; S. Piedelièvre, Instruments de crédit et de paiement, 7. Aufl. 2013, S. 368.

Einheitlicher Europäischer Zahlungsraum

249

sche Kunden (das „multinational enterprise“) ist das Wissen darum, dass das Risiko beim Girocard-Einsatz in der beschriebenen Weise begrenzt ist – namentlich, dass dies europaweit einheitlich geschieht! – ebenfalls praktisch unbedeutend. Auch ist nicht ersichtlich, dass eine strengere oder weniger strenge Haftungsregel für Kunden beim Girocard-Einsatz negative externe Effekte in den Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten auslösen würde. Obwohl danach aus Sicht der Föderalismustheorie wenig für eine Vereinheitlichung auf Europäischer Ebene spricht, sehe ich das System – auch in all den Teilen, die wirklich einheitlich gelten –, als überzeugend: Es scheint so, als hätte sich im rechtsvergleichenden Diskurs ein die Haftungsrisiken und die Verhaltensanreize klug austarierendes System herausgebildet, zu dessen Einführung die Mitgliedstaaten von sich aus nicht genügend Elan aufbrachten. Zentral an diesem System ist, dass existentielle Risiken, die sich aus dem Girocard-Missbrauch für den Kunden ergeben könnten, europaweit einheitlich ausgeräumt werden, umgekehrt für diesen jedoch ein gewisser Verhaltensanreiz für umsichtiges Handeln geschaffen wird. Rechtsvereinheitlichung wirkt hier schlicht als ein Reformschritt, der freilich auf nationaler Ebene vergleichbar gut hätte gegangen werden können. Bei einer Reform auf nationaler Ebene wäre für die Zukunft sogar mehr Experimentierfreiheit verblieben, sie hat jedoch schlicht nicht stattgefunden! Wenn nun eine zentrale Frage nicht harmonisiert wurde, so ist bezeichnend, dass es sich um diejenige Frage handelt, bei der es (aus meiner Sicht) deutlich weniger auf der Hand liegt, welches die „bessere“ Lösung ist: die Frage nach der Zulässigkeit eines Anscheinsbeweises. Ein Verzicht auf Harmonisierung erscheint hier also nicht nur als ein Fehlen an politischem Willen, sondern angesichts der schwachen Argumente, die für eine Harmonisierung sprechen, und angesichts des weiter bestehenden Lernbedarfs sogar begrüßenswert. V. Schlussfolgerungen Köndgen ist sehr zentral Denker moderner Methoden und Bankrechtler. Eine moderne Methodenlehre nimmt – neben Interpretationsfragen – ganz zentral auch die Frage nach dem „richtigen“ Normsetzer – oder nach der besten Normsetzungsebene – in den Blick. Das gilt für europäisierte Rechtsgebiete – wie das dem Jubilar so wichtige Zahlungsverkehrsrecht – ganz besonders. Dass gerade dieses Rechtsgebiet besonders weitgehend – vom sachlichen Anwendungsbereich wie von der Vereinheitlichungsdichte

250

Stefan Grundmann

her – harmonisiert wurde, dass hier grundsätzlich der Vollharmonisierungsansatz besonders weitgehend durchgeführt wurde und dies im Schrifttum auch auf ungleich weniger Kritik stieß als in den anderen vollharmonisierten Bereichen des Vertragsrechts, vermag nicht zu verwundern: Für einen fortgeschrittenen Binnenmarkt erscheint es als besonders naheliegend, dass die neutrale Leistung, die für jede Vertragserfüllung nötig ist und auch für Transaktionen jenseits des Vertragsrechts, besonders stark an Binnenmarktanforderungen gemessen wird. Ein vollharmonisiertes Europäisches Zahlungsrecht, so wie man es im §§ 675c ff. BGB umgesetzt findet, liegt also nahe. Es zeichnet sich jedoch umgekehrt – ganz dem normativen Leitbild der Föderalismustheorie entsprechend – nicht nur durch große Bereiche von europäisch einheitlicher Rechtssetzung, sondern auch durch durchaus nicht unerhebliche Bereiche („Inseln“) von Vielfalt aus. Diese Verteilung wurde im vorliegenden Beitrag anhand der zwei vielleicht wichtigsten Ausschnitte des Zahlungsverkehrsrechts bewertet, dem Recht des Zahlungsvorgangs selbst und dem Haftungsregime. In beiden Bereichen zeigten sich erhebliche Inseln der Vielfalt, in den für den Zahlungsvorgang zentralen Punkten freilich auch die Einheit, die Inkompatibilitäten bei der Abwicklung weitgehend ausschließt und zugleich für den Kunden Planbarkeit bei der Zahlung über die Grenzen verbürgt. Obwohl beim Haftungsregime aus Sicht der Föderalismustheorie wenig für eine Vereinheitlichung spricht und ein modernes Haftungsregime auch national hätte herausgebildet werden können, ist die erfolgte Harmonisierung als wichtiger Schritt der Modernisierung zu sehen und deswegen – weil die nationalen Regelgeber nicht handelten – grundsätzlich auch zu begrüßen. Auch hier verbleibt eine große Lücke – die Frage nach der Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beim unbefugten Einsatz der Girocard durch Dritte (Girocard-Missbrauch). Sie ist (entgegen häufiger zu findender Kritik) durchaus zu begrüßen, weil keine der Lösungen den anderen evident überlegen ist, und weil zugleich das Risiko dieses Missbrauches für den Kunden schon durch andere Regeln relativ begrenzt erscheint.

Gestaltung von Finanzmärkten durch Vertrag – Eine Skizze anhand von Asset-Backed Securities und Collective Action Clauses – BRIGITTE HAAR Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Recht und Finanzmärkte III. Marktbildung durch Asset-Backed Securities 1. Politisch motivierte Marktförderung 2. Privater Risikotransfer 3. Geldschöpfung durch privatrechtlichen Vertrag

IV. Marktblockade durch Collective Action Clauses 1. Pari Passu-Klauseln zwischen Gleichrangigkeit und Elastizität 2. Collective Action Clauses zwischen Ventilfunktion und Blockadepotenzial V. Fazit

I. Einleitung Die Art und Weise, in der die Lehman-Insolvenz und die ihr zugrunde liegenden privatrechtlichen Finanztransaktionen zum Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems geführt haben, beleuchtet schlaglichtartig den engen Zusammenhang zwischen der vertraglichen Gestaltungsfreiheit der Marktteilnehmer und der Stabilität der Finanzmärkte. Auf einer anderen Ebene spiegelt die Staatsschuldenkrise den Einfluss von Umschuldungsprozessen auf das Geschehen an den Finanzmärkten und deren Stabilität wider. Dies wirft grundlegende Fragen zur Wechselwirkung von Recht und Finanzmärkten und zur Gestaltungswirkung von Verträgen auf. Um ihrer Beantwortung näher zu kommen, bedarf es zunächst der Klärung des Verhältnisses zwischen Recht und Finanzmärkten. In diesem Gefüge ist sodann die Gestaltungswirkung des Vertrages zu verorten. Auf dieser Grundlage lässt sich ihrem Stellenwert am konkreten Beispiel strukturierter Finanzprodukte wie Asset-Backed Securities sowie anhand vertraglicher Mechanismen zur Erleichterung von Umschuldungsprozessen wie Collective Action Clauses (CACs) nachgehen, um letztlich spezifische Gestaltungswirkungen des Vertrages benennen zu können.

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Brigitte Haar

II. Recht und Finanzmärkte Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Finanzmärkten wird schon lange kontrovers diskutiert. Mit ihrer umstrittenen empirischen Untersuchung von 1998 stellen LaPorta/Lopez-de-Silanes/Shleifer/Vishny einen Zusammenhang zwischen der Ausprägung des Anlegerschutzes eines Rechtssystems und der Kapitalmarkttiefe des betreffenden Staates her. Sie legen damit die Grundlagen für das Forschungsfeld Law and Finance und die hierfür maßgebliche Legal Origins Theory, die an dieser Stelle freilich ebenso wenig wie die sich hieran anschließende Debatte im Einzelnen nachgezeichnet werden kann.1) Entscheidend für den vorliegenden Kontext ist der Kausalzusammenhang, der zwischen der Liquidität des US-amerikanischen Kapitalmarktes und dem common law hergestellt wird 1)

R. LaPorta/F. Lopez-de-Silanes/A. Shleifer/R. W. Vishny, Law and Finance, J. Pol Econ. 106 (1998) 1113 – 1155; die wesentlichen Beiträge jüngst bei S. Deakin/K. Pistor (Hrsg.), Legal Origin Theory, 2012; zur hieran anschließenden umfangreichen Diskussion T. Beck/A. Demirgüc-Kunt/R. Levine, Why Does Legal Origin Matter?, J. Comp. Econ. 31 (2003) 653 – 675; holzschnittartiger Überblick in der deutschen Literatur auch bei Haar, Law and Finance – Kapitalmarktentwicklung in interdisziplinärer Perspektive, JZ 2008, 964; zur Entwicklung und zur zögerlichen Reaktion anhand der französischen Rechtswissenschaft aus der Sicht der angloamerikanischen Rechtswissenschaft J. Merryman, The Civil Law Tradition: An Introduction to the Legal Systems of Western Europe and Latin America, 1985, S. 40 – 49, 53 f.; J. P. Dawson, The Oracles of the Law, 1968, S. 400 – 415; zur hohen Bedeutung der Weiterentwicklung des Rechts als Unterscheidungsmerkmal K. Pistor/K. Keinan/J. Kleinheisterkamp/M. West, The Evolution of Corporate Law: A Cross-country Comparison, University of Pennsylvania Journal of International Economic Law 23 (2002) 791 – 871; für eine Einordnung des Anlegerschutzes als politisches Instrument und weniger als eigenständige Ursache für die Liquidität der Kapitalmärkte („politics and finance view“) M. Roe, The Political Determinants of Corporate Governance: Political Context, Corporate Impact, 2003; M. Roe/J. Siegel, Political instability: Effects on financial development, roots in the severity of economic inequality, Journal of Comparative Economics 39 (2011) 279 – 309; Zurückführung der Kapitalmarktentwicklung auf die institutionelle Fortwirkung von Kolonialisierungsstrategien („endowment view“) im kurzen Überblick bei T. Beck/ R. Levine, Legal Institutions and Financial Development, in: C. Ménard/M. Shirley (Hrsg.), Handbook of New Institutional Economics, 2008, S. 251, 265; Aktualisierung bei T. Beck/A. Demirgüc-Kunt/R. Levine, Financial Institutions and Markets Across Countries and Over Time: the Updated Financial Development and Stucture Database, The World Bank Economic Review, 24 (2010) 77 – 92; D. Acemoglu/S. Johnson/ J. Robinson, The Colonial Origins of Comparative Development: An Empirical Investigation, American Economic Review 91 (2001) 1369 – 1401; methodische Kritik bei D. Albouy, The Colonial Origins of Comparative Development: An Emprical Investigation: Comment, American Economic Review 102 (2012) 3059 – 3076; hiergegen D. Acemoglu/S. Johnson/J. Robinson, The Colonial Origins of Comparative Development: An Empirical Investigation: Reply, American Economic Review 102 (2012) 3077 – 3110.

Gestaltung von Finanzmärkten durch Vertrag

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und dem der weniger erfolgreiche Beitrag des französischen und des deutschen Zivilrechts gegenübergestellt wird.2) Dieser Zusammenhang impliziert damit zugleich den exogenen Stellenwert von rechtlich-regulatorischen Variablen im Verhältnis zu hoch entwickelten Kapitalmärkten als übergeordnetem Regulierungsziel. Zugleich wird der Beitrag zu diesem Ziel als primäre Aufgabe des rein funktional verstandenen Rechts zugrunde gelegt. Hält man sich freilich die Austauschwirkung des individuellen privatrechtlichen Vertrages vor Augen, muss dieses Verhältnis zwischen Markt und Vertrag fraglich erscheinen. Letztlich entfaltet der bilaterale Tauschakt seine ordnende Kraft über den „Mikrokosmos“ des privatrechtlichen Vertrages hinaus auf den „Makrokosmos“ des Marktes.3) Welche Gefahren dies für die anderen Marktteilnehmer mit wachsender Größe der beteiligten individuellen Einheiten birgt, liegt auf der Hand. Das Kartell, bei dem der zugrunde liegende Vertrag wettbewerbsbeschränkende Wirkungen zeitigt, ebenso wie der Normenvertrag, der wie etwa der arbeitsrechtliche Tarifvertrag durch seine Einwirkung auf andere Verträge gekennzeichnet ist, bilden markante Beispiele hierfür.4) III. Marktbildung durch Asset-Backed Securities Noch deutlicher wird die Umkehrung des Verhältnisses von Law and Finance in Law in Finance angesichts der marktbildenden Kraft der vertraglichen Einigung im Hinblick auf die Hervorbringung von handelbaren Finanzprodukten. Der Finanzmarkt ist in seiner Gesamtheit ein rechtliches Konstrukt.5) Die Marktfähigkeit seiner Transaktionsgegenstände erfordert freilich deren Anerkennung, wie sie sich etwa in der Aufzählung verschiedener Typen generell als Wertpapiere anerkannter Erscheinungsformen von Kapitalmarktpapieren wie Aktien (Abs. 1 Nr. 1), Inhaberschuldverschreibungen (Abs. 1 Nr. 3 lit. a) oder Investmentanteilen (Abs. 1 a. E.) 2) 3) 4)

5)

R. LaPorta/F. Lopez-de-Silanes/A. Shleifer/R. W. Vishny, Legal Determinants of External Finance, J. Fin. 52 (1997) 1131 – 1150. Böhm, Die Idee des ORDO im Denken Walter Euckens, ORDO, 1950, 3. LI; Mestmäcker, Über die normative Kraft privatrechtlicher Verträge, JZ 1964, 441, 443. Zum Zusammenhang zwischen privatrechtlichem Vertrag als Ausformung individueller Handlungsfreiheit und Wettbewerb Zimmer in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht Bd. 2, GWB, 5. Aufl. 2014, § 1 Rz. 12; zum Normenvertrag im Arbeitsrecht Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 1907/08, S. 98; entsprechend zur Außenwirkung des Kartellvertrags Lukes, Der Kartellvertrag, 1959, S. 261 – 268, 296. K. Pistor, A legal theory of finance, Journal of Comparative Economics 41 (2013) 315, 317.

254

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in § 2 WpHG widerspiegelt.6) Hieraus erwächst die Frage nach der Rolle staatlicher Anerkennung für Structured-Finance-Produkte, deren Existenz zunächst auf privatautonomer Gestaltung und weniger auf staatlicher Bestätigung zu beruhen scheint, deren Wirkung jedoch Markt und Staat in ihrer Stabilität gefährden kann. 1. Politisch motivierte Marktförderung Der spezifische Charakter der Finanzmärkte als (privat-)rechtliches Konstrukt lässt sich anhand der finanzmarktbildenden Wirkung von StructuredFinance-Produkten exemplarisch verdeutlichen. Von diesen stechen insbesondere Verbriefungen wie Asset-Backed Securities (ABS) hervor, was deren rasante Entwicklung anbelangt. Zu Aufsichtszwecken werden sie als „Wertpapiere oder Schuldscheine [definiert], die Zahlungsansprüche gegen eine ausschließlich dem Zweck der ABS-Transaktion dienende Zweckgesellschaft zum Gegenstand haben. Die Zahlungsansprüche werden durch einen Bestand unverbriefter Forderungen („Assets“) gedeckt („Backed“), die auf die Zweckgesellschaft übertragen werden und im Wesentlichen den Inhabern der ABS als Haftungsmasse zur Verfügung stehen.“7) ABS begannen Anfang der 1970er Jahre in den USA Fuß zu fassen mit einem anschließenden geradezu explosionsartigem Wachstum dieses Marktes, bei dem das Transaktionsvolumen allein im Jahr 1994 500 Mrd. $ betrug.8) Angestoßen worden war diese Entwicklung von den als „government sponsored entities“ staatlich geförderten Hypothekenbanken Federal National Home Mortgage Association („Fannie Mae“) und Federal Home Loan Mortgage Corporation („Freddie Mac“).9) In ihrem Bestreben, privates Wohneigentum zu fördern, eröffnete die US-amerikanische Regierung diesen Banken die Möglichkeit, die verbrieften Forderungen hypothekarisch zu besichern, so dass diese mit Hilfe der aus den Hypotheken 6) 7)

8)

9)

Zum typologischen Ansatz Kumpan in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 2 Rz. 4. BaKred-Rundschreiben 4/1997 v. 19.3.1997, Veräußerung von Kundenforderungen im Rahmen von Asset Backed Securities-Transaktionen durch deutsche Kreditinstitute, abgedruckt in WM 1997, 1820 f. Zum historischen Hintergrund insbesondere in den USA siehe etwa C. Hill, Securitization: a low-cost sweetener for lemons, Washington University Law Quarterly 74 (1996) 1061, 1113 – 1120. Zu Fannie Mae 12 U.S.C. Chapter 13 Subchapter III – National Mortgage Association §§ 1716 – 1723i; Freddie Mac geregelt in 12 U.S.C. Chapter 11 A – Federal Home Loan Mortgage Corporation §§ 1451 – 1459.

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zu generierenden Zahlungsströmen getilgt werden konnten.10) Wirtschaftspolitisch war dies der Versuch, den Immobilienmarkt im Rahmen des New Deal anzukurbeln und zu unterstützen.11) 2. Privater Risikotransfer In der Folge mündete diese Entwicklung mit der ihr zugrunde liegenden Finanzierungstechnik ab Mitte 2007 in die US-amerikanische Kreditkrise, die Subprime-Krise, die zu beträchtlichen Verwerfungen an den globalen Finanz- und Kapitalmärkten führte. Dem war die Vergabe von Hypothekenkrediten an bonitätsschwache Privatpersonen vorausgegangen, wobei die Meinungen im Hinblick auf die verantwortlichen Kreditgeber in der Literatur zur umfangreichen Diskussion über die Ursachen der Finanzkrise, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen erörtert werden können, divergieren. Zum Teil wird unmittelbar an den Einfluss der Regierung auf die sinkenden Kreditvergabestandards angeknüpft,12) während an anderer Stelle das Hauptaugenmerk auf den privaten Sektor gerichtet wird.13) Einigkeit besteht jedoch insoweit, dass die Praxis der Investmentbanken, SubprimeKredite in Portfolien zusammenzufassen und in forderungsbesicherte Wertpapiere (asset-backed securities oder collaterized debt obligations) erhöhter Komplexität zu verbriefen, neben zahlreichen anderen Faktoren,

10) 11)

12)

13)

12 U.S.C. 1454(a)(5), 1719(d); hierzu Steven L. Schwarcz, The Alchemy of Asset Securitization, Stanford Journal of Law, Business, and Finance 1 (1994) 133, 135. Überblick über diesen politischen Stellenwert z. B. bei C. Hill, Securitization: a lowcost sweetener for lemons, Washington University Law Quarterly 74 (1996) 1061, 1114. Stan J. Liebowitz, Anatomy of a Train Wreck, Independent Policy Report, October 3, 2008, S. 4–14, 17, 25 (download unter https://www.independent.org/pdf/policy_reports/ 2008-10-03-trainwreck.pdf). Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, in: Verhandlungen des 68. DJT, 2010, E 10, E 19 f.; mit besonderem Blickwinkel auf die Schattenbanken z. B. Gary B. Gorton, Slapped in the Face by the Invisible Hand: Banking and the Panic of 2007 (May 9, 2009), abrufbar unter http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1401882, S. 23 – 29.

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auf die hier nicht eingegangen werden kann, erheblich zur Finanzkrise beigetragen hat.14) Zunächst einmal erschienen strukturierte Finanzprodukte wie die ABS als ein geeignetes Instrument zum Kreditrisikotransfer und zur Überbrückung von Unvollkommenheiten des Kapitalmarktes, das die Unternehmensfinanzierung daher erleichterte.15) Die wesentlichen Merkmale einer Verbriefungstransaktion lassen jedoch bereits eine Gestaltungskraft der zugrunde liegenden vertraglichen Vereinbarungen aufscheinen, die über einen bloßen funktionellen Beitrag zur Marktvervollkommnung hinausgeht.16) Die Grundlage einer solchen Transaktion bildet zunächst die einmalige oder revolvierende Übertragung von Zahlungsansprüchen vom Originator auf eine unabhängige und vor allem insolvenzferne Zweckgesellschaft (special purpose vehicle [SPV]), die die Isolierung der Transaktion von dem restlichen Vermögen des Originators gewährleistet und sich durch die Emission von ABS refinanziert.17) Dies mündet auf Seiten der SPV in eine Poolbildung von Kreditforderungen, wobei der Inhomogenität der Risiken dieser Kredite durch eine Tranchierung in vorrangig und nachrangig zu bedienende Forderungen Rechnung getragen wird. Aus der anleihevertraglichen Subordination der Zahlungsansprüche der verschiedenen Tranchen resultiert die Einbindung in vertragliche Wasserfall-Strukturen mit der damit verbundenen kaskadenartigen Befriedigung. Schon vor der Subprime-Krise zeichneten sich Probleme dieser Strukturen im Hinblick auf die Bestimmbarkeit und Isolierbarkeit einzelner Risiken ab, was etwa zwangsläufig bei einem Ausfall aufgrund der Verschiebung des Risikoprofils über die Tranchen hinweg oder bei einer Verschiebung der Verlustver-

14)

15)

16)

17)

Siehe etwa Hellwig in: Verhandlungen des 68. DJT, 2010, E 25 – E 28; Issing/Bluhm, Anforderungen an eine neue Ordnung der Finanzmärkte, in: Hopt/Wohlmannstetter, Hdb. Corporate Governance von Banken, 2011, S. 77, 78 – 81; Rudolf, Die internationale Finanzkrise – Ursachen, Treiber, Veränderungsbedarf und Reformansätze, ZGR 2010, 1, 9 – 12; mit zahlreichen Beispielen Bonavita, Asset Securitization in Germany: Risk Transfer or Legal Transformation? European Business Organization Law Review, 16 (2015) (im Erscheinen). Rudolph, Kreditrisikotransfer – Abbau alter gegen Aufbau neuer Risiken?, Kredit und Kapital 40 (2007) 1, 2 – 6; Steven L. Schwarcz, Securitization Post-Enron, Cardozo Law Review 25 (2004) 1539, 1553 – 1569. Im Einzelnen hierzu Bonavita, Asset Securitization in Germany: Risk Transfer or Legal Transformation? European Business Organization Law Review 16 (2015) (im Erscheinen). Prägnant zu den stilbildenden Kennzeichen einer Kreditverbriefung Krahnen, Der Handel von Kreditrisiken, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6, 2005, S. 499, 502 – 504.

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teilung aufgrund makroökonomischer Veränderungen virulent wurde.18) Zudem liegt der Spezifizierbarkeit der Risiken eine Handelbarkeit und Marktfähigkeit derselben zugrunde, die ihrerseits Voraussetzung für die eingangs aus funktionaler Sicht als Ziel einer Verbriefungstransaktion bezeichnete Effizienzsteigerung auf dem Kapitalmarkt sind.19) 3. Geldschöpfung durch privatrechtlichen Vertrag Hieraus eröffnet sich eine neue Perspektive auf ABS-Transaktionen und die ihnen zugrunde liegenden vertraglichen Strukturen, die demzufolge nicht auf eine bloße funktionale marktermöglichende Rolle reduziert werden können. Mit der schwierigeren Bewertbarkeit der Risiken von strukturierten Finanzprodukten erhöhen sich auch die Schwierigkeiten, diese Risiken in Ratings korrekt zu erfassen, auf die sich die Investoren jedoch bei dieser Sachlage für ihre Anlageentscheidungen verstärkt verlassen müssen.20) Die Fehlbewertungen und die Gesamtproblematik des Funktionsversagens des Ratingsektors sind insbesondere in diesem Sektor hinlänglich bekannt.21) Angesichts positiver Ratings können die Investments von Structured Investment Vehicles (SIVs), die sich ihrerseits durch die Ausgabe von strukturierten Finanzprodukten refinanzierten, in gut bewertete Collaterized Debt Obligations (CDOs) und ABS nicht überraschen.22) Letztere ließen sich mit Hilfe der Ausgabe von Asset-Backed Commercial Papers (ABCPs) mit kürzerer Laufzeit an Investoren refinanzieren und führten zu einer hohen Verschuldung. Dass eine solche ein gutes Rating 18)

19) 20)

21)

22)

Rudolph, Die internationale Finanzkrise: Ursachen, Treiber, Veränderungsbedarf und Reformansätze, ZGR 2010, 1, 12 f.; Krahnen/Wilde, Risk Transfer with CDOs and Systemic Risk in Banking, Center for Financial Studies, Working Paper No. 2006/04. Zu diesen ineinandergreifenden Voraussetzungen Rudolph, Kredit und Kapital 40 (2007) 1, 5. Zur Problematik der zugrunde liegenden mathematischen Modelle etwa Steven L. Schwarcz, The Future of Securitization, Connecticut Law Review 41 (2009) 1313, 1323 f. Im Einzelnen Summary Report of Issues Identified in the Commission Staff’s Examinations of Select Credit Rating by the Staff of the Securities Exchange Commission, (http://www.sec.gov/news/studies/2008/craexamination070808.pdf); zur ökonomischen Einordnung vor dem Hintergrund der Finanzkrise von 2007/08 Haar, Nachhaltige Ratingqualität durch Gewinnabschöpfung? – Zur Regulierung und ihrer Implementierung im Ratingsektor, ZBB 2009, 177 – 187. Steven L. Schwarcz, The Alchemy of Securitization, Stanford Journal of Law, Business & Finance 1 (1994) 133, 140 f.; am Beispiel einer synthetischen Transaktion der Deutschen Bank im Dezember 2002 Krahnen, Der Handel von Kreditrisiken, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6, 2005, S. 499, 504 – 508.

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des jeweiligen SIV und die Liquiditätszusage eines Kreditinstituts als Sponsor, die sich insbesondere durch die Zurverfügungstellung von Kreditoder Liquiditätslinien implementieren ließ, voraussetzten, leuchtet ein.23) Die verheerenden Folgen, die dies für das Bankengeschäft, z. B. das der deutschen Landesbanken, hatte, sind bekannt.24) Zugleich beleuchtet dieses Geschäftsgebahren schlaglichtartig die für den vorliegenden spezifischen Zusammenhang entscheidende Besonderheit der den SIVs zugrunde liegenden Finanzierungstechnik. Als insolvenzferne Finanzierungsvehikel unterliegen SIVs keinen Eigenkapitalregeln. Da die betreffenden SIVs von Banken betrieben wurden, schlugen sich stattdessen letztlich ungeachtet ihres ursprünglichen Transfers an die insolvenzfernen SIVs die ausgelagerten Risiken der strukturierten Finanzprodukte infolge der Refinanzierung wiederum in den Büchern der Banken nieder.25) Angesichts der Liquiditätszusage ihrer unterstützenden Bank schufen diese Umstände auf Seiten der SIVs Spielräume nicht nur für eine hohe Verschuldung, sondern auch für einen hohen Leverage-Effekt, da die Eigenkapitalrentabilität bei dieser Sachlage notwendigerweise anstieg.26) Im Ergebnis konnten SIVs demnach als Schattenbanken mit den ABCPs geldähnliche Instrumente ausgeben, ohne dass ihre Tätigkeit einer gesetzlichen Regulierung unterlag, die einem parallelen System privater Geldschöpfung gleichkommt.27) Die den ABS-Transaktionen zugrunde liegenden privatrechtlichen Verträge reichen daher in ihrer Wirkung über die Schaffung neuer Finanzmarktprodukte hinaus. Mit den SIVs generieren sie Liquidität, ohne jedoch bankrechtlichen Regulierungsstandards zu genügen, die Grundlage für das Finanz-Sicherheitsnetz sind. Bezeichnet ist damit die Konstruktion des Finanzmarktes als solchem durch privatrechtlichen Vertrag.

23) 24) 25) 26)

27)

Rudolph, ZGR 2010, 1, 16. Siehe z. B. Hellwig in: Verhandlungen des 68. DJT, 2010, E 23. Rudolph, ZGR 2010, 1, 15. Zu den üblichen leverage ratios US-amerikanischer Investmentbanken 2008 i. H. von 35:1 bei Bear Stearns und 30:1 bei Lehman siehe Möschel, Finanzkrise und Marktwirtschaft, WuW 2008, 1283, 1287. Ricks, Shadow Banking, Review of Banking & Financial Law 31 (2012) 731, 744; zum Begriff der Schattenbanken siehe Europäische Kommission, Grünbuch Schattenbankwesen, COM (2012) 102 (final), Brüssel, 19.3.2012, S. 4 (download unter http:// ec.europa.eu/internal_market/bank/docs/shadow/green-paper_de.pdf), die als Schattenbanken SIVs, Geldmarktfonds (MMFs), Exchange Traded Fonds (ETFs), Versicherer und Rückversicherer, die Kreditprodukte ausgeben oder garantieren, erfasst.

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IV. Marktblockade durch Collective Action Clauses Welche Instabilitäten aus der Generierung unzureichend abgesicherter Liquidität resultieren können, hat sich anhand zahlreicher Beispiele im Zuge der Finanzkrise 2008/09 gezeigt. Sie wurden insbesondere deutlich, als staatliche bail-out Maßnahmen auf Kosten der Steuerzahler erforderlich wurden, um den Zusammenbruch des Finanzsystems mit Hilfe der Rettung zunächst einzelner Institutionen zu verhindern.28) Mit diesen staatlichen Interventionen zugunsten einzelner Marktteilnehmer wird ein weiteres Charakteristikum des Vertragsrechts offenbar, das im Zuge der Finanzkrise besondere Bedeutung erlangt hat. Es handelt sich um die teilweise Außerkraftsetzung rechtlicher Verpflichtungen, die mit Hilfe der Elastizität der einschlägigen Normen implementiert wird.29) Sie führt letztlich dazu, dass die Verpflichtungswirkung rechtlicher Normen von der Stellung ihrer Adressaten in der Hierarchie des Rechtssystems abhängt.30) Die Spitze dieses Systems wird z. B. von den Banken eingenommen, die nicht nur von der Elastizität des Rechts profitieren, sondern außerdem von dem hierdurch generierten privaten Geld. 1. Pari Passu-Klauseln zwischen Gleichrangigkeit und Elastizität Diese teilweise Elastizität des Vertragsrechts findet auf staatlicher Ebene bei der Umstrukturierung von Staatsschulden und den dieser zugrunde liegenden Verträge ihre Entsprechung. Verdeutlichen lässt sich dies zunächst anhand der in letzteren in der Regel enthaltenen Pari Passu-Klauseln mit ihrer teilweisen Behinderung von Restrukturierungen sowie den gegensteuernden Collective Action Clauses. Mit einer Pari Passu-Klausel sagt der Schuldner den Gläubigern bei Zahlungsunfähigkeit eine gleichmäßige Befriedigung zu.31) Zunächst sind Pari

28)

29) 30) 31)

Exemplarisch etwa der Bail-out des AIG siehe Congressional Oversight Panel, June Oversight Report, The AIG Rescue, Its Impact on Markets, and the Government’s Exit Strategy, June 10, 2010; siehe auch die kritischen Hinweise bei Hellwig in: Verhandlungen des 68. DJT, 2010, E 48 f. Zum Gedanken der „elasticity of law“ im Einzelnen K. Pistor, Journal of Comparative Economics 41 (2013) 315, 320 f. Weitere Einzelheiten bei K. Pistor, Journal of Comparative Economics 41 (2013) 315, 320. Beispiel einer solchen Klausel etwa bei P. Wood, International Loans, Bonds, Guarantees, Legal Opinions, 2. Aufl. 2007, Rz. 5 – 026.

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Passu-Klauseln als eine Reaktion auf Cross Default-Klauseln einzuordnen. Da letztere im Interesse der Gläubiger zur Folge haben, dass bei Zahlungsverzug oder -ausfall alle Forderungen des Schuldners fällig gestellt werden,32) versuchen Gläubiger auf der Grundlage von Pari PassuKlauseln, für etwaige Restrukturierungsverhandlungen eine Interessengleichrichtung auf ihrer Seite sicherzustellen.33) Eine solche erscheint jedoch in Anbetracht der Handhabung dieser Klauseln keineswegs gesichert, wie etwa das Vorgehen des Hedgefonds Elliott Associates gegen Peru zeigt.34) Auf der Grundlage einer sehr weiten Auslegung der Pari Passu-Klausel gewährte das belgische Gericht in dieser Entscheidung den Klägern eine konkursähnliche pro rata-Verteilung der unzureichenden Mittel, obwohl sie sich nicht an der Umstrukturierung beteiligt hatten.35) Schließlich kulminierte auch die Umschuldung argentinischer Staatsanleihen in einer erneuten weiten Auslegung der Pari Passu-Klausel zugunsten von NML Capital, Ltd., einer Tochtergesellschaft der Elliott Associates. Nachdem der argentinische Gesetzgeber mit einem sog. Lock Law ein weiteres Zahlungsangebot an Gläubiger, die an der Umschuldung nicht teilgenommen hatten, für unzulässig erklärt hatte, galt es über den Zahlungsanspruch der Verhandlungen verweigernden Klägerin zu befinden.36) Entscheidend für den Ausgang des Verfahrens war freilich weniger die Frage des Ob des Verstoßes gegen die Pari Passu-Klausel seitens Argentinien infolge des Erlasses des Lock Law, was weniger problematisch anzunehmen war.37) Vielmehr bestand Uneinigkeit im Hinblick auf die Art der 32) 33)

34) 35)

36)

37)

v. Lewinski, Öffentliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011, S. 483; Szodruch, Staateninsolvenz und private Gläubiger, 2008, S. 168 – 170. Zur uneinheitlichen Bewertung dieser Anreizwirkung jedoch A. Gelpern, Contract Hope and Sovereign Redemption (January 18, 2013), American University, WCL Research Paper 2013–04, S. 7 (download unter http://ssrn.com/abstract=2203123). Elliott Assocs., L.P. v. Republic of Peru, General Docket No. 2000/QR/92 (Cour d’Appel de Bruxelles, 8ème chambre, 26.9.2000). Zu dieser umstrittenen Entscheidung siehe A. Gelpern, American University, WCL Research Paper 2013–04, S. 5 f.; Herdegen, Principles of International Economic Law, 2013, S. 473. Zur Vorgeschichte der argentinischen Schuldenkrise Sester, Beteiligung von privaten Investoren an der Umschuldung von Staatsanleihen im Rahmen des European Stability Mechanism (ESM), WM 2011, 1057, 1061 f.; zur Entscheidung NML Capital, Ltd. v. Argentinia siehe etwa Paulus, Resolvenzrecht im Werden „NML Capital, Ltd. v. Argentinien“, 2. Runde, ZIP 2013, 2190; Wong, „NML Capital, Ltd. v. Republic of Argentina” and the changing roles of the pari passu and collective action clauses, Columbia J. of Transnat’l Law 53 (2015) 396 – 407. R. Zamour, „NML v. Argentina” and the Ratable Payment Interpretation of the Pari Passu Clause, Yale J. of Int’l Law 38 (2013) 55, 63 – 65.

Gestaltung von Finanzmärkten durch Vertrag

261

Abhilfe.38) Indem das Gericht in seiner Entscheidung Argentinien zur Unterlassung von Zahlungen an seine übrigen Gläubiger verpflichtete, schloss es auf der Grundlage einer weiten Auslegung der Pari PassuKlausel nicht lediglich eine formale Unterordnung der Klägerin aus, sondern stellte zugleich deren Gleichrangigkeit mit den anderen Gläubigern und letztlich deren Anspruch auf volle Befriedigung fest.39) Damit erweist sich die Elastizität des Vertragsrechts als ein Instrument differenzierender Rechtsanwendung zugunsten der an der Spitze des Finanzsystems einzuordnenden Gläubiger. 2. Collective Action Clauses zwischen Ventilfunktion und Blockadepotenzial Es liegt auf der Hand, dass eine solche Rechtsprechung nicht dazu angetan ist, die Verhandlungsbereitschaft von Gläubigern zu steigern, und dass im Gegenteil mit einer vermehrten Geltendmachung von Zahlungsansprüchen zu rechnen ist.40) Diesem Blockadepotenzial könnten vertragliche Collective Action Clauses (CACs) entgegenwirken, die Umschuldungsmaßnahmen auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen der Gläubiger ermöglichen.41) Das Design dieser Klauseln geht auf Vorbilder aus der englischen Praxis des neunzehnten Jahrhunderts zurück, deren Schwächen eng mit dem notwendigen Interessenausgleich mit Blick auf die drohende Verweigerungshaltung weniger in verhältnismäßig geringer Höhe beteiligter Gläubiger verknüpft sind.42) New Yorker Anleihen gingen hingegen nach anfänglicher Praxis eines Vetorechts jedes einzelnen Gläubigers 2003 zu einem Mehrheitserfordernis i. H. von 75 % über, das bis dahin lediglich nach englischem Recht üblich gewesen war.43) In Anbetracht der Marktsensitivität von Anleihebedingungen ist es nicht fernliegend von Auswirkungen dieser CACs auf die Kosten der Anleihe38) 39) 40)

41) 42) 43)

Siehe etwa R. Zamour, Yale J. of Int’l Law 38 (2013) 55, 56. NML Capital, Ltd. v. Republic of Argentina, No. 8 Civ. 6978 (TPG) (S.D.N.Y. February 23, 2012), aff’d 727 F.3d 230 (2nd Cir. 2013), cert. denied, 134 S. Ct. 2819 (2014). A. Gelpern/Mark C. Weidemaier, Injunctions in Sovereign Debt Litigations, UNC Legal Studies Research Paper No. 2330914, 2013, S. 4 f. (download unter http:// papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2330914). Sester, WM 2011, 1057, 1062; Devi Sookum, Stop Vulture Fund Lawsuits: A Handbook, 2010, S. 74. Lee C. Buchheit/M. Gulati, Drafting a model collective action clause for eurozone sovereign bonds, Capital Markets L. J. 6 (2011) 317 f. M. Bradley/M. Gulati, Collective Action Clauses in the Eurozone, Review of Finance 34 (2014) 2045, 2047 – 2049.

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schuldner auszugehen, was sich jedoch empirisch nicht ohne Einschränkung bestätigen lässt.44) Dessen ungeachtet scheint die Wahrnehmung von Schuldnerstaaten dahin zu gehen, dass mit der Einführung von CACs in Anleihebedingungen die Gefahr einer Herabstufung droht.45) Dieses geteilte Echo mag auf die Risiken zurückzuführen sein, die CACs trotz ihres Restrukturierungspotenzials bergen. Im Gegensatz zur Situation des Gläubigers im Unternehmenskontext sind Anreize zu einer effizienten Restrukturierung auf Seiten des Gläubigers einer Staatsanleihe nicht gegeben.46) Im Gegenteil können CACs sogar Anreize für sog. Geierfonds schaffen, in den Besitz von Anleihen eines Staates in der für ein Vetorecht erforderlichen Höhe zu kommen, um damit eine Umschuldung blockieren zu können.47) Demzufolge scheint auch dieses zunächst als Sicherheitsventil konzipierte Vertragsdesign letztlich die Gestaltungswirkung des Vertrages außer Kraft zu setzen bzw. ins Gegenteil zu verkehren. Inwieweit demgegenüber etwa der European Stability Mechanism zur Beseitigung solcher Ungleichgewichte mit den damit einhergehenden Instabilitäten geeignet ist, einen effektiven Rahmen für Erfolg versprechende Umschuldungsprozesse zu schaffen, wird sich noch erweisen müssen und bedarf gesonderter Analyse.48)

44)

45) 46)

47) 48)

Für keinen oder einen geringen Preiseffekt T. Becker/A. Richards/Y. Thaicharoen, Bond restructuring and moral hazard: are collective action clauses costly? Journal of International Economics 61 (2003) 127 – 161; P. Petas/R. Rahman, Sovereign Bonds – Legal Aspects that Affect Default and Recovery, in: Deutsche Bank (Hrsg.), Global Emerging Markets – Debt Strategy, 1999, S. 59 – 78; F. Weinschelbaum/J. Wynne, Renegotiation, collective action clauses and sovereign debt markets, Journal of International Economics 67 (2005) 47–62; Feststellung geringerer Kapitalkosten bei M. Bradley/M. Gulati, Review of Finance 34 (2014) 2045 – 2102; eine geringe Auswirkung auf den am höchsten und am niedrigsten gerateten Emittenten, aber eine Senkung der Kapitalkosten für den mittleren Bereich feststellend A. Bardozetti/D. Dottori, Collective action clauses: How do they affect sovereign bond yields? Journal of International Economics 92 (2014) 286 – 303. A. Gelpern/M. Gulati, The wonder-clause, Journal of Comparative Economics 41 (2013) 367, 379 – 381; K. Pistor, Journal of Comparative Economics 41 (2013) 315, 324. J. Muse-Fisher, Starving the Vultures: NML Capital v. Republic of Argentina and Solutions to the Problem of Distressed-Debt Funds, California Law Review 102 (2014) 1671, 1685. J. Muse-Fisher, California L. Rev. 102 (2014) 1671, 1707 f.; Paulus/van den Busch, Von den Ausharrenden und den Geiern, WM 2014, 2025, 2026 f. Positive Einschätzung z. B. bei Sester, WM 2011, 1057, 1064 – 1066.

Gestaltung von Finanzmärkten durch Vertrag

263

V. Fazit Im Ergebnis hat die Finanzkrise 2008/09 vertragliche Gestaltungswirkungen auf Finanzmärkten schlaglichtartig beleuchtet. Damit ist eine rein funktionale Betrachtung des Rechts im Verhältnis zu den Finanzmärkten obsolet geworden. Exemplarisch zeigt sich dies an der marktbildenden Kraft der vertraglichen Einigung in Bezug auf Asset-Backed Securities. Sie geht weit über den bloßen Marktaustausch hinaus, indem sie verselbstständigte insolvenzferne SIV-Strukturen schafft, die im Zuge komplizierter Kreditrisikotransfers als Schattenbanken mit ABCPs geldähnliche Instrumente ausgeben. Letztere sind als Ergebnis des zugrunde liegenden Vertrages ebenso wie der durch sie konstitutierte Markt rechtliches Konstrukt. Eine andere Art der Gestaltungswirkung lässt sich anhand der CACs und ihrer Bedeutung für Umschuldungsprozesse exemplifizieren. Zunächst bilden sie die Grundlage für Restrukturierungsprozesse der Gläubiger, nachdem Elastizitäten des Rechts bei der Handhabung von Pari PassuKlauseln zu einer differenzierenden Rechtsanwendung in der Rechtsprechung geführt und solche Prozesse konterkariert hatten. Die genannten Elastizitäten wirkten sich insbesondere zugunsten von an der Spitze des Systems stehenden Gläubigern aus, die jedoch auch in der Lage sind, CACs für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und deren Blockadepotenzial durch den Erwerb einer Vetoposition zu aktivieren. Diese Außerkraftsetzung der Gestaltungswirkung von Verträgen zu Lasten der übrigen Marktteilnehmer bedarf daher weiterer Instrumente, um vertragliche Gestaltung und Restrukturierung auf Finanzmärkten zu ermöglichen.

Das Gegenangebot im österreichischen Übernahmerecht SUSANNE KALSS Inhaltsübersicht I.

Angebot – Konkurrenzangebot – Gegenangebot II. Die Pflichten von Bieter und Zielgesellschaft im Allgemeinen III. Das parallele Bestehen von Angebot und Gegenangebot 1. Angebot – Gegenangebot 2. Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Gegenangebots 3. Sachliche Reichweite des Vereitelungsverbotes bzw. der Neutralitätspflicht IV. Doppelrolle Bieter/Zielgesellschaft – Pflichten des ursprünglichen Bieters und der nunmehrigen Zielgesellschaft

V.

Doppelrolle Bieter – maßgeblicher Aktionär der Zielgesellschaft 1. Zwei Gesellschaften 2. Ausübung von Mitgliedschaftsrechten in anderer Gesellschaft 3. Bestätigung durch Vergleich mit dem City Code 4. Das informationelle Objektivitätsgebot 5. Gleichzeitige Senkung der Kontrollschwelle VI. Zusammenfassung

I. Angebot – Konkurrenzangebot – Gegenangebot Während Konkurrenzangebote, d. h. Angebote zur Erlangung der Kontrolle über ein Unternehmen durch Dritte, die während der Annahmefrist eines Angebots durch den Bieter abgegeben werden, nicht selten vorkommen,1) sind echte Gegenangebote der Zielgesellschaft gegenüber den Aktionären der Bietergesellschaft auf Erwerb aller oder einer bestimmten Zahl von Aktien in allen europäischen Ländern äußerst selten.2) Dies ist damit erklärbar, dass die Zielgesellschaft vielfach nicht in der Lage ist, selbst ein Gegenangebot zu finanzieren und sich daher viel eher an einen außenstehenden Dritten wendet. Daher ist es auch naheliegend, dass sich die Rechtsordnungen stark auf die Regelungen über Konkurrenzangebote mit

1) 2)

Siehe etwa den Fall der SIG Holding AG in der Schweiz (BGE 133 II 232) oder den Kampf um den Saatguthersteller Syngenta zwischen BASF und dem Monsanto. Siehe im Vereinigten Königsreich etwa den Fall Elf Aquitaine/Totalfina (1999); häufiger sind Gegenangebote in der US-Amerikanischen Praxis zu verzeichnen, so etwa The Men’s Wearhouse, Inc./Jos.A.Bank Clothiers, Inc. (2013) sowie Rio Tinto PLC/BHP Billion Ltd. (2007).

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zusätzlichen Informationspflichten, einem neuen Fristenregime, speziellen Auskunftsrechten und sonstigen Rechtsschutzinstrumenten beschränken. Vergleichbare Regelungen für Gegenangebote fehlen weitgehend. II. Die Pflichten von Bieter und Zielgesellschaft im Allgemeinen Dem österreichischen Übernahmegesetz (ÜbG)3) liegt – ebenso wie dem Wertpapierübernahmegesetz (WpÜG) – das Bild des singulären Angebots zugrunde. Dieses Verhältnis ist durch die Dreiecksbeziehung von Bieter, Angebotsadressaten, d. h. den Aktionären, und der Zielgesellschaft gekennzeichnet.4) In diesem Dreiecksverhältnis treffen den Bieter bestimmte vom Übernahmegesetz vorgesehene Verhaltenspflichten; umgekehrt unterliegt auch die Zielgesellschaft den vom Übernahmegesetz vorgesehenen Verhaltenspflichten. Die Angebotsadressaten verfügen über bestimmte Rechte und haben Pflichten zu befolgen. Die Regelungen gelten weitgehend nicht nur für Pflicht- und kontrollerlangende Angebote, sondern auch für freiwillige Voll- und Teilangebote. Die Übernahmerichtlinie5), die auf Angebote mit Kontrollbezug abstellt, entfaltet für das österreichische Recht keine Sperrwirkung.6) Dieses Bild der klar zugeordneten Rechte und Pflichten verschiebt sich bzw. wird überlagert, wenn zwei neue Komponenten hinzutreten, nämlich wenn der Bieter nicht nur als Bieter, sondern zugleich als Zielgesellschaft auftritt, umgekehrt die Zielgesellschaft zugleich auch als Bieter agiert und die Aktionäre beider Gesellschaften Angebotsadressaten von zwei verschiedenen Angeboten sind. Die Verschiebung wird noch stärker, wenn der ursprüngliche Bieter nicht nur die Rolle der zweiten Zielgesellschaft erhält, sondern er auch bereits maßgeblicher Aktionär der ursprünglichen Zielgesellschaft ist. Wie weit werden die im Gesetz klar zugeordneten Rechtsverhältnisse für Bieter, Angebotsadressaten und Zielgesellschaft tatsächlich verschoben? Wie sind diese Doppelrollen, nämlich ursprüngliche Bieterin – nachträg3) 4) 5) 6)

BGBl. I 2006, 75. Bachmann, Konkurrierende Angebote, in: Mülbert/Kiem/Wittig, 10 Jahre WpÜG, 2011, S. 191, 192. Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, Abl. (EU) Nr. L 142/12 v. 30.4.2004. Die Regelungen gelten auch, wenn einem Teilangebot ein Vollangebot gegenübergestellt wird oder umgekehrt; in allen Fällen setzt der Vorstand der Zielgesellschaft einen Gegenakt.

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267

liche Zielgesellschaft einerseits und ursprüngliche Bieterin – ursprüngliche Aktionärin der ursprünglichen Zielgesellschaft andererseits zu ordnen und welche Auswirkung entfaltet die Verschiebung auf die Rechte und Pflichten der ursprünglichen Bieterin? Gemäß § 12 Abs. 1 ÜbG ist dem Vorstand und dem Aufsichtsrat der Zielgesellschaft die Ergreifung von Maßnahmen verboten, die geeignet sind, den Aktionären die Gelegenheit zur freien und informierten Entscheidung über die Disposition über ein Angebot zu nehmen. Dieses Objektivitätsgebot gilt für alle Angebotstypen, d. h. für kontrollbezogene Pflichtangebote und freiwillige Angebote zur Kontrollerlangung, aber auch für einfache öffentliche Angebote.7) Da das Gesetz keinen Zeitpunkt festlegt, ab dem das Objektivitätsgebot gilt, ist es während des gesamten Zeitraums des Übernahmeverfahrens den Verwaltungsorganen der Zielgesellschaft verboten Maßnahmen zu ergreifen, durch welche die objektive und freie Entscheidung der Aktionäre und sonstigen Beteiligungspapierinhaber gefährdet wird. Die entscheidungsrelevanten Informationen sind genau, vollständig, richtig und sorgfältig auszuarbeiten,8) um die fundierte, freie Entscheidung der Aktionäre sicherzustellen. Das Objektivitätsgebot wird begleitet vom Verhinderungsverbot. Ab Bekanntwerden der Übernahmeabsicht müssen gemäß § 12 Abs. 2 ÜbG Maßnahmen, die den Erfolg eines Übernahmeangebots verhindern könnten, von der Hauptversammlung sanktioniert werden. Ausdrücklich von der Zustimmungspflicht ausgenommen ist die Suche nach einem konkurrierenden Bieter. Die Regelungen des Verhinderungsverbotes greifen nicht erst ab Kenntnis der Übernahmeabsicht, wie § 12 Abs. 2 ÜbG ausdrücklich normiert, sondern bereits ab Kenntnis der Übernahmeüberlegungen, da § 3 Nr. 3 ÜbG gezielte Abwehrmaßnahmen auch bereits vor Bekanntwerden der Übernahmeabsicht verbietet. Das Gesetz anerkennt damit schon den Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Übernahmeüberlegungen als maßgeblichen zeitlichen Auslöser für die anlassbezogenen Pflichten der Verwaltungsorgane der Zielgesellschaft.9)

7) 8) 9)

Zollner in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 12 Rz. 8. Huber/Löber, ÜbG, 1. Aufl. 1998, § 12 Rz. 4; Zollner in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 12 Rz. 10. Diregger/Kalss/Winner, Das österreichische Übernahmerecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 91; Winner, Rechte und Pflichten der Zielgesellschaft bei der freundlichen Übernahme, 1999, S. 88; Zollner in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 12 Rz. 21.

268

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III. Das parallele Bestehen von Angebot und Gegenangebot 1. Angebot – Gegenangebot Treffen Angebot und Gegenangebot im Übernahmeverfahren aufeinander, liegt die maßgebliche Frage darin, ob die bietende Gesellschaft (A), deren Aktionären von der ursprünglichen Zielgesellschaft (B) eine Angebotsabsicht auf Erwerb einer Beteiligung von bestimmter Höhe angekündigt und die Übernahmeabsicht mitgeteilt wird, – auch – als Zielgesellschaft zu qualifizieren ist und ob insbesondere daher auf diese Gesellschaft sämtliche Pflichten der Verwaltungsorgane, die § 12 ÜbG normiert, in uneingeschränkter Form zur Anwendung kommen. Die Gesellschaft A ist zunächst Bieterin (Bieterin 1) für sämtliche oder einen Teil der Aktien der Gesellschaft B (Zielgesellschaft 1). Ab der Ankündigung der Angebotsabsicht durch die ursprüngliche Zielgesellschaft 1 ist die Bieterin 1 auch Adressatin eines Gegenangebots und damit Zielgesellschaft 2. Manchmal hält die ursprüngliche Bieterin 1 schon vor dem Angebot einige Anteile an der Zielgesellschaft 1 und ist damit Aktionärin der Zielgesellschaft 1. Bisweilen hält die Bieterin auch schon eine Beteiligung und ist daher auch bereits maßgeblicher Aktionär der Zielgesellschaft. Damit kann die Hauptversammlung besucht werden und stehen alle sonstigen Aktionärsrechte offen. Zulässig ist es auch, dass die Bieterin 1 neben dem angekündigten Angebot Aktien der Gesellschaft B über die Börse zukauft. Die ursprünglich bietende Gesellschaft Bieterin 1 ist häufig nicht nur Bieterin, sondern auch maßgebliche Aktionärin mit allen relvanten Rechten der ursprünglichen Zielgesellschaft 1. Bildlich lässt sich die Parallelität von Angebot und Gegenangebot auf einer Zeitleiste darstellen. Die Zeitleiste verdeutlicht die unterschiedlichen Zeitpunkte der Aktualisierung der Rechte und Pflichten; zugleich macht sie die überlappenden Zeiträume unterschiedlicher Pflichtenbindung sichtbar und die wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Rollen und damit die Unterschiede zu einem schlichten Angebot erkennbar. Die Bieterrolle der Gesellschaft A auf ein Teilangebot beginnt zum Zeitpunkt (x) zu laufen; deutlich später zum Zeitpunkt (y) wird die Absicht für ein Gegenangebot durch die Zielgesellschaft B artikuliert wird. Nunmehr laufen einerseits die Bieterstellung und Zielgesellschaftsstellung für die ursprüngliche Bieterin A (parallel die Stellung als maßgebliche Aktionärin der Zielgesellschaft B), andererseits die Stellung als Zielgesellschaft

Das Gegenangebot im österreichischen Übernahmerecht

269

und Bieterin mit der nachträglichen Zielgesellschaft A als Aktionärin der Zielgesellschaft B parallel. Aktionärin A Bieterin A

Zielgesellschaft A: Objektivitäts- und Verhinderungsangebot

Bieterin B Zielgesellschaft B: Objektivitäts- und Verhinderungsangebot X

Y

E

X: ZP Bekanntwerden der Überlegungen des Angebots A Y: ZP Bekanntwerden der Überlegungen des Gegenangebots durch B E: ZP für die Entscheidung über Gegenangebot

2. Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Gegenangebots Die Erklärung der Absicht der Zielgesellschaft, eine Gegenangebot an die Aktionäre des Bieters, bildet eine Abwehrmaßnahme der Zielgesellschaft. Die Abgabe eines Gegenangebots kann eine unzulässige Investition der Zielgesellschaft darstellen, zumal die Vermögenszusammensetzung der Zielgesellschaft durch ein derartiges Angebot maßgeblich verändert wird. Das Angebot des ursprünglichen Bieters wird dadurch wesentlich erschwert.10) Durch das Gegenangebot wird nicht nur das ursprüngliche Akquisitionsobjekt negativ verändert, vielmehr können auch nachteilige Rückwirkungen auf die ursprüngliche Bieterin durchschlagen. Als Maßnahme, die gegen den ursprünglichen Bieter und das erste Angebot der Bieterin gerichtet ist, fällt das Gegenangebot unter das Verhinderungsverbot gemäß § 12 Abs. 2 ÜbG, das den Vorstand und den Aufsichtsrat der Zielgesellschaft bindet. Ohne Zustimmung der Hauptversammlung ist die Abgabe des Gegenangebots als Abwehrmaßnahme und Verhinderungsmaßnahme von Vorstand und Aufsichtsrat unzulässig.11) Mit Wirksamkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses kann ein derartiges Angebot abgegeben werden. Für die Wirksamkeit reichen die einfache Mehrheit bei der Beschlussfassung und die entsprechende Protokollierung. Der 10) 11)

Hirte in: Hirte/von Bülow, KölnKomm-WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 33 Rz. 58. Hirte in: Hirte/von Bülow, KölnKomm-WpÜG, 1. Aufl. 2003, § 33 Rz. 59; Hirte in: Hirte/von Bülow, KölnKomm-WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 33 Rz. 59; Krause/Pötzsch/ Stephan in: Assman/Pötzsch/Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, § 33 Rz. 110.

270

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Ermächtigungsbeschluss der Hauptversammlung der Zielgesellschaft muss nicht in das Firmenbuch eingetragen werden. In weiterer Folge werden nicht die Pflichten der ursprünglichen Zielgesellschaft, die das Gegenangebot lanciert, sondern die Rechte und Pflichten der ursprünglichen Bietergesellschaft, die durch die Abwehrmaßnahme gleichzeitig zum Übernahmeobjekt und zur Zielgesellschaft wird, erörtert. 3. Sachliche Reichweite des Vereitelungsverbotes bzw. der Neutralitätspflicht Die Neutralitätspflicht bezieht sich auf sämtliche eigenmächtigen Handlungen des Vorstands einer Gesellschaft, durch die ein Angebot verhindert werden kann. Dabei muss eine objektiv-abstrakte Eignung zur Verhinderung gegeben sein. Auf subjektive Komponenten des Vorstands oder des Aufsichtsrats der Gesellschaft kommt es nicht an. Ebenso wenig ist die Tatsache entscheidend, ob die Maßnahme letztlich erfolgreich ist.12) Die Einschätzung ist im Vorhinein vorzunehmen. Das Neutralitätsgebot bezieht sich nur auf Maßnahmen, die tatsächlich und konkret unmittelbar auf die Verhinderung des Angebots zielen und nicht nur darauf, ein Angebot teurer oder unattraktiver zu machen.13) Letztlich ist eine maßgebliche Erschwernis ausreichend, um unter das Verhinderungsverbot gemäß § 12 ÜbG zu fallen. Sinnvoll und notwendig ist die Unterscheidung der Handlungsweisen, die gegen die Erhebung des Angebots durch die Zielgesellschaft sprechen, von jenen, die nur eine grundsätzliche Erkenntnis darstellen oder die erst später greifen. Folgende Maßnahmen fallen beispielhaft nicht unter das Vereitelungsverbot: –

Typische künftige Satzungsänderungen, etwa über die Änderung der Zahl der Aufsichtsratsmandate oder die Einschränkung der Hauptversammlungszuständigkeit bei der Gewinnverwendung (§ 104 öAktG) haben keine unmittelbare und konkrete Auswirkung auf das Gegenangebot für Aktien der Bieterin. Darin liegt keine Vereitelungseignung bezogen auf das von der Zielgesellschaft angekündigte (Gegen-)Angebot.

12)

Zollner in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 12 Rz. 26; Diregger/Kalss/Winner, Das österreichische Übernahmerecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 90; Krause/Pötzsch/Stephan in: Assman/ Pötzsch/Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, § 33 Rz. 84. Krause/Pötzsch/Stephan in: Assman/Pötzsch/Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, § 33 Rz. 84.

13)

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271

Die mangelnde Vereitelungseignung gilt auch für eine Satzungsänderung, welche die Kontrollschwelle gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG satzungsmäßig mit 15 % oder 18 % festlegen will. Dabei geht es nur um künftige Vorgehensweisen und nicht um das konkret angekündigte Angebot der Zielgesellschaft an die Aktionäre der Bieterin. Selbst wenn es nachträglich das Verhalten der Bieterin einerseits bzw. die Stellung der Zielgesellschaft andererseits beeinflusst, hat diese Satzungsänderung keine unmittelbare Vereitelungseignung bezogen auf das angekündigte Angebot.

Gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG kann eine Gesellschaft die gesetzlich festgelegte Kontrollschwelle von 30 % statutarisch herabsetzen. Die Satzungsbestimmung kann nur für jene Sachverhalte Wirkung entfalten, die nach Eintragung der Satzungsänderung in das Firmenbuch verwirklicht werden. Dies folgt aus § 148 Abs. 3 öAktG, der die Wirkung der Firmenbucheintragung für die Satzungsänderung bestimmt.14) Wird in der Satzung der Zielgesellschaft gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG etwa eine Schwelle von 15 % eingeführt und hat ein Aktionär bereits vor Eintragung der Satzungsänderung eine 15 % übersteigende Beteiligung erworben, hat er kein Pflichtangebot zu stellen.15) Der Grund liegt darin, dass er eben schon vorher Aktionär mit einer 15 %igen Beteiligung an der betreffenden Gesellschaft war und er ohne sein Zutun in diese Lage versetzt wird. Die Maßnahme richtet sich daher an künftige die statutarische Kontrollschwelle überschreitende Beteiligungen und nicht auf ein bereits vorher an die Aktionäre der ursprünglichen Zielgesellschaft abgegebenes Angebot. Wenn nunmehr die Kontrollschwelle für einen Aktionär oder eine Aktionärsgruppe, der oder die die Aktien im Zeitpunkt der erstmaligen Überlegung der satzungsmäßigen Festlegung durch die Zielgesellschaft schon hält, nicht gilt, so folgt daraus mit einem einfachen Größenschluss, dass für diesen Aktionär die Einschränkungen, die bei der Etablierung dieser Kontrollschwelle gelten, nicht greifen, d. h. dass er seine Rechte als Aktionär ausüben darf, um die Etablierung der Kontrollschwelle zu verhindern. Erkennt man die mangelnde Vereitelungseignung bezogen auf das unmittelbar angekündigte Angebot, wird daraus auch deutlich, dass Maßnahmen der Bieterin gegen diese Satzungsänderungen und die geplanten Vorhaben

14) 15)

Trenkwalder in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 27 Rz. 7; allgemein Gruber in: Doralt/ Nowotny/Kalss, AktG, 2. Aufl. 2012, § 148 Rz. 23. Ausdrücklich Trenkwalder in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 27 Rz. 7.

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der nachträglichen Bieterin „Zielgesellschaft“ nicht unter § 12 ÜbG fallen und daher nicht dem strengen Neutralitätsgebot gemäß § 12 ÜbG mit der Notwendigkeit der Sanktionierung durch die Hauptversammlung unterliegen. Jedenfalls richten sich das Vereitelungsverbot und die Neutralitätspflicht gemäß § 12 Abs. 2 ÜbG gegen eine angekündigte Abgabe eines Gegenangebotes. Nur Maßnahmen gegen dieses Gegenangebot fallen unter die Neutralitätspflicht gemäß § 12 Abs. 2 ÜbG und sind daher der rechtlichen Beurteilung zu unterwerfen. Dabei ist die ursprüngliche Bietergesellschaft eben nicht als bloße Zielgesellschaft, sondern einerseits in ihrer Rolle als ursprüngliche Bieterin und andererseits in ihrer Rolle als maßgebliche Aktionärin der Gegenbieterin und ursprünglichen Zielgesellschaft zu beurteilen. IV. Doppelrolle Bieter/Zielgesellschaft – Pflichten des ursprünglichen Bieters und der nunmehrigen Zielgesellschaft Zunächst ist die Doppelrolle Bieterin/Zielgesellschaft auszuleuchten. § 12 Abs. 1 und Abs. 2 ÜbG sind Regelungen zugunsten der Angebotsadressaten (Aktionäre und Beteiligungspapierinhaber der Zielgesellschaft) und grundsätzlich keine unmittelbaren Schutzgesetzte zugunsten des Bieters, dessen Interessen dadurch nur mittelbar geschützt werden.16) Aus dem Umstand, dass Angebot und Gegenangebot genau entgegengesetzte Interessen stützen, werfen die Vereinigung der Rolle des Bieters und jene der Zielgesellschaft in einem Rechtsträger die Frage nach der Vereinbarkeit der jeweiligen gesetzlichen Pflichten auf. Unterliegt nun die ursprüngliche Bieterin und spätere Zielgesellschaft A bei Vorbereitungsmaßnahmen der ursprünglichen Zielgesellschaft und späteren Bieterin B als Aktionärin bei der Abstimmung über die Ermächtigung der Abgabe eines Gegenangebots durch die Hauptversammlung bereits dem Neutralitätsgebot und Verhinderungsverbot, das grundsätzlich für Zielgesellschaften ab Kenntnis der Übernahmeüberlegungen gilt? Wird durch die Parallelität der beiden Rollen die Bieterstellung durch die Stellung als Zielgesellschaft überlagert? Konsumiert die Qualifikation als Zielgesellschaft die ursprünglichen Rechte eines Rechtsträgers als Bieter, der darauf zielt, sein Übernahmeangebot möglichst gut abschließen zu können, oder wird er durch

16)

Zollner in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 12 Rz. 16; Schlitt in: MünchKomm-AktG, 3. Aufl. 2011, § 33 WpÜG Rz. 249.

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die nachträgliche Erhebung des Gegenangebots und der Festlegung der satzungsmäßigen Kontrollschwelle durch die ursprüngliche Zielgesellschaft daran gehindert? Gegen die Überlagerung und damit gegen die Beseitigung der Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung der ursprünglichen Bieterin sprechen einige Überlegungen: Zunächst ist das zeitliche Moment zu bedenken. Allein durch eine nachträgliche Verteidigungsmaßnahme der ursprünglichen Zielgesellschaft kann der Erstbieter nicht vollkommen in seinen Handlungen beeinträchtigt, gehemmt und – ab Mitteilung einer Gegenangebotsabsicht – nunmehr gleich wie eine schlichte Zielgesellschaft behandelt werden. Vielmehr sind die Rechte und Pflichten als ursprünglicher Bieter und erst spätere Zielgesellschaft in Einklang zu bringen. Dies ist für den Beschluss der Ermächtigung für die Abgabe eines Gegenangebots zu entfalten. Aus der zeitlichen Dimension eines Gegen- oder Verteidigungsangebots (Reaktionsangebots), nämlich der Abgabe nach dem ursprünglichen Angebot, folgt bereits, dass das Gegenangebot nicht dieselben Auswirkungen wie ein ursprüngliches Angebot entfalten kann, sondern ein Bieter seine Rechte gleichsam aus seiner ursprünglichen Bieterabsicht abgeleitet weiter ausführen können muss. Dies folgt aus einer Parallelgeltung der Regelungen als Bieter und die damit einhergehende erfolgreiche Ausführung und Durchführung des ursprünglichen Angebots und die Bewahrung und Fortführung der Rechtsstellung als Bieter. Methodisch ist die Regelung des § 12 Abs. 2 ÜbG für eine Bieterin, die nachträglich auch zur Zielgesellschaft wird, teleologisch zu reduzieren. Sämtliche Maßnahmen von Vorstand und Aufsichtsrat der ursprünglichen Bietergesellschaft, die der Absicherung des Erfolgs des ursprünglichen Angebotes trotz der parallelen Rolle als Zielgesellschaft dienen, sind weiterhin zulässig. Diese Maßnahmen, die gegen das Gegenangebot gerichtet sind, zielen darauf, das anfängliche eigene Angebot abzusichern. Sie zielen nicht auf die Verhinderung des anderen Angebots aus reinem Selbstzweck. Die erfolgreiche Abgabe des Gegenangebots gefährdet die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit seines eigenen Angebots massiv. Hat man dies erkannt, ist es zulässig, dass der Bieter, der auch Aktionär der Zielgesellschaft ist, in der Hauptversammlung der Zielgesellschaft gegen die Hauptversammlungsermächtigung zur Abgabe eines Gegenangebots stimmen kann.

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Das Verhinderungsverbot gilt für den ursprünglichen Bieter, der nachträglich auch in die Rolle der Zielgesellschaft gelangt, gerade nicht, soweit die Maßnahmen dazu dienen, den Erfolg des ursprünglichen Angebots abzusichern und nicht durch gezielte Gegenmaßnahmen der Zielgesellschaft zu zerstören. Dies wäre aber die Konsequenz, wenn die ursprüngliche Bietergesellschaft wegen der Geltung des § 12 Abs. 2 ÜbG ihr Stimmrecht in der ursprünglichen Zielgesellschaft bei der Frage der Ermächtigung zum Gegenangebot nicht ausüben dürfte. Die Anerkennung des zeitlichen Moments folgt unmittelbar auch aus der Regelung von § 12 Abs. 3 ÜbG. Demnach bedürfen Maßnahmen des Vorstands einer Zielgesellschaft, die vor Bekanntwerden der Übernahmeabsicht getroffen und bereits teilweise umgesetzt wurden, keiner Ermächtigung durch die Hauptversammlung.17) Vielmehr obliegt es der unternehmerischen Sorgfalt des Vorstands zu beurteilen, ob die Maßnahmen weiter umzusetzen sind. Der Vorstand der Bietergesellschaft hat sich zur Abgabe eines Angebots für Aktien der ursprünglichen Zielgesellschaft entschieden und will den Erfolg dieses Angebots absichern. Diese Maßnahmen sind längst vor Bekanntwerden der Übernahmeabsicht der ursprünglichen Zielgesellschaft begonnen worden. Der Vorstand ist i. S. der Pflicht zur eigenverantwortlichen Leitung der Bietergesellschaft im Interesse des Unternehmens gemäß § 70 öAktG dazu verhalten, die entsprechenden Maßnahmen zur Umsetzung seines Ziels zu setzen.18) Dies bedeutet im Konkreten, dass er das Stimmrecht für Aktien der Bietergesellschaft gegen die Ermächtigung für die Abgabe eines Gegenangebots der Zielgesellschaft auszuüben hat. Ähnlich einer vergleichbaren Konstellation, in der ein Bieter in Form eines Masterplanes Erwerbsgeschäfte tätigt und dabei Insider-Informationen gerade nicht ausnützt, sondern bereits einen Erwerbsentschluss gefasst hat und derart eine Masterplanausnahme für sich in Anspruch nimmt,19) lässt sich auch für das Gegenangebot eine vergleichbare Überlegung anstellen. Dem Bieter, der sein Erwerbsangebot durchbringen und es nicht durch Verteidigungsmaßnahmen der Zielgesellschaft gefährden lassen 17) 18) 19)

Diregger/Kalss/Winner, Das österreichische Übernahmerecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 93 unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien: 1344 BlgNR 22. GP 8. Diregger/Kalss/Winner, Das österreichische Übernahmerecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 92. Siehe dazu nur Klöhn in: Hirte/Möllers, KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 14 Rz. 193 ff.; ferner 30. Erwägungsgrund der Marktmissbrauchsrichtlinie, Abl. (EU) Nr. L 96/18 v. 12.4.2003.

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will, ist berechtigt, in angemessener Weise auf Verhinderungs- und Störaktivitäten – eben gerade auch auf das Gegenangebot –, die gegen sein ursprüngliches Angebot zielen, zu reagieren. Dies dient ausschließlich dazu, i. S. eines Masterplanes sein eigenes Angebot durchzubringen. Die Idee der Masterplanausnahme und -durchführung werden zugunsten der Ausführung des ursprünglichen Erwerbsangebotes angewendet. Die Maßnahme, nämlich die Stimmabgabe gegen den Ermächtigungsbeschluss zum Gegenangebot in der Hauptversammlung, dient dazu, den Erfolg des eigenen Erwerbsangebots abzusichern. Die Verhinderung des Gegenangebots ist nicht Selbstzweck, sondern dient ausschließlich dazu, den Erfolg des eigenen Angebots, das ursprünglich und viel früher abgegeben wurde, zu gewährleisten. Der Vorstand der Bietergesellschaft darf daher seine Rechte als Aktionär in der nachträglichen Bietergesellschaft – anders als eine schlichte und ursprüngliche Zielgesellschaft – in rechtskonformer Weise ausüben. Insbesondere darf der Vorstand der ursprünglichen Bietergesellschaft daher mit den von ihr bereits gehaltenen Aktien in der Hauptversammlung der Zielgesellschaft über die Durchführung der Gegenmaßnahmen, d. h. insbesondere die Abgabe des Gegenangebots, die ausschließlich der Verhinderung des Erfolgs seines eigenen ursprünglichen Angebotes dienen, mitstimmen. Damit unterliegt er dem Verhinderungsgebot für das Gegenangebot nicht. Vielmehr darf er das Stimmrecht ausüben, um den Erfolg seines ursprünglichen Angebots sicherzustellen und in rechtskonformer Weise abzusichern. Aus aktienrechtlicher Sicht wäre ein Ausschluss des Stimmrechts grundsätzlich geeignet, um derartige Konfliktsituationen zu neutralisieren. Aus dem Aktienrecht lässt sich allerdings kein genereller Stimmrechtsausschluss für Konfliktsituationen ableitet; vielmehr finden sich in § 125 öAktG vertypte Bestimmungen für spezielle Konstellationen, worunter die Stimme über den Ermächtigungsbeschluss zum Gegenangebot nicht darunter fällt. Die Waffengleichheit von ursprünglicher Bieter- und nachträglicher Zielgesellschaft und ursprünglicher Zielgesellschaft und nachträglicher Bietergesellschaft wird durch die Ausnahme vom Verhinderungsverbot gesichert. Die teleologische Reduktion der Reichweite des Verhinderungsverbotes gemäß § 12 Abs. 2 ÜbG ist auch insoweit anzuerkennen, als sonst durch eine völlige Verschiebung der Handlungsmöglichkeiten eine gleichzeitige Benachteiligung des ursprünglichen Bieters vorgenommen würde. Dies wird aus folgender Überlegung deutlich: Für den Vorstand des ursprüng-

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lichen Bieters wäre es – wegen der Fristenregelungen für die Einberufung einer Hauptversammlung gemäß § 107 Abs. 1 öAktG (drei Wochen) – nicht möglich, in der gebotenen Zeit die Handlungsermächtigung durch die Hauptversammlung zu erlangen. Wegen der knappest möglichen Fristsetzung durch die ursprüngliche Zielgesellschaft mit ihrer Verteidigungsstrategie des Gegenangebots wäre es nun für die Verwaltung der nachträglichen Zielgesellschaft nicht möglich, rechtzeitig für die andere Hauptversammlung die Ermächtigung durch die eigenen Aktionäre zu erlangen, insbesondere wenn es sich um eine börsennotierte Gesellschaft handelt. Dadurch würde die Handlungsmöglichkeit des ursprünglichen Bieters und der nunmehrigen Zielgesellschaft eines Gegenangebots völlig außer Kraft gesetzt werden. Die zeitliche Dimension der mangelnden Sanktionierbarkeit (= Ermächtigung) der Handlungsweisen des Vorstands und Aufsichtsrats des ursprünglichen Bieters durch deren Hauptversammlung, belegen, dass auf den ursprünglichen Bieter die Regelungen des § 12 Abs. 2 ÜbG, wie sie für eine ursprüngliche Zielgesellschaft angewendet werden, nicht schematisch übertragen werden können, sondern zweckentsprechend einzuschränken sind. Somit darf der Vorstand der ursprünglichen Bietergesellschaft auch aus diesem Grund in der Hauptversammlung jedenfalls an der Beschlussfassung über die Ermächtigung zum Gegenangebot mitstimmen. Schließlich spricht die Regelung gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 ÜbG, wonach die Suche nach einem Konkurrenzangebot unabhängig von anderen Abwehrmaßnahmen erlaubt ist, für die Zulässigkeit der Vorgehensweise des ursprünglichen Bieters bezogen auf das Gegenangebot. Wenn für die Zielgesellschaft sogar die Suche nach einem Konkurrenzangebot zulässig ist, um damit bestmöglich für die Angebotsadressaten die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Angebots sicherzustellen, muss dies umso mehr für die Absicherung des eigenen, schon früher abgegebenen Angebots gegen das Gegenangebot des nunmehrigen Bieters gelten. Ein Konkurrenzangebot kann den Erfolg eines aktuellen Angebots vereiteln. Das zusätzliche Angebot führt im Regelfall aber zu einer Verbesserung der Angebotsbedingungen. Somit fördert die Auswahl von Angeboten die Rechtstellung der Aktionäre und Beteiligungspapierinhaber.20) Diese Überlegung ist die Rechtfertigung für die Suche nach einem alternativen Ange20)

Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2015, § 24 Rz. 59; Diregger/Kalss/ Winner, Das österreichische Übernahmerecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 92; Zollner in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 12 Rz. 24.

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bot. Dieser Gedanke ist auf ein eigenes, bereits abgegebenes Übernahmeangebot gegen den nunmehrigen Bieter zu übertragen. Die Beteiligungspapierinhaber der eigenen Gesellschaft haben zwar nunmehr nicht die Möglichkeit über zwei Angebote für Aktien der eigenen Gesellschaft zu entscheiden, nämlich das Angebot der ursprünglichen Zielgesellschaft für Aktien der ursprünglichen Bietergesellschaft und ein anderes Angebot. Vielmehr haben sie zwei Alternativen: Sie haben die Möglichkeit, entweder das Angebot der ursprünglichen Zielgesellschaft anzunehmen oder darüber zu entscheiden, weiter Aktionär der ursprünglichen Bietergesellschaft zu bleiben, um eben als Aktionäre der Bietergesellschaft mittelbar auch über die Vermögenswerte einer anderen Gesellschaft zu verfügen. Mittelbar handelt es sich um das Angebot zugunsten der Bietergesellschaft und gegen die ursprüngliche Zielgesellschaft. Somit stehen auch hier zwei Entscheidungsalternativen zur Verfügung, die wertungsmäßig parallel wie die Suche nach einem Konkurrenzangebot zu beurteilen sind. V. Doppelrolle Bieter – maßgeblicher Aktionär der Zielgesellschaft 1. Zwei Gesellschaften Nunmehr ist die zweite Doppelrolle, nämlich die des ursprünglichen Bieters für Teile der Aktien der Zielgesellschaft und die des maßgeblichen Aktionärs der Zielgesellschaft genauer zu betrachten. Vielfach hält die Bieterin aufgrund vorherigen Besitzes und wegen des parallelen Zuerwerbs an der Börse Aktien der Zielgesellschaft. Das Gegenangebot wird von der Zielgesellschaft an die ursprüngliche Bietergesellschaft gestellt, die vielfach schon Aktien der Zielgesellschaft hält. Die Zielgesellschaft ist unter diesem Blickwinkel eine Drittgesellschaft und die Gegenbietergesellschaft. Sie ist jedenfalls ein – außenstehender – anderer Rechtsträger. Die Neutralitätspflicht bezieht sich hingegen im Regelfall auf Maßnahmen, die den eigenen Geschäftsbetrieb der Zielgesellschaft betreffen, etwa den Erwerb und die Veräußerung wesentlicher Beteiligungen (crown jewels), etwa nur um kartellrechtliche Genehmigungsprobleme zu schaffen oder um sonstige wesentliche aktive Veränderungen des Aktiv- und Passivbestandes der Gesellschaft herbeizuführen.21) Ein anderer Aspekt wäre etwa die Einbringung wesentlicher Beteiligungen der Zielgesellschaft in Joint 21)

Siehe ausdrücklich Hirte in: Hirte/von Bülow, KölnKomm-WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 33 Rz. 58; vgl schon oben Punkt 2.

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Ventures oder die Vereinbarung gerade aus diesem Grund für Change of Control-Klauseln oder Material Adverse Change-Klauseln (MACKlauseln).22) Die Verweigerung der Zustimmung zur Übertragung von vinkulierten Namensaktien, sofern sie gemäß § 62 Abs. 2 öAktG in der Zuständigkeit des Vorstands liegt, fällt darunter. Es geht um Maßnahmen, die initiativ vom Vorstand gesetzt werden, ist doch dieser das maßgebliche Leitungs- und Entscheidungsorgan der Gesellschaft, das initiativ tätig wird und nicht auf Zuruf und Anweisung eines anderen Organs handelt.23) 2. Ausübung von Mitgliedschaftsrechten in anderer Gesellschaft Bei einem Gegenangebot geht es um etwas völlig anderes: Dabei geht es um eine Reaktion eines Aktionärs auf die Handlung eines dritten Rechtsträgers, die gerade nicht initiativ vom eigenen Vorstand gesetzt wird, sondern von der – außenstehenden – ursprünglichen Zielgesellschaft und nunmehrigen Bietergesellschaft, deren Mitglied die ursprüngliche Bietergesellschaft bereits ist. Somit liegt darin gerade nicht der Bereich des initiativen Vorgehens des Vorstands, dessen Eigeninteresse durch eigeninitiative Handlungen gemäß § 12 Abs. 2 eingeschränkt werden soll.24) Die Beteiligungsverwaltung, die Ausübung des Stimmrechts für Aktien in Gesellschaften, an denen Beteiligungen bzw. Anteile gehalten werden, ist eine gewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme, die in die Kompetenz des Vorstandes fällt. Sie kann gemäß § 95 Abs. 5 öAktG an die Zustimmung des Aufsichtsrats gebunden werden. Eine Bindung an einen Hauptversammlungsbeschluss kann aber weder satzungsmäßig noch durch eine Anordnung in der Geschäftsordnung wirksam durchgesetzt werden. Daher ist der Vorstand für die Ausübung der Stimmrechte zuständig. Gerade auch im Lichte der aktuellen Judikatur des Obersten Gerichtshofs zur Hauptversammlungszuständigkeit25) ist die Ausübung des Stimmrechts in Beteiligungsgesellschaften – die keine verbundenen Unternehmen oder auch keine Tochtergesellschaften sind – eine Angelegenheit der gewöhnlichen 22)

23) 24)

25)

Hopt, Verhaltenspflichten des Vorstands der Zielgesellschaft bei feindlichen Übernahmen – Zur aktien- und übernahmerechtlichen Rechtslage in Deutschland und Europa, in: FS für Lutter, 2010, S. 1361, 1389; Hirte in: Hirte/von Bülow, KölnKommWpÜG, 2. Aufl. 2010, § 33 Rz. 59. OGH 6 Ob 77/14p, GesRZ 2015, 136. Siehe zum Zweck des Neutralitätsgebotes als Einschränkung der Eigeninteressen des Vorstands Krause/Pötzsch/Stephan in: Assman/Pötzsch/Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, § 33 Rz. 8, unter Bezugnahme auf BT-Drucks. 14/7034, S. 57. OGH 6 Ob 77/14p, GesRZ 2015, 136.

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Geschäftsführung, die ganz typisch allein vom Vorstand wahrgenommen wird. Allenfalls wird sie über Geschäftsordnungen an die Zustimmung des Aufsichtsrats gebunden. Insofern liegt die Ausübung des Stimmrechts in der Leitungsverpflichtung und in der allgemeinen Sorgfaltsverpflichtung des Vorstands gemäß § 70 öAktG. Er hat im besten Interesse seines eigenen Unternehmens bei der Ausübung der Stimmrechte i. R. der Beteiligungsverwaltung zu handeln. Das Gegen- oder Verteidigungsangebot der ursprünglichen Zielgesellschaft zielt jedenfalls gegen die strategische Rationalität des ursprünglichen Angebots und kann auch nach Überzeugung der Zielgesellschaft selbst eine geradezu selbstschädigende Maßnahme sein – darin liegt der Zweck dieser Maßnahme. Daher ist der Vorstand der ursprünglichen Bietergesellschaft als maßgeblicher Aktionär der Zielgesellschaft geradezu gehalten, gegen diese selbstschädigende Maßnahme der Zielgesellschaft und damit mittelbar – gleichsam reflexiv26) – auch ihn schädigende Maßnahme zu stimmen. 3. Bestätigung durch Vergleich mit dem City Code Die Überlegungen zum österreichischen Recht finden ihre Bestätigung im City Code, der die maßgebliche Vorbildregelung des österreichischen Übernahmerechts war27) und daher für die Erhellung von Wertungen und für das Regelungsanliegen Gewicht hat. Nr. 21.1 des City Codes on Takeover and Mergers besagt: “The Panel will normally waive the requirement for a general meeting under this rule where the holders of shares carrying more than 50 % of the voting rights state in writing that they approve the action proposed and would vote in favour of any resolution to that effect proposed at a general meeting.”

Aus dieser Regelung folgt, dass wenn der relative Mehrheitsgesellschafter einer Handlungsweise des Vorstands zustimmt, die Berechtigung für die Durchführung der Maßnahme gegeben ist. Stimmt nämlich der relative Mehrheitsgesellschafter dem Stimmverhalten der Bieterin zu, somit dem Vorstand, dann könnte die Vorgehensweise des Vorstands als solches gerechtfertigt sein. Der City Code hält damit in dem Fall, in dem vorweg eine Zustimmungserklärung des Mehrheitsgesellschafters gegenüber dem 26)

27)

Siehe dazu Trenker, Reflexvorteile und Reflexschäden im Gesellschaftsrecht – Zur Identifikation von Schuldner und Gläubigern von gesetzlichen Schuldverhältnissen, GesRZ 2014, 10 ff. Doralt, Überlegungen zur Gestaltung der Vorschriften über das Recht der öffentlichen Übernahmeangebote im österreichischen Recht, in: FS für Kropff, 1997, S. 53 ff.; Doralt, Übernahme, Verschmelzung, der Konzern und der City Code, GesRZ 2000, 197 ff.

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Vorstand gegeben ist, der Vorstand nicht die Zustimmung der Hauptversammlung einholen muss, sondern das Takeover Panel von dem Erfordernis eines Hauptversammlungsbeschlusses absehen kann. Dies bedeutet zugleich, dass der Mehrheitsgesellschafter grundsätzlich keinem Stimmverbot unterliegt. Sogar das besonders strenge Regime der Neutralitätspflicht nach dem City Code des Vereinigten Königreichs28) ist gerade in diesem Punkt offen und gewährt dem Vorstand die Vorgehensweise. 4. Das informationelle Objektivitätsgebot Für die ursprüngliche Bieter- und nachträgliche Zielgesellschaft greift vor allem das Objektivitätsgebot bezogen auf die Informationen ihrer Absichten und Handlungsweisen; diese Pflicht gilt trotz ihrer Doppelstellung als Bieter- und Zielgesellschaft bzw. als Bieterin und Aktionärin der Zielgesellschaft. Weitergehende Beschränkungen bezogen auf die Ausübung ihrer Rechte sind restriktiv anzuwenden. 5. Gleichzeitige Senkung der Kontrollschwelle Eine Besonderheit des österreichischen Übernahmerechts liegt in der Möglichkeit der statutarischen Herabsetzung der allgemeinen Kontrollschwelle für das Auslösen eines Pflichtangebots von 30 % auf eine deutlich niedrigere Schwelle. Gemäß § 27 Abs. 2 ÜbG bedarf ein Beschluss der Hauptversammlung zur Herabsenkung der Schwelle einer Mehrheit, die mindestens ¾ des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfasst. Die Satzung kann diese Mehrheit durch eine andere Kapitalmehrheit (einfache Mehrheit) ersetzen.29) Die Regelung beruht auf einer Satzungsänderung und ist daher nur wirksam, wenn die Satzungsänderung mit der entsprechenden Beschlussfassung vorgenommen wird und ist wie jede andere Satzungsänderung erst mit der Eintragung in das Firmenbuch wirksam.30) Durch diese Maßnahme der ursprünglichen Zielgesellschaft kann die Wirkung eines Gegenangebots noch deutlich verstärkt werden. Denn mit der Herabsetzung wird einem künftigen Bieter die Möglichkeit genommen, 28) 29) 30)

So die Qualifikation von Hirte in: Hirte/von Bülow, KölnKomm-WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 33 Rz. 17; ferner Hopt in: FS für Lutter, 2010, S. 1361, 1368. Trenkwalder in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 27 Rz. 20. Gruber in: Doralt/Nowotny/Kalss, AktG, 2. Aufl. 2012, § 148 Rz. 23.

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ein für ihn – aktuell leistbares – Teilangebot zu legen. Er wird durch die herabgesenkte Kontrollschwelle – im Laufe des Beteiligungsaufbaus – schon viel früher gezwungen, ein teureres Vollangebot zu legen. Die mangelnde Fähigkeit oder auch der mangelnde Wille zur Finanzierung des Vollangebots verhindern damit das Angebot insgesamt. Welche Rechte hat ein unmittelbar betroffener Aktionär und Bieter aus aktienrechtlicher Sicht, wenn einseitig in seine Rechtstellung eingegriffen wird? Unmittelbar betroffen ist ein Aktionär, der bereits eine Beteiligung hält, die das Ausmaß der geplanten herabgesetzten Kontrollschwelle erreicht oder überschreitet. Nach einer Ansicht in der Literatur soll die Herabsetzung ohne Zustimmung des betroffenen Aktionärs zulässig sein, da bereits die gesetzliche Möglichkeit der Einführung eine abschließende gesetzgeberische Wertung darstelle und daher die Maßnahme bei entsprechender Beschlussfassung rechtskonform sei, auch wenn ein einzelner Aktionär unmittelbar deutlich stärker betroffen ist als andere Gesellschafter.31) Dem ist nicht zu folgen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass diese nachträgliche Einführung der Herabsenkung der Kontrollschwelle, die einen Rechtsträger als Bieter unmittelbar betrifft, nicht ohne dessen Zustimmung zulässig ist. Von entscheidender Bedeutung sind daher nicht allein der Umstand der Beschlussfassung mit der notwendigen Mehrheit und die Eintragung in das Firmenbuch, sondern die Rechtsstellung der unmittelbar betroffenen Aktionäre im Lichte des Gleichbehandlungsgebots. Die Herabsetzung der Kontrollschwelle ist vergleichbar der nachträglichen Einführung eines Höchststimmrechts. Allgemein wird anerkannt, dass Satzungsbestimmungen, die nachträglich das Stimmrecht beschränken oder eine Kontrollschwelle festlegen, nicht von Anfang in der ursprünglichen Satzung enthalten sein müssen, sondern auch nachträglich eingeführt werden können. Die nachträgliche Einführung einer Satzungsklausel ist auf zwei Ebenen zu diskutieren. Einerseits ist die rechtliche Zulässigkeit der Klausel per se zu beurteilen; dies ist eine Frage der Reichweite der statutarischen Gestaltungsfreiheit. In einem weiteren Schritt ist zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen diese Klausel nachträglich in eine bereits bestehende Satzung eingefügt werden kann.32)

31) 32)

So Trenkwalder in Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 27 Rz. 23. Kalss/Probst, Familienunternehmen, 2013, Rz. 13/54.

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Die grundsätzliche aktienrechtliche Zulässigkeit einer vom Gesetz abweichenden Klausel ist sowohl für das Höchststimmrecht als auch für die Kontrollschwelle anerkannt. § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG sieht für die Herabsetzung der Kontrollschwelle diese Möglichkeit explizit vor. Allein die Öffnungsklausel im Gesetz – § 12 Abs. 2 öAktG für die Einführung eines Höchststimmrechts und § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG für die Herabsetzung der Kontrollschwelle – sanktioniert die nachträgliche Einführung noch nicht, sondern bezieht sich nur auf die grundsätzliche Zulässigkeit. In einem weiteren Schritt ist die Maßnahme daher im Lichte des Gleichbehandlungsgebots zu beurteilen. Die nachträgliche Einführung eines Höchststimmrechts ist demnach zulässig, sofern alle Gesellschafter potenziell gleich betroffen sind. Einer Einzelzustimmung aller möglichen bzw. betroffenen Gesellschafter bedarf es dann nicht. Eine nachträgliche Einführung eines Höchststimmrechts ist bei der unmittelbaren Betroffenheit eines einzelnen Gesellschafters und der damit verbundenen Ungleichbehandlung nur zulässig, sofern (i) der einzelne betroffene Gesellschafter zustimmt oder (ii) eine sachliche Rechtfertigung vorliegt.33) Eine nachträgliche Einführung ist daher zulässig, sofern der betroffene Gesellschafter dieser ungleichen Behandlung individuell zustimmt oder wenn diese individuelle Ungleichbehandlung durch eine sachliche Rechtfertigung neutralisiert werden kann.34) Die h. M. geht daher in Österreich davon aus, dass die nachträgliche Einführung von Höchststimmrechten nicht uneingeschränkt zulässig ist, nämlich wenn schon zu diesem Zeitpunkt einzelne Paketaktionäre über der Höchststimmrechtsschranke liegen.35) Wenn einzelne Gesellschafter durch die Maßnahme unmittelbar

33)

34)

35)

Kalss in: Kalss/Nowotny/Schauer, Österreichisches Gesellschaftsrecht, 2008, Rz. 3/626; Doralt/Winner in: Doralt/Nowotny/Kalss, AktG, 2. Aufl. 2012, § 47a Rz. 20; Krejci, Gesellschaftsrecht I, 2005, S. 205; Haberer, Zwingendes Kapitalgesellschaftsrecht, 2009, S. 216. Allgemein zu dem Neutralisierungsgedanken: Kalss/Probst, Familienunternehmen, 2013, Rz. 13/64; Kalss, Beschlussfassungen bei mehreren Aktiengattungen, in: FS für Aicher, 2012, S. 229, 239 f. Doralt/Winner in: Doralt/Nowotny/Kalss, AktG, 2. Aufl. 2012, § 47a Rz. 20; Kalss in: Kalss/Nowotny/Schauer, Österreichisches Gesellschaftsrecht, 2008, Rz. 3/626; Kalss, Das Höchststimmrecht als Instrument zur Wahrung des Aktionärseinflusses, 1992, S. 78 ff.; Thiery, Höchststimmrecht für Aktionäre, NZ 1989, 81, 87; Kastner, AktG 1965, JBl. 1965, 392, 398.

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berührt sind, und ihr Stimmrecht daher gekappt wird, müssen diese einzeln zustimmen.36) Diese Wertung ist nun auf die Festlegung einer satzungsmäßigen Kontrollschwelle gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG zu übertragen. Wird durch die Herabsetzung der Auslöseschwelle für das Pflichtangebot in die rechtliche Position einzelner Gesellschafter unmittelbar eingegriffen, da sie bereits über eine die Kontrollschwelle überschreitende Beteiligung verfügen, ist die Einführung dieser Schwelle nur mit deren individuellen Zustimmung oder bei Vorliegen einer sachlichen Rechtfertigung zulässig.37) Zwar greift die herabgesetzte Kontrollschwelle nicht unmittelbar für den betroffenen Aktionär, d. h. die spätere Herabsetzung der Schwelle würde nicht zur nachträglichen Auslösung des Pflicht- und damit Vollangebots führen (siehe dazu bereits oben), weil er ohne sein Zutun in diese Situation versetzt wird und er selbst aktiv zu einem Zeitpunkt die Beteiligung erworben hat, zu dem die gesetzliche Kontrollschwelle von 30 % gegolten hat. Der Aktionär ist aber in seinen künftigen Aktivitäten deutlich eingeschränkt, da ihn jedenfalls die Schranke des Creeping-In gemäß § 22 Abs. 4 ÜbG deutlich früher trifft als ohne die herabgesetzte Schwelle. Zudem verliert er damit die Möglichkeit die Kontrollprämie unter der Schwelle von 30 % zu lukrieren. Nicht erfasst wird er hingegen gemäß § 22b ÜbG von den Rechtsfolgen der passiven Kontrollerlangung und somit vom Stimmverbot der Aktien ab einer Beteiligung von mehr als 26 %, solange die Beteiligung unter diesem Schwellenwert liegt. Creeping-In bedeutet, dass ein Aktionär, der bereits eine kontrollierende Beteiligung hält, die nicht die Mehrheit der auf die ständig stimmberechtigten Aktien entfallenden Stimmrechte der Zielgesellschaft vermittelt (d. h. im Regelfall unter 50 %), ein Pflichtangebot zu unterbreiten hat, wenn er innerhalb von zwölf Monaten mindestens 2 % der Aktien hinzuerwirbt.38) Dem Aktionär wird damit die Möglichkeit des unbeschränkten Erwerbs bis zur

36)

37) 38)

Ausdrücklich Diregger/Kalss/Winner, Das österreichische Übernahmerecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 92 Fn. 155; Kastner/Doralt/Nowotny, Grundriss des Gesellschaftsrechts, 5. Aufl. 1990, S. 272; Kalss/Probst, Familienunternehmen, 2013, Rz. 13/80; ferner Kalss in: FS für Aicher 2012, S. 229, 237. Ausdrücklich Doralt/Winner in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG, 2. Aufl. 2012, § 47a Rz. 20. Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2015, Rz. 24/247; Kalss, Creeping-In und Beteiligungspublizität nach österreichischem Recht, in: Kämmerer/Veil, Übernahmeund Kapitalmarktrecht in der Reformdiskussion, 2013, S. 155 ff.; Hopt, Europäisches Übernahmerecht, 2013, S. 46 ff.

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allgemeinen Kontrollschwelle genommen.39) Er ist damit deutlich stärker betroffen als die anderen. Stimmt der betroffene Aktionär dem satzungsändernden Hauptversammlungsbeschluss nicht zu, wäre dieser wegen der Verletzung des Gebotes der Gleichbehandlung gemäß § 195 öAktG anfechtbar.40) Die Eintragung in das Firmenbuch ist gemäß § 19 Firmenbuchgesetz (FBG) zu beurteilen. Da die anfechtenden Aktionäre wegen der passiven Kontrollerlangung und des damit verbundenen Erwerbsverbots deutliche rechtliche und wirtschaftliche Nachteile aus einer rechtswidrigen Eintragung zu erwarten hätten, ist das Firmenbuchgericht i. R. seines Ermessens nicht berechtigt, die Eintragung der Satzungsänderung trotz des Vorliegens der Anfechtung vorzunehmen.41) Auch die Regelung über die Aufhebung der herabgesetzten Kontrollschwelle spricht für die Zustimmungspflicht des betroffenen Gesellschafters bereits bei der Einführung. Gemäß § 27 Abs. 3 ÜbG bedürfen Beschlüsse zur Änderung von Satzungsbestimmungen über die Festlegung der Kontrollschwelle gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG der Zustimmung aller Inhaber von Beteiligungspapieren, somit aller Aktionäre, wenn damit der Schwellenwert nach § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG wieder angehoben oder aufgehoben wird. Dies bedeutet, dass eine spätere Erhöhung nur mit Zustimmung aller Beteiligungspapierinhaber möglich und daher praktisch nur schwer durchführbar ist.42) Änderungen der Satzungsbestimmungen gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 ÜbG werden wie ein Entzug von Sonderrechten behandelt und unterliegen daher der Zustimmung sämtlicher Aktionäre und sonstigen Beteiligungspapierinhaber.43) Auch die Aufhebung einer derartigen Satzungsbestimmung bedarf der Zustimmung aller Beteiligungspapierinhaber und Aktionäre. Damit wird der Gedanke offensichtlich, dass damit nicht „in

39)

40) 41) 42) 43)

Umgekehrt betrachtet, wird sie ihm über eine lange Zeitspanne auch erleichtert: er könnte über mehrere Jahre jeweils maximal knapp unter 2 % der Aktien hinzuerwerben und seine Beteiligung ausbauen, ohne ein Vollangebot stellen zu müssen. Diese langgezogene Strategie ist aber wohl nur in seltenen Ausnahmefällen von Relevanz. Doralt/Winner in: Doralt/Nowotny/Kalss, AktG, 2. Aufl. 2012, § 47a Rz. 22. Kalss, Verschmelzung – Spaltung – Umwandlung, 2. Aufl. 2010, § 225 Rz. 62; Burgstaller/ Pilgerstorfer in: Jabornegg/Artmann, UGB, 2. Aufl. 2010, § 19 FBG Rz. 16. Ausdrücklich Diregger/Kalss/Winner, Das österreichische Übernahmerecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 191; Trenkwalder in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 27 Rz. 25. Zollner, Kontrollwechsel, 2003, S. 194; Trenkwalder in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 27 Rz. 24.

Das Gegenangebot im österreichischen Übernahmerecht

285

wohlerworbene Vermögensrechte“ aller Aktionäre und Beteiligungspapierinhaber eingegriffen werden darf.44) VI. Zusammenfassung 1.

Ein Gegenangebot ist eine Maßnahme der Zielgesellschaft, die auf die Vereitelung des ursprünglichen Angebots des Bieters zielt.

2.

Das Neutralitätsgebot bezieht sich nur auf Maßnahmen, die eine Vereitelungseignung bezogen auf das angekündigte Angebot aufweisen. Daher sind nur jene Handlungen, die auf die Abgabe des Gegenangebots zielen, vom Neutralitätsgebot gemäß § 12 ÜbG erfasst. Nicht betroffen sind nachfolgende Satzungsänderungen der Zielgesellschaft, die zukunftsbezogen sind wie bspw. die Veränderung der Zahl der Aufsichtsratsmitglieder oder die Hebung des Genehmigten Kapitals.

3.

Hält der Bieter bereits Aktien der Zielgesellschaft, folgt die mangelnde Anwendbarkeit des Neutralitätsgebotes gemäß § 12 Abs. 2 ÜbG auf die Ausübung des Stimmrechts in der Hauptversammlung der Zielgesellschaft für die ursprüngliche Bieterin bei der Beschlussfassung über die Ermächtigung zum Gegenangebot aus der Aktionärsstellung der Bieterin in der Zielgesellschaft. Der ursprüngliche Bieter darf in der Hauptversammlung sein Stimmrecht ausüben, sofern er schon über Aktien verfügt. Die Ausübung des Stimmrechts ist keine eigene initiative Handlungsweise des Vorstands in seiner eigenen Gesellschaft, vielmehr handelt es sich um eine Maßnahme in einer dritten außenstehenden Gesellschaft, die nicht initiativ vom Vorstand vorgenommen wird. Die Abgabe des Stimmrechts im Zuge der Beteiligungsverwaltung ist Ausdruck der ordentlichen Geschäftstätigkeit, die dem Vorstand ohne Ermächtigung durch die Hauptversammlung zukommt.

4.

Die Einführung einer deutlich unter 30 % liegenden Kontrollschwelle in der ursprünglichen Zielgesellschaft durch Herabsetzung der Schwelle in der Satzung als Ergänzung zum Gegenangebot bedarf der Zustimmung jener Aktionäre, deren Beteiligung zum Zeitpunkt der Satzungsänderung über der neuen Kontrollschwelle liegt. Hält der Bieter diesen Aktienanteil, ist seine Zustimmung erforderlich.

44)

Trenkwalder in: Huber, ÜbG, 2. Aufl. 2007, § 27 Rz. 24; Zollner, Kontrollwechsel, 2003, S. 194.

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung – Rechtlicher Rahmen und wirtschaftliche Folgen – CHRISTOPH KASERER Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Der Markt für VerbraucherImmobilienkredite III. Determinanten der Margen im Hypothekargeschäft

IV. Mögliche Wohlfahrtseffekte durch die Einschränkung von Zinsbindungsfristen V. Empirische Evidenz 1. Internationale empirische Evidenz 2. Das Beispiel Italien VI. Zusammenfassende Betrachtung

I. Einleitung*) In den vergangenen Monaten wurde in Deutschland die Diskussion über die Möglichkeit der vorzeitigen Rückzahlung von grundpfandrechtlich besicherten Immobilienkrediten wieder neu belebt.1) Dies hat zwei verschiedene Ursachen. Erstens hat der europäische Gesetzgeber zu Beginn des Jahres 2014 die Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher verabschiedet.2) Angesichts der Vielfältigkeit der europäischen Landschaft für Immobilienkredite hat man dabei auf eine einheitliche Regelung der vorzeitigen Rückzahlung dieser Verträge verzichtet, sondern vielmehr den nationalen Gesetzgebern einen erheblichen Spielraum

*) 1)

2)

Dieser Beitrag beruht auf einem im Auftrag des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands erstellten Gutachten. Eine rechtsvergleichende Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten zur vorzeitigen Kündigung von Festzinskrediten findet sich in Köndgen, Vorzeitige Tilgung hypothekarisch gesicherter Festzinskredite: ein Rechtsvergleich, in: Verband deutsche Hypothekenbanken (Hrsg.), Die vorzeitige Rückzahlung von Festzinskrediten, 2000, S. 1 – 148. Vgl. Richtlinie 2014/17/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.2.2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. (EU) Nr. L 60/34 v. 28.2.2014.

288

Christoph Kaserer

gelassen. So kann nach Art. 25 der Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher der nationale Gesetzgeber nach eigenem Ermessen ein jederzeitiges Recht auf vorzeitige Rückzahlung ohne irgendeine Entschädigung an den Kreditgeber vorsehen. Er kann aber auch die vorzeitige Rückzahlung an die Zahlung einer angemessenen Entschädigung an den Kreditgeber knüpfen. Gewissermaßen als Mittelweg ist vorgesehen, dass diese Entschädigung eine bestimmte Obergrenze nicht überschreiten darf oder nur für eine bestimmte Zeitspanne zulässig ist. Diese Regelung ist mit der derzeit geltenden Rechtslage in den meisten Mitgliedstaaten kompatibel. Auch Deutschland könnte die bisherige Rechtslage, die im Wesentlichen in den §§ 489 und 490 BGB kodifiziert ist, beibehalten. So ist bei Wohnungsbaukrediten mit Zinsbindungsfristen von nicht mehr als zehn Jahren eine vorzeitige Rückzahlung im Regelfall nur bei Zahlung einer angemessenen Vorfälligkeitsentschädigung an den Kreditgeber möglich. Dennoch wurden in der Diskussion um die Umsetzung der Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher in nationales Recht auch Vorschläge eingebracht, von der bisherigen Rechtslage abzuweichen und die Zinsbindungsfristen aufzuweichen. Eine solche Aufweichung könnte etwa darin bestehen, dass man eine Obergrenze für die Vorfälligkeitsentschädigung einzieht.3) Spätestens mit der Vorlage des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie am 15. Juli 2015 ist es sehr wahrscheinlich geworden, dass der nationale Gesetzgeber die bestehenden Regelungen zur Kündigung von Wohnungsbaukrediten nicht verändern wird. Allerdings wird in diesem Entwurf in § 500 Abs. 2 BGB eine Regelung eingeführt, wonach auch Immobiliar-Verbraucherdarlehen bei berechtigtem Interesse vorzeitig gekündigt werden dürfen. Zwar liest sich die Gesetzesbegründung so, dass hiermit die bestehende Kündigungsregelung nach § 490 Abs. 2 BGB nicht erweitert werden soll, dennoch könnte es hier zumindest zu weiteren Diskussionen um die Möglichkeit einer vorzeitigen Kündigung kommen. Zweitens hat sich in Deutschland durch die Entscheidung des VIII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 15. August 20124) für viele Verbrau3)

4)

Solche Regelungen existieren in anderen EU-Ländern, wie etwa Belgien oder Frankreich. In Italien ist eine jederzeitige Kündigung möglich. Für einen Überblick vgl. ECB, Housing Finance in the Euro Area, 2009, S. 27 ff. BGH, Urt. v. 15.8.2012 – VIII ZR 378/11, BGHZ 194, 238 = ZIP 2012, 1918.

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung

289

cher die Möglichkeit ergeben, Altverträge unter Berufung auf eine fehlerhafte Widerrufsbelehrung durch den Kreditgeber zu kündigen bzw. bei früherer Kündigung bereits bezahlte Vorfälligkeitsentschädigungen zurückzuverlangen. Hintergrund dieser Problematik ist – etwas untechnisch ausgedrückt – die Frage, unter welchen Voraussetzungen die dem Verbraucher zwingend auszuhändigende Widerrufsbelehrung den gesetzlichen Vorschriften entspricht und damit rechtswirksam ist. Mit dem oben genannten Urteil wurde lediglich klargestellt, dass dies jedenfalls dann der Fall ist, wenn der Kreditgeber das in Anlage 2 zu § 14 (1) BGB-InfoV geregelte Muster für die Widerrufsbelehrung verwendet. Damit gab es erstmals eine höchstrichterliche Klarstellung bezüglich der Gesetzlichkeitsfiktion der Musterbelehrung.5) Beide Entwicklungen zeigen einmal mehr, dass die nach deutschem Recht vorgesehene Vorfälligkeitsentschädigung bei vorzeitiger Kündigung von Darlehensverträgen in der öffentlichen Diskussion in Frage gestellt wird. Während über viele Jahre vor allem die Berechnung der angemessenen Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung im Vordergrund stand, wird in der jüngsten Diskussion ihre Berechtigung grundsätzlich in Frage gestellt. Tatsächlich zeigt ein Blick in das europäische Ausland, dass das Verbraucherschutzrecht der Vorfälligkeitsentschädigung mehr oder weniger enge Grenzen setzt oder sie ganz verbietet. Entsprechend unterschiedlich sind dann auch die Usancen in den Verbraucher-Immobilienkrediten in verschiedenen europäischen Ländern.

5)

Vgl. zu diesen rechtlichen Aspekten ausführlich Hölldampf, Rechtsmissbräuchliche Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts durch den Darlehensnehmer, WM 2014, 1659 – 1666. Zwischen den Jahren 2002 und 2010 stand den Banken keine rechtssichere Muster-Widerrufsbelehrung zur Verfügung. Die vom BMJV im Wege der Rechtsverordnung erlassene Muster-Widerrufsbelehrung wurde durch mehrere Gerichte für nichtig erklärt, da sie gegen höherrangiges Recht verstoße; vgl. LG Halle, Urt. v. 13.5.2005 – 1 S 28/05, WM 2007, 119; LG Koblenz, Urt. v. 20.12.2006 – 12 S 128/06, BB 2007, 239 = ZIP 2007, 638; OLG Jena, Urt. v. 28.9.2010 – 5 U 57/10, BeckRS 2010, 25722 = ZIP 2011, 1063. Aufgrund dieser Rechtsunsicherheiten ist es nicht verwunderlich, dass es in den Jahren 2002 bis 2010 zu einer Vielzahl von Fällen kam, in denen fehlerhafte Widerrufsbelehrungen an die Kunden ausgehändigt wurden. Soweit man sich auf Presseberichte stützt, hat dies zu einer Welle von Kündigungen von Altverträgen geführt. Die Banken schätzen aufgrund des stark gesunkenen Zinsniveaus die daraus resultierenden Risiken auf einen drei-, wenn nicht sogar vierstelligen Millionenbetrag; vgl. hierzu z. B. einen Bericht in Die Welt v. 25.8.2014, abrufbar unter http:// www.welt.de/print/die_welt/finanzen/article131557210/ Die-Banken-schlagen-zurueck.html.

290

Christoph Kaserer

Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der wirtschaftlichen Begründung einer Vorfälligkeitsentschädigung und den möglichen Folgen ihrer Einschränkung oder Abschaffung auseinander. Wie gezeigt wird, liegt sie im Wesentlichen in laufzeitunabhängigen Produktionskosten für Immobilienkredite sowie in einer optimalen Allokation von Zinsänderungsrisiken begründet. Die daraus zu ziehende Schlussfolgerung ist, dass ein weitergehender gesetzlicher Eingriff in die Festsetzung von Vorfälligkeitsentschädigungen bei vorzeitiger Kündigung von Wohnungsbaukrediten zu gesamtwirtschaftlichen Kosten führen wird, die – soweit es Neuverträge betrifft – vom Verbraucher zu tragen sein werden. Die Ursachen sowie das Ausmaß dieser gesamtwirtschaftlichen Kosten werden auf der Grundlage von empirischen Befunden, soweit solche vorhanden sind, diskutiert. II. Der Markt für Verbraucher-Immobilienkredite Der Markt für Verbraucher-Immobilienkredite in Europa ist sehr heterogen. Eine umfassende Analyse dieses Marktes findet sich in einer von der Kommission im Vorfeld zur Ausarbeitung der Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher in Auftrag gegebenen Kosten/Nutzenanalyse verschiedener Regelungsoptionen.6) Für eine grobe Charakterisierung dieser Märkte sollen daher im Folgenden lediglich drei Punkte näher betrachtet werden. Zunächst zeigt sich, dass allein schon die Größe dieses Marktes erheblich variiert. Betrachtet man das Volumen der ausstehenden Wohnungsbaukredite im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), so zeigt sich in Abb. 1, dass die Niederlande, Dänemark, Schweden und Großbritannien sehr große Märkte für Wohnungsbaukredite haben. Dort erreicht das Volumen der ausstehenden Kredite über 80 % des BIP. Deutschland hingegen liegt mit 44 % etwa im Mittelfeld. In den osteuropäischen Ländern sind die Märkte nochmals deutlich kleiner und liegen unter 20 % des BIP.

6)

Vgl. Study on the Cost and Benefits of the Different Policy Options for Mortgage Credit, Final Report prepared by London Economics and Achim Dübel in Association with institut für finanzdienstleistungen e. V., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/ finservices-retail/docs/credit/mortgage/ study_cost_benefit-final_report_en.pdf.

Erläuterung: Es wird Volumen der ausstehenden Wohnungsbaukredite (residential loans) im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Prozent dargestellt. Die Daten stammen aus der Hypostat-Statistik November 2014 der European Mortgage Federation.

Source: European Mortgage Federation, Hypostat

0

20

40

60

80

100

120

Ausstehende Wohnungsbaukredite in % des BIP im Jahr 2013

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung 291

Abb. 1: Ausstehende Wohnungsbaukredite in % des BIP im Jahr 2013

292

Christoph Kaserer

Auch soweit man sich die Zinsbindungsfristen anschaut ergibt sich ein sehr heterogenes Bild. So lag der Anteil variabler Zinsvereinbarungen bei neu ausgereichten Wohnungsbaukrediten im Jahr 2013 in Belgien oder Deutschland bei 7 bzw. 16 %, in Portugal und Polen aber über 90 %, wie man in Abb 2 sehen kann. Zudem ist es in vielen der in Abb. 2 betrachteten Länder so, dass die Wohnungsbaukredite überwiegend mit einem variablen Zinssatz vereinbart werden. In Ländern wie Deutschland, Großbritannien und die Niederlande hingegen dominieren Kredite mit mittleren- und langen Zinsbindungsfristen.

Variabel

bis 5 Jahre

5 bis 10 Jahre

über 10 Jahre

ohne Laufzeit

Erläuterung: Es wird der Anteil von bestimmten Zinsbindungsfristen an den neu ausgereichten Wohnungsbaukrediten im Jahr 2013 dargestellt. Die Daten stammen aus der Hypostat-Statistik November 2014 der European Mortgage Federation.

Source: European Mortgage Federation

0%

20%

40%

60%

80%

100%

120%

Aufteilung der neu ausgereichten Wohnungsbaukredite nach Zinsbindungsfristen im Jahr 2013 Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung 293

Abb. 2: Aufteilung neu ausgereichten Wohnungsbaukredite nach Zinsbindungsfristen im Jahr 2013

294

Christoph Kaserer

Und schließlich zeigt sich auch hinsichtlich der vertraglichen und/oder gesetzlichen Regelungen betreffend die vorzeitige Rückzahlung von Wohnungsbaukrediten eine erhebliche Variation. Aufgrund der Komplexität dieser Regelungen ist allerdings ein detaillierter Vergleich nicht ohne größeren Aufwand möglich. Daher soll im Folgenden nur ein Vergleich angestellt werden, der die grundsätzlichen Regelungen bei der Festlegung der Vorfälligkeitsentschädigung aufzeigen soll. Dieser Vergleich wird in Tabelle 1 dargestellt. Im Prinzip zeigt sich, dass es in allen Ländern einschlägige gesetzliche Regelungen oder vertragliche Vereinbarungen gibt. Diese orientieren sich entweder an dem Grundsatz, dass dem Kreditgeber der durch die vorzeitige Kündigung entstehende Schaden ersetzt werden muss. Alternativ gibt es auch vertragliche Regelungen, bei denen dem Kreditnehmer gegen die Bezahlung einer Entschädigung, die typischerweise im Voraus festgelegt wird, jederzeit kündigen kann. In manchen Ländern bieten die Banken auch Kredite an, die jederzeit kündbar sind oder eine Zinsbegrenzung beinhalten. Gleichzeitig gibt es in vielen Ländern auch Regelungen zur Begrenzung der Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung. So wird etwa in Frankreich die maximale Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung auf 3 % des Kreditvolumens oder auf die Zinszahlung von sechs Monaten begrenzt. In Belgien sind es drei Monatszahlungen und in den Niederlanden vier Monatszahlungen.7) In Italien darf mittlerweile gar keine Vorfälligkeitsentschädigung oder eine wie auch immer geartete Gebühr verlangt werden. Andere Länder haben die Vorfälligkeitsentschädigung dadurch begrenzt, dass sie die maximale Zinsbindungsfrist eingeschränkt haben. So kann in Deutschland und in Dänemark eine feste Zinsvereinbarung nur bis zu zehn Jahren rechtswirksam durchgesetzt werden. Und schließlich gibt es auch Länder, in denen es keine expliziten Begrenzungsregelungen gibt. Zu beachten ist zudem, dass es bei einer vorzeitigen Kündigung möglicherweise noch weitere Kostenfaktoren gibt, etwa in Form von Gebühren, die zusätzlich berücksichtigt werden müssen.

7)

Vgl. Study on the Cost and Benefits of the Different Policy Options for Mortgage Credit, Final Report prepared by London Economics and Achim Dübel in Association with institut für finanzdienstleistungen e. V., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/ finservices-retail/docs/credit/mortgage/ study_cost_benefit-final_report_en.pdf, S. 213 ff.

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung

295

Tabelle 1: Regelungen zu den Vorfälligkeitsentschädigungen in verschiedenen EU-Ländern VFE ist festgelegt als ...

Begrenzung der VFE in Form ...

... fairer und objektiv bewerteter Schaden für den Kreditgeber

... vertraglicher Anspruch (Gebührenmodell)

BG, DE, DK, EE, ES, FI, GR, IE, LV, NL, SE, UK

BE, CZ, FR, HU, LT, PT, RO, SK

... eines Höchstsatzes

... einer Begrenzung der Laufzeit

Keine quantitative Begrenzung

BE, FR, NL, PT GR, SK

DE, DK, IE

CZ, ES, FI, HU, IE RO, UK

Erläuterung: Diese Tabelle stellt die geltenden Regelungen zu den Vorfälligkeitsentschädigungen (VFE) bei Wohnungsbaukrediten in den EU-Ländern im Jahr 2009 dar. Sie basiert auf den Angaben in Study on the Cost and Benefits of the Different Policy Options for Mortgage Credit, Final Report prepared by London Economics and Achim Dübel in Association with institut für finanzdienstleistungen e. V., abrufbar unter http:// ec.europa.eu/internal_market/finservices-retail/docs/credit/mortgage/study_cost_benefitfinal_report_en.pdf, S. 210. Zudem ist zu beachten, dass die Banken in diesen Ländern teilweise noch alternative vertragliche Regelungen anbieten. In Dänemark etwa sind Kreditverträge mit jederzeitiger Kündbarkeit weit verbreitet.

Diese unterschiedlichen Regelungen zur Bestimmung der Vorfälligkeitsentschädigung machen sich im Verhalten der Kreditnehmer durchaus bemerkbar. So zeigte sich, dass es in Belgien in Folge des deutlichen Rückgangs des Zinsniveaus in den Jahren 2001 bis 2003 zu einer wahren Kündigungswelle bei Wohnungsbaukrediten kam. Im Jahr 2005 sind bis zu 25 % der Wohnungsbaukredite vorzeitig gekündigt worden. Und in den Niederlanden und Frankreich lag diese Quote bei 15 bzw. 10 %.8) III. Determinanten der Margen im Hypothekargeschäft Im Folgenden wollen wir uns zunächst überlegen, wie die Festsetzung der Zinskonditionen eines Hypothekarkredits seitens der Bank erfolgt und 8)

Vgl. Study on the Cost and Benefits of the Different Policy Options for Mortgage Credit, Final Report prepared by London Economics and Achim Dübel in Association with institut für finanzdienstleistungen e. V., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_ market/finservices-retail/docs/credit/mortgage/study_cost_benefit-final_report_en.pdf, S. 236. Internationale Vergleiche der Regelungen zur vorzeitigen Rückzahlung finden sich auch in Dübel/Lea, Micro- and Macroeconomic Consequences of Residential Mortgage Prepayment, Evidence from Denmark, France, Germany, the United Kingdom and the United States, in: Schriftenreihe des Verbandes Deutscher Hypothekenbanken, 2000, und in Köndgen in: Verband deutsche Hypothekenbanken (Hrsg.), Die vorzeitige Rückzahlung von Festzinskrediten, 2000, S. 1 – 148.

296

Christoph Kaserer

welchen Einfluss vertragliche Zinsbindungsfristen auf diese Kalkulation haben. Hierbei sind zwei Aspekte zu beachten. Erstens muss die Bank die Zinskonditionen in ihrem Kreditgeschäft so bestimmen, dass der Barwert der erwirtschafteten Deckungsbeiträge dem Barwert der operativen Ausgaben (ohne Zins- und Risikokosten) zuzüglich dem eingesetzten Eigenkapital entspricht. Ohne diesen Aspekt weiter vertiefen zu wollen, kann man sich leicht vorstellten, dass gerade die einem Kreditgeschäft zurechenbaren Personalausgaben zu einem großen Teil laufzeitunabhängig sind. Ein Kredit verursacht typischerweise relativ hohe Personalkosten im Abschlusszeitpunkt, weil Kreditverhandlungen geführt werden müssen, Dokumentationen eingeholt und Kreditanträge geschrieben und überprüft werden müssen. Die personalmäßigen Folgekosten sind hingegen eher gering, jedenfalls solange der Kredit nicht notleidend wird. Folglich muss der Barwert der oben betrachteten Personalausgaben zu einem erheblichen Teil als unabhängig von der Kreditlaufzeit betrachtet werden. Daraus lässt sich die einfache Überlegung ableiten: Muss die Bank also davon ausgehen, dass der Kreditnehmer unter bestimmten Bedingungen den Kreditvertrag vorzeitig kündigen kann, ohne dafür eine Entschädigung für den verlorenen Deckungsbeitrag zu bekommen, muss die Bank, um sich im Vergleich zur Situation vorher nicht schlechterzustellen, den Kreditzins erhöhen. Eine Möglichkeit, diesen laufzeitbedingten Kosteneffekt abzuschwächen oder gar zu eliminieren, bestünde darin, dass die Bank ihren Deckungsbeitrag nicht ausschließlich aus dem Zinsertrag, sondern auch aus einem einmaligen Abschlussentgelt erwirtschaften kann. Bei funktionierendem Wettbewerb müsste das Abschlussentgelt dann die einmaligen (laufzeitunabhängigen) Kreditkosten decken, während der Kreditzins die laufzeitabhängigen Kosten deckt. Dies ist auch eine ökonomische Erklärung dafür, warum sich am Markt solche Gebührenmodelle entwickelt haben. Nach der jüngsten Rechtsprechung sind in Deutschland einmalige Abschluss- bzw. Bearbeitungsentgelte in Verbraucherdarlehen aber kaum mehr durchsetzbar, weshalb sie bei Verbraucherkrediten künftig keine Rolle mehr spielen werden.9)

9)

Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 13.5.2014 – XI ZR 170/13 und XI ZR 405/12, BGHZ 201, 168 = ZIP 2014, 1266, sowie BGH, Urt. v. 28.10.2014 – XI ZR 17/14, BKR 2015, 26, dazu EWiR 2015, 33 (Singbartl/Zintl).

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung

297

Zweitens ist bei der Kalkulation der Zinsmarge das Zinsänderungsrisiko zu berücksichtigen. Wenn der Kreditnehmer – nicht aber die Bank – die Möglichkeit zur vorzeitigen Kündigung hat, wird er diese immer dann wahrnehmen, wenn das Zinsniveau am Markt hinreichend tief gesunken ist. Dies impliziert, dass die Bank ein Zinsänderungsrisiko eingehen muss. Ob sie es selbst trägt oder über entsprechende Zinsderivate am Markt absichert, ist dabei eine zweitrangige Frage. Entscheidend ist, dass hier ein Risiko vorhanden ist, dessen Übernahme nur gegen die Bezahlung eines marktgerechten Preises erfolgen kann. Man kann dies auch aus der Perspektive des Kunden betrachten. Die erleichterte vorzeitige Kündigungsmöglichkeit entspricht einer Zinsoption, die ihm entweder vertraglich oder gar vom Gesetzgeber eingeräumt wird. Immer dann, wenn der Zins hinreichend weit gesunken ist, kann er seinen Kreditvertrag auf der Basis von dann günstigeren Konditionen umfinanzieren. Es ist offensichtlich, dass eine solche Option werthaltig ist. Wenn die Bank aus rechtlichen Gründen gezwungen wird, eine solche Option im Kreditvertrag einzuräumen, muss sie dafür einen marktgerechten Preis verlangen. Dieser Preis schlägt sich in einer erhöhten Zinsmarge nieder.10) In der von der Kommission im Vorfeld zur Entwicklung der Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher in Auftrag gegebenen Kosten-/Nutzenanalyse verschiedener Regelungsoptionen analysieren die Autoren den Wert dieser Zinsoption sehr umfassend. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass dieser einen Zinsaufschlag von 30 bis 50 Basispunkten bei fünf- bis zehnjähriger Laufzeit rechtfertigen könnte. Gedeckt wird dieses Ergebnis auch durch die historische Erfahrung aus Dänemark, wo es Kapitalmarktdaten zur Bewertung einer solchen Zinsoption gibt. Die von der Kommission in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der Wert der Zinsoption stark schwankt und sich bei 30-jähriger Laufzeit in normalen Zeiten zwischen 20 und 80 Basispunkten bewegt. Während der Finanzmarktkrise ist er aber deutlich über 100 Basispunkte

10)

Die Bewertung dieser Zinsoption ist allerdings keineswegs trivial, da die üblichen präferenzfreien optionspreistheoretischen Modelle um Besonderheiten im Verbraucherverhalten ergänzt werden müssen. Vgl. hierzu van Order et al., Mortgage Terminations, Heterogeneity, and the Exercise of Mortgage Options, 2000, Econometrica 68, S. 275 – 307. Eine präferenzfreien Bewertung kann über sog. Swaptions erfolgen; vgl. u. a. Longstaff, The Valuation of Options on Yields, 1990, Journal of Financial Economics 26, S. 97 – 121.

298

Christoph Kaserer

gestiegen.11) Eine Untersuchung für Belgien, in welcher es um die Frage ging, wie hoch die Absicherungskosten der Banken für die vorzeitige Kündigungsmöglichkeit sind, kommt zu dem Ergebnis, dass für eine 20-jährige Laufzeit mit Absicherungskosten von 40 bis 60 Basispunkten zu rechnen ist. Auch hier gab es während der Finanzmarktkrise einen deutlichen Anstieg.12) Untersuchungen für Unternehmensanleihen kommen allerdings auf Zinsdifferenzen von rund 150 Basispunkten, wenn man Anleihen mit und ohne Kündigungsrecht vergleicht.13) Insofern sei noch einmal betont, dass die Frage, wie hoch der Preis der Zinsoption tatsächlich ist, keineswegs leicht zu beantworten ist. IV. Mögliche Wohlfahrtseffekte durch die Einschränkung von Zinsbindungsfristen Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt diskutierten Problem von laufzeitunabhängigen Produktionskosten ist hinsichtlich dieses Zinsänderungseffektes a priori unklar, ob der Kreditnehmer durch die Margenerhöhung, die durch die Einführung einer gesetzlichen Kündigungsmöglichkeit ausgelöst wird, schlechtergestellt wird. Zunächst führt eine solche Regelung nur dazu, dass er – bei einer gesetzlichen Regelung allerdings zwangsweise – ein verbundenes Produkt erwirbt, nämlich einen Kreditvertrag gekoppelt mit einer entsprechenden Zinsoption. Solange die Zinsoption marktgerecht bewertet wird, wovon man in einem wettbewerblichen Umfeld ausgehen muss, wird der Kunde weiterhin einen marktgerechten Zins für seinen Kredit bezahlen. Der Zins wird lediglich höher sein als im Vergleich zu einer Situation in der es kein Kündigungsrecht gibt, weil er ja zusätzlich noch die Zinsoption erwirbt. Insoweit könnte man sagen, dass ein gesetzlicher Eingriff, wonach dem Kreditnehmer in einem Immobilienkredit verpflichtend ein erleichtertes Kündigungsrecht anzubieten ist, wohlfahrtsneutral wirken sollte. Nach meiner Einschätzung

11)

12) 13)

Vgl. zu diesen Ergebnissen Study on the Cost and Benefits of the Different Policy Options for Mortgage Credit, Final Report prepared by London Economics and Achim Dübel in Association with institut für finanzdienstleistungen e. V., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/finservices-retail/docs/credit/mortgage/ study_cost_benefit-final_report_en.pdf, S. 229 f. und 287. Vgl. ebenda, S. 237. Vgl. Samet/Obay, Call Feature and Corporate Bond Yield Spreads, 2014, Journal of Multinational Financial Management 25, S. 1 – 20, und Banko/Zhou, Callable Bonds Revisited, 2010, Financial Management 39, S. 613 – 641.

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung

299

ist von einer solchen Neutralität allerdings nicht auszugehen. Zum einen gilt dies schon allein wegen der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen laufzeitunabhängigen Kosten der Kreditproduktion. Zum anderen sind aber zwei weitere Aspekte zu beachten, die mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen werden, dass es zu einem Wohlfahrtsverlust kommt. Erstens ist zu beachten, dass das heute existierende institutionelle Arrangement bei privaten Wohnungsbaukrediten dazu führt, dass das Ausmaß der von den Vertragspartnern zu tragenden Zinsänderungsrisiken eher niedrig ist. Bei bis zu zehnjähriger Laufzeit und Refinanzierung durch einen Pfandbrief liegt das Zinsänderungsrisiko beim Pfandbriefinvestor. Der typische Pfandbriefinvestor in Deutschland ist eine Lebensversicherung. Diese ist aber wegen der hohen Duration auf ihrer Passivseite gerade auf der Suche nach langlaufenden Anleihen mit niedrigem Risiko.14) Soweit es bei der Versicherung keine große Abweichung in der Duration auf der Aktiv- und auf der Passivseite gibt, ist das Zinsänderungsrisiko des Pfandbriefs von untergeordneter Bedeutung. Wenn nun dem Kreditnehmer eine wie auch immer geartete Option zur vorzeitigen Kündigung eingeräumt wird, ohne dass er für die dadurch entstehenden Verluste beim Kreditgeber vollständig aufkommen muss, führt dies dazu, dass die Laufzeit von Wohnungsbaukrediten unsicher und im Durchschnitt kürzer wird. Damit entsteht ein Zinsänderungsrisiko, das es vorher nicht gegeben hat. Dieses trägt entweder die Bank, wenn sie an der vorher üblichen Refinanzierungsstruktur festhält, oder es trägt der Pfandbriefinvestor, wenn die Laufzeit der Pfandbriefe verkürzt wird. Passiert letzteres, dann entsteht etwa für die Lebensversicherung ein Durations-Mismatch zwischen Aktiv- und Passivseite, das zu einem zusätzlichen mit Eigenkapital zu unterlegendem Zinsänderungsrisiko führt. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass entweder die Versicherung oder die Bank ein entsprechendes Absicherungsgeschäft eingeht. Das führt aber nur dazu, dass das Risiko auf den Kapitalmarkt übertragen wird. Wie auch immer das neue Kapitalmarktgleichgewicht aussieht, die Zinsänderungsrisiken werden durch den regulatorischen Eingriff voraussichtlich steigen. Damit geht es nicht mehr nur um einen Umverteilungseffekt zwischen Verbraucher, Bank und Investor, sondern es entsteht ein Wohl14)

Vgl. hierzu Kaserer, Solvency II und Basel III – Die Reform der europäischen Versicherungs- und Bankenregulierung und deren Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung, 2011 (Gutachten im Auftrag der Finanzplatz München Initiative).

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fahrtsverlust, weil Risiken abgesichert werden müssen, die es ohne den regulatorischen Eingriff gar nicht gegeben hätte. Dies würde nur dann nicht eintreten, wenn der Markt in der Lage wäre ohne nennenswerte Kosten die Risiken wieder so zu verteilen, wie es vor dem regulatorischen Eingriff der Fall gewesen ist. Es ist allerdings schwierig, sich dafür eine Lösung vorzustellen. Zweitens stellt sich die Frage, inwieweit die Produktauswahl durch die Einführung eines Kündigungsanreizes unverändert bleibt. Immerhin ist denkbar, dass die Absicherung von Zinsänderungsrisiken über sehr lange Laufzeiten entweder deutlich teurer oder gar nicht mehr möglich ist. Dies könnte dann dazu führen, dass Banken die Laufzeiten der angebotenen Kreditverträge reduzieren und damit das Zinsänderungsrisiko wieder auf den Kreditnehmer zurücküberwälzen würden. Damit käme es aber in jedem Fall zu einem Wohlfahrtsverlust, weil man davon ausgehen muss, dass die Risikotoleranz des Verbrauchers bei der Übernahme von Zinsänderungsrisiken am geringsten ist, so dass die Überwälzung dieses Risiko auf ihn die höchsten gesellschaftlichen Kosten verursacht. V. Empirische Evidenz Eine zentrale Hypothese, die man aus den Überlegungen des vorangegangenen Abschnittes ableiten kann, besteht darin, dass dort, wo durch rechtliche Vorgaben den Kreditnehmern faktisch eine Zinsoption eingeräumt wird, ceteris paribus der Kundenzins höher ist. Wegen der besprochenen Wohlfahrtseffekte ist zudem zu vermuten, dass dieser Zinsanstieg höher ist als es allein durch den Preis der reinen Zinsoption zu erwarten gewesen wäre. Eine robuste Überprüfung dieser Hypothesen ist leider nicht ohne weiteres möglich. Dies hängt damit zusammen, dass die Zinsspanne durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst wird, deren Einflüsse man in einer empirischen Betrachtung nur dann einigermaßen isolieren könnte, wenn man über einen umfangreichen und möglichst internationalen Mikrodatensatz verfügen würde. Dies ist typischerweise nicht der Fall, da solche Daten von den Banken aus nachvollziehbaren Gründen nicht in systematischer Weise zur Verfügung gestellt werden. Zudem spielen hier Endogenitätsprobleme eine große Rolle, weil die Wahl der Kreditlaufzeiten, die einen erheblichen Einfluss auf den Wert der Zinsoption hat, sowohl von den rechtlichen Rahmenbedingungen als auch von den Kreditrisiken

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abhängig ist. Ich werde mich im Folgenden daher darauf beschränken, die Erfahrungen zu beschreiben, die man in anderen Ländern nach der Einführung einer jederzeitigen Kündbarkeit von Immobilienkrediten gemacht hat. 1. Internationale empirische Evidenz Grundsätzlich könnte man den Einfluss von bestimmten Kündigungsrechten auf die Bruttozinsmarge auch dadurch versuchen zu bestimmten, dass man einen Vergleich verschiedener Länder mit unterschiedlichen rechtlichen Regelungen durchführt.15) Allerdings ist ein solcher Vergleich mit großen methodischen Schwierigkeiten behaftet, weil einerseits die konkreten rechtlichen Regelungen sehr komplex und damit nur schwer vergleichbar sind. Andererseits stellt sich selbst bei guter Vergleichbarkeit der Rechtslage das Problem, dass es viele Einflussfaktoren auf die Zinsmarge gibt, die i. R. einer ökonometrischen Analyse nicht vollständig kontrolliert werden können. Während man den Einfluss unterschiedlicher Länderrisiken möglicherweise noch in den Griff bekommt, ist es enorm schwierig, etwa den Einfluss einer unterschiedlichen Wettbewerbsintensität zu kontrollieren. Ein Ausweg aus dieser Problematik könnte sich dann ergeben, wenn sich in einem Land die Rechtslage ändert. Unter der Annahme, dass Einflussfaktoren wie Wettbewerbsintensität oder Kreditrisiken des Kreditportfolios über die Zeit konstant bleiben, lässt sich dann durch einen Vergleich der Bruttozinsmarge zweier Länder, von denen nur eines von der Änderung der Rechtslage betroffen war, etwas über die Auswirkung dieser Änderung sagen.16) Ein solches Beispiel liefert Italien, da sich dort im Jahr 2007 die Rechtslage bezüglich der vorzeitigen Kündigung von Hypothekardar15)

16)

Wie bereits erwähnt, bestünde der Idealfall darin, dass man einen Vergleich von Wohnungsbaukrediten innerhalb eines Landes mit gleicher Laufzeit, die einmal mit und einmal ohne Kündigungsmöglichkeit ausgestattet werden, durchführt. Sieht man von Selbstselektionseffekten ab, wäre die Differenz eine gute Schätzung für den Wert der Zinsoption. Allerdings gibt es hierfür keine empirischen Beispiele. In Dänemark gibt es zwar Verträge mit und ohne Zinsoption, allerdings mit deutlich unterschiedlicher Laufzeit; vgl. hierzu Study on the Cost and Benefits of the Different Policy Options for Mortgage Credit, Final Report prepared by London Economics and Achim Dübel in Association with institut für finanzdienstleistungen e. V., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/ finservices-retail/docs/ credit/mortgage/ study_cost_benefit-final_report_en.pdf, S. 230. In der Ökonometrie spricht man von einem Difference-in-Difference-Ansatz; vgl. hierzu Imbens/Woolridge, Recent developments in the Econometrics of Program Evaluation, 2009, Journal of Economic Literature 47, S. 5 – 86.

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Christoph Kaserer

lehen deutlich verändert hat. Wir werden in Abschnitt V 2 darauf zurückkommen. Aufgrund der genannten methodischen Schwierigkeiten gibt es nur wenige empirische Befunde zu der Frage, welcher Zinsaufschlag durch die Existenz eines vorzeitigen Kündigungsrechts verursacht wird. In der von der Kommission im Vorfeld zur Entwicklung der Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher in Auftrag gegebenen Kosten-/ Nutzenanalyse verschiedener Regelungsoptionen vergleichen die Autoren die Sollzinssätze von Wohnungsbaukrediten in Deutschland mit jenen in Dänemark. Da letztere eine Kündigungsoption haben, ist zu erwarten, dass die Bruttozinsmarge höher ist. Diese Vermutung wird insoweit bestätigt, als zumindest bei Restlaufzeiten ab fünf Jahren die Sollzinssätze in Dänemark höher sind als in Deutschland. Bei den Laufzeiten über zehn Jahren liegt die Differenz vor der Finanzmarktkrise in einem Bereich von 50 bis 100 Basispunkten.17) Allerdings ist dieser Vergleich nicht besonders aussagekräftig, da nicht die Unterschiede in den Refinanzierungskosten kontrolliert werden oder gar der Einfluss des möglicherweise unterschiedlichen Wettbewerbsniveaus auf die Bruttozinsmarge. In ähnlicher Weise kommt man bei einem Vergleich mit Italien zu Unterschieden von bis zu 100 Basispunkten.18) Andere Studien haben sich mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen Kündigungsrechte bei Wohnungsbaukrediten auf die für Refinanzierungszwecke emittierten Pfandbriefe haben. So ist es in den USA oder in Dänemark, wo Wohnungsbaukredite typischerweise mit der Option einer vorzeitigen und kostenlosen Rückzahlung ausgestattet sind, üblich oder sogar aus regulatorischen Gründen zwingend vorgeschrieben, dieses Risiko an einen Finanzintermediär oder an den Pfandbriefinvestor weiterzugeben. Damit trägt dieser ein Zinsänderungsrisiko, welches er sich wiederum über eine höhere Rendite des Pfandbriefs abgelten lässt. Es wurde nun gezeigt, dass diese Marktcharakteristik in den USA zu einer signifikant erhöhten Volatilität in den langfristigen Zinsen führt.19) Dieser Effekt ist

17)

18) 19)

Vgl. Study on the Cost and Benefits of the Different Policy Options for Mortgage Credit, Final Report prepared by London Economics and Achim Dübel in Association with institut für finanzdienstleistungen e. V., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/ finservices-retail/docs/credit/mortgage/ study_cost_benefit-final_report_en.pdf, S. 231. Vgl. ebenda, S. 240. Vgl. Perli/Sack, Does Mortgage Hedging Amplify Movements in Long-term Interest Rates?, 2003, Journal of Fixed Income 13 (3), S. 7 – 17.

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303

natürlich in den Marktphasen besonders ausgeprägt, in denen das Risiko einer vorzeitigen Rückzahlung besonders hoch ist. Da dies typischerweise eher in Krisenzeiten der Fall ist, könnte dieser Effekt zu einer Erhöhung systematischer Risiken führen. Tatsächlich hat der IMF in seinem Global Financial Stability Report im Jahr 2003 davor gewarnt, dass die Hedgingaktivitäten im Zusammenhang mit den Rückzahlungsrisiken bei Mortgage Backed Securities zu einer Gefahr für die Finanzmarktstabilität werden könnten. In einer Untersuchung für den dänischen Markt werden die Ergebnisse für den US-amerikanischen Markt aber nicht bestätigt, obwohl das Rückzahlungsrisiko dort in ähnlicher Form besteht. Ursächlich hierfür könnte sein, dass im Unterschied zu den USA das Rückzahlungsrisiko nicht von den Finanzintermediären, sondern aus aufsichtsrechtlichen Gründen von den Pfandbriefinvestoren getragen wird.20) 2. Das Beispiel Italien Italien ist ein interessantes Anschauungsbeispiel, weil es dort im Jahr 2007 durch das sog. Decreto Bersani vom 2. April 2007 Nr. 40 zu einer gesetzlichen Änderung gekommen ist. Gemäß dieser haben Kreditnehmer bei hypothekarisch besicherten Krediten das Recht einer jederzeitigen Kündigung. Für eine wirksame Kündigung muss der Kreditnehmer lediglich der Bank den ausstehenden Kreditbetrag innerhalb der genannten Frist zurückerstatten. Den Banken ist es nicht erlaubt, anlässlich dieser Kündigung eine Gebühr zu erheben. Im Übrigen dürfen sie eine solche Gebühr auch nicht dafür erheben, dass das Sicherungsrecht nach Beendigung des Kreditvertrags aus dem Katastralregister gelöscht wird.21) Zuvor war die Frage, unter welchen Bedingungen und zu welchen Konditionen Wohnungsbaukredite gekündigt werden dürfen, Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung. Es spielte dabei auch eine Rolle, dass die Banken bei Kündigung Gebühren erhoben haben, etwa für die Löschung 20) 21)

Vgl. Allen et al., The Danish Mortgage Market, BIS Quarterly Review, March 2004, S. 95 – 109. Für die zum Zeitpunkt des Inkrafttreten des Gesetzes bereits existierenden Darlehen wurde zwischen dem italienischen Bankenverband (ABI) und den Verbraucherverbänden ein Abkommen geschlossen, welches in Abhängigkeit von der Laufzeit und dem Abschlusszeitpunkt des Kredits Entschädigungen im Falle einer vorzeitigen Kündigung von bis zu 1,9 Prozentpunkten des Kreditvolumens vorsah; vgl. hierzu https://www.unicredit.it/ content/dam/unicredit/documents/moduli/AccordoABI-Associazioneconsumatori.pdf.

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der Eintragung des Sicherungsrechts im Katastralregister. Die Verabschiedung des oben genannten Gesetzes kam daher auch nicht überraschend, sondern hatte sich schon seit einigen Monaten abgezeichnet. Man kann nun diese gesetzliche Änderung in Italien dazu verwenden, um den Effekt einer Einführung einer Zinsoption für die Verbraucher auf die Bruttozinsmarge abzuschätzen. Dazu kann man die Bruttozinsmarge der italienischen Banken mit jener der deutschen Banken vor und nach dieser gesetzlichen Veränderung vergleichen. Dabei ist es kein Problem, dass diese Bruttozinsmarge durch zahlreiche andere Faktoren, wie etwa die unterschiedliche Wettbewerbsintensität der beiden Bankensysteme beeinflusst sein kann. Entscheidend ist lediglich die Annahme, dass sich diese Einflussfaktoren vor und nach der gesetzlichen Änderung nicht verändert haben. Da wir hier einen relativ kurzen Zeitraum von viereinhalb Jahren betrachten, der zudem vor dem Beginn der Finanzmarktkrise im Oktober 2008 endet, ist diese Annahme möglicherweise akzeptabel. Hinsichtlich der Messung der Bruttozinsmarge muss man vorausschicken, dass diese in Deutschland über die Differenz zwischen Effektivzinssatz des Wohnungsbaukredits und Rendite der fristenkongruenten Pfandanleihe relativ unproblematisch abgeschätzt werden kann. In Italien ist diese Messung aufgrund eines fehlenden Pfandbriefmarktes schwieriger. Eine Möglichkeit besteht darin, die Bruttozinsmarge über die Differenz aus dem Zinssatz für Wohnungsbaukredite an private Haushalte und der Rendite von Bankanleihen mit mindestens einjähriger Laufzeit zu messen. Leider ist eine Information über die fristenkongruenten Refinanzierungskosten italienischer Banken nicht verfügbar. Zwar könnte man alternativ die Renditen der italienischen Staatsanleihe verwenden, jedoch sind in dieser die Kreditrisiken der Banken nicht abgebildet. Insoweit mussten wir bei der Messung der Refinanzierungskosten wählen zwischen einer genaueren Abbildung der Zinsstruktur oder einer genaueren Abbildung der Kreditrisikoprämien. Das letztere bildet die relevanten Aspekte vermutlich besser ab, da die Laufzeitenprämie im hier betrachteten Zeitraum leicht rückläufig ist und somit die Ergebnisse eher noch verstärken würde. Wir haben uns für letzteres entschieden, da die Laufzeitenprämie im hier betrachteten Zeitraum leicht rückläufig ist und somit unsere Ergebnisse eher noch abschwächt. Die Variation in der Kreditrisikoprämie könnte aber nicht unerheblich sein, weil die ersten Vorboten der Finanzmarktkrise ja bereits im Sommer 2007 erkennbar waren.

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung

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Die Differenz der Bruttozinsmargen zwischen Italien und Deutschland wird nun in Abb. 3 abgetragen. Wie man sieht, sind während der gesamten Laufzeit die Bruttozinsmargen bei den bis zu zehnjährigen Krediten in Italien deutlich höher als in Deutschland. Bei den bis zu fünfjährigen Krediten ist der Unterschied eher gering. Zu Beginn des Betrachtungszeitraums lag die Differenz bei den zehnjährigen Krediten unter 2 Prozentpunkten. Über den Zeitraum März 2004 bis März 2006 beträgt die durchschnittliche Differenz 1,70 Prozentpunkte. Dieser Zeitraum sollte repräsentativ für die Verhältnisse vor der gesetzlichen Änderung sein, weil sich vermutlich erst im Laufe des Jahres 2006 abgezeichnet hat, dass es möglicherweise zu einer gesetzlichen Änderung kommt. Diese ist dann im April 2007 in Kraft getreten. Wie man sieht, ist daraufhin die Differenz in der Bruttozinsmarge deutlich angestiegen, d. h. italienische Hypothekardarlehen sind relativ zu deutschen deutlich teurer geworden. Betrachtet man den Zeitraum April 2007 bis September 2008 als repräsentativ für die Verhältnisse nach der gesetzlichen Änderung, dann zeigt der über diesen Zeitraum ermittelte Mittelwert von 3,82 Prozentpunkten eine deutliche Reaktion in den Bruttozinsmargen italienischer Banken an. Ausgehend von diesen Zahlen kann man sagen, dass diese im Vergleich zu Wohnungsbaukrediten in Deutschland um 2,12 Prozentpunkte teurer geworden sind. Zu beachten ist, dass dieses Ergebnis nicht durch eine Veränderung der Zinsstruktur bei den italienischen Staatsanleihen getrieben wurde, da die Prämie zwischen den zehn- und den dreijährigen Staatsanleihen im fraglichen Zeitraum von 112 auf 36 Basispunkte gesunken ist. Allenfalls könnte sich die Laufzeitenzusammensetzung bei den von den Banken emittierten Anleihen mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr oder bei den Wohnungsbaukrediten selbst deutlich verschoben haben. Dazu gibt es aber keine Informationen. Auch wird der Effekt nicht durch eine Veränderung der Länderrisikoprämie getrieben. Die Zinsdifferenz zwischen 10-jährigen italienischen und deutschen Staatsanleihen lag im Zeitraum März 2004 bis März 2006 bei 64 Basispunkten. Im Zeitraum April 2007 bis September 2008 hat sie sich auf 78 Basispunkte erhöht. Dieser Anstieg um 14 Basispunkte ist im Vergleich zu dem in Abb. 3 gefundenem Effekt von 212 Basispunkten vernachlässigbar. Zudem stellt sich die Frage, ob sich dieser Effekt einer sich verschiebenden Länderrisikoprämie tatsächlich in den Kreditrisiken von italienischen Immobilienkrediten widerspiegelt.

2004-09

2005-03

5 bis 10 Jahre

2005-09 1 bis 5 Jahre

2006-03

– 0,19

1,70

2006-09 Mittelwert

2007-03

0,01

3,82

Mittelwert

2007-09

2008-03

2008-09

Erläuterung: Die Bruttozinsmarge für Wohnungsbaukredite in Deutschland wird ermittelt als die Differenz zwischen den Effektivzinssätzen im Neugeschäft von Wohnungsbaukrediten an private Haushalte und der Rendite von fristenkongruenten Pfandbriefen. Die Daten stammen von der Deutschen Bundesbank. Für Italien wird die Bruttozinsmarge ermittelt als die Differenz des Zinssatzes auf Wohnungsbaukredite an private Haushalte und der Rendite von neu emittierten Bankanleihen mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr. Die Daten stammen von der Banca d’Italia. Abgetragen wird in der Tabelle die Differenz dieser Bruttozinsmargen in Prozentpunkten, wobei ein positiver Wert mit einer höheren Bruttozinsmarge in Italien einhergeht. Ab-getragen werden zudem die Mittelwerte über den Zeitraum März 2004 bis März 2006 und April 2007 bis September 2008.

