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German Pages 473 Year 1992
Der Mensch ist der Weg der Kirche Festschrift für Johannes Schasching
Der Mensch ist der Weg der Kirche Festschrift für Johannes Schasching
herausgegeben von
Herbert Schambeck und Rudolf Weiler
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Wien und der Landesregierung von Oberösterreich
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Mensch ist der Weg der Kirche : Festschrift für Johannes Schasching / hrsg. von Herbert Schambeck und Rudolf Weiler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 ISBN 3-428-07424-6 NE: Schambeck, Herbert [Hrsg.]
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-07424-6
INHALT
Vorwort der Herausgeber
XI
I. Geschichte und Entwicklung der Soziallehre der Kirche „100 Jahre katholische Soziallehre" Von Erhard Busek
3
Worte und Taten. Gedanken zur Transformation der Kirchlichen Soziallehre Von Irene Dyk
9
Eigentum i m Dienste des Menschen. Die Lehre zum Eigentum in den päpstlichen Enzykliken von Rerum novarum bis Centesimus annus und die Entwicklung in Österreich i m Überblick Von Ingeborg Gabriel
17
Welcher Marktwirtschaft gehört die Zukunft? Überlegungen im Anschluß an Centesimus annus Von Walter Kerber S.J
35
Sozialhirtenbrief als Prüfstein kirchlicher Autorität Von Herbert Kohlmaier
45
Auf dem Weg zur Partnerschaft in Europa. Die Rolle der Religionen Von Franz Kardinal König
55
Von der Freiheit und Würde des Menschen in der Enzyklika „Centesimus annus" Papst Johannes Paul II. Von Opilio Kardinal Rossi
63
Zum staatsrechtlichen Gehalt der Enzyklika „Centesimus annus" Papst Johannes Paul II. Von Herbert Schambeck
69
Hundert Jahre Sozialenzykliken. Eine wirtschaftswissenschaftliche Analyse Von Erich W. Streissler
77
Zur Frage der Richtungen in der katholischen Soziallehre Österreichs Von Rudolf Weiler
119
Inhalt
VI
II. Kirche, Staat, Gesellschaft Katholische Rechtstheologie — ein Desiderat Von Klaus Demmer MSC
139
Die Demut — Eine Tugend des Gemeinschaftslebens Von Rudolf Kirchschläger
151
Die Verantwortung der Macht Von Josef Klaus
161
Interessenverfolgung und Gemeinschaftsbindung Von Gerhard Müller
177
Industriekultur zwischen Technik und Ethik Von Edgar Nawroth OP
189
Fragmentarisches über „Haben und Sein". Anmerkungen zu „Sollicitudo rei socialis" Nr. 28 Von Ferdinand Reisinger
205
Mittelpunkt der Wirtschaft: Der Mensch als Konsument. Und der Beitrag der Kirchen zu einer menschenwürdigen Gesellschaft Von Wolfgang Schmitz
221
Soziale Marktwirtschaft — Neoliberalismus — Christliche Gesellschaftslehre. Historische und grundsätzliche Anmerkungen zu einer aktuellen Problematik Von Franz Josef Stegmann
241
I I I . Weltkirche — Weltgesellschaft Der neue Aufbruch Von Agostino Kardinal Casaroli
269
Zur Frage nach dem heutigen Verständnis kultureller Rechte Von Hervé Carrier S.J
281
Das Flüchtlingsproblem als Herausforderung für die Katholische Soziallehre Von Alfred Klose
295
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker Von Heribert Franz Köck
305
Menschenrechte in der Ethik und Theologie des Islam i m Spannungsfeld zur naturrechtlich-christlichen Anthropologie. Wien-Helsinki 1991 Von Robert Prantner
321
Inhalt
VII
Friede i m „Reich Gottes auf Erden" Von Johann Reikerstorfer
339
Die Ereignisse in den Ostblockländern Von Donato Squicciarini
353
Weltkirche — Weltentwicklung Von Alois Wagner
363
IV. Pastorale und kirchenhistorische Fragen Zur Enzyklika „Humanae Vitae". Eine (positive) Stellungnahme aus der Sicht des Arztes (Kinderarztes) Von Heribert Berger
379
Der streitlose Kampf für die Gerechtigkeit Von Franco Biffi
391
;
Die österreichische Militärseelsorge und der Heilige Stuhl Von Alired Kostelecky
399
„Compelle intrare" (Lk 14, 23) Von Josef Lenzenweger
409
Sorge um den Menschen in gesellschaftlichem Kontext Von Julius Morel S.J
417
Der politische Aspekt i m Wirken des Linzer Bischofs Franz Joseph Rudigier (1853 — 1884) Von Rudolf Zinnhobler
429
V. Anhang Biographie von P. Johannes Schasching S. J
447
Veröffentlichungen von P. Johannes Schasching S. J
449
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
455
Aus dem Vatikan, 6. März 1992
Aus Anlaß der Vollendung des 75. Lebensjahres übermittelt der Heilige Vater dem hochwürdigen Pater Johannes Schasching SJ aufrichtige Glückund Segenswünsche. In den zurückliegenden Jahren fruchtbaren Wirkens als erfahrener Seelsorger, wegweisender Forscher, geschätzter Hochschullehrer und gesuchter Ratgeber war es dem Jubilar vergönnt, zur Weiterentwicklung und konkreten Umsetzung der katholischen Soziallehre wertvolle und bleibende Impulse zu vermitteln und das Bewußtsein in Kirche und Gesellschaft für die Notwendigkeit grundlegender ethischer Orientierung bei der Lösung der drängenden Probleme unserer Zeit zu schärfen. Verbunden mit seinem Dank für dieses bedeutsame Lebenswerk und mit dem Wunsch für Gesundheit und weiteres Wohlergehen erteilt seine Heiligkeit Pater Schasching von Herzen seinen besonderen apostolischen Segen. Mit besten persönlichen Glückwünschen
Angelo Kardinal Sodano Staatssekretär Seiner Heiligkeit
VORWORT DER HERAUSGEBER
Das Lebensalter Johannes Schaschings, geboren am 10.3.1917 in St. Roman, Bezirk Schärding, Oberösterreich, deckt sich in drei Vierteln mit jenem Centenarium, das für die Formung der Soziallehre der Kirche von heute seit Rerum novarum so entscheidend war. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie, sein Vater war Maurer gewesen. Nach seinem Eintritt in die österreichische Provinz der Gesellschaft Jesu im Jahre 1937 wurde er 1946 zum Priester geweiht und begann 1950 bereits seine Laufbahn in der akademischen Lehre. Die Periode ab der zweiten Jubelenzyklika, dem Rundschreiben Johannes XXIII., Mater et magistra, das 1961 erschienen war, hat Schasching bereits als angesehener Sozialethiker und Sozialwissenschafter nach seiner Habilitation in Innsbruck im Jahre 1952 nicht nur von Lehrstühlen her mitgestaltet. Zuerst für das Fachgebiet Spezielle Ethik und Soziologie habilitiert, war er eben dort als Außerordentlicher Universitätsprofessor im Institut für Christliche Philosophie tätig. 1961 wurde er auch Senator der Universität. Zuletzt hat Schasching in seinem Kommentarwerk zu Centesimus annus (Wien 1991), „Unterwegs mit den Menschen", das Grundanliegen dieser Enzyklika Johannes Pauls IL und der katholischen Soziallehre mit den Worten des Papstes selbst treffend hervorgehoben. Dieses päpstliche Motto könnte auch über dem bisherigen Lebenswerk des Wissenschafters, Seelsorgers und Ordensmannes Pater Schasching stehen. Schon vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat Schasching als Soziologe in lebendiger, anschaulicher Weise „Politikern, Managern und Prälaten" in seinen „Nachtgedanken" (erschienen 1961 in Innsbruck) einen Spiegel zum Verständnis ihrer Aufgabe in der industriellen Gesellschaft vorgehalten. In der Reihe des Österreichischen Gewerkschaftsbundes konnte er 1962 das Bändchen „Aktuelle Probleme unserer Zeit, Röntgenbild der industriellen Gesellschaft" die „Nachtgedanken eines Gewerkschafters" hinzufügen. Vorausgegangen war 1960 das grundlegende Werk Johannes Schaschings, „Kirche und industrielle Gesellschaft" (Wien) als erster Band der Schriftenreihe der neu begründeten Katholischen Sozialakademie Österreichs. Der damalige Direktor der Akademie, Pater Dr. Walter Riener S. J., schreibt im Vorwort dazu: „Der Realismus der Katholischen Soziallehre orientiert sich an den objektiven Normen des Naturrechts", um von daher „die öffentliche Diskussion über gesellschaftliche Probleme" vor allem mit Hilfe der „Situationsuntersuchung Schaschings" zu führen.