Source: Banca d’Italia

-1 2004-03

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2

3

4

5

6

Differenz in der Bruttozinsmarge (%-Punkte) zwischen Wohnungsbaukrediten in Italien und Deutschland

306 Christoph Kaserer

Abb. 3: Differenz in der Bruttozinsspanne (in Prozentpunkten) zwischen Wohnungsbaukrediten in Deutschland und in Italien über den Zeitraum März 2004 bis September 2008

Einschränkung der Zinsbindungsfristen in der Immobilienfinanzierung

307

Für die Kredite mit Laufzeiten bis zu fünf Jahren ist die Reaktion naturgemäß deutlich kleiner. Ausgehend von den hier erhobenen Zahlen ergibt sich eine Verteuerung der italienischen Wohnungsbaukredite um 20 Basispunkte. Dies ist im Vergleich zu den fünf- bis zehnjährigen Krediten eine sehr kleine Reaktion. Ob dies daran liegt, dass möglicherweise die Laufzeit bei diesen Krediten sehr niedrig ist, also deutlich näher am unteren als am oberen Rand, oder ob es zu einer Verschiebung der durchschnittlichen Laufzeiten bei den hier betrachteten Wohnungsbaukrediten gekommen ist, kann man mangels Daten nicht ausschließen. Insgesamt legen diese Betrachtungen aber die Vermutung nahe, dass die Einführung einer Zinsoption für die Kreditnehmer zu einer Verteuerung der italienischen Wohnungsbaukredite geführt hat. Nach den hier vorliegenden Zahlen ist es zu einer durchschnittlichen Erhöhung der Bruttozinsmargen von 212 Basispunkten bei den fünf- bis zehnjährigen Krediten und von 20 Basispunkten bei den bis zu fünfjährigen Krediten gekommen. Selbst wenn man den Mittelwert aus diesen beiden Laufzeitenbändern nimmt, ergibt sich immer noch ein Effekt von 116 Basispunkten. Zwar kann man nicht ausschließen, dass hierfür auch noch andere Faktoren ursächlich waren, dennoch liefert diese Betrachtung einen klaren, mit der Literatur auch übereinstimmenden Hinweis, dass die Einführung einer Zinsoption zu einer Erhöhung der Bruttozinsmarge führt. VI. Zusammenfassende Betrachtung Die hier vorgelegten Betrachtungen können nun wie folgt zusammengefasst werden. Zunächst wurde gezeigt, dass es in der Literatur völlig unbestritten ist, dass es mit der Einräumung eines vorzeitigen Kündigungsrechtes bei Wohnungsbaukrediten ohne eine vollständige Kompensation des für den Kreditgeber dadurch entstehenden Schadens zu einer Erhöhung der Bruttozinsmarge kommen muss. Dies ist allein schon dem Umstand geschuldet, dass dem Kreditnehmer damit eine Zinsoption eingeräumt wird, da er den Kredit, immer dann wenn der Zins gefallen ist, auf den dann günstigeren Zins umstellen kann. Der Wert dieser Zinsoption hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt natürlich auch davon, wie dieses Kündigungsrecht ausgestaltet ist. Geht man von einer kostenlosen Kündigungsmöglichkeit aus, gibt es in der Literatur Anhaltspunkte dafür, dass der Wert in einem Bereich von 50 bis 150 Basispunkte bezogen auf den jährlichen Zins liegen könnte.

308

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Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist diese Verteuerung des Wohnungsbaukredits aber noch nicht gleichbedeutend mit einem Wohlfahrtsverlust. Der Kreditnehmer zahlt zwar einen höheren Zins, erhält dafür aber eine Gegenleistung in Form der genannten Zinsoption. Es spricht allerdings einiges dafür, dass die Preiseffekte, die von einer gesetzlichen Einführung eines vorzeitigen Kündigungsrechts ausgelöst würden, über diesen reinen Zinsoptionseffekt hinausgehen würden. So wurde am Beispiel der Einführung eines solchen Kündigungsrechts in Italien gezeigt, dass es dort zu einer Erhöhung der Zinsmarge um bis zu 212 Basispunkten gekommen ist. Im Durchschnitt der beiden betrachteten Laufzeitenbänder ergab sich ein Effekt von 116 Basispunkten. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Effekt allein durch den Wert der Zinsoption erklärt werden kann. Im Beitrag wurde gezeigt, dass es vier Gründe gibt, warum die Einführung eines gesetzlichen Kündigungsrechtes ohne eine hinreichende Kompensation für den Kreditgeber vermutlich zu einer über den reinen Zinsoptionseffekt hinausgehenden Verteuerung von Wohnungsbaukrediten führen wird. –

Erstens ist zu bedenken, dass es beim Abschluss von Kreditverträgen laufzeitunabhängige Kosten gibt, etwa für die Anbahnung des Kreditgeschäfts, die Prüfung des Kreditantrags und die Dokumentation der Kreditunterlagen. Soweit durch die vorzeitige Kündigungsmöglichkeit die durchschnittliche Laufzeit der Kreditverträge sinkt, kommt es zu einer Verteuerung der Kreditproduktion, was sich in höheren Bruttozinsmargen niederschlagen muss. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man unterstellt, dass die Zahlung von einmaligen Abschlussgebühren aus wettbewerblichen und rechtlichen Gründen nicht durchsetzbar ist. Dieser Effekt ist vermutlich nicht ganz unerheblich.



Zweitens müssen die mit dem vorzeitigen Kündigungsrecht verbundenen Zinsänderungsrisiken von jemandem getragen werden. Die Absicherungskosten entsprechen dem Preis der Zinsoption. Wenn es nun am Markt zu einer massiven Erhöhung des Absicherungsbedarfs kommt, ist keineswegs auszuschließen, dass sich die Kosten dieser Absicherungsgeschäfte im Vergleich zur heutigen Situation erhöhen. Unabhängig davon wer das Kündigungsrisiko trägt, die Kreditgeber oder die Pfandbriefinvestoren, es wird eine sehr große Nachfrage nach entsprechenden Absicherungsgeschäften bestehen. Ob der Kapitalmarkt diese Nachfrage absorbieren kann, ohne dass es zu Preiseffekten

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kommt, ist mehr als fraglich. Wie gezeigt wurde, haben Studien für den US-amerikanischen Markt solche Preiseffekte auf den Pfandbriefmärkten nachgewiesen. –

Drittens ist zu bedenken, dass eine Ausweichreaktion auf diese Preiseffekte darin bestehen könnte, dass Banken die Laufzeiten der von ihnen angebotenen Wohnungsbaukredite reduzieren. In diesem Fall würde dann das Zinsänderungsrisiko vom Verbraucher zu tragen sein. Es ist offensichtlich, dass im Vergleich zu der heutigen Situation, wo das Zinsänderungsrisiko bei langfristigen Investoren liegt, die für den Verbraucher entstehenden nutzenmäßigen Kosten deutlich höher liegen würden.



Und viertens wurde darauf hingewiesen, dass, wegen der Größe des Marktes für Wohnungsbaukredite bzw. des Pfandbriefmarktes, Kündigungsrechte auch einen Einfluss auf das systemische Risiko haben. Die Ausübung dieses Kündigungsrechtes ist zwischen den Kreditnehmern hoch korreliert, weil das Zinsniveau bei dieser Kündigungsentscheidung eine große, wenngleich nicht die alleinige Rolle spielt. Wenn die Derivatemärkte dann nicht in der Lage sind, bei fallendem Zinsniveau das gestiegene Kündigungsrisiko ohne extreme Preissprünge weiterhin abzudecken, kann es zu Marktverwerfungen kommen.

Insgesamt legen diese Überlegungen also nahe, dass eine gesetzliche Einschränkung der Wirksamkeit von Zinsbindungsvereinbarungen sehr genau geprüft werden muss. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine solche Regelung zu gesellschaftlichen Kosten führt, die am Ende vom Verbraucher in Form von höheren Bruttozinsmargen (bereinigt um den Wert der Zinsoption) und/oder von der Gemeinschaft in Form von höheren systemischen Risiken zu tragen sind.

„Überholende Kausalverläufe“ und Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität LARS KLÖHN Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Grundlagen der Haftung gemäß §§ 37b, 37c WpHG III. Beispiele 1. Standardfall 2. Überholender Kausalverlauf IV. Bestandsaufnahme 1. Deutschland 2. USA V. Dogmatische Argumente gegen die Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs VI. Rechtsökonomischer Seitenblick

VII. Konsequenzen für die Behandlung überholender Kausalverläufe 1. Restriktive Auslegung rechtspolitisch zweifelhafter Normen 2. Wertveränderungsrisiko unaufgedeckter Fehlinformationen als allgemeines Marktrisiko 3. Bekanntwerden der Fehlinformation als Haftungsvoraussetzung VIII. Auffächerung und Abgrenzung überholender Kausalverläufe 1. Markt- und industrieweite Ereignisse 2. Firmenspezifische Ereignisse 3. Veränderte Anlegererwartung IX. Der „zu billig verkaufende“ Anleger X. Ergebnisse

I. Einleitung Zu den lustig-verschrobenen Metaphern, an denen es der juristischen Sprache nicht mangelt, gehört der Begriff des „überholenden Kausalverlaufs“. Gemeint sind Fälle, in denen die Handlung des Beklagten den Schaden des Klägers nicht unmittelbar verursacht, sondern dieser Schaden durch ein „dazwischentretendes Ereignis“ vermittelt wird. Englische Juristen denken an Tiere, die auf einem Schiff vorschriftswidrig nicht in getrennten Käfigen gehalten werden und dann von einer Sturmflut über Bord gespült werden.1) Amerikaner denken an die am Bahnsteig wartende Frau Palsgraf, die von einer umstürzenden Waage verletzt wird, nachdem ein Passagier beim Versuch, seinen Zug zu erreichen, Feuerwerkskörper ent-

1)

Gorris v. Scott (1874) L.R. 9 Ex. 125.

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Lars Klöhn

zündete.2) Deutsche denken an minderjährige Kegeljungen, die zur Nachtzeit arbeiten,3) und an Geldtransporter, die nach einem Unfall von Dritten geplündert werden4). Diese und ähnliche Fälle werden auf der ganzen Welt nach ungefähr denselben Kriterien entschieden.5) In Deutschland ist man sich heute trotz des noch immer verwandten Begriffs des „überholenden Kausalverlaufs“ einig, dass es sich meist nicht um Kausalitäts-, sondern Zurechnungsprobleme handelt und dass diese Fälle unter dem Gesichtspunkt des „Schutzzwecks der Norm“ zu lösen sind. Das „dazwischentretende Ereignis“ unterbricht den Zurechnungszusammenhang also dann, wenn sich in ihm eine andere Gefahr verwirklicht als diejenige, vor der die Norm schützen will.6) Solche Fälle treten auch im Kapitalmarktrecht auf, vor allem bei der Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität gemäß §§ 37b, 37c WpHG. Obwohl diese Vorschriften seit mittlerweile mehr als zehn Jahren in Kraft sind,7) hat sich – soweit ersichtlich – bisher niemand mit den Konstellationen der „dazwischentretenden Ereignisse“ beschäftigt.8) Dies überrascht,

2)

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Palsgraf v. Long Island R.R. Co., 248 N.Y. 339, 162 N.E. 99 (1928). Wie sich der Fall tatsächlich zutrug, ist übrigens umstritten. Es bestehen Anzeichen dafür, dass die Waage von einer in Panik geratenen Menschengruppe umgestoßen wurde; vgl. etwa W. H. Manz, Palsgraf: Cardozo's Urban Legend?, 107 Dick. L. Rev. 785 (2003). LG Hannover Recht 1910, Sp. 36 (Conrades); RG Recht 1914 Nr. 1836. BGH, Urt. v. 10.12.1996 – VI ZR 14/96, NJW 1997, 865. Ausf. mit weiteren Beispielen von Caemmerer, Das Problem des Kausalzusammenhangs im Privatrecht, 1956, S. 7 ff. Klöhn, „Wertende Kausalität“ im Spiegel von Rechtsvergleichung, Rechtsdogmatik und Rechtsökonomik, ZVglRWiss 105 (2006), 455; zum deutschen Recht etwa Oetker in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 249 Rz. 103 ff. Vgl. etwa BGH, Urt. v. 22.4.1958 – VI ZR 65/57, BGHZ 27, 137, 140; BGH, Urt. v. 16.12.1958 – VI ZR 245/57, BGHZ 29, 100, 104 f.; BGH, Urt. v. 3.7.1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, 315; BGH, Urt. v. 14.10.1971 – VII ZR 313/69, BGHZ 57, 137, 142; BGH, Urt. v. 13.7.1972 – II ZR 90/70, BGHZ 59, 175, 176; BGH, Urt. v. 11.11.1985 – II ZR 109/84, BGHZ 96, 231, 236 = ZIP 1986, 14; BGH, Urt. v. 11.7.1988 – II ZR 243/87, BGHZ 105, 121, 129 = ZIP 1988, 1112; Oetker in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl.2010, § 249 Rz. 120. Eingeführt wurden die Vorschriften aufgrund des Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz) v. 21.6.2002, BGBl. I 2002, 2010, 2034 f. Die Fälle, in denen sich der Wert der Fehlinformation während der Desinformationsphase ändert, ohne dass die Fehlinformation bekannt wird, werden – soweit ersichtlich – höchstens unter dem Gesichtspunkt der Aktivlegitimation behandelt, siehe zuerst EscherWeingart/Lägeler/Eppinger, Schadensersatzanspruch, Schadensart und Schadensberechnung gem. der §§ 37b, 37c WpHG, WM 2004, 1845, 1846; danach Möllers/Leisch in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, 37c Rz. 227 f.; Zimmer/Grotheer in: Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 68.

„Überholende Kausalverläufe“ und Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität 313

denn erstens haben die Fälle durchaus praktische Relevanz, und zweitens bieten sie eine gute Gelegenheit, um auf der Basis rechtsökonomischer und rechtsvergleichender Erkenntnisse dogmatische Lösungen für ein Problem zu entwickeln, das auf der Schnittstelle von Allgemeinem Schuld-, Delikts- und Kapitalmarktrecht angesiedelt ist und das deshalb hoffentlich auf das Interesse des Jubilars stößt. II. Grundlagen der Haftung gemäß §§ 37b, 37c WpHG Worum geht es? Emittenten machen sich gegenüber Anlegern schadensersatzpflichtig, wenn sie entweder eine Ad-hoc-Meldung pflichtwidrig unterlassen (§ 37b WpHG) oder in einer Ad-hoc-Meldung Falschbehauptungen aufstellen (§ 37c WpHG).9) Welchen Umfang dieser Schadensersatz hat und wie er zu berechnen ist, sagt das Gesetz nicht.10) In seinem IKB-Urteil hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass Anleger wahlweise Ersatz des sog. Rückabwicklungs- oder des Differenzschadens verlangen können.11) Wählt der Anleger den Rückabwicklungsschaden, ist der Emittent verpflichtet, den Anleger so zu stellen, wie er stünde, wenn er von dem Kauf bzw. Verkauf der Finanzinstrumente abgesehen hätte.12) Wählt der Anleger den Differenzschaden, ist er so zu stellen, als hätte er die Transaktion zu dem Preis durchgeführt, der sich bei Beachtung der Ad-hocPublizitätspflicht gebildet hätte.13)

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10) 11)

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Zum Kuriosum der Paarung eines Verschuldensmaßstabes von grober Fahrlässigkeit mit einer Verschuldensvermutung Köndgen, Die Ad hoc-Publizität als Prüfstein informationsrechtlicher Prinzipien, in: FS für Druey, 2002, S. 791, 810 f. Zur weitgehend ungeklärten Rechtslage in der Schweiz Köndgen in: FS für Druey, 2002, S. 791, 801 f. BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 47 ff., BGHZ 192, 90; abl. insoweit etwa Hellgardt, Praxis- und Grundsatzprobleme der BGH-Rechtsprechung zur Kapitalmarktinformationshaftung, DB 2012, 673, 677 f.; Klöhn, Die Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität gem. §§ 37b, 37c WpHG nach dem IKB-Urteil des BGH, AG 2012, 345, 352 ff.; Schmolke, Die Haftung für fehlerhafte Sekundärmarktinformation nach dem „IKB“-Urteil des BGH, ZBB 2012, 165, 174 ff.; dem BGH zust. jedoch Möllers/Leisch in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, c Rz. 269; Bachmann, Anmerkung zum Urteil des BGH vom 13.12.2011 über die Haftung wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformation (XI ZR 51/10), JZ 2012, 578, 580 f. BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 47, BGHZ 192, 90. BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 67, BGHZ 192, 90.

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Der Ersatz des Rückabwicklungsschadens ist für den Anleger regelmäßig14) günstiger, denn er erlaubt es dem Schadensersatzberechtigten, das gesamte Marktrisiko auf den Emittenten zu verlagern.15) Dennoch werden Kläger in der Praxis meist den Ersatz des Differenzschadens verlangen. Der Grund liegt in den unterschiedlichen Anforderungen, die das IKB-Urteil an die haftungsbegründende Kausalität stellt, also die Kausalität zwischen der Fehlinformation des Emittenten und der Anlageentscheidung des Klägers: Verlangt der Kläger Ersatz des Rückabwicklungsschadens, muss er nachweisen, dass er konkret im Einzelfall auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationslage vertraut hat16) – ein Beweis, der sich in praxi kaum führen lässt.17) Verlangt er den Differenzschaden, muss er lediglich nachweisen, dass der Transaktionspreis ein anderer gewesen wäre.18) Das IKB-Urteil hat damit zu einer Verschiebung des rechtlichen Problemschwerpunkts geführt: Statt um Fragen der haftungsbegründenden Kausalität19) wird es zukünftig in erster Linie um die Abgrenzung und Berechnung des Differenzschadens sowie die haftungsausfüllende Kausalität gehen.20) Differenzschaden ist nach einer allgemein akzeptierten Kurzformel der Betrag, um den der Anleger zu teuer ge- oder zu billig verkauft hat.21) Diesen Differenzbetrag ermittelt die ganz h. M. im Wege der Rückwärtsinduk14)

15) 16) 17) 18)

19)

20) 21)

Eine Ausnahme gilt dann, wenn der Anleger ein gutes Geschäft gemacht hat, wenn der Kurs der gekauften Aktien also gestiegen oder der Kurs der verkauften Aktien weiter gefallen ist. Statt aller Wagner, Schadensberechnung im Kapitalmarktrecht, ZGR 2008, 495, 512. Vgl. BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 59 ff., BGHZ 192, 90. Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 826 Rz. 79; Zimmer, Verschärfung der Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation, WM 2004, 9, 17. BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 67, BGHZ 192, 90; zu Schwierigkeiten der Rückwärtsinduktion zuletzt Klöhn/Rothermund, Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität – Die Tücken der Rückwärtsinduktion bei der Schadensberechnung in sechs Fallgruppen, ZBB 2015, 73. Vgl. vor dem IKB-Urteil etwa Wagner, ZGR 2008, 495, 505: „Dreh- und Angelpunkt der Haftungsprozesse ist damit die Kausalität zwischen Informationspflichtverletzung und Investitionsentscheidung.“ Vgl. bereits Klöhn, Kollateralschaden und Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität, ZIP 2015, 53. Vgl. etwa Sethe in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, §§ 37b, 37c Rz. 93: Unterschiedsbetrag zwischen dem vom Anspruchssteller erzielten Kauf- bzw. Verkaufspreis und dem Preis, den das Finanzinstrument ohne das schädigende Ereignis erreicht hätte; gleichsinnig Casper in: KölnKomm-KapMuG, 2008, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 56; Zimmer/Grotheer in: Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, §§ 37b, 37c Rz. 91; Mülbert/Steup in: Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 3. Aufl. 2013, § 41 Rz. 223; Hellgardt, Kapitalmarktdeliktsrecht, 2008, S. 506.

„Überholende Kausalverläufe“ und Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität 315

tion, wobei die Kursreaktion auf die Aufdeckung der unterschlagenen oder Falschinformation als Ausgangspunkt dient.22) III. Beispiele 1. Standardfall Der typische Fall, der den meisten dabei vor Augen schwebt, ist der folgende: Emittent E, ein Pharmaunternehmen, lügt in einer Ad-hoc-Meldung zum Zeitpunkt tA darüber, dass er wahrscheinlich demnächst ein Patent für ein sog. „BlockbusterMedikament“ erhalten werde, ein besonders wirkungsvolles und schonendes Mittel gegen Alzheimer. In Erwartung der zukünftigen Verkaufserlöse steigt der Aktienkurs von 20 € auf 30 €. Später, zum Zeitpunkt tK, muss E einräumen, dass er nie die Aussicht auf ein solches Patent hatte. Der Preis sinkt von 30 € zurück auf 20 €.23)

Der Fall ist einfach: E schuldet allen Anlegern, die während des Desinformationszeitraums zwischen tA und tK Aktien gekauft haben, Schadensersatz i. H. von 10 € pro Aktie gemäß § 37c Abs. 1 Nr. 1 WpHG. 2. Überholender Kausalverlauf Wie aber ist der folgende Fall zu lösen: Nachdem E die Ad-hoc-Meldung über das bevorstehende Patent veröffentlicht hat, gibt Konkurrent K bekannt, dass er das Patent für ein viel wirksameres Medikament gegen Alzheimer erhalten habe, welches das Medikament des E obsolet macht. Auf22)

23)

BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 (EM.TV), NJW 2005, 2450, 2454; in der Literatur zuerst Fleischer, Der Inhalt des Schadensersatzanspruchs wegen unwahrer oder unterlassener unverzüglicher Ad-hoc-Mitteilungen, BB 2002, 1869, 1872 ff.; danach etwa Casper in: KölnKomm-KapMuG, 2008, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 56; Möllers/Leisch in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, c Rz. 374 – 382; Sethe in: Assmann/ Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, §§ 37b, 37c Rz. 93 (Kursveränderung nach Bekanntwerden der wahren Sachlage als „Richtgröße“); Zimmer/Grotheer in: Schwark/ Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, §§ 37b, 37c Rz. 92 (Kursveränderung nach Bekanntwerden der wahren Sachlage „kann Aufschlüsse bieten“); Mülbert/Steup in: Habersack/ Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 3. Aufl. 2013, § 41 Rz. 228 („Anhaltspunkt“); Hopt/Voigt in: Hopt/Voigt (Hrsg.), Prospekt- und Kapitalmarktinformationshaftung, 2005, S. 9, 135; Hellgardt, Kapitalmarktdeliktsrecht, 2008, S. 505 f.; Escher-Weingart/Lägeler/Eppinger, WM 2004, 1845, 1850; abweichend Wagner, ZGR 2008, 495, 526 f.; in den Fällen der Falschmeldung (§ 37c WpHG) auf die Kursreaktion aufgrund der Fehlinformation abstellend Maier-Reimer/Seulen in: Habersack/Mülbert/Schlitt, Hdb. der Kapitalmarktinformation, 2. Aufl. 2013, § 30 Rz. 147. In der Realität würde der Kurs höchstwahrscheinlich um mehr als 10 € sinken, weil der Markt sowohl die Belastung des E mit rechtlichen Sanktionen (Bußgelder, Schadensersatz) als auch den Reputationsschaden des E und die damit verbundenen erwarteten Vermögenseinbußen berücksichtigen würde; ausführlich dazu Klöhn, ZIP 2015, 53. Dies sei im Folgenden ausgeblendet.

316

Lars Klöhn grund der vollständig entwerteten Patentaussichten des E fällt der Kurs von 30 € zurück auf 20 €. Sodann räumt E ein, dass er über seine Patentaussichten gelogen hat. Schuldet E auch in diesem Fall jedem, der zwischen der Falschmeldung und deren Korrektur Aktien gekauft hat, Schadensersatz?

IV. Bestandsaufnahme 1. Deutschland In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und im Schrifttum findet man Anzeichen dafür, dass die Antwort auf diese Frage „ja“ lautet. Der Differenzschaden entsteht nach ganz h. M. nämlich bereits in dem Zeitpunkt, in dem der Anleger Aktien zu dem durch die Fehlinformation verzerrten Preis erwirbt.24) Dass der Anleger zu diesem Zeitpunkt ein Finanzinstrument erworben hat, das er zu demselben Preis veräußern könnte, wird lediglich i. R. der Vorteilsausgleichung berücksichtigt.25) Fällt dieser Vorteil weg – wie in unserem Beispiel aufgrund des Patenterfolgs des K –, müsste die h. M. daher konsequent zu einem Differenzschaden kommen, in unserem Beispiel i. H. von 10 €.26) 24)

25)

26)

BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 402/02 (Infomatec II), BGHZ 160, 149, 153 = ZBB 2014, 415; BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 67, BGHZ 192, 90; BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 (EM.TV), NJW 2005, 2450, 2451; Möllers/Leisch in: KölnKommWpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, c Rz. 371; Sethe in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, §§ 37b, 37c Rz. 93; Zimmer/Grotheer in: Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 91; Dirigo, Haftung für fehlerhafte Ad-hoc-Publizität, 2011, S. 159 ff.; Weichert, Der Anlegerschaden bei fehlerhafter Kapitalmarktpublizität, 2008, S. 211 f.; Barth, Schadensberechnung bei Haftung wegen fehlender Kapitalmarktinformation, 2006, S. 218; Sauer, Haftung für Falschinformation des Sekundärmarkts, 2004, S. 358 ff.; Fleischer, BB 2002, 1869, 1872; Leuschner, Zum Kausalitätserfordernis des § 826 BGB bei unrichtigen Ad-hoc-Mitteilungen, ZIP 2008, 1050 Fn. 7; a. A. Hellgardt, Kapitalmarktdeliktsrecht, 2008, S. 494, 505; Baums, Haftung wegen Falschinformation des Sekundärmarktes, ZHR 167 (2003), 139, 189; Klöhn, AG 2012, 345, 357; tendenziell abl. auch Ekkenga, Fragen der deliktischen Haftungsbegründung bei Kursmanipulationen und Insidergeschäften, ZIP 2004, 781, 784; Rieckers, Haftung des Vorstands für fehlerhafte Ad-hoc-Meldungen de lege lata und de lege ferenda, BB 2002, 1213, 1216. Möllers/Leisch in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, c Rz. 307 ff., 372; Weichert, Der Anlegerschaden bei fehlerhafter Kapitalmarktpublizität, 2008, S. 124, 212; Geibel, Der Kapitalanlegerschaden, 2002, S. 407 f.; Dirigo, Haftung für fehlerhafte Ad-hocPublizität, 2011, S. 184 ff. In diesem Sinne wohl Möllers/Leisch in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, 37c Rz. 373: Der Differenzschaden entsteht zum Zeitpunkt der Transaktion und kann durch nachfolgende Ereignisse „nicht mehr entfallen, sondern allenfalls durch die Anrechnung von Vorteilen gemindert sein“ (Tatsächlich ist es jedoch so, dass im Zeitpunkt der Transaktion immer ein Vorteil erworben wird, der den Anleger vollständig kompensiert, nämlich das Finanzinstrument).

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2. USA Dass dieses Ergebnis nicht selbstverständlich ist, zeigt ein rechtsvergleichender Seitenblick in die USA. Dort ist seit einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2005 anerkannt, dass der Differenzschaden (out-of-pocket damage) gerade nicht schon dann entsteht, wenn Anleger „zu teuer“ kaufen, sondern erst dann, wenn die Preisinflation wieder korrigiert wird und der Kurs sinkt.27) Anerkannt ist auch, dass nicht jeder anschließende Kursrückgang einen ersatzfähigen Differenzschaden auslöst, vor allem dann nicht, wenn er auf allgemeinen Marktentwicklungen oder firmenspezifischen Ereignissen beruht, die mit der Fehlinformation in keinem Zusammenhang stehen.28) Wo genau die Grenze zu ziehen ist, ist höchst umstritten.29) Unser Beispielsfall wird in den USA unter dem Stichwort „market forces operating on the fraud“ diskutiert. Schon 1976 hat sich Judge Sneed in einem Minderheitsvotum zu einem Urteil des Court of Appeals for the Ninth Circuit dafür ausgesprochen, dass solche Kursrückgänge einen ersatzfähigen Differenzschaden verursachen.30) Der Ninth Circuit hat dieses Votum zehn Jahre später ausdrücklich übernommen.31) Diese Doktrin stößt seit dem Dura-Urteil ganz überwiegend auf Ablehnung, denn der Supreme Court spricht in diesem Urteil davon, die haftungsausfüllende Kausalität könne nicht mit “veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen” (changed economic circumstances) begründet werden.32) Heute verlangen daher die meisten Gerichte, dass der Kurs gerade aufgrund der Aufdeckung der Wahrheit gesunken ist und blenden daher bei der Schadensberechnung alle Kursbewegungen aus, die nicht mit dem

27) 28) 29)

30)

31) 32)

Dura Pharmaceuticals, Inc. v. Broudo, 544 U.S. 336, 342 (2005). Dura Pharmaceuticals, Inc. v. Broudo, 544 U.S. 336, 343 (2005). Siehe dazu etwa M. S. Thorsen/R. A. Kaplan/S. Hakala, Rediscovering the Economics of Loss Causation, 6. J. Bus. & Sec. L. 93 (2006); A. Ferrell/A. Saha, The Loss Causation Requirement for Rule l0b-5 Causes of Action: The Implications of Dura Pharmaceuticals v. Broudo, 63 Bus. Law. 163 (2007). Green v. Occidental Petroleum Corp., 541 F.2d 1335, 1346 (9th Cir. 1976) (Sneed, J., concurring) (“From the market he recoups only a portion of the original value of the misrepresentation for which he paid full value. The unrecovered portion should be recoverable from the corporate wrongdoer, even when the purchaser resells at a price greater than his cost.”), allerdings auf der Grundlage, dass der Differenzschaden zum Zeitpunkt der Transaktion entsteht. Wool v. Tandem, 818 F.2d 1433, 1437 (9 th Cir. 1986). Dura Pharmaceuticals, Inc. v. Broudo, 544 U.S. 336, 343 (2005).

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Bekanntwerden der Fehlinformation einhergehen.33) Andere Gerichte sind nicht so streng und wollen einen ersatzfähigen Schaden auch dann annehmen, wenn der Kurs – wie in unserem Beispiel – auf andere Weise als durch Bekanntwerden der Wahrheit korrigiert wird.34) V. Dogmatische Argumente gegen die Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs Im deutschen Recht lassen sich dogmatische Argumente für beide Positionen finden. Für einen Schadensersatzanspruch spricht, dass der Regierungsentwurf der §§ 37b, 37c WpHG an die Formel des „zu teuer kaufenden“ und „zu billig verkaufenden“ Anlegers anknüpft.35) Darin könnte man ein Indiz dafür sehen, dass der Gesetzgeber meinte, der Differenzschaden entstünde schon zum Zeitpunkt der Transaktion. Für einen Schadensersatzanspruch spricht außerdem der folgende Gedanke: Wäre die Patenterlangung des K ein „dazwischentretendes Ereignis“, trügen die gemäß §§ 37b, 37c WpHG anspruchsberechtigten Anleger das „Wertverlustrisiko“ unerkannter Fehlinformationen. Dies kann man leicht anhand unseres Beispiels nachvollziehen. Der Kurs des E sinkt, weil seine angeblichen Patentaussichten nach der Ankündigung des K keinen Wert mehr haben. Der Kursrutsch der E-Aktie von 30 € auf 20 € korrespondiert also mit einer Entwertung der behaupteten Patentaussichten von 10 € auf 0 €. Sollten die Anleger für diesen Wert- und Kursverlust keinen Schadensersatz verlangen können – so könnte man fortfahren –, dann widerspräche dies sowohl dem Zweck der §§ 37b, 37c WpHG, die den Anlegern das Täuschungsrisiko gerade abnehmen wollen,36) als auch der Tatsache, dass der Emittent während des gesamten Desinformationszeitraums zur Korrektur der Fehlmeldung verpflichtet ist (§ 15 Abs. 2 Satz 2 WpHG).

33)

34)

35) 36)

Glaser v. Enzo Biochem, Inc., 464 F.3d 474, 479 (4th Cir. 2006); U.S. v. Olis, 429 F.3d 540, 546 (5th Cir. 2005); D.E. & J. Ltd. Partnership v. Conaway, 133 Fed. App.’x 994, 999 (6th Cir. 2005); In re Daou Sys., Inc., 411 F.3d 1006, 1027 (9th Cir. 2005). In re Bearingpoint, Inc. Sec. Litig., 232 F.R.D. 534, 544 (E.D. Va. 2006); Roth v. Aon Corp., 238 F.R.D. 603, 608 (N.D.Ill. 2006) (“Moreover, it is also conceivable that the inflationary effect of a misrepresentation might well diminish over time, even without a corrective disclosure, and thus in-and-out traders in this circumstance would be able to prove loss causation.”). Begr. RegE 4. FMFG, BT-Drucks. 14/8017, S. 93. So für das US-amerikanische Recht M. S. Thorsen/R. A. Kaplan/S. Hakala, 6. J. Bus. & Sec. L. 93, 120 (2006).

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Schließlich könnte man darauf verweisen, dass jedes andere Ergebnis die Anreize des Emittenten zur Korrektur der Fehlmeldung senke und ihn im Gegenteil dazu veranlasse, die Korrekturmeldung in der Hoffnung auf eine Entwertung der Fehlinformation aufgrund allgemeiner Marktentwicklungen hinauszuzögern. VI. Rechtsökonomischer Seitenblick Man kann die Überzeugungskraft dieser Argumente besser einschätzen, wenn man die Haftung für fehlerhafte Ad-hoc-Publizität durch eine rechtsökonomische Linse betrachtet.37) Die Haftung gemäß §§ 37b, 37c WpHG ist eine Emittentenhaftung. Ihre Folgen treffen die Aktionäre. Rechtlich zahlt den Schadensersatz der Emittent. Wirtschaftlich tragen ihn die Aktionäre. Die Emittentenhaftung teilt die Aktionäre des schadensersatzpflichtigen Emittenten also in zwei Gruppen: Altaktionäre entschädigen Neuaktionäre, die ihre Aktien nach Verletzung der Ad-hoc-Pflicht erworben haben („holders compensate buyers“).38) Diese Vermögensumverteilung ist sehr bedenklich (zumindest) in börsennotierten Aktiengesellschaften, die sich im Streubesitz befinden, und zwar aus drei Gründen: –

Erstens tragen die Altaktionäre die Folgen der Emittentenhaftung, obwohl sie keine Schuld an der Verletzung der Ad-hoc-Pflicht trifft. Sie stehen der Verletzung der Ad-hoc-Pflicht ebenso „nahe“ wie die Neuanleger. Die Emittentenhaftung errichtet also ein Entschädigungssystem, in dem unschuldige (Neu-)Aktionäre von anderen, ebenfalls unschuldigen (Alt-)Aktionären kompensiert werden.39)



Zweitens bevorzugt dieses Entschädigungssystem kurzfristig orientierte Spekulanten auf Kosten langfristiger Anleger.40) Langfristige Buy-to-hold-Investoren gehören häufig zu der Gruppe der Altaktionäre, aber selten zur Gruppe der Neuaktionäre, weil sie selten handeln. Kurzfristig orientierte Anleger, die ihr Portfolio häufig um-

37) 38)

Zum Folgenden bereits Klöhn, ZIP 2015, 53, 57 f.; Klöhn, AG 2012, 345, 353. Rechenbeispiel bei Klöhn, ZIP 2015, 53, 57 Fn. 49; zum Fall der gemäß §§ 37b Abs. 1 Nr. 2, 37c Abs. 1 Nr. 2 WpHG schadensersatzberechtigten Verkäufer siehe unter IX). J. C. Coffee, Causation by Presumption? Why the Supreme Court Should Reject Phantom Losses and Reverse Broudo, 60 Bus. Law. 533, 541 (2005); J. C. Coffee, Reforming the Securities Class Action: An Essay on Deterrence and its Implementation, 106 Colum. L. Rev. 1534, 1557 (2006). J. E. Fisch, Cause for Concern: Causation and Federal Securities Fraud, 94 Iowa L. Rev. 811, 870–71 (2009).

39)

40)

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schichten, fallen demgegenüber häufig in die Gruppe der Neu- und selten in die Gruppe der Altaktionäre.41) Langfristige Anleger stehen also häufig auf der Zahler-, kurzfristig orientierte Anleger auf der Empfängerseite. Die Emittentenhaftung gemäß §§ 37b, 37c WpHG wirkt daher wie eine Steuer auf langfristige Aktienbeteiligungen. –

Schließlich ist das Entschädigungssystem überflüssig. Alle Anleger können sich gegen das Risiko fehlerhafter Ad-hoc-Publizität versichern, und zwar durch Portfoliodiversifizierung.42) Dies erkennt man leicht anhand unseres Ausgangsbeispiels: Bis zur Bekanntmachung des K war der Kurs der E-Aktie zu hoch. Wer Aktien kaufte, litt unter der Verletzung der Ad-hoc-Publizität, denn er kaufte zu teuer. Wer Aktien verkaufte, profitierte von der unterlassenen Ad-hoc-Meldung, denn er verkaufte zu teuer. Jedem Verlierer steht also stets ein Gewinner gegenüber, in ökonomischen Termini handelt es sich um ein Nullsummenspiel unter den Anlegern.43) Anleger sorgen sich um die Verletzung der Ad-hoc-Publizität daher nicht, wenn die Gefahr, auf der Seite der Verlierer zu stehen, genauso hoch ist wie die Chance, zu den Gewinnern zu gehören. Dies können Anleger sehr leicht sicherstellen. Sie müssen nur ihr Portfolio diversifizieren, d. h. stets in den Markt investieren.44) Die §§ 37b, 37c WpHG versichern Anleger also gegen ein Risiko, gegen das Anleger nicht versichert werden wollen, weil die Emittentenhaftung für die Anleger als Gruppe höhere Kosten

41)

J. C. Coffee, 106 Colum. L. Rev. 1534, 1560 (2006); J. E. Fisch, 94 Iowa L. Rev. 811, 871 (2009). F. H. Easterbrook/F. R. Fischel, Optimal Damages in Securities Cases, 52 U. Chi. L. Rev. 611, 641 (1985); J. C. Alexander, Rethinking Damages in Securities Class Actions, 48 Stan. L. Rev. 1487, 1502 (1996); J. C. Coffee, 60 Bus. Law. 533, 542 (2005); E. C. Burch, Reassessing Damages in Securities Fraud Class Actions, 66 Md. L. Rev. 348, 374–76 (2007); R. A. Booth, The End of the Securities Fraud Class Action as We Know It, 4 Berkeley Bus. L.J. 1, 7 (2007); W. W. Bratton/M. L. Wachter, The Political Economy of Fraud on the Market, 160 U. Penn. L. Rev. 69, 94 (2011); R. A. Booth, Index funds and securities fraud litigation, 64 S. Cal. L. Rev. 265, 271 (2012); aus dem deutschsprachigen Schrifttum etwa Klöhn, AG 2012, 345, 353. F. H. Easterbrook/F. R. Fischel, 52 U. Chi. L. Rev. 611, 641 (1985); J. C. Alexander, 48 Stan. L. Rev. 1487, 1502 (1996); A. C. Pritchard, Markets As Monitors: A Proposal to Replace Class Actions With Exchanges As Securities Fraud Enforcers, 85 Va. L. Rev. 925, 939 (1999); W. W. Bratton/M. L. Wachter, 160 U. Penn. L. Rev. 69, 93 (2011). Klöhn, AG 2012, 345, 353.

42)

43)

44)

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verursacht (Anwalts-, Gerichtskosten etc.) als die Portfoliodiversifizierung.45) VII. Konsequenzen für die Behandlung überholender Kausalverläufe 1. Restriktive Auslegung rechtspolitisch zweifelhafter Normen Was bedeutet all dies für die Lösung unseres Falles? Hier ließe sich zunächst ein sehr einfaches Argument anführen. Aus rechtsökonomischer Perspektive lautet die entscheidende Frage: Angenommen, man würde alle Anleger (sowohl die Alt- als auch alle potenziellen Neuanleger) an einen Tisch setzen und über die Reichweite der Haftung gemäß §§ 37b, 37c WpHG abstimmen lassen, würden sie sich für oder gegen eine Schadensersatzpflicht aussprechen? Die Antwort ist leicht: Da sich rationale Anleger sogar einstimmig für die komplette Abschaffung der §§ 37b, 37c WpHG aussprächen, würden sie auch in unserem Beispiel gegen die Ersatzpflicht stimmen. Folglich muss der Schadensersatzanspruch ausgeschlossen sein. Vor Gericht würde dieses Argument den Einwand provozieren, dass es sich gegen die §§ 37b, 37c WpHG an sich wende und daher auf rechtspolitischer, nicht aber auf rechtsdogmatischer Ebene angesiedelt sei. Doch könnte man darauf replizieren, dass rechtspolitisch zweifelhafte Normen bekanntlich eng zu interpretieren sind.46) Nichts anderes tut man, wenn man „überholende Kausalverläufe“ wie die des Beispielsfalls aus der Ersatzpflicht ausklammert. 2. Wertveränderungsrisiko unaufgedeckter Fehlinformationen als allgemeines Marktrisiko Ein zweites Argument gewinnen wir, wenn wir auf die bereits oben angesprochene Frage zurückkommen, ob sich in dem Kursrückgang aus dem Beispielsfall ein allgemeines Marktrisiko oder das spezifische Täuschungsrisiko verwirklicht.47) Es herrscht Einigkeit darüber, dass allgemeine Marktrisiken bei der Berechnung des Differenzschadens außer Betracht

45) 46) 47)

J. C. Coffee, 60 Bus. Law. 533, 542 (2005); W. W. Bratton/M. L. Wachter, 160 U. Penn. L. Rev. 69, 94 – 95 (2011); R. A. Booth, 64 S. Cal. L. Rev. 265, 271 (2012). Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 7 Rz. 24. Siehe oben unter IV 2.

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bleiben. Anleger sollen nur Ersatz für die Fehlinformation verlangen dürfen, nicht aber für die Verwirklichung allgemeiner Marktrisiken.48) Warum das richtig ist, zeigen unsere ökonomischen Einsichten. Das Besondere an allgemeinen Marktentwicklungen ist, dass sie sich ebenso zu Gunsten wie zu Lasten der Anleger auswirken können. Ob Anleger von künftigen allgemeinen Marktbewegungen profitieren oder unter ihnen leiden, ist zufällig, denn Wertpapierkurse folgen dem viel zitierten „random walk“.49) Das Gleiche gilt nicht für das Risiko, dass die Fehlinformation aufgedeckt wird. Die Offenlegung der Fehlinformation wirkt sich stets zu Lasten der Anleger aus, die ihre Aktien während des Desinformationszeitraums gekauft haben. Die entscheidende Frage ist daher die Folgende: Verwirklicht sich in dem Wertverfall einer vom Markt bisher nicht erkannten Fehlinformation eine Unsicherheit, die sowohl zu Lasten als auch zu Gunsten des Anlegers ausschlagen kann? Auch diese Frage ist leicht zu beantworten: Es kommt ganz darauf an, weshalb sich der Wert der Fehlinformation verändert. Beruht die Wertveränderung auf allgemeinen Marktentwicklungen, dann ist dies ein Risiko, von dem Anleger ebenso gut profitieren wie unter ihm leiden können.50) In unserem Fall wird die Fehlinformation über das Patent entwertet, weil Konkurrent K ein besseres Patent erlangt hat. Das Verhalten und die Entwicklung von Wettbewerbern ist ein allgemeines Marktrisiko, das sich positiv wie negativ auf die Anleger auswirken kann. So wäre in unserem Beispielsfall ebenso gut denkbar gewesen, dass Konkurrent K bekannt gegeben hätte, er sei bei der Forschung an einem Medikament gegen Alzheimer zurückgeworfen worden. In diesem Fall wäre der Wert der Fehlinformation des E nicht gesunken, sondern gestiegen. 48) 49)

50)

Statt aller Sethe in: Assman/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, §§ 37b, 37c Rz. 94. Grundlegend L. Bachelier, Théorie de la Spéculation, 1900; M. G. Kendall, The Analysis of Economic Time Series – Part I: Prices, 96 Journal of the Royal Statistical Society, series A, 11 (1953); S. S. Alexander, Price Movements in Speculative Markets: Trends or Random Walks, 2 Indus. Mgmt. Rev. 7 (1961); P. H. Cootner, Stock Prices: Random vs. Systematic Changes, 3 Indus. Mgmt. Rev. 24 (1962); E. F. Fama, The Behavior of Stock Market Prices, 38 J. Bus. 34 (1965); E. F. Fama, Random Walks in Stock Market Prices, 21(5) Fin. Analysts J. 55 (1965); P. A. Samuelson, Proof That Properly Anticipated Prices Fluctuate Randomly, 6 Indus. Mgmt. Rev. 41, 48 (1965); B. Mandelbrot, Forecasts of Future Prices, Unbiased Markets, and Martingale Models, 39 J. Bus. 242, 248 (1966). A. Ferrell/A. Saha, 63 Bus. Law. 163, 172 (2007).

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Ob sich der Wert der Fehlinformation zu Gunsten oder zu Lasten des Anlegers aufgrund allgemeiner Marktentwicklungen verändert, ist ebenso zufällig wie die allgemeine Marktentwicklung selbst. Deshalb ist es nicht zweckwidrig, sondern nur konsequent, die Entwertung unaufgedeckter Fehlinformationen während der Desinformationsphase als allgemeines Marktrisiko zu behandeln, sofern diese Entwertung auf Umständen beruht, die sich ebenso zugunsten der Anleger auswirken können. Anders gewendet: Würde man die Ersatzpflicht auf Kausalverläufe wie den des Beispielsfalls erstrecken, würde man den schadensersatzberechtigten Anleger mit einer Option ausstatten, die vom Gesetz gerade nicht gewollt ist: Entwickelt sich die Fehlinformation zu seinen Gunsten, kann er die Finanzinstrumente verkaufen und den Mehrerlös liquidieren. Entwickelt sich die Fehlinformation zu seinen Lasten, bekommt er den Wertverlust gemäß §§ 37b, 37c WpHG als Differenzschaden ersetzt. 3. Bekanntwerden der Fehlinformation als Haftungsvoraussetzung Dieser Gedanke ist tiefer im Gesetz verankert, als man auf den ersten Blick vermuten würde: Er ist der Grund, warum die §§ 37b Abs. 1 Nr. 1, 37c Abs. 1 Nr. 1 WpHG den Schadensersatzanspruch davon abhängig machen, dass die Fehlinformation bekannt geworden ist. Diese Voraussetzung stellt sicher, dass Anleger für die Entwertung unerkannter Fehlinformationen gerade keinen Schadensersatz verlangen können. Obwohl diese Einschränkung der Schadensersatzpflicht de lege ferenda fast einhellig kritisiert wird,51) ist sie äußerst sachgerecht. Man muss sich nur verdeutlichen, dass Anleger, die während des Desinformationszeitraums Finanzinstrumente kaufen, ebenso gut von diesen Wertveränderungen profitieren können wie unter ihnen leiden. 51)

Fuchs in: Fuchs, WpHG, 2009, §§ 37b, 37c Rz. 26; Sethe in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, §§ 37b, 37c Rz. 76; Möllers/Leisch in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, 37c Rz. 227 f.; Zimmer/Grotheer in: Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 68; Fleischer, Empfiehlt es sich, im Interesse des Anlegerschutzes und zur Förderung des Finanzplatzes Deutschland das Kapitalmarktund Börsenrecht neu zu regeln?, in: 64. DJT, 2002, F 106 f.; Escher-Weingart/Lägeler/ Eppinger, WM 2004, 1845, 1846; Kissner, Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit für Ad-hoc-Mitteilungen, 2003, S. 157 f.; die Kritik zurückweisend jedoch Maier-Reimer/ Seulen in: Hdb. der Kapitalmarktinformation, 2. Aufl. 2013, § 30 Rz. 97; Maier-Reimer/ Webering, Ad hoc-Publizität und Schadensersatzhaftung, WM 2002, 1857, 1860; eine Regelungslücke diagnostizierend: Reichert/Weller, Haftung von Kontrollorganen, ZRP 2002, 49, 55.

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VIII. Auffächerung und Abgrenzung überholender Kausalverläufe Das Zwischenergebnis lautet damit: Der Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens gemäß §§ 37b, 37c WpHG entfällt mangels haftungsausfüllender Kausalität, soweit allgemeine Marktentwicklungen den Wert der Fehlinformation vor deren öffentlichem Bekanntwerden reduzieren. Bei diesen Ereignissen handelt es sich also um „dazwischentretende Ereignisse“, die den Zurechnungszusammenhang zwischen der Fehlinformation und dem Schaden des Anlegers unterbrechen. Auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse lassen sich die denkbaren überholenden Kausalverläufe weiter auffächern und abgrenzen. 1. Markt- und industrieweite Ereignisse Klassische überholende Kausalverläufe sind markt- und industrieweite Ereignisse, die nicht nur den schadensersatzpflichtigen Emittenten, sondern alle börsennotierten Gesellschaften (derselben Brache, desselben Marktsegments etc.) betreffen. Beispiele sind Konjunktur- und Preisschwankungen52), Gesetzesänderungen oder – wie in unserem Fall – bahnbrechende Produktinnovationen. 2. Firmenspezifische Ereignisse Der Wert der Fehlinformation kann zudem aufgrund firmenspezifischer Ereignisse sinken. Als Beispiel stelle man sich vor, Bank B lüge in einer Ad-hoc-Mitteilung über ihre Zahlungsfähigkeit. Wenn die Bank kurz darauf ihre Lizenz verliert, weil herauskommt, dass sie über Jahre hinweg in schwerster Weise gegen zahlreiche Vorschriften des Bankaufsichtsrechts verstoßen habe, dann hat diese Information die Bedeutung der Lüge über die Liquiditätslage erheblich reduziert, wenn nicht sogar vollkommen dezimiert. Obwohl keine allgemeine Marktentwicklung, unterbricht auch dieses Ereignis den Zurechnungszusammenhang zwischen der Fehlmeldung und dem Schaden des Anlegers.53)

52) 53)

So die Beispiele von Green v. Occidental Petroleum Corp., 541 F.2d 1335, 1346 (9th Cir. 1976) (Sneed, J., concurring); A. Ferrell/A. Saha, 63 Bus. Law. 163, 171 (2007). Im Ergebnis ebenso Dura Pharmaceuticals, Inc. v. Broudo, 544 U.S. 336, 343 (2005), wonach Kursrückgänge aufgrund firmenspezifischer Informationen ohne Aufdeckung der Fehlinformation grundsätzlich keinen ersatzfähigen Schaden verursachen.

„Überholende Kausalverläufe“ und Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität 325

Anders ist zu entscheiden, wenn das „dazwischentretende“ firmenspezifische Ereignis aus dem Kreis derjenigen Gefahren stammt, über die der Emittent gelogen (§ 37c WpHG) bzw. die der Emittent pflichtwidrig verschwiegen hat (§ 37b WpHG). In unserem Beispiel wird der Zurechnungszusammenhang also nicht unterbrochen, wenn die Bank ihre Lizenz gerade aufgrund ihrer Liquiditätsprobleme verliert. Rechtsdogmatisch folgt dies aus den allgemeinen Anforderungen der Lehre vom Schutzzweck der Norm, denn in diesem Fall verwirklicht sich gerade nicht das allgemeine Markt-, sondern das Täuschungsrisiko. Rechtsökonomisch steht der Schadensersatzanspruch auf besserem Fundament, weil der Unsicherheit, die sich hier verwirklicht, das Potenzial, sich sowohl zu Lasten wie auch zu Gunsten des Anlegers zu entwickeln, gerade fehlt. 3. Veränderte Anlegererwartung Besonders schwierige Fragen werfen Fälle auf, in denen die Fehlinformation ohne besondere marktweite oder firmenspezifische Ereignisse allein aufgrund veränderterer Markterwartungen an Wert verliert. So ist denkbar, dass der Markt auch ohne die Patentmeldung des K beginnt, an der Überlegenheit des von E anvisierten Medikaments zu zweifeln. Möglich ist sogar, dass der Markt die Fehlinformation über das Patent aufgrund einer erhöhten „quiet awareness“ aus dem Börsenkurs „herauspreist“, also die Aktie des E allein deshalb abwertet, weil dessen Management das Patent über einen längeren Zeitraum auf Analysten- und Pressekonferenzen nicht oder nicht mit demselben Enthusiasmus erwähnt. Nach dem Vorstehenden ist in diesen Fällen danach zu differenzieren, weshalb der Markt seine Erwartungen ändert: Beruht die Änderung auf allgemeinen Markt- oder industrieweiten Entwicklungen oder auf firmenspezifischen Ereignissen, die mit der Fehlinformation in keinem Zusammenhang stehen, dann unterbricht diese Veränderung den Zurechnungszusammenhang zwischen der Fehlinformation und dem Anlegerschaden. Nimmt der Markt die verschwiegene oder wahre Information vorweg, oder beruht die veränderte Anlegererwartung auf einem anderen Ereignis aus dem Kreis der Gefahren, über die der Emittent den Markt fehlinfor-

326

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miert hat, dann unterbricht diese Veränderung den Kausalzusammenhang nicht.54) IX. Der „zu billig verkaufende“ Anleger In den Fällen des zu billig verkaufenden Anlegers (§§ 37b Abs. 1 Nr. 2, 37c Abs. 1 Nr. 2 WpHG) sind überholendende Kausalverläufe analog zu den bisherigen Fallgestaltungen nicht denkbar. Der Grund liegt darin, dass der Desinformationszeitraum in diesen Fällen zwar erst mit dem vollständigen Bekanntwerden der Wahrheit endet, der Schaden aber schon mit der Verkaufsentscheidung des Anlegers entsteht. Die Schadensberechnung in den Fällen des zu teuer kaufenden Anlegers einerseits und des zu billig verkaufenden Anlegers andererseits liegen daher nicht vollständig spiegelbildlich zueinander. Um dies zu erkennen, müssen wir unser Eingangsbeispiel in den Fall eines zu billig verkaufenden Anlegers verwandeln: Emittent E hat tatsächlich die Aussicht auf die Patentierung eines Blockbuster-Medikaments gegen Alzheimer. Dennoch veröffentlicht E eine Ad-hoc-Meldung, in welcher er die bevorstehende Patenterlangung abstreitet.55) Sodann gibt K bekannt, dass er sich aus dem Markt für Alzheimer-Medikamente zurückziehen werde. Aufgrund dieser Nachricht steigt der Kurs des E um exakt den Betrag, um den er gestiegen wäre, hätte E den Markt über die bevorstehende Patenterlangung informiert.56) Als E die Fehlmeldung korrigiert, bleibt die Kursreaktion aus, denn der Markt erwartet aufgrund dieses Patents keinen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil des E.

Welchen Einfluss hat die Meldung des K auf die Schadensberechnung? Die Antwort ist leicht: Hat ein Anleger seine Aktien vor der Mitteilung des K verkauft, ist sein Schadensersatzanspruch gemäß § 37c Abs. 1 Nr. 2

54)

55)

56)

Anders möglicherweise Dura Pharmaceuticals, Inc. v. Broudo, 544 U.S. 336, 343 (2005), wonach Kursrückgänge aufgrund veränderter Anlegererwartungen ohne Aufdeckung der Fehlinformation grundsätzlich keinen ersatzfähigen Schaden auslösen. Es sei unterstellt, dass das Verschweigen der Patentaussichten nicht von § 15 Abs. 3 WpHG gedeckt sei. Ansonsten würde sich die höchst interessante Frage stellen, ob Emittenten ein Recht zur Lüge über kursrelevante Informationen haben, die sie gemäß § 15 Abs. 3 WpHG verschweigen dürfen (verneinend Klöhn in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 Rz. 295). Eine denkbare Erklärung dieses Kursanstiegs: Der Markt für Alzheimer-Medikamente ist ein „Winner takes it all“-Markt. Wer zuerst ein wirksames Medikament entwickelt, erlangt eine Monopolstellung, die ihm erlaubt, erhebliche Renten abzuschöpfen. Die Information über die Patentaussichten war also kursrelevant, weil diese Aussichten E einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber K verschafften. Ein ähnlicher Wettbewerbsvorteil entsteht ohne Patentaussichten allein aufgrund des Rückzugs des K aus diesem Markt.

„Überholende Kausalverläufe“ und Haftung wegen fehlerhafter Ad-hoc-Publizität 327

WpHG im Zeitpunkt des Verkaufs entstanden und wird durch die spätere Nachricht des K nicht berührt. Der Schadensersatzanspruch wäre nur dann analog zu den obigen Überlegungen ausgeschlossen, wenn der Schaden des Anlegers erst dadurch entstünde, dass der Kurs des E ansteigt. Zu diesem Ergebnis käme man, wenn man die Möglichkeit, die verkauften E-Aktien zu dem „zu niedrigen Preis“ zurückzukaufen, als Vorteil ansähe, der im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen wäre und der erst mit dem Kursanstieg entwertet wird. Obwohl de lege ferenda denkbar, hat sich der Gesetzgeber in den §§ 37b Abs. 1 Nr. 2, 37c Abs. 1 Nr. 2 WpHG gegen dieses Konzept entschieden, so dass die Schadensberechnung in den Fällen der §§ 37b Abs. 1 Nr. 1, 37c Abs. 1 Nr. 1 WpHG einerseits und der §§ 37b Abs. 1 Nr. 2, 37c Abs. 1 Nr. 2 WpHG andererseits nicht exakt spiegelbildlich sind. Verkauft ein Anleger nach der Meldung des K, liegt ebenfalls kein überholender Kausalverlauf vor, im Gegenteil: Da der Kurs aufgrund dieser Nachricht auf das Niveau steigt, auf dem er ohne die Falschmeldung gewesen wäre, entsteht dem Anleger in dieser Variante schon kein Schaden. Die Nachricht des K schädigt den Anleger also nicht, sie verhindert diesen Schaden. X. Ergebnisse 1.

Sinkt der Wert der Fehlinformation vor Bekanntwerden der Wahrheit aufgrund markt- oder industrieweiter Ereignisse, so begründet dies auch dann keinen Schadensersatzanspruch des „zu teuer kaufenden Anlegers“ gemäß §§ 37b, 37c WpHG, wenn die Wahrheit anschließend bekannt wird. Vielmehr unterbricht der Kursrückgang aufgrund dieses „dazwischentretenden“ Ereignisses den Zurechnungszusammenhang zur Fehlinformation des Emittenten.

2.

Das Gleiche gilt, wenn der Wert der Fehlinformation vor Bekanntwerden der Wahrheit aufgrund firmenspezifischer Ereignisse sinkt, die mit der Fehlinformation in keinem Zusammenhang stehen, in denen sich also nicht die Gefahr der verschwiegenen oder vorgespiegelten Information verwirklicht.

3.

Sinkt der Wert der Fehlinformation vor Bekanntwerden der Wahrheit aufgrund veränderter Markterwartungen, ist danach zu fragen, warum sich diese Erwartungen geändert haben. Beruht die Verände-

328

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rung auf markt- oder industrieweiten Ereignissen oder auf firmenspezifischen Ereignissen, die nicht im Zusammenhang mit der Fehlinformation stehen, so wird kein Schadensersatzanspruch ausgelöst. Nimmt der Markt die Fehlinformation vorweg, so begründet der dadurch ausgelöste Kursrückgang einen Schadensersatzanspruch. 4.

In den Fällen des „zu billig verkaufenden“ Anlegers sind „überholende Kausalverläufe“ nach dem Muster der hier behandelten Fallgestaltungen nicht denkbar.

Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG JENS KOCH Inhaltsübersicht I. II. III. IV. V.

Einleitung Sachverhalt und Fragestellung Meinungsstand Beschlusserfordernis Lösung über rechtmäßiges Alternativverhalten 1. Grundsätzliche Anwendbarkeit des Rechtsinstituts auch im Kapitalmarktrecht 2. Ausschluss bei Verfahrenserfordernissen? 3. Kein Ausschluss wegen Handlungsunrechts

4. Anforderungen an Nachweis des Alternativverhaltens a) Nachweismöglichkeiten b) Entscheidungspraxis und Zeugenvernehmung c) Stimmverhalten des verantwortungsvoll handelnden Organmitglieds d) Beurteilungsspielräume im Rahmen des § 15 Abs. 3 WpHG 5. Erfordernis teleologischer Korrektur des Beschlusserfordernisses 6. Folgen für das Bußgeldverfahren VI. Ergebnis

I. Einleitung Im Jahr 1989 hat Johannes Köndgen gemeinsam mit Hartmut Schmidt die Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft gegründet und seitdem das Bank- und Kapitalmarktrecht maßgeblich geprägt und begleitet. In dieser Zeit hat sich manche Fragestellung, die Wissenschaft und Praxis beschäftigt hat, als Eintagsfliege entpuppt, während andere Themen als Dauerbrenner stetig wiederkehren. Eines dieser Langzeitthemen ist der Streit um den richtigen Zeitpunkt der Ad-hoc-Mitteilung anlässlich des vorzeitigen Ausscheidens Jürgen Schrempps aus dem Vorstandsvorsitz der Daimler AG. Dieser Vorgang liegt mittlerweile elf Jahre zurück, ist vom Landgericht Stuttgart über das Oberlandesgericht Stuttgart zum Bundesgerichtshof gewandert, von dort zurück zum Oberlandesgericht Stuttgart und wieder zurück zum Bundesgerichtshof, von dort zum Europäischen Gerichtshof, um anschließend über den Weg des Bundesgerichtshofs wieder beim Oberlandesgericht Stuttgart zu landen. Ein sanktionsrecht-

330

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licher Bußgeldprozess beschäftigte parallel das Amtsgericht und das Oberlandesgericht Frankfurt. Von einer endgültigen Klärung ist diese Auseinandersetzung zwar immer noch weit entfernt; der wissenschaftliche Ertrag dieser Gerichtsodyssee ist aber jetzt schon groß. Das Insiderrecht und das Recht der Ad-hoc-Mitteilung sind in Rechtsprechung und Wissenschaft in einer solchen Tiefe durchdrungen worden, dass ihre Handhabung für die Praxis deutlich vorhersehbarer geworden ist. Auch die rechtsökonomische Analyse hat in erheblichem Maße an Tiefenschärfe gewonnen und hier ein wichtiges beispielhaftes Anwendungsfeld gefunden, um der deutschen Rechtswissenschaft die Bedeutung und den Nutzen dieser methodischen Bereicherung einzuprägen. Ist der zugrunde liegende Ausgangsfall dabei über eine Dekade hinweg derselbe geblieben, so haben sich die juristischen Fragestellungen, die sich darum ranken, doch stetig gewandelt. Insbesondere hat sich mit der zunehmend detaillierteren gerichtlichen Ausdeutung des Begriffs der Insiderinformation der Schwerpunkt der Diskussion von diesem Tatbestandsmerkmal deutlich auf die Voraussetzungen der Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG verlagert, deren Einzelheiten weiterhin der gerichtlichen Klärung harren. Der folgende Beitrag soll deshalb in diesem Kontext einen der noch offenen, aber möglicherweise letztlich streitentscheidenden Diskussionspunkte näher beleuchten, nämlich das Beschlusserfordernis und den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens. II. Sachverhalt und Fragestellung Der zugrunde liegende Sachverhalt der mittlerweile zahlreichen Daimler/ Geltl-Urteile ist jedem Kenner der Materie vertraut und soll deshalb hier nur skizzenhaft wiedergegeben werden.1) Der damalige Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Herr Professor Dr. Jürgen Schrempp, trug sich mit dem Gedanken, sein Vorstandsamt vorzeitig aufzugeben. Von diesen Überlegungen, die sich im späteren Verlauf zunehmend zu einer Absicht verfestigten, setzte er in verschiedenen Einzelgesprächen mehrere Personen in Kenntnis. Damit wurden zugleich die entsprechenden gesellschaftsinternen Entscheidungsfindungsprozesse ausgelöst, die schließlich darin mündeten, dass der Aufsichtsrat dem Ausscheiden Schrempps zum Jahres-

1)

Ausführlich BGH, Beschl. v. 22.11.2010 – II ZB 7/09, NJW 2011, 309 f. = ZIP 2011, 72.

Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung 331

ende 2005 zustimmte und Herrn Dr. Dieter Zetsche zu seinem Nachfolger bestellte. Erst im Anschluss an diese Beschlussfassung wurde eine entsprechende Ad-hoc-Mitteilung veröffentlicht. Diesen Geschehensablauf haben mehrere Kläger zum Anlass genommen, i. R. eines Musterklageverfahrens Schadensersatzansprüche gegen die Daimler AG mit der Begründung geltend zu machen, dass die Mitteilung zu einem früheren Zeitpunkt hätte erfolgen müssen. Zu Beginn der gerichtlichen Auseinandersetzungen standen dabei in erster Linie die Fragen im Mittelpunkt, ob auch Zwischenschritte einer Entscheidungsfindung Gegenstand der Ad-hoc-Pflicht sein können und wann eine hinreichende Wahrscheinlichkeit i. S. des § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG anzunehmen ist.2) Nachdem der Europäische Gerichtshof auf eine Vorlage des Bundesgerichtshofs hin diese Fragen eher großzügig beantwortet hat,3) hat sich die Diskussion dahin verlagert, unter welchen Voraussetzungen eine Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG angenommen werden kann.4) Diese Frage ist vom Schrifttum zunächst unter dem Gesichtspunkt erläutert worden, ob es für eine solche Selbstbefreiung eines ausdrücklichen Beschlusses des zuständigen Entscheidungsorgans bedarf oder ob es in Form einer Legalausnahme genügt, wenn die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 WpHG gegeben sind.5) Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen und diese Frage dabei offengelassen, zugleich aber darauf hingewiesen, dass auch bei Bestehen eines solches Beschlusserfordernisses die Möglichkeit eines rechtmäßigen Alternativverhaltens einen Schadensersatzanspruch dennoch ausschließen könne.6) Die hier erörterte Fragestellung stellt damit den (zumindest vorläufigen) Endpunkt in einer Kette unterschiedlichster Auseinandersetzungen dar, an denen dieser langwährende, spektakuläre Gerichtsstreit möglicherweise seine Auflösung finden könnte. 2) 3) 4)

5) 6)

Zusammenfassend dazu etwa Klöhn, Das deutsche und europäische Insiderrecht nach dem Geltl-Urteil des EuGH, ZIP 2012, 1885 ff. EuGH, Urt. v. 28.6.2012 – Rs. C-19/11, NJW 2012, 2787 Rz. 24 ff. = ZIP 2012, 1282. Vgl. zu diesem Bedeutungszuwachs auch Ekkenga, Individuelle Entscheidungsprozesse im Recht der Ad-hoc-Publizität, NZG 2013, 1081, 1082; Groß, Befreiung von der Adhoc-Publizitätspflicht nach § 15 Abs. 3 WpHG, in: FS für U. H. Schneider, 2011, S. 385; Ihrig/Kranz, EuGH-Entscheidung Geltl/Daimler: „Selbstbefreiung” von der Ad-hoc-Publizitätspflicht, BB 2013, 451; Klöhn, Der Aufschub der Ad-hoc-Publizität wegen überwiegender Geheimhaltungsinteressen des Emittenten (§ 15 Abs. 3 WpHG), ZHR 178 (2014), 55, 57. Nachw. in Fn. 7 bis 9. BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 33 ff. = ZIP 2013, 1165.

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III. Meinungsstand Während die Frage eines rechtmäßigen Alternativverhaltens im Schrifttum bislang nur sehr oberflächlich erörtert worden ist, ist die vorgeschaltete Frage nach einem Beschlusserfordernis schon wesentlich gründlicher durchleuchtet worden. Ein solches Erfordernis wurde lange Zeit überwiegend bejaht,7) was insbesondere auch der Verwaltungspraxis der BaFin entspricht.8) In jüngerer Zeit haben sich dagegen die Stimmen gemehrt, die auf das Beschlusserfordernis verzichten wollen.9) Der Bundesgerichtshof hat diese Frage in der Entscheidung vom 23. April 2013 unter Verweis auf die Möglichkeit eines rechtmäßigen Alternativverhaltens ausdrücklich offen-

7)

8)

9)

OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 12.2.2009 – 2 Ss-OWi 514/08, NJW 2009, 1520, 1521 = ZIP 2009, 563 (wenngleich mit missverständlicher Terminologie „Legalausnahme“); Pfüller in: Fuchs, WpHG, 2009, § 15 Rz. 345; Frowein, Pflicht zur Veröffentlichung von Insiderinformationen (§ 15 WpHG), in: Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinformation, 2. Aufl. 2013, § 10 Rz. 74; Dreyling, Die Umsetzung der Marktmissbrauchs-Richtlinie über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation, Der Konzern 2005, 1, 3; Groß in: FS für U. H. Schneider, 2011, S. 385 ff.; Harbarth, Ad-hocPublizität beim Unternehmenskauf, ZIP 2005, 1898, 1903 f.; Ph. Koch, Veröffentlichung von Insiderinformationen in: Veil, Europäisches Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2014, § 19 Rz. 105 ff.; Mennicke, Ad-hoc-Publizität bei gestreckten Entscheidungsprozessen und die Notwendigkeit einer Befreiungsentscheidung des Emittenten, NZG 2009, 1059, 1601; Mennicke, Steine statt Brot – Weiterhin keine Rechtssicherheit zur Ad-hocPublizität bei sog. gestreckten Entscheidungsprozessen, ZBB 2013, 244, 250; Mülbert, Die Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG durch den Aufsichtsrat, in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 413 f.; Pattberg/Bredol, Der Vorgang der Befreiung von der Ad-hocPublizitätspflicht, NZG 2013, 87 f.; S. H. Schneider, Selbstbefreiung von der Pflicht zur Ad-hoc-Publizität, BB 2005, 897, 900; U. H. Schneider/Gilfrich, Die Entscheidung des Emittenten über die Befreiung von der Ad-hoc-Publizitätspflicht, BB 2007, 53 ff.; Spindler, Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für fehlerhafte Auslegung von Rechtsbegriffen, in: FS für Canaris, 2007, Bd. II, S. 403, 405 mit Fn. 9; Widder, Befreiung von der Ad-hoc-Publizität ohne Selbstbefreiungsbeschluss?, BB 2009, 967, 971 ff. BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 59; zur hier nicht weiter interessierenden Frage einer Delegationsmöglichkeit F. A. Schäfer, Ad-hoc-Publizität, in: Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 3. Aufl. 2014, § 15 Rz. 35e m. w. N.; siehe auch Groß in: FS für U. H. Schneider, 2011, S. 385, 390 ff.; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 454 f.; U. H. Schneider/Gilfrich, BB 2007, 53, 55. OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.4.2009 – 20 Kap 1/08, NZG 2009, 624, 635 = ZIP 2009, 962; Assmann in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, § 15 Rz. 165a ff.; Klöhn in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 Rz. 312 ff.; Klöhn, ZHR 178 (2014), 55, 94 ff.; Zimmer/Kruse in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 15 WpHG Rz. 54; F. A. Schäfer in: Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 3. Aufl. 2014, § 15 Rz. 35c; Ihrig in: VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S. 113, 128 ff.; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 452 f.; Zimmer, Die Selbstbefreiung – Achillesferse der Ad-hoc-Publizität?, in: FS für Schwark, 2009, S. 669, 671.

Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung 333

gelassen.10) Im weiteren Verlauf des Urteils finden sich zwar einzelne Passagen, die auf das Bestehen eines solchen Erfordernisses hindeuten11) und deshalb im Schrifttum zum Teil als Bekenntnis zur bislang h. M. gedeutet werden.12) Angesichts der einleitenden Stellungnahme, die diesem Abschnitt vorangestellt ist, sprechen die besseren Gründe aber wohl dafür, auch diese späteren Passagen unter dem konjunktivischen Vorzeichen zu lesen, dass ein solches Erfordernis nur besteht, wenn man der h. M. folgen wollte.13) Die Möglichkeit einer Haftungsbefreiung über das Institut des rechtmäßigen Alternativverhaltens ist vom Bundesgerichtshof sodann im Wege eines „Hinweises“ für das weitere Verfahren formuliert worden.14) Insofern weist er darauf hin, dass der Schutzzweck der verletzten Norm im Fall der §§ 15 Abs. 1 und 3, 37b Abs. 1 WpHG die Berufung auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten nicht ausschließe. Die Vorschriften dienten vornehmlich dem Vermögensschutz der Anleger, der aber durch das Fehlen einer bewussten Entscheidung nicht berührt werde. Die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten setze aber voraus, dass der Schädiger bei rechtmäßigem Verhalten denselben Erfolg herbeigeführt hätte. Es genüge nicht, dass er ihn hätte herbeiführen können. IV. Beschlusserfordernis Bevor auf die vom Bundesgerichtshof angedeutete Möglichkeit eines rechtmäßigen Alternativverhaltens näher eingegangen werden soll, gilt es zunächst, der gedanklich vorgeschalteten Frage nachzugehen, ob eine solche 10) 11)

12)

13)

14)

BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 33 = ZIP 2013, 1165. BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 34 = ZIP 2013, 1165: „Wenn es für die Befreiung nach § 15 III WpHG nur an einer bewussten Entscheidung über den Aufschub fehlt, die Voraussetzungen des § 15 III 1 WpHG im Übrigen aber eingehalten sind, […]“. Vgl. Herfs, Weiter im Blindflug – Zur Ad-hoc-Pflicht bei gestreckten Geschehensabläufen aus Sicht der Praxis, DB 2013, 1650, 1653; zust. Ekkenga, NZG 2013, 1081, 1083 mit Fn. 18; Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 413. So auch das Verständnis von Brellochs, Zur Ad-hoc-Publizität bei gestreckten Sachverhalten, ZIP 2013, 1170, 1173; Klöhn, ZHR 178 (2014), 55, 95; zu Unrecht allerdings für eine genau gegenläufige Positionierung des BGH zum Konzept der Legalausnahme F. A. Schäfer in: Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 3. Aufl. 2014, § 15 Rz. 35c. Vgl. dazu und zum Folgenden BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 33 ff. = ZIP 2013, 1165; ebenso bereits OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.4.2009 – 20 Kap 1/08, NZG 2009, 624, 635 ff. = ZIP 2009, 962.

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Beschlusspflicht überhaupt besteht. Der Wortlaut des § 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG sieht ein solches Erfordernis nicht vor, doch hat die bislang h. M. das starke systematische Argument für sich, dass der Emittent die Gründe für die Befreiung zusammen mit der Mitteilung nach § 15 Abs. 3 Satz 4 WpHG der BaFin unter Angabe des Zeitpunktes der Entscheidung über den Aufschub der Veröffentlichung mitzuteilen hat.15) Da der Zeitpunkt und die Gründe einer Entscheidung nur dann angegeben werden können, wenn sie auch tatsächlich getroffen wurde, spricht viel dafür, dass der Gesetzgeber von einem Beschlusserfordernis ausgeht.16) Das Wortlautargument spricht deshalb – entgegen den Befürwortern einer Legalausnahme – tendenziell eher für ein Beschlusserfordernis, weil die Wortlautauslegung sich keineswegs darin erschöpft, den einzelnen Satzbestandteil einer Vorschrift auszudeuten, sondern stets die Gesamtvorschrift in den Blick zu nehmen ist.17) Diese Deutung findet auch in der Regierungsbegründung zum AnSVG eine Bestätigung, in der ausdrücklich von der „neu eingeführten Möglichkeit der Entscheidung des Emittenten über einen Aufschub der Veröffentlichung“ die Rede ist.18) Geradezu selbstverständlich haben Wissenschaft und Praxis diese Vorgabe schon terminologisch dadurch umgesetzt, dass künftig durchgängig von einer „Selbstbefreiung“ gesprochen wurde.19) Schließlich weist auch der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 der Marktmissbrauchsrichtlinie in diese Richtung, wenn dort in Satz 1 festgestellt wird, dass der Emittent die Veröffentlichung auf eigene Verantwortung aufschieben dürfe,20) und überdies in Satz 2 eine Verpflichtung des Emittenten vorgesehen wird, die zuständige Behörde unverzüglich von „dieser Entscheidung“ zu unterrichten.21) Diese Vorgabe strahlt im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auf das Verständnis der natio-

15)

16) 17)

18) 19) 20) 21)

Als für die Auslegung nicht maßgeblich erweist sich – entgegen verbreiteter Auffassung – der Wortlaut des § 8 Abs. 5 WpAIV (vgl. dazu aber BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 59). Aus Gründen der Normenhierarchie kann eine Verordnung nicht zur Auslegung des Gesetzestextes herangezogen werden. Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 413. Zutr. Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 414 unter Verweis auf BGH, Urt. v. 31.10.1995 – 1 StR 527/95, BGHSt 41, 285, 286; siehe auch Widder, Befreiung von der Ad-hoc-Publizität ohne Selbstbefreiungsbeschluss?, BB 2009, 967, 971. RegE Begr. AnSVG, BT-Drucks. 15/3174, S. 35; siehe dazu auch Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 414. Widder, BB 2009, 967, 970. Vgl. dazu Pfüller in: Fuchs, WpHG, 2009, § 15 Rz. 345. Ausf. dazu Groß in: FS für U. H. Schneider, 2011, S. 385, 389; Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 414; Pattberg/Bredol, NZG 2013, 87 f.

Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung 335

nalen Vorschrift aus, zumal der Gesetzgeber § 15 Abs. 3 WpHG dem Vorbild der Richtlinienvorgabe nachgebildet hat.22) Die gegen dieses bislang vorherrschende Verständnis vorgebrachten Einwände sind in erster Linie praktischer Natur, doch ist nicht zu verkennen, dass diese praktischen Belange erhebliches Gewicht haben. Tatsächlich erweist sich ein solches Beschlusserfordernis nämlich als problematisch, wenn die Organvertreter des Emittenten davon ausgehen, dass keine Insiderinformation vorliegt, und deshalb für eine Selbstbefreiung keinen Handlungsbedarf sehen.23) Durch die Ausdehnung des Begriffs der Insiderinformation auch auf Zwischenschritte von geringerem Wahrscheinlichkeitsgrad (siehe oben unter II) ist diese Gefahr der Fehleinschätzung ganz erheblich angewachsen,24) so dass es bedenklich erscheint, in diesen Fällen automatisch einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 WpHG anzunehmen, selbst wenn die Voraussetzungen einer Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG gegeben sind. Gerade das Fallmaterial jüngerer Zeit belegt,25) dass die an einen solchen Verstoß anknüpfende Schadensersatzfolge der §§ 37b, 37c WpHG exorbitante Ausmaße annehmen kann.26) Die Unternehmen können sich vor dieser Folge zwar schützen, indem sie vorsorglich Vorratsbeschlüsse zur Selbstbefreiung treffen,27) doch erweist sich dieser Selbstschutz als aufwändige verfahrensrechtliche Komplikation und überdies als lückenhaft, weil er nur dann eingreift, wenn das Vorliegen einer Insiderinformation erkannt wird.28) Wird eine solche Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen, versagt dieser Schutz. Zur Abwendung der Schadensersatzfolge bleibt dann nur noch (aber immerhin) der in §§ 37b Abs. 2, 37c Abs. 2 WpHG enthaltene Filter der Beschränkung auf

22) 23) 24) 25) 26) 27)

28)

U. H. Schneider/Gilfrich, BB 2007, 53, 54. Assmann in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, § 15 Rz. 165c. Siehe auch F. A. Schäfer in: Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 3. Aufl. 2014, § 15 Rz. 35c. Vgl. etwa den VW/Porsche-Fall – dazu J. Koch, Wissenszurechnung aus dem Aufsichtsrat, ZIP 2015, 1757. Zutr. Klöhn in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 Rz. 315: massive Zufallsgeschenke an einzelne Anleger; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 453 f. Zu Recht für die Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise Herfs, DB 2013, 1650, 1655; Ihrig in: VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S. 113, 131 f.; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 456 ff.; Harbarth, ZIP 2005, 1898, 1907; S. H. Schneider, BB 2005, 897, 900 f.; Pattberg/Bredol, NZG 2013, 87, 88 f.; a. A. Gunßer, Ad-hocPublizität bei Unternehmenskäufen und –übernahmen, 2008, S. 87 f.; Gunßer, Ad-hocVeröffentlichungspflicht bei zukunftsbezogenen Sachverhalten, NZG 2008, 855, 856. Assmann in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, § 15 Rz. 165c.

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Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, der allerdings durch die ebenfalls in diesen Vorschriften enthaltene Beweislastumkehr teilweise entwertet wird. Damit gelangt der Rechtsanwender an eine der besonders schwierigen Stellen der Rechtsordnung, in denen sich das vom Gesetz angeordnete Verfahren mit den praktischen Belangen nur schwer in Einklang bringen lässt und es nun das Schiff der juristischen Beurteilung zwischen der Skylla und Charybdis von Gesetzesgehorsam und praxistauglichen Lösungen hindurchzunavigieren gilt. Die Befürworter einer Legalausnahme versuchen, dieses Spannungsverhältnis mit der Behauptung aufzulösen, schon der Wortlaut des § 15 Abs. 3 Satz 4 WpHG erweise sich als nicht aussagekräftig, da er nur von dem Regelfall eines Beschlusses ausgehe.29) Bei genauerer Betrachtung erscheint die Überzeugungskraft dieses Arguments aber schwach, weil sich zum einen diese vermeintliche Beschränkung auf den Regelfall weder im Wortlaut noch in den Gesetzesmaterialien wiederfindet und es zum anderen eigentümlich erscheint, dass der Emittent sich selbst seiner Mitteilungspflicht gegenüber der BaFin soll entziehen können, indem er die Beschlussfassung vermeidet. Auch der Verweis auf das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG zwingt nicht zum Verständnis als Legalausnahme,30) da es einer Analogie nicht bedarf, wenn die systematische Auslegung zu einem klaren Ergebnis gelangt.31) Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, das Spannungsverhältnis zwischen wörtlich-systematischer Auslegung und den i. R. der teleologischen Auslegung zu berücksichtigenden Belangen der Praxis zu einer Seite hin aufzulösen.32) Bevor diese schwierige Entscheidung getroffen wird, empfiehlt es sich allerdings, die Belastbarkeit und Tragweite des vom Bundesgerichtshof aufgezeigten Weges über das rechtmäßige Alternativverhalten nachzuspüren, weil sich damit möglicherweise das Gewicht der teleologi29) 30) 31) 32)

So etwa Klöhn in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 Rz. 317. So aber Zimmer/Kruse in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 15 WpHG Rz. 54; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 453. Zutr. Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 414. Der Konflikt kann nicht ohne weiteres als Konflikt der Auslegungskriterien Wortlaut/ Systematik vs. Teleologie umschrieben werden, da zum einen schon der Wortlaut mehrdeutig ist, zum anderen aber auch der teleologische Befund nicht derart eindeutig zugunsten eines Beschlusserfordernisses ausfällt, wie es zum Teil dargestellt wird. Schließlich gewährleistet nur das Beschlusserfordernis kritische und eigenverantwortliche Selbstüberprüfung, die i. S. des Marktmissbrauchsrechts sicher wünschenswert ist (vgl. dazu U. H. Schneider/Gilfrich, BB 2007, 53, 55; Widder, BB 2009, 967, 971). Aufgrund der sogleich darzustellenden teleologischen Verschiebung soll auf eine weitere Präzisierung des teleologischen Befundes hier verzichtet werden.

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schen Argumente verschieben kann: Sofern die praktischen Folgen einer wortlautgetreuen Auslegung hinreichend über die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens abgefedert werden können, vermindert sich die Notwendigkeit zur richterrechtlich-teleologischen Korrektur. Die endgültige Stellungnahme in diesem Streit soll deshalb noch vorerst zurückgestellt werden (siehe dazu unter V 5). Eine solche Vorgehensweise empfiehlt sich auch deshalb, weil sich die Grundkoordinaten der bisherigen juristischen Beurteilung ohnehin in absehbarer Zeit mit dem Inkrafttreten der neuen EU-Marktmissbrauchsverordnung am 3. Juli 2016 merklich verschieben werden.33) In Art. 17 Abs. 4 dieser Richtlinie wird die Selbstbefreiung folgendermaßen umschrieben: „Ein Emittent oder ein Teilnehmer am Markt für Emissionszertifikate kann auf eigene Verantwortung die Offenlegung von Insiderinformationen für die Öffentlichkeit aufschieben, sofern sämtliche nachfolgenden Bedingungen erfüllt sind.“

Spätestens mit dieser Vorgabe lässt sich ein Verständnis als Legalausnahme nicht mehr in Einklang bringen,34) so dass die Hoffnungen auf Verfahrenserleichterung, die sich an diese Konstruktion knüpfen, ohnehin nicht mehr von langer Dauer sein können. V. Lösung über rechtmäßiges Alternativverhalten 1. Grundsätzliche Anwendbarkeit des Rechtsinstituts auch im Kapitalmarktrecht Versucht man deshalb, die Deutungsvorgabe des II. Zivilsenats zur Anwendung des § 15 Abs. 3 WpHG in die allgemeinen Grundsätze des rechtmäßigen Alternativverhaltens einzuordnen, so stößt man allerdings auf spürbaren Widerstand, der sich namentlich daraus erklärt, dass es sich bei diesem Institut nicht um ein trennscharf konturiertes Instrument handelt, sondern um ein eher diffuses dogmatisches Gebilde. Seine Anwendung wird in der Kommentarliteratur unter den schon aus dem Bereicherungsrecht berüchtigten Vorbehalt gestellt, dass sich „eine schematische

33)

34)

Vgl. dazu Krause, Kapitalmarktrechtliche Compliance: neue Pflichten und drastisch verschärfte Sanktionen nach der EU-Marktmissbrauchsverordnung, CCZ 2014, 248 ff.; Seibt/Cziupka, Rechtspflichten und Best Practices für Vorstands- und Aufsichtsratshandeln bei der Kapitalmarktrecht-Compliance, AG 2015, 93 ff. So auch das Verständnis der ESMA, Discussion Paper, ESMA’s policy orientations on possible implementing measures under the Market Abuse Regulation, v. 14.11.2013, ESMA/2013/1649, S. 60 Rz. 271; vgl. auch Krause, CCZ 2014, 248, 255.

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Behandlung verbiete“.35) Zur genaueren Ausformung wird auf den „Schutzzweck der verletzten Norm“ verwiesen,36) was zumeist keine größere Vorhersehbarkeit der Rechtsfindung gewährleistet. Als gedanklichen Ausgangspunkt kann man zunächst festhalten, dass die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens eine anerkannte Konstruktion des allgemeinen Schadensrechts ist, das grundsätzlich auch für das Kapitalgesellschafts- und Kapitalmarktrecht Gültigkeit beansprucht. Es handelt sich dabei nach zutreffender Auffassung um einen Unterfall der hypothetischen Kausalität,37) der in der Kommentarliteratur folgendermaßen umschrieben wird: Der Schädiger berufe sich darauf, er habe sich zwar rechtswidrig verhalten, er hätte aber den Schaden entweder durch normgerechtes Verhalten herbeiführen dürfen oder dieser wäre auch bei ordnungsgemäßem Verhalten eingetreten.38) Überträgt man diese Sichtweise auf den Fall der Selbstbefreiung, so wird allerdings schon deutlich, dass es sich dabei um zwei sehr unterschiedliche Argumentationswege handelt, die sich auf die Lösung ganz erheblich auswirken: Denn gerade bei der Entscheidung eines Kollegialorgans ist es ein ganz erheblicher Unterschied, ob eine entsprechende Entscheidung tatsächlich getroffen worden wäre oder ob sie nur hätte getroffen werden können. In der zweiten Lesart läge die Lösung über das rechtmäßige Alternativverhalten in der Tat sehr nah bei den Stimmen, die schon bislang auf einen Beschluss ganz verzichten wollen: Es käme allein darauf an, ob die Voraussetzungen eines solchen Beschlusses vorgelegen hätten, nicht aber darauf, ob er tatsächlich gefasst worden wäre. Tatsächlich hat der Bundesgerichtshof aber schon in seinem Rückverweisungsbeschluss aus dem Jahr 2013 festgestellt, dass er zumindest für die hier in Frage stehende Konstellation die bloße Berufung auf eine Freistellungsmöglichkeit nicht genügen lässt, sondern es darauf ankomme, dass der Schädiger bei recht-

35) 36)

37) 38)

Oetker in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 249 Rz. 221. BGH, Urt. v. 24.10.1985 – IX ZR 91/84, BGHZ 96, 157, 173 = NJW 1986, 576; BGH, Urt. v. 25.11.1992 – VIII ZR 170/91, BGHZ 120, 281, 286 = NJW 1993, 520; BGH, Urt. v. 3.2.2000 – III ZR 296/98, BGHZ 143, 362, 365 = NVwZ 2000, 1206; BGH, Urt. v. 9.3.2012 – V ZR 156/11, NJW 2012, 2022 Rz. 17; Ekkenga/Kuntz in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2014, Vor § 249 Rz. 223; Oetker in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 249 Rz. 221. Vgl. Ekkenga/Kuntz in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2014, Vor § 249 Rz. 223 m. w. N. auch zur Gegenauffassung. Oetker in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 249 Rz. 217.

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mäßigem Verhalten denselben Erfolg herbeigeführt hätte. Es genüge nicht, dass er ihn hätte herbeiführen können.39) Diese Vorgabe liegt auch auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung, die eine Entlastung über die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens nur dort zulässt, wo tatsächlich nachgewiesen werden kann, dass der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre. Als Beleg kann etwa auf eine ähnlich gelagerte Entscheidung vom 12. Dezember 1974 verwiesen werden, in der es um den Verstoß gegen gesetzliche Beschränkungen wirtschaftslenkender Art ging, die nur durch Rechtsverordnung unter Mitwirkung des Parlaments angeordnet werden konnten. Ein Bundesminister hatte ohne eine solche Rechtsverordnung die nachgeordnete Verwaltung zu einem entsprechenden Vorgehen angewiesen und sich auf die Möglichkeit rechtmäßigen Alternativverhaltens mit der Begründung berufen, dass die materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer Rechtsverordnung vorgelegen hätten.40) Der Bundesgerichtshof ist diesem Standpunkt entgegengetreten und hat festgestellt, dass das bloße Vorliegen der materiellen Voraussetzungen nicht genüge, sondern der Nachweis erforderlich sei, dass die Rechtsverordnung tatsächlich erlassen worden wäre.41) Dieser Maßstab ist auch im Kontext des § 15 Abs. 3 WpHG anzulegen. 2. Ausschluss bei Verfahrenserfordernissen? Ist zumindest mit diesen gesteigerten Nachweisanforderungen die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens im Grundsatz auch im Kapitalmarktrecht anzuerkennen, so bleibt doch die schwierige Frage zu beantworten, ob nicht eine der vielzähligen Ausnahmen anzuerkennen ist, bei denen die Berufung mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm dennoch versagt werden muss. Nach h. M. soll das insbesondere dann der Fall sein, wenn grundlegende Verfahrensvorschriften und -garantien verletzt werden.42) Speziell für das Aktienrecht ist diese Ausnahme von der h. M. im Schrifttum in der Tat dahingehend fortgeschrieben worden, dass der

39) 40) 41) 42)

BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 36 = ZIP 2013, 1165. BGH, Urt. v. 12.12.1974 – III ZR 76/70, BGHZ 63, 319, 325 f. = NJW 1975, 491. BGH, Urt. v. 12.12.1974 – III ZR 76/70, BGHZ 63, 319, 325 f. = NJW 1975, 491. BGH, Urt. v. 6.11.1961 – III ZR 143/60, BGHZ 36, 144, 154 = NJW 1962, 583; OLG Oldenburg, Urt. v. 20.5.1988 – 6 U 28/88, VersR 1991, 306; Grüneberg in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, Vor § 249 Rz. 65.

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Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Verfahrensfehlern zumindest im Bereich der Organhaftung von vornherein nicht eröffnet sei.43) Begründet wird das damit, dass anderenfalls gesetzliche oder satzungsmäßige Organisations-, Kompetenz- und Verfahrensnormen ohne die Sanktion der Schadensersatzpflicht leerlaufen könnten.44) Besondere Bedeutung wird dieser Ausnahme namentlich dort beigemessen, wo eine nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats nicht eingeholt worden ist. Geht man davon aus, dass § 15 Abs. 3 WpHG keine Legalausnahme, sondern ebenfalls ein verfahrensrechtliches Zustimmungserfordernis begründet, so könnte nach dieser Schrifttumsauffassung auch hier der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens von vornherein versperrt sein. Dieser Einordnung ist indes aus mehreren Gründen zu widersprechen. Insofern ist zunächst zu betonen, dass es sich bei dem rechtmäßigen Alternativverhalten um ein anerkanntes Instrument des deutschen Schadensrechts handelt. Da das Schadensrecht grundsätzlich auch für das Aktienrecht gilt, muss die Anerkennung dieses Instituts auch hier die Regel, die Nichtanerkennung eine begründungsbedürftige Ausnahme sein.45) Allein mit dem Argument anderenfalls sich eröffnender Sanktionsdefizite kann diese Ausnahme nicht begründet werden. Ebenso wie § 93 Abs. 2 AktG46) sind auch §§ 15, 37b, 37c WpHG kein Sanktionsinstrument gegen die Verletzung innergesellschaftlicher Kompetenzvorschriften, sondern begründen einen Ersatzanspruch, der sich auch auf der Rechtsfolgenseite in allgemeine schadensrechtliche Grundsätze einfügen muss.47) Der Verletzung von Verfahrensvorschriften kann der Aufsichtsrat hinreichend entgegenwirken, 43)

44) 45)

46) 47)

Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 416; Krieger/Sailer-Coceani in: K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 40; Spindler in: MünchKommAktG, 4. Aufl. 2014, § 93 Rz. 174; ebenso für die GmbH OLG München, Urt. v. 17.9.1999 – 23 U 1514/98, NZG 2000, 741, 743; KG, Urt. v. 17.12.2004 – 14 U 226/03, GmbHR 2005, 477, 479. Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 416. Für die grundsätzliche Anerkennung daher auch BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280, 283 ff. = NJW 2003, 358; BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, NJW 2009, 2454 Rz. 42; BGH, Urt. v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, AG 2011, 378 Rz. 17 = ZIP 2011, 766; BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 33 f. = ZIP 2013, 1165; BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 Rz. 14; BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11 (KG), NJW 2013, 3636 Rz. 27 = ZIP 2013, 1712; Ekkenga/Kuntz in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2014, Vor § 249 Rz. 230. Vgl. dazu Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 93 Rz. 50. Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 93 Rz. 50; Zöllner/Noack in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 43 Rz. 16.

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indem er von seiner Personalkompetenz Gebrauch macht. Aus diesen Gründen hat auch der Bundesgerichtshof der genannten Schrifttumsauffassung mittlerweile zumindest für die GmbH eine Absage erteilt.48) Für die AG kann insofern nichts anderes gelten.49) Besonders in dem hier in Frage stehenden Fall einer Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG spricht viel dafür, auf eine Sonderbehandlung von Verfahrensvorschriften zu verzichten. Anders als in dem für das Aktienrecht vornehmlich diskutierten Fall, dass der Vorstand es unterlässt, dem Aufsichtsrat eine Entscheidung zur Zustimmung nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG vorzulegen, handelt es sich bei der Selbstbefreiung nämlich um eine Maßnahme, bei der grundsätzlich nur ein Organ für die Entscheidung zuständig ist, so dass es nicht zu der problematischen Umgehung einer fremden Organzuständigkeit kommen kann. Auch wenn die genaue Zuständigkeitsverteilung im Kontext der Selbstbefreiung noch immer nicht abschließend geklärt ist, so besteht mittlerweile doch weitgehende Einigkeit, dass – sofern man einen Beschluss überhaupt für erforderlich hält50) – es grundsätzlich der Vorstand ist, der für den Erlass der Ad-hoc-Mitteilung zuständig ist und dementsprechend auch über die Selbstbefreiung entscheidet.51) Eine Ausnahme von dieser Regel wird nur da anerkannt, wo es sich um Maßnahmen handelt, die sich im originären Aufgabenbereich des Aufsichtsrats abspielen; in diesem Fall geht die Entscheidung über die Ad-

48)

49)

50) 51)

BGH, Urt. v. 11.12.2006 – II ZR 166/05, NJW 2007, 917 Rz. 12 = ZIP 2007, 268; BGH, 21.7.2008 – II ZR 39/07, NZG 2008, 783 Rz. 17 = ZIP 2008, 1818; vgl. ferner Zöllner/Noack in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 43 Rz. 16; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 43 Rz. 46. So auch Fleischer in: Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 216; ausf. Fleischer, Kompetenzüberschreitungen von Geschäftsleitern im Personen- und Kapitalgesellschaftsrecht, DStR 2009, 1204, 1208 f.; vgl. ferner Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 93 Rz. 50; Altmeppen, Grenzen der Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats und die Folgen ihrer Verletzung durch den Vorstand, in: FS für K. Schmidt, 2009, S. 23, 31 ff.; Haarmann/Weiß, Reformbedarf bei der aktienrechtlichen Organhaftung, DB 2014, 2115, 2116 f. Vgl. dazu die Nachw. zum Streitstand unter III. Vgl. nur BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 59; Groß in: FS für U. H. Schneider, 2011, S. 385, 390 ff.; Kocher/Schneider, Zuständigkeitsfragen im Rahmen der Ad-hocPublizität, ZIP 2013, 1607; Mennicke, NZG 2009, 1059, 1062; Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 416.

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hoc-Mitteilung auf den Aufsichtsrat über.52) Zugleich obliegt ihm dann aber auch die Entscheidung über die Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG,53) so dass es auch hier nicht zu einer Zuständigkeitsspaltung kommt. Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass dem Institut des rechtmäßigen Alternativverhaltens in der Tat auch im Kontext der Selbstbefreiung die Anerkennung nicht zu versagen ist. 3. Kein Ausschluss wegen Handlungsunrechts Daneben hat der Bundesgerichtshof dem Schädiger die Berufung auf das rechtmäßige Alternativverhalten weiterhin auch dann verwehrt, wenn der Schutzzweck der Norm sich nicht allein auf den entstandenen Schaden bezieht, sondern auch ein bestimmtes Verhalten unterbinden will. In diesem Fall sei das rechtmäßige Alternativverhalten unbeachtlich, weil das Handlungsunrecht die Schadensersatzpflicht auslöse.54) Auch diese Ausnahme ist allerdings – wie der Bundesgerichtshof selbst in seinem Beschluss vom 23. April 2013 feststellt – nicht einschlägig. § 15 Abs. 1 WpHG soll das Vermögensinteresse der Anleger schützen; an einer bestimmten Form der Beschlussfassung haben sie kein Interesse.55) Wenn deshalb ein (möglicherweise) erforderlicher Befreiungsbeschluss nicht gefasst wird, die Voraussetzungen für einen Aufschub aber dennoch eingehalten wurden, sind die Schutzzwecke der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung nicht berührt.56) 52)

53)

54) 55) 56)

Habersack in: MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2014, § 116 Rz. 51; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 Rz. 47; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 513; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 456; LeyendeckerLangner/Kleinhenz, Emittentenhaftung für Insiderwissen im Aufsichtsrat bei fehlender Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG, AG 2015, 72, 73; Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 422. Vgl. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2014, § 116 Rz. 51; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 Rz. 47; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 513; Pfüller in: Fuchs, WpHG, 2009, § 15 Rz. 225; Ihrig in: VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S. 113, 131; Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607, 1611; Mülbert in: FS für Stilz, 2014, S. 411, 416 ff., 421 f.; dagegen aber Leyendecker-Langner/Kleinhenz, AG 2015, 72, 74 ff., die allerdings schon eine Wissenszurechnung aus dem Aufsichtsrat in der Regel verneinen; ablehnend wohl auch Assmann in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, § 15 Rz. 50 a. E. Vgl. dazu BGH, Urt. v. 24.10.1985 – IX ZR 91/84, BGHZ 96, 157, 173 = NJW 1986, 576; Schubert in: BeckOK-BGB, 2011, § 249 Rz. 101. BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 34 = ZIP 2013, 1165. BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 34 = ZIP 2013, 1165.

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4. Anforderungen an Nachweis des Alternativverhaltens a) Nachweismöglichkeiten Eröffnet man daher auch dem Emittenten i. R. des § 15 Abs. 3 WpHG die Berufung auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten, schließt sich die Frage an, welche Anforderungen an diesen Einwand zu stellen sind. Anerkannt ist, dass der Gesellschaft insofern die volle Beweislast obliegt, dass der Schaden auch bei Beachtung der Verfahrens- und Kompetenzordnung eingetreten wäre.57) Holger Fleischer bezeichnet diesen Beweis für den Fall, dass etwa die Zuständigkeit eines anderen Organs übergangen worden ist, als „probatio diabolica“, die aber doch geführt werden könne.58) Es bedürfe dazu des Nachweises, dass das zuständige, aber übergangene Organ der betreffenden Maßnahme mehrheitlich zugestimmt hätte.59) Insofern könne die bisherige Verwaltungs- und Entscheidungspraxis dieses Organs berücksichtigt werden; daneben könne aber auch eine Zeugenvernehmung von Gesellschaftern oder Organmitgliedern aufschlussreich sein.60) b) Entscheidungspraxis und Zeugenvernehmung Speziell in der hier interessierenden Konstellation erscheinen diese Nachweismöglichkeiten indes gleichermaßen problematisch. Auf die bisherige Verwaltungs- und Entscheidungspraxis eines Organs wird man i. R. des § 15 Abs. 3 WpHG oft schon deshalb nicht abstellen können, weil es bei den hier in Frage stehenden kursrelevanten Ereignissen oft an einer „Praxis“ fehlen wird. Ein Herr Schrempp schmeißt bei Daimler eben nicht alle Tage die Brocken hin. Aber auch die dann alternativ denkbare Möglichkeit der Zeugenvernehmung ist mit Skepsis zu betrachten, weil anders als etwa in einem Schadensersatzprozess gegen ein ausgeschiedenes Vorstandsmitglied sämtliche Beteiligten in dieser Konstellation im Lager des Emittenten stehen. In einem Schadensersatzprozess eines Anlegers auf der Grundlage der §§ 37b, 37c WpHG müssten die Vorstandsmitglieder vernommen werden, deren Aufgabe es gerade ist, Schaden (und damit auch

57) 58) 59) 60)

Vgl. statt aller Fleischer, DStR 2009, 1204, 1208 ff. Fleischer, DStR 2009, 1204, 1209; Fleischer in: Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 216. Belange des Minderheitenschutzes stehen einer solchen Deutung nicht entgegen – vgl. auch dazu Fleischer, DStR 2009, 1204, 1209. Fleischer, DStR 2009, 1204, 1209.

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Schadensersatzansprüche) von der Gesellschaft abzuwehren. Die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen ist deshalb mit Vorsicht zu genießen. c) Stimmverhalten des verantwortungsvoll handelnden Organmitglieds Aus diesem Grund ist einer dritten Nachweismöglichkeit, die von Fleischer ebenfalls herangezogen wird, größeres Gewicht beizumessen, nämlich das Stimmverhalten eines verantwortungsvoll handelnden Organmitglieds.61) Es ist also im Kontext des § 15 Abs. 3 WpHG die Frage zu stellen, wie die Mitglieder des zuständigen Organs bei Beachtung der ordentlichen Sorgfalt die Selbstbefreiungsentscheidung getroffen hätten. Damit rückt die Anwendung des rechtmäßigen Alternativverhaltens allerdings in deutliche Nähe zur Konstruktion einer Legalausnahme, weil es damit letztlich – entgegen der ausdrücklichen Klarstellung des Bundesgerichtshofs62) – um die Frage geht, ob der Beschluss hätte gefasst werden dürfen, ob also seine materiellen Voraussetzungen vorlagen. Wie groß die verbleibenden Unterschiede zwischen diesen beiden Konstruktionen sich letztlich darstellen, hängt im Wesentlichen davon ab, ob man die Selbstbefreiung als eine rechtlich gebundene Entscheidung ansieht, bei der dem Entscheidungsorgan keinerlei Entscheidungsspielräume verbleiben, oder um eine unternehmerische Entscheidung, die nicht uneingeschränkt überprüfbar ist. Wer dem Entscheidungsorgan insofern Beurteilungs- oder Ermessensspielräume zugesteht, wird ein rechtmäßiges Alternativverhalten eher abzulehnen haben, wenn auch eine Ablehnung der Selbstbefreiung noch von diesem Spielraum gedeckt wäre. Wer die Entscheidung dagegen für gerichtlich voll überprüfbar hält, wird letztlich auch beim rechtmäßigen Alternativverhalten nur ein bestimmtes Verhalten als pflichtgemäß ansehen können. Welches Verhalten das ist, darüber hat das Gericht zu entscheiden. d) Beurteilungsspielräume im Rahmen des § 15 Abs. 3 WpHG Damit berührt sich die Untersuchung an dieser Stelle mit der im Kapitalgesellschaftsrecht noch weitgehend ungeklärten und ausgesprochen umstrittenen Frage nach dem Bestehen etwaiger Beurteilungsspielräume i. R. gesellschaftsrechtlicher Entscheidungsabläufe. Sie kann hier nicht umfassend dargestellt, sondern nur grob skizziert werden; im Übrigen muss auf 61) 62)

Fleischer, DStR 2009, 1204, 1209. BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NJW 2013, 2114 Rz. 36 = ZIP 2013, 1165.

Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung 345

frühere Ausführungen verwiesen werden.63) Eine Meinungsgruppe bejaht solche Spielräume auch i. R. des § 15 Abs. 3 WpHG und bemisst sie am Maßstab der Business Judgment Rule nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, um speziell im Hinblick auf etwaige Haftungsfolgen der handelnden Vorstandsmitglieder der besonderen Unsicherheit bei der Subsumtion weit gefasster gesetzlicher Tatbestandsmerkmale Rechnung zu tragen.64) So nachvollziehbar dieses Anliegen ist, so vernachlässigt diese Sichtweise doch den Umstand, dass es bei der Figur eines Beurteilungs- oder Ermessensspielraums nicht allein um Haftungsfragen geht, sondern – und darin liegt bekanntlich der verwaltungsrechtliche Ursprung dieser Figur – zunächst um die Frage, ob die Entscheidung an sich in ihrer Rechtmäßigkeit und ihrem Bestand der gerichtlichen Kontrolle unterworfen ist.65) Der paradigmatische Anwendungsfall dieser Diskussion ist der Streit um die Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats nach den Grundsätzen der ARAGGarmenbeck-Entscheidung des Bundesgerichtshofs.66) Wer hier dem Aufsichtsrat einen breiten Beurteilungsspielraum zubilligt, erreicht das – in der Tat verfolgenswerte – Ziel, die Haftungsrisiken seiner Mitglieder zu reduzieren. Zugleich führt es aber dazu, dass ein Gericht die Nichtverfolgungsentscheidung nur noch dann korrigieren kann, wenn sie außerhalb der weit gesteckten Grenzen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt. Diese Konsequenz ist nicht erstrebenswert, weil sie dazu führt, dass ein Rückfall in die frühere Unsitte pauschaler Nichtverfolgung droht.67) In der Praxis findet diese Folge schon jetzt Niederschlag in den verbreiteten ARAGGutachten, mit denen die Zulässigkeit der Nichtverfolgung begründet werden soll.68) Die richtige Lösung liegt hier darin, die Bestands- und Haftungsentscheidung voneinander zu trennen, indem man die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verneint, den Unsicherheiten in der Subsumtion aber anhand ähnlicher Maßstäbe auf Verschuldensebene Rechnung 63)

64)

65) 66) 67) 68)

Vgl. dazu insb. J. Koch, Keine Ermessensspielräume bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern, AG 2009, 93, 97 ff.; J. Koch, Die schleichende Erosion der Verfolgungspflicht nach ARAG/Garmenbeck, NZG 2014, 934, 938 ff. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 12.2.2009 – 2 Ss-OWi 514/08, NJW 2009, 1520, 1521 = ZIP 2009, 563; Klöhn in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 Rz. 221; Klöhn, ZHR 178 (2014), 55, 85 ff.; a. A. Zimmer in: FS für Schwark, 2009, S. 669, 671 f. Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 93 Rz. 13; J. Koch, AG 2009, 93, 97 ff.; J. Koch, NZG2014, 934, 938 f. Zusammenfassende Darstellung bei J. Koch, NZG 2014, 934 ff. J. Koch, NZG 2014, 934 ff. m. w. N. Vgl. dazu Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 111 Rz. 11; Bachmann, Die Geschäftsleiterhaftung im Fokus von Rechtsprechung und Rechtspolitik, BB 2015, 771, 772.

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trägt.69) Diese Möglichkeit ist auch im Bereich der Ad-hoc-Publizität eröffnet, da §§ 37b, 37c WpHG ebenfalls eine verschuldensabhängige Haftung konstituieren. Im Rahmen des § 15 Abs. 3 WpHG erscheint eine solche Trennung nicht in gleicher Weise dringlich, weil aufgrund des besonders engen Zeitrahmens einer Selbstbefreiung eine gerichtliche Korrektur der Entscheidung ohnehin nur schwer vorstellbar ist. Eine Bestandskontrolle durch ein Gericht findet daher regelmäßig nicht statt, so dass ein Beurteilungsspielraum seine originäre verwaltungsrechtliche Funktion, Entscheidungsbefugnisse des sachnahen und kompetenten Entscheidungsträgers vor einer gerichtlichen Korrektur zu bewahren,70) ohnehin nicht erfüllen kann. Aus Gründen der systematischen Einheit der Rechtsanwendung sprechen indes auch hier die besseren Argumente dafür, eine Trennung von Bestand und Haftung vorzunehmen und aus diesem Grund einen Beurteilungsspielraum zu verneinen. Das muss zwangsläufig auch gedanklicher Ausgangspunkt all derjenigen Autoren sein, die § 15 Abs. 3 WpHG als eine automatisch eingreifende Legalausnahme auffassen,71) da es schlechterdings nicht zusammenpasst, auf der einen Seite anzunehmen, dass der Tatbestand ohne eine Entscheidung der Organmitglieder erfüllt sein kann, auf der anderen Seite aber von einem Beurteilungsspielraum der Organmitglieder auszugehen, innerhalb dessen Belange des Emittenten gegen die Offenlegungsinteressen des Marktes abzuwägen sind.72) Lars Klöhn hat allerdings versucht, diese beiden Konzepte in Gestalt eines zeitlich gestaffelten Modells miteinander in der Weise in Einklang zu bringen, dass dem Vorstand eine optionale Einschätzungsprärogative eingeräumt wird, die aber dann entfallen und von der Legalausnahme ersetzt werden soll, wenn er von dieser Option keinen Gebrauch macht und sein Ermessen nicht ausübt.73) Ein solches Staffelmodell findet aber im Gesetzestext keinen Ausdruck und ist – soweit ersichtlich – auch in der sonstigen Rechtsordnung ohne Vorbild. Insbesondere entspricht es nicht dem verwaltungsrechtlichen Ursprungsmodell. Danach wird ein 69) 70) 71) 72) 73)

Ausf. Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 93 Rz. 13, 43 ff., § 111 Rz. 11. J. Koch, AG 2009, 93, 96; vgl. dazu aus dem verwaltungsrechtlichen Schrifttum statt aller Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 7 Rz. 31 ff. Vgl. dazu die Nachw. oben in Fn. 9. Konsequent für volle gerichtliche Kontrolle deshalb auch Zimmer in: FS für Schwark, 2009, S. 669, 671 f. Klöhn, ZHR 178 (2014), 55, 85 ff., 94 ff.; vgl. auch Klöhn in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 Rz. 221 einerseits und Rz. 315 ff. andererseits.

Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung 347

Beurteilungsspielraum in der hier am ehesten vergleichbaren Fallgruppe der Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen74) eröffnet, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Entscheidungsträger bei einer komplexen Würdigung über größere Sachnähe und gesteigerten Sachverstand verfügt und ihm deshalb ein Kompetenzvorsprung zugestanden wird, aufgrund dessen das Gericht auf eine eigene Kontrolle verzichtet.75) Zugleich liegt in einer solchen Kompetenzzuweisung aber auch ein Auftrag zur Ermessensausübung, der im Falle seiner Nichtbeachtung als Ermessensnichtgebrauch einen Entscheidungsfehler begründet.76) Dass in diesem Fall schlicht eine gesetzliche Lösung greifen soll, ist nicht möglich, weil ein Beurteilungsspielraum gerade da eingeräumt wird, wo es eben nicht die eine richtige Lösung gibt, sondern es einer Einschätzung des zuständigen Entscheidungsträgers bedarf. Auch im zeitlichen Ablauf ist das Modell Klöhns kaum umsetzbar, weil es in dem Zeitpunkt, in dem die Insiderinformation entsteht, keine klare juristische Einordnung erlaubt. Da der Vorstand seine Selbstbefreiungsentscheidung nicht zeitgleich mit dem Entstehen der Information treffen wird, müsste zunächst die Legalausnahme eingreifen, die dann aber wieder korrigiert würde, wenn der Vorstand sein vermeintliches Ermessen ausübt. Das führt zu Rechtsunsicherheit und findet in der Rechtsordnung keine Grundlage. Gerade diese Kombination von Legalausnahme und Beurteilungsspielraum belegt aber auch, worum es den Vertretern eines Beurteilungsspielraums eigentlich geht: Das Ziel dieser Konstruktion ist es nicht, Entscheidungsspielräume zu schützen, sondern Organmitglieder vor Haftungsfolgen zu bewahren, wenn ihnen bei der Subsumtion unter abstrakte Tatbestandsmerkmale Fehler unterlaufen.77) Diese Aufgabe ist – entsprechend der ISION-Entscheidung des Bundesgerichtshofs78) – aber nicht der Figur eines Beurteilungsspielraums zugewiesen, sondern der Verschuldensebe-

74) 75)

76) 77) 78)

Zu weiteren Fallgruppen vgl. etwa Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. § 7 Rz. 37 ff. Ausf. zu den verschiedenen Geltungsgründen von Beurteilungsspielräumen (bezogen auf das Kartellrecht) J. Koch, Beurteilungsspielräume bei der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG, ZWeR 2005, 380 ff. Vgl. dazu etwa BVerwG, Urt. v. 13.12.1962 – III C 75.59, BVerwGE 15, 196, 199; BVerwG, Urt. v. 22.1.1969 – VI C 52.65, BVerwGE 31, 212, 213. Vgl. zu diesem Anliegen Spindler in: FS für Canaris, 2007, Bd. II, S. 403 ff. BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, AG 2011, 876 Rz. 16 = ZIP 2011, 2097.

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ne, wo es dann in der Tat möglich ist, ähnliche Maßstäbe wie in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG heranzuziehen.79) Verneint man deshalb einen Beurteilungsspielraum i. R. des § 15 Abs. 3 WpHG, so bestehen zur Annahme einer Legalausnahme zumindest im Hinblick auf die Schadensersatzfolge keine nennenswerten Unterschiede.80) Der Fall der Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG unterscheidet sich damit in diesem Punkt maßgeblich von sonstigen typischen Fallgestaltungen des rechtmäßigen Alternativverhaltens, in denen ein anderer Entscheidungsträger (etwa ein Patient bei der ärztlichen Aufklärung oder eine Verwaltungsbehörde mit gerichtlich nicht überprüfbaren Ermessensspielräumen) eine eigenständige Entscheidung zu treffen hat. Zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen die beiden Konstruktionen im Wesentlichen nur dann, wenn tatsächlich der Nachweis geführt werden kann, dass die Organträger im konkreten Fall eine pflichtmäßig gebotene Selbstbefreiung (pflichtwidrig) nicht ausgesprochen hätten – ein eher unwahrscheinliches Szenario. 5. Erfordernis teleologischer Korrektur des Beschlusserfordernisses Kehrt man vor diesem Hintergrund zu der oben noch offengelassenen Frage (vgl. dazu IV) zurück, wie hinsichtlich des Beschlusserfordernisses das Spannungsverhältnis zwischen den Ergebnissen der (europäischen und nationalen) wörtlich-systematischen Auslegung einerseits und den i. R. der teleologischen Auslegung zu berücksichtigenden Praxisbelangen andererseits aufzulösen ist, so ist festzustellen, dass zumindest aus zivilrechtlicher Sicht eine richterrechtliche Korrektur aus teleologischen Gründen nicht zwingend erforderlich erscheint.81) Der vom Bundesgerichtshof aufgezeigte Weg über das rechtmäßige Alternativverhalten mag zwar auf den ersten Blick konstruktiv umweghaft erscheinen, aber dieser Umweg führt doch über juristisch gut gesicherte Pflastersteine, während die schlanker anmutende Lösung über eine Legalausnahme schneller zum Ziel kommt, dafür aber einen Weg beschreiten muss, der sich als deutlich 79) 80)

81)

Vgl. dazu Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 93 Rz. 19; Spindler, Organhaftung in der AG – Reformbedarf aus wissenschaftlicher Perspektive, AG 2013, 889, 893. So auch Brellochs, ZIP 2013, 1170, 1173; Ph. Koch in: Veil, Europäisches Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2014, § 19 Rz. 105 ff.; siehe auch F. A. Schäfer in: Marsch-Barner/ Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 3. Aufl. 2014, § 15 Rz. 35d. Zur ohnehin zu konstatierenden Ambivalenz des teleologischen Befundes vgl. schon die Nachw. in Fn. 32.

Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung 349

weniger trittfest erweist. Was verbleibt, ist ein eher terminologisches Unbehagen, das sich daran entzünden mag, dass ein herkömmlicher betriebsinterner Entscheidungsprozess derart pflichtenbeladen wird, dass sich die Mitglieder des Entscheidungsträgers in einem ständigen Dauerkonflikt befinden, dessen Haftungsfolgen erst auf der letzten Stufe der juristischen Prüfung über die Ausflucht eines rechtmäßigen Alternativverhaltens noch abgewehrt werden können. Dieses Unbehagen ist keineswegs unberechtigt, liegt aber weniger in der Auslegung des § 15 Abs. 3 WpHG begründet als in der weitreichenden Interpretation des § 15 Abs. 1 WpHG. Zu Recht hat Ekkenga die Vorstellung als eigentümlich kritisiert, dass sich „die Akteure ihre unverzichtbaren Arbeitsbedingungen für jede Entscheidungsaufgabe aufs Neue durch einen Akt der Selbstbefreiung nach § 15 III WpHG (oder, auf haftungsrechtlicher Ebene, durch eine Exkulpation nach § 37b II WpHG) gewissermaßen freischaufeln müssen.“ Nimmt man dieses Ergebnis aufgrund der Festlegung des Europäischen Gerichtshofs als vorgegebene Prämisse hin, so sollte man auch mit dem terminologischen Unbehagen an der Feststellung eines pflichtwidrigen Verhaltens auf der Ebene der Selbstbefreiung leben können.82) 6. Folgen für das Bußgeldverfahren Kann damit also zumindest auf zivilrechtlicher Ebene ein Ergebnis erzielt werden, dass den berechtigten Anliegen der Befürworter einer Legalausnahme zumindest sehr nahekommt, bleibt die Frage zu beantworten, ob auch den sanktionsrechtlichen Folgen eine ähnliche Praxisverträglichkeit bescheinigt werden kann. Die einschlägige Bußgeldfolge findet sich insofern in § 39 Abs. 2 Nr. 2 lit. c, Nr. 5 lit. a, Nr. 6 WpHG. Danach handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder leichtfertig entgegen § 15 Abs. 3 Satz 4 WpHG eine Mitteilung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vollständig macht, wer entgegen § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG eine Veröffentlichung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vollständig vornimmt oder entgegen § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG eine Information oder eine Bekanntmachung nicht oder nicht rechtzeitig übermittelt. Dabei wird nach § 30 Abs. 1

82)

Zu Recht stellt Ekkenga, NZG 2013, 1081, 1083 fest, dass sich in den meisten Fällen die Einordnung der Selbstbefreiung als Beschluss oder Legalausnahme ohnehin nicht auswirken wird, weil spätestens bei den Folgevoraussetzungen des § 15 Abs. 3 WpHG (Mitteilung der Befreiungsgründe, Dokumentation, Sicherung der Vertraulichkeit) ein aktives Handeln des Entscheidungsträgers erforderlich werden wird.

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Nr. 1 OWiG das Verhalten des Vorstands der AG zugerechnet. Wer davon ausgeht, dass eine Pflichtverletzung in diesen Fällen grundsätzlich vorliegt und nur die kausale Schadensentstehung über die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens widerlegt werden kann, der muss spätestens an dieser Stelle die Konsequenz ziehen und auch einen ordnungswidrigkeitenrechtlich relevanten Verstoß i. S. dieser Vorschriften annehmen. Auch diese Folge erscheint indes hinnehmbar, weil die praktischen Folgen auf anderer Ebene aufgefangen werden. Insofern bietet sich in einem ersten Schritt die Möglichkeit an, auch hier die Grundsätze rechtmäßigen Alternativverhaltens heranziehen, die grundsätzlich auch im Strafrecht anerkannt sind und den Pflichtwidrigkeitszusammenhang beseitigen können.83) Die Einzelheiten dieser Konstruktion sind allerdings hoch umstritten; ihrer Übertragbarkeit auf die hier in Frage stehende Konstellation kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Aber auch wer einen Pflichtwidrigkeitszusammenhang bejaht, gelangt damit noch nicht zur Haftungsfolge, weil auch dann sanktionsrechtliche Konsequenzen nur eingreifen können, wenn den Handelnden ein vorsätzliches oder leichtfertiges Verhalten attestiert werden kann. Genau daran fehlt es aber in den von den Befürwortern einer Legalausnahme angesprochenen Problemfällen, in denen etwa bei vorgeschalteten Zwischenschritten das Vorliegen einer Insiderinformation verkannt wird; es gilt insofern der ordnungswidrigkeitenrechtliche Irrtumsbegriff des § 11 Abs. 2 OWiG.84) Selbst denjenigen Organmitgliedern, die das Vorliegen einer Insiderinformation zwar erkennen, aber von einer Selbstbefreiung qua Legalausnahme ausgehen und deshalb von einem Beschluss und einer entsprechenden Mitteilung gänzlich absehen, kann nach der herkömmlichen Rechtsprechungspraxis im Lichte der entsprechenden instanzgerichtlichen Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart85) zumindest ein leichtfertiges Verhalten nicht vorgeworfen werden. Auch unter diesem Gesichtspunkt lässt sich eine teleologische Notwendigkeit zur richterrechtlichen Konstruktion einer Legalausnahme also nicht herleiten.

83) 84) 85)

Überblick bei Sternberg-Lieben/Schuster in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 15 Rz. 174 f. Zur Anwendung des § 11 OWiG i. R. von § 39 WpHG vgl. Vogel in: Assmann/ Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, § 39 Rz. 63 ff. OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.4.2009 – 20 Kap 1/08, NZG 2009, 624, 635 = ZIP 2009, 962 – zur Einordnung dieser Entscheidung in den Streitstand vgl. die Ausführungen unter III.

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VI. Ergebnis Das Verständnis der Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG als Beschlusserfordernis ist zwar in Gesetz und zugrunde liegender Richtlinie angelegt, erweist sich aber insbesondere nach der stetigen Ausweitung des Begriffs der Insiderinformation als lästige Vorgabe, die schlanke Entscheidungsfindungsprozesse deutlich erschweren kann. Aus teleologischen Gründen spricht deshalb manches für eine richterrechtliche Korrektur, die allerdings dem Vorwurf mangelnden Gesetzesgehorsams ausgesetzt ist. Wer diesen Weg deshalb nicht einschlagen mag, gelangt auf dem konstruktiv aufwändigeren, aber methodisch besser abgesicherten Weg eines rechtmäßigen Alternativverhaltens zu nahezu übereinstimmenden Ergebnissen.

Vertragsfreiheit und Tauschgerechtigkeit im System der Gerechtigkeitsformen – Besonders erörtert am Tatbestand der Laesio enormis – MICHAEL KÖHLER Inhaltsübersicht I.

Einleitung – Voraussetzungen und Problemstellung II. Zur Frage „materieller“ Vertragsgerechtigkeit im geltenden Privatrecht III. Die Tauschgerechtigkeit und ihr Prinzip im System der Gerechtigkeitsformen

IV. Die Tauschgerechtigkeit im Verhältnis zur schützend-ausgleichenden Gerechtigkeit und zur ursprünglich erwerbenden Gerechtigkeit – das Problem der „laesio enormis“ V. Ausblick: Tauschgerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit in Integration – Zur Kritik der „iustitia distributiva“ nach Verteilungsgutdünken

I. Einleitung – Voraussetzungen und Problemstellung In der modernen Gesellschaft selbstbezogener Subjekte1) ist in allen möglichen Bereichen und Arten der privatrechtliche Vertrag die verbindlichstabilisierende Form der Güter- und Leistungsaustauschbeziehungen für Produktion und Konsumtion – wir existieren geradezu in allseitiger Abhängigkeit von einem dichten, weltweit ausgedehnten Netz von Verträgen. Seinem allgemeinen Begriff nach ein durch den erklärten Rechtswillen zwischen zwei oder mehreren Personen begründetes Rechtsverhältnis, wodurch bestimmte Rechte (Befugnisse) und Pflichten (insbesondere ein

1)

Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – RPh, Ausg. Hoffmeister 1955, § 182: ein Prinzip der modernen Gesellschaft ist „die konkrete Person, welche sich als Besondere Zweck ist“.

354

Michael Köhler

gegenseitiger Güter-/Leistungsaustausch) verbindlich geregelt werden,2) hat der Vertrag im (freiheitlichen) Rechtsverhältnis die produktive Funktion der wechselseitigen Freiheitserweiterung um die Kompetenz des anderen – eine nicht triviale Bestimmung, die das rechtsstaatliche Privatrecht von naturzuständlichen Machtasymmetrien abgrenzt.3) Das Lob der den allgemeinen Wohlstand mehrenden Arbeitsteilung in der wie von unsichtbarer Hand dezentral gelenkten Marktgesellschaft4) ist also nur begründet, wenn dieser die „sichtbare Hand“ des freiheitlichen Rechts (E.-J. Mestmäcker) kategorisch sekundiert.5) Vorausgesetzt wird hier das Grundprinzip menschlicher Selbstbestimmung nach kategorisch allgemeinen Gesetzen, das, positiv-verfassungsrechtlich der Würde des Menschen entsprechend, in Kritik einerseits an objektiv-teleologischen (materialen) Programmen, andererseits an empiristisch-utilitären Reduktionen, auch das Recht begründet, und zwar als eine von der Ethik guten Willens unterschiedene Gesetzlichkeit allgemeiner, gleicher äußerer Freiheit, die den Dimensionen freier Selbst2)

3)

4)

5)

Vgl. die Definition von Savignys, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 3, 1840, S. 309; grundlegend zum Folgenden Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 8, Werke Bd. 6 hrsg. von Dirlmeier, 1974, S. 105 ff.; Kant, Metaphysik der Sitten – MdS, Rechtslehre, §§ 18 ff., Akademieausgabe – AA Bd. VI, S. 270 ff.; Hegel, RPh, §§ 72 ff.; dazu m. w. N. siehe Köhler, Iustitia distributiva. Zum Begriff und zu den Formen der Gerechtigkeit, ARSP 79 (1993), 457 ff.; Köhler, Humes Dilemma – oder: Was ist Geld? „Geldschöpfung“ der Banken als Vermögensrechtsverletzung, in: FS für Frisch, 2013, S. 88 ff.; Köhler, Die Wertstabilität des Geldes als Inhalt der Vertragstreue und der Eigentumsgarantie, JZ 2013, 957, 959; Köhler, Humes Dilemma – oder: Das Geld und die Verfassung, 2015, S. 15 ff., 54 f. Zur umstrittenen Verbindlichkeit von durch Furcht abgenötigten Verträgen im Naturzustand siehe Hobbes, De cive/Vom Bürger, Cap. II, 16 ff., Ausg. Gawlick 1959, S. 93 ff. (im Unterschied zum Staatsrechtszustand). Vgl. Adam Smith, Wohlstand der Nationen, I, Kap. 1 ff., 4 ff., Ausg. Recktenwald 1978, S. 9 ff., 22 ff. (wenn auch nur moralisierend zum dem Naturzustand nahen Verhältnis zwischen Kapital und besitzloser Arbeit). Dem Folgenden zugrunde liegt der freiheitliche Rechts- und Privatrechtsbegriff (mit „sozialem“/teilhabe-rechtlichem Element), wie er in der Tradition der aufklärerischen Rechtsphilosophie besonders durch Locke, Second Treatise of Goverment, bes. Ch. V, §§ 25 ff., Ed. Laslett 1992, S. 285 ff. und Kant, MdS, RL, Einl. §§ A ff. und Privatrecht, §§ 1 ff., AA VI, S. 229 ff., 235 ff. begründet wurde; vgl. zur weiterführenden Rezeption grundlegend E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 137 ff.; siehe auch Köhler, ARSP 79 (1993), 457 ff.; Köhler, Ursprünglicher Gesamtbesitz, ursprünglicher Erwerb und Teilhabegerechtigkeit, in: FS für Wolff, 1998, S. 247 ff.; Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Teilhabegerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, 1999, S. 103 ff.; Köhler, Das ursprüngliche Recht auf gesellschaftlichen Vermögenserwerb, in: FS für Mestmäcker, 2006, S. 315 ff. je m. w. N.; siehe auch Zaczyk, Selbstsein und Recht, 2014.

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verwirklichung (konkretisiert besonders im System der Grundrechte) im personalen Anerkennungsverhältnis Dasein verschafft – nach John Lockes Formulierung zu „vollkommener Freiheit“.6) Der Begriff des Vertrages setzt private Rechte der Personen zu ihrer je besonderen Freiheitsverwirklichung voraus und bestätigt diese im privatautonomen Austausch. Daher ist er unbedingt verbindliche „Form beiderseitiger Freiheit“ zu je individuellen Lebenskonzepten. Er widerstreitet daher einerseits einer objektiv-teleologischen, altnaturrechtlichen Inhaltsund Wertfestlegung, andererseits aber auch einer empiristisch (utilitaristisch) verkürzten Auffassung von nur formell-willkürlicher Vertragsfreiheit. Diese fasst den Vertrag als Instrument zur Durchsetzung gegebener subjektiver Machtinteressen, hat also z. B. gegen die systematische, „freiwillige“ Selbstveräußerung von Körperorganen aus Not im internationalen Verhältnis zwischen armen und reichen Ländern nichts einzuwenden; auch tendiert sie dazu, die Vertragsverbindlichkeit kollektiven Effizienzerwägungen unterzuordnen (sog. „efficient breach of contract“), also durch den weltmächtig verbreiteten Grundsatz der Instrumentalisierung anderer einen Kernbegriff des Rechts zu sprengen.7) Dagegen fungiert der Vertrag als kategoriale Form verwirklichter Freiheit: Vorausgesetzt ist schon in der aristotelischen Bestimmung der („wiedervergeltenden“) Tauschgerechtigkeit (das zeigen die Beispiele des Philosophen) die Wechselseitigkeit des Bedarfs selbständiger Personen/Eigentümer, die einander – freiheitsrechtlich formuliert – als Personen/Privatrechtsträger anerkennen, und zwar dem Grunde und dem Werte nach.8) Die Vertragsparteien beziehen in ihre Bedarfskonzepte die Leistung des anderen ein, definieren also für sich Gebrauchswertsetzungen und darauf beruhende Tauschwertrelationen, die sich in ständigen Marktbeziehungen relativ stabilisieren. Somit trägt der Vertrag seine Richtigkeit als konkret-privat-

6)

7)

8)

Vgl. Locke, Second Treatise of Government, Ch. II, § 4, Ed. Laslett S. 269: „A State of Perfect Freedom“; siehe sodann die Rechtsdefinition von Kant, MdS, RL Einl. § B, AA VI, S. 230; in institutionell-systemischer Wendung Hegel, RPh, § 4: „Das Rechtssystem (scl. ist) das Reich der verwirklichten Freiheit“. Vgl. Darstellung und treffende, zurückhaltende Kritik von Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997, S. 133 ff; kritisch mit einer Bezugnahme auf Kant auch die nach Abschluss des Manuskripts veröffentlichte Arbeit von Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015, S. 322 ff., 359 ff, die allerdings auf Fragen der Tauschgerechtigkeit nicht eingeht. Siehe Aristoteles, NE, V, 8, Werke 6, S. 106, 107; Hegel, RPh, § 72; siehe auch Köhler, Humes Dilemma – oder: Das Geld und die Verfassung, 2015, S. 15 ff., 54 f.

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autonome Regelung zunächst in sich selbst; es existiert demgegenüber kein äußerer Standpunkt von „Richtigkeit“ oder „Gerechtigkeit“, der nicht eine bevormundende Anmaßung wäre. Freilich sind genannte Voraussetzungen wiederum nicht trivial, sondern in noch zu begründender Weise freiheitlich-“materialer“ Art, handelt es sich doch teils um den Schutz des Persönlichkeitsrechts gegen zu weit gehende Selbstverfügung, teils um die ausgleichende Wahrung oder produktive Einräumung der fundamentalen Selbständigkeit der Person im Austauschverhältnis, aus der eine grundlegende Wertäquivalenz jedenfalls solcher Vertragsleistungen resultieren muss, welche sich auf diese Basis der Person auswirken. Im Folgenden ist zu erörtern, wie das Privatrecht Autonomie im vertraglichen Austausch einerseits und Schutz vor Übermachtmissbrauch oder Ausnutzung von Schwäche und Abhängigkeit andererseits in ein begründetes, ausgeglichenes Verhältnis zu bringen, also rechtliche Freiheit und Selbständigkeit auch im System allseitiger Abhängigkeit zu wahren hat. II. Zur Frage „materieller“ Vertragsgerechtigkeit im geltenden Privatrecht Die vorherrschende Privatrechtstheorie geht, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und seinem jedenfalls insoweit wohl liberalistisch verkürzten Hintergrund folgend, zunächst von einem formellen Begriff des privatautonomen Vertrages in Abschluss- und inhaltlicher Gestaltungsfreiheit aus, für dessen Verbindlichkeit die von Inhaltsirrtum und Drohungszwang freien Erklärungen geschäftsfähiger Personen genügen (sog. Willenstheorie).9) Unter diesen Voraussetzungen wird die Selbstverantwortlichkeit der Kontrahenten in der Abschätzung der Bedarfs- und Wertbestimmungen an den Märkten der dezentralen Verkehrswirtschaft herausgestellt. Eine generelle Voraussetzung der wertmäßigen Äquivalenz der Vertragsleistungen, wie immer diese bestimmt werden mögen, i. S. einer schon Aristoteles zugeschriebenen gleichsam aufgeladenen Form der Tauschgerechtigkeit (iustitia commu9)

Vgl. Flume, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, S. 6 f.; Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 35 ff., 44 ff. (betonend „prozeduralen“ Charakter der Vertragsgerechtigkeit); Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts. Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 283 ff.; zusammenfassend Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997, S. 168 ff.; zum Ausschluss der laesio-enormis-Doktrin im Vergleich mit anderen Kodifikationen siehe Mayer-Maly, Renaissance der laesio enormis?, in: FS für Larenz, 1983, S. 395 ff.; referierend unter Einbezug der römischrechtlichen Tradition siehe Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, S. 1, 2.

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tativa), einer dem späten römischen Recht entnommenen Lehre der „Laesio enormis“ bei extremem Wertmissverhältnis der ausgetauschten Leistungen oder einer nach staatlichen Steuerungsimperativen Vertragsinhalte (Wertsetzungen) festlegenden Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) gemäß dem Modell einer Zentralverwaltungswirtschaft10) wird nicht anerkannt. Substantielle Voraussetzungen bzw. Schranken werden eher äußerlich angefügt, verortet zum einen im auch mit Strafbarkeit bewehrten Wucherverbot (§ 138 Abs. 2 BGB; § 291 StGB), das die Ausbeutung einer Zwangslage oder anderer gravierender Schwächen eines anderen erfordert, zum anderen in der generalklauselartigen Gesetzesvorschrift über die Nichtigkeit von Rechtsgeschäften, die „gegen die guten Sitten“ verstoßen (§ 138 Abs. 1 BGB); – ein Rechtsgesetz strengen Sinnes kann man Letztere indessen nicht nennen, sondern nur eine unbestimmte, in verfehlter Weise ethisierende, subjektivierende und deshalb irreführende Stelle für kasuistisches Vorantasten. So bemüht sich die höchstrichterliche Rechtsprechung um die Konturierung eines hinsichtlich der gravierenden Äquivalenzstörung „wucherähnlichen“ Rechtsgeschäfts, ohne dass es noch auf (bewusstes) Ausnutzen einer Zwangslage oder auch nur diese selbst ankommen soll.11) Ferner ist einzubeziehen eine Reihe bereichsspezifischer Regelungen, welche jene Grundvoraussetzungen „gerechter“ Verträge betreffen, z. B. im Transplantationsgesetz, im Wettbewerbsrecht, im Arbeitsrecht (dort jüngst die Mindestlohnregelung). Die Doktrin bildet diese Schranken eher ab, als dass sie sie in ein System bringt. Ein Gegenkonzept knüpft an eine materiale Vorstellung von Leistungsäquivalenz an, die rechtsphilosophisch schon bei Aristoteles, vor allem aber bei Thomas von Aquin, schließlich auch bei Hegel verortet wird. Der Ansatz „materieller Vertragsgerechtigkeit“ wird auch der dem späten römischen Recht entstammenden Lehre entnommen, die seit dem Hochmittelalter

10)

11)

Theoriegeschichtlich im Rahmen seiner Theorie des „Geschlossenen Handelsstaates“ siehe Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, I, 2, in: I. H. Fichte III (Hrsg.), Fichtes Werke, S. 403 ff.; dazu Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 64 ff. („Vertragsgerechtigkeit durch iustitia distributiva“). Vgl. als st. Rspr. BGH, Urt. v. 9.10.2009 – V ZR 178/08, NJW 2010, 363 (bei Grundstückgeschäft grobes Missverhältnis, wenn der Wert der Leistung knapp doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung, sowie dadurch begründete tatsächliche Vermutung einer an sich vorausgesetzten „verwerflichen Gesinnung“); siehe Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, S. 34 ff. m. w. N.; zutreffend kritisch schon gegen Ethisierung bzw. Subjektivierung Mayer-Maly in: FS für Larenz, 1983, S. 403 ff.

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laesio enormis benannt wird.12) Sie geht zurück auf ein später in die Kompilation Kaiser Iustinians aufgenommenes Reskript, d. h. eine autoritativ gutachterliche Entscheidung, des Kaisers Diokletian (bzw. seiner Kanzlei) aus dem Jahre 285.13) Darin entschied der Kaiser den ihm unterbreiteten Fall, der den Verkaufs eines Grundstücks unter der Hälfte des Marktwertes zum Gegenstand hatte, dahingehend, es sei billig (humanum), den Kaufvertrag rückabzuwickeln, falls der Käufer nicht die Alternative wähle, die Differenz bis zum rechten Preis (iustum pretium) zusätzlich zu zahlen. In einem weiteren Reskript wird dies bestätigt und abgegrenzt vom Normalfall eines täuschungs- und zwangfrei geschlossenen Grundstücksvertrages zu einem geringfügig abweichenden Preis aufgrund einer abgleichenden Konsensbildung der Parteien.14) Diese Lehre wird teilweise i. S. einer materiellen Wertgleichheit interpretiert und verallgemeinert, wie sie auch in europäischen Zivilrechtskodifikationen (Frankreich, Österreich) gilt. Die Abweichung des Vertragspreises vom objektiven Wert um mehr als die Hälfte bzw. das Doppelte soll die Geltung des Vertrages zur Disposition stellen. Hinsichtlich des deutschen Rechts wird die Rechtsprechung zum „wucherähnlichen“ „sittenwidrigen“ Rechtsgeschäft gemäß § 138 Abs. 1 BGB auf dem Wege zu dieser abstrakt verallgemeinernden Objektivierung gesehen.15) Kritisch ist vorläufig zu bemerken: Dieser vollständige Paradigmenwechsel – abgesehen von seiner Fragwürdigkeit innerhalb der geltenden Gesetzessystematik – entspricht schwerlich dem allgemeinen Rechtsbewusstsein. Dieses würde bei einer Vielzahl alltäglicher Geschäfte genannte Abweichungen der betroffenen Vertragspartei zurechnen und der Gegenseite ihren Geschäftssinn nicht verdenken. Die eigentlichen Problemfälle sind nicht hinreichend charakterisiert durch die definierte Wertdifferenz, sondern

12)

13)

14) 15)

Vgl. Mayer-Maly in: FS für Larenz, 1983, S. 395 ff.; rechtshistorisch eingehend Göttlicher, Auf der Suche nach dem gerechten Preis, 2004, insbesondere zu Diokletian, S. 121 ff.; siehe auch Fehl, Die Frage nach dem gerechten Preis, in: Gutmann/Schüller, Ethik und Ordnungsfragen der Wirtschaft, 1989, S. 249 ff.; Becker, Die Lehre von der laesio enormis, 1993, S. 10 ff.; zu philosophiegeschichtlichen Ansätzen unter dem Gesichtspunkt materieller Tauschgerechtigkeit Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, zusammenfassend. S. 98 ff.; zur Kritik nachfolgend; siehe sodann zur Verallgemeinerungsthese bis in die Gegenwart Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, S. 5 ff., 11 ff.; 32 ff., zusammenfassend S. 62 f. Vgl. Codex Justinianus 4, 44, 2; auch zitiert mit Ausführungen zum historischen Kontext bei Göttlicher, Auf der Suche nach dem gerechten Preis, 2004, S. 121 ff., 123; siehe auch Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, S. 5. Vgl. Göttlicher, Auf der Suche nach dem gerechten Preis, 2004, S. 124 ff. zu CJ 4, 44, 8. Siehe Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, S. 1, 2.

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durch eine auch nach dem Vorverständnis ganz andere qualitative Betroffenheit – ein die ökonomische Bewegungsfreiheit lebenslang einschränkendes Grundstücksgeschäft oder die Übernahme einer ruinösen Bürgschaft. Die Gegenmeinung erscheint also schon auf den ersten Blick als zu abstrakt. Sie nimmt den kasuistisch bezeichnenden Ansatz des Reskripts des Kaisers Diokletian nicht beim Wort: Die Veräußerung von Grundstücken – nicht nur in der agrarischen Gesellschaft wesentliches Element der Produktionsgrundlage – unter der Hälfte des Verkehrswertes als eine den vermutlich in einer Zwangssituation befindlichen Verkäufer und offenbar auch die von einer Krisenlage betroffene Allgemeinheit des Rechtsverkehrs mit Grundstücken schwerwiegend beeinträchtigende Angelegenheit16), und sie übergeht den schlichten Wortsinn – die „enorme“ Verletzung! Die h. A. widerspricht denn auch äußeren Eingriffen nach objektiven Richtigkeitsvorstellungen oder Verteilungsgutdünken in die interne Ausgeglichenheit des Vertrages.17) Ausgeschlossen wird eine generelle „Richtigkeits- oder Gerechtigkeitskontrolle“. Die Vertragsform wird als „neutral“ akzentuiert: Auch erhebliche Abweichungen von den Marktbedingungen (Preisen) fallen prinzipiell in die Autonomie, die selbstverantwortliche Bestimmungsbefugnis der Parteien. Konsequenterweise gilt das nicht nur bei bewusst „großzügigen“ Entscheidungen, sondern es muss im Allgemeinen auch bei Bewertungsirrtümern gelten: Weiß ein Antiquitätenhändler nicht, dass die von ihm zu einem mäßigen Preis angebotene Bronze-Figur am Markt für Sammler ein Vielfaches erzielen könnte (z. B. statt zunächst taxierter 350 € in der folgenden Versteigerung durch mit einander konkurrierende obsessive Sammler schließlich sogar 10.000 € erreicht)18), so kann das die Vertragsgeltung nicht in Frage stellen. Ob der Käufer das ausnutzt oder nicht, ist allenfalls eine ethische Frage, nicht ein Thema zwingenden Rechts – sieht man von besonderen Konstellationen ab, in denen typische 16)

17)

18)

Zum krisenhaften Zeithintergrund, zur weiteren Kasuistik, zur Quellenkritik eingehend Göttlicher, Auf der Suche nach dem gerechten Preis, 2004, S. 121 ff, 136 ff., 147 ff.; zur Umstrittenheit der tatbestandlichen Ausdehnung im ius commune siehe Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, S. 11 ff. Insoweit überzeugend Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 35 ff., 55 ff.: „Vorrang“, „Neutralität“ der Vertragsfreiheit; eingehende Kritik „materialer Gerechtigkeitstheorien“ i. S. objektiv-teleologischer Zweck/ Sinn-Unterstellungen von Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997, S. 86 ff., 143 ff.; siehe grundsätzlich Köhler, ARSP 79 (1993), 457, 464 ff. Der Fall ist dem Verfasser selbst so begegnet: Ihm wurde die später für 10.000 € versteigerte Figur vorab angeboten, aber er schlug aus, weil er am Schreibtisch arbeitend nicht gestört werden wollte.

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Asymmetrien hinsichtlich der Kenntnis wertbestimmender Faktoren entsprechende Aufklärungspflichten begründen können. Aber die Richtigkeit dieser Auslegung legitimiert sich auch durch ihre Schranken – und hierzu hat auch die h. L. außer dem zirkulären Verweis auf die unbestimmte „Sittenwidrigkeit“ nach § 138 Abs. 1 BGB nichts systematisch Begründetes vorzuweisen. Dass subjektiv ethisierende Maßstäbe im Recht eigentlich ausscheiden müssen, wird zwar richtig gesehen; aber die Bestimmung einer „besonders massiven Äquivalenzstörung“ in „Gesamtwürdigung aller Umstände“ bleibt denn doch unabgeleitet und nicht konkretisierungsfähig.19) Eine systematische Theorie muss demgegenüber auf Prinzipien freiheitlichen Rechts, namentlich Privat- und Erwerbsrechts, zurückgehen, die dem Begriff der Gerechtigkeit und seinen Teilformen zugrunde liegen.20) Der Begründungszusammenhang der rechtlichen Prinzipien (und Gerechtigkeitsformen) ordnet zugleich einander ergänzende Voraussetzungen, auf denen besonders auch die Austausch- oder Vertragsgerechtigkeit beruht. So ist bspw. offensichtlich, dass substantielle Schranken der Selbstveräußerung dem Vertrag aus dem Prinzip des Persönlichkeitsrechts, also dem System der schützend-ausgleichenden Gerechtigkeit, vorausgesetzt sind. Das ist indessen zu verallgemeinern und auf eine dem Rechtsprinzip angemessene Weise zu entfalten. An Aristoteles anzuknüpfen, heißt also zugleich ihn kritisch zu transformieren. Methodologisch handelt es sich um (vorpositiv-rechtsphilosophische) Rechtsbegriffe, nicht um Ethik. Eine solche Systematik müsste sich schließlich an ihrer besseren Begründungs- und Einordnungskraft bewähren, also auch der justiziellen Urteilskraft wie dem common sense entgegenkommen und praktische Verwerfungen beheben können. Hier kann indessen nur ein Grundriss unterbreitet werden. III. Die Tauschgerechtigkeit und ihr Prinzip im System der Gerechtigkeitsformen Zu klären ist zunächst das Rechtsprinzip der Tauschgerechtigkeit, der bisherige Doppelsinn also zu beheben. Angeschlossen werden kann durchaus an Aristoteles, insofern dessen Bestimmungen ein neuzeitlich freiheits-

19) 20)

So Mayer-Maly in: FS für Larenz, 1983, S. 408. Vgl. dazu Köhler (die in Fn. 5 angeführten Arbeiten); umfassend demnächst Köhler, Freiheitliches Recht und Gerechtigkeit, voraussichtlich 2016.

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rechtlicher Gehalt zu entnehmen ist.21) Der Philosoph hebt unter den vier Kardinaltugenden die Tugend der Gerechtigkeit als auf das Recht des anderen bezogen hervor, ganz ähnlich der auf die griechische Klassik zurückgehenden Definition der iustitia in der Kompilation Iustinians.22) Sodann unterscheidet er zunächst eine allgemeine Form der Rechtsgerechtigkeit als einer Haltung der Rechtstreue gegenüber den Gesetzen der Polis von besonderen Formen der Gerechtigkeit. Diese gelten wesentlich im interpersonalen Verhältnis und identifizieren sich jeweils durch ein rechtliches Grund- und Maßprinzip. Im Vordergrund steht die Unterscheidung zwischen interpersonal-ausgleichender Gerechtigkeit (auch als correctiva/korrektiver übersetzt, in neuerer Terminologie auch sachlich präzise: schützende Gerechtigkeit)23) nach dem Prinzip des abstrakt zustehenden subjektiven Personen- oder Privatrechts gemäß einem arithmetischen Maßstab des auszugleichenden zu viel/zu wenig und der verteilenden Gerechtigkeit, die im geometrisch-proportionalen Verhältnis der Bürger untereinander zur Polis gemäß ihrer Verfassung nach einem Maßstab der „Würdigkeit“ (axia) für die Verteilung von Ämtern etc. gilt. Letztere Form sei hier zunächst mit dem Bemerken beiseitegelassen, dass es sich bei Aristoteles hier um eine dezidiert politische, das Bürger-Staat-Verhältnis betreffende Form handelt; diese kann also nicht einfach in freiheitsrechtlich höchst problematischer Weise als „iustitia distributiva“ auf eine privatrechtliche Güterverteilung transponiert werden24) – etwa i. S. von „sozialer Gerechtigkeit“ noch offenen Prinzips. Ein solcher Bezug musste dem Philosophen gänzlich fern liegen.