XII
Vorwort der Herausgeber
Schasching ist also zunächst besonders als Religions- und Kirchensoziologe ausgewiesen. Er hat es schon vor dem Konzil verstanden, als solcher für die Begegnung von Kirche und Welt im Dienste der Pastoral von dieser Sozialwissenschaft her Bahnbrechendes zu leisten, ohne die Verbindung mit den anderen Sozialwissenschaften und ihren für die Soziallehre der Kirche bedeutenden Ergebnisse zu vernachlässigen. Er ist dabei immer Mann der Kirche geblieben und hat mit seinen wertvollen Anregungen für die Begegnung von Kirche und Welt sich nie auf den Boden modellhafter Vorschläge oder Rezepte für soziales Handeln begeben. Er hat es immer verstanden, zwischen Positionen zu vermitteln und dem großen gemeinsamen Anliegen der Begegnung von Kirche und Welt im Bereich des Sozialen zu dienen. Die sogenannten Sozialprinzipien sind für ihn immer Handlungsmotiv für die Entscheidungsfindung, aber nicht unmittelbare Anweisung. So stehen seine soziologischen Erkenntnisse immer im Dienste des christlichen Ordnungsbildes der Gesellschaft und in der Kompetenz der Kirche und ihrer Soziallehre. Schwerpunkte des wissenschaftlichen Schaffens Schaschings waren zuletzt seine bedeutenden großen Kommentarwerke zu den Sozialenzykliken Johannes Pauls II. Sollicitudo rei socialis unter dem Titel In Sorge um Entwicklung und Frieden (Wien 1988) und Centesimus annus unter dem Titel Unterwegs mit den Menschen (Wien 1991 ). Auf die Liste der Veröffentlichungen P. Schaschings an anderer Stelle des Bandes sei hier besonders verwiesen. Zugleich möchten die Herausgeber um Nachsicht dafür bitten, daß diese Liste nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Der Oberösterreicher Schasching konnte seinen Weitblick durch viele Jahre des Wirkens in Rom als einer der Generalassistenten der Ordensleitung der Gesellschaft Jesu und noch länger als Professor und durch mehrere Jahre als Dekan an der Päpstlichen Universität des Jesuitenordens Gregoriana in Rom weiter entfalten und in den Dienst der Weltkirche und der Ausbildung einer wissenschaftlichen und pastoralen Elite aus allen Kontinenten stellen. Ein umfangreiches aktuelles Schrifttum in vielen internationalen Zeitschriften zeugt ebenso davon. Unvergessen ist sicher vielen Studenten und der zahlreichen Hörerschaft aus seiner weltweiten Vortragstätigkeit seine von hohem didaktischem Geschick getragene Lehrtätigkeit. Nach seiner i m Jahre 1987 erfolgten Emeritierung wurde Schasching noch 1988 zum Consultor des päpstlichen Rates Iustitia et Pax ernannt, seit 1989 ist er als Consultor im Ufficio del Lavoro della Sede Apostolica (ULSA) tätig. Pater Schasching hat vor kurzem seinen Sitz in der Katholischen Sozialakademie Österreichs in W i e n aufschlagen können und kehrt somit zu unser aller Freude mit einem guten Teil seines Wirkens nach Österreich zurück. W i r können uns glücklich schätzen, daß seine Schaffenskraft noch ungebrochen ist und uns hier sicherlich weit über die Grenzen des Landes
Vorwort der Herausgeber
XIII
hinaus wirksam zur Verfügung steht. Der Soziologe und Kirchenmann Schasching stellt an die Spitze seiner Bemühungen um die Kultur der industriellen Gesellschaft die Besinnung auf die sozialen Werte i m Licht des Evangeliums, was zugleich eine Begegnung mit den tragenden Entwicklungen dieser Menschheitsepoche bedeutet. Er hebt dabei immer die Notwendigkeit einer Kultur der Solidarität hervor. Das Gemeinwohl oder die soziale Gerechtigkeit ist nur in der kulturellen Wirklichkeit der sozialen Beziehungen zu entfalten, weil die Personalität des Menschen wesentlich auch einen Gemeinwohlbezug hat. Aus der solidarischen Sicht der Kultur folgt für Schasching der Aufruf zur Kultur des Ethos, aus der sozialen die sittliche Bestimmtheit von Mensch und Gesellschaft. Die pluralistische Gliederung der Gesellschaft ist nach dem Denken Schaschings kein Nebeneinander, sondern vielmehr steht sie in der Ordnung der Sittlichkeit, die sich nach dem christlichen Menschenbild mit der sozialen Wirklichkeit des Religiösen verbindet. Hier ist für Schasching die Aufgabe der Zukunft für den Weg des Menschen angezeigt, daß bei aller Vielfalt die Einheit der Kulturen und Religionen ihre gelebte Ordnung finde, ohne die Wahrheit vom Menschen, seines Weges und seiner Bestimmung aus dem Auge zu verlieren. Für die wertvolle Mitarbeit an der Erstellung des Manuskripts sei Frau MMag. Dr. Ingeborg Gabriel, Assistentin am Institut für Ethik und Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, herzlich gedankt, ebenso dem Verlag Duncker & Humblot (Berlin), insbesondere dessen Inhaber, Herrn Prof. Norbert Simon, für die Herausgabe dieser Festschrift und Herrn Dieter H. Kuchta für die Herstellung des Buches. Rudolf Weiler
Herbert Schambeck
I. Geschichte und Entwicklung der Soziallehre der Kirche
„100 JAHRE KATHOLISCHE SOZIALLEHRE" Von Erhard Busek
In diesem Jahr feiert die von Johannes Schasching so wesentlich beeinflußte Soziallehre der römisch-katholischen Kirche ihren 100. Geburtstag. Es ist mir umso mehr ein Anliegen, mich mit ihrem Gedankengut auseinanderzusetzen, als es die katholische Soziallehre war und ist, die meiner Partei ein grundlegendes Gesellschaftsverständnis gab und gibt. Vorweg liegt mir jedoch daran, ein Mißverständnis aufzuklären. Mancherorts wird heute irrtümlich immer noch vom Begriff der „christlichen Soziallehre" gesprochen. Eine solche „christliche Soziallehre" als positiven Kodex gibt es freilich nicht. Vielmehr muß man zwischen der normierten katholischen Soziallehre, die mit der Enzyklika „Rerum novarum" unter Leo XIII. ihren Anfang nahm, und einem nur schwer in genauen Normen zu pressenden christlichen Sozialethos unterscheiden. Während die katholische Soziallehre auf die gesellschaftlichen Fragen verschiedener Dezennien konkrete Antworten zu liefern versucht, bleibt das Ideengut des christlichen Sozialethos zeitungebunden weitgehend abstrakt. Obwohl die Soziallehre der katholischen Kirche mit „Rerum novarum" 1891 ihren Anfang — wie könnte es anders sein — von Rom aus nahm, hat unsere Heimat doch einen bedeutenden Beitrag für deren Voraussetzungen geschaffen. Von den Ideen des christlichen Sozialreformers Karl Freiherr von Vogelsang, der die österreichische Monarchie zu seiner Heimat gemacht hatte, ist der Geist der Enzyklika nicht unwesentlich beeinflußt worden. Ebenso wie dem Gedankengut Vogelsangs lagen auch „Rerum novarum" Konzeptionen gegen den liberalistischen Kapitalismus und Laizismus des ausklingenden 19. Jahrhunderts zugrunde. Karl von Vogelsang glaubte an die Religion als ethische Grundlage schöpferischer Gesellschaftskritik und leitete daraus das Naturrecht und die Therapie zur Heilung einer — seiner Ansicht nach — kranken Gesellschaft ab. Er war davon überzeugt, daß der mit dem Liberalismus eng zusammenhängende Kapitalismus die Zersetzung der Gesellschaft verursache und damit das Absinken der Arbeiterklasse unter die ihr zustehende Würde zur Folge habe. Vogelsang plante, den Arbeiterstand wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Seiner Idee von Gott und Gesellschaft entsprechend, sollte die Arbeit entproletarisiert werden — und zwar durch Bildung einerseits r
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Erhard Busek
und Eigentum in Arbeiterhand andererseits. Im Gegensatz zum Sozialismus, der zur selben Zeit seine Konzepte zur sozialen Frage konkretisierte, meinte Vogelsang, daß sich die soziale Frage nicht nur auf Arbeiter, sondern auch auf Gewerbetreibende und Bauern beziehe. Daher forderten die bekannten „Haider-Thesen" der radikaleren christlichen Sozialreformer und gemäßigteren christlichen S o z i a l p o l i t i k e r Maßnahmen zur genossenschaftlichen Organisation der Industrie ebenso wie Maßnahmen zur Erhaltung der bäuerlichen Existenzform und zum Schutz des Handwerks. Schon damals zeichnete sich also das auch in den katholischen Sozialenzykliken dominierende integrierende Prinzip gegenüber dem polarisierenden Prinzip des Sozialismus ab. Indem sie nicht zuletzt auf die eben angesprochenen Thesen des Kreises um Karl von Vogelsang zurückgriff, versuchte die Enzyklika „Rerum novarum" die Arbeiter für die katholische Kirche zu gewinnen und sie nicht dem aufkommenden Sozialismus allein zu überlassen. W i e wir wissen, ist dies ja nur zu einem gewissen Teil gelungen; die christlichen Arbeiter spielten gegenüber den sozialdemokratischen eher eine bescheidene Rolle. Dasselbe galt übrigens auch für ihren Stand in der eigenen, der Christlichsozialen Partei, in der sie — gerade in der Zwischenkriegszeit des neuen Jahrhunderts — eher „Outsider" als „Insider" waren. Ihre sozial mahnenden Appelle nahm man zwar programmatisch gerne auf; die politische Praxis der Christlichsozialen wandte sich jedoch immer mehr einer liberalen Wirtschaftsund konservativen Gesellschaftspolitik zu. Von mancher Seite wurde und wird der Christlichsozialen Partei daher direkt oder indirekt der Vorwurf gemacht, den Aufgabenstellungen der katholischen Soziallehre nicht entsprochen zu haben. Manch kritischer Katholik stellt die Frage, was an der Politik der Christlichsozialen „christlich" und was „sozial" gewesen sei. Und nicht selten richtet sich diese — sicherlich sehr pointiert formulierte — Kritik auf eine einzige Persönlichkeit, auf den maßgeblichsten Politiker der Zwischenkriegszeit, auf Ignaz Seipel. So leicht eine solche Frage zu stellen ist, so schwer ist sie zu beantworten. Ganz generell bedürfen unverantwortliche Fragen weniger Mühe, verantwortungsbewußte Antworten indes umso mehr. Jedenfalls ist eines festzuhalten: Es ist ungerecht von Ignaz Seipel, dem Bundeskanzler und Priester, pauschal als „Prälaten ohne Milde" zu sprechen. Seipel besaß ein starkes soziales Bewußtsein. Dies äußerte sich beispielsweise darin, daß er der Familie seines Attentäters anonym eine Rente aussetzte. Auch die Tagebücher des geistlichen Politikers zeugen von hoher sozialer Integrität. Seine Partei muß sich freilich die Frage gefallen lassen, inwieweit ihre Pragmatik hinter ihrer — zweifellos vorhandenen — sozialen Programmatik zurückblieb; inwieweit auf die sozialen Fragen auch Antworten erfolgten
„100 Jahre katholische Soziallehre"
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und inwieweit sie jene vergaß, derer „Rerum novarum" Jahrzehnte zuvor noch gedacht hatte. Wenden wir uns dem Einfluß der Denker anderer Länder auf die katholische Soziallehre zu, so haben die sowohl faszinierenden als auch schrecklichen Ereignisse der Französischen Revolution einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des politischen Katholizismus konservativer, liberaler und sozialer Prägung einerseits sowie der frühen Christdemokratie andererseits geleistet. Namen wie St. Simon oder Lamennais dürfen nicht unerwähnt bleiben. Kehren wir jedoch zur Entwicklung der katholischen Soziallehre — zur Enzyklika, die im 40. Jahr nach „Rerum novarum" erlassen wurde — zu „Quadragesimo anno" zurück. Für Österreich hatte dieses geistliche Werk teils verheerende Folgen, da seine Inhalte mißinterpretiert und zur ideellen Grundlage des selbsternannten christlichen Ständestaates eines Dollfuß und Schuschnigg entfremdet wurden. Oswald von Nell-Breuning, der geistige Vater von „Quadragesimo anno", sollte sich später von diesem ständischen Experiment distanzieren. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich — und damit kommen wir langsam zur Gegenwart — ist von einer größeren Distanz der katholischen Kirche zu politischen Parteien gekennzeichnet. Diese Haltung des Vatikans und der staatlichen Bischofskonferenzen erklärt sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus den Erfahrungen der faktischen Einheit zwischen Kirche und Partei, die es in Österreich in der Vor- und Zwischenkriegszeit gegeben hat — und die sich nach Ansicht vieler zu Lasten der katholischen Kirche im allgemeinen und deren Soziallehre im besonderen ausgewirkt hat. Christdemokratische Parteien wie die ÖVP, die CDU oder die Democrazia Cristiana leiden bzw. profitieren im selben Ausmaß von dieser sogenannten „äquidistanten" Haltung der Kirche wie sozialistische Parteien auf der einen oder liberale Parteien auf der anderen Seite. Die Abkehr der katholischen Kirche davon, ihre Soziallehre an eine einzige Partei zu binden, hat mittelbar auch dazu beigetragen, daß die ÖVP als Nachfolgerin der Christlichsozialen Partei das Adjektiv „christlichsozial" in ihrem Namen nicht trägt. Mehrere Umstände waren 1945 diesbezüglich von Bedeutung. Erstens schien der Begriff „christlichsozial" in allzu großer Nähe der autoritären Regierung des Ständestaates zu stehen. Die personelle Struktur des Ständestaates war ja aus den Reihen der 1934 aufgelösten Christlichsozialen Partei großteils rekrutiert. Zweitens mutete „christlichsozial" viel zu undemokratisch an, als daß es i m Namen einer staatstragenden, betont demokratischen Partei hätte Platz finden können. Drittens schließlich erinnerte es an eine teils mißglückte Sozialpolitik der Ersten Republik: an eine in sich gespaltene Gesellschaft, deren Lager sich haßerfüllt gegenüber gestanden waren; eine polarisierte Gesellschaft, die mit den idealisti-
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Erhard Busek
sehen Vorstellungen der katholischen Soziallehre nur wenig gemeinsam hatte. Heute ist die katholische Soziallehre eindeutig breiter geworden. Sie mußte breiter werden, um den Mantel der Parteilichkeit abzustreifen. Durch die Enzykliken „Mater et magistra" und „Pacem in terris" von Johannes XXIII. sowie „Populorum progressio" von Paul VI. erweitert, versucht sie Schichten anzusprechen, die anzusprechen ihr früher nicht gelungen ist. „Mater et magistra" gibt den Eindruck Roms über die damals „jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens im Licht der christlichen Lehre", wie es wörtlich heißt, wieder. In „Pacem in terris" erörtert Johannes XXIII. die Problematik des Friedens aller Völker unter den Gesichtspunkten der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Liebe und Freiheit. Darin bietet die katholische Soziallehre erstmals eine systematische Erklärung der Menschenrechte, weshalb diese Enzyklika vielfach als Friedensenzyklika bezeichnet wird. In „Populorum progressio" nimmt Paul VI. schließlich Stellung zur Entwicklung der Völker, wobei es ihm um eine Entwicklungshilfe geht, die zur vollen menschlichen Entfaltung führe. In dieser Entwicklungshilfeenzyklika scheint mir der Hinweis auf das konkrete sozialpolitische Ziel stärker in den Vordergrund zu treten als das Lehrhafte ihrer Vorgängerinnen. Solange diesem Streben der wahre Wille zur Qualität und nicht ein verlogener zur Quantität zugrunde liegt, ist eine solche Richtung voll zu begrüßen. W i r brauchen eine Kirche der Weltoffenheit, der Toleranz und Ökumene. W i r brauchen eine Soziallehre der Kirche, die ihre Augen nicht vor der sozialen Wirklichkeit und Gerechtigkeit verschließt. So sehr die Praxis der katholischen Kirche der 60er Jahre eine Öffnung gegenüber dem Liberalismus und Sozialismus befürwortete, so wenig scheint ihr dies heutzutage opportun. Die Sozialenzykliken von Papst Johannes Paul II., vor allem aber „Centesimus annus", scheinen darauf abzuzielen, dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Liberalismus den Kampf anzusagen. Schon wird in Rom über die Abkehr von materialistischen Ideologien gesprochen. Direkte oder indirekte Wahlhilfen für die italienischen Christdemokraten nehmen wieder zu. Das italienische „Profil", „l'espresso", hat in seiner diesjährigen Osterausgabe neben der latenten Regierungskrise in Rom über eine aktuelle von Theologen und Intellektuellen geführte Diskussion berichtet, wie dem materialistischen Zeitgeist begegnet werden könne. Partner dabei — und das macht das ganze so pikant — soll, so der Artikel, nach der Ansicht mancher Denker der Marxismus sein. Wie aber — so meine Frage — können Marxisten, solange sie ihrer Ideologie treu bleiben, antimaterialistisch denken und handeln? Hat der
„100 Jahre katholische Soziallehre"
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Marxismus nicht ebenso wie der Liberalismus seine Wurzeln i m Materialismus?! Und ist es nicht die immaterialistische Programmatik der Christdemokratie allein, die den Bezug zu immaterialistischem Jenseits in Wahrheit, Wirklichkeit und Gerechtigkeit zumindest sucht?! Wohlgemerkt: Ich spreche hier von der Theorie und nicht von der Praxis. Auch die in Enzykliken fixierte katholische Soziallehre ist ja Theorie. Warum soll es also nicht gestattet sein, ihr Programm mit dem der Christdemokratie zu vergleichen?! Glauben katholische Intellektuelle wirklich, mit heimatlos gewordenen Marxisten den richtigen Partner in ihrem an sich aufrichtigen Bestreben, dem Materialismus Herr zu werden, gefunden zu haben? Oder ist der politische Partner der Kirche nicht vielmehr die Christdemokratie?! Eine Christdemokratie freilich, die sich wieder ihrer Programmatik besinnt und ihrer allzu lang geübten Praxis, gleichzeitig mit anderen Parteien dem Materialismus zu frönen, entsagt. Dafür setze ich mich ein. Auch im Sinne von Johannes Schasching, dieses Meisters des christlichen Wortes und der christlichen Tat, hat sich die Praxis der ÖVP vermehrt um die katholische Soziallehre zu kümmern, der sie sich ja programmatisch in weiten Teilen verpflichtet hat. Sie wird politisch reüssieren können, wenn Theorie und Praxis — gerade was die katholische Soziallehre betrifft — weniger auseinanderdriften als bisher.