21)

22)

23) 24)

Vgl. zum Folgenden Aristoteles, NE, V, 2 ff., Werke 6, S. 96 ff.; dazu Pieper, Über die Gerechtigkeit, 1954; Derbolav, Von den Bedingungen gerechter Herrschaft, 1979; Köhler, ARSP 79 (1993), 457, 462 ff.; eine im Ganzen vorzügliche „Analyse philosophischer Ansichten der Tauschgerechtigkeit“ leistet Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 11 ff. (wenngleich gerade zu Aristoteles systematisch fragwürdig). Vgl. Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, I, 10 (Ulpian); siehe auch Institutionen, I, vor 1, Ausg. Behrens u. a. Bd. II, 94; Bd. I, 1: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“ (der „standhafte und andauernde Wille, jedem sein Recht zuteilwerden zu lassen“); zur Herkunft aus der antiken Philosophie seit Platon siehe zunächst Pieper Über die Gerechtigkeit, 1954, S. 12 ff. Kant, MdS, RL, § 41, AA VI, S. 306. Dies ist eine von der christlich-theologischen Aristoteles-Rezeption vorgenommene Erweiterung der distributiva, die trotz ihrer theoriegeschichtlichen Fragwürdigkeit (und freiheitsrechtlichen Problematik) vielfach übernommen wird; siehe etwa auch Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 9 ff.; Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 11, 16; zur Kritik siehe Köhler, ARSP 79 (1993), 457, 467 ff. (noch unter dem Namen der iustitia distributiva).

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Zu der verbleibenden privatrechtlichen Form der ausgleichenden Gerechtigkeit hinzu tritt noch eine Explikation der ausdrücklich von den bisherigen Formen unterschiedenen „Wiedervergeltung“ im privatrechtlich-vertraglichen Austausch, als dessen Grund- und Maßprinzip der beiderseitige (und zwar produktiv handlungsmächtige) „Bedarf“ identifiziert wird, verbunden mit fundamentalen Klärungen der Funktion und Legitimation des Geldes. Diese Form sollte Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa, in neuerer Zeit auch: wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit) genannt werden.25) Es ist verfehlt, sie terminologisch und/oder sachlich mit der ausgleichenden zu konfundieren.26) Schon bei Aristoteles ist die systematische Unterscheidung klar. Bei der ausgleichenden Gerechtigkeit geht es um die schützende/ restituierende Wahrung/Wiederherstellung des einer Person gegenüber einer anderen zustehenden subjektiven Rechts, sei es aus gültig geschlossenem Vertrag (Ansprüche auf Erfüllung, bei Leistungsstörungen), sei es bei deliktischen oder sonstigen Eingriffen. Die austauschende Gerechtigkeit definiert hingegen die Geltungsvoraussetzungen des dynamischen Güter- und Leistungsaustauschs, das privatautonome, wechselseitige Sich-Abgleichen nach Bedarfskonzepten und Stellenwerten der Gütermaße darin. Typologische Leitbilder sind selbständige Personen/Produzenten einer schon arbeitsteiligen Gesellschaft oder überhaupt in eingerichteten Marktbeziehungen (einschließlich des Fernhandels), die sich nach ihren internen Lebenskonzepten abstrakt aufeinander beziehen.27) Dem Begründungszusammenhang selbst ist eine Bedingung „objektiv gerechter“ Preise nicht zu entnehmen. Der Philosoph stellt den Normalfall von Austauschverhältnissen zwischen selbständigen Produzenten in einer allerdings relativ statischen Wirtschaftsform vor. Allenfalls vorausgesetzt, nicht expliziert, sind maßgebende Wertbestimmungsgründe des lohnenden Tauschs wie

25) 26)

27)

Kant, MdS, RL, § 41, AA VI, S. 306. Für diese Traditionslinie siehe Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 11 ff., der mit einem Teil der Interpreten die ausgleichende und kommutative Gerechtigkeit vermengt; vgl. hingegen Derbolav, Von den Bedingungen gerechter Herrschaft, 1979, S. 208 ff; Köhler, ARSP 79 (1993), 457, 464 ff. Vgl. Aristoteles, NE, V, 8, Werke Bd. 6, S. 105 f. am Beispiel Baumeister – Schuhmacher und ihren Erzeugnissen; zum Streben nach „convenience“ als wertgebendem, gegenstandsvermittelt auch die formende Tätigkeit „Arbeit“ umfassendem Bestimmungsgrund siehe Locke, Sec. Treat., Ch. V, §§ 40 ff., 44, 48, Ed. Laslett S. 296 ff.; sehr genau vom Gebrauchswert ausgehend bis hin zur Arbeit als reflexiv wertbestimmendem Element in der modernen Gesellschaft siehe Hegel, RPh, §§ 63, 77, 196; selbst Marx, trotz seiner Kritik vom Standpunkt einer Arbeitswertlehre, preist das „Genie des Aristoteles“, vgl. Kapital, I, Kap. 1, Werke Ausg. Lieber/Kautsky IV, S. 32 ff.

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Selbsterhaltung und zusätzlicher Ertrag zum Wohlergehen (Locke: „Conveniences of life“), die dann gegenstandsvermittelt auch den beiderseitigen Aufwand (Investition, Arbeit) ins Verhältnis zueinander setzen. Die Beschränkung auf die Grundbestimmung (gegenseitiger Bedarf) gestattet die Transposition auf verschiedene Wirtschaftsformen insbesondere die dynamische arbeitsteilige Ökonomie. Die Logik des freiheitsrechtlichen Vertrages kann daran anschließen. Die Personen müssen einander als Privatrechtsträger in ihren autonomen Gebrauchswertsetzungen anerkennen – und zwar nicht nur formell, sondern auf dem Hintergrund ihres produktiven Selbststandes im Substanzbezug (insbesondere dem „allgemeinen gesellschaftlichen Vermögen“). Die hier als „Selbständigkeit“ apostrophierte Voraussetzung bedarf im Grenzfall (der mit der laesio enormis angesprochen ist) noch der Begründung. Dies vorausgesetzt, sind indessen wesentlich subjektive Wertsetzungen auch nach den je besonderen Lebenskonzepten maßgebend. Demgemäß setzen die Parteien nach je eigenen Gebrauchswerteinschätzungen bestimmte Maße von Gegenständen im interpersonalen Verhältnis als gleichwertig.28) Beide entäußern sich wechselseitig in der von ihnen bestimmten Maßrelation, anerkennen einander als gleiche, freie Personen in ihrer wertbeziehenden Selbstorganisation, im gegenständlichen Privatrecht und seiner nunmehr interpersonal-vergleichenden Bewertung. Das bedeutet zugleich, dass jedem Beteiligten dem Grunde und „dem Werte nach“ sein Privatrecht im Vertrag erhalten bleibt, wenngleich der Gegenstand wechselt – im beiderseitigen Bestreben nach konkret verbesserter Gebrauchswerteorganisation.29) Die Tauschwerte der Gegenstände (Güter, Leistungen) begründen sich also nicht durch irgendeine äußere Objektivität. Objektiv ist der Tauschwert

28)

29)

Zu den ökonomischen Wertlehren siehe Myrdal, Das politische Moment in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 1976, kritisch zur Arbeitswertlehre S. 55 ff., 63 ff.; die „subjektive“ Wertbestimmung, die sich genauer von selbständigen Subjekten her objektiviert (siehe Aristoteles, Locke, Hegel vorige Fn. 27), wird konkretisiert durch das Theorem vom (abnehmenden) Grenznutzen der Güter, einbezogen die Arbeit als gegenstandsvermittelt und relativ zum Bedarf wertbildender Faktor. Zur Grenznutzenlehre theoriegeschichtlich eingehend siehe Dobb, Wert- und Verteilungstheorien seit Adam Smith, 1977; zur österreichischen Schule siehe Hayek, Einl. zu Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Werke Bd. I, 1968, S. VIII ff. (Grenznutzenlehre Mengers parallel zu Jevons und Walrass); zusammenfassend Woll, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 14. Aufl. 2003, S. 145 ff. Vgl. Hegel, RPh, § 77 Anm.: „bleibt Eigentümer und quantitativ derselbe“; siehe auch von § 41 aus („Sich geben“ einer äußeren Freiheitssphäre), § 74: „dass jeder mit seinem und des anderen Willen aufhört, Eigentümer zu sein, es bleibt und es wird.“

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eines Gegenstandes, einer Leistung nur hinsichtlich der authentischen vertraglichen Gleichsetzung durch die Vertragsparteien – und zwar in abstrakter Verbindlichkeit gegenüber ihren je selbstverantwortlich subjektiven Gebrauchswertbestimmungen und deren Erfüllung. Daraus resultieren bei gewisser Marktdichte im ständigen Abgleich der Marktteilnehmer eine dann reflexiv wiederum orientierende Größe von Marktpreisen; deren Objektivität verdankt sich aber letztlich der relativen Stabilität der zugrunde liegenden internen Bedarfs- und Gebrauchswertsetzungen. Das gilt reflexiv-gegenstandsvermittelt auch für die den Gegenstand formende Arbeit, überhaupt die Produktionsfaktoren und ihre Kombination. Die Marktpreise spiegeln daher im Ganzen die ausgeglichenen Tauschwertverhältnisse wider, sie pendeln um den „natürlichen Preis“.30) Dass aber der Wert auf keine Weise substantiell dem Gegenstand eignet, sondern zurückgeht auf die den Tauschwert letztlich bestimmenden subjektiven Gebrauchswertrelationen in ihrer relativen Stabilität und Veränderlichkeit, kann man an den Schwankungen der Marktpreise sehen. Die maßgebenden Wertsetzungen nach Bedarf haben zwar auch für freie, selbstbezogene Subjekte und deren dynamische Ökonomie relativ festliegende Orientierungen nach der Unterscheidung von notwendiger Selbsterhaltung und Komfort, weisen aber eine große Spielbreite auf. Die Privatautonomie in der vertraglichen Leistungs-(wert)bestimmung schließt daher alle inneren und äußeren (moralischen, pragmatischen und technischempirischen) Bestimmungsgründe des freien Handelns mit ein. Darin liegt zugleich die empirisch-gegenständliche Ungleichheit der Bedürfnis- und Wohlkonzeptionen, der Mittel zu ihrer Befriedigung, der Produkte und Grundlagen zur Güter- und Leistungsproduktion. Diese Unterschiede, sowohl in den Bedürfnissen als auch in den Handlungsmitteln (Produktivität), nach natürlichen Bedingungen, Handlungsgeschicklichkeiten, technischer Entwicklung (Arbeitsteilung), bestimmen daher die Tauschwertsetzung. Bedarfslage, Erwerbsgeschicklichkeit, Produktionspotential, Marktchancen und die damit einhergehenden Zufälligkeiten beeinflussen sie auf wechselnde Weise. Solche immanenten Ungleichheiten und Machtunterschiede, welche etwa durch den Einsatz knapper Güter, Ausnutzung von Produktivitätsvorsprüngen („komparativer Kostenvorteile“), Erwerbsgeschick und Glück die Tauschverhältnisse mitbestimmen, tangieren also 30)

Dazu theoriegeschichtlich Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, 1965, S. 718 ff.; zur älteren Naturrechtslehre Becker, Die Lehre von der laesio enormis, 1993, S. 103 ff.

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die grundsätzliche Vertragsäquivalenz keineswegs. Der immanent „gerechte Preis“ weist daher eine beträchtliche Spielbreite je nach den Marktverhältnissen auf. Was Aristoteles bereits mit dem Grund- und Maßprinzip des Bedarfs als Tauschgerechtigkeit identifizierte, wird durch das neuzeitliche Prinzip der subjektiven Selbstbestimmung in den Bedarfs- und Wohlkonzeptionen bestätigt – in radikaler Kritik an teleologischen Gerechtigkeitsvorstellungen beginnend bei Hobbes.31) Im gesamtgesellschaftlichen Produktions- und Austauschverhältnis wird die Tauschwertgerechtigkeit von den Güter- und Leistungsbewertungen der Märkte repräsentiert – einer aufgrund hypothetisch-pragmatischer Imperative der Subjekte sich organisierenden, nicht teleologischen (und insofern „spontanen“) Ordnung, die in ihrer empirischen (formellen) Allgemeinheit den sie mitkonstituierenden Personen mit einer gewissen Objektivität in den Formen des Privatrechts geltend gegenübertritt – freilich bis zur Grenze der (Selbst-)Negation ihrer menschen- und privatrechtlichen Autonomie- und Selbständigkeitsvoraussetzungen, worauf zurückzukommen ist. So ergibt sich: Die Bestimmung des Wertes der Leistungen im Vertrag beruht allein auf den zunächst individuellen Gebrauchswertkonzeptionen der Personen. Grund- und Maßprinzip ist der wechselseitige und zwar handlungsmächtig-produktive Bedarf selbstbezogener Subjekte – nach ihrem Konzept der Selbsterhaltung und des guten Lebens. Daraus resultiert eine subjektiv begründete, interpersonal-konsensuale Objektivität – zunächst im einzelvertraglich gebildeten Tauschwert von Leistungsgegenständen, sodann durch den marktmäßig konkurrierenden Abgleich einer Vielzahl von Vertragsbeziehungen im Marktwert oder Marktpreis. Doch bleibt dieser, wie seine Spielbreite und Schwankungen zeigen, stets an die subjektiv-privatrechtliche Grundlage der Wertbestimmung zurückgebunden. Der entwickelte freiheitsrechtliche Begriff des Vertrages und seiner immanenten Wertbestimmung schließt deshalb eine „objektiv-materiale“ Vorstellung von Wert und Tauschgerechtigkeit aus32) – gleichgültig, ob eine solche Lehre schon Aristoteles zu unterstellen ist. Diese Lehre gilt aller-

31)

32)

Vgl. Hobbes, De cive, Cap. III, 6, Ausg. Gawlick S. 101: „Wenn man seine Sachen so teuer verkauft, wie man kann, so geschieht dem Käufer, der sie von mir gewollt [...] hat, kein Unrecht“ (Ungerechtigkeit sei nur Vertrags- oder Treubruch); siehe auch Hobbes, Leviathan, Cap. XV, Ausg. Fetscher S. 115.; zur Linie bis Marx siehe Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 64 ff. Vgl. bereits Köhler, ARSP 79 (1993), 457, 465 ff.; kritisch auch Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997, S. 86 ff., 143 ff.

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dings auf christlich-theologischem Hintergrund einer Einheit von Religion, Ethik und Naturrecht in Verhältnissen der ständisch geordneten „Gesellschaft“. Der „gerechte Preis“ (iustum pretium) nach Gesichtspunkten durchschnittlicher Kosten und maßvollen Gewinns begründet weitgehende Regulierungen. Vertragsfreiheit im modernen Sinne existiert in solcher ständisch-korporativen Gebundenheit noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht. Prominent bei Thomas von Aquin formuliert33) und im Naturrecht fortwirkend, beruht diese Lehre auf der teleologisch-christlichen Guts- und Glückseligkeitskonzeption, in welche die ethische Tugend der Gerechtigkeit und damit auch die ökonomischen Beziehungen eingeordnet sind. Die ethische Rückgebundenheit der Tauschverhältnisse verlangt daher eine Wertgleichheit, die strenger an den Marktpreis und seine objektiven Bestimmungsfaktoren anknüpft – und zwar in einem vorausgesetzten materialen Bezug auf die letztlich religiös-teleologisch orientierte, zum gemeinsamen Nutzen eingerichtete, relativ statische Wirtschaftsordnung vormoderner Gemeinschaften. Demgemäß soll die Selbständigkeit des Vertragspartners und aller Marktteilnehmer auch in den objektiv üblichen Wertgrößen für Aufwendungen und Arbeitseinsatz („labor et expensae“) gewahrt werden; die Nichteinhaltung des iustum pretium zerstöre das Handwerk.34) Anschaulich wird dieser Zusammenhang in den mittelalterlichen Handwerkerkorporationen (Zünften), ihrem Zunftzwang und entsprechenden Kartellfunktionen.35) Die mittelalterliche iustum-pretiumDoktrin ist von der älteren spätrömischen Lehre des Reskripts Diokletians zu unterscheiden, deren tatbestandliche Verallgemeinerung stets umstritten war. Diese hat einen Ausnahmetatbestand im Blick, jene zielt generell auf einen der religiös-ethischen Gemeinschaftsverfassung geschuldeten Begriff des ausgewogenen, „anständigen“ Marktpreises. Gegen diese Teleologik richtet sich die zitierte, vom Individuum als freiem Bedürfnis- und 33)

34)

35)

Vgl. v. Aquin, Summa Theologica, II-II, q. 57 a. 1; 77 a. 1 ff., Ed. Predigerorden III, 1963, S. 362 f., 474 ff.; zur Wirtschaftstheorie Höffner, in: Ordo 5 (1953), S. 181 ff.; Beutter, Thomas von Aquin, in: J. Starbatty (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. I, 1989, S. 56 ff.; vgl. sodann Becker, Die Lehre von der laesio enormis, 1993, S. 103 ff. (zu Grotius). Siehe v. Aquin, Sententia Libri Ethicorum, Lib. V, Opera omnia T. XLVII, 1969, Lect. IX, S. 293 ff.: in den von Aristoteles formulierten Austauschrelationen nach Bedarf müssten „Mühe und Aufwand“ berücksichtigt werden, sonst gebe es keine Tauschgleichheit, sowie Lect. VIII, S. 289: „destruentur enim artes [...]“. Zu den mittelalterlichen Zünften, ihrer korporativen Verfassung, Marktordnungsfunktionen und Missbräuchen siehe im Überblick Planitz/Eckardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1961, S. 130 f., 186, 298.

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Vertragssubjekt ausgehende, radikale Kritik von Hobbes.36) Rechtsgeschichtlich setzt sich dann im Zuge der Entfaltung der modernen Gesellschaft und gemäß der liberalen national-ökonomischen Theorie die Vertrags- und Gewerbefreiheit unter Aufhebung des Zunftzwangs durch.37) Diese Liberalisierung des Vertragsrechts kommt im Bürgerlichen Gesetzbuch zum Abschluss – mit der damit verbundenen Einseitigkeit. Die Akzentuierung der „Neutralität“ der Vertragsform gegenüber „objektiv“-materialen Wertungen ist also, lässt man zunächst die Problematik der laesio enormis beiseite, berechtigt. Dies entspricht dem Rechtsverhältnis in einer Privatrechtsgesellschaft, in der die Personen des „abstrakten Rechts“ gerade als Freie und Gleiche nicht wie in ethischen Nahbeziehungen miteinander verbunden sind, sondern „sich als Besondere Zweck“ (Hegel) sind, legitimer Weise „ihr Gutes“ (John Rawls) verfolgen. Die Abstraktion des Rechtsbegriffs gegenüber pragmatischen, ethischen oder sonstigen Inhalten, welche die Verwirklichung beiderseitiger Freiheit ermöglicht, setzt sich in der „Neutralität“ der Vertragsform fort. Es braucht den einen nicht zu kümmern, wie der andere zu seiner konkreten Vertragsentscheidung kommt – und vielfach hat er gar nicht den Einblick in dessen Verhältnisse wie beim Markttausch zwischen einander ganz Fremden (mit Locke: „Indianer und Schweizer“ in der Wildnis).38) Dass Marktpreise in relativer Objektivität existieren und sich feststellen lassen, zumal bei annähernd vollständiger Informationsmöglichkeit der Marktteilnehmer, trifft zwar in gewissem Umfang zu. Es bedeutet jedoch nicht, dass sie deshalb die verbindliche Norm „richtiger“/“gerechter“ Austauschverhältnisse wären. Umgekehrt ist es die Vielzahl der von ihren Bedarfskonzepten, von Marktgeschick, Sparsamkeit, Leichtsinn, Großzügigkeit und Zufällen in all ihrer Unterschiedlichkeit gesteuerten, sich abgleichenden Vertragsentscheidungen, aus denen in der freiheitlichen, „dezentralen“ Verkehrswirtschaft oder Privatrechtsgesellschaft sich Marktpreise bilden. Auch der allseits bekannte Interessengegensatz der Tausch-Kontrahenten (im Doppelsinne dieses Wortes) ein möglichst günstiges Geschäft zu machen, wird in der Rechtsform der Vertragsverhandlung und des Abschlusses so koordiniert, dass

36) 37)

38)

Siehe Hobbes (wie Fn. 31). Vgl. Planitz/Eckardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1961, S. 249: Franz. Revolution, Hardenberg’sche Reformen in Preußen, Gewerbefreiheit in der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869; siehe (auch zur Ambivalenz) Dipper, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 99 ff. Vgl. Locke, Sec. Treat., Ch. II, § 14, Ed. Laslett S. 277.

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die Parteien einander zwar strikt als geschäftsfähige, von Inhaltsirrtum und Zwang freie, zudem in noch zu präzisierendem Sinne unabhängig-selbständige Personen zu respektieren haben, gerade deshalb aber von den subjektiven, materialen Besonderheiten ihrer internen Motive absehen – all dies wie Nutzen-und Werteinschätzungen, Informationsvorsprünge, Geschicklichkeiten und Situationszufälle hat sich der Betreffende selbst zuzurechnen. Das wussten auch schon die römischen Juristen, und es ist fraglos die Basis für einschränkende Voraussetzungen wie im Fall der „laesio enormis“.39) Es ist auch schief, dies als „Unrichtigkeitsgarantie“ des Vertrages zu bezeichnen, weil damit eine gültige objektiv-teleologische, altnaturrechtliche oder auch ständisch-gesellschaftliche Bestimmung von „iustum pretium“ unterstellt wird: Dagegen ist unter Voraussetzung sich frei in ihren Besonderheiten und Zweckkonzepten aufeinander beziehenden Gesellschaftsbürgern jener vertragsimmanente Preis der „richtige“ – die Einhaltung basaler Bestimmungen vorausgesetzt. Ein ethisierendes Konzept von „gerechtem Preis“ und eine entsprechend ungeschützte Auslegung des Begriffs „Tauschgerechtigkeit“ sind also mit dem freiheitlichen Rechtsprinzip unvereinbar. Von der Teleologiekritik bleibt jedoch unberührt – von Aristoteles für die alte Ökonomik und Politik als selbstverständlich vorausgesetzt, von Locke auf freiheitlicher Grundlage reformuliert – der noch weiter zu entwickelnde Grundgedanke, dass die Personen nicht nur in ihrem Persönlichkeitsrecht, sondern auch in ihrer ursprünglichen privatrechtlichen Selbständigkeit hinsichtlich der gemeinsamen Existenzgrundlage als grundgleichberechtigt vorausgesetzt werden müssen – bei aller sonstigen, sich legitim entfaltenden Ungleichheit. Dieser grundlegende Status muss im vertraglichen Güter- und Leistungstausch gewahrt und bestätigt werden, sich wechselseitig produktiv erweitern, sich daher auch in den Wertsetzungen des Vertrages, bei allen Marktpreisschwankungen, stabilisierend niederschlagen. Die in jedem Vertrag vorausgesetzte wechselseitige Anerkennung der Personen in ihrem Privatrecht dem Werte nach hat also neben dem Persönlichkeitsrecht stets eine erwerbsrechtliche Dimension, welche im Folgenden als ursprünglicher Erwerb oder Teilhabe (und als Prinzip der Teilhabegerechtigkeit) erklärt wird. Besonders deutlich ist dies bei Vertragsbeziehungen, welche die komplexe, Funktionen teilende gesellschaftliche Pro39)

Vgl. oben I bei Fn. 12; siehe Göttlicher, Auf der Suche nach dem gerechten Preis, 2004, S. 121 ff. und die dort zitierten Quellen; siehe auch Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, S. 1 ff. („Unrichtigkeitsgarantie“).

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duktion organisieren, also im System der Arbeitsverhältnisse. Es muss aber auch für Güterumsatz- und Geldkreditgeschäfte gelten. Die hinsichtlich der allgemeinen Wohlfahrtsförderung so optimistische Bewertung der arbeitsteiligen Marktgesellschaft in der klassischen Nationalökonomie bis heute beruht maßgebend auf dieser Voraussetzung. Das freiheitsprinzipiierte Privatrecht hat sie systematisch durchzusetzen; es ist nicht bloß Instrument einer Ökonomie der Klugen und Mächtigen. IV. Die Tauschgerechtigkeit im Verhältnis zur schützend-ausgleichenden Gerechtigkeit und zur ursprünglich erwerbenden Gerechtigkeit – das Problem der „laesio enormis“ Die Tauschgerechtigkeit steht im Begründungs- und Voraussetzungszusammenhang zunächst zur schützend-ausgleichenden Gerechtigkeit und ihrem Prinzip – der freien Person in ihrem Selbstbesitz (dem Persönlichkeitsrecht) -, aber auch zu ihrem privatrechtlichen Selbststand. Mit Letzterem ist ein noch keineswegs allgemein anerkannter privatrechtlicher, genauer erwerbsrechtlicher Status bezeichnet, der einem subjektiven Recht auf ursprünglichen Erwerb entspricht. Vorpositiv-rechtsphilosophisch geht dies auf Begründungsüberlegungen von Locke und Kant zurück, die in jüngerer Zeit wieder aufgenommen wurden – im Hinblick auf einen haltbaren, nicht vom wohlfahrtstaatlichen Verteilungsgutdünken pervertierten Begriff von „sozialer“ oder eben: Teilhabegerechtigkeit.40) Der hier nur skizzierte Begründungszusammenhang verlangt, sich von der Denkgewohnheit, aller Erwerb sei nur abgeleitet, ursprünglicher Erwerb eine randständige Materie des Sachenrechts, zu distanzieren und mit dem Vorverständnis sich auf den Einwand einzulassen, dass die Annahme einer bloß historisch-faktischen Aneignung eine Grundungleichheit und Abhängigkeit aller Nachfolgenden bedeutet („die Welt ist weggegeben“). Umgekehrt, so setzt der Gedankengang an, steht die Weltsubstanz als Gegenstand formenden-umformenden Gebrauchs der Idee nach der gesamten Menschheit privatrechtlich zur gesamten Hand zu, so dass ursprüngliche 40)

Vgl. Locke, Sec. Treat., Ch. V, §§ 25 ff., insbesondere § 27 (Teilungsregel bei ursprünglicher Aneignung), Ed. Laslett S. 285 ff., 288; Kant, MdS; RL, §§ 10 ff., insbesondere § 13, AA VI, S. 258 ff., 263 (Vernunftbegriff eines nicht-empirischen „uranfänglichen Gesamtbesitzes“ der Menschheit als Grund gesetzlicher privater Aneignung); zur Entfaltung eingehend Köhler (wie Fn. 5); zusammenfassend Köhler, Dimensionen rechtlicher Solidarität, in: Klesczewski/Müller/Neuhaus (Hrsg.), Kants Lehre vom richtigen Recht, 2005, S. 123 ff. sowie Köhler in: FS für Mestmäcker, 2006, S. 315 ff.

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Aneignung zur freiheitlich-privatrechtlichen Selbstverwirklichung durch Individuen, Verbände, Völker zwar erlaubt sein muss (Postulat der praktischen Rechtsvernunft); diese Erlaubnis ist aber stets eingeschränkt zu denken durch das grundgleiche ursprüngliche Aneignungs- oder Teilhaberecht der anderen, ausgeglichen zu regeln nach allgemeinen Erwerbsgesetzen. Dieser ebenso ur-privatrechtliche, wie kritisch gegen Extreme (liberale historische Aneignungstheorie/Eigentumslosigkeit, Kommunismus) gerichtete Ansatz bewährt sich darin, berechtigte Intentionen der Einschränkung einseitiger Akkumulation insbesondere zur allgemeinen Zugänglichkeit der gesellschaftlichen Produktionsgrundlage auf freiheitsgemäße Weise zu ordnen, bspw. ein Recht auf Bildung, auf Arbeit zu formulieren, und zwar – gegen Vorurteile – auf freiheitlich-privatrechtlicher Begriffsbasis und in durchgreifender Kritik an einer prinzipienlos (oder egalitär) nach Gutdünken in Wirtschaft und Gesellschaft intervenierenden Umverteilungspragmatik. Auch die Schonung von nicht erneuerbaren Ressourcen und der Naturschutz überhaupt lassen sich hier verankern. Dies setzt freilich Konkretisierungsschritte voraus, die hier nicht wiederholt werden können. Für den vorliegenden systematischen Zusammenhang genügt es herauszustellen, dass der Rechtsstatus des Subjekts als freier, gleicher Person im Selbstbesitz ihrer unmittelbaren Persönlichkeitsrechte sich durch das ursprüngliche Erwerbs- oder Teilhaberecht erweitert um den Status der Selbständigkeit, d. h. einem durch private Vermögensrechte oder ausgebildetes Tätigkeitsvermögen (ihrem besonderen Vermögen) begründeten Recht auf, nicht bloß von anderer Willkür abhängigen Zugang zur gemeinsamen (gesellschaftlichen) Existenz- oder Produktionsgrundlage (dem allgemeinen Vermögen) – kurz: die konkret entwickelte Fähigkeit, mittels eigener privater Besitzrechte und/oder Leistungsvermögen an der gesellschaftlichen Substanz grundgleichberechtigt produktiv und konsumtiv teilzuhaben. Diesem ursprünglichen Teilhaberecht und seinen konkreteren Ausprägungen entsprechen wechselseitig-allgemeingesetzlich gewährleistete Einräumungspflichten, die alle Gesellschaftsmitglieder proportional schulden. Ausprägungen der Teilhabegerechtigkeit aufgrund des ursprünglich grundgleichen Erwerbsrechts aller an der Substanz in der Form des allgemeinen gesellschaftlichen Vermögens sind, was hier nicht ausgeführt werden kann, besondere gesetzliche Erwerbsrechte wie etwa die Rechte auf Familienlastenausgleich, auf Bildung, auf Arbeit. Sie sind im gesellschaftlichen Verhältnis nach bestimmten vermögensproportionalen Maßstäben im Verhältnis zu allen vermögenden Gesellschaftsmitgliedern ge-

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schuldet.41) Dadurch wird vor allem die Grundspaltung zwischen Besitzenden und bloßen Inhabern ihres Arbeitsvermögens (im Status eines nur besitzlosen Tagelöhners) tendenziell aufgehoben, Armenhilfe (Sozialhilfe) wird zum Grenzfall für zur Selbsterhaltung Unfähige. Auch das Vorverständnis wird unter solchem „Selbststand“ nicht nur Unternehmer (Kapitalund Produktionsmittelinhaber) und „Selbständige“ im engeren Sinne rechnen, sondern jedenfalls auch „abhängig“ Arbeitende, sofern sie durch (Aus-)Bildung und vermittels korporativ-verbandsrechtlicher und sozialrechtlicher Normen des entwickelten Sozialstaates in das System der gesellschaftlichen Arbeits- und Austauschbeziehungen dauerhaft integriert sind (weshalb massenhafte Erwerbslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse nach dem vorgestellten Prinzip als Grundsatz-unrecht zu bewerten sind). Als Zwischenergebnis resultiert eine Aristoteles naturgemäß noch unbekannte Gerechtigkeitsform – die ursprünglich-erwerbende oder Teilhabegerechtigkeit (lat. participatio, partem capere), die auf jenem Prinzip des ursprünglichen Erwerbsrechts aller an der Weltsubstanz beruht. Dieses Teilsystem der Gerechtigkeit regelt insbesondere subjektiv-rechtliche Bedingungen selbständigen Sich-Einbeziehens in den gemeinschaftlichen (gesellschaftlichen) Vermögensbildungszusammenhang. Festzuhalten ist, dass diese Form sich von der iustitia distributiva des Aristoteles durch ihren gesellschaftlich-interpersonalen, privat-erwerbsrechtlichen, nicht politischen, Gegenstand und das entsprechende Prinzip unterscheidet. Danach schulden alle Gesellschaftsmitglieder einander proportional-vermögensgleich die erwerbsrechtlichen Grundbedingungen einer selbständigen Teilhabe. Besonders deutlich wird dies im Generationenverhältnis (Rechte auf Bildung, Familienlastenausgleich), aber auch – in problematisch klärungsbedürftiger Weise – an einem „Recht auf Arbeit“, in letzter Linie an einem auf zum selbständigen Erwerb Unfähige strikt begrenzten Sozialhilferecht. Für die entwickelte Systematik der Gerechtigkeitsformen gilt daher, dass die schützend-ausgleichende (tutatrix/correctiva) der ursprünglich-erwerbenden (Teilhabegerechtigkeit) und der abgeleitet-austauschenden (commutativa/Tauschgerechtigkeit) und jene dieser vorausgesetzt sind. Die Tauschgerechtigkeit durch autonomen Vertrag ist also nicht bloß formell, sondern voraussetzungsreich. Die Privatautonomie der freien, gleichen, 41)

Siehe bereits Köhler in: FS für Mestmäcker, 2006, S. 315 ff.; demnächst Köhler, Freiheitliches Recht und Gerechtigkeit, voraussichtlich 2016.

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erwerbsrechtlich-ökonomisch selbständigen Person bestätigt sich im Vertrag in wechselseitiger Anerkennung, erweitert sich also in ihrer personalen Freiheitsrechtsverwirklichung durch Einbezug der Leistung anderer und zwar dem Grunde und dem Werte nach. Dieser Voraussetzungszusammenhang kann rechtswidrig ins Gegenteil verkehrt werden, wenn sich der Vertragsinhalt gegen diese Basis, die „Autonomie“ sich gegen ihre eigene Grundlage richtet. In Betracht kommt hier zunächst das Persönlichkeitsrecht in seiner Unmittelbarkeit (Leben, Körperintegrität, persönliche Freiheit) und darauf bezogene Selbstveräußerungsschranken, die nach richtiger Ansicht aus einer selbstbezogenen Grundpflicht in Analogie des römischrechtlichen Grundsatzes „honeste vive“ abgeleitet sind.42) Als Vertragsschranke gelten sie positivrechtlich mittels § 134 BGB und gesonderter Verbotsnormen wie etwa nach §§ 216, 228 StGB oder §§ 8, 18 Transplantationsgesetz. Gegenüber dem Vertragspartner wirken diese Normen als akzessorische Beteiligungsverbote bezüglich des selbstbezogenen Verbotes. Als Vertragsschranke kraft schützender Gerechtigkeit ist einzubeziehen auch die privatrechtlich-ökonomische „Selbständigkeit“ der Person in der Gesellschaft – wie dargelegt –, die aufgrund des ursprünglichen Erwerbsrechts konkret entwickelte Fähigkeit, mittels eigener privater Besitzrechte und/oder Leistungsvermögen an der gesellschaftlichen Substanz grundgleichberechtigt produktiv und konsumtiv teilzuhaben. Schon der abstraktrechtliche Tauschvertrag im außergesellschaftlichen Verhältnis (Naturrechtszustand) für sich autarker Personen (Verbände) beruht typischerweise auf einer beiderseitigen Mehrwertproduktion im Gefüge von Lebensnotwendigem (necessity) und Wohlergehen (convenience), die sich im Vertrag umsetzt – mit dem Zweck, die Gebrauchswerte beiderseits zu verbessern. Allerdings ist dies im naturzuständlichen Außenverhältnis nicht zwingende Voraussetzung der Vertragsgeltung, wie Hobbes richtig bemerkt hat. Auch Verträge, in denen ein Teil mit seiner Gegenleistung sich überhaupt nur das Existenznotwendige als Basisselbständigkeit erwerben kann, oder einer dem anderen in einer zufälligen Notsituation das lebensnotwendige Existenzmittel verkauft, sind an sich nicht verboten. Denn über die abstraktrechtliche Notstandspflicht hinaus sind für sich existierende Personen/

42)

Vgl. Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, 2001; Köhler, Die Rechtspflicht gegen sich selbst, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14, 2006, S. 425 ff.

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Verbände außerhalb von Gemeinschaftsbeziehungen einander nichts schuldig. Die Hilfeleistungspflicht in existentieller Not von Mensch zu Mensch und das entsprechende Notstandsrecht des anderen implizieren keine Verschiebung dem Werte nach, sondern nur den lebensnotwendigen Gebrauch; der Pflichtige darf also das lebensnotwendige Trinkwasser oder (nach Lockes Beispiel) den Ersatzanker für das sonst manövrierunfähige Schiff auf hoher See dem anderen auch verkaufen, sofern dieser aktuell leistungsfähig ist. Verboten ist allerdings die Ausnutzung der Notsituation zu einem unmäßigen Preis. Denn dadurch wird die zunächst nur situationsbezogene Abhängigkeit/Unselbständigkeit zur Regel im Interpersonalverhältnis gemacht. Darin liegt das schwerwiegende (Kriminal-)Unrecht des Wuchertatbestandes:43) Nicht allein im unmäßigen Preis und im Wertentzug für sich genommen, sondern in der verallgemeinernden Instrumentalisierung von Abhängigkeitszuständen der Situation (Not- oder allgemeine Krisenlage) oder im persönlichen Habitus (Unerfahrenheit) zu selbstschädigenden bzw. eigennützigen Handlungen in vermögensrechtlicher Hinsicht. Würde dies zur allgemeinen Regel des Umgangs, so könnte man den Betroffenen ausziehen bis aufs Hemd, also gänzlich aus seinem Status privatrechtlicher Selbständigkeit verdrängen. Der Nichtigkeitsgrund grenzt also an die Gründe mangelnder Freiheit durch Irrtum/Täuschung oder Drohungszwang an. Im Institut der laesio enormis zufolge des Reskripts Diokletians wird nun ganz von den (im Fallkontext allenfalls zu vermutenden) Voraussetzungen einer persönlichen Zwangslage oder allgemeinen Krisenlage abgesehen und tatbestandsmäßig nur auf die evidente Wertdifferenz abgestellt. Konsistent ist das nur, wenn man annimmt, dass die erforderliche Negation der privatrechtlichen Selbständigkeit wesentlich schon aus dem eindeutigen Maß (Qualität und Quantität) des zugleich selbst schädigenden Vermögenswertentzuges folgen kann, auch wenn die stets mitwirkende Unüberlegtheit, Anfälligkeit nicht die Wuchertypizität erreicht. Zur Wertdifferenz müssen also zusätzliche Umstände hinzukommen. Folgt man der Methodologie einer kasuistisch voranschreitenden Jurisprudenz wie der römischrechtlichen, so ist es augenscheinlich die Art des Vermögensgegenstandes, die zusammen mit der Wertdifferenz die Basisselbständigkeit des Verkäufers betrifft. Dass es 43)

Zum strafrechtlichen Wuchertatbestand und seiner Geschichte, zum Rechtsgut „das Vermögen als Ganzes“ siehe Maurach-Schroeder, Strafrecht BT, 9. Aufl. 2003, Teilbd. 1, S. 560 ff.; in privatrechtlicher Sicht kritisch bezüglich zu sehr subjektiv-ethisierender Voraussetzungen siehe Becker, Die Lehre von der laesio enormis, 1993, S. 137 ff., 177 ff.

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sich in der Antike, aber auch heute nicht selten um Grundstücksgeschäfte handelt, ist dann nicht zufällig, sondern für die Begriffskonkretisierung leitend. Das evidente Maß der aktuellen Betroffenheit des Verkäufers in seiner Selbständigkeit wird per se als Wucher weiteren Sinnes behandelt, gleichgültig welche Schwäche der Käufer ausnutzt – und sei es auch nur Uninformiertheit über die Marktlage. Auseinandergesetzt impliziert der diskutierte Nichtigkeitsgrund also eine Reihe von Voraussetzungen: Zugrunde liegt die Logik selbständiger Vertragsparteien, die an sich in einem Tauschgleichgewicht stehen. Unter Bedingungen einer strukturellen ökonomischen Selbständigkeit, etwa nach dem Muster der antiken Hausherren oder überhaupt vermögender Wirtschaftssubjekte, ist der Austausch durch den produktiven Selbststand der Beteiligten auch wertmäßig definiert – mit allen impliziten Unterschieden, die sich die Vertragsparteien als selbstverantwortliche selbst zuzurechnen haben. Als Störungen fundamentaler Äquivalenz kommen Grenzlagen äußerer Not in Betracht, etwa individuelles Unglück (z. B. Seenot) oder eine für noch unentwickelte Wirtschaften typische Schwerfälligkeit der Güterallokation (z. B. Getreideknappheit infolge von Lieferengpässen). Dieses situationsbedingte, temporäre Autarkie-Defizit auszunutzen und durch einen ausbeuterischen Preis den anderen in seinem selbständigen Privatrechtsstatus anzugreifen, ist dem Vertragspartner verboten. Aber beim Verkauf eines Grundstücks – in der agrarischen Wirtschaft die Grundlage der Selbständigkeit des Personenverbandes (Haus, Familie) – indiziert die gravierende Abweichung vom üblichen Marktpreis (um etwa 50 %) schon für sich die grundsätzliche Verletzung, gleichgültig welche Schwäche des Verkäufers mitgewirkt haben mag. Der Vertrag ist dann auf Verlangen der Gegenseite rück abzuwickeln oder anzupassen. Die Verallgemeinerung kann sich daher nicht auf jedwedes Geschäft beziehen, sondern auf die gravierende Betroffenheit der Selbständigkeit. Diese kann durch die Veräußerung von „wesentlichen“ Vermögensbestandteilen oder auch durch die Übernahme einer Verbindlichkeit ohne hinreichenden Ausgleich insbesondere weit unter Wert substantiell angegriffen werden. Die Negation der eigenen bzw. seitens des mitwirkenden Kontrahenten fremden Selbständigkeit in ihrem für sich sprechenden Eigengewicht ist es, was nicht nur der Zeit nach, sondern auch nach den Umständen scheinbar weit auseinander liegende Fälle miteinander verbindet. Die Abstraktion eröffnet ein Fallspektrum. Im antiken Ausgangsfall des kaiserlichen Reskripts indiziert der Verkauf von Land, typischerweise die Produktionsgrundlage für die selbständige ökonomische Einheit Familie/

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Haus, und zwar eindeutig unter Wert, entweder eine spezifische Not-/ Zwangs-/Abhängigkeitslage für sich oder im Zusammenhang mit einer allgemeinen Krise,44) schwerlich nur unzureichende Informiertheit oder Fahrlässigkeit gegen sich selbst – und deren Ausnutzung durch einen skrupellosen Aufkäufer. Man muss über die Zeiten hinweg annehmen, dass der am allgemeinen Wohl als Bedingung inneren Friedens pflichtgemäß orientierte Souverän des Hobbes hier ebenso eingegriffen hätte wie der römische Kaiser Diokletian durch sein berühmtes Reskript.45) Aber auch wenn heute ein Angestellter zu einem weit überhöhten Preis ein Wohngrundstück kauft, so legt ihn das für sein Leben entscheidend in einer Weise fest, die seine vermögensmäßige Unabhängigkeit, namentlich auch infolge der Unmöglichkeit zur Wiederveräußerung ohne schweren Verlust, substantiell betrifft. Mag „Unerfahrenheit“ i. S. des Wuchertatbestandes auch nicht vorliegen, die typische Neigung eines Käufers, der sich den Traum vom „Eigenheim“ erfüllen will, Bedenken zu verdrängen, gepaart mit unzureichendem Sachverstand und Vertrauensseligkeit, genügt als eine fassbare Schwäche aktueller Urteilskraft, die im Hinblick auf die schwere Betroffenheit der Selbständigkeit des anderen nicht ausgenutzt werden darf. In die Sicherung des Obersatzes einbezogen sei noch der Fall der Übernahme einer selbstschuldnerischen Bürgschaft durch eine 21-jährige, vermögenslose, geschäftsunerfahrene Frau für das risikoreiche Geschäft ihres Vaters auf Betreiben der Kredit gebenden Bank, mit der Folge, dass jene sich in lebenslange Schuldenabhängigkeit bringt.46) Die Vergleichbarkeit der Fälle hinsichtlich einer Rechtsverletzung überhaupt setzt zunächst voraus, den Begriff des Vermögensrechts als Basis der Selbständigkeit nicht nur auf Sachen- oder Forderungsrechte, sondern auch auf das eigene Tätigkeitsver44) 45)

46)

Überzeugend aus den Zeitumständen und Intentionen des Kaisers erläuternd siehe Göttlicher, Auf der Suche nach dem gerechten Preis, 2004, S. 147 ff. Vgl. Hobbes, De cive, Cap. 13, Ausg. Gawlick S. 204 ff. – umfassende Verpflichtung des Souveräns auf das „allgemeine Wohl“, auch mit Wirtschaftsinterventionskompetenzen: Hobbes ist trotz seiner letztlich unzureichenden Theorie ein Mitbegründer des modernen (Rechts-)Staates. Vgl. die gegenüber der zunächst unkritischen Zivilgerichtsbarkeit (siehe noch BGH, Urt. v. 19.1.1989 – IX ZR 124/88, BGHZ 106, 269 ff. = ZIP 1989, 219) bahnbrechende Leitentscheidung des BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 16.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, BVerfGE 89, 214 = ZIP 1993, 1775): Aus der Garantie der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG ergebe sich die Pflicht zur Inhaltskontrolle von „Verträgen, die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind“ (Hervorh. v. Verf.); zum speziellen Problemkreis Kleim, Der Einfluss einseitiger ökonomischer Interessenverflechtungen auf die Wirksamkeit von Kredit- und Bürgschaftsverträgen, 1998.

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mögen hinsichtlich der gesellschaftlichen Substanz zu beziehen. Das ist nicht unumstritten, kann hier aber nicht vertieft werden. Was das Maß der Verletzung abgeht, so klären sich nun die Gesichtspunkte: In den genannten Fällen mag jeweils auch ein Element der Abhängigkeit (ökonomische Krisensituation, moralischer Druck aus dem Familienverhältnis bis zur Grenze einer inkonnexen Nötigung) oder auch nur unzureichende Informiertheit hinsichtlich der Markt- und Wertverhältnisse mitspielen, die man bei sonst nachteiligen Vertragsentscheidungen der Selbstverantwortlichkeit des Betroffenen zurechnet. Geht es aber um die ökonomische Existenz in Selbständigkeit, so betrifft die Schranke ebenso die Fahrlässigkeit sich selbst gegenüber wie jede fremde Mitwirkung an solcher Selbstschädigung.47) Das bestätigt sich auch am Haftungsmaßstab. Ohnehin kommt es rechtlich nicht an auf ethisierende Maßstäbe, wie „sittenwidrig“ in § 138 Abs. 1 BGB, § 228 StGB oder das Argument der „Billigkeit“, des „Anstandes“ („humanum“) wie es das Reskript Diokletians, übrigens auf dem Hintergrund einer längerfristigen moralphilosophischen Tradition, anführt.48) Vielmehr sind solche Maßstäbe auf ein freiheitsrechtlich haltbares Kriterium zurückzuführen. Sodann sind subjektive Merkmale im Privatrecht, anders als im Strafrecht, nicht konstitutiv für die Zurechnung; es genügt insofern von vornherein ein Maßstab objektivierter Zurechnung; insofern ist der Ansatz am strafrechtlichen Wuchertatbestand (i. S. „bewusster Ausnutzung“) irreführend. Ähnliches gilt schließlich auch für den Schweremaßstab hinsichtlich der Schwäche des Geschäftspartners, die nicht ausgenutzt werden darf. Der Straftatbestand typisiert möglichst eindeutige, erhebliche Defizite. Für den 47)

48)

So setzt die Rspr. (siehe BGH, Urt. v. 9.10.2009 – V ZR 178/08, NJW 2010, 363) für das „wucherähnlich“ sittenwidrige Grundstückgeschäft zwar einerseits voraus, dass bei grobem Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung dem Verkäufer „bewusst ist oder er sich grob fahrlässig der Einsicht verschließt, dass der Käufer nur unter dem Zwang der Verhältnisse oder aus anderen, die freie Willensentschließung beeinträchtigenden Umständen, wie einem Mangel an Urteilsvermögen oder wegen einer erheblicher Willensschwäche, sich auf den für ihn ungünstigen Vertrag einlässt (Senat, BGHZ 146, 298, 302 […])“, lässt aber andererseits dafür eine tatsächliche Vermutung streiten: In der Sache bedeutet dies, auch jeden erheblichen Informationsmangel genügen zu lassen. Unter den heute hinzu tretenden Bedingungen einer Inflationierung der Vermögensgütermärkte (Grundstücksmärkte) durch die rechtsgrundsätzlich unhaltbare enorme Buchgeldproduktion seitens des Bankensystems insbes. die EZB (vgl. zur Grundsatzkritik Köhler, Humes Dilemma, 2015) und zugleich die Verführung zur vorläufig zinsbilligen Finanzierung hoher Schuldenaufnahme, wodurch den Leuten die Realität systematisch verstellt wird, ist das nur zu berechtigt. Es ist freilich ein anderer Tatbestand als der enge Wucher, hat mit „Sittenwidrigkeit“ nichts zu tun und folgt auch nicht aus einem allgemeinen Prinzip „objektiver“ Wertäquivalenz. Vgl. Göttlicher, Auf der Suche nach dem gerechten Preis, 2004, S. 25 ff. zu Cicero.

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objektiv-rechtlichen Schutz der Privatautonomie hinsichtlich der fundamentalen vermögensbezogenen Selbständigkeit genügen dagegen schon fassbar geringere Gefährdungen im Selbstverhältnis, die ein anderer nicht objektiv zurechenbar instrumentalisieren darf. Je eindeutiger die Evidenz des Verlustes an Selbständigkeit, desto geringer die Anforderungen an die Schwächesituation. Letztlich impliziert die Regelung auch ein Element des Schutzes vor unüberlegten Entscheidungen gegen sich selbst.49) Zusammengefasst setzt der Nichtigkeitsgrund der „laesio enormis“ neuer Begründung keine (als mitwirkend vermutete) qualifizierte Abhängigkeitslage des Betroffenen, die im engeren Sinne wucherisch ausgenutzt wird, voraus. Es genügt aber auch nicht nur die quantitativ erhebliche Äquivalenzstörung als solche, die dann gleichsam flächig verallgemeinert werden könnte. Vielmehr muss diese umschlagen in eine Betroffenheit der vermögensbezogenen Selbständigkeit in einem solchen Maße, dass die Person bei Fortgeltung des Vertrages sich nicht mehr aus eigener Kraft darauf einstellen kann.50) Oder typologisch formuliert: kein pater oder keine mater familias, der/die bei Sinnen ist, würde bei vollständiger Information über die Wertverhältnisse und bei wohlberaten sachgemäßer Erwägung der eigenen Lebenslage einen solchen Vertrag unterschreiben, wodurch er/sie ohne entfernt angemessene Gegenleistung wesentliche Teile der Produktionsgrundlage an einen Dritten quasi verschenkt oder sein Arbeitsvermögen entsprechend bindet. Dies ist in der theoriegeschichtlichen Langzeitperspektive die bleibende Lehre des spätrömischen Rechts, nicht die Fixierung auf das Kriterium des ½ unter Verkehrswert und dessen, wie man sagen muss, in die Irre gehende Ausdehnung auf alle möglichen Vertragsinhalte. Vielmehr begründet erst die auf die Qualität der (Selbst-)Schädigung 49)

50)

Zur Interpretation des Textes von Hegel, RPh, § 77 Anm.: die Aufhebung der Vertragsverbindlichkeit infolge laesio enormis beruhe darauf, „daß der Kontrahierende durch die Entäußerung seines Eigentums Eigentümer und in näherer Bestimmung quantitativ derselbe bleibt“. Dass der sich Entäußernde im bleibenden Wert seines Eigentums anerkannt wird, setzt eine von ihm selbst zurechenbar-gültig gesetzte Gleichbewertung voraus, nicht einen objektiven Marktwert, von dem abzuweichen es x legitime Gründe im Aushandlungsvorgang gibt. Setzt er indessen in einer Schwächesituation, beherrscht durch den anderen, als gleich, was er vernünftigerweise anders bewertet, so ist dies das Kriterium der Nichtanerkennung, die gravierende Differenz zum Marktpreis nur das Indiz. Hegel vertritt also nicht eine im alten Sinne „materiale“ Tauschgerechtigkeit; so aber Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 72 ff.; in gleicher Richtung wie hier siehe bereits W.-R. Molkentin, Recht der Objektivität, 2003, S. 523 ff. Gestützt auf eine ähnliche Formulierung der Definition des materiellen Verbrechensbegriffs, die von E. A. Wolff, in: Hassemer (Hrsg), Strafrechtspolitik, 1987, S. 137, 212 stammt; siehe auch Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 22 ff.

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eingehende Interpretation auch die geforderte Übermaßdifferenz, während die i. S. eines material-äquivalenten Preises interpretierte Austauschgerechtigkeit angeblich aristotelischer, jedoch wohl christlich-naturrechtlicher Provenienz nicht zu erklären vermag, warum nicht jede irgend erhebliche Abweichung zur Ungültigkeit/Anpassung führen soll. Eigentlich ist der Hinweis der Quelle deutlich: Es handelt sich um einen Grundstücksverkauf, und der Wertentzug dadurch bedeutet eine „enorme“ Verletzung des Verkäufers in seiner privatrechtlich-ökonomischen Selbständigkeit.51) Die Kasuistik insbesondere auch die Einbeziehung von Fällen der Übernahme von Verbindlichkeiten (Krediten, Bürgschaften) bei grobem Missverhältnis lässt sich von der begründeten Basis aus ordnen. Die entwickelte Einschränkung des Austauschs durch Grundsätze des Persönlichkeitsschutzes und der Wahrung privatrechtlich-ökonomischer Selbständigkeit des anderen harrt seiner Übertragung auf internationale Austauschbeziehungen, die gegenwärtig noch vielfach durch (historisch überkommene) Machtasymmetrien und Ausnutzung fremder Schwäche und dadurch bedingte Verformung der „terms of trade“ geprägt sind – als Teilelement einer dringenden internationalen Konstitutionalisierungspflicht nach Privatrechtsprinzipien, ohne welche die manifest wachsende Instabilität weiter um sich greifen wird.52) V. Ausblick: Tauschgerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit in Integration – Zur Kritik der „iustitia distributiva“ nach Verteilungsgutdünken Im Ausblick sei das konstruktive Potential der vorgestellten Systematik angedeutet. Gerechtigkeitsformen fordern die Verwirklichung ihres Prinzips in systematischer Weise. Für die Tauschgerechtigkeit bedeutet dies, nicht nur die Geltungsvoraussetzungen autonomen Güter- und Leistungsaustauschs schlüssig zu regeln, sondern auch die Kontinuität der versprochenen An51)

52)

Verfehlt Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, 2014, zusammenfassend S. 63; nach zutreffender Kritik an Subjektivierung zu unbestimmt und am Missverhältnis als solchem haftend Mayer-Maly in: FS für Larenz, 1983, S. 404 ff., 408. Vgl. empirisch zu den Verhältnissen eines liberalisierten Weltmarktes Jackson/Soerenson, Introduction to International Affairs, 3. Ed. 2007, S. 184 ff. („unequal Trade“); zur praktischen Interdependenz der Verfassungsformen hinsichtlich der Gesamtstabilität Kant, MdS, RL, § 43, AA VI, S. 307: wenn es an einer der Teilverfassungen des Staats-, Völker-, Weltbürgerrechts fehlt, müsse „das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden und endlich einstürzen“. – Der vorstehende Text wurde geschrieben vor Beginn der sog. Flüchtlingskrise.

Vertragsfreiheit und Tauschgerechtigkeit im System der Gerechtigkeitsformen

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erkennung dem Werte nach systemisch zu gewährleisten. Das betrifft vor allem die Zuverlässigkeit des Wertmediums Geld. Es fungiert als allgemeiner Gegenstand zur vergleichenden Wertbemessung aller anderen Gegenstände, also in seiner Tausch- und Wertaufbewahrungsfunktion.53) Diese allumfassende Wertrepräsentation, die auf einer Seite an die Stelle einer gegenständlichen Leistung tritt (so Aristoteles paraphrasierend Locke: „Money answers all things“), ist folgerichtig in die vertragliche Anerkennung als gleichwertig einzubeziehen. Die Erhaltung der eigenen Repräsentations- und Maßstabsfunktion des Geldes für die Bewertung aller Güter (der „innere Geldwert“ im Unterschied zum Tauschwert) muss daher als allgemeine Bedingung der Tauschgerechtigkeit in der Gesellschaft für alle gleichmäßig garantiert sein, sei es zum nachfolgenden Umsatz im Konsum, sei es als Ersparnis für späteren Verbrauch, für langfristige Vorsorge oder für Investitionen in die Erwerbsgrundlage (Kapitalbildung). Aufgrund der Integration von gesellschaftlich-arbeitsteiliger Produktion und Austauschverträgen vermittelt die Geldeinheit letztlich die selbständig verdiente Wertteilhabe am Produktionsertrag. Das Erfordernis der Geldwertstabilität hat daher auch einen teilhabe-rechtlichen Grund. Deshalb gilt für jeden privatrechtlich-gesellschaftlichen Austausch die kategorische Regel mit Verfassungsrang, den Wert des Geldes als allgemeinen Wertrepräsentanten stabil zu halten. Davon ist die Realität der privilegierten Produktion und gewinnbringenden Ausleihung von enormen Mengen Buchgeldes „aus dem nichts“ durch das Bankensystem (Privatbanken und Zentralbanken) unter dem Einfluss sozial-utiliaristischer Lehren der Ökonomie weit entfernt.54) Herauszustellen ist vor allem das systematische Verhältnis zur Vertragsgerechtigkeit insbesondere im gesellschaftlich austauschenden Produktionsverhältnis: Jede produktive Tätigkeit im gesellschaftlichen Verhältnis verdient aus ursprünglicher, grundgleicher Teilhabe am allgemeinen Vermögen zu seiner Selbständigkeit mindestens das Existenzminimum (necessity), wozu nach dem Standard der Gesellschaft auch das Minimum an Vorsorge für Krankheit, vorübergehende Erwerbslosigkeit, Invalidität, Alter (Sozialversicherung) zählt, und eine Mindestbeteiligung am gemeinsam erarbeiteten Mehrwert (surplus, convenience). Das beruht auf folgender 53)

54)

Dazu zunächst Köhler in: FS für Frisch, 2013, S. 887 ff.; sowie Köhler, JZ 2013, 957 ff. je m. w. N.; nunmehr Köhler, Humes Dilemma – Das Geld und die Verfassung, 2015: zum folgenden Locke-Zitat siehe Locke, in: Kelly (Ed.), Locke on Money, Vol. II, 1991, S. 399, 410. Zur Kritik siehe Köhler, Humes Dilemma – oder: Das Geld und die Verfassung, 2015, zusf. Vorwort S. 7 f. u. S. 46 f., 71.

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Überlegung: In besonderen Verhältnissen gemeinschaftlicher oder gesellschaftlicher Weltaneignung folgt aus dem Grundsatz ursprünglich erwerbsrechtlicher Teilhabe eine Grund- und Wertteilhabe an der gemeinsamen Produktionsgrundlage, dem allgemeinen Vermögen. Dem Grunde nach ansetzend in Rechten auf (Aus-)Bildung und Arbeit, muss diese sich folglich in die Wertsetzungen produktiver Austauschverträge übertragen. Zwar kann es sich nicht darum handeln, dem Vertragspartner eine bestimmte Gewinnerwartung, einen bestimmten Einsatzertrag etwa i. S. eines objektiven Arbeitswertes zu garantieren. Denn aufgrund der unterschiedlichen Fähigkeiten der Personen zu Produktion und Tausch, der vielfältig bedingten Ungleichheit der Privatautonomie nach Bedürfnissen, Geschicklichkeit, zufälligen Umständen, Marktchancen und den daraus resultierenden Wertrelationen, muss eine legitime Ungleichheit in der Weltaneignung, letztlich auch in der Akkumulation von Tauschwerten vorausgesetzt werden.55) Aber gleichwohl gilt in jenem ursprünglich erwerbsrechtlichen Sinne ein Wertgrundsatz. Der Vertrag muss die ursprüngliche besitz- und erwerbsrechtliche Selbständigkeit der Person in der gemeinsamen Grundlage bestätigen und erweitern. Es muss sich also für den Vertragspartner in einem das produktive Austauschverhältnis überhaupt konstituierenden Sinne lohnen, zum Markte zu gehen; nicht darf er so abhängig sein, dass er für andere seine Haut zu Markte tragen muss. Im aristotelischen Begriff der Tauschgerechtigkeit entspricht dem das Grund- und Maßprinzip der Wechselseitigkeit und Gleichheit des „Bedarfs“, was gleichermaßen handlungsmächtige, selbständige Ökonomen voraussetzt. Nach Lockes neuzeitlicher Formulierung56) ist es das Streben nach einem besseren Leben (convenience), das über die bloße Subsistenzwirtschaft (necessity) hinaustreibt, auf Mehrproduktion und durch Tausch auf Mehrwertrealisierung (surplus value) aus ist. In diesem Sinne muss der gesellschaftlich – produktive, vertragliche Austausch für alle produktiv Beteiligten werterhöhend sein, die Summe der subjektiven Bedürfnisbefriedigungen verbessern und auf

55)

56)

Grundlegend Locke, Sec. Treat., Ch. V, §§ 32, 36 f., 40 ff., 47 ff., Ed. Laslett S. 290 ff., 292 f., 296 ff., 300 ff., anknüpfend an den Arbeitsbegriff zu Grund, Maß, Ungleichheit der Aneignung, vermittelt durch Tauscherwerb; dazu Priddat, Das Geld und die Vernunft, 1988, S. 63 ff.; zum „Boden der Ungleichheit“ siehe auch Hegel, RPh, § 49 Anm. und § 200 Anm.; zur daraus folgenden Egalitarismuskritik Köhler, Iustitia fundamentum regnorum. Gerechtigkeit als Grund der Politik, in: Schmücker/Steinvorth (Hrsg.), Gerechtigkeit und Politik, 2002, S. 25 ff. Vgl. das Inselbeispiel von Locke, Sec. Treat., Ch. V, § 48, Ed. Laslett S. 301; konzentriert Hegel, RPh, § 77.

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diese Weise die allgemeine Wohlfahrt erweitern.57) Allgemein formuliert gilt deshalb für jede gesellschaftlichen Leistungsaustauschbeziehung, insofern die Beteiligten in die gemeinsame Substanzaneignung einbezogen sind und einander als Mitkonstituenten des allgemeinen Vermögens anerkennen müssen, der folgende Wertgrundsatz: Dem Vertragspartner müssen, ohne Verletzung der Selbstveräußerungsgrenzen, nicht nur Mindestbedingungen würdiger Existenz in Gemeinschaft bzw. Gesellschaft (das sog. Existenzminimum) bleiben, sondern darüber hinaus auch ein zusätzlicher Nutzen-/Wertzuwachs, proportional seinem Ertragsanteil am produktiven Leistungsaustausch (surplus value, Mehrwertanteil). Dadurch unterscheidet sich die selbständig-produktive gesellschaftliche Existenz von der grund-abhängigen Austauschbeziehung oder einer bloß notdürftigen Existenzsicherung durch andere (Armenhilfe, Sozialhilfe). Leistungsaustauschverträge insbesondere Arbeitsverträge müssen diesen Mindestwert kraft gesetzlicher oder korporativvertraglicher Regelung selbst enthalten, wenn die Produktivität der Unternehmung dies hergibt, oder doch so voraussetzen, dass ein von allen vermögenden (höher produktiven) Personen/ Unternehmen proportional getragener Teilhabeausgleich diese Mindestteilhabe garantiert – eine Belastung, aus der sich niemand herausrationalisieren kann, die daher auch auf Einbeziehung aller und gegen Erwerbslosigkeit wirkt.58) Demgegenüber ist die heutige Zulassung prekärer, unabgesicherter Arbeitsverhältnisse, die Angewiesenheit auf Sozialhilfe im Alter erwerbsrechtlich gänzlich unhaltbar. Aus der systematischen Unterscheidung zwischen Teilhabe- und Tauschgerechtigkeit folgt indessen abgrenzend, dass mit Aufwendungen für Teilhaberechte, die eigentlich in vermögensproportionalem Maße von allen geleistet werden müssen, keineswegs ein gleichsam zufälliger Vertragspartner etwa im Arbeitsverhältnis belastet werden darf. So sind zwar schützende Leistungen an werdende Mütter (Mutterschutz) sowie Aufwendungen zur Wahrung der Vereinbarkeit von gesellschaftlicher Tätigkeit und Familienpflicht teilhabe-rechtlich wohl begründet, was noch näher ausgeführt werden müsste. Aber es ist nicht begründet, damit in ungleich-besonderem 57)

58)

Im Pareto-Kriterium als reinem Effizienzprinzip, das von der erwerbsrechtlichen Grundstruktur absieht, ist das unzureichend erfasst; auch ist es anfällig dafür, anstelle der wechselseitig-konkreten Freiheitserweiterung abstrakte Nutzengrößen zu setzen; siehe John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 88 ff.; Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen, 2002, S. 71 ff., 139 ff. Zu diesem auch ökonomischen Zusammenhang siehe Köhler (Fn. 5), besonders in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, 1999, S. 103, 121 ff.

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Maße den Vertragspartner im Arbeitsverhältnis der Frau („Arbeitgeber“) zu belasten. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Vertragsfreiheit und „iustitia distributiva“ werden zwar solche Eingriffe in die Vertragsäquivalenz durch den (um-)verteilenden Sozialstaat thematisiert und es wird mit der These des „Vorrangs“ der Vertragsgerechtigkeit eine kritische Position bezogen, die indessen mit diffusen Abwägungen wieder eingeschränkt wird.59) Diese Zögerlichkeit resultiert aus einer vorliegend behobenen Prinzipienunklarheit. Das Privatrecht muss also seine Prinzipien gegen den nach Gutdünken eingreifend-umverteilenden Interventionsstaat behaupten und auf einer allgemein-proportionalen Lastentragung bestehen. Es zeigt sich zugleich, dass eine „iustitia distributiva“, verstanden als Ermächtigung zu sozialstaatlichem Verteilungsgutdünken, ein „Un-Begriff“ ist, während begründete Intentionen „sozialer“ Gerechtigkeit durch das erläuterte Prinzip des ursprünglichen Erwerbsrechts und das darauf beruhende konkretisierungsfähige System der Teilhabegerechtigkeit erfüllt werden. Überblickt man den systematischen Zusammenhang, so handelt es sich demnach um den Rückbezug der Tauschgerechtigkeit auf Voraussetzungen, die unmittelbar in den Prinzipien der schützenden, mittelbar in der ursprünglich erwerbenden oder teilhabenden Gerechtigkeit, im Status als selbständige gesellschaftliche Privatrechtsperson, gründen. Nicht handelt es sich um eine materialisierte Tauschgerechtigkeit i. S. einer durchgängigen objektiven Wertäquivalenz; und auch eine „iustitia distributiva“, die als objektives Verteilungsgutdünken des Staates so eingesetzt würde, bleibt ohne freiheitlich-privatrechtlichen (wert-theoretischen) Grund. Gleichwohl kann von einem „Abschied von der iustitia commutativa“60) nur im vormaligen teleologisch-bevormundenden Sinne, nicht aber wirklich die Rede sei, vielmehr verbinden sich in der privatrechtsphilosophisch, in der Nachfolge von Locke und Kant begründeten Doppelbedeutung der „iustitia commutativa“ privatautonomer Austausch nach parteilichen Wertsetzungen und ursprünglicher Erwerb (oder Teilhabe) zu allgemeiner Selbständigkeit.

59)

60)

Vgl. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 78 ff., der zunächst richtig die „ungerechte Verteilung von Lasten nach dem Zufallsprinzip“ konstatiert, dann aber doch mit diffusen Kriterien („besonderer Legitimation“ oder „Sozialpflichtigkeit“) die Frage in der Schwebe lässt; in diffuser Weise den kritisierten ungesicherten Begriff von „Iustitia distributiva“ in Ansatz bringend Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 104 f. So aber Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung, 2005, S. 102 ff.

Sein und Schein im Überweisungsrecht – Zur Geltung von Rechtsscheingrundsätzen bei der Autorisierung des Überweisungsauftrags sowie im Bereicherungsausgleich – KATJA LANGENBUCHER Inhaltsübersicht I. II.

Der Ausgangspunkt: Dogmatik der Rechtsscheinhaftung Rechtsscheinhaftung bei der Autorisierung von Überweisungsaufträgen? 1. Subsumtion unter die Grundsätze von der Anscheinsvollmacht und vom Handeln unter fremdem Namen 2. Die Wertung des § 675v BGB a) Kollision mit Richtlinienvorgaben? b) Zurechnung eines bewusst gesetzten Rechtsscheintatbestandes c) Zurechnung eines fahrlässig gesetzten Rechtsscheintatbestandes

III. Rechtsscheinhaftung und Bereicherungsausgleich? 1. Die Kondiktion im Dreipersonenverhältnis 2. Der Schutz des Überweisungsempfängers 3. Die Ausnahmen vom Grundsatz der Direktkondiktion 4. Die Wertung des § 675u BGB a) Kollision mit Richtlinienvorgaben? b) Die Direktkondiktion im Überweisungsrecht IV. Ergebnis

Das Recht des bargeldlosen Zahlungsverkehrs bietet sich für einen Festschriftbeitrag zu Ehren eines Herausgebers der ZBB nicht nur an, weil es um ein bankrechtliches Kerngebiet geht. Dem Jubilar eine Freude zu machen, darf man auch deshalb hoffen, weil es zugleich intrikate Fragen deutscher Zivilrechtsdogmatik aufwirft sowie eine Nagelprobe für deren Integrationsfähigkeit in einen europarechtlichen Bezugsrahmen darstellt. I. Der Ausgangspunkt: Dogmatik der Rechtsscheinhaftung Die Haftung auf der Grundlage eines Rechtsscheintatbestandes zählt zu den wohletablierten Instituten deutscher Dogmatik.1) Entsteht ein Rechtsscheintatbestand, der dem Schuldner zurechenbar ist, und darf der Gläubiger sich darauf verlassen, dass der Schein der Wirklichkeit entspricht, führt das zu einem Erfüllungsanspruch. Das gilt unzweifelhaft, wenn die 1)

Statt aller Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 9 ff.

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Zurechenbarkeit des Scheintatbestandes darin begründet liegt, dass der Schuldner den Scheintatbestand bewusst gesetzt hat, die §§ 171, 172 BGB belegen das. Die h. L. und die Rechtsprechung lassen für das Eingreifen der Erfüllungshaftung aus Rechtsschein darüber hinaus auch Fahrlässigkeit genügen, wichtigste Manifestationen hiervon sind die Behandlung des fehlenden Erklärungsbewusstseins2) sowie der Anscheinsvollmacht.3) II. Rechtsscheinhaftung bei der Autorisierung von Überweisungsaufträgen? Wer seiner Bank einen Überweisungsauftrag erteilt, gibt nach § 675j Abs. 1 Satz 1 BGB eine Willenserklärung ab. Für diese gelten auf den ersten Blick sämtliche Regeln des Allgemeinen Teils des BGB, folglich auch die Grundsätze über die Rechtsscheinhaftung. Deshalb hat der Kontoinhaber bspw. einzustehen, wenn er bewusst duldet, dass ein Dritter in seinem Namen Überweisungsaufträge erteilt.4) 1. Subsumtion unter die Grundsätze von der Anscheinsvollmacht und vom Handeln unter fremdem Namen Gilt das aber auch, wenn er leicht fahrlässig übersieht, dass der Schein entstanden ist, ein Dritter habe Vertretungsmacht, im Namen des Kontoinhabers zu handeln? Gilt es überdies, wenn er leicht fahrlässig übersieht, dass ein Dritter unter dem Namen des Kontoinhabers auftritt? Die erste Variante fällt nach herkömmlicher Sicht unter die Grundsätze der Anscheinsvollmacht. Entsteht aus der Sicht des Zahlungsdienstleisters der Rechtsschein, ein Dritter habe Vertretungsmacht, so bindet ein erteilter 2)

3)

4)

BGH, Urt. v. 7.6.1984 – IX ZR 66/83, BGHZ 91, 324 = ZIP 1984, 939; Armbrüster in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 119 Rz. 101; Arnold in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, vor § 116 Rz. 16 f.; Dörner in: Hk-BGB, 8. Aufl. 2014, vor §§ 116 – 144 Rz. 5; Ahrens in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 10. Aufl. 2015, § 119 Rz. 22; Mansel in: Jauernig, BGB, 16. Aufl. 2015, vor § 116 Rz. 5; Wendtland in: BeckOK-BGB, Ed. 37, § 119 Rz. 23; a. A. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 427 f. BGH, Urt. v. 12.2.1952 – I ZR 96/51, BGHZ 5, 111, 116; Dörner in: Hk-BGB, 8. Aufl. 2014, § 173 Rz. 9; Frensch in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 10. Aufl. 2015, § 167 Rz. 42; Schilken in: Staudinger, BGB, 2014, § 167 Rz. 40; Schubert in: MünchKommBGB, 7. Aufl. 2015, § 167 Rz. 111; a. A. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 48 ff.; Flume, Juristentag-Festschrift, Bd. I, S. 180 ff.; Langenbucher, Die Risikozuordnung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2001, S. 26 ff., 145 f. Herresthal in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, Kap. 5, 2013, § 675u Rz. 7; Spindler, Internet-Banking und Haftungsverteilung zwischen Bank und Kunden, in: FS für Nobbe, S. 215, 218 f.

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Überweisungsauftrag den Kontoinhaber jedenfalls dann, wenn er hätte erkennen können, dass der betreffende Rechtsschein entsteht. Ähnliches gilt, wenn der Dritte – wie praktisch viel häufiger – nicht als Vertreter des Kontoinhabers auftritt, sondern unter dessen Namen, bspw. i. R. einer betrügerischen „Man-in-the-Middle-Attacke“. Dabei gibt der Kontoinhaber auf einem online bereitgestellten Überweisungsformular seine Daten an. Im Hintergrund manipuliert der „Man-in-the-Middle“ das System, sodass tatsächlich ein ganz anderer Überweisungsauftrag bei dem Zahlungsdienstleister eingeht. Je nach eingesetztem Authentifizierungsmechanismus muss die tatsächlich zur Ausführung kommende Überweisung zusätzlich noch per TAN-Generator, auf einem Mobiltelefon oder dergleichen bestätigt werden. Nimmt der Kontoinhaber diese Bestätigungshandlung unbedacht vor, ohne zu realisieren, dass Empfänger und ggf. Betrag abgeändert wurden, erfolgt die von dem Betrüger in Auftrag gegebene Überweisung. Der Kontoinhaber sieht auf seinem Bildschirm weiterhin die eigentlich gewollte Überweisung. Geht man mit der Rechtsprechung davon aus, dass der Betrüger hier unter dem Namen des Kontoinhabers handelt, sind nach h. M. die §§ 164 ff. BGB analog anzuwenden, denn dem Zahlungsdienstleister kommt es darauf an mit dem Namensträger abzuschließen.5) Kombiniert man dies mit den Grundsätzen zur Anscheinsvollmacht, ist der Kontoinhaber an das Handeln des Betrügers gebunden, wenn er hätte erkennen können, dass bei seiner Bank der Rechtsschein entsteht, ein von ihm autorisierter Überweisungsauftrag gehe ein.6) 2. Die Wertung des § 675v BGB a) Kollision mit Richtlinienvorgaben? Die Subsumtion unter die soeben dargestellten Rechtsscheinregeln zeitigt folgendes Resultat: Der Kontoinhaber hat für einen in oder unter seinem 5)

6)

LG Darmstadt, Urt. v. 28.8.2014 – 28 O 36/14, WM 2014, 2323, 2326 m. krit. Rezension von Linardatos, BKR 2015, 96 ff.; Dörner in: Hk-BGB, 8. Aufl. 2014, § 164 Rz. 9; Frensch in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 10. Aufl. 2015, § 164 Rz. 47; Maier-Reimer in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 164 Rz. 12; Schilken in: Staudinger, BGB, 2014, vor §§ 164 ff. Rz. 90 f.; Schubert in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 164 Rz. 136 ff.; Valenthin in: BeckOK-BGB, Ed. 37, § 164 Rz. 34. LG Darmstadt, Urt. v. 28.8.2014 – 28 O 36/14, WM 2014, 2323, 2326; Schwab in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 812 Rz. 88.

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Namen erteilten Überweisungsauftrag bereits bei leichter Fahrlässigkeit einzustehen. Die dogmatische Legitimation hierfür liegt in dem aus der Sicht seiner Bank entstandenen Rechtsscheintatbestand. Dem Kontoinhaber wird dieser zugerechnet, wenn er das Handeln des unbefugten Dritten hätte erkennen und verhindern können. Den §§ 675u, 675v BGB, die Art. 54, 61 der Zahlungsdiensterichtlinie7) umsetzen, liegt eine vom vorstehend Skizzierten abweichende Systematik zugrunde. Die Durchführung einer Überweisung setzt eine wirksame Autorisierung voraus. Fehlt es hieran, trägt die Zahlstelle das Risiko, § 675u Satz 1 BGB, Art. 54 Abs. 2 Satz 2 Zahlungsdiensterichtlinie.8) Eine Schadensersatzhaftung sehen die § 675v BGB, Art. 61 der Zahlungsdiensterichtlinie vor. Wird ein Zahlungsauthentifizierungsinstrument gestohlen, geht es verloren oder kommt es abhanden, haftet der Zahler nach § 675v Abs. 1 Satz 1 BGB verschuldensunabhängig auf Schadensersatz bis zu einem Betrag von 150 €.9) Darüber hinaus haftet er gemäß § 675v Abs. 2 BGB auf Schadensersatz, wenn ihm die vorsätzliche oder die grob fahrlässige Verletzung von Sorgfalts- und Anzeigepflichten nach § 675l BGB zur Last fällt. Auf Erfüllung wird überhaupt nicht gehaftet. Nach Art. 86 Abs. 1 ist die Zahlungsdiensterichtlinie vollharmonisierend. Spielraum für den nationalen Gesetzgeber, die Richtlinie abweichend umzusetzen, existiert deshalb nicht. Ob in dieser Situation überhaupt eine Kollision mit Richtlinienvorgaben vorliegt, ist umstritten. Wer das ablehnt, wird folgendermaßen argumentieren: Art. 54 der Zahlungsdiensterichtlinie sagt nicht mehr, als dass eine Autorisierung überhaupt erforderlich ist. Auf welche Weise autorisiert wird, bleibt dem nationalen Gesetzgeber überlassen. Gestattet dieser schon bei einfach fahrlässigem Handeln die Zurechnung eines etwa entstandenen Rechtsscheintatbestandes, so bleibt der Zahler hieran gebunden.

7)

8) 9)

Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/ EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. (EG) 2007 Nr. L 319/1. Köndgen, Das Recht des neuen Zahlungsverkehrs, JuS 2011, 481, 489: Keine Haftungsfrage, sondern schlicht fehlender Anspruchsgrund. Köndgen, JuS 2011, 481, 488: Sorgfältiger Umgang mit der Karte selbst als implizite Pflicht aus § 675v Abs. 1 BGB.

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Verstärkend hat man darauf hingewiesen, dass die Zahlungsdiensterichtlinie keine Vorgaben für die Autorisierung macht, Art. 54 Abs. 2.10) Ob das Fehlen einer Formvorschrift einen Rückschluss auf die hier in Rede stehende Zurechnungsproblematik erlaubt, ist bezweifelt worden.11) In der Sache wird man zwar in der Tat davon ausgehen können, dass die Richtlinie keine Vorgaben zur Abgabe von Willenserklärungen nach nationalem Recht machen wollte. Nicht übersehen sollte man allerdings, dass die Richtlinie ein fein ausdifferenziertes System zur Zurechnung von Verantwortlichkeiten zwischen Zahler und Zahlungsdienstleister errichtet. So findet sich eine – aus deutscher Sicht systemfremde – verschuldensunabhängige Einstandspflicht des Kontoinhabers, die ihn zu sorgfältigem Umgang mit Zahlungsinstrumenten ermuntern soll. Zugleich ist seine darüber hinausgehende Verantwortlichkeit auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit begrenzt, das Risiko leicht fahrlässigen Handelns trägt die Bank. Das legitimiert sich mit Blick auf deren Möglichkeiten zur Risikostreuung, Versicherbarkeit und nicht zuletzt Verantwortlichkeit für den organisatorischen Ablauf des Zahlungsprozesses. Der Rückgriff auf allgemeine Rechtsscheingrundsätze zur Zurechnung von Willenserklärungen stört die von der Richtlinie vorgegebene Risikoordnung empfindlich und zwar mit Blick auf eine besondere Problematik der Rechtsscheinhaftung wie sie von der h. M. in Deutschland vertreten wird. Soweit es nämlich um die Zurechnung eines bewusst gesetzten Rechtsscheintatbestandes geht, lassen sich die deutschen Regeln, wie sogleich zu zeigen sein wird, ohne Weiteres mit den Richtlinienvorgaben in Einklang bringen (unten b). Problematisch ist dies hingegen, wenn ein entstandener Rechtsscheintatbestand auf der Basis einfach fahrlässigen Handelns zugerechnet werden soll (unten c). b) Zurechnung eines bewusst gesetzten Rechtsscheintatbestandes Duldet der Kontoinhaber bewusst, dass ein Vertreter in oder unter seinem Namen Überweisungsaufträge autorisiert, gibt er zwar nicht selbst eine 10)

11)

In diese Richtung etwa Grundmann, Das neue Recht des Zahlungsverkehrs – Teil I, WM 2009, 1109, 1114; Mülbert, Was Kreditinstitute für erforderlich halten dürfen – Risikoverteilung zwischen Kreditinstitut und Kunde bei Zahlungen an betrügerische Dritte, in: FS für Canaris, Bd. II, 2007, S. 271, 282, 284. Langenbucher in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2013, Kap. 3, § 675j Rz. 12.

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Willenserklärung ab. Immerhin weiß er aber nicht nur „was er tut“, sondern auch dass die vertrauende Partei sich auf den gesetzten Scheintatbestand möglicherweise verlassen wird.12) Auf die Verwandtschaft derartigen Verhaltens mit der Bindung an ein ausdrücklich gegebenes Wort, ist hingewiesen worden.13) Mit der Risikoverteilung der Richtlinie passt dies gut zusammen, weil die Richtlinie bei vorsätzlichen Pflichtverletzungen des Zahlers eine Schadensersatzhaftung anordnet, Art. 61 Abs. 2. Damit sind nicht nur die Fälle der Duldungsvollmacht erfasst. Auch wenn der Zahler i. R. eines Authentifizierungssystems seiner Bank die Bitte, eine elektronisch in Auftrag gegebene Überweisung zu bestätigen, erfüllt, indem er auf seinem TAN-Generator oder auf seinem Mobiltelefon die Überweisung akzeptiert, hat er wirksam autorisiert. Liest er die Daten der Überweisung in diesem Zusammenhang nicht mehr durch, steht er nicht anders als der Unterzeichner eines Briefes, der ungelesen unterzeichnet wird.14) In beiden Fällen geht der Kontoinhaber bewusst ein Risiko ein. Der Entscheidung des LG Darmstadt wird man deshalb jedenfalls im Ergebnis zustimmen können. c) Zurechnung eines fahrlässig gesetzten Rechtsscheintatbestandes Komplizierter liegen die Dinge soweit es um die Zurechnung eines nur fahrlässig gesetzten Rechtsscheintatbestandes geht. Das betrifft die typische Anscheinsvollmacht, wenn also der Kontoinhaber hätte wissen können, dass ein Dritter in seinem Namen Überweisungsaufträge tätigt. Zu dieser Gruppe zählt auch das Handeln unter fremdem Namen. Der Kontoinhaber hätte z. B. erkennen können, dass ein Betrüger sich seiner Identität bemächtigt und unter seinem Namen Überweisungsaufträge zu Lasten seines Kontos tätigt. In diesen Fällen geht es zwar aus der Perspektive des deutschen Rechts weiterhin um die Zurechnung von Willenserklärungen, mithin um eine Frage, zu welcher sich die Richtlinie überhaupt nicht verhält. Anders als bei der soeben besprochenen Duldungsvollmacht fällt es aber in diesen Fällen schwer, eine Verwandtschaft zwischen demjenigen Verhalten, welches als Grundlage einer Rechtsscheinzurechnung herangezogen wird, und der

12) 13) 14)

Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 29. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 29. Zu diesem Mansel in: Jauernig, BGB, 16. Aufl. 2015, § 119 Rz. 1.

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bewussten Abgabe einer Willenserklärung herzustellen. Das Argument, die Richtlinie verhalte sich überhaupt nicht zu den Regeln des nationalen Rechts über die Zurechnung von Willenserklärungen sieht sich deshalb erheblichem Druck ausgesetzt.15) Immerhin erfasst die Richtlinie den fahrlässigen Umgang mit Sicherheitsmerkmalen i. R. einer Überweisung durchaus. Das von ihr angeordnete System sieht wie berichtet eine verschuldensunabhängige Haftung bis zu einem Maximalbetrag von 150 € vor. Mit der Härte einer verschuldensunabhängigen Haftung korrespondiert, dass jenseits dieser Grenze für leicht fahrlässiges Verhalten überhaupt nicht auf Schadensersatz gehaftet wird. Es liegt auf der Hand, dass sich eine sehr deutliche Verschiebung der vorgesehenen Risikoverteilung ergibt, wenn im deutschen Recht unter Rückgriff auf Rechtsscheingrundsätze eine Erfüllungshaftung auch für leicht fahrlässiges Verhalten angeordnet wird. Dem drohenden Verstoß lässt sich durch eine richtlinienkonforme Anwendung der Grundsätze zur Anscheinsvollmacht begegnen.16) Führen diese dazu, dass die Autorisierung eines Zahlungsauftrags erfolgt, setzt die Zurechnung eines entstandenen Scheintatbestandes Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit auf der Seite des Kontoinhabers voraus. Entsteht also bspw. bei der Bank der unzutreffende Eindruck, der Kontoinhaber habe einen Überweisungsauftrag autorisiert, hat dieser hierfür nur dann einzustehen, wenn er diesen Scheintatbestand vorsätzlich erkannt und nicht verhindert hat oder ihn grob fahrlässig hätte erkennen und verhindern können. III. Rechtsscheinhaftung und Bereicherungsausgleich? Ähnliche Probleme wie die soeben berichteten ergeben sich bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung einer fehlgeschlagenen Zahlung. Wiederum kollidiert die Wertung des § 675u BGB, Art. 60 Zahlungsdiensterichtlinie mit Ausnahmen, welche die deutsche Rechtsprechung zulässt, um Rechtsscheingesichtspunkten auch im Bereicherungsausgleich Rechnung tragen zu können.

15) 16)

Siehe II 2 a. In diese Richtung auch Linardatos, BKR 2015, 96, 98 ff.

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1. Die Kondiktion im Dreipersonenverhältnis Die Rückabwicklung einer nicht autorisierten Überweisung folgt dem Grundmodell der sog. „Anweisungsfälle“.17) Wird eine Überweisung fehlerfrei durchgeführt, führt dies in mindestens drei Kausalverhältnissen zu einer Leistung.18) 1.

Die Bank des Überweisenden kommt ihrer Pflicht nach, die Überweisung auszuführen.

2.

Die Bank des Überweisungsempfängers erfüllt ihre Pflicht, einen erhaltenen Betrag in ein Kontokorrentverhältnis aufzunehmen.

3.

Der Überweisende leistet auf eine Schuld im Valutaverhältnis.

Mängel, die sich auf ein Kausalverhältnis beschränken, führen zu einer Kondiktion nur im jeweils betroffenen Verhältnis. Ganz deutlich ist das bei Mängeln des Valutaverhältnisses. Wurde hier ohne Rechtsgrund geleistet, hat der Überweisende einen Anspruch aus Leistungskondiktion gegen den Überweisungsempfänger. Ein Mangel im Deckungsverhältnis zwischen Überweisendem und Bank hat dieselbe Rechtsfolge. Führt die Bank eine Überweisung aus, obwohl sie hierzu nach dem zugrunde liegenden Vertragsverhältnis nicht verpflichtet ist, kann sie von dem Überweisenden die Herausgabe eines dadurch erlangten Bereicherungsgegenstandes verlangen. Kein Mangel im Deckungsverhältnis liegt vor, wenn bereits die Anweisung fehlerhaft ist. Von den Folgen einer fehlerhaften Anweisung ist der Überweisende frei zu halten, das entspricht bereicherungsrechtlicher Dogmatik ebenso wie der Grundregel des § 675u Satz 1 BGB. Nimmt die Bank deshalb ohne einen wirksam autorisierten Überweisungsauftrag eine Überweisung vor, steht ihr nur eine Nichtleistungskondiktion gegen den Überweisungsempfänger zu. Hieraus folgen drei Axiome des Bereicherungsausgleichs in Anweisungsfällen.

17)

18)

Grundlegend Canaris, Der Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis, in: FS für Larenz, 1973, S. 799 ff.; siehe außerdem Schwab in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 812 Rz. 59 ff., 81 ff.; für die Überweisung: Langenbucher, Die Risikozuordnung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2001, S. 172 ff. Zum folgenden Text Langenbucher in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, BankrechtsKommentar, 2013, Kap. 3, § 675u Rz. 8 ff. (z. T. wörtliche Übernahme).

Sein und Schein im Überweisungsrecht

391

1.

Der (angeblich) Überweisende leistet nicht an den Empfänger der Überweisung, denn er ist von den Folgen der nicht autorisierten Überweisung freizuhalten. Das liegt in den Fällen betrügerischen Handelns auf der Hand, der betrogene Überweisende will an den Empfänger des Geldes keine Leistung erbringen. Nichts anderes kann aber gelten, wenn zwischen dem (angeblich) Überweisenden und dem Überweisungsempfänger gleichsam zufällig eine offene Schuld besteht, denn auch hier ist der (angeblich) Überweisende von den Folgen einer fehlerhaften Anweisung frei zu halten. Es wird sich freilich sogleich zeigen, dass für diese Konstellationen Ausnahmen befürwortet werden (siehe unten 3).

2.

Die Bank hat gegen den (angeblich) Überweisenden keinen Kondiktionsanspruch. Das folgt schon daraus, dass dieser nichts erlangt hat.19) Wiederum ist zu betonen: Selbst wenn eine offene Schuld im Valutaverhältnis besteht, wird diese nicht erfüllt, wenn es an einer wirksamen Anweisung fehlt.20) Die Bank, die trotz unwirksamer Autorisierung überwiesen hat, kann deshalb insbesondere nicht von dem (angeblich) Überweisenden den Wert derjenigen Forderung verlangen, welche der Kontoinhaber gar nicht erfüllen wollte.

3.

Der (angeblich) Überweisende hat gegen den Überweisungsempfänger keinen Kondiktionsanspruch. Dessen Bereicherung entsteht i. S. des § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 BGB „auf Kosten“ des Zahlungsdienstleisters.21) 2. Der Schutz des Überweisungsempfängers

Der Überweisungsempfänger wird in seinem Vertrauen auf das Behaltendürfen einer empfangenen Überweisung i. R. der §§ 818 Abs. 3, 819 Abs. 1 BGB geschützt.22) Es kommt vor, dass der (angeblich) Überweisende eine Mitschuld daran trägt, dass seine Bank vom Vorliegen einer Autorisierung ausging. § 675v BGB sieht für diese Konstellationen einen Schadensersatzanspruch der Bank vor. Hat der (angeblich) Überweisende schuldhaft dazu beigetragen,

19) 20) 21) 22)

Schwab in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 812 Rz. 81. Schwab in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 812 Rz. 85. Schwab in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 812 Rz. 87. Lorenz in: Staudinger, BGB, 2007, § 812 Rz. 51.

392

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dass der Überweisungsempfänger davon ausging, den eingehenden Betrag behalten zu dürfen, haftet er nach § 280 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz. Das umfasst auch etwaige Folgeschäden. 3. Die Ausnahmen vom Grundsatz der Direktkondiktion Die zuletzt angesprochene, schadensersatzrechtliche Bewältigung eines Mitverschuldens des (angeblich) Überweisenden entspricht nicht dem Weg, den die deutsche Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Lehre eingeschlagen haben. Besteht zwischen dem (angeblich) Überweisenden und dem Empfänger der nicht autorisierten Überweisung ein schuldrechtliches Verhältnis oder darf dieser aus einem anderen Grund davon ausgehen, den zu Unrecht angewiesenen Betrag behalten zu dürfen, wendet die Rechtsprechung Rechtsscheingrundsätze an.23) Geprüft wird folglich, ob aus der Sicht eines objektiven Empfängers davon ausgegangen werden konnte, dass der eingehende Geldbetrag für den Empfänger bestimmt war. Ist das zu bejahen, kommt es darauf an, ob dieser Scheintatbestand dem angeblich Überweisenden zurechenbar ist. Hierfür wendet die Rechtsprechung nicht – wie etwa bei der weiter oben erörtern Anscheinsvollmacht – Verschuldensgrundsätze an, sondern rechnet nach Risikosphären zu.24) Einen auf diese Weise beachtlichen Rechtsscheintatbestand hat der Bundesgerichtshof etwa bei der Ausführung eines gekündigten Dauerauftrags, bei einer Überweisung trotz eines wirksamen Widerrufs und bei einer Zuvielüberweisung bejaht.25) 4. Die Wertung des § 675u BGB a) Kollision mit Richtlinienvorgaben? Fasst man den soeben berichteten Stand der deutschen Dogmatik zusammen, wird der Kontoinhaber, der ohne wirksame Autorisierung belastet wurde, im Grundsatz von Folgewirkungen hieraus frei gehalten. 23)

24) 25)

BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07, BGHZ 176, 234 = ZIP 2008, 1161; ebenso Schulze in: Hk-BGB, 8. Aufl. 2014, § 812 Rz. 27; Wendehorst in: BeckOK-BGB, Ed. 37, § 812 Rz. 229 ff. Krit. insbesondere Lorenz in: Staudinger, BGB, 2007, § 812 Rz. 51. BGH, Urt. v. 19.1.1984 – VII ZR 110/83, NJW 1984, 1348 = ZIP 1984, 427; BGH, Urt. v. 9.5.1983 – II ZR 241/82, BGHZ 87, 246 = ZIP 1983, 1056; BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07, NJW 2008, 2331, 2333 = ZBB 2008, 255.

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393

Der Bereicherungsausgleich entlang dem Modell der Anweisungsfälle sieht die Direktkondiktion der zu Unrecht überweisenden Bank bei dem Überweisungsempfänger vor, dem Kontoinhaber ist der abgebuchte Betrag zurückzubuchen. Ist aber bei dem Überweisungsempfänger, im Regelfall auf der Basis eines bestehenden oder ehemaligen Valutaverhältnisses, der Rechtsschein einer berechtigten Zahlung entstanden, gilt Abweichendes. Fällt dieser Rechtsschein eher in die Risikosphäre des (angeblich) Überweisenden als in diejenige des Überweisungsempfängers, ist jener einer Kondiktion seiner Bank ausgesetzt. § 675u BGB und Art. 60 Abs. 1 der Zahlungsdiensterichtlinie ordnen an, dass der (angeblich) Überweisende von den Folgen einer nicht autorisierten Überweisung unbehelligt bleibt. Wie bereits berichtet, haftet er gleichwohl verschuldensunabhängig bis zur Höhe von 150 €, wenn der angestoßene Überweisungsvorgang in Zusammenhang mit einem verlorenen, gestohlenen oder sonst abhanden gekommenen Zahlungsinstrument oder unsicherer Aufbewahrung personalisierter Sicherheitsmerkmale steht, §§ 675v Abs. 1 BGB, Art. 61 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie. Darüber hinaus ist er seiner Bank nur haftbar, wenn ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Liegt in der beschriebenen Differenz eine Kollision mit Vorgaben der Richtlinie? Von vielen wird das bestritten.26) Hierfür führt man insbesondere an, dass die Richtlinie nur vertragliche, nicht aber bereicherungsrechtliche Fragen regle. Das trifft zweifellos zu und lässt sich sogar erweitern. Die Zahlungsdiensterichtlinie verzichtet nicht nur auf Anordnungen zum Bereicherungsausgleich nach einer nicht autorisierten Überweisung. Sie enthält sich auch einer Regelung der Erfüllungswirkung im Valutaverhältnis. Genau hier liegt aber der eigentliche Grund der im Bereicherungsausgleich entstehenden Probleme. Weil dem Eingang eines Geldbetrages Erfüllungswirkung zukommen soll, obwohl der Schuldner die zugrunde liegende Überweisung nicht autorisiert hat, entsteht überhaupt ein „att26)

AG Hamburg-Harburg, Urt. v. 24.4.2013 – 642 C 2/13, WM 2014, 352 f. m. zust. Anm. von Hadding, WuB_I D1.-Überweisungsverkehr 3.14; Dieckmann, Die SEPAÜberweisung: Eine unterschätzte Gefahr für Banken – Zum Rückforderungsanspruch der Bank bei einer Fehlüberweisung, WM 2015, 14, 16 f.; Grundmann, WM 2009, 1109, 1117; Grundmann in: GK-HGB, Bankvertragsrecht, 3. Teil Rz. 420; Prütting in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 10. Aufl. 2015, § 812 Rz. 93 ff.; Nobbe, Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Überweisungsverkehr, WM 2012, Sonderbeil. 1, S. 23; Omlor in: Staudinger, BGB, 2012, § 675z Rz. 6; Wendehorst in: BeckOKBGB, Ed. 37, § 812 Rz. 229.

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raktiver“ Bereicherungsgegenstand in Gestalt der erloschenen Forderung. Ließe man es an der Erfüllungswirkung fehlen, könnte die Bank, die zu Unrecht überwiesen hat, bestenfalls einen Bereicherungsanspruch des (angeblich) Überweisenden gegen den Überweisungsempfänger kondizieren.27) Diese Kondiktion der Kondiktion ist aber weniger reizvoll als die sonst eingreifende Direktkondiktion der Bank gegen den Empfänger des zu Unrecht angewiesenen Betrages. Aus dem Schweigen der Richtlinie zu diesen Fragen ergibt sich allerdings – ähnlich wie weiter oben28) – keineswegs, dass eine Kollision mit den Wertungen der Richtlinie ausscheidet. Das sorgfältig austarierte System von Risikozuweisung zum Zahlungsdienstleister, verschuldensunabhängiger Haftung des Kontoinhabers in begrenzter Höhe sowie weitergehender Schadensersatzhaftung nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit wird verschoben, wenn schon leichte Fahrlässigkeit oder gar bloße Risikozurechnung entgegen § 675u BGB, Art. 60 Abs. 1 der Zahlungsdiensterichtlinie für den (angeblich) Überweisenden nachteilige Folgen zeitigt. Folgt man der Systematik der Richtlinie, führt die nicht autorisierte Überweisung zu einer unverzüglichen Rückbuchung, der (angeblich) Überweisende steht als sei der Vorgang nicht geschehen. Das Risiko, den zu Unrecht angewiesenen Betrag vom Überweisungsempfänger nicht zurückfordern zu können, trägt die Bank. Der Rückgriff auf Rechtsscheingrundsätze i. R. des Bereicherungsausgleichs führt stattdessen dazu, dass in einem bestehenden Valutaverhältnis Erfüllung eintritt, obgleich der Überweisende die Zahlung nicht autorisiert hatte, mithin gar nicht oder nicht in dieser Höhe erfüllen wollte. Der durch die Richtlinie abgesicherte Anspruch des (angeblich) Überweisenden gegen den Zahlungsdienstleister auf unverzügliche Rückbuchung ist aus diesem Grund mit einem Zurückbehaltungsrecht oder einer Aufrechnungslage belastet. Im wirtschaftlichen Ergebnis geht der Fehler der Bank zulasten des (angeblich) Überweisenden. Das lässt erhebliche Zweifel an der effektiven Umsetzung der Richtlinie aufkommen.

27) 28)

Wendehorst in: BeckOK-BGB, Ed. 37, § 812 Rz. 229b. Siehe II 2 a.

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b) Die Direktkondiktion im Überweisungsrecht Der drohende Richtlinienverstoß kann freilich einigermaßen unproblematisch behoben werden. Folgt man jedenfalls für den Anwendungsbereich der Zahlungsdiensterichtlinie der vor Manuskriptabgabe dieses Beitrags auch vom Bundesgerichtshof übernommenen Ansicht, wonach der Bereicherungsausgleich im Überweisungsrecht stets über eine Direktkondiktion des Zahlungsdienstleisters bei dem Überweisungsempfänger vorzunehmen ist,29) laufen europarechtlich vorgeformtes Überweisungsrecht und deutsches Bereicherungsrecht störungsfrei nebeneinander.30) Der (angeblich) Überweisende ist von jeglicher Folgewirkung des Überweisungsvorgangs, der auf eine nicht autorisierte Überweisung zurückgeht, freizuhalten. Seine Bank hat den zu Unrecht angewiesenen Betrag nach § 675u BGB zurückzubuchen. Hiervon gilt auch dann keine Ausnahme, wenn dem (angeblich) Überweisenden das Entstehen eines Rechtsscheins bei dem Empfänger des angewiesenen Betrages zuzurechnen ist. Hat der (angeblich) Überweisende einen derartigen Vertrauenstatbestand bei dem Überweisungsempfänger gesetzt, bleibt für diesen der kondiktionsrechtliche Vertrauensschutz des § 818 Abs. 3 BGB im Verhältnis zur unautorisiert überweisenden Bank. Gegenüber dem (angeblich) Überweisenden ist der Rückgriff auf Schadensersatzansprüche gemäß § 280 Abs. 1 BGB eröffnet. Im Verhältnis des (angeblich) Überweisenden zum Zahlungsdienstleister gelangen hingegen ausschließlich die §§ 675u, 675v BGB zur Anwendung.

29)

30)

Langenbucher in: Langenbucher/Bliesner/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2013, Kap. 3 § 675u Rz. 21 ff.; pointiert etwa Foerster, Nicht autorisierte Zahlungsvorgänge und Ausschlussfrist des § 676b Abs. 2 BGB – Ausgleich in Anweisungsfällen, AcP 213 (2013), 405, 438 ff.; so nun auch BGH, Urt. v. 16.6.2015 – XI ZR 243/13, ZIP 2015, 1622 = WM 2015, 1631 m. Anm. u. a. von Hadding, WUB 2015, 488; Omlor, EWiR 2015, 595; Wösthoff, BB 2015, 2068. LG Berlin, Urt. v. 16.10.2014 – 10 S 8/14, WM 2015, 376, 377; LG Hannover, Urt. v. 21.12.2010 – 18 O 166/10, ZIP 2011, 1406; Belling/Belling, Zahlungsdiensterecht und Bereicherungsausgleich bei nicht autorisierten Zahlungsvorgängen, JZ 2010, 708, 711; Casper in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 675u Rz. 19 ff.; Lorenz in: Staudinger, BGB, 2007, § 812 Rz. 51; v. Sachsen Gessaphe in: Dauner-Lieb/Langen, BGB, 2. Aufl. 2012, § 812 Rz. 157; Schmidt-Kessel/Hadding in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2012, § 812 Rz. 200, 203; Sprau in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 812 Rz. 107a; Stadler in: Jauernig, BGB, 16. Aufl. 2015, § 812 Rz. 37.

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IV. Ergebnis Die Dogmatik der Rechtsscheinhaftung kollidiert sowohl bei der Autorisierung eines Überweisungsauftrags als auch i. R. des Bereicherungsausgleichs nach einer nicht autorisierten Überweisung mit den Vorgaben der Zahlungsdiensterichtlinie. Dem erstgenannten Konflikt ist durch eine richtlinienkonforme Auslegung der Grundsätze der Anscheinsvollmacht zu begegnen, die analog § 675v Abs. 2 BGB nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit eingreift. Das zuletzt genannte Spannungsverhältnis ist durch die Übernahme derjenigen Ansicht aufzulösen, die in den Anweisungsfällen des Bereicherungsrechts ausnahmslos die Direktkondiktion der angewiesenen Bank gegen den Empfänger der nicht autorisierten Überweisung befürwortet.

Conduct Rules and Investor Protection: the Evolution of the EU’s Approach NIAMH MOLONEY Contents I. Introduction: Conduct Rules and the EU II. Looking Forward and Back III. The Evolution of Conduct Regulation: A Story of Enhancements to Retail Market Regulation?

IV. Product Governance: An Enhancement to Conduct Regulation?

I. Introduction: Conduct Rules and the EU Among the many distinguished contributions by Professor Köndgen to scholarship on capital markets regulation is his work on EU investor protection regulation and, in particular, on the harmonized conduct of business regulation regime. Of particular note is his influential 1998 analysis of the impact of the 1993 Investment Services Directive on Member States and EU (harmonized) conduct of business regulation, which analysis is contained in the important collection edited by Professor Guido Ferrarini1) – one of the very first books on EU capital markets regulation. In this piece Professor Köndgen considered the purpose, scope, and classification of conduct of business rules, the impact of the Investment Services Directive on rule harmonization, and the interaction between the European constitutional framework and conduct regulation. This piece was one of the first to consider – conceptually, contextually, and from a constitutional perspective – how the EU should approach conduct of business regulation, a pillar of wholesale and retail investment firm regulation. Since then, the EU’s conduct rulebook has grown exponentially, initially under the 2004 Markets in Financial Instrument Directive I and, most recently, under the 2014 Markets in Financial Instruments Directive II and Markets in Financial Instruments

1)

Köndgen, Rules of Conduct: Further Harmonisation?, in: Guido Ferrarini (ed), European Securities Markets, The Investment Services Directive and Beyond, Kluwer Law International, 1998.

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Regulation 2014. Professor Köndgen’s 1998 analysis remains, however, of foundational importance. This brief contribution seeks to honour Professor Köndgen’s important work on EU capital market regulation by reviewing in summary how the EU’s approach to conduct of business regulation, primarily from a retail market perspective, has evolved since his groundbreaking 1998 analysis.2) II. Looking Forward and Back Conduct of business (conduct) regulation is a distinct and significant form of financial system regulation. Along with prudential regulation, it forms one of the pillars of intermediary (investment firm) regulation. By contrast with prudential regulation, conduct regulation is broadly directed to the firm/client relationship, and not to financial system stability – although, since the crisis-era reforms, conduct regulation is becoming more strongly associated with the maintenance of financial stability.3) Conduct regulation is directed to the micro (client-facing) risks generated by financial market intermediation – or the process through which capital markets intermediate between suppliers and seekers of capital. As part of the intermediation process, investment firms of different structure and variety provide clients with a range of intermediating services which support the allocation of capital and related risk management. These services include the development and distribution of risk management products, investment advice, order execution services, and asset management services. A range of risks accordingly arise from a conduct/client detriment perspective. Classically, agency costs arise between the client and the intermediating firm where the interests of the principal client and the agent firm diverge, and where monitoring is difficult, typically because of the information asymmetries associated with financial market relationships.4) These costs can become significant where conflicts of interests, which can be entrenched by firm incentive structures which promote mis-aligned incentives, are strong. The risks associated with agency costs are particularly high in the 2) 3) 4)

This short overview draws on Niamh Moloney, EU Securities and Financial Markets Regulation, Oxford University Press, 3 edition 2014, chapter 4. International Organization of Securities Commissions (IOSCO), Mitigating Systemic Risk. A Role for Securities Regulators, 2011. See generally Paul Mahoney, Manager-Investor Conflicts in Mutual Funds, 2004, 18 Journal of Economic Perspectives, 161.

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retail markets, and with respect to product advice and distribution, given the poor ability of retail clients to monitor firms and risks, and the very strong incentives which remuneration structures and product complexity generate for product mis-selling. Professional clients are also at risk, however, with respect to product sales and advice, as the swathe of crisis-era litigation relating to potential mis-selling of complex products evidences. Asset management, to take another example, generates the risk that rents are extracted from clients through portfolio churning and through overpayment for related brokerage services, the costs of which are passed on to clients. Agency costs can also take the form of simple incompetence or, at the other end of the spectrum, fraud and loss of assets. Agency costs of this nature are classically dealt with through entry-level controls (authorization) but they are also managed through conduct of business regulation. Conduct regulation typically includes default and standardized conduct requirements governing disclosure, fair treatment, quality of advice, and order handling/execution rules, as well as operational/organizational requirements directed to conflict of interest prevention and management, related internal controls, and asset protection requirements. Ex-ante supervision and ex-post enforcement (whether through private causes of action or through enforcement by public supervisors) is also strongly associated with conduct regulation. By contrast, prudential regulation, with its strong association with preventive risk management and with related capital requirements, is much more heavily linked to ex-ante supervision. The essentials of conduct of business regulation of the investment intermediary sector have been settled for some time, by contrast with the essentials of prudential regulation. The much stronger regulation of the investment intermediary sector since the financial crisis can be primarily linked to the array of new financial-stability-oriented prudential requirements which are designed to promote more prudent risk-taking and to provide stronger incentives for firms to monitor risks. This intensification has been driven in particular by the need to promote prudent risk-taking in multi-function, deposit-taking banks which also engage in trading and market-oriented activities. The extent of the interconnections between banks and other intermediating entities, and the related potential for destructive risk transmission and the damage to the wider economy associated with bank failure, has reshaped the design of intermediary regulation. Accordingly, governance (including with respect to remuneration), capital, liquidity, leverage, risk management (particularly with respect to trad-

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ing, including market-making), and resolution requirements have followed and, in the EU, have been adopted through, for example, the Capital Requirements Directive IV/Capital Requirements Regulation, the European Market Infrastructure Regulation, the Short Selling Regulation, the Bank Recovery and Resolution Directive, and MiFID II.5) The crisis-era reforms to conduct of business regulation have been less dramatic. Conduct regulation is a long-established element of capital market regulation and has not, over time, experienced the major re-designs and disruptions to which prudential/financial stability regulation has long been subject. This follows the embedding of the roots of conduct regulation in retail market regulation – retail regulation tends not to experience the major cycles of regulatory redesign associated with widespread financial crisis, being associated more with domestic markets and domestic risks.6) Conduct regulation has, nonetheless been subject to less dramatic cycles of change7) – albeit that these cycles tend to operate at domestic levels and not, by contrast with prudential regulation, at international level. These cycles of change have been shaped by a range of different influences, depending on different market and political conditions. But change has, broadly, been driven by significant incidences of retail market detriment (notably mis-selling of financial products) which can lead to retail-marketoriented conduct reforms,8) and by major market disruption which can focus regulatory and governmental attention on the wider damage which firm conduct (notably with professional clients) can wreak on the financial system more generally, as was the case over the 2008 financial crisis.9) Re5)

6) 7)

8)

9)

Directive 2013/36/EU [2013] OJ L176/338 and Regulation EU No 575/2013 [2013] OJ L176/1; Regulation (EU) No 648/2012 [2012] OJ L201/1; Regulation (EU) No 236/ 2012 [2012] OJ L86/1; Directive 2014/59/EU [2014] OJ L173/190; and Directive 2014/65/EU OJ L173/149. See, eg, Niamh Moloney, Regulating the Retail Markets: Law, Policy and the Financial Crisis, in: Colm O’Cinneide and George Letsas, Current Legal Problems 2010, 2010, 375. For a recent review see Andrew Tuch, Conduct of Business Regulation, in: Niamh Moloney, Eilis Ferran, and Jennifer Payne (eds), The Oxford Handbook of Financial Regulation, Oxford University Press, 2015. As has been the case in the UK and Australia, for example. For crisis-era discussion see Niamh Moloney, The Legacy Effects of the Financial Crisis on Regulatory Design in the EU, in: Eilis Ferran, Niamh Moloney, Jennifer Hill, and John C. Coffee, The Regulatory Aftermath of the Global Financial Crisis, Cambridge University Press, 2012, 111. For discussion of the crisis-era incidences of mis-selling of complex securitization products in the professional markets see Andrew Tuch, Conflicted Gate-keepers. The Volcker Rule and Goldman Sachs. Washington University of St. Louis Legal Studies Research Paper No 12-12-1 (2011), available at http://ssrn.com/abstract=1809271.

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cently, for example, conduct regulation has focused on how firm and client interests can be better aligned as well as on how conduct rules can be more robustly supervised and enforced, particularly in light of the series of indexrigging and foreign exchange market scandals, which have led to the imposition of significant financial penalties on firms arising from conduct failures. In the EU, the development of conduct regulation has followed this trajectory, albeit that conduct regulation harmonization has also, of course, been a function of the EU’s Treaty-based objective to construct a single market in capital and in financial services, and so of the related concern to remove the transaction costs associated with diverging approaches to conduct regulation,10) given in particular that conduct regulation is a costly form of regulation – particularly with respect to retail-market-facing conduct rules. While conduct regulation first made an appearance on the EU agenda in 1977 as part of a soft law Code of Conduct,11) it first appeared in the harmonized regime in the 1993 Investment Services Directive (ISD).12) This initial foray into conduct regulation was highly tentative. Famously, Article 11 of that Directive – which represented the EU’s first attempt at investment firm regulation – did not harmonize conduct regulation but set out a series of principles to be followed by Member States. This first attempt at the harmonization of conduct regulation was not successful, with confusion, transaction costs, and a lack of clarity as to which Member States (the home or host State) was responsible for the application of conduct rules following.13) Major change followed under the Financial Services Action Plan era reforms (1999–2005), which placed ISD reform at the heart of the reform agenda and of the concerted political efforts at that time to construct a single financial market by means of rule harmonization and related market liberalization. The subsequent 2004 Markets in Financial Instruments Directive I,14) the cornerstone of investment firm regulation until the crisis10)

11) 12) 13)

14)

For an early example of the link between conduct regulation and costs to the single market see the ruling of the Court of Justice in Case C-384/93, Alpine Investments v Minister van Financiën, [1995] ECR I-1141. Code of Conduct Relating to Transactions in Transferable Securities. Recommendation 77/534/EEC [1977] OJ L212/37. Investment Services Directive, Directive 93/22/EC [1993] OJ L141/27. See, eg, Michel Tison, Conduct of Business Rules and Their Implementation in the EU Member States, in: Guido Ferrarini, Klaus Hopt, and Eddy Wymeersch, (eds), Capital Markets in the Age of the Euro, Kluwer, 2002, 65. Markets in Financial Instruments Directive I, Directive 2004/39/EC [2004] OJ L145/1.

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era reforms, introduced a new and significantly more harmonized regulatory regime for a much more clearly defined set of investment firms, including, for the first time in EU financial regulation, firms providing “investment advice”. An extensive conduct regime applied to in-scope firms. MiFID I imposed, for example, a fair treatment principle (an obligation to act honestly, fairly, professionally, and in the best interests of clients); disclosure and marketing requirements (including the principle that disclosures be “fair, clear, and not misleading”); suitability and quality of advice rules – the application of which changed according to whether investment advice or other services were provided, with the most extensive suitability rules applying to investment advice; conflict of interest requirements (including rules regarding “inducements”, which payments were not to conflict with the over-arching duty to act in the best interest of clients); and a host of operational requirements, including with respect to asset protection and to order handling and execution (including best execution requirements). The application of these new rules was calibrated to the different types of investment firm operating in the EU by means of proportionality requirements. The application of the regime was also adjusted to reflect different classes of investment client: professional clients; retail clients; and eligible counterparties. The conduct rules were largely dis-applied from transactions between eligible counterparties (professional market participants). In sharp contrast to the ISD, MiFID I was supported by a dense set of secondary rules as it benefited from the earlier establishment of the “Lamfalussy process” (in 2001), which re-organized EU financial regulation to take the form of a hierarchy of norms, and which was supported by new procedures for the adoption of secondary legislation by the European Commission. Accordingly, the “Level 1” conduct rules set out in MIFID I were supplemented by highly detailed “Level 2” rules set out in secondary legislation adopted by the Commission, as well as by “Level 3” soft law (such as Guidelines for the industry and for national regulators), which was adopted initially by the Committee of European Securities Regulation (CESR), which has since been superseded by the European Securities and Markets Authority (ESMA). Conduct regulation under MiFID I accordingly became much more associated with regulation rather than with liberalization, although MiFID I remained concerned with market construction and liberalization as well as with market regulation.

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MiFID I is notable for introducing a harmonized, and relatively sophisticated, set of conduct rules which were, for the most part, regarded as broadly successful (in both the retail and professional segments) – albeit that they were also associated with imposing costs on the financial services industry.15) The financial crisis, however, led to a wider reconsideration of MIFID I, in light of weaknesses which emerged in MiFID I with respect to financial market regulation as well as in light of the EU reform obligations associated with the G20 reform agenda. Among the many reforms to MiFID I which have followed, significant reforms to conduct regulation have been adopted. The new conduct of business regulation regime contained in the 2014 Markets in Financial Instruments Directive II (MiFID I) is heavily based on the MiFID I conduct of business regime, much of which will remain in force. But it contains a number of significant enhancements to conduct regulation. These include reforms relating to scope, for example (a range of proprietary traders, for example, now come within the conduct regime, while the classification of actors which come within the more protective conduct regime which applies to retail clients has been extended), as well as substantive reforms. The substantive reforms include, for example, reforms which are of particular importance to the retail markets. These include the new (and highly contested) prohibition on the payment of commissions where “independent investment advice” (defined under MiFID II) is provided; the conditions imposed on independent investment advice more generally (including that advice is based on wide range of investment opportunities); the general conditions which apply to remuneration of sales and advice staff more generally; the enhancements to the quality of advice/ sales regime (including the new “suitability letter”); and the new regime which applies to product governance. The extensive reforms of primary importance for the professional markets include major reforms to the conduct rules which govern trading. Detailed secondary legislation is in preparation following the extensive mandates for “Level 2” rules contained in MiFID II. While accordingly substantively different to MiFID I, MiFID II also differs in that its application will be heavily influenced by ESMA – the securities market supervisor established by the EU as an independent agency in 2011. 15)

In the UK context, eg, see FSA, The Overall Impact of MiFID, 2006 (the analysis was based on Europe Economics, The Benefits of MiFID – A Report for the FSA [2006]).

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ESMA will have significant influence over the new conduct of business regime, whether through its development of the detailed “Level 2” rules which will expand the regime, its adoption of related soft law, its supervisory convergence activities (which include peer review of national competent authorities), or its powers to take action against national competent authorities which do not comply with MiFID II. III. The Evolution of Conduct Regulation: A Story of Enhancements to Retail Market Regulation? The intensity with which the EU regulates conduct of business has accordingly significantly increased since 1993, and this increase in intensity (and the related ousting of domestic regulation) has been accelerated by institutional reforms, notably the initial establishment of the Lamfalussy process and the crisis-era establishment of the European System of Financial Supervision, which includes ESMA. These parallel institutional reforms have supported the development of a “single rulebook” of conduct regulation and increasing consistency in the supervisory application of these rules. Has this change in how conduct regulation has been addressed by the EU led to an enhancement of investor protection in the EU retail markets in particular? The design of effective harmonized rules, including conduct rules, for the EU retail market is not a straightforward task. The objectives of retail market regulation are not always clear. Should regulation be, for example, highly protective and paternalistic, and seek to shield household investors from market risk, as well as from malfeasance and the classic suite of agency costs and market failures? Or should regulation take a more robust approach, and focus on encouraging household investment, given in particular the need, recently expressed in the EU’s new Capital Markets Union agenda, for risk capital to be generated from household savings? Should it assume a high level of investor competence or adopt a paternalistic approach? Should it be suspicious of intense levels of financial intermediation and of household market engagement or actively promote more complete financial markets and the injection of household risk capital? Should it seek to intervene in market structures, for example by promoting certain types of investment product or distribution channel through regulatory mechanisms – or allow the market to assess and respond to retail market demands? Optimal regulation most likely blends these dif-

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ferent and polarized positions. But it is not easy to blend regulation in the most effective way and it is particularly difficult in the EU. There is still limited data on EU household investor behaviour, although important studies have recently been completed.16) The retail markets in the EU remain, as has been widely documented, highly fragmented. Distribution structures, product preferences, and approaches to investment remain sharply different across the Member States, reflecting deep-seated cultural and institutional divergences across the Member States. The case for harmonized regulation is not, accordingly, clear, particularly if harmonized regulation might have the effect of restricting the ability of national regulators to regulate and supervise local markets, with their distinct features and risks, effectively. Conduct regulation has, however, evolved in a manner which suggests there is some cause for optimism. The minimal approach adopted under the ISD in 1993 reflected a tendency in policy at that time to overlook the retail constituency (admittedly, reflecting limited household engagement with the markets at the time and generally limited domestic regulation) and to consider single market construction in terms of the supply side and market construction. The MiFID I era saw a change to this approach, and a significantly sharper focus on the risks to the retail investor arising from a more integrated financial market and on the need for a harmonized rulebook, as well as a focus on encouraging stronger household engagement with longterm savings through the financial markets, given the accelerating retreat of most economies from welfare support. MiFID I also, however, saw the EU delve deep into domestic regimes, with some risks to the effectiveness of investor protection as a result. MiFID I included, for example, investment advice within MiFID I’s rulebook although most investment advice was then (and now) provided on a domestic basis only. It did, however, contain calibrations which allowed the Member States to apply the regime in a proportionate manner, and also allowed Member States to “gold-plate” the MiFID I regime by imposing rules of a higher standard than MiFID I (as was done in the UK, for example, to reflect the particular needs of its retail market). Overall, MiFID I can be associated with empowering retail 16)

For a leading example see Decision Technology, Nick Chater, Steffen Huck, Roman Inderst and Online Interactive Research, Consumer Decision Making in Retail Investment Services: A Behavioural Economics Perspective, 2010. The EU’s capacity to monitor the retail market is also increasing through ESMA’s data collection activities, including by means of its regular “Trends, Risks, and Vulnerabilities” reports.

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households (in particular by means of its focus on disclosure requirements, and the facilitative approach it adopted to low-cost execution only distribution channels, which allowed investors to access the markets cheaply, albeit with limited regulation). But it can also be associated with a concern to address malfeasance and market failures through its extensive quality of advice rules. But MiFID I did not succeed in protecting retail investors from malfeasance over the financial crisis, and its approach to conduct of business regulation – heavily based on disclosure requirements and on distribution/ quality of advice rules – proved to be lacking. Major instances of mis-selling occurred across the EU and, as the crisis deepened, instances arose of banks mis-selling complex products through their retail distribution networks as they sought to strengthen their balance sheets.17) Prior to the crisis evidence was already emerging that MiFID I’s quality of advice rules (in particular the rules addressing “suitability” – or the requirement that firms “know their clients” before advising on certain investments) were not being applied by the market fully or correctly, with the risk of potential detriment to retail investors.18) Conduct rules relating to the quality of advice, in particular suitability rules, are difficult to embed within firms as they are heavily based on the appropriate application of judgment, and on the effectiveness of firms’ processes and procedures as well as on firm culture. They demand close and careful supervision and effective enforcement. It is particularly difficult, however, to ensure the appropriate application of quality of advice rules where the incidence of conflict of interest risk is high. MiFID I did not, however, get to the root of much of the investment firm/client conflict of interest problem in the EU, and thereby hampered effective supervision and enforcement, as it did not closely address commission and similar remuneration risks to household investors. Retail investors in the EU depend heavily on intermediation channels and typically purchase investment products through some form of investment adviser; they are accordingly exposed to significant quality of advice risks. Investment products in the EU are distributed to retail investors through two main channels: independent investment advisers who advise on a range of products; and proprietary distribution networks which advise on 17) 18)

For further discussion see Niamh Moloney, EU Securities and Financial Markets Regulation, Oxford University Press, 2014, chapter 9. Synovate, Consumer Market Study on Advice within the Area of Retail Investment Services – Final Report, 2011.

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a range of proprietary products. With respect to each distribution network, the risks posed to the quality of advice, and to the likelihood of a good investor outcome, are high given the impact of remuneration incentives. In the case of independent advice distribution channels, where commissions can be paid by product providers to the adviser, independence can be significantly damaged by commission-based sales incentives. In the case of proprietary distribution networks, internal remuneration structures and awards can similarly damage incentives and lead to “sales” rather than “advice”. MFID I did not, however, engage with this form of conflict of interest risk, save by means of the general requirement to avoid and control conflicts of interest (MiFID I Article 13(3) and 18); the general quality of advice/suitability regime (MiFID I Article 19(5) and (6)); the over-arching obligation to act in the best interest of the client (MiFID I Article 19(1)); and the specific Level 2 rules governing inducements. In principle, this matrix of rules provides a strong basis for addressing remuneration/commission risk. In practice, a specific principle relating to remuneration risk, and associated detailed rules, were missing and pan-EU enforcement was, for the most part, relatively weak. The crisis-era led to a shift in the EU’s approach to the retail markets generally, which influenced the MiFID II conduct of business regime. By contrast with the earlier emphasis over the MiFID I era on empowering (as well as protecting) households, the crisis-era policy agenda saw a much closer focus on precautionary intervention and on tougher retail market intervention. MiFID II has, for example, restricted the range of investments which can be sold through execution-only (or advice-free) channels. In addition, the MiFID II reforms expressly address remuneration risks in an effort to address mis-selling. The prohibition on commissions where “independent investment advice” is provided, and the more extensive rules which apply to remuneration more generally, including within proprietary distribution networks (which fall outside the independent investment advice channel) should enhance investor protection. This more interventionist and rules-based approach to conduct regulation with respect to the quality of advice can also be associated with a weakening of the previous emphasis on the disclosure of risks (including commission risks), which did not appropriately reflect the severe behavioural constraints under which households investors labour with respect to disclosure.

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Much depends, however, on the quality of supervision and enforcement and on the extent to which strong supervisory convergence in this area occurs across the EU. An enhanced sanctions regime has been put in place under MiFID II, which harmonizes to a significantly greater extent than MiFID I how national regulators should address enforcement and, in particular, monetary penalties. But it remains to be seen whether robust supervision and enforcement will follow. Notably, earlier proposals to introduce a harmonized civil liability regime under MiFID II did not survive the negotiation process. The most significant enhancements to conduct regulation from the retail investor protection perspective, however, relate to the new product governance regime. The MiFID II reforms promise much in terms of an enhancement to retail market protection by means of the new product governance regime which represents a major change to EU conduct of business regulation. Previously, retail market conduct regulation has primarily been a function of disclosure and of distribution (notably quality of advice) rules. MiFID II, however, has added product regulation to the suite of conduct rules. The new rules take the form of product governance requirements (in addition, new product intervention rules – which allow ESMA and national regulators to intervene to prohibit products – are contained in the Markets in Financial Instruments Regulation). Firm management must define, approve, and oversee a policy on the products offered to clients, and this policy must be in accordance with the characteristics and needs of clients and provide for product stress testing (MiFID II, Article 9). Specific requirements apply to the product development/manufacture process (MiFID II, Article 16), including that firms which “manufacture” products for sale must have in place a process for product approval. The new product governance/approval regime includes requirements for the “target market” for the product to be assessed, for an appropriate product distribution strategy to be adopted (including a requirement that distributors be provided with appropriate disclosures), and for products to be reviewed as to whether they remain consistent with the needs of the target market. Under MiFID II, Article 24, instruments manufactured by investment firms must meet the needs of an identified target market and the distribution system adopted must be compatible with the target market. Extensive Level 2 rules are currently under preparation. In tandem with these requirements, ESMA and the two other European Supervisory Authorities (the European Banking Authority and the European Insur-

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ance and Occupational Pensions Authority) have adopted Guidelines for national regulators relating to product oversight,19) while ESMA has adopted specific Guidelines relating to the product governance process for structured products.20) IV. Product Governance: An Enhancement to Conduct Regulation? What are the implications of this new form of conduct regulation for retail investor protection in the EU? In principle, product governance represents a new form of EU conduct regulation which should support the disclosure and distribution requirements which currently form the core of EU retail market conduct regulation in that it intervenes at a much earlier point in the product distribution cycle and tackles product design. It is an “upstream” and precautionary form of regulation, and as such as much to commend it. The difficulties associated with the MiFID I disclosure and distribution forms of conduct regulation have been made repeatedly clear by the persistence of mis-selling of products to retail investors across the EU. Product governance is, however, a complex and innovative form of conduct regulation, and is highly interventionist. There are relatively few examples internationally of how product governance regimes operate – the Australian conduct regulator (ASIC), for example, while a world leader with respect to retail market regulation, has yet to embrace product governance. As such, the new conduct regime carries some risks. Who, for example, is the beneficiary of the conduct rules on product governance? Is it the household investor who is equipped to speculate in the financial markets, using discretionary income – or is it the consumer of financial products, compelled by government welfare policies to invest in the financial markets? Depending on the type of investor engaged, the approach to product governance and its supervision and enforcement is likely to change. The regulatory terms and mechanisms are often elusive and difficult to capture. How, for example, should concepts such as product “fairness” and “complexity” be captured in regulation and supervision? How will national regulators supervising the regime balance between applying the regime and avoiding interference with firms’ business decisions

19) 20)

Joint European Supervisory Authorities Manufacturers’ Product Oversight and Governance Process, 2013. ESMA, Guidelines on Structured Product Governance, 2014.

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and investor autonomy? How will retail investor choice and investor risk be balanced? The supervision of the new product governance regime will require national regulators to understand product development processes, business drivers, and products – do Member State regulators, most of whom are under resource pressure, have the capacity and the knowledge? Similarly, how robust is the data-set from which the national regulators responsible for supervising this regime are to operate? The product governance regime requires firms to perform target market analysis, for example. Are national regulators appropriately equipped in terms of data to challenge and supervise such analysis? What supervisory approaches should be adopted and how aggressively should the regime be enforced? The UK experience holds some lessons in this regard. The UK was, over the financial crisis, one of first EU Member States to experiment with product governance regulation. It has, however, found persistent difficulties with the industry’s application of its related Guidelines and persistent examples of weaknesses in how products are designed.21) Sensitive and careful application of the new conduct regime will be required to, for example, avoid arbitrage risks, damage to market innovation (at a time when Robert Shiller has called for an adventure in financial innovation for household investors)22), over-reliance by investors and moral hazard, and reputational risk to regulators. Nonetheless, the new product governance regime is a welcome innovation. The distribution and disclosure elements of conduct regulation have struggled to support household investors in achieving good outcomes and in addressing, in particular, incentive risks. Incentive risks remain a constant and evolving challenge in the retail markets. The new resolution regime, for example, which requires financial institutions to have sufficient amounts of “bail-in-able” debt has created incentives for the sale of complex securities, such as contingent convertible instruments, to households. The EU’s regulators, including ESMA as well as national regulators, have been quick to respond by either warning against such products or, as in the case of the UK, prohibiting their sale to the public. But a specific product governance regime provides national regulators with a new tool for addressing 21) 22)

Financial Conduct Authority (FCA), Structured Products. Thematic Review of Product Development and Governance, 2015. Robert Shiller, Democratizing and Humanizing Finance, in: Randall Kroszner and Robert Shiller, Reforming US Financial Markets: Reflections Before and Beyond Dodd Frank, MIT Press, 2011, 43.

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retail market risks, while ESMA provides significant institutional capacity at EU level for supporting national regulators, for supervisory learning, and for sharing best practice. EU conduct regulation has changed almost out of all recognition – in scope, design, and objectives – since the important 1998 analysis by Professor Köndgen of conduct regulation under the ISD. But in the application of the newest form of conduct regulation – product governance regulation – regulators would do well to be mindful of Professor Köndgen’s still relevant 1998 warning relating to the EU’s first attempt at conduct harmonization in 1993: “those trying to break new ground risk committing new errors.”

Barsicherheiten im Negativzinsumfeld PETER O. MÜLBERT Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Mietbarkaution 1. Einführung 2. Rechtsnatur a) Mietbarkaution als solche aa) Sicherungsdarlehen bb) Unregelmäßiges Pfandrecht b) Barkaution mit Anlagepflicht 3. Zinsen a) Positive Zinsen b) Negative Zinsen

III. Barsicherheiten des Besicherungsanhangs zum Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte 1. Einführung 2. Regelungskonzept 3. Rechtsnatur 4. Zinsen a) Bisherige Klausel b) Klauselvorschlag für die Berücksichtigung von Negativzinsen IV. Schlussbemerkungen

I. Einleitung Das Interesse des Jubilars gilt seit jeher auch der Infragestellung tradierter Gewissheiten.1) Das anhaltende Negativzinsumfeld – Negativzinsen auf Einlagen der Kreditinstitute bei der EZB seit Juni 2014,2) EURIBOR und LIBOR (Euro) für Dreimonatsgeld seit April bzw. Mai 2015 fast durchweg negativ,3) Negativzinsen auf Einlagen großer Vermögensverwalter und Unternehmen bei Kreditinstituten, (rechnerische) Negativzinsen bei auf EURIBOR, LIBOR oder andere Zinssätze referenzierenden Kreditverträgen4) – stellt neben Gewissheiten auf der makro- und mikroökonomischen Ebene auch rechtspraktische Gestaltungen in Frage und gibt 1)

2)

3) 4)

Schon Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981 (Überwindung des tradierten Dualismus von Rechtsgeschäft und (bloßem) rechtlich erheblichen Handeln); Köndgen, Privatisierung des Rechts, AcP 206 (2006), 477. Der negative Zinssatz für die Einlagefazilität ist seitdem von –0,1 % (11.6.2014) über –0,2 % (10.9.2014) auf nunmehr sogar –0,3 % (9.12.2015) gestiegen; siehe www.bundesbank.de/ Redaktion/DE/Standardartikel/Bundesbank/Zinssaetze/ezb_zinssatz.html. Historische Zinssatzstatisiken abrufbar unter de.global-rates.com/. Siehe bereits Mülbert, Inhaberschuldverschreibungen im Negativzinsumfeld, ZHR 179 (2015), 395; für Beispiele Naumer/Schneider, Ertragsoptimierung im Kontext von Negativrenditen, Die Bank 6/2015, 8; Zerey-Storck, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6a.

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damit zugleich Anlass für das kritische Durchdenken rechtsdogmatischer Strukturen und Figuren. Während sich die Rechtswissenschaft mit der rechtlichen Erfassung des Phänomens der Negativzinsen und ihren Auswirkungen für das Einlagen- und Kreditgeschäft bislang eher zurückhaltend beschäftigt,5) ist die Praxis notgedrungen vorangeschritten. Insbesondere erweiterte die ISDA (International Swaps and Derivatives Association) im Jahre 2006 den Definitionenkatalog zum ISDA Master Agreement 2002 dahingehend, dass bei Barsicherheiten auch Negativzinsen aufgrund negativer Referenzzinssätze vorkommen können,6) und wurde für den Besicherungsanhang zum deutschen Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte im Jahre 2015 eine fakultative Zusatzklausel vorgestellt,7) deren ergänzende Vereinbarung für Barsicherheiten auch die Berücksichtigung von Negativzinsen ermöglichen soll.8) 5)

6)

7)

8)

Siehe aber Tröger, Vertragsrechtliche Fragen negativer Zinsen auf Einlagen, NJW 2015, 657; Binder/Ettensberger, „Automatischer“ Negativzins bei darlehensvertraglichen Zinsänderungsklauseln im Niedrigzinsumfeld?, Vertragsauslegung und Lösungsansätze, WM 2015, 2069; Langner/Müller, Negativzinsen im Passivgeschäft auf dem Prüfstand, WM 2015, 1979; Zerey-Storck, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6a Rz. 8 ff.; Freitag in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2015, § 488 Rz. 51a f.; ZellwegerGutknecht, Negativzins: Vergütung für die Übernahme des Geldwertrisikos durch den Kapitalnehmer, ZfPW 1 (2015), 350, 373 ff. (auch zum Schweizer Recht); allgemeiner Ernst, Negativzinsen aus zivilrechtlicher Sicht – ein Problemaufriss, ZfPW 1 (2015), 250. Zum Schweizer Recht Maurenbrecher/Eckert, Aktuelle vertragsrechtliche Aspekte von Negativzinsen, GesKR 2015, 367, 370 ff.; Schärer/Maurenbrecher in: Basler Kommentar Obligationenrecht I, 6. Aufl. 2015, Art. 314 Rz. 1c; zum österreichischen Recht Zöchling-Jud, Zum Einfluss von negativen Referenzwerten auf Kreditzinsen, ÖBA 2015, 318; Leupold, Negativzinsen beim Kreditvertrag, VbR 2015, 82; speziell zur Frage, ob der Zinsaufschlag auf den variablen Referenzzinssatz als Mindestzinssatz auszulegen ist, jeweils ablehnend Landesgericht Feldkirchen, Urt. v. 28.8.2015 – 5 Cg 18/15z; Handelsgericht Wien, Urt. v. 24.9.2015 – 57 Cg 10/15v; Landesgericht Eisenstadt, Urt. v. 15.1.2015 – 27 Cg 33/15x. Section 6.4.(b)/(c) 2006 ISDA Definitions. Zudem veröffentlichte die ISDA im Mai 2014 das „Collateral Agreement Negative Interest Protocol“, das die ISDA Collateral Agreements, z. B. die verschiedenen Credit Support Annexes (CSAs), um Regeln zur Behandlung von Negativzinsen bei Barsicherheiten für den Fall ergänzt, das beide Vertragsparteien dem Protokoll beigetreten sind; dazu Zellweger-Gutknecht, ZfPW 1 (2015), 350, 372. Aber auch unabhängig hiervon sollen nach der jeweiligen Standardformulierung der CSAs negative Zinsen jeweils voll zu berücksichtigen sein, also ohne eine Floor von O; siehe ISDA, 2013 Best Practices for the OTC Derivatives Collateral Process, Best Practice 11.2. Der Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte, der Besicherungsanhang zu diesem Rahmenvertrag und der Formulierungsvorschlag für eine sonstige Vereinbarung unter Nr. 11 Abs. 13 des Besicherungsanhangs (Berücksichtigung negativer Zinsbeträge) sind abrufbar unter: https://bankenverband.de/service/rahmenvertraege-fuer-finanzgeschaefte/ deutscher-rahmenvertrag-fuer-finanztermingeschaefte/. Näher siehe III 4 b.

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Letzteres Klauselwerk hat, so könnte man zunächst meinen, Modellcharakter für die Handhabung von Negativzinsen auch bei anderweitig vorkommenden Barsicherheiten. Bei näherem Zusehen liegen die Dinge freilich ganz anders. Denn das mit dem Besicherungsanhang verwirklichte Modell der Kreditsicherung unterscheidet sich im Grundsätzlichen von den tradierten Formen einer schuldnereigenen dinglichen Kreditbesicherung mittels akzessorischer und fiduziarischer Realsicherheiten, indem es eine rein schuldvertragliche Form der schuldnereigenen Kreditbesicherung vorsieht.9) Soweit in diesem Kontext davon gesprochen wird, dass mit dem im Jahre 2001 eingeführten Besicherungsanhang neue Wege der schuldnereigenen Kreditbesicherung beschritten wurden,10) blendet dies aber aus, dass das deutsche Kreditsicherungsrecht mit der Figur des irregulären Pfandrechts seit jeher schon eine rein schuldvertragliche Form der schuldnereigenen Kreditbesicherung kennt. Das mit dem Besicherungsanhang verwirklichte Modell einer schuldvertraglichen Besicherung von Ansprüchen durch den Schuldner selbst tritt lediglich als eine neue Variante hinzu. Das Phänomen der Negativzinsen gibt mithin keinen Anlass, die tradierten rechtsdogmatischen Strukturen und Figuren des Rechts der schuldnereigenen Kreditsicherung im Grundsätzlichen in Frage zu stellen. Wohl aber rückt es en passant in den Blick, dass das deutsche Recht neben der schuldnereigenen Besicherung durch Realsicherheiten eben auch rein schuldvertragliche Mechanismen der Kreditbesicherung durch den Schuldner selbst kennt, die bislang nur in der Praxis große Beachtung finden. Dementsprechend ist im Folgenden zunächst die Behandlung von Negativzinsen bei klassischen Barsicherheiten am Beispiel der Miet(bar)kaution zu entfalten (II). Sodann wird deren Behandlung im Kontext des Besicherungsanhangs zum Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte aufzuarbeiten sein (III), wofür es zunächst einer rechtsdogmatischen Einordnung dieses Sicherungsmodells bedarf. II. Mietbarkaution 1. Einführung Für die Mietkaution kennt die Praxis eine ganze Reihe unterschiedlicher rechtlicher Gestaltungen.11) Die Variante der Barkaution ist vor allem im 9) 10) 11)

Näher siehe III 2, 3. Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 66. Überblick bei Weidenkaff in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, Einf. v. § 535 Rz. 121.

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Bereich der Wohnraummiete noch immer von erheblicher praktischer Bedeutung, auch wenn der Kautionsbetrag heute meist auf ein vom Vermieter benanntes Konto überwiesen statt diesem in bar übergeben wird. Für beide Gestaltungen statuiert § 551 Abs. 3 BGB im Falle der Wohnraummiete besondere Verhaltenspflichten für den Vermieter. Für die Geschäftsraummiete besteht zwar keine Parallelvorschrift, doch liegt es im Ergebnis vielfach ebenso. Denn der Bundesgerichtshof ist schon vor zwei Jahrzehnten im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung bei einem sich diesbezüglich verschweigenden Mietvertrag zum Ergebnis gelangt, dass ganz regelmäßig eine stillschweigende Kautionsvereinbarung anzunehmen sei.12) Was Negativzinsen bei der Mietkaution anbelangt – und dieser Befund lässt sich für die klassischen Barkautionsgestaltungen verallgemeinern –, geht es nicht darum, dass der Sicherungsnehmer (Vermieter) den Sicherungsgeber (Mieter) mit Negativzinsen als einer Art Verwahrgebühr belastet. Vielmehr steht im Raum, dass der Sicherungsnehmer für die Anlage der Barmittel bei einem Kreditinstitut seinerseits Negativzinsen zu entrichten hat und er hierfür vom Sicherungsgeber einen entsprechenden Ausgleich begehrt. Welche Anspruchsgrundlagen hierbei eine Rolle spielen können, wird maßgeblich durch die rechtliche Einordnung der Miet(bar)kaution bestimmt. Hierum soll es im Folgenden zunächst gehen. 2. Rechtsnatur Bei der rechtlichen Qualifikation der Mietbarkaution finden die zusätzlichen Anlagebindungen des Vermieters, wie sie § 551 Abs. 3 BGB für die Wohnraummiete positiviert, meist keine Berücksichtigung. Gleichwohl erscheint es geboten, die allgemein für Barkautionsgestaltungen vorgenommene rechtliche Einordnung (a) speziell für die Mietbarkaution auch daraufhin zu überprüfen, ob die Verwendungsvorgaben des § 551 Abs. 3 BGB eine abweichende Qualifizierung bedingen (b).

12)

BGH, Urt. v. 21.9.1994 – XII ZR 77/93, BGHZ 127, 138, 142 ff. = ZIP 1994, 1698; zur Wohnraummiete vor Einführung einer gesetzlichen Anlagepflicht auch schon BGH, Urt. v. 8.7.1982 – VIII ARZ 3/82, BGHZ 84, 345, 348 ff. = WM 1982, 959.

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a) Mietbarkaution als solche Bei der Mietbarkaution handelt es sich um eine besondere – und besonders häufige – Erscheinungsform der Barkaution. Was deren jeweilige rechtliche Einordnung anbelangt, besteht allerdings kein notwendiger Gleichlauf. Während sich die Barkaution im Allgemeinen auch mittels einer Sachverpfändung oder einer Sicherungsübereignung von Scheinen und Münzen stellen lässt,13) ist dieser Weg jedenfalls im Falle der Wohnraummiete durch die in § 551 Abs. 3 BGB statuierte Anlagepflicht des Vermieters verschlossen. Denn spätestens die Einzahlung der kautionshalber übergebenen Scheine und Münzen auf dem Sparkonto wird es dem Vermieter unmöglich machen, den mit dem Erlöschen des Pfandrechts bzw. dem Wegfall des Sicherungszwecks bestehenden Anspruch des Mieters auf deren körperliche Herausgabe (aus § 1223 Abs. 1 BGB) bzw. auf deren Rückübereignung14) (aus der Sicherungsabrede) zu erfüllen. Im Übrigen wird aber auch für die Barkaution im Allgemeinen eine Pfandrechtsbestellung oder eine Sicherungsübereignung nur ausnahmsweise angenommen, und die Regelqualifizierung – unregelmäßiges Pfandrecht oder Sicherungsdarlehen – jeweils konsequent auf die Mietbarkaution erstreckt. aa) Sicherungsdarlehen Schuldvertraglich ansetzend wird die Bar(miet)kaution vereinzelt als ein (einfacher) Darlehensvertrag qualifiziert.15) Dem offenkundigen Einwand, dass diese Deutung den Sicherungscharakter der Kaution manifest verfehlt,16) sucht vor allem Damrau damit Rechnung zu tragen, dass er die Bar(miet)kaution beim gewollten sofortigen Eigentumsübergang am Geld

13) 14)

15) 16)

Siehe nur Wiegand in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 53; Berger in: Jauernig, BGB, 16. Aufl. 2015, Vorb § 1204 Rz. 2. Der Hinweis von Kießling, Die Kaution im Miet- und Pachtrecht, JZ 2004, 1146, 1147, dass bei der Sicherungsübereignung von Warenlagern mit wechselndem Bestand ein Anspruch auf Herausgabe von Sachen gleicher Art und Güte wie der zur Sicherheit übereignete Gegenstand als ausreichend angesehen wird, blendet die Unterschiede der beiden Sachverhalte ganz aus. Kießling, JZ 2004, 1146 f.: unregelmäßiges (?) Darlehen. Wiegand in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 55.

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als ein Sicherungsdarlehen ansieht,17) ohne allerdings breite Gefolgschaft zu finden.18) Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Die Charakterisierung als ein Sicherungsgeschäft impliziert das Vorliegen einer treuhänderischen Bindung des Sicherungsnehmers in Bezug auf ein Sicherungsgut,19) also im Falle der Bar(miet)kaution eine diesbezügliche treuhänderische Bindung des Kreditnehmers (= Vermieters). Als ein solches Sicherungsgut kommen jedoch weder der vertragliche Hauptleistungsanspruch des Darlehensnehmers, also sein Anspruch auf Belassung der Valuta, noch die ihm übereigneten Barzahlungsmittel selbst in Betracht; im letzteren Fall läge vielmehr eine Sicherungsübereignung vor. Rechtskonstruktiv wäre allenfalls zu erwägen, dass der Sicherungsgeber (Mieter) seinen Rückzahlungsanspruch aus dem Darlehensvertrag zur Sicherheit an den Sicherungsnehmer (Vermieter) verpfändet20) oder abtritt. Doch selbst wenn man einmal davon absieht, dass eine Abtretung mangels entsprechender (konkludenter) Parteiabreden regelmäßig unterstellt werden müsste und zudem bei einer Abtretung ein Untergang des Rückzahlungsanspruchs qua Konfusion im Raum stünde, würde der Darlehensvertrag hierdurch mitnichten zu einem fiduziarischen Sicherungsdarlehen. Vielmehr würde es sich schlicht um eine Sicherungszession handeln. All dies erhellt im Übrigen, dass die Figur des Sicherungsdarlehens als ein fiduziarischer Schuldvertrag dem Zivilrecht ganz fremd ist. bb) Unregelmäßiges Pfandrecht Die dominierende Einordnung der Bar(miet)kaution als ein irreguläres Pfandrecht – und zwar richtigerweise als ein gewöhnliches irreguläres 17)

18) 19) 20)

Damrau in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 1204 Rz. 7, 8, 9; der Sache nach ferner Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2014, § 551 Rz. 5: treuhänderisch gebundenes Darlehen. Siehe auch BGH, Urt. v. 7.5.2014 – VIII ZR 234/13, NJW 2014, 2496: in § 551 Abs. 3 BGB (nur für die eigentliche Barkaution geltend, siehe Weidenkaff in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 551 Rz. 12) kommt Treuhandcharakter der Mietkaution zum Ausdruck. Ablehnend etwa Wiegand in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 55. Vgl. auch Eckert, Die insolvenzfeste Anlage der Mietkaution, ZMR 2010, 9, 10. So in der Tat Kießling, JZ 2004, 1146, 1147, freilich ohne Auseinandersetzung damit, dass es praktisch durchweg an Anhaltspunkten für eine auch nur konkludente Erklärung über die Bestellung eines Pfandrechts zugunsten des Vermieters an dem gegen ihn selbst gerichteten Anspruch fehlen wird; dazu auch Wiegand in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 55.

Barsicherheiten im Negativzinsumfeld

419

Pfandrecht21) und nicht etwa als ein irreguläres Nutzungspfandrecht22) analog den §§ 1213, 1214 BGB23) – setzt auf den ersten Blick denn auch konsequent sachenrechtlich an. Das im Gesetz nicht geregelte24) irreguläre 21)

22)

23)

24)

Habersack in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 32; Weidenkaff in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, Einf. v. § 535 Rz. 121; wohl auch BGH, Urt. v. 21.9.1994 – XII ZR 77/93, BGHZ 127, 138, 140 f. = ZIP 1994, 1698. So aber BGH, Urt. v. 18.11.2009 – VIII ZR 347/08, WM 2010, 330, 331; aus der früheren instanzgerichtlichen Rspr. siehe nur BayObLG, RE v. 9.2.1981 – Allg Reg 126/80 = NJW 1981, 994 f.; LG Kassel, Urt. v. 5.2.1976 – 1 S 287/75 = NJW 1976, 1544; aus dem Schrifttum Bassenge in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, Überbl. v. § 1204 Rz. 6; Damrau in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 1213 Rz. 5, § 1214 Rz. 6; offengelassen von BGH, Urt. v. 8.7.1982 – VIII ARZ 3/82, BGHZ 84, 345, 348 = WM 1982, 959. Weder handelt es sich bei gesetzlichen Barzahlungsmitteln (Geldscheine, Münzen) um eine von Natur aus fruchtbringende Sache i. S. des § 1213 Abs. 2 BGB – ebenso, wenn auch etwas unscharf („Geld [ist] keine von Natur aus fruchtbringende Sache“) etwa BGH, Urt. v. 21.9.1994 – XII ZR 77/93, BGHZ 127, 138, 141 = ZIP 1994, 1698; BGH, Urt. v. 18.11.2009 – VIII ZR 347/08, WM 2010, 330, schon BGH, Urt. v. 8.7.1982 – VIII ARZ 3/82, BGHZ 84, 345, 348 f. = WM 1982, 959; Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 32) – noch handelt es sich bei Bestehen einer gesetzlichen Anlagepflicht (§ 551 Abs. 3 BGB) oder der vertraglichen Vereinbarung einer Anlagepflicht darum, dass die Parteien den Sicherungsnehmer (Vermieter) i. S. des § 1213 Abs. 1 BGB zur Fruchtziehung berechtigen. Bei der Verpfändung von Geldscheinen und Münzen gemäß § 1204 Abs. 1 BGB wäre dem Pfandrechtsinhaber eine Fruchtziehung dergestalt, dass er den Geldbetrag entgeltlich etwa auf einem Sparkonto anlegt, nämlich verwehrt, weil er mit der Kontoeinzahlung seines Besitzpfandrechts an den Gegenständen ohne weiteres verlustig ginge, und diese gegenständliche Begrenzung des Anwendungsbereichs der §§ 1213, 1214 BGB ist auch zu beachten, soweit deren analoge Anwendung auf die Bar(miet)kaution als irregulärem Pfandrecht in Rede steht, zumal es andernfalls zu einer Doppelung der Anlagepflicht – kraft Parteivereinbarung und analog § 1214 Abs. 1 BGB – käme. Implizit i. E. ebenso Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 32; a. A. Damrau in: MünchKommBGB, 6. Aufl. 2013, § 1213 Rz. 5, 1214 Rz. 6; unklar BGH, Urt. v. 21.9.1994 – XII ZR 77/93, BGHZ 127, 138, 141 = ZIP 1994, 1698; BGH, Urt. v. 8.7.1982 – VIII ARZ 3/82, BGHZ 84, 345, 348 = WM 1982, 959: Vereinbarung einer Anlagepflicht für die Miet(bar)kaution begründet eine Nutzungsvereinbarung i. S. des § 1213 Abs. 1 BGB, doch macht die Vereinbarung den Rückgriff auf die Pfandrechtsregeln entbehrlich. Wohl aber wird es in § 17 i. V. m. §§ 15, 13 DepotG anerkannt; siehe nur SoergelHabersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 30. Die grundsätzliche Anerkennung dieser Rechtsfigur ist seit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG über Finanzsicherheiten nunmehr auch EU-rechtlich geboten. Denn deren Art. 5 gebietet, dass die Parteien bei der Bestellung einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkt dinglichen Sicherungsrechts vereinbaren können, dass der Sicherungsnehmer hierüber schon vor dem Eintritt des Verwertungsfalls verfügen darf, und der Gesetzgeber hielt eine gesetzliche Umsetzung deswegen für entbehrlich, weil die Zulässigkeit eines irregulären Pfandrechts allgemein anerkannt und heute nicht mehr bestritten sei (Begr. RegE eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG v. 6.6.2002 über Finanzsicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Gesetze, BT-Drucks. 15/1853, S. 11 f.). Dazu auch Löber, Der Entwurf einer Richtlinie für Finanzsicherheiten, BKR 2001, 118, 121 f. (noch zu Art. 6 des Richtlinienvorschlags); Schlaegel, Die FinanzsicherheitenRichtlinie (2002/47/EG) und ihre Umsetzung in das deutsche Recht, 2008, S. 144 f.

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oder unregelmäßige Pfandrecht unterscheide sich vom Pfandrecht des § 1204 Abs. 1 BGB nämlich (nur) dadurch, dass der Gläubiger berechtigt ist, die im überlassene Sache für sich selbst zu verwenden und, macht er von dieser Befugnis Gebrauch, an ihrer Stelle lediglich eine gleichartige Sache zurückzugewähren hat,25) wobei durch Auslegung zu ermitteln ist, ob das Eigentum bereits mit der Übergabe oder erst mit Verwendung für die eigenen Zwecke des Gläubigers übergeht.26) Daher könnten einige pfandrechtliche Bestimmungen wie insbesondere die §§ 1223, 1229, 1252, 1254 BGB entsprechende Anwendung finden,27) ohne dass in der Anerkennung einer derart konturierten Rechtsfigur ein Verstoß gegen den sachenrechtlichen Numerus Clausus läge.28) Mit der auch begrifflichen Parallele zum in den §§ 1204 ff. BGB geregelten Besitzpfandrecht scheint als Kehrseite allerdings auch vorgezeichnet, dass ein irreguläres Pfandrecht bei Bar(miet)kautionsfällen lediglich dann vorliegen kann, wenn der Betrag in bar an den Sicherungsnehmer (Vermieter) übergeben wird, nicht aber bei der Überweisung auf ein von ihm angegebenes Konto. Doch bei genauem Zusehen ist dies gerade nicht der Fall. Die Leitentscheidung BGHZ 127, 138 betraf gerade einen Fall der Überweisung der Mietkaution auf ein Konto des Vermieters, ohne dass das Gericht hierin ein Hindernis für die Vereinbarung eines irregulären Pfandrechts durch die Parteien gesehen hätte,29) und auch im Schrifttum sind, soweit ersichtlich, keine hieraus abgeleiteten Bedenken erhoben worden.30) Im Ergebnis kann dies auch gar nicht anders sein. In der Sache handelt es sich beim irregulären Pfandrecht nämlich um ein rein schuldvertragliches Sicherungsinstitut, genauer: um die schuldvertragliche Einräumung einer rein rechnerischen Vermögensposition zum Zwecke der Besicherung 25) 26) 27) 28) 29)

30)

Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 30; ganz ähnlich StaudingerWiegand, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 54. Staudinger-Wiegand, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 54, Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 30. Staudinger-Wiegand, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 56; Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 31. Staudinger-Wiegand, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 55. S. aber auch BGH, Urt. v. 24.3.1999 – XII ZR 124/97, BGHZ 141, 160 = NJW 1999, 1857 = ZIP 1990, 970, wo die Figur des unregelmäßigen Pfandrechts trotz Leistung der Kaution durch Hingabe eines Schecks unerwähnt bleibt. Ganz im Gegenteil heißt es teils sogar ausdrücklich, dass für die Gestellung die Einzahlung auf einem gemeinschaftlichen Konto der Parteien oder auf einem (eigenen) Konto, das mit einem Sperrvermerk zugunsten des anderen versehen ist, genüge; siehe Palandt-Bassenge, BGB, 75. Aufl. 2016, Überbl. v. § 1204 Rz. 6; ferner etwa StaudingerWiegand, BGB, Neubearb. 2009, § 1204 Rz. 58.

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eines vertraglich fixierten Kreises an Forderungen des Sicherungsnehmers. Tritt der Verwertungsfall ein, kann der Sicherungsnehmer diese rechnerische Vermögensposition verwerten, indem er unter Befreiung vom Gleichartigkeitserfordernis des § 387 BGB mit seiner Forderung gegen den richtigerweise als betagte und nicht etwa als aufschiebend bedingte Forderung31) einzuordnenden Herausgabe- bzw. Übertragungsanspruch (sogleich) des Sicherungsgebers aufrechnet.32) Bleibt der Verwertungsfall endgültig aus, hat er diese rechnerische Vermögensposition herauszugeben, sei es durch Herausgabe der übergebenen Sachen, durch Übereignung von Geldscheinen und Münzen der gleichen Gattung wie die vom Sicherungsgeber übergebenen Sachen oder durch bargeldlose Leistung eines entsprechenden Betrags. Der Schutz des Sicherungsgebers in der Insolvenz des Sicherungsnehmers wird geleistet durch die Befugnis, mit dem Anspruch auf Herausgabe des Vermögenswerts gegen den gesicherten Anspruch aufzurechnen.33) Mit diesem Verständnis des irregulären Pfandrechts als einem gesetzlich nicht geregelten Schuldvertragstypus – ein zweiseitiger Vertrag mit nur einer unbedingten Hauptpflicht, nämlich der Pflicht des Kautionsstellers zur Wertverschaffung für Sicherungszwecke – spielt es dann in der Tat keine Rolle, ob der Sicherungsnehmer an den ihm übergebenen körperlichen Gegenständen, etwa Geldscheinen oder Münzen, sofort oder erst zu einem späteren Zeitpunkt das Eigentum erwirbt. Zudem kann es beim endgültigen Ausfall des Verwertungsfalls dabei bewenden, dass der Sicherungsnehmer bei erfolgter Aneignung lediglich körperliche Gegenstände gleicher Art und Güte wie die hingegebenen zurückzugewähren hat. Richtigerweise sind die Partei31)

32)

33)

Nähme man mit der höchstrichterlichen Judikatur einen aufschiebend bedingten Anspruch an (BGH, Urt. v. 8.7.1982 – VIII ARZ 3/82, BGHZ 84, 345, 349 = WM 1982, 959: Beendigung des Mietverhältnisses als Bedingung; BGH, Urt. v. 24.3.1999 – XII ZR 124/97, BGHZ 141, 160, 162 = NJW 1999, 1857 = ZIP 1990, 970: Nichtbestehen von Ansprüchen des Vermieters als Bedingung), wäre dem Sicherungsnehmer (Vermieter) eine Aufrechnung mangels Erfüllbarkeit des Gegenanspruchs verwehrt. Gleichwohl soll ihm schon zuvor der Zugriff auf die Kaution als „Verwertung einer vertraglich vereinbarten Sicherheit“ möglich sein (Palandt-Weidenkaff, BGB, 75. Aufl. 2016, Einf. v. § 535 Rz. 123). Der Vermieter könnte sich also wegen seiner Ansprüche zwar aus der Kaution befriedigen, wäre aber gleichwohl einem mit Bedingungseintritt entstehenden Übertragungsanspruch i. H. des vollen Kautionsbetrags ausgesetzt! Ein automatisches Erlöschen des Anspruchs mit Eintritt des Verwertungsfalls kommt nicht in Betracht, weil die Kaution dem Sicherungsnehmer lediglich eine Verwertungsoption eröffnen soll. Der verwertende Zugriff im Wege der Aufrechnung setzt vorbehaltlich eines auf Geld eingeschränkten Rückübertragungsanspruchs eine Befreiung vom Gleichartigkeitserfordernis des § 387 BGB voraus. Damrau in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 1204 Rz. 9 zum auch von ihm anerkannten irregulären Pfandrecht.

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en in der inhaltlichen Ausformung des schuldvertraglichen34) (Rück-)Übertragungsanspruchs des Sicherungsgebers sogar ganz frei. Sie können ohne weiteres vereinbaren, dass der Sicherungsnehmer keine körperlichen Gegenstände (rück)übertragen muss, sondern den entsprechenden Betrag qua Überweisung oder eine sonstige bargeldlose Leistung zurückzugewähren hat. Soweit davon gesprochen wird, dass der Sicherungsnehmer (nur) nach erfolgter Aneignung der überlassenen Sache sich für die Rückgewähr mit der Übereignung einer gleichartigen Sache begnügen könne,35) ist hierin richtigerweise allenfalls eine im Zweifel eingreifende Auslegungsregel zu sehen. Ferner erklärt dieses Verständnis des irregulären Pfandrechts als eines auf Wertverschaffung zu Sicherungszwecken gerichteten Schuldvertrags, dass nur solche Pfandrechtsbestimmungen analoge Anwendung finden – und als dispositives Gesetzesrecht die schuldrechtliche Vereinbarung eines irregulären Pfandrechts inhaltlich näher konturieren –, die die schuldrechtliche Pflichtenstellung der beiden Vertragsparteien betreffen, insbesondere die §§ 1223, 1252 BGB.36) Das beschränkt dingliche Recht als sol34)

35) 36)

A. A. BGH, Urt. v. 24.3.1999 – XII ZR 124/97, BGHZ 141, 160, 162 = NJW 1999, 1857 = ZIP 1990, 970: aus einer gesonderten Sicherungsabrede folgender Rückzahlungsanspruch. Allerdings umfasst die Sicherungsabrede üblicherweise neben der Pflicht zur Sicherheitenbestelllung auch die Pflicht zu deren Rückgewähr beim endgültigen Wegfall des Sicherungszwecks, doch ist die Anreicherung im Falle des irregulären Pfandrechts gerade entbehrlich. Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 31 unter Bezugnahme auf § 1223 Abs. 1 BGB. Nicht aber § 1259 BGB, wonach Unternehmen und öffentlich-rechtliche Institutionen für Pfandsachen mit einem Börsen- oder Marktpreis deren Verfall mit Pfandreife (entgegen § 1229 BGB) oder deren freihändigen Verkauf (entgegen den §§ 1233 – 1239 BGB) vorab vereinbaren können. Die Befugnisse des Sicherungsnehmers aufgrund der Vereinbarung eines irregulären Pfandrechts gehen nämlich ohnehin darüber noch hinaus. Wenn diese Vorschrift gleichwohl teils als eine „spezielle Ausgestaltung des irregulären Pfandrechts” gesehen wird (Schlaegel, Die Finanzsicherheiten-Richtlinie (2002/47/EG) und ihre Umsetzung in das deutsche Recht, 2008, S. 144; ganz ähnlich Bürge, Das römische Recht und das Drama der Umsetzung der Richtlinie über die Finanzsicherheiten in das deutsche BGB, in: FS für Nobel, 2005, S. 495, 504 ff.), beruht dies auf einem Missverständnis. Denn die Vorschrift dient der Umsetzung des Art. 4 der Richtlinie 2002/47/EG über Finanzsicherheiten, welcher für „jede in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechtes bestellte Finanzsicherheit” – und damit auch für das reguläre Sachpfandrecht – vorgibt, dass die Parteien eine vereinfachte, d. h. von den §§ 1229, 1233 – 1239 BGB abweichende Verwertung vereinbaren können. Dem deutschen Gesetzgeber, der mit Blick auf die Umsetzung des Art. 5 eine ausdrückliche Regelung des irregulären Pfandrechts für entbehrlich hielt (Begr. RegE eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG v. 6.6.2002 über Finanzsicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Gesetze, BT-Drucks. 15/1853, S. 11 f.), kam es denn auch nicht in den Sinn, hiervon mit dem Einführung des § 1259 BGB punktuell abzuweichen (siehe Begr. RegE ebenda S. 16 f.).

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ches betreffende Bestimmungen, etwa § 1247 Satz 2 BGB37) über die dingliche Surrogation, sind hingegen unanwendbar. Das gilt erst recht für die §§ 1205 ff. BGB betreffend die Bestellung eines Pfandrechts. Schließlich folgt hieraus ohne weiteres, dass in der Anerkennung des Schuldvertragstypus „Irreguläres Pfandrecht“ in der Tat kein Verstoß gegen den sachenrechtlichen Numerus Clausus liegen kann. Insgesamt führt dieses Verständnis des irregulären Pfandrechts als eines auf Wertverschaffung zu Sicherungszwecken gerichteten Schuldvertrags zwanglos zum Ergebnis, dass die Parteien mit der Vereinbarung einer Bar(miet)kaution auch dann ein schuldvertragliches irreguläres Pfandrecht begründen können, wenn statt der Übergabe in bar eine Überweisung auf ein vom Sicherungsnehmer (Vermieter) benanntes Konto erfolgt oder der Mieter eine sonstige bargeldlose Zahlungsmodalität (z. B. Scheck)38) wählt. Zugleich vollendet sich damit die Entmaterialisierung des schuldrechtlichen irregulären Pfandrechts, wie dies bei anderen Schuldvertragstypen wie insbesondere dem Darlehensvertrag in Anpassung an die moderne Dominanz des bargeldlosen Zahlungsverkehrs schon längst zur rechtlichen Realität geworden ist.39) b) Barkaution mit Anlagepflicht Dieses schuldvertragliche Verständnis des irregulären Pfandrechts bewährt sich auch in dem Fall, dass der Sicherungsnehmer (Vermieter) zu einer bestimmten Anlage des ihm zur Verfügung gestellten rechnerischen Vermögenswerts verpflichtet ist, sei es wie im Falle der Wohnraummiete kraft Gesetzes (§ 551 Abs. 3 BGB) oder wie in sonstigen Fällen kraft einer entsprechenden Parteiabrede,40) welche im Falle der Geschäftsraummiete

37) 38) 39)

40)

Ebenso Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 31 So im Fall BGH, Urt. v. 24.3.1999 – XII ZR 124/97, BGHZ 141, 160 = NJW 1999, 1857 = ZIP 1990, 970. Dazu, dass die Parteien sowohl für die Valutierung als auch die Rückzahlung eine Erfüllung (§ 362 BGB) durch Kontogutschrift vereinbaren können, siehe schon Mülbert, Die Auswirkungen der Schuldrechtsmodernisierung im Recht des „bürgerlichen“ Darlehensvertrags, WM 2002, 465, 468, ferner nur Staudinger-Freitag, BGB, Neubearb. 2015, § 488 Rz. 15, 153, 167; Berger in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2016, § 488 Rz. 29, 46. Eine gesetzliche Anlagepflicht wird in sonstigen Fällen einer Bar(miet)kaution insbesondere auch nicht durch die §§ 1213 Abs. 2, 1214 Abs. 1 BGB analog begründet; näher II 2 a) bb) in Fn. 23.

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jedenfalls kraft ergänzender Vertragsauslegung anzunehmen ist.41) Hierin liegt eine Anreicherung der schuldrechtlichen Pflichtenstellung des Sicherungsgebers, die deswegen keinen Bedenken unterliegt, weil der ihm eingeräumte rechnerische Vermögenswert den Bezugspunkt seiner vertraglichen Pflichten markiert, nicht die ihm überlassenen körperlichen Gegenstände. 3. Zinsen Bei einer konsequenten Entfaltung des irregulären Pfandrechts als einem Innominatkontrakt bestimmt sich die Behandlung der Zinsen vorbehaltlich der zwingenden Vorgabe des § 551 Abs. 1 BGB nach dem (hypothetischen) Parteiwillen. a) Positive Zinsen Was zunächst positive Zinserträge anbelangt, bestimmt § 551 Abs. 3 BGB für die Wohnraummiete, dass die Kaution anzulegen ist (Satz 1, 2), wobei aus dieser Anlage fließende Zinsen dem Mieter zustehen (Satz 3) und die Sicherheit erhöhen (Satz 4), mithin dem Kautionsanlagekonto gutzubringen und nicht etwas sofort an den Mieter auszukehren sind. Für die sonstigen Fälle der Miet(bar)kaution bestehen keine gesetzlichen Vorgaben. Insbesondere statuiert § 1214 Abs. 2 BGB analog keine dispositive (Abs. 3) Regel, wonach Zinserträge aus der Anlage der Miet(bar)kaution zugunsten des Mieters zu berücksichtigen sind, weil es sich bei dieser lediglich um ein gewöhnliches irreguläres Pfandrecht, nicht hingegen um ein irreguläres Nutzungspfandrecht (§§ 1213, 1214 BGB analog) handelt.42) Vielmehr richtet sich in sonstigen Fällen der Bar(miet)kaution die Behandlung positiver Zinserträge nach den Parteiabreden. Ist eine zinsbringende Anlage ausdrücklich vereinbart oder ergibt sich wie im Falle der Geschäftsraummiete eine dahingehende Anlagepflicht jedenfalls im absoluten Regelfall kraft ergänzender Vertragsauslegung,43) stehen die Zinserträge im Grundsatz dem Sicherungsgeber (Mieter) zu, und zwar in Form

41) 42) 43)

Siehe nur BGH, Urt. v. 21.9.1994 – XII ZR 77/93, BGHZ 127, 138, 142 ff. = ZIP 1994, 1698. Näher oben II 2 a) bb) mit Fn. 23. Soeben II 2 b).

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einer Erhöhung der Sicherheit,44) nicht in Gestalt eines Anspruchs auf die Auskehr der Zinsen. Allerdings können die Parteien Abweichendes vereinbaren (vgl. § 1214 Abs. 3 BGB). In einer AGB-förmigen Behaltensklausel zugunsten des Sicherungsnehmers (Vermieter) liegt aber jedenfalls im Regelfall eine nach § 307 Abs. 1 BGB unangemessene Benachteiligung des Sicherungsgebers (Mieter). b) Negative Zinsen Für die Behandlung etwaiger Negativzinsen bei der Miet(bar)kaution im Falle der Wohnraummiete ist auf die Wertungen zurückzugreifen, die sich aus den Verwendungsvorgaben des § 551 Abs. 3 BGB ableiten lassen. Dass nach dessen Satz 3 die Erträge dem Mieter zustehen und nach Satz 4 die Sicherheit erhöhen, reflektiert den selbst in der derzeitigen Niedrigzinsphase bislang nicht widerlegten Erfahrungssatz, dass die in Satz 1 zum Regelfall erhobene Anlage zu dem für Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist üblichen Zinssatz stets einen positiven Zinsertrag generiert. Sollte dies in einer Extremphase gleichwohl einmal anders sein, ist dieser Verlust in Anlehnung an die in Satz 2 zum Ausdruck kommenden Wertungen vom Mieter zu tragen. Satz 2 gestattet den Parteien die einvernehmliche Wahl einer anderen Anlageform, womit allerdings nur solche gemeint sind, die grundsätzlich auch Erträge abwerfen können, während eine ertraglose „Anlage“ wie die bloße Verwahrung von vornherein ausscheidet.45) Tritt nun bei einer vereinbarten Anlageform ein Verlust auf, kann der Mieter weder eine Mindestverzinsung noch auch nur das eingesetzte Kapital im vollen Umfang zurückverlangen, sondern hat den Verlust zu tragen.46) Dies muss auch dann gelten, wenn die Parteien das für beide nachteilige Risiko, dass Verluste die Höhe der Sicherheit mindern, deswegen nicht vollständig eliminieren können, weil Kreditinstitute auch für Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist negative Zinsen erheben. Bei der Geschäftsraummiete sind im Zusammenhang mit einer Miet(bar)kaution anfallende Negativzinsen ebenfalls vom Mieter zu tragen und mindern also den Kautionsbetrag, wenn die Parteien entweder eine be44) 45) 46)

Soergel-Habersack, BGB, 13. Aufl. 2001, § 1204 Rz. 32. Begr. RegE eines Gesetzes zur Neugliederung, Vereinfachung und Reform des Mietrechts (Mietrechtsreformgesetz), BT-Drucks. 14/4553, S. 48. Ausdrücklich Begr. RegE eines Gesetzes zur Neugliederung, Vereinfachung und Reform des Mietrechts (Mietrechtsreformgesetz), BT-Drucks. 14/4553, S. 48.

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stimmte Anlageform vereinbart haben oder aber aufgrund der Zinslandschaft eine Anlage bei einem, einem Einlagensicherungssystem angeschlossenen Kreditinstitut nur unter Inkaufnahme von Negativzinsen möglich ist. Haben die Parteien nicht sogar ausdrücklich vereinbart, dass der Mieter zur Wiederauffüllung der Deckungslücke verpflichtet ist, kann sich eine Nachschusspflicht gegebenenfalls auch kraft ergänzender Vertragsauslegung ergeben. Gegenläufig hat der Vermieter für den Fall, dass die Parteien keine bestimmte Anlageform vereinbart haben und eine negative Zinsen vermeidende Anlage möglich wäre, etwaig anfallende negative Zinsbeiträge zu tragen. III. Barsicherheiten des Besicherungsanhangs zum Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte 1. Einführung Der Besicherungsanhang zum deutschen Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte47) ist als ein ganz auf diesen Rahmenvertrag bezogenes ergänzendes Vertragswerk konzipiert. Er versteht sich vor dem Hintergrund, dass zwischen zwei Parteien, die einen solchen Rahmenvertrag abgeschlossen und auf dessen Grundlage ein oder mehrere noch offene Einzelgeschäfte getätigt haben, per Saldo regelmäßig eine offene Position zugunsten einer Partei besteht, wobei die Höhe dieses Nettoausfallrisikos schwanken und es je nach Entwicklung der den Einzelgeschäften zugrunde liegenden Basiswerte zu einer gegebenenfalls sogar mehrfachen Umkehr von Schuldner- und Gläubigerposition kommen kann. Dementsprechend dient die ergänzende Vereinbarung des Besicherungsanhangs ausweislich der ausdrücklichen Zweckbestimmung in Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 „zur Besicherung aller bestehenden, künftigen, bedingten und befristeten Ansprüche des jeweiligen Empfängers [geleisteter Sicherheiten] (‚Sicherungsnehmer‘) gegen die andere Partei (‚Sicherungsgeber‘) im Zusammenhang mit dem [Rahmen-]Vertrag“.

Mit anderen Worten soll das in Nr. 2 näher definierte Ausfallrisiko abgesichert werden, nämlich „der Betrag der einheitlichen Ausgleichsforderung, die sich nach Nr. 9 Abs. 1 des Rahmenvertrages bei einer Beendigung sämtlicher Einzelabschlüsse zum Berechnungszeitpunkt am maßgebenden Berechnungstag ergäbe“,

47)

Im Folgenden auch „BA DRV“.

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427

also die bei einem (hypothetischen) Liquidations- bzw. Close-out Netting48) sich ergebende Forderung. Diese Zweckbestimmung scheint ganz in der Tradition des deutschen Kreditsicherungsrechts zu stehen und die Beurteilung der im Besicherungsanhang getroffenen Regelungen einschließlich derjenigen zu Zinsen sich mithin nach den herkömmlichen Grundsätzen zu richten, in concreto also nach den vorstehend für die Bar(miet)kaution entfalteten Regeln. Jedoch weist schon die in Nr. 1 Abs. 2 enthaltene Grundaussage zum rechtlichen Schicksal der unter dem Besicherungsanhang geleisteten (Bar-)Sicherheiten in eine ganz andere Richtung. Daher ist im Folgenden zunächst diese Grundaussage und deren vertragsrechtliche Umsetzung im Besicherungsanhang vorzustellen (2), um sodann die Rechtsnatur des als Besicherungsanhang bezeichneten Vertragswerks zu bestimmen (3) und auf dieser Grundlage schließlich die Zinsregelungen, und in Sonderheit die einleitend bereits erwähnte Formulierungshilfe betreffend negative Zinsbeiträge, zu würdigen (4). 2. Regelungskonzept Von überragender Bedeutung für das Verständnis des Besicherungsanhangs in konzeptioneller Hinsicht ist die in Nr. 1 Abs. 2 Satz 1 und 3 getroffene Festlegung: „Aufgrund dieses Anhangs geleistete Sicherheiten gehen mit der Übertragung in das Eigentum des Sicherungsnehmers über. […] Der Sicherungsnehmer ist berechtigt, über die Sicherheiten uneingeschränkt zu verfügen.“

Diese Festschreibung einer uneingeschränkten Verfügungsbefugnis in Satz 3 versteht sich, wie das Schrifttum betont, nicht lediglich als – insoweit selbstverständliche – Bestätigung der bereits in Satz 1 angesprochenen formellen Vollrechtsinhaberschaft des Empfängers übertragener Sicherheiten. Vielmehr soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass der „Sicherungsnehmer“ keinerlei treuhänderischen Bindungen unterliegt49) und keinerlei fiduziarische Verknüpfung zwischen einem „Sicherungsgut“

48) 49)

Dazu etwa Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 41 ff.; ausführlicher Fuchs, Close-out-Netting, Collateral und systemisches Risiko, 2013, S. 45 ff. Jahn in: Bankrechts-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 114 Rz. 70a; Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 66.

428

Peter O. Mülbert

und einem „Sicherungs- oder Verwertungsfall“ besteht, der Besicherungsanhang mithin das Konzept eines Verwertungsfalls überhaupt nicht kennt.50) Dieses konzeptionelle Grundverständnis hat seine Wurzeln in den Arbeiten der ISDA, die in den 1990er Jahre entsprechende Vertragsmuster, die Credit Support Annexes (CSAs), als Ergänzungen des jeweiligen eigentlichen ISDA Master Agreement, entwickelte.51) Der im Jahre 2001 zur Verfügung gestellte Besicherungsanhang sucht dieses Konzept eines „outright transfer“ mit den Mitteln des deutschen Rechts zu verwirklichen. Als zentrale Elemente dieses Konzepts sind dabei folgende Regelungen hervorzuheben: Für jeden von den Parteien festgelegten Berechnungstag ist zu ermitteln, ob die von einer Partei (Sicherungsgeber) gestellten Sicherheiten dem Besicherungsanspruch der anderen Partei (Sicherungsnehmer) entsprechen oder aber über- bzw. unterschreiten. Im Falle einer Unterdeckung sind weitere Sicherheiten – Barsicherheiten oder Wertpapiersicherheiten nach Wahl der besicherungspflichtigen Partei – zu leisten (Nr. 3 BA DRV), im Falle einer Überdeckung hat der Sicherungsnehmer auf Anfordern des Sicherungsgebers nach dessen Wahl Barbeträge oder Wertpapiere i. H. der Differenz zu übertragen (Nr. 4 BA DRV). Die Beendigung dieses Vertragswerks schließlich ist – vorbehaltlich einer einverständlichen Vertragsaufhebung – akzessorisch zur Beendigung des Rahmenvertrags. Endet dieser gemäß dessen Nr. 7 Abs. 3 DRV, also aufgrund einer Kündigung aus wichtigem Grund (Nr. 7 Abs. 1 DRV) oder wegen Stellung eines Insolvenzantrags (Nr. 7 Abs. 2 DRV), endet automatisch zugleich auch der Besicherungsanhang. Die weiteren Rechtsfolgen hieraus entsprechen dem Close-out Netting-Mechanismus, wie ihn der Rahmenvertrag in den Nrn. 7 Abs. 3, 8, 9 DRV verwirklicht, und sind in diesen integriert. Die noch offenen Ansprüche wegen einer Unterdeckung- oder Überdeckung gemäß den Nr. 3 und 4 erlöschen (Nr. 8 Abs. 1 Satz 3 BA DRV) und geleistete Sicherheiten werden mit ihrem Wert bei der rechnerischen Ermittlung der einheitlichen Ausgleichsforderung, also dem Close-

50) 51)

Zutreffend betont von Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 71. Näher Jahn in: Bankrechts-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 114 Rz. 70. Inhaltlicher Überblick bei Fuchs, Close-out-Netting, Collateral und systemisches Risiko, 2013, S. 63 ff.

Barsicherheiten im Negativzinsumfeld

429

out Netting-Betrag, zugunsten des Sicherungsgebers einbezogen (Nr. 9 Abs. 1 Satz 2 BA DRV).52) Insgesamt steht dieses im Besicherungsanhang verwirklichte Regelungsgefüge, das lässt sich schon an diese Stelle festhalten, ganz im Einklang mit dem in Nr. 1 Abs. 2 BA DRV erhobenen Anspruch, ein von fiduziarischen Anklängen völlig freies „Besicherungsmodell“ zu verwirklichen. Darüber hinaus, und das wird im Folgenden noch bedeutsam werden, kennt dieses Vertragsmodell nicht einmal das Konzept des Sicherungsfalls und erst recht keine darauf Bezug nehmenden Regeln, etwa einen Verwertungsfall und Rückübertragungsansprüche bei dessen endgültigem Ausbleiben. 3. Rechtsnatur Die Rechtsnatur des mit dem Besicherungsanhang geschaffenen Vertragswerks war bislang nicht Gegenstand vertiefter Erörterungen. Auf der Hand liegt allerdings, dass die nach Nr. 1 Abs. 2 gewollte Vollrechtsübertragung mit uneingeschränkter Verfügungsbefugnis des „Sicherungsnehmers“ eine Deutung in pfandrechtlichen Kategorien53) ebenso ausschließt wie eine solche als Sicherungstreuhand, d. h. als Sicherungsübereignung und -zession54). Hingegen scheint die Qualifizierung als Vereinbarung eines irregulären Pfandrechts, zumal in dessen hiesiger Konturierung als eines eigenen Schuldvertragstyps, eher in Betracht zu kommen. Allerdings ist mit Blick auf die Art. 5 und 6 der Richtlinie 2002/47/EG über Finanzsicherheiten sogleich zu konstatieren, dass die Eigentumsübertragung unter dem Besicherungs-

52)

53) 54)

Mit der Formulierung „[D]ie entsprechende Beträge werden wie rückständige Leistungen des Sicherungsnehmers“ einbezogen. Bei den rückständigen Leistungen handelt es sich nämlich um Positionen aufgrund des Rahmenvertrags, die in die Ermittlung der einheitlichen Ausgleichsforderung zu Lasten der Partei eingehen, die i. R. des Besicherungsanhangs der „Sicherungsnehmer“ ist. Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 67. Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 66.

430

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anhang allgemein als ein Fall der Vollrechtsübertragung i. S. des Art. 6,55) das irreguläre Pfandrecht hingegen als beschränktes dingliches Sicherungsrecht i. S. des Art. 556) angesehen wird. Hinzu kommt, dass das Vertragswerk des Besicherungsanhangs nicht nur jedes fiduziarischen Elements entbehrt – was auch für den Schuldvertragstypus irreguläres Pfandrecht gilt –, sondern dass ihm auch das Konzept eines Sicherungs- oder Verwertungsfalls fremd ist. Dem Sicherungsnehmer wird zwar eine rechnerische Vermögensposition in Höhe seines gegenüber dem Sicherungsgeber bestehenden positiven rechnerischen Forderungssaldos eingeräumt. Hierauf kann er aber nicht etwa bei Eintritt eines Verwertungsfalls zugreifen, um sich hieraus zu befriedigen.57) Vielmehr bildet diese Position, kommt es zur Beendigung des Rahmenvertrags für Finanztermingeschäfte und damit zur Ermittlung einer einheitlichen Ausgleichsforderung im Wege des Close-out Netting, eine hierbei zu Lasten des Sicherungsnehmers zu berücksichtigende Position. Anders gewendet hat der Sicherungsnehmer bei der Beendigung des Rahmenvertrags im Rahmen des Close-out Netting die ihn sichernde Vermögensposition im wirtschaftlichen Ergebnis zwar zurückzuübertragen, doch nur unter Verrechnung mit seinen Ansprüchen aus den unter dem Rahmenvertrag getätigten Einzelgeschäften. Dementsprechend spricht Behrends davon, dass es im Hinblick auf die zivilrechtliche Natur der Regelungen des Besicherungsanhangs angemessener wäre, von einem „Ausgleichsanhang“ und von „Ausgleichsgeschäften“ statt von der Leistung von Sicherheiten unter dem Besicherungsanhang zu sprechen. Die Leistung von Sicherheiten nach dessen Nrn. 3 und 4, so formuliert er treffend, sollen einen unausgeglichenen Saldo in den Geschäftsbeziehungen der beiden Parteien derart ausgleichen, dass keine 55)

56) 57)

Jahn in: Bankrechts-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 114 Rz. 70c; Jahn/Fried in: MünchKommInsO, 3. Aufl. 2013, § 104 Rz. 83; Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 68. Siehe aber auch Obermüller/Hartenfels, Finanzsicherheiten, BKR 2004, 440, 442, die für die Vollrechtsübertragung i. S. des § 1 Abs. 17 Satz 1 KWG – die Bestimmung dient der Umsetzung des Art. 6 der Richtlinie 2002/47/EG über Finanzsicherheiten – von einer Übertragung „mit schuldrechtlicher Bindung durch den Sicherungszweck“ sprechen; ferner Schäfer in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, 4. Aufl. 2012, § 1 Rz. 240: z. B. Sicherungsabtretung, Sicherungsübereignung oder Ähnliches. Der richtlinienkonformen Auslegung hält das nicht Stand; siehe ZereyBehrends ebenda Rz. 68; Fuchs, Close-out-Netting, Collateral und systemisches Risiko, 2013, S. 160. Oben II 2 a) bb) m. Fn. 24. Näher hierzu für das irreguläre Pfandrecht oben II 2 a) bb) bei und in Fn. 32.

Barsicherheiten im Negativzinsumfeld

431

Partei der anderen Kredit gewährt.58) Allerdings handelt es sich nicht, so ist zu ergänzen, um eine gleichgewichtige wechselseitige Kreditgewährung. Vielmehr bemisst sich die Höhe der gegenläufigen Kreditgewährung unter dem Besicherungsanhang gleichsam automatisch nach der jeweiligen Höhe der bei einem unterstellten Close-out Netting sich ergebenden einheitlichen Ausgleichsforderung. Im Einzelnen stechen mit Blick auf eine etwaige kreditvertragliche Einordnung insbesondere folgende markante Eigenheuten ins Auge: –

die Kredithöhe ist variabel, ohne dass ein bestimmter Maximalbetrag festgelegt würde;



die jeweilige Kredithöhe bemisst sich nach der hypothetischen einheitlichen Ausgleichsforderung am jeweiligen Berechnungstag und schwankt mithin in Abhängigkeit von der Entwicklung der unter dem Rahmenvertrag geschlossenen Einzelgeschäfte;



der Auszahlungsanspruch des Kredit- bzw. Sicherungsnehmers wird erst mit seinen Abruf von Sicherheiten entsprechender Höhe fällig (Nr. 3 Abs. 1 BA DRV);



die Valutierung kann nach Wahl des Kredit- bzw. Sicherungsgebers in Barsicherheiten oder in Wertpapiersicherheiten erfolgen (Nr. 3 Abs. 3 BA DRV);



der jeweils in Anspruch genommenen Kredit wird nicht durch die (Rück-)Übertragung von Sicherheiten getilgt, sondern ermäßigt sich bei einem Absinken der hypothetischen einheitlichen Ausgleichsforderung, weswegen der Kreditgeber nach Nr. 4 BA DRV einen auf Abruf fälligen Anspruch auf Auskehr der Überdeckung mittels Rückübertragung gleichartiger Sicherheiten wie die von ihm geleisteten erhält;



der Kreditvertrag endet automatisch mit der Beendigung des Rahmenvertrags;



die Abwicklung des beendeten Kreditverhältnisses erfolgt ebenfalls im Wege des Close-out Netting59) (Nr. 9 Abs. 1 BA DRV): noch offene Einzelansprüche wegen Unter- oder Überdeckungen erlöschen und stattdessen werden die dem Kredit- bzw. Sicherungsgeber geleisteten

58) 59)

Zerey-Behrends, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 74. Zur Rechtstechnik im Überblick etwa Jahn/Fried in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 104 Rz. 152 ff.; Fuchs, Close-out-Netting, Collateral und systemisches Risiko, 2013, S. 46 f.

432

Peter O. Mülbert

Sicherheiten abzüglich der ihm nach Nr. 4 rückübertragenen Sicherheiten bewertet und dieser Betrag bei der Ermittlung der einheitlichen Ausgleichsforderung nach Maßgabe der Nr. 7 Abs. 3, 8, 9 DRV als unselbständiger Rechnungsposten zu Lasten des Kredit- bzw. Sicherungsnehmers berücksichtigt; –

eine einseitige Beendigung des Kreditverhältnisses kann wegen dieser Beendigungsakzessorietät des Besicherungsanhangs auch beim Vorliegen eines wichtigen Grunds im Kreditverhältnisses nur im Wege der Kündigung des Rahmenvertrags erfolgen, weswegen Verstöße gegen die Pflichten aus Nr. 3 und 4 BA DRV einen wichtigen Kündigungsgrund i. S. der Nr. 7 Abs. 1 DRV bilden (Nr. 10 BA DRV).

Vertragstypenrechtlich ist das Vertragswerk des Besicherungsanhangs trotz aller Abweichungen vom Grundmodell gleichwohl noch dem Typus des Darlehensvertrags zuzuordnen. Dass es funktional und nach seinem Zweck einseitig auf den Rahmenvertrag ausgerichtet ist, genauer: dass es das Ausfallrisiko einer Vertragspartei aus den unter dem Rahmenvertrag abgeschlossenen Einzelgeschäften durch eine gegenläufige Kreditgewährung gleichsam auf Null stellen soll, schließt die Einordnung als Darlehensvertrag nicht aus.60) Begrifflich auf den Punkt gebracht, handelt es sich nach Zweck und Funktion um ein Sicherheitendarlehen. 4. Zinsen Mit der Erfassung des Vertragswerks des Sicherungsanhangs als eines besonders ausgestalteten Kreditvertrags mit darlehensvertraglicher Grundstruktur, nämlich einem Sicherheitendarlehen, lassen sich nun auch die bisherige Zinsklausel und der im Jahre 2015 eigens für die Berücksichtigung negativer Zinsen vorgestellte, bereits einleitend erwähnte Formulierungsvorschlag würdigen. a) Bisherige Klausel Bislang sieht der Besicherungsanhang in Nr. 8 Abs. 1 Satz 1 lediglich vor, dass Barsicherheiten für die vereinbarte Zinsperiode mit dem von den

60)

Die Zuordnung zum Typus Darlehensvertrag wird schießlich nicht einmal bei Vereinbarung eines bestimmten Darlehenszwecks ausgeschlossen. Ausführlich zu Beispielen zweckgebundener Darlehen Staudinger-Mülbert, BGB, Neubearb. 2015, § 488 Rz. 388 ff.

Barsicherheiten im Negativzinsumfeld

433

Parteien vereinbarten Referenzzinssatz zu verzinsen sind. Sinkt ein vereinbarter variabler Referenzzinssatz – Marktstandard ist die Vereinbarung EONIA flat (euro overnight index average61) ohne Marge) – in den negativen Bereich, besteht kein Anspruch des Sicherungsnehmers gegen die andere Partei auf Zahlung von Negativzinsen. Das ergibt schon die Vertragsauslegung. In Nr. 8 geht es ausweislich der Überschrift um „Zinserträge“. Dies meint im Falle von Barsicherheiten lediglich den Ertrag positiver Zinsen, wie schon die Zahlungsregelung in Nr. 8 Abs. 1 Satz 2 zeigt, wonach die Zinsen dem „Konto des Sicherungsgebers gutzubringen“, sind, also dem Konto der kreditgewährenden Partei.62) Zudem sieht Nr. 8 Abs. 3 zwar vor, dass der Sicherungsnehmer die Auskehrung von Zinserträgen unterlassen darf, wenn hierdurch eine Unterdeckung entsteht, jedoch keine Nachschusspflicht für den wirtschaftlich ganz vergleichbaren Fall, dass der rechnerische Wert der Barsicherheit aufgrund eines negativen Referenzzinssatzes sinkt. Bei der hiesigen Qualifizierung des Besicherungsanhangs als einem Sicherheitendarlehen ergibt sich die Null-Grenze, ohne dass dies vorliegend zu vertiefen wäre, im Übrigen auch schon daraus, dass Negativzinsen mit der synallagmatischen Struktur eines entgeltlichen Darlehens schlechterdings unvereinbar sind.63) b) Klauselvorschlag für die Berücksichtigung von Negativzinsen Um die Berücksichtigung auch negativer Referenzzinssätze zu ermöglichen – wie dies die ISDA Collateral Agreements bereits ermöglichen64) –, 61)

62) 63)

64)

Hierbei handelt es sich jeweils um einen veränderlichen Zinssatz i. S. des § 489 Abs. 2 BGB (Staudinger-Mülbert, BGB, Neubearb. 2015, § 489 Rz. 54). Gleichwohl ist danach kein Kündigungsrecht eröffnet, weil sich die Verzinsungsregel nur auf die jeweiligen Barsicherheiten bezieht und deren jeweiliger Anteil am Gesamtvolumen davon abhängt, welche Sicherheiten der Sicherungs- bzw. Kreditgeber jeweils zur Besicherung verwendet (Nr. 3 Abs. 3 BA DRV). Im Übrigen stünde das Kündigungsrecht ohnehin nur dem Sicherungsnehmer als dem Kreditnehmer zu. Zutreffend Zerey-Storck, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6a Rz. 18. Siehe vorläufig nur Binder/Ettensberger, WM 2015, 2069, 2071 f.; Tröger, NJW 2015, 657, 658 ff.; Ernst, ZfPW 1 (2015), 250, 252 f.; tendenziell auch Storck/Reul, Auswirkungen negativer Zinsen auf Finanzprodukte mit variablem Zinssatz, DB 2015, 115 f.; Zerey-Storck, Finanzderivate – Rechtshandbuch, 4. Aufl. 2016, § 6a Rz. 8 („dem Charakter des Zinses als Gegenleistung widersprechen“); a. A. Staudinger-Freitag, BGB, Neubearb. 2015, § 488 Rz. 51a f.; Zellweger-Gutknecht, ZfPW 1 (2015), 350, 373 f.; Langner/Müller, WM 2015, 1979, 1980 f. Oben I in Fn. 6.

434

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sieht der im Jahre 2015 vorgestellte Formulierungsvorschlag vor, dass die Parteien i. R. der Nr. 11 des Besicherungsanhangs eine ergänzende Vereinbarung treffen, die im Kern dessen soeben behandelten Nr. 8 Abs. 1 durch eine komplexere Bestimmung (Nr. 8 Abs. 1 BA DRV-E) ersetzt, deren zentraler Satz 1 wie folgt lautet: „Bei Barsicherheiten steht für jeden Kalendertag einer der beiden Parteien ein Zinsbetrag wie folgt zu: Ist der Zinsbetrag für diesen Kalendertag höher als 0,-, schuldet der Sicherungsnehmer dem Sicherungsgeber diesen Zinsbetrag; ist der Zinsbetrag für diesen Kalendertag niedriger als 0,-, schuldet der Sicherungsgeber dem Sicherungsnehmer den betreffenden negativen Zinsbetrag. […]“

Abhängig davon, so das Grundkonzept, ob der Referenzzinssatz (plus etwaiger Marge) an einem Bankarbeitstag kleiner oder größer Null ist, steht einer der beiden Parteien für diesen Tag eine Zahlung zu. Hierbei handelt es sich nicht etwa, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, um eine Zinsregelung. Vielmehr geht es funktional um eine Verfeinerung des in den Nrn. 3 und 4 des Besicherungsanhangs enthaltenen Regelungsmodells, wonach die jeweilige Höhe der geschuldeten Sicherheit periodisch zu jedem Berechnungstag ermittelt wird und nach Bewertung der gestellten Sicherheiten entsprechende Anpassungsleistungen wegen einer Unter- oder Überdeckung erfolgen. Denn bei Barsicherheiten ist ohne weiteres sogar eine deren Verwendung durch den Sicherungs- bzw. Kreditnehmer typisierend unterstellende bankarbeitstägliche Bewertung möglich, indem die Barsicherheit mit dem vereinbarten Referenzzinssatz multipliziert wird. Bei einem positiven Zinssatz resultiert dies in einer Erhöhung des Werts der Barsicherheit um den Zinsbetrag, bei einem negativen Zinssatz in einer entsprechenden Minderung. Diese Veränderung des Werts der Sicherheit ist, weil für die Höhe der geschuldeten bzw., anders gewendet, des in Anspruch genommenen Kredits der jeweils letzte vorausgegangene Berechnungstag maßgeblich ist, dann als Überschuss an den Sicherungsgeber auszukehren oder als rechnerische Unterdeckung vom Sicherungsgeber auszugleichen. Resümierend bleibt damit festzuhalten, dass der Vorschlag für eine Ergänzung des Besicherungsanhangs mit dem Ziel, auch negative Zinsbeträge zu berücksichtigen, mit dem vorstehend wiedergegebenen Nr. 8 Abs. 1 Satz 1 BA DRV-E keine Zinsregelung statuiert. Vielmehr wird das Modell der periodischen Festlegung der Sicherheiten- bzw. Kredithöhe für Barsicherheiten verfeinert, indem diese für jeden Bankarbeitstag bewertet werden und ein entsprechender Ausgleich zu erfolgen hat. Allfällige zins-

Barsicherheiten im Negativzinsumfeld

435

oder darlehensrechtliche Bedenken gegen die Zulässigkeit der Vereinbarung negativer Zinsen wären mithin schon im Ansatz verfehlt. IV. Schlussbemerkungen Die Generierung positiver Erträge mittels negativer Zinsen gehört in wirtschaftlicher Hinsicht zu den weiterhin ungelösten großen Herausforderungen. Für die zivilrechtliche Dogmatik scheinen sich dagegen gewisse positive Stimuli zu ergeben – und sei es auch nur in Form der „Entdeckung“ des irregulären Pfandrechts als eines gesetzlich nicht geregelten Schuldvertragstyps „Wertverschaffung zu Sicherungszwecken“ und des im Besicherungsanhang zum Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte ausgeformten Sicherheitendarlehens. Auf größere zivilrechtliche Erträge im Zeichen negativer Zinsen wäre freilich zu hoffen, sollte sich auch der Jubilar einmal auf eine solche Entdeckungsreise einlassen.

Schweizerische Finanzmarktgesetzgebung im internationalen und europäischen Kontext: Neue Architektur PETER NOBEL Inhaltsübersicht I.

II.

Ausgangslage 1. Geltendes Regelwerk im Finanzmarktbereich 2. Ausdehnung der Finanzmarktaufsicht 3. Internationale Überlagerungen und internationale Standards Neue Finanzmarktarchitektur in der Schweiz 1. Übersicht über die sog. „Kleeblattreform FinfraG – FIDLEG – FINIG“ 2. FinfraG: „Strukturen“ und Regeln für den außerbörslichen Derivatehandel als Kernstücke

3. Entwürfe zum FIDLEG und FINIG a) Stand der Gesetzgebungsarbeiten b) FIDLEG: Kundenschutz und Kundeninformation als Hauptanliegen c) FINIG: Rahmengesetz für zugelassene Finanzinstitute d) Internationale Harmonisierungen III. Ausblick: Auf dem Weg zu einem globalisierten Finanzmarktrecht

I. Ausgangslage 1. Geltendes Regelwerk im Finanzmarktbereich Auch in der Schweiz beginnt das Ganze, das mit der Klammer der Finanzmarktgesetze zusammengefasst werden kann, mit der Bundesverfassung1) und ihrem Katalog der Freiheitsrechte (einschließlich der Wirtschaftsfreiheit, 2. Titel insbesondere Art. 27 BV) und Grundsätzen (so der zur Wirtschaftsordnung, Art. 94 ff. BV) und dann der schlichten Zuständigkeiten für den Gesetzgeber (Banken und Versicherungen, Geld- und Währungspolitik, Konjunkturpolitik, Art. 98, 99 und 100 BV). Auch ohne Verfassungsgerichtbarkeit sollte es in der Schweiz eine ständige Aufgabe sein, die gesetzlichen Erlasse auf ihre Funktion und Wirkungen i. R. des Wirtschaftssystems zu prüfen.

1)

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) v. 18.4.1999, SR 101.

438

Peter Nobel

Damit gehört zu den Finanzmarkterlassen auch das Recht der Schweizerischen Nationalbank, der neben der Geld- und Währungspolitik auch der neue krisengeborene Bereich des Systemschutzes in weitem Masse obliegt (Art. 5 Abs. 2 lit. e i. V. m. Art. 19 NBG2) sowie der too big to fail-Bereich mit den neuen Bestimmungen in Art. 7 ff. BankG3). Hier kommt es auch zu Überschneidungen mit der Funktion der Aufsichtsbehörden, wobei dieser potentielle Konfliktbereich bis heute nur ansatzweise gelöst ist. Es ist aus meiner Sicht und wohl auch objektiv heute nicht mehr sinnvoll, Finanzmarktregulierung zu betreiben und diesen Rechtsbereich zu bearbeiten, ohne auch die geld- und währungspolitischen Aspekte im Auge zu haben. Aus Schweizer Sicht liegt auch hierin bereits ein architektonischer Evolutionsansatz. 2. Ausdehnung der Finanzmarktaufsicht Bereits im Jahr 2007 wurde das Bundesgesetz über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht4) geschaffen, das die frühere Bankenkommission (von 1934) durch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) ersetzte und so eine integrierte Behörde schuf, die nicht nur den Bank- und Börsenbereich sowie die Kollektivanlagen erfasste, sondern neu auch den Versicherungsbereich (außer der Sozialversicherung). Zu ihrem Aufgabenkreis gehören auch die Überwachung der zwei Pfandbriefanstalten und die Geldwäschereibelange (Art. 1 Abs. 1 FINMAG). Gerade im letzteren Bereich hat die Schweiz – trotz bereits ausgebauter Gesetzgebung (StGB5), GwG6)) – einen weiteren großen Schritt getan und schwere Steuerdelikte auch zu Vortaten der Geldwäscherei erhoben, wie die Empfehlungen der Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF)7) es verlangen.8) Entsprechend sehen die neuen Art. 27 Abs. 4 lit. b GwG i. V. m. Art. 305bis Ziff. 1bis StGB vor, dass Steuerbetrug als 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

Bundesgesetz über die Schweizerische Nationalbank v. 3.10.2003 (NBG), SR 951.11. Bundesgesetz über die Banken und Sparkassen v. 8.11.1934 (BankG), SR 952.0. Finanzmarktaufsichtsgesetz (FINMAG) v. 22.6.2007, SR 956.1. Schweizerisches Strafgesetzbuch v. 21.12.1937, SR 311.0. Bundesgesetz v. 10.10.1997 zur Bekämpfung der Geldwäscherei im Finanzsektor (Geldwäschereigesetz), SR 955.0. The FATF Recommendations, International Standards on Combating Money Laundering and the Financing of Terrorism & Proliferation, February 2012, www.fatf-gafi.org. Nobel, Entwicklungen im Bank- und Kapitalmarktrecht, SJZ 2016, 10 ff., 10.

Schweizerische Finanzmarktgesetzgebung

439

Vortat zur Geldwäscherei gilt, sofern die hinterzogenen Steuern bei mindestens CHF 300.000 pro Steuerperiode liegen. Schöpfen die Banken Verdacht auf ein solches Delikt, müssen sie den Kunden der Geldwäschereibehörde melden.9) Auch hier hat die Architektur zwischen innen und außen sich für die DBA- und Amtshilfepraxis in wesentlichem Umfang gewandelt, denn die Befolgung des OECD-Standards des Automatischen Informationsaustausches (AIA, Art. 26 OECD-Musterkonvention) macht auch das strafbewehrte Bankgeheimnis (Art. 47 BankG als Kundengeheimnis) in internationalen Belangen praktisch wertlos.10) Zu erwähnen sind aber auch die Eingriffe ins Bankengesetz, insbesondere die einlässliche Regelung der Bankeninsolvenz (Schutzmaßnahmen, Sanierung und Konkurs; vgl. Art. 25 ff. BankG), die deutlich die Besonderheiten der Finanzwirtschaft im Verhältnis zur übrigen Wirtschaft auch im „Distress“ zeigt.11) Hier schließen dann auch die Sonderregeln für systemrelevante Unternehmen an, die sich vor allem durch die Besonderheiten des dept/equity-Wandels und die Institutszerlegung kennzeichnen.12)

3. Internationale Überlagerungen und internationale Standards Übers Ganze – und dies zeigt sich auch im Folgenden – kann man in bemerkenswerter Weise auch erkennen, dass der Regulierungsstil nicht nur internationaler, sondern auch „anders“ geworden ist. Im Vordergrund steht das, was man heute allenthalben als „Internationale Standards“ bezeichnet und die vielleicht im Bereich der Europäischen Union im Dschungel des Gemeinschaftsrechts mindestens in der grundsätzlichen Bearbeitung etwas untergegangen sind. Internationale Standards sind evolutorisches Recht der regulatorischen Kooperation auf globaler Ebene. Von Völkerrecht spricht man hier nicht mehr; solche Standards werden nicht immer auf ganz durchsichtige Weise 9) 10) 11)

12)

Vgl. auch Kunz, Umsetzung der GAFI-Empfehlungen 2012, Jusletter v. 23.2.2015, Rz. 49 ff. Nobel, Abschied vom Bankgeheimnis, ZSR 134 (2015), I/Heft 1, 21 ff., 27. Dazu etwa Kähr, Sanierungsrecht für Banken, ST 3/2014, 204 ff.; Lorandi, Bankengesetzliches Insolvenzrecht und SchKG – Schnittstellen und Unterschiede, SZW 2013, 497 ff. Vgl. dazu statt vieler: P. Böckli/M. Böckli, „Bail-in“: Bankenrettung durch Gläubigeropfer, in: FS für Nobel, 2015, S. 321 ff.; Kuhn, Der gesetzliche Bail-in als Instrument zur Abwicklung von Banken nach schweizerischem Recht, GesKR 2014, 443 ff.

440

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erarbeitet, wobei die Schweiz mit dem Financial Stability Board (FSB) in Basel, auf das auch die G20 zurückgreifen, immerhin noch das Entwicklungszentrum auf ihrem Territorium weiß. Das FSB weist in seinem Kompendium 12 Key Standards auf, worunter aber auch Standards der International Organization of Securities Commissions (IOSCO) für den Wertpapierbereich und diejenigen der FATF für die Geldwäschereiabwehr zu verzeichnen sind.13) Diese Standards werden nicht etwa demokratisch erlassen, sondern für die Länder eher politisch promulgiert und mit Sanktionen versehen, wie etwa „schwarze Listen“ bei mangelnder Kooperationsbereitschaft, die Reputationsschäden, aber auch Geschäftseinbußen nach sich ziehen. Die Standards werden von den Staaten dann in ihr positives Recht übernommen und so vom (vermeintlichen) soft law zum hard law.14) Die wichtigsten Standards sind die folgenden fünf: 1.

Grundsätze für eine wirksame Bankenaufsicht des Basler Ausschusses (Core Principles for Effective Banking Supervision).15) Dieser Standard beinhaltet 25 Prinzipien, die sich auf folgende Bereiche erstrecken: Grundvoraussetzungen für eine wirksame Bankenaufsicht, Erlaubnisverfahren und Genehmigung von Strukturänderungen, laufende Bankenaufsicht, Eingriffsbefugnisse der Aufsichtsbehörde sowie grenzüberschreitende Bankgeschäfte.

2.

Ziele und Grundsätze der Wertpapieraufsicht der IOSCO (Objectives and Principles of Securities Regulation).16) Dieser Standard umfasst 38 Grundsätze und beschäftigt sich mit dem Anlegerschutz, der Gewährleistung fairer, effizienter und transparenter Märkte und der Verminderung des Systemrisikos.

3.

Grundsätze der Internationalen Vereinigung der Versicherungsaufsichtsbehörden (IAIS Insurance Core Principles).17) Die total 26 Grund-

13)

Siehe FSB, Table of Key Standards for Sound Financial Systems, 2015, www.financialstabilityboard.org. Siehe auch Nobel, Finanzmarktrecht: Neue Architektur – Neuer Wein?, BJM 3/2015, 129 ff., 137; ferner Nobel, Wieviel Regulierung – wieviel globale Standards?; in: Brigitte Strebel-Aerni (Hrsg.), Standards für nachhaltige Finanzmärkte, 2008, S. 59 ff., 68 f. Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, Grundsätze für eine wirksame Bankenaufsicht, September 1997, www.bis.org, ebenso EBK-Bulletin 33/1997, 17 ff. IOSCO, Objectives and Principles of Securities Regulation, Juni 2010, www.iosco.org. IAIS, Insurance Core Principles, Standards, Guidance and Assessment Methodology, 1.10.2011 (revidiert am 19.10.2013), www.iaisweb.org.

14)

15) 16) 17)

Schweizerische Finanzmarktgesetzgebung

441

sätze der Versicherungsaufsicht befassen sich mit der Organisation und Aufsicht sowie der inhaltlichen Gestaltung von zentralen Aufsichtsvorschriften. 4.

Grundprinzipien für wichtige Zahlungsverkehrssysteme (Core Principles for Systemically Important Payment Systems) des Ausschusses für Zahlungsverkehrs- und Abwicklungssysteme.18) Diese Prinzipien sollen die Sicherheit und Effizienz verbessern.

5.

Verfahrenskodex des IWF zur Transparenz der Geld- und Finanzpolitik (Code of Good Practices on Transparency in Monetary and Financial Policies).19) Dieser Kodex fasst anzustrebende Praktiken zur Verbesserung der Transparenz der Geld- und Finanzpolitik der Zentralbanken und Finanzinstitutionen zusammen.

Es wäre an der Zeit, wenn die Rechtswissenschaft sich mit dem Aufkommen dieser Standards näher auseinandersetzen würde.20) Problembereiche sind hier die Legitimation, die Repräsentativität, dann Koordination, Konsistenz und Rechenschaftspflichten.21) II. Neue Finanzmarktarchitektur in der Schweiz 1. Übersicht über die sog. „Kleeblattreform FinfraG – FIDLEG – FINIG“ Bereits im November 2013 und Juni 2014 hat der Bundesrat (Regierung) Vorentwürfe für einen wesentlichen Umbau der Finanzmarktgesetze publiziert.22) Vor allem in diesem Zusammenhang kam das Wort von der neuen Architektur auf, weil dargelegt wird, dass bislang eine Säulen- oder Pfeilerarchitektur als Bild gedient habe und nun zu einer horizontalen, durch-

18) 19) 20) 21) 22)

BIS, Committee on Payment and Settlement Systems, Core Principles for Systemically Important Payment Systems, Januar 2001, www.bis.org. IMF, Code of Good Practices on Transparency in Monetary and Financial Policies: Declaration of Principles, 26.9.1999, www.imf.org. Nobel, BJM 3/2015, 129, 138. Dazu Wandel, International Regulatory Cooperation: An Analysis of Standard Setting in Financial Law, Schweizer Schriften zum Finanzmarktrecht Bd. 119, 2014. Vorentwurf (Vernehmlassungsvorlage) und erläuternder Bericht zum Bundesgesetz über die Finanzmarktinfrastruktur (FinfraG) v. 29.11.2013, www.efd.admin.ch; Vorentwürfe (Vernehmlassungsvorlagen) und erläuternder Bericht zum Bundesgesetz über die Finanzdienstleistungen (FIDLEG) und zum Bundesgesetz über die Finanzinstitute (FINIG) v. 25.6.2014, www.efd.admin.ch.

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greifenden Bauweise übergegangen werde, die Gleiches gleich behandeln wolle.23) Es handelte sich dabei um folgende Vorlagen: –

Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG),



Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG),



Finanzinstitutsgesetz (FINIG).

Das Finanzmarktinfrastrukturgesetz wurde bereits vom Parlament verabschiedet.24) Es ist samt Ausführungsverordnungen am 1.1.2016 in Kraft getreten.25) Die am konsequentesten ersichtliche Zielsetzung ist hier besonders der Wille, internationale Standards zu verwirklichen. Die Harmonisierung des schweizerischen Finanzmarktrechts mit den internationalen Regulierungsstandards soll die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz auch in Zukunft gewährleisten und sicherstellen, dass die schweizerischen Finanzdienstleister fortan international erfolgreich auftreten können.26) Die neue Gesetzgebung hat zur Folge, dass das Bundesgesetz über die Börsen und den Effektenhandel,27) welches von 1995 datiert, aufgehoben wird. Das Kollektivanlagengesetz von 200628) wird zu einem reinen Produktegesetz, da die Bewilligung der Fondsleitungen in das Finanzinstitutsgesetz übernommen wird. Auch das FINMAG wird zahlreiche Änderungen erfahren.

23) 24) 25)

26)

27) 28)

Bärtschi, Finanzmarktregulierung im Fluss, SZW 2014, 459 ff., 458; Roth, Gesetzgebungsprojekte: FIDLEG, FINIG und FinfraG, SZW 2014, 608 ff., 609. Botschaft zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) v. 3.9.2014, BBl 2014, 7483 ff. Bundesgesetz über Finanzmarktinfrastrukturen und das Marktverhalten im Effektenund Derivatehandel (Finanzmarktinfrastrukturgesetz, FinfraG) v. 19.6.2015, SR 958.1; Finanzmarktinfrastrukturverordnung des Bundesrates (FinfraV) v. 25.11.2015, SR 958.11; Finanzmarktinfrastrukturverordnung der FINMA (FinfraV-FINMA) v. 3.12.2015, SR 958.11. Botschaft zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) v. 3.9.2014, BBl 2014, 7483, 7484; Weber, Gedanken zum Regulierungsprozess im Finanzmarktrecht, in: FS für Nobel, 2015, S. 457 ff., 467. Bundesgesetz über die Börsen und den Effektenhandel (Börsengesetz, BEHG) v. 24.3.1995, SR 954.1. Bundesgesetz über kollektive Kapitalanlagen (Kollektivanlagengesetz, KAG) vom 23.6.2006, SR 951.31.

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2. FinfraG: „Strukturen“ und Regeln für den außerbörslichen Derivatehandel als Kernstücke Das Finanzmarktinfrastrukturgesetz vom 19. Juni 2015 heißt neu und (anders als im Entwurf) inhaltsmäßig korrekt „Bundesgesetz über die Finanzmarktinfrastrukturen und das Marktverhalten im Effekten- und Devisenhandel“29) und ist ein reiches und für schweizerische Verhältnisse auch langes Gesetz. Es enthält denn auch, neben den Vorschriften zu den Finanzmarktinfrastrukturen, das ganze Marktmissbrauchsrecht (Insidertrading, Kursmanipulation, Art. 142 –156 FinfraG) sowie die Übernahmeund Offenlegungsvorschriften (Art. 120 –140 FinfraG). Finanzmarktinfrastrukturen sind gemäß Art. 2 lit. a FinfraG: –

eine Börse,



ein multilaterales Handelssystem,



eine zentrale Gegenpartei,



ein Zentralverwahrer,



ein Transaktionsregister,



ein Zahlungssystem.

Ausgenommen sind die von der Schweizerischen Nationalbank betriebenen Infrastrukturen (Art. 4 Abs. 3 FinfraG). Die Botschaft (Bericht der Regierung) zum FinfraG sagt einleitend: „Mit der Vorlage wird eine einheitliche, an die Entwicklungen des Marktes und an internationale Vorgaben angepasste Regulierung der Finanzmarktinfrastrukturen sowie der Pflichten der Finanzmarktteilnehmerinnen und –teilnehmer beim Effekten- und Derivatehandel vorgenommen. […] In der Finanzkrise haben Finanzmarktinfrastrukturen weitgehend reibungslos funktioniert. Die Krise hat allerdings das Risikobewusstsein geschärft und die Notwendigkeit zur Berücksichtigung ausgeprägter Stresssituationen deutlich vor Augen geführt. Internationale Standardsetter haben daher die bisherigen Standards für Finanzmarktinfrastrukturen überarbeitet.“30)

Insgesamt wird im FinfraG sechszehnmal auf die Absicht, internationalen Standards Folge zu leisten, hingewiesen. Der Erlass des FinfraG ist eine Folge der Finanzkrise, welche aufgezeigt hat, dass nicht nur die Banken, sondern auch die Börsen und insbesondere auch die Märkte für außerbörslich gehandelte Derivate (OTC-Handel) die Stabili-

29) 30)

Siehe vorne II 1. Botschaft zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) v. 3.9.2014, BBl 2014, 7483, 7484.

444

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tät der Finanzsysteme gefährden können. Fehlende Transparenz und mangelnde Besicherung auf den außerbörslichen Märkten sind häufig die Ursachen. Dies veranlasste die G20-Staaten, am Gipfeltreffen in Pittsburgh im September 2009 folgende Pflichten für den Derivatehandel zu definieren:31) –

Abrechnungspflicht: Standardisierte OTC-Derivatekontrakte müssen über zentrale Gegenparteien abgerechnet werden;



Meldepflicht: Sämtliche OTC-Derivatetransaktionen sind an ein Transaktionsregister zu melden;



Risikominderungspflicht mittels höherer Kapitalhinterlegungen;



Plattformhandelspflicht: Standardisierte Derivate müssen über Börsen oder andere elektronische Handelsplattformen gehandelt werden.

Mit der Ausarbeitung der Empfehlungen für die Umsetzung dieser Verpflichtungen sowie der Überwachung ihrer Implementierung wurde das FSB beauftragt.32) Die Europäische Union hat dazu die EMIR-Verordnung erlassen.33) Selbst wenn die FSB-Empfehlungen völkerrechtlich nicht bindend sind, ist die Schweiz als FSB-Mitglied angehalten, diese ebenfalls umzusetzen.34) Sie sichert damit den Schweizer Finanzdienstleistern den Zugang zu den internationalen und europäischen Märkten. Zugleich leistet sie damit einen wichtigen Beitrag zur Stabilität des globalen Finanzsystems.35) Entsprechend sind sämtliche Finanzderivategeschäfte über eine Zentrale Gegenpartei abzurechnen (Art. 97 FinfraG). Gemäß Art. 104 FinfraG müssen die Derivategeschäfte aus Transparenzgründen einem Transaktionsregister gemeldet werden. Ein weiterer Schritt ist die Plattformhandelspflicht; diese will der Bundesrat aber erst in Kraft setzen, „wenn dies nach der internationalen Entwicklung angezeigt ist“ (Art. 112 ff. i. V. m. Art. 164 Abs. 3 FinfraG). Folglich wird zugewartet, bis sich die Plattformhandelspflicht als internationaler Standard etabliert hat. Es handelt sich hier also sozusagen um Gesetzesnormen auf Vorrat. 31) 32)

33)

34) 35)

Leaders‘ Statement: The Pittsburgh Summit, September 24 – 25 2009, www.g20.org. Das FSB publiziert regelmäßig Fortschrittsberichte zum Stand der Umsetzung der G20-Empfehlungen; siehe zuletzt Ninth Progress Report on Implementation of OTC Derivatives Market Reforms, 24 July 2015, www.financialstabilityboard.org. Verordnung (EU) Nr. 648/2012 v. 4.7.2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, ABl. (EU) Nr. L 201/1 ff. v. 27.7.2012, EMIR ist ein englisches Akronym und steht für „European Market Infrastructure Regulation“. Botschaft zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) v. 3.9.2014, BBl 2014, 7483, 7497. Botschaft zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) v. 3.9.2014, BBl 2014, 7483, 7497.

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Diese Regeln für den außerbörslichen Handel mit Finanzderivaten bilden das innovative Kernstück des FinfraG. Dieser Handel ist stark international ausgeprägt, wobei die Europäische Union für die Schweiz der wichtigste Handelspartner im Derivategeschäft ist: 78 % aller Transaktionen werden mit einer Gegenpartei der Europäischen Union abgeschlossen.36) Deshalb ist für diesen Bereich vor allem die Drittstaatenregelung der Europäischen Union in EMIR von Bedeutung. Gemäß EMIR müssen grundsätzlich alle Transaktionen mit standardisierten und liquiden Derivaten über eine zentrale Gegenpartei abgewickelt werden. Verlangt wird ferner eine Meldepflicht für diese Derivatetransaktionen an Transaktionsregister. Weiter sind die Gegenparteirisiken zu verkleinern, ebenso die mit dem Derivatehandel verbundenen, operativen Risiken (Art. 4 ff., Art. 11 EMIR).37) Freilich hat das FinfraG die Regelung gemäß EMIR nicht wortgetreu übernommen, sondern inhaltlich wie auch in der Regulierungstiefe Anpassungen vorgenommen, welche den schweizerischen Marktverhältnissen Rechnung tragen. So kann der Bundesrat gemäß Art. 94 Abs. 2 FinfraG aus Gründen der Verhältnismäßigkeit kleine Vertragsparteien im Finanzbereich von den Derivatehandelsregeln ausnehmen. Mittels Anschlussrevision des FINMAG wird in dessen Art. 42 – 42b auch die internationale Zusammenarbeit, namentlich die Amtshilfe, einlässlich geregelt. Dabei ist auch eine Einschränkung des sog. Kundenverfahrens vorgesehen. Die FINMA kann davon absehen, den Kunden vor Übermittlung der ihn betreffenden Informationen zu orientieren, „wenn der Zweck der Amtshilfe und die wirksame Erfüllung der Aufgaben der ersuchenden Behörde durch die vorgängige Information vereitelt würde“ (Art. 42a Abs. 4 FINMAG).

Eine spätere Anfechtung kann sodann lediglich auf Feststellung der Rechtswidrigkeit lauten (Art. 42a Abs. 6 FINMAG).38)

36)

37)

38)

Botschaft zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) v. 3.9.2014, BBl 2014, 7483, 7627. Weitere 10 % der Derivatetransaktionen entfallen je auf die USA und Asien, während das rein nationale Derivategeschäft mit 2 % verschwindend klein ist. Vgl. zum Ganzen auch Sethe, Das Drittstaatenregime von MiFIR und MiFID II, SZW 2014, 615 ff., 616. Botschaft zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) v. 3.9.2014, BBl 2014, 7483, 7503 ff.; Eggen/Schaefer, Regulierung grenzüberschreitender Tätigkeiten im Finanzmarktrecht, GesKR 2013, 368 ff., 379 f. Vgl. zur Amtshilfe Zulauf, Kooperation oder Obstruktion? – 20 Jahre Amtshilfe im Finanzmarktrecht vom Börsengesetz zum FINFRAG, GesKR 2015, 336 ff.

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3. Entwürfe zum FIDLEG und FINIG a) Stand der Gesetzgebungsarbeiten Die bundesrätliche Vorlage vom 4.11.2015 umfasst zwei zwillingsartig präsentierte Gesetzesprojekte: Ein Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und ein Finanzinstitutsgesetz (FINIG).39) Das FIDLEG „dient neben der Schaffung einheitlicher Wettbewerbsbedingungen der Verbesserung des Kundenschutzes. Der Erlass enthält für alle Finanzdienstleister Regeln über die Erbringung von Finanzdienstleistungen sowie das Anbieten von Finanzinstrumenten und erleichtert den Kundinnen und Kunden die Durchsetzung ihrer Ansprüche gegenüber Finanzdienstleistern“40).

Das FINIG ist ein sektorübergreifendes Rahmengesetz.41) Dessen Gegenstand ist die „einheitliche Regelung der Anforderungen an Finanzinstitute, die im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit – also gewerbsmässig – Vermögenswerte von Drittpersonen anlegen und verwalten“42).

Beide Erlasse bauen auf den bestehenden aufsichtsrechtlichen Vorschriften auf.43) Mit den beiden Vorlagen werden hohe Erwartungen verknüpft: „Mit der vorgeschlagenen Vorlage kann die Schweiz eine moderne, funktionsübergreifende sowie verständliche Finanzmarktregulierung schaffen.“44)

Und es ist in der Tat so: Man hat alle möglichen Ideen eingesammelt, vor allem zum Konsumentenschutz im Finanzbereich.45) Die neuen Gesetze dürften im Parlament auf Widerstand stoßen. Über die Entwicklung der Einzelheiten lässt sich zwar nichts voraussagen, doch dürfte die Grundstruktur der Erlasse erhalten bleiben.

39) 40) 41) 42) 43) 44) 45)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8902. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 9021. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 9017. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8915. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8929. Nobel, BJM 3/2015, 129, 147.

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b) FIDLEG: Kundenschutz und Kundeninformation als Hauptanliegen Das Gesetz will nicht nur Kundenschutz, sondern weiter „die Schaffung vergleichbarer Bedingungen für das Erbringen von Finanzdienstleistungen“ (Art. 1 Abs. 1 E-FIDLEG), die getreu, sorgfältig und transparent erfolgen sollen (Art. 1 Abs. 2 E-FIDLEG). Wesentlich sind sodann die Versuche, neue Ideen für die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche der Kunden zu erarbeiten. Dazu gehört auch die Schaffung und der Ausbau von Ombudsstellen (Art. 77 E-FIDLEG). Zuerst schlichten, dann richten, ist hier die Devise. Nicht prudentiell beaufsichtigte sowie ausländische Finanzintermediäre müssen sich in ein Kundenberatungsregister eintragen lassen (Art. 30 EFIDLEG). Die Registrierungsstelle bedarf der FINMA-Zulassung und wird von dieser beaufsichtigt (Art. 33 Abs. 1 E-FIDLEG). Die unbestrittene Pflicht der Kundenberaterinnen und -berater zur Ausund Weiterbildung wird ergänzt mit einer entsprechenden Verantwortung der Finanzdienstleister, diese Aus- und Weiterbildung ihrer Beratungspersonen zu gewährleisten (Art. 7 E-FIDLEG). Außerdem sollen die einzelnen Branchen auf dem Wege der Selbstregulierung hierfür Mindeststandards definieren (Art. 6 Abs. 2 E-FIDLEG).46) Ferner wird die Prospektpflicht umfassend ausgebaut (Art. 37 E-FIDLEG) und eine neue Prüfstelle für Prospekte errichtet (Art. 54 E-FIDLEG), welche die Prospekte auf Vollständigkeit, Kohärenz und Verständlichkeit prüfen soll (Art. 53 Abs. 1 E-FIDLEG). Dazu kommt ein Basisinformationsblatt, das das Risiko- und Renditeprofil sowie die Kosten aufzeigt (Art. 63 E-FIDLEG). Die Prospektregeln des OR (Art. 652a, 1156 und auch 752 OR) werden aufgehoben. Im Zentrum stehen Informations- und Erkundigungspflichten zur Ermöglichung einer informierten Anlageentscheidung. Die Kunden werden einer Eignungsprüfung unterzogen, wenn sich die Beratung auf das gesamte Portfolio und nicht nur auf einzelne Transaktionen bezieht (Art. 13 E-FIDLEG). Für andere Finanzdienstleistungen wird eine Angemessenheitsprüfung vorgesehen (Art. 12 E-FIDLEG). 46)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8951.

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Der heutige Rechtsschutz des Kunden wird als ungenügend qualifiziert. Dies findet seinen Grund vor allem darin, dass Aufwand (d. h. Kosten) und Ertrag in einem schlechten Verhältnis stünden. Der Lösungsansatz sieht eine Befreiung zur Leistung von Prozesskostenvorschüssen und Sicherheiten vor. „Damit entfällt eine erste beträchtliche Hürde für die Einleitung eines Zivilprozesses. Sodann sollen Finanzdienstleister, Finanzinstitute, Banken und Versicherungsunternehmen auch im Falle ihres Obsiegens unter gewissen Voraussetzungen ihre eigenen Prozesskosten selber tragen müssen, womit sich das Prozesskostenrisiko für die Privatkundinnen und -kunden reduzieren lässt. Voraussetzung dafür ist insbesondere, dass der Streitwert 250000 Franken nicht übersteigt und vorgängig ein Verfahren vor einer Ombudsstelle durchgeführt wird.“47)

Die Regelung erfolgt in der Zivilprozessordnung. Der Kunde soll sodann einen Anspruch auf jederzeitige Herausgabe seines Kundendossiers und der weiteren ihn betreffenden Dokumente haben (Art. 75 E-FIDLEG). Die Beweislastumkehr bei Verletzung der Informations- und Aufklärungspflichten mit der gesetzlichen Vermutung, dass ein Geschäft nicht getätigt worden wäre, wurde nach ausgiebiger Diskussion wieder fallengelassen.48) c) FINIG: Rahmengesetz für zugelassene Finanzinstitute Das FINIG ist ein Rahmengesetz, das die Voraussetzungen zur Bewilligungserteilung sektorübergreifend für alle Marktteilnehmer vereinheitlichen will. Materiell bleibt allerdings vieles beim Alten, insbesondere auch bei den Teilen aus dem BankG, welche – entgegen ersten Ankündigungen – erhalten bleibt. Die Effektenhändler werden aber zu „Wertpapierhäusern“. Zu den bewilligungspflichtigen Finanzinstituten sollen neu auch die Vermögensverwalter (Art. 2 Abs. 1 lit. a E-FINIG) gehören, was größeren Widerstand erzeugt. Als Vermögensverwalter gilt (gemäß Art. 16 Abs. 1 E-FINIG), „wer gestützt auf einen Auftrag gewerbsmässig im Namen und für Rechnung der Kundinnen und Kunden Vermögenswerte verwaltet oder auf andere Weise über Vermögenswerte von Kundinnen und Kunden verfügen kann.“

47) 48)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8925. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8914, 8925.

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Die Verwalter von kollektiven Kapitalanlagen und Vorsorgeeinrichtungen müssen strengere Anforderungen erfüllen, als die Vermögensverwalter von Individualkunden.49) Die Verwalter von Kollektivvermögen sowie die Fondsleitungen und Wertpapierhäuser verbleiben unter der Aufsicht der FINMA (Art. 57 Abs. 2 EFINIG). Die Beaufsichtigung der Vermögensverwalter und Trustees hingegen wird einer gesteuerten staatlichen Aufsichtsorganisation übertragen (Art. 57 Abs. 1 E-FINIG).50) Die Aufsichtsbehörden sind ermächtigt, „unter Berücksichtigung der Tätigkeit der von ihnen Beaufsichtigten und der damit verbundenen Risiken eine mehrjährige Prüfperiodizität vorzusehen“51) (vgl. Art. 58 und 59 E-FINIG). Am Ende enthält die Vorlage eine Anzahl von Verantwortlichkeits- und Strafbestimmungen (Art. 64 ff. E-FINIG). Dort ist auch das in „Verletzung des Berufsgeheimnisses“ umbenannte ehemalige Bankgeheimnis zu finden (Art. 65 E-FINIG). Die innere Ausgestaltung wird aber noch zu reden geben (Verfassungsinitiative). d) Internationale Harmonisierungen Die Finanzkrise hat auch im Regulierungsbereich der Finanzdienstleistungen ihre Spuren hinterlassen. Als Folge der globalen Krise sind auf internationaler Ebene verschiedene Gremien im Interesse eines verstärkten internationalen Kundenschutzes tätig geworden. Erwähnt seien etwa die High-Level Principles on Financial and Consumer Protection der G20 vom Oktober 2011,52) wonach Finanzdienstleister ihre Kundschaft über Merkmale, Risiken und Bedingungen von Finanzinstrumenten informieren müssen. Des Weiteren sind Interessenkonflikte, denen die Finanzdienstleister unterliegen, zu vermeiden bzw. offenzulegen. Die Beratungen müssen objektiv und am Risikoprofil des Kunden ausgerichtet sein und dessen Interessen bestmöglich wahren.

49) 50) 51) 52)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8917. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8927. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8917. G20 High-Level Principles on Financial Consumer Protection, October 2011, www.g20.org.

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Speziell für kollektive Kapitalanlagen konzipiert sind ferner die Principles on Point of Sale Disclosure der IOSCO.53) Diese enthalten Empfehlungen für einen verbesserten Schutz der Erwerber von strukturierten Produkten. Der Einklang der schweizerischen Finanzmarktregulierung mit diesen internationalen Standards ist essentiell für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und der Reputation des Finanzplatzes Schweiz.54) Schweizerische Finanzdienstleister sind aber auch in erheblichem Masse für europäische Kundinnen und Kunden tätig,55) weshalb auch die Vorschriften des europäischen Finanzmarktrechts zur Erbringung von Finanzdienstleistungen von einschlägiger Bedeutung sind. Vordergründig sind MiFID II56) und MiFIR57). Namentlich sollen Finanzdienstleister, welche sowohl auf dem schweizerischen als auch auf dem europäischen Finanzmarkt tätig sind, nicht zwei unterschiedlichen Standards unterworfen sein. Ferner werden Finanzdienstleister aus Drittstaaten wie die Schweiz gestützt auf Art. 46 ff. MiFIR nur noch Dienstleistungen an Gegenparteien und professionelle Kunden in der Europäischen Union erbringen dürfen, wenn sie in ihrem Heimatstaat gleichwertigen Verhaltensregeln unterstehen. Das FIDLEG hat die Vorgaben der Europäischen Union nicht integral übernommen. Abweichungen sind in jenen Bereichen auszumachen, wo besondere Eigenschaften des schweizerischen Finanzmarktrechts dies rechtfertigen. Dies betrifft vor allen Dingen die detaillierte Kundensegmentierung der MiFID II (Art. 4 Ziff. 9 – 11) einerseits und die größere Autonomie der schweizerischen Kleinkundinnen und -kunden in Bezug auf Geschäfte über komplexe Finanzinstrumente anderseits.58)

53) 54) 55) 56)

57)

58)

IOSCO Principles on Point of Sale Disclosure, November 2009, www.iosco.org. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8929 f. Zur Bedeutung des europäischen Finanzmarktes für die Schweiz siehe vorne II 2. Richtlinie 2014/65/EU v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente, ABl. (EU) Nr. L 173/349 ff. v. 12.6.2014; MiFID ist ein englisches Akronym und steht für „Markets in Financial Instruments Directive“. Verordnung (EU) Nr. 600/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/ 2012, ABl. (EU) Nr. L 173/184 ff. v. 12.6.2014; MIFIR ist ein englisches Akronym und steht für „Markets in Financial Instruments and amending Regulation“. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8938 f.

Schweizerische Finanzmarktgesetzgebung

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III. Ausblick: Auf dem Weg zu einem globalisierten Finanzmarktrecht Der Um- und Ausbau der schweizerischen Finanzmarktarchitektur ist in erster Linie eine Folge des internationalen Harmonisierungsdrucks. Am auffälligsten ist denn auch die stetig wiederkehrende Verweisung auf internationale Standards: FinfraG: Verweise auf internationale Standards Artikel

Inhalt

21 Abs. 2

Veröffentlichung wesentlicher Informationen

23 Abs. 2

Besondere Anforderungen für systemwesentliche Infrastrukturen

29 Abs. 3

Vor- und Nachhandelstransparenz (Geltungsbereich und Ausnahmen)

35 Abs. 2

Reglement für Börsenzulassung von Effekten

46 Abs. 2

Ausnahmen von der Handelstransparenz

46 Abs. 3

Ausdehnung der Veröffentlichungspflicht auf Vorhandelstransparenz

77 Abs. 2 bzw. 78 Abs. 2

Datenzugang in- bzw. ausländischer Behörden für Transaktionen von Zentralbanken

82

Spezifische Pflichten für Zahlungssysteme bzgl. Eigenmittel, Risikoverteilung und Liquidität

94 Abs. 2

Ausnahme öffentlicher Institutionen von Vorschriften über Marktverhalten im Derivatehandel

94 Abs. 4

Ausnahme strukturierter Produkte und der Effektenleihe von Handelsvorschriften für Derivate

101 Abs. 2

Abrechnung von Derivaten über CCP

107 Abs. 3

Abrechnung nicht CCP-pflichtiger OTCTransaktionen

113 Abs. 2

Derivate, die über Handelsplatz oder -system abrechnungspflichtig sind

118 Abs. 1

Positionslimiten für Warenderivate

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E-FIDLEG: Verweise auf internationale Standards Artikel

Inhalt

4 Abs. 5

Kundensegmentierung

38 Abs. 5

Ausnahme von der Prospektpflicht

Diese Globalisierungstendenz ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, dass es weitgehend der Exekutive, d. h. dem Bundesrat, überlassen bleibt, die Folgeanpassungen an diese internationalen Standards vorzunehmen. Dies führt auch intern zu einer Kompetenzverschiebung.59) In der Sache entsteht ein globalisiertes Finanzmarktrecht, dessen Grundzüge sich zwar im Gesetz finden, das in der Weiterentwicklung jedoch dem Bundesrat überlassen bleibt. Die Anerkennung der Gleichwertigkeit mit der Europäischen Union dürfte erreichbar sein, nicht ohne weiteres aber der direkte Marktzutritt. Denn die Anwendung des Gleichwertigkeitsansatzes durch die Europäische Union für Schweizer Finanzdienstleister garantiert noch keinen effektiven Marktzutritt in den EU/EWR-Raum.60) Letzterer erfordert vor allem auch politische Verständigungen mit den Partnerbehörden der für die Schweizer Finanzindustrie wichtigen Länder bzw. mit der Europäischen Union. Um den Marktzutritt zu erhalten oder zu optimieren, ist autonomes Handeln nicht zielführend.61)

59) 60)

61)

Nobel, BJM 3/2015, 129, 151 ff. Schlussbericht der Expertengruppe (Vorsitz von Aymo Brunetti) zur Weiterentwicklung der Finanzmarktstrategie v. 1.12.2014, S. 26, www.news.admin.ch/message/ index.html?lang=de&msg-id=55545. Schlussbericht der Expertengruppe Brunetti zur Weiterentwicklung der Finanzmarktstrategie v. 1.12.2014, S. 22, www.news.admin.ch/message/index.html?lang=de&msgid=55545.

Das Haftungsregime für Ratingagenturen zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht WULF-HENNING ROTH Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Überblick 1. Anwendungsbereich 2. Der Haftungstatbestand 3. Weitere Regelungen III. Das Problem 1. Allgemeines 2. Umfang und Tragweite der Bestimmung

IV. Verallgemeinerung des Problems 1. Zum Zusammenspiel von Unionsund nationalem Recht 2. Rechtsbegriffe und Generalklauseln im Unionsrecht: hybride Strukturen V. Die Regelungen in Art. 35a CRA III-VO VI. Insbesondere: § 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO VII. Zusammenfassung

I. Einführung Eine der vielen Reaktionen auf die mannigfachen Ursachen der (ersten) Finanzkrise von 20081) – der durch den Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarktes ausgelösten und von der dortigen Hypothekenverbriefungspraxis beförderten Bankenkrise2) – bestand auf europäischer Ebene in der regulatorischen Einhegung der Ratingagenturen, deren interessegeleitetes Verhalten eine besonders unheilvolle Rolle für das Entstehen der Krise zugeschrieben wird.3) Mit der Verordnung Nr. 1060/2009 (CRA I)4) wurde eine Registrierungspflicht für Ratingagenturen eingeführt und versucht, den gravierendsten Mängeln in der Organisation und der Tätigkeit der Agenturen entgegenzuwirken, etwa durch das Erfordernis der Verwendung geeigneter Bewertungsverfahren sowie der Ausschaltung von Interessekonflikten. In einem zweiten Schritt wurde mit der Verord1) 2)

3) 4)

Dazu Sinn, Kasino-Kapitalismus, 2009. Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor? Gutachten E zum 68. Deutschen Juristentag, Bd. I, 2010. Sinn, Kasino-Kapitalismus, 2009, S. 144 ff.; Wagner, Die Haftung von Ratingagenturen gegenüber dem Anlegerpublikum, in: FS für Blaurock, 2013, S. 467, 469 m. w. N. Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 über Ratingagenturen, ABl. (EG) 2009 Nr. L 302/1.

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nung Nr. 513/2011 (CRA II)5) nicht nur eine Aufsichtszuständigkeit der mittlerweile etablierten Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde6) begründet, sondern auch und vor allem eine weit reichende und detaillierte Liste von Verhaltenspflichten erstellt (im Anhang III der Verordnung), die neben der Vermeidung von Interessenkonflikten vor allem auf organisatorische, operationelle und informatorische Anforderungen für die Ratingagenturen, auch im Zusammenwirken mit der Aufsicht, zielt. In einem dritten Schritt wurde mit der VO Nr. 462/2013 (CRA III)7) unter anderem die bisher allein auf das Aufsichtsrecht und seine Instrumente vertrauende Durchsetzung der Vorgaben, Anforderungen und Verhaltenspflichten durch ein zivilrechtliches Haftungsregime ergänzt, dessen Zielsetzung in einem intensivierten enforcement der Verhaltenspflichten für die Ratingagenturen wie auch darin gesehen wird, die Schwierigkeiten der Geltendmachung von Schadensersatz, die für Emittenten wie Anleger auf der Grundlage nationalen Haftungsrechts traditionell (vor allem außerhalb von vertraglichen Beziehungen) bestehen,8) durch die Einführung eines auf Unionsrecht gegründeten Anspruchs auf Schadensersatz zu beheben.9) Ob die in der CRA III-Verordnung gefundene Lösung die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen wird, mag man mit Fug bezweifeln. Diese Zweifel knüpfen sich an die weiterhin problematische Beweislage vor allem für die 5)

6)

7)

8) 9)

Verordnung (EU) Nr. 513/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen, ABl. (EU) 2011 Nr. L 145/30. Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde) zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 2009/77/EG der Kommission, ABl. (EU) 2010 Nr. L 331/84. Verordnung (EU) Nr. 462/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.5.2013 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen, ABl. (EU) 2013 Nr. L 146/1. Siehe vor allem Erwägungsgrund Nr. 32 der Verordnung (EU) Nr. 462/2013. Aus dem Schrifttum zur CRA III-VO: Blaurock, Neuer Regulierungsrahmen für Ratingagenturen, EuZW 2013, 608; Dutta, Die neuen Haftungsregeln für Ratingagenturen in der Europäischen Union: Zwischen Sachrechtsvereinheitlichung und europäischem Entscheidungseinklang, WM 2013, 1729; Gietzelt/Ungerer, Die neue zivilrechtliche Haftung von Ratingagenturen nach Unionsrecht, GPR 2013, 333; Haar, Neues zur Haftung von Ratingagenturen im Zuge der zweiten Novelle der Rating-Verordnung (CRA III)?, DB 2013, 2489; Schroeter, Ratings – Bonitätsbeurteilungen durch Dritte im System des Finanzmarkt-, Gesellschafts- und Vertragsrechts, 2014, § 27 IV und § 30 VI; Wojcik, Zivilrechtliche Haftung von Ratingagenturen nach europäischem Recht, NJW 2013, 2385.

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Anleger, die durch die Verordnung gegenüber traditionellen Ansätzen nicht wesentlich verbessert worden ist. Sie beziehen sich aber auch auf die für den Schadensersatzanspruch gefundene Lösung, einen solchen Anspruch zwar in Art. 35a Abs. 1 der Verordnung und damit im Unionsrecht zu verankern, jedoch (in Art. 35a Abs. 4 CRA III-VO) zugleich in einem weitgehenden Ausmaß auf die Anwendung nationalen Privatrechts zu verweisen und damit die Rechtsanwendung für die Gerichte zu verkomplizieren. Auf diese Verweisung auf nationales Recht, die – wie allseits angemerkt worden ist10) – eine Abweichung zum Grundsatz der unionsrechtsautonomen Auslegung unionaler Regelungen enthält, ihre Bedeutung, Tragweite und Schranken sind die folgenden Überlegungen gerichtet. Dagegen soll es weder um die Sinnhaftigkeit eines private enforcement neben der Durchsetzung von Regelungsstandards durch aufsichtsrechtliche Instrumente gehen, noch um die Frage, in welcher Weise eine Haftung der Agenturen auszugestalten – und zu begrenzen – wäre, um einerseits die mit der Regelung angestrebten Ziele zu erreichen und andererseits diese nicht zu konterkarieren. Im Folgenden soll zunächst der Anwendungsbereich des Schadensersatzanspruchs (unter II) umrissen, sodann in einem ersten Zugriff das Verweisungssystem beschrieben (unter III) und in einen weiteren Zusammenhang mit der Verwendung ähnlicher Techniken (unter IV) analysiert werden, um daran anschließend die Bedeutung und Tragweite der in Art. 35a CRA III-VO verwirklichten Regelungen (unter V) und insbesondere des § 35a Abs. 4 Satz 1 (unter VI) zu bestimmen. Eine Zusammenfassung (unter VII) schließt die Überlegungen ab. Gewidmet sind die folgenden Zeilen Johannes Köndgen, dem ich in mehr als zwanzigjährigem Zusammenwirken am Bonner Institut für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung wissenschaftlich viele Anregungen verdanke und dem ich mich in persönlicher Hinsicht freundschaftlich verbunden fühle. II. Überblick 1. Anwendungsbereich Der zivilrechtliche Haftungstatbestand des Art. 35a CRA III-VO wird, soweit er Unionsrecht normiert, nicht über die allgemeinen kollisions-

10)

Dutta, WM 2013, 1729, 1730; Haar, DB 2013, 2489, 2494; Wojcik, NJW 2013, 2385, 2389.

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rechtlichen Normen (der Rom II-Verordnung)11) zur Anwendung berufen.12) Vielmehr handelt es sich um eine Norm, deren persönlich-geographischer Anwendungsbereich eigenständig zu bestimmen und die auf dieser Grundlage von den Gerichten der Mitgliedstaaten zur Anwendung zu bringen ist. Diesbezüglich ist freilich festzustellen, dass Art. 35a CRA III-VO keine expliziten Aussagen trifft. Vielmehr ist der Anwendungsbereich der Regelung aus dem Gesamtzusammenhang der Verordnung zu bestimmen, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass die wesentlichen Bestimmungen dieser Verordnung aufsichtsrechtlicher Natur sind. Während Art. 35a Abs. 1 CRA III-VO für den persönlichen Anwendungsbereich ganz allgemein auf „Ratingagenturen“ abstellt und insoweit keine weitere Beschränkung erkennen lässt, wird der Geltungsbereich der Verordnung – und damit auch des Art. 35a – in Art. 2 Abs. 1 einschränkend in der Weise bestimmt, dass nur solche Ratings erfasst werden sollen, die von in der Union registrierten Ratingagenturen in der Union abgegeben (Art. 1 CRA III-VO) und der Öffentlichkeit bekannt gemacht oder an Abonnenten weitergegeben werden. Der Registrierungspflicht unterliegen gemäß Art. 14 Abs. 1 CRA III-VO nur solche Agenturen, die ihren Sitz in der Union haben, wobei (wohl) auf den Satzungssitz abzustellen ist (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. c CRA III-VO). Da als Ratingagentur gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. b CRA III-VO jeweils nur die das Rating betreibende juristische Person (und nicht etwa der Konzern als „wirtschaftliche Einheit“) anzusehen ist, unterstehen die in Drittstaaten, vor allem die in den USA ansässigen Ratingagenturen nicht dem europäischen Haftungsregime des Art. 35a CRA III-VO. Soweit Agenturen mit Sitz in Drittstaaten das Rating über in der Union ansässige und dort registrierte Tochterunternehmen, für deren Gründung aber keine Verpflichtung besteht, betreiben, haften diese Tochterunternehmen, und nur diese, für die von ihnen selbst abgegebenen Ratings. Wollen letztere die von ihren Mutterunternehmen in Drittstaaten abgegebenen Ratings verwenden, sind eine Reihe von aufsichtsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen, damit eine solche „Übernahme“ zulässig ist (Art. 4 Abs. 3 CRA III-VO). Werden diese Anforderungen erfüllt, wird 11)

12)

Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. (EG) 2007 Nr. L 199/40. Dutta, Die Haftung amerikanischer Ratingagenturen in Europa – Die Rolle des internationalen Privatrechts, IPRax 2014, 33, 40.

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das übernommene Rating als Rating angesehen, das von einer Ratingagentur stammt, die ihren Sitz in der Union hat und im Einklang mit dieser Verordnung registriert wurde (Art. 4 Abs. 3 CRA III-VO). Die übernehmende Ratingagentur ist für das Rating „uneingeschränkt verantwortlich“ (Art. 4 Abs. 5 CRA III-VO) und unterliegt mit diesem übernommenen Rating damit auch dem Haftungstatbestand des Art. 35a Abs. 1 CRA III-VO. Freilich ist die Erfüllung der Anforderungen des „Übernahmemechanismus“13) keine Voraussetzung für das Eingreifen des Haftungstatbestands. Denn mit den Übernahmeanforderungen werden allein aufsichtsrechtliche Standards für Zwecke einer rechtmäßigen Abgabe von Ratings in der Union gesetzt. Die Anleger, die auf ein solches Rating vertrauen, sind für Zwecke des Haftungsrechts in gleicher Weise schutzwürdig, wenn den Anforderungen nicht entsprochen wird. Bei näherem Zusehen zeigt sich weiterhin, dass der in Art. 2 Abs. 1 CRA III-VO umrissene Geltungsbereich der Verordnung, auf den der Haftungstatbestand des Art. 35a CRA III-VO aufbaut, keineswegs präzise bestimmt ist. Denn die Verordnung beansprucht Anwendung nicht nur für „registrierte“ Agenturen i. S. von Art. 2 Abs. 1 CRA III-VO, sondern natürlich auch für noch nicht registrierte Agenturen mit Sitz in der Union, die gerade die Pflicht zur Registrierung trifft.14) Gemäß Art. 36a Abs. 2 lit. b i. V. m. Anhang III Nr. 54 CRA III-VO können Bußgelder bei Verletzung der Registrierungspflicht festgelegt werden. Aus dieser Perspektive wird man auch den Haftungstatbestand des Art. 35a CRA IIIVO über den Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 CRA III-VO hinausgehend auch auf nicht registrierte, aber registrierungspflichtige Agenturen erstrecken müssen15) – gleichgültig, ob man der Haftung allein eine Kompensationsfunktion zuschreiben will oder aber eine darüber hinausgehende Verhaltenssteuerung.16) Die Bestimmung des Geltungsbereichs der Verordnung – und damit des Anwendungsanspruchs des Art. 35a CRA III-VO – erweist sich auch noch in anderer Richtung als zu eng: Ratingagenturen mit Sitz in einem Drittstaat unterliegen zwar keiner Registrierungspflicht, sie können sich aber gemäß Art. 5 Abs. 2, 3 i. V. m. Art. 16 CRA III-VO „zertifizieren“ 13) 14) 15) 16)

Erwägungsgrund Nr. 13 der CRA I-VO. In Art. 2 Abs. 1 CRA III-VO ist als Alternative zu „registrierte“ daher „registrierungspflichtige“ Ratingagenturen hinzuzufügen. So zutreffend auch Dutta, WM 2013, 1729, 1732. Auf letztere beschränkend Dutta, WM 2013, 1729, 1732.

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lassen, damit in der Union registrierte Agenturen die für Unternehmen mit Sitz in Drittstaaten oder für in Drittstaaten ausgegebenen Finanzinstrumente auch ohne Erfüllung der Übernahmevoraussetzungen in der Union verwenden können. Da die Verordnung die Anforderungen für die Zertifizierung und das Verfahren eingehend regelt, muss man den Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 CRA III-VO auch insoweit korrigierend ergänzen.17) Dies bedeutet freilich nicht zwingend, dass damit auch der Haftungstatbestand des Art. 35a CRA III-VO auf die zertifizierten Ratingagenturen mit Sitz in Drittstaaten erstreckt werden müsste.18) Denn die in Art. 5 Abs. 2, 3 i. V. m. Art. 16 CRA III-VO vorgesehene Zertifizierung der drittstaatlichen Ratingagentur (zu der, anders als bei der Registrierung, keine Verpflichtung besteht) erfolgt für Zwecke der Verwendung der Ratings (außerhalb des Übernahmemechanismus) durch Agenturen mit Sitz in der Union. Letztere soll die Haftung nach Art. 35a CRA III-VO treffen.19) 2. Der Haftungstatbestand Art. 35a Abs. 1 UA 1 CRA III-VO begründet die Schadensersatzhaftung einer Ratingagentur, wenn diese vorsätzlich oder grob fahrlässig eine der in Anhang III aufgeführten Zuwiderhandlungen begangen hat, diese sich auf das Rating auswirkt, auf das der Emittent oder Anleger für seine Entscheidung vertraut (Art. 35a Abs. 1 UA 2) und im Hinblick darauf ihm ein Schaden entstanden ist.20) Bei einem Mitverschulden des Geschädigten 17) 18) 19)

20)

Zu ergänzen um: „zertifizierte“ und „zertifizierungswillige“ Agenturen. Schroeter, Ratings – Bonitätsbeurteilungen durch Dritte im System des Finanzmarkt-, Gesellschafts- und Vertragsrechts, 2014, S. 840; Dutta, IPRax 2014, 33, 40. Freilich lässt sich auch an eine Haftung der zertifizierten Agenturen für die von ihnen erstellten Ratings denken: Zum einen ist der Geltungsbereich des Art. 2 Abs. 1 CRA III-VO – wie im Text näher begründet – auch auf die Zertifizierung drittstaatlicher Ratingagenturen zu erstrecken, zum anderen ist vom Schutzzweck der Haftungsnorm des Art. 35a CRA III-VO keineswegs nur eine Verhaltenssteuerung, sondern auch eine Kompensation intendiert. Da die zertifizierten Ratingagenturen über Art. 5 Abs. 8 i. V. m. Art. 24 CRA III-VO auch an die in Anhang III normierten Verhaltensstandards gebunden sind, hängt Art. 35a Abs. 1 mit seiner Verweisung auf den Anhang III auch insoweit nicht in der Luft; anders anscheinend Dutta, WM 2013, 1729, 1732. Art. 35a Abs. 1 UA 1 CRA III-VO lautet wörtlich: “Hat eine Ratingagentur vorsätzlich oder grob fahrlässig eine der in Anhang III aufgeführten Zuwiderhandlungen begangen und hat sich diese auf ein Rating ausgewirkt, so kann ein Anleger oder Emittent von dieser Ratingagentur für den ihm aufgrund dieser Zuwiderhandlungen entstandenen Schaden Ersatz verlangen.“.

Das Haftungsregime für Ratingagenturen

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ist die Haftung ausgeschlossen (Art. 35a Abs. 1 UA 2, UA 3, Abs. 2 UA 1). Dies gilt zu Lasten eines Emittenten, soweit er die Ratingagentur irreführend oder falsch informiert hat. Für Anleger ist das Mitverschulden unter Berücksichtigung von Art. 5a CRA III-VO zu bewerten, wonach die in Art. 4a Abs. 1 CRA III-VO genannten institutionellen Anleger eigene Kreditrisikobewertungen vorzunehmen haben und sich nicht „ausschließlich und automatisch“ auf Ratings verlassen dürfen. Für Kleinanleger dürfte hingegen die eigene Bewertung keine maßgebliche Rolle spielen. Die in Art. 35a Abs. 1 UA 1 CRA III-VO statuierte unionsrechtliche Schadenshaftung setzt nach dem Tatbestand der Norm kein wirksames Vertragsverhältnis voraus und ist mithin deliktischer Natur.21) Sie greift neben und zusätzlich zu einer evtl. gegebenen vertraglichen oder auch deliktischen Haftung der Ratingagentur kraft nationalen Rechts ein, das über die einschlägigen Regelungen des Internationalen Privatrechts22) des angerufenen Gerichts zur Anwendung berufen wird (Art. 35a Abs. 5 CRA III-VO). 3. Weitere Regelungen Art. 35a CRA III-VO enthält zwei weitere Regelungen, die allerdings für die folgenden Überlegungen ohne Belang und daher hier nicht näher zu behandeln sind. Art. 35a Abs. 4 Satz 3 CRA III-VO bestimmt in deklaratorischer Weise, dass sich die (internationale) Zuständigkeit für die Geltendmachung des zivilrechtlichen Haftungsanspruchs nach den „einschlägigen Bestimmungen des internationalen Privatrechts“ richtet.23) Diese Begrifflichkeit ist an englische und französische Klassifizierung angelehnt, wonach das Recht der internationalen Zuständigkeit zum droit international privé 24) bzw.

21) 22)

23)

24)

Wagner in: FS für Blaurock, 2013, S. 467, 487. Für die mitgliedstaatlichen Gerichte – mit Ausnahme Dänemarks – sind dies die Rom II-Verordnung (Fn. 11) und die Rom I-Verordnung: Verordnung (EG) Nr. 593/ 2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2007 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom I“), ABl. (EG) 2008 Nr. L 177/6. Ebenso der Erwägungsgrund Nr. 35 der CRA III-VO. Im Erwägungsgrund Nr. 27 des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen, KOM (2011) 747, ist dagegen – deutscher Rechtstradition folgend – noch von einschlägigen „Regeln über die internationale Zuständigkeit“ die Rede. Z. B. Dominique Bureau/Horatia Muir Watt, Droit international privé/1 – Partie générale, 2007, S. 75 ff.

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zum Recht der civil jurisdiction and judgments25) gezählt wird. Für die Mitgliedstaaten – mit Ausnahme Dänemarks – gelten die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1215/2012 (Brüssel Ia-VO)26), soweit deren Anwendungsbereich nicht eröffnet ist, kommt das Zuständigkeitsrecht des jeweils angerufenen Gerichts zur Anwendung (lex fori).27) Art. 35a Abs. 4 Satz 2 CRA III-VO begrenzt den Anwendungsbereich der Haftungsnorm dahingehend, dass von der Verordnung nicht geregelte Fragen des Haftungsrechts, wie etwa diejenigen der Verzinsung, der Verjährung und Verwirkung, den „einschlägigen Bestimmungen“ des Internationalen Privatrechts unterliegen. Diese Regelung hat klarstellenden Charakter insoweit, als für die nicht geregelten Fragen der Weg dafür versperrt werden soll, nach dem Vorbild des Art. 7 Abs. 2 CISG28) eine Lösung nach allgemeinen Grundsätzen, die der Haftungsnorm des Art. 35a CRA III-VO zugrunde liegen mögen, zu suchen. Als internationalprivatrechtliche Regelungen kommen für die mitgliedstaatlichen Gerichte – mit Ausnahme derjenigen Dänemarks – für die in Art. 35a Abs. 4 Satz 2 CRA III-VO angesprochenen „externen Lücken“ diejenigen der Rom IIVerordnung29) zur Anwendung, da der Haftungstatbestand – wie bereits erwähnt – deliktisch zu qualifizieren ist und die mit dem Haftungsanspruch zusammenhängenden Fragen insoweit gleichfalls dem Deliktsstatut unterstehen.30)

25) 26)

27)

28) 29) 30)

Peter Stone, EU Private International Law, 2006, S. 13 ff. Verordnung Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. (EU) 2012 Nr. L 351/1. Gemäß Art. 4 Abs. 1 kann die Haftungsklage von Emittenten und Anlegern im allgemeinen Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten (dazu Art. 62 und 63 ) erhoben werden. Zur Konkretisierung des Deliktsgerichtsstands i. S. von Art. 7 Nr. 2 siehe etwa Dutta, IPRax 2014, 33, 36. Vgl. zur Anwendung autonomen deutschen Zuständigkeitsrechts (hier: § 23 ZPO): OLG Frankfurt/M., Urt. v. 28.11.2011 – 21 U 23/11,WM 2011, 2360 = ZIP 2012, 293; BGH, Beschl. v. 13.12.2012 – III ZR 282/11, ZIP 2013, 239 = IPRax 2014, 341 m. Anm. Koechel, IPRax 2014, 312. Wiener UN-Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf v. 11.4.1980, BGBl. II 1989, 588. Siehe Fn. 11. Vgl. Art. 15 Rom II-VO (Fn. 11) zum Anwendungsbereich des Deliktsstatuts.

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III. Das Problem 1. Allgemeines Die in Art. 35 Abs. 1 CRA III-VO enthaltene Regelung des Schadensersatzanspruchs liest sich wie eine aus dem nationalen Recht bekannte, nun auf die Ebene des Unionsrechts gehobene Norm, die einen weiteren Schritt zur Entwicklung eines europäische Haftungsrechts darstellt.31) Die Überraschung folgt in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO: „Begriffe wie ‚Schaden’, ‚Vorsatz’, ‚grobe Fahrlässigkeit’, ‚in vertretbarer Weise‘‚ ‚verlassen’‚ ‚gebührende Sorgfalt‘, ‚Auswirkung’, ‚angemessen’ und ‚verhältnismäßig’, die in diesem Artikel genannt aber nicht definiert werden, werden im Einklang mit dem jeweils geltenden nationalen Recht gemäß den einschlägigen Bestimmungen des internationalen Privatrechts ausgelegt und angewandt.“

Damit wird eine Regelung geschaffen,32) die abweichend vom Kommissionsvorschlag33) ganz bewusst von der in der Rechtsprechung seit langem fest etablierten Tradition der unionsrechtsautonomen Auslegung von Begriffen, die in Unionsrechtsakten Verwendung finden, abweicht. Diese „vertikale“ Verweisung auf das (über das anwendbare Internationale Privatrecht bestimmte) nationale Privatrecht und seine Begrifflichkeit erscheint schon deshalb überraschend, weil damit ein wesentliches Ziel, das – im Gegensatz zur Richtlinie – mit der Verwendung einer Verordnung als Regelungsinstrument angestrebt wird, nämlich eine Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene, gerade nicht erreicht werden kann.34) Hinzukommt, dass das nationale Recht, auf das in Art. 35a Abs. 1 Satz 1 CRA III-VO verwiesen wird, aufgrund des anwendbaren Internationalen Privatrechts zu bestimmen ist, und die hier einschlägigen Regelungen alles

31) 32)

33) 34)

Siehe dazu etwa Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, 2003. Der Text taucht nach Diskussionen zwischen Kommission, Rat und Parlament erstmals auf in: Standpunkt des Europäischen Parlaments, festgelegt in 1. Lesung am 16.1.2013 im Hinblick auf den Erlass der Verordnung (EU) Nr. …/2013 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen. (EP-PE_TC1-COD(2011)0361). Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen, KOM (2011) 747. Haar, DB 2013, 2489, 2494.

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andere als eindeutige Lösungen versprechen.35) Das damit etablierte Haftungsregime ist nicht nur kompliziert, sondern auch in einem hohen Maß mit Rechtsunsicherheit verknüpft. Der von Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO eingeschlagene Weg – in einer EU-Verordnung mit einer vertikalen Verweisung zu arbeiten – ist freilich nicht ohne Vorbild. Für die Bestimmung des „Erfüllungsorts“ beim Vertragsgerichtsstand des Art. 7 Nr. 1 der Brüssel Ia-VO36) findet sich zwar in lit. b eine (autonom auszulegende) Konkretisierung dieses Begriffs, doch gilt subsidiär (über lit. c) die in lit. a getroffene Regelung des Erfüllungsorts der vertraglichen Verpflichtung, für die der Gerichtshof in seiner berühmten Tessili-Entscheidung eine autonome Auslegung verweigert hat, um stattdessen (vertikal) auf die Erfüllungsortregelungen des anwendbaren Vertragsstatuts zu verweisen.37) Dieser Ansatz ist in der Rechtsprechung gewiss vereinzelt geblieben.38) Als Regel gilt: Auch wenn ein Begriff in einem unionalen Rechtsakt nicht definiert wird, soll doch eine „Vermu-

35)

36) 37)

38)

Im Anwendungsbereich der Rom II-Verordnung (Fn. 11) ist gemäß Art. 4 Abs. 1 auf den Ort des Schadenseintritts (Erfolgsort) abzustellen, dessen Ermittlung bei bloßen Vermögensschäden Schwierigkeiten bereitet; dazu Schroeter, Ratings – Bonitätsbeurteilungen durch Dritte im System des Finanzmarkt-, Gesellschafts- und Vertragsrechts, 2014, § 27 IV. Beim Unternehmensrating spricht manches dafür, als maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Ansprüche der Emittenten wie der Anleger den Sitz des gerateten Unternehmens als Ort des Schadenseintritts anzusehen; Dutta, WM 2013, 1729, 1731; Haar, DB 2013, 2489, 2494. Beim beauftragten Rating sollte (auch im Hinblick auf Art. 35a Abs. 3 CRA III-VO) eine vertragsakzessorische Anknüpfung eingreifen; Art. 4 Abs. 3 Satz 2 Rom II-VO. Für das Rating von Finanzprodukten lassen sich als maßgebliche Anknüpfungspunkte das Depot des Anlegers, der Markt, auf dem das Finanzprodukt vertrieben wird, aber auch der Sitz der Ratingagentur denken; zugunsten der letzteren Anknüpfung vor allem Schroeter, Ratings – Bonitätsbeurteilungen durch Dritte im System des Finanzmarkt-, Gesellschafts- und Vertragsrechts, 2014, § 27 IV. Siehe oben Fn. 26. EuGH, Urt. v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 (Tessili), ECLI:EU:C:1976:133 Rz. 14 – 15 = NJW 1977, 491; EuGH, Urt. v. 23.4.2009 – Rs. C-533/07 (Falco Privatstiftung), ECLI:EU:C:2009:257 Rz. 46 ff. = EuZW 2009, 510. Der Gerichtshof betont in st. Rspr., dass Begriffe in Unionsrechtsakten in der Regel unionsrechtsautonom auszulegen sind; EuGH, Urt. v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 (Dita Danosa), ECLI:EU:C:2010:674 Rz. 40 f. = ZIP 2010, 2414; EuGH, Urt. v. 18.10.2011 – Rs. C-34/10 (Brüstle), ECLI:EU:C:2011:669 Rz. 25 ff. = EuZW 2011, 908; EuGH, Urt. v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), ECLI:EU:C:2014:2132 Rz. 15 = EuZW 2014, 912.

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tung“ für eine unionsrechtsautonome Auslegung sprechen39) – eine Vermutung, die aus dem Prinzip der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts und dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet wird.40) Letzteren Grundsätzen kommt besonderes Gewicht zu, wenn der Unionsgesetzgeber die Verordnung (statt einer Richtlinie) als Regelungsinstrument gewählt hat.41) Der Unionsgesetzgeber mag aber auch ganz explizit eine solche vertikale Verweisung vorschreiben, so etwa für die ganz zentrale Bestimmung in der Brüssel Ia-VO, wonach der allgemeine Gerichtsstand des Beklagten an seinem „Wohnsitz“ im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats liegt (Art. 4 Abs. 1 Brüssel Ia-VO42)). Hier enthält Art. 62 Abs. 1 und 2 Brüssel Ia-VO eine Konkretisierung für die Bestimmung des Wohnsitzes in der Weise, dass die Vorschriften des Rechts des angerufenen Gerichts (in Deutschland: §§ 7 ff. BGB) bzw. eines anderen in Frage kommenden Rechts eines Mitgliedstaats zur Anwendung kommen sollen. Eine solche vertikale Verweisung liegt in Fällen nahe, in denen der Unionsgesetzgeber angesichts der (Wertungs-)Heterogenität der Regelungen in den Mitgliedstaaten zu keiner Regelung gefunden hat (so hinsichtlich des Begriffs des „Wohnsitzes“) oder aber der Gerichtshof einer dezisionistischen Entscheidung aus dem Wege gehen wollte. Für die durch die CRA III-VO getroffene (erstmals im Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 16. Januar 2013 enthaltene)43) Lösung in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO liegt die Annahme freilich näher, dass hier das Parlament und die Mitgliedstaaten den nächsten Schritt zu einer Vereinheitlichung des europäischen Haftungsrechts (noch) nicht gehen wollten.

39)

40)

41)

42) 43)

Im Gegensatz dazu hatte der Gerichtshof in Tessili die vertikale Verweisung als einen gleichberechtigten Ansatz neben die gemeinschaftsrechtsautonome Auslegung gestellt, EuGH, Urt. v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 (Tessili), ECLI:EU:C:1976:133 Rz. 14 – 15 = NJW 1977, 491. EuGH, Urt. v. 21.10.2010 – Rs. C-467/08 (Padawan), ECLI:EU:C:2010:620 Rz. 32 = EuZW 2010, 951; EuGH, Urt. v. 18.10.2011 – Rs. C-34/10 (Brüstle), ECLI:EU:C:2011:669 Rz. 25 = EuZW 2011, 908; EuGH, Urt. v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), ECLI:EU:C:2014:2132 Rz. 15 = EuZW 2014, 912. EuGH, Urt. v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 (Leffler), ECLI:EU:C:2005:665 Rz. 45–46 = NJW 2006, 491; EuGH, Urt. v. 25.6.2009 – Rs. C-14/08 (Roda Golf), EU:C:2009:395 Rz. 49 = EuZW 2009, 582. Siehe oben Fn. 26. Siehe oben Fn. 32. Zum Gesetzgebungsverfahren eingehend Haar, DB 2013, 2489, 2492; darauf kann hier verwiesen werden.

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2. Umfang und Tragweite der Bestimmung Für die Inbezugnahme des nationalen Rechts werden eine Reihe von Begriffen aufgeführt, die „in diesem Artikel“, und d. h.: in Art. 35a CRA IIIVO Verwendung finden. Damit wird zum einen klargestellt, dass die Begrifflichkeiten der in Anhang III aufgelisteten Verstoßtatbestände, auf die in Art. 35a Abs. 1 CRA III-VO verwiesen wird, nicht erfasst werden. Zum anderen soll die Verweisung in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO auf nationales Recht nicht für solche Begriffe gelten, die definiert werden. Sinnvollerweise wird man für die Definitionsnormen – was freilich der Wortlaut nahe legen könnte („[…] in diesem Artikel genannt aber nicht definiert […]“)44) – keine Beschränkung auf Art. 35a CRA III-VO vornehmen dürfen, da Art. 35a CRA III-VO selbst gar keine Definitionen enthält. Vielmehr finden sich für die in Art. 35a CRA III-VO verwendete Begriffe, etwa der „Ratingagentur“, des „Ratings“ oder des „Emittenten“, die maßgeblichen Definitionen in Art. 3 der Verordnung. Diese gelten für den Anwendungsbereich der Verordnung (Art. 2) und sind in gleicher Weise für die sachrechtlichen Bestimmungen der Verordnung maßgebend. Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO nimmt auf sie Bezug. Die in Art. 35a Abs. 1 Satz 1 CRA III-VO vorgenommene Aufzählung ist dabei nach dem Wortlaut der Bestimmung („Begriffe wie“) nicht abschließend zu verstehen;45) doch ist nur schwer erkennbar, für welche weiteren, in Art. 35a CRA III-VO genannten Begriffe eine Verweisung auf das nationale Recht Platz greifen könnte. Der Verweis auf das nationale Recht erfolgt gemäß Art. 35a Abs. 1 Satz 1 CRA III-VO auf der Grundlage der für das angerufene Gericht maßgebenden Bestimmungen des Internationalen Privatrechts. Da es sich bei Art. 35a CRA III-VO – wie erwähnt – um eine Regelung nichtvertragsrechtlicher Natur handelt, kommen dafür die Regelungen der Rom IIVerordnung46) (mit Ausnahme für Dänemark) zur Anwendung.47) Die Verweisung auf das so bestimmte nationale Recht gilt für die „Auslegung“ 44) 45)

46) 47)

Siehe etwa Dutta, WM 2013, 1729, 1730. In diesem Sinne etwa Dutta, WM 2013, 1729, 1730; Schroeter, Ratings – Bonitätsbeurteilungen durch Dritte im System des Finanzmarkt-, Gesellschafts- und Vertragsrechts, 2014, S. 833. Siehe Fn. 11. Zu den sich – hier nicht weiter zu behandelnden – für die Anknüpfung gemäß Art. 4 Rom II-VO hinsichtlich der Schadensersatzansprüche von Anlegern stellenden Problemen siehe Haar, DB 2013, 2489, 2494.

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und die „Anwendung“ der Begriffe im nationalen Recht. Dies wird im Schrifttum so verstanden, dass damit kein Verweis auf nationale Auslegungsmethoden, sondern (einschränkend) nur auf den Inhalt (Sinngehalt) des Begriffs im nationalen Recht erfolgen soll.48) Dies erscheint indessen zu undifferenziert. Denn der Sinngehalt der dem nationalen Recht zu entnehmenden Begriffe, die zur Konkretisierung heranzuziehen sind, lässt sich ohne Auslegung dieser Begriffe nicht ermitteln. Dieser Sinngehalt muss aber, um das nationale Recht in seinem Inhalt nicht zu verfälschen, nach der jeweiligen Auslegungsmethode des zur Anwendung berufenen Rechts ermittelt werden.49) Eine andere Frage ist freilich, wie die in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO in Bezug genommenen Begriffe des „Schadens“ etc., für die eine Verweisung vorgeschrieben wird, verstanden werden dürfen. Diese Auslegungsfrage ist, um den Umfang und die Tragweite der Verweisung einheitlich zu bestimmen, (natürlich) in unionsrechtsautonomer Weise zu entscheiden. Darauf ist zurückzukommen (unter VI). Die in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO vorgesehene Inbezugnahme des nationalen Rechts, die zu dessen Auslegung und Anwendung führt, soll jeweils (nur) „im Einklang“ (in accordance with; conformément) mit diesem nationalen Recht geschehen. Diese Formulierung weicht in der deutschen Sprachfassung von derjenigen in Satz 2 ab, die eine Verweisung für die von der Verordnung nicht geregelten Rechtsfragen anordnet: Diese Fragen sollen dem (nach den einschlägigen Bestimmungen des Internationalen Privatrechts ermittelten) jeweils geltenden nationalen Recht „unterliegen“. Auch die englische (determined by) und die französische Sprachfassung (sont régies par) formulieren entsprechend abweichend. Dies legt – zumindest auf den ersten Blick – die Vermutung nahe, dass mit der jeweiligen vertikalen Verweisung doch Unterschiedliches gemeint ist – etwa dergestalt, dass die in Satz 1 des Art. 35a Abs. 4 CRA III-VO gewählte Formulierung als „weicher“ – etwa doch vom Unionsrecht mit beeinflusst – als diejenige in Satz 2 anzusehen ist. Allerdings ist an dieser Stelle vor voreiligen Festlegungen zu warnen: Art. 35a Abs. 5 CRA III-VO stellt nämlich klar, dass der auf Art. 35a gegründete unionsrechtliche Haftungstatbestand weitere zivilrechtliche (vertragliche oder deliktische) Haf48)

49)

Dutta, WM 2013, 1729, 1730; ihm folgend Schroeter, Ratings – Bonitätsbeurteilungen durch Dritte im System des Finanzmarkt-, Gesellschafts- und Vertragsrechts, 2014, S. 833. Vgl. etwa ausdrücklich Art. 12 Abs. 1 lit. a Rom I-VO (Fn. 22).

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tungsansprüche „im Einklang“ (in accordance with; conformément) mit dem nationalen Recht nicht ausschließen soll. Hier wird für die konkurrierenden Ansprüche nach dem Sinngehalt der Norm (wohl) von einer schlichten Verweisung auf das nationale Recht ausgegangen, während Art. 35a Abs. 3 Satz 1 lit. b CRA III-VO, worin ein Haftungsausschluss „im Einklang“ mit Art. 35a Abs. 4 CRA III-VO (und der dort vorgesehenen Verweisung auf das nationale Recht) ermöglicht wird, eher i. S. einer „Übereinstimmung mit“ zu deuten sein wird. Damit stellt sich die Frage, wie die Verweisung in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO auf das anwendbare nationale Recht konkret zu verstehen ist: Handelt es sich um eine vertikale Verweisung ohne jede unionsrechtliche Einwirkung – oder hat das Unionsrecht doch ein Wort mitzusprechen und bejahendenfalls in welcher Weise? IV. Verallgemeinerung des Problems 1. Zum Zusammenspiel von Unions- und nationalem Recht Die in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO gewählte Verweisungstechnik ist kein Einzelfall. Neben den oben bereits erwähnten Beispielen des „Erfüllungsorts“ und des „Wohnorts“ in der Brüssel Ia-Verordnung finden sich Beispiele sowohl im Verordnungs- wie auch im Richtlinienrecht. So statuiert Art. 7 Abs. 1 Verordnung Nr. 181/201150) für den Tod oder die Gesundheitsverletzung einer beförderten Person sowie für den Verlust oder die Beschädigung von mitgeführtem Gepäck einen Anspruch auf Entschädigung, für den auf nationales Recht verwiesen wird, wobei für die Setzung von Höchstgrenzen der Entschädigung nach nationalem Recht gewisse Mindestgrößen einzuhalten sind (Art. 7 Abs. 2). Der Anspruch setzt sich – ähnlich wie derjenige des Art. 35a Abs. 1, 4 CRA III-VO – zusammen aus Elementen des europäischen und des nationalen Rechts, ist mithin hybrider Natur. Verweisungen auf nationales Recht finden sich auch in anderen Zusammenhängen, etwa in Richtlinien zum Arbeitsrecht. Dabei zeigt sich etwa, dass der Begriff des Arbeitnehmers im Unionsrecht kein einheitlicher

50)

Verordnung (EU) Nr. 181/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.2.2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004, ABl. (EU) 2011 Nr. L 55/1.

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ist.51) In der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit wird als „Arbeitnehmer“ eine Person bezeichnet, die „in dem betreffenden Mitgliedstaat nach dem nationalen Arbeitsrecht als Arbeitnehmer geschützt ist“.52) Ähnlich verfährt die Richtlinie 2008/94/EG, die das einzelstaatliche Recht bezüglich des Begriffs des „Arbeitnehmers“53) unberührt lassen will.54) Diese hinsichtlich des Arbeitnehmerbegriffs keineswegs selbstverständliche vertikale Verweisung55) ist wiederum das Resultat gegensätzlicher Regelungen im Recht der Mitgliedstaaten, deren Unterschiedlichkeit sich im Gesetzgebungsprozess als unüberbrückbar erwiesen hat. Bei der vertikalen Verweisung des Unionsrechts auf das nationale Recht sind – was nur allzu leicht übersehen wird – immer zwei Rechtsordnungen beteiligt: Während dem nationalen Recht die Aufgabe der Konkretisierung des vom Unionsrecht verwendeten Verweisungsbegriffs – in den durch das Sekundär-56) und das Primärrecht57) gesetzten Grenzen – zufällt, bestimmt das Unionsrecht mit dem verwendeten Verweisungsbegriff 51) 52) 53) 54)

55)

56)

57)

EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – Rs. C-393/10 (Patrick O’Brien), ECLI:EU:C:2012:110 Rz. 30 = EuZW 2012, 267. Art. 3 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.11.2008 über Leiharbeit, ABl. (EG) 2008 Nr. L 327/9. Ebenso die Begriffe des „Arbeitgebers“, des „Arbeitsentgelts“, des „erworbenen Rechts“ sowie der „Anwartschaft“. Art. 2 Abs. 2 UA 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (kodifizierte Fassung), ABl. (EG) 2008 Nr. L 283/36 (im Anschluss an Art. 2 Abs. 2 der vorhergehenden Richtlinie 90/987/EWG, ABl. (EG) 1980 Nr. L 283/23), wobei gemäß UA 2 bestimmte Personengruppen nicht aus dem Begriff des Arbeitnehmers ausgeklammert werden dürfen. Aus der Rechtsprechung z. B. EuGH, Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), ECLI:EU:C:2002:752 Rz. 27 = EuZW 2003, 121; EuGH, Urt. v. 16.12.2004 – Rs. C-520/03 (Valero), ECLI:EU:C:2004:826 Rz. 31 = EuZW 2005, 113; EuGH, Urt. v. 5.11.2014 – Rs. C-311/13 (O. Tümer), ECLI:EU:C:2014:2337 Rz. 35 = ZIP 2014, 2411. Eine autonome Bestimmung des Begriffs ist i. R. des Art. 45 AEUV vorzunehmen; EuGH, Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), ECLI:EU:C:2008:425 Rz. 33 = EuZW 2008, 529; ebenso im Hinblick auf die Regelungszwecke der Richtlinie 92/85/ EWG: EuGH, Urt. v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 (Dita Danosa), ECLI:EU:C:2010:674 Rz. 39, 41 = ZIP 2010, 2414; für die Richtlinie 98/59/EG: EuGH, Urt. v. 9.7.2015 – Rs. C-229/14 (Balkaya), ZIP 2015, 1555 = EU:C:2015:455 Rz. 33, 35 (für eine Definition für Zwecke der Richtlinie nach objektiven Kriterien: Rz. 34). Zum Beispiel EuGH, Urt. v. 5.11.2014 – Rs. C-311/13 (O. Tümer), ECLI:EU:C:2014:2337 Rz. 35 (kein unbegrenzter Ermessensspielraum) = ZIP 2014, 2411; vgl. EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – Rs. C-393/10 (Patrick O’Brien), ECLI:EU:C:2012:110 Rz. 29 = EuZW 2012, 267. EuGH, Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), ECLI:EU:C:2002:752 Rz. 29 f. = EuZW 2003, 121.

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(„Schaden“, „Vorsatz“ etc.) über den Gegenstand und den Umfang der Verweisung in das nationale Recht. Soweit es um Gegenstand und Umfang – nicht die Konkretisierung (den Inhalt) – dieses Verweisungsbegriffs58) geht, greift das Gebot unionsrechtsautonomer Auslegung, da insoweit die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung im Binnenmarkt besteht und die 28 nationalen Rechte nur schwerlich über den Umfang der Verweisung auf sich selbst sollen entscheiden können. Ein Beispiel: Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/84/EG über das Folgerecht59) bestimmt, dass bei Tod des Urhebers die Folgerechtsvergütung an die „Rechtsnachfolger“ zu zahlen ist. Mangels einer Definition in der Richtlinie, wer als Rechtsnachfolger anzusehen ist, ist von einer Verweisung auf das nationale Recht auszugehen, das aufgrund der Regeln über das Internationale Privatrecht die maßgebliche Erbfolge und damit den „Rechtsnachfolger“ festlegt.60) Freilich wird damit nicht die Bestimmung des Begriffes des „Rechtsnachfolgers“ – als derjenigen Person, die aus Anlass des Todes des Urhebers in dessen Rechte und Pflichten eintritt –, sondern die Festlegung der Person des Rechtsnachfolgers, und damit nur die erbrechtliche Frage dem nationalen Recht überlassen. 2. Rechtsbegriffe und Generalklauseln im Unionsrecht: hybride Strukturen Eine strukturell vergleichbare Konstellation begegnet uns bei der Verwendung von Rechtsbegriffen und Generalklauseln in Richtlinien,61) soweit diese in den Rechtsakten nicht näher definiert oder konkretisiert werden. Zumeist werden Rechtsbegriffe und Generalklauseln nicht als Verweisungsbegriffe verstanden. Ihnen kann aber gerade diese Funktion zukommen, wenn und soweit die Konkretisierung der Richtlinienbestimmung – zumindest in einem bestimmten Umfang – dem nationalen Recht überlassen bleibt. 58) 59)

60)

61)

Bei Gass, Schadensersatzansprüche bei fehlerhaftem Rating, 2014, S. 30, als „Erstfrage“ bezeichnet. Richtlinie 2001/84/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.9.2001 über das Folgerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerks, ABl. (EG) 2001 Nr. L 272/32. EuGH, Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-518/08 (Salvador Dali), ECLI:EU:C:2010:191 Rz. 31 = NJW 2011, 737. Der Gerichtshof lehnt eine unionsrechtsautonome Konkretisierung u. a. mit Blick auf die Schranken der Kompetenzgrundlage des ex Art. 95 EGV (Art. 114 AEUV) und den Subsidiaritätsgrundsatz ab (ECLI:EU:C:2010:191 Rz. 31 – 32). Dazu bereits Roth, Generalklauseln im Europäischen Privatrecht, in: FS für Drobnig, 1998, S. 135.

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Die nahezu überbordende Diskussion insbesondere zu der Frage, inwieweit die Konkretisierung solcher unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln, soweit sie in Richtlinien Verwendung finden, dem nationalen Recht überlassen bleiben sollte,62) ist hier nicht nachzuzeichnen. Festzuhalten ist allein, dass in der Praxis sich je nach Sachgebiet und je nach Entwicklungsstand der Rechtsprechung eine durchaus unterschiedliche (vom Gerichtshof vorangetriebene)63) unionsrechtliche, den Spielraum für nationale Regelungen einengende Konkretisierungstiefe nachweisen lässt.64) Soweit in diesem Rahmen die Konkretisierung (noch) dem nationalen Recht überlassen bleibt, dienen die (unionsrechtsautonom auszulegenden) Richtlinienbestimmungen dazu, den Gegenstand und die Tragweite der (insofern nur teilweisen) Verweisung auf das nationale Recht zu umreißen. Es entstehen wiederum hybride Strukturen. Als Beispiel mag etwa Art. 9 Satz 1 lit. a der Richtlinie 85/374/EWG über die Produkthaftung65) dienen: Hier wird unter anderem festgelegt, dass der Begriff des „Schadens“ (i. S. des Art. 1 der Richtlinie) den durch Tod und Körperverletzung verursachten Schaden umfasst, während (gemäß Satz 2) die nationalen Regelungen über immaterielle Schäden unberührt bleiben sollen. Der Gerichtshof hat – trotz des vollharmonisierenden Charakters der Richtlinie – die nähere Bestimmung des Schadens und der Entschädigung ausdrücklich dem nationalen Recht überlassen,66) vom effet utile der Richtlinie her aber 62)

63)

64) 65)

66)

Aus dem (meist deutschen) Schrifttum etwa Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 2004, S. 120 ff.; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, 3. Aufl. 2012, Rz. 152 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 515 ff.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 353 ff.; Röthel, Die Konkretisierung von Generalklauseln, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, S. 225 ff.; Rott, What is the Role of the ECJ in EC Private Law? Hanse Law Rev. 2005, 8; Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, 2009; Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die Europäische Union, 2010, S. 750 ff.; Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, 2009; Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, 2002. Vgl. auch GAin Trstenjak, EuGH, Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (Pénzügyi), ECLI:EU:C:2010:401 Rz. 89 ff. (zum Missbrauchsbegriff in der Richtlinie 93/13/EWG) = EuZW 2011, 27. Zum urheberrechtlichen Werkbegriff siehe etwa Leistner, Urheberrecht an der Schnittstelle zwischen Unionsrecht und nationalem Recht, GRUR 2014, 1145, 1146. Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. (EG) 1985 Nr. L 210/29. EuGH, Urt. v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 (Veedfald), ECLI:EU:C:2001:258 Rz. 27 = NJW 2001, 2781.

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immerhin gefolgert, dass die Mitgliedstaaten eine „angemessene und vollständige“ Entschädigung sicherzustellen haben, wobei die Arten der zu ersetzenden Schäden nicht beeinträchtigt werden dürfen.67) Ohne dass Art. 9 Satz 1 der Richtlinie 85/374/EWG eine dem Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO vergleichbare ausdrückliche Verweisung auf nationales Recht enthielte, findet sich doch der Sache nach ein durchaus ähnlicher Regelungsansatz, wobei der Gerichtshof freilich die Möglichkeit wahrnimmt, dasjenige, was unter einer „angemessenen und vollständigen Entschädigung“ zu verstehen sein soll, vom Zweck der Richtlinie her zu konkretisieren und damit den Spielraum für nationale Regelungen insoweit einzuschränken.68) Einen ähnlichen Ansatz hat der Gerichtshof mit Bezug auf den Schadensbegriff in der Pauschalreisen-Richtlinie verfolgt, wenn er den Begriff des zu ersetzenden Schadens auf immaterielle Schäden erstreckt,69) im Übrigen aber die Konkretisierung des nur „allgemein“ in Bezug genommenen Begriff des Schadens den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überlassen bleibt.70) Strukturell ähnlich liegen die Dinge, wenn und soweit das Unionsrecht mit Begriffen (aus deutscher Sicht: Generalklauseln) wie „missbräuchlich“71) oder „Billigkeit“72) umzugehen hat: Hier wird den Mitgliedstaaten im Wege einer (Teil-)Verweisung ein Ermessens-73) oder Gestaltungsspiel-

67) 68)

69) 70) 71) 72)

73)

EuGH, Urt. v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 (Veedfald), ECLI:EU:C:2001:258 Rz. 28 = NJW 2001, 2781. So zuletzt etwa EuGH, Urt. v. 5.3.2015 – Rs. C-503/13, C-504/13 (Boston Scientific Medizintechnik) ECLI:EU:C:2015:148 Rz. 47 ff. (der „Schadensersatz“ umfasst auch die Austauschkosten – Operationskosten – für fehlerhafte Herzschrittmacher, nicht aber für Defibrillatoren, die sich gefahrlos deaktivieren lassen) = NJW 2015, 1163. EuGH, Urt. v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00 (Simone Leitner), ECLI:EU:C:2002:163 Rz. 24 = NJW 2002, 1255. EuGH, Urt. v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00 (Simone Leitner), ECLI:EU:C:2002:163 Rz. 23 = NJW 2002, 1255. In Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. (EG) 1993 Nr. L 95/29. Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. (EG) 1986 Nr. L 382/17. EuGH, Urt. v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 (Kommission./.Schweden), ECLI:EU:C:2002:281 Rz. 21 = EuZW 2002, 465.

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raum74) hinsichtlich der Konkretisierung eingeräumt, zugleich aber das Prinzip unionsrechtsautonomer Auslegung betont, wenn – etwa in Anlehnung an Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG75) – (unionsrechtliche) Kriterien und Faktoren benannt werden,76) die die Auslegung der Begriffe bestimmen sollen. Je dichter das Netz dieser Kriterien und Faktoren geknüpft wird, desto geringer wird der Umfang der (Teil-)Verweisung auf das nationale Recht. Beispiel mag für den Betriebsübergang i. S. der Richtlinie 2001/2377) die Konkretisierung dieses Begriffs (über die in Art. 1 Nr. 1 lit. b der Richtlinie genannten Kriterien hinausgehend) sein, wenn der Gerichtshof eine ganze Reihe von Kriterien (wie z. B. Art des Unternehmens, seine Betriebsstruktur, ein Übergang materieller Betriebsmittel, der Wert der immateriellen Aktiva, die Übernahme der Hauptbelegschaft, die Übernahme der Kundschaft und die Ähnlichkeit der Tätigkeiten vor und nach dem Übergang) benennt,78) die als einzelne weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines Betriebsüber-

74)

75)

76)

77)

78)

EuGH, Urt. v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98 (Ingmar), ECLI:EU:C:2000:605 Rz. 21 (Begriff der Billigkeit als „Rahmen“) = ZIP 2000, 2108; EuGH, Urt. v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 (Honyvem), ECLI:EU:C:2006:199 Rz. 33, 36 = EuZW 2006, 341. Ähnlich zum Begriff der „angemessenen Vergütung“ in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 92/100/EG: EuGH, Urt. v. 14.7.2005 – Rs. C-192/04 (Lagardère), ECLI:EU:C:2005:475 Rz. 48 = EuZW 2005, 535; EuGH, Urt. v. 6.2.2003 – Rs. C-245/00 (SENA), ECLI:EU:C:2003:68 Rz. 34 = EuZW 2003, 211 („In Ermangelung einer Gemeinschaftsdefinition der angemessenen Vergütung gibt es keine objektive Rechtfertigung dafür, dass der Gerichtshof die Festsetzung einer einheitlichen angemessenen Vergütung im Einzelnen regeln sollte, womit er sich zwangsläufig an die Stelle der Mitgliedstaaten setzen würde, denen die Richtlinie 92/100 kein bestimmtes Kriterium vorgibt […]“). Ähnlich EuGH, Urt. v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 (Carbonari), ECLI:EU:C:1999:98 Rz. 45 = Slg. 1999, I-1103 (zum Erfordernis angemessener Vergütung in der Richtlinie 82/76 – Anhang Nr. 1). Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. (EG) 1993 Nr. L 95/29: „[…] unter Berücksichtigung der Art der Güter und Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages […]“. EuGH, Urt. v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 (Pannon), ECLI:EU:C:2009:350 Rz. 37 = NZA 2010, 1344; EuGH, Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (Penzügyi), ECLI:EU:C:2010:659 Rz. 40 = EuZW 2011, 27; EuGH, Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 (Nemzeti), ECLI:EU:C:2012:242 Rz. 22 = ZIP 2012, 2020. Richtlinie 2001/23 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmensoder Betriebsteilen, ABl. (EG) 2001 Nr. L 82/16. EuGH, Urt. v. 29.7.2010 – Rs. C-151/09 (UGT-FSP), ECLI:EU:C:2010:452 Rz. 27 = ZIP 2010, 2317 (Ls.).

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gangs darstellen, insgesamt aber i. R. einer Gesamtbewertung das Vorliegen eines Betriebsübergangs bestimmen sollen. Mit diesem an eine typologische Betrachtungsweise erinnernden Ansatz79) wird der Spielraum für eine (Teil-)Verweisung auf nationales Recht immer enger, wenn nicht sogar ausgeschlossen.80) V. Die Regelungen in Art. 35a CRA III-VO Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, der Haftungsnorm des Art. 35a CRA III-VO, zurück, so zeigt ein näherer Blick auf die Bestimmung in ihrer Gesamtheit, dass sie jenseits von Art. 35a Abs. 1 UA 1 CRA III-VO eine Gemengelage von hybriden Konstruktionen enthält, die in ihrem Verweis auf nationales (Sach- und Prozess-)Recht durchaus unterschiedlichen und auch von Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO abweichenden Strukturen folgen. (1) Art. 35a Abs. 1 UA 2 CRA III-VO sieht vor, dass ein Anleger gemäß Art. 35a Abs. 1 UA 1 Schadensersatz verlangen kann, wenn er nachweist, dass er bei seiner Investitionsentscheidung bezüglich des Finanzinstruments, das Gegenstand des Rating ist, sich auf dieses Rating verlassen hat, und dabei mit gebührender Sorgfalt gehandelt hat. Unionsrechtlich determiniert ist der Begriff des „Finanzinstruments“, der in Art. 3 Abs. 1 lit. k CRA III-VO definiert wird, während sich für den „Anleger“ keine Definition findet. Da es insoweit aber um den Anwendungsbereich der Haftungsnorm des Art. 35a Abs. 1 geht CRA III-VO, der unionseinheitlich festgelegt werden muss, ist der Begriff nicht über Art. 35a Abs. 4 Satz 1 der Bestimmung durch das nationale Recht überlassen. (2) Vom Unionsrecht weiterhin vorgegeben ist die Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Anlegers (UA 2 a. E.): Nationales Recht, das ein solches Mitverschulden – etwa zum Schutze des Anlegers – nicht 79) 80)

Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2011, § 5 Rz. 13. Vgl. zur Präzisierung des Betriebsbegriffs in Art. 1 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 98/59/EWG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. (EG) 1998 Nr. L 225/16: EuGH, Urt. v. 15.2.2007 – Rs. C270/05 (Athinaiki Chartopoiia), ECLI:EU:C:2007:101 Rz. 27 – 28 = ZIP 2007, 496; EuGH, Urt. v. 13.5.2015 – Rs. C-392/13 (Andrés Rabal Canas), ECLI:EU:C:2015:318 Rz. 43 ff. m. w. N. = NZA 2015, 669 (zur Abgrenzung der Begriffe des „Betriebs“ und des „Unternehmens“ bis hin zur Anwendung (!) auf den mitgeteilten Sachverhalt: Rz. 51).

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kennt, muss sich an diese Vorgabe anpassen. Im Gegensatz dazu ist für die konkret an den Anleger zu stellenden Verhaltensanforderungen hinsichtlich der durch ihn einzuholenden Informationen sowie der Vornahme eines eigenen Rating (i. S. von Art. 5a CRA III-VO) auf das nationale Recht abzustellen: Dieses soll nach Art. 35a Abs. 1 Satz 1 CRA III-VO maßgebend dafür sein, ob sich der Anleger auf das Rating „in vertretbarer Weise verlassen“ kann, wobei der Maßstab für die dabei geforderte „gebührende Sorgfalt“ ebenfalls dem nationalen Recht zu entnehmen ist. Das Mitverschulden führt – wiederum unionsrechtlich determiniert – zum gänzlichen Ausschluss der Haftung; eine Schadensteilung ist nicht vorgesehen. Eine davon abweichende, anlegergünstigere Lösung lässt Art. 35a Abs. 5 CRA III-VO nur i. R. und auf der Grundlage einer dem nationalen Recht entstammenden Haftungsnorm zu. Bei den an den Anleger zu stellenden Sorgfaltsanforderungen, für die das nationale Recht Maß geben soll, kommt allerdings Unionsrecht insoweit ins Spiel, als Erwägungsgrund Nr. 30 der CRA III-VO den Hinweis enthält, dass „sich Anleger über die Bonität strukturierter Finanzinstrumente leichter ein fundiertes Urteil bilden, wenn ihnen hinreichende Informationen über diese Instrumente übermittelt würden. Da die Risiken von strukturierten Finanzinstrumenten in hohem Maße von der Qualität und Performance der zugrunde liegenden Vermögenswerte abhängen, sollten den Anlegern mehr Informationen über die zugrunde liegenden Vermögenswerte zur Verfügung gestellt werden.“ Art. 8b CRA III-VO konkretisiert die Informationsverpflichtungen von Emittenten, Originatoren und Sponsoren, deren Nichterfüllung auf die Bewertung der „gebührenden Sorgfalt“ nach nationalem Recht zurückwirken muss. (3) Art. 35a Abs. 1 UA 3 CRA III-VO handelt vom Schadensersatzanspruch des Emittenten. Der Begriff des „Emittenten“ ist unionsrechtlich durch Art. 3 Abs. 1 lit. s CRA III-VO festgelegt. Der hier normierte Mitverschuldenseinwand führt ebenfalls zu einem Haftungsausschluss. Die Haftung setzt nach dem Wortlaut des UA 3 voraus, dass das Rating das Unternehmen des Emittenten bzw. eines seiner Finanzinstrumente betrifft. Ein Verweis auf nationales Recht wird insoweit nicht eröffnet. Der Haftungsausschluss greift ein, wenn der Emittent die Ratingagentur „direkt oder aufgrund öffentlich zugänglicher Informationen irreführend oder falsch informiert hat“ und

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darauf das fehlerhafte Rating i. S. von Art. 35a Abs. 1 CRA III-VO basiert. Auch dieser Haftungsausschluss ist unionsrechtlich determiniert. Was als „irreführende“ oder „falsche“ Informationen im Einzelnen anzusehen ist, dürfte um der einheitlichen Anwendung der Verhaltensstandards willen – ähnlich wie beim Anhang III – gleichfalls unionsrechtsautonom festzulegen sein. (4) Art. 35a Abs. 1 UA 2 und UA 3 und Abs. 2 CRA III-VO enthalten nicht nur einige materiell-rechtliche Vorgaben, sondern zugleich eine eingehende Regelung der Darlegungs- und Beweislast, die jedenfalls in ihrem Ausgangspunkt keine Verweisung auf das nationale Recht eröffnet: Anleger und Emittent haben im Prozess zum einen darzulegen, dass die Ratingagentur gegen die Verhaltenspflichten des Anhangs III verstoßen und zum anderen, dass sich diese Zuwiderhandlung auf das abgegebene Rating ausgewirkt hat. Verlangt wird insoweit der Nachweis „genauer und detaillierter Informationen“. Diese den Anleger und Emittenten treffende und oftmals nur schwer zu erfüllende Darlegungs- und Beweislast wird jedoch insoweit abgeschwächt, als das angerufene nationale Gericht nach seinem Prozessrecht entscheiden soll, was als „genaue und detaillierte Informationen“ anzusehen ist (Abs. 2 UA 2). Diese Verweisung auf das nationale Prozessrecht wird ihrerseits wieder unionsrechtlich eingeschränkt, wenn UA 2 verlangt, dass das nationale Gericht berücksichtigen muss, ob der Emittent oder Anleger (ausreichenden) Zugang zu Informationen hatte, die sich allein in der Sphäre der Ratingagentur befinden. Die Darlegungs- und Beweislast für das Mitverschuldens wird gleichfalls durch Unionsrecht festgelegt: Nach Art. 35a Abs. 1 UA 3 CRA III-VO hat der Emittent den Nachweis dafür zu führen, dass ihn kein Mitverschulden am fehlerhaften Rating trifft. Und der Anleger muss nach UA 2 den Nachweis fehlenden Mitverschuldens führen, obwohl für den Maßstab des Mitverschuldens nationales Recht anzuwenden ist. (5) Die in Art. 35a Abs. 3 CRA III-VO getroffene Regelung bezüglich einer Haftungsbeschränkung präsentiert wiederum ein (materiell-rechtliches) Gemenge von Unions- und nationalem Recht. Die Norm handelt vom Haftungsausschluss „im Voraus“ und zielt damit in erster Linie auf das beauftragte (solicited) Rating, bei dem ein Vertragsver-

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hältnis zwischen der Ratingagentur und dem Emittenten vorliegt,81) Haftungsansprüche daher aus dem Vertragsverhältnis erwachsen mögen (Art. 35a Abs. 5 CRA III-VO), aber zugleich auch aus Art. 35a Abs. 1 CRA III-VO. Für die Zulässigkeit eines solchen, nur den Anspruch aus Art. 35a Abs. 1 CRA III-VO betreffenden Haftungsausschlusses wird in Art. 35a Abs. 3 UA 1 lit. b CRA III-VO auf nationales Recht verwiesen. Sollte Art. 35a Abs. 3 CRA III-VO auch einen einseitigen Haftungsausschluss82) erfassen wollen, richtet sich dessen Zulässigkeit gleichfalls nach nationalem Recht. Hinzu tritt eine Prüfung, ob sich der – nach nationalem Recht zulässige – Ausschluss der Haftung als „angemessen“ und „verhältnismäßig“ darstellt (Art. 35a Abs. 3 UA 1 lit. a), wobei Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA IIIVO für diese Begriffe wiederum auf nationales Recht verweist. Diese parallele Verweisung auf das (nach dem anwendbaren Internationalen Privatrecht zu bestimmende) nationale Recht erscheint wenig einsichtig, da kaum davon ausgegangen werden kann, dass ein nationales Recht einen nach seinen Regelungen als zulässig anzusehenden Haftungsausschluss als unangemessen oder unverhältnismäßig wertet. Die Rechtsfolge bei Art. 35a Abs. 3 CRA III-VO ist wiederum unionsrechtlich determiniert: UA 2 legt fest, dass ein gemäß UA 1 kraft nationalen Rechts zu beurteilender und sich als unrechtmäßig erweisender Haftungsausschluss „keine rechtliche Wirkung“ zeitigen soll. VI. Insbesondere: § 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO Die komplexe Gemengelage zwischen Unionsrecht und nationalem Recht, die sich in Art. 35a Abs. 2 und Abs. 3 findet, ist mit der in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO getroffenen Regelung verknüpft, die sich vergleichsweise schlicht ausnimmt: Für die dort genannten Begriffe soll das (kraft des anwendbaren Internationalen Privatrechts maßgebende) nationale Privatrecht zur Anwendung kommen. Den Grund für diese Verweisung auf das nationale Recht mag man vor allem darin suchen, dass es um Begriffe geht, für die es zwar im Unionsrecht schon durchaus erste Konkretisierungsansätze gibt, für die aber die nationalen Rechtsordnungen viel weitergehende Konkretisierungen bereithalten. Zudem wird man davon 81) 82)

Das anwendbare Recht ergibt sich insoweit aus dem Vertragsstatut, das nach der Rom I-Verordnung (Fn. 22) zu bestimmen ist. Dies für das auftragslose (unsolicited) Rating sowie für Ansprüche der Anleger.