WORTE UND TATEN Gedanken zur Transformation
der Kirchlichen Soziallehre
Von Irene Dyk
W i r leben in einer großen Zeit. Die Öffnung des Ostens und der Zusammenbruch kommunistischer Regime hat einen weltweiten Verständigungsprozeß eingeleitet, neue Konflikte, aber auch neue Hoffnungen ausgelöst. Europas Staaten stehen in einem intensiven Dialog, sie setzen sich auseinander, aber sie rücken auch zusammen. Die Diskussion über Ideologien und über weiterführende Sinn- und Wertfragen ist lebendiger und freier geworden. Und sie bestätigt letztlich wesentliche Grundpfeiler der Kirchlichen Soziallehre: Noch nie seit Rerum novarum konnten Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip so unisono aus unterschiedlichsten Richtungen gehört werden als nun, da es gilt, Lebensqualität und Lebenschancen in verschiedenen Lebensräumen zu akkordieren. Es ist auch eine große Zeit für die Soziallehre an und für sich: Kolping wurde dieser Tage seliggesprochen, der 30 Jahre vor der ersten Sozialenzyklika seine Initiativen setzte, ein Jahr vor der Hundert-Jahr-Feier von Rerum novarum war der wegweisende Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe Gegenstand vieler Diskussionen und breiter Anerkennung, Centesimus annus liegt vor, und der fundierteste Kommentator (und wohl nicht nur!), Johannes Schasching, wird 75 Jahre alt. Die Auseinandersetzung mit einigen seiner Gedanken wäre unvollständig ohne die Erinnerung an den kürzlich verstorbenen Oswald von Nell-Breuning — kongenial, aber nicht immer einer Meinung, wie noch auszuführen sein wird. ... Eine große Zeit — nur die Menschen, die in ihr leben, sind dafür, wie es scheint, nicht groß genug. Regionalegoismus, Nationalitätenkonflikte, Umweltprobleme, populistisch-totalitäre Politik, soziale und ökonomische Deprivation von Ländern, Schichten, Gruppen ... und das alles, obwohl es heute weder an Problembewußtsein, Wissen um Ursachen und Wirkungen noch an Problemlösungsstrategien mangeln dürfte.
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Irene Dyk
I. Theorie und Praxis Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert sind empirisch fundierter und methodisch ausgefeilter denn je. Auch ein Theoriedefizit kann ihnen eigentlich nicht vorgehalten werden — abgesehen davon vielleicht, daß sie in sogenannten Theorien mittlerer Reichweite steckengeblieben sind und daß es ihnen kaum gelungen ist, zu einem wirklich systemischen, integrativen und interdisziplinären Ansatz zu finden. Auch ihr Praxisbezug mag zu wünschen übrig lassen — aber Wissenschaft findet schließlich in einem Kräftefeld sozialer Beziehungen statt und Transformation bedarf entsprechender Partner. ... Immerhin sind die Relationen zwischen Theorie, Forschung und Praxis seit langem Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung; mit unterschiedlicher Intensität in den verschiedenen Disziplinen. Zumindest in den Humanwissenschaften ist historisch eine Art „Wellenbewegung" festzustellen: ausgehend von einer primär ontologisch-normativen Ausrichtung über eine stark logisch-positivistische Orientierung hin zu mehr oder weniger ausgleichenden Ansätzen — ob kritisch-dialektisch oder kritisch-wertbezogen, um die beiden Pole anzudeuten. Diese Diskussion ist mittlerweile, nachdem sich die Unfruchtbarkeit des „Werturteilsstreits" hinlänglich erwiesen hat, ad acta gelegt und längst überholt durch Action Research i. w. S. ... — Übereinstimmung besteht jedenfalls weitgehend darüber, daß der wissenschaftlich tätige, forschende Mensch sich nie aus dem sozialen und historischen Konnex (und damit seinem Untersuchungsfeld) freimachen und sich davon distanzieren kann (und soll!). Und dies gilt auch für das Wissen darum, daß — unabhängig von der Intention — die vom Wissenschafter ermittelten Ergebnisse und Erkenntnisse ihrerseits auf jeden Fall „soziale Tatsachen"1 sind, die auf den Untersuchungsgegenstand zurückwirken. In diesem Sinne ergibt sich auch keine Auseinandersetzung über die „Zulässigkeit" praxisbezogener Aussagen (einschließlich Handlungsanleitungen), sondern nur mehr ein Kontinuum von geringerer oder stärkerer Anwendungsorientierung.
II. Die Position der Kirchlichen Soziallehre Im Hinblick auf die Soziallehre der Kirche müßte man nun annehmen, daß sich derlei Fragestellungen von vornherein erübrigen. Einerseits schon vom Begriff her, der mit „sozial" die Bindung an den Gegenstand und mit „Lehre" einen konkreten Auftrag signalisiert, andererseits auch deshalb, weil sogar die wissenschaftliche Formulierung eines „bloß" theoretischen Menschen-, 1
Friedrich Füstenberg, Soziologie, Berlin 1971, S. 16.
Worte und Taten
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Gesellschafts- und Weltbildes schon vom Träger der Auffassung her auf jeden Fall normativen Charakter besitzt. Dies gilt umso mehr für die kritische Befassung mit konkreten Lebensumständen, sozialen Strukturen und Prozessen, wirtschaftlichen und politischen Systemen. In der Tat scheint eine Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Folgerungen zumindest in den konventionellen Definitionen von Soziallehre nicht auf. In seinem Kommentar zu Centesimus annus konkretisiert Schasching die Aufgabe der Soziallehre der Kirche dahingehend, sie habe „jene sittlichen Grundsätze für die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu verkünden, die sie ihrem Menschenbild entnimmt" (also ihrer Theorie), „sie muß Situationen aufzeigen und anprangern, in denen diese Grundsätze verletzt werden" (d. h. kritische Empirie betreiben), und „sie muß selber Initiativen setzen, damit ihre Grundsätze und vor allem die Würde des Menschen verwirklicht werden" 2 (ergo die Transformation in die Praxis vornehmen). Die Kombination Soziallehre, Sozialkritik und Aktionsprogramm findet sich bei verschiedensten Autoren, wobei manche einen deutlichen Imperativ formulieren — so z.B. Klose, der kurz und bündig feststellt: „Als Gedankensystem zur Erstellung von Orientierungs- und Entscheidungshilfen für die Gesellschaftsordnung will die Katholische Soziallehre aus der Sicht christlicher Wertüberzeugungen auch für die Politik Ordnungsgrundsätze geben." 3
I I I . Widersprüche Damit spricht Klose aber schon einen „empfindlichen Punkt" an: das Verhältnis zwischen Kirche (resp. Soziallehre) und Politik. 4 Sicher ist dieses Verhältnis belastet. Einmal abgesehen von historisch problematischen Verschränkungen zwischen Thron und Altar, zwischen Mitra und Krone schwingt in den neueren Diskussionen immernoch (auch Schasching nimmt darauf bezug) der nicht eben glückhaft verlaufene Versuch von Quadragesimo anno mit, d. h. die (zum Teil durch Übersetzungsfehler begünstigte) unselige Allianz zwischen mißinterpretierter („berufsständischer") Soziallehre und Ständestaat. Sogar die Etablierung der Kirchensteuer unter Hitler wird heraufbeschworen, wenn die politische Abstinenz der Kirche zementiert werden soll. ... 2
Johannes Schasching, Unterwegs mit den Menschen; Kommentar zur Enzyklika „Centesimus annus" von Johannes Paul II., W i e n 1990, S. 38 (I). 3 Alfred Klose, Kleines Lexikon der Politik, W i e n 1982, S. 66. 4 Vgl. dazu u. a. Wolfgang Palaver, „Wie wirksam ist Soziallehre?", in: ZeitGerecht; 100 Jahre katholische Soziallehre, Hrsg. Emmerich Talos und Alois Riedlsperger, Steyr 1991, S. 24 ff.