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ausgehen dürfen, dass weder das Parlament noch vor allem die Mitgliedstaaten bereit gewesen sind, den nächsten Schritt zu einem europäischen Haftungsrecht – wenn auch beschränkt für die Haftung der Ratingagenturen – zu gehen. Trotz dieser – auf den ersten Blick – zunächst klaren Ausgangslage erweist sich aber auch für Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO, dass das Unionsrecht ein Wort mitzusprechen hat. Zunächst ist davon auszugehen, dass die in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA IIIVO in Bezug genommenen Begriffe des „Schadens“, des „Vorsatzes“ etc., die nach nationalem Recht „ausgelegt und angewandt“ werden sollen, unionsrechtliche Begriffe sind. Die Begriffe sind als Verweisungsbegriffe anzusehen, die die Verweisung auf nationales Recht anordnen, zugleich aber auch den Rahmen für die Verweisung – deren Gegenstand und Umfang – festlegen. Dieser durch den Verweisungsbegriff gesetzte Rahmen ist durch eine unionsrechtsautonome Auslegung näher zu bestimmen. Innerhalb des so fixierten Rahmens findet die Konkretisierung anhand des jeweils anwendbaren nationalen Rechts statt – der unionsrechtliche Rahmen bestimmt mithin den Gestaltungsspielraum des nationalen Rechts. Dabei wird das nationale Recht – vom anwendbaren Internationalen Privatrecht berufen – in der Regel das Recht eines Mitgliedstaates der Union sein. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass (etwa bei Ratings bezüglich Unternehmen in Drittstaaten) das nationale Recht eines Drittstaates berufen wird.83) Die unionsrechtsautonome Auslegung der Verweisungsbegriffe hat – auch im Hinblick auf die Tragweite der Verweisung auf das nationale Recht – den effet utile der jeweiligen Regelung zu beachten, in der der Begriff Verwendung findet.84) Dies bedeutet, dass sowohl der Zweck des Haftungstatbestands wie auch derjenige der Mitverschuldensregelungen in Art. 35a Abs. 1 CRA III-VO den Gehalt und die Reichweite der jeweils verwendeten, aber nicht definierten Begriffe mitbestimmen. Im Einzelnen wird es der Rechtsprechung des Gerichtshofs obliegen, die Implikationen des effet utile der unionsrechtlichen Vorgaben näher zu bestimmen.

83)

84)

Dies gilt vor allem in den Fällen eines gemäß Art. 5 übernommenen Ratings, wenn aufgrund von Art. 4 Abs. 3 der Rom II-VO (Fn. 11) das Recht des Sitzes des bewerteten Unternehmens zur Anwendung berufen wird. EuGH, Urt. v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 (Veedfald), ECLI:EU:C:2001:258 Rz. 27 f. = NJW 2001, 2781; vgl. auch EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – Rs. C-393/10 (Patrick O’Brien), ECLI:EU:C:2012:110 Rz. 35 = EuZW 2012, 267; EuGH, Urt. v. 5.11.2014 – Rs. C311/13 (O. Tümer), ECLI:EU:C:2014:2337 Rz. 35, 43 = ZIP 2014, 2411.

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Die durch das nationale Privatrecht erfolgende Konkretisierung hat anhand des durch die Verweisungsbegriffe des Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO gesetzten Rahmens zu erfolgen. Insoweit greift das Gebot einer unionsrechtskonformen Konkretisierung durch das nationale Privatrecht ein: Die Konkretisierung hat sich i. R. des Verweisungsbegriffs zu halten und sich an der Effektivität der unionsrechtlichen Vorgaben zu orientieren. Dies gilt auch, soweit drittstaatliches Privatrecht zur Anwendung berufen wird. Diese Aussagen gelten auch für die im Schrifttum diskutierte Konstellation, dass für einen der in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO aufgeführten Begriffe – wie z. B. den der „groben Fahrlässigkeit“ – die Verweisung deshalb ins Leere gehen soll, weil das nationale Recht ein entsprechendes Regelungskonzept (möglicherweise) nicht kennt.85) Das nationale Recht kann sich indessen nicht darauf zurückziehen, dass damit die vom Unionsrecht angeordnete Verweisung ihr Ziel nicht erreicht. Vielmehr ist dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV die Verpflichtung der Mitgliedstaaten86) zu entnehmen, eine den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechende Konkretisierung i. R. ihres Privatrechts zu entwickeln. Dies setzt seinerseits voraus, dass der Gehalt und die Tragweite des unionsrechtlichen Begriffs geklärt werden muss. Insgesamt zeigt sich, dass auch die auf den ersten Blick „schlanke“ Verweisung auf nationales Recht auf einem Zusammenwirken von Unionsrecht und nationalem Recht beruht, bei dem zwar dem nationalen Recht ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet wird, das Unionsrecht aber ein gewichtiges Wort mitzureden hat.87) In Zusammenschau mit den in Art. 35a Abs. 2 und Abs. 3 CRA III-VO getroffenen Regelungen ist ein Regelungsgeflecht entstanden, das dem Unionsrecht jeweils unterschiedlich weitgehenden Einfluss einräumt88) und angesichts der damit gegebenen Komplexität den Rechtsanwender vor große Anwendungsprobleme stellen wird. 85) 86) 87)

88)

Gietzelt/Ungerer, GPR 2013, 333, 338; vgl. auch Haar, DB 2013, 2489, 2494. Soweit auf drittstaatliches Privatrecht verwiesen wird, greift eine solche Verpflichtung allerdings nicht ein. Vgl. auch die ähnliche Regelung in Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 1286/ 2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.11.2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRJJP), ABl. (EU) 2014 Nr. L 352/1. Vgl. die Andeutung bei Haar, DB 2013, 2489, 2494, wonach der Grundsatz der unionsrechtsautonomen Auslegung in unterschiedlich weitgehendem Ausmaß modifiziert wird.

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VII. Zusammenfassung 1.

Die in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 der (2013) modifizierten Verordnung Nr. 1060/2009 (CRA I-VO) vorgesehene Verweisung auf das nationale Privatrecht erfolgt im Anwendungsbereich der Verordnung, die in Art. 2 Abs. 1 CRA III-VO nur unzureichend umschrieben ist (unter II 1).

2.

Die in der Norm vorgesehene „vertikale“ Verweisung ist im Unionsrecht nicht ohne Vorbild (unter III 1). Bei den Begriffen handelt es sich um Verweisungsbegriffe, die ihrerseits dem Grundsatz der unionsrechtsautonomen Auslegung unterliegen (unter III 2).

3.

Das Zusammenwirken von Unionsrecht und nationalem Recht, auf das (implizit) verwiesen wird, ist der Sache nach von der Konkretisierung unionsrechtlicher Rechtsbegriffe und Generalklauseln her bekannt (unter IV).

4.

Die in Art. 35a Abs. 2 und Abs. 3 CRA III-VO getroffenen Regelungen weisen eine komplexe Gemengelage von Unionsrecht und nationalem Recht aus (unter V).

5.

Die in Art. 35a Abs. 4 Satz 1 CRA III-VO angeordnete Verweisung auf das nationale Recht wird durch eine unionsrechtsautonome Auslegung der in Art. 35a verwendeten, aber in der Verordnung nicht definierten Begriffe gesteuert (unter VI). Dabei ist der effet utile der maßgebenden Regelungen in Art. 35a zu beachten. Das nationale Recht der Mitgliedstaaten, auf das verwiesen wird, hat einen weiten Konkretisierungsspielraum. Es ist im Lichte der Vorgaben unionsrechtskonform anzuwenden (und ggf. fortzuentwickeln).

Eurobonds aus rechtsökonomischer Perspektive HANS-BERND SCHÄFER Inhaltsübersicht I. II.

Eurobonds, kein Instrument der Krisenbewältigung Eurobonds jenseits des Krisenmanagements 1. Wirtschaftspolitische Ziele von Eurobonds jenseits des Krisenmanagements a) Sichere Anlagemöglichkeit (Safe Assets) b) Stabilisierung in der Krise und Vermeidung von Einbahnspekulation und „schlechten“ Zinsgleichgewichten c) Absenkung der Liquiditätsprämie 2. Die unzureichende Versicherungsfunktion von Eurobonds

III. Typen von Eurobonds 1. Pro rata Bonds ohne Vorrangregeln 2. „Red bonds“ und „blue bonds“ mit gesamtschuldnerischer Haftung der Euro-Mitgliedstaaten für die blue bonds 3. „Red bonds“ und „blue bonds“ mit Vergemeinschaftung der „red bonds“ 4. Laufzeitverkürzungen (Eurobills) als Instrument gegen absprachewidrige Staatsschuldenausweitung IV. Fazit

Es ist für mich eine besondere Ehre und Freude, diesen Artikel für den Jubilar Johannes Köndgen zu schreiben. In seiner Hamburger Zeit hatten wir viele Kontakte, da er stets gegenüber ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Erwägungen im Zivilrecht aufgeschlossen war, diese unterstützt hat und ich in vielen Gesprächen viel von ihm gelernt habe. In den siebziger Jahren haben wir gemeinsam Seminare in Hamburg zur ökonomischen Analyse des Rechts durchgeführt. Später war er ein besonders produktiver Referent und Diskutant auf den Travemünder Symposien zur ökonomischen Analyse des Rechts. Mein herzlicher Dank an ihn verbindet sich mit den besten Wünschen für viele weitere Jahre in guter Gesundheit.

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I. Eurobonds, kein Instrument der Krisenbewältigung Seit einem Artikel im Dezember 2010 mit dem ebenso heiteren wie angsteinflößenden Titel „My Name is Bond, Eurobond“ von Paolo Manasse1) haben viele andere solche Bonds zur Lösung der europäischen Schuldenkrise vorgeschlagen. Dazu gehören – um nur die Prominentesten zu nennen – Romano Prodi, Jean Claude Juncker2) und José Manuel Barroso3). Die Europäische Kommission schlug Eurobonds in einem Grünbuch vom November 2011 zur Krisenüberwindung vor.4) In diesem Aufsatz wird dargelegt, warum Eurobonds als Kriseninstrument ungeeignet waren, warum sie gleichwohl auf lange Sicht und jenseits des Krisenmanagements wichtig und vorteilhaft für alle Mitgliedstaaten werden können. Was wäre die Konsequenz gewesen, wenn in der Eurokrise die gesamten Staatsschulden der Eurozone in Eurobonds mit einer gesamtschuldnerischen Haftung aller Mitgliedstaaten umgewandelt worden wären? Die Zinssätze für griechische, spanische, portugiesische und italienische Staatsanleihen wären als Resultat eines verminderten Staatsinsolvenzrisikos dramatisch gefallen. Insgesamt hätte dies eine gewaltige Entlastung für die von der Krise betroffenen Länder und deren öffentliche Haushalte bedeutet. Die zahlungskräftigen Staaten wie Deutschland oder die Niederlande hätten dagegen möglicherweise höhere Zinssätze zahlen müssen, da die zusätzlichen Risiken in den neuen Einheitszinssatz eingepreist worden wären. 1)

2)

3) 4)

Paolo Manasse, My Name is Bond, Eurobond, VoxEU.org, v. 16.12.2010, http:// www.voxeu.org/article/my-name-bond-euro-bond (Abrufdatum: 26.11.2015). In den 1980er Jahren hatte bereits der Präsident der EU-Kommission Jaques Delors Eurobonds zur Finanzierung von Projekten der EU vorgeschlagen. Während der Krise wurde dieses Instrument auch von Mario Monti ins Gespräch gebracht. Monti, A new strategy for the Single Market – at the service of Europe’s economy and society, Report to the President of the European Commission José Manuel Barroso, v. 9.5.2010, http:// ec.europa.eu/internal_market/strategy/docs/monti_report_final_10_05_2010_en.pdf (Abrufdatum: 26.11.2015). Vgl. Jean Claude Juncker/Giulio Tremonti, E-bonds would end the crisis, Financial Times v. 5.12.2010. Für einen ausführlichen Überblick über den Juncker Vorschlag und andere Modelle siehe Erik Jones, The Eurobond, Proposals, Comments, and Speeches, http://www.jhubc.it/facultypages/ejones/eurobond.pdf (Abrufdatum: 26.11.2015). Weitere Darstellungen verschiedener Varianten von Eurobonds finden sich bei Stijn Claessens/ Ashoka Mody/Shahin Vallée, Paths to Eurobonds, IMF Working Paper 12/172, http:// www.bruegel.org/publications/publication-detail/publication/733-paths-to-eurobonds (Abrufdatum: 26.11.2015). Speech by President Barroso v. 16.11.2011, Debate on economic governance, European Parliament Strasbourg, Speech 11/760. EU Commission, Green Paper: Feasibility of Stability Bonds, v. 23.11.2011.

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Hätte dies den Euro stabilisiert? Das hängt davon ab, wie viel finanzpolitische Autonomie den EU-Mitgliedstaaten verblieben wäre. Eurobonds würden einen Antrieb bieten, weiterhin die Verschuldung auszuweiten. Auf kurze Sicht würden Eurobonds sicherlich Entlastung bringen, aber langfristig könnten sie für alle Länder der Eurozone zu einer finanziellen Notlage und Staatsinsolvenz führen. Letztlich hängt der Erfolg solcher Anleihen von der Glaubwürdigkeit der fiskalischen Disziplin ab. Ob neue Rechtsnormen besser funktionieren würden als der alte Stabilitäts- und Wachstumspakt ist eine ganz offene Frage. Der neue Stabilitätsmechanismus ist noch ungeprüft. Alle Entscheidungen liegen weiterhin beim Rat der Finanzminister, demselben Gremium, das für die Aufweichung der Maastricht-Kriterien verantwortlich war. Eurobonds werfen Fragen des Europarechts und des nationales Verfassungsrechts auf, die ihre Einführung schwierig und langwierig machen; genau das Gegenteil, was von einem Kriseninstrument erwartet wird.5) In Art. 125 AEUV heißt es: „Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaates und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.“

Dieselbe Regel gilt für die Europäische Union. Die meisten Rechtswissenschaftler stimmen darin überein, dass diese sog. Nichtbeistands-Klausel direkte Kredite von Mitgliedstaaten an einen anderen notleidenden Staat, wie im Fall von Griechenland oder Irland, nicht ausschließt. Sie schließt ebenso wenig multilaterale Kredite, gelenkt durch eine europäische Organisation wie den ESM, aus. Eine gesamtschuldnerische Haftung für vergemeinschaftete Staatsschulden würde jedoch den Vertrag über die Funktionsweise der Europäischen Union (AEUV) verletzen und deshalb eine Vertragsänderung erfordern. Letztlich ergibt sich dies daraus, dass ein Haftungsautomatismus mit einem „moral hazard“ Prob-

5)

Heun/Thiele, Verfassungs- und europarechtliche Zulässigkeit von Eurobonds, JZ 2012, 973; Nettesheim, „Euro-Rettung“ und Grundgesetz, Verfassungsgerichtliche Vorgaben für den Umbau der Währungsunion, EuR 2011, 765.

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lem geschaffen wird, dass den Anreiz zur Konsolidierung nimmt.6) Auch die Europäische Kommission, die sich seit dem Beginn der Krise eindringlich für Eurobonds ausgesprochen hat, schrieb im November 2011 in ihrem Grünbuch: „Die Ausgabe von Eurobonds mit gesamtschuldnerischer Bürgschaft setzt eine Vertragsänderung voraus“. Dies ist jedoch nicht das einzige Hindernis. Wenn die Regierungen aller 27 Mitgliedstaaten der Änderung des Art. 125 AEUV zustimmen würden, wäre es immer noch fraglich, ob diese Veränderung in allen Ländern ratifiziert werden würde. In einigen Mitgliedstaaten wäre ein Referendum notwendig. Die Einführung von Eurobonds als Kriseninstrument hätte letztlich das Krisenmanagement auf die Schultern der Wähler in Irland oder den Niederlanden gelegt. Schon aus diesem Grunde taugte es nicht, die Krise zu entschärfen. Hinzu kommen verfassungsrechtliche Bedenken. Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Verfassungsmäßigkeit der EFSF (European Financial Stability Facility) zu entscheiden und sieht sie als konform mit dem Grundgesetz an. Aber ohne das Wort „Eurobonds“ in seiner Entscheidung vom 7. September 2011 zu erwähnen, äußerte sich das Verfassungsgericht in einem obiter dictum dazu: „Der Deutsche Bundestag darf keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründen, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden.“

Es ist deshalb möglich und sogar wahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht Eurobonds nicht akzeptiert hätte. Dies hätte einen schweren Rückschlag für die Lösung der europäischen Schuldenkrise bedeutet. 6)

EuGH, Urt. v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 (Pringle), NJW 2013, 29. Der EuGH sieht in der Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) durch einen Vertrag außerhalb des AEUV keine Verletzung des Art. 125 AEUV und argumentiert, dass Formen des finanziellen Beistands diese Norm dann verletzten würden, wenn die Übernahme der Staatsschuld „zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben“ (Rz. 136). Dieses Ziel sieht er durch den ESM nicht beeinträchtigt, weil die auf seiner Grundlage gewährten Hilfen vom Empfängerstaat zurückgezahlt werden müssten und zudem „strengen Auflagen“ unterlägen (Rz. 139, 143). Siehe auch Fuchs, Der Fall Pringle, Europarecht aktuell, 2012/05, S. 1 – 11. Siehe auch Buser, Die europa- und verfassungsrechtliche Zulässigkeit von sog. Eurobonds, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 89, 2013, 1, abrufbar unter: http://portal-europarecht.de/epapers (Abrufdatum: 15.12.2015).

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Und schließlich waren Eurobonds in der am meisten diskutierten Variante nicht einmal geeignet, das Ziel einer Entlastung der Krisenstaaten durch niedrigere Zinszahlungen überhaupt zu erreichen oder auch nur zu fördern. Der vieldiskutierte Vorschlag des damaligen Vorsitzenden der Eurogruppe Jean Claude Juncker sah vor, alle Staatsschulden bis zur Höhe des Maastricht-Kriteriums von 60 % des Bruttoinlandsprodukts zu vergemeinschaften und mit einer gesamtschuldnerischen Haftung aller Mitgliedstaaten auszustatten.7) Diese vergemeinschafteten Anleihen sollten priorisiert und vorab bedient werden. Alle Staatsschulden über 60 % des BIP sollten dagegen in nationaler Verantwortung bleiben und dem Risiko einer Staatsinsolvenz ausgesetzt bleiben. Diese Konstruktion hätte das Gesamtrisiko einer Staatsinsolvenz in einem Mitgliedstaat gar nicht ändern, sondern nur innerhalb eines Landes anders verteilen können. Die Zinsen für die verbürgten erstrangigen Schulden wären gesunken, die für die zweitrangigen nicht-verbürgten Schulden wären gestiegen und der Schuldendienst gleichgeblieben. Die Einsicht in die Wirkungslosigkeit dieser Form von Eurobonds auf die Höhe des Schuldendienstes eines in die Krise geratenen Landes ist, wie noch gezeigt wird, weder tief noch subtil. Trotzdem hat sie in der politischen Debatte um Eurobonds so gut wie keine Rolle gespielt. Es ist nicht verwunderlich, dass sich während der Eurokrise das Krisenmanagement in Richtung Zentralnotenbank und intergouvernementaler Zusammenarbeit verschob. Das erste Griechenlandpaket, der EFSF und der ESM wurden außerhalb der Europäischen Verträge mit Hilfe des klassischen Völkerrechts etabliert. Der Draghi Plan von Juli 2012 kündigte den unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen aus Krisenländern auf dem Sekundärmarkt unter der Voraussetzung an, dass sich ein Land unter den Schutzschirm des ESM begab.8) Diese Methoden, für die entweder keine Vertragsänderungen notwendig waren oder die relativ schnell verfügbar gemacht werden konnten, haben letztlich den Euro stabilisieren können.

7)

8)

Dieser Vorschlag wurde ursprünglich von Jacques Delpla und von Jakob v. Weizsäcker unterbreitet. Delpla/v. Weizsäcker, The Blue Bond Proposal, Bruegel Policy Brief 2010/03. Siehe auch Depla/v. Weizsäcker, Eurobonds. Das Blue Bond-Konzept und seine Implikationen, Friedrich-Ebert-Stiftung Perspektive, 2011/06, S. 1 – 4. Speech by Mario Draghi v. 26.7.2012, President of the European Central Bank at the Global Investment Conference in London, https://www.ecb.europa.eu/press/key/ date/2012/html/sp120726.en.html (Abrufdatum: 26.11.2015).

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II. Eurobonds jenseits des Krisenmanagements Da Eurobonds als Krisenmanagement aus den dargelegten Gründen wenig geeignet waren und zudem von den wirtschaftlich gesunden Staaten vehement zurückgewiesen wurden, sind sie aus der wirtschaftspolitischen Debatte weitgehend verschwunden. Dies gilt allerdings nicht innerhalb der Wissenschaft, wo sie weiterhin eine lebhafte Diskussion entfachen. Einige der prominentesten Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, Kaushik Basu und Jean Tirole9) gehören zu den Autoren, die kürzlich über Eurobonds jenseits des Krisenmanagements publiziert haben. 1. Wirtschaftspolitische Ziele von Eurobonds jenseits des Krisenmanagements Bei allen Autoren herrscht Einigkeit, dass Eurobonds für alle Mitgliedstaaten grundsätzlich von Vorteil sein und somit im ökonomischen Sprachgebrauch Pareto-Verbesserungen oder „Win-Win“-Konstellationen sein können. Uneinig sind sich die Autoren jedoch darüber, ob die mit der gemeinsamen Haftung verbundenen „moral hazard“ Probleme durch binnenstaatliche und europarechtliche Rechtsnormen zur Begrenzungen der nationalen Verschuldung von Mitgliedstaaten so stark eingedämmt werden können, dass die unbestrittenen Vorteile für jedes Mitgliedsland erhalten bleiben. Skeptisch dazu hat sich insbesondere der Wirtschaftsnobelpreisträger Jean Tirole geäußert, der ein Gefangenendilemma diagnostiziert. Eurobonds wären bei kooperativem Verhalten aller Mitgliedstaaten vorteilhaft für alle. Ihre Einführung führte jedoch nicht zum kooperativen Verhalten, sondern zu opportunistischer Ausweitung nationaler Budgetdefizite und zu monströsen Risiken. Daher bezweifelt er, dass sie jemals zustande kommen können. Diese Skepsis wird von anderen Autoren jedoch so nicht geteilt. Der Umfang des „moral hazard“ hängt zudem, wie noch gezeigt wird, stark von der Ausgestaltung der Eurobonds selbst ab – nicht nur von rechtlich normierten Defizitbremsen. 9)

Kaushik Basu/Joseph E. Stiglitz, International Lending, Sovereign Debt and Joint Liability, An Economic Theory Model for Amending the Treaty of Lisbon, World Bank Policy Research Working Paper 6555, 2013/08; Buser, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 89, 2013, 1. Hellwig/Philippon, Eurobills, not Eurobonds, VoxEU.org, v. 2.12.2011, http://www.voxeu.org/article/eurobills-not-euro-bonds (Abrufdatum: 26.11.2015); Jean Tirole, Country Solidarity in Sovereign Crises, working paper, revised 2014/04.

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Welche unbestrittenen Vorteile10) für alle sind mit der Einführung von Eurobonds verbunden? a) Sichere Anlagemöglichkeit (Safe Assets) Staatsanleihen westlicher Industriestaaten gelten zu Recht als sichere Anlagen insoweit, als sie in der Regel nicht dem Risiko der nominellen Entwertung durch einen Schuldenschnitt ausgesetzt sind. Denn typischerweise sind Notenbanken „lender of last resort“ nicht nur für die Geschäftsbanken, sondern auch für den Staat. Hat sich der Staat zu hoch verschuldet und steigen deshalb die Zinssätze für Staatsanleihen, so kann die Notenbank Anleihen in beliebigem Umfange aufkaufen, was eine Staatsinsolvenz abwendet und die Gläubiger gegen eine nominelle Entwertung ihrer Forderungen schützt. Die Gläubiger von Staatsanleihen gehen zwar ein Inflationsrisiko ein, ausländische Gläubiger zusätzlich ein Wechselkursrisiko, aber nicht das Risiko des Zahlungsausfalls. In diesem Sinne sind britische, amerikanische oder japanische Staatsanleihen risikolose „safe assets“. Die hohe Verschuldung dieser Länder, die im Vereinigten Königreich und den USA deutlich höher liegt als im Durchschnitt der Eurozone und in Japan, mit über 200 % des Sozialprodukt sogar höher liegt als in Griechenland, beeinträchtigt daher nicht die Kreditfähigkeit dieser Staaten und führt somit auch nicht zu entsprechenden Wagnisaufschlägen beim Zinssatz.11) Diese Möglichkeit von Aufkäufen aus rein fiskalischen Gründen steht der Europäischen Zentralbank nicht im gleichen Maße zur Verfügung, weil diese ganz ausdrücklich nur als Bank der Banken und nicht als Bank des Staates konzipiert ist12) und daher die Möglichkeit einer Staatsinsolvenz nicht grundsätzlich durch Ankäufe von Anleihen durch die Zentralbank ausgeschlossen werden kann.

10)

11) 12)

Diese Vorteile werden von vielen Autoren mit unterschiedlicher Gewichtung hervorgehoben, siehe insbesondere Kaushik Basu/Joseph E. Stiglitz, World Bank Policy Research Working Paper 6555, 8/2013; Paul de Grauwe/Wim Moesen, Gains for All: A Proposal for a Common Euro Bond, Intereconomics 44, 2009, 132. Im Jahre 2014 hatte Japan eine öffentliche Verschuldung von 245 % des BIP, die USA von 106 % und die Länder der Eurozone von 92 %, Quelle: EZB und IWF. Dies ergibt sich aus dem Verbot der Staatsfinanzierung durch die Notenbank; m. w. N. bei Schäfer, The Sovereign Debt Crisis in Europe, Save Banks Not States, The European Journal of Comparative Economics, Vol. 9 (2012), n. 2, pp. 179.

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Der Euro als Anlagewährung verliert aber an Attraktivität, wenn die meisten seiner Staatsanleihen mit einem Ausfallrisiko behaftet sind. Weltweit haben Notenbanken, Geschäftsbanken, Versicherungen, Pensions- und Investmentfonds ein Interesse an „safe assets“. Kann die Eurozone diese wegen ihrer Notenbankverfassung nicht oder nur in geringem Umfang anbieten, ist sie für Anleger weniger interessant als andere Währungsräume. Tendenziell führt dies zu weniger Nachfrage nach Staatsanleihen und damit zu einem höheren Zinssatz für die Herausgeber der Anleihen. Diesen Nachteil auszugleichen dient unter anderem der Vorschlag, Eurobonds mit Priorität gegenüber den Gläubigern auszustatten und insgesamt die europäischen Staatsanleihen in „blue bonds“ und „red bonds“ aufzuteilen und „blue bonds“ durch gemeinschaftliche Haftung zusätzlich abzusichern. Bei genauer Betrachtung führt die Haftungsübernahme nicht zu zusätzlichen Risiken. Denn die „blue bonds“ können in ihrem Volumen so begrenzt werden, dass ein Mitgliedstaat sie stets, bei jeder Wirtschaftslage und bei jedem Zinssatz, bedienen kann. Alle Risiken einer Staatsinsolvenz würden dann auf die „red bonds“ konzentriert, deren Zinssätze das volle Risiko einer Staatsinsolvenz enthielten. Die „blue bonds“ dagegen wären niedrigverzinslich und sicher. Dadurch würden sichere Anlageformen in der gesamten Eurozone entstehen, obwohl der Zentralbank das Mittel, beliebig Anleihen aus fiskalpolitischen Gründen auf den Sekundärmärkten zu kaufen, nicht zur Verfügung steht. b) Stabilisierung in der Krise und Vermeidung von Einbahnspekulation und „schlechten“ Zinsgleichgewichten Die Eurokrise wurde durch Kapitalflucht aus den Krisenstaaten verschärft. Anleihegläubiger verkauften ihre Wertpapiere und legten das Geld im Ausland insbesondere auch in Deutschland an. Dadurch wurden die Zinsen in den Krisenstaaten nach oben und die in den stabileren Ländern nach unten gedrückt, was die Krise weiter verschärfte und zudem zu unerwünschten Verteilungswirkungen führte. Denn die stabileren Staaten konnten durch die niedrigeren Zinsen einen unerwarteten Gewinn verbuchen, während die Anleger in diesen Staaten Einbußen erlitten. Diese Kapitalflucht hat zwei Gründe: –

Erstens fürchten die Anleger in krisengeschüttelten Ländern durch eine Staatsschuldenkrise einen Teil ihrer Anleihen durch einen Schuldenschnitt zu verlieren.

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Zweitens – und unabhängig davon – befürchten sie, dass der Euro als Währung gefährdet ist und legen daher ihr Geld in Ländern an, die bei einem Zusammenbruch des Euro und der Wiedereinführung nationaler Währungen aufwerten müssten, z. B. in Deutschland.

Dies ist eine fast risikolose Einbahnspekulation und daher dominante Strategie. Denn der Anleger macht einen Gewinn, wenn der Euro zerfällt und macht kaum einen Verlust, wenn er besteht. Dies erhöht in der Krise die Zinsdifferenz zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Ländern. Dies würde auch geschehen, wenn im schwachen Land ein Kreditausfallrisiko überhaupt nicht bestehen würde. Wäre die Existenz des Euros so sicher wie die des Dollars, käme es nicht zu derartigen Zinsdifferenzen. Wenn alle glauben, dass der Euro zerfällt, bilden sich zwei Gleichgewichtszinssätze heraus: Ein hoher für Länder die dann abwerten und ein niedriger für solche die dann aufwerten würden. Eurobonds sind auch eine mögliche Methode, um dieses „schlechte“ Gleichgewicht nicht Wirklichkeit werden zu lassen.13) Insgesamt wurde als Folge der Kapitalflucht und der steigenden Zinsen in den Krisenstaaten das System im Sommer 2012 so instabil, dass nur durch die legendäre Intervention der Notenbank eine Beruhigung und eine erhebliche Zinssenkung in den Krisenstaaten erreicht werden konnte (Draghi Plan).14) Wenn dagegen alle Staatsanleihen in den Eurostaaten in sichere „blaue“ und risikobehaftete „rote“ Bonds unterteilt sind, würde diese Fluchtbewegung nicht zwischen Staaten wie etwa Italien und Deutschland stattfinden, sondern zwischen „roten“ und „blauen“ Bonds. Auch die Spekulation auf Beendigung des Euro als gemeinsame Währung würde dadurch vermindert. Zwar würden in Krisenstaaten dadurch die Zinsen für Staatsanleihen für die „roten“ Bonds weiterhin ansteigen, aber die der „blauen“ Bonds würden in jedem Land sinken, einschließlich in den Krisenländern. Dadurch würde der fiskalische Stress in den Krisenländern abgemildert.

13)

14)

Diese spieltheoretischen Erwägungen finden sich bei Kaushik Basu/Joseph E. Stiglitz, World Bank Policy Research Working Paper 6555, 2013/08; Paul de Grauwe/Yuemei Ji, Mispricing of Sovereign Risk and Multiple Equilibria in the Eurozone, European Policy Working Paper, No 361, 2012; Paul de Grauwe/Wim Moesen, Intereconomics 44, 2009, 132. Speech by Mario Draghi v. 26.7.2012 in London, vgl. Fn. 8.

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c) Absenkung der Liquiditätsprämie Im Zinssatz einer Staatsanleihe preisen die Gläubiger zwei Risiken ein, das Kreditausfallrisiko der Nichtbedienung der Anleihe und das davon unabhängige Liquiditätsrisiko. Letzteres ist das Risiko, dass der Gläubiger die ausgeliehenen Beträge während der Laufzeit des Kredits selbst benötigt, seine Anleihe verkaufen oder sich anderswo Liquidität besorgen, dafür Zinsen zahlen und Verluste hinnehmen muss. Dieses Risiko nimmt mit der Größe eines Bondmarkts ab. Würde etwa die chinesische Zentralbank mit hohen Beträgen Anleihen eines kleinen Eurostaates kaufen, muss sie Preissenkungen durch den Verkauf vor Fälligkeit befürchten oder sich die Liquidität anderswo mit möglicherweise höheren Kosten besorgen. Je größer bzw. schwerer ein Bondmarkt daher ist, umso geringer wird diese Liquiditätsprämie. Einige empirische Untersuchungen lassen erkennen, dass diese in den Staaten des Euroraums bis zu einem halben Prozentpunkt (50 Basispunkte) gegenüber Staatsanleihen im Dollarraum ausmacht. Würde etwa die Hälfte der Staatsanleihen im Euroraum mit einem Gesamtvolumen von über 8 Bio. € vergemeinschaftet, so läge der jährliche Vorteil für die Herausgeber der Anleihen durch die Verminderung der Liquiditätsprämie wohl im zweistelligen Milliardenbereich.15) Die Ratio von Eurobonds jenseits des Krisenmanagements ist daher nicht die Umverteilung von Finanzmitteln von stärkeren in schwächere Länder, sondern ein gemeinsamer Stabilisierungsvorteil und ein monetärer Ertrag, der zwischen den beteiligten Staaten aufgeteilt werden könnte. 2. Die unzureichende Versicherungsfunktion von Eurobonds Jean Tirole16) hat solidarisches Verhalten einer Staatengemeinschaft wie der Eurozone in Finanzkrisen theoretisch analysiert und zwei Kategorien unterschieden: ex-post Solidarität und ex-ante Solidarität. Beide Formen haben nichts mit einer Transferunion zu tun, in der dauerhaft Leistungen von wirtschaftlich stärkeren in schwächere Staaten oder Regionen fließen. Vielmehr handelt es sich um eine Unterstützung, wenn ein Partner in die Krise gerät, somit um ein Solidarprogramm gegenseitiger Hilfeleistung, wie es auch dem Gedanken der Schadensversicherung entspricht. Eurobonds 15) 16)

Carlo Favero/Alessandro Missale, Sovereign Spreads in the EURO Area. Which prospects for a Eurobond?, Economic Policy, 70, 231 – 273. Jean Tirole, working paper, revised 2014/04.

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mit gemeinschaftlicher Haftung der Mitgliedstaaten führen zur Übernahme der Schulden eines anderen Staates für den Fall, dass dieser in eine Krise gerät. Dies ist die ex-ante Solidarität, weil ein Beistandspakt beschlossen wird, bevor die Krise ausgebrochen oder überhaupt erkennbar ist. Davon zu unterscheiden ist die ex-post Solidarität, die einsetzt nachdem in einem Mitgliedsland eine Finanzkrise ausgebrochen ist und dann Hilfs- und Überbrückungsmaßnahmen über Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds oder den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) beantragt werden können. Bei rational egoistischem Verhalten der Mitgliedstaaten ist die ex-post Solidarität begrenzt durch das Motiv „SpilloverEffekte“, d. h. negative Auswirkungen der Staatsinsolvenz auf die übrigen Euroländer zu vermeiden, und nimmt daher mit geringeren SpilloverEffekten ab.17) In der Eurozone gibt es bei Finanzkrisen eine ex-post Solidarität, aber keine ex-ante Solidarität. Diese wird durch Art. 125 AEUV im Gegenteil sogar ausgeschlossen. Warum diese nicht im allseitigen Interesse liegt – anders als bei der ex-ante Solidarität von Weizenbauern, die eine Hagelschlagversicherung abschließen – ergibt sich aus drei Gründen: –

Hohe Kovarianz der Risiken: In der Eurozone sind die Risiken finanzieller Stresssituationen eng miteinander korreliert. Eine Schadensstreuung kann daher über Eurobonds nur unzureichend – wenn überhaupt – erreicht werden. Dieser Gedanke kann tabellarisch für zwei Länder A und B illustriert werden. Wirtschaftslage in Land A Wirtschaftslage in Land B Konstellation 1

Boom

Boom

Konstellation 2

Depression

Depression

Konstellation 3

Boom

Depression

Konstellation 4

Depression

Boom

Ideal für die Herausbildung einer ex ante Solidarität durch Eurobonds wäre eine Währungsunion, in der ständig abwechselnd die Mitgliedstaaten sich in den Konstellationen 3 oder 4 befinden. Immer wenn es dem einen Land gut geht, geht es dem anderen schlecht. Dann liegt es im gemeinsamen Interesse beider Länder, sich mit Zinszahlungen in der Krise zu helfen. Auf lange Sicht ist dies aber eine „Win-Win“Situation oder Pareto-Verbesserung. Befinden sich aber beide Länder, 17)

Jean Tirole, working paper, revised 2014/04, S. 12 f.

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A und B, stets in den Konstellationen 1 oder 2, so brechen die Voraussetzungen für die ex-ante Solidarität zusammen. Denn wenn es beiden gut geht (Konstellation 1) ist Solidarität unnötig und wenn es beiden schlecht geht (Konstellation 2), verschärft sie die Krise in einem Land und mildert sie im anderen Land, wodurch sich langfristig niemand bessersteht. Die Möglichkeit mit gemeinschaftlicher Haftung Schäden zu streuen, hängt daher von einer geringen Kovarianz der wirtschaftlichen Entwicklung in der Eurozone ab,18) die empirisch nicht gegeben ist, wie viele Untersuchungen belegen. –

Unterschiedliche Grade der Verletzlichkeit: Hinzu kommt die unterschiedliche Wirtschafts- und Finanzkraft der Mitgliedstaaten. Eine Depression kann in einem wirtschaftlich schwachen Land die Zahlungskrise des Staates auslösen, während ein starkes Land auch in der Krise seinen Schuldendienst zu leisten vermag. Selbst wenn die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten keine Kovarianz aufwiese und völlig asymmetrisch wäre, stiege dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass die Verpflichtungen nur in eine Richtung wirksam werden, nämlich gegenüber den schwachen Ländern, auch wenn diese sich in ihrer Haushaltspolitik regelkonform verhalten. So haben z. B. weder Spanien noch Irland vor der Lehman-Krise und der darauf folgenden Eurokrise regelwidrige Schulden aufgehäuft. Gleichwohl wurden beide Länder nach 2008 fiskalisch aus der Bahn geworfen. Für Deutschland oder die Niederlande hatte der Schock der Lehman-Krise zwar erhebliche Auswirkungen auf die Höhe der Budgetdefizite, aber nicht auf ihre Schuldendienstfähigkeit.



Das „moral hazard“ Problem: Jede Versicherung und jede Form der Streuung von Risiken ist unvermeidlich mit diesem Problem konfrontiert. Wer versichert ist, verliert Anreize Kosten aufzuwenden um den Versicherungsfall nicht eintreten zu lassen. Bezüglich der Staatsverschuldung kann dies zu einem opportunistischen Zusammenspiel von Staaten und Gläubigern kommen, um die Verschuldung auszuweiten und den Schuldendienst den Bürgen überlassen. Der bedenkenlose Aufbau der griechischen Staatsschulden vor der Lehman-Krise ist dafür ein beredtes Beispiel. Dieser geschah unter den Augen der Europäischen Kommission, auf deren Vorschlag durch Beschluss des Rats der Finanzminister noch im Jahre 2007 ein Defizitverfahren ge-

18)

Vgl. Jean Tirole, working paper, revised 2014/04, S. 23.

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gen Griechenland beendet wurde.19) Weder die Maastricht-Kriterien noch die in der Folge entwickelten Instrumente des „six pack“ oder des „fiscal compact“ haben es vermocht, die Schuldendynamik in einigen Staaten der EU zu bremsen. Italien hatte bereits im Jahre 2008, vor dem Ausbruch der Krise 102 %, Portugal 72 % und Griechenland wahrscheinlich über 100 % Staatsschulden als Prozent des Bruttoinlandsprodukts.20) Es wäre grob fahrlässig anzunehmen, diese Schuldendynamik könne bei der Einführung einer gesamtschuldnerischen Haftung für Eurobonds durch neue rechtliche Konstruktionen gestoppt werden, wie etwa durch einen europäischen Finanzminister mit Durchgriffsrechten auf die nationalen Haushalte. Wenn die Parlamentsmehrheit und die öffentliche Meinung in einem Mitgliedstaat eine Höherverschuldung im nationalen Haushalt für notwendig erachten, wird ein europäischer Finanzminister dies nicht durch ein Machtwort unterbinden können. Dies wird in den verschiedenen Vorschlägen, zuletzt durch die drei Präsidenten des Europäischen Parlaments, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission, nicht klar deutlich gemacht. Denn ein europäischer Finanzminister ist eher ein Finanzinspekteur als ein Finanzminister im herkömmlichen Sinn.21) Eurobonds sind daher auf absehbare Zeit nur sinnvoll, wenn sie die ohnehin in einigen Mitgliedsländern bestehenden Tendenzen zur Ausweitung der öffentlichen Schulden zumindest nicht verstärken oder sogar eindämmen. Ihre Tauglichkeit für die praktische Politik hängt davon wesentlich ab. Sie können zudem wegen der hohen Kovarianz der wirtschaftlichen Entwicklung im Euroraum und wegen der unterschiedlich hohen Verletzlichkeit der Mitgliedstaaten nur eine geringe Rolle bei einer Streuung von Kreditausfallrisiken übernehmen. III. Typen von Eurobonds Die verschiedenen Eurobondmodelle unterscheiden sich zunächst darin, ob eine gesamtschuldnerische oder eine pro rata Haftung vorgesehen ist. 19) 20)

21)

Zschäpitz, Schulden ohne Sühne, 2. Aufl. 2010, S. 184. Quelle: Eurostat. Die Zahl für Griechenland für das Jahr 2008 wird von Eurostat als für eine Veröffentlichung zu unzuverlässig angesehen. Nach einigen Schätzungen betrug die Quote 110 %. H. Enderlein/J. Haas, What would a European Finance Minister Do? A Proposal, Jacques Delors Institut, Stand: 10/2015, http://www.institutdelors.eu/media/ ministrefinanceeuropeenjdi-ben.pdf?pdf=ok.

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Bei einer gesamtschuldnerischen Haftung kann der Gläubiger bei Zahlungsverzug eines Schuldnerstaates einen anderen Staat in Anspruch nehmen. In der praktischen Umsetzung würde dies auf die Inanspruchnahme aller Staaten nach einem festgelegten Schlüssel hinauslaufen. Bei einer pro rata Haftung wäre die Haftung jedes Landes begrenzt auf die Quote desjenigen Betrags, der dem Land aus der Begebung der Anleihe ausgezahlt würde.22) 1. Pro rata Bonds ohne Vorrangregeln Die für die Staatengemeinschaft risikoloseste Form von Eurobonds besteht darin, einen Teil der Staatsschulden gemeinsam aufzunehmen, z. B. über eine Finanzagentur wie den ESM und die Haftung jedes Mitgliedstaates auf den Teil des Kredits zu begrenzen, der an diesen Staat ausgezahlt wurde. Dies entspricht dem bereits praktizierten Verfahren für Bonds, die z. B. zur Finanzierung der Europäischen Entwicklungsbank oder des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) aufgenommen werden. Ein Risiko bei Zahlungsausfall eines Schuldners bestünde für die übrigen Staaten dann nicht. Die Zinssätze würden sich aber verändern. Dies kann leicht am Beispiel zweier Länder A und B gezeigt werden: Angenommen Land A wird von Anlegern als sicher angesehen, Land B dagegen nicht. Land A zahlt daher für seine risikolosen Staatsanleihen einen Zinssatz von 2 %, Land B zahlt dagegen 4 % mit einem Zuschlag für das Kreditausfallrisiko von 2 %. Wenn beide Länder gemeinsam einen gleichgroßen Teil ihrer Staatsschulden als Eurobonds verbriefen, so gehen die Anleger davon aus, dass eine Hälfte der Anleihe sicher bedient wird, die andere Hälfte dagegen mit einem Risikoaufschlag von 2 % versehen werden muss. Es muss sich dann für die Anleihe ein mittlerer Zinssatz von 3 % herausbilden, der diesem Risiko entspricht. Es kommt zwar nicht zur Haftungsübernahme, Land A muss aber Mehraufwendungen von einem Prozentpunkt auf seine Schulden pro Jahr tätigen. Es kommt zu einer jährlichen Transferzahlung von Land A nach Land B, die im Haushaltsplan nicht offen als solche ausge22)

Überblicke finden sich insbesondere bei Stijn Claessens/Ashoka Mody/Shahin Vallée, IMF Working Paper 12/172, vgl. Fn. 2; EU Commission, Green Paper: Feasibility of Stability Bonds, v. 23.11.2011; Euronomics Group (Markus Brunnermeier/Luis Garicano/ Philip R. Lane/Marco Pagano/Ricardo Reis/Tano Santos/Stijn Van Nieuwerburgh/ Dimitri Vayanos), ESBies: A Realistic Reform of Europe’s Financial Architecture, VoxEU.org, v. 25.10.2011, http://www.voxeu.org/article/esbies-realistic-reform-europesfinancial-architecture (Abrufdatum: 26.11.2015).

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wiesen ist. Diese ist aber gleichwohl aus verfassungsrechtlicher wie auch aus europarechtlicher Perspektive problematisch, weil der erhöhte Zins, den Land A zu leisten hat, ökonomisch nichts anderes als eine Staatsschuldenfinanzierung zugunsten des Landes B ist. Diese Wirkung könnte man vermeiden, wenn A und B an einen „fiscal agent“, der die gemeinsame Anleihe begibt und bedient, jeweils denjenigen Zinssatz leisten, der auch für nationale Anleihen anfallen würde. A zahlt für seinen Anteil 2 % Zinsen und B zahlt 4 %. Hat dann ein derart konstruierter Eurobond noch irgendeinen ökonomischen Vorteil? Eine Risikostreuung ist mit ihm nicht verbunden, wohl auch keine makroökonomische Stabilisierung, denn im Krisenfall werden weiterhin nationale Wertpapiere in den starken Ländern gekauft, während es in den schwächeren Ländern zur Kapitalflucht käme. Und „safe assets“ würden ebenfalls nicht geschaffen, denn ein Ausfallrisiko besteht weiterhin. Es bliebe aber der Vorteil einer geringeren Liquiditätsprämie, weil ein großer Markt für diese Anleihen entstünde. Angenommen diese Liquiditätsprämie würde gegenüber nationalen Anleihemärkten um 20 Basispunkte absinken, weil der neue Anleihemarkt schwerer wäre, so könnten sich Land A und Land B diese Prämie aufteilen und beide somit einen marginal niedrigeren Zinssatz als zuvor zahlen, im Beispielsfall wären das 1,9 % für Land A und 3,9 % für Land B. Diese Konstruktion von Eurobonds würde rechtlich keine großen Probleme bereiten. Da keine Transferleistungen an dritte Staaten geleistet und keine Haftungsrisiken übernommen würden, sind sie verfassungsrechtlich unproblematisch. Sie würden auch nicht gegen Art. 125 AEUV verstoßen. 2. „Red bonds“ und „blue bonds“ mit gesamtschuldnerischer Haftung der Euro-Mitgliedstaaten für die blue bonds Dieses Modell – ursprünglich von Jacques Delpla und von Jakob v. Weizsäcker23) vorgeschlagen – sieht vor, alle Staatsanleihen in zwei Kategorien aufzuspalten und diese zu priorisieren: In solche, die nach menschlichem Ermessen sicher sind und vorrangig bedient werden („blue bonds“), und in nachrangige, risikobehaftete Anleihen („red bonds“), die bei einer Staatsinsolvenz Gegenstand von Umschuldungen und einem Schuldenerlass sein können. Für die „blue bonds“ bürgen alle Mitgliedstaaten gemein23)

Delpla/v. Weizsäcker, Bruegel Policy Brief 2010/03.

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sam. Die „red bonds“ bleiben national. Wie ist dieses Modell wirtschaftlich und rechtlich zu beurteilen? Für jedes Land wäre zunächst zu bestimmen, welcher Anteil der Staatsschulden unter allen Umständen und unabhängig von Wirtschaftslage und Zinssatz bedient werden kann, es sei denn eine nationale Katastrophe – wie etwa eine militärische Invasion – machte dies unmöglich. Solche priorisierten Anleihen könnten vom Schuldner fast ohne Risikoaufschläge begeben werden, selbst wenn sie rein national und nicht vergemeinschaftet wären. Die Haftungsübernahme hätte kaum Wirkungen auf die Zinshöhe. Es käme nicht zu einer Transferleistung von wirtschaftlich stärkeren in wirtschaftlich schwächere Länder über den Zinssatz, anders als bei dem zuerst vorgestellten Modell. Diese Konstruktion würde zugleich mehrere Ziele von Eurobonds fördern: –

Sie schüfe ein stark erweitertes Angebot für „safe assets“. Wenn die Hälfte aller Staatsschulden der Eurozone von über 8 Bio. € in sichere „blue bonds“ umgewandelt werden könnten, wäre dies ein großes Volumen, das für Notenbanken, Versicherungen, Investment- und Pensionsfonds in aller Welt zur Verfügung stünde und die Attraktivität des Euro als Anlage- und Reservewährung stärken würde.



Der Bondmarkt würde schwerer werden und die Liquiditätsprämie sinken.



Eine echte Risikostreuung ist mit dem „blue bond“–„red bond“ Modell jedoch nicht verbunden, weil die Aufspaltung der Staatsschulden in vorrangige und nachrangige Schulden bereits für sich genommen zu den „safe assets“ führt und nicht die gesamtschuldnerische Haftung, die nur den zusätzlichen Effekt hat, für solche katastrophalen Risiken einzustehen und einander Beistand zu leisten, die durch Regierungshandeln weitgehend unbeeinflussbar sind und sehr selten sind. Man mag einwenden, ein opportunistisch handelnder Mitgliedstaat könne sich in einer Finanzkrise regelwidrig verhalten, die eigenen risikobehafteten Anleihen weiterbedienen, wenn dies opportun erscheint und vertragswidrig die Bedienung der vergemeinschafteten Anleihen einstellen. Dies ist immerhin denkmöglich. Es ist aber schwer vorstellbar, welchen praktischen Vorteil ein Land aus solchem Verhalten ziehen kann. Zudem existieren Möglichkeiten, die zur Bedienung der „blue bonds“ nötigen Geldbeträge automatisch aus der Steuerverwal-

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tung eines Mitgliedstaates abfließen zu lassen, ohne dass eine nationale Regierung dies in vertragswidriger Absicht unterbinden könnte. Diese Konstruktion brächte einen weiteren Vorteil mit sich. Sie würde die Zinssätze für nachrangige Bonds ansteigen lassen. Die „blue bonds“ bleiben dann weiterhin risikolos. Das Kreditausfallrisiko konzentriert sich nun auf die „red bonds“. Da im Falle einer Staatsinsolvenz annahmegemäß die Anleger mit einer Streichung der Hälfte der Staatsschulden rechnen, fürchten die Inhaber von „blue bonds“ selbst für diesen Fall keinen Verlust. Die Inhaber von „red bonds“ gehen in dem Fall von einem Totalverlust ihrer Anleihen aus. Der Risikoaufschlag ist dann nicht mehr 2 %, sondern 4 % für die „red bonds“. Der Gesamtbetrag der Zinszahlungen ist daher mit oder ohne Eurobonds dieser Art unverändert, weil das Gesamtrisiko für jeden Staat gleich bleibt. Diese einfache Einsicht, die nur dem Umstand geschuldet ist, dass ein Risiko nicht einfach weggezaubert werden kann zeigt, dass die Vorschläge der Europäischen Kommission, diesen Typ von Eurobonds als Krisenmanagement zur Absenkung der Zinslasten einzusetzen, möglicherweise wirkungslos geblieben wären. Sie gingen nämlich von der Annahme aus, dass die vergemeinschafteten Anleihen („blue bonds“) einen niedrigen, die nicht vergemeinschafteten Anleihen („red bonds“) dagegen den gleichen Zinssatz wie vorher haben würden. Insgesamt würde der Schuldendienst eines in die Finanzkrise geratenen Mitgliedstaates sich vermindern. Diese Annahme ist aber nicht gerechtfertigt. Denn weder verlagert noch vermindert diese Konstruktion ein Risiko. Das hier skizierte Modell wäre gänzlich untauglich gewesen, irgendetwas zur Verminderung des Kreditausfallrisikos in den Krisenstaaten beizutragen. Stabilisierend hätte sich dies nur auswirken können, wenn mit der Einführung von Eurobonds auch die Einbahnspekulation hätte unterbunden werden können. Der Vorschlag, die prioritären und sicheren „blue bonds“ zu vergemeinschaften und die nachrangigen, unsicheren „red bonds“ in nationaler Verantwortlichkeit zu belassen, hätte einen weiteren geldpolitischen Vorteil. Die Europäische Notenbank könnte sich bei ihren An- und Verkäufen von Anleihen auf dem Sekundärmarkt zur geldpolitischen Steuerung von Zinsen und Geldmenge auf die „blue bonds“ beschränken. Dies würde ihre Unabhängigkeit unterstreichen und signalisieren. Denn sie entginge dann jeder Unterstellung, sie kaufte Anleihen nicht aus geldpolitischen Grün-

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den, sondern um Krisenstaaten fiskalpolitisch zu entlasten. Das Risiko der Bedienung der „red bonds“ läge eindeutig, und für Kreditgeber und Finanzmärkte klar ersichtlich, beim Schuldnerstaat. Es sei angefügt, dass sich an dem Befund über die Gesamtwirkungen dieser Aufspaltung der Gesamtschulden in sichere „blue bonds“ und unsichere „red bonds“ nichts wesentlich ändert, wenn statt der gesamtschuldnerischen eine pro rata Haftung eingeführt würde. Denn die „blue bonds“ sind nicht wegen der gesamtschuldnerischen Haftung sicher, sondern weil sie denjenigen Bestand an priorisierten Staatsschulden ausmachen, den das Land in jedem Fall bedienen kann, abgesehen von ganz unsicheren, katastrophalen Ereignissen. Die gesamtschuldnerische Haftung würde am Risiko dieser Anleihen nichts Wesentliches ändern, wohl aber den Charakter der Währungsunion als eine auf Dauer angelegte Schicksalsgemeinschaft unterstreichen. 3. „Red bonds“ und „blue bonds“ mit Vergemeinschaftung der „red bonds“ Eine weitere Variante von Eurobonds bestünde darin, den mit Sicherheit bedienbaren Anteil der Staatsschulden nicht zu vergemeinschaften und den risikobehafteten Anteil mit einer gesamtschuldnerischen Haftung auszustatten. Die „blue bonds“ blieben dann nationale Staatsanleihen, die „red bonds“ würden vergemeinschaftet. Welchen Einfluss hätte dieses Modell auf die oben beschriebenen Ziele der Schaffung von „safe assets“, der Absenkung der Liquiditätsprämie, des Vermeidens einer Kapitalflucht im Fall einer Krise? Bei dieser Lösung würde die gesamte Staatsschuld in „safe assets“ verwandelt, die nationalen „blue bonds“ wegen ihrer Priorisierung und die „red bonds“ wegen der gemeinsamen Haftung aller Mitgliedstaaten. Der vergemeinschaftete Teil der Schulden wäre aber kleiner als bei der oben vorgestellten umgekehrten Lösung. Legt man für den Umfang der „blue bonds“ z. B. das Maastricht-Kriterium von 60 % des BIP zugrunde, so würde etwa ein Drittel der Schulden vergemeinschaftet, weil die gesamte Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten der Eurozone rund 90 % beträgt.24) Die Auswirkungen auf den Zinssatz der schwächeren Länder wären sehr ausgeprägt. Denn diese zahlten dann für die sicheren, nationalen „blue bonds“ einen Zinssatz ohne Risikozuschlag und für die vergemeinschafte24)

Quelle: Europäische Zentralbank. Die Quote betrug Ende 2014 90,9 %.

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ten „red bonds“ ebenfalls einen reduzierten Zinssatz, dessen Risikoaufschlag sich danach bemisst, wie die Finanzmärkte im Falle der Staatsinsolvenz eines oder mehrerer Mitgliedstaaten die Fähigkeit und faktische Bereitschaft der übrigen Staaten einschätzen, ihren Verpflichtungen aus der Haftungsübernahme tatsächlich nachzukommen. Dieses Modell würde somit den Schuldendienst der schwächeren Länder erheblich absinken lassen. Die Kehrseite dieses Vorschlags liegt aber ebenso auf der Hand. Die Risiken aus der gesamtschuldnerischen Haftung wären enorm. Denn die Haftung erstreckte sich nicht auf die vorrangigen „blue bonds“, sondern auf die nachrangigen „red bonds“. Eine die Leistungskraft eines schwächeren Mitgliedstaates übersteigende Schuldenerhöhung hätte keinen Einfluss mehr auf dessen Zinsniveau. Die Ausweitung der Schulden könnte nur durch effektive rechtliche oder politische Mechanismen verhindert werden. Stärkere Länder müssten alles daransetzen, ein zentrales Schuldenregime durchzusetzen, etwa indem die Entscheidung zur Aufnahme neuer Schulden und deren Zuteilung auf einzelne Mitgliedstaaten den nationalen Parlamenten gänzlich entzogen und auf eine europäische Ebene gehoben würde und alle Umgehungsmöglichkeiten, sich dem zu entziehen, effektiv beseitigt würden. Dies wäre ein weitgehender Verzicht auf finanzielle nationale Souveränität und müsste daher einhergehen mit grundlegenden Änderungen der Rolle des Europäischen Parlaments, der Kommission, der Eurogruppe und der nationalen Verfassungen. Dafür sind die politischen Voraussetzungen nicht gegeben und nicht in Sicht. Ohne eiserne zentrale Kontrollen, welche die autonome Aufnahme neuer nationaler Staatskredite unmöglich machen, kann aber kein Mitgliedstaat die Risiken von Bürgschaften für „red bonds“ in astronomischer Höhe übernehmen. Auch der Vorschlag des Sachverständigenrats unter Federführung von Weder Di Mauro, einen Schuldentilgungsfonds der Eurozone einzurichten, in den alle über 60 % des BIP liegenden Schulden der Mitgliedstaaten eingebracht und von diesen verbürgt werden sollten, ist diesem Einwand ausgesetzt.25) Dieser Kritik steht auch nicht entgegen, dass es sich nur um eine – immerhin auf Jahrzehnte angelegte – „Brückenfinanzierung“ handeln und die Tilgung der verbürgten „red bonds“ in 25 Jahren abgeschlossen sein soll. Derartige Vorschläge setzen einen futuristisch anmutenden Umbau der binnenstaat25)

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Der Europäische Schuldentilgungsplan, Fragen und Antworten, abrufbar unter: http:// www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/publikationen/ arbeitspapier_01_2012.pdf (Abrufdatum: 26.11.2015).

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lichen Verfassungen und europäischen Institutionen voraus, für den auf absehbare Zeit die Voraussetzungen fehlen und nicht geschaffen werden können. 4. Laufzeitverkürzungen (Eurobills) als Instrument gegen absprachewidrige Staatsschuldenausweitung Insbesondere Hellwig und Philippon haben vorgeschlagen, den „moral hazard“ der einzelnen Mitgliedstaaten durch kurze Laufzeiten der vergemeinschafteten Schulden einzudämmen.26) Eine wirksame Sanktion gegen „moral hazard“ besteht darin, den betreffenden Staat bei einer Laufzeiterneuerung vergemeinschafteter Kredite nicht mehr zu berücksichtigen, ihn von der Haftungsübernahme in Zukunft auszuschließen, so dass er die Umschichtung fälliger Schulden allein und ohne Solidarhaftung realisieren muss. Bei zehnjährigen Anleihen kann zwischen dem Verstoß gegen die Vereinbarung und der Sanktion ein langer Zeitraum liegen. Je kürzer dieser Zeitraum ist, umso kleiner wird das Zeitfenster für opportunistisches Verhalten. Dies spricht dafür, vergemeinschaftete Schulden mit geringeren Laufzeiten auszustatten, als dies bei nationalen Staatsanleihen üblich ist. Hellwig und Philippon schlagen vor, die vergemeinschafteten Schulden mit einer Laufzeit von bis zu einem Jahr (Eurobills) auszustatten und sie jeweils kurzfristig zu revolvieren. Hält ein Land sich nicht an Vereinbarungen, die übrigen Staatsschulden nicht oder nur in einem konsentierten Rahmen auszuweiten, folgt die Sanktion spätestens in wenigen Monaten durch Nichtbeteiligung dieses Staates an der Umschichtung verbürgter Kredite. In verkürzten Laufzeiten kann daher ein weiteres Instrument gesehen werden, das „moral hazard“ Problem einzudämmen. IV. Fazit Als Instrument zur Überwindung der Eurokrise waren Eurobonds nicht geeignet, weil sie mitten in der Krise einen gewaltigen Umbau der Europäischen Institutionen sowie nationaler Verfassungen erforderlich gemacht hätten. Da dafür sogar in einigen Ländern ein Referendum nötig gewesen wäre, hätte das Krisenmanagement bei den nationalen Parlamenten und sogar auf den Schultern des Wahlvolks in einigen Mitgliedstaaten gelegen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Eurobonds jenseits des Krisenmana26)

Hellwig/Philippon, VoxEU.org, v. 2.12.2011.

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gements keine Vorteile für alle Mitgliedstaaten mit sich brächten – im Gegenteil. Wegen der Notenbankverfassung der Eurozone kann die Notenbank nicht aus fiskalischen Gründen beliebig Anleihen eines hoch verschuldeten Landes aufkaufen und damit das Ausfallrisiko ausschalten wie in den USA, dem Vereinigten Königreich oder Japan. Internationale Anleger wie Notenbanken oder Pensionsfonds haben aber ein großes Interesse an „safe assets“ ohne Ausfallrisiko. Verbürgte Anleihen würden die Nachfrage international erhöhen und den Euro als Reservewährung stärken. Sie würden zudem die nationale Begrenztheit der europäischen Bondmärkte beenden und eine dämpfende Wirkung auf die Höhe der Liquiditätsprämie ausüben. Dies wäre ein Vorteil für die Herausgeber der Anleihen. Außerdem verursachen Eurobonds bei einer Aufspaltung aller Staatsschulden in sichere „blue bonds“ und unsichere „red bonds“ einen Stabilisierungseffekt in der Krise, weil Anleger in Krisenstaaten keinen Anreiz mehr zur Kapitalflucht haben, sondern im eigenen Land ihr Kapital sicher anlegen können. Die Garantiestaaten können die Risiken der blue bonds sehr gering halten, wenn die Beteiligung jedes Staates an diesem Programm auf jene Kredithöhe begrenzt bleibt, für die er ordnungsgemäß selbst in einer schweren wirtschaftlichen Krise den Schuldendienst leisten kann. Als Instrument der Risikostreuung und der gegenseitigen Hilfeleistung eignen sich Eurobonds dagegen wenig. Ob Eurobonds nachhaltig in einer Währungsunion souveräner und demokratischer Mitgliedstaaten eingeführt werden und ihre Vorteile verwirklicht werden können, hängt entscheidend von der Frage ab, ob das damit verbundene „moral hazard“ Problem lösbar ist. Dazu kommt es nicht zuletzt auf die rechtliche Ausgestaltung der Eurobonds an.

Risikoteilungen bei Vertragsschluss ERICH SCHANZE Inhaltsübersicht I. Scherz und Ernst in contrahendo II. Reziprozität bei Aufklärungsprozessen III. Risiko und Risikoteilung vor und nach Vertragsschluss IV. Jherings Probleme und die „Sensibilisierung“ des Vertragsrechts im 20. Jahrhundert

V.

Metaphern unserer Vertragsvorstellungen und die Spaltungen des Vertragsrechts VI. Rückkehr zur Formalität im Wirtschaftsvertragsrecht

I. Scherz und Ernst in contrahendo Doktrinen und mit ihnen verbundene herrschende Meinungen neigen im deutschen bürgerlichen Recht zum Ernst. So statuiert bspw. § 118 BGB explizit, dass Scherzerklärungen nichtig sind, was für sich genommen bereits nachdenklich macht. Gleichsam als Zugabe findet sich unter Berufung auf die h. M. die den Wortlaut des Gesetzes einschränkende Kommentierung, dass derjenige, der eine Willenserklärung in der Erwartung abgibt, der Mangel der Ernstlichkeit werde nicht verkannt, vorsichtig sein muss.1) Erkenne nämlich die oder der Unernste, dass der (augenscheinlich nicht sonderlich helle) Erklärungsgegner den Scherz ernst genommen habe, so könne sie oder er sich nicht auf die Nichtigkeitsfolge des § 118 BGB berufen. Dies folge aus § 242 BGB – eine Art Konsumentenschutz qua Aufklärungspflicht gegen augenzwinkernde Bemerkungen. Dass es jenseits des § 118 BGB und seiner Kommentierung auch ernsthafte Probleme der Ernsthaftigkeit von Bindungen im wirtschaftsrechtlichen Verkehr gibt, ist Gegenstand dieser Zeilen für Johannes Köndgen. Er hat diesem Themenkreis vor 35 Jahren seine Habilitationsschrift gewidmet.2)

1) 2)

Ellenberger in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 118, 2) unter Bezug auf Larenz/Wolf/ Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 10. Aufl. 2012, S. 450. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981.

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Humor scheint eher eine Sache des Common Law zu sein. Jeder, der sich mit dem großen „Rechtskreis“ beschäftigt, kennt eine Reihe von Leitentscheidungen im Vertragsrecht, die Heiterkeit im Unterricht auslösen. Der Fall Carlill v. Carbolic Smoke Ball von 1892 gehört ganz an die Spitze.3) Man findet ihn mit und ohne Bebilderung der legendären Zeitungsanzeige in praktisch jedem wichtigen Case Book.4) Er ist zudem ein Musterbeispiel effektiven Rechtsschutzes. Zum Höhepunkt des britischen Empire war es augenscheinlich möglich, eine Klage beim High Court in London Ende Februar einzureichen und trotz Berufung der beklagten Company noch im selben Jahr eine Entscheidung des Court of Appeal zu erlangen. Um sich gegen Grippe zu schützen, hatte Elizabeth Carlill im November 1891 einen nicht ganz billigen „carbolic smoke ball“ gekauft und damit inhaliert. Im Januar 1892 erkrankte sie trotz vorschriftsgemäßer Anwendung. In Zeitungsanzeigen hatte der Hersteller erklärt, dass jeder, der bei zweiwöchiger, täglich dreimaliger Benutzung des patentierten Rauchballs an Grippe erkranke, eine „Belohnung“ von 100 Pfund Sterling erhalte, nach heutiger Kaufkraft immerhin fast 15.000 €. Der Ehemann von Frau Carlill reichte nach zwei erfolglosen Zahlungsaufforderungen Klage ein. Beide Instanzen sprachen dem Kläger den Betrag zu. In einer brillanten Studie über „Quackery and Contract Law“ hat Brian Simpson alle historisch verfügbaren Details des Falles aufgearbeitet.5) Frederick Roe, der hinter der Carbolic Smoke Ball Company stand und tatsächlich ein Patent auf den wundersamen Rauchball erhalten hatte, vertrieb den Artikel mit aggressiver Werbung. Er konnte zwar selbst nach der Niederlage vor Gericht, vor dem ihn kein Geringerer als der spätere Premierminister Lord Asquith vertrat, 1893 noch eine neue Limited Company gründen. Aber auch diese musste er noch im selben Jahr liquidieren. Die Entscheidung betrifft nach heutigem Verständnis im Kern eine wirtschaftsrechtliche Sanktion gegen Quacksalberei und damit verbundene unlautere Werbemaßnahmen. 1892 wurde sie als Geburtsstunde des „unilateral contract“ im Common Law und sogar als Bestätigung der Willens-

3) 4)

5)

Court of Appeal, December 7th, 1892 – [1893] 1 QB 256 (Carlill v. Carbolic Smoke Ball Company). Beste Darstellung der Anzeigen bei A. W. Brian Simpson, Quackery and Contract Law: The Case of the Carbolic Smoke Ball, Journal of Legal Studies 14 (1985), 345, 357, 372. A. W. Brian Simpson, Journal of Legal Studies 14 (1985), 345, 357, 372.

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doktrin für rechtsgeschäftliche Verpflichtungen verstanden.6) Ja, das schottische Recht notiert noch heute am Beispiel der Entscheidung die „Enge“ des Bargaining-Prinzips im englischen Recht und verweist nicht ohne Stolz darauf, dass bereits die „institutional writers“ die „pollicitatio“, das einseitig bindende Leistungsversprechen, gekannt hätten.7) In der bürgerlich-rechtlichen Prüfung im deutschen Staatsexamen würden sich also wahrscheinlich die Kandidaten im Auslobungsrecht tummeln. Die eine oder der andere würde auch an Produzentenhaftung denken. Sondergesetze könnten diskutiert werden. Oder geht es vielleicht sogar um „Selbstbindung ohne Vertrag“?8) 1929 entschied das Oberste Gericht von New Hampshire die Sache Hawkins v. McGhee.9) Mit diesem tragisch-komischen Fall beginnt das erfolgreichste Vertragsrechts-Lehrbuch der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, „Basic Contract Law“ von Lon L. Fuller und Robert Braucher.10) Lon Fuller hatte ein verschmitztes Lächeln eines auf dem Planwagen geborenen Texaners im Gesicht, als er die „facts of the case“ des „hairy hand case“ sokratisch unter den Studenten seines Kurses ausforschte. „Trial by jury, breach of warranty“. Ein Junge hatte sich vor neun Jahren an einem Stromkabel die Hand verbrannt. Bei der Beratung zu einer restaurativen Hauttransplantation hatte der Chirurg selbstsicher erklärt: „Ich garantiere, das gibt wieder eine hundertprozentig perfekte Hand […]“ Nach der Operation war die Hand dicht mit Haaren bewachsen. Gegen den Schadensersatzanspruch wandte der Chirurg erfolglos ein, er habe dem Patienten bei der Aufklärung nur Mut gemacht, nicht dagegen eine rechtlich verbindliche Erklärung abgeben wollen. Beiden Entscheidungen scheint der rostige Charme längst vergangener Zeiten anzuhaften. Die Familie Carlill könnte jedoch auch noch heute Opfer der Werbeblöcke vor den Abendnachrichten des öffentlich-rechtlichen

6) 7)

8) 9) 10)

A. W. Brian Simpson, Journal of Legal Studies 14 (1985), 345, 375 f. m. w. N. Thomas B. Smith, Pollicitatio – Promise and Offer, in: Thomas B. Smith (Ed.), Studies Critical and Comparative 1962, p. 168–182, insbesondere p. 178 f.; zur Möglichkeit eines einseitigen Leistungsversprechens jüngstens: The Supreme Court, March 11th, 2015 – [2015] UKSC 13 (Carlyle v. Royal Bank of Scotland), Lord Hodge, unter No. 35; für den freundlichen Hinweis danke ich meinem Kollegen Hector MacQueen, Edinburgh. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981. New Hampshire Supreme Court, June 4th, 1929 – 84 N.H. 114, 146 A. 641 (Hawkins v. McGee). Lon L. Fuller/Robert Braucher, Basic Contract Law [rev. ed.] 1964, 1.

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Fernsehens werden. Dort werden Grippefreiheit und ewiges Leben versprochen. Der Dilettantismus von Dr. McGhee aus New Hampshire wiederholt sich zur Freude der Anwaltschaft und der Versicherungswirtschaft weltweit in der Großindustrie der plastischen Chirurgie. II. Reziprozität bei Aufklärungsprozessen Mehr aktuelle Prominenz als Karbol-Rauchbälle und haarige Hände mögen in unserer Welt des schnellen Geldes enttäuschte Anlegererwartungen haben. Sie beschäftigen in verschiedenen Variationen einige Zivilsenate des Bundesgerichtshofs. Unter Verweis auf eine Vorentscheidung des XI. Zivilsenats von 200911) entschied am 27. November 2014 der III. Zivilsenat, dass ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen eine vorsätzliche Pflichtverletzung begeht, wenn es in Kenntnis seiner Verpflichtung zur Aufklärung gleichwohl unterlassen hat, seine Mitarbeiter anzuweisen, die Kunden über Beteiligungsverhältnisse, Provisionsvereinbarungen und stark eingeschränkte Fungibilität von Aktien einer Anlagegesellschaft wahrheitsgemäß zu informieren.12) In einer anderen Entscheidung vom 20. Januar 2015 hatte der XI. Zivilsenat über die Aufklärungspflichten bei einem Cross-Currency-Swap-Vertrag zu befinden.13) Ein „damals 48 Jahre alter Geschäftsmann“, der bereits zuvor Währungsgeschäfte getätigt hatte, rechnete mit einem steigenden Kurs der türkischen Lira gegenüber dem Schweizer Franken. Nach Überlassung von Unterlagen und Beratungsgesprächen kam es zu einem entsprechenden Swap-Vertrag unter Darlehnsaufnahme. Das Geschäft war sehr verlustreich. Nach dreieinhalbjähriger Verfahrensdauer bestätigt der Senat die beiden Vorentscheidungen, die Schadensersatzforderungen wegen fehlerhafter Beratung ablehnten. Mit einem breiten Rechtsprechungsreferat arbeitet der Bankrechtssenat inzwischen routinemäßig, sozusagen mit im „copy-paste-Verfahren“ eingesetzten „Begründungsbausteinen“, die in den Einzelfällen unwesentlich variiert werden und dann textgleich in den Kommentierungen übernommen werden können. Der Senat gliedert im Dreischritt nach „allgemeinen Aus-

11) 12) 13)

BGH, Urt. v. 12.5.2009 – XI ZR 586/07, XI ZR 510/07, NJW 2009, 2298 = ZIP 2009, 1264. BGH, Beschl. v. 27.11.2014 – III ZR 294/13, AG 2015, 122 = ZIP 2015, 229. BGH, Urt. v. 20.1.2015 – XI ZR 316/13, AG 2015, 314 = ZIP 2015, 572.

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führungen zur Beratungspflicht“, der „subjektiven Qualifikation des Anlegers“ und der sog. „objektgerechten Beratung“. Unter dem zentralen ersten Punkt stellt das Gericht die Risikoverteilung des Geschäfts leitsatzmäßig dar. „Inhalt und Umfang der Beratungspflichten hängen […] von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich sind einerseits der Wissensstand, die Risikobereitschaft und das Anlageziel des Kunden und andererseits die allgemeinen Risiken, wie etwa Konjunkturlage und die Entwicklung des Kapitalmarktes, sowie spezielle Risiken, die sich aus den Besonderheiten des Anlageobjekts ergeben.“14)

Der Aufklärungspflicht sei genügt, wenn die Bewertung und Empfehlung aus einer ex-ante Sicht vertretbar sei. Jenseits des allgemeinen Lebensrisikos statuiert die Rechtsprechung immer dann Aufklärungspflichten, wenn von einer Seite innerhalb und außerhalb von Verträgen eine besondere Sachkompetenz zu erwarten ist. Johannes Köndgen hat dies 1981 in die Rubrik der „Rollenerwartungen“ eingeordnet, die nach seiner Deutung das Grundmotiv einer „Selbstverpflichtung“ außerhalb eines formalen Konsenses im Rechtsverkehr darstellen.15) Wo Aufklärungspflichten nicht ohne weiteres passen, arbeitet die Rechtsprechung mit Dokumentationspflichten und den damit verbundenen Darlegungs- und Beweiserleichterungen. Auch dies könnte man aus einem standardisierenden Rollenkonzept begründen. Weder bei Mrs. Carlill noch bei dem Opfer des Chirurgen haben wir genauer auf die Eigenschaften und Erwartungen der Gegenseite geschaut. Jedoch erhält die „Gegenrolle“, namentlich die in ihr anzutreffende Sachkompetenz und Risikohaltung, bei der modernen Anlagerechtsprechung mit gutem Grund Gewicht. Entscheidend war dort, dass es sich um einen 48-jährigen, in komplexen Anlagegeschäften erfahrenen Geschäftsmann handelte. Bei ihm verändert sich – wie sollte es auch anders sein – die „anlegergerechte“ Beratung. Rollenerwartungen, so lehrt uns das letzte Beispiel, sind „reziprok“. Es geht also wahrscheinlich gar nicht um die Festlegung von „Aufklärungspflichten“, sondern um die Standardisierung eines zureichenden Verständigungsprozesses über die Risiken zwischen den Parteien. Dies bestätigt eine für die juristische Dogmatik noch nicht ganz selbstverständlich gewordene Einsicht, die für die ökonomische Analyse von Institutionen 14) 15)

BGH, Urt. v. 20.1.2015 – XI ZR 316/13, AG 2015, 314, 315 = ZIP 2015, 572. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 192 ff.

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grundlegend ist. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Ronald H. Coase hat gezeigt, dass „einseitige“ Kriterien, wie die adäquate Kausalität oder Sorglosigkeit unseres Handelns volkswirtschaftlich sinnvolle Zurechnungsprozesse nicht hinreichend erklären.16) Vielmehr sind Haftungsprobleme nur dann in ihren Wirkungen verständlich, wenn man „Schädiger“ und „Geschädigte“ nicht a limine mit Vorurteilen festlegt, sondern die Handlungsoptionen der relevanten Parteien in ihrem reziproken Verhältnis betrachtet. III. Risiko und Risikoteilung vor und nach Vertragsschluss Man kann diesen Gedanken auch anders übersetzen und für unseren Problemzusammenhang der Risikotragung in der vorvertraglichen Phase präzisieren: Vor jedem Vertragsschluss gibt es (teilweise sehr explizite) implizite Verträge. Diese Abstimmungen, die nicht mit Vorverträgen zu verwechseln sind, betreffen bspw. die Ernsthaftigkeit, den Formbedarf, die Verifizierung von möglichen Vertragsinhalten und Kompetenzen der Gegenseite, und vielgestaltige Kostenaspekte der Verhandlungsphase. Für viele dieser Abstimmungen gibt es im Wirtschaftsverkehr inzwischen Standardroutinen oder sogar Formulare. Sie formalisieren und kanalisieren die wechselseitigen Erwartungen und Risiken. Wir sollten uns daran gewöhnen, beim Stichwort „Vertragsrecht“ nicht mehr an den Kauf der Chinavase zu denken. Und selbst hier könnten mit gutem Grund erhebliche Aufwendungen durch die Einschaltung von Experten entstehen. Vielmehr geht es heute bei Vertragsschließungsprozessen bspw. um M&A-Transaktionen, Projektverträge oder Zulieferbeziehungen.17)

16)

17)

Ronald H. Coase, The Problem of Social Cost, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1; in deutscher Sprache veröffentlicht in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts (1978), 2. Aufl. 1992, S. 129 – 183. Das für Köndgen zentrale Thema der „Reziprozität“ (Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 233 ff.) ist für ihn ein rollensoziologisches Problem der „Hintergrundserwartungen“ aufgrund einer das Schuldrecht umspannenden „materialen Austauschethik“, dient jedoch ersichtlich nicht einer Überprüfung jeder Haftungszuordnung im Lichte möglicher Aushandlungsprozesse i. S. der methodischen Überlegungen von Coase. Für Zulieferbeziehungen der Automobilindustrie vgl. Baiguo Jiang, Symbiotische Rechtsstrukturen in der chinesischen Automobilindustrie, 2007; Luis G. Salgado, Die Modulproduktion in der Automobilindustrie, 2008. Für Finanzierungsverträge: Sester, Projektfinanzierungsvereinbarungen als Gestaltungs- und Regulierungsaufgabe, 2004.

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Was die geschützten Erwartungen betrifft, stehen die genannten vorvertraglichen Abstimmungen jedoch nicht selten unter einem Generalvorbehalt der Unverbindlichkeit. Sie unterscheiden sich insoweit grundlegend vom geschlossenen Vertrag. Geschlossene Verträge ermöglichen die Umwandlung von Unsicherheit in Risiko. Der Schutz der Vertragserwartungen dient der Ermöglichung von sicherer Zukunftsplanung, von Kredit und beherrschbarer Risikoteilung. Scheitert der Vertrag, so geht es um Abwicklung. Die angeordneten Rechtsfolgen haben Reparatur- und Sanktionsfunktionen. In der Verhandlungsphase dagegen geht es um Offenhaltung von Optionen der Parteien in einer Wettbewerbsumgebung. Es geht um Gestaltung vernünftiger Zukunft, um den Transfer von Gütern in die richtigen Hände. Dies bedeutet, dass, so schmerzhaft dies sein mag, vor Vertragsschluss Enttäuschungen der Gegenseite möglich bleiben müssen. Dieses vorvertragliche Enttäuschungsrisiko bedarf, ebenso wie das Risiko des Vertragsscheiterns, einer klaren rechtlichen Regelung. Die einschlägigen Regeln müssen die Frage vorstrukturieren und beantworten, unter welchen qualifizierten Umständen und in welchem Ausmaß verkehrswidriges schädigendes Verhalten in contrahendo sanktioniert werden sollte. Ist hierzu im bürgerlichen Schuldrecht eine „dritte Spur“ zwischen Deliktsrecht und Vertragsrecht erforderlich?18) Johannes Köndgen hat dies 1981 mit dem Argument verneint, dass es wohl eher um ein als fallend gedachtes „Kontinuum der Haftungen“ zwischen Vertrag und Delikt gehe.19) Die hier vorgestellte strukturelle Differenzierung zwischen einer Risikoteilung vor und im Vertrag spricht gegen ein derartiges Kontinuum. Aber sie begründet auch nicht die von Canaris im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz durchgesetzte Extension der vertraglichen Fahrlässigkeitshaftung auf „rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse“.20) Die heutige gesetzliche Regelung in § 311 BGB planiert mit einem einheitlich zu haftungsfreundlich angesetzten Verschuldensmaßstab ohne weitere Konkretisierung die verschiedenartigen spannungsreichen Probleme im Verhand18)

19) 20)

Ähnlich Principles of European Contract Law (PECL) Art. 2:301 unter pauschalem Bezug auf „good faith“. Derartige Regeln treiben, bei allen guten Intentionen, die ihnen zugrunde liegen mögen, Wirtschaftsparteien in die außergerichtliche Streitschlichtung. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 420. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273.

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lungsstadium. Sie thematisiert insbesondere nicht die reziproken Rollenerwartungen der Parteien in diesem Stadium. Es wundert nicht, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Boden der bewährten Fallgruppen, wie sie vor der Gesetzesänderung entwickelt worden waren, sich besser aufgehoben fühlt und ihre alten Differenzierungen fortführt.21) Selbst wenn diese Fallgruppen in „einseitigen“ Pflichtenkonzepten formuliert sein mögen, reflektieren sie doch durch ihren Wirklichkeitsbezug auf entschiedene Konfliktfälle zwischen den Parteien stets „reziproke“ Rollennormierungen. Wie konnte es zu den bezeichneten legislativen Unsicherheiten in einem Zentralbereich des deutschen Schuldrechts kommen? Hierzu ein Resümee der Karriere der sog. Vertrauenshaftung in den letzten 150 Jahren. IV. Jherings Probleme und die „Sensibilisierung“ des Vertragsrechts im 20. Jahrhundert Die Probleme frustrierter Verhandlungserwartungen begleiten jede Doktrin zum Vertragsschluss.22) Für das Verhandlungsstadium bedarf es juristisch traktabler Konzepte für Fragen der Ernsthaftigkeit und damit verbundener Formerfordernisse, der Täuschung, des Irrtums und des überraschenden Nichtzustandekommens des Vertrages. Beginnen wir vorab mit einem haarsträubenden Streitfall, dessen Entscheidung alle Vorurteile gegen das viel gescholtene liberale Vertragsrecht zu bestätigen scheint. Lon Fuller liebte neben der Sache mit der haarigen Hand auch den in Kentucky entschiedenen Fall Boone v. Coe aus dem Jahre 1913.23) Coe besaß eine wertvolle große Farm in Texas. Im Herbst 1909 schlossen die Parteien aus Kentucky einen mündlichen Pachtvertrag mit einer Laufzeit von 12 Monaten, beginnend mit der Ankunft auf der Farm in Texas. Man sieht vor sich den staubigen Treck der Planwagen, schnaubende Pferde, hört Kinder schreien und Peitschen knallen, und über allem der blutrote Abendhimmel des Wilden Westens: „[… they] would leave their said homes and businesses in Kentucky, and families, horses, and waggons move to defendant’s farm in Texas […] and travelled for a period of 55 days”. 21) 22)

23)

Grüneberg in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 311 Rz. 11, 29 ff. Zum klassischen römischen Recht die subtile Fallstudie von Liebs, A Naive Buyer – Publius Calpurnius Lanarius Seeks Recourse, in: Liebs (Ed.), Summoned to the Roman Courts. Famous Trials from Antiquity, 2012, p. 33 – 42. Court of Appeals of Kentucky, [1913] 153 Ky. 233, 154 S.W. 900 (Boone v. Coe).

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Als der Treck ankam, sagte ihnen der Beklagte, sie könnten wieder heimreisen. Im Prozess bezog er sich auf den eindeutigen Formmangel des Pachtvertrags. Das Berufungsgericht befand bei der weiteren Prüfung von Rechtsbehelfen aus dem Bereich der Equity, dass es zwar richtig sei, dass die Kläger einen erheblichen Schaden erlitten hätten. Jedoch habe der Beklagte keinen Vorteil (benefit) aus der Transaktion gehabt. Er schulde keinen Schadensersatz. In einer Anmerkung zum Fall diskutiert Fuller24) kurz unter Bezug auf das 5. Kapitel der Nikomachischen Ethik den Unterschied zwischen dem Vertrauensschaden und dem Entreicherungsschaden. Er betont, dass Gerichte eher dazu neigten, eine ungerechtfertigte Vermögensverschiebung zu kompensieren als einen Verlust aufgrund von Vertrauen ohne einen Vorteil für die Gegenseite. Bei der spontanen Entscheidung des Falles nach unserem Rechtsgefühl sollten wir vorsichtig sein. Wahrscheinlich wissen wir einfach nicht genug darüber, was zwischen den offenbar verwandten Parteien wirklich geschehen war. Die Wirrungen des deutschen Rechts bei der Risikozurechnung in der vorvertraglichen Phase beginnen mit einem Aufsatz von Rudolf von Jhering aus dem Jahre 1860,25) der mehr zitiert als studiert wird. Er stammt aus Jhering’s „konstruktiver Phase“, der Anwendung seiner „naturhistorischen Methode“, über die sich der Autor nur wenig später lustig machte. Aber der Aufsatz hatte einen im wahrsten Sinne des Wortes blendenden Titel. Und der Autor avancierte wegen seiner späteren Schriften gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur international bewunderten Leitfigur der Interessen24)

25)

Lon L. Fuller/Robert Braucher, Basic Contract Law [rev. ed.] 1964, 42. Er zitiert dort vornehm nicht die umfassende und sehr einflussreiche zweiteilige Studie Lon L. Fuller/ William Perdue, The Reliance Interest in Contract Damages Yale. L.J. 46 (1936) 52 (Teil 1) und 373 (Teil 2). Fuller geht es nicht um eine Planierung von Verhandlungsphase und Vertrag. Vielmehr denkt er vom Rechtsschutz her und weist darauf hin, dass im Vertragsgeschehen Gerichte neben der Gewährung des Erfüllungsinteresses auch einen Schutz des Integritätsinteresses und des Entreicherungsinteresses (Rückgewähr des Geleisteten) erwägen können; dazu und zum Streitstand zu § 284 BGB eingehend Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 2 ff. Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen, JherJb 4 (1861), S. 1. Üblicherweise wurde für die Entstehung des Aufsatzes das Datum 1861 genannt. Das erste Heft erschien jedoch 1860 und wurde dann mit anderen im Jahrbuch mit der Jahreszahl 1861 gebunden. Das genaue Erscheinungsdatum ist von Bedeutung, weil es eine richtige Zuordnung des Aufsatzes in der „methodischen Wende“ Jherings unterstützt. Dazu und zur Methode des Aufsatzes: Schanze, Culpa in contrahendo bei Jhering, Ius commune 7 (1978), S. 326, 333; vgl. auch Ackermann, Fn 24, S. 26 ff.

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jurisprudenz, die in Europa das 20. Jahrhundert dominierte. Der Titel wurde nun zur These, und die führenden Schuldrechtsdogmatiker der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, namentlich Karl Larenz26) und Josef Esser27), transportierten in ungewöhnlicher Einheit die Fama, Jhering sei eine ganz wichtige „juristische Entdeckung“ geglückt. Feierlich erklären beide, ein „rechtsethisches Prinzip“ sei in ein kodifiziertes System eingedrungen und habe sich systembezogen positiviert. Mit bescheidenem Erfolg habe ich 1978 zu zeigen versucht, dass die später herrschende Doktrin eines „Schuldverhältnisses als Organismus“ erst 60 Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes die „culpa in contrahendo“ wirklich „entdeckt“ und sie in ihren Kanon eines allgemeinen schuldrechtlichen Haupt-und Nebenpflichtenkonzepts gemeinsam mit einer extensiven Interpretation des § 242 BGB eingearbeitet hat.28) Man hat diese Entwicklung als „soziale Sensibilisierung des Schuldrechts“ (Franz Wieacker) gerühmt.29) Die Verwischung der Risikozuordnungen vor und im Vertrag ist jedoch nicht frei von Nebenwirkungen. Worum ging es Jhering in dem Aufsatz von 1860? Man muss hierzu sehr genau den Stand der zeitgenössischen Dogmatik kennen. Savigny hatte entgegen der naturrechtlich inspirierten Jurisprudenz des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelehrt, dass „culpa gar nicht allgemein eine causa obliga-

26) 27) 28)

29)

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 412. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, S. 162. Schanze, Culpa in contrahendo bei Jhering, Ius commune 7 (1978), S. 26, passim; zur ideologischen Verwendung in den 30er Jahren vgl. Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht, 1998, S. 131 – 133. Wichtigste programmatische Schrift dieser Periode: Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956. In meiner rechtsvergleichenden Studie „Information Liability – The Allocation of Economic Losses Caused by Misinformation” (LL.M.-Thesis 1969, Harvard Law Library, betreut von John P. Dawson und Lon L. Fuller) folgte ich Wieacker mit der These, das Vertragsgeschehen habe sich mit der gerichtlichen Auferlegung von wechselseitigen Pflichten zur Information „materialisiert“, gleichsam in eine neue Stufe vernünftigen Wirtschaftens erhoben. Mein Resumee auf S. 87: „Courts have lost their passive innocence and have assumed regulatory power over transactions, facilitating them by demanding accurate information. The responsibilities have increased.“ Mir schien dies Ausdruck einer kooperativen Haftungslage im „New Industrial State“(Galbraith). Bei der weiteren Beschäftigung mit Risikoproblemen, Informationskosten sowie näherem Studium Jherings und der Folgen kamen mir Zweifel.

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tionis [sei], wie es der Betrug allerdings ist“.30) In diesem Paradigma stehend versucht nun Jhering an Einzelkonstellationen Ausnahmen zu entwickeln. Er greift dabei Fälle auf, die sein „Princip“, genauer eigentlich: gemeinsame Ausnahmefälle, unterstützen. Die Gliederung entspricht ganz dem methodischen Leitbild der „Konstruktion“. Es gehe zum einen um Probleme der „Unfähigkeit“ des „Subjects“, also der vertragschließenden Partei, oder des „Objects“ (von der Vorstellung her: einem unbrauchbaren oder falschen Kaufobjekt). Zum anderen sei die „Unzuverlässigkeit des contractlichen Willens“ betroffen und zwar sowohl der „Erklärung“ als auch des „Willens selber“.31) Dies ist nicht der Ort, Jherings Neologismen und Fallkonstellationen im Detail zu behandeln. Im Ergebnis zutreffend konstatierten bereits die zeitgenössischen Autoren wenig später, dass der neue Systematisierungsvorschlag wenig hilfreich sei, und alle genannten Probleme inzwischen auch ohne das „Princip“ gelöst seien, ja dass sogar der Autor Zweifel an seiner Theorie geäußert habe.32) Der blumigste Fall, den Jhering hypothetisch diskutiert, war in der Realität kurz nach Erscheinen des Aufsatzes von der Cour de Cassation zu entscheiden.33) Er zeigt gut, wie man dies auch für weitere Konstellationen demonstrieren könnte, dass andere, bereits erprobte juristische Konzepte naheliegender sind. Herr Lizardi, ein lebenslustiger junger Mexikaner aus reichem Hause, hatte den Damen seines Herzens in Paris „pour des sommes considérables“ Schmuck gekauft. Nach Heimatrecht wäre er erst mit 25 volljährig gewesen; er war aber über 21, was nach Ortsrecht ausreichte. Das „unfähige Subject“ wäre nach Jherings Ansicht zum Ersatz des „Vertrauensschadens“ (nämlich des Deliktsschadens für eine Falscherklärung) verpflichtet, weil es schuldhaft unterlassen hatte, die Juweliere über seine fehlende Volljährigkeit zu unterrichten. Die Cour de Cassation entschied schlicht nach Ortsrecht zugunsten der Pariser Juweliere (ebenso Art. 12 EGBGB).

30)

31) 32) 33)

Savigny, System des heutigen Römischen Rechts III, 1840, 245 Note (d) a. E; der Gegenstand war von seinem Schüler Hasse, Die Culpa des römischen Rechts (1815), 2. Aufl. 1838, ausgearbeitet worden. Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen, JherJb 4 (1861), S. 56. Einzelne Nachweise bei Schanze, Culpa in contrahendo bei Jhering, Ius commune 7 (1978), S. 326, 356. Cass. Req. 13. I. 1861, Sirey 1861 (De Lizardi v. Chaise), p. 305.

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Eine andere wichtige Fallkonstellation, die Jhering mit Anwendung der culpa lösen wollte, nämlich die Schadloshaltung des Erklärungsgegners bei Irrtum,34) wurde nach dem Vorschlag Bährs mit der verschuldensfreien Erklärungshaftung des § 122 im BGB gelöst.35) Jherings Aura war dennoch so wirkmächtig, dass ich in meinen Vorlesungsmitschriften vom Sommer 1962 die dubiose Randnotiz finde („122 unterstützt wie 307 die Analogie für c. i. c.“). Die „Neuaufnahme“ der „culpa in contrahendo“ nach Erlass des BGB führt über die Dissertation von Franz Leonhard (1910)36) und den einflussreichen Aufsatz von Heinrich Stoll (1923)37) hin zum „Grundriß“ von Philipp Heck (1929)38), und schließlich als Teil der „dritten Spur“ auch zu C. W. Canaris (1971) und die Schuldrechtsmodernisierung von 2000. Als Parallelprogramm i. R. der Doktrin vom „Schuldverhältnis als Organismus“ sehen wir den Aufstieg der „positiven Vertragsverletzungen“ seit dem Beitrag von Hermann Staub (1904). 1969 hat Eike Schmidt die Beiträge Jherings und Staubs in einem Band zusammengefasst und neu herausgegeben.39) Auch er würdigt sie im Nachwort als „zwei der wichtigsten ‚Entdeckungen‘ auf dem Gebiet des zivilistischen Schuldrechts in den letzten hundert Jahren“.40) Er schreibt weiter, und dies gilt für viele Stellungnahmen der Zeit in allen Lagern: „Den Verfassern des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist es nicht gelungen, Jherings Grundgedanken aufzunehmen und ihn generell Gesetz werden zu lassen. Sie haben die Rechtsfolgen eines Verschuldens beim Vertragsschluss nicht einheitlich geregelt, sondern nur fallweise von Jherings Anregungen Gebrauch gemacht“.41)

34) 35) 36) 37) 38) 39) 40) 41)

Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen, JherJb 4 (1861), S. 73 ff. Bähr, Ueber Irrungen im Contrahiren, JheringsJb 14 (1875), S. 393. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse, 1910. Stoll, Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen, Leipziger Z 1923, 532. Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, S. 124. Schmidt, Culpa in contrahendo von Rudolf von Jhering. Die positiven Vertragsverletzungen von Hermann Staub. Mit einem Nachwort von Eike Schmidt, 1969. Schmidt, Culpa in contrahendo von Rudolf von Jhering. Die positiven Vertragsverletzungen von Hermann Staub, 1969, S. 131. Schmidt, Culpa in contrahendo von Rudolf von Jhering. Die positiven Vertragsverletzungen von Hermann Staub, 1969, S. 132.

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In der Fußnote werden – wie sollte es anders sein – die §§ 122, 179, 307, 309 und 663 BGB zitiert.42) Eike Schmidt bemerkt am Ende seines Nachworts von 1969, dass die Aufsätze von Jhering und Staub „zum Ausgangspunkt für eine im Hinblick auf die enge Schuldrechtsdogmatik des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs geradezu revolutionäre Entwicklung geworden sind.“43)

Diese Feststellung ist schwungvoll und in der Sache sogar richtig. Ob diese Entwicklung für ein transaktionsförderndes Verkehrsrecht günstig war, steht auf einem anderen Blatt. Aber wer wollte schon ernsthaft die Tugenden einer „engen Schuldrechtsdogmatik“ preisen? V. Metaphern unserer Vertragsvorstellungen und die Spaltungen des Vertragsrechts Grant Gilmore hat 1974 den Tod des Vertrages ausgerufen.44) War nicht alles, was die Gerichte behandeln, Konsumentenrecht? Und was hat der Konsumentenvertrag mit seinem „take-it-or-leave-it“ und seinen gesetzlichen Reurechten mit der klassischen Planung in Wirtschaftsverträgen zu tun? Sind diese Regime nicht eher als gesetzliche, deliktsgleiche Verhältnisse zu begreifen? Viele der Beispielsfälle Jherings betreffen heute Konsumentenrecht. Sollten wir heute auf den Gedanken kommen, Zigarren in Bremen zu bestellen,45) so sicher nicht durch einen Boten, der zudem die Zahl verwechselt. Das Irrtumsproblem stellt sich nicht mehr, da man ohne Angabe eines Grundes widerrufen kann. Auch das Transportkostenproblem ist durch Richtlinienrecht geregelt.46) 42)

43) 44) 45) 46)

Schmidt, Culpa in contrahendo von Rudolf von Jhering. Die positiven Vertragsverletzungen von Hermann Staub, 1969, S. 132 n. 4; „wegweisend“ ist für ihn auch der Aufsatz von Dölle über „außergesetzliche Schuldpflichten“ aus dem Jahre 1943 (auf S. 145). Schmidt, Culpa in contrahendo von Rudolf von Jhering. Die positiven Vertragsverletzungen von Hermann Staub, 1969, S. 164. Grant Gilmore, The Death of Contract, 1974; dazu Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 418 ff. Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen, JherJb 4 (1861), S. 4 f. Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Verbraucherrichtlinie), Abl. (EU) Nr. L 304/64 v. 22.11.2011.

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Die im 20. Jahrhundert in Europa vorherrschende Theorie des „Schuldverhältnisses als Organismus“ orientiert sich, jenseits ihrer Affinität zu kollektivistischen Sozialmodellen rechter und linker Provenienz, eher an Konsumentenproblemen. Während in den USA und England sich das Vertragsrecht sichtbar zersplitterte und nur noch einen Grundbestand überwiegend disponibler Regelungen zurückließ, blieb das europäische Modell vorübergehend einheitsstiftend. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte damit zumindest zeitweise in Europa das Schisma zwischen Wirtschaftsverträgen und Konsumentenverträgen verdeckt werden.47) Das Beispielsreservoir – sozusagen die „Basismetaphorik“ des Vertragsrechts – waren ohnehin das Kaufrecht und das klassische Recht der Industriearbeit, zwei Rechtsbereiche, die augenblicklich in die Obsoleszenz abgleiten.48) Die als sozial kalt empfundene Vertragsmechanik wurde durch Inkorporation von Sozialschutz in den AGB-Regeln und in vielen schuldrechtlichen Einzelbereichen, wie bspw. dem Mietrecht, fachlich konsensfähig gehalten. Doch zugleich schwand mit dieser Auffüllung mit zwingendem Recht die Verwendbarkeit des deutschen Vertragsrechts im internationalen Rechtsverkehr.49) Wo nicht, wie im Kapitalmarktrecht, ohnehin sondergesetzliche Regelungen bürgerliches Vertragsrecht weitgehend abgelöst haben, ist kaum zu übersehen, dass Nebenpflichten im „Organismus“ ehrlicher im Deliktsrecht angesiedelt werden. Bananenschalen in Supermärkten, platzende Mineralwasserflaschen und verweste Schnecken im Ginger Ale waren nie sinnvoll im Vertragsrecht aufgehoben.50) Anfänglich zu haftungsfreundliche Fehlkalibrierungen hat es sowohl in England, den USA als auch in Deutschland bei der Entwicklung von Verkehrspflichten in Sonderbeziehungen gegeben. Der Sprung in die Fahrläs47) 48)

49) 50)

Im Sinne einer Trennung: Mertens/Kirchner/Schanze, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1982, S. 103 ff. Zu den Gründen der mangelhaften Orientierungsfähigkeit des normierten „modernen“ Kaufrechts in der Variante des CISG für die aktuelle internationale Streitschlichtungspraxis für Wirtschaftsverträge vgl. Schanze, Dispute Resolution in the Shadow of Uniform Contract Law, in: Baudenbacher (Ed.), International Dispute Resolution, 2010, p. 153; ähnlich zum CESL: Bernstein, An (Un)Common Frame of Reference: An American Perspective on the Jurisprudence of CESL, Common Market L. Rev. 50 (2013), 169. Sester, Projektfinanzierungsvereinbarungen als Gestaltungs- und Regulierungsaufgabe, 2004, zeigt dies im Detail am Beispiel der Finanzierungsverträge. So schon Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 419.

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sigkeitshaftung für reine Vermögensschäden in Nachfolge Jherings ging nicht selten zu weit. Dies hängt mit der Konturenlosigkeit von außervertraglichen Pflichten zur Wahrung der Vermögensinteressen Dritter zusammen.51) Einseitige Vermögensvorteile und Nachteile der Gegenseite sind legitimer Bestandteil einer wettbewerbsbezogenen Verkehrswirtschaft. Ob Vorteile zu „ungerechtfertigten Bereicherungen“ oder Nachteile zu „Schäden“ werden, bedarf qualifizierter Zusatzkriterien. Bei § 826 BGB brauchen wir für den Ersatz von reinen Vermögensschäden nicht ohne Grund das Zusatzkriterium einer über die Widerrechtlichkeit hinausgehenden „Sittenwidrigkeit“, ein Kriterium, das im Rechtsverkehr der Wirtschaftstransaktionen „qualifizierte Verkehrswidrigkeit“ oder „Unterlauterkeit“ bedeutet.52) Man müsste daher jedenfalls auch den Fahrlässigkeitsmaßstab mit dem Kriterium einer qualifizierten Verkehrswidrigkeit auffüllen, bevor man ihn zum Haftungsmaßstab für Vermögensverletzungen erhebt. Zudem ist der Schutzkreis der imputierten Pflichten näher zu bestimmen, vielleicht auch der „benefit“53) der Verpflichteten. Wir sehen deshalb überall Entscheidungsketten, die schließlich engere Kriterien für Sonderbeziehungen formulieren.54) Die Rechtsprechung hat inzwischen überdies begriffen, und zwar sowohl in England als auch in Deutschland, dass eine erweiterte Auslegung des „fraud“ in Richtung des „constructive fraud“ einerseits, anderseits eine Öffnung und Objektivierung des zivilrechtlichen Vorsatzbegriffs in Richtung „Evidenz“ bei der sittenwidrigen Schädigung des § 826 BGB55) für vorvertragliche Enttäuschungen vielfach eindeutigere Haftungskonturen ergibt als eine einzel-

51) 52)

53)

54)

55)

In den Differenzierungen wegweisend: Mertens, Berufshaftung – Haftungsprobleme alter Professionen, VersR 1974, 509. Dazu näher am Beispiel der Gesellschafterhaftung: Schanze, Gesellschafterhaftung für unlautere Einflussnahme nach § 826 BGB: Die Trihotel-Doktrin des BGH, NZG 2007, 681, insbesondere S. 683; allgemein: Wagner in: MünchKomm-BGB, 5. Aufl. 2009, § 826 Rz. 76–147 zu verschiedenen wirtschaftsrechtlichen Problembereichen. Siehe oben den Fall Boone v. Coe; das Element des „benefit“ war auch zentral in der wichtigen englischen Vertragsentscheidung Court of Appeal – [1991] 1 QB 1 (Williams v. Roffey Bros & Nicholls [Contractors] Ltd), die bei einem „factual benefit“ die sog. „pre-exisiting duty doctrine“ bei Nachverhandlungen nicht mehr anwendet. Bis 1981 vgl. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 283 – 417 am Beispiel der verschiedenen Fallgruppen. Ein kurzer instruktiver Gesamtüberblick zur Haftung für „reine“ Vermögensschäden findet sich bei Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, S. 158 – 166. Wagner in: MünchKomm-BGB, 5. Aufl. 2009, § 826 Rz. 76 – 147, an Einzelproblemen.

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fallbezogene Abgrenzung unter der Rubrik „special relationship“ /„Sonderbeziehung“, verbunden mit dem allgemeinen Fahrlässigkeitsstandard. Ist dies eine Erinnerung an Savignys Warnung vor einer allgemeinen reinen culpa-Haftung des usus modernus? Bei allem Respekt vor diesem genialen Schriftsteller, der nicht selten von der Organismus-Jurisprudenz zur liberalen Vogelscheuche stilisiert wurde: Wahrscheinlich müssen wir uns heute doch, statt uns auf Autoritäten zu beziehen, die Mühe machen, Risikokalibrierungen in der vorvertraglichen Phase mit einer intensiveren Erörterung der Anreizwirkungen der jeweiligen Regelung zu begründen, wie es die Rechtsprechung bspw. bei den aktuellen Anlagefällen mit einiger Plausibilität versucht.56) VI. Rückkehr zur Formalität im Wirtschaftsvertragsrecht Die Ersatzansprüche der enttäuschten Farmer aus Kentucky scheiterten an einem altehrwürdigen Gesetz, das hundert Jahre vor den amerikanischen Freiheitskriegen in England erlassen worden war, aber in fast allen U.S.Bundestaaten fortgalt. Die kurzen Artikel des Statute of Frauds von 1677 kannte jeder, fast ebenso wie die zehn Gebote. Dennoch gilt die Formfreiheit gemeinsam mit der freien Gestaltung und allgemeinen Klagbarkeit von Verträgen als eine der säkularen Tendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts.57) Es schien deshalb nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Formen und insbesondere merkwürdige „Seriositätsindizien“58) wie die „consideration“ des Common Law der Vergangenheit angehören würden.59) Seit etwa 30 Jahren registrieren wir eine Wende. Während die tägliche Versorgung an den „points-of-sale“ für Konsumenten mit „no-hassle-policies“ immer form-und geräuschloser gestaltet wird, sehen wir im Wirtschaftsverkehr in fast allen Bereichen eine Tendenz zur erhöhten

56) 57) 58) 59)

Z. B. der Fall BGH, Urt. v. 20.1.2015 – XI ZR 316/13, AG 2015, 314 = ZIP 2015, 572 und die umfangreiche, mit ihm verbundene Rspr. Vgl. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 125 ff. „Abschied vom Formalismus“. Zweigert, Seriositätsbedingungen – Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Scheidung verbindlicher Geschäfte von unverbindlichen, JZ 1964, 349. Kötz/Flessner, Formation, Validity, and Content of Contracts; Contract and Third Parties (Tony Weir, transl.) 1997, p. 52 – 77, die m. E. die Bedeutung der “consideration” unterschätzen. Dass die consideration lebt, zeigt z. B. der bereits in Fn. 53 erwähnte Fall Williams v. Roffey.

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Formalisierung.60) Vertragsschließungsinteressen von Wirtschaftsparteien werden mit der Kontaktaufnahme von Teams begleitet, die professionelle Methoden des Wissensmanagements anwenden.61) Im Hintergrund stehen nicht nur ständig revidierte Sammlungen von Vertragsmustern, sondern auch Check-Lists, Musterprotokolle und zeitgemäße Dokumentationstechnik. Wie bereits erwähnt, ist wichtiger Punkt jedes Verhandlungsprozesses eine Abschätzung der Kosten jeder Partei und Abstimmungen über die Kostentragung bei Abbruch. Die Frage der Vertragsbindung ist im Allgemeinen im Vertrag geregelt. Vorvereinbarungen, die in der Regel als nicht rechtlich bindend erklärt werden, gehören zum Standardrepertoire größerer Vertragsschlüsse. Vereinbarte Formbedürftigkeit ist üblich, wobei die deutsche Doktrin von der Formlosigkeit der Aufhebung der vereinbarten Form international irritiert. Man muss bedenken, dass größere Verträge fast immer vom Zustandekommen von „Hilfsgeschäften“ mit Dritten, z. B. Finanzierungsinstitutionen, Planern, Experten und auch Behörden abhängen. Insoweit ist es naiv, von einer Methodik des „Handschlags“ auszugehen, so sehr auch Rituale, wie bspw. auch die Abzeichnung von Zwischenergebnissen von Verhandlungen, Vertragsschließungen befördern mögen. Diese kurze Beschreibung von Routinen zeigt, wie wenig operationalisierbar allgemeine Theorien über „Vertrauen in die Vertragsgegenseite“ für Haftungsverhältnisse im Verhandlungsstadium sind. Sie demonstriert aber auch, dass Parteien auch in dieser Phase Vorsorge treffen können. Es gibt Coasean bargaining in contrahendo. Bei Sorglosigkeit in diesem Bereich sollten die Parteien nicht erwarten, dass ihnen Gerichte aus Billigkeitserwägungen helfen. Eine der wichtigsten jüngeren englischen Vertragsrechtsentscheidungen vor dem englischen Court of Appeal verdeutlicht das Problem.62) Der schottische Strickwarenproduzent Baird Textiles stand seit 30 Jahren in einer Lieferbeziehung zur Kaufhauskette Marks & Spencer. Die Herbstund Frühjahrsmode wurde im Halbjahres-Rhythmus geordert. Im Herbst

60)

61) 62)

Zu den transaktionsfördernden Tugenden der Formalität aus Sicht der Institutionenökonomik am Beispiel von Notariaten und Registern: Benito Arruñada, Institutional Foundations of Impersonal Exchange, The Theory and Policy of Contractual Registries, 2012. Kurze Übersicht bei Schulz/Klugmann, Wissensmanagement für Anwälte, 2. Aufl. 2006. Court of Appeal – [2001] EWCA Civ 274 (Baird Textiles Holdings Ltd v. Marks & Spencer plc).

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1999 orderte Marks & Spencer keine Frühjahrskollektion mehr und erklärte die Beziehung für beendet. Baird erhob Klage mit dem Vortrag, die Kaufhauskette habe angesichts des bestehenden partnerschaftlichen Verhältnisses die aus ihrer Sicht bestehende Vertragsbeziehung in einer angemessenen Frist kündigen müssen. In der ersten Instanz verneinte der Richter eine Vertragsbeziehung, erlaubte aber Berufung zum Court of Appeal zu den Fragen, ob doch ein „implied contract“ vorliege, oder hier die Doktrin des „estoppel“ anwendbar sei. Beides verneinen die drei Richter in ihren speeches mit sorgfältiger Begründung. Die Kernargumente gehen dahin, dass es auch Baird um Flexibilität der Beziehung gegangen sei,63) und dass es nicht Aufgabe eines Gerichts sei, ex post einen alle Risiken erfassenden Langzeitvertrag zu schreiben.64) Dahinter steht die Erfahrung der aus der Anwaltschaft kommenden Richter, dass die Kautelarpraxis sehr wohl „umbrella agreements“ anbietet. Diese „Formalitäten“ werden in symbiotischen Beziehungen auch routinemäßig verwendet, ja sie sind nach meiner Ansicht deren Geltungsbedingung.65) Johannes Köndgen ruft zum Schluss seiner Studie von 1981 aus: „Es lebe der Vertrag.“66) Seine guten Wünsche hatten Erfolg, vielleicht nicht für „den“ Vertrag als solchen, auch wahrscheinlich nicht für den Vertrag im revidierten Bürgerlichen Gesetzbuch, sondern für eine differenzierte Vertragswelt mit offenbar inzwischen verschiedenen Grundregeln. Das Recht der Wirtschaftsverträge hat sich als Teil des internationalen Wirtschaftsrechts selbständig gemacht und sich grenzüberschreitend professionalisiert. Ob wir es in die Lehrbücher und Kommentierungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch zurückholen können, gehört zu den ernsthaften Fragen der Zukunft des Zivilrechts.

63)

64) 65)

66)

Court of Appeal – [2001] EWCA Civ 274 (Baird Textiles Holdings Ltd v. Marks & Spencer plc): Vice Chancellor Sir Andrew Morritt, unter [14]. Er bestätigt dabei die Auffassung des Richters erster Instanz. Court of Appeal – [2001] EWCA Civ 274 (Baird Textiles Holdings Ltd v. Marks & Spencer plc): Lord Mance, unter [76]. Zu den Rahmenverträgen vgl. Stefanos Mouzas/Michael Furmston, From Contract to Umbrella Agreement, Cambridge L.J. 67 (2008), 37; zum breiteren Konzept symbiotischer Wirtschaftsbeziehungen: Schanze, Symbiotic Arrangements, in: Peter Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, London 1998, vol. 3, p. 554 m. w. N. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, S. 421.

Ein belletristisches Beispiel für testamentarische Bedingungen GOTTFRIED SCHIEMANN Inhaltsübersicht I. II.

Eine Komödie Die moralische Botschaft

III. Die Sicht auf das Recht

Johannes Köndgen hat immer wieder die Grenzen dogmatischer Jurisprudenz überschritten und so gleichsam „von außen“ einen umso schärferen, erhellenden Blick auf das Recht selbst werfen können.1) Dass eine solche Perspektive jenseits der Gesellschaftsanalyse und der wirtschaftstheoretischen Betrachtung mit Gewinn sogar in die Belletristik führen könnte, dafür hat ein so beweglicher Geist wie Richard Posner Grenzen gezeigt.2) Allerdings ist er ein guter Seismograph für die Beliebtheit dieses Weges gerade in der amerikanischen (Rechts-)Literatur. Für Johannes Köndgen wäre freilich ein Beitrag zu „Law and Music“ wohl passender als ein solcher zu „Law and Literature“. Aber nicht nur in Ermangelung der Kompetenz und des Mutes dazu, sondern auch aus Skepsis gegenüber der Ergiebigkeit (abgesehen vom Biographisch-Anekdoti-

1)

2)

So schon Köndgen, Haftpflichtfunktionen und Immaterialschaden am Beispiel von Schmerzensgeld bei Gefährdungshaftung, 1976, insbesondere S. 84 ff. zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Genugtuungsfunktion; vor allem dann: Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, insbesondere S. 163 ff., 174 ff., 192 ff., 240 ff. zu soziologischen Grundlagen des „Selbstbindungskonzeptes“. Vgl. aber auch z. B. die rechtssoziologischen Erwägungen Köndgen, Privatisierung des Rechts, AcP 206 (2006) 477, 588 ff. oder die Rezeption von Ansätzen der Theorie sozialer Interaktion und der Wohlfahrtsökonomie in die Analyse der Geschäftsführung ohne Auftrag in Köndgen, Die Geschäftsführung ohne Auftrag im Wandel der Zeiten – Versuch einer Ehrenrettung, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, S. 371, 380 ff., 385 ff. Richard Posner, Law and Literature: A Misunderstood Relation, 3rd. Ed. 2009.

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schen3) bleibt der Autor des folgenden Essays beim Thema „Recht in der Literatur“.4) Dabei leitet ihn die Hoffnung, wenn schon nicht allzu viel zur Erhellung des Rechts, wenigstens etwas zur Erheiterung des Lesers Johannes Köndgen beizutragen. I. Eine Komödie Die Geschichte, um die es geht, ist einem Angehörigen des Jahrganges 1946 aus Film und Theater gewiss gut in Erinnerung. Dass diese Geschichte etwas mit ethischen Maßstäben für das Recht zu tun haben könnte, ergibt sich schon aus dem Untertitel. Es handelt sich um eine „Komödie im alten Stil über Moral, Versuchung und Belohnung der Tugend“, nämlich um „Das Haus in Montevideo“ von Curt Goetz.5) Der Inhalt dieses Theaterstückes sei kurz in Erinnerung gerufen. In einer deutschen Kleinstadt um 1900 lebt der äußerst tugendhafte Oberlehrer Prof. Dr. Traugott Hermann Nägler mit seiner Frau Marianne und ihren zwölf Kindern. Viele Jahre zuvor hatten Näglers pingelige Moralvorstellungen dazu geführt, dass seine Schwester wegen einer unehelichen Schwangerschaft aus der Familie verstoßen wurde und nach Südamerika auswanderte. Eines Tages überbringt der Pastor den Näglers die Nachricht vom Tod der Schwester und teilt mit, dass eine Erbschaft für Atlanta, die älteste Tochter Traugotts und Mariannes, vorgesehen sei. Auch wenn Nägler zunächst kategorisch ausschließt, dass seine Tochter dieses Erbe antreten könnte, lässt er sich schließlich von Pastor, Bürger3)

4)

5)

Vgl. zu Musikerjuristen einige Beispiele bei Wohlhaupter, Dichterjuristen, Bd. 3, 1957, S. 435 ff. – hinzufügen könnte man aus neuerer Zeit z. B. Dr. jur. Karl Böhm oder die Rechtsreferendarin Hildegard Behrens. Zur „Trivialmusik“ immerhin Ronellenfitsch, Rock & Roll und Recht, 1998. Knappe Bemerkungen auch bei Weber, Recht, Literatur und Musik – Aspekte eines Themas, in: Weber (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 1 ff.; Über ein Symposium „Musik und Recht“ in Zips/Slowakei, veranstaltet von Hans Hattenhauer existiert leider kein Sammelband. Das Folgende beruht auf einem Vortrag, den ich auf dem Symposium für Gerhard Otte zum 80. Geburtstag gehalten habe. Eigene Vorarbeiten: Schiemann, Das carmen malum – Versuch einer Entzauberung, in: FS für Knütel, 2009, S. 1059 ff. und Schiemann, Römische Literatur als rechtsgeschichtliche Quelle, in: Greiner u. a. (Hrsg.), Recht und Literatur, 2010, S. 75 ff., beide anknüpfend an Diederichsen, Das Recht in den Literatursatiren und -episteln von Horaz, in: FS für Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1041 ff. – Literaturwissenschaftlich bemerkenswert zum hier relevanten erbrechtlichen Thema: Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, 2011; dort S. 131 ff. zur Begegnung von Literatur und Rechtswissenschaft. Benutzte Ausgabe: Goetz, Sämtliche Bühnenwerke, 1963, S. 601 – 681.

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meister und Marianne überreden, gemeinsam mit dem Pastor und Atlanta nach Montevideo zu reisen und sich an Ort und Stelle über das Erbe zu informieren. Dort stellt sich heraus: Die Verstorbene hat unter dem Künstlernamen Maria Machado als Sängerin eine Weltkarriere gemacht6) und war zu erheblichem Reichtum gelangt. Sie hat daraus auch eine Stiftung für alleinstehende junge Mädchen und ledige Mütter ins Leben gerufen. Atlanta hat mehrere Immobilien geerbt, über die sie allerdings erst später verfügen kann. Das beträchtliche Barvermögen im Nachlass fließt der Stiftung zu. Das Testament enthält hierzu allerdings folgenden Zusatz: „Sollte jedoch eine Tragödie wie die Meine sich wiederholen am trauten Herde meines tugendhaften Bruders Prof. Dr. Traugott Hermann Nägler, dann natürlich fließt ob genannte Summe dem Opfer einer solchen Katastrophe, nämlich der Mutter des unehelichen Kindes zu. Diese Bestimmung ist begrenzt und läuft ab am 23. Juli nächsten Jahres.“

Bei diesem Datum handelt es sich um den 17. Geburtstag Atlantas. Das Vermächtnis seiner Schwester führt Traugott in große Versuchung, zumal Atlantas Verlobter Herbert unerkannt mitgekommen ist nach Montevideo. Die schlüpfrigen Andeutungen Traugotts gegenüber Herbert bleiben erfolglos. Als Traugott dies und sein eigenes zweideutiges Verhalten einsieht, lässt er sich von Herbert ohrfeigen7) und beschließt auf das Erbe zu verzichten. Zurück in Deutschland ist natürlich die Enttäuschung über das entgangene Barvermögen groß, ebenso aber die Entrüstung über die ungeheuerliche Bedingung des Testaments. Traugotts Entscheidung wird akzeptiert und schließlich werden Heiratsvorbereitungen für Atlanta und Herbert getroffen. Die Hochzeit soll auf dem US-amerikanischen Schiff „Atlanta“ stattfinden, auf dem bereits Traugott und Marianne geheiratet hatten und nach dem sie auch ihre älteste Tochter benannt haben. Aber dies führt zur nächsten Enttäuschung: Sie erfahren, dass das Schiff nach aktueller Vermessung 27 cm zu kurz ist, um noch als Schiff im Rechtssinne zu gelten. Der Kapitän hat daher nicht das Recht, Ehen zu schließen. Es stellt sich heraus, dass aus diesem Grund alle jemals auf der „Atlanta“ geschlossenen Ehen ungültig sind; somit auch die Ehe von Traugott und Marianne. Die Klausel aus dem Testament ist, suggeriert jedenfalls Curt Goetz, hiermit erfüllt. Marianne hat in Traugotts Hause sogar zwölf uneheliche Kinder geboren und großgezogen und ist somit die Erbin des Barvermögens.8) 6) 7) 8)

Darin mag die einzige Parallele dieser fiktiven Person zur realen Hildegard Behrens (siehe oben Fn. 3) liegen. Es liegt nahe, hier an das Freud’sche Überich zu denken, vgl. nur aus Juristensicht Ehrenzweig, Psychoanalytische Rechtswissenschaft, 1973, § 159 m. Fn. 78. Juristisch korrekter wird Marianne insofern (Voraus-)Vermächtnisnehmerin.

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Ich möchte im Folgenden zunächst der Frage nachgehen, welche moralische Botschaft Curt Goetz seinen Zuhörern, Zuschauern und Lesern eigentlich vermitteln möchte. Sodann möchte ich einen Blick auf das Rechtsverständnis werfen, das in dieser Komödie zum Ausdruck kommt und schließlich möchte ich Beides zur Grundlage etwas allgemeinerer Bemerkungen, dann ernsthafterer und rechtlicher Natur, machen. II. Die moralische Botschaft Um dieses Stück, das 1951 in Deutschland uraufgeführt wurde, nachdem es 1945 in New York bereits seine englische Uraufführung gehabt hatte, besser zu verstehen, ist es nützlich, sich die soziale und moralische Umwelt der 50er und 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts – die Kindheits- und Jugendzeit des hier zu Ehrenden wie des freundschaftlich verbundenen Autors – vor Augen zu führen. Das, was in dem Stück als Ereignis einer Zeit vor dem 1. Weltkrieg dargestellt wird, hat insbesondere i. R. einer Renaissance des – wie mir scheint – falsch verstandenen Naturrechts in der Zeit der sog. Restauration der Bundesrepublik Deutschland durchaus Konjunktur gehabt.9) Ich erinnere hier nur an den berüchtigten Entscheid des Bundesgerichtshofs in Strafsachen aus dem Jahre 1954, wonach die Mutter, die ihrer Tochter in der eigenen Wohnung den Geschlechtsverkehr mit ihrem Verlobten erlaubte, wegen Kuppelei bestraft wurde.10) Ein solcher Umgang mit der Sexualmoral erscheint uns heute ganz und gar fremd, kaum weniger der Blick auf die Institution Ehe mit ihrem sittlichen und rechtlichen Monopolanspruch auf Sexualität.11) Dass dies mit dem Thema der letztwilligen Verfügungen etwas zu tun hat, kann man der Rechtsprechung der 50er und 60er Jahre zu den sog. Mätressentestamenten entnehmen.12) Zuwendungen eines Verstorbenen an eine Partnerin, mit der er nicht verheiratet war, wurden bis 1969 vom Bundes-

9) 10) 11)

12)

Vgl. dazu jetzt besonders einlässlich Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, 2013. BGH, Beschl. v. 17.2.1954 – GSSt 3/53, BGHSt 6, 46. Dazu Foljanty Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, 2013, S. 241 ff. m. w. N., insbesondere S. 244 Fn. 76 zu den Rechtsprechungsanalysen. Überblick bei Leipold, Testierfreiheit und Sittenwidrigkeit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Canaris (Hrsg), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. 1, S. 1011 ff.

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gerichtshof als sittenwidrig angesehen.13) Besonders merkwürdig erscheint im Rückblick die seinerzeitige Betrachtung unehelicher Geburt als besonderer Makel. Denn dies stand schon seit 1949 in Widerspruch zum ausdrücklichen Auftrag nach Art. 6 Abs. 5 GG zur Gleichstellung unehelicher Kinder. Aber bekanntlich hat die gesetzgeberische Umsetzung dieses Auftrags insgesamt nahezu 50 Jahre benötigt.14) Zu all dem, was hier nur anzudeuten war, passt der Rigorismus Traugotts gegenüber seiner Schwester und dazu passen auch seine im Stück erlittenen Gewissensqualen einschließlich seines Wunsches zur Selbstbestrafung, die dann Herbert ausführen muss. Allerdings steht Traugott ein wenig allein da; bereits der Pastor rügt auf milde Art den Rigorismus Traugotts. Jedenfalls will die Tante, also die Schwester Traugotts, die man als eigentliche Hauptperson des Stückes hinter der Szene betrachten muss, ihrem Bruder eine Lehre erteilen. Schon auf den ersten Blick erscheint dies freilich moralisch bedenklich, denn das Instrument zur Belehrung Traugotts ist ja dessen Tochter Atlanta.15) Curt Goetz freilich deckt diese Bedenklichkeit zu. Denn konkret geht es nur um die Erfüllung für und durch diejenigen, die die Erfüllung ohnehin, wenn auch nicht unter den Umständen der Unehelichkeit, wünschen. Marianne, also die Mutter, nennt das Testament auf eine sehr treffende Art eine „wundervolle Rache“. Einerseits liegt in der Art der testamentarischen Einsetzung von Atlanta unter der für Traugott desavouierenden Bedingung eine Rache an ihm. Eine Rache wäre weit mehr als die Erteilung einer Lehre und deshalb eindeutig moralisch zu verurteilen.16) Andererseits bezeichnet Marianne diese Rache als „wundervoll“. Man kann sie also doch nicht ganz missbilligen, so wie es etwa „schreckliche Rache“ aus ihrem Munde zum Ausdruck bringen würde. Darin liegt von Seiten Mariannes durchaus eine leichte Ironie gegenüber Traugott. Im Übrigen handelt es sich um eine theatralisch wirkungsvolle Prophetie, denn 13)

14) 15)

16)

Entscheidend für den Wandel war eine neue Beweislastregel, die in Wahrheit die sonst geltende Beweislast wieder herstellte, durch den BGH, Beschl. v. 31.3.1970 – III ZB 23/68, BGHZ 53, 369; anders noch BGH, Urt. v. 17.3.1969 – III ZR 188/65, BGHZ 52, 17, beide m. w. N. zur älteren Rspr. Vollständige Gleichstellung erst durch das KindschaftsreformG v. 16.12.1997, BGBl. I, 2942. Vgl. das berühmte Diktum Kants, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Kants gesammelte Schriften, Akademieausgabe, 1900 ff., Bd. 4, S. 429: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“. Von einem bösen und kleinlichen Geist der Rache (animus malus et pusillus) spricht schon Seneca, De ira (Über den Zorn), 3.43.4.

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das Wunder geht ja gerade für Marianne selbst letztlich in Erfüllung. Vielleicht, damit das Publikum sich nicht allzu sehr moralisch entrüstet, lässt Curt Goetz auch die Möglichkeit einer Umdeutung durchklingen. Der Anwalt der Tante meint gegenüber Traugott: „Es war wohl die Intention der teuren Verstorbenen, im Notfall beizustehen“. Aber dieser Ausweg aus dem moralischen Dilemma wird vom Professor sogleich durchschaut; er antwortet: „Ich glaube die Intentionen der teuren Verstorbenen zu kennen“, worauf der Anwalt erwidert: „Zweifellos, sie war ja Ihre Schwester“. Die Zuschauer und Leser sind wohl durchaus dafür, Traugott möge die Lektion bekommen; er soll sie verdient haben. Darin liegt nun allerdings mehr Schadenfreude gegenüber Traugott als Anerkennung von Moralität bei seiner Schwester. Immerhin ist damit die (ja schon: moralisch) inkriminierte Rache auszuscheiden. Das ergibt sich auch daraus, dass, um Rache zu üben, die schlichte Enterbung des Bruders genügt hätte. Dass die Familie des Bruders in Gestalt seiner ältesten Tochter überhaupt bedacht ist, ist schon als ein Zeichen von Familiensinn zu werten,17) und das findet eine Andeutung auch im Wortlaut des Testamentes: Die Tante nennt das Vermächtnis an Atlanta „natürlich“. Immerhin bleibt, dass die Tante ohne Zweifel mit der Moral spielt, indem sie ihr einen doppelten Preis gibt. Zum einen wird die vermachte Summe von einem Verhalten abhängig gemacht, das zum Intimsten und Persönlichsten gehört. Zum andern ist es ja die Absicht der Tante, die Nichte dazu zu veranlassen, dass sie ihren Vater diskreditiert. Letztlich hat das Spiel mit der Moral aber gar nicht Maria Machado in der Hand, sondern Curt Goetz, nämlich mit dem Trick, dass er die Tante mit Hilfe von 27 cm überlistet. Traugotts Tugend, so zweifelhaft ihr Gegenstand uns erscheint, wird belohnt. Literaturwissenschaftlich hat man durchaus treffend bemerkt, das fraglose Akzeptieren der bürgerlichen Gesellschaft sei Voraussetzung der Stücke von Curt Goetz und Ursache ihres Erfolges.18) III. Die Sicht auf das Recht 27 cm sind nur ein Längenmaß. Deus ex machina werden diese 27 cm erst als Teil einer Rechtsvorschrift. Bevor man zu ihrer Anwendung kommt, müsste man allerdings eigentlich statt des Wortlauts der Vermächtnisan17) 18)

Zu Familiensinn und Erbfolge vgl. Schiemann, Familiensinn und Erbfolge, in: FS für Bengel/Reimann, 2012, S. 331 ff. Nickel in: Kühlmann (Hrsg.) Killy Literaturlexikon, Bd. 4, 2. Aufl. 2009, S. 300.

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ordnung erst einmal deren Sinn und den wahren Willen der Tante ermitteln. Die angedeuteten moralischen Bedenken müssten mindestens erhebliche Zweifel auch an der rechtlichen Wirksamkeit dieser Vermächtnisklausel erwecken. Davon klingt bei Curt Goetz nichts an, und das wiederum passt zu den 27 cm. Das Bild vom Recht und von einem rechtlich sanktionierten Gestaltungsakt, das uns in dieser Komödie entgegentritt, wird als bloße Form für einen Willen wahrgenommen, und als Form soll das rechtliche Instrument dann auch wortgetreu akzeptiert werden. Sonst funktioniert die ganze Komödie nicht. So gesehen wird das Recht selbst einer der Gegenstände dieser Komödie. Dies kann es natürlich nur in einem Zerrbild werden. Hiermit ist die Arbeitsweise von Curt Goetz aber doch nicht ganz getroffen, denn im Vergleich zu seiner eigenen Vorlage, der Komödie „Die tote Tante“ von 1924,19) hat sich Curt Goetz mit der Pointe seines Falles deutlich mehr Mühe gegeben. Seinerzeit ließ es Curt Goetz genügen, dass die noch nicht 17-jährige Tochter einen Bräutigam heiratet, der ein uneheliches Kind in die Ehe mitbringt. Die Bedingung heißt dort, dass die Bedachte „bis zu ihrem vollendeten 17. Lebensjahre mit Zustimmung ihres Vaters Mutter eines unehelichen Kindes wird.“ Durch die Heirat mit dem unehelichen Vater wurde sie aber natürlich auch nach dem früheren Recht nicht dessen Mutter, ja nach § 1589 Abs. 2 BGB a. F. war bekanntlich nicht einmal der Vater mit dem Kind verwandt. Wie hätte dann dessen Frau die Mutter des Kindes werden können? Selbst bei einer Ehelicherklärung durch den unehelichen Vater wurde das Kind nach § 1737 Abs. 1 Satz 2 BGB a. F. mit der Frau des Vaters nicht einmal verschwägert. Demgegenüber ist die glückliche Wendung im „Haus in Montevideo“ juristisch viel plausibler. Die „Atlanta“, das Schiff, in dem Nägler mit seiner Frau vom Kapitän getraut worden ist, fährt unter amerikanischer Flagge. Zu einem solchen Fall hatte Leo Raape noch 1961 festgestellt:20) „Schließen die beiden Deutschen die Ehe auf einem englischen oder nordamerikanischen Dampfer auf hoher See vor dem Kapitän, so ist die Ehe gültig, da nach dem Recht dieser Staaten anders als nach deutschem Recht der Kapitän befugt ist, Ehen zu schließen, und die Ehe in ihrem Machtbereich geschlossen ist.“

Allerdings fehlen bei Raape jegliche Nachweise. Sie wären in Wahrheit auch schwer zu finden gewesen, denn nach amerikanischem Recht gehört das Eherecht und damit auch das Recht der Eheschließung in den Zuständig19) 20)

Goetz, Sämtliche Bühnenwerke, 1963, S. 355 – 381. Raape, Internationales Privatrecht, 5. Aufl. 1961, § 27, S. 250. Zum Folgenden danke ich Martin Gebauer für wichtige Hinweise.

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keitsbereich der Einzelstaaten.21) Kein einziger der Staaten regelt eine Kapitänsehe. Freilich sieht das Bundesrecht der USA eine Registrierungspflicht der Kapitäne für solche Ehen vor, die auf dem Schiff geschlossen werden.22) Erklären lässt sich dies am ehesten mit der im Common Law gegebenen Möglichkeit einer schlichten Konsensehe;23) dann ist allerdings der Kapitän nur Zeuge. Jedenfalls hat aber Raape – und ähnliches findet sich auch bei Kegel24) – die Registrierungspflicht des Kapitäns deutlich überinterpretiert. Dann muss man allerdings zu Curt Goetz sagen: Wenn schon anerkannte Autoritäten des Kollisionsrechts die Rechtslage verkennen, wird man von ihm nicht mehr verlangen können. Sein Spiel mit der Kapitänsehe ist also für ein bloß literarisches Recht (Law in Literature) zu akzeptieren. Es geht Curt Goetz ja auch gar nicht um die juristische Richtigkeit, sondern er stellt die rechtlichen Verhältnisse so dar, wie er glaubt, dass sie von seinem Publikum geglaubt werden können. Er möchte also vermitteln, was man dem Recht zutraut, und dazu können selbstverständlich auch 27 cm als maßgebliches Kriterium gehören. Die Art und Weise dieses Bildes vom Recht lässt sich etwa folgendermaßen zeichnen: Recht besitzt die Fähigkeit, selbst Skurrilität an der Grenze zum niedrigen Beweggrund von Seiten eines Erblassers hinzunehmen. Ferner sind für normales laienhaftes Denken nicht nachvollziehbare Differenzierungen – z. B. 27 cm – als rechtlich mehr oder weniger üblicher „Unfall“ hinzunehmen.25) Als beckmesserischer Jurist würde man allerdings dort beginnen, wo Curt Goetz aufhört. Ist die Bedingung des Testaments durch die 27 cm denn wirklich erfüllt? Sind die Kinder von Hermann und Marianne wirklich unehelich geboren? Nimmt man die Konsensehe als Grundlage nach dem Common Law – die auch nach deutschem Kollisionsrecht anzuerkennen 21) 22) 23) 24)

25)

Vgl. Figert, Die Eheschließung vor dem Kapitän im anglo-amerikanischen Recht, RabelsZ 28 (1964), 78 ff. U. S. Code Titel 46 – Shipping, § 201(8) und dazu Figert, RabelsZ 28 (1964), 85 f. Vgl. Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 8. Aufl. 2000, § 7 III 3b cc aaa (S. 300) m. w. N. Kegel, Internationales Privatrecht, 1. Aufl. 1960, S. 244; noch Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 8. Aufl. 2000, S. 697, kann die Frage, ob nach dem Rechte Englands und der USA eine Heirat auf hoher See vor dem Kapitän möglich ist, nur als „unsicher“ bezeichnen. Zum kurrenten Formalismusvorwurf gegen das Recht vgl. hier nur Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2014, § 4 Rz. 7 ff. und speziell zum formalisierten Streitaustrag im gerichtlichen Verfahren § 1 Rz. 32 ff. Vgl. auch Martin Stone, Formalism, in: Coleman/Shapiro (Ed.), The Oxford Handbook of Jurisprudenc and Philosophy of Law, 2002, p. 166 ss.

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wäre26) – dann sind die Kinder nicht unehelich. Ferner: Kann Marianne überhaupt gemeint sein? In der Klausel des Testaments ist ja eine Frist angegeben, hinter der sich die Vollendung des 17. Lebensjahrs von Atlanta verbirgt. Eine andere Person kommt also ernsthaft als Empfängerin des Vermächtnisses gar nicht in Frage. Und schließlich: Die Klausel des Testaments spricht von einer Katastrophe. Lässt sich das, was sich als Pointe herausstellt, denn wirklich als Katastrophe beschreiben? Auch hierüber setzt sich Curt Goetz hinweg. An alledem scheint sich nur zu zeigen, wie untauglich Belletristik für das Verstehen von Erbrecht und insbesondere von testamentarischen Bedingungen ist.27) Aber hiermit würde man es sich zu einfach machen. Curt Goetz mutet seinen Lesern und Zuschauern zwar zu, das Testament wörtlich hinzunehmen, und ihm ist gewiss klar, dass dieses Testament nur das rechtliche Instrument zur Verfolgung keineswegs unbedenklicher Zwecke ist. Aber ohne ein Quantum Lebensnähe darin könnte die Komödie überhaupt nicht funktionieren. Es wird also doch so etwas wie ein Rechtsbewusstsein angesprochen; und das Rechtsbewusstsein wiederum, welches das Publikum entwickelt, ist relevant für das, was wir in vielleicht nicht allzu guter Gewohnheit als Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden bezeichnen.28) Fassen wir die Fabel der Komödie etwas ernsthafter auf, dann gilt als Minimum: Im Zweifel ist bis an eine sehr weite Grenze für die Autonomie des Erblassers zu entscheiden.29) Die Kehrseite davon kann Heteronomie bei den Bedachten bedeuten, aber in der Regel – das lehrt uns die „Übersetzung“ des laienhaften Rechtsbewusstseins aus der Komödie in Kategorien des § 138 Abs. 1 BGB – ist solche Heteronomie offenbar hinzunehmen.30) Motive und Bewusstseinslagen der Erblasser sind nicht nur in dieser Komödie, sondern auch sonst oft ambivalent und daher unterschiedlich deut26)

27) 28)

29)

30)

RG, Urt. v. 26.10.1932 – IX 304/32, RGZ 138, 214; KG v. 30.6.1992 – 1 W 6686/89, FamRZ 1993, 59. Weitere Nachw. Thorn in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, Art. 13 EGBGB Rz. 19. Vgl. die Kritik von Otte in: Staudinger, BGB, Bearbeitung 2012, § 2074 Rz. 37. Seit RG, Urt. v. 11.4.1901 – VI 443/00, RGZ 48, 114, 124; vgl. hier nur Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl. 2010, Rz. 682; Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, 1971, S. 19 ff. Siehe hier nur BGH, Beschl. v. 31.3.1970 – III ZR 23/68, BGHZ 53, 369, 374; BGH, Urt. v. 21.3.1990 – IV ZR 169/89, BGHZ 111, 36, 39; BGH, Urt. v. 20.10.1993 – IV ZR 231/92, BGHZ 123, 368, 371, als Grundsatz anerkannt auch von BVerfG, Beschl. v. 22.3.2004 – 1 BvR 2248/01, NJW 2004, 2008, 2010. Dazu Westermann mit dem charakteristischen Titel: Der strafende und disziplinierende Erblasser, in: FS für Wiegand, 2005, S. 661 ff.

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bar. Aber wenigstens im Recht der letztwilligen Verfügungen bleibt es gemäß der römischen Satire31) beim „stat pro ratione voluntas“. Der Wille ersetzt also (fast) jegliche Begründung, nicht nur diejenige, die der Erblasser vielleicht angibt oder angeben müsste, sondern auch die Begründung, die eine juristische Wertung erst an das Erklärte und somit äußerlich Gewollte heranträgt. Aber immerhin – und damit kommen wir nochmals auf die Komödie zurück – ist der Wille des Erblassers nicht hinnehmbar ohne einen Blick auf die Wirkungen, die seine Verfügung entfaltet.32) Hier müssen wir uns kurz noch einmal die Perspektive der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts vor Augen führen: Die Tante verlangt durch ihr Testament von ihrem Bruder ein Verhalten, das damals strafbar war oder wenigstens sein konnte.33) Und somit war die Bedingung selbst gesetzwidrig nach § 134 BGB. Aber auch nach Überwindung der Strafbarkeit von Kuppelei wäre die in der Klausel niedergelegte „Fristenlösung“ rechtlich kaum hinnehmbar. Mit ihr entsteht ein unzumutbarer Druck auf Atlanta in der Ausübung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung.34) Darin berührt sich ein solcher Fall mit dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen „Pillenfall“ aus dem allgemeinen Schadensrecht:35) Mit Recht hat der Bundesgerichtshof die Abrede zwischen nicht verheirateten Partnern, dass die Frau regelmäßig Kontrazeptiva nimmt, als sittenwidrig und somit nichtig betrachtet. Infolgedessen musste der ungewollte Vater Unterhalt leisten. Aber noch auf andere Weise lässt sich davon reden, dass die Struktur unseres Komödienfalles durchaus gegenwärtig und dramatisch sein kann. Nehmen wir etwa an, dass eine Familie einer bestimmten, sehr „einnehmenden“ Sekte angehört. Eine Tochter der Familie war aus der Sekte aus freien Stücken ausgetreten und wurde daraufhin von ihrer Familie verstoßen. Der Bruder, der an dieser Verstoßung maßgeblich beteiligt war, hat inzwischen selbst eine noch minderjährige, aber schon religionsmündige Tochter T. Nun ist die Schwester gestorben. Sie hinterlässt der T ein beträchtliches Vermögen unter der Bedingung, dass sie sich noch vor Erreichen 31) 32) 33) 34)

35)

Nach Juvenal, Satiren 6, 223: „Hoc volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas.“. Allgemein zu Folgenerwägungen bei der Ermittlung des Sitten(widrigkeits)maßstabes Sambuc, Folgenerwägungen im Richterrecht, 1977, S. 53 ff., 90 f., 108 ff. § 180 StGB a. F. und dazu BGH, Beschl. v. 17.2.1954 – GSSt 3/53, BGHSt 6, 46. „Unzumutbarer Druck“ auf die grundgesetzlich geschützten Freiheitsrechte ist die Schlüsselformulierung des BVerfG im berühmten „Hohenzollern“-Beschluss (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2004 – 1 BvR 2248/01, NJW 2004, 2008, 2010). BGH, Urt. v. 17.4.1986 – IX ZR 200/85, BGHZ 97, 372.

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ihrer Volljährigkeit von der Sekte abwendet. Über die Erträge des Vermögens wie über das Vermögen selbst kann sie allerdings erst nach Erreichen der Volljährigkeit verfügen. Erfüllt sie die Bedingung nicht, fällt das Vermögen dem „Verein zur Hilfe für jugendliche Sektenaussteiger“ zu. Das RG hat in einer 1913 veröffentlichten Entscheidung Bedingungen dieser Art für unzulässig erklärt.36) Das Gericht tat sich damit allerdings leicht, weil im konkreten Fall die Bedingung erst nachträglich in das Testament eingefügt worden war. Deshalb konnte man nach dem Rechtsgedanken der §§ 2085 und 2084 BGB zu einer unbedingten Zuwendung an die Bedachte gelangen.37) So liegt der hier gebildete Fall nicht. Die Bedingung lässt sich von der Zuwendung nicht trennen; der eingetragene Verein scheint also von Anfang an Erbe geworden zu sein, weil die Bedingung unzulässig war.38) Wird aber wirklich unzumutbarer Druck auf die minderjährige Bedachte ausgeübt, dass sie die Sekte verlässt? Gewiss geht es um ein hohes Gut: das Grundrecht der Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG.39) Zieht man aber die konkreten intoleranten Einwirkungen z. B. von Salafisten, Scientologen oder vielleicht auch Zeugen Jehovas in Betracht, dann ist in dem hier gebildeten Fall gar nicht die Religionsfreiheit des oder der Bedachten unmittelbar betroffen, vielmehr wird sie überhaupt erst hergestellt. Oder genauer: Es wird eine Hilfe dazu gewährt, von einer Freiheit Gebrauch zu machen, die sonst aus sozialen und familiären Gründen gar nicht bestünde. Gerade bei solchen Sekten kann man aber auch nicht ausschließen, dass die anderen Sektenmitglieder die Eltern bedrängen und dass die Eltern ihr soziales Ansehen, ihr Beziehungsnetz selbst dann verlieren, wenn sie ihrerseits die Tochter nach der Annahme der Erbschaft verstoßen. Jedenfalls führt die hier mitgeteilte Bedingung zu einer schweren Belastung der Eltern und zu einem schweren Familienkonflikt. Dessen rechtliche Beurteilung und Entscheidung scheint aber möglich: Nach der Rechtsprechung zu § 1666 BGB kann eine Einschränkung der elterlichen Sorge erforderlich sein, um 36) 37) 38)

39)

RG v. 18.9.1913 – 200/13 IV, JW 1913, 1100. Dies entsprach der „pro non scripta habetur“-Regel des gemeinen Rechts und vieler Partikularrechte, Otte in: in: Staudinger, BGB, Bearbeitung 2012, § 2074 Rz. 75. So mit Recht im Ausgangspunkt Otte in: Staudinger, BGB, Bearb. 2012, § 2074 Rz. 76 m. w. N. zur Gegenansicht. Dort Rz. 77 aber auch der notwendige Hinweis auf die Möglichkeit der „Auslegung“ nach dem hypothetischen Willen des Erblassers und der Anwendung des § 2085 BGB. Genauer geht es um die negative Religionsfreiheit, die aber von Art. 4 Abs. 1 GG umfasst wird, Kokott in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 4 Rz. 27; Morlok in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rz. 64.

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die Willens- und Religionsfreiheit des minderjährigen Kindes auch gegenüber den Eltern zu sichern.40) Erfüllt die Tochter die testamentarische Bedingung und verlässt deshalb – mehr oder weniger gezwungenermaßen – die elterliche Wohnung, hat sie ferner ihren Anspruch auf Unterhalt nicht verwirkt: Ein Fall des § 1611 BGB liegt nicht vor.41) Die Eltern können der Tochter auch nicht nach § 1602 Abs. 1 BGB ansinnen, die gerade laufende Schulausbildung etwa abzubrechen und stattdessen eine entgeltliche Arbeit zu übernehmen.42) Dies alles sind Indizien dafür, dass die Bedingung und somit die testamentarische Zuwendung im Beispielsfall anders als im Sachverhalt, über den das RG43) zu entscheiden hatte, wirksam ist. Dass es auch heute notwendig sein kann, gerade wegen der familiären Bezüge gegen die Wirksamkeit der Bedingung zu entscheiden, zeigt m. E. der spektakuläre Fall, über den das Oberlandesgericht Hamm vor etwas über 10 Jahren zu entscheiden hatte.44) Ein Adoptivsohn, der das Unternehmen der Erblasser hatte fortführen sollen, war wegen eines späteren Zerwürfnisses mit den Eltern enterbt worden. An seiner Stelle wurde der Adoptivenkel und Großneffe zum Erben eingesetzt, allerdings unter der Bedingung, dass sein Vater den Pflichtteil, der immerhin die Hälfte des Erbschaftswertes ausgemacht hätte, nicht beanspruchte. Eine solche Bedingung ist weder für den Enkel noch für den enterbten Sohn hinnehmbar: Entweder muss sich der Sohn gegenüber dem Vater oder der Vater gegenüber dem Sohn grob rücksichtslos verhalten. Dies wäre aber das genaue Gegenteil zum dem, was § 1618a BGB für das Verhältnis zwischen Eltern und Kinder positiviert.45) Fälle wie derjenige unserer Komödie ebenso wie sehr ernste Fälle der Lebenswirklichkeit geben uns somit den Anlass, recht grundsätzlich über das Verhältnis zwischen dem Erblasser und den von ihm Bedachten nachzudenken. Ein Konflikt zwischen der Freiheit des Gestorbenen und der

40) 41) 42) 43) 44) 45)

AG Tempelhof-Kreuzberg, Beschl. v. 8.8.2007 – 160 F 10520/07, FamRZ 2009, 987. Weiteres bei Coester in: Staudinger, BGB, Bearb. 2009, § 1666 Rz. 126, 165 m. w. N. Vgl. die Beispiele aus der Rspr. bei Brudermüller in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 1611 Rz. 5. In der Regel besteht keine Erwerbsobliegenheit Minderjähriger, Brudermüller in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 1602 Rz. 5. RG v. 18.9.1913 – 200/13 IV, JW 1913, 1100, und dazu oben bei Fn. 36. OLG Hamm, Beschl. v. 11.1.2005 – 15 W 291/03, FamRZ 2005, 1928; dazu auch Westermann in: FS für Wiegand, 2005, S. 678 ff. Otte in: Staudinger, BGB, Bearb. 2012, § 2074 Rz. 74.

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Freiheit des Bedachten ist zu entscheiden.46) Für den unter einer Bedingung eingesetzten Erben oder Vermächtnisnehmer ist hierbei zu bedenken: Entscheidungen, die grundlegende Bedeutung für die personale Existenz haben können, werden durch die Potestativbedingung verknüpft mit Vermögensvorteilen oder dem Verzicht darauf. Sich diese Entscheidungen offenhalten zu können, ist Freiheit. Beim Verzicht auf den Vermögensvorteil aus der Zuwendung des Erblassers wird aus dieser „natürlichen“ eine gekaufte Freiheit. In dieser Änderung der Freiheitsqualität könnte man sogar vielleicht einen Eingriff i. S. der Grundrechtsdogmatik sehen.47) Jedenfalls ist das Moment eines Druckes auf den Bedachten hiernach nicht einfach zu vernachlässigen, weil ja der Enterbte ohnehin keinen Anspruch auf das ihm Zugedachte hat.48) Vielmehr liegt gegenüber der Willensherrschaft über den Tod hinaus auf der einen Waagschale auf der anderen die „Inkaufnahme gravierender wirtschaftlicher Nachteile“ für „eine selbstbestimmte Lebensführung“.49) Und die Willkür wird vielfach gegenüber Angehörigen ausgeübt, deren „Lebensgestaltung“ der Erblasser selbst „mitgeprägt“ hat.50) Vor einer solchen Art des materiellen Ungleichgewichts51) sollte die korrigierende Gerechtigkeit auch im Erbrecht nicht blind sein. Hierfür kann man die Anforderungen ins Spiel bringen, die das Gesetz selbst an die Akteure stellt: die Gebote familiärer Verantwortung und Rücksichtnahme unter Ehegatten nach § 1353 BGB und zwischen Eltern und Kindern nach § 1618a BGB.52) Dieser Standard braucht sich – etwa weil er im Familien- und nicht im Erbrecht gesetzlich niedergelegt ist – keineswegs auf die Lebenszeit der Beteiligten zu beschränken. So wie schon die Geburt den Einzelnen in einen Traditionszusammenhang stellt, entreißt der Tod ihn diesem nicht ohne Rückstand.53) Hierüber nachzudenken, mag selbst eine „harmlose“ Komödie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anlass geben. 46)

47) 48) 49) 50) 51)

52) 53)

Dazu aus neuerer Zeit etwa Gutmann, Der Erbe und seine Freiheit, NJW 2004, 2347 ff. und Blomberg, Freiheit und Bindung des Erblassers, 2011; berechtigt kritisch zu beiden Otte in: Staudinger, BGB, Bearb. 2012, § 2074 Rz. 36 ff. Sachs in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Vor Art. 1 Rz. 78 ff. insbesondere Rz. 83 ff. Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 2001, S. 219 ff.; Muscheler, Erbrecht, Bd. I, 2010, Rz. 1950 ff. Otte in: Staudinger, BGB, Bearb. 2012, § 2074 Rz. 37. Auch diese Formulierungen bei Otte in: Staudinger, BGB, Bearb. 2012, § 2074 Rz. 37. Für das Recht der letztwilligen Verfügungen in den Blick gerückt vor allem von Röthel, Testierfreiheit und Testiermacht, AcP 210 (2010), 32, 43 ff.; vgl. dazu bereits Schiemann in: FS für Bengel/Reimann, 2012, S. 338 f. Otte in: Staudinger, BGB, Bearb. 2012, § 2074 Rz. 39, für § 1618a BGB bei Pflichtteilsklauseln auch Rz. 74. Zu diesem Zusammenhang bereits Schiemann in: FS für Bengel/Reimann, 2012, S. 340.

Die Leistung von Initial Margin bei Derivatgeschäften – nicht „insolvenzfest“? CHRISTIAN SCHMIES Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Strukturen des Derivatehandels 1. Börsengehandelte Derivate und OTC-Derivate 2. Variation Margin und Initial Margin III. Insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit von Marginleistungen 1. Insolvenzrechtliche Ausgangslage 2. Initial Margin und § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO a) Grundlagen; Marginleistung als Finanzsicherheit

b) Initial Margin als Margensicherheit i. S. des § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO c) Vereinbarkeit von § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO mit der Finanzsicherheiten-Richtlinie d) Sonstige Beschränkungen des § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO 3. Leistung von initial margin als Bargeschäft IV. Insolvenzrechtlicher Schutz von initial margin durch EMIR und Art. 102b EGInsO V. Ausblick

I. Einführung Im September 2009 erhoben die Staats- und Regierungschefs der G-20Länder in ihrer Abschlusserklärung zum Gipfeltreffen in Pittsburgh die Reform der OTC-Derivatemärkte zu einem wesentlichen Bestandteil der Regulierungsinitiativen zur Vermeidung systemischer Finanzmarktkrisen. Seitdem wurden in einer Vielzahl von Jurisdiktionen bedeutsame Gesetzgebungsmaßnahmen zur Regulierung des Derivatemarktes unternommen, in der Europäischen Union insbesondere in Gestalt der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, gemeinhin unter dem Kürzel „EMIR“ bekannt. Auch sieben Jahre nach dem G-20-Gipel von Pittsburgh dauern in der Europäischen Union die Gesetzgebungsmaßnahmen zur verstärkten Regulierung der Derivatemärkte jedoch noch an. Ein bedeutsamer Bestandteil hierbei sind die Besicherungsanforderungen für nicht über zentrale Gegenparteien (central counterparties – „CCP“) abgewickelte Derivate. Vor diesem Hintergrund geht dieser Beitrag der Frage nach, inwieweit die Leistung sog. initial

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margin, die bei börsengehandelten Derivaten seit jeher Praxis ist, nunmehr aber auch im Bereich der OTC-Derivate erhebliche Bedeutung gewinnen wird, im deutschen Recht insolvenzrechtlich ausreichend abgesichert ist. II. Strukturen des Derivatehandels 1. Börsengehandelte Derivate und OTC-Derivate Derivate lassen sich hinsichtlich der Marktplätze, auf denen sie gehandelt werden, grob in börsengehandelte Derivate (exchange traded derivatives oder „ETD“) und außerhalb von Börsen, bilateral „over the counter“ abgeschlossene Derivate („OTC-Derivate“) einteilen. Ein bislang für den Börsenhandel von Derivaten charakteristisches Merkmal ist die Abrechnung (clearing) und die Abwicklung (settlement) solcher Derivate über zentrale Gegenparteien, die rechtlich jeweils die Position der Gegenpartei der anderen Vertragspartei eines börsengehandelten Derivatkontrakts einnehmen. Der Börsenhandel mit Derivaten wird insbesondere durch das Börsengesetz geregelt, die Tätigkeit als zentrale Gegenpartei wurde durch das CRD-Umsetzungsgesetz vom 17. November 20061) gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 KWG als eigenständiges erlaubnispflichtiges Bankgeschäft erfasst. Zentrale Gegenparteien kontrahieren nicht mit Jedermann, sondern akzeptieren grundsätzlich nur bestimmte regulierte Finanzmarktakteure als Vertragsparteien für das Derivateclearing, die sog. Clearingmitglieder (clearing member). Nicht als Clearingmitglied zugelassene Akteure müssen sich regelmäßig der Dienstleistungen solcher Clearingmitglieder bedienen, um am Börsenhandel von Derivaten teilnehmen zu können. Bei dem in Europa vorherrschenden principal-to-principal-Modell schließt dabei das Clearingmitglied den relevanten Derivatekontrakt mit der zentralen Gegenpartei und spiegelt diesen Derivatkontrakt im Verhältnis zu seinem Kunden (sog. Kundenclearing im Gegensatz zu Geschäften des Clearing Member für eigene Rechnung).2) Der OTC-Derivatemarkt war als Marktplatz traditionell weitgehend unreguliert, obgleich viele seiner Teilnehmer als regulierte Unternehmen des Finanzmarkts auch hinsichtlich ihrer Teilnahme am OTC-Derivatemarkt 1) 2)

BGBl. I 2006, 2606. Vgl. zum Kundenclearing und der diesbezüglich marktüblichen Vertragsdokumentationen Scholl in: Wilhelmi/Achtelik/Kunschke/Sigmundt, Hdb. EMIR, 2015, S. 339.

Die Leistung von Initial Margin bei Derivatgeschäften – nicht „insolvenzfest“?

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erheblichen regulatorischen Restriktionen unterworfen waren.3) Durch EMIR wurde jedoch auch und insbesondere der OTC-Derivatemarkt regulatorisch erfasst. Dabei umfasst EMIR im Wesentlichen vier Regelungsbereiche4): 1.

eine Clearingpflicht für bestimmte OTC-Derivate,

2.

Risikominderungstechniken für nicht durch eine CCP geclearte Derivate,

3.

regulatorische Anforderungen an zentrale Gegenparteien,

4.

Pflichten zur Meldung von Derivatgeschäften an sog. Transaktionsregister.

Während die Meldepflichten sowohl für OTC-Derivate als auch für börsengehandelte Derivate gelten und die regulatorischen Anforderungen an zentrale Gegenparteien auch ihre Geschäftstätigkeit mit börsengehandelten Derivaten betrifft, zielen die beiden ersten Regelungspakete ausschließlich auf den OTC-Derivatemarkt ab. Dabei führt insbesondere die Statuierung einer Clearingpflicht für ausgewählte OTC-Derivate mit der verpflichtenden Zwischenschaltung einer Gegenpartei auch bei diesen OTCDerivaten zu strukturellen Veränderungen, die das OTC-Derivategeschäft dem Börsenhandel mit Derivaten annähern, bisweilen treffend als „futurisation“ der OTC-Derivate bezeichnet. Die Übernahme von Regelungsmechanismen des Börsenhandels von Derivaten betrifft allerdings auch solche OTC-Derivate, die keiner Clearingpflicht unterworfen werden und zwar insbesondere in Bezug auf sog. Sicherheitsleistungen.5)

3)

4)

5)

Z. B. unterliegen Kapitalverwaltungsgesellschaften i. S. des Kapitalanlagegesetzbuches (KAGB) den Vorschriften des KAGB sowie der Derivateverordnung in Bezug auf den Einsatz von Derivaten bei der Verwaltung von Investmentvermögen. Vgl. überblicksartig u. a. Schuster/Ruschkowski, EMIR – Überblick und ausgewählte Aspekte, ZBB 2014, 123; Köhling/Adler, Der neue europäische Regulierungsrahmen für OTC-Derivate – Verordnung über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister – Teil I, WM 2012, 2125; Köhling/Adler, Der neue europäische Regulierungsrahmen für OTC-Derivate – Verordnung über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister – Teil II, WM 2012, 2173; Hartenfels, Die Verordnung (EU) Nr. 648/2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister („EMIR”), ZHR 178 (2014), 173. Grundlegend hierfür ist Art. 11 Abs. 3 EMIR.

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2. Variation Margin und Initial Margin Im Bereich des Börsenhandels mit Derivaten schützen sich zentrale Gegenparteien vor den Ausfallrisiken ihrer Vertragspartner insbesondere durch sog. Marginleistungen, die sich grob in variation margin und initial margin unterteilen lassen. Eine einheitliche deutschsprachige Terminologie hat sich bzgl. dieser Instrumente bislang nicht etabliert; der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht verwendet für beides den Begriff der „Einschusspflichten“, bezeichnet sodann initial margin als „Einschusszahlung“, „variation margin“ als „Nachschusszahlung“.6) Die Zahlung von variation margin dient dem Ausgleich von Veränderungen des Marktwertes eines Derivatkontrakts, die sich von einem der regelmäßig mindestens börsentäglichen Bewertungszeitpunkte zu dem nächsten Bewertungszeitpunkt ergeben haben. Die zu leistende variation margin wird während der Laufzeit eines börsengehandelten Derivatkontrakts grundsätzlich börsentäglich berechnet und erhoben, wobei je nach Wertentwicklung des Kontrakts variation margin sowohl vom Vertragspartner an die zentrale Gegenpartei oder von dieser an den Vertragspartner zu leisten sein kann. Variation margin wird weithin als eine Sicherheit betrachtet,7) zivilrechtlich wird die Zahlung von variation margin aber bisweilen auch als vorweggenommene Erfüllung betrachtet.8) Initial margin ist im Gegensatz zur variation margin bereits vor bzw. bei dem Abschluss eines Derivatkontrakts zu leisten und zwar nur in eine Richtung, nämlich von der Vertragspartei an die zentrale Gegenpartei bzw. bei Zwischenschaltung eines Clearingmitglieds vom Kunden des Clearingmitglieds an dieses und vom Clearingmitglied an die zentrale Gegenpartei. Initial margin wird geleistet, um die Gegenpartei vor einem erwarteten Ausfall aufgrund einer Wertveränderung eines Derivatkontrakts zu Lasten der anderen Vertragspartei zu schützen, die sich im Zeitpunkt zwischen der letzten Zahlung von variation margin vor dem Ausfall der Vertragspartei bis zur Glattstellung bzw. einer Absicherung der offenen 6) 7) 8)

Vgl. Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, Einschusspflichten für nicht zentral abgerechnete Derivate, 2013, S. 5 ff. Eisele/Knobloch, Offene Probleme bei der Bilanzierung von Finanzinnovationen – Teil II, DStR 1993, 617, 622. Die Entscheidung des BGH, Urt. v. 13.12.1982 – II ZR 63/82, ZIP 1983, 144 = NJW 1983, 940, diskutiert diese Frage auch für einen Einschuss, bei dem es sich funktional wohl um initial margin handelt, und hält diesbezüglich die Einstufung als Sicherheit durch die Vorinstanz aufrecht.

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Position gegenüber der ausgefallenen Vertragspartei ergeben kann.9) Funktional ist die Leistung von initial margin damit eine Sicherheitsleistung, welche die Gegenpartei vor dem Risiko absichert, dass die andere Vertragspartei bei Zahlungsausfall oder Insolvenz den Beendigungswert des Derivatkontrakts nicht leistet. Rechtlich kann initial margin in unterschiedlicher Weise geleistet werden. Denkbar ist bspw., dass der Kunde eines Clearingmitglieds initial margin durch Überweisung eines entsprechenden Geldbetrags an das Clearingmitglied leistet und den Betrag bei vollständiger Abwicklung des Derivatgeschäfts zurückverlangen kann, soweit keine Gegenansprüche des Clearingmitglieds fortbestehen. Insbesondere wenn Sicherheiten des Kunden vom Clearingmitglied nicht an die zentrale Gegenpartei durchgereicht werden, ist die Leistung von initial margin durch Bestellung von Pfandrechten an Wertpapierbeständen gebräuchlich, welche das Clearingmitglied unter anderem verwerten darf, wenn der Clearingkunde mit der Pflicht zum Ausgleich laufender Verluste aus Derivatgeschäften durch variation margin in Verzug kommt bzw. insolvent wird. III. Insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit von Marginleistungen 1. Insolvenzrechtliche Ausgangslage Die Leistung von initial margin stellt eine Rechtshandlung i. S. der Insolvenzanfechtungstatbestände dar, die im Ausgangspunkt den allgemeinen Vorschriften über die Anfechtung in der Insolvenz (§§ 129 ff. InsO) unterliegen. Zwar hat der deutsche Gesetzgeber zwecks Umsetzung der europäischen Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten10) („FinanzsicherheitenRichtlinie“) § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO eingeführt, der sog. „Margensicherheiten“ von der Anfechtung nach § 130 InsO ausnimmt. Es ist jedoch unklar, ob § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO auch die Leistung von initial margin

9)

10)

Vgl. Joint Committee of the European Supervisory Authorities, Second Consultation Paper, Draft Regulatory Technical Standards on risk-mitigation techniques for OTCderivative contracts not cleared by a CCP under Article 11 (15) of Regulation (EU) No. 648/2012. ABl. (EU) v. 27.6.2002, Nr. L 168/43.

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privilegiert. Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in marktüblichen legal opinions wider.11) 2. Initial Margin und § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO a) Grundlagen; Marginleistung als Finanzsicherheit Von der Anfechtung nach § 130 InsO ausgenommen sind nach § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO Rechtshandlungen, die auf einer Sicherungsvereinbarung beruhen, welche die Verpflichtung enthält, eine Finanzsicherheit, eine andere oder eine zusätzliche Finanzsicherheit i. S. des § 1 Abs. 17 KWG zu bestellen, um das in der Sicherheitenvereinbarung festgelegte Verhältnis zwischen dem Wert der gesicherten Verbindlichkeit und dem Wert der geleisteten Sicherheiten wiederherzustellen (Margensicherheit). Für eine Finanzsicherheit i. S. des § 1 Abs. 17 KWG kommen nur bestimmte Werte in Betracht, unter anderem Barguthaben, Geldbeträge, Wertpapiere und Geldmarktinstrumente. Aufgrund der Anforderungen der CCP an Margenleistungen werden die gegenständlichen Anforderungen des § 1 Abs. 17 KWG an eine Finanzsicherheit bei Marginleistungen regelmäßig erfüllt sein. Entsprechendes gilt für Marginleistungen, welche Clearing Member von ihren Kunden verlangen. Die Einstufung als Finanzsicherheit i. S. des § 1 Abs. 17 KWG setzt zudem bestimmte Anforderungen an die Beteiligten der Sicherungsvereinbarung bzw. die Art der besicherten Verbindlichkeiten voraus. Gehört der Sicherungsgeber einer der in Art. 1 Abs. 2 lit. a– d der FinanzsicherheitenRichtlinie genannten Kategorien an, zu der insbesondere beaufsichtigte Finanzinstitute zählen, ist die Art der besicherten Verbindlichkeit unerheblich. Die Auflistung der beaufsichtigten Finanzinstitute in Art. 1 Abs. 2 lit. c der Finanzsicherheiten-Richtlinie ist dabei exemplarisch zu verstehen; so sind bspw. neben den in Art. 1 Abs. 2 lit. c (vi) der Finanzsicherheiten-Richtlinie aufgeführten OGAW-Verwaltungsgesellschaften auch beaufsichtigte AIF-Verwaltungsgesellschaften als beaufsichtigte Finanzinstitute i. S. der Finanzsicherheiten-Richtlinie zu betrachten. Bei den Clearingmitgliedern wird es sich ohnehin regelmäßig um Kreditinstitute 11)

Vgl. z. B. die Stellungnahme der Clifford Chance Deutschland LLP für die LCR.Clearnet Limited, Responses to Instructions to Counsel – Membership, Insolvency, Security, Set-off & Netting and Client Clearing v. 12.6.2014, S. 114, abrufbar unter: www.lchclearnet.com (Abrufdatum: 23.1.2016).

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oder Wertpapierfirmen und damit um beaufsichtigte Finanzinstitute i. S. der Finanzsicherheiten-Richtlinie handeln, so dass es im Verhältnis zwischen CCP und Clearingmitglied auf die Art der besicherten Verbindlichkeit nicht ankommt. Gehört der Sicherungsgeber jedoch zu den in Art. 1 Abs. 2 lit. e der Finanzsicherheiten-Richtlinie genannten Personen, was z. B. bei gewöhnlichen Industrieunternehmen der Fall ist, muss der Sicherungsnehmer zu den in Art. 1 Abs. 2 lit. a– d der Finanzsicherheiten-Richtlinie aufgeführten Kategorien zählen und die besicherten Verbindlichkeiten unter die in § 1 Abs. 17 Satz 2 KWG genannten Kategorien fallen. Hierzu zählen insbesondere Verbindlichkeiten aus Verträgen über die Anschaffung und die Veräußerung von Finanzinstrumenten. Beim Kundenclearing wird es sich bei dem Clearingmitglied um ein beaufsichtigtes Finanzinstitut handeln, so dass es für die Qualifikation von Marginleistungen als Finanzsicherheit in diesem Fall letztlich darauf ankommt, ob die Verbindlichkeiten z. B. eines Industrieunternehmens unter den Kundenclearingdokumentation als solche aus der Anschaffung und Veräußerung von Finanzinstrumenten zu betrachten sind. Derivate zählen dabei gemäß § 1 Abs. 11 Satz 1 Nr. 8 zu den Finanzinstrumenten, wobei § 1 Abs. 11 Satz 3 KWG den Begriff des Derivats näher definiert und damit auch begrenzt. Aufgrund der Weite der Definition dürfte der Derivatbegriff des § 1 Abs. 11 Satz 3 KWG allerdings den Großteil handelsüblicher Derivate erfassen. Der Abschluss eines Derivatkontrakts zwischen einem Kunden und einem Clearingmitglied ist auch als „Anschaffung“ eines Derivats zu betrachten, denn der bankaufsichtsrechtliche Begriff der „Anschaffung“ wird nicht lediglich der Kauf, sondern auch der Abschluss kaufähnlicher Verträge betrachtet.12) b) Initial Margin als Margensicherheit i. S. des § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO Bei initial margin handelt es sich nach Vorgesagtem zwar regelmäßig um eine Finanzsicherheit, gleichwohl ist zweifelhaft, ob die Leistung von initial margin durch § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO begünstigt wird. Denn der Begriff „wiederherzustellen“ deutet an, dass eine Margensicherheit infolge einer nachträglich eingetreten Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Wert der gesicherten Verbindlichkeit und dem Wert der geleisteten

12)

Vgl. BaFin, Merkblatt – Hinweise zu den Tatbeständen des Eigenhandels und des Eigengeschäfts, Stand: 10/2014, abrufbar unter www.bafin.de (Abrufdatum: 23.1.2016).

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Sicherheit bestellt werden muss, um von § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO privilegiert zu sein. So interpretiert die vorherrschende insolvenzrechtliche Literatur § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO auch restriktiv dahingehend, dass er ausschließlich die sog. „Nachbesicherung“,13) nicht hingegen die erstmalige Bestellung von Sicherheiten, weithin als sog. „Basissicherheit“ bezeichnet,14) schützt. Es ist allerdings bestreitbar, dass der deutsche Gesetzgeber bei einer derart engen Interpretation von § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO die Finanzsicherheiten-Richtlinie richtig umgesetzt hat. c) Vereinbarkeit von § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO mit der Finanzsicherheiten-Richtlinie Mit § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO bezweckte der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien15) die Umsetzung von Art. 8 Abs. 3 Finanzsicherheiten-Richtlinie. Art. 8 Abs. 3 Finanzsicherheiten-Richtlinie schützt ausdrücklich Finanzsicherheiten, die bestellt werden, um Änderungen im Wert der Finanzsicherheit oder im Betrag der maßgeblichen Verbindlichkeit Rechnung zu tragen. Unerwähnt bleibt in den Gesetzgebungsmaterialien zur Umsetzung der Finanzsicherheiten-Richtlinie Art. 8 Abs. 1 lit. b Finanzsicherheiten-Richtlinie. Dieser verpflichtet die Mitgliedstaaten allgemein, sicherzustellen, dass die Bestellung einer Finanzsicherheit nicht allein deshalb für unwirksam oder nichtig erklärt oder rückgängig gemacht werden darf, weil die Bestellung innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor der Eröffnung eines Liquidationsverfahrens bzw. der sonstigen in Art. 8 Abs. 1 lit. b Finanzsicherheiten-Richtlinie genannten Maßnahmen oder Ereignisse erfolgte. Im Unterschied zu Art. 8 Abs. 3 Finanzsicherheitenrichlinie erfordert Art. 8 Abs. 1 lit. b Finanzsicherheiten-Richtlinie nicht, dass die Finanzsicherheit bestellt wird, um Änderungen im Wert der Finanzsicherheit oder im Betrag der maßgeblichen Verbindlichkeit Rechnung zu tragen. Damit erfasst Art. 8 Abs. 1 lit. b grundsätzlich auch die Leistung von initi-

13) 14) 15)

Thole in: Kreft, InsO, 7. Aufl. 2014, § 130 Rz. 46. Schoppmeyer in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, Stand: 11/2015, § 130 Rz. 33; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 130 Rz. 5d. BT-Drucks. 15/1853, S. 15 f.

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al margin, sofern diese die allgemeinen Anforderungen an Finanzsicherheiten erfüllt.16) Anders als Art. 8 Abs. 3 Finanzsicherheiten-Richtlinie wurde Art. 8 Abs. 1 lit. b Finanzsicherheiten-Richtlinie nicht zum Anlass für Änderungen im deutschen Insolvenzrecht, einschließlich des § 130 Abs. 1 InsO, genommen. Dies mag man damit rechtfertigen, dass Art. 8 Abs. 1 FinanzsicherheitenRichtlinie nur Anfechtungen ausschließt, die allein auf zeitlicher Nähe der anfechtbaren Rechtshandlung beruhen. Die Insolvenzanfechtung gemäß § 130 Abs. 1 InsO setzt hingegen nicht allein die Vornahme der Rechtshandlung innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor dem Antrag auf Insolvenzeröffnung voraus, sondern hat weitere Voraussetzungen, nämlich die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners und die diesbezügliche Kenntnis des Gläubigers.17) Überzeugend erscheint dies jedoch nicht, denn mit dieser Argumentation hätte der deutsche Gesetzgeber konsequenterweise auch auf Maßnahmen zur Umsetzung von Art. 8 Abs. 3 FinanzsicherheitenRichtlinie verzichten können; denn diese Vorschrift richtet sich ebenfalls nur gegen solche Bestimmungen, welche die Bestellung einer Finanzsicherheit allein aufgrund ihres Zeitpunkts angreifbar machen. Rechtlich mag es daher vertretbar sein, § 130 InsO im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 lit. b Finanzsicherheiten-Richtlinie nicht für umsetzungsbedürftig zu halten, überzeugend erscheint dies unter Berücksichtigung seiner Anpassung aufgrund von Art. 8 Abs. 3 Finanzsicherheiten-Richtlinie jedoch nicht. Im Hinblick auf die Zielrichtung der Finanzsicherheiten-Richtlinie erscheint es vielmehr überzeugender, die Leistung marktüblicher initial margin im Hinblick auf Ausnahmen von der Insolvenzanfechtungstatbeständen nicht schlechterzustellen als die Leistung von variation margin. Denn letztlich sichert die initial margin ebenso wie die variation margin Zahlungsansprüche aus Derivatkontrakten, wobei die initial margin den Empfänger vor dem

16)

17)

Dagegen lässt sich ggf. Präambel 16 der Finanzsicherheiten-Richtlinie anführen, die im Wesentlichen auf die „Aufstockung“ von Sicherheiten bzw. den „Austausch“ von Sicherheiten abstellt. Soweit die Präambelbestimmung jedoch klarstellt, dass nationale Anfechtungsregelungen mit zusätzlichen Voraussetzungen (z. B. Anfechtungen wegen betrügerischer Handlungen) von der Richtlinie unberührt bleiben, erwähnt sie explizit auch „ursprüngliche“ Sicherheiten. Vgl. Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 130 Rz. 94. Dies wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat als Argument gegen die Notwendigkeit einer Anpassung von § 130 InsO angeführt. Die Bundesregierung hielt in Kenntnis dieses Einwands gleichwohl die Ergänzung durch § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO für erforderlich; vgl. BT-Drucks. 15/1853, S. 26 und S. 32.

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Risiko eines Ausfalls schützt, wenn der Vertragspartner ihm widrige Wertveränderungen nicht mehr durch variation margin ausgleichen kann; insofern erschiene es widersinnig, initial margin und variation margin insolvenzanfechtungsrechtlich unterschiedlich zu behandeln. Der Wortlaut von § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO mag für die Erfassung der initial margin zwar nicht förderlich sein, steht dem aber auch nicht zwingend entgegen; denn letztlich wird initial margin vorab geleistet, um bei einer Wertschwankung eines Derivatkontrakts, welche die Gegenpartei nicht mehr durch variation margin auszugleichen vermag, die vollständige Besicherung der gesicherten Verbindlichkeiten wiederherzustellen. Im Ergebnis besteht allerdings erhebliche Rechtsunsicherheit, dass de lege lata die Leistung von initial margin unter § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO subsumiert werden kann. d) Sonstige Beschränkungen des § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO Die vorherrschende insolvenzrechtliche Literatur schränkt den Anwendungsbereich von § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht allein durch seine Begrenzung auf „Nachschusssicherheiten“ ein. Auch im Übrigen interpretiert die vorherrschende insolvenzrechtliche Literatur § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO überwiegend restriktiv, ohne dabei auch relativ klare Vorgaben der Finanzsicherheiten-Richtlinie immer gebührend zu berücksichtigen. Insbesondere findet in der Literatur die weit verbreitete Ansicht, wonach eine Margensicherheit bereits dann insolvenzrechtlich angefochten werden kann, wenn die sog. Basissicherheit erfolgreich angefochten werden kann. Die Anfechtung der Basissicherheit würde der späteren Margensicherheit „die Grundlage entziehen“.18) Es leuchtet nicht ein, warum die Anfechtung der Basissicherheit einer zusätzlichen Margensicherheit eine Grundlage entziehen soll. Zwar mag das Ziel einer vollständigen Besicherung verfehlt werden, wenn die sog. Basissicherheit nicht rechtsbeständig ist. Das ändert aber nichts daran, dass die Parteien auch in diesem Fall die Margensicherheit entsprechen den Anforderungen des § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO bewirkt haben werden, um ein bestimmtes Verhältnis von besicher-

18)

Thole in: Kreft, InsO, 7. Aufl. 2014, § 130 Rz. 46; Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 130 Rz. 89; Schoppmeyer in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, Stand: 11/2015, § 130 Rz. 32. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 130 Rz. 5d.

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ten Verbindlichkeiten und Sicherheitenwert herzustellen.19) Im Übrigen berücksichtigt die Literatur nicht, dass Art. 8 Abs. 3 FinanzsicherheitenRichtlinie eine solche Beschränkung nicht vorsieht und die Literaturansicht somit im Widerspruch zu den europarechtlichen Vorgaben steht. Auch in anderer Hinsicht wird § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO in einer Weise interpretiert, deren Vereinbarkeit mit der Finanzsicherheiten-Richtlinie fragwürdig und die im Hinblick auf die praktischen Bedürfnisse der Besicherung von Derivatgeschäften wenig überzeugend erscheint. So wird postuliert, dass § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO eine „möglichst konkret(e)“20) Bestimmung der Sicherheiten in der Sicherheitenvereinbarung erfordere. Art. 8 Abs. 3 der Finanzsicherheiten-Richtlinie verlangt jedoch nur, dass die Sicherheitenvereinbarung überhaupt die Verpflichtung zur Bestellung einer Finanzsicherheit vorsieht. Nach den Gesetzgebungsmaterialien sollen in Hinblick auf eine ansonsten drohende Anfechtbarkeit der Sicherheitenbestellung nach § 131 InsO zumindest „keine übertriebenen Anforderungen“ an die Bestimmbarkeit der Sicherheit aus der Sicherheitenvereinbarung gestellt werden dürfen. Damit sollte es jedenfalls ausreichend sein, wenn der Kreis der zulässigen Sicherheiten der Art nach zwischen den Parteien in der Vereinbarung festgelegt wird, in der sich der Sicherungsgeber zur Leistung von Sicherheiten verpflichtet, es zu der – aufgrund des Bestimmtheitsprinzips bei Wertpapiersicherheiten auch sachenrechtlich erforderlichen – Konkretisierung der Sicherheit aber erst bei der tatsächlichen Bestellung der Sicherheit kommt. Unter anderem aufgrund der wechselnden Wertpapierbestände der Sicherungsgeber wäre es praxisfern und § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO weitgehend der Relevanz raubend, eine konkrete Benennung der im Einzelfall zu übertragenden Margensicherheiten bereits in der Vereinbarung zu fordern, durch die sich der Sicherungsgeber zur Stellung von Sicherheiten verpflichtet. Man wird nicht annehmen können, dass dem europäischen Finanzmarktgesetzgeber ein solches praxisfernes Erfordernis bei Art. 8 Abs. 3 der Finanzsicherheiten-Richtlinie vorschwebte.

19)

20)

Anders mag die Rechtslage bei Anfechtung der Sicherungsvereinbarung als solcher zu beurteilen sein, wobei eine Anfechtung der Sicherungsvereinbarung im Lichte des Art. 8 Abs. 3 Finanzsicherheiten-Richtlinie unter denselben Voraussetzungen ausgeschlossen sein muss wie die Anfechtung der darauf beruhenden Bestellung der Sicherheit, da andernfalls die von Art. 8 Abs. 3 Finanzsicherheiten-Richtlinie bezweckte Rechtsbeständigkeit der Finanzsicherheit nicht bewirkt werden könnte. Thole in: Kreft, InsO, 7. Aufl. 2014, § 130 Rz. 46.

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3. Leistung von initial margin als Bargeschäft Die Leistung von initial margin wäre in den Grenzen des § 142 InsO vor einer Insolvenzanfechtung geschützt, wenn sie als Bargeschäft i. S. des § 142 InsO betrachtet werden könnte. Die Anwendung des Bargeschäftsprivilegs setzt jedoch voraus, dass für die Leistung der initial margin „unmittelbar eine gleichwertige Gegenleistung“ in das Schuldnervermögen gelangt ist. Die Bestellung von Sicherheiten kann i. R. des Bargeschäftsprivilegs der Insolvenzanfechtung insbesondere entzogen sein, wenn dem Schuldner gegen Leistung von Sicherheiten neuer Kredit gewährt wird.21) In der Literatur wird ferner die Ansicht vertreten, dass ein vor der Kreditgewährung vereinbartes Pfandrecht als Bargeschäft der Insolvenzanfechtung entzogen ist und zwar auch dann, wenn die hierdurch gesicherten Ansprüche erst in der Krise des Schuldners entstehen.22) Ausweislich der Gesetzesmaterialien zur Umsetzung der Finanzsicherheiten-Richtlinie ging der Gesetzgeber allerdings nur von einer sehr begrenzten Begünstigung von Margensicherheiten durch das Bargeschäftsprivileg aus. Hiernach soll eine Privilegierung von Margensicherheiten als Bargeschäft i. S. des § 142 InsO ausschließlich beim Austausch einer bereits gestellten Sicherheit gegen eine gleichwertige Sicherheit in Betracht kommen. Andere Leistungen einer Margensicherheit blieben hingegen „infolge des zeitlichen Auseinanderfallens von Leistung und Gegenleistung“ anfechtbar.23) Die restriktiven Aussagen in den Gesetzesmaterialien überzeugen nicht. Es ist bereits zweifelhaft, ob das Bargeschäftsprivileg infolge zeitlichen Auseinanderfallens von Leistung und Gegenleistung entfällt, wenn nicht der spätere Insolvenzgläubiger, sondern der Insolvenzschuldner vorgeleistet hat.24) Zudem erhält der Schuldner bereits unmittelbar gegen die Leistung der initial margin eine Gegenleistung; denn die Leistung von initial margin ist nach den relevanten vertraglichen Vereinbarungen regelmäßig Voraussetzung dafür, dass das Clearingmitglied überhaupt bereit ist, Derivatgeschäfte für den Kunden abzuwickeln. Das Clearingmitglied räumt dem 21) 22) 23)

24)

BGH, Urt. v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, NJW 1998, 2592, 2599 = ZIP 1998, 793. Hess in: Hess, Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2013, § 142 Rz. 57. BT-Drucks. 563/03, S. 19; Eckardt, Kreditsicherung versus Insolvenzanfechtung – Zur Anfechtung globaler Kreditsicherheiten, dargestellt anhand des AGB-Pfandrechts der Banken, ZIP 1999, 1417, 1425. Vgl. Kreft in: Kreft, InsO, 7. Aufl. 2014, § 142 Rz. 6.

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Kunden nur gegen die Leistung von initial margin die Möglichkeit ein, Derivatkontrakte einzugehen, mit dem der Kunde seine Handels- bzw. Absicherungsstrategien verwirklichen können, deren Wertentwicklung aber freilich auch zu Zahlungsansprüchen des Clearingmitglieds gegen den Kunden führen können. In seiner Entscheidung zur Anwendung des Bargeschäftsprivilegs bei bankmäßigen Verrechnungen im Kontokorrent hat der BGH entschieden, dass es für die Werthaltigkeit der Gegenleistung des Kreditinstituts bereits ausreicht, wenn es – im konkreten Fall aufgrund der Verrechnungen – den Kunden einen schuldrechtlich versprochenen Kredit tatsächlich ausnutzen lässt.25) Ähnlich verhält es sich hier, denn nur gegen die Leistung der initial margin lässt das Clearingmitglied den Kunden die Möglichkeit des Abschlusses von Derivatgeschäften ausnutzen. Richtigerweise sollte daher die Leistung vertraglich vereinbarter initial margin zur Besicherung künftiger Forderungen des Clearingmitglieds gegen den Kunden dem Bargeschäftsprivileg unterfallen. Aufgrund der restriktiven Passagen in den Gesetzesmaterialien und dem Mangel an einschlägiger Judikatur besteht jedoch erhebliche Rechtsunsicherheit, ob und inwieweit Gerichte das Bargeschäftsprivileg bei der Leistung von initial margin zur Anwendung bringen würden. IV. Insolvenzrechtlicher Schutz von initial margin durch EMIR und Art. 102b EGInsO Der deutsche Gesetzgeber hat die EMIR-Gesetzgebung auf europäischer Ebene durch das EMIR-Ausführungsgesetz26) flankiert, welches mit der Einführung von Art. 102b EGInsO bestimmte, in EMIR vorgesehene Maßnahmen von einer Insolvenzanfechtung ausnimmt (§ 2 Abs. 1 Art. 102b EGInsO). Obgleich § 1 Abs. 1 Art. 102b EGInsO die Überschrift „Ausfallbestimmungen von zentralen Gegenparteien“ trägt, betrifft die Vorschrift nicht den Ausfall einer zentralen Gegenpartei, sondern die Insolvenz eines Clearingmitglieds.27) Für diesen Fall bestimmt § 1 Abs. 1 Art. 102b EGInsO, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestimmte, in Art. 48 EMIR vorgesehene Maßnahmen nicht hindert, so insbesondere nicht die im Fall des Ausfalls eines Clearingmitglieds in Art. 48 Abs. 7 EMIR ad25) 26) 27)

BGH, Urt. v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, BGHZ 150, 122, 132 = ZIP 2002, 812. Ausführungsgesetz zur Verordnung (EU) Nr. 648/2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, BGBl. I 2013, 174. Vgl. auch die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 17/11289, S. 27.

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ressierte Rückgewähr von Sicherheiten, die ein Kunde gestellt hat an diesen Kunden; gemäß § 2 Art. 102b EGInsO unterliegen diese Maßnahmen auch nicht der Insolvenzanfechtung. Weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien lässt sich hingegen ableiten, dass durch § 1 Abs. 1 Art. 102b EGInsO auch die Einräumung von Sicherheiten seitens des Kunden in der Insolvenz des Kunden von der Insolvenzanfechtung ausgenommen werden sollten. Obgleich Art. 41 Abs. 1 EMIR im Verhältnis zwischen CCP und Clearingmitglied ausdrücklich die Einforderung von Einschusszahlungen verlangt, lässt sich eine weitergehende insolvenzrechtliche Privilegierung von Einschusszahlungen auch nicht aus Präambel 64 zur EMIR ableiten, wonach „die in dieser Verordnung festgelegten Vorschriften für die Trennung und die Übertragung von Positionen und Vermögenswerten von Kunden […] Vorrang vor etwaigen kollidierenden Rechts- oder Verwaltungsvorschriften der Mitgliedschaften haben (sollten), die die Parteien an der Erfüllung dieser Vorschriften hindern“.

Denn die Präambel bezieht sich ebenfalls auf den Schutz von Kundensicherheiten in der Insolvenz des Clearingmitglieds. Da Art. 102b EGInsO die in Art. 48 EMIR vorgesehenen Maßnahmen bei Ausfall eines Clearingmitglieds insolvenzrechtlich absichern soll, sind im Übrigen Rechtshandlungen, die im Bereich von OTC-Derivatgeschäften vorgenommen werden, welche nicht durch eine zentrale Gegenpartei abgewickelt werden, ohnehin nicht von Art. 102b EGInsO erfasst. Daher vermag Art. 102b EGInsO insbesondere keinen Schutz gegen die Anfechtung der Leistung von initial margin bieten, die i. R. der Besicherung von nicht durch eine zentrale Gegenpartei geclearte OTC-Derivate erfolgt, so wie es der Entwurf der Regulatory Technical Standards zu den Risikominderungstechniken für nicht durch eine CCP geclearte Derivate vorsehen. V. Ausblick Im Lichte der zentralen Bedeutung, welche die europäische Regulierung Marginleistungen für die Stabilität der Derivatemärkte beimisst, erscheinen die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine „insolvenzfeste“ Leistung von initial margin derzeit fragil. Zwar erscheint es unter Heranziehung der zu Grunde liegenden europarechtlichen Bestimmungen möglich bzw. in einigen Punkten sogar erforderlich, § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO gegen allzu verengende Sichtweisen in der insolvenzrechtlichen Literatur in Schutz zu nehmen. Es bleibt aber de lege lata zweifelhaft, ob und inwie-

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weit § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO auch die Leistung von initial margin erfasst oder diese dem Bargeschäftsprivileg unterfällt. Mit den Zielen der europäischen Regulierung der Derivatemärkte, welche unter anderem die Besicherung von Geschäften mit Derivaten, welche nicht über zentrale Gegenparteien (central counterparties – „CCP“) abgewickelte werden, mit großem Nachdruck und detaillierten Bestimmungen vorsieht, verträgt es sich nicht, wenn auf europäischer Ebene aufsichtsrechtlich geforderte Marginleistungen nach nationalem Insolvenzrecht keine hinreichende Sicherheit vor Insolvenzanfechtung genießen; denn es kann nicht i. S. des europäischen Gesetzgebers sein, dass aufsichtsrechtliche Mindestanforderungen an die Besicherung von Derivatkontrakten durch Anfechtungsmöglichkeiten nach nationalem Recht unterminiert werden. Es wäre wünschenswert, wenn der nationale Gesetzgeber die aufsichtsrechtlichen Entwicklungen in angemessener Weise im nationalen Insolvenzrecht reflektiert, um die derzeitige Rechtsunsicherheit zu beseitigen.

Die neue Konzeption der Regeln zur Offenlegung der Stimmrechte bei börsennotierten Aktiengesellschaften UWE H. SCHNEIDER Inhaltsübersicht I.

Die Vorgeschichte der EU-Richtlinie 2013/50/EU II. Die rechtspolitische Herausforderung III. Die bisherige Konzeption IV. Die neue Konzeption 1. Die neue erste Säule 2. Die neue zweite Säule 3. Die neue dritte Säule V. Die Folgen und die Bewertung der Neukonzeption 1. Überblick

2. Die Herabsetzung der Meldeschwellen bei unbedingten und unbefristeten Ansprüchen 3. Die zeitliche Vorverlegung der Frist für die Erfüllung der Meldepflichten 4. Die Anwendung der Zurechnungsvorschriften bei unbefristeten und unbedingten schuldrechtlichen Ansprüchen 5. Die Neuordnung der Stimmrechtsmitteilungen im Konzern 6. Die Neuordnung der Rechtsfolgen bei Verletzung der Meldepflichten

I. Die Vorgeschichte der EU-Richtlinie 2013/50/EU Mit der Richtlinie 2013/50/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 20131) wurde die Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einen geregelten Markt zugelassen sind, geändert. Nach Art. 33 der Richtlinie 2004/109/EG hatte die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat über die Anwendung jener Richtlinie Bericht zu erstatten. Diesen Bericht hat die Kommission am 27. Mai 2010 vorgelegt. Darin wird unter anderem über Bereiche berichtet, in denen jene durch die Richtlinie geschaffenen Regelungen verbessert werden könnten. In dem Bericht heißt es unter anderem, es bestehe auch Rege-

1)

ABl. (EU) Nr. L 294 v. 6.11.2013; Parmentier, Die Revision der EU-Transparenzrichtlinie für börsennotierte Unternehmen, AG 2014, 15; Seibt/Wollenschläger, Revision des Europäischen Transparenzregimes: Regelungsinhalte der TRL 2013 und Umsetzungsbedarf, ZIP 2014, 545.

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lungsbedarf insbesondere in Bezug auf die Offenlegung von Unternehmensbeteiligungen. Diesem Änderungsbedarf versucht die Änderungsrichtlinie 2013/50/EU gerecht zu werden. Ausdrücklich genannt wird in den Erwägungsgründen, dass im Finanzbereich Innovationen zur Schaffung von neuen Arten von Finanzinstrumenten geführt haben „mit denen Anleger eine finanzielle Beteiligung an Unternehmen erwerben, deren Offenlegung in der Richtlinie 2004/109/EG nicht vorgesehen ist“. Und weiter heißt es: „Diese Instrumente könnten zum heimlichen Erwerb von Aktienbeständen von Unternehmen genutzt werden, was zum Marktmissbrauch führen und ein falsches und irreführendes Bild der wirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse börsennotierter Gesellschaften zeichnen kann“.

Damit wurden die schon früher verfolgten Regelungsziele weiterverfolgt. Dabei wird verdeutlicht, dass es beim Erwerb nicht darauf ankommt, wer die Mitgliedschaftsrechte innehat. Vielmehr werden dem Ansprüche gleichgestellt, die die unbedingte und ohne zeitliche Verzögerung vorgesehene Übertragung von Aktien zum Inhalt haben. Die Erkenntnis ist nicht neu. Sie hat schon im Jahr 2007 aufgrund des Transparenzrichtlinien-Umsetzungsgesetz zu einer Änderung des Wertpapierhandelsgesetzes geführt. Aufgeteilt wurde das kapitalmarktrechtliche Offenlegungsrecht in der Folge durch das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz auf drei Säulen. Zum Zeitpunkt, in dem diese Überlegungen entwickelt werden, liegen der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie (Änderungsrichtlinie) vom 29. April 2015 mit ausführlicher Begründung und das Umsetzungsgesetz mit größeren Änderungen des Wertpapierhandelsgesetzes vor.2) Unmittelbar anwendbar ist zudem die Delegierte Verordnung KOM-VO 2015/761 vom 17. Dezember 2014 zur Ergänzung der Richtlinie 2004/109/EG.3) Und für die Praxis bedeutsam sind ferner die indikative ESMA Liste der Finanzinstrumente, die in § 25 WpHG genannt werden sowie die Q&A-Liste der ESMA zur Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie. Das Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie vom 20. November 20154) entspricht weitgehend dem Regierungsentwurf. Das Umsetzungsgesetz folgt der Richtlinie. Im Vergleich 2)

3) 4)

Siehe dazu: Bosse, Referentenentwurf zur Umsetzung der EU-TransparenzrichtlinieÄnderungsrichtlinie: Änderungen bei periodischer Finanzberichterstattung und Beteiligungstransparenz, BB 2015, 746, 748; Burgard/Heimann, Beteiligungspublizität nach dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie, WM 2015, 1445. Abl. (EU) Nr. L 120/2 v. 13.5.2015. BGBl. I, 2029.

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zum bisherigen Rechtszustand sind die Änderungen beschränkt. Große Bedeutung hat aber die Änderung der bisherigen Konzeption der Offenlegungsregeln. Die kapitalmarktrechtlichen Mitteilungspflichten über die Änderung der Stimmrechtsverhältnisse werden ganz neu strukturiert. Davon handeln die folgenden Überlegungen. In einem ersten Schritt sollen die bisherige Konzeption und die Neustrukturierung gegenübergestellt werden. In einem zweiten Schritt geht es um die Bewertung der Neustrukturierung. II. Die rechtspolitische Herausforderung Kapitalmarktrechtliche Regeln zur Offenlegung von Stimmrechtsanteilen stehen vor einer mehrfachen Herausforderung. Zum einen macht eine zwingende Offenlegung nur Sinn, wenn sie lückenlos ist: Denn es geht nicht darum, dem Markt einen nur ungefähren Überblick über die Stimmrechtsverhältnisse bei den börsennotierten Unternehmen zu geben. Dafür wäre eine lückenlose Offenlegung nicht erforderlich. Vielmehr geht es vor allem darum, ein Anschleichen durch solche Aktionäre zu verhindern, die Pakete schnüren oder gar das Unternehmen übernehmen wollen. Sicherzustellen ist daher, dass gerade auch die Anschleicher zur Offenlegung gezwungen sind. Diese entwickeln aber mit Hilfe ihrer Berater vielfältige Taktiken, um die Offenlegung zu umgehen. Das führt zum Teil zu höchst komplizierten Zurechnungsregeln, die in der Praxis unerfreuliche Anwendungsschwierigkeiten verursachen. Zum anderen sind die Rechtfolgen auszubalancieren. Sind die Rechtsfolgen einer Verletzung von Meldepflichten nämlich nicht abschreckend, so werden diese die Anschleicher in Kauf nehmen. Sind sie dagegen zu undifferenziert, so werden auch solche Meldepflichtigen getroffen, die ein Anschleichen gar nicht im Sinne hatten, sondern die sich nur im Dickicht der Zurechnungsregeln verstricken. III. Die bisherige Konzeption Durch das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz5) wurde der damalige § 25 WpHG geändert und § 25a WpHG a. F. eingeführt. Damit sollten Transparenzlücken im Gesetz geschlossen und Umgehungspraktiken bekämpft werden. Eingeführt wurde die Drei-Säulen-Konzeption. Die einzelnen Säulen handelten von unterschiedlichen Meldepflichten. Die 5)

BGBl. I 2011, 538.

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Regelungsbereiche unterschieden sich in den Voraussetzungen der Meldepflichten und dem Regelungsziel, im Gegenstand der Offenlegung, in den Zurechnungsvorschriften, den Meldefristen und den Rechtsfolgen bei Verletzung der Pflichten. –

Die erste Säule betraf die Offenlegung des Haltens oder zugerechneter Stimmen. Meldepflichtig war nach §§ 21 und 21a WpHG, wer durch Erwerb, Veräußerung oder auf sonstiger Weise die näher bezeichneten Meldeschwellen der Stimmrechte an einem Emittenten erreichte, überschritt oder unterschritt. Die §§ 21 ff. WpHG begründeten Meldepflichten aber nur beim dinglichen Erwerb oder bei der dinglichen Veräußerung oder bei dinglichen Rechtsänderungen von Stimmrechten auf sonstige Weise.



Die zweite Säule, geändert durch das Transparenzrichtlinie-Gesetz vom 5. Januar 2007,6) betraf die Mitteilungspflichten beim Halten von Finanzinstrumenten und sonstigen Instrumenten. Gemeint waren damit die Zugriffsrechte auf die mit Stimmrechten verbundenen Aktien. Meldepflichtig war auch derjenige, der keinen rechtlichen Stimmrechtseinfluss hatte, also der Meldepflichtige, der nicht Aktionär war, sondern der nur einen schuldrechtlichen Anspruch hatte; denn Sinn und Zweck der Vorschrift war, sicherzustellen, „dass der Emittent und die Anleger darüber informiert werden, dass der Inhaber von Finanzinstrumenten die Möglichkeit hat, mit diesen Finanzinstrumenten Aktien zu erwerben und die aus diesen Aktien resultierenden Stimmrechte auszuüben“7).



Die dritte Säule betraf die Offenlegungspflichten, sofern der Betreffende unmittelbar oder mittelbar Finanzinstrumente oder sonstige Instrumente hielt, welche nicht bereits von § 25 WpHG, also der zweiten Säule erfasst waren und die es ihrem Inhaber oder einem Dritten aufgrund ihrer Ausgestaltung ermöglichten, mit Stimmrechten verbundene und bereits ausgegebene Aktien eines Emittenten zu erwerben. Exemplarisch benannte die Begründung zum Regierungsentwurf des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes8) Finanzinstrumente, „die lediglich einen Zahlungsausgleich, jedoch kein Recht auf den Erwerb von Aktien vorsehen“.

6) 7) 8)

BGBl. I 2007, 10. Begr. RegE, BT-Drucks. 16/2498, S. 37. Begr. RegE, BT-Drucks. 17/3628, S. 17.

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Gemeinsam war allen Vorschriften des Offenlegungsrechts das Ziel, die gute Ordnung im Kapitalmarkt zu erhalten. Bei den Offenlegungspflichten der zweiten und dritten Säule ging es aber nicht um die Offenlegung der gegenwärtigen Stimmrechte. Ziel war vielmehr die Offenlegung der künftigen Stimmrechte und des wirtschaftlichen Eigentums, also der Inhaberschaft einer „ökonomischen Longposition“. Erweitert wurde das Regelungsziel vom Halten und der Möglichkeit zum Ausüben von Stimmrechten auf den gegenwärtigen oder künftigen Zugriff auf Stimmrechte. IV. Die neue Konzeption Die bisherige Drei-Säulen-Konzeption wird durch das Umsetzungsgesetz zur Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie aufgegeben, die Offenlegungspflichten werden neu strukturiert und auch erweitert. An die Stelle tritt wiederum eine Drei-Säulen-Konzeption. Es handelt sich aber nichtmehr um drei selbstständige Meldetatbestände, sondern um eine einheitliche, aber gegliederte Meldepflicht. Die Meldung an die BaFin erfolgt daher auch einheitlich auf einem Formular, § 17 WpAIV. Die einzelnen Säulen unterscheiden sich aber von der alten Aufteilung im Regelungsziel und den einzelnen Regelungsbereichen. 1. Die neue erste Säule Angeknüpft wird in § 21 Abs. 1 Satz 1 sowie in § 22 Abs. 1 Sätze 1 und 2 und in § 28 WpHG wie bisher daran, dass dem Meldepflichtigen Stimmrechte gehören. Voraussetzung war und ist damit, dass der Meldepflichtige Mitglied der Aktiengesellschaft war und ist und als Inhaber der Aktien die Stimmrechte ausüben kann. Ein lediglich schuldrechtlicher Anspruch löste bisher nach § 21 WpHG keine Offenlegungspflichten aus. Künftig gilt nach § 21 Abs. 1b WpHG als „Gehören“ i. S. von § 21 Abs. 1 WpHG auch bereits das Bestehen eines auf die Übertragung von Aktien gerichteten, unbedingten und ohne zeitliche Verzögerung zu erfüllenden Anspruchs oder einer entsprechenden Verpflichtung. Damit werden die Regelungsziele der §§ 21 ff. WpHG erweitert. Regelungsziel wird nach § 21 WpHG zugleich die Offenlegung wirtschaftlicher Beteiligungsinteressen oder besser formuliert, die Offenlegung des künftigen Einflusses auf die Ausübung von Stimmrechten aufgrund des Anspruchs auf Übertragung von Mitgliedschaftsrechten. Der Rechtsgrund, nämlich das Kausalgeschäft für den schuldrechtlichen Anspruch wird nicht näher bestimmt.

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2. Die neue zweite Säule Die neue zweite Säule betrifft die Mitteilungspflichten beim Halten von Instrumenten. Insoweit sieht § 25 WpHG n. F. vor, dass zur Offenlegung bei Erreichen, Überschreiten oder Unterscheiten der in § 21 Abs. 1 Satz 1 WpHG genannten Schwellen mit Ausnahme der Schwelle von 3 % auch verpflichtet ist, wer unmittelbar oder mittelbar Inhaber von Instrumenten ist, die „1. dem Inhaber entweder

2.

a)

bei Fälligkeit ein unbedingtes Recht auf Erwerb mit Stimmrechten verbundener und bereits ausgegebener Aktien eines Emittenten, für den die Bundesrepublik Deutschland der Herkunftsstaat ist, oder

b)

ein Ermessen in Bezug auf sein Recht auf Erwerb dieser Aktien verleihen, oder

sich auf Aktien im Sinne der Nummer 1 beziehen und eine vergleichbare wirtschaftliche Wirkung haben wie die in Nummer 1 genannten Instrumente, unabhängig davon, ob sie einen Anspruch auf physische Lieferung einräumen oder nicht.“

Damit werden Art. 13 und 13a der Änderungsrichtlinie umgesetzt. Neu ist die Regelung aus Sicht des deutschen Rechts nicht, weil schon bisher nach § 25 Abs. 1 WpHG a. F. meldepflichtig war, wer „unmittelbar oder mittelbar Finanzinstrumente oder sonstige Instrumente“ hält. Das deutsche Offenlegungsrecht war insoweit dem europäischen Recht vorausgeeilt. Allerdings sprach § 25 WpHG a. F. von Finanzinstrumenten und sonstigen Instrumenten, während § 25 WpHG n. F. nur noch von Instrumenten spricht. Dabei war zwischen Verwaltungspraxis und Lehre streitig, wie der Begriff „Finanzinstrument“ auszulegen war. In der Verwaltungspraxis wurde die Ansicht vertreten, gemeint sei jedes Recht, insbesondere jeder unbedingte schuldrechtliche Anspruch, der dem Berechtigten vor allem also einem Gläubiger das Recht verleiht, mit Stimmrechten verbundene bereits ausgegebene Aktien eines Emittenten zu erwerben. Demgegenüber verwies die Lehre auf § 2 Abs. 2b WpHG. Dort sei der Begriff Finanzinstrumente definiert und zwar enger, als die Verwaltungspraxis den Begriff auslege. Nunmehr stellt die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 25 WpHG fest, dass sich im Vergleich zu § 25 WpHG a. F. „grundsätzlich“ keine

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Änderungen durch die neue Fassung ergeben. Inhaltlich näher bestimmt werde der Begriff der „Instrumente“ in der Transparenzänderungsrichtlinie. Art. 13 Abs. 1 der Transparenzänderungsrichtlinie unterscheidet dabei –

zwischen Instrumenten mit physischer Abwicklung, bei denen der Erwerb der Aktien, nur noch vom Inhaber des Instruments – gemeint ist eine Erklärung des Inhabers – oder vom Zeitablauf abhängt.



und Instrumenten mit vergleichbarer wirtschaftlicher Wirkung unabhängig davon, ob diese physisch abgewickelt werden oder einen Barausgleich vorsehen.

Sodann enthält Art. 13 Abs. 1b der Transparenzänderungsrichtlinie eine exemplarische also nicht abschließende Aufzählung von Instrumenten, „sofern sie eine der in Absatz 1 unter Absatz 1 Buchstabe a oder b genannten Bedingung erfüllen“.

Im Übrigen ist im Wege der richtlinienkonformen Auslegung zu ermitteln, ob bei Transaktionen, die nicht in die Liste aufgenommen sind, die Voraussetzungen für ein „Instrument“ vorliegen. Für die Praxis entscheidend wird sein, welche Verwaltungspraxis sich in den EU-Mitgliedstaaten entwickelt und wie sich die ESMA dazu äußert. Die ESMA ihrerseits soll unter Berücksichtigung der technischen Entwicklungen auf den Finanzmärkten eine nichterschöpfende Liste der Finanzinstrumente aufstellen, die den Mitteilungspflichten gemäß Absatz 1 unterliegen. Diese Liste ist bereits in der Delegierten Verordnung vom 17. Dezember 20149) vorgelegt worden. Die Liste soll regelmäßig aktualisiert werden, bereitet also keine Sicherheit. Daraus wird deutlich, dass sich der Rechtsanwender im Nebel bewegt; denn auch wenn bestimmte Sachverhalte nicht in die Liste aufgenommen worden sind, schließt dies nicht aus, dass ihr Vorliegen meldepflichtig ist. 3. Die neue dritte Säule Einen eigenen neuen Meldetatbestand enthält § 25a WpHG n. F. zwar nicht. Es wird aber ein neuer Zusammenlegungstatbestand ins Gesetz aufgenommen. Angeknüpft wird nicht an weitere Sachverhaltselemente. Ziel von § 25a WpHG ist es vielmehr, die Stimmrechte aus Aktien, die dem Meldepflichtigen gehören, und die Stimmrechte aus Aktien, auf die ein Anspruch i. S. von § 21 Abs. 1a WpHG n. F. besteht sowie die Stimm9)

ABl. (EU) Nr. L 120/2 v. 13.5.2015.

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rechte aus Instrumenten i. S. von § 25 WpHG n. F. zusammenzurechnen. Wird bei dieser Zusammenrechnung die Schwelle nach § 21 Abs. 1 Satz 1 WpHG n. F. mit Ausnahme der Schwelle von 3 % erreicht, überschritten oder unterschritten, so ist auch dies meldepflichtig. Auf diese Weise wird dem Anleger der Überblick erleichtert, die Transparenz verbessert. V. Die Folgen und die Bewertung der Neukonzeption 1. Überblick Die Neukonzeption nach dem Umsetzungsgesetz zur TransparenzrichtlinieÄnderungsrichtlinie führt –

zu einer Erweiterung der Meldepflichten bei schuldrechtlichen Ansprüchen, nämlich auch in diesem Fall schon bei Erreichen oder Überschreiten einer Meldeschwelle von 3 %. Bisher bestanden Meldepflichten beim Halten von Finanzinstrumenten nicht bei der Schwelle von 3 %, § 25 Abs. 1 Satz 1 WpHG a. F.;



bei den Offenlegungspflichten der ersten Säule zur zeitlichen Vorverlagerung der Meldepflichten. Damit soll die europäische Harmonisierung sichergestellt werden; denn die anderen Mitgliedstaaten kennen keine klare Trennung zwischen Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft;



zur Anwendung der Zurechnungsvorschriften bei unbefristeten und unbedingten Ansprüchen;



zur Nichtanwendung der Zurechnungsvorschriften bei schuldrechtlichen Ansprüchen, die nicht unbefristet und/oder die nicht unbedingt sind;



zur Neuordnung der Stimmrechtsmitteilungen im Konzern;



zur Erweiterung der Rechtsfolgen bei Verletzung der Meldepflichten;



zur Ausdehnung des Sanktionsrahmens.

2. Die Herabsetzung der Meldeschwellen bei unbedingten und unbefristeten Ansprüchen Schon bisher lösten schuldrechtliche Ansprüche aufgrund von Festgeschäften nach § 25 WpHG a. F. Meldepflichten aus, unabhängig davon, ob die schuldrechtlichen Ansprüche befristet oder unbefristet, bedingt oder

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unbedingt waren. Bedeutung hatte dies vor allem für außerbörsliche Festgeschäfte, die nicht sofort zu erfüllen waren. Dazu vertrat die BaFin die Ansicht: „Wenn Aktien außerbörslich erworben werden und für die Lieferung ein gesonderter Zeitraum vereinbart wird (länger als T+2), ist – beim Berühren melderelevanter Schwellen – eine Mitteilung nach § 25 WpHG erforderlich“.10)

Die Meldepflicht galt aber nicht für die Meldeschwelle von 3 %. Dies ändert sich. Nunmehr fallen Ansprüche, die unbefristet und unbedingt sind unter § 21 WpHG mit der Folge, dass dann die Meldeschwelle von 3 % greift. Nicht anwendbar ist § 21 Abs. 1a WpHG n. F., wenn der Meldepflichtige die Aktien veräußert also ein Dritter einen schuldrechtlichen Anspruch auf die Aktien erwirbt, die Aktien aber noch nicht übertragen sind. Die Meldepflicht entsteht in diesem Fall erst mit der Übertragung der Aktien. Nicht ausdrücklich geregelt ist, was für schuldrechtliche Ansprüche gilt, die befristet oder bedingt sind. Insoweit ist davon auszugehen, dass § 25 WpHG n. F. greift, also erst zu melden ist, wenn die Meldeschwelle von 5 % erreicht oder überschritten wird. 3. Die zeitliche Vorverlegung der Frist für die Erfüllung der Meldepflichten Die Mitteilung muss nach § 21 Abs. 1 Satz 1 WpHG unverzüglich, spätestens innerhalb von vier Handelstagen unter Beachtung von § 22 Abs. 1 und 2 WpHG erfolgen. Hieran ändert sich nichts. Für den Fristbeginn ist aber künftig zwischen aktiver und passiver Schwellenberührung zu unterscheiden: –

Die Frist beginnt in der Regel mit dem Zeitpunkt, in dem der Meldepflichtige Kenntnis davon hat oder nach den Umständen haben musste, dass sein Stimmrechtsanteil die im Gesetz genannten Schwellen erreicht, überschreitet oder unterschreitet. Dabei wird vermutet, dass der Meldepflichtige 2 Handelstage nach dem Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten der genannten Schwellen durch die Erlangung oder die Abgabe der Aktien Kenntnis hat, § 21 Abs. 1 Satz 4 WpHG. Hieran ändert sich nichts.

10)

BaFin, Häufig gestellte Fragen zu den §§ 21 ff. WpHG, Stand: 2/2008.

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Neu ist, dass bei passiver Schwellenberührung nämlich aufgrund der Veränderung der Gesamtzahl der Stimmrechte die positive Kenntnis des Meldepflichtigen maßgeblich ist spätestens aber die Veröffentlichung gemäß § 26 WpHG n. F. Und neu ist die tatsächliche Vorverlagerung des Beginns der Meldefrist. –

Bisher war für den Beginn der Meldepflicht nach § 21 Abs. 1 Satz 3 WpHG das Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten der Erwerb der dinglichen Mitgliedschaft und damit der Erwerb der Stimmrechte maßgebend. Das ändert sich; denn nunmehr ist nach § 21 Abs. 1b WpHG das Bestehen eines auf die Übertragung von Aktien gerichteten unbedingten und ohne zeitliche Verzögerung zu erfüllenden Anspruchs oder einer entsprechenden Verpflichtung maßgebend. Die Meldefrist beginnt daher nicht mehr erst mit der Erfüllung, sondern schon mit der Begründung bzw. dem Bestehen des schuldrechtlichen Anspruchs. Dieser liegt in der Regel vor dem Zeitpunkt der Erfüllung. Dabei wird nach § 21 Abs. 1 Satz 4 WpHG n. F. vermutet, dass der Meldepflichtige zwei Handelstage nach dem Bestehen des schuldrechtlichen Anspruchs, der zum Erwerb, Überschreiten oder Unterschreiten der Meldeschwelle führt, Kenntnis hat. 4. Die Anwendung der Zurechnungsvorschriften bei unbefristeten und unbedingten schuldrechtlichen Ansprüchen

Für die Mitteilungspflichten nach § 21 Abs. 1 und Abs. 1a WpHG werden Stimmrechte zugerechnet und zwar unter anderem auch solche, die von dem in § 22 Abs. 1 und 2 WpHG genannten Personen gehalten werden. Dagegen kennen die bisherigen Meldetatbestände nach § 25 und § 25a WpHG keine Zurechnungsvorschriften. Überzeugend war das nicht. Mitteilungspflichtig waren vielmehr nur der unmittelbare und der mittelbare Halter von Finanzinstrumenten. Mitteilungspflichtig war demzufolge auch, wer unmittelbar oder mittelbar Finanzinstrumente hielt. Das ändert sich. Da nach § 21 Abs. 1 WpHG meldepflichtig auch sein kann, wer bestimmte schuldrechtliche Ansprüche hat, folgt daraus auch eine erweiterte Zurechnung. Anwendbar sind die Zurechnungstatbestände auch, wenn dem Meldepflichtigen schuldrechtliche Ansprüche zustehen.

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Was dies bedeutet, macht ein Beispiel klar: Hat ein Meldepflichtiger einen auf die Übertragung von Aktien gerichteten unbedingten und ohne zeitliche Verzögerung zu erfüllenden Anspruch, so sind ihm auch unter den in „§ 22 WpHG genannten Voraussetzungen die Stimmrechte Dritter zuzurechnen“, § 21 Abs. 1 Nr. 1b WpHG i. V. m. § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG. Ist der zu erfüllende Anspruch dagegen gestundet oder bedingt, so ergibt sich eine Meldepflicht nicht nach § 21 Abs. 1 WpHG n. F., sondern nur nach § 25 WpHG n. F. In dem zuletzt genannten Fall findet keine Zurechnung statt. 5. Die Neuordnung der Stimmrechtsmitteilungen im Konzern Im Konzern wurde bisher bei jedem einzelnen Konzernunternehmen also beim herrschenden Unternehmen, den Tochtergesellschaften sowie bei den Enkelgesellschaften geprüft, ob die Voraussetzungen einer Meldepflicht vorlagen. Waren die Voraussetzungen gegeben, so bestand eine Meldepflicht. § 24 WpHG a. F. enthielt nur eine Erleichterung der Stimmrechtsmitteilungen im Konzern. Im Konzern, „für den nach den §§ 290, 340i HGB ein Konzernabschluss aufgestellt werden muss“ konnten die Mitteilungspflichten nach § 21 Abs. 1 und 1a WpHG a. F. durch das Mutterunternehmen erfüllt werden. § 24 WpHG a. F. befreite die Tochterunternehmen nur von ihren Mitteilungspflichten, wenn ein in der Konzernhierarchie höher stehendes Mutterunternehmen im eigenen Namen deren Mitteilungspflichten erfüllte. Das ändert sich. Ein Meldepflichtiger ist nun nach § 24 WpHG n. F. von den Meldepflichten befreit, wenn die Mitteilung durch sein Mutterunternehmen erfolgt. Die Vorschrift ist unglücklich formuliert und missverständlich. Nicht klar ist, ob gemeint ist, dass das Mutterunternehmen zugleich die eigenen Mitteilungspflichten erfüllt und die Mitteilungspflichten der Tochterunternehmen oder ob es ausreicht, dass das Mutterunternehmen nur Mitteilungspflichten erfüllt, deren Voraussetzungen bei ihr vorliegen. Anders formuliert: Unklar ist, ob nur noch das herrschende Unternehmen meldepflichtig ist und hierbei alle Stimmrechte im Konzern zusammengefasst werden. Sinn und Zweck der neuen Vorschrift dürfte sein, den Konzern als wirtschaftlich ein Unternehmen zu verstehen und es ausreichen zu lassen, dass künftig nur noch das herrschende Unternehmen die Mitteilung abgeben muss. Geht man hiervon aus, so bedeutet das für die Praxis eine

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erhebliche Erleichterung. Es entbindet das herrschende Unternehmen aber nicht von einer konzernweiten Compliance-Organisation um sicherzustellen, dass alle Stimmrechte erfasst werden. Verletzt das Mutterunternehmen die konzernweite Mitteilungspflicht, so führt dies zu einem konzernweiten Stimmverbot nach § 28 WpHG. 6. Die Neuordnung der Rechtsfolgen bei Verletzung der Meldepflichten Neu geordnet werden auch die Rechtsfolgen bei Verletzung der Meldepflichten. Da das Bestehen eines auf die Übertragung von Aktien gerichteten unbedingten und ohne zeitliche Verzögerung zu erfüllenden Anspruchs dem „Gehören“ gleichsteht, tritt bei Verletzung der Meldepflichten auch der entsprechende Rechtsverlust ein. Da dem Meldepflichtigen allerdings noch keine Stimmrechte zustehen, solange ihm die Aktien nicht übertragen sind, verwirklicht sich der Rechtsverlust erst mit der Übertragung der Aktien und der damit verbundenen Stimmrechte. Vom Rechtsverlust erfasst sind also alle Stimmrechte, die dem Meldepflichtigen zustehen, also auch die Stimmrechte aus Aktien, die dem Meldepflichtigen schon zuvor gehörten. Nur Dritte trifft der Rechtsverlust nicht. Also kann der Verkäufer, der nicht meldepflichtig ist, vor der Übertragung der Aktien die Stimmrechte ausüben. Unabhängig davon sind die angedrohten Geldbußen erhöht worden, § 39 Abs. 3a Satz 1 WpHG. Bisher drohten Geldbußen bis zur Höhe von 1 Mio. €. Nunmehr ist die angedrohte Geldbuße auf 2 Mio. € erhöht. Gegenüber einer juristischen Person oder Personenvereinigungen kann eine höhere Geldbuße verhängt werden. Sie darf den höheren der folgenden Beträge nicht übersteigen, nämlich 10 Mio. € oder 5 % des Gesamtumsatzes, den die juristische Person oder Personenvereinigung in dem der Behördenentscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielt hat.11) Die Ordnungswidrigkeit kann über diese Beträge hinaus mit einer Geldbuße bis zum Zweifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils geahndet werden. Der wirtschaftliche Vorteil umfasst erzielte Gewinne und vermiedene Verluste. Er kann geschätzt werden. Gleichwohl sind die angedrohten Geldbußen noch bescheiden, vergleicht man sie mit Geldbußen im Kartellrecht.

11)

Kritisch: Burgard/Heimann, WM 2015, 1445, 1452.

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Neu ist § 40c WpHG. Umgesetzt wird damit Art. 28 Abs. 1 lit. a und Art. 29 der Transparenzrichtlinie 2013. Hiernach macht die BaFin Entscheidungen über Maßnahmen und Sanktionen, die wegen Verletzung der Meldepflichten erlassen wurden, auf ihrer Internetseite unverzüglich bekannt. Dieses „naming and shaming“ ist zwar nicht neu. § 40b Abs. 1 Satz 1 WpHG a. F. gab schon bisher der BaFin die Möglichkeit entsprechende Verstöße gegen Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes auf ihrer Internetseite bekannt zu machen, soweit dies zur Beseitigung oder Verhinderung vom Missständen geeignet und erforderlich war. Praktische Bedeutung hatte diese Veröffentlichungsmöglichkeit nicht.

Effiziente Pflichtverletzungen URS SCHWEIZER Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Rechtliche Regeln im Gewand formaler Spiele III. Kompensationsprinzip und Differenzhypothese

IV. V. VI. VII.

Ineffiziente Pflichten Einfache Verträge Wirtschaftliche Unmöglichkeit Schlussbemerkungen und Zusammenfassung

I. Einleitung Johannes Köndgen ist ein befähigter Rezipient von Beiträgen zur ökonomischen Analyse des Rechts. Schon früh verwendet er einschlägige Begriffe wie Allokationseffizienz1) und Pareto-Verbesserung2). Er schreckt selbst vor der für (deutsche) Juristen provokanten Frage, ob ein effizientes Vertragsrecht gelegentlich Anreize zum Vertragsbruch geben müsse, nicht zurück.3) Das ökonomische Effizienzverständnis setzt zunächst einen Allokationsbegriff sowie subjektive Präferenzen der betroffenen Parteien voraus, anhand derer diese je zwei Allokationen bewertend und in transitiver Weise zu vergleichen vermögen. Bezieht sich der Effizienzbegriff gar auf institutionelle Gegebenheiten (wie bspw. schuldrechtliche Bestimmungen), so wären darüber hinaus Verhaltensannahmen erforderlich. Köndgen befindet sich in guter juristischer Gesellschaft, wenn er darauf verzichtet, das jeweilige Allokationsproblem und die subjektiven Präferenzen explizit zu benennen. Dazu würde in letzter Konsequenz ein formales Modell benötigt und diese meiden Juristen hierzulande fast wie der Teufel das Weihwasser. Tatsächlich mögen für Überlegungen partieller Natur rein verbale Beschreibungen bisweilen genügen. Sollen jedoch gleichzeitig 1) 2) 3)

Siehe Köndgen/v. Randow, Sanktionen bei Vertragsverletzung, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 123. Siehe Köndgen/v. Randow in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 125. Siehe Köndgen/v. Randow in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 124.

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Urs Schweizer

mehrere Wirkungszusammenhänge im Blickfeld bleiben, führt kein Weg an formalen Modellen der Spieltheorie vorbei. In meinem Beitrag werde ich deshalb Gedanken aus Köndgens Feder aufgreifen und einer spieltheoretischen Betrachtung zuführen.4) II. Rechtliche Regeln im Gewand formaler Spiele Um eine Situation interaktiver Entscheidungen spieltheoretisch zu erfassen, sind zunächst die Mengen der verfügbaren Strategien aller beteiligten Parteien zu definieren. Dabei stellt eine Strategie im spieltheoretischen Sinn eine vollständige Handlungsanweisung und damit ein komplexes Gebilde dar. So etwa mag eine Vertragspartei die Höhe ihrer heutigen Investitionen bestimmen, die sie in Erwartung der morgigen Erfüllung tätigt. Aber auch die erst morgen fällige Erfüllungsentscheidung ist vorwegzunehmen, wenn sie auf alle Umstände, die morgen werden eingetreten sein können, schon heute eine Antwort bereithält. Im Folgenden beschränke ich mich auf zwei Parteien A und B, die sich je für eine Strategie a bzw. b (im spieltheoretischen Sinn) zu entscheiden haben. Als Alternativen stehen dabei die Strategiemengen A bzw. B zur Verfügung. Außerdem legt die Darstellung in Spielform fest, welche Allokation sich aus jedem beliebigen Strategieprofil ( a, b) ergeben würde. Schließlich bewerten Partei A und B die resultierende Allokation mit Hilfe ihrer jeweiligen Auszahlungsfunktion I( a, b) bzw. \( a, b) . Diese Auszahlungsfunktionen spiegeln nicht nur die subjektiven Präferenzen der Parteien über die aus der Spielform resultierenden Allokationen wider, sondern sie erfassen bereits auch das schuldrechtliche Umfeld. Als Verhaltensannahme postuliert die Spieltheorie, dass sich rationale Parteien für ein Strategieprofil wechselseitig bester Antworten entscheiden, d. h. sie führen ein Nash-Gleichgewicht des Spiels mit den genannten Strategiemengen und Auszahlungsfunktionen herbei. Ein Strategieprofil ( ao , bo ) bildet also ein Nash-Gleichgewicht, wenn ao die Zielfunktion 4)

Neben der bereits zitierten Arbeit Köndgen/v. Randow auch Köndgen, Immaterialschadensersatz, Gewinnabschöpfung oder Privatstrafen als Sanktionen für Vertragsbruch?, RabelsZ 56 (1992), 696 ff.; sowie Köndgen, Die Entlastung des Schuldners wegen Unmöglichkeit der Leistung – Versuch einer Ehrenrettung des § 275 Abs. 2 BGB, in: FS für Schäfer, 2008, S. 275 ff.

Effiziente Pflichtverletzungen

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I( a, bo ) von Partei A maximiert, gegeben dass sich Partei B an ihre NashStrategie bo hält und zugleich bo die Zielfunktion \( ao , b) von Partei B maximiert, gegeben dass sich Partei A an ihre Nash-Strategie ao hält. Das untersuchte (schuldrechtliche) Umfeld heißt effizient, sofern dieses NashGleichgewicht mit einer Pareto-effizienten Allokation verbunden ist.

Diese Begrifflichkeit besticht durch logische Konsistenz, erfordert aber auch einen entsprechend systematischen Umgang, den nach meinem Empfinden bisher entschieden zu wenige Vertreter der rechtsökonomischen Literatur pflegen. III. Kompensationsprinzip und Differenzhypothese Meinen Ausführungen liegt ein Allokationsproblem mit allgemeinen externen Effekten zugrunde. Die Parteien A und B entscheiden über ihre Strategien im dargelegten Sinn. Ohne Rechtsbehelf betragen die Vermögenslagen der beiden Parteien U( a, b) bzw. V( a, b) als Funktionen des tatsächlich gewählten Strategieprofils ( a, b) . Mit Vermögenslage meine ich dabei jene subjektive Größe, die gleichermaßen materielle und immaterielle Werte umfasst und den von der jeweiligen Partei erzielten Nutzen in monetären Äquivalenten ausdrückt. Die Parteien stehen jedoch in einem schuldrechtlichen Verhältnis, welches Pflichten für die Parteien begründet. Ob sich Pflichtverletzungen lohnen, hängt von den Rechtsbehelfen ab, die das Schuldrecht bereitstellt. Ich beschränke mich zunächst auf Schadensersatz. Höhe und Richtung des Schadensersatzes D( a, b) hängen vom tatsächlich gewählten Strategieprofil ( a, b) ab. Ein positiver Wert von D( a, b) bedeutet dabei eine (Netto-)Zahlung von B an A, ein negativer Wert entsprechend eine Zahlung von A an B. Obige Modellierung ist allgemein genug, um nicht nur eine binäre Erfüllungsentscheidung, sondern auch Teil- und Schlechterfüllung oder verzögerte Erfüllung abzubilden.5) Das geschilderte schuldrechtliche Umfeld führt zu einem Spiel mit den Strategiemengen A und B sowie den Auszahlungsfunktionen I( a, b) U( a, b)  D( a, b) bzw. \( a, b) V( a, b)  D( a, b).

5)

Die Kritik der Einäugigkeit der ökonomischen Literatur (Köndgen/v. Randow in: Ott/ Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 127) trifft somit den vorliegenden Ansatz nicht!

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Urs Schweizer

Aus ökonomischer Sicht stellt sich die Frage, welche minimalen Anforderungen an die Quantifizierung des Schadensersatzes D( a, b) genügen, damit das Nash-Gleichgewicht des eben definierten Spiels effizient ist, d. h. die Wohlfahrt W( a, b) U( a, b)  V( a, b) maximiert. Zur Beantwortung dieser Frage zäume ich das Pferd vom Schwanz auf und betrachte ein effizientes Referenzprofil ( ao , bo ) , welches diese Wohlfahrt maximiert. Sodann nenne ich hinreichende Bedingungen an die Quantifizierung des Schadensersatzes dafür, dass dieses effiziente Referenzprofil ein Nash-Gleichgewicht des soeben definierten Spiels darstellt. Ich orientiere mich dabei an der Differenzhypothese. Als Minimalbedingung soll die Quantifizierung des Schadensersatzes den Ungleichungen D( ao , b) t U( ao , bq)  U( ao , b) und  D( a, bo ) t V( ao , bo )  V( a, bo ) zumindest für unilaterale Abweichungen b bzw. a vom effizienten Referenzprofil durch die andere Partei genügen. Der jeweilige Ausdruck auf der rechten Seite obiger Ungleichungen erfasst die Differenz der Vermögenslage einer Partei bei hypothetischer (kontrafaktischer) Pflichterfüllung durch die andere Partei vermindert um ihre Vermögenslage bei tatsächlicher Pflichtverletzung und entspricht somit dem gemäß Differenzhypothese geschuldeten Schadensersatz (sofern die Pflicht darin besteht, sich an das effiziente Profil zu halten). Man beachte, obige Minimalbedingung lässt einen überkompensatorischen Schadensersatz (punitive damages) noch zu, auch wenn das deutsche Schuldrecht einen solchen ablehnt. Teilweise Kompensation hingegen schließt die Bedingung generell aus. Fällt die Differenz ihrer Vermögenslage gar negativ aus, so erleidet die Partei keinen Schaden, sondern erfreut sich vielmehr einer Bereicherung infolge Pflichtverletzung durch die andere Partei. Man beachte, obige Minimalbedingung bleibt erfüllt, ob die Partei eine solche Bereicherung herausrücken muss oder entschädigungsfrei für sich behalten darf. Es liegt in der Natur des Nash-Gleichgewichts begründet, dass es hinsichtlich der Effizienz der Anreize auf die Quantifizierung von Schadensersatz für beidseitige Abweichungen vom effizienten Referenzprofil nicht ankommt.

Effiziente Pflichtverletzungen

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Einhaltung dieser Minimalbedingung bei der Quantifizierung von Schadensersatz stellt jedenfalls sicher, dass das effiziente Referenzprofil ein NashGleichgewicht des entsprechenden Spiels bildet. Der Beweis ist simpel. Solange die Quantifizierung des Schadensersatzes obige Minimalbedingung erfüllt, genügen nämlich die Auszahlungsfunktionen der beiden Parteien den Ungleichungen I( ao , bo ) d I( ao , b) und \( aq, bq) d \( a, bq) für jede unilaterale Abweichung vom effizienten Referenzprofil durch die jeweils andere Partei. Wenn sich also eine Partei selbst an das effiziente Referenzprofil hält, kann ihre Auszahlung niemals geringer ausfallen, als wenn die andere Partei sich ebenfalls daran hält. Da die Wohlfahrt bei Einhaltung dieser Pflicht ihr Maximum erreicht und eine Partei die erzielte Wohlfahrt vermindert um die Auszahlung an die andere Partei für sich einstecken kann, stellt das effiziente Referenzprofil ( ao , bo ) ein Paar wechselseitig bester Antworten und somit in der Tat ein Nash-Gleichgewicht des Spiels dar. Ich fasse dieses Ergebnis als Kompensationsprinzip zusammenfassen: Solange Rechtsbehelfe der Ausprägung zur Verfügung stehen, dass jede Partei (mindestens) volle Kompensation für unilaterale Abweichungen der anderen Partei vom effizienten Referenzprofil erfährt, bildet dieses Profil zugleich ein Nash-Gleichgewicht des entsprechenden Spiels. Köndgen erwähnt, dass ein amerikanischer eher als ein deutscher Vertragsgläubiger Gefahr läuft, auf einem Teil seines Schadens sitzen zu bleiben.6) Eine derartige Teilkompensation wäre mit obiger Minimalbedingung unverträglich. Obwohl diese Bedingung nur eine hinreichende und keine notwendige Voraussetzung für das Vorliegen effizienter Anreize darstellt, so geht mit einer Teilkompensation doch regelmäßig eine erhebliche Gefahr für (nach unten) verzerrte Anreize einher. Wegen eines immateriellen Schadens kann Entschädigung jedoch auch nach deutschem Recht nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden (§ 253 Abs. 1 BGB). Außerhalb dieser Fälle gibt es keine Entschädigung und es kommt ebenfalls zu tendenziell ungenügenden Sorgfaltsanreizen, die aber sakrosankt sind, da vom Gesetzgeber gewollt.7)

6) 7)

Siehe Köndgen, RabelsZ 56 (1992), 696, 702. Siehe Köndgen, RabelsZ 56 (1992), 696, 724.

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Rechtsvergleichend hebt Köndgen in derselben Arbeit kritisch hervor, dass das deutsche Rechtssystem bei vorsätzlicher Pflichtverletzung zu überkompensatorischen Sanktionen neigt.8) Im Lichte des Kompensationsprinzips spricht jedoch solange nichts gegen eine Überkompensation, als sich der Schuldner einer effizienten Pflicht gegenübersieht. Im nächsten Abschnitt betrachte ich deshalb den Fall, dass eine der Parteien eine ineffiziente Pflicht zu erfüllen hätte. Nur in einem solchen Fall könnte eine Pflichtverletzung überhaupt effizient sein. Für diesen Fall gilt es, die Differenzhypothese angemessen zu modifizieren, soll sie den Anreiz für effiziente Pflichtverletzung auch tatsächlich bieten. IV. Ineffiziente Pflichten In vertraglichen Schuldverhältnissen kommen ineffiziente Pflichten regelmäßig dadurch zustande, dass Parteien zur Einsparung von Transaktionskosten einfache Vereinbarungen treffen. Je nach Umständen kann sich deshalb die vertraglich vereinbarte Pflicht später als ineffizient herausstellen. In diesem Sinn unterstelle ich nun, dass sich eine der beiden Parteien, nämlich Partei B einer ineffizienten Pflicht bi gegenüber sieht. Man denke an eine zustandsunabhängige Leistungspflicht, wie ich sie im nächsten Abschnitt als Anwendung der in diesem Abschnitt gewonnenen Erkenntnisse noch ausführlicher thematisieren werde. Eine geeignete Modifizierung der Differenzhypothese sorgt dafür, dass das effiziente Referenzprofil ( ao , bo ) trotz (einseitig) ineffizientem Pflichtenprofil ( ao , bi ) weiterhin ein Nash-Gleichgewicht bleibt. Die folgenden Minimalanforderungen erweisen sich hierfür als hinreichend. Hält sich Partei A mit a ao an das effiziente Referenzprofil und trifft Partei B die Entscheidung b , dann hat A nach wie vor Anspruch auf Schadensersatz von mindestens Dr ( ao , b) t U( ao , bi )  U( ao , b) . Diese Forderung steht im Einklang mit der Differenzhypothese. Bei einer effizienten Pflichtverletzung von B (d. h. Partei B entscheidet b bo ) ist nunmehr Überkompensation allerdings strikt auszuschließen, so dass Dr ( ao , bo ) U( ao , bi )  U( ao , bo ) als Gleichung bestehen muss. Man beachte, ist die Vermögensdifferenz gar negativ, so verlangt diese Bedingung zwingend, dass Partei A die entsprechende Bereicherung herauszurücken hat. 8)

Siehe Köndgen, RabelsZ 56 (1992), 696, 699.

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Wenn Partei A vom effizienten Referenzprofil abweicht (mit a z ao ) und Partei B zugleich eine effiziente Pflichtverletzung begeht (mit b bo ), so liegt eine beidseitige Pflichtverletzung vor. In diesem Fall hat Partei B gemäß Differenzhypothese Anspruch auf Schadensersatz i. H. von V( ao , bo )  V( a, bo ) . Ebenso hätte Partei A Anspruch auf Schadensersatz gemäß Differenzhypothese i. H. von U( a, bi )  U( a, bo ) , so dass eigentlich B’s Nettoanspruch (mindestens) V( ao , bo )  V( a, bo )  ªU( a, bi )  U( a, bo )º ¬ ¼

betragen müsste. Um allerdings das Erreichen des Kompensationsziel relativ zum effizienten Referenzprofil sicherzustellen, muss der Anspruch von A nicht auf die tatsächliche Entscheidung a von Partei A, sondern vielmehr auf eine objektivierte Entscheidung ao abstellen, wie sie von einem vernünftigen Vertreter der betreffenden Berufsgruppe zu erwarten gewesen wäre (reasonable person standard). Als Minimalanforderung an die Quantifizierung des Nettoanspruchs von Partei B ist unter diesen Umständen somit die Ungleichung  Dr ( a, bo ) t V( ao , bo )  V( a, bo )  ªU( ao , bi )  U( ao , bo )º ¬ ¼

einzuhalten. Genügt der Schadensersatz Dr ( a, b) obigen Minimalanforderungen insgesamt (Subskript r steht für reasonable person), so stellt das effiziente Referenzprofil ( ao , bo ) ein Nash-Gleichgewicht des Spiels mit Auszahlungsfunktionen Ir ( a, b) U( a, b)  Dr ( a, b) und \ r ( a, b) V( a, b)  Dr ( a, b)

dar. Der Beweis dieser Behauptung beruht wiederum auf dem Kompensationsprinzip. Ich beginne mit dem Nachweis, dass Partei B für unilaterale Abweichungen vom effizienten Referenzprofil durch Partei A vollständig kompensiert wird. Aufgrund obiger Minimalbedingungen gilt nämlich \ r ( a, bo ) V( a, bo )  Dr ( a, bo ) t V( ao , bo )  U( ao , bi )  U( ao , bo ) V( ao , bo )  Dr ( ao , bo ) \ r ( ao , bo )

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für jede unilaterale Abweichung a z ao vom effizienten Referenzprofil. Daraus folgt aber unmittelbar (Kompensationsprinzip), dass die Einhaltung der Pflicht ao eine beste Antwort von Partei A auf die effiziente Pflichtverletzung bo von Partei B darstellt. Ebenso erfährt Partei A Kompensation für unilaterale Abweichungen vom effizienten Referenzprofil durch Partei B, gilt doch Ir ( ao , b) t U( ao , bi ) U( ao , bo )  Dr ( ao , bo ) I r ( ao , bo ) für jede Abweichung b z bo . Gegeben dass das Kompensationsziel bezogen auf das effiziente Referenzprofil erreicht wird, impliziert das Kompensationsprinzip unmittelbar, dass die effiziente Pflichtverletzung bo eine beste Antwort von Partei B auf ao bedeutet und das effiziente Referenzprofil insgesamt (wie behauptet) ein Nash-Gleichgewicht des zugrunde liegenden Spiels darstellt. Ich verweise auf dieses Ergebnis im Folgenden als modifiziertes Differenzprinzip hin, wobei die Modifikation im Hinblick auf die Ineffizienz der Pflicht von Partei B erfolgt. Das Prinzip liefert darüber hinaus eine ökonomische Begründung für ein Bereicherungsverbot zumindest in den Fällen, in denen der Schaden von einer effizienten Pflichtverletzung herrührt.9) V. Einfache Verträge In seiner ökonomischen Betrachtung der Schuldnerbefreiung hebt Köndgen zutreffend hervor, dass mindestens drei Schlüsselbegriffe benötigt werden, nämlich der Wert v der versprochenen Leistung in der Hand des Gläubigers, der vertraglich bestimmte Preis p sowie die für die Leistung aufzuwendenden Kosten c.10) Außerdem fragt er nach der Grenze der Liquidierung von Schäden durch exzessive Vertrauensinvestitionen.11) Das folgende Modell beinhaltet die nötigen Ingredienzen, um Köndgens Themen in einem durchgängigen Modell kritisch nachzuzeichnen. Das Modell stellt zugleich einen Spezialfall des im vorigen Abschnitt untersuchten Spiels dar. Nach der Unterzeichnung eines Vertrags betreffend eine künftige Leistungspflicht von Partei B (Verkäufer) trifft Partei A (Käufer) ihre Ent-

9) 10) 11)

Vgl. dazu Köndgen, RabelsZ 56 (1992), 696, 734. Siehe Köndgen in: FS für Schäfer, 2008, S. 275, 280. Siehe Köndgen/v. Randow in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 124.

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scheidung a  A über die Vertrauensinvestitionen (reliances), die A in Erwartung der Erfüllung tätigt. Die Vertrauensinvestitionen erhöhen tendenziell den Nutzen v aus Erfüllung, wenn auch in stochastischer Weise. Zur Illustration stelle man sich vor, der Erfüllungsnutzen v nehme nur die beiden Werte vL  vH an. Mit Wahrscheinlichkeit a sei es der hohe Wert vH , mit der Restwahrscheinlichkeit 1  a der niedrige Wert v vL . Die Wahrscheinlichkeit a verursache Kosten g( a) , die mit der gewählten Wahrscheinlichkeit steigen. Auch die Kosten der Erfüllung mögen (ex ante) unsicher sein. Der Einfachheit halber abstrahiere ich jedoch von Investitionen des Verkäufers und unterstelle stattdessen eine exogen vorgegebene Verteilung. Zur Illustration stelle man sich auch hier eine binäre Verteilung vor, wobei c cH mit der Wahrscheinlichkeit S und c cL  cH mit der Restwahrscheinlichkeit 1  S angenommen werde. Allgemeinere Verteilungen sind keineswegs ausgeschlossen. Binäre Verteilungen dienen lediglich der Illustration. Der Einfachheit halber unterstelle ich allerdings, dass Nutzen und Kosten der Erfüllung unabhängig voneinander verteilt seien. Partei B trifft die Erfüllungsentscheidung, nachdem die Investitionsentscheidung a, der Erfüllungsnutzen v und die Erfüllungskosten c bekannt sind (ex post). Eine Strategie von Partei B im spieltheoretischen Sinn, d. h. eine vollständige Handlungsanweisung, stellt folglich eine Funktion b b( a, v, c) der zu diesem Zeitpunkt bekannten Größen dar, welche die beiden Werte b 0 (Nichterfüllung) und b 1 (Erfüllung) annehmen kann. Mit B werde die Menge aller vollständigen Handlungsanweisungen für Partei B bezeichnet.

Dann betragen die erwarteten Auszahlungen der beiden Parteien A und B vor einem etwaigen Schadenausgleich U( a, b) Ea ª¬ v ˜ b( a, v, c)º¼  g( a)  p bzw. V( a, b)

p  Ea ª¬ c ˜ b( a, v, c)º¼

als Funktion des tatsächlich gewählten Strategieprofils ( a, b) . Subskript a am Erwartungsoperator angebracht weist darauf hin, dass die Verteilung von v und damit auch diejenige von b( a, v, c) durch die Investitionsentscheidung a der Partei A beeinflusst wird. Auch die Verteilung der Kosten c fließt sinngemäß in die Erwartungsbildung ein, ist aber exogen vorgegeben.

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Die Methode des vorigen Abschnitts geht von einem effizienten Referenzprofil, bestehend aus einer Investitionsentscheidung ao von Partei A und einer vollständigen Handlungsanweisung bo für Partei B aus, so dass das Profil ( ao , bo ) die Wohlfahrt U( a, b)  V( a, b) maximiert. Im vorliegenden Fall hängt die (ex post) effiziente Erfüllungsentscheidung nicht von der Investitionsentscheidung des Käufers ab, sondern schreibt Erfüllung bo( v, c) 1 genau dann vor, wenn Erfüllung effizient ist (d. h. falls c d v ) und bo( v, c) 0 sonst. Um Transaktionskosten einzusparen, haben die Parteien allerdings einen einfachen Vertrag abgeschlossen. Dieser sieht unbedingte Erfüllung (d. h. eine Handlungsanweisung bi 1 ) unabhängig vom tatsächlich realisierten Nutzen-Kosten-Paar vor, wofür Partei A einen festen Preis p an Partei B entrichtet. Das (ex post) ineffiziente Pflichtenprofil i. S. des vorigen Abschnitts lautet somit ( ao , bi ). Abweichungen vom Pflichtenprofil ( a, b) z ( ao , bi ) lösen Ersatzansprüche aus. Allerdings lässt sich eine vollständige Handlungsanweisung in der Regel ex post erst recht nicht beobachten, so dass die Höhe des Schadensersatzes d d( a, v, c, q) nur von der Investitionsentscheidung, dem realisierten Kosten-Nutzen-Paar und der tatsächlich getroffenen Erfüllungsentscheidung q {0,1} abhängt, nicht jedoch von den Erfüllungsentscheidungen, welche die Partei bei anderer Vorgeschichte getroffen hätte. Geleitet von den Überlegungen des vorigen Abschnitts sind zwei Fälle zu unterscheiden. Entweder hat Partei A mit einer Investitionsentscheidung a ao ihre Pflicht erfüllt. Ex post stelle sich heraus, dass der Nutzen aus Erfüllung v beträgt. Dann soll Partei A Anspruch auf Schadensersatz i. H. d( ao , v, c, q) v ˜(1  q) haben. Bei Nichterfüllung q 0 muss also Partei B den entgangenen Nutzen aus Erfüllung ersetzen, sofern Partei A zuvor pflichtgemäß investiert hat. Oder aber Partei A hat eine Pflichtverletzung a z ao begangen. Ex post stelle sich heraus, dass die Erfüllungskosten c betragen. Dann soll Partei B Anspruch auf Schadensersatz i. H. von  d( a, v, c, q) ' o  c ˜ q haben, wobei sich der konstante Term ' o U( ao , bo )  U( ao , bi )  V( ao , bo )  p unabhängig von den tatsächlich beobachteten Größen berechnen lässt. Kontrafaktische Größen sind hierbei entbehrlich. Schadensersatz gemäß dieser Quantifizierung genügt jedenfalls der modifizierten Differenzhypothese im Sinn des vorigen Abschnitts, so dass das

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effiziente Referenzprofil ( ao , bo ) ein Nash-Gleichgewicht des entsprechenden Spiels darstellt. Dieses Effizienzresultat überrascht angesichts der in der Literatur weit verbreiteten Meinung, es bestünden übermäßige Anreize zur Vornahme von Vertrauensinvestitionen. Köndgen bezweifelt denn auch einen solchen „Versicherungseffekt“.12) Ihm ist beizustimmen, sofern Schadensersatz gemäß modifizierter Differenzhypothese gewährt wird. Exzessive Anreize bestehen jedoch nach wie vor (d. h. mit dem „Versicherungseffekt“ ist entgegen Köndgens Meinung trotzdem zu rechnen), sofern Partei B, wie in der Literatur häufig angenommen, den Erfüllungsnutzen v auch dann ersetzen muss, wenn Partei A übermäßig investiert hat. Köndgen zieht gelegentlich noch weitere Aspekte wie etwa Risikoaversion in Betracht.13) Allerdings tut er dies jeweils nur partiell, ohne mögliche Auswirkungen auf zuvor behauptete Effekte nochmals zu überprüfen.

Damit sei kein Tadel verbunden. Vielmehr möchte ich für die spieltheoretische Methode werben, mit der selbst subtile Anreizeffekte aufzuspüren sind. Eine rein verbale Argumentation übersieht solche Effekte regelmäßig. VI. Wirtschaftliche Unmöglichkeit

Zum Schluss erwähne ich jetzt noch kurz die Anreizwirkung, die von der Entlastung des Schuldners wegen Unmöglichkeit ausgeht. Köndgens Diskussion bezieht sich dabei fast ausschließlich auf die Erfüllungsentscheidung ex post.14) Aber natürlich sollte man die Anreize für die Investitionsentscheidungen ex ante mitbedenken, so wie es im vorigen Abschnitt ebenfalls geschehen ist. Zur Illustration betrachte ich binäre Verteilungen mit Parameterkonstellation cL  vL  cH  vH und cL  p  vH . Solange der Verkäufer zu niedrigen Kosten erfüllen kann, ist Erfüllung immer effizient. Hat er hingegen hohe Erfüllungskosten, so wäre Erfüllung nur bei gleichzeitig hohem Erfüllungsnutzen effizient. Den Fall der physischen Unmöglichkeit – die Erfül12) 13) 14)

Siehe Köndgen/v. Randow in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 135. Etwa in Köndgen/v. Randow in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 135. Siehe Köndgen in: FS für Schäfer, 2008, S. 275 ff.

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lungskosten wären hier mit unendlich zu veranschlagen – schließe ich dabei aus, weil es in § 275 Abs. 2 BGB um wirtschaftliche Unmöglichkeit geht. Darüber hinaus bedeutet die Einschränkung der Parameterwerte, dass der Gläubiger mit hohem Erfüllungsnutzen den Erfüllungsanspruch (so er denn besteht) geltend machen würde. Erfüllung wäre in diesem Fall auch effizient. Ebenso würde ein Schuldner mit niedrigen Erfüllungskosten immer erfüllen wollen und Erfüllung wäre in diesem Fall ebenfalls effizient. Verbleibt der Fall, dass der Verkäufer hohe Erfüllungskosten und zugleich der Käufer einen niedrigen Erfüllungsnutzen hat. Erfüllung wäre in diesem Fall ineffizient. Bei einem niedrigen Preis p  vL würde der Käufer einen Erfüllungsanspruch (so er denn besteht) trotz Ineffizienz geltend machen. Ebenso würde der Käufer bei einem hohen Preis cH  p trotz Ineffizienz erfüllen wollen. Köndgen schlägt vor, dass die absolute Grenze für die nach § 275 Abs. 2 BGB gestattete Ausübung vom Erfüllungszwang gegen den Schuldner erreicht sei, wenn die Kosten der Erfüllung nachträglich das Interesse des Gläubigers am Erhalt der Leistung übersteige.15) Schon früher hatte er eine Entbindung von der Leistungspflicht als wirtschaftlich sinnvoll bezeichnet, wenn weitere Erfüllungsanstrengungen des Schuldners im Vergleich zum daraus resultierenden Erfüllungsnutzen des Gläubigers nicht mehr lohnen.16) Übertragen auf mein Modell entspricht dies genau der Konstellation v vL  c cH mit hohen Erfüllungskosten und niedrigem Erfüllungsnutzen.

Man beachte jedoch, Köndgens Vorschlag führt tatsächlich nur dann zu effizienter Nichterfüllung, wenn sonst der Käufer wegen eines niedrigen Preises p  vL einen Erfüllungsanspruch geltend machen würde. Bei einem hohen Preis cH  p würde der Käufer nämlich einen Erfüllungsanspruch gar nicht erst geltend machen. Der Verkäufer hingegen würde erfüllen wollen, so dass in diesem Fall keine effizienten Anreize zur Nichterfüllung bestehen. Köndgen diskutiert diese letzte Parameterkonstellation nirgendwo explizit. Auch macht er sich keinerlei Gedanken, welche Auswirkungen sein Vorschlag auf die Investitionsanreize der Parteien hätte. Es stellt sich jedoch

15) 16)

Köndgen in: FS für Schäfer, 2008, S. 275, 294. Köndgen/v. Randow in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 122, 129.

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heraus, dass erneut exzessive Anreize für Vertrauensinvestitionen bestünden, auch wenn ich den recht aufwendigen Beweis dieser Behauptung hier nicht wiederholen kann.17) VII. Schlussbemerkungen und Zusammenfassung

Zentrale Erkenntnisse der ökonomischen Analyse des Rechts beruhen inzwischen auf Ergebnissen, deren Gültigkeit i. R. formaler Modelle bewiesen werden konnte. Wenn sich ein Gedankengang in einem solchen Modell bestätigt, so muss er zumindest logisch konsistent sein. Fehlt jedoch trotz ernsthafter Bemühung ein solches Modell, bleibt die Tragfähigkeit der Gedankenführung fraglich. In diesem Sinn können Modelle zumindest als Konsistenztest für eine bestimmte Argumentationsweise dienen, auch wenn das Bestehen dieses Tests für sich allein noch nicht zwingend ihre Praxisrelevanz bedeutet. Eine weitere, mit der Verwendung formaler Modelle verbundene Tugend besteht darin, dass die Grenzen eines Arguments aufgezeigt werden. Dies geschieht in Form von expliziten Annahmen an den Modellrahmen. Juristische Rezipienten von in Modellen gefundenen Ergebnissen begnügen sich stattdessen regelmäßig mit einer verbalen Zusammenfassung. Ein Modell liefert dabei indirekt ein Argument für die Debatte. Ein Mehr an Argumenten in dieselbe Richtung wird in der Regel als Bestärkung gesehen. Ohne weitere Vorkehrungen besteht dann allerdings die Gefahr, dass sich diverse Modelle in eine Argumentationskette einschleichen, die aufgrund der jeweils benötigten Annahmen gar nicht miteinander kompatibel sind. Modelle lassen sich eben nicht einfach „aufaddieren“. Um dem Konsistenztest zu genügen, wäre vielmehr die gesamte Argumentationskette i. R. eines einheitlichen Modells zu überprüfen. Diesen Weg habe ich in der vorliegenden Arbeit beschritten. Den Rahmen bildet dabei mein Externalitätenmodell. Dessen Generalität beruht auf der Erkenntnis, dass sich grundsätzlich jede Form strategischer Interaktion in Normalform darstellen lässt.18)

17)

18)

Der interessierte Leser sei auf Schweizer, Breach Remedies, Performance Excuses, and Investment Incentives, JLEO 28, 717 ff., und auf Schweizer, Spieltheorie und Schuldrecht, 2015, verwiesen. Diese Einsicht wird John v. Neumann zugeschrieben. Dazu: Roger B. Myerson, Nash Equilibrium and the History of Economic Theory, JEL 37 (1999), 1067 ff.

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Aufgrund des spieltheoretischen Verständnisses einer Strategie als vollständiger Handlungsanweisung ist dieser Ansatz in der Tat wesentlich allgemeiner, als auf den ersten Blick ersichtlich. Zur Illustration denke man an Schach mit seiner komplizierten sequenziellen Entscheidungsstruktur. Hierzu liegen vollständige Handlungsanweisungen in Form von Computerprogrammen sogar käuflich vor. Egal wie sich die Partie entwickelt, das Programm findet immer den nächsten Zug, ohne dass eine Rückkopplung mit dem Programmierer erforderlich wäre. Die eigentliche Einschränkung des verwendeten Modells beruht vielmehr darauf, dass (implizit) sowohl Risikoaversion als auch Einkommenseffekte ausgeschlossen werden. Zwar würden die Resultate gewisse Verallgemeinerungen gestatten. Bei Risikoaversion bspw. bleiben die Resultate im Wesentlichen bestehen, sofern die Parteien Zugriff auf idealtypische Versicherungen haben. Aber zweifellos unterliegt die Verallgemeinerungsfähigkeit Grenzen. Wer fest davon überzeugt ist, risikoaverses Verhalten sei ein vorherrschendes Verhaltensmerkmal und idealtypische Versicherungen seien in der Praxis nicht einmal näherungsweise erhältlich, für den liefert meine Analyse keine verwertbaren Argumente. Eine rein verbal gehaltene Effizienzbetrachtung hilft in diesem Fall aber sicherlich auch nicht weiter. Bei einer Erweiterung treten nämlich gleichzeitig so vielfaltige Effekte auf, dass der Überblick über mögliche Zusammenhänge ohne Modell erst recht verloren geht. Im Rahmen meines Modells konnte ich jedenfalls bemerkenswerte Prinzipien aufstellen und beweisen. Da ist zunächst das Kompensationsprinzip, das bezogen auf ein effizientes Referenzprofil folgendes besagt. Solange jede Partei für unilaterale Abweichungen durch die andere Partei (mindestens) volle Kompensation erfährt, stellt dieses effiziente Profil ein Nash-Gleichgewicht des zugrundliegenden Spiels dar. Ferner habe ich gezeigt, dass jede Quantifizierung von Schadensersatz für die Verletzung einer effizienten Pflicht durch den Schuldner mit der Differenz von tatsächlicher und hypothetischer Vermögenslage des Opfers als untere Grenze die Voraussetzungen für das Kompensationsprinzip erfüllt. Bei effizienter Leistungspflicht ist zwar eine Unterkompensation zu vermeiden. Ein Bereicherungsverbot wäre hingegen aus dieser Perspektive entbehrlich. Eine drohende Bereicherung verstärkt nämlich die Anreize für Pflichterfüllung sogar, sofern die Pflicht effizient ist.

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Sieht sich jedoch der Schuldner einer ineffizienten Leistungspflicht gegenüber, so erfordern effiziente Anreize eine modifizierte Anwendung der Differenzhypothese. Grundlage bildet nicht mehr die tatsächliche Strategie des Gläubigers, sondern vielmehr die einer fiktiven, aber verständigen Ausprägung des Gläubigers (reasonable person standard). Außerdem wäre bei ineffizienter Pflicht das Bereicherungsverbot bezogen auf den Gläubiger strikt einzuhalten, sofern der Schuldner eine effiziente Pflichtverletzung begeht. Als nächstes habe ich diese generellen Erkenntnisse auf einen Spezialfall meines Modells angewendet. Der Käufer hat eine Investitionsentscheidung unter Unsicherheit zu treffen. Trotzdem schließen die Parteien einen einfachen Vertrag ab, der weder eine Vereinbarung über die Höhe dieser Investitionen beinhaltet, noch die Unsicherheit der Investitionserträge berücksichtigt. Sofern Gerichte Schadensersatz für Nichterfüllung im Einklang mit der modifizierten Differenzhypothese quantifizieren, bestehen dennoch effiziente Anreize sowohl hinsichtlich der Investitionsentscheidung des Gläubigers als auch der Leistungsentscheidung des Schuldners. Schließlich zeichne ich Köndgens Überlegungen zur „Opfergrenze“ einer Entlastung des Schuldners aufgrund wirtschaftlicher Unmöglichkeit i. R. immer noch desselben Modells nach. Während Köndgens rein verbale Betrachtungsweise von den Investitionsanreizen abstrahiert, ermöglicht es die spieltheoretische Methode, die Auswirkungen auf die Investitionsanreize zu erkennen. Dieser Umstand müsste eigentlich auch den kritischen Leser von der Vorteilhaftigkeit dieser Methode überzeugen.

Can the European Banking Union Bridge the Gap between Capitalism and Democracy? PAUL VAN SETERS Contents I. II.

How the EU Responded to the Financial Crisis The Banking Union

III. Democracy and Capitalism IV. Taming Casino Capitalism

The European Banking Union of 2014 may turn out to be a prodigy of the global financial crisis of 2008. Even though it took the European Union many years to come up with specific measures to address this crisis, and even though most of these measures remain contested and criticized, it is a fact that the Banking Union is doing something about one of the root causes of the crisis, namely the so-called “bank–sovereign vicious circle”. Also, the architecture of the Banking Union is impressive. Of course, it is far too early to tell whether its mandate and its design will actually allow the Banking Union to bring sustainable governance to the European banking sector and hence resolve one of the most nagging problems the EU has been struggling with for the past seven years. But at least for now, the Banking Union holds that promise. As I said, it may be a prodigy. The high potential of the Banking Union has not been enough to convince the numerous critics of the EU crisis policies of the past few years. There are at least three reasons that may account for the harshness and persistency of these critics. One, the Banking Union is part of a much larger package of policies that the EU has initiated in response to the crisis. Many critics aim their fire at the package as such, rather than at one of the elements that together make up that package. Second, it is only natural that the financial crisis leads to reports in the media that focus on particular incidents in particular member states. These critics are typically paying attention to such incidents, rather than to the general picture and to the relevant policy, or set of policies. Third, and probably most important, underneath the wide variety of criticisms of how the EU is dealing with particular aspects of the crisis, there is a more general and widely

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shared complaint about a basic deficiency of the EU: its lack of democratic legitimacy and accountability, also often referred to as its democratic deficit. This negative judgment clearly predates the beginning of the financial crisis, but since 2008 the democracy critics of the EU have raised their voices greatly. Imagine that a number of years from now most people would agree that the Banking Union functions well and contributes to peace and prosperity in Europe. Would it then be conceivable that the Banking Union at that same time in the future is also seen, by most of the citizens of Europe, as having contributed to stronger, more viable democracy in the EU? And would that then take the sting out of the arguments of the democracy critics who dominate the current discussion about the state of the EU? To some readers these questions may seem naïve and simple. But in fact these questions are neither naïve nor simple. At least, that is what I want to argue in this essay. To be able to do so, I first have to provide some context and some details of how the EU has tried to check the financial crisis in the years after 2008 (I). Then I shall describe more concretely the idea and organization of the Banking Union (II). Next I shall discuss the critical positions regarding the EU of three of the leading German sociologists and public intellectuals: Jürgen Habermas, Ulrich Beck, and Wolfgang Streeck (III). Finally, I shall argue that the Banking Union indeed may contribute to a more democratic Europe, or – in the terms preferred by Habermas, Beck, and Streeck – may be a bridge between capitalism and democracy (IV). I. How the EU Responded to the Financial Crisis The bankruptcy of the American investment bank Lehman Brothers on September 15, 2008, took the world by unpleasant surprise. The sudden collapse of Lehman Brothers – at that time the fourth largest investment bank in the United States – is generally seen as the start of the global financial crisis (or banking crisis or credit crisis) that has strangled the world over the past seven years. The crisis deeply impacted countries on all continents, including most of the twenty-eight member states of the European Union. In this context, the EU is a special case because in Europe the financial crisis of 2008 was followed by a sovereign debt crisis. This sovereign debt crisis – also often referred to as the euro crisis – started in late 2009 in Greece, but soon thereafter Ireland, Portugal, and

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Spain found themselves in the same dire straits. This clearly brought the dual nature of the financial crisis to the surface: bank credit and sovereign credit had become so dangerously interdependent that commentators began to refer to this as the “bank–sovereign vicious circle”. The EU has responded to this dual crisis in five subsequent stages: (1) First, in the first few months of 2010 an ad hoc bail-out program of € 110 billion was put together aimed at avoiding a sovereign default of Greece. This program was put together jointly by the European Commission, the European Central Bank (ECB), and the International Monetary Fund (IMF) – later nicknamed the “Troika”. The rescue package was conditional on implementation of stringent austerity measures, structural reforms, and privatization of government assets. (2) Second, in June 2010 the member states of the euro area created the European Financial Stability Facility (EFSF) as a temporary crisis resolution mechanism, which was authorized to borrow up to € 440 billion. Subsequently Ireland, Portugal, and Greece received financial assistance from the EFSF, under the usual stringent conditions. (3) Third, in September 2012 the EFSF was replaced by a permanent rescue mechanism, the European Stability Mechanism (ESM), which has a maximum lending capacity of € 500 billion. The IMF also participates in the ESM, to a maximum of € 250 billion, which means that the ESM and the IMF together for this purpose have € 750 billion to spend. So far the ESM has provided loans only to Spain and Cyprus, again with stringent conditions attached. (4) Fourth, since the beginning of the crisis the role of the ECB has expanded enormously. To mention only a few highlights, already in 2010, as I just noted, the ECB was closely involved in the bail-out program for Greece. In the years thereafter, the ECB with two big Long Term Refinancing Operations (LRTOs) injected € 500 billion in the euro-area banks. But in July 2012, in a speech he gave in London, ECB President Mario Draghi famously announced that he would do “whatever it takes” to preserve the euro. A month later, the ECB initiated its Outright Monetary Transactions (OMT) program, to support member states of the euro area by buying their bonds on the secondary sovereign-bonds market. The constitutionality of OMT

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is still being contested in the German Supreme Court, even though so far not a single OMT has actually been enacted by the ECB. Finally, in March 2015 the ECB launched its Quantitative Easing (QE) asset purchase program, aimed at bonds issued by euro-area central governments, agencies, and European institutions. At least until September 2016, every month the ECB will put € 60 billion into this program.1) (5) While the first three stages yielded specific instruments for financial assistance to states or banks in economic difficulty, and the fourth stage had to do with specific responsibilities of the ECB, the fifth stage was intended to deal more broadly and more fundamentally with the crisis. That is to say, different from the first four stages the fifth stage was aimed at breaking the vicious circle between banks and sovereigns. At least, that is how one can best read the agenda of the Plan Van Rompuy that was developed between June 2012 and December 2012. The Plan Van Rompuy was officially a report prepared, at the request of the European Council, by the President of the European Council, Herman Van Rompuy, in close collaboration with the President of the European Commission, José Manuel Barroso, the President of the Eurogroup, Jean-Claude Juncker, and the President of the ECB, Mario Draghi. Hence the nickname: the Four Presidents Report. But Plan Van Rompuy became the more commonly used name. The report was entitled “Towards a Genuine Economic and Monetary Union”; the first version was submitted to the European Council in June 2012, the second and revised version in October 2012, and the third and final version in December 2012. Its official goal was to develop “a vision for the EMU (Economic and Monetary Union) to ensure stability and sustained prosperity”. Its strategy was to achieve this goal by “proposing a strong and stable architecture in the financial, fiscal, economic and political domains”.2)

1)

2)

The information in this paragraph is based on European Commission, 2015, www.ec.europa.eu; EFSF (European Financial Stability Facility), 2015, www.efsf.europa.eu; ESM (European Stability Mechanism), 2015, www.esm.europa.eu; ECB (European Central Bank), 2015, www.ecb.europa.eu; and IMF (International Monetary Fund), 2015, www.imf.org. Van Rompuy, Barroso, Juncker, and Draghi, Towards a Genuine Economic and Monetary Union, first version, 25 June 2012, 1, www.consilium.europa.eu.

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The words for these four “domains” – financial, fiscal, economic, and political – were not innocently chosen. From the very start, the Plan Van Rompuy was presented as based on “four essential building blocks”: (1) an integrated financial framework – a Banking Union; (2) an integrated budgetary framework – a Fiscal Union; (3) an integrated economic policy framework – an Economic Union; and (4) democratic legitimacy and accountability – a Political Union. The proposals for the Banking Union and the Fiscal Union were elaborate, concrete, and specific; the proposal for the Economic Union was much shorter but also more abstract and general, as this turned around the need for a wide spectrum of country-specific economic reforms; while the proposal for the Political Union was painfully short and vague. There is indeed a remarkable contrast to be noted between the power of the first three building blocks and the weakness of the fourth. The idea to strengthen democratic legitimacy and accountability amounted to not much more than “close involvement of the European Parliament and the national parliaments”.3) One may conclude from this that the importance of a vital Political Union was clearly recognized by the leaders of the EU, but that compared to the proposals that were being put forward for the Banking Union, the Fiscal Union, and the Economic Union, the idea for a Political Union very much remained an empty vessel. That conclusion is confirmed when one looks at the conclusions of the European Council of December 13– 14, 2012, when the Plan Van Rompuy was formally adopted. The only concrete idea to strengthen democratic legitimacy and accountability proposed by the Council is to be found in one single sentence of these conclusions: “The European Parliament and national parliaments will determine together the organisation and promotion of a conference of their representatives to discuss EMU related issues.”4)

What the Council here almost literally says is: we ourselves can’t think of anything; let the European Parliament and the national parliaments have a conference and perhaps they will then come up with something. Needless to say, such a conference has never taken place. 3) 4)

Ibid., 6. European Council, 2015, Conclusions European Council, December 13 – 14, 2012, 5, www.consilium.europa.eu.

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While the challenge to include “political union” or “democracy” into the Plan Van Rompuy and its implementation was thus sidestepped, this does not automatically imply that the other three new initiatives – the Banking Union, the Fiscal Union, and the Economic Union – cannot in the end in and by themselves result in more democratic legitimacy and accountability of the EU–EMU. For example, both the Fiscal Union and the Economic Union have considerably increased the involvement of the national parliaments of member states; they have also generated an intense, Europe-wide public debate on these matters – in political circles, in the media, and within civil society.5) However, for reasons of time and space I shall restrict myself here to the Banking Union. I therefore return to the question that I posed above: Is it conceivable that a majority of the citizens of Europe some time into the future will be of the opinion that the Banking Union indeed has contributed to a stronger, more viable democracy in and of the EU? II. The Banking Union To get a good picture of the Banking Union as it might be somewhere in the future, one first has to understand better what it stands for now. For that reason it may be useful to turn to Nicolas Véron, the French economist and co-founder of the Brussels-based think tank Bruegel, who has published extensively on European banking-sector policy.6) In a recent essay he claims that Europe’s Banking Union is nothing less than a “radical” innovation but that its significance has not been widely recognized: “The public underestimation of Europe’s financial problems has been mirrored by a parallel underestimation of its main financial policy response: banking union.”7)

Véron believes, and I think rightly so, that the Banking Union represents a momentous shift in the history of the EU: “[B]anking union marks a radical change that profoundly modifies the nature of European integration and the balance between member states and European institutions.”8)

5) 6) 7) 8)

Dinand, Europe Recast: A History of European Union, 2nd edition, 2014, Lynne Rienner Publishers. Bruegel, 2015, www.bruegel.org. Véron, Europe’s Radical Banking Union, Bruegel Essay and Lecture Series, 2015, 8, www.bruegel.org. Ibid.

Can the EU Banking Union Bridge the Gap between Capitalism and Democracy? 585

Where did the idea of a European Banking Union come from? It may be difficult to believe, but the expression “banking union” first appeared in the European public debate less than four years ago. Véron himself happens to be the person responsible for coining the phrase, at the end of 2011.9) In the first half of 2012 his invention made a spectacular career. As I noted above, the Banking Union was one of the four building blocks of the Plan Van Rompuy, when this was first presented in June 2012. However, initially the notion of a European Banking Union was met with utter disbelief, both in professional circles and among the general public. The most widely heard comment was that the transfer of sovereignty from the national to the European level that this implied would be totally unacceptable both to many of the member states and to the financial sector. But already in December 2012, when the European Council endorsed the final version of the Plan Van Rompuy, the Banking Union was a political fact. And already in November 2014, less than two years after that, the Banking Union became operational. Indeed, never before in the history of the EU such a game-changing new institution was created with such breathtaking speed.10) So exactly what is the Banking Union? It is essentially a framework in which banking-sector policy in three distinctive areas – supervision, resolution, and deposit insurance – is pooled at the European level. Hence the frequently used metaphor of the Banking Union as an edifice that is built on three pillars. The first pillar is the Single Supervisory Mechanism (SSM), which ensures direct, unified supervision of the 123 largest or “significant” banks of the euro area. These 123 banks represent almost 85 % of the euro area’s total banking assets. The 3,520 smaller or “less significant” banks of the euro area still fall under the direct supervision of the national supervisory authorities (mostly the central banks) of the nineteen member states, though indirectly the supervision by these national authorities falls under, and is unified within, the new SSM as well. The SSM operates under the authority of the ECB; within the ECB, the Supervisory Board was created as a new institution to function as the main decision-making body of the SSM. The Supervisory Board became operational in early 2014, the SSM in November 2014. The nine EU 9) 10)

Véron, Europe Must Change Course on Banks, VoxEU, 22 December 2011, www.voxeu.org. The best source on the relatively short history of the Banking Union is Busch and Ferrarini (eds.), European Banking Union, 2015, Oxford University Press.

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member states that are not part of the euro area can join the SSM on a voluntary basis. So far not a single one of these member states has indicated that it wants to be part of the SSM.11) The second pillar is the Single Resolution Mechanism (SRM), which ensures orderly resolution of failing banks that fall under the SSM. The responsibility for the SRM is vested in a newly created EU agency, the Single Resolution Board (SRB). This Board will also be in charge of the Single Resolution Fund, a new pool of money of ultimately € 55 billion, to be financed by the banking sector. The SRB started to develop resolution plans for the entire sector in January 2015, and will be fully operational, with a complete set of resolution powers, as of January 2016.12) The third pillar is the Single Deposit Guarantee Scheme (SDGS), which ensures protection of deposits. But this third pillar is different from the other two, as the plan for the SDGS is still in progress. The revised Deposit Guarantee Schemes Directive of April 2014 only succeeded in the further harmonization of the currently existing national deposit guarantee schemes. All EU member states are now required to set up bank-financed deposit guarantee funds that protect bank deposits up to € 100,000. In addition, the deadline for paying depositors will be reduced incrementally from twenty days to seven days. So the third pillar differs from the first pillar and the second pillar in these two respects: (1) deposit guarantee schemes still function exclusively at the national level, while supervision and resolution are centralized at the European level; (2) the SDGS is intended for all the member states of the EU, while the SSM and the SRM are only applied to the countries of the euro area.13) These differences between the SSM and the SRM on the one hand and the SDGS on the other also account for the new executive organizations that the three pillars have given birth to. The SDGS may in the (near) future be further centralized at the European level, but for the time being deposit guarantee schemes are only organized at the national level. The Supervisory 11) 12) 13)

European Commission, 2015, www.ec.europa.eu; ECB (European Central Bank), 2015, www.ecb.europa.eu. European Commission, 2015, www.ec.europa.eu; SRB (Single Resolution Board), 2015, www.srb.europa.eu. European Commission, 2015, www.ec.europa.eu; ECB (European Central Bank), 2015, www.ecb.europa.eu.

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Board, which is the executive arm of the SSM, is a new institution which is housed in a separate building in Frankfurt (not too far from the new headquarters of the ECB), with a new staff of 1,000 professionals. That means that of all the people in the entire euro area that work as banking supervisors, one fifth is employed by the Supervisory Board. The Supervisory Board is chaired by the former French banking supervisor Danièle Nouy, and further consists of a vice-chair (chosen from the ECB’s Executive Board), four ECB representatives, and representatives of the national supervisory authorities of the nineteen member states of the euro area. The SRB is organized as a new EU agency, which is located in Brussels, has a staff of 100 professionals, and is headed by the former German banking supervisor Elke König.14) This story of the three pillars of the new European Banking Union only provides a general picture and leaves out many – sometimes quite crucial – details. For example, I have not mentioned the role of the European Banking Authority (an EU agency that was created in 2011), nor the Capital Requirements Regulation and the Capital Requirements Directive (June 2013), nor the Bank Recovery and Resolution Directive (May 2014), nor the Asset Quality Review followed by the so-called “stress test” (October 2014) to which all 130 or so significant banks of the euro area were submitted. I also have not mentioned the Joint Supervisory Teams (JST); for each of the significant banks, a JST is established – composed of a coordinator at the ECB (who is generally not from the country where the supervised bank is located), national sub-coordinators, and a team of experts. These and quite a few other details would be just too much of a burden on this essay. But I do hope that the above sketch of the three pillars has been sufficient to show the impressive reach of the Banking Union. If the financial crisis of 2008 was caused by the vicious interdependence of banks and sovereigns, then the architects of the Banking Union can surely claim that they have given the EU a powerful new tool. If that at least may be concluded from this abbreviated account of the Banking Union, then it is time to turn to the question that was already posed above: Can this Banking Union also be understood as a contribution to European democracy? To answer that question, I propose to go

14)

European Commission, 2015, www.ec.europa.eu; ECB (European Central Bank), 2015, www.ecb.europa.eu; SRB (Single Resolution Board), 2015, www.srb.europa.eu.

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for counsel to three of the leading representatives of German sociology – Jürgen Habermas, Ulrich Beck, and Wolfgang Streeck. III. Democracy and Capitalism Jürgen Habermas (1929), Ulrich Beck (1944– 2015), and Wolfgang Streeck (1946) not only have always carried a lot of weight among their peers in academic sociology, but throughout their professional careers they have also played prominent roles as public intellectuals. It therefore cannot be a coincidence that all three of them in recent years have written important books about the financial crisis of 2008 and its effects on the European Union. Habermas is the author of The Crisis of the European Union: A Response (2012) and of The Lure of Technocracy (2015), Beck of German Europe (2013), and Streeck of Buying Time: The Delayed Crisis of Democratic Capitalism (2014). Habermas wrote a critical review of Streeck’s book, to which Streeck responded equally critically.15) This exchange has generated a lot of comments, and all of this together is now known as the Habermas–Streeck debate.16) And indeed, there are serious differences between Habermas and Streeck, as there are between these two and Beck, even though all three adhere to the same social-democratic left wing of the political spectrum. At the same time there clearly is considerable overlap between their respective positions, and it may be instructive to take a closer look at three instances of what they have in common: (1) their critical comments on the role that German Chancellor Angela Merkel has played in Europe since the outbreak of the crisis; (2) their negative opinion of the austerity and structural reform programs that have been imposed on the debtor states; and (3) their view that in Europe the crisis has fuelled the antithesis between capitalism and democracy. Ulrich Beck notices how Angela Merkel, after she became Germany’s Chancellor in 2005, quickly emerged as the first among her equals in the European Council. She is now widely regarded as “the uncrowned queen 15)

16)

Habermas, The Lure of Technocracy, 2015, 85 – 102, Polity Press; Streeck, Small-State Nostalgia? The Currency Union, Germany and Europe: A Reply to Jürgen Habermas, Constellations 21, No. 2, 2014, 213–21. Corchia, The Debate between Habermas and Streeck about the Left and Europe’s Future, Reset, 25 March 2014, www.resetdoc.org.

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of Europe”. Beck suggests that the basis of her power resides in one characteristic feature of her effectiveness: “her tendency not to act at all, to decide the time is not yet ripe, to act at a later date – in short, to procrastinate.” In the European crisis, “Merkel delayed taking decisions from the very outset.” This and much more reminds Beck of Machiavelli, and therefore he crowns the Chancellor with the nickname Merkiavelli. The power of this Merkiavelli is founded on her “circumspection”, her “desire to do nothing”: “This art of deliberate hesitation, the combination of indifference, the rejection of Europe and the commitment to Europe, is at the root of the German stance in a crisisridden Europe.”

According to Beck, this then is Merkiavelli’s typical method: “Hesitation as a means of coercion.”17) Wolfgang Streeck is less focused on Angela Merkel’s particular political style, but not less critical of her leadership. He thinks Merkel is fundamentally wrong on the causes and consequences of the crisis. “If the euro fails, Europe too will fail,” Merkel declared in 2011, thus “equating monetary union with ‘the European idea’ or even with ‘Europe,’ regardless of its character of a market-expanding rationalization project, and even though ten [nine by now] of the twenty-seven [twenty-eight by now] countries that belong to the EU and the single market have not adopted the euro.”18)

Streeck also holds Merkel accountable for evading her responsibilities by letting crucial decisions be taken by the ECB: “The enlistment of the ECB in the role of government of last resort may suit leaders such as Angela Merkel, who are hindered by contradictions and resistance in their national democracies from taking what the finance markets consider ‘responsible’ action; transferring government business to the ECB can save them much of the drudgery of securing political legitimacy.”19)

In an interview in 2012, Jürgen Habermas was asked about political leadership in Europe, and in that context he comes down hard on the German Chancellor: “I use the expression [political leadership] with great reluctance, because the unimaginative power opportunism of the political parties under normal circumstances is sufficient to keep the machine running. But in times of crisis, we do not benefit from the narrow-minded and short-sighted small steps incrementalism that is personified by Angela Merkel.”20) 17) 18) 19) 20)

Beck, German Europe, 2013, 45 – 56, Polity Press. Streeck, Buying Time: The Delayed Crisis of Democratic Capitalism, 2014, 148–49, Verso. Ibid, 166–67. Habermas, The Lure of Technocracy, 2015, 67, Polity Press.

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In the book review of Streeck’s Buying Time, he voices his concerns about the rise of right-wing populism, and in that context he is surprisingly open about what he thinks of Germany’s Chancellor of the past ten years: “The European parties on the Left are set to repeat their historical error of 1914. They too are folding out of fear of a social mainstream susceptible to right-wing populism. Moreover, in Germany, an unspeakable media landscape of Merkel devotees is reinforcing all those involved in their resolve not to touch the hot potato of European policy in the election campaign and to play along with Merkel’s cleverly malign game of suppressing the issue.”21)

Why are these three important German thinkers so remarkably alike in their hostility, anger even, toward Angela Merkel? They all three seem to hold her personally responsible for the harsh conditions that since 2010 have been imposed on Greece, Ireland, Portugal, Spain, and Cyprus. As I already mentioned above, these are the five countries that in the period 2010–2015 have received financial assistance from the Troika (ECB, IMF, European Commission) or the European rescue funds (EFSF, ESM). But without exception, in each instance financial support was provided only after the recipient country had agreed to strict conditions, commonly referred to as austerity and structural reform programs. In their opinion on the merits of these programs, the three Germans fully agree: these don’t work, create havoc, and violate the idea of European solidarity. Beck calls this “German euro-nationalism”; Streeck debunks it as “punitive austerity policy”; for Habermas, this illustrates “executive federalism”.22) Their message is that the morality of solidarity in Europe implies that the richer EU member states should come to the rescue of EU member states that need help, and that the austerity and reform programs do anything but that. Stronger even, demanding austerity and reform in this way and of this magnitude is having the very opposite effect: it creates resentment, populism, and euroscepticism. And for all this, Beck, Streeck, and Habermas seem to blame Merkel in particular. In theory their argument applies equally to all five debtor countries. Yet in fact Greece is the only case that proves their point. The other four countries over the past few years have all been able to repay the financial support that they had received, which automatically also brought an end 21) 22)

Ibid., 102. Beck, German Europe, 2013, 46, Polity Press; Streeck, Buying Time: The Delayed Crisis of Democratic Capitalism, 2014, 95, Verso; Habermas, The Crisis of the European Union: A Response, 2012, viii, Polity Press.

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to the austerity and reform programs that came with that support.23) Of these four, Ireland and Cyprus are doing quite well, while Portugal and Spain have financially recovered to some extent but are still suffering from extremely high unemployment. Greece, of course, is a different story. Greece may well be a perfect illustration of the ill effects of austerity and reform programs that Beck, Streeck, and Habermas are so critical about. But the other four countries illustrate rather the opposite. So while the three Germans are united in their conviction that austerity and reform are ruining the debtor states of the euro area, the evidence does not support this position. The third point of overlap between Beck, Streeck, and Habermas is more serious than the first and second, because it addresses not just a coincidental factor (Merkel’s character) or a questionable assumption (the effectiveness of austerity and reform programs) but the current state of the European Union as such. All three subscribe to the view (1) that the EU is seriously lacking in democracy, (2) that this is inevitable given the dynamics of capitalism in the 21st century, and (3) that the financial crisis has only widened the gap between democracy and capitalism. On the question whether this gap can be bridged, Beck is clearly more optimistic, Streeck more pessimistic, while Habermas occupies a position somewhere in between. But these (sometimes huge) differences cannot hide the fact that the three share a perspective on the tragic evolution of capitalism over the past half century, from a stage where capitalism and democracy were more or less in balance or interdependent to a stage where these two are increasingly estranged, capitalism even threatening to destroy democracy. Beck describes the original social and economic model of the EU as “capitalism tamed by the welfare state”. But after the fall of the Berlin Wall and the collapse of the Soviet Union, this capitalism threw off its shackles and was propelled forward by “a finance system which has run amok”.24) Capi-

23) 24)

EFSF (European Financial Stability Facility), 2015, www.efsf.europa.eu; ESM (European Stability Mechanism), 2015, www.esm.europa.eu. Beck, German Europe, 2013, 11 – 12, Polity Press.

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talism “has become globalized” and “has largely spun out of the control of political leaders”: “Whether conservative, social-democratic or green, politicians of all parties feel they have become pawns in a power game orchestrated by global capital.”25)

So under conditions of global capitalism, nation-state democracies have become increasingly irrelevant, while the alternative of taming capitalism at the European level is not yet a realistic option. Beck is rather vague on how the latter – a viable European democracy – should be brought about, though he does discuss “Doing Europe”, the sympathetic initiative he launched in May 2012 with Daniel Cohn-Bendit and a number of prominent Europeans (among whom Jürgen Habermas). “Doing Europe” starts from the belief that European democracy “has to grow from the bottom up” and champions the introduction of “a European year for all”.26) Streeck in his analysis follows a path that looks very similar to the one chosen by Beck. Streeck’s central theme is the “financial and fiscal crisis of contemporary democratic capitalism”. He also refers to the period after 1945 as the era of “social capitalism”, and he argues that this system of social, democratic capitalism since the 1970s was gradually dissolved by the emergence of a new type of global, neoliberal, financial capitalism. This expansion of capitalism is basically a form of “land-grabbing by the market”. It “clashes with the logic of the social lifeworld”, where democracy has its natural roots. In the end, the “capitalist market economy becomes the driving force of the emergent global society”.27) This capitalist market economy is systematically “protected from democratic correction” – and hence “the paths of capitalism and democracy must part”.28) Streeck considers the Economic and Monetary Union as “a political mistake”, because the euro “was and is a creature of the globalization euphoria of the 1990s”, a product of “market-technocratic eurofanaticism”. Therefore the EMU, which has turned out to be “a socially reckless technocratic modernization project”, should be dismantled.29) Member states of the EU would then once more become the masters of their own currency. Streeck does not answer the question whether and how the end of the 25) 26) 27) 28) 29)

Ibid., 38. Ibid., 74 – 79. Streeck, Buying Time: The Delayed Crisis of Democratic Capitalism, 2014, vii – xviii, Verso. Ibid., 172. Ibid., 185–89.

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EMU would restore the balance between capitalism and democracy in Europe. After all, even without the EMU, we would still live in the age of globalization and thus of market capitalism. Like Beck and Streeck, Habermas looks at capitalism as a system undergoing a sea change in recent decades. He too refers to the fall of the Berlin Wall and the collapse of the Soviet Union as symbolizing the great transformation of postwar capitalism: “Since 1989–90 it has become impossible to break out of the universe of capitalism; the only remaining option is to civilize and tame the capitalist dynamic from within.”30)

He refers to postwar capitalism as “embedded capitalism” – a form of capitalism “reined in by nation states and by Keynesian economic policies”.31) But the idea of embedded capitalism was abandoned in stages – by the economic theory of the Chicago school, which acquired influence under Reagan and Thatcher in the 1980s; by the Washington Consensus, which became popular in the 1990s; by neoliberal market fundamentalism, which is reigning supreme in the 21st century. According to Habermas, embedded capitalism was pushed aside by the forces of “economic globalization” or “financial capitalism” that “was spinning out of control”. Global, financial capitalism is disrupting the balance between markets and politics – a balance that is necessary “to preserve the network of relations of solidarity among the members of political communities”. Because markets and politics rest on conflicting principles, there always remains a tension between capitalism and democracy. But while under conditions of embedded capitalism a balance between markets and politics and between capitalism and democracy could be maintained, under financial capitalism this historical equilibrium was lost; now democracy is being challenged to reinvent itself: “politics must build up its capacities for joint action at the supranational level if it is to catch up with the markets.”32)

Unlike Streeck, but very much like Beck, Habermas believes that the European Union can be a vehicle to bring about this new balance between capitalism and democracy. Beck, as I just pointed out, believes that new initiatives to make the EU more democratic should grow from the bottom up. Habermas, in contrast, aims at innovation at the highest institu30) 31) 32)

Habermas, The Crisis of the European Union: A Response, 2012, 106, Polity Press. Ibid., 4. Ibid., 108–10.

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tional level and presents an outline of the EU as “transnational democracy”. In that context, he sketches a rather complex and abstract theory of “shared sovereignty”: “Once we come to see the European Union as if it had been created for good reasons by two constitution-founding subjects endowed with equal rights – namely, co-originally by the citizens (!) and the peoples (!) of Europe – the architecture of the supranational but nevertheless democratic political community becomes comprehensible.”33)

Related to this, Habermas argues that the fatal weakness of the Economic and Monetary Union and of the euro should be repaired by transforming the EU into a Political Union. But for him this political project can only be realized when at the same time the democratic character of the EU is strengthened – that is to say, by the EU becoming a genuine but transnational democracy. While Habermas has a lot to say about the theoretical implications of these ideas of “constitutionalizing” Europe, he offers surprisingly few details about how all of this through concrete measures should be implemented. Looking at the grave problems of the EU and the euro area, Beck, Streeck, and Habermas share a conviction that these problems are caused by the widening gap between capitalism and democracy. Hence their various ideas for bridging this gap. Unfortunately, their ideas remain either vague (Beck), or unrealistic (Streeck), or abstract (Habermas). It is time, therefore, to return to our first question: Can the new European Banking Union contribute to bridging the gap between capitalism and democracy? IV. Taming Casino Capitalism The phrase “casino capitalism” first appeared in the title of a book published in 1986 by the British international relations scholar Susan Strange.34) The book was written from a global political-economy perspective and analyzed the dangers of an increasingly autonomous international financial system. Strange used the word “casino” not so much to refer to the role of speculation and gambling in world finance, but to the fact that, for the first time in history, global markets were open twenty-four hours a day.35) A quarter of a century later, the phrase “casino

33) 34) 35)

Ibid., 109. Strange, Casino Capitalism, 1986, Manchester University Press. Halliday, The revenge of ideas: Karl Polanyi and Susan Strange, Open Democracy, 24 September 2008, www.opendemocracy.net.

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capitalism” was used again, this time as the title of a book that the German economist Hans-Werner Sinn wrote about the global financial crisis of 2008.36) But now the word “casino” was used deliberately to refer to the world of gambling and speculation. In Sinn’s own words: “The losses piled up in the financial crisis and the speculative business models that have been revealed are beyond anything conceivable and indeed suggest a comparison between the world of finance and a gambling casino.”37)

The contemporary capitalism that gives so much grief to Beck, Streeck, and Habermas shows a striking family resemblance to the casino capitalism that Strange and Sinn identified. Like Strange, all three emphasize that nation states no longer can effectively regulate an increasingly autonomous global financial sector; hence the reference to “financial capitalism” (Habermas). Like Sinn, all three focus on the immense risks involved in global capitalism (“beyond anything conceivable”); hence the reference to “market capitalism” (Streeck). The three German sociologists also share the view that before the world was overpowered by casino capitalism, there was a fundamentally different kind of capitalism – a capitalism checked by other values and powers: “welfare state capitalism” (Beck), “democratic capitalism” (Streeck), “embedded capitalism” (Habermas). This type of “social capitalism” (Streeck) was the product precisely of the interplay of economic market interests and the politics of democracy. Social capitalism was domesticated; casino capitalism is unbound. So from the position taken by the three German sociologists, the challenge is (1) to tame contemporary financial capitalism, and (2) to do so in such a way that the citizens of Europe will be able to acknowledge this as a contribution to democracy. As to the first challenge, it must be clear from my account above that the European Banking Union will make an enormous difference for how the European banking sector operates: supervision, resolution, and depository insurance separately will all three have quite an impact, to say the least. But jointly exercised it is only reasonable to expect that in due time this will indeed civilize the banks, key players in the dangerous game of casino capitalism. 36) 37)

Sinn, Casino Capitalism: How the Financial Crisis Came About and What Needs to be Done Now, 2010, Oxford University Press. Ibid., 70.

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As to the second challenge, that raises a more complicated issue. Obviously no one has ever thought of the Banking Union as something that was needed to redress the EU’s democratic deficit. On the other hand, now that we do have a Banking Union, let us assume that over the next period of time (not months but years) this new institution will function more or less according to expectations and will be able to prevent the occurrence of another credit crisis like 2008. Could it then be the case that the citizens of Europe will experience this institution as directly contributing to their security and welfare, as playing a significant role for the wellbeing of their “lifeworld”? The idea of a “lifeworld” is particularly relevant in this context, as it represents one of the key concepts in the critical theory of Habermas.38) But Beck and Streeck, as I have shown above, also use this idea prominently. It seems fair to say that for all three German sociologists alike, democracy can flourish only if it is rooted in the lifeworld of citizens. But then it seems also fair to conclude that the Banking Union, if it turns out to be more or less successful in the enterprise of taming casino capitalism, can indeed be a bridge between capitalism and democracy. In the discussion of the Plan Van Rompuy above, I criticized the fact that Van Rompuy and his three colleagues had not invested more energy in addressing the problem of the democratic deficit of the EU–EMU. But let me emphasize that on this issue there is no disagreement between the three German public intellectuals and the European political elite (as represented by the four co-authors of the Plan Van Rompuy). Both camps acknowledge (1) that democracy is crucial for a vital functioning of the EU–EMU, and (2) that the financial crisis has demonstrated once more the poor state of democracy in this respect. Recently, in June 2015, a new report was published by the leaders of the EU – a report that can be best understood as a sequel to the Plan Van Rompuy of June–December 2012.39) This report, entitled “Completing Europe’s Economic and Monetary Union”, is co-authored not by Four but by Five Presidents: European Commission President Jean-Claude 38) 39)

Habermas, The Theory of Communicative Action, Vol. II: Lifeworld and System: A Critique of Functionalist Reason, 1987, Beacon Press. Juncker, Tusk, Dijsselbloem, Draghi, and Schulz, Completing Europe’s Economic and Monetary Union, The Five Presidents Report, 2015, www.ec.europa.eu.

Can the EU Banking Union Bridge the Gap between Capitalism and Democracy? 597

Juncker, European Council President Donald Tusk, Eurogroup President Jeroen Dijsselbloem, ECB President Mario Draghi, and European Parliament President Martin Schulz. This so-called Five Presidents Report has the same format as the Plan Van Rompuy in that it deals with four subjects: Economic Union, Financial Union, Fiscal Union, and Democratic Accountability, Legitimacy and Institutional Strengthening. (In the Plan Van Rompuy, the fourth subject was called Political Union, but that phrase is carefully avoided in the Five Presidents Report.) With respect to Economic Union and Fiscal Union, the Five Presidents Report contains a long list of proposals to further strengthen the EMU. But for the present discussion, the two other subjects are of greater significance: (1) the Five Presidents Report expands the idea of a Financial Union, which now includes not only proposals to complete the Banking Union but in addition proposes a new Capital Markets Union; (2) the Five Presidents Report also considerably expands the Political Union of the Plan Van Rompuy. Compared to the Plan Van Rompuy, the Five Presidents Report is much more focused and concrete, exploring five different areas: “a key role for the European Parliament and national parliaments”; “consolidating the external presentation of the euro”; “integrating intergovernmental solutions within the EU legal framework”; “a central steer by the Eurogroup”; and “a euro area treasury”. Once again, it is too early to tell whether all of these proposals, when fully implemented, will actually be able to silence the democracy critics of the EU. But here too it seems reasonable to conclude that the political leaders of the EU (the Five Presidents) are fully aware of the problem (the democratic deficit); and that these leaders now have come up with specific ideas that are at least as good as those we have seen from these critics – including Ulrich Beck, Wolfgang Streeck, and Jürgen Habermas.