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Irene Dyk
Im Gegensatz dazu vermerkt Schasching mit durchaus kritischem Unterton: „Die Soziallehre der Kirche hütet sich, gegenüber den Mängeln und Fehlern der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systeme eine eigene Alternative, ein ,eigenes Modell' anzubieten .. ." 5 Es gibt keinen „dritten Weg", aber Schasching stellt sehr wohl die Frage nach der „Äquidistanz"... Wurden in sollicitudo rei socialis Sozialismus und Kapitalismus gleichermaßen als „Strukturen der Sünde" bezeichnet, erwartete man sich von Centesimus annus — nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus — eine Korrektur. Die Antwort auf diese Fragen macht sich, so Schasching, die neue Enzyklika nicht leicht. Und mit merklicher Befriedigung stellt Schasching fest: „Wie keine andere Sozialenzyklika bleibt sie in der Formulierung ihrer Grundsätze nicht bei allgemeinen Aussagen stehen, sondern geht weit auf ihre Folgerungen ein: im Bereich der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Politik. Darin besteht das eigentlich Neue an diesem Rundschreiben. Dieses Neue ist ein entscheidend neuer Akzent, aber keine Kehrtwendung in der Soziallehre der Kirche." 6 Was meint hier Kehrtwendung? Neben dem sensiblen Feld Kirche — Politik gibt es einen zweiten Konfliktbereich, der sich aus dem Spannungsfeld Hei/slehre und Sozia/lehre ergibt. Schon vor zwei Jahrzehnten hat v. Nell-Breuning in Zusammenhang mit Mater et magistra festgestellt, diese Enzyklika „leite den Abstieg der Katholischen Soziallehre ein", und dies folgendermaßen begründet: Die früheren Päpste hätten mit Nachdruck betont, die Kirche sei von Jesus Christus einzig und allein dazu gestiftet, die Menschen zum ewigen Heil zu führen; jede praktische Konsequenz sei nur ein Nebenprodukt... „Gleich zu Beginn von Mater et magistra wird diese Lehre jedoch verbogen oder zumindest verunklart, als ob der Kirche eine Doppelaufgabe obliege: ewiges Heil und irdisches W o h l . . ." 7 Einen völlig anderen Standpunkt nimmt hier Johannes Schasching ein. Er bezeichnet die Soziallehre einerseits als „markanten Wegweiser durch die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme der Industriegesellschaft", andererseits aber auch als „Triebkraft sozialen Handelns" 8 — konsequenterweise, wenn die Kirche ihr schon mit Rerum novarum eingefordertes „Bürgerrecht" auch wirklich umsetzen will, also ihre mit Rechten und Pflichten verbundene Stellung in der Gesellschaft. 9 Auch schon in seinem Kommentar zu sollicitudo rei socialis geht es Schasching vor allem um die Transformation der Soziallehre, wenn er ausführt: „Das offenkundige Versa5 6
Schasching (I), S. 39. Ebenda.
7 Oswald v. Nell-Breuning, W i e sozial ist die Kirche? Leistungen und Versagen der katholischen Soziallehre, Düsseldorf 1972, S. 83 (I). 8 Schasching (I), S. 9. 9 Schasching (I), S. 12.
Worte und Taten
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gen in der Entwicklung der Völker muß eine tieferliegende Ursache haben. Sie gilt es aufzuzeigen und einsichtig zu machen. Und diese Einsicht muß zu konkreten Taten führen." 10 Mit deutlicher Bewunderung beschreibt Schasching in dieser Arbeit auch die Beziehung von Johannes Paul II. zu den Entwicklungsländern, wo dieser zwar stets religiösen Trost und Hoffnung spendete, „aber er wußte auch um das andere Wort des Evangeliums ,Gebt ihnen zu essen'..." Und daher, meint der Kommentator, griff der Papst auch „mit Vorliebe zu jenen kirchlichen Aussagen, die das Evangelium für den Menschen in Not ausdeuten, und zwar nicht nur in einer jenseitigen Erwartung, sondern auch in einer diesseitigen Umgestaltung der Gesellschaft". 11 IV. Auflösung der Widersprüche Auch wenn es nun keinen „dritten" Weg geben mag — einen eigenen Weg der Kirche und der Soziallehre gibt es immerhin. Das sieht auch v. NellBreuning, der schon vor längerem feststellte (und heute wäre seine Sichtweise noch berechtigter!), daß die Kernsätze der kirchlichen Soziallehre „heute gemeinsame Überzeugung der ganzen, mindestens der freiheitlichen Welt (sind). Von liberaler wie von sozialistischer Seite ist man auf uns zugekommen, ist einander — wenn ich es so ausdrücken darf — auf unserem Boden begegnet". 12 Zwar hätte, meint er etwas skeptisch, die Lehre dadurch an Profil verloren, jedoch an Verbreitung gewonnen. Und er folgert, um den Bestand zu sichern, müsse jeder einzelne Katholik, müsse der Klerus und müssen die religiösen Gemeinschaften die Lehre auch praktizieren. 13 Die Kirche habe immerhin schon mit Rerum novarum „ein für allemal vom Bereich des Sozialen Besitz ergriffen" 14 . Nun zähle aber wesentlich „die Übereinstimmung von Worten und Taten". 15 Damit schließt sich der Kreis zu Schasching, der — mangels kirchlicher „Patentrezepte", wie er feststellt, die Erarbeitung und Umsetzung von Lösungen vor allem in den Bereich der christlichen Gemeinschaften verweist (in Anlehnung an Octogesima adveniens). „Es ergibt sich mit Notwendigkeit, daß den Ortskirchen in der konkreten Anwendung der Grundprinzipien der Soziallehre eine große Bedeutung zukommt." 1 6 10
Johannes Schasching, In Sorge um Entwicklung und Frieden; Kommentar zur Enzyklika „Sollicitudo rei socialis" von Johannes Paul II., W i e n 1988, S. 8 (II). 11 Schasching (II), S. 68. 12
von Nell-Breuning (I), S. 96.
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Ebenda.
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von Nell-Breuning (I), S. 75. von Nell-Breuning (I), S. 76. Schasching (II), S. 69.
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V. Soziallehre und Basis Die religiösen Gemeinschaften und die Ortskirchen haben den Auftrag angenommen. Die eindrucksvolle Anzahl von Initiativen und ihre Schwerpunkte zeigen aber, daß es — zumindest in exemplarischen Fällen — nicht nur um eine praxisbezogene Übersetzung der Soziallehre ging, sondern durchaus auch um eine Weiter- und Vorwärtsentwicklung. Aktivitäten wurden gesetzt (etwa im Bereich der Friedensarbeit, der Entwicklungshilfe, des Umweltschutzes), 17 ehe grundlegende Gedanken dazu in kirchlichen Dokumenten festgeschrieben wurden. Hier könnte man annehmen, daß das praktische Sensorium einfach raschere Reaktionen nahelegte als sie „theoretisch", d. h. im Sinne der Lehre zu bewältigen waren. Ebenso denkbar ist aber, daß auch hier ein time-lag der Lehre ebenso gegeben ist wie etwa schon in der Einleitung beim Verweis auf Kolping angedeutet. ... Dieses (partielle) Nachhinken könnte aber, so zeigen die Erfahrungen mit dem Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe (vergleichbar mit früheren amerikanischen Dokumenten, einem Friedens- und einem Wirtschaftshirtenbrief) vermieden bzw. wesentlich eingeschränkt werden durch eine wirklich basisorientierte Vorgangsweise, eine Methode, die akzeptiert, daß Problembewußtsein, Problemerkenntnis und Problemlösung nicht ausschließlich an die Amtskirche und ihre Repräsentanten gebunden sein müssen. Inhaltliche Konflikte sind in diesem Sinne natürlich nicht auszuschließen, aber sicher in einem offenen Dialog auch zu bewältigen. Ein unbestreitbarer Vorzug der kirchlichen Soziallehre, oder besser gesagt ihrer Grundprinzipien, besteht ja schließlich darin, daß sie in gewisser Weise „offen" ist, daß zeitbezogen, situationsbezogen, problembezogen ein gewisser Spielraum besteht. Der fallweise geäußerte Vorwurf der Unkonkretheit, der Vernachlässigung von Mitteln zugunsten der Ziele 1 8 entkräftet sich von selbst durch die Erfahrung mit starren Systemen und daraus resultierenden „einfachen" Lösungen. Und damit ist der von v. Nell-Breuning konstatierte „Profilverlust" auch (mehr als er es tut) positiv zu deuten — im Sinne einer immer neuen Interpretation, wenn schon nicht des Heilsauftrages, aber doch der Sozialaufgaben, denen sich die Kirche, ihre Gliederungen und alle Engagierten stellen müssen. 19 17
Vgl. dazu Silvia Hagleitner, „Lebendige Soziallehre", in: Zeit-Gerecht, S. 84 ff. Herwig Büchele, Christlicher Glaube und politische Vernunft. Für eine Neukonzeption der Katholischen Soziallehre, W i e n 19902. 18
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In der Auseinandersetzung mit konkreten Themen verhält sich von NellBreuning übrigens gar nicht zurückhaltend i m Hinblick auf die Äußerung durchaus politischer Vorschläge. So sieht er — quasi im Sinne eines Plädoyers — Arbeitszeitverkürzung als praktisch einzige Maßnahme zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit einerseits und Umweltzerstörung andererseits. Siehe dazu Oswald von Nell-Breuning, Arbeitet der Mensch zuviel?, Freiburg i. Br. 19873, S. 123 ff. (II).