Einige kritische Anmerkungen zum geplanten Schweizer Finanzdienstleistungsgesetz ROLF SETHE Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Gründe für die aufsichtsrechtliche Neuregelung III. Der Geltungsbereich der Wohlverhaltensregeln 1. Persönlicher Geltungsbereich 2. Sachlicher Geltungsbereich

3. Räumlicher Geltungsbereich IV. Die Kundenkategorien V. Die Interessenwahrungspflicht 1. Eignungs- und Angemessenheitstest 2. Organisatorische Pflichten zur Interessenwahrung VI. Fazit

I. Einleitung In Anlehnung an die bekannte Einleitung der Asterix-Hefte lässt sich die Situation der Schweiz folgendermaßen beschreiben: „Wir befinden uns im Jahre 2015 n. Chr. Europa ist von der Europäischen Union dominiert […] Ganz Europa? Nein! Ein unbeugsames Bergvolk leistet beharrlich Widerstand.“

Die Schweiz hatte den EWR-Beitritt am 6. Dezember 1992 abgelehnt. Die politische Diskussion um das Verhältnis zur Europäischen Union wird seitdem in zahlreichen Gremien und mit allerlei Erfolgen, Misserfolgen und überraschenden Wendungen fortgeführt. Ein Zaubertrank, mit dem man das gegenseitige Verhältnis zur Zufriedenheit aller politischen Akteure in der Schweiz und der Europäischen Union regeln könnte, ist nicht in Sicht, obwohl sich die „Druiden“ in Bern und Brüssel redlich bemühen. Dieses tagespolitische Geschäft muss uns hier nicht weiter interessieren. Aus Sicht des Bank- und Kapitalmarktrechtlers spannend sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der aufsichtsrechtlichen Erfassung der Branche. Betrachtet man dieses Rechtsgebiet aus der Vogelperspektive, kann man eine Zweiteilung feststellen.1) 1)

Hierzu etwa Heinemann, Rechtliche Transplantate zwischen Europäischer Union und der Schweiz, in: Fahrländer/Heizmann (Hrsg.), Europäisierung der schweizerischen Rechtsordnung, Zürich, St. Gallen, 2013, S. 3 ff.; Sethe, Rechtsangleichung im Schweizer Finanzmarktrecht – Heteronomer und autonomer Nachvollzug, Äquivalenz, Swiss Finish, in: FS für Höland, 2015, S. 345 ff.; Weber/Schaller, Auswirkungen der EU-Finanzmarktregulierung auf die schweizerische Finanzmarktgesetzgebung, EuZ 2004, 74 ff.

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Im Bereich des Bank- und des Börsenrechts ist die Schweiz in zahlreichen Gremien aktiv, die sich mit der Entwicklung internationaler Standards befassen, wie etwa das Basel Committee on Banking Supervision, der Financial Stability Board (FSB) oder die International Organization of Securities Commissions (IOSCO). Um wettbewerbsfähig zu bleiben, übernimmt sie regelmäßig internationale Regulierungsstandards, wie etwa die Basler Eigenkapitalvorschriften, die Vorgaben zum Derivatehandel aufgrund der G20-Beschlüsse von Pittsburgh oder die Regelungen zur Bekämpfung der Geldwäsche. In vielen Bereichen hat sie zudem freiwillig die europäischen Regelungen umgesetzt (sog. autonomer Nachvollzug), wie etwa im Verbraucherkreditrecht. Auffällig ist, dass von dieser Entwicklung bislang zwei Bereiche ausgeklammert blieben, nämlich die Aufsicht über Anlageberater und Vermögensverwalter und die Verhaltens- und Organisationspflichten im Wertpapiervertrieb. Die Schweiz ist nun dabei, ihr Kapitalmarktrecht umzugestalten, wobei die genannten Bereiche neu in einem Finanzinstitutsgesetz (FINIG) und in einem Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) geregelt werden sollen.2) Aus Platzgründen kann ich in diesem Beitrag, mit dem ich Johannes Köndgen für die sehr bereichernde Zusammenarbeit als Mitherausgeber der ZBB danken möchte, nur auf einige wenige neuralgische Aspekte des geplanten FIDLEG eingehen. Dieses Thema findet hoffentlich das Interesse des Jubilars, der vor seinem Wechsel an die Universität Bonn im Jahre 1995 Ordinarius für Privatrecht, Handelsrecht und Rechtsvergleichung an der Hochschule St. Gallen war und daher das Schweizer Finanzmarktrecht von innen kennt. II. Gründe für die aufsichtsrechtliche Neuregelung Das schweizerische Finanzmarktrecht kennt im Gegensatz zur MiFID I bislang kein sektorübergreifendes Aufsichtsrecht für Finanzintermediäre, sondern hat in verschiedenen Einzelgesetzen (Teil-)Aspekte geregelt: So sind die Verhaltenspflichten zwischen dem Dienstleister und seinen Kunden – im Vergleich zur europäischen Regelung – sehr knapp in Art. 11 BEHG für Effektenhändler und im Investmentrecht gemäß Art. 20 ff. KAG für die Investmentbranche geregelt. Zwar finden sich daneben auf

2)

Https://www.sif.admin.ch/sif/de/home/dokumentation/finweb/regulierungsprojekte/ finanzdienstleistungsgesetz--fidleg-.html.

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der Stufe der Selbstregulierung zahlreiche Erlasse, mit denen einzelne Finanzdienstleistungen vertieft geregelt werden, wie die „Verhaltensregeln für Effektenhändler bei der Durchführung des Effektenhandelsgeschäftes“ von 2008 oder die „Richtlinien für Vermögensverwaltungsaufträge“ von 2013. Vorgaben für die Anlagevermittlung, Abschlussvermittlung oder Anlageberatung durch zugelassene Intermediäre oder durch nicht zulassungspflichtige Finanzdienstleister fehlen dagegen. Das geplante FIDLEG soll eine sektorübergreifende Regelung schaffen und einheitliche aufsichtsrechtliche Verhaltens- und Organisationspflichten aufstellen. Für die Schweiz ist eine derartige Regelung aus zahlreichen Gründen von großer Bedeutung.3) Der international bedeutende Finanzplatz Schweiz passt sich aufgrund der globalen Verflechtung an internationale Standards an. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind ein entscheidender Faktor zum Erhalt der eigenen Wettbewerbsfähigkeit. Große Institute haben daher freiwillig die Verhaltenspflichten der Europäischen Union übernommen. Kleinere Institute und selbstständige Finanzintermediäre haben dies aus Kostengründen bislang gescheut. Da die Schweizer Finanzintermediäre jedoch einen erheblichen Teil ihrer Finanzdienstleistungen in der Europäischen Union erbringen, sind sie auf den Zugang zum europäischen Markt angewiesen. Dieser Marktzugang ist nun gefährdet, da MiFID II/MiFIR ein neues Drittstaatenregime vorsehen. Die Europäische Union überlässt erstmals die Kompetenz, Instituten aus Drittstaaten den EU-Zugang zu gewähren, nicht mehr den Mitgliedstaaten. Will ein Finanzdienstleister aus einem Drittstaat seine Leistungen an bestimmte Kundengruppen (geeignete Gegenparteien und geborene professionelle Kunden) in der Europäischen Union erbringen, erhält er künftig den Marktzutritt nur, wenn im Drittland die effektive Gleichwertigkeit der Aufsichts- und Wohlverhaltensregeln gewährleistet ist (Art. 46 Abs. 2 lit. a, Art. 47 Abs. 1 MiFIR).4) Dieses Äquivalenzerfordernis zwingt die Schweiz damit indirekt zur weitgehenden Übernahme der MiFID II/ MiFIR-Regelungen. Sollen Leistungen gegenüber Retailkunden (Privatkunden und gekorene professionelle Kunden) erbracht werden, sind nach wie vor die Mitgliedstaaten befugt, die Anforderungen an den Drittstaaten3) 4)

Ausführlich dazu Sethe, MiFID II – Eine Herausforderung für den Finanzplatz Schweiz, SJZ 2014, 477 ff. Ausführlich zum Drittstaatenregime Arquint, Internationalisierung der Finanzmarktaufsicht, GesKR 2014, 131, 139 f.; Sethe, Das Drittstaatenregime von MiFIR und MiFID II, SZW 2014, 615 ff.

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zugang zu regeln. Sie können wählen, ob sie die Errichtung einer Zweigstelle verlangen oder nicht. Tun sie dies, sind sie in den Anforderungen jedoch nicht mehr frei, sondern an die Vorgaben der Art. 39 ff. MiFID II gebunden. Eine der Voraussetzungen ist, dass die Drittlandfirma in ihrem Heimatstaat ordnungsgemäß errichtet und für die Dienstleistungen, für die sie eine Zulassung im Mitgliedstaat beantragt, in ihrem Heimatland zugelassen und beaufsichtigt ist (Art. 39 Abs. 2 lit. a MiFID II). Diese Voraussetzung bereitet der Schweiz im Bereich der prudentiellen Aufsicht über Banken und Effektenhändler keine Probleme, da ihr Aufsichtsrecht dem der Europäischen Union insoweit gleichwertig sein dürfte. Problematisch ist jedoch, dass eine prudentielle Aufsicht über unabhängige Vermögensverwalter und Anlageberater fehlt. Eine Zulassung von Zweigstellen dieser Finanzintermediäre in Mitgliedstaaten der Europäischen Union scheidet daher aus, solange sie in der Schweiz nicht beaufsichtigt sind. Heikel ist weiterhin, dass das schweizerische Aufsichtsrecht bislang keine detaillierte Regelung der Verhaltens- und Organisationspflichten beim Vertrieb von Finanzinstrumenten kennt. Die Zulassung einer Zweigstelle darf von einem EU-Mitgliedstaat jedoch nur erteilt werden, wenn die Zweigstelle die Pflichten der Art. 16 – 20, 23– 25, 27, 28 Abs. 1 und Art. 30 – 32 MiFID II sowie Art. 3 – 26 MiFIR und Art. 3 – 26 der VO (EU) Nr. 600/2014 einhält (Art. 41 Abs. 1 MiFID II). Zwar setzt Art. 41 Abs. 1 MiFID II nicht die Äquivalenz des Heimatsrechts der Zweigstelle mit dem der MiFID II voraus, sondern schreibt nur die Einhaltung der Regeln durch die Zweigstelle vor. Jedoch bewirkt die Regelung faktisch eine Rückwirkung auf die Schweiz, da der Gesetzgeber, der wegen der geschilderten Regelung der MiFIR die Gleichwertigkeit des Aufsichtsrechts bei der Erbringung von Leistungen an professionelle Kunden und geeignete Gegenparteien anstrebt, dann auch die Erbringung der Leistung an Retailkunden mitregeln kann. Da das schweizerische Aufsichtsrecht aufgrund der sektoriellen Aufsicht bislang keine vergleichbaren Regeln für alle Finanzintermediäre beim Vertrieb von Finanzinstrumenten kennt, schafft die Regelung des Art. 41 Abs. 1 MiFID II also einen weiteren Anreiz zu einer Regulierung durch den Schweizer Gesetzgeber. Für eine Regelung spricht auch das Haftungsrisiko, das sich aus Art. 6 der Rom I-Verordnung und dem Verbrauchergerichtsstand von Art 15 ff. LugÜ ergeben kann, wenn mitgliedstaatliche Gerichte einzelnen MiFID IIRegelungen nicht nur anlegerschützenden, sondern auch verbraucherschützenden Charakter zumessen. Der in der Europäischen Union ansäs-

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sige Kunde kann dann als Verbraucher am Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts gegen den schweizerischen Finanzintermediär klagen und sich auf die dort geltenden Verbraucherschutzbestimmungen berufen. Eine ganze Reihe von schweizerischen Instituten hat sich daher bereits heute dazu entschlossen, die Standards der Europäischen Union zu übernehmen, um drohende Haftungsansprüche zu vermeiden. Aus ihrer Sicht stellt eine Regelung der Wohlverhaltensregeln in der Schweiz daher keine zusätzliche Belastung dar. Wenig überraschend sind grenzüberschreitend tätige Institute also im Grundsatz für eine Erweiterung des Aufsichtsrechts.5) Die rein inländischen Institute empfinden die Verschärfung dagegen als Überregulierung.6) Dem hält die FINMA in ihrem 2010 veröffentlichten Bericht zu den Fällen Lehman und Madoff7) zahlreiche Schwächen beim Vertrieb von Finanzinstrumenten entgegen, die den Gesetzgeber bewogen haben, die Wohlverhaltensregeln nicht nur für das grenzüberschreitende, sondern auch für das inländische Geschäft vorzuschreiben. Für diese Position spricht vor allem auch der Gesichtspunkt, dass sich bereits heute umfassende anlegerschützende Pflichten im Auftragsrecht finden und die Branche aufgrund der Selbstregulierung zahlreiche Wohlverhaltensregeln kennt.8) Nicht alle der im geplanten Finanzdienstleistungsgesetz vorgeschlagenen Regelungen sind also neu. Vielmehr werden einige zivilrechtliche Verhaltenspflichten nun auch aufsichtsrechtlich geregelt (gleichsam „gedoppelt“), damit sie von der Aufsichtsbehörde durchgesetzt werden können, und andere – zuvor in der Selbstregulierung bereits vorhandene aufsichtsrechtliche Regelungen – werden auf die Gesetzesstufe angehoben. Mit

5)

6) 7) 8)

Vgl. zur Diskussion NZZ v. 17.1.2014, S. 31 („Privatbanken wollen Abkommen mit Brüssel“); NZZ v. 2.5.2014, S. 25 („Der Bundesrat soll auf Marktzutritt drängen – Dringlicher Appell der Expertengruppe Brunetti zur Finanzplatzstrategie“); NZZ v. 3.6.2014, S. 25 („Sorgen um Schweizer Marktzugang in Europa“); NZZ v. 7.8.2014, S. 27 („Am fehlenden EU-Markt-Zugang ist die Branche selbst schuld“); NZZ v. 17.9.2014, S. 71 („Ein verletzliches Geschäft“). NZZ v 4.4.2014, S. 27 („Eine Bedrohung für inlandorientierte Banken“). FINMA, Madoff-Betrug und Vertrieb von Lehman-Produkten: Auswirkungen auf das Anlageberatungs- und Vermögensverwaltungsgeschäft, Bericht v. 2.3.2010. Genannt sei nur SwissBanking, Verhaltensregeln für Effektenhändler bei der Durchführung des Effektenhandelsgeschäftes v. 22.10.2008 sowie VSV, Schweizerische Standesregeln für die Ausübung der unabhängigen Vermögensverwaltung v. 1.1.2014, beide für allgemeinverbindlich erklärt durch FINMA-Rundschreiben 2008/10 „Selbstregulierung als Mindeststandard“, Anhang N 10.

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diesem Vorgehen möchte die Schweiz ihr Finanzmarktrecht auf den international üblichen Regulierungsstandard bringen.9) Am 27. Juni 2014 schickte der Bundesrat den Vorentwurf für ein Finanzinstitutsgesetz (VE-FINIG) und ein Finanzdienstleistungsgesetz (VE-FIDLEG) in die Vernehmlassung.10) Die eingegangenen Stellungnahmen wurden ausgewertet11) und flossen in die am 4. November 2015 publizierte Botschaft ein,12) die voraussichtlich in der Frühjahrssession 2016 im Parlament behandelt wird. III. Der Geltungsbereich der Wohlverhaltensregeln 1. Persönlicher Geltungsbereich Das FIDLEG13) wird für alle Finanzdienstleister gelten (Art. 2 Abs. 1 lit. a). Hierunter sind alle juristischen oder natürlichen Personen zu verstehen, die gewerbsmäßig Finanzdienstleistungen in der Schweiz oder für Kundinnen und Kunden in der Schweiz erbringen (Art. 3 lit. e).14) Dies sind zum einen bereits prudentiell beaufsichtigte Marktteilnehmer, wie Banken, Wertpapierhäuser, Fondsleitungen und Versicherungsunternehmen. Zum anderen werden alle Vermögensverwalter erfasst, die nach dem EFINIG ebenfalls einer prudentiellen Aufsicht durch eine separate Aufsichtsorganisation unterworfen werden (Art. 57 E-FINIG). Ist ein Finanzdienstleister eine natürliche Person, so hat er neben den Verhaltens- und Organisationspflichten auch die Vorschriften für Kundenberater einzuhalten (vgl. Art. 6, 30 f., 34 Abs. 2).15) Reine Anlageberater unterstehen weiterhin keiner prudentiellen Aufsicht, wohl aber den Verhaltensregeln

9) 10) 11)

12) 13) 14) 15)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8913, 8931. https://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/ind2014.html#EFD. Bericht des Eidgenössischen Finanzdepartements über die Vernehmlassungsergebnisse zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 13.3.2015, http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/38717.pdf. Vgl. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8913, 8931. Alle nachfolgend zitierten Gesetzesbestimmung sind solche des E-FIDLEG, sofern nicht anders vermerkt. Dem Gesetz nicht unterstellt sind die Schweizerische Nationalbank (SNB) und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), vgl. Art. 2 Abs. 2 E-FIDLEG. Vgl. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8947 f.

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des FIDLEG. Um auch bei ihnen die Durchsetzung dieser Pflichten sicherzustellen, finden sich entsprechende Strafbestimmungen (Art. 92 ff.). Erfasst sind weiterhin Kundenberater (Art. 2 Abs. 1 lit. b). Hierunter sind alle natürlichen Personen zu verstehen, die selbst oder im Namen eines Finanzdienstleisters Finanzdienstleistungen an Kunden erbringen (Art. 3 lit. f). Gemäß der Botschaft ist der Begriff „Kundenberater“ weit auszulegen. Insbesondere fallen neben Anlageberatern und Vermögensverwaltern auch Versicherungsvermittler und Vertriebsträger darunter.16) Das FIDLEG geht also funktional vor und erfasst als Kundenberater alle Personen, die am Point of Sale gegenüber Kunden auftreten.17) Kundenberater bedürfen einer Registrierung im Beraterregister, wenn sie für einen in- oder ausländischen Finanzdienstleister tätig sind, der selbst über keine Zulassung nach Art. 3 FINMAG verfügt (Art. 30), z. B. in- oder ausländische Anlageberater. Die Registrierung darf nur erfolgen, wenn sie (1) eine entsprechende Aus- und Weiterbildung belegen können, (2) eine Berufshaftpflichtversicherung oder gleichwertige Sicherheiten nachweisen und (3) sie einer Ombudsstelle angeschlossen sind. (4) Ausgeschlossen ist die Registrierung bei Vorhandensein von bestimmten Vorstrafen und (5) bei Vorliegen eines aufsichtsrechtlich verhängten Berufsverbots (Art. 31). Sie bedürfen dann keiner eigenen Berufshaftpflicht oder gleichwertiger Sicherheit und keines Anschlusses an eine Ombudsstelle, wenn sie nachweisen, dass ihr Arbeitgeber diese Voraussetzungen erfüllt (Art. 31 Abs. 3, Abs. 1 lit. c). Das Register ist öffentlich (Art. 34 Abs. 5). Als Angestellte oder als Vertreter tätige Kundenberater von in der Schweiz zugelassenen Finanzdienstleistern müssen sich dagegen nicht re-

16) 17)

Vgl. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8922 f. Personen, die die Erbringung von Finanzdienstleistungen nur in untergeordneter Weise unterstützen (z. B. durch Versand von Produktdokumentationen, Vereinbarung eines Termins für einen Kunden bei seinem Kundenberater etc.) gelten nicht als Kundenberater, Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8948.

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gistrieren lassen.18) Bei ihnen stellt der Finanzdienstleister ihre fachliche Eignung sicher (Art. 7, 24, 25). Schließlich unterfallen auch Ersteller und Anbieter von Finanzinstrumenten dem Gesetz (Art. 2 Abs. 1 lit. c), auf die aus Platzgründen nicht näher eingegangen wird. 2. Sachlicher Geltungsbereich Das FIDLEG erfasst Finanzdienstleistungen, worunter es folgende Tätigkeiten versteht: den Erwerb oder die Veräußerung von Finanzinstrumenten, die Annahme und Übermittlung von Aufträgen, die Finanzinstrumente zum Gegenstand haben, die Anlageberatung in Finanzinstrumenten sowie die Gewährung von Krediten für die Durchführung von Geschäften mit Finanzinstrumenten (Art. 3 lit. d). Auch die individuelle Vermögensverwaltung ist erfasst. Im Gegensatz zum deutschen Recht bezieht sich dieser Tatbestand nicht nur auf die Verwaltung von Finanzinstrumenten, sondern auch auf diejenige von Finanzanlagen (vgl. Art. 3 lit. a i. V. m. lit. d Ziff. 3). Hierunter sind etwa Bankguthaben auf Sicht oder auf Zeit und Forderungspapiere ohne Effektencharakter zu verstehen. Nicht als Finanzanlagen gelten dagegen direkte Anlagen in Immobilien und Ansprüche aus Sozialversicherungen sowie Guthaben der beruflichen Vorsorge.19) Der Tatbestand der Vermögensverwaltung unterscheidet sich noch in einer weiteren Hinsicht von dem des deutschen Aufsichtsrechts. Im FIDLEG werden nicht nur die auf Dauer mittels Vollmacht getätigten Vermögensverwaltungen erfasst, sondern auch Vollmachten, die sich auf einzelne Geschäfte beziehen, und Verhältnisse, bei denen Transaktionen trotz externer Vollmachten intern vom Kunden zu genehmigen sind,20) so dass im Innenverhältnis faktisch eine Anlageberatung vorliegt. Aus Sicht des Aufsichtsrechts soll jedoch das Außenverhältnis für die Einordnung in die Bewilligungstatbestände maßgeblich sein. Weit fällt im Vergleich zum Anhang I Abschnitt C der MiFID II der Begriff der Finanzinstrumente aus (vgl. Art. 3 lit. b Ziff. 6, 7), der auch 18) 19) 20)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8967. So ausdrücklich die Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8943. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8946.

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rückkaufsfähige Lebensversicherungen mit kursabhängigen Leistungen und Abfindungswerten erfasst, weil bei diesen der Kunde ein Kapitalanlagerisiko trägt.21) Als Finanzinstrumente gelten auch Kapitalisations- und Tontinengeschäfte sowie Einlagen, deren Rückzahlungswert oder Zins risiko- oder kursabhängig ist, es sei denn, deren Zins ist an einen Zinsindex gekoppelt. 3. Räumlicher Geltungsbereich Schweizer Finanzdienstleister unterstehen dem FIDLEG unabhängig davon, ob sie Dienstleistungen für Kunden in der Schweiz oder im Ausland erbringen. Ausländische Finanzdienstleister werden vom Gesetz erfasst, wenn sie sich an Kunden in der Schweiz wenden. Anders als beim räumlichen Anwendungsbereich des BankG kommt es also nicht auf in der Schweiz errichtete Zweigniederlassungen oder die Bestellung eines Vertreters in der Schweiz an (Art. 2 BankG, Art. 2 ABV-FINMA). Grenzüberschreitende Bankgeschäfte ohne dauerhafte physische Präsenz dürfen somit erlaubnisfrei erbracht werden.22) Dass das FIDLEG nun den räumlichen Anwendungsbereich ausweitet, wird mit der Schutzbedürftigkeit des inländischen Publikums begründet; ausländische Finanzdienstleister sollen die gleichen Verhaltensregeln einhalten müssen wie Schweizer Anbieter, um inländische Kunden gleich gut zu schützen. Der Gesetzgeber macht allerdings zu Recht die Einschränkung, dass die Durchsetzung der Vorschriften gegenüber ausländischen Finanzdienstleistern wegen des Territorialitätsprinzips nur schwer möglich sein wird.23) In Deutschland wird diese Lücke zumindest zum Teil durch die Rechtsprechung geschlossen, die dem Kunden bei ohne Zulassung erbrachten Bankgeschäften und Finanzdienstleistungen einen Schadensersatzanspruch zubilligt, wobei sie den Schaden im Eingehen der Vertragsbeziehung sieht.24) Am Beispiel der Vermögensverwaltung zeigt sich, dass dem Kunden hierdurch eine PutOption gewährt wird. Hat sein Vermögensverwalter gut gewirtschaftet, beendet der Kunde die Vertragsbeziehung, wenn er von der fehlenden Zulassung erfährt. Hat er schlecht gewirtschaftet, kann und wird der 21) 22) 23) 24)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8943. Bahar/Stupp in: Basler Komm-BankG, 2. Aufl. 2013, Art. 1 Rz. 85. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8916 f. Vgl. etwa BGH, Urt. v. 11.7.2006 – VI ZR 340/04, WM 2006, 1896 ff.

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Kunde verlangen, so gestellt zu werden, als habe er von dem Vermögensverwalter nie gehört, so dass er als Schadensersatz die Differenz des Werts des heutigen Portfolios zum ursprünglich eingesetzten Kapital erhält.25) Entsprechende Urteile deutscher Gerichte sind gemäss Art. 33 ff. LugÜ II anzuerkennen und können gemäss Art. 38 ff. LugÜ in der Schweiz vollstreckt werden.26) Eine vergleichbare abschreckende Rechtsprechung fehlt in der Schweiz. IV. Die Kundenkategorien Das Schweizer Recht kennt Kundenkategorien bereits im Kollektivanlagerecht. Der Gesetzgeber führt nun im FIDLEG die drei aus der MiFID bekannten Kundenkategorien ein (Art. 4, 5), übernimmt sie aber nicht vollständig. Ein erster Unterschied besteht darin, dass man öffentlichrechtliche Körperschaften, Vorsorgeeinrichtungen und Einrichtungen der beruflichen Vorsorge sowie Unternehmen nicht pauschal als geborene professionelle Kunden einordnet, sondern nur, wenn sie über eine professionelle Tresorerie verfügen. Dies ist der Fall, wenn sie über mindestens eine fachlich ausgewiesene, im Finanzbereich erfahrene Person verfügen, die ihre Finanzmittel dauernd bewirtschaftet.27) Dieses Kriterium, das an das vorhandene Know-how anknüpft, erscheint dem Gesetzgeber überzeugender als das mit der MiFID II vorgenommene pauschale Abstellen auf Unternehmensgröße oder Status einer Organisation. Der zweite Unterschied findet sich bei der Möglichkeit zum Wechsel der Kundengruppe. Gemäß Art. 5 Abs. 1 können vermögende Privatkunden erklären, dass sie als professionelle Kunden gelten wollen (sog. Opting-out). Der Bundesrat kann die Eignung dieser Personen als professionelle Kunden zusätzlich von Voraussetzungen, namentlich von fachlichen Qualifikationen, abhängig machen. Es ist geplant, die Regelung in Art. 6 KKV zu übernehmen.28) Damit könnten Privatkunden, die aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Erfahrung oder aufgrund einer vergleichbaren Erfahrung im Finanzsektor über die Kenntnisse verfügen, die notwendig sind, um die Risiken der Anlagen zu verstehen, und die über ein Vermögen von mindestens 25) 26) 27) 28)

BGH, Urt. v. 9.11.2010 – VI ZR 303/09, WM 2011, 17 ff.; OLG Köln, Urt. v. 16.1.2013 – 16 U 29/12, IPRspr 2013, Nr. 173, 374 ff. BGer, Urt. v. 29.12.2008 – 4A_440/2008; BGer, Urt. v. 5.10.2009 – 4A_305/2009. FINMA-RS 2008/5 Erläuterungen zum Begriff Effektenhändler, Rz. 16. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8949 f.

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500.000 Fr. verfügen, zu professionellen Kunden hochgestuft werden. Sofern diese Lösung in der geplanten Verordnung umgesetzt würde, entspräche sie derjenigen der MiFID II. Art. 6 KKV geht jedoch noch darüber hinaus und erlaubt auch Personen, die schriftlich bestätigen, über ein Vermögen von mindestens 5 Mio. Fr. zu verfügen, eine Höherstufung. Damit wäre das Schweizer Recht deutlich weniger paternalistisch als das entsprechende europäische. Auf der anderen Seite ist jedoch zu bedenken, dass Geld allein noch keine Erfahrung ersetzt.29) V. Die Interessenwahrungspflicht 1. Eignungs- und Angemessenheitstest Gemäß Art. 8 Abs. 2 hat der Finanzdienstleister die Interessen seiner Kunden zu wahren. Diese Regelung ist ein Beispiel für die Doppelung der im Zivilrecht bereits vorhandenen Interessenwahrungs- bzw. Treuepflicht (Art. 398 Abs. 2 OR) mit dem Ziel, ihre aufsichtsrechtliche Durchsetzung zu ermöglichen. Ausfluss dieser Pflicht ist der Eignungstest. Aus diesem Grund verpflichtet Art. 13 Vermögensverwalter dazu, die Geeignetheit der von ihm getätigten Anlagen für den Kunden zu prüfen. Dazu muss er sich bei Privatkunden nach deren finanziellen Verhältnissen, Anlagezielen sowie Kenntnissen und Erfahrungen erkundigen. Bei professionellen Kunden reicht die Frage nach den Anlagezielen (Art. 15)30).31) Leider ist die Gesetzesbegründung sehr widersprüchlich, da sie zu Art. 14 feststellt: „Da Finanzdienstleister bei professionellen Kunden regelmässig auf die Durchführung einer Angemessenheitsprüfung verzichten können (vgl. Art. 15), beziehen sich die Einschränkungen von Artikel 14 vorab nur auf Dienstleistungen für Privatkundinnen und -kunden.“32)

29)

30) 31)

32)

Vgl. bereits FINMA, Regulierung von Produktion und Vertrieb von Finanzprodukten an Privatkunden – Stand, Mängel und Handlungsoptionen („FINMA-Vertriebsbericht 2010“) vom Oktober 2010, S. 41; ablehnend daher Sethe, SJZ 2014, 477, 484; Sethe, SZW 2014, 615, 625. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8958 f. Es sei denn, dass der Finanzdienstleister Anhaltspunkte dafür hat, dass der Kunde die Risiken des Geschäfts nicht versteht, Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8958. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8958.

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In der Begründung zu Art. 15 heißt es dann zutreffend: „Die Vorschriften der Angemessenheits- und Eignungsprüfung gemäss Artikel 12 und 13 gelten grundsätzlich auch bei Finanzdienstleistungen für professionelle Kunden. Allerdings ist bei deren Durchführung den besonderen Eigenschaften dieses Kundensegments Rechnung zu tragen. Der Finanzdienstleister muss deshalb nur dann einen Abgleich des Geschäfts mit den Erfahrungen und Kenntnissen der Kundinnen und Kunden vornehmen, wenn Anhaltspunkte bestehen, die Zweifel an einem ausreichenden Verständnis des Geschäfts hervorrufen.“33)

Gerade die zweite zitierte Passage macht deutlich, dass bei professionellen Kunden nur die Exploration der Kenntnisse und Erfahrungen und der mit der Finanzdienstleistung einhergehenden finanziellen Tragbarkeit entfällt, nicht aber die Berücksichtigung der Anlageziele. Alles andere wäre absurd, weil Art. 15 ansonsten dem Vermögensverwalter erlauben würde, bei professionellen Kunden deren Vermögen ohne Rücksicht auf die Anlageziele anzulegen. Der Wortlaut der Erkundigungspflicht in Art. 13 ist im Übrigen enger als Art. 25 Abs. 2 MiFID II, da er die Verlusttragungsfähigkeit und die Risikotoleranz nicht erwähnt. Auf die entsprechende Kritik34) hat der Bundesrat reagiert und führt in der Botschaft aus, dass das Risikobewusstsein, die Risikofähigkeit und -bereitschaft zu erfragen sind.35) Auch bei der Anlageberatung besteht eine inhaltlich entsprechende Pflicht zur Geeignetheitsprüfung. Allerdings schränkt der Gesetzgeber diese Prüfung auf Fälle ein, in denen der Anlageberater das gesamte Portfolio des Kunden kennt (Art. 13). Wünscht der Kunde dagegen nur eine Anlageberatung für eine einzige Transaktion, ohne dem Anlageberater sein übriges Portfolio aufzudecken, schuldet der Finanzintermediär lediglich einen Angemessenheitstest (Art. 12). Damit unterscheidet sich die Regelung deutlich von Art. 25 Abs. 2 MiFID II, der den Geeignetheitstest für jede Form der Anlageberatung vorschreibt. Der weniger intensive Angemessenheitstest ist in Art. 25 Abs. 3 MiFID II für die beratungsfreien Leistungen (reines Ausführungsgeschäft) reserviert und kann gemäß Art. 25 Abs. 4 MiFID II für nichtkomplexe Finanzinstrumente ganz abbedungen werden. 33) 34)

35)

Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8958. Kritisch daher bereits Weber/Sethe, Äquivalenz als Regelungskriterium im Finanzmarktrecht, SJZ 2014, 569, 577; Sethe, SZW 2014, 615, 625; gemäß dem Bericht des Eidgenössischen Finanzdepartements über die Vernehmlassungsergebnisse zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG) v. 13.3.2015, S. 19, forderte auch Lenz & Staehelin eine diesbezügliche Erweiterung des Gesetzeswortlauts. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und zum Finanzinstitutsgesetz (FINIG), v. 4.11.2015, BBl 2015, 8901, 8957 f.

Einige kritische Anmerkungen zum geplanten Schweizer Finanzdienstleistungsgesetz 611

Das FIDLEG sieht dagegen beim reinen Ausführungsgeschäft sogar ganz vom Angemessenheitstest ab (Art. 14) und zwar sowohl bei nichtkomplexen als auch bei komplexen Finanzinstrumenten.36) Gleiches gilt in Bezug auf Leistungen, die auf Veranlassung des Kunden erbracht werden. 2. Organisatorische Pflichten zur Interessenwahrung Diese Verhaltenspflicht wird in Art. 27 durch organisatorische Pflichten, in Art. 28 durch eine Regelung zu Retrozessionen und in Art. 29 durch Vorgaben zu Mitarbeitergeschäften ergänzt. Bemerkenswert ist der Wandel zwischen dem Vorentwurf und der Botschaft in Bezug auf den immanenten Interessenkonflikt zwischen der Vergütung des Finanzdienstleisters einerseits und dem Interesse des Kunden an einer von Vergütungsinteressen unbeeinflussten Anlage seines Vermögens andererseits. Der Vorentwurf sah in Anlehnung an MiFID II noch die Unterscheidung zwischen auf Provisionsbasis und auf Honorarbasis arbeitenden Finanzdienstleistern vor (Art. 9 VE-FIDLEG), wobei diese Regelung sowohl für Anlageberater als auch für Vermögensverwalter gelten sollte. Dafür war – abweichend von Art. 24 Abs. 8 MiFID II – Vermögensverwaltern weiterhin die Annahme von Retrozessionen erlaubt, sofern sie diese entweder an die Kunden weiterleiteten oder der Kunde auf deren Herausgabe verzichtete (dazu sogleich). Die Unterscheidung zwischen auf Provisionsbasis und auf Honorarbasis arbeitenden Finanzdienstleistern ist in der Botschaft ersatzlos entfallen. Eine Änderung gab es auch hinsichtlich der Zulässigkeit der Annahme von Retrozessionen. Im Vorentwurf war vorgesehen, dass Finanzdienstleister im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen nur Vorteile annehmen dürfen, wenn die Kunden vorgängig ausdrücklich auf die Herausgabe der Vorteile verzichtet haben oder die Vorteile vollumfänglich an die Kunden weitergegeben werden (Art. 26 Abs. 1 VEFIDLEG). Diese Lösung, die nicht nur die Frage der Information, sondern auch die rein zivilrechtliche Folgefrage der Herausgabe der Retrozession ansprach, ging über die Vorgaben von Art. 24 Abs. 9 MiFID II hinaus und stieß deshalb als aufsichtsrechtliche Überregulierung auf viel Kritik, so dass der Bundesrat in der Botschaft zurückrudern musste. Nun 36)

Kritisch zum Vorentwurf daher die Stellungnahme des Verbandes der Auslandsbanken in der Schweiz v. 17.9.2014, S. 14, http://www.foreignbanks.ch/vas.exe?Modul=DO& Dokument=5055; kritisch auch Weber/Sethe, SJZ 2014, 569, 577.

612

Rolf Sethe

ist in Art. 28 Abs. 1 und 2 vorgesehen, dass Finanzdienstleister im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen von Dritten Entschädigungen annehmen dürfen, wenn sie die Kunden vorgängig ausdrücklich über die Entschädigung informiert haben oder die Entschädigung vollumfänglich an die Kunden weitergeben. Die vorgängige Information der Kunden muss Art und Umfang der Entschädigung beinhalten bzw. die Berechnungsparameter und Bandbreiten, wenn Art und Umfang noch nicht genau feststehen. Das Schweizer Recht folgt damit dem Ansatz von MiFID I und entscheidet sich bewusst gegen die Modifikation, die MiFID II (zwei Arten der Anlageberatung und Totalverbot der Retrozessionen bei Vermögensverwaltern) mit sich bringt. Man darf gespannt sein, ob die Europäische Union diese Lösung als äquivalent anerkennt.37) VI. Fazit Das vorgelegte Reformpaket aus FINIG und FIDLEG, dessen Begründung in der Botschaft 192 Seiten umfasst, kann an dieser Stelle nicht umfassend gewürdigt werden. Eines seiner Hauptanliegen, die unabhängigen Vermögensverwalter einer Aufsicht zu unterwerfen, ist unter Anlegerschutzgründen ebenso zu begrüßen wie unter Wettbewerbsgründen, da bislang nur ein Teil der diese Leistung anbietenden Intermediäre beaufsichtigt wird. Gelungen ist auch die Verpflichtung zur Aus- und Weiterbildung der am Point of Sale tätigen Personen. Positiv einzuordnen ist zudem die umfassende Geltung des FIDLEG für in- und ausländische Finanzdienstleister, soweit sie sich an Kunden in der Schweiz wenden. Allerdings ist die Durchsetzung der Regulierung gegenüber ausländischen Anbietern schwach ausgeformt. Auf den ersten Blick kritisch zu sehen ist die geplante Einordnung von Anlegern als professionelle Kunden allein wegen ihres großen Vermögens, ohne dass es auf ihre Erfahrung oder Vorkenntnisse im Wertpapiergeschäft ankäme. Im Ergebnis wird diese Lösung, die bereits in Art. 6 KKV für die Kollektivanlagen verankert ist, allerdings dadurch entschärft, dass der Finanzintermediär/der unabhängige Vermögensverwalter die Anleger über ihren Status als qualifizierte Anleger informieren, sie über die damit einhergehenden Risiken aufklären und sie auf die Möglichkeit hinweisen 37)

Zweifelnd Sethe, SJZ 2014, 477, 484 ff.; auf den Unterschied zu Art. 24 Abs. 8 MiFID II aufmerksam macht auch Bärtschi, Finanzmarktregulierung im Fluss, SZW 2014, 459, 481.

Einige kritische Anmerkungen zum geplanten Schweizer Finanzdienstleistungsgesetz 613

muss, schriftlich erklären zu können, nicht als qualifizierte Anleger gelten zu wollen (Art. 6a Abs. 2 lit. c KKV). Somit kann der Anleger auf wohlinformierter Grundlage eine Entscheidung treffen, während ihm MiFID II diese Autonomie versagt. Als überzeugend erweist sich die Einordnung öffentlich-rechtlicher Körperschaften, Vorsorgeeinrichtungen, Einrichtungen der beruflichen Vorsorge und Unternehmen in die Kategorie der professionellen Kunden, die nur erfolgt, sofern sie über eine professionelle Tresorerie verfügen. Hieran sollte sich der europäische Gesetzgeber ein Beispiel nehmen, da im Gegensatz zur Regelung in der MiFID II nicht auf den Status, sondern auf das vorhandene Fachwissen abgestellt wird. Die Regelung zur Eignungsprüfung bei der Vermögensverwaltung ist als Fortschritt zu werten, da die Aufsicht nun diesen im Auftragsrecht anerkannten Test überwachen und durchsetzen kann. Warum der Gesetzgeber sich aber bei der Anlageberatung dazu entschlossen hat, die Eignungsprüfung nur vorzuschreiben, wenn der Anlageberater das Gesamtportfolio des Kunden kennt, erschließt sich mir nicht. Denn auch bei der Anlageberatung in Bezug auf Einzelwerte ohne Kenntnis des Beraters vom Gesamtportfolio des Kunden ist eine Eignungsprüfung möglich, allerdings eben nur in Bezug auf das eine Finanzinstrument. Wenn der Kunde diese eingeschränkte Perspektive wünscht, heißt das jedoch noch nicht, dass man ihm den Schutz der Eignungsprüfung auch im Übrigen versagen müsste. Kauft der Kunde ein einzelnes Finanzinstrument, das erkennbar nicht zu seinen finanziellen Verhältnissen passt (z. B. wegen seiner Laufzeit), ist der Berater nun gemäß Art. 12 gerade nicht verpflichtet, den Kunden darüber in Kenntnis zu setzen, geschweige denn zu warnen. Das überzeugt nicht. Verwundert ist man im Übrigen, dass im Bereich des reinen Ausführungsgeschäfts jeglicher Test, und damit eine Warnpflicht des Finanzdienstleisters bei erkennbar unpassenden Anlagen durch den Kunden, fehlt. Damit bleibt das FIDLEG hinter der schweizerischen Rechtsprechung zurück: Führt ein Finanzintermediär für einen Kunden ein Einzelgeschäft aus, ist er grundsätzlich nicht zu einer generellen Interessenwahrung verpflichtet; eine Aufklärungspflicht besteht daher nur auf Verlangen oder bei Vorliegen besonderer Umstände.38) Solche Umstände bestehen bei offensichtlich erkennbarer Aufklärungsbedürftigkeit des Kunden oder bei Bestehen eines 38)

BGer, Urt. v. 15.1.2002 – 4C.265/2001, E. 2.a; BGE 119 II 333, 335; BGE 133 III 98, 103 E. 7.1.2.

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besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Finanzintermediär und Kunde, aus welchem Letzterer nach Treu und Glauben auch unaufgefordert Beratung und Abmahnung erwarten durfte.39) Dies ist in der Sache nichts anderes als der Angemessenheitstest, bei dem der Kunde zu warnen ist, wenn er erkennbar (!) seinen bisherigen Anlagehorizont verlässt und die Risiken nicht einschätzen kann. Zudem stellt sich auch hier die Frage, ob die Europäische Union dies als äquivalent ansehen wird. Schließlich fallen die Unterschiede zwischen MiFID und FIDLEG bei der Bewältigung des Problems der Entlohnung des Finanzintermediärs auf. Das FIDLEG schließt sich der Lösung von MiFID I an. Dass man die Rechtsfigur des Honorarberaters nicht übernommen hat, erscheint verständlich, vermag sich dieser doch bislang auch in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch nicht am Markt durchsetzen. Nachdenklicher stimmt es jedoch, dass der Gesetzgeber die besonderen Gefahren von Retrozessionen in der Vermögensverwaltung in der Botschaft nicht ausreichend adressiert. Anders als bei der Anlageberatung trifft der Kunde des Vermögensverwalters gerade nicht im Vorhinein Entscheidungen über Anlageobjekte in Kenntnis der Kosten und der Art und der Höhe der Retrozessionen. Vielmehr stimmt er zu Beginn der Vermögensverwaltung abstrakt der Annahme von Retrozessionen zu und erfährt im Nachhinein aus den Rechenschaftsberichten, welche Geschäfte getätigt wurden und welche Retrozessionen geflossen sind, ohne aber zu wissen, ob andere Anlageobjekte vielleicht geringere Retrozessionen ausgelöst hätten und aus diesem Grund für den Vermögensverwalter als Anlageobjekt ausgeschieden sind. Der Anleger hat also ein Kontrollproblem, das im FIDLEG ungelöst bleibt. Man wird sicherlich in der Schweiz, aber auch in der Europäischen Union, mit großem Interesse die langfristigen Erfahrungen von Mitgliedstaaten beobachten, die Retrozessionen ganz verboten haben (wie etwa Großbritannien mit dem “Retail Distribution Review”).40)

39)

40)

BGE 133 III 97, 102 E. 7.1.1; BGE 119 II 333, 335 E. 5a; BGer, Urt. v. 15.1.2002 – 4C.265/2001, E. 2.a; BGer, Urt. v. 23.7.2002 – 4C.108/2002, E. 2.b (= Pra 92 [2003], Nr. 51); BGer, Urt. v. 23.6.1998 – 4C.410/1997, E. 3.b. (= Pra 77 [1998] Nr. 155); BGE 124 III 162; BGE 119 II 333, 335; vgl. zum Ganzen Eggen, Finanzprodukte, Auftrag oder Kauf?, SZW 2011, 625, 629; Thalmann, Von der vorvertraglichen Aufklärungspflicht der Bank zur börsengesetzlichen Informationspflicht des Effektenhändlers, in: FS für Druey, 2002, S. 973 ff.; Thalmann, Die Sorgfaltspflicht der Bank im Privatrecht insbesondere im Anlagegeschäft, ZSR 1994 II, 229 ff. Vgl. dazu die Hinweise unter https://www.fca.org.uk/news/post-implementation-reviewof-the-rdr.

Produkthaftung für Finanzmarktprodukte? – Parallelen und Unterschiede – GERALD SPINDLER Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Grundlagen: Vertragsrecht versus Deliktsrecht III. Pflichten bei Entwicklung und Konstruktion von Finanzmarktprodukten IV. Produktionsfehler

V. Produktbeobachtungspflichten VI. Instruktionspflichten – Beratungspflichten VII. Prozessuale Fragen VIII. Fazit: Parallelen und Unterschiede

I. Einleitung Johannes Köndgen kann mit Fug und Recht als einer der Pioniere des Kapitalmarkt- und Bankrechts bezeichnet werden. Gerade der Anlegerschutz war ihm stets ein wichtiges Anliegen und schlug sich in zahlreichen Publikationen nieder. Nach den euphorischen Deregulierungen der neunziger Jahre und Anfang des Jahrtausends mit ihrem anscheinend unbegrenzten Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte, wurden sowohl Wirtschafts- als auch Rechtswissenschaftler1) auf den Boden der Tatsachen durch die Finanzmarktkrise zurückgeholt, die eklatante Missstände und ein nicht für möglich gehaltenes, teilweise irrationales Verhalten der Marktteilneh-

1)

Siehe dazu die Gutachten von Hellwig, Höfling und Zimmer in 68. DJT 2010, Gutachten E, F, G sowie Beschluss I. (1) der Abteilung Öffentliches und Privates Wirtschaftsrecht des DJT, der die Finanzmarktregulierung als „elementare Staatsaufgabe“ anerkennt; ferner die Beiträge von Rudolph, Bankenregulierung nach der Finanzkrise, in: FS für Hopt, 2010, S. 2407; Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, 53; Hopt, Auf dem Weg zu einer neuen europäischen und internationalen Finanzmarktarchitektur, NZG 2009, 1401; Spindler, Finanzmarktkrise und Wirtschaftsrecht, AG 2010, 601.

616

Gerald Spindler

mer offenbarte.2) Die Anlegerschutzprozesse aufgrund des Vertriebs von Lehman-Zertifikaten und anderen strukturierten Finanzprodukten nahmen an Zahl, aber auch Komplexität enorm zu, die Kasuistik zu den Aufklärungspflichten und Beratungspflichten aus oftmals angenommenen konkludent abgeschlossenen selbständigen Beratungsverträgen ist kaum noch zu überschauen.3) Die feste Verankerung im vertragsrechtlichen Bereich und die Bezugnahme auf Vertrauensstellungen gerade von Finanzberatern, aber auch Analysten etc., die der Jubilar schon früh in seiner Habilitationsschrift und einflussreichen Beiträgen analysierte,4) lässt es eher fernliegend erscheinen, Parallelen zur Produkthaftung zu ziehen, die bekannterweise auf dem Deliktsrecht aufbaut, mithin das Integritätsinteresse statt des Äquivalenzinteresses im Auge hat.5) Dennoch verleitet einen nicht nur die Bezeichnung „Finanzprodukt“ dazu, Überlegungen zu ähnlichen Strukturen zwischen beiden Bereichen anzustellen, sondern vor allem die in den jeweiligen Gebieten herausgearbeiteten spezifischen Pflichten. Auch der – inzwischen wieder eher verhaltene – Ruf nach einem „TÜV“ für Finanzprodukte, der 2012

2)

3) 4) 5)

Siehe grundlegend zu Behavioral Finance, Herdenverhalten und irrationalen Marktentscheidungen Kahneman/Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica, 47 (1979), 263; Shiller, From Efficient Markets Theory to Behavioral Finance, 17 J. Econ. Persp. 83 (2003); Rook, An economic psychological approach to herd behavior, 40 J. Econ. Issues 75 (2006); Spindler, Anlegerschutz im Kapitalmarktund Bankrecht – Neujustierung durch Behavioural Finance?, in: FS für Säcker, 2011, S. 403; mit Bezug zur Finanzkrise Langevoort, Chasing the Greased Pig Down Wall Street, 96 Cornell L. Rev. 1209 (2011); Miller/Rosenfeld, Conceptual Biases in Complex Organizations Contributed to the Crisis of 2008, 33 Harv. J.L. & Pub. Pol'y 807 (2010); Dallas, Short-Termism, the Financial Crisis and Corporate Governance, 37 Iowa J. Corp. L. 265 (2012); Lin, Too Big to Fail, Too Blind to See, 80 Miss. L.J. 355 (2010); ferner Hellwig Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E zum 68. DJT 2010, S. 35 ff.; Spindler, AG 2010, 601, 602 f.; Bou Sleiman, Contigent Convertible Bonds, 2015, Rz. 11 ff. Siehe hierzu die Übersicht bei Spindler, Grundlagen, in: Langenbucher/Bliesener/ Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Kap. 33 Rz. 53 ff. m. w. N. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 403 ff., 411 f.; Köndgen, Zur Theorie der Prospekthaftung (II), AG 1983, 120, 121 ff. Siehe dazu Spindler in: Bamberger/Roth, Bd. 2, 3. Aufl. 2012, § 823 Rz. 478 ff. m. w. N.; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 617 ff. m. w. N.

Produkthaftung für Finanzmarktprodukte?

617

ursprünglich sogar Eingang in die Koalitionsverhandlungen fand,6) lässt Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gebieten erahnen. Die MiFID II7) hat jetzt deutliche Ansätze von verschärften Pflichten der „Hersteller“ von Finanzprodukten aufgenommen. Der Beitrag unternimmt es, Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gebieten zu beleuchten, so dass trotz verschiedener Ausgangspunkte gegenseitige Befruchtungen stattfinden können. II. Grundlagen: Vertragsrecht versus Deliktsrecht Die Haftung für Finanzmarktprodukte ist heute im Wesentlichen auf den Vertrieb, hier: die Anlageberatung, bezogen und fußt damit zentral auf den vertragsrechtlichen Pflichten. Oftmals unterstellt der Bundesgerichtshof bekanntlich einen stillschweigend geschlossenen Beratungsvertrag, wenn die Ausführungen des Beraters von erkennbarer Bedeutung für spätere Vermögensdispositionen des Kunden sind.8) Selbst wenn ausnahmsweise kein eigenständiger Beratungsvertrag zustande kommen sollte, greifen die Pflichten aus vorvertraglich geschuldeten Beratungsnebenpflichten aufgrund des besonderen Vertrauens, das Anlageberater gegenüber einem Kunden in Anspruch nimmt, und seines Informationsvorsprungs ein.9) Dies gilt auch für den Fall einer bestehenden, laufenden Geschäftsbeziehung zwischen der Bank und dem Kunden,10) da sich zwar jedes Anlagegeschäft i. R. 6)

7)

8)

9) 10)

Anstelle eines umfassenden TÜVs einigten sich die Koalitionsparteien 2013 letztendlich lediglich auf eine geringfügige Aufstockung des Budges der Stiftung Warentest um 1,5 Mio. €. Siehe zur Kritik Brüss, Mehr Geld für Stiftung Warentest, VW 2012, 382; http://www.handelsblatt.com/finanzen/steuern-recht/recht/finanzaufsichtverbraucherschuetzer-attackieren-finanz-tuev/6298548.html (Abrufdatum: 26.11.2015). De lege ferenda Bachmann, Referat zum 68. DJT, 2010, Thesen IV. 1. a); Spindler, AG 2010, 601, 612. Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU, ABl. (EU) Nr. L 173/349 ff. St. Rspr., siehe nur BGH, Urt. v. 22.3.1979 – VII ZR 259/77, BGHZ 74, 103 Rz. 21 = NJW 1979, 1449; BGH, Urt. v. 17.10.1989 – XI ZR 39/89, ZIP 1989, 1532 = WM 1989, 1836 Rz. 21; BGH, Urt. v. 13.5.1993 – III ZR 25/92, NJW-RR 1993, 1114 = WM 1993, 1238; BGH, Urt. v. 15.6.2000 – III ZR 305/98, ZIP 2000, 1392 = WM 2000, 1548 Rz. 6; BGH, Urt. v. 11.9.2003 – III ZR 381/02, WM 2003, 2064 Rz. 11 = ZIP 2003, 1928; BGH, Urt. v. 19.10.2006 – III ZR 122/05, WM 2006, 2301 Rz. 9 = ZIP 2006, 2221. Siol in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 43 Rz. 11; Schnauder, Auskunfts- und Beratungsvertrag beim Vertrieb von Kapitalanlagen, JZ 2013, 120. Bamberger in: Derleder/Knops/Bamberger, Hdb. BankR, 2. Aufl. 2009, § 50 Rz. 34.

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einer allgemeinen vertraglichen Beziehung zwischen Kunden und Finanzdienstleister vollzieht, rechtlich wohl aber einen selbstständigen Vertrag darstellt. Der Pflichtenkatalog im vorvertraglichen Bereich deckt sich insoweit mit dem der selbständigen Beratungsverträge.11) Demgegenüber stellen deliktsrechtliche Pflichten eher die Ausnahme dar; insbesondere die Wohlverhaltenspflichten nach §§ 31 ff. WpHG werden von der Rechtsprechung – ebenso wie andere bank- bzw. kapitalmarktrechtliche Normen – selten als Schutzgesetze i. S. von § 823 Abs. 2 BGB angesehen. Hatte die Rechtsprechung zunächst noch eine generelle Anerkennung der §§ 31 ff. WpHG als Schutzgesetz offengelassen,12) sprach der Bundesgerichtshof aber zunächst § 32 WpHG a. F.13) und später auch § 34a WpHG den Charakter als Schutzgesetz ab, da insoweit kein Bedarf für eine deliktische Haftung bestehe bzw. diese systemwidrig sei.14) Denn die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs müsse sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen,15) wofür der Bundesgerichtshof angesichts der vertragsrechtlich begründeten Pflichten keinen Grund sieht,16) zumal bei deliktsrechtlicher Begründung auch eine Haftung des angestellten Beraters eingreifen könne, was der gesetzlich angeordneten, nur ausnahmeweise bestehenden Eigenhaftung des Vertreters (§§ 311 Abs. 3, 826 BGB) widerspräche.17) Dem ist gleichwohl

11) 12)

13)

14) 15) 16) 17)

BGH, Urt. v. 27.9.1988 – XI ZR 4/88, WM 1988, 1685 Rz. 8 = ZIP 1988, 1464; Edelmann in: Assmann/Schütze, Hdb. KapitalanlageR, 3. Aufl. 2007, § 4 Rz. 95. BGH, Urt. v. 8.5.2001 – XI ZR 192/00, BGHZ 147, 343, 353 Rz. 31 = NJW 2002, 62; BGH, Urt. v. 28.6.1005 – XI ZR 363/04, BGHZ 163, 311, 321 Rz. 34 = NJW 2005, 2917; BGH, Urt. v. 11.11.2003 – XI ZR 21/03, WM 2004, 24, 26 Rz. 17; BGH, Urt. v. 24.7.2001 – XI ZR 329/00, WM 2001, 1718, 1719 Rz. 14 = NJW-RR 2002, 405; BGH, Urt. v. 11.11.2003 – XI ZR 21/03, BKR 2004, 124, 125 Rz. 17 = ZIP 2004, 111. BGH, Urt. v. 19.2.2008 – XI ZR 170/07, BGHZ 175, 276 Rz. 20 ff. = NJW 2008, 1734; i. Erg. zustimmend Assmann, Das Verhältnis von Aufsichtsrecht und Zivilrecht im Kapitalmarktrecht, in: FS für Schneider, 2011, S. 37, 51; Habersack, Anlegerschutz im Wertpapiergeschäft – Grundsatz- und Praxisfragen, Bankrechtstag 2010, S. 3, 10 ff.; kritisch hierzu Rothenhöfer in: Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, Vor § 31 WpHG Rz. 21; die Schutzgesetzeigenschaft für § 33 WpHG verneinend bereits BGH, Urt. v. 8.5.2001 – XI ZR 192/00, NJW 2002, 62, 64 Rz. 30 = ZIP 2001, 1580. BGH, Urt. v. 22.6.2010 – VI ZR 212/09, BGHZ 186, 58 Rz. 24 ff. = NJW 2010, 3651. BGH, Urt. v. 8.6.1976 – VI ZR 50/75, BGHZ 66, 388, 390 Rz. 18 = NJW 1976, 1740. Schäfer, Sind die §§ 31 ff. WpHG n. F. Schutzgesetze i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB?, WM 2007, 1872, 1875. BGH, Urt. v. 19.2.2008 – XI ZR 170/07, BGHZ 175, 276 Rz. 21 = NJW 2005, 2917.

Produkthaftung für Finanzmarktprodukte?

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nach wie vor nicht zuzustimmen,18) da der Gesetzgeber durchaus auch den Anlegerschutz im Blick hat und zudem eine Eigenhaftung des Angestellten, etwa im Bereich von § 823 Abs. 1 BGB, keineswegs unüblich ist. Richtet man den Blick auf die „Herstellung“ der Finanzmarktprodukte, also auf Emittenten und die die Emission begleitenden Personen, etwa Wirtschaftsprüfer etc., ändert sich das Bild: Haftungsgrundlagen wie vor allem die Prospekthaftung lassen sich nur schwer mit quasi-vertraglichen Denkmustern begründen, besteht doch kein unmittelbarer persönlicher Kontakt. Vielmehr gründen sich die Haftungskonstruktionen der heutigen Prospekthaftungsnormen (und vormals der §§ 44 ff. BörsG a. F.) im Wertpapierprospektgesetz und anderen Gesetzen, etwa dem Kapitalanlagegesetzbuch, auf ein letztlich gegenüber „jedermann“ bzw. allen Marktteilnehmern geschaffenes „Vertrauen.“ Gleiches gilt für die Verantwortlichkeit des Finanzprodukt-„Herstellers“ nach Art. 11 der europäischen PRIIP-Verordnung, die für unrichtige oder ungenaue Produktinformationsblätter, anders als ihr deutsches Pendant in § 31 Abs. 3a WpHG, eine unmittelbare Haftung vorsieht.19) All diesen Informationspflichten für Finanzprodukte ist gemein, dass sie sich – insofern anders als die geschätzte Meinung des Jubilars – leichter in deliktische Pflichten übersetzen

18)

19)

Siehe dazu Spindler in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Kap. 33 Rz. 66 m. w. N; Ekkenga in: MünchKomm-HGB, Bd. 6, 3. Aufl. 2014, Effektgeschäft Rz. 283; Koller in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, Vor § 31 Rz. 7; Assmann/Sethe, Warn- und Hinweispflichten von Kreditinstituten gegenüber Kunden am Beispiel kundenschädigender Wertpapier- und Depotgeschäfte bankexterner Vermögensverwalter, in: FS für Westermann, 2008, S. 67, 75; Veil, Vermögensverwaltung und Anlageberatung im neuen Wertpapierhandelsrecht – eine behutsame Reform der Wohlverhaltensregeln?, ZBB 2008, 34, 42; Einsele, Anlegerschutz durch Information und Beratung – Verhaltens- und Schadensersatzpflichten der Wertpapierdienstleistungsunternehmen nach Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie (MiFID), JZ 2008, 477, 482. Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.11.2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP), ABl. (EU) Nr. L 352/1; hierzu i. E. Spindler in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Kap. 33 Rz. 112b ff.

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Gerald Spindler

anstatt in vertragsrechtliche Konstruktionen einbetten lassen.20) Hierauf und auf die konkreten Pflichten wird zurückzukommen sein. Stellt man dem die Entwicklung der Produzentenhaftung gegenüber, treten die deliktsrechtlichen Pflichten, entwickelt aus § 823 Abs. 1 BGB, später auch im Produkthaftungsgesetz bzw. der entsprechenden EU-Richtlinie21) hervor. Dennoch ist die deliktsrechtliche Verankerung keineswegs selbstverständlich: So hatte es in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht an Versuchen gemangelt, die Produkthaftung auch vertragsrechtlich in den Griff zu bekommen,22) doch waren sie alle mit den typischen Problemen des Vertragsrechts konfrontiert, dass außerhalb der Vertragsbeziehung stehende Dritte in der Regel nicht geschützt sind, Haftungsausschlussklauseln greifen können und mit Fiktionen des allgemeinen Vertrauens gearbeitet werden muss.23) Daher hat sich der deliktsrechtliche Ansatz auf breiter Front durchgesetzt, da es sich letztlich um Pflichten gegenüber jedermann handelt, die vom Produzenten nicht vorhergesehen werden können. Grundlage der deliktsrechtlichen Produkthaftung ist daher die Vorstellung, dass mit der Inverkehrgabe eines Produktes eine Gefahrenquelle eröffnet wird, zu deren vorheriger und begleitender Sicherung der Hersteller als Nutznießer der aus der Gefahrenquelle resultierenden Vorteile verpflichtet ist. Die Produkthaftung stellt damit einen wichtigen Un20)

21)

22)

23)

Die genaue Rechtsnatur der Prospekthaftung ist allerdings nach wie vor umstritten. Für eine deliktsrechtliche Einordnung Assmann, Prospekthaftung, 1985, 241 ff., 377 (Fn. 1); Assmann in: Assmann/Schütze, Hdb. KapitalanlageR, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 25 ff.; Pankoke in: Just/Voß/Ritz/Zeising, WpPG, 2009, Vor § 44 BörsG, Rz. 16.; Lenenbach, KapMarktR, 2. Aufl. 2010, Rz. 11.428; für die Einordnung als gesetzliche Vertrauenshaftung Canaris, BankvertragsR, 3. Aufl. 1988, Rz. 2277; Hamann in: Schäfer/ Hamann, KapMG, Stand: 2013, §§ 44,45 BörsG Rz. 33–36; wohl auch BGH, Urt. v. 12.7.1982 – II ZR 175/81, WM 1982, 862, 865 = ZIP 82, 923; für die Qualifikation als rechtsgeschäftliche Haftung Köndgen, Zur Theorie der Prospekthaftung (I), AG 1983, 85, 90 ff.; für Haftungsregime eigener Art siehe Wackerbarth in: Holzborn, WpPG, 2. Aufl. 2014, §§ 21–23, Rz. 12 ff. Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. (EG) Nr. L 210/29. Esser, Schuldrecht, 2. Aufl. 1960, § 50, 5b, § 204, 5c; Gernhuber, Haftung des Warenherstellers nach deutschem Recht, KF 1963, 1, 3 ff.; Lorenz, Warenabsatz und Vertrauensschutz, KF 1963, 8, 14 ff.; Müller, Zur Haftung des Warenherstellers gegenüber dem Endverbraucher, AcP 165 (1965), 285, 304 ff.; Diederichsen, Haftung des Warenherstellers, 1967, S. 49 ff., 297 ff., 330 ff.; Canaris, Die Produzentenhaftpflicht in dogmatischer und rechtspolitischer Sicht, JZ 1968, 494, 501 ff. Ausführlich BGH, Urt. v. 26.11.1968 – VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91, 92 ff. = NJW 69, 269; näher dazu Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 18 Rz. 5 ff. m. w. N.

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terfall der Haftung für die Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflichten dar.24) Dennoch ist auch der Einfluss von vertraglichen Elementen mittelbar zumindest nicht zu leugnen: So soll etwa der Preis eines Produktes ein gewichtiges Indiz für die Konkretisierung der berechtigten Sicherheitserwartungen des Verkehrs spielen, einschließlich dessen allgemeiner Anpreisung in der Werbung25) – je preiswerter, desto geringere Sicherheitserwartungen (bis hin zu einer Art Basis-Sicherheit26)).27) Hier kann aber von einer völlig unabhängig von Verträgen losgelösten Pflichtenbestimmung nicht mehr gesprochen werden, da gerade der Preis klar auf das Gefüge von Leistung und Gegenleistung verweist. Die berechtigten Sicherheitserwartungen des Verkehrs infolge eines geringen Preises oder eines Warnhinweises können jedoch nicht gegenüber einem geschädigten Dritten wirken, der in keinerlei Beziehung zum Hersteller stand, sog. „innocent bystander“,28) etwa einem geschädigten Kind, das ein von den Eltern erworbenes Produkt benutzt. Aber auch im Produkthaftungsrecht macht sich der Einfluss des öffentlichen Rechts in zunehmendem Maße bemerkbar: Zahlreiche Gesetze werden hier – anders als im Kapitalmarktrecht – als Schutzgesetze qualifiziert, etwa die Produktbeobachtungspflichten in der Pharmaforschung, sog. „Pharmakovigilanzpflichten“,29) aber auch zahlreiche Gesetze im Kernbereich des Produktsicherheitsrechts. Hierzu zählen allgemeine Produktsicherheitsanforderungen (wie insbesondere in § 3 ProdSG) ebenso wie Schutzgesetze für spezielle Produktgruppen, etwa in den Bereichen des 24)

25)

26)

27)

28) 29)

Siehe schon RG, Urt. v. 17.1.1940 – II 82/39, RGZ 163, 21, 26; BGH, Urt. v. 26.11.1968 – VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91, 105 = NJW 69, 269; BGH, Urt. v. 7.6.1988 – VI ZR 91/87, BGHZ 104, 323, 330 = NJW 1988, 2611; Krause in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2005, § 3 ProdHaftG Rz. 3; Hager in: Staudinger, BGB, 2009, § 823 Rz. F 2; Schaub in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 10. Aufl. 2015 § 823 Rz. 171 f. Ausführlich Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 11, 48; Anders, Die berechtigte Sicherheitserwartung – Zum Produkthaftungsrechtlichen fehlerbegriff am Beispiel von Fahrerassistenzsystemen in Kraftfahrzeugen PHi 2009, 230, 236. BGH, Urt. v. 21.11.1990 – VI ZR 459/88, WM 1990, 564 = NJW 1990, 908, 909; Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 11; zur Erwartungshaltung an die „Basissicherheit“ bei Softwareprodukten Oechsler in: Staudinger, BGB, 2014, § 2 ProdHaftG Rz. 70. BGH, Urt. v. 17.10.1989 – VI ZR 258/88, NJW 1990, 906, 907 = ZIP 1990, 516; BGH, Urt. v. 21.11.1990 – VI ZR 459/88, NJW 1990, 908, 909; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 649; Kötz/Wagner, DeliktsR, 12. Aufl. 2013, Rz. 620; Hager in: Staudinger, BGB, 2009, § 823 Rz. F 8. Krause in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2005, § 3 ProdHaftG Rz. 1. Ausführlich Wagner, Produktvigilanz und Haftung, VersR 2014, 905.

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Lebens- und Futtermittelrechts (§§ 5, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 10 Abs. 1, 17 Abs. 1 LFGB) oder des Arzneimittel- und Medizinprodukterechts (§§ 28 Abs. 3a, 29 AMG, § 4 MPG).30) Auch wenn daher auf den ersten Blick beide Gebiete grundverschieden sind, insbesondere hinsichtlich ihrer Ausgangspunkte, offenbaren sich bei näherer Betrachtung doch gewisse Gemeinsamkeiten – die gerade durch die MiFID II noch akzentuiert wurden. Im Folgenden werden einzelne Stufen und Pflichtenlagen näher beleuchtet: III. Pflichten bei Entwicklung und Konstruktion von Finanzmarktprodukten Betrachtet man den Ausgangspunkt für Finanzmarktprodukte, deren „Herstellung“ i. S. der Entwicklung neuer Finanzanlagearten, etwa bei Derivaten, fällt auf, dass bis zur Verabschiedung der MiFID II abgesehen von der erwähnten Prospekthaftung kaum Pflichten der „Hersteller“ der Finanzmarktprodukte entwickelt wurden. In der Produkthaftung wird zwar der Hersteller für Schäden, die durch nach dem Stand der Technik nicht erkennbare Fehler entstehen, nicht zur Verantwortung gezogen (außer etwa im Arzneimittelrecht und bei der Haftung nach §§ 32 ff. GenTG);31) doch treffen ihn Produktbeobachtungspflichten auf Grund späterer Erkenntnisse.32) Entscheidend ist, dass niemand nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt der Inverkehrgabe in der Lage war, den Fehler zu entdecken. Ob ein Fehler erkennbar war, hängt von dem objektiv

30)

31)

32)

Im Einzelnen Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 693 ff.; Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 32 Rz. 11 ff.; Spindler in: Bamberger/Roth, BGB, Bd. 2, 3. Aufl. 2012, § 823 Rz. 522 f.; Klindt in: Klindt, ProdSG, 2. Aufl. 2015, Rz. 55. Ständige Rspr, BGH, Urt. v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79, BGHZ 80, 186, 190 f. = NJW 1981, 1603; zuletzt BGH, Urt. v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rz. 27 ff. m. w. N. = NJW 2009, 2952; BGH, Urt. v. 9.1.1990 – VI ZR 103/89, NJW-RR 1990, 406 f. = ZIP 1990, 514; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 6.2.2009 – 2 U 128/07, OLGR 2009, 478; Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 104 ff.; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 652; Hager in: Staudinger, BGB, 2009, § 823 Rz. F 19; Kullmann in: Kullmann/Pfister/ Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Stand: 2015, Kz. 1520 S. 14; Taschner/Frietsch, 2. Aufl. 1990, Einf. Rz. 61 f. alle m. w. N. Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 104, 372 ff.; Kullmann in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Stand: 2015, Kz. 1520 S. 51 f.; v. Bar, Produktverantwortung und Risikoakzeptanz, 1998, S. 29, 33.

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zugänglichen Gefahrenwissen ab, die individuellen Erkenntnismöglichkeiten des einzelnen Herstellers sind unmaßgeblich.33) Im Konstruktionsbereich ist der Hersteller verpflichtet, ein Produkt so zu konstruieren, dass es der durchschnittliche Verwender i. R. des Verwendungszwecks gefahrlos gebrauchen kann,34) wobei auch Gefahren eines unsachgemäßen Gebrauchs einzubeziehen sind.35) Ein Konstruktionsfehler liegt demnach vor, wenn das Produkt schon seiner Konzeption nach unter dem gebotenen Sicherheitsstandard bleibt.36) Der Sicherheitsmaßstab richtet sich nach der durchschnittlichen Erwartung, der Produktzielgruppe, nach Zumutbarkeitskriterien sowie nach dem jeweiligen Erkenntnisstand von Wissenschaft und Technik.37) Der Hersteller darf aber bei der Konstruktion berücksichtigen, dass das Produkt nach Art und Verwendungszweck nur von einem beschränkten Personenkreis benutzt wird, der geschult ist und dem die besonderen Gefahren geläufig sind.38) In diesem Rahmen muss der Hersteller auch Verbrauchererwartungen ermitteln;39) hierzu gehört der Einsatz aller verfügbaren Mittel, insbesondere der Auswertung

33)

34)

35)

36) 37) 38) 39)

BGH, Urt. v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rz. 28 = NJW 2009, 2952; Kullmann in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Stand: 2015, Kz. 1520 S. 14 f.; für die Produkthaftungs-RL EuGH, Urt. v. 29.5.1997 – Rs. C-300/95 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Slg. 1997, I-2649, 2670 = ZfRV 1997, 114. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.3.1997 – 10 U 25/96, NJW-RR 1999, 25, 26; Kullmann, Produkthaftung für Verkehrsmittel – Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, NZV 2002, 1, 4. BGH, Urt. v. 7.6.1988 – VI ZR 91/87, BGHZ 104, 323, 328 = NJW 1988, 2611; BGH, Urt. v. 25.10.1988 – VI ZR 344/87, BGHZ 105, 346, 351 = NJW 1989, 707; OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.11.1996 – 22 U 72/96, NJW 1997, 2333, 2333 = VersR 1998, 61; OLG Celle, Urt. v. 28.11.1977 – 9 U 83/77, VersR 1978, 258, 258 f.; LG Köln, Urt. v. 23.2.2005 – 10 S 273/04, NZV 2005, 425 = NJW 2005, 1199; ausführlich Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 71 ff., 88 ff. m. w. N unter Betonung eines naheliegenden Fehlgebrauchs; Kullmann in: Kullmann/ Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Stand 2015, Kz. 1520 S. 11 f.; Kullmann, NZV 2002, 1, 4; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 650, 628 m. w. N der älteren Rspr. BGH, Urt. v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rz. 15 = NJW 2009, 2952. LG Stuttgart, Urt. v. 10.4.2012 – 26 O 466/10, NJW-RR 2012, 1169, das dies allerdings „normativ konkretisieren“ will. OLG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2001 – 7 U 117/99, VersR 2003, 1584, 1585, Revision nicht angenommen, BGH, Beschl. v. 16.7.2002 – VI ZR 386/01. Kullmann, Die Rechtsprechung des BGH zum „Produkthaftpflichtrecht in den Jahren 2000 und 2001“, NJW 2002, 30, 32.

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von Fachzeitschriften, Fachkongressen, Patentoffenlegungsschriften etc.40) Aber auch die Beobachtung des von Wettbewerbern verbesserten Sicherheitsstandards zählt hierzu41) und muss an die Entwicklungsabteilungen weitergeleitet werden.42) Vergleichbare Pflichten suchte man bei Finanzprodukten bislang vergebens – was angesichts der Konzentration auf die Vertriebsphase und auf die Emissionsprospekte nicht verwundert. Dennoch lassen sich auch hier Parallelen ziehen: Wenn Finanzprodukte immer komplexer werden, liegt es nahe, dass derjenige, der die Produkte konzipiert, verpflichtet ist, das „Verhalten“ der Produkte im Markt und mögliche systemische/synergetische Risiken im Vorhinein zu testen und dann auch i. R. des Prospektes mitzuteilen. Schon jetzt ist der Emittent verpflichtet, auf entsprechende Risiken eines Anlageproduktes hinzuweisen, § 7 WpPG i. V. m. Art. 2 Nr. 3, Anh. I Nr. 4 EU-ProspV. Dass derartige Pflichten erforderlich sind bzw. abgeleitet werden können, hat etwa die CMS-Spread-Ladder-Swap-Entscheidung des Bundesgerichtshofs43) gezeigt, die ein selbst für den unternehmerischen Kunden kaum verständliches Produkt betraf. Die MiFID II nimmt diese Ansatzpunkte auf, indem es nunmehr zu den Organisationspflichten der Wertpapierdienstleistungsunternehmen gehört, Verfahren zur „Produktgenehmigung“ zu implementieren, Art. 16 Abs. 3 Satz 2 ff. Demnach muss „in dem Produktgenehmigungsverfahren […] ein bestimmter Zielmarkt für Endkunden innerhalb der jeweiligen Kundengattung für jedes Finanzinstrument festgelegt und sichergestellt (werden), dass alle einschlägigen Risiken für diesen bestimmten Zielmarkt bewertet werden und dass die beabsichtigte Vertriebsstrategie dem bestimmten Zielmarkt entspricht.“

40)

41)

42) 43)

Für Produktbeobachtungspflichten BGH, Urt. v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60, 70 f. = ZIP 1992, 38; BGH, Urt. v. 17.3.1981 – VI ZR 286/78, BGHZ 80, 199, 203 = NJW 1981, 1606; BGH, Urt. v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79, BGHZ 80, 186, 191 = NJW 1981, 1603; Kullmann in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Stand: 2015, Kz. 1520 S. 14 ff.; Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 33. BGH, Urt. v. 17.10.1989 – VI ZR 258/88 = NJW 1990, 906, 908; v. Westphalen, Das Milupa-Urteil – eine beträchtliche Verschärfung der Produkthaftung, ZIP 1992, 18, 22 f.; Kullmann in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Stand 2015, Kz. 1520 S. 17 f.; zust. Dietrich, Produktbeobachtungspflicht, 1994, S. 111 ff. Kullmann in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Stand: 2015, Kz. 1520 S. 15 f., 56 f.; Dietrich, Produktbeobachtungspflicht, 1994, S. 76 ff. BGH, Urt. v. 22.3.2011 – XI ZR 33/10, ZIP 2011, 756 = NJW 2011, 1949, dazu Spindler, Aufklärungspflichten im Bankrecht nach dem „Zins-Swap-Urteil“ des BGH, NJW 2011, 1920.

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Ferner verlangt Art. 16 Abs. 3 Satz 4, dass die Finanzinstrumente regelmäßig überprüft werden und alle Ereignisse berücksichtigen, die wesentlichen Einfluss auf das potentielle Risiko für den Zielmarkt haben können. Schließlich verpflichtet Art. 16 Abs. 3 Satz 5 das Wertpapierdienstleistungsunternehmen zur Beurteilung, ob das Finanzinstrument noch den Bedürfnissen des Zielmarktes entspricht und die Vertriebsstrategie geeignet ist. Alle diese Informationen, insbesondere auch das Produktgenehmigungsverfahren und der Zielmarkt, müssen den Vertreibern zur Verfügung gestellt werden; umgekehrt müssen diese sich über die Produkte informieren, und wie sich Art. 16 Abs. 3 Satz 6 ausdrückt, diese „verstehen“. Die Parallelen zur Produkthaftung liegen hier auf der Hand: Die Endabnehmer (Zielmärkte) müssen analysiert werden, die Risiken eingeschätzt und auch laufend überwacht werden, Informationen hierüber weitergegeben werden. Diese Pflichten kann man derart weiter präzisieren, dass die Finanzprodukte so entwickelt werden müssen, dass der Abnehmerkreis, auf den sie abzielen, bei durchschnittlichen Kenntnissen mit ihnen umgehen kann, ohne dass eine ständige Beratung erforderlich wäre; auch dies gehört quasi zu den „Sicherheitserwartungen“ der betroffenen Abnehmer. So kann der Hersteller eines solchen Finanzproduktes verpflichtet sein, unter Verwendung von Erkenntnissen, etwa der Behavioural Economics,44) das durchschnittliche Verständnis von potenziellen Abnehmern zu testen, einschließlich des Umgangs mit dem Finanzprodukt über mehrere Zeitabschnitte hinweg, was gerade bei Finanzprodukten, die längere Zeit in einem Portfolio gehalten werden, bedeutsam sein kann. Hierzu gehören ferner Pflichten zur Auswertung verfügbarer Finanzmethoden, um das Verhalten des Finanzproduktes unter verschiedenen Marktszenarien vorab zu testen, ebenso die Auswertung von Fehlern in der Vergangenheit bei vergleichbaren Produkten oder bekannten Risiken von Produkten der Konkurrenz, die Ähnlichkeiten mit dem eigenen Finanzprodukt aufweisen. Selbst eine weitere Verschärfung, wie sie aus der Produktsicherheit als öffentlich-rechtliches Pendant der Produkthaftung bekannt ist, wäre denk-

44)

Siehe dazu Spindler, Anlegerschutz im Kapitalmarkt- und Bankrecht – Neujustierung durch Behavioural Finance?, in: FS für Säcker, 2011, S. 403; Spindler, Journal of Consumer Policy 34 (2011), 315; grundlegend im deutschen Sprachraum Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioural Finance, 2005; für die USA Sunstein, Behavioural Law and Economics, Cambridge (UK), 2000.

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bar, bspw. in Gestalt eines „TÜVs“ für Finanzprodukte, welche dann zu prüfen und zu zertifizieren wären, bevor sie in den Verkehr begeben werden dürfen.45) Zwar existiert bereits eine Vorabprüfung von Prospekten durch die BaFin nach § 13 Abs. 1 WpPG; doch bezieht diese sich auf eine rein formale Kontrolle und hat mit den inhaltlichen Risiken des Finanzproduktes wenig zu tun. Wären solche weiter konkretisierten Pflichten hilfreich hinsichtlich der zivilrechtlichen Haftung bzw. des Anlegerschutzes? Angesichts der weitreichenden Prospekthaftung, die die „Hersteller“ der Finanzprodukte trifft, ist man geneigt, die Frage zu verneinen, müssen doch jetzt schon die wesentlichen Risiken verständlich für den durchschnittlichen Anleger dargestellt werden. Andererseits kann mit Hilfe verfeinerter Pflichten im Vorfeld der Erstellung des Prospektes, insbesondere des Testens eines Finanzproduktes sowie seiner kontinuierlichen Beobachtung (bei nicht nur einmaligen Emissionen) das Konzept der unvollständigen oder fehlerhaften Informationen in einem Prospekt ergänzt, zumindest aber verfeinert werden. Hinsichtlich der von Art. 16 Abs. 3 MiFID II geforderten Vorkehrungen bei der Entwicklung und „Herstellung“ der Finanzprodukte stellt sich zivilrechtlich allerdings erneut das Problem, dass diese Pflichten explizit als organisatorische Pflichten bezeichnet wurden – für solche die Rechtsprechung aber bislang explizit einen Schutzgesetzcharakter ablehnte.46) Dies ist indes gerade im Hinblick auf die Pflichten des „Herstellers“ der Finanzprodukte in Frage zu stellen, da der „Zielmarkt“ eben gerade die Endabnehmer bzw. Kunden betrifft, was auch von Art. 16 Abs. 3 Satz 2 ff. MiFID II durchaus aufgenommen wird, ebenso in Art. 9 Abs. 3 lit. b MiFID II, der explizit auf die Bedürfnisse der Kunden abstellt. Auch kann nicht darauf verwiesen werden, dass die Haftung aus Beratungspflichten genüge – denn zum einen geht es hier um einen anderen Verpflichteten, nämlich den Hersteller, zum anderen hält Erwägungsgrund 71 MiFID II eindeutig fest, dass die Pflicht zu Produktgenehmigungsverfahren keinen Einfluss auf die Beratungspflichten hat und umgekehrt.

45) 46)

Siehe oben bei Fn. 29. Siehe für die Organisationspflichten des § 33 WpHG ablehnend BGH, Urt. v. 8.5.2001 – XI ZR 192/00, NJW 2002, 62, 64 Rz. 30 = ZIP 2001, 1580.

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IV. Produktionsfehler Demgegenüber spielt der klassische Fabrikations- bzw. Produktionsfehler bei Finanzprodukten (ebenso wie bei digitalen Produkten) keine Rolle; denn dieser ist durch eine mangelhafte Fertigung bzw. einzelne fehlerhafte Stücke gekennzeichnet,47) was bei Finanzprodukten per se nicht zutrifft, da sie alle identisch sind. V. Produktbeobachtungspflichten Wie bereits angedeutet, ist der Hersteller ab der Inverkehrgabe zu einer aktiven Produktbeobachtung im Hinblick auf zuvor unbekannte Gefahren verpflichtet48) und darf sich nicht auf eine zufällige, rein passive Kenntniserlangung von Gefahren des Produktes verlassen.49) Gleiches gilt für die eigenständige Auswertung einschlägiger Fachliteratur und die Verfolgung von Beschwerden von Abnehmern bzw. Verbrauchern.50) Die Produktbeobachtungspflicht erstreckt sich nach der Rechtsprechung auch auf Gefahren, die durch die Kombination des eigenen mit fremden Produkten, insbesondere mit auf dem Markt angebotenen Zubehörteilen, entstehen können.51) 47) 48)

49)

50) 51)

BGH, Urt. v. 21.4.1956 – VI ZR 36/55, VersR 1956, 410, 411 = WM 1956, 952; Michalski, Produktbeobachtung und Rückrufpflicht des Produzenten, BB 1998, 961, 962. BGH, Urt. v. 17.3.1981 – VI ZR 286/78, BGHZ 80, 199, 202 f. = NJW 1981, 1606; BGH, Urt. v. 9.12.1986 – VI ZR 65/86, BGHZ 99, 167, 171 ff. = NJW 1987, 1009; BGH, Urt. v. 16.12.2008 – VI ZR 170/07, BGHZ 179, 157 Rz. 10 = NJW 2009, 1080; BGH, Urt. v. 27.9.1994 – VI ZR 150/93, NJW 1994, 3349, 3350 = WM 1994, 2288; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 671 ff.; Schaub in: Prütting/ Wegen/Weinreich, BGB, 10. Aufl. 2015, § 823 Rz. 184; Kullmann, NZV 2002, 1, 6; Michalski, BB 1998, 961, 963; Pfeifer, Produktfehler oder Fehlverhalten des Produzenten, 1987, S. 93. Etwa durch Reklamationen von Kunden; zur passiven Produktbeobachtung BGH, Urt. v. 7.12.1993 – VI ZR 74/93 = NJW 1994, 517, 519 = VersR 1994, 319; BGH, Urt. v. 6.12.1994 – VI ZR 229/93, NJW-RR 1995, 342, 343 = VersR 1995, 348; Foerste, Neues zur Produkthaftung – Passive Beobachtungspflicht und Äquivalenzinteresse, NJW 1994, 909; Michalski, BB 1998, 961, 963. Tiedemann, Körperverletzung und strafrechtliche Produktverantwortung, in: FS für Hirsch, 1999, S. 765, 770 f. BGH, Urt. v. 9.12.1986 – VI ZR 65/86, BGHZ 99, 167, 172 ff. = NJW 1987, 1009; BGH, Urt. v. 31.1.1995 – VI ZR 27/94 = NJW 1995, 1286, 1287 f.; ausführlich. dazu Ulmer, Produktbeobachtungs-, Prüfungs- und Warnpflichten eines Warenherstellers in Bezug auf Fremdprodukte, ZHR 152 (1988), 564, 575 ff., der sich allerdings dogmatisch auf die Herausforderungsfälle im Schadensrecht stützt; dem BGH zust. Kunz, Die Produktbeobachtungs- und die Befundsicherungspflicht als Verkehrspflichten des Warenherstellers, BB 1994, 450, 451; Dietrich, Produktbeobachtungspflicht, 1994, S. 76 ff.; ausführlich Klinger, Die Produktbeobachtungspflicht bzgl. Zubehörteilen, 1998, S. 56 ff.

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Auch bei Finanzprodukten sind derartige Beobachtungspflichten ohne weiteres denkbar: Zeigt sich etwa in der Praxis, dass das Produkt unter bestimmten Marktbedingungen erhebliche Verschlechterungen für den Anleger aufweist, über die zuvor nicht informiert wurde, muss der „Hersteller“ den Vertrieb bzw. die Anlageberater ebenso wie die Öffentlichkeit warnen. Gleiches gilt, wenn die Annahmen bei der Inverkehrgabe über die Verständlichkeit des Produktes nicht zutreffen; hier muss der Emittent für Korrekturen sorgen, insbesondere i. R. des Vertriebs Anlageberater dazu anhalten, für entsprechende Informationen bzw. Kontrollen zu sorgen. In Ansätzen findet sich diese Beobachtungspflicht bereits in Art. 10 (1) der PRIIP-Verordnung, die den Hersteller von Finanzprodukten zu laufender, umgehender Aktualisierung seiner Produktinformationsblätter verpflichtet, welche gemäß Art. 8 Nr. 8 der Verordnung insbesondere die aus dem Produkt erwachsenden Risiken umfassen müssen.52) Gleiches gilt für Art. 16 Abs. 3 MiFID II, der ebenfalls eine Beobachtungspflicht statuiert. Im äußersten Fall kann den Hersteller des Finanzprodukts – parallel zur produkthaftungsrechtlichen Warnpflicht, ein Produkt nicht mehr einzusetzen53) – auch hier die Pflicht treffen, den weiteren Vertrieb des Produkts zu unterbinden oder dieses nur einem bestimmten Kundenkreis noch zu offerieren. Sind etwa Kunden nicht in der Lage, den (negativen) Marktwert eines Produktes aufgrund der komplexen Ausgestaltung zu erkennen, trifft nicht nur den Anlageberater (vertreibende Bank) die Pflicht, den Kunden aufzuklären, sondern auch den „Hersteller“ des Produktes, den Abnehmerkreis auf solche Personen einzuschränken, die in der Lage sind, es zu verstehen und entsprechend einzusetzen. Allerdings entfällt im Bereich der Produkthaftung dann eine Pflicht des Herstellers zur Warnung, wenn dieser oder die Vertriebsgesellschaft berechtigterweise davon ausgehen kann, dass der Produktverwender (z. B. ein Arzt) den Produktbenutzer (Patient) über die Risiken und Nebenwirkungen des Produktes (Silikon-Brustimplantat) ausreichend aufklärt, sofern der Hersteller bzw. die Vertriebsgesellschaft selbst deutlich auf die Gefahren in einer Packungsbeilage hingewiesen hat.54)

52) 53)

54)

Zu den Einzelheiten der neuen PRIIP-VO Spindler in: Langenbucher/Bliesener/ Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Kap. 33 Rz. 112c m. w. N. BGH, Urt. v. 16.12.2008 – VI ZR 170/07, BGHZ 179, 157 Rz. 10 = NJW 2009, 1080; BGH, Urt. v. 7.12.1993 – VI ZR 74/93, NJW 1994, 517 = VersR 1994, 319; Einzelheiten bei Spindler in: Bamberger/Roth, BGB, Bd. 2, 3. Aufl. 2012, § 823 Rz. 514 m. w. N. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 29.9.1999 – 23 U 128/98, NJW-RR 2000, 1268, 1270 f.

Produkthaftung für Finanzmarktprodukte?

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Im Prinzip lässt sich auch dies auf die Vertriebskette von Finanzprodukten übertragen: Sind professionelle Anlageberater beim Vertrieb des Produktes tätig und klären den Anleger individuell auf, könnte sich der Hersteller des Produktes auf die nötige Information des Anlageberaters beschränken. Allerdings zeigte gerade hier die Praxis, dass offenbar oftmals die Anlageberater selbst aufgrund der Komplexität eines Finanzproduktes dessen Mechanismus nicht verstanden haben und so kaum in der Lage waren, die erforderliche Beratung zu erbringen. In diesen Fällen kann sich der „Hersteller“ – sofern er Kenntnis von solchen Fällen erhält – nicht darauf zurückziehen, dass er die Finanzprodukte an professionelle Wertpapierdienstleister weiterveräußert hat (oder diese die Produkte in Kommission verkaufen); vielmehr hat er seinerseits dann dafür Sorge zu tragen, dass die nötigen Informationen in klarer und verständlicher Weise zur Verfügung gestellt werden, die Abnehmer (auch bei den professionellen Anlageberatern) diese Informationen verstehen und diese auch weitergeben können. Art. 16 Abs. 3 Satz 5 MiFID II statuiert inzwischen eine solche Pflicht. Andernfalls ist er gehalten, den Vertrieb auf wenige, hochprofessionelle Kunden zu beschränken. Allerdings zeigt Erwägungsgrund 71 auch, dass das Kapitalmarktrecht hier sogar über das Produkthaftungsrecht hinausgeht: denn die Informations- und Instruktionspflichten sollen unbeschadet der Pflichten der Anlageberatung gelten – was über das Ziel der Zurverfügungstellung einer ausreichenden Informationsbasis hinausschießt. VI. Instruktionspflichten – Beratungspflichten Damit ist auch der Bereich der Instruktionspflichten, im Kapitalmarktrecht: der Beratungspflichten, angesprochen. Für die Instruktionspflichten in der Produkthaftung ist entscheidend, dass den Verwendern des Produkts vergleichbar der vorvertraglichen Aufklärungspflicht eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber ermöglicht wird, ob sie sich in Anbetracht der mit dem Produkt verbundenen Vorteile den mit seiner Verwendung verbundenen Gefahren aussetzen wollen, und sie den Gefahren entgegenwirken können.55) Inhalt und Umfang der Instruktionspflichten sind grundsätzlich an der am wenigsten informierten 55)

BGH, Urt. v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rz. 23 = DB 2009, 1152; BGH, Urt. v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60, 65 f. = ZIP 1992, 38; BGH, Urt. v. 11.7.1972 – VI ZR 194/70, BGHZ 59, 172 = NJW 1972, 2217, 2220; BGH, Urt. v. 19.2.1975 – VIII ZR 144/73, BGHZ 64, 46, 49 = BB 1975, 645.

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und dadurch am meisten bedrohten Benutzergruppe auszurichten.56) Je größer die vom Produkt und dessen Fehlgebrauch drohende Gefahr, desto intensiver und eindringlicher muss die Instruktion ausfallen.57) Unter Umständen müssen die drohenden Gefahren plastisch hervorgehoben und muss vor den Folgen gewarnt werden.58) Vor allem wenn das Produkt massenhaft hergestellt und konsumiert wird, hat sich der Hersteller hinsichtlich seiner Instruktion an einem den Beipackzettel nur flüchtig lesenden oder gedankenlosen Konsumenten zu orientieren.59) Die Pflicht zur Aufklärung über Gefahren entfällt indes, wenn die Gefahrenquelle für jedermann offensichtlich ist,60) oder es sich um allgemein bekannte Risiken handelt.61) Gegenüber gewerblichen Abnehmern, die fachkundig sind, treffen den Hersteller nur eingeschränkte Instruktionspflichten, da er davon ausgehen kann, dass diese über die typischen Gefahren und den richtigen Gebrauch des Produktes informiert sind.62) Vollständig entbunden wird der Hersteller 56)

57)

58) 59)

60)

61)

62)

BGH, Urt. v. 11.1.1994 – VI ZR 41/93, NJW 1994, 932 = VersR 1994, 439; auch OGH, Beschl. v. 3.12.2003 – 7 Ob 233/03w, JBl. 2003, 247, 248 = VersR 2006, 142; krit. zu der Ausweitung der Warn- und Hinweispflichten durch den BGH aber Feuerborn, Instruktionspflichten des Herstellers bei der deliktischen Produzentenhaftung und verkehrserforderliche Eigenhaftung des Produkt-Benutzers – Die notwendige Einschränkung der Pflichtenausweitung des BGH, in: FS für Kollhosser, Bd II, 2004, S. 125, 126 f. BGH, Urt. v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rz. 24 = VersR 2009, 1125; BGH, Urt. v. 24.1.1989 – VI ZR 112/88, BGHZ 106, 273, 283 = NJW 1989, 1542; BGH, Urt. v. 16.12.2008 – VI ZR 170/07, BGHZ 179, 157 = NJW 2009, 1080; BVerfG, Beschl. v. 16.10.1996 – 1 BvR 1179/95, NJW 1997, 249 = VersR 1998, 58; Möllers, Nationale Produzentenhaftung oder europäische Produkthaftung?, VersR 2000, 1177, 1181. BGH, Urt. v. 11.1.1994 – VI ZR 41/93, NJW 1994, 932, 933 = VersR 1994, 439. BGH, Urt. v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60, 68 = NJW 1992, 560; OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.6.1994 – 4 U 129/93, NJW-RR 1995, 25, 26 = WiB 1995, 33; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 668; Hager in: Staudinger, BGB, 2009, § 832 Rz. F 15. BGH, Urt. v. 14.3.1995 – VI ZR 34/94, NJW 1995, 2631, 2632 = VersR 1995, 672; siehe auch OLG Hamm, Urt. v. 19.1.2000 – 3 U 10/99, NJW-RR 2001, 1248, 1249 = RuS 2001, 243: kein Instruktionsfehler gegenüber osteoporosegeschädigtem Benutzer eines Sprungbootes wegen Offensichtlichkeit der Gefahr; zur Frage allgemeinen Erfahrungswissens siehe auch LG Göttingen, Urt. v. 25.8.2004 – 5 S 123/03, DAR 2005, 161; Kullmann, NZV 2002, 1, 5. OLG Hamm, Beschl. v. 14.2.2001 – 9 W 23/00, NJW 2001, 1654, 1655 = MDR 2001, 690; für Zigaretten OLG Hamm, Beschl. v. 14.7.2004 – 3 U 16/04, OLGR Hamm 2005, 3 = NJW 2005, 295; ausführlich zu den Tabakprozessen Molitoris, Tabakprozesse in den USA, Deutschland und anderen europäischen Ländern, NJW 2004, 3662; Merten, Zigaretten – ein fehlerhaftes Produkt, VersR 2005, 465; Fürer, Die zivilrechtliche Haftung für Raucherschäden, 2005. BGH, Urt. v. 14.5.1996 – VI ZR 158/95, NJW 1996, 2224, 2226 = VersR 1996, 979.

Produkthaftung für Finanzmarktprodukte?

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von seinen Instruktionspflichten aber auch bei grundsätzlich bestehender Fachkunde eines Abnehmers nicht.63) Die Parallelen, aber auch Unterschiede zu den Beratungspflichten im Kapitalmarktrecht sind augenfällig: Bekanntlich unterscheiden sowohl das Wertpapierhandelsgesetz als auch die Rechtsprechung zwischen professionellen und nicht-professionellen Anlegern (§ 31a Abs. 1 und 2 WpHG), wobei allerdings selbst für die professionellen Anleger inzwischen erhöhte Anforderungen für die Beratung gelten, wenn der Wissensstand unterschiedlich ist.64) Allerdings kennt das Kapitalmarktrecht keine Erleichterungen für den Prospektpflichtigen, wenn seine Finanzprodukte durch Anlageberater/Vermittler vertrieben werden. Eine Entlastung, wie sie das Deliktsrecht bei den Instruktionspflichten kennt, wird hier bislang nicht angenommen. Auch die MiFID II geht in Erwägungsgrund 71 explizit von der Unabhängigkeit der Pflichten von „Hersteller“ und Vertrieb aus. Zumindest für konzerneigene Finanzprodukte ist hier indes (de lege ferenda) nicht recht einzusehen, warum es zu der Kulminierung der entsprechenden Informationspflichten kommt. Wiederum bedingt durch die – bisherige – Konzentration auf die Vertriebsebene fällt das Pflichtenprogramm des Wertpapierhandelsgesetzes bzw. die zivilrechtliche Rechtsprechung jedoch wesentlich differenzierter aus; erst durch Art. 16 Abs. 3 Satz 4 MiFID II werden Instruktionspflichten des Herstellers gegenüber dem Vertrieb statuiert. Ein „know-yourcustomer-principle“, wie es § 31 Abs. 4 WpHG vorsieht,65) kennt das Deliktsrecht nicht; denn das Gewicht liegt auf Pflichten gegenüber jedermann. Selbst im Vertragsrecht wird dem Händler nicht zugemutet, sich mit jedem seiner Kunden auseinanderzusetzen bzw. dessen Informations-

63) 64)

65)

BGH, Urt. v. 14.5.1996 – VI ZR 158/95, NJW 1996, 2224, 2226 = VersR 1996, 979: bei besonderen Umweltbedingungen. In der CMS-Spread-Ladder-Swap-Entscheidung (BGH, Urt. v. 22.3.2011 – XI ZR 33/10, ZIP 2011, 756 = WM 2011, 682) hat der BGH gerade darauf abgestellt, dass die Aufklärung bei hochkomplexen Anlageprodukten gewährleisten muss, dass der Anleger im Wesentlichen den gleichen Kenntnis- und Wissensstand hat wie die beratende Bank. Kritisch zur Kundenklassifizierung Beck, Das Chamäleon Anlegerschutz oder „Worüber reden wir eigentlich?“, FS für Schneider, 2011, S. 89, 97 ff.; Clouth/Seyfried, Kundenkategorisierung: Ausgestaltung, Zielsetzung und Bedeutung für die Verhaltenspflichten, in: Ellenberger/Schäfer/Clouth/Lang, Praktiker-Hdb. Wertpapier- und Derivategeschäft, Rz. 124 f.; ausführlich zum neuen Kundenbild nach § 31a WpHG im Zuge der MiFID & FRUG Kasten, Das neue Kundenbild des § 31a WpHG – Umsetzungsprobleme nach MiFID & FRUG, BKR 2007, 261 ff.

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stand zu eruieren.66) Je kleiner indes der potenzielle Abnehmerkreis ist, desto intensiver fallen auch die Instruktionspflichten des Herstellers aus und desto eher nehmen auch diese Pflichten Züge des „know-yourcustomer-principles“ an, da der Hersteller sich um die zu erwartende Verwendung seines Produktes durch die Endabnehmer kümmern muss.67) Dem entspricht jetzt die Orientierung in Art. 16 Abs. 3 auf den „Zielmarkt“. Aber auch das Anlegerschutzrecht kennt eine Reduktion der vertraglichen Pflichten, wenn der Intermediär sich auf die Vermittlung der Anlagen ohne Beratung beschränkt, „execution-only“-Geschäfte (§ 31 Abs. 7 WpHG), wie sie jetzt durch Art. 25 Abs. 4 MiFID II nochmals verschärft wurden.68) VII. Prozessuale Fragen Schließlich ergeben sich auch im prozessualen Bereich einige Parallelen: So kehrt die Rechtsprechung bekanntlich im Produkthaftungsrecht die Beweislast sowohl hinsichtlich der objektiven Pflichtwidrigkeit69) als auch hinsichtlich des Verschuldens des Herstellers70) um, da allein der Hersteller die Produktionssphäre überblicken und die Endkontrolle der Produkte organisieren kann. Die Ursache der Unaufklärbarkeit liegt im Bereich des

66) 67)

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69)

70)

Siehe H. P. Westermann in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 433 Rz. 67; Weidenkaff in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 433 Rz. 31. Das gilt insbesondere dann, wenn eine Bedienung durch Fachleute zu erwarten ist, siehe BGH, Urt. v. 5.5.1992 – VI ZR 188/91, NJW 1992, 2016, 2018 = VersR 1992, 1010 – Silokipper; BGH, Urt. v. 25.11.1986 – X ZR 38/85, NJW-RR 1987, 664, 665 = WM 1987, 263 – Bleischmelzanlage; BGH, Urt. v. 7.7.1981 – VI ZR 62/80, NJW 1981, 2514, 2515 = VersR 1981, 957 – Kältemittel; Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 224, 234, 297 m. w. N. Buck-Heeb, Vertrieb von Finanzmarktprodukten: Zwischen Outsourcing und beratungsfreiem Geschäft, WM 2014, 385, 392; Spindler in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Kap. 33 Rz. 136. So ausdrücklich klargestellt durch BGH, Urt. v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79, BGHZ 80, 186, 196 f. = NJW 1981, 1603; bestätigt in BGH, Urt. v. 30.4.1991 – VI ZR 178/90, BGHZ 114, 284, 291 = NJW 1991, 1948; BGH, Urt. v. 11.6.1996 – VI ZR 202/95, NJW 1996, 2507, 2508 = DB 1996, 2541; BGH, Urt. v. 2.2.1999 – VI ZR 392/97, NJW 1999, 1028 = VersR 1999, 456; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 684. BGH, Urt. v. 26.11.1968 – VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91, 107 f. = NJW 1969, 269 – Hühnerpest; BGH, Urt. v. 30.4.1991 – VI ZR 178/90, BGHZ 114, 284, 291, 296 = NJW 1991, 1948; BGH, Urt. v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60, 72 = NJW 1992, 560; BGH, Urt. v. 11.6.1996 – VI ZR 202/96, NJW 1996, 2507, 2508 = VersR 1996, 1116.

Produkthaftung für Finanzmarktprodukte?

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Produzenten und gehört daher zu seiner Risikosphäre.71) Die Beweislastumkehr erstreckt sich ferner auf den Beweis der Kausalität zwischen dem Pflichtenverstoß und dem Produktfehler72) und gilt auch gegenüber gewerblichen Abnehmern.73) Zwar muss bei Instruktionsfehlern grundsätzlich der Geschädigte nachweisen, dass der Schaden bei Beachtung der Warnhinweise nicht eingetreten wäre;74) doch greift hier eine tatsächliche Vermutung dafür ein, dass die Warnhinweise beachtet worden wären, wenn auf die Gefahren deutlich und für den Adressaten plausibel hingewiesen worden wäre.75) Der Beweislastverteilung im Produkthaftungsrecht entspricht aufgrund von § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB diejenige im Kapitalmarkt- bzw. Bankrecht, sofern die Anlageberatung in Rede steht. Aber auch die Prospekthaftung kennt in Gestalt von § 23 Abs. 2 Nr. 1 WpPG eine entsprechende Beweislastumkehr hinsichtlich des Vertretenmüssens. Schließlich ist auch die Frage der Kausalität oftmals im gleichen Sinne gelöst: So greift im Bereich der Prospekthaftung die Vermutung der positiven Anlagestimmung ein, was die haftungsbegründende Kausalität der fehlerhaften Prospektinfor-

71)

72) 73) 74)

75)

BGH, Urt. v. 26.11.1968 – VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91, 104 ff. = NJW 1969, 269 – Hühnerpest, m. Anm. Diederichsen; BGH, Urt. v. 24.11.1976 – VIII ZR 137/75, BGHZ 67, 359, 361 f. = NJW 1977, 379; BGH, Urt. v. 19.11.1991 – VI ZR 171/91, BGHZ 116, 104, 108 = ZIP 1992, 410; BGH, Urt. v. 11.6.1996 – VI ZR 202/95, NJW 1996, 2507, 2508 = VersR 1996, 1116; Deutsch, Anm. zu BGH JZ 1969, 385 ff., JZ 1969, 391 ff.; Foerste in: Foerste/v. Westphalen, Produkthaftungs-Hdb., 3. Aufl. 2012, § 30 Rz. 25; kritisch zur Begründung Schiemann in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 823 Rz. 112, der stattdessen auf eine Verkehrspflicht(!), „den Produktionsprozess selbst im Interesse der Allgemeinheit transparent zu gestalten“ abstellen will; a. A. auch Meyer, Nanomaterialien im Produkthaftungsrecht, VersR 2010, 869, 874 f. OLG Hamburg, Urt. v. 20.4.1990 – 1 U 34/89, NJW 1990, 2322, 2324 = VersR 1990, 1126; Hager in: Staudinger, BGB, 2009, § 823 Rz. F 43. BGH, Urt. v. 25.10.1988 – VI ZR 344/87, BGHZ 105, 346, 352 = VersR 1989, 91; BGH, Urt. v. 2.2.1999 – VI ZR 392/97, NJW 1999, 1028, 1029 = VersR 1999, 456. BGH, Urt. v. 9.12.1986 – VI ZR 65/86, BGHZ 99, 167, 181 = VersR 1987, 312; BGH, Urt. v. 24.1.1989 – VI ZR 112/88, BGHZ 106, 273, 284 = NJW 1989, 1542; BGH, Urt. v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60, 73 = NJW 1992, 560; BGH, Urt. v. 2.3.1999 – VI ZR 175/98, NJW 1999, 2273, 2274 = DB 1999, 891; OLG Karlsruhe, Urt. v. 27.3.1996 – 7 U 61/94, VersR 1998, 63, 64 = RuS 1997, 242; bzgl. eines Verstoßes des mutmaßlichen Schädigers gegen die Instruktionspflicht LG Köln, Urt. v. 20.4.2011 – 25 O 312/06, Rz. 42 – juris = BeckRS 2012, 05072, sub. II. 3. BGH, Urt. v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60, 73 = NJW 1992, 560; BGH, Urt. v. 27.9.1994 – VI ZR 150/93, NJW 1994, 3349, 3351 = BB 1994, 2307; BGH, Urt. v. 2.3.1999 – VI ZR 175/98, NJW 1999, 2273, 2274 = DB 1999, 891; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 11.3.1998 – 23 U 55/97, NJW-RR 1999, 27, 30; OLG Karlsruhe, Urt. v. 27.3.1996 – 7 U 61/94 = VersR 1998, 63, 64 f. = RuS 1997, 242; Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 692.

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mationen für den Kaufentschluss des Anlegers angeht,76) im Vertriebsbzw. Anlageberatungsbereich die von der Rechtsprechung entwickelte Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens des Anlegers.77) Demgegenüber ist bislang noch unklar, welche Rolle die mit § 34 Abs. 2a WpHG neu eingeführten Dokumentationspflichten in Zukunft spielen werden, ob sie entgegen der Intention des Gesetzgebers78) eher zu Lasten des Anlegers wirken und faktisch die Darlegungs- und Beweislast wieder umkehren.79) VIII. Fazit: Parallelen und Unterschiede Die kleine Tour d`horizon hat Parallelen, aber auch Unterschiede zwischen beiden Rechtsgebieten aufgezeigt. Abgesehen davon, dass die deliktsrechtlich begründeten Pflichten (im Prinzip) gegenüber jedermann gelten, stellt der Anlegerschutz eher auf eine Art dualen Schutz ab, einerseits mit seiner Zentrierung auf den Vertrieb, andererseits mit der Pflicht zur richtigen und vollständigen Information durch den Emittenten, die an den gesamten Markt gerichtet ist – und daher eher den produkthaftungsrechtlichen Grundsätzen ähnelt. Dass trotz einiger Parallelen der kapitalmarktrechtliche Anlegerschutz im Zivilrecht bislang kaum Anleihen bei der Produkthaftung gemacht hat, mag nicht zuletzt daran liegen, dass oftmals Finanzprodukte im Vordergrund standen, die von insolventen Emittenten stammten, so dass ein Rückgriff auf den „Hersteller“ per se erfolglos ist, während die Inanspruchnahme der in der Regel finanziell potenten Wertpapierdienstleister (Banken etc.) 76)

77)

78)

79)

Siehe Groß, Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2012, Rz. 70; Wackerbarth in: Holzborn, WpPG, 2. Aufl. 2014, §§ 21–23 Rz. 81; Begr. RegE zum Dritten Finanzmarktförderungsgesetz, BT-Drucks. 13/8933, S. 54, 78 zu § 23 Abs. 2 Nr. 1 WpPG i. d. V. v. 1.7.2012, der trotz restriktiv erscheinendem Wortlaut die Rspr. zur Anlagestimmung weiter fortgelten lässt. BGH, Urt. v. 11.2.2014 – II ZR 273/12, WM 2014, 661, 662 = NZM 2014, 840; BGH, Urt. v. 24.9.2013 – XI ZR 204/12, WM 2013, 2065, 2067 = NZG 2013, 1266; Spindler in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Kap. 33 Rz. 209; Bausch/Kohlmann, Anforderungen an die Widerlegung der Schadensursächlichkeit nach der Rechtsprechungsänderung des XI. Zivilsenats, BKR 2012, 410, 412 ff.; Kropf, Rechtliche Schranken im Rahmen der Kick-back-Rechtsprechung des BGH, ZBB 2014, 331, 336 ff. Vgl. Begr. RegE eines Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen bei Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung, BT-Drucks. 16/12814, S. 14, 27. Siehe dazu Maier, Das obligatorische Beratungsprotokoll: Anlegerschutz mit Tücken, VuR 2011, 3, 11; Voß in: Just/Voß/Ritz/Zeising, WpPG, 2009, § 34 Rz. 46 ff.

Produkthaftung für Finanzmarktprodukte?

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wesentlich erfolgreicher ist. Zudem erfordert gerade die Prospekthaftung nach § 21 Abs. 1 WpPG nur das Vorliegen falscher oder unvollständiger Informationen; der Nachweis, dass keine grob fahrlässige Unkenntnis vorliegt, obliegt nach § 23 Abs. 1 WpPG dem Prospektverantwortlichen. Im Gegensatz zur Produkthaftung ist daher auf der haftungsbegründenden Ebene nicht der Nachweis einer Pflichtwidrigkeit erforderlich – auch wenn hier i. R. der Produkthaftung oftmals die Grenzen zwischen Beweislastumkehr bzgl. der objektiven Pflichtwidrigkeit und dem Verschulden verschwimmen.80) Dies kann sich indes in Zukunft durch Art. 16 Abs. 3 MiFID II ändern, der auch die „Hersteller“ von Finanzinstrumenten in die Pflicht nimmt. Daher ist der Blick auf die Produkthaftung hilfreich, wenn es um die „Konstruktion“ von Finanzprodukten geht, da bislang lediglich die Vollständigkeit und Richtigkeit von Informationen im Vordergrund steht, nicht aber etwa das Testen der Finanzprodukte vorab. Auch sollten diese Pflichten auf den „After-Sales“-Bereich ausgedehnt werden, indem Informationen aktualisiert werden müssen, sofern dem Emittenten Fälle bekannt werden, dass (und wie) Abnehmer das Produkt und seine Funktionsweise nicht verstehen. Ansätze in diese Richtung enthalten das kürzlich verabschiedete Kleinanlegerschutzgesetz bzw. § 11a Abs. 1 Satz 2 Vermögensanlagengesetz81) und die europäische PRIIP-Verordnung. Gleiches gilt für den Vertrieb (Anlageberatung), auch wenn die aufgetretenen Probleme nur allgemein publik wurden und nicht spezifisch bei dem jeweiligen Finanzdienstleister – eine Pflicht zur laufenden Auswertung und Beobachtung des Finanzproduktes sollte den Kanon der existierenden Beratungspflichten ergänzen.

80) 81)

Kritisch daher zu Recht Wagner in: MünchKomm-BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 684. Siehe dazu Begr. RegE BR-Drucks. 226/15; Roth, Das neue Kleinanlegerschutzgesetz, GWR 2015, 243.

Die Auswirkungen der Zulassung von Aktienrückkäufen auf die Dividendenausschüttungen deutscher Aktiengesellschaften ERIK THEISSEN, zusammen mit CHRISTIAN ANDRES, MARKUS DOUMET, ERIK FERNAU Inhaltsübersicht I. II.

Problemstellung Dividendenausschüttung versus Aktienrückkauf – Theoretische Analyse III. Institutionelle Rahmenbedingungen für Aktienrückkäufe in Deutschland

IV. Empirische Untersuchung 1. Daten 2. Methodik und Ergebnisse V. Schlussfolgerungen

I. Problemstellung Aktiengesellschaften schütten regelmäßig einen Teil ihres Jahresüberschusses bzw. ihrer Zahlungsmittelbestände an die Aktionäre aus. Dies geschieht traditionell in Form einer Dividendenausschüttung. In den Vereinigten Staaten traten jedoch seit den achtziger Jahren zunehmend Aktienrückkäufe als Ausschüttungsform neben die Dividende. Im Jahre 1999 war dort, bezogen auf börsennotierte Unternehmen, erstmals das Rückkaufvolumen größer als das Dividendenvolumen.1) In Deutschland waren Rückkäufe bis 1998 nur unter sehr restriktiven Bedingungen möglich, so dass sie als reguläre Form der Ausschüttung nicht in Betracht kamen. Das änderte sich durch eine Ergänzung des Aktiengesetzes im Jahr 1998. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob und ggf. wie die Ermöglichung von Aktienrückkäufen das Ausschüttungsverhalten deutscher börsennotierter Aktiengesellschaften beeinflusst hat. Dieser Frage soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. Dabei wird wie folgt vorgegangen. Im folgenden Abschnitt werden die Gemeinsamkeiten von und Unterschiede zwischen Dividendenausschüttungen und Aktienrückkäufen aus ökonomischer Sicht diskutiert. Dabei wird auch auf 1)

G. Grullon/R. Michaely, Dividends, share repurchases and the substitution hypothesis, Journal of Finance 62 (2002), 1649–1684.

638

Erik Theissen, Christian Andres, Markus Doumet, Erik Fernau

die Ergebnisse bisheriger empirischer Untersuchungen eingegangen, die sich größtenteils auf den US-amerikanischen Aktienmarkt beziehen. Im darauf folgenden Abschnitt werden die Bestimmungen über Aktienrückkäufe in Deutschland vorgestellt. Einen wesentlichen Bestandteil des Beitrags bildet dann eine empirische Untersuchung, in der mit Daten des deutschen Aktienmarktes das Ausschüttungsverhalten deutscher börsennotierter Unternehmen vor und nach 1998 untersucht wird. Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung kurz zusammengefasst. II. Dividendenausschüttung versus Aktienrückkauf – Theoretische Analyse In einer hypothetischen Welt ohne Friktionen und ohne Steuern ist die Ausschüttungspolitik irrelevant.2) Das gilt nicht nur für die Höhe der Ausschüttung, sondern auch für die Ausschüttungsform, also die Wahl zwischen Dividendenausschüttung und Aktienrückkauf. Die Relevanz der Ausschüttungspolitik lässt sich also nur begründen, wenn entweder ein Steuersystem existiert, das ausgeschüttete und einbehaltene Gewinne unterschiedlich behandelt, oder wenn andere Friktionen existieren, die eine Gewinnausschüttung gegenüber einer Einbehaltung vorteilhaft werden lassen. Solche Friktionen können etwa in einem Informationsvorsprung des Managements gegenüber Investoren3) oder in der Existenz von Agency-Konflikten zwischen Managern und Aktionären bestehen4). Die Existenz solcher Friktionen allein reicht allerdings nicht, um auch die Relevanz der Wahl der Ausschüttungsform zu begründen.

2) 3)

4)

M. Miller/F. Modigliani, Dividend policy, growth and the valuation of shares, Journal of Business 23 (1961), 411 – 433. Vgl. dazu etwa die Signalling-Modelle von S. Bhattacharya, Imperfect information, dividend policy, and “the bird in the hand” fallacy, Bell Journal of Economics 10 (1979), 259 – 270; K. John/J. Williams, Dividends, Dilution, and Taxes: A Signalling Equilibrium, Journal of Finance 40 (1985), 1053–1070; M. Miller/K. Rock, Dividend policy under asymmetric information, Journal of Finance 40 (1985), 1031 – 1051, sowie D. Bernheim, Tax Policy and the Dividend Puzzle, Rand Journal of Economics 22 (1991), 455 – 476. Vgl. dazu die Free Cash Flow-Theorie, F. H. Easterbrook, Two agency-cost explanations of dividends, American Economic Review 74 (1984), 650 – 659; M. C. Jensen, Agency costs of free cash flow, corporate finance, and takeovers, American Economic Review 76 (1986), 323 – 329.

Die Auswirkungen von Aktienrückkäufen auf die Dividendenausschüttungen

639

Es werden hauptsächlich zwei Gründe dafür diskutiert, warum Unternehmen eine Präferenz für eine bestimmte Ausschüttungsform haben können.5) – Erstens kann das Steuersystem eine Ausschüttungsform bevorteilen. Verkauft ein Aktionär i. R. eines Rückkaufprogramms Aktien und erzielt dabei einen Kursgewinn, so wird dieser mit dem Steuersatz für Kursgewinne besteuert. Unterscheidet sich dieser von dem Satz, mit dem Dividenden besteuert werden, so ergibt sich daraus eine steuerliche Präferenz für eine der Ausschüttungsformen.6) –

Zweitens ist es empirisch gut dokumentiert, dass der Aktienkurs negativ auf Dividendenkürzungen reagiert.7)

Daher versuchen Manager, Dividendenkürzungen zu vermeiden. Dies kann unter anderem dadurch erreicht werden, dass nur auf eine als dauerhaft eingeschätzte Gewinnerhöhung mit einer Erhöhung der Dividende reagiert wird. Auf eine als einmalig oder vorübergehend eingestufte Gewinnerhöhung kann dagegen mit einem Rückkauf reagiert werden.8) In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Unternehmen sich teilweise des Instruments der Sonderdividende bedienen. Eine solche Sonderdividende – die in der Regel zusätzlich zur regulären Dividende gezahlt wird – wird üblicherweise als einmalige Zahlung deklariert, um bei den Anlegern nicht die Erwartung zu wecken, eine solche Sonderdividende werde in Zukunft regelmäßig gezahlt. Demzufolge können also auch Sonderdividenden genutzt werden, um die Aktionäre an einer als einmalig oder vorübergehend eingestufte Gewinnerhöhung teilhaben zu lassen. Sonderdividenden und Aktienrückkäufe können insoweit als Substitute angesehen werden. 5)

6) 7)

8)

Daneben ist teilweise argumentiert worden, Manager, die im Besitz nicht dividendengeschützter Aktienoptionen seien, würden Rückkäufe vorziehen, da Dividendenausschüttungen zu einem Rückgang des Aktienkurses und, damit einhergehend, einem Wertverlust der Optionen führten, C. Jolls, Stock Repurchases and Incentive Compensation, NBER Working Paper (1998), 6467; G. W. Fenn/N. Liang, Corporate Payout Policy and Managerial Stock Incentives, Journal of Financial Economics 60 (2001), 45 – 72; K. Kahle, When a Buyback isn't a Buyback: Open Market Repurchases and Employee Options, Journal of Financial Economics 63 (2002), 235 – 261. G. Grullon/R. Michaely, Dividends, share repurchases and the substitution hypothesis, Journal of Finance 62 (2002), 1649–1684. Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl von Arbeiten G. Grullon/R. Michaely, Dividends, share repurchases and the substitution hypothesis, Journal of Finance 62 (2002), 1649 – 1684. W. Guay/J. Harford, The cash-flow permanence and information content of dividend increases versus repurchases, Journal of Financial Economics 57 (2000), 385 – 415; M. Jagannathan/C. P. Stephens/M. S. Weisbach, Financial flexibility and the choice between dividends and stock repurchases, Journal of Financial Economics (2000), 355 – 384.

640

Erik Theissen, Christian Andres, Markus Doumet, Erik Fernau

III. Institutionelle Rahmenbedingungen für Aktienrückkäufe in Deutschland Bis 1998 konnten deutsche Aktiengesellschaften nur unter sehr restriktiven Umständen (etwa um „Schaden von der Gesellschaft abzuwenden“)9) eigene Aktien zurückkaufen. Zwar gibt es in der Literatur einige Uneinigkeit über das tatsächliche Ausmaß der Rückkäufe vor 1998,10) aber es kann als gesichert gelten, dass Rückkäufe nicht als regulärer Ausschüttungsmechanismus angesehen wurden. Das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) aus dem Jahr 1998 ergänzte § 71 AktG dahingehend, dass Rückkäufe möglich sind „aufgrund einer höchstens 18 Monate geltenden Ermächtigung der Hauptversammlung, die […] den Anteil am Grundkapital, der zehn vom Hundert nicht übersteigen darf, festlegt“.

Der maximale Zeitraum, für den die Hauptversammlung die Ermächtigung erteilen kann, wurde 2008 von 18 Monaten auf fünf Jahre erhöht. Ein entsprechender Beschluss der Hauptversammlung ermächtigt den Vorstand zwar zur Durchführung von Rückkäufen, verpflichtet ihn aber keineswegs dazu. Bevor tatsächlich Rückkäufe getätigt werden, erfolgt in der Regel eine Ad hoc-Mitteilung nach § 15 WpHG.11)

9) 10) 11)

Vgl. ausführlich U. Seifert/R. Stehle, Stock performance around share repurchase announcements in Germany, Working paper, Humboldt University, 2003. Siehe dazu etwa U. Seifert, Aktienrückkäufe in Deutschland: Renditeeffekte und tatsächliche Volumina, 2006. § 15 WpHG verpflichtet zur Mitteilung von Tatsachen, die den Kurs der Aktie erheblich beeinflussen können. Da dieses Kursbeeinflussungspotential bei Aktienrückkäufen tendenziell gegeben ist, erfolgt regelmäßig eine Ad Hoc-Mitteilung. Die durch mehrere empirische Studien (z. B. W. Gerke/J. Fleischer/M. Langer, Kurseffekte durch Aktienrückkäufe – eine empirische Untersuchung für den deutschen Kapitalmarkt, in: Börsig/Coenenberg (Hrsg.), Bewertung von Unternehmen: Strategie – Markt – Risiko, Kongress-Dokumentation, 56. Deutscher Betriebswirtschafter-Tag 2003, S. 275 – 304; R. Schremper, Kapitalmarktrelevanz deutscher Aktienrückkaufprogramme, Zeitschrift für Betriebswirtschaftliche Forschung 55 (2003), 578 – 605; U. Seifert/R. Stehle, Stock performance around share repurchase announcements in Germany, Working paper, 2003; A. Hackethal/A. Zdantchouk, Signaling power of open market share repurchases in Germany, Financial Markets and Portfolio Management 20 (2006), 123 – 151; W. Bessler/W. Drobetz/M. Seim, Share repurchases of initial public offerings: Motives, valuation effects, and the impact of market regulation, European Journal of Finance, (2014); C. Andres/M. Doumet/E. Fernau/E. Theissen, The Lintner model revisited: Dividends versus total payouts, Journal of Banking und Finance 55 (2015), 56 – 69, gestützte Beobachtung, dass Aktienkurse nach Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung regelmäßig steigen, kann wiederum als Evidenz für das Kursbeeinflussungspotential gewertet werden.

Die Auswirkungen von Aktienrückkäufen auf die Dividendenausschüttungen

641

Bei der Durchführung von Rückkäufen müssen alle Aktionäre gleichbehandelt werden. Daher kann der Rückkauf nicht durch eine bilaterale Vereinbarung mit einem Großaktionär oder einer Gruppe von Aktionären erfolgen. Das in der Praxis mit großem Abstand dominierende Verfahren ist der Rückkauf über die Börse.12) Die steuerliche Behandlung von Dividenden und Kapitalerträgen hat sich im Zeitablauf mehrfach geändert. Beim Vollanrechnungsverfahren, das bis 2001 galt, wurden Dividenden letztlich mit dem persönlichen Steuersatz des Anlegers besteuert, während einbehaltene Gewinne mit dem Körperschaftssteuersatz besteuert wurden. Realisierte Kursgewinne privater Anleger blieben steuerfrei, wenn der Verkauf nach Ablauf der sog. Spekulationsfrist erfolgte. Insgesamt ergibt sich daraus, dass (unter rein steuerlichen Aspekten) private Anleger mit einem persönlichen Steuersatz unterhalb des Körperschaftsteuersatzes Dividenden bevorzugen sollten, dass Unternehmen und institutionelle Anleger indifferent sein sollten und dass ausländische Anleger (die i. R. des Vollanrechnungsverfahrens keine Steuergutschrift erhielten) möglicherweise13) eine Präferenz für Rückkäufe hatten. Im Rahmen des ab 2001 geltenden Halbeinkünfteverfahrens erfolgte eine teilweise Doppelbesteuerung von Dividenden. Dem entsprechend verschob sich die steuerliche Präferenz der Anleger hin zu Aktienrückkäufen. Diese Beobachtung führt zu der Hypothese, dass die relative Bedeutung von Rückkäufen gegenüber Dividenden nach 2001 zunehmen sollte. Seit der Einführung der Abgeltungsteuer im Jahr 2009 werden Dividenden und Kursgewinne mit dem gleichen Satz besteuert, so dass eine klare steuerliche Präferenz für eine bestimmte Ausschüttungsform nicht mehr vorliegen sollte.

12)

13)

C. Andres/M. Doumet/E. Fernau/E. Theissen, The Lintner model revisited: Dividends versus total payouts, Journal of Banking und Finance 55 (2015), 56–69, berichten, dass sich in ihrer Stichprobe von fast 600 Rückkaufankündigungen in mehr als 97 % der Fälle der Rückkauf über die Börse gewählt wurde. Ein alternatives zulässiges Verfahren sind Rückkaufangebote zu einem festen Preis („tender offers“). Die vorsichtige Formulierung ist der Tatsache geschuldet, dass hier ja auch das Steuerrecht im Heimatland des Anlegers relevant ist.

642

Erik Theissen, Christian Andres, Markus Doumet, Erik Fernau

IV. Empirische Untersuchung14) 1. Daten Die für diese Untersuchung verwendete Stichprobe umfasst alle börsennotierten deutschen Unternehmen außerhalb der Finanzdienstleistungsbranche, die zwischen 1998 und 2008 mindestens einmal zu den (gemessen an der Bilanzsumme) 200 größten börsennotierten Unternehmen gehörten. Es wird außerdem gefordert, dass erstens Daten für mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre vorhanden sind, und dass es zweitens keinen Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag gibt. Die so konstruierte Stichprobe enthält insgesamt 424 Unternehmen, die im Durchschnitt 67,2 % der Marktkapitalisierung des deutschen Aktienmarktes repräsentieren. Daten aus den Jahresabschlüssen und Informationen über die Höhe der gezahlten Dividende (für den Zeitraum, in dem das Vollanrechnungsverfahren in Kraft war einschließlich der Steuergutschrift) wurden dem Saling/ Hoppenstedt „Aktienführer“15) entnommen. DM-Werte wurden in Euro umgerechnet. Mit Hilfe von Daten über die Zahl der ausstehenden Aktien wurde aus der Dividende pro Aktie das Ausschüttungsvolumen errechnet. Für den Zeitraum zwischen 1998 und 2008 wurden Daten über das Volumen der tatsächlich getätigten Aktienrückkäufe aus den Jahresabschlüssen erhoben. 2. Methodik und Ergebnisse Zunächst werden in Tabelle 1 deskriptive Statistiken zu Jahresüberschuss, gesamter Ausschüttung und Dividendenausschüttung pro Aktie dargestellt.16) Neben Mittelwert, Median und Standardabweichung wird als weiteres Streuungsmaß auch der Variationskoeffizient gezeigt, der die 14)

15) 16)

Der empirische Teil dieses Beitrags ist eng an C. Andres/M. Doumet/E. Fernau/ E. Theissen, The Lintner model revisited: Dividends versus total payouts, Journal of Banking and Finance 55 (2015), 56 – 69, angelehnt. „Aktienführer“, Verlag (Saling) Hoppenstedt. Die Daten wurden selbstverständlich um Kapitalmaßnahmen bereinigt, und zwar i. S. einer Vorwärtsbereinigung. Hatte also z. B. eine Aktie zu Beginn des Untersuchungszeitraums einen Nennwert von 50 DM (was seinerzeit der Mindestnennwert war) und führte dann einen Nennwertumstellung auf 5 DM durch, so wurden die Dividenden nach der Nennwertumstellung mit 10 multipliziert und die Zahl der Aktien durch 10 dividiert. Diese Form der Bereinigung führt dazu, dass die Werte für Jahresüberschuss und Ausschüttung pro Aktie in der Tabelle entsprechend hoch ausfallen.

Die Auswirkungen von Aktienrückkäufen auf die Dividendenausschüttungen

643

Standardabweichung normiert und damit trotz der unterschiedlichen Mittelwerte über die verschiedenen Variablen hinweg vergleichbar ist. Aus der Tabelle ergibt sich unmittelbar, dass die Gesamtausschüttung (die reguläre Dividenden, Sonderdividenden und Aktienrückkäufe umfasst) einen nahezu ebenso hohen Variationskoeffizienten aufweist wie der Jahresüberschuss nach Steuern. Der Variationskoeffizient der Dividendenausschüttung ist dagegen deutlich geringer. Dies impliziert, dass Dividenden „geglättet“ sind, also die Veränderungen des Jahresüberschusses nur in gedämpfter Form wiedergeben. Dies liegt daran, dass – wie nachfolgend auch empirisch gezeigt wird – Dividenden nur mit Verzögerung an Gewinnänderungen angepasst werden. Tabelle 1: Deskriptive Statistiken Jahresüberschuss

Gesamte Ausschüttung

Dividendenausschüttung

Mittelwert

14,22

10,26

8,02

Median

5,22

4,32

3,99

Standardabweichung

66,52

43,54

21,73

Variationskoeffizient

4,68

4,24

2,71

In der folgenden Abbildung 1 sind drei Ausschüttungsquoten dargestellt: –

die Dividendenquote



die Rückkaufquote und



die Sonderdividendenquote.

Jede dieser Quoten drückt das Volumen der entsprechenden Ausschüttungsform als Prozentsatz des Jahresüberschusses im vorhergehenden Geschäftsjahr aus.17) Es ist erkennbar, dass die Dividendenquote ab 1998 tendenziell sinkt. Während die durchschnittliche Dividendenquote in den Jahren 1988–1997 60,9 % beträgt, liegt sie im Zeitraum 1998 –2008 bei nur noch 46,0 %. Allerdings beträgt im Zeitraum 1998–2008 die durchschnitt17)

Eine im Jahr 2008 gezahlte Dividende bzw. ein in diesem Jahr getätigter Aktienrückkauf wird also dem Jahresüberschuss des im Jahr 2007 endenden Geschäftsjahres zugeordnet. Außerdem wurden zwei extrem hohe Sonderdividenden (27,71 € pro Aktie bei der Heidelberger Druckmaschinen AG im Jahr 1997 und 33,50 € pro Aktie im Jahr 2007 bei der Altana AG) aus der Berechnung ausgeschlossen. Die im weiteren Verlauf des Beitrags gezogenen Schlussfolgerungen werden von dieser Datenbereinigung nicht beeinflusst.

644

Erik Theissen, Christian Andres, Markus Doumet, Erik Fernau

liche Rückkaufquote nur 6,8 %. Die Sonderdividendenquote ist mit 1,39 % im Zeitraum 1998– 2008 im Vergleich zu 1,37 % in der Zeit zwischen 1988 und 1997 praktisch unverändert. Abb. 1: Ausschüttungsquoten im Zeitablauf 80.00 % 70.00 % 60.00 % 50.00 % 40.00 % 30.00 % 20.00 % 10.00 % 0.00 % 1988

1991

Dividendenquote

1994

1997 Rückkaufquote

2000

2003

2006

Sonderdividendenquote

Damit kann festgehalten werden, dass zwar nach 1998 die Dividendenquote sinkt, dass Aktienrückkäufe den Rückgang der Dividendenausschüttungen jedoch nicht kompensiert haben. Dem entsprechend ist die Gesamtausschüttungsquote (die sich durch einfache Addition der drei in Abbildung 1 gezeigten Ausschüttungsquoten ergibt) zurückgegangen. Die Beobachtung, dass die Sonderdividendenquote nach der Einführung von Aktienrückkäufen im Jahr 1998 nicht sinkt, steht im Übrigen in Widerspruch zu der Hypothese, Rückkäufe würden Sonderdividenden als Instrument zur Ausschüttung als einmalig oder vorübergehend angesehener Gewinnsteigerungen ablösen. Zudem ist die Bedeutung der Sonderdividenden insgesamt so gering, dass sie im weiteren Verlauf nicht mehr separat berücksichtigt werden. Bemerkenswert ist auch, dass die Unternehmen das neue Instrument der Aktienrückkäufe schnell adaptiert haben. Die höchste im Untersuchungszeitraum beobachtete Rückkaufquote beträgt 17,3 % und wird im Jahr 2000 beobachtet – also im dritten Jahr, in dem Rückkäufe überhaupt möglich waren.

Die Auswirkungen von Aktienrückkäufen auf die Dividendenausschüttungen

645

Wie bereits erwähnt wäre zu erwarten gewesen, dass mit der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens im Jahr 2001 die Rückkaufquote zunimmt und die Dividendenquote abnimmt. Die Tatsache, dass beides nicht der Fall ist, deutet darauf hin, dass steuerliche Überlegungen bei der Wahl der Ausschüttungsform keine große Rolle spielen. Dieses Resultat ist konsistent mit den Ergebnissen von Andres et al.18) Auch dort wurde festgestellt, dass sich die Dividendenpolitik deutscher börsennotierter Unternehmen nach der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens nicht signifikant verändert hat. Auch in den USA scheinen, wie die Ergebnisse einer Befragung von Brav et al.19) nahelegen, steuerliche Aspekte nur eine untergeordnete Rolle für die Ausschüttungsentscheidung zu spielen. Tabelle 2 zeigt, in wie vielen Fällen die Dividende erhöht wurde, unverändert blieb oder gesenkt wurde. Angegeben sind jeweils die absolute Zahl sowie der prozentuale Anteil an allen Beobachtungen. Die Tabelle enthält die entsprechenden Angaben für den Gesamtzeitraum sowie für die beiden Teilzeiträume 1988– 1997 und 1998 –2008. Würden Unternehmen Dividendenzahlungen durch Rückkäufe ersetzen so wäre zu erwarten, dass ab 1998 der Anteil der Beobachtungen mit erhöhter Dividende zurückgeht. Das ist jedoch nicht der Fall. Tatsächlich ist nach 1998 der Anteil der Beobachtungen mit erhöhter Dividende mit 43,5 % sogar geringfügig höher als vor 1998 (39,5 %). Tabelle 2: Veränderungen der Dividenden Zeitraum 1988–1997 1998–2008 1988–2008

18)

19)

erhöht

unverändert

gesenkt

651

596

401

39,50 %

36,20 %

24,30 %

1.006

816

490

43,50 %

35,30 %

21,20 %

1.657

1.412

891

41,80 %

35,70 %

22,50 %

C. Andres/A. Betzer/M. Goergen/L. Renneboog, Dividend policy of German firms – a panel data analysis of partial adjustment models, Journal of Empirical Finance 16 (2009), 175 – 187. A. Brav/J. R. Graham/C. R. Harvey/R. Michaely, Payout policy in the 21st century, Journal of Financial Economics 77 (2005), 483 – 527.

646

Erik Theissen, Christian Andres, Markus Doumet, Erik Fernau

Die bisherigen Analysen waren rein deskriptiver Natur. Zudem bezogen sie sich nur auf die Ausschüttungsquoten und damit auf den Anteil am Jahresüberschuss, der ausgeschüttet wurde. Die Höhe und Veränderung des Jahresüberschusses selbst wurde dagegen nicht berücksichtigt. Dieser Mangel lässt sich mittels eines Partial Adjustment-Modells20) beheben. Dieses Modell postuliert, dass –

Unternehmen eine Zielausschüttungsquote haben, also anstreben, einen bestimmten und im Zeitablauf als konstant angenommenen Anteil des Jahresüberschusses auszuschütten,



die Anpassung an die Zielausschüttung aber mit zeitlicher Verzögerung geschieht. Bei sofortiger und vollständiger Anpassung müsste die Veränderung der Ausschüttung der Differenz zwischen Zielausschüttung (der Jahresüberschuss multipliziert mit der Zielausschüttungsquote) und der Vorjahresausschüttung entsprechen. Tatsächlich wird gemäß dem Partial Adjustment-Modell die Ausschüttung aber nur um einen bestimmten Prozentsatz dieses Betrags verändert. Dieser Prozentsatz wird als Anpassungsgeschwindigkeit bezeichnet und als im Zeitablauf konstant angenommen.

Die Parameter des Partial Adjustment-Modells lassen sich anhand der Regressionsgleichung Di, t

J1Gi, t  J 2 Di, t 1  H i, t

schätzen. Dabei sind Di, t und Gi, t die Dividende bzw. der Jahresüberschuss nach Steuern des Unternehmens i im Jahr t. Der Koeffizient J 2 entspricht dabei 1 minus der Anpassungsgeschwindigkeit und der Koeffizient J1 dem Produkt aus Anpassungsgeschwindigkeit und Zielausschüttungsquote. Daher können die beiden Parameter des Partial AdjustmentModells aus den Regressionsergebnissen geschätzt werden. Schätzt man das Modell über den gesamten Untersuchungszeitraum,21) so ergibt sich eine Zielausschüttungsquote von 48,3 % und eine Anpassungsgeschwindigkeit von 31,9 % (vgl. Tabelle 3). 20) 21)

J. Lintner, Distribution of incomes of corporations among dividends, retained earnings, and taxes, American Economic Review 46 (1956), 97 – 113. Der Datensatz stellt ein unbalanciertes Panel dar. Das Regressionsmodell ist ein dynamisches Panel, da die verzögerte abhängige Variable (die Ausschüttung der Vorperiode) als Regressor verwendet wird. Daher wurde das Modell mittels des GMM-inSystems-Schätzers und unter Einbeziehung von fixen Effekten für Unternehmen und Jahre geschätzt.

Die Auswirkungen von Aktienrückkäufen auf die Dividendenausschüttungen

647

Die zentrale Frage ist nun, ob sich im Zeitraum nach 1998 (also nach der Einführung von Aktienrückkäufen) Änderungen ergeben haben. Um das zu untersuchen, kann man das Regressionsmodell so erweitern, dass man unterschiedliche Schätzwerte für Zielausschüttungsquote und Anpassungsgeschwindigkeit für die beiden Teilzeiträume erhält. Die Ergebnisse sind ebenfalls in Tabelle 3 dargestellt. Danach sank die Zielausschüttungsquote nach 1998 von zuvor 69,9 % auf 46,1 %. Die Anpassungsgeschwindigkeit ging ebenfalls zurück, und zwar von 39,2 % auf 23,2 %. Die Veränderungen beider Parameter sind jeweils statistisch signifikant. Diese Ergebnisse erlauben die Schlussfolgerungen, dass –

die Unternehmen nach der Einführung von Aktienrückkäufen tatsächlich einen geringeren Anteil ihres Gewinns als Dividende ausschütten und



Dividenden nach 1998 langsamer an Änderungen des Gewinns angepasst werden als zuvor. Tabelle 3: Partial Adjustment-Modell

Zeitraum

Zielausschüttungsquote

Anpassungsgeschwindigkeit

1988–1997

0,699

0,392

1998–2008

0,461

0,232

1988–2008

0,483

0,319

Das zweite Resultat ist konsistent mit der Überlegung, dass Rückkäufe tendenziell zur Ausschüttung von als einmalig oder vorübergehend angesehenen Gewinnerhöhungen verwendet werden. Da vor 1998 Rückkäufe als Instrument nicht zur Verfügung standen, konnten die Aktionäre nur mit einer Erhöhung der Dividende an solchen vorübergehenden Gewinnsteigerungen beteiligt werden. Nach 1998 konnten Rückkäufe zu diesem Zweck eingesetzt werden – mit der Folge, dass die Dividende weniger stark an Gewinnänderungen angepasst wird. V. Schlussfolgerungen Die Analyse hat gezeigt, dass Aktienrückkäufe nach Ihrer Einführung im Jahr 1998 relativ schnell als Instrument der Ausschüttung adaptiert wurden, dass ihr Volumen jedoch – anders als in den USA – stets weit hinter dem

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Erik Theissen, Christian Andres, Markus Doumet, Erik Fernau

Dividendenvolumen zurückblieb. Für die Wahl zwischen Dividendenausschüttung und Aktienrückkauf scheinen steuerliche Überlegungen keine große Bedeutung zu haben. Dagegen spricht die nach 1998 verlangsamte Anpassung der Dividende an die Gewinnentwicklung dafür, dass Rückkäufe tendenziell zur Ausschüttung solcher Gewinne verwendet werden, die als nicht nachhaltig erzielbar angesehen werden.

Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement GERHARD WAGNER Inhaltsübersicht I. II.

Gegenstand des Kapitalmarktrechts Durchsetzungsinstrumente des Kapitalmarktrechts III. Institutionen und Instrumente administrativer Rechtsdurchsetzung 1. Rechtsquellen des Kapitalmarktrechts und Aufgabenfelder der BaFin 2. Befugnisse der BaFin 3. Geldbußen und Kriminalstrafen IV. Private Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht 1. Kein Rechtsschutz gegenüber der Behörde 2. Sekundärrechtsschutz gegenüber Marktteilnehmern a) Haftungsszenarien b) Keine Fahrlässigkeitshaftung für reine Vermögensschäden c) (Keine) Haftung wegen Schutzgesetzverletzung

d) Haftung wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung e) Haftung nach §§ 37b, 37c WpHG f) Prospekthaftung g) Zwischenfazit V. These: Private Rechtsdurchsetzung als wesentliche Determinante VI. Gegenthese: Administrative Rechtsdurchsetzung ist entscheidend VII. Stellungnahme 1. Mängel der LLS-Studie 2. Die Vorzüge von JR 3. Komplementärverhältnis des öffentlichen Rechts und des Privatrechts 4. Beschränkung auf die Primärmarkthaftung VIII. Vergleich von administrativer und privater Rechtsdurchsetzung IX. Fazit

Mit Johannes Köndgen verbindet den Verfasser seit den Tagen der von HansBernd Schäfer und Claus Ott organisierten Travemünder Symposia zur ökonomischen Analyse des Rechts ein gemeinsames fachliches Interesse und eine persönliche Freundschaft. Während unser beider Mitgliedschaft in der Bonner Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät waren wir die „Law and Economics-Fraktion“ des Rechtswissenschaftlichen Fachbereichs und pflegten ein enges Verhältnis zu den Wirtschaftswissenschaftlern. Dabei bewahrten wir einen Sinn für anspruchsvolle juristische Dogmatik, wie sie in der Bonner Fakultät gepflegt wurde. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis war der Nährboden für ungezählte Diskussionen über verschiedenste normative Fragestellungen i. R. von Fakultätsveranstaltungen, aber auch bei gemeinsamen Mittagessen und Abendeinladungen. Das informelle Setting erleichterte häufig das Vordringen zu den für ein Problem zentralen Argumenten. Der folgende Beitrag versteht sich als ein Versuch, diesen Diskurs in schriftlicher

650

Gerhard Wagner

Form fortzusetzen, und zwar zu einem Thema, das uns in früheren Unterhaltungen schon mehrfach beschäftigt hat: Mit welchen Instrumenten soll das Kapitalmarktrecht durchgesetzt werden und welche Rolle kann das Privatrecht dabei spielen? I. Gegenstand des Kapitalmarktrechts Das deutsche Kapitalmarktrecht ist kein geschlossen kodifiziertes Rechtsgebiet, sondern eine Patchwork-Materie, die sich aus Spezialgesetzen zusammensetzt, von denen viele, wenn auch nicht alle, auf europäische Vorgaben zurückgehen. Jenseits der Ausdifferenzierungen einzelner Rechtsordnungen lässt sich das Kapitalmarktrecht als Korpus von Normen beschreiben, die die Emission von Aktien und anderen Wertpapieren regeln – das ist das Recht des sog. Primärmarkts – und darüber hinaus die Vorschriften in Bezug auf Dispositionen über bereits emittierte Aktien und sonstige Wertpapiere, also die Transaktionen des sog. Sekundärmarkts, treffen. Das Sekundärmarktrecht richtet sich dabei nicht an die Parteien der Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäfte, bspw. den Verkäufer und den Käufer einer Aktie, sondern an den Emittenten der Aktie oder des sonstigen Wertpapiers, das Gegenstand der Transaktion ist. Darüber hinaus nimmt das Kapitalmarktrecht die Intermediäre des Kapitalmarkts ins Visier, insbesondere Banken, Börsen, Börsenmakler, Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen. II. Durchsetzungsinstrumente des Kapitalmarktrechts Das Kapitalmarktrecht enthält einen Wust von Regeln, insbesondere für Emittenten und die wichtigste Klasse von Intermediären, die vom Wertpapierhandelsgesetz sog. Wertpapierdienstleistungsunternehmen. Diese Regeln legen den Akteuren Organisations- und Verhaltenspflichten auf, deren Erfüllung Kosten verursacht. Da Emittenten und Wertpapierdienstleistungsunternehmen auf Gewinnerzielung ausgerichtete Kapitalgesellschaften sind, die in Wettbewerbsmärkten konkurrieren, wäre es naiv anzunehmen, die Normen des Kapitalmarktrechts würden sich „von selbst“ vollziehen. Im Wettbewerb stehende Unternehmen haben einen klaren finanziellen Anreiz, die ihnen auferlegten Pflichten im Interesse der Kostenminimierung oder Ertragssteigerung nicht oder nicht in dem geforderten Maße zu erfüllen. Wie werden diese Normen durchgesetzt, soweit sie nicht freiwillig erfüllt werden?

Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement

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Zunächst im Wege administrativen Gesetzesvollzugs durch eine Behörde. In Deutschland handelt es sich um die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Diese Behörde hat zur Aufgabe, die Kapitalmärkte zu überwachen und die Einhaltung der gesetzlichen Spielregeln sicherzustellen. Stellen sie Verstöße fest, können sie gegen die Zuwiderhandlung einschreiten; mitunter obliegt ihnen auch die ex-ante-Kontrolle der Akteure in Form von Zustimmungsvorbehalten und Genehmigungsverfahren. Das Menü möglicher Sanktionen besteht aus administrativen Anordnungen in Form von Verwaltungsakten, mit denen den jeweiligen Akteuren bestimmte Verhaltensänderungen aufgegeben werden, Geldbußen, die an den Staat zu zahlen sind, sowie, bei schweren Verstößen, Kriminalstrafen. Während in den USA und in vielen anderen europäischen Ländern Kriminalstrafen auch gegen Unternehmen als solche verhängt werden können, sind in Deutschland nur Individuen straffähig.1) Das deutsche Strafrecht erreicht also nur diejenigen Geschäftsleiter und Mitarbeiter von Unternehmen, die persönlich gegen eine strafbewehrte Norm des Kapitalmarktrechts verstoßen haben. Ist eine Straftat verübt worden, verliert die Kapitalmarktaufsichtsbehörde, sobald ein bestimmter Ermittlungsstand und ein bestimmtes Verfahrensstadium erreicht sind, ihre Verfolgungszuständigkeit an die Staatsanwaltschaft. Neben das eben nur grob skizzierte Menü administrativer Sanktionen, einschließlich von Kriminalstrafen, tritt in bestimmten Fällen ein privates Durchsetzungsinstrument, nämlich die Klage auf Schadensersatz. Ihr Anwendungsbereich ist allerdings nach deutschem Recht, aber auch nach den meisten Nachbarrechtsordnungen beschränkt. Eine haftungsrechtliche Generalklausel, nach der fahrlässig verursachte reine Vermögensschäden zu ersetzen wären, existiert nicht.2) Auch ein Haftungstatbestand, der jedwede Zuwiderhandlung gegen eine kapitalmarktrechtliche Norm mit einer Verpflichtung zum Schadensersatz sanktionieren würde, ist dem deutschen Recht nicht geläufig. Die Frage nach den Voraussetzungen und dem Umfang der Kapitalmarkthaftung führt vielmehr in ein Geflecht gesetzlicher

1)

2)

Vgl. die umfassende rechtsvergleichende Übersicht bei Rogall in: Karlsruher KommentarOWiG, 4. Aufl. 2014, § 30 Rz. 263 ff.; eingehend zur Frage der Unternehmensstrafbarkeit Wagner, Sinn und Unsinn der Unternehmensstrafe – Mehr Prävention durch Kriminalisierung? –, ZGR 2016 (im Erscheinen). Wagner, Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, in: Zimmermann, Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, 2003, S. 229 ff.; Bussani/Palmer, Pure Economic Loss in Europe, 2003; van Boom/Koziol/Witting (Hrsg.), Pure Economic Loss, 2004.