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V I . Offene Fragen Wie oben schon angedeutet: Kirchlich initiierte, betreute oder zumindest unterstützte Sozialinitiativen sind vielfach einen Schritt voraus, und in manchen Fällen befinden sie sich auch auf einem „Querweg" zu dem der (offiziellen) Kirche. Beispiele dafür: Die Soziallehre setzt sich zwar ausführlich mit den verschiedenen Notlagen auseinander, die Menschen treffen können, in der Regel aber mit den quasi „unverschuldeten". Konkrete Projekte befassen sich aber nicht nur mit den „Armen", sondern auch mit den „Bösen"... mit den Straffälligen, den Nichtseßhaften, den Suchtmittelabhängigen. Diese (und andere) Rand- bzw. Problemgruppen werden von der Lehre bisher kaum erfaßt, und das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe" 20 führt sich hier oft selbst ad absurdum — zunächst ist nur Hilfe gefragt, und zwar viel mehr, als „Caritas" im konventionellen Sinn meint. Oder: W i e verhält es sich mit der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips, wenn Kirche als Institution Aufgaben übernimmt, etwa im Bereich Wirtschaft und Arbeit, an denen der Staat, der Markt, die Gesellschaft scheitern? Nicht wenige Arbeitsloseninitiativen oder auch Projekte zwischen Produzenten und Konsumenten i. w. S. und sogar regionalpolitische Vorhaben finden sich in einem Feld, das wohl nicht als primäre Aufgabe aus der Sicht der Soziallehre interpretiert werden kann. Ähnlich die Ausländer- bzw. Flüchtlingsfrage: Ist es nicht geradezu kontraproduktiv, wenn hier kirchliche Organisationen offensiv und entgegen öffentlicher Meinung und staatlicher Direktiven wirken? W i r d in all diesen Fällen nicht der umstrittene „dritte Weg" beschritten? Und letztlich: die Familie, die Ehe sind doch unverzichtbare Grundpfeiler jeder christlichen Gesellschaftsordnung. Und trotzdem gibt es seit Jahren Alleinerzieherinitiativen der Kirche, Hilfestellungen für ledige Mütter und Geschiedene, Adoptionsvermittlung und Tagesmüttermodelle. ... Um Mißverständnisse zu vermeiden: Hier geht es nicht um eine Infragestellung dieser Projekte, im Gegenteil, sie sind vermutlich der wichtigste Part der Umsetzung von Soziallehre, von Christentum, von Nächstenliebe. Es geht um die Frage, ob, wann und wie die Amtskirche und ihre Lehre darauf reagieren kann und will, ob es gelingt, über den Schatten der Konvention und der Dogmatik zu springen. „ A m Anfang war das Wort", heißt es in der Schrift. W i e verhält es sich, wenn die Tat vor dem Wort realisiert wird?
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Hier erkennt v. Nell-Breuning völlig richtig, daß „Hilfe zur Selbsthilfe" nicht nur ein Abgrenzungsprinzip sein kann — es geht um „Hilfe, die wirklich hilfreich ist" und nicht nur um „Hilfe, die unumgänglich not tut". Siehe dazu von Nell-Breuning (II), S. 127 ff.
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V I I . Eine Antwort In seinem Kommentar zu Centesimus annus gelingt Schasching die Antwort. Er zitiert zunächst aus der Enzyklika: „Die Kirche ist sich heute mehr denn je dessen bewußt, daß ihre soziale Botschaft mehr i m Zeugnis der Werke als in ihrer Folgerichtigkeit und inneren Logik Glaubwürdigkeit finden wird." Und weiter: „Die Kirche darf sich nicht damit begnügen, ein Menschenbild vorzulegen, das der Gesellschaftsordnung grundgelegt werden soll, und Grundprinzipien zu formulieren, die in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zur Anwendung gebracht werden sollen. Sie muß sich durch ihre eigene Praxis dafür einsetzen, daß Würde und Rechte des Menschen verteidigt werden, daß Unrecht bekämpft und Recht geschaffen wird." 2 1
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Schasching (I), S. 84.
EIGENTUM I M DIENSTE DES MENSCHEN Die Lehre zum Eigentum in den päpstlichen Enzykliken von Rerum novarum bis Centesimus annus und die Entwicklung in Österreich im Überblick * Von Ingeborg Gabriel
I. Hinführung Die Haltung gegenüber materiellem Besitz und den Gütern dieser Welt ist eine jener Fragen, zu der jede Religion und Weltanschauung Stellung beziehen muß. 1 So spielt die Frage nach dem rechten Gebrauch von Reichtum und Besitz auch in der christlichen Tradition von Anfang an eine wichtige Rolle. Das Evangelium 2 und im Anschluß daran die patristische Literatur 3 sehen i m Reichtum, d. h. im materiellen Besitz, der über das zum Leben Notwendige hinausgeht, eine Gefahr für die Integrität des Menschen sowie eine Verletzung der sozialen Gerechtigkeit: Der Mensch neige dazu, sich an die Güter dieser Welt zu verlieren und dabei blind und taub zu werden für die Not des Nächsten. Die Ermahnungen zu Freigebigkeit und Fürsorge für die Armen bilden so ein konstantes Element der christlichen Tugendlehre. Reflexionen über die Institution des Eigentums an sich und * Der vorliegende Artikel ist die Kurzfassung eines zum hundertjährigen Jubiläum von „Rerum novarum" geförderten Projekts des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank. 1 So gliedert Max Weber in seinen Studien über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen diese entsprechend ihrem Weltbezug, der in einer bestimmten Haltung gegenüber materiellen Gütern seinen Ausdruck findet; vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 51963, 536 ff. 2
Ein Gutteil der gesetzlichen Regelungen und prophetischen Mahnungen des Alten Testaments, das — wie die jüdische Tradition insgesamt — dem Reichtum an sich unbefangen gegenübersteht, gilt dem sozialen Ausgleich. Nach dem Neuen
Testament gilt: 1) tendiert Reichtum dazu, den Menschen so in Beschlag zu nehmen, daß er darüber die Werte des Gottesreiches vergißt und an „seiner Seele Schaden leidet"; 2) Hartherzigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung der Armen werden scharf verurteilt; 3) die eschatologische Heilszusage einer Umkehr der Besitzverhältnisse entspricht der menschlichen Sehnsucht nach einem Zustand sozialer Gerechtigkeit (vgl. z. B. Magnificat, Seligpreisungen etc.). 3
Vgl. dazu A. Hamman, A r m und Reich in der Urkirche, Paderborn 1964.
2 Festschrift Schaschine
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seine Zweckmäßigkeit finden sich nur am Rande. Dies ändert sich an der Schwelle zur Neuzeit. Nach Thomas von Aquin hat Gott, als Schöpfer aller Dinge, diese dem Menschen als Menschen zum Gebrauch übereignet, damit er sich ihrer zu seinem Nutzen bediene. Die effektive Ausübung dieses Verfügungsrechts liegt beim einzelnen, da nur er kraft seiner Vernunft und Freiheit über ihren rechten Gebrauch entscheiden kann. Der hl. Thomas nennt drei Konvenienzgründe zur Rechtfertigung des Privateigentums: 1) Es spornt zu größerem Fleiß an; 2) Die Güter werden besser gepflegt; d.h. effizienter verwendet; 3) Der gesellschaftliche Friede wird durch das Sondereigentum eher gewährleistet als durch das gemeinsame Eigentum. 4 In seiner Theorie, die die päpstliche Lehre über das Eigentum wesentlich mitgeprägt hat, besteht so eine gegenseitige Zuordnung zwischen einem von Gott gegebenen Recht aller Menschen, die Güter dieser Erde zu gebrauchen, und dem dem einzelnen übertragenen Verfügungsrecht über diese Güter in Form des Privateigentums, wobei das „Apriori in der Eigentumsfrage bei Thomas das Gemeinwohl" 5 ist. Dies ändert sich mit dem Beginn der Neuzeit. Der Anthropozentrik neuzeitlichen Denkens entsprechend wird materieller Besitz nun als Extension der Person verstanden. Dem Eigentum kommt die Funktion zu, den persönlichen Freiheitsraum gegenüber dem (absoluten) Staat zu schützen. Das Recht des autonomen Einzelnen auf sein Eigentum sowie auf die Erhaltung seines Lebens und seiner Freiheit wird zu dem primären Naturrecht. 6 Darüber hinaus kommt dem Eigentum in den frühkapitalistischen Wirtschaftsformen, die sich seit dem 16. Jhdt. in Europa etappenweise entwickelten, eine neue Funktion zu. 7 Anders als in traditionellen Gesellschaften dient es nicht mehr primär der konsumptiven Zurschaustellung und damit Demonstration von Macht und Einfluß, sondern der nüchternen Akkumulation zum Zweck der Investition: Aus dem Reichtum wird das Kapital. Zudem wird die Gesellschaft und mit ihr die Wirtschaft als einer ihrer Teilbereiche nicht mehr als statische Ordnung verstanden, sondern als ein der menschlichen Gestaltung zugänglicher und überantworteter Mechanismus. Diese intellektuelle und die folgende industrielle Revolution sowie die damit verbundenen sozialen Umbrüche bildeten den Hintergrund für die Breitenwirkung der Sozialideologien in allen ihren Spielarten. Ihre Grundfrage lautete: Welche Wirtschafts- und Gesellschaftsformen dienen 4
Vgl. Thomas v. A q u i n S. Th. II q. 66,2. Ich stütze mich in der Interpretation vor allem auf A. F. Utz, Thomas von Aquin. Recht und Gerechtigkeit. Theologische Summe II-II, Fragen 57-79, Bonn 1987, 351-400. 5
Utz, a.a.O., 400. So umfaßt der Begriff property in der englischen Gesellschaftsphilosophie des 17. Jhdt. Leben, Freiheit und Eigentum im engeren Sinn. 6
7 Vgl. dazu z. B. A. Brusatti, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des industriellen Zeitalters, Graz 3 1979, 31 -34.
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langfristig dem Menschen und seinem Anspruch auf Freiheit und Würde sowie auf materielle Versorgung am besten? Die Frontstellung zwischen Ideologien und Parteien hatte naturgemäß auch Auswirkungen auf die in der sozialen Frage engagierten Gruppen innerhalb der katholischen Kirche. Von daher ergab sich für die höchste kirchliche Autorität die Notwendigkeit, Klarstellungen vorzunehmen.
II. Von Rerum novarum zu Centesimus annus: 100 Jahre Eigentumslehre in den päpstlichen Sozialenzykliken Für ein adäquates Verständnis der päpstlichen Sozialenzykliken scheint es wichtig, sich ihre zweifache Zielsetzung vor Augen zu halten: — Der sozialkritische Ansatz: Den Sozialenzykliken geht es darum, angesichts der sozialen Ungerechtigkeiten ihrer Zeit, die offen beim Namen genannt werden, die Katholiken — und darüber hinaus alle Menschen guten Willens — zur Verwirklichung eines Mehr an sozialer Gerechtigkeit aufzurufen. Dieses Grundanliegen ist der hermeneutische Schlüssel, von dem her die Einzelaussagen zu interpretieren sind. So ist „,Rerum novarum' entstanden, um das,sklavenähnliche Los1 des Proletariats zu denunzieren. »Quadragesimo anno' stellt den Versuch dar, den mörderischen Klassenkampf zu durchbrechen. ,Populorum progressio' ist eine einzige Anklage gegen das Elend der Entwicklungsländer." 8 Anders gesagt: Es wird eine vorrangige Option für die Armen getroffen und eingemahnt. 9 — Der ideologiekritische Ansatz: Die ideologischen Strömungen, die — sozusagen als sozialtheoretische Häresien 10 — seit dem 19. Jhdt. das soziale und wirtschaftliche Leben beherrschten, riefen nach prinzipiellen Klarstellungen. Von daher ergab sich die Notwendigkeit, die Grundpfeiler einer für und von Katholiken vertretbaren Sozialphilosophie aufzustellen, und Grenzpflöcke einzuschlagen, um das Richtige vom Unrichtigen zu scheiden. Die vor allem im Anschluß an die thomistische Tradition entwickelte sozialphilosophische Prinzipienlehre gab dafür die Kriterien, ohne jedoch mit dem Liberalismus oder Marxismus durch die Erstellung eines eigenen, kohärenten Gesellschaftsmodells konkurrieren zu wollen. 11 Daß es diesen 8
J. Schasching, Unterwegs mit den Menschen. Kommentar zur Enzyklika "Centesimus annus" von Papst Johannes Paul II., W i e n 1991, 38 f. 9 So heißt es in Centesimus annus, Nr. 11: „Der Inhalt der Enzyklika (Rerum novarum) ist ein sprechendes Zeugnis für die Kontinuität dessen in der Kirche, was man heute ,die vorrangige Option für die Armen' nennt 10 Vom griechischen hairesis, Auswahl, d.h. jene Lehren, die Teilwahrheiten verkünden. 11 Um mit P. Schasching zu sprechen: „Die Soziallehre der Kirche hütete sich, gegenüber den Mängeln und Fehlern der wirtschaftliche, sozialen und politischen
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sogenannten „Dritten Weg" einer christlichen Ideologie nicht gab und von der Grundlage des Glaubens her nicht geben konnte, wurde erst in einem langen, oft schmerzlichen Abklärungsprozeß erkannt. 12 Die beiden Zielsetzungen — die sozial- und die ideologiekritische — zu unterscheiden, ist deshalb so wichtig, weil Fehler bei der Interpretation der Enzykliken häufig auf einer Verquickung dieser beiden Argumentationsebenen beruhen. 13 Dies gilt besonders auch für die Eigentumslehre. Hier bildet die Verurteilung der ungerechten Besitzverhältnisse der jeweiligen Zeit, sei es die Arbeiterfrage oder die internationale Frage, den sozialkritischen Rahmen verbunden mit dem Aufruf, sich für die Schaffung einer gerechteren Vermögensverteilung einzusetzen. Auf der ideologiekritischen Ebene wird hingegen das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln gegen revolutionäre Aufrufe zur „Expropriation der Expropriateure" verteidigt. Gegen jene liberalistischen Strömungen, die die Gemeinwohlverpflichtung des Staates auf eine rechtliche Garantie der Gleichheit vor dem Gesetz reduzieren, wird dessen Verpflichtung, den Benachteiligten in der Gesellschaft beizustehen, eingemahnt. 14 — Hiezu tritt in allen Enzykliken der Appell an die Begüterten, ihren Besitz zum Wohle der Armen einzusetzen. Es handelt sich dabei um eine Pflicht, die nicht rechtlich einklagbar, wohl aber moralisch einforderbar ist. Sie wird besonders dort relevant, wo rechtliche Regelungen nicht oder noch nicht möglich sind. Innerhalb dieses Rasters soll nun die Eigentumslehre in den päpstlichen Enzykliken kurz nachgezeichnet werden. Das Thema von Rerum novarum ist die Arbeiterfrage in den damaligen Industrienationen. Die „neuen Verhältnisse" hatten zu tiefgreifenden Umgestaltungen im „gegenseitigen Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter" geführt. Die konkrete Folge davon war, daß „das Kapital in den Händen einer geringen Zahl angehäuft (war), während die große Masse verarmt(e)" (RN 1;2). Diese Konzentration wirtschaftlicher Macht wurde durch den mit ihr verbundenen politischen Einfluß verstärkt (RN 35).
Systeme eine eigene Alternative, ein eigenes ,Modell' anzubieten.", J. Schasching, a.a.O., 39. 12 Vgl. dazu 3. 13 Dem päpstlichen Lehramt wird dann — je nach Standpunkt des Kritikers — mangelnder Realismus oder mangelndes soziales Engagement vorgeworfen, wobei man das mit der eigenen Ideologie übereinstimmende Gedankengut hervorkehrt, den „Rest" aber als Fehleinschätzung ablehnt. 14
Beides: das Recht auf Privateigentum und die staatliche Eigentumsordnung als positivrechtliche Konkretisierung der Gemeinwidmung der Güter der Erde für alle Menschen werden als naturrechtlich fundiert verstanden.