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und judizieller Tatbestände, das einen Kernbereich von Verletzungen kapitalmarktbezogener Informationspflichten umgibt. Im Folgenden sollen zunächst die Instrumente des administrativen Vollzugs (unten III) und sodann der Geltungsbereich der privaten Kapitalmarkthaftung (unten IV) genauer dargestellt werden. Auf dieser Grundlage wird sodann die für die Untersuchung zentrale Frage aufgeworfen, ob der administrative Vollzug oder die private Rechtsdurchsetzung den Vorzug verdient. Diese Untersuchung erfolgt ihrerseits in mehreren Schritten: Ausgangspunkt ist eine provokante These einer Forschergruppe um La Porta, Lopez-de-Silanes und Shleifer, die nach Auswertung empirischer Daten aus verschiedenen Jurisdiktionen zu dem Schluss gekommen sind, die private Rechtsdurchsetzung spiele die entscheidende Rolle für die Stärke und Effizienz von Kapitalmärkten (unten V). Die von Jackson und Roe entwickelte Gegenposition misst dagegen der administrativen Durchsetzung des Kapitalmarktrechts die größere Bedeutung zu (unten VI). Die konfligierenden Meinungen in der Literatur fordern eine Stellungnahme heraus (unten VII), die in die Einsicht mündet, dass die Wahl zwischen administrativer und privater Rechtsdurchsetzung nicht i. S. einer entweder/oder-Entscheidung getroffen werden sollte. Vielmehr geht es darum, die Nachteile und Beschränkungen beider Mechanismen anzuerkennen und ihre Vorteile zu kombinieren (VIII). III. Institutionen und Instrumente administrativer Rechtsdurchsetzung 1. Rechtsquellen des Kapitalmarktrechts und Aufgabenfelder der BaFin In Deutschland liegt der Vollzug des Kapitalmarktrechts primär in den Händen der BaFin, deren Kompetenzen diejenigen der zur Aufsicht über die Börsen berufenen Landesbehörden in den Schatten stellen. Zu den Aufgaben der BaFin zählt insbesondere der Vollzug des Wertpapierhandelsgesetzes, das die zentralen Verhaltensnormen für die Teilnehmer des sekundären Kapitalmarkts enthält (§ 4 Abs. 1 WpHG). Beispielhaft zu nennen ist das Insiderhandelsverbot gemäß § 14 WpHG, die Verpflichtung zur Ad-hoc-Information des Kapitalmarkts (§ 15 WpHG) und das in § 20a WpHG normierte Verbot der Marktmanipulation. Hinzu kommen die Befugnisse der BaFin bei Unternehmensübernahmen nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, insbesondere zur Prüfung und Genehmigung der Angebotsunterlage gemäß §§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 2 WpÜG,

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§ 8 VermAnlG, zur Entscheidung über Befreiungsanträge nach den §§ 20, 24, 36, 37 WpÜG und zur Kontrolle der angebotsbezogenen Werbung (§ 28 WpÜG). Weiter ist die BaFin zuständig für den Vollzug der im Wertpapierprospektgesetz enthaltenen Verhaltensregeln für den Primärmarkt, wobei die Prüfung und Billigung des Prospekts gemäß § 26 Abs. 1 WpPG im Zentrum stehen und durch die Kompetenz zur Untersagung öffentlicher Angebote gemäß § 26 Abs. 4 WpPG flankiert werden. Eine weitere Aufgabe der BaFin liegt im Bereich der Kapitalanlagegesellschaften und Investmentfonds, denn sie ist die zuständige Behörde für den Vollzug des Kapitalanlagegesetzbuchs (§ 5 Abs. 1 KAGB). Schließlich sind Querschnittszuständigkeiten zu nennen, die sich nicht eindeutig dem Primäroder dem Sekundärmarkt zuordnen lassen, so der Vollzug der in den §§ 31 ff. WpHG normierten Verhaltens- und Organisationsregeln für Wertpapierdienstleistungsunternehmen sowie die Funktion der BaFin als subsidiäre Beschwerdestelle für Kunden von beaufsichtigten Unternehmen (§ 4b Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz – FinDAG). 2. Befugnisse der BaFin Ein geschlossener Katalog der Eingriffs- und Sanktionsbefugnisse der BaFin findet sich weder im Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz noch an anderer Stelle. Die Kompetenzen der Kapitalmarktaufsicht gegenüber den Marktteilnehmern sind vielmehr aus den einzelnen Rechtsakten dieser Materie zusammenzuklauben. Für den Sekundärmarkt sind naturgemäß die Befugnisnormen des Wertpapierhandelsgesetzes von besonderer Bedeutung. Gemäß § 4 Abs. 1 WpHG hat die BaFin bei der Wahrnehmung der ihr zugewiesenen, soeben skizzierten Aufgaben „Missständen entgegenzuwirken“, die die Kapitalmärkte beeinträchtigen können und zu diesem Zweck die Kompetenz, „Anordnungen zu treffen, die geeignet und erforderlich sind, diese Missstände zu beseitigen oder zu verhindern“.3) Diese Befugnis-Generalklausel wird flankiert durch Ermittlungsbefugnisse der BaFin dahingehend, von jedermann Auskünfte und die Vorlage von Dokumenten zu verlangen sowie Personen vorzuladen und zu vernehmen (§ 4 Abs. 3 WpHG) und mit ihren Bediensteten Grundstücke und Geschäftsräume zu betreten (§ 4 Abs. 4 WpHG). Soweit die von der BaFin angestellten Ermittlungen einen Missstand i. S. des § 4 Abs. 1 WpHG ergeben oder befürchten las-

3)

Dazu etwa Giesberts in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 4 Rz. 20.

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sen, kann sie die zu dessen Beseitigung und Vermeidung erforderlichen Anordnungen treffen. Nach der beispielhaften Regelung des § 4 Abs. 2 WpHG kommen insbesondere das Verbot oder die Aussetzung des Handels mit bestimmten Finanzprodukten in Betracht. Darüber hinaus kann die BaFin sämtliche Anordnungen treffen, die erforderlich sind, um die Einhaltung der Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes zu gewährleisten.4) Im Krisenfall kommen die besonderen Befugnisse „zur Sicherung des Finanzsystems“ gemäß § 4a WpHG hinzu. 3. Geldbußen und Kriminalstrafen Die BaFin fungiert i. R. des Wertpapierhandelsgesetzes jedoch nicht nur als Vollzugs-, sondern auch als Sanktionsbehörde. Gemäß § 40 WpHG ist die BaFin die zuständige Verwaltungsbehörde i. S. von § 36 OWiG für die ordnungsrechtliche Sanktionierung von Verstößen gegen das Wertpapierhandelsgesetz. Diese Kompetenz bezieht sich auf den äußerst umfangreichen Ordnungswidrigkeitenkatalog des § 39 WpHG. Bei der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten stehen der BaFin zudem die Ermittlungsbefugnisse des Ordnungswidrigkeitengesetzes und der Strafprozessordnung zur Verfügung (§§ 46 Abs. 2 OWiG, 161 ff. StPO).5) Schließlich ist die BaFin auch mit der Verfolgung von Straftaten befasst, insbesondere der in § 38 WpHG aufgelisteten, spezifisch kapitalmarktrechtlichen Straftatbestände. Anders als im Ordnungswidrigkeitenrecht darf die BaFin zwar nicht die Funktion einer Verfolgungsbehörde wahrnehmen, doch sie kann die zuständige Strafverfolgungsbehörde ins Spiel bringen und an den von ihr gesammelten Informationen teilhaben lassen.6) Gemäß § 4 Abs. 5 WpHG hat die Bundesanstalt Tatsachen, die den Verdacht einer Straftat nach § 38 WpHG begründen, unverzüglich der zuständigen Staatsanwaltschaft anzuzeigen und die Daten des Beschuldigten zu übermitteln. Die Zuständigkeit für weitere Strafverfolgungsmaßnahmen liegt sodann bei der Staatsanwaltschaft.

4) 5)

6)

Kritisch Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht, 7. Aufl. 2014, Rz. 845. Waßmer in: Fuchs, WpHG, 2009, § 40 Rz. 19; zu der Pflicht der BaFin, Verwaltungsund Bußgeldverfahren zu trennen, um die strafprozessualen Garantien des Beschuldigten nicht zu unterlaufen, Zimmer/Cloppenburg in: Zimmer/Schwark, KapitalmarktrechtsKommentar, 4. Aufl. 2010, § 40 Rz. 2. Vgl. Giesberts in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 4 Rz. 143 f.

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Die Kompetenzen der BaFin i. R. der übrigen kapitalmarktrechtlichen Rechtsakte folgen dem eben dargestellten Muster und brauchen deshalb hier nicht im Einzelnen dargestellt zu werden (vgl. §§ 4, 15, 40, 60 f. WpÜG, §§ 26 Abs. 2–8, 35 WpPG, §§ 5 ff., 340 ff. KAGB). Erwähnt sei immerhin, dass das für den Primärmarkt zentrale Wertpapierprospektgesetz nicht nur die eben geschilderten Instrumente der ex-post-Kontrolle bereithält, sondern mit den Befugnissen der BaFin zur Überprüfung des Prospekts und zur Entscheidung über dessen Billigung gemäß §§ 13 ff. WpPG sowie die damit zusammenhängende Befugnis, Nachbesserung vor Veröffentlichung des Prospekts zu verlangen (§ 26 Abs. 1 WpPG), gewichtige Komponenten einer ex-ante-Kontrolle einschließt. Die Darstellung der administrativen Durchsetzung des Kapitalmarktrechts wäre unvollständig, wenn sie auf die nationale Ebene beschränkt bliebe. Seit der Finanzkrise existiert in Gestalt der ESMA (European Securities and Markets Authority) mit Sitz in Paris auch eine europäische Kapitalmarkt-Aufsichtsbehörde.7) Deren Kompetenzen sind mit denjenigen der BaFin und der übrigen nationalen Behörden indessen nicht vergleichbar. Abgesehen von der Aufsicht über Ratingagenturen ist die ESMA nicht mit der alltäglichen Durchsetzung des Kapitalmarktrechts befasst.8) Ihre Kompetenzen konzentrieren sich auf den Bereich der Regelsetzung durch Konkretisierung allgemeiner gesetzlicher Standards sowie auf die Intervention im Krisenfall zur Stabilisierung der europäischen Finanzmärkte. IV. Private Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht 1. Kein Rechtsschutz gegenüber der Behörde Vor dem eben grob skizzierten Hintergrund der behördlichen Überwachung und Kontrolle der Kapitalmärkte ist bei privater Rechtsdurchsetzung zunächst an Klagerechte Privater gegenüber den mit dem Vollzug des Kapitalmarktrechts betrauten Behörden – in Deutschland also der BaFin – zu denken. Tatsächlich stellen das allgemeine Verwaltungs- und das Verwaltungsprozessrecht entsprechende Kategorien zur Verfügung, und zwar in

7)

8)

Konzeptionell Hopt, Auf dem Weg zu einer neuen europäischen und internationalen Finanzmarktarchitektur, NZG 2009, 1401; Baur/Boegl, Die neue europäische Finanzmarktaufsicht – Der Grundstein ist gelegt, BKR 2011, 177; zu den Kompetenzen im Einzelnen Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht, 7. Aufl. 2014, Rz. 884 ff. Hirte/Heinrich in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, Einl. Rz. 92d, 92i.

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Gestalt der Drittwiderspruchsklage gegen Verwaltungsakte, die einen Konkurrenten begünstigen, sowie in Form der Verpflichtungsklage, mit der das Einschreiten der Behörde gegen rechtswidriges Verhalten eines Bürgers oder eines Unternehmens verlangt werden kann.9) Kommt die Behörde entsprechenden Begehren des drittbetroffenen Bürgers oder Unternehmens nicht freiwillig nach, besteht zunächst die Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung im Verwaltungsrechtsweg. Darüber hinaus kann der Betroffene Schadensersatz nach Amtshaftungsgrundsätzen verlangen, wenn die Behörde rechtswidrig untätig geblieben ist und ihm dadurch Vermögensnachteile entstanden sind (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG). Alle diese Rechtsbehelfe, der Primärrechtsschutz durch Anfechtungsund Verpflichtungsklagen ebenso wie der Sekundärrechtsschutz durch Staatshaftungsrecht, stehen im Kapitalmarktrecht nicht zur Verfügung. Sie werden ausgeschlossen durch § 4 Abs. 4 FinDAG, in dem es lapidar heißt: „Die Bundesanstalt nimmt ihre Aufgaben und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahr“. Die Verletzung einer drittschützenden Hoheitspflicht, die nicht nur Allgemeininteressen, sondern auch den Interessen des Einzelnen zu dienen bestimmt ist, stellt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO und der Schutzzwecklehre indessen die zentrale Voraussetzung für verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Form der Drittwiderspruchs- und der Verpflichtungsklage dar.10) Kann sich der Kläger nicht auf ein subjektiv-öffentliches Recht berufen, steht auch dann kein Individualrechtsschutz zur Verfügung, wenn im Übrigen nachgewiesen ist, dass die Behörde objektiv rechtswidrig gehandelt oder das von einer Rechtsnorm geforderte Einschreiten pflichtwidrig unterlassen hat. Die Schutzzwecklehre gilt schließlich auch für Staatshaftungsansprüche, weil Art. 34 GG an § 839 BGB anknüpft, der wiederum die Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht zur Voraussetzung hat.11) Indem § 4 Abs. 4 FinDAG die Aufgaben der BaFin allein auf das Allgemeinwohl hin orientiert, schließt er die Drittschutzrichtung der kapitalmarktrechtlichen Hoheitspflichten und damit den öffentlich-rechtlichen Rechtsschutz aus. Insbesondere soll § 4 Abs. 4 FinDAG bzw. seine Vorgängernorm verhindern, dass der Staat dem Einzelnen wegen schuldhafter 9) 10) 11)

Maurer, Allg. Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 11 Rz. 67; Schmidt-Kötters in: Posser/ Wolff (Hrsg.), VwGO, 2. Aufl. 2014, § 42 Rz. 93 – 97. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. 2013, § 14 Rz. 72 f.; Sachs in: Stelkens/Bonk/ Sachs (Hrsg.), VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 40 Rz. 131 ff. Papier in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 839 Rz. 228.

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Verletzung kapitalmarktbezogener Amtspflichten durch Beamte der BaFin schadensersatzpflichtig wird, wie der Bundesgerichtshof das zuvor für die Bankenaufsicht angenommen hatte.12) Ob darüber hinaus auch der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz durch Drittanfechtungs- und Verpflichtungsklagen nach Maßgabe der Schutznormtheorie ausgeschlossen wird, ist in der Literatur umstritten,13) muss aber wohl im Hinblick auf den Willen des Gesetzgebers bejaht werden,14) so kritikwürdig dieser auch sein mag.15) Der Einzelne kann die BaFin also weder zum Einschreiten gegen Missstände zwingen noch einzelnen Marktteilnehmern gewährte Vergünstigungen abwehren. Erleiden durch die Untätigkeit der BaFin einzelne Marktteilnehmer Vermögensschäden, besteht keine Möglichkeit, dafür vom Bund Ersatz zu erlangen. Damit ist auch der Regress des Staates gegen diejenigen Beamten, die ihre Pflichten vorsätzlich verletzt oder grob vernachlässigt und dadurch die Schäden Dritter verursacht haben, nach Maßgabe des § 75 BBG ausgeschlossen.16) Es existiert kein Haftungssubstrat, wegen dem der Staat Regress bei seinem pflichtvergessenen Beamten nehmen könnte. 12)

13)

14)

15)

16)

BGH in BGH, Urt. v. 15.2.1979 – III ZR 108/76 (Wetterstein), BGHZ 74, 144, 147 = NJW 1979, 1354; BGH, Urt. v. 12.7.1979 – III ZR 154/77 (Herstatt), BGHZ 75, 120, 122 f. = NJW 1979, 1879 . Vgl. dazu Hopt, Grundsatz- und Praxisprobleme nach dem Wertpapierhandelsgesetz, ZHR 159 (1995), 135, 158. Hinsichtlich der Staatshaftung ist die Ausschlusswirkung des § 4 Abs. 4 FinDAG wohl unstreitig; vgl. etwa Veil, Staatliche Aufsicht und Rechtsdurchsetzung durch private Dritte im Bank-, Kapitalmarkt- und Bilanzrecht, in: GS für Walz, 2008, S. 769, 771; mit europäischem Recht ist sie vereinbar: EuGH, Urt. v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02, Rz. 29 ff., 40 ff., ZIP 2004, 2039 = WM 2005, 365; BGH, Urt. v. 20.1.2005 – III ZR 48/01, BGHZ 162, 49 = NJW 2005, 742. Vgl. zum Streitstand Zetsche in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 4 WpHG Rz. 12 ff. m. w. N.; umfassend Giesberts in: KölnKommWpHG, 2. Aufl. 2014, § 4 Rz. 34 ff. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu § 4 Abs. 2 WpHG a. F. (= § 4 Abs. 2 FinDAG), BT-Drucks. 12/7918, S. 100: „Die Aufsichtstätigkeit des Bundesaufsichtsamtes erfolgt zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Wertpapiermärkte. Der Schutz des einzelnen Anlegers ist ein bloßer Rechtsreflex. Unberührt bleibt die Pflicht zu rechtmäßigem Verhalten in Bezug auf die von Aufsichtsmaßnahmen unmittelbar betroffenen Personen und Unternehmen. Soweit ihnen gegenüber schuldhaft Amtspflichten verletzt werden, gelten die allgemeinen Grundsätze.“ Daraus ergibt sich m. E. sehr deutlich, dass verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gegenüber der BaFin nur i. R. der Adressatentheorie gewährt werden soll. Wie hier Einsele, Kapitalmarktrecht und Privatrecht, JZ 2014, 703, 706. Treffend Veil in: GS für Walz, S. 769, 779: „Diese Rechtslage ist Ausdruck knapper Kassen und eines fehlenden rechtspolitischen Willens, durch Haftungsregeln zumindest in gewissem Umfang disziplinierend auf die Beamten einzuwirken.“ § 75 Abs. 1 Satz 1 BBG lautet: „Beamtinnen und Beamte, die vorsätzlich oder grob fahrlässig die ihnen obliegenden Pflichten verletzt haben, haben dem Dienstherrn, dessen Aufgaben sie wahrgenommen haben, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“

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2. Sekundärrechtsschutz gegenüber Marktteilnehmern a) Haftungsszenarien Hat ein Bürger oder ein Unternehmen am Kapitalmarkt Nachteile erlitten, die ein anderer Marktteilnehmer durch rechtswidriges Verhalten verursacht, oder drohen solche Nachteile, bleibt somit nur der Rechtsschutz im Bürger/Bürger-Verhältnis, also gegenüber dem rechtswidrig handelnden Marktteilnehmer selbst. Hier kommt eine Vielzahl von Fallkonstellationen in Betracht, die ihrerseits die Anspruchsgrundlagen determinieren und damit die Voraussetzungen für die erfolgreiche Inanspruchnahme von Rechtsschutz definieren. Es ist unmöglich, sämtliche denkbaren Szenarien darzustellen und juristisch zu analysieren. Stattdessen fokussiert die Darstellung auf die praktisch wichtigste und auch theoretisch anspruchsvolle Frage nach der Rechtsposition von Kapitalanlegern, deren Investitionen fehlschlagen und die dadurch Vermögensschäden erleiden. Primärrechtsschutz, also die Abwehr des rechtswidrigen Verhaltens des Schädigers durch Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche ist in diesen Konstellationen typischerweise illusorisch; zur Debatte steht allein Sekundärrechtsschutz in Gestalt von Schadensersatzansprüchen. Die Haftung von Ratingagenturen nach Art. 35a der Verordnung über Ratingagenturen bleibt dabei ausgeklammert, weil sie auf relativ periphere Akteure fokussiert ist und wegen ihrer hohen Anforderungen kaum über das bereits durch § 826 BGB gewährleistete Niveau hinausgeht.17) b) Keine Fahrlässigkeitshaftung für reine Vermögensschäden Die Aussichten auf Schadensersatz sind im Kapitalmarktrecht indessen sehr beschränkt. Anleger und Emittenten von Wertpapieren sowie sonstige Marktteilnehmer sind typischerweise einander nicht i. R. eines Vertrags verbunden, sondern stehen sich als Fremde gegenüber. Als Grundlage für mögliche Schadensersatzansprüche bleibt damit zunächst nur das Recht der außervertraglichen Haftung. Das deutsche Deliktsrecht kennt eine allgemeine Fahrlässigkeitshaftung für Rechtsgutsverletzungen (§ 823 Abs. 1 BGB),

17)

VO (EU) Nr. 462/2013, ABl. (EU) Nr. L 146/1. Dazu Blaurock, Neuer Regulierungsrahmen für Ratingagenturen, EuZW 2013, 608; Einsele, JZ 2014, 703, 708 ff.; Wagner, Die Haftung von Ratingagenturen gegenüber dem Anlegerpublikum, in: FS für Blaurock, 2013, S. 471 f., 487 ff. m. w. N.

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nicht jedoch für reine Vermögensschäden, also Vermögeneinbußen, die nicht Folge einer Rechtsgutsverletzung sind. Reine Vermögensschäden sind vielmehr nur dann ersatzfähig, wenn entweder gegen ein drittschützendes Gesetz verstoßen wurde (§ 823 Abs. 2 BGB), also eine Rechtsnorm, die auch den Interessen des konkret Geschädigten zu dienen bestimmt ist, oder eine vorsätzliche und sittenwidrige Schädigung i. S. des § 826 BGB vorliegt. Fehlt es an einer Schutzgesetzverletzung und lässt sich vorsätzliches und sittenwidriges Handeln nicht feststellen, löst die schuldhafte – also fahrlässige – Verursachung reiner Vermögensschäden keine Haftung aus. c) (Keine) Haftung wegen Schutzgesetzverletzung Die Schadensersatzberechtigung von Kapitalanlegern gegenüber Akteuren, die Normen des Kapitalmarktrechts verletzt haben, hängt demnach davon ab, dass die verletzte Norm als Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB anerkannt wird oder vorsätzlich-sittenwidriges Handeln nachgewiesen werden kann – soweit nicht spezialgesetzlich geregelte Haftungstatbestände zur Verfügung stehen, die die Haftung in großzügigerem Umfang zulassen. Mit der an dieser Stelle unvermeidlichen Vergröberung lässt sich festhalten, dass § 823 Abs. 2 BGB als Anspruchsgrundlage im Kapitalmarktrecht kaum eine Rolle spielt, weil die Rechtsprechung die Qualifikation einzelner Normen als Schutzgesetze ein ums andere Mal abgelehnt hat.18) Dies gilt bspw. für die Pflicht zur Veröffentlichung von Insiderinformationen gemäß § 15 WpHG,19) dann wohl auch für das in § 14 WpHG ausgesprochene Verbot des Insiderhandels20) und für das Verbot der Marktmanipulation gemäß § 20a WpHG.21) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes dienen diese Vorschriften ausschließlich dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts – und nicht auch den Interessen individueller Anleger. 18) 19)

20) 21)

Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 826 Rz. 77; eingehend Fleischer in: Assmann/Schütze, Hdb. des Kapitalanlagerechts, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 13 ff. BT-Drucks. 12/7918 S. 96, 102; BVerfG, Urt. v. 24.9.2002 – 2 BvR 742/02, NJW 2003, 501, 502 = ZIP 2002, 1986; BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, BGHZ 160, 134, 138 f. = NJW 2004, 2664. Klöhn in: KölnKomm-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 14 Rz. 521; Schwark/Kruse in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 14 WpHG Rz. 5. So zu § 88 BörsG a. F. BT-Drucks. 10/318, S. 45; BVerfG, Urt. v. 24.9.2002 – 2 BvR 742/02, NJW 2003, 501, 502 f. = ZIP 2002, 1986; BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, BGHZ 160, 134, 139 f. = NJW 2004, 2664; BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 22 ff., BGHZ 192, 90 = ZIP 2012, 318 = JZ 2012, 571 m. Anm. Bachmann.

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Die Tendenz des Bundesgerichtshofes, die Schutzgesetzeigenschaft kapitalmarktrechtlicher Normen nur sehr zurückhaltend zu bejahen, setzt sich bei den Verhaltens- und Organisationspflichten von Wertpapierdienstleistungen gemäß §§ 31 ff. WpHG fort. Die Pflichten zur anleger- und anlagegerechten Beratung unter Vermeidung oder Offenlegung von Interessenkonflikten sind nach Auffassung des XI. Zivilsenats zwar drittschützend, lösen aber gleichwohl keine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB aus, weil letztere nicht in das haftungsrechtliche Gesamtsystem des deutschen Rechts passen würde.22) Der Europäische Gerichtshof hat diese Judikatur indirekt bestätigt, indem er es abgelehnt hat, der Richtlinie 2004/39/EG über Märkte für Finanzinstrumente (MIFID I) eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu entnehmen, auch mit haftungsrechtlichen Mitteln für Rechtsdurchsetzung zu sorgen.23) Die Neufassung der Richtlinie (MIFID II) hat daran nichts geändert;24) insbesondere enthält die Reform-Richtlinie weiterhin weder Haftungstatbestände zu Lasten von Finanzdienstleistern noch an die Mitgliedstaaten adressierte Vorgaben in Bezug auf die private Rechtsdurchsetzung.25) Der Bundesgerichtshof wiederum federt seine restriktive Judikatur dadurch ab, dass er dem Beratungsvertrag zwischen dem Anleger und der Bank Beratungs- und Aufklärungspflichten entnimmt, die er unter Berücksichtigung der aufsichtsrechtlichen Vorgaben der §§ 31 ff. WpHG entwickelt.26) Im Fall der Verletzung dieser Pflichten ist der Weg zur Vertragshaftung gemäß § 280 BGB geebnet.

22)

23) 24) 25) 26)

BGH, Urt. v. 19.12.2006 – XI ZR 56/05, Rz. 17 ff., BGHZ 170, 226 = NJW 2007, 1876; BGH, Urt. v. 19.2.2008 – XI ZR 170/07, Rz. 14 ff., BGHZ 175, 276 = NJW 2008, 1734; BGH, Urt. v. 22.6.2010 – VI ZR 212/09, Rz. 25 ff. , BGHZ 186, 58 = NJW 2010, 3651; BGH, Urt. v. 27.9.2011 – XI ZR 182/10, Rz. 47, ZIP 2011, 2237 = NJW 2012, 66; BGH, Urt. v. 27.9.2011 – XI ZR 178/10, Rz. 50, ZIP 2011, 2246 = NJW-RR 2012, 43; BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10 (IKB), Rz. 26, BGHZ 192, 90 = ZIP 2012, 318 = JZ 2012, 571 m. Anm. Bachmann; BGH, Urt. v. 17.9.2013 – XI ZR 332/12, Rz. 15 ff., 21 ff., ZIP 2013, 2001 = WM 2013, 1983; BGH, Urt. v. 3.6.2014 – XI ZR 147/12, Rz. 35, BGHZ 201, 310 = ZIP 2014, 1418. Kritisch dazu Hopt, ZHR 159 (1995), 135, 159; Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 412 ff.; Einsele, JZ 2014, 703, 711. EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-604/11, Rz. 57, ZIP 2013, 1417 = EuZW 2013, 557. Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente, ABl. (EU) Nr. L 173/349 ff. Wundenberg, Perspektiven der privaten Rechtsdurchsetzung im europäischen Kapitalmarktrecht, ZGR 2015, 124, 132 f. Deutlich zuletzt BGH, Urt. v. 3.6.2014 – XI ZR 147/12, Rz. 36 ff., BGHZ 201, 310 = ZIP 2014, 1418.

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d) Haftung wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung Trotz seiner auf den ersten Blick denkbar ambitionierten Anspruchsvoraussetzungen – Vorsatz und Sittenwidrigkeit – könnte § 826 BGB im Kapitalmarktrecht durchaus eine wichtige Rolle spielen.27) Die für Anlegerschäden verantwortlichen Akteure wissen in der Regel sehr genau, was sie tun, sodass der Nachweis vorsätzlichen Handelns nicht allzu schwer fällt, zumal dafür nicht verlangt wird, dass sich der Schädiger die Einzelheiten des Kausalverlaufs und die Person des Geschädigten konkret vorgestellt hat.28) Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof Ansprüche gemäß § 826 BGB gegen Vorstände von Aktiengesellschaften anerkannt, die das Anlegerpublikum durch grob falsche Ad-hoc-Mitteilungen in die Irre geführt haben.29) Leider ist das Gericht auf halbem Wege stehengeblieben, indem es den Anspruch auf Naturalrestitution gerichtet und von einer probatio diabolica abhängig gemacht hat:30) Um mit der auf § 826 BGB gestützten Klage durchzudringen, muss der geschädigte Anleger nachweisen, dass er die Aktie nur wegen der unrichtigen Ad-hoc-Mitteilung gekauft hat, von dem Erwerb also Abstand genommen hätte, wenn er richtig informiert gewesen wäre.31) An der Schwierigkeit, diese sog. Transaktionskausalität nachzuweisen, sind

27) 28) 29)

30)

31)

Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 826 Rz. 78; Fleischer in: Assmann/ Schütze, Hdb. des Kapitalanlagerechts, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 19. Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 826 Rz. 24 m. w. N. BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 218/03 (Infomatec I), BGHZ 160, 134 = NJW 2004, 2664; BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 402/02 (Infomatec II), BGHZ 160, 149 = NJW 2004, 2971; BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 (EM.TV), ZIP 2005, 1270 = NJW 2005, 2450; sowie die ComROAD-Saga BGH, Urt. v. 28.11.2005 – II ZR 80/04, ZIP 2007, 681 = WM 2007, 683; BGH, Urt. v. 15.2.2006 – II ZR 246/04, ZIP 2007, 679 = WM 2007, 684; BGH, Urt. v. 26.6.2006 – II ZR 153/05, ZIP 2007, 326 = WM 2007, 486; BGH, Urt. v. 4.6.2007 – II ZR 147/05, ZIP 2007, 1560 = WM 2007, 1557; BGH, Urt. v. 4.6.2007 – II ZR 173/05, ZIP 2007, 1564 = WM 2007, 1560; BGH, Urt. v. 7.1.2008 – II ZR 229/05, ZIP 2008, 407 = WM 2008, 395; BGH Urt. v. 7.1.2008 – II ZR 68/06, ZIP 2008, 410 = WM 2008, 398; BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 310/06, ZIP 2008, 829 = NJW-RR 2008, 1004. BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, BGHZ 160, 134, 143 ff. = NJW 2004, 2664; BGH, Urt. v. 7.1.2008 – II ZR 229/05, Rz. 1, ZIP 2008, 407, 408 = WM 2008, 395; BGH, Urt. v. 7.1.2008 – II ZR 68/06, Rz. 13, ZIP 2008, 410, 411 = WM 2008, 398; BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 310/06, Rz. 13, ZIP 2008, 829, 830 = NJW-RR 2008, 1004. Kritisch insoweit Fleischer in: Assmann/Schütze, Hdb. des Kapitalanlagerechts, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 13 ff.; Zimmer, Verschärfung der Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation, WM 2004, 9, 17; Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 826 Rz. 79.

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nahezu alle Kläger gescheitert.32) Der Anspruch auf sog. Differenzschadensersatz, der lediglich sog. Preiskausalität erfordert, also den Nachweis, dass die Fehlinformation den Preis des Wertpapiers beeinflusst, soll i. R. des § 826 BGB nicht zur Verfügung stehen.33) e) Haftung nach §§ 37b, 37c WpHG Erweist sich das allgemeine Deliktsrecht in seiner Anwendung im Kapitalmarktrecht somit als Enttäuschung für geschädigte Anleger, bleibt diesen häufig nur der Rekurs auf die gesetzlichen Spezialtatbestände der §§ 37b, 37c WpHG. Diese knüpfen die Schadensersatzpflicht an die mindestens grob fahrlässige Verletzung der Pflicht zur akkuraten und rechtzeitigen Information des Kapitalmarkts über Insiderinformationen (§ 15a WpHG), was im Verhältnis zu § 826 BGB eine leichte Absenkung der Anspruchsvoraussetzungen bewirkt. Praktisch wichtiger als die Absenkung des Verschuldensgrads von Vorsatz auf grobe Fahrlässigkeit war die Bereitschaft des Bundesgerichtshofes, in seiner Entscheidung im IKB-Fall das Erfordernis der Transaktionskausalität fallenzulassen und dem Anleger alternativ zur Naturalrestitution einen Anspruch auf Differenzschadensersatz einzuräumen.34) Für letzteren reicht es aus, wenn der Anleger nachweisen kann, dass der Preis, zu dem er die Aktie erworben oder verkauft hat, niedriger oder höher gelegen hätte, wenn der Beklagte die ihm obliegenden Informationspflichten erfüllt hätte. Dieser Nachweis der Preiskausalität lässt sich in aller Regel mit vertretbaren Mitteln führen, und zwar gerade auch dann, wenn der Nachweis von Transaktionskausalität misslingt. Gleichwohl versagen die §§ 37b, 37c WpHG in der Praxis mitunter gerade dann, wenn sie von den geschädigten Anlegern am dringendsten gebraucht werden, wenn nämlich das Unternehmen, in das sie ihr Geld investiert haben, in Insolvenz gefallen ist. Die Ansprüche aus den genannten Spezialtatbeständen richten sich nämlich nicht gegen die handelnden Akteure, 32)

33) 34)

Ausnahme BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 402/02, BGHZ 160, 149 = NJW 2004, 2971; kritisch wie hier Möllers, Konkrete Kausalität, Preiskausalität und uferlose Haftungsausdehnung – ComROAD I–VIIII, NZG 2008, 413, 414; Fleischer in: Assmann/ Schütze, Hdb. des Kapitalanlagerechts, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 25. Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 826 Rz. 80; Wagner, Schadensberechnung im Kapitalmarktrecht, ZGR 2008, 495, 528 f., jew. m. w. N. BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, Rz. 67 f., BGHZ 192, 90 = ZIP 2012, 318 = JZ 2012, 571 m. Anm. Bachmann; Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 826 Rz. 80; Fleischer in: Assmann/Schütze, Hdb. des Kapitalanlagerechts, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 30a.

Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement

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also gegen die Individuen, die den Kapitalmarkt fehlerhaft informiert haben, sondern gegen den „Emittenten“, also gegen das Unternehmen, das die Wertpapiere ausgegeben hat. Ist bei diesem „nichts zu holen“, läuft die Kapitalmarktinformationshaftung leer. Den geschädigten Anlegern bleibt dann nur die Möglichkeit eines Rückgriffs auf § 826 BGB, der die persönliche Haftung der für die Fehlinformation Verantwortlichen begründet, ggf. also die Haftung der Vorstände, die unrichtige Ad-hoc-Meldungen verbreitet oder mit der Wahrheit hinter dem Berg gehalten haben. Im Kontext des § 826 BGB drohen die Anleger wiederum am Erfordernis der Transaktionskausalität zu scheitern.35) f) Prospekthaftung Im Bereich des Primärmarkts ist die haftungsrechtliche Situation für die Anleger wesentlich günstiger gestaltet, denn hier steht die gesetzliche Prospekthaftung gemäß § 21 WpPG, §§ 20, 21 VermAnlG, § 306 KAGB zur Verfügung. Diese beruht trotz der Aufsplitterung der Anspruchsgrundlagen auf einer einheitlichen normativen Grundlage und hat deshalb weitgehend identische Voraussetzungen. Haftungsgrund ist die Veröffentlichung eines fehlerhaften Prospektes, der unrichtige oder unvollständige Angaben enthält. Die Haftung richtet sich gegen die Prospektverantwortlichen und ist auf Erstattung des vollen Einstandspreises Zug um Zug gegen Rücknahme der Wertpapiere gerichtet. Der einzelne Prospektverantwortliche kann sich von der Haftung u. a. durch den Nachweis entlasten, er habe die Fehlerhaftigkeit des Prospekts nicht gekannt und diese Unkenntnis beruhe nicht auf grober Fahrlässigkeit (vgl. etwa § 21 Abs. 1 WpPG). Indem sich die Prospekthaftung gegen die Prospektverantwortlichen als Individuen richtet und überdies der Gesetzgeber die Rückabwicklung des Geschäfts ohne weitere Voraussetzungen als Regelfolge angeordnet hat, vermeidet die Prospekthaftung die wesentlichen Fußangeln, die die erfolgreiche Durchsetzung von Informationshaftungsansprüchen bei Sekundärmarkttransaktionen verhindern. Die für die Entwicklung der Prospekthaftung fundamentalen Grundsätze der allgemein-zivilrechtlichen Prospekthaftung, die der Bundesgerichtshof in einer komplexen Judikatur erarbeitet hat, sind

35)

Vgl. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, What Works in Securities Laws?, 61 J. Fin. 2006, 1.

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neben den spezialgesetzlichen Haftungstatbeständen nicht mehr anwendbar, sondern werden von diesen verdrängt.36) g) Zwischenfazit Die Gemengelage von administrativer und privater Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht provoziert die Frage nach der Relevanz der Instrumente für den Normvollzug. Von der Antwort darauf hängt es ab, ob bei den allfälligen Krisen der Kapitalmärkte sowie in Reaktion auf einzelne Finanzskandale dem Gesetzgeber empfohlen werden kann, die administrative Rechtsdurchsetzung zu stärken – in Deutschland etwa die Befugnisse der BaFin auszuweiten und ihren Etat aufzustocken – oder ob Gesetzgebung und Rechtsprechung besser beraten sind, auf private Rechtsdurchsetzung zu vertrauen, etwa durch Ausbau der Haftungstatbestände oder durch Reformen im Bereich der prozessualen Rechtsverfolgung. V. These: Private Rechtsdurchsetzung als wesentliche Determinante Die Bedeutung der administrativen Rechtsdurchsetzung im Vergleich zu privaten Institutionen des enforcement im Kapitalmarktrecht ist Gegenstand einer wissenschaftlichen Debatte, die im Jahre 2006 durch den Beitrag eines Autorenteams um La Porta, Lopez-De-Silanes und Shleifer (im Folgenden: LLS) angestoßen wurde.37) Andere Arbeiten ähnlich zusammengesetzter Autorenteams sind nicht ausschließlich auf das Kapitalmarktrecht beschränkt, sondern erstrecken sich auch auf andere Materien, wie etwa das Gesellschaftsrecht und das Zivilprozessrecht.38) Stets geht es um den Vergleich der Leistungen unterschiedlicher Jurisdiktionen in den Bereichen Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung, wobei die Wirtschaftskraft der jeweiligen Jurisdiktion als Messlatte funktioniert. Die Arbeiten führen sämtlich zu der Schlussfolgerung, dass Rechtsordnungen, die der Familie des common law angehören, unter dem Parameter der ökonomischen Leistungskraft besser funktionieren als solche des civil law. Der eingangs zitierte Beitrag aus dem Jahr 2006 wendet diese These und die dazugehörige 36) 37) 38)

Assmann in: Assmann/Schütze, Hdb. des Kapitalanlagerechts, 4. Aufl. 2015, § 5 Rz. 27 ff. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, What Works in Securities Laws?, 61 J. Fin. 2006, 1. Grundlegend La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer/Vishny, Law and Finance, 106 J. Pol. Econ. 1998, 1113; weiter Djankov/La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, Courts, 118 Q. J. Econ. 2003, 453; programmatisch Djankov/Glaeser/La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, The New Comparative Economics, 31 J. Comp. Econ. 2003, 595.

Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement

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empirische Methodologie auf das Kapitalmarktrecht an und geht direkt der Frage nach, welche Durchsetzungsinstrumente in diesem Rechtsgebiet besser funktionieren: administrative oder private Rechtsdurchsetzung?39) Die Antwort von LLS ist klar und eindeutig: Die private Rechtsdurchsetzung ist entscheidend für die Stärke nationaler Kapitalmärkte, während die öffentliche Rechtsdurchsetzung durch Behörden zweitrangig ist bzw. überhaupt keine empirisch messbare Rolle spielt.40) Um diese, angesichts der Komplexität der Probleme wie auch des Versuchs empirischer Analyse, überraschend eindeutige These einordnen zu können, bedarf es einer kurzen Rekapitulation ihrer Genese und ihres Geltungsbereichs. Die Autoren beziehen sich nämlich nicht auf das Kapitalmarktrecht insgesamt, sondern auf den Primärmarkt. Das für den Primärmarkt fundamentale Problem besteht darin, dass die Initiatoren eines Börsengangs den Anreiz haben, die Informationen über die angebotenen Wertpapiere bzw. das dahinter stehende Unternehmen zu schönen, um bei den Investoren einen höheren Preis für die Anteile durchzusetzen.41) Unter einem perfekt arbeitenden Enforcement-Regime würde jede Verfehlung der Initiatoren, also jede Unrichtigkeit oder Auslassung in einem Prospekt, sanktioniert und dadurch der Anreiz generiert, die Investoren vollständig und akkurat zu unterrichten. In der realen Welt funktioniert die Rechtsdurchsetzung nie perfekt, es werden inakkurate oder unvollständige Prospekte veröffentlicht, und Investoren erleiden Vermögensschäden, weil sie zu viel für die von ihnen erworbenen Papiere bezahlt haben.42) Unter privater Rechtsdurchsetzung verstehen die Autoren Informationspflichten und deren Durchsetzung mit Hilfe des Haftungsrechts.43) Erfasst werden die Verpflichtung, überhaupt einen Prospekt zu veröffentlichen, sowie Informationspflichten bezüglich der Bezahlung und der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung von Insidern, der Beteiligung von Großaktionären, signifikanten vertraglichen Verpflichtungen und Bindungen 39) 40)

41) 42) 43)

Vgl. oben, Fn. 37. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 20: „These results suggest a preliminary view of what works, and what does not, in securities laws. Public enforcement plays a modest role at best in the development of stock markets. In contrast, the development of stock markets is strongly associated with extensive disclosure requirements and a relatively low burden of proof on investors seeking to recover damages resulting from omissions of material information from the prospectus.” La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 3. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 4. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 5, 10.

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sowie Geschäfte mit Insider-ähnlichen Parteien.44) Bei den Haftungsregeln unterscheiden die Autoren zwischen strikter Haftung für jedwede Unrichtigkeit oder Auslassung sowie verschiedene Varianten der Verschuldenshaftung.45) Die öffentliche Rechtsdurchsetzung wird ebenfalls durch eine Reihe von Parametern erfasst, nämlich: Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde von der Regierung, Befugnis der Aufsichtsbehörde zur Regulierung des Kapitalmarkts, Ermittlungsbefugnisse der Behörde, ihre Kompetenz zur Anordnung von Sanktionen und schließlich ihre Befugnis zur Verhängung von Kriminalstrafen. Die mit Hilfe dieser Variablen gemessene Intensität der privaten und der administrativen Rechtsdurchsetzung in einer bestimmten Jurisdiktion wird sodann in Relation zur Entwicklung und Stärke des jeweiligen Kapitalmarkts gesetzt, gemessen an dem Verhältnis der Kapitalmarktkapitalisierung zum Bruttosozialprodukt und einer Reihe weiterer Kennzahlen.46) Die Daten zu den eben beschriebenen Variablen haben die Autoren vor allem durch Fragebögen generiert, die an Rechtsanwälte aus den untersuchten Jurisdiktionen versandt wurden; die Daten zur Stärke der Kapitalmärkte beruhen auf öffentlichen Statistiken.47) Das Ergebnis der Untersuchung von LLS ist oben schon vorweggenommen worden: Auf die private Rechtsdurchsetzung kommt es an! Besonders wirksam sind anspruchsvolle Informationspflichten und Haftungsregeln, die die Durchsetzung der Schadensersatzansprüche enttäuschter Investoren erleichtern.48) Unter den in der Studie verwendeten Parametern für die Messung der administrativen Rechtsdurchsetzung erwies sich nur die Befugnis der Aufsichtsbehörde zum Erlass untergesetzlicher Normen als statistisch relevant.49) Die Autoren kommen deshalb zu dem Schluss, dass das Kapitalmarktrecht zwar eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung robuster Finanzmärkte darstellt, dass aber zentrale Bausteine der administrativen Rechtsdurchsetzung, wie etwa die Existenz einer unabhängigen Finanzmarktaufsicht und deren Befugnis, Kriminalstrafen zu verhängen, praktisch überhaupt keine Rolle spielen.50) Entscheidend sind vielmehr Informationspflichten und an deren Verletzung geknüpfte Haftungsregeln.

44) 45) 46) 47) 48) 49) 50)

La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 10 f. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 11. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 13. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 6. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 19. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 21. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 61 J. Fin. 2006, 1, 27 f.

Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement

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VI. Gegenthese: Administrative Rechtsdurchsetzung ist entscheidend Die Gegenposition zu der These von LLS wird in einem Beitrag von Jackson und Roe (im Folgenden: JR) markiert, nach denen es für die Effizienz der Kapitalmärkte gerade nicht auf private Schadensersatzklagen, sondern auf die administrative Rechtsdurchsetzung durch Behörden ankommt.51) Die Autoren wählen zwar ebenfalls einen empirischen Problemzugang, entwickeln jedoch einen eigenen Datensatz, um mit dessen Hilfe die tatsächliche Intensität der öffentlichen Rechtsdurchsetzung erfassen zu können. Anders als LLS erfassen sie nicht die formale Rechtsstellung und die geschriebenen Kompetenzen der Aufsichtsbehörde, sondern suchen – zumindest näherungsweise – die tatsächliche Vollzugsintensität zu messen.52) Maßgebliche Variablen für ihre Erfassung der administrativen Durchsetzungsintensität sind daher die Größe des Budgets und des Mitarbeiterstabs der Aufsichtsbehörde, relativ zur Größe der Bevölkerung bzw. des Bruttosozialprodukts in der jeweiligen Jurisdiktion.53) Die Zahlen über Budgets und Mitarbeiterstäbe entnehmen sie einer öffentlich zugänglichen Fachpublikation.54) In Bezug auf die private Rechtsdurchsetzung legen JR ihrer eigenen Untersuchung allerdings dieselben, durch Fragebögen generierten Daten zugrunde wie LLS.55) Anders als LLS kommen JR zu dem Schluss, dass es nicht auf die private, sondern auf die öffentliche Rechtsdurchsetzung ankommt. Die Ausgestaltung der privaten Rechtsdurchsetzung erweist sich für die Stärke der Finanzmärkte einer Jurisdiktion nicht nur als irrelevant, sondern ist ihr teilweise sogar abträglich.56) Insbesondere Haftungsregeln spielen danach überhaupt keine Rolle. Stattdessen sind Informationspflichten und die Intensität der öffentlichen Rechtsdurchsetzung, gemessen anhand der den Aufsichtsbehörden dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen, von maßgeblicher Bedeutung für das Abschneiden des Kapitalmarkts der jeweiligen Jurisdik51) 52) 53) 54)

55) 56)

Jackson/Roe, Public and Private Enforcement of Securities Laws: Resource-Based Evidence, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207. Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 210. Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 211. Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 211, unter Hinweis auf Central Banking Publications of London, How Countries Supervise their Banks, Insurers and Securities Markets, 2006. Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 212. Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 234: „The private enforcement liability standards are regularly insignificant and regularly with the sign reversed (sometimes significantly so).“

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tion.57) Diese Ergebnisse führen zu einer differenzierten Bewertung der verschiedenen Rechtsdurchsetzungsmechanismen: Informationspflichten und ihre effektive Durchsetzung sind wichtig, doch dafür kommt es auf entschlossenes behördliches Handeln durch Auferlegung abschreckender Sanktionen und nicht so sehr auf privatrechtliche Mechanismen an. Speziell Haftungsklagen scheinen der Entwicklung robuster Finanzmärkte geradezu abträglich zu sein.58) JR räumen auch mit der Grundannahme von LLS auf, dass Jurisdiktionen des common law generell effizienter seien als solche des civil law, und dies gerade deshalb, weil sie private Transaktionen weniger intensiv regulieren und überwachen. Wie ihre empirische Studie zeigt, regulieren die Staaten des common law die Finanzmärkte sogar intensiver als diejenigen des kontinental-europäischen Rechts.59) Allerdings ist es gerade diese vergleichsweise hohe Durchsetzungsintensität, die bei JR die Stärke der angelsächsischen Finanzmärkte erklärt. VII. Stellungnahme 1. Mängel der LLS-Studie Die eben geschilderten empirischen Studien kommen mit Blick auf die Wahl zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Durchsetzungsmechanismen des Kapitalmarktrechts zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Ein wesentlicher Grund für die disparaten Ergebnisse besteht darin, dass die Ausgangsdaten sehr verschieden sind. LLS messen die Intensität der administrativen Rechtsdurchsetzung anhand der Stellung und der Kompetenzen der Aufsichtsbehörde, wie sie in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen ausgestaltet ist. Für die Einschätzung des private enforcement hingegen stellen die Autoren nicht auf die einschlägigen rechtlichen Vorgaben, sondern auf die Angaben von Rechtsanwälten aus den an der Studie beteiligten Jurisdiktionen ab, deren Einschätzung mit Hilfe von Fragebögen ermittelt worden ist. Es ist offensichtlich, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird; die administrative Rechtsdurchsetzung wird anhand von formalen Kriterien, des „law on the books“ beur57) 58) 59)

Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 235: „Resource-based public enforcement is regularly associated with deeper securities markets, as strongly as is disclosure.“ Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 236. Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 230 ff.

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teilt, während die private Rechtsdurchsetzung der Beurteilung derjenigen anheim gegeben wird, die in ihren jeweiligen Heimatstaaten innerhalb des Rechtsstabs tätig sind. Ob die befragten Rechtsanwälte überhaupt dazu in der Lage sind, die Wirksamkeit der eigenen rechtlichen Institutionen realistisch einzuschätzen, ob sie sich von anekdotischem Wissen und der Perspektive ihrer Mandanten freimachen können und ob der Kreis der befragten Individuen repräsentativ zusammengesetzt ist und etwa auch Angehörige der Klägerseite umfasst, diese Fragen bleiben völlig offen. Auf der anderen Seite ist auch die Kodierung der Intensität administrativer Rechtsdurchsetzung allein anhand der einschlägigen rechtlichen Normen zweifelhaft, weil sie fehleranfällig ist und selbst bei korrekter Erfassung der einschlägigen Norm nichts über ihre praktischen Wirkungen aussagt.60) An der Validität der von den Autoren zugrunde gelegten Ausgangsdaten bestehen deshalb ernste Zweifel. 2. Die Vorzüge von JR Über die Zweifel an dem Vorgehen von LLS ist die Studie von JR erhaben. Sie messen nicht mit zweierlei Maß, sondern versuchen, die Intensität von privater und öffentlicher Rechtsdurchsetzung mit Hilfe quantitativer Kriterien zu erfassen, die Aufschluss über die reale Durchsetzungsintensität, das „law in action“, geben sollen. Wenig überraschend kommen sie zu wesentlich differenzierteren Ergebnissen. Die Verpflichtung zur Offenlegung von Informationen ist das A und O für die Stärke eines Kapitalmarkts, wobei es darauf ankommt, dass pflichtwidriges Verhalten effektiv verfolgt und mit wirksamen Sanktionen geahndet wird. Ob diese Sanktionen in den Formen des öffentlichen Rechts von einer Behörde verhängt oder im Wege privater Rechtsverfolgung von einem Zivilgericht ausgeurteilt werden, ist im Grunde zweitrangig. 3. Komplementärverhältnis des öffentlichen Rechts und des Privatrechts Diese Überlegungen führen zu einem pragmatischen Ansatz, der die vorfindliche Situation einer Gemengelage von öffentlicher und privater Rechts60)

Mahoney, The Development of Securities Laws in the United States, 47 J. Accounting Research 2009, 325, 342; mit Blick auf die zivilprozessualen Arbeiten von LLS ähnliche Kritik bei Spamann, Legal Origin, Civil Procedure, and the Quality of Contract Enforcement, JITE 166 (2010), 149, vgl. auch den Kommentar von Wagner, JITE 166 (2010), 171 ff.

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durchsetzung nicht als Zu- oder gar als Unfall begreift, sondern als ein im Kern angemessenes Komplementärverhältnis zweier Mechanismen, die je für sich Vorzüge und Nachteile haben.61) Die Beziehung zwischen öffentlicher und privater Rechtsdurchsetzung geht über ein bloßes Ergänzungsverhältnis noch hinaus, weil beide Mechanismen in komplexer Weise miteinander verschränkt sind. Besonders deutlich wird dies an dem Instrument der Informationspflichten: Die Verpflichtung zur Publikation eines akkuraten und vollständigen Verkaufsprospekts lässt sich weder allein dem öffentlichen Recht zuweisen noch exklusiv dem Privatrecht zuordnen. Die Prospektpflicht wird von der Aufsichtsbehörde im Wege einer ex-anteKontrolle effektuiert und Verstöße gegen die Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht lösen sowohl administrative als auch schadensersatzrechtliche Sanktionen aus. Wird die Prospektpflicht mit ihren Durchsetzungsmechanismen und Sanktionen zusammengedacht, zeigt sich ein komplexer, öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Elemente vereinender Mechanismus. 4. Beschränkung auf die Primärmarkthaftung Bevor das Ergänzungsverhältnis der Institutionen öffentlicher und privater Rechtsdurchsetzung näher beleuchtet wird, bedarf es noch eines Vorbehalts: Die zitierten empirischen Studien bezogen sich ausschließlich auf die Primärmarkthaftung, bei der die Verhältnisse noch relativ einfach liegen, weil die Aufsichtsbehörde über das wirksame Instrument der ex-ante-Kontrolle verfügt. Der Sekundärmarkt harrt noch einer empirischen Analyse über die Wirksamkeit der insoweit zur Verfügung stehenden öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Durchsetzungsinstrumente. Tatsächlich sind die Verhältnisse im Bereich des Sekundärmarkts viel komplizierter. Die Aufsichtsbehörde ist mit der Überwachung einer unübersehbaren Vielzahl von Akteuren und Transaktionen konfrontiert, und das Privatrecht hat damit zu kämpfen, dass außervertragliche Schadensersatzansprüche nur innerhalb relativ enger Grenzen zu begründen sind und mitunter gänzlich scheitern. Das Verbot des Insiderhandels, das treffend als „victimless crime“ beschrieben wird,62) ist das beste Beispiel. Verkauft ein Insider die Aktie „seines“ Unternehmens, bevor die schlechten Nachrich61) 62)

Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 209 f. Dazu Sethe in: Assmann/Schütze, Hdb. des Kapitalanlagerechts, 4. Aufl. 2015, § 8 Rz. 7; Hopt in: Baetge, Insiderrecht und Ad-hoc-Publizität, 1995, S. 1, 5.

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ten publik werden, wird ein Schaden nicht verursacht, denn der als Käufer auftretende Anleger hätte den Kaufauftrag auch dann erteilt, wenn der Insider sich dem Handel fern gehalten hätte, wie es seiner Pflicht entsprach. In einem zweiten Bereich der Sekundärmarkthaftung entsteht dem Anleger zwar ein privater Schaden, doch dieser ist viel größer als der soziale Schaden.63) Wenn kurz vor Bekanntwerden negativer Informationen über das jeweilige Unternehmen Altaktionär eine Aktie an Neuaktionär verkauft, so erweist sich dies nachträglich als gutes Geschäft für Altaktionär und als schlechtes Geschäft für Neuaktionär. Die Aktionäre des Unternehmens zusammengenommen gewinnen oder verlieren durch die Transaktion jedoch nichts. Die Veräußerung der Aktie im Schatten einer noch nicht publizierten negativen Information verteilt Vorteile und Nachteile unter den Aktionären um, aber per Saldo entsteht kein Schaden. Dies schließt es nicht zwingend aus, im Interesse wirksamer Anreize der zur Publizität verpflichteten Leitungsorgane der Emittenten auf zivilrechtliche Sanktionen zu setzen, wohl aber dagegen, eine Fahrlässigkeitshaftung einzuführen, die auf den vollen Ersatz reiner Vermögensschäden gerichtet ist.64) Mit diesen Überlegungen stimmt überein, dass die Primärmarkthaftung für fehlerhafte Verkaufsprospekte, etwa nach § 21 WpPG, viel schärfer und wirksamer ausgestaltet ist als die Sekundärmarkthaftung wegen Irreführung des Kapitalmarkts, etwa nach §§ 37b, 37c WpHG.65) Die besonderen Probleme des Sekundärmarkts bedürfen einer gesonderten Analyse über die Wirksamkeit öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Durchsetzungsinstrumente. VIII. Vergleich von administrativer und privater Rechtsdurchsetzung Die Kombination öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Durchsetzungsmechanismen bei der Primärmarktregulierung ist kein Einzelfall, sondern durchaus repräsentativ für den Stil moderner Rechtsordnungen. Am weitesten fortgeschritten ist die Debatte um das Verhältnis von privater und 63)

64)

65)

Vgl. dazu nur Bigus/Schäfer, Die Haftung des Wirtschaftsprüfers am Primär- und Sekundärmarkt – eine rechtsökonomische Analyse, Zeitschrift für Betriebswirtschaft 2007/77, 19; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 709; Wagner in: FS für Blaurock, 2013, S. 467, 484 m. w. N. Eingehend Wagner, Gatekeeper Liability: A Response to the Financial Crisis, in: FS für Kirchner, 2014, S. 1067, 1083 ff.; Wagner in: Callies, Transnationales Recht, 2014, S. 307, 324 ff. Vgl. oben IV 2.

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öffentlicher Rechtsdurchsetzung im Bereich des Kartellrechts. Angestoßen durch die Courage-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes66) hat sich das private enforcement des europäischen Wettbewerbsrechts als zweite Säule der Kartellrechtsdurchsetzung etabliert,67) ohne dass das öffentlich-rechtliche Regime der nationalen Kartellbehörden dadurch in Frage gestellt würde.68) Aber auch in anderen Rechtsbereichen gehen hoheitliche Regulierung und private Haftung Hand in Hand, wie etwa im Bereich der Produktrisiken. Hier konkurriert ein umfangreiches und ständig wachsendes hoheitliches Produktsicherheitsrecht, das in Deutschland etwa durch das Produktsicherheitsgesetz und das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchsamt der dazu gehörigen Rechtsverordnungen sowie der zugrunde liegenden Rechtsakte der Europäischen Union repräsentiert wird, mit dem privaten Produkthaftungsrecht, also der entsprechenden Richtlinie 85/ 374/EWG69) und dem diese transponierenden Produkthaftungsgesetz.70) Der empirische Befund einer Gemengelage, besser: eines Zusammenwirkens von öffentlichem und privatem Recht bei der Durchsetzung normativer Verhaltensstandards, beruht auf guten Sachgründen.71) Diese erklären zugleich, dass die Doppelspurigkeit der Rechtsdurchsetzung nicht auf einzelne Jurisdiktionen beschränkt, sondern in allen entwickelten Rechtsordnungen zu finden ist. Die öffentliche Rechtsdurchsetzung kann für sich eine Reihe von Vorzügen in Anspruch nehmen. Behörden können mit den ihnen zur Verfügung 66) 67)

68)

69)

70) 71)

EuGH, Urt. v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 (Courage Ltd../.Crehan), Rz. 29, Slg. 2001, I-6297, 6324 = NJW 2002, 502 (Ls.). Vgl. Basedow (Hrsg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 2007; Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht – Anmaßung oder legitime Aufgabe, AcP 206 (2006), 352, 404 ff. Vgl. zuletzt Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. (EU) Nr. L 349/1 ff. Richtlinie 85/374/EWG v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. (EG) Nr. L 210/29. Wagner in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 823 Rz. 694 ff. Treffend Shavell, Liability for Harm versus Regulation of Safety, 13 J. Legal. Stud. 1984, 357, 365: „This suggests not only that neither tort liability nor regulation could uniformly dominate the other as a solution to the problem of controlling risks, but also that they should not be viewed as mutually exclusive solutions to it. A complete solution to the problem of the control of risk evidently should involve the joint use of liability and regulation, with the balance between them reflecting the importance of the determinants.”

Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement

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stehenden oder zumindest anzustoßenden Sanktionen genau diejenigen Individuen treffen, die für die jeweilige Pflichtverletzung verantwortlich sind.72) Dabei sind sie nicht auf pekuniäre Sanktionen beschränkt, sondern können Verhaltensänderungen anordnen, Tätigkeitsverbote aussprechen sowie Kriminalstrafen verhängen, die auch solche Individuen beeindrucken, die für die Androhung von Geldleistungspflichten wenig empfänglich sind.73) Die Gretchenfrage des public enforcement lautet natürlich, ob sie die in sie gesetzten Hoffnungen auch zu erfüllen vermag. Die Antwort darauf fällt bekanntlich ernüchternd aus, und zwar auch in wohlgeordneten Staaten. Die Beobachtung des Marktes und die Kontrolle der dort tätigen Akteure durch Beamte sind aufwendig und teuer. Die Informationen über das Verhalten der Individuen, deren Verhalten reguliert werden soll, müssen zunächst einmal generiert werden, was häufig tiefe Einblicke in die internen Abläufe von Unternehmen erfordert. Die dafür nötigen Investigationsbefugnisse stehen Aufsichtsbehörden durchaus zur Verfügung,74) doch ihr Budget ist für umfassende Beobachtung und Kontrolle des Marktes eigentlich immer zu klein und ermöglicht daher keine einigermaßen flächendeckende Kontrolle. Die Mitarbeiter der Behörden haben zudem geringe oder keine finanziellen Anreize, sich für ihre Aufgabe stark zu machen und sich über das dienstrechtlich Geforderte hinaus zu engagieren.75) Im Bereich der Finanzmarktaufsicht kommt hinzu, dass die Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde um Größenordnungen weniger verdienen als diejenigen der von ihnen regulierten Unternehmen. Das macht sie noch anfälliger für den Einfluss der regulierten Industrie selbst, die ohnehin bestrebt sein muss, durch Abwerben von Personal, politische Lobbyarbeit und soziale Landschaftspflege die Regulierungsbehörde für die eigenen Ziele einzuspannen (regulatory capture).76) Diese Schwächen führen in modernen Staaten nicht dazu, dass öffentliche Rechtsdurchsetzung nichts bewirkte, wohl aber, dass sie hinter den – offenbar übertriebenen – Erwartungen der Politik und der Öffentlichkeit weit zurückbleibt. 72) 73) 74) 75) 76)

Coffee, Reforming the Securities Class Action: An Essay on Deterrence and its Implementation, 106 Colum. L. Rev. 2006, 1534, 1536, 1561 ff. Vgl. Shavell, 13 J. Legal. Stud. 1984, 357, 360 ff. Vgl. oben III 2. Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 208, 210. Grundlegend Stigler, The Theory of Economic Regulation, 2 Bell J. Econ. & Mgmt. Sci. 1971, 3; Posner, Theories of Economic Regulation, 5 Bell J. Econ. & Mgmt Sci, 1974, 335, 341 ff.; vgl. auch den Überblick bei Livermore/Revesz, Regulatory Review, Capture, and Agency Inaction, 101 Geo. L.J. 2013, 1337, 1342 ff.

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Wie steht es demgegenüber mit der privaten Rechtsdurchsetzung? Diese ist gegenüber ihrer öffentlichen Schwester zunächst deutlich im Vorteil, weil sie auf die Informationen setzt, die im Markt ohnehin vorhanden sind, nämlich von den Marktteilnehmern i. R. ihrer täglichen Geschäfte generiert werden.77) Auch das zweite Problem der öffentlichen Rechtsdurchsetzung, wirtschaftlich desinteressierte Beamte, entfällt, denn der private Anleger, der Geld eingebüßt hat, hat ein wirtschaftliches Eigeninteresse daran, es im Wege des Schadensersatzes wiederzuerlangen. Eine unverändert auf Schadensersatz lautende Rechtsfolge hat zudem den Vorteil einer maßvollen Sanktion, die darauf abzielt, die durch eine Rechtsverletzung verursachten sozialen Kosten anzulasten, was aus ökonomischer Sicht genau das richtige Maß ist. Zudem hat das Privatrecht den Vorteil, knappe Ressourcen nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn tatsächlich eine Rechtsverletzung eingetreten ist; die kostspielige flächendeckende Beobachtung des Kapitalmarkts ist gar nicht nötig.78) Auch die private Rechtsdurchsetzung verspricht in der Theorie mehr als sie in der Praxis zu halten vermag. Soweit bestehende Ansprüche in der Praxis nicht durchgesetzt werden, entfallen Anreize zu rechtmäßigem Verhalten.79) Gerade im Bereich des Kapitalmarktrechts steht das private enforcement jedoch vor besonderen Schwierigkeiten. Die private Rechtsdurchsetzung scheitert nur allzu oft an effektiven prozessualen Durchsetzungsmechanismen.80) Effektive Rechtsverfolgung im Bereich des Kapitalmarktrechts ist auf die Aggregation der Einzelansprüche angewiesen, doch sie bereitet dem Zivilprozessrecht große Schwierigkeiten. Die USA haben dafür einen in der Praxis sehr beliebten Mechanismus zur Verfügung, nämlich die securities class action, die es einem einzigen Kläger ermöglicht, im 77) 78) 79)

80)

Vgl. Shavell, 13 J. Legal. Stud. 1984, 357, 359 ff.; Wagner, AcP 206 (2006), 352, 441 ff. Shavell, 13 J. Legal. Stud. 1984, 357, 363 f. Shavell, 13 J. Legal. Stud. 1984, 357, 363; Wagner, Neue Perspektiven im Schadensersatzrecht – Kommerzialisierung, Strafschadensersatz, Kollektivschaden, in: Verhandlungen des 66. DJT, 2006, S. 82, 98 f. In der Literatur wird durchweg angenommen, die Rechtsdurchsetzung scheitere überdies an der rationalen Apathie der Geschädigten, weil es sich bei den Schäden der Anleger um – je für sich trivial kleine – Streuschäden handele, bei denen eine individuelle Rechtsverfolgung nicht lohne. Diese Annahme trifft nicht zu, denn institutionelle Anleger mit nennenswerten Beteiligungsquoten erleiden typischerweise substantielle Schäden, die eine Klageerhebung lohnend erscheinen lassen, und selbst Kleinanleger würden das Risiko einer Klage wohl auf sich nehmen, um einen vierstelligen Ersatzbetrag zu gewinnen. Dementsprechend wurden in dem bekannten Telekom-Fall über 14.000 Schadensersatzklagen erhoben. Mangelnde Klageanreize scheinen also nicht das Problem zu sein. Eingehend dazu Wagner in: Verhandlungen des 66. DJT, 2006, S. 121 f.

Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht: Public versus Private Enforcement

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Namen sämtlicher Anleger aufzutreten und den kollektiv erlittenen Schaden zu liquidieren. Die class action generiert wirksame Anreize für entsprechend spezialisierte Rechtsanwälte, Schadensersatzklagen zu erheben, doch leider erreicht ihre Sanktionswirkung in aller Regel nicht diejenigen Akteure, die innerhalb des Unternehmens die Verantwortung für die Verletzung der Informationspflicht tragen.81) Die gewöhnliche securities class action wird nicht bis zum gerichtlichen Urteil getrieben, sondern nach Verhandlungen der Klägeranwälte mit dem Management des Unternehmens verglichen, und zwar zu Lasten der Gesellschaftskasse sowie des dahinter stehenden D&O-Haftpflichtversicherers.82) Die für die Verletzung der Informationspflicht verantwortlichen Individuen spüren nichts von der Sanktion, zumal die Chancen für einen Regressanspruch der Gesellschaft gegen ihr pflichtvergessenes Leitungsorgan nach dem Recht von Delaware denkbar gering sind.83) In Deutschland gibt es bekanntlich keine Gruppenklage, sondern die speziell für den Bereich der Kapitalmarkthaftung eingeführte Musterklage nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz. Letzteres vermeidet zwar die Prinzipal/Agenten-Probleme, die ihre US-amerikanische Schwester leidet, doch dies bezahlt sie mit dem Preis mangelnder Effektivität.84) Auch nach der Reform der vergangenen Jahre bleibt das Musterklageverfahren viel zu aufwendig und zeitintensiv, um als effektives Instrument des private enforcement gelten zu können.

81) 82)

83)

84)

Grundlegend Coffee, 106 Colum. L. Rev. 2006, 1534; vgl. auch Jackson/Roe, 93 J. Fin. Econ. 2009, 207, 209. Coffee, 106 Colum. L. Rev. 2006, 1534, 1550 ff.; Black/Cheffins/Klausner, Outside Director Liability, Stan. L. Rev. 2006, 1055, 1098 f.; Cox/Thomas, Letting Billions Slip through your Fingers: Empirical Evidence and Legal Implications of the Failure of Financial Institutions to Participate in Securities Class Action Settlements, 58 Stan. L. Rev. 2005, 411, 418. Zu den historischen prozess- und materiell-rechtlichen Hintergründen (Übergang zum Opt-out-Prinzip i. R. von Rule 23 Federal Rules of Civil Procedure) sowie deren Folgen für die Dynamik privater Prozessführung Mahoney, 47 J. Accounting Research 2009, 325, 333 ff., mit empirischen Daten zur Entwicklung der securities litigation. Vgl. nur Gagliardi v. Trifoods International, Inc., 683 A.2d, 1996, 1049, 1051 f.; dazu Engert/Goldlücke, Why Agents Need Discretion: The Business Judgment Rule as Optimal Standard of Care, University of Mannheim, Department of Economics, Working Paper 13-04, 2013, 1 f. Eingehend dazu Wagner in: Verhandlungen des 66. DJT, 2006, S. 123 f.; vgl. auch Halfmeier/Rott/Feess, Evaluation des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, 2009.

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IX. Fazit Die vorstehend zusammengetragenen Mängellisten der öffentlichen und der privaten Rechtsdurchsetzung mögen entmutigend wirken. Diese Wirkung mildert sich im Lichte der Einsicht, dass perfekte Institutionen auf dieser Welt nicht zu haben sind. Gerade deshalb ist das Kapitalmarktrecht – wie auch andere Rechtsmaterien – gut beraten, bei der Rechtsdurchsetzung auf Doppelspurigkeit zu vertrauen und zu diesem Zweck auch die Instrumente privater Rechtsdurchsetzung so gut zu machen, wie sie sein können. Was dieses Postulat im Einzelnen bedeutet, muss einem anderen Beitrag überlassen werden.

Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investment-Drei- und -Viereck DIRK ZETZSCHE Inhaltsübersicht I. II.

Schaden und Schädiger Dreiecks-Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB 1. Verwahrstelle 2. KVG 3. Anleger 4. Strukturelle Effizienz? a) Gegenseitige Kontrolle der Intermediäre? b) Klagerecht der Anleger? c) Öffentlich-rechtliche Kompensation III. Geltungsgründe der Aktivlegitimation im Investment-Dreieck 1. Privatrecht a) Anleger b) Verwahrstelle c) Verwalter 2. Investmentrecht

a) Annexkompetenz zur Portfolioverwaltung b) Annexkompetenz zur Kontrollfunktion c) Wirtschaftliches Interesse IV. Besonderheiten des Investment-Vierecks 1. InvGes als vierte Beteiligte 2. Aktivlegitimation der Anleger? 3. OGAW-V-Richtlinie V. Aktivlegitimation im Investment-Viereck 1. Privatrechtlicher Geltungsgrund a) Gesellschaftsrechtliches Schutzkonzept? b) Schuldverhältnisse zugunsten Dritter 2. Investmentrecht: Dreifache Aktivlegitimation oder Sperrwirkung der Funktionszuweisung? VI. Ergebnisse in Thesen

Johannes Köndgen hat sich intensiv mit dem Investmentrecht befasst.1) Darüber werden sich Intermediäre und Klägeranwälte nicht immer freuen, ist der Jubilar doch dafür bekannt, mit klarer Sprache die Interessen der Beteiligten (und Autoren) aufs Korn zu nehmen.2) Auch zur Durchsetzung von Anlegeransprüchen hat Johannes Köndgen gearbeitet.3) Seine Aufmerksamkeit galt dabei zunächst dem Sondervermögen.4) Jedoch ist, nachdem die Investment-Aktiengesellschaft (InvAG) im Jahr 1998 und 1)

2) 3) 4)

Vgl. die Kommentierungen zu §§ 1–5b, 9, 9a, 127 InvG sowie zum Depotbankenrecht (§§ 20 ff. InvG) in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010; Köndgen, Corporate Governance in und durch Anlagefonds, in: FS für Nobel, 2005, S. 529; Köndgen/Schmies in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 113; Köndgen/Schmies, Die Neuordnung des deutschen Investmentrechts, WM Sonderbeilage 1/2004. Vgl. Köndgen, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, AG 2015, 839. Vgl. Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG. Vgl. Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG.

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Dirk Zetzsche

zahlreiche geschlossene Fonds in der Form der GmbH & Co. KG erst mit der Umsetzung der AIFM-RL im Jahr 2013 dem investmentrechtlichen Kontrollsystem5) unterstellt wurden, die Investmentgesellschaft („InvGes“) in der Gerichtswirklichkeit des Kapitalanlagegesetzbuchs (KAGB) angekommen.6) Sogleich hat der Jubilar dogmatische Lösungen zur Einbindung der InvGes angemahnt.7) Diesem Petitum sucht dieser Beitrag für die extern verwaltete InvGes nachzukommen. Nicht behandelt wird die Haftung der Organe von InvGes, Verwalter und Verwahrer.8) Gleichfalls kein Thema ist der Rechtsgrund der Ersatzpflicht, der insbesondere bei Verstoß gegen investmentrechtliche Organisationspflichten Fragen aufwirft.9)

5) 6)

7) 8)

9)

Dazu Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, vor §§ 20 – 29 InvG Rz. 1 und § 26 Rz. 2. Vgl. dazu OLG München, Urt. v. 1.10.2015 – 23 U 1570/15 (KG als Beklagte), ZIP 2015, 2224; für gesellschaftsrechtliche Interpretation auch Paul in: Weitnauer/Boxberger/ Anders, KAGB, 2014, § 154 Rz. 9 ff.; Böhme, Die Vertretung der extern verwalteten Investmentkommanditgesellschaft, BB 2014, 2380, 2381; für Differenzierung zwischen Portfolioverwaltung und Risikomanagement einerseits, sonstigen Aufgaben andererseits Hüwel in: Baur/Tappen, InvG, Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 129 KAGB Rz. 34 ff. (und § 154 KAGB Rz. 19). Köndgen, AG 2015, 839, 840. Zum deutschen Recht Zetzsche, Das Gesellschaftsrecht des Kapitalanlagegesetzbuches, AG 2013, 613, 622 f.; für Italien Tribunale Milano, May 11th 2015 – Cape Naxitis Sgr, Opera Sgr contro S. C. e altri, Le Società 10/2015, 1132 ff. mit Anm. von Giudici, Le Società 10/2015, 1141 f.; für die Schweiz vgl. Art. 145 Abs. 4 KAG van Planta/Bärtschi in: BSK-KAG, 2. Aufl. 2016, Art. 145 Rz. 63 ff.); für Liechtenstein Zetzsche/Eckner in: Hölscher/Altenhain, Hdb. Aufsichts- und Verwaltungsräte von Kreditinstituten, 2013, S. 373 ff. Der Jubilar, der eine vertragliche Einordnung von Anlagegrenzen und Wohlverhaltensregeln befürwortet (Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 9 InvG Rz. 7 und vor §§ 20 ff. InvG Rz. 1 f.; § 28 InvG Rz. 4), steht einer Privatrechtswirkung von Organisationsvorschriften zurückhaltend gegenüber, vgl. Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 9a InvG Rz. 4 sowie Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 5 a. E. Restriktiv zur Schutzgesetzeigenschaft der §§ 26 ff. KAGB (unter Orientierung an der Judikatur zu §§ 31 ff. WpHG) Möllers in: Möllers/Kloyer, Das neue KAGB, 2013, S. 247, 256; für Schutzgesetzeigenschaft in bestimmten Fällen Reiss, Pflichten der Kapitalanlagegesellschaft und Depotbank gegenüber dem Anleger, 2006, S. 152 ff.; für weitreichende Privatrechtswirkung Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 589 ff., 802 ff.; Zetzsche in: Möllers/Kloyer, Das neue KAGB, 2013, S. 131, 151 f.

Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investment-Drei- und -Viereck

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I. Schaden und Schädiger Zwischen Individualschäden, die nur einzelne Anleger,10) und Schäden, die alle Fondsanleger in gleicher Weise treffen („Kollektivschäden“)11), ist zu unterscheiden. Die Untersuchung konzentriert sich auf die von §§ 78, 89 KAGB erfassten Kollektivschäden. Das Fondsvermögen können insbesondere schädigen: –

die Kapitalverwaltungsgesellschaft („KVG“), z. B. durch Eingehung übermäßiger Risiken oder Erwerb von Vermögensgegenständen unter Verstoß gegen die Anlagebedingungen;



die Verwahrstelle, z. B. durch Verlust der verwahrten Finanzinstrumente oder eine unzureichende Sicherung der Eigentumsrechte an nicht verwahrfähigen Vermögensgegenständen;



die InvGes durch das nachteilige Handeln ihrer Organe (z. B. übermäßige Repräsentationsausgaben);



die Anleger, indem sie z. B. massenhaft Anteile zurückgeben und zum Notverkauf illiquider Vermögensgegenstände zwingen oder eine zur Weiterfinanzierung der Anlage erteilte Zusage nicht einhalten;



eine der zahlreichen Personen, die die KVG oder Verwahrstelle zur Erfüllung ihrer Pflichten hinzuziehen, z. B. externe Bewerter, spezialisierte Vermögensverwalter, Risikomanager, Vertriebsbeauftragte, Unter-Verwahrstellen, Prime Broker oder Zentralverwahrer;



Dritte, etwa bei einem durch Fahrlässigkeit verursachten Brand einer im Fondsvermögen stehenden Immobilie oder einer verspäteten Adhoc-Mitteilung des Vorstands einer börsennotierten AG, deren Aktien im Fondsvermögen stehen.

10)

Individuell ist der Schaden z. B. beim Erwerb eines ungeeigneten Fondsanteils nach fehlerhafter Anlageberatung durch die KVG (vgl. § 20 Abs. 3 Nr. 1 KAGB), aus Prospekthaftung (§ 306 Abs. 1 KAGB) oder infolge Verweigerung der Anteilsrücknahme entgegen der in § 162 Abs. 2 Nr. 4 KAGB statuierten Bedingungen eines offenen Fonds. Zutreffend weist Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 17 darauf hin, dass der alle Anleger gleich treffende Schaden beim Sondervermögen kein solcher eines Kollektivs ist und deshalb eine actio pro socio ausscheidet; beim Sondervermögen fehlt dem Fonds die Rechtsfähigkeit und die rechtliche Verselbständigung der Vielzahl der Anlegerberechtigungen.

11)

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Im Folgenden stehen von der externen KVG, der Verwahrstelle und der InvGes erzeugte Schäden im Mittelpunkt. Zur Geltendmachung berechtigt könnten mit den Anlegern, der KVG, der Verwahrstelle und den Organen der InvGes vier Personenkreise sein. Unter welchen Voraussetzungen diese Personen bei der InvGes aktivlegitimiert sind ist, wird im Schrifttum kaum behandelt.12) II. Dreiecks-Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB Die Regelung zur Aktivlegitimation wurde weitgehend unverändert13) aus § 28 InvG14) und dessen Vorgängernormen § 12c KAGG 1990,15) § 12 Abs. 8 KAGG 197016) und § 11 Abs. 7 KAGG 195717) in §§ 78, 89 KAGB übertragen. Die InvGes wurde durch §§ 51 ff. KAGG i. d. F. des 3. Finanzmarktförderungsgesetzes,18) deren Fremdverwaltung erstmals mit § 96 Abs. 4 InvG i. d. F. des Investmentänderungsgesetzes19) zulässig. In beiden Fällen blieb die Regelung zur Aktivlegitimation unverändert. Eine Untersuchung der Aktivlegitimation im Investment-Viereck muss folglich beim Investment-Dreieck ansetzen.

12)

13) 14)

15)

16) 17) 18)

19)

Ausnahmen: Fischer/Steck in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 96 InvG Rz. 35; N. Campbell/H. Müchler, Die Haftung der Verwaltungsgesellschaft einer fremdverwalteten Investmentaktiengesellschaft, ILF Working Paper 101 (2009), S. 8, 18 Fn. 73. Vgl. BT-Drucks. 17/12294, S. 231, 238. Eingeführt durch das Gesetz zur Modernisierung des Investmentwesens und zur Besteuerung von Investmentvermögen (Investmentmodernisierungsgesetz) v. 15.12.2003, BGBl. I, 2676. Vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Förderung der Rahmenbedingungen der Finanzmärkte (Finanzmarktförderungsgesetz) v. 22.2.1990, BGBl. I, 266; die das KAGG betreffenden Änderungen wurden in den Bundestag noch eingebracht als Investment-RichtlinieGesetz, vgl. dazu BT-Drucks. 11/5411. Vgl. die Neufassung des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften v. 14.1.1970, BGBl. I, 127. Vgl. Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften v. 16.4.1957, BGBl. I, 378. Vgl. Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Drittes Finanzmarktförderungsgesetz) v. 24.3.1998, BGBl. I, 529; zur InvGes BT-Drucks. 13/ 8933, S. 126 ff. Vgl. Gesetz zur Änderung des Investmentgesetzes und zur Anpassung anderer Vorschriften (Investmentänderungsgesetz) v. 21.12.2007, BGBl. I, 3089; zur InvAG BTDrucks. 16/5576, S. 85.

Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investment-Drei- und -Viereck

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1. Verwahrstelle § 11 Abs. 7 KAGG20) regelte im Jahr 1957 zunächst die Aktivlegitimation der Verwahrstelle: „Die Depotbank ist berechtigt und verpflichtet, im eigenen Namen […] Ansprüche der Anteilinhaber gegen die Kapitalanlagegesellschaft geltend zu machen […].“

Die sprachlich zu weite Fassung – man konnte denken, die Aktivlegitimation erfasse neben Kollektiv- auch Individualansprüche der Anleger – wurde mit dem InvModG21) präziser gefasst, das Klagerecht auf Ansprüche aus der Verletzung des Gesetzes und der Fondsstatuten beschränkt. 2. KVG Zu einer die KVG betreffenden Regelung sah sich der Gesetzgeber erst durch Art. 9 Abs. 3 der OGAW-I-RL 1985/611/EWG veranlasst. Nach der Richtlinie sollte die Verschuldenshaftung der Verwahrstelle von den Anlegern „unmittelbar oder mittelbar über die Verwaltungsgesellschaft geltend gemacht werden, je nachdem, welche Art von Rechtsbeziehungen zwischen der Verwahrstelle der Verwaltungsgesellschaft und den Anteilinhabern bestehen.“

Der auf das Sondervermögen fokussierte Gesetzgeber entschied sich für eine Kumulationslösung. Gemäß § 12c Abs. 3 KAGG 1990 waren KVG und Anleger nebeneinander aktivlegitimiert.22) Die KVG agiert seither als Prozessstandschafter23) für die (Kollektivansprüche der) Anleger. Die Vor-

20)

21)

22)

23)

Die Regelung war im ursprünglichen Gesetzentwurf der CDU-Fraktion noch nicht enthalten, vgl. Antrag der Abgeordneten Neuburger, Häussler, Scharnberg, Dr. Krone und Fraktion der CDU/CSU, Entwurf eines Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften, 9.7.1955, BT-Drucks. 2/1585. Investmentmodernisierungsgesetz v. 15.12.2003, BGBl. I, 2676, vgl. dazu BT-Drucks. 15/ 1553, S. 85: Die Regelung „ist konkretisiert worden, um die Rechtsgründe, wegen derer der Depotbank eine Klagebefugnis für Ansprüche gegenüber einer Kapitalanlagegesellschaft zusteht. Klargestellt wird damit, dass die Depotbank nicht eine umfassende Überwachungspflicht gegenüber der Kapitalanlagegesellschaft hat, sondern sich die Tätigkeit der Depotbank auf diejenigen Kontroll- und Treuhandaufgaben beschränkt, die sich aus dem Gesetz und den Vertragsbedingungen ergeben.“ Dazu BGH, Urt. v. 18.9.2001 – XI ZR 337/00, ZIP 2001, 1952. Gemäß § 12c Abs. 3 S. 1 KAGG war die KVG „berechtigt und verpflichtet, im eigenen Namen Ansprüche der Anteilinhaber gegen die Depotbank geltend zu machen.“ Dies schließt „die Geltendmachung dieser Ansprüche durch die Anteilinhaber nicht aus.“ Vgl. Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 15.

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schrift entspricht grundsätzlich den heutigen §§ 78 Abs. 2 Satz 1, 89 Abs. 2 Satz 1 KAGB.24) 3. Anleger In § 12c KAGG 1990 wurde erstmals die Aktivlegitimation der Anleger „klargestellt“.25) Eingefügt wurde eine §§ 78 Abs. 1 Satz 2, 89 Abs. 1 Satz 2 KAGB entsprechende Vorschrift: Die Aktivlegitimation der Depotbank schließt die Geltendmachung von Ansprüchen durch Anleger gegen die KVG nicht aus. Bei „Untätigkeit der Depotbank [soll] den Anteilinhabern die Verfolgung ihrer Ansprüche“ möglich sein.26) Zugleich wurde in § 12c Abs. 3 Satz 2 KAGG 1990 „vorsorglich“27) geregelt, dass die Klageberechtigung der KVG gegen die Verwahrstelle „die Geltendmachung dieser Ansprüche durch die Anteilinhaber nicht“ ausschließt. Gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 InvG 2003 kann der Anleger dann trotz Aktivlegitimation der KVG „einen eigenen Schadensersatzanspruch gegen die Depotbank geltend machen.“ Vgl. dazu §§ 78 Abs. 2 Satz 2, 89 Abs. 2 Satz 2 KAGB. Dies sollte den Meinungsstreit um die Aktivlegitimation der Anleger gegenüber der Depotbank beenden, hat aber die Frage neu entfacht, welchen eigenen Anspruch der Anleger so geltend machen kann.28) 4. Strukturelle Effizienz? a) Gegenseitige Kontrolle der Intermediäre? KVG und Verwahrstelle wird die Klageberechtigung aus Gründen der prozeduralen Effizienz eingeräumt. Eine Geltendmachung der Ansprüche durch die Gesamtheit der Anteilinhaber stößt wegen der großen Zahl der Berechtigten auf erhebliche Schwierigkeiten.29) Zudem rufen Rechtsver-

24)

25) 26) 27) 28) 29)

Mit dem Investmentmodernisierungsgesetz v. 15.12.2003, BGBl. I, 2676, wurde die Vorschrift mit der Maßgabe in § 28 Abs. 2 S. 1 InvG übernommen, dass nunmehr statt der Anteilsinhaber Ansprüche „der Anleger“ geltend zu machen sind. Vgl. BT-Drucks. 11/5411, S. 32. Vgl. BT-Drucks. 11/5411, S. 32. Vgl. BT-Drucks. 11/5411, S. 32. Dazu Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 17 (Betonung des „eigen“ nicht bezweckt). Vgl. BT-Drucks. 11/5411, S. 32.

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folgungskosten Passivitätsanreize hervor. Beides rechtfertigt die Bündelung in der Hand eines kundigen, informierten Intermediärs. Dieses investmentrechtliche Kontrollmodell ist keineswegs perfekt. Bei Ansprüchen gegen Dritte wie delegierte Vermögensverwalter oder Fondsinitiatoren hat der Verwalter ein Eigeninteresse am Zusammenhalt des Fondsvermögens, weil er über Erfolgszusagen und volumenbezogene Gebühren davon profitiert. Der bei Verlust des Kunden befürchtete Einnahmeverlust ist im Verhältnis zu dem für die KVG existenzgefährdenden Schadenspotenzial normalerweise gering. Ganz anders bei Verstößen der KVG und Verwahrstelle, solange es gelingt, den Schaden zu verheimlichen: Beide Intermediäre sind in ihrem Elan gehemmt, weil sie zugleich behaupten müssten, gegen ihre eigenen (Kontroll-)Pflichten verstoßen zu haben.30) Die kraft bankrechtlicher Vorgaben wirtschaftlich solide Verwahrstelle muss fürchten, für die Verstöße des finanziell schmalbrüstigen Verwalters in Haftung genommen zu werden. Wenn die KVG die Geltendmachung des Anspruchs gegen die Verwahrstelle pflichtwidrig unterlässt, wird die Verwahrstelle gleichfalls nicht einschreiten.31) Die Situation verschärft sich, wenn – wie häufig – Verwalter und Verwahrer der gleichen Unternehmensgruppe angehören oder sonst wie institutionell voneinander abhängig sind.32) Auf eine angemessene Schadensregulierung dringen dann im Einzelfall schwer zu prognostizierende Reputationsanreize und die (in Deutschland lange Zeit unbegründete) Furcht vor der Finanzmarktaufsicht. Mit realistischem Blick auf die Dinge konstatiert der Jubilar, über die erfolgreiche kollektive Rechtsverfolgung durch KVG und Verwahrstelle sei „nichts bekannt“.33) b) Klagerecht der Anleger? Bei Spezialfonds in der Hand weniger (semi-)professioneller Anleger kommt dem Klagerecht der Anleger eine „gesteigerte Bedeutung“34) zu. 30) 31) 32)

33) 34)

Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 15. Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 15. Vgl. Köndgen/Schmies in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 113 Rz. 129; Schmolke, Die Regelung von Interessenkonflikten im neuen Investmentrecht – Reformvorschläge im Lichte des Regierungsentwurfs zur Änderung des Investmentgesetzes, WM 2007, 1909 f.; Reiss, Pflichten der Kapitalanlagegesellschaft und Depotbank gegenüber dem Anleger, 2006, S. 312 f. Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 3. Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 3.

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Im Übrigen dürfen die Erwartungen nicht überspannt werden. Kleinanleger sind unzureichend informiert, in der Regel nicht organisiert, ihre Schäden sind zudem atomisiert.35) Das Informationsdefizit können kundige Anlegeranwälte nur selten kompensieren. c) Öffentlich-rechtliche Kompensation Der von Johannes Köndgen herausgearbeitete Missstand hat den Gesetzgeber im Jahr 201136) zur Einführung eines öffentlich-rechtlichen Kompensationsmodells für Streuschäden37) aus unzutreffenden Anteilswertberechnungen (sog. „NAV error“) und Anlagegrenzverstößen veranlasst. Gemäß §§ 78 Abs. 3, 89 Abs. 3 KAGB muss die KVG einen Entschädigungsplan erstellen, diesen vom Wirtschaftsprüfer prüfen lassen und darüber die Aufsichtsbehörde informieren. Zugunsten der Schadensregulierung ex lege nimmt der Gesetzgeber die Verwicklung der Aufsichtsbehörde in das „Klein-Klein“ von Anlegerschäden und eine mindere Kooperationsbereitschaft der Intermediäre hin. Leider wurde die Umsetzungsverordnung der BaFin zum Entschädigungsplanverfahren bislang nicht verabschiedet.38) Jedoch wird seit dem Jahr 2002 das im CSSF Circular 02/77 geregelte Planverfahren in Luxemburg erfolgreich praktiziert, welches Pate für das deutsche Planverfahren stehen soll.39) III. Geltungsgründe der Aktivlegitimation im Investment-Dreieck Die Zuweisung der Aktivlegitimation an einen Beteiligten des InvestmentDreiecks lässt sich privatrechtlich oder investmentrechtlich erklären. 35) 36)

37) 38)

39)

Vgl. zum Schweizer Recht van Planta/Bärtschi in: BSK-KAG, 2. Aufl. 2016, Rz. 55 f. Vgl. § 28 Abs. 3 i. d. F. Art. 1 Nr. 28 OGAW-IV-Umsetzungsgesetz (OGAW-IV-UmsG) v. 22.6.2011, BGBl. I, 1126; dazu Begr. RegE zum OGAW-IV-UmsG, BT-Drucks. 17/ 4510, S. 67. Dazu Zimmer/Höft, „Private Enforcement“ im öffentlichen Interesse?, ZGR 2009, 662. Vgl. zum Entwurf einer Anteilwertfehler- und Anlagegrenzverletzungsverordnung Herring in: Baur/Tappen, InvG, Bd. 1, 3. Aufl. 2014, § 78 KAGB Rz. 30 ff.; Klusak in: Weitnauer/Boxberger/Anders, KAGB, 2015, § 78 Rz. 24 ff. Vgl. BT-Drucks. 17/4510, S. 67. Die von der Begr. RegE in Anspruch genommene Vorschrift des Art. 19 Abs. 3 lit. f OGAW-IV-Richtlinie regelt dagegen kein Entschädigungsverfahren; es gebietet nur die Anwendung des Rechts am Ort des OGAW in Bezug auf Entschädigungsverfahren.

Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investment-Drei- und -Viereck

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1. Privatrecht a) Anleger Die Aktivlegitimation der Anleger ist in Deutschland, Italien, Frankreich und Luxemburg schuldrechtlich begründet, weil Anleger Partei eines gesetzlichen40) oder vertraglichen41) Schuldverhältnisses mit dem Verwalter und Verwahrer sind. Ebenfalls aktivlegitimiert sind beneficiaries eines anglo-amerikanischen Unit Trusts nach dem einschlägigen Common Law,42) wenn zwischen dem Anleger und Verwalter respektive Verwahrstelle als trustee keine weitere rechtsfähige Einheit steht und der trustee den Anlegern treupflichtig ist. Die Aktivlegitimation der Anleger lässt sich des Weiteren (z. B.) für den französischen und luxemburgischen FCP, den schweizerischen Anlagefonds und das englische authorised contractual scheme (ACS) in der coownership Variante43) aus der dinglichen Zuordnung ableiten. Dies gilt in Deutschland jedoch nur für Sondervermögen nach dem sog. Miteigentumsmodell gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 KAGB.44) Das Individualklagerecht der Anleger luxemburgischer FCPs steht unter dem Vorbehalt einer dreimonatigen Untätigkeit der KVG nach entsprechender Aufforderung durch die Anleger.45)

40) 41) 42)

43) 44)

45)

BT-Drucks. 15/1553, S. 85 (für Verhältnis Anleger – Verwahrstelle). Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 510 f. Vgl. für England R. Pennington, Investor and the Law, 1968, S. 241; für USA Fogelin v. Nordblom, 521 N.E.2d 1007, 1011 (Mass. 1988); J. Dukeminier/R. H. Sitkoff/ J. Lindgren, Wills, Trusts, and Estates, 8th ed. 2009, 556 (“In managing the portfolio, [the trustee] is subject to a fiduciary obligation to” the investors in the mutual fund); J. H. Langbein, The Secret Life of the Trust: The Trust as an Instrument of Commerce, 107 Yale L.J. 165, 166 (1997); für die responsible entity des australischen Unit Trusts P. Hanrahan/I. Ramsey, Australian Regulation of Mutual Funds, in: W. A. Birdthistle/J. Morley (Eds.), Research Handbook on Mutual Funds (forthcoming 2017), sub II. Der ACS kann auch als Limited Partnership ausgestaltet sein. Die Bezeichnung als „Miteigentum“ geht fehl, näher Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 569 ff. (m. w. N. zur analogen Diskussion um das copropriété der Fondsanteilseigner im französischen und luxemburgischen Zivilrecht). Vgl. Art. 19 Abs. 2 Satz 2 OGA/OGAW-G 2010 und Art. 19 Abs. 15 Satz 2 AIFM-G 2013.

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b) Verwahrstelle Die Aktivlegitimation der Verwahrstelle lässt sich aus dem Fremdbesitz an Wertpapieren46) und bei Bankguthaben aus der Zuordnung der liquiden Mittel ableiten. Im Übrigen variiert die Zuordnung der Rechte an den Anlagegegenständen. So folgt die Aktivlegitimation der Verwahrstelle in England aus der formalen Eigentümerstellung als trustee;47) im Ergebnis vergleichbar, werden die Vermögensgegenstände nach niederländischem Recht traditionell auf eine Besitzgesellschaft als Verwahrstelle übertragen. Diese Möglichkeit ist beim deutschen Treuhand- und Miteigentumsmodell versperrt. c) Verwalter Die Aktivlegitimation des Verwalters lässt sich nur in bestimmten Fällen mit der Zuordnung der Vermögensgegenstände rechtfertigen, so etwa beim deutschen Treuhandmodell (§ 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 KAGB), bei der liechtensteinischen Kollektivtreuhänderschaft, wo der Verwalter die Vermögensgegenstände treuhänderisch innehat (Art. 8 Abs. 2 AIFMG, Art. 6 Abs. 2 UCITSG), oder nach australischem Recht, wo die responsible entity zugleich Verwalter und Inhaber der Vermögensgegenstände sein darf (gelegentlich werden aber custodians mit der Verwahrung beauftragt).48) Aus der Vertragsbeziehung zwischen Verwalter und Verwahrer lässt sich die Aktivlegitimation des Verwalters grundsätzlich nicht ableiten, folgt daraus doch regelmäßig nur das Recht, einen eigenen Schaden geltend zu machen. Abweichendes bestimmt das niederländische Recht. Dort müssen sich die Intermediäre ein wechselseitiges Klagerecht zugunsten der Anleger vertraglich einräumen.

46) 47)

48)

I. R. der Girosammelverwahrung gemäß §§ 5 Abs. 1, 9a DepotG. Vgl. R. Pennington, Investor and the Law, 1968, S. 222, 239 f.; für den australischen „custodian“, der von der responsible entity ernannt wird, auch ASIC, Regulatory Guide 133: Managed investments and custodial and depository services: holding assets, November 2013. Vgl. P. Hanrahan/I. Ramsey in: W. A. Birdthistle/J. Morley (Eds.), Research Handbook on Mutual Funds (forthcoming 2017), sub IV; ASIC, Regulatory Guide 133: Managed investments and custodial and depository services: holding assets, November 2013.

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2. Investmentrecht Erklärt sich die Aktivlegitimation im Investment-Dreieck somit nur teilweise mit der privatrechtlichen Zuordnung – die Anleger beim Treuhandmodell und die KVG beim Miteigentumsmodell dürften nach den Wertungen des Schuld- und Sachenrechts nicht aktivlegitimiert sein –, ist die privatrechtliche um eine investmentrechtliche Perspektive zu ergänzen. a) Annexkompetenz zur Portfolioverwaltung Pflichtaufgaben des Verwalters sind (jedenfalls) das Portfolio- und Risikomanagement.49) Eine der beiden Tätigkeiten ist selbst zu erbringen (vgl. §§ 17 Abs. 1 Satz 2, 23 Nr. 9 KAGB). Wird die andere ausgelagert, bleibt die Verantwortung bei der KVG (§ 36 Abs. 4 KAGB). Die Summe aus Portfolio- und Risikomanagement unterscheidet sich von der kollektiven Vermögensverwaltung, die auch die Administration, den Vertrieb und Aktivitäten mit Bezug zu Vermögensgegenständen beinhaltet, § 23 Nr. 9 KAGB. Eine investmentrechtliche Definition der Portfolioverwaltung sucht man vergeblich.50) Gemeint ist eine Wertoptimierung durch wirtschaftliche Vermögensverwaltung.51) Dabei muss die KVG die Vermögensgegenstände des Fonds bestmöglich im Anlegerinteresse einsetzen (§ 26 Abs. 2 Nr. 2 KAGB). Schadensersatzforderungen sind – ebenso wie andere Forderungen z. B. aus Derivaten – Vermögensgegenstände des Fonds. Der sachgemäße Umgang kann das Fondsvermögen mehren, sachwidriges Verhalten dieses schmälern. Die definitorische Lücke ist deshalb so zu schließen, dass die Portfolioverwaltung den Umgang mit Vermögensgegenständen des Fonds umfasst. Sie geht damit über die Anlageentscheidung im engeren Sinn (Erwerben/Halten/Veräußern) hinaus und erfasst alle Verfügungen über Vermögensgegenstände des Fonds, wie der in einem Vergleich enthaltene Teilverzicht. Die Portfolioverwaltung ist abzugrenzen von der Administration (Beispiele: Bewertung, Zulassungsanträge und Durchsetzung von 49) 50) 51)

Vgl. Anhang II. 1. AIFM-RL; Anhang II., 1. SpStr. OGAW-RL. Auf den Grundsatzstreit um die Mindestaufgaben der KVG wird hier nicht eingegangen. Eine Orientierung an der Finanzportfolioverwaltung gemäß § 1 Abs. 1a Nr. 3 KWG bzw. § 2 Abs. 3 Nr. 7 WpHG hilft nicht, auch dort bleibt offen, was zur Verwaltung zählt. Vgl. Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 93 f.

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Verhaltens- und Organisationspflichten/Compliance), dem Vertrieb und Maßnahmen, die den einzelnen Vermögensgegenständen direkt zugutekommen, wie das Facility Management und die M&A-Beratung. Die Aktivlegitimation des Verwalters ist dann Annexkompetenz zur Portfolioverwaltung: Wird dem Fondsvermögen ein Schaden zugefügt, ist die Ersatzforderung ein Vermögensgegenstand, über dessen bestmögliche Nutzung der Verwalter entscheidet. Die KVG benötigt somit keinerlei statutarische Ermächtigung zur Geltendmachung von Kollektivansprüchen gegen die Verwahrstelle, sie obliegt der KVG als Teil der Portfolioverwaltung. Mit diesem Ansatz lassen sich die §§ 78 Abs. 2, 89 Abs. 2 KAGB lückenlos erklären. Mit ihm gut vereinbar ist auch die im europäischen Ausland häufig anzutreffende Aktivlegitimation des Verwalters (AIFM, UCITS ManCo) zur Geltendmachung von Forderungen aus Schädigungen des Fondsvermögens. Das von Art. 21 Abs. 15 AIFM-RL und früher Art. 9 Abs. 1 OGAW-I-RL eingeräumte Wahlrecht52) führt i. d. R. auch zur Aktivlegitimation des Verwalters, so z. B. nach niederländischem, luxemburgischem und italienischem Recht.53) Die Schweizer Fondsleitung hat gemäß Art. 30 lit. d CH-KAG „alle zum Anlagefonds gehörenden Rechte geltend zu machen.“ Die gleiche Zuständigkeit trifft die responsible entity des australischen Rechts.54)

52)

53)

54)

Danach können „in Abhängigkeit von der Art der Rechtsbeziehungen“ die Anleger oder der AIFM oder wie im Fall des § 89 Abs. 2 KAGB (vgl. BT-Drucks. 17/12294, S. 231, 235) beide zusammen Ansprüche gegen die Verwahrstelle geltend machen. Vgl. für Luxemburg Art. 19 Abs. 2 Satz 1 OGA/OGAW-G 2010 und Art. 19 Abs. 15 Satz 1 AIFM-G 2013. Für die Niederlande vgl. Art. 21 AIFMD-Gesetz. Für Italien vgl. das Urteil des Tribunale Milano, May 11th 2015 – Cape Naxitis Sgr, Opera Sgr contro S. C. e altri, Le Società 10/2015, 1132 ff. m. Anm. von Giudici, Le Società 10/2015, 1141 f. Vgl. P. Hanrahan/I. Ramsey in: W. A. Birdthistle/J. Morley (Eds.), Research Handbook on Mutual Funds (forthcoming 2017), sub VI C („There are various circumstances in which a responsible entity is permitted or required to bring proceedings for the benefit of fund members against former responsible entities or others whose actions have harmed the interests of fund members. For example, a responsible entity has standing to pursue a remedy for breach of the civil penalty provisions (including sections 601FC and 601FD, discussed in Part III above), under section 1317J(2) and section 1317H if the Corporations Act. Amounts recovered are held by the responsible entity as trustee for the members at the time of recovery.“).

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b) Annexkompetenz zur Kontrollfunktion Der Verwahrstelle obliegt eine konservierende, auf Zusammenhaltung der Vermögensgegenstände angelegte Funktion, die sich aus der Verwahrung (custody) und der nur im europäischen Fondsrecht ausgeprägten55) Rechtmäßigkeitskontrolle der KVG zusammensetzt.56) Die Aktivlegitimation der Depotbank ist dann Ausprägung der investmentrechtlichen Kontrollpflichten.57) Diese Ansicht wird aus rechtsvergleichendem Blickwinkel nur in manchen Ländern geteilt: Nach Umsetzung der AIFM-RL muss die niederländische Verwahrstelle Vertragspartei sein und eine Drittbegünstigungsklausel zugunsten der Anleger in den Verwahrstellenvertrag aufnehmen.58) Ob daraus ein Klagerecht zugunsten von Kollektivansprüchen folgt, ist noch nicht geklärt. Statt einer Aktivlegitimation im Zivilprozess etablieren viele Rechtsordnungen ein aufsichtsrechtliches Konzept zur Rechtsdurchsetzung (public enforcement). Verweigert sich ein Fondsverwalter den Wünschen der Verwahrstelle, ist eine Meldung an die Aufsichtsbehörde geboten, die das zur Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands Nötige veranlassen soll.59)

55)

56)

57)

58) 59)

Keine Kontrollfunktion hat der custodian insbesondere nach US-amerikanischem und australischem Investmentrecht. Vgl. für Australien P. Hanrahan/I. Ramsey in: W. A. Birdthistle/J. Morley (Eds.), Research Handbook on Mutual Funds (forthcoming 2016), sub IV. Vgl. zu den Verwahrstellenaufgaben S. Hooghiemstra in: Zetzsche, AIFMD, 2nd. ed. 2015, S. 494 f., 503 ff.; Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 524 f., 674 f. Vgl. den Bericht des Bundestagsabgeordneten Neubürger zu den Beratungsergebnissen der beteiligten Ausschüsse vor der abschließenden Beratung im Deutschen Bundestag, BT-Drucks. 2/2973: „Da auch die Ausgabe und Rücknahme der Anteilscheine über die Depotbank erfolgt, kann und soll sie überwachen und sicherstellen, daß die Gegenwerte für die auf Weisung der Kapitalanlagegesellschaft durchgeführten Geschäfte stets wieder in die gesperrten Konten bzw. Depots des Sondervermögens gelangen (§ 10 Abs. 5).“ Näher Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 679. Näher S. Hooghiemstra, De AIFM-richtlijn en de aansprakelijkheid van de bewaarder, TvFR 2013, 178, 180. Vgl. für das Schweizer Recht Winzeler in: BSK-KAG, 2. Aufl. 2016, Art. 73 Rz. 18; so sollen ebenso englische und irische Trustrecht verfahren, vgl. Oxera, The role of custody in European asset management, 2002, S. 25.

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c) Wirtschaftliches Interesse Die in §§ 79, 89 KAGB eingeräumte Aktivlegitimation der Anleger beruht auf deren wirtschaftlichen Interessen und räumt so den von Verlusten Betroffenen ein von vertraglichen Dispositionen der Intermediäre unabhängiges Klagerecht ein. Weitgehend gewähren Art. 145 Abs. 1 CH-KAG60) sowie das australische Recht61) die Aktivlegitimation. In der Aktivlegitimation von Privatpersonen62) gemäß s. 138D des englischen Financial Services and Markets Act (FSMA) für die Verletzung gesetzlicher Pflichten63) spiegelt sich die investmentrechtliche Perspektive einer unterschiedlichen Verhandlungsstärke und Expertise privater und institutioneller Anleger wider. Genuin investmentrechtlich ist schließlich die rechtsformunabhängige Aktivlegitimation der Anleger in luxemburgischen Fonds (nach dreimonatiger Untätigkeit des Verwalters).64) IV. Besonderheiten des Investment-Vierecks 1. InvGes als vierte Beteiligte Im Investment-Viereck tritt die InvGes als vierte Beteiligte zwischen die Anleger einerseits, die KVG und Verwahrstelle andererseits. Dies manifestiert sich in vier Variationen. 1.

Zuordnung der Vermögensgegenstände: Das Fondsvermögen ist der InvGes zugeordnet; es handelt sich um Teilgesellschaftsvermögen der InvGes. Die Anleger sind nur wirtschaftlich, KVGs gar nicht dinglich berechtigt.

2.

Person der Vertragspartner: Verwahrer und Verwalter schließen in der Regel mit der InvGes den Vermögensverwaltungs- und Administrationsvertrag respektive den Verwahrstellenvertrag; ein Vertragsschluss

60)

Vgl. zu dieser Verantwortlichkeitsklage und ihrer Ergänzung um andere Anspruchsgrundlagen Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 789. Vgl. s. 601 MA („responsible entity“) und s. 1325 („any person“) des Corporations Act 2011 betr. Verletzungen der in Ch. 5C des Corporations Act geregelten Pflichten; vgl. dazu P. Hanrahan/I. Ramsey in: W. A. Birdthistle/J. Morley (Eds.), Research Handbook on Mutual Funds (forthcoming 2017), S. 19 f. Vgl. dazu die The Financial Services and Markets Act 2000 (Rights of Action) Regulations 2001 (SI 2001/2256). Gemäß Sch 5 COLL des FCA-Handbuchs sind alle Vorschriften des COLL-Regelwerks durch Privatpersonen „actionable“. Vgl. Art. 19 Satz 3 OGA/OGAW-G 2010 und Art. 19 Abs. 15 Satz 2 AIFM-G 2013.

61)

62) 63) 64)

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mit dem Verwalter im Namen der InvGes ist auch gelegentlich anzutreffen. Der Anleger ist keinesfalls Vertragspartei. 3.

Art der Beteiligung: Die Anleger werden infolge der Zeichnung Gesellschafter. Ihnen stehen neben den finanziellen Rechten ggf. Einflussrechte zu.

4.

Verfassung des Anlegerkollektivs: Die InvGes verfügt über eigene Geschäftsführungs- und Vertretungsorgane (Vorstand respektive Komplementär). Diese können für alle Anleger handeln. 2. Aktivlegitimation der Anleger?

Keine der Divergenzen zum Sondervermögen rechtfertigt allein einen Ausschluss der Anleger von der Aktivlegitimation: Dass eine anlegerfremde Person Verträge mit Wirkung für die Anleger schließt, ist vom Verwahrstellenvertrag im Investment-Dreieck bekannt. Die dingliche Rechtsinhaberschaft der Anleger ist beim Treuhandmodell ebenfalls nicht gegeben. Die Bezeichnung als Gesellschafter oder Vertragspartner ist eine terminologische Frage, der Gesellschaftsvertrag ist ebenfalls (mehrseitiger) Vertrag. Ein eigenes Geschäftsführungs- und Vertretungsorgan schließt, wie §§ 78 Abs. 2, 89 Abs. 2 KAGB belegen, die Aktivlegitimation der Anleger nicht aus. Gegen ein Klagerecht der Anlage-Gesellschafter spricht indessen die gesellschaftsrechtliche Organisationsverfassung. Folglich stellen sich zwei Regelungsalternativen: Einerseits könnte man an der investmentrechtlichen Grundordnung festhalten, wonach der KVG vermögensrelevante Entscheidungen und der Verwahrstelle Schutzaufgaben obliegen, während die Anleger ihre wirtschaftlichen Interessen verfolgen dürfen. Anderseits kann man gemäß der gesellschaftsrechtlichen Binnenordnung nur die Gesellschaftsorgane gegenüber KVG und Verwahrstelle für aktivlegitimiert halten; denn geltend gemacht wird eine Schädigung des Gesellschaftsvermögens. Für beide Ansätze lassen sich Beispiele anführen. Das investmentrechtliche Konzept findet sich z. B. in Art. 145 Abs. 1 CH-KAG. Ebenso wie im deutschen Recht kann der Anlage-Gesellschafter gegen die Fondsleitung, die Depotbank und die InvGes (SICAV, SICAF und KGK) klagen. Gemäß Art. 24 UCITSG und Art. 47 AIFMG muss der Verwalter eines liechtensteinischen Fonds den Anlegern für die wichtigsten Organisationsund Verhaltensregeln direkt einstehen. Dagegen folgen das luxemburgische und italienische Recht der gesellschaftsrechtlichen Organisationsver-

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fassung. So lehnte etwa der luxemburgische Cour de Cassation ein Klagerecht eines Anleger-Gesellschafters einer OGAW-SICAV gegen die Verwahrstelle ab, weil der Anleger Aktionär der InvGes und nicht Vertragspartner von Verwahrer und Verwalter sei.65) Infolge dieser Grundentscheidung können Anleger nur bei Zustimmung der Gesellschaftsorgane oder mittels der in den meisten Staaten an hohe Hürden geknüpften actio pro socio eine Anspruchsverfolgung erreichen. So ist in Luxemburg ein Hauptversammlungsbeschluss, in Italien eine 20 %-Beteiligung erforderlich. In manchen Rechtsordnungen sind jedoch Aufweichungstendenzen zu vermerken. So hat der englische High Court im Jahr 1994 eine Geltendmachung von Ansprüchen über die Vertragsketten hinweg durch Anerkennung einer tort-rechtlichen „assumption of responsibility“ gerechtfertigt.66) Das Urteil gewährte Unterbeteiligten eines Loyds-Haftungssyndikats Ansprüche direkt gegen einen Risikoagenten, der nur mit dem Syndikatsführer vertraglich verbunden war. Durch die assumption of responsibilityDoktrin könnte mit den Methoden des Common Law67) eine Haftung des Verwalters trotz zwischengeschalteter Korporation begründet werden, zumal sich der Schaden nicht bei der Gesellschaft, sondern in den Teilgesellschaftsvermögen realisiert. Trotz restriktiver Grundtendenz des US-amerikanischen Fallrechts68) weist das Urteil des Berufungsgerichts des 9th Circuit im US-amerikanischen

65)

66) 67) 68)

Dies diesbezügliche Regelung in Art. 35 OGA/OGAW-G 2010 ließ diese Frage entgegen Art. 19 OGA/OGAW-G 2010 offen. Vgl. dazu Tribunal d’arrondissement, 4 mars 2010, nos 125207, 125312 und 125653; Cour d’appel, Urt. v. 30.11.2011 – Entsch. Nr. 36253; dazu V. Naveaux/R. Graas, Direct action by investors against a UCITS depositary – a short-lived landmark ruling?, (2012) 7 Capital Markets Law Journal 455; V. Naveaux/R. Graas, Investors in a UCITS organised as a SICAV and formed as a public limited liability company have no direct redress against depositary bank: A discrepancy or a justifiable legal distinction?, Eur. Fin. Lit. Rev., May/June 2012; F. Fayot/ C.Martins Costa, Annales du droit luxembourgeois, Volume 21, 2011, Chroniques, Droit des sociétés (2006 – 2012), S. 236 ff.; N. Thieltgen/A. Ka, Chronique de jurisprudence de droit bancaire luxembourgeois (Mars 2011–Mars 2012), S. 85 ff. Die OGAWV-Umsetzung lässt diese Regelung für AIFM unverändert, vgl. Art. 19 Abs. 15 AIFM-G i. d. F. des Projet de loi n° 6845 (OGAW-V-Umsetzung). Dazu Riassetto, La clarification des obligations et de la responsabilité des dépositaires par la directive OPCVM V, Revue Lamy Droit des Affaires 3/2014; Riassetto, Le nouveau régime applicable aux dépositaires issu de la directive OPCVM V, Bulletin Joly Bourse 3/2015. Henderson v Merrett Syndicates Ltd [1994] UKHL 5. Das Common Law gilt parallel zur englischen Fondsregulierung. Vgl. die Einzelbelege bei Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 790 f.

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693

Fall Northstar vs. Schwab69) in die gleiche Richtung. Das Gericht, das eine Anlagegrenzverletzung der Fondsgesellschaft (investment adviser) zu bewerten hatte, hielt den Vermögensverwaltungs- und Administrationsvertrag zwischen der Investment Company, die als Business Trust konstituiert war, und der Fondsgesellschaft für einen Vertrag mit Drittwirkung zugunsten der Anleger als third-party beneficiaries. Infolgedessen musste keine (wegen des dazwischentretenden Ermessens des boards der investment company) wenig aussichtsreiche Klage im Namen des Trust (derivative suit) erhoben werden. Anleger konnten vertragliche Ansprüche direkt gegen die Fondsgesellschaft geltend machen.70) Der Fall betraf einen Massachusetts Business Trust; das Gericht betont die Drittorientierung des Trustrechts und die vertragsrechtlichen (statt trustrechtlichen) Wurzeln des mutual funds in Trustform,71) hebt aber hervor, dass bei Konstitution des Fonds als corporation die gleiche Entscheidung geboten sei.72) 3. OGAW-V-Richtlinie Begrenzt auf Ansprüche gegen die OGAW-Verwahrstelle trifft eine Aktivlegitimation der Anleger auf Zustimmung des europäischen Gesetzgebers. Gemäß Art. 24 Abs. 5 OGAW-V-RL73) können Anteilinhaber des OGAW die Haftung der Verwahrstelle „unmittelbar oder mittelbar über die Verwaltungsgesellschaft oder die Investmentgesellschaft geltend ma69)

70)

71) 72) 73)

Vgl. US Court of Appeals for the 9th Circuit, Northstar Financial Advisors Inc. vs. Schwab Investments, Case No. 11-17187, D.C. No. 5:08-cv-4119-LHK, insb. S. 56 ff.; der US Supreme Court hat die Revision abgelehnt. Zur Vorinstanz vgl. Northstar Fin. Advisors, Inc. v. Schwab Invs., 807 F. Supp. 2d 871, 876–84 (N.D. Cal. 2011). Als weiterer interessanter Aspekt des Northstar-Falls ist die Klagebefugnis von Northstar anzusehen; das Gericht sprach damit einem Vermögensverwalter das Recht zu, im Namen der von ihm repräsentierten Anleger zu klagen. Dagegen richtet sich die abweichende Meinung von Bea, US Court of Appeals for the 9th Circuit, Northstar Financial Advisors Inc. vs. Schwab Investments, Case No. 11-17187, D.C. No. 5:08-cv4119-LHK, S. 62 ff. US Court of Appeals for the 9th Circuit, Northstar Financial Advisors Inc. vs. Schwab Investments, Case No. 11-17187, D.C. No. 5:08-cv-4119-LHK, S. 7 ff., 43 ff. US Court of Appeals for the 9th Circuit, Northstar Financial Advisors Inc. vs. Schwab Investments, Case No. 11-17187, D.C. No. 5:08-cv-4119-LHK, S. 47 ff. Richtlinie 2014/91/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.2014 zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) im Hinblick auf die Aufgaben der Verwahrstelle, die Vergütungspolitik und Sanktionen, Abl. (EU) Nr. L 257/186. Siehe dazu Riassetto, Dépositaires – Quelles différences entre la directive OPCVM V et la directive AIFM? Revue de Droit Bancaire et Financier 4/2015.

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chen“, wenn dies weder zur Verdopplung von Regressansprüchen noch zur Ungleichbehandlung der Anteilsinhaber führt. Wie aus dem Vergleich mit der rechtsformorientierten Vorgängerregelung folgt, kann der Anleger nunmehr allein, über die KVG oder die AnlageKörperschaft auf Ersatz klagen. Das bislang den Mitgliedstaaten zugewiesene Wahlrecht wird auf den Anleger übertragen. Gemäß Erw. 28 OGAW-VRL soll die Geltendmachung weder „von der Rechtsform des OGAW (Unternehmensform oder Vertragsform) noch von der Art der Rechtsbeziehung zwischen Verwahrstelle, Verwaltungsgesellschaft und Anteilinhabern abhängen“.

Die im Investment-Viereck zwischen Anleger und Vermögensgegenstand stehende Körperschaft ist für Zwecke der Anspruchsgeltendmachung hinwegzudenken. Art. 24 Abs. 5 OGAW-V-RL bedeutet eine Hinwendung zum investmentrechtlichen Konzept. Der Ersatzanspruch ist durch das fondsrechtliche Kardinalprinzip der Anlegergleichbehandlung und das schadensrechtliche Bereicherungsverbot (ni perte, ni profit), d. h. die doppelte Geltendmachung desselben Schadens begrenzt. Das Verbot der Geltendmachung des Reflexschadens wirkt sich aufgrund der Zuweisung der Aktivlegitimation freilich materiell-, nicht prozessrechtlich aus: Der Anleger darf denselben Schaden auf verschiedene Arten geltend machen, wohl weil er nur so die KVG dazu anhält, ihm zuvor zu kommen; am Ende darf er den Schadensersatz aber nur einmal erhalten. Die Umsetzung dürfte für die InvGes keine Klarheit bringen. Beabsichtigt ist die Rückbesinnung auf den Wortlaut des § 12c Abs. 3 Satz 2 KAGG 1990;74) der missverständliche Hinweis auf den „eigenen“ Anspruch des Anlegers gegen die Verwahrstelle entfällt. Damit bleibt es – nunmehr mit europarechtlicher Freizeichnung – bei der Konkurrenz der Aktivlegitimation von Anleger und Intermediär (Verwahrer, Verwalter). Diese Konkurrenz ist nach der h. L.75) durch Beschränkung der Klage auf Leistung des Ersatzes in das Fondsvermögens aufzulösen. Dass dafür dem Fonds wider die Dogmatik des Sondervermögens Teilrechtsfähigkeit

74) 75)

„Satz 1 schließt die Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Verwahrstelle durch die Anleger nicht aus.“ Vgl. dazu BT-Drucks. 18/6744, S. 56 f. Alfes in: Emde/Dornseifer/Dreibus/Hölscher, InvG, 2013, § 28 Rz. 34; Reiss, Pflichten der Kapitalanlagegesellschaft und Depotbank gegenüber dem Anleger, 2006, S. 279 ff. m. w. N.

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attestiert wird, hat den Protest des Jubilars hervorgerufen.76) Diese Kritik verliert an Überzeugungskraft, wenn der Fonds als InvGes Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Auch bei der (offenen) InvGes müssen die Schäden jedoch zeitlich separiert und korrekt zugeordnet werden, weil die Anleger im Zeitpunkt t0 nicht dieselben wie im Zeitpunkt t1 sind. Dies misslingt bei der mit einer Kollektivverfassung typischen Sammlung „im großen Topf;“ die nachträgliche Auseinanderrechnung belastet ausgeschiedene Anleger mit Wertminderungsrisiken und einem potentiellen Gläubigerzugriff. Näher liegt nach Orientierung am investmentrechtlichen Schuldverhältnis eine Aufteilung gemäß §§ 420, 432 BGB: Bei unteilbaren Leistungen (z. B. nachzuholende Handlung) ist diese an alle Anleger zugleich (d. h. „den Fonds“) zu erbringen. Teilbare (Geld-)Leistungen sind sofort an die zum Zeitpunkt der Schädigung partizipierenden Anleger auszuschütten, ein Zwischenerwerb des Fonds (und seiner Gläubiger) findet nicht statt.77) V. Aktivlegitimation im Investment-Viereck Die europarechtliche Freizeichnung gemäß Art. 24 Abs. 5 OGAW-RL ersetzt nicht die vom Jubilar geforderte dogmatische Durchdringung des Investmentrechts. Zugleich erhofft man sich Hinweise zu den Kompetenzen der Organe der InvGes. Wurde die Regelung im Dreieck auf privat- und investmentrechtliche Gründe zurückgeführt, bietet dies einen tauglichen Untersuchungsansatz auch im Viereck. 1. Privatrechtlicher Geltungsgrund a) Gesellschaftsrechtliches Schutzkonzept? Unter konsequenter Anwendung des Gesellschaftsrechts hält eine Ansicht die Aktivlegitimation des Vorstands respektive Komplementärs oder geschäftsführenden Kommanditisten für Ersatzansprüche der InvAG gemäß § 280 Abs. 1 BGB wegen schuldhafter Verletzung des Fremdverwal-

76) 77)

Köndgen/Schmies in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 113 Rz. 139; Köndgen in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 28 InvG Rz. 17. Näher Zetzsche, Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, S. 795 ff.

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tungsvertrags für unstreitig.78) Begründungsbedürftig bleibt bei dieser gesellschaftsrechtlichen Lösung das Klagerecht der Anleger gegen die Depotbank. b) Schuldverhältnisse zugunsten Dritter Dafür können die investmentrechtlich gegenüber den Anlegern bestehenden Rechtspflichten der Intermediäre fruchtbar gemacht werden, etwa die Pflicht der KVG gemäß § 27 Abs. 2 KAGB, Fonds und Anleger bei Interessenkonflikten vor Schaden zu bewahren. Die Umschreibung dieser und ähnlicher Rechtspflichten als gesetzliches Schuldverhältnis79) trägt zur dogmatischen Schärfe nichts bei. Zudem versagt die Erklärung bei der Erfassung vertraglicher Modifikationen, etwa für konkret vereinbarte Anlagegrenzen, Bewertungsverfahren und Vergütungsmodelle. Überzeugender ist die – auch vom Jubilar grundsätzlich präferierte – vertragsrechtliche Erklärung auch für die InvGes. Ein Teil des Schrifttums80) ordnet die Verwaltungs- und Verwahrverträge bereits als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ein, übersieht dabei aber das originäre Leistungsinteresse der Anleger. Der Verwaltungs- und Verwahrungsvertrag ist deshalb – analog zum Massachusetts Business Trust im Fall Northstar und zur neuen niederländischen Regelung, wonach der Verwahrstel78)

79)

80)

Fischer/Steck in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 96 InvG Rz. 35; N. Campbell/H. Müchler, ILF Working Paper 101 (2009), S. 8, 18 Fn. 73; wohl auch, ohne Diskussion der §§ 78, 89 KAGB, die h. L.: Casper, Die Investmentkommanditgesellschaft: große Schwester der Publikums-KG oder Kuckuckskind?, ZHR 179 (2015), 44, 60 ff. (für gesellschaftsrechtliche Lösung); ähnlich Casper in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2015, § 161 Rz. 267, 278; München in: Baur/Tappen, InvG, Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 112 KAGB Rz. 3 (Rechte und Pflichten der Organe der InvAG werden nicht berührt); Lorenz in: Weitnauer/Boxberger/Anders, KAGB, 2014, § 112 KAGB Rz. 4 (KVG ohne allgemeine Vertretungsbefugnis, Organe der InvAG mit Kontrollfunktion); Paul in: Weitnauer/ Boxberger/Anders, KAGB, 2014, § 154 KAGB Rz. 7 ff. (InvKG mit Letztentscheidungskompetenz); a. A. (für wenig Kompetenz der InvGes und ihrer Organe bei verdrängender Zuständigkeit der KVG) BaFin, Häufige Fragen zum Thema Auslagerung gemäß § 36 KAGB, Stand: 2.5.2014, Frage 1 und 2; zust. Hüwel in: Baur/Tappen, InvG, Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 129 KAGB Rz. 3 ff. So die wohl h. L., vgl. N. Campbell/H. Müchler, ILF Working Paper 101 (2009), S. 9 f.; Wallach, Die Investmentaktiengesellschaft mit veränderlichem Kapital im Gewand des Investmentänderungsgesetzes 2007, Der Konzern 2007, 487, 493; Dornseifer, Die Neugestaltung der Investmentaktiengesellschaft durch das Investmentänderungsgesetz, AG 2008, 53, 59 Fn. 38; Fischer/Steck in: Berger/Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 96 InvG Rz. 37. So Wallach, Der Konzern 2007, 487, 494; Dornseifer, AG 2008, 53, 59 Fn. 38; a. A. N. Campbell/H. Müchler, ILF Working Paper 101 (2009), S. 9 f.; Fischer/Steck in: Berger/ Steck/Lübbehüsen, InvG/InvStG, 2010, § 96 InvG Rz. 37.

Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investment-Drei- und -Viereck

697

lenvertrag eine Berechtigung der Anleger als Dritte einräumen muss – ein Vertrag zugunsten Dritter. Daraus können Anleger gegen Verwalter und Verwahrer Ansprüche geltend machen; die InvGes (gleich welcher Rechtsform) ist gleichsam hinweg zu denken. 2. Investmentrecht: Dreifache Aktivlegitimation oder Sperrwirkung der Funktionszuweisung? Gemäß §§ 78, 89 KAGB können Fondsanleger und die KVG, respektive Verwahrstelle, als gesetzlicher Prozessstandschafter Klage erheben. Gilt daneben die gesellschaftsrechtliche Organisationsverfassung, treten die Organe der InvGes hinzu, so dass –

die Anleger,



Verwahrer oder Verwalter und



die Organe der InvGes für denselben Schaden aktivlegitimiert sind.81)

Dies könnte man für eine Verbesserung des Zustands halten, weil eine weitere, mit den Details vertraute und zwecks Haftungsvermeidung interessierte Partei zu den passiven Anlegern und befangenen Intermediären hinzutritt. Die besseren Gründe sprechen indes gegen die dreifache Aktivlegitimation. 1.

Der Wortlaut der §§ 78, 89 KAGB und die Gesetzesmaterialien erwähnen – soweit heute ersichtlich: auch nach Umsetzung der OGAWV-RL – die Organe der InvGes mit keiner Silbe.

2.

Investmentrechtlicher Geltungsgrund der Aktivlegitimation sind die Verwaltung durch die KVG und die Kontrolle durch die Verwahrstelle. Dies bestätigen §§ 112 Abs. 1 Satz 2, 144 Satz 2 KAGB, wonach die KVG bei der Fremdverwaltung neben der „allgemeinen Verwaltungstätigkeit“ die „Anlage und Verwaltung der Mittel“ durchzuführen hat.82) Zwar obliegt den Organen der InvGes eine allgemeine Kontrollpflicht, jedoch fehlt den Organen der fremdverwalteten InvGes die Kontrollpflicht gerade in Bezug auf die Anlagegegenstände. Die Verantwortung für die Verwaltung und Verwahrung würde bei Einmischung der Gesellschaftsorgane verwässert.

3.

Der deutsche Gesetzgeber hat sich zur Schließung der von Johannes Köndgen aufgezeigten Effizienzlücken für ein öffentlich-rechtliches

81) 82)

Vgl. dafür die Nachweise in Fn. 78. Die im Übrigen gleichlautenden §§ 144 Satz 2, 154 Abs. 1 Satz 2 KAGB verzichten auf den Bezug zur „allgemeinen Verwaltungstätigkeit“.

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Konzept entschieden. Eine Aktivlegitimation der Organe der InvGes verspricht demgegenüber keinen Effizienzgewinn: Die Organmitglieder werden teils aus den Initiatoren des Fonds, teils aus dem Umfeld von Verwalter und Verwahrer gewählt. Dass diese Einschätzung vom Gesetzgeber geteilt wird, bestätigt ein Blick auf die Details des Entschädigungsplans. Dieser ist gemäß §§ 78 Abs. 3, 89 Abs. 3 KAGB allenfalls – nämlich bei OGAW – unter Mitwirkung der Verwahrstelle zu erstellen, die Organe der InvGes werden nicht erwähnt. Dass es anders geht, zeigt das Luxemburgische Vorbild. Dort müssen die „dirigeants“ den Entschädigungsplan erstellen.83) Dies sind bei vertraglichen Fonds ohne Rechtspersönlichkeit (FCP) die Organe der Verwaltungsgesellschaft, bei der intern und fremdverwalteten InvGes aber die Gesellschaftsorgane.84) 4.

Durch Hinzutreten der Organe der InvGes erhöht sich die Komplexität. Die Klagehäufung von Anlegern und Verwalter ist mit der OGAW-V-Umsetzung vom Europarecht goutiert; dasselbe lässt sich für die Organe der InvGes nicht sagen. Deren Ausschließung aus dem Kreis der Aktivlegitimation vermeidet z. B. die Frage, ob von Organen der InvGes abgeschlossene Vergleiche der KVG entgegengehalten werden können.

Somit ist die Geltendmachung von Schäden den Organen der InvGes entzogen. Nur Anleger, KVG und Verwahrstelle sind aktivlegitimiert.85) Dies bedeutet freilich nicht, dass die Überwachungspflichten der Organe der InvGes entbehrlich sind. Bleibt die Verwahrstelle untätig, muss die InvGes auf Erfüllung des Verwahrungsvertrags durch Klageerhebung dringen; gleiches gilt vice versa für die Pflichten der KVG aus dem Vermögensverwaltungs- und Administrationsvertrag.

83) 84)

85)

CSSF 02/77, NAV error and violation of investment limit, sub II., S. 10. Grund für diese Regelung ist die Ausfallhaftung der Verwaltungsgesellschaft, wenn der Schadensersatz von dem grundsätzlich pflichtigen Verursacher nicht erlangt werden kann. Das CSSF Circular 2002/77 statuiert noch eine Einstandspflicht des Promoters. Das Promoterkonzept, nach dem jeder Fonds einen Promoter haben musste, hat die CSSF mit dem CSSF Circular 2012/45 aufgegeben. Seitdem tritt an die Stelle des Promoters die „Verwaltungsgesellschaft“, vgl. Müller in: Baur/Tappen, InvG, Bd. 3, 3. Aufl. 2015, OGAW/OGA Rz. 52. Im Ergebnis auch BaFin (Fn. 78), Frage 2 (InvGes darf nur ausdrücklich vom KAGB genannte Aufgaben ausüben; Rest obliegt KVG); Hüwel in: Baur/Tappen, InvG, Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 129 KAGB Rz. 41 ff.

Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investment-Drei- und -Viereck

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VI. Ergebnisse in Thesen 1.

Die Aktivlegitimation von KVG, Verwahrstelle und Anleger gemäß §§ 78 Abs. 1 und 2, 89 Abs. 1 und 2 KAGB lässt sich weder mit der Rechtsinhaberschaft an den Vermögensgegenständen noch mit den Vertragsbeziehungen abschließend erklären. Grund für die Zuweisung der Aktivlegitimation ist die investmentrechtliche Aufgabenteilung: Das Klagerecht der KVG ist Annexbefugnis zur Portfolioverwaltung, das der Verwahrstelle zu ihren investmentrechtlichen Kontrollpflichten. Das Klagerecht des Anlegers ist Ausprägung seines wirtschaftlichen Interesses.

2.

Die §§ 78, 89 KAGB gelten auch im Investmentviereck, d. h. auch dort können (und müssen) sich die KVG und Verwahrstelle gegenseitig verklagen und können die Anleger gegen KVG und Verwahrstelle Klage erheben. Das für Sondervermögen ursprünglich entwickelte System der checks & balances ist auch im Investmentviereck geboten: Die Kontrollfunktion der Organe der fremdverwalteten Investmentgesellschaft ist mangels Einbindung in das Tagesgeschäft und eigener Infrastruktur und wegen der in der Regel bestehenden Befangenheit mit Eigeninteressen unzureichend.

3.

Die Aktivlegitimation gemäß §§ 78, 89 KAGB im Investmentviereck steht nur im vermeintlichen Widerspruch zu der gesellschaftsrechtlichen Organisationsverfassung; die Rechtsbeziehungen unter den Beteiligten sind investmentrechtlich überformt. So obliegt der KVG nach wie vor die Portfolioverwaltung, der Verwahrstelle nach wie vor die Kontrolle, deren Annex die Klagerechte sind. Auch die Aktivlegitimation der Anleger fügt sich bei einem Verständnis der Verwaltungs- und Verwahrungsverträge als (echtem) Vertrag zugunsten der jeweiligen Anleger nahtlos ein.

4.

Vom Jubilar zu Recht für das investmentrechtliche Kontrollsystem konstatierte Schutzdefizite sollen durch ein öffentlich-rechtliches Entschädigungsplanverfahren beseitigt werden. Die Organe der InvGes haben darin keine Funktion. Das Schweigen der §§ 78, 89 KAGB ist bewusste Entscheidung gegen die gesellschaftsrechtliche Organisationsverfassung und für eine Ordnung allein nach investmentrechtlichen Prämissen. Die Organe der InvGes sind nicht aktivlegitimiert.

Autorenverzeichnis Professor Dr. Thomas Ackermann Ludwig-Maximilians-Universität München Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht Professor Dr. Gregor Bachmann Freie Universität Berlin Professur für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, Rechtstheorie Professor Dr. Dres. h.c. Theodor Baums Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Institut für Zivil- und Wirtschaftsrecht, House of Finance Professor Dr. Jens-Hinrich Binder Eberhard-Karls-Universität Tübingen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, insbesondere Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht Professor Dr. Georg Bitter Universität Mannheim Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bank- und Kapitalmarktrecht, Insolvenzrecht Professor Dr. Matthias Casper Westfälische Wilhelms-Universität Münster Institut für Unternehmens- und Kapitalmarkrecht Professor Dr. Jean Nicolas Druey, em. Universität St. Gallen Professor Dr. Andreas Engert Universität Mannheim Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Wirtschaftsrecht und Unternehmenssteuerrecht Professor Dr. jur. h.c. Guido Ferrarini Università degli Studi de Genova Professor of Business Law, Department of Law

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Autorenverzeichnis

Professor Dr. Dr. h.c. Holger Fleischer Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht, Hamburg Professor Dr. Stefan Grundmann European University Institute Florenz Professor of Transnational Private Law, Department of Law Humboldt-Universität zu Berlin Lehrstuhl für Privat- und Wirtschaftsrecht Professorin Dr. Brigitte Haar Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich Rechtswissenschaft, House of Finance Professorin Dr. Susanne Kalss Wirtschaftsuniversität Wien Institut für Zivil- und Unternehmensrecht Professor Dr. Christoph Kaserer Technische Universität München Lehrstuhl für Finanzmanagement und Kapitalmärkte Professor Dr. Lars Klöhn Humboldt-Universität zu Berlin Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht Professor Dr. Jens Koch Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht Professor Dr. Michael Köhler, em. Universität Hamburg Fakultät für Rechtswissenschaft Professorin Dr. Katja Langenbucher Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich Rechtswissenschaft, House of Finance Professorin Niamh Moloney London School of Economics and Political Sciences Professor of Financial Markets Law, Law Department

Autorenverzeichnis

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Professor Dr. Peter O. Mülbert Johannes Gutenberg-Universität Mainz Institut für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens Professor RA Dr. rer. publ. Peter Nobel, em. Universität Zürich Universität St. Gallen (HSG) Nobel & Hug Rechtsanwälte, Zürich Professor Dr. Wulf-Henning Roth, em. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht Professor Dr. Hans-Bernd Schäfer Bucerius Law School Hamburg Professor für Law and Economics Professor Dr. Dr. h.c. Erich Schanze, em. Philipps-Universität Marburg Institut für Rechtsvergleichung Professor Dr. Gottfried Schiemann, em. Eberhard Karls-Universität Tübingen Juristische Fakultät RA Dr. Christian Schmies Hengeler Mueller Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Frankfurt am Main Professor Dr. Dr. h.c. Uwe H. Schneider Johannes Gutenberg-Universität Mainz Institut für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens Professor Dr. Urs Schweizer, em. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für angewandte Microökonomik Professor Paul van Seters Tilburg University Professor of Globalization and Sustainable Development Professor Dr. Rolf Sethe Universität Zürich Lehrstuhl für Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht

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Professor Dr. Gerald Spindler Georg-August-Universität Göttingen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Multimedia- und Telekommunikationsrecht Professor Dr. Erik Theissen Universität Mannheim Lehrstuhl für ABWL und Finanzierung, Fakultät für Betriebswirtschaftslehre Professor Dr. Gerhard Wagner Humboldt-Universität zu Berlin Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik Professor Dr. Dirk Zetzsche Universität Luxemburg ADA für Finanzmarktrecht/Inclusive Finance

Schriftenverzeichnis I. Monographien Fälle und Lösungen nach höchstrichterlichen Entscheidungen: BGB-Schuldrecht, 1971, 116 S. (gemeinsam mit Eike Schmidt) Haftpflichtfunktionen und Immaterialschaden. Am Beispiel von Schmerzensgeld bei Gefährdungshaftung, 1976, 159 S. Selbstbindung ohne Vertrag: Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, 421 S. Zur Theorie der Prospekthaftung, 1983, 74 S. (auch in: Die Aktiengesellschaft 1983, 85 –99, 120–132, siehe unten IV.) O Sancta Justitia, 1993, 120 S. (gemeinsam mit Maren Jochimsen und Werner Wunderlich) Gewährung und Abwicklung grundpfandrechtlich gesicherter Kredite, 1. Aufl. 1987; 2. Aufl. 1990; 3. Aufl. 1994, 230 S. Die vorzeitige Rückzahlung von Festzinskrediten: eine rechtsvergleichende Analyse, in: Die vorzeitige Rückzahlung von Festzinskrediten in Europa, Schriftenreihe des Verbandes Deutscher Hypothekenbanken, Bd. 20, 2006, 132 S. (gemeinsam mit Hans-Joachim Dübel) A European Internal Market for Housing Finance, in: Schriftenreihe des Instituts für Städtebau, Wohnungswirtschaft und Bausparwesen Bd. 74, 2010, 188 S. (gemeinsam mit Michael Voigtländer, Markus Demary, Felix Schindler, Peter Westerheide) II. Beiträge in Kommentaren, Handbüchern etc. H. Berger/K.-U. Steck/D. Lübbehüsen (Hrsg.), Investmentgesetz, Kommentar, 2010 (Kommentierungen zu §§ 1 –5b, 9 – 9a, 20 –29, 127) C. Fischer/A. Pütz/B. Weiser (Hrsg.), Kapitalanlagegesetzbuch, Kommentar, 2016 (Kommentierungen zu §§ 1– 4, 26– 28, 68 – 79)

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Josef Esser – Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie, in: S. Grundmann/K. Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. 1, 2006, S. 102 –127 Preis- und Vergütungsgestaltung im Wertpapierhandel – Zur Obsoleszenz des Kommissionsrechts, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, 2007, Bd. II, S. 183– 208 Die Entlastung des Schuldners wegen Unmöglichkeit der Leistung – Versuch einer Ehrenrettung des § 275 Abs. 2 BGB, in: Festschrift für HansBernd Schäfer, 2008, S. 275 – 296 Der Wettlauf der Kreditgeber um knappe Kreditsicherheiten, in: Festschrift für Eberhard Schwark, 2009, S. 41 –57 Gefahrtragung und Verzug bei Zahlungsschulden – Neues vom EuGH?, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 909 –926 Structured Products from the Perspective of Investor Protection: Can the Courts Police the Market or Do We Need More Regulation?, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2010, S. 2113 – 2141 Policy Responses to Credit Crises: Does the Law of Contract Provide an Answer?, in: S. Grundmann/Y. Atamer (Hrsg.), Financial Services, Financial Crisis and General European Contract Law, 2011, S. 35 –59 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts, in: K. Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, S. 189 –223; 3. Aufl. (Neubearb.) 2015, S. 95 –124 Transnationale Regel- und Standardbildung auf Finanzmärkten – vor und nach der Krise, in: G. P. Callies (Hrsg.), Transnationales Recht, 2014, S. 277– 306 § 278 BGB – (k)ein universales Haftungsmodell für arbeitsteilige Vertragserfüllung?, in: Festschrift für Wulf–Henning Roth, 2015, S. 311– 345 IV. Aufsätze, Anmerkungen in Zeitschriften Kausalitätsvermutung und Gefährdungshaftung, NJW 1970, 2281–2283 Haftung aus § 830 Abs. 1 S. 2 BGB trotz feststehender Ersatzpflicht?, NJW 1971, 871 –872

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Die sogenannte erhöhte Betriebsgefahr im Haftungsrecht des Straßenverkehrs, Zeitschrift für Verkehrs- und Ordnungswidrigkeitenrecht 1972, 152 –172 Ökonomische Aspekte des Schadensproblems, AcP 177 (1977), 1– 32 Zur Haftung von Börseninformationsdiensten – Lücke im Anlegerschutz?, JZ 1978, 389– 394 Ehrverletzungen durch Gerichtsentscheid und Spruchrichterprivileg, JZ 1979, 246 –252 Zur Theorie der Prospekthaftung, Die Aktiengesellschaft 1983, 85 –99, 120 –132 Überlegungen zur Fortbildung des Umwelthaftpflichtrechts, Umweltund Planungsrecht 1983, 345 –356 Grenzen zulässiger Konditionenanpassung beim Hypothekenkredit, ZIP 1984 129 –140 (gemeinsam mit Conrad König) Zur Praxis der sog. nachträglichen Tilgungsverrechnung beim Hypothekenkredit, NJW 1987, 160 – 166 Grund und Grenzen des Transparenzgebots im AGB-Recht, NJW 1989, 943 –952 Schutz und Diskriminierung durch § 609a BGB, ZBB 1990, 49 – 75 (gemeinsam mit Wolfgang Bühler und Hartmut Schmidt) Rechtsprechungsänderung zum Disagio: Zivil- und steuerrechtliche Fragen zur Entgeltgestaltung beim Darlehen, ZBB 1990, 214– 221 (gemeinsam mit Alexander Busse) Die Haftung der Kreditbank in den USA – Vorbild oder Alptraum?, Die Bank 1991, 283 –289 Immaterialschadensersatz, Gewinnabschöpfung oder Privatstrafen als Sanktionen für Vertragsbruch Eine rechtsvergleichend-ökonomische Analyse, RabelsZ 56 (1992), 697 –736 Reconstructing Promissory Obligation: A Socio-Legal Analysis, Tel Aviv Studies in Law 11, 1992, 151 –188 Die Entwicklung des privaten Bankrechts in den Jahren 1990/91, NJW 1992, 2263–2273 Wandel-und Optionsanleihen in der Schweiz, ZGR 24 (1995), 341– 372 (gemeinsam mit Daniel Daeniker)

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Die Entwicklung des privaten Bankrechts in den Jahren 1992 –1995, NJW 1996, 558 –570 Bereicherungsansprüche im bargeldlosen Zahlungsverkehr, Schweizerische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1996, 30– 40 Wieviel Aufklärung braucht ein Wertpapierkunde? Bemerkungen zum Richtlinienentwurf des Bundesaufsichtsamts für den Wertpapierhandel zu § 35 Abs. 2 WpHG, ZBB 1996, 361–365 Fälschungsrisiko bei abhanden gekommenem Scheck, WuB 1997 I D 3. – 3.97 Regierungsentwurf eines Dritten Finanzmarktförderungsgesetzes, ZBB 1997, 286 –287 Bankgebühren – Ökonomie und Recht kreditwirtschaftlicher Entgeltgestaltung, ZBB 1997, 118–139 Anspruch des Darlehensnehmers auf vorzeitige Darlehensablösung gegen Vorfälligkeitsentschädigung bei Veräußerung des beliehenen Grundstücks, ZIP 1997, 1645 –1646 Ownership and Corporate Governance of Stock Exchanges, Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE) 1998, 224 –260 Eine Zwangslizenz für XETRA?, WM 1998, 53–62 (gemeinsam mit Jochen Mues) The Advent of the EURO in Germany: The First Hundred Days, European Business Law Review 1999, 464– 471 Das neue Recht der Banküberweisung … und die heimliche Aushöhlung des AGB-Gesetzes, ZBB 1999, 103 –105 Die Entwicklung des Bankkreditrechts in den Jahren 1995 –1999, NJW 2000, 468 –482 Gewinnabschöpfung als Sanktion unerlaubten Tuns: eine juristisch-ökonomische Skizze, RabelsZ 64 (2000), 661 – 695 Pflicht der Bank zur schriftlichen Risikoaufklärung bei Erwerb von Reverse Convertibles, ZIP 2001, 1194 –1199 Darlehen, Kredit und finanzierte Geschäfte nach neuem Schuldrecht – Fortschritt oder Rückschritt?, WM 2001, 1637 – 1648 Josef Esser – Methodologe zwischen Theorie und Praxis, JZ 2001, 807– 813

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„Internalisierter“ Wertpapierhandel zu Börsenpreisen?, WM 2003, 1497– 1509 (gemeinsam mit Erik Theissen) Die Neuordnung des deutschen Investmentrechts, in: WM Sonderbeilage Nr. 1, 2004, S. 1 – 26 (gemeinsam mit Christian Schmies) Die Entwicklung des privaten Bankrechts in den Jahren 1999 –2003, NJW 2004, 1288–1301 Die Eurohypothek – Akzessorietät als Gretchenfrage?, ZBB 2005, 112 – 120 (gemeinsam mit Otmar Stöcker) Europäische Methodenlehre: zu wichtig, um sie nur den Europarechtlern zu überlassen, Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht 2, 2005, 105 Privatisierung des Rechts, Private Governance zwischen Deregulierung und Rekonstitutionalisierung, AcP 206 (2006), 477– 525 Effizienzorientierung im Kapitalmarktrecht?, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels und Wirtschaftsrecht, ZHR Beiheft 2008, S. 100–139 Stellungnahmen zum Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz, ZBB 2009, 142 –153 (gemeinsam mit Christoph Kaserer und Christoph Möllers) Strukturierte Zinsswaps vor den Berufungsgerichten: eine Zwischenbilanz, ZBB 2010, 77 – 95 (gemeinsam mit Klaus Sandmann) Grenzen des informationsbasierten Anlegerschutzes – zugleich eine Anmerkung zu BGH, Urt. v. 22.3.2011 – XI ZR 33/10, BKR 2011, 283 –286 Das neue Recht des Zahlungsverkehrs, JuS 2011, 481 – 489 Anlageberatung beim Vertrieb von Zertifikaten – Anmerkung zu BGH 27.9.2011 – XI ZR 182/10 („Lehman Bros.“), JZ 2012, 260 –264 Runter mit den Dispozinsen – aber wie?, ZBB 2014, 153–168