Eigentum i m Dienste des Menschen
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Vor dem Hintergrund dieser Sozialkritik werden die ideologiekritischen Aussagen zum Thema Eigentum entfaltet: Vor allem die Ablehnung der von den Sozialisten geforderten Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, einschließlich von Grund und Boden (RN 4; 12). Für das Recht auf Eigentum macht die Enzyklika anthropologische und gesellschaftliche Gründe geltend: Das individuelle Naturrecht auf Eigentum (RN 4; 7 f.) basiert darauf, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier zur vernünftigen Disposition über seine Güter auch auf Zukunft hin befähigt ist (RN 5 f.). Er ist von daher auch verpflichtet, für sich und seine Familie Vorsorge zu treffen. Jede Übertragung des Eigentums an den Staat würde den Menschen dieser ihm von Natur zukommenden Aufgabe berauben und ihn schutzlos gegenüber einer omnipotenten Staatsgewalt lassen. So widerspricht eine Enteignung der Produktionsmittel nicht nur dem Naturrecht auf Eigentum und der Gerechtigkeit, sondern sie würde auch, anstatt zur Lösung der sozialen Frage beizutragen, die arbeitenden Klassen selbst schädigen (RN 3 f.). Die Frage nach der rechten Ordnung des Eigentums wird so an den konkreten Anlaß des Schreibens, die Arbeiterfrage, zurückgebunden. Als vorrangigen, gesellschaftlichen Grund für das Privateigentum nennt Rerum novarum die Erhaltung des inneren Friedens (RN 12; 30). Jede Totalrevision der Eigentumsverhältnisse würde „Mißgunst, Verfolgung und Zwietracht Tür und Tor öffnen" (RN 12).15 Zugleich mit der Bekräftigung des Eigentumsrechts in all seinen Formen wird die Ausübung dieses Rechts an das Gemeinwohl gebunden. Dies gilt für den einzelnen, der „die äußeren Dinge nicht wie Eigentum, sondern wie gemeinsames Gut betrachten und behandeln (muß)" (RN 19), ebenso wie für den Staat, dem die Sorge um einen sozialen Ausgleich subsidiär zugewiesen wird. Ihm obliegt die Gestaltung der Rechtsordnung zugunsten jener, die zu schwach sind, sich selbst zu schützen (RN29), ebenso wie jener, die in materielle Not geraten sind (RN 11 ; 28). Weiters werden gesetzliche Regelungen zur Begünstigung einer breiten Eigentumsstreuung gefordert und auf die langfristigen politischen Vorteile derartiger Maßnahmen hingewiesen: Eine Verringerung der sozialen Unterschiede und die „Einwurzelung" des Proletariats. Die Aussagen von Rerum novarum zum Thema Eigentum wurden verhältnismäßig ausführlich dargestellt, da bei näherer Betrachtung die folgenden Sozialenzykliken zwar neue Akzente setzen, im Prinzipiellen aber nur mehr ergänzende Aussagen machen. In Quadragesimo anno geht es, was das Eigentum betrifft, in erster Linie um Klarstellungen (vgl. Q A 6 f.). Zur Zeit des Erscheinens der Enzyklika bestand im Gefolge der Weltwirtschaftskrise in allen Industrienationen ein 15
Leider haben sich diese Aussagen in den vergangenen hundert Jahren bewahrheitet. Die ungeheuerlichen Verluste an menschlichem Glück und Leben, sollten jedoch jeden rechthaberischen Triumph darüber i m Keim ersticken.
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hohes Maß an wirtschaftlicher Instabilität, das die starken sozialen Spannungen, die die ökonomischen Wirren der Nachkriegszeit verursacht hatten, weiter verstärkte. Die Enzyklika findet in diesem Kontext scharfe Worte gegen die ungerechten Besitzverhältnisse ihrer Zeit (QA 4; 57; 60). Änderungen seien jedoch nicht von einem neuen Eigentumsbegriff, d. h. einer neuen „christlichen" Wirtschaftstheorie, zu erwarten. 16 Die doppelte Funktion des Eigentums wird im Anschluß an Rerum novarum präzisiert (QA45). 1 7 A n ihr muß sich die positiv-rechtliche Eigentumsordnung orientieren (QA45), wobei es weder zu einer „Abschwächung der Sozialfunktion des Eigentumsrechts" noch zu einer „Aushöhlung seiner Individualfunktion" kommen darf (QA46). In Quadragesimo anno findet sich zudem erstmals die Aufforderung, Rechtsformen zu schaffen, die eine Partizipation der Arbeitnehmer am Unternehmen und seinem Gewinn ermöglichen. 18 Weiters wird zwischen dem Eigentumsrecht und dem rechten Gebrauch des Eigentums unterschieden (QA47; vgl. im Ansatz bereits RN 18). Es besteht eine sittliche Pflicht „zur Mildtätigkeit, zur Wohltätigkeit im weiteren Sinne" (QA 50), die jedoch „nicht im Klagewege erstritten werden" kann. 19 In Mater et magistra (1961) findet sich eine detaillierte Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, die sich seit dem Erscheinen von Quadragesimo anno dreißig Jahre zuvor wesentlich verändert hatten. In dieser Zeit hatte ein Funktionswandel des privaten Eigentums vor allem in den Industrieländern stattgefunden: Systeme sozialer Sicherheit aber auch die Berufsausbildung ersetzten vielfach die materielle Absicherung durch Eigentumsbesitz (MM 105 f.); die Trennung der Funktion des Managers von jener des Eigentümers führte zu neuen und „schwierigen Aufgaben" für den Staat (MM 104); die Ausweitung des öffentlichen Eigentums angesichts der 16 Diese Fragen waren in den Jahrzehnten zuvor (besonders im deutschsprachigen Raum) ausführlich debattiert worden. 17 „Einmütig lehren sie (d.h. die unter der Leitung des Lehramts wirkenden Theologen), das Sondereigentumsrecht sei von Natur, ja vom Schöpfer selbst dem Menschen verliehen, einmal damit jeder für sich und die Seinen sorgen könne, zum andernmal, damit mittels dieser Institution die vom Schöpfer der ganzen Menschheitsfamilie gewidmeten Erdengüter diesen ihren Widmungszweck wirklich erfüllen." (QA 45). 18
Das Lohnverhältnis solle „nach Maßgabe des Tunlichen" an ein Gesellschaftsverhältnis angenähert werden „zum beiderseitigen nicht geringen Vorteil der Arbeitnehmer wie der Produktionsmittelbesitzer. Arbeiter und Angestellte gelangen auf diese Weise zu Mitbesitz oder Mitverwaltung oder zu irgendeiner A r t Gewinnbeteiligung" (QA 65). 19
„Als der Tugend der Großzügigkeit entsprechend" wertet die Enzyklika die Schaffung von Arbeitsplätzen zur Produktion notwendiger und wertvoller Güter (QA51), ohne diesen Ansatz jedoch weiter auszuführen.
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wachsenden Aufgaben des modernen Wohlfahrtsstaates barg die Gefahr einer Machtakkumulation im öffentlichen Bereich (MM 117 f.). Auf ideologiekritischer Ebene wird die Doppelfunktion des Eigentums in neuer Weise artikuliert: Es dient zum einen der Wahrung der Freiheit und der Persönlichkeitsentfaltung (MM 112), wozu die Möglichkeit, wirtschaftliche Initiativen zu ergreifen, gehört. Zum anderen wird unter Zitation der Pfingstbotschaft Pius XII. 1941 wiederholt, daß der Gemeinnutzen des Eigentums dem privaten Nutzungsrecht vorausgehe, denn „nach dem W i l len des Schöpfers (sind) alle Güter an erster Stelle auf die menschenwürdige Versorgung aller hingeordnet." (MM 119). Diese naturrechtliche Verankerung der Gemeinwidmung der Güter bildet in der Folge die Basis für die Forderung nach ihrer gerechten Verteilung, sei es zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen „verschiedenen Wirtschaftszweigen untereinander", zwischen „wirtschaftlich unterschiedlich gestellten Gebieten ein und desselben Landes" oder zwischen wirtschaftlich und gesellschaftlich in verschiedenem Grade entwickelten Ländern." (MM 122). Die Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils, Gaudium et spes, als Dokument der Gesamtkirche, stellt in ihrem Dritten Teil deren Eigentumslehre nochmals komprimiert dar. Die vielfältigen ökonomischen und sozialen Gleichgewichtsstörungen (GS 63; 65 f.) sind eine Bedrohung für die Würde des Menschen, wenn sie dem Grundsatz widersprechen, daß „Gott die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt (hat) ; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen; dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe." (GS 69). Diese Gemeinwohlbestimmung ist bei der Ausgestaltung der konkret-rechtlichen Eigentumsordnung zu beachten und bringt die individuelle Verpflichtung mit sich, auch die persönlichen Güter als Gemeingut zu betrachten. Deshalb kommt allen ein Recht auf angemessene Versorgung zu, dem für die Begüterten die Pflicht entspricht, die Notleidenden nicht nur vom Überfluß zu unterstützen. 20 Populorum progressio ist ein Aufruf gegen den „Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern noch mehr in deren Gebrauch" (PP 9). Wenn nicht „der Reichtum der Reichen und die Stärke der Starken noch größer werden" sollen (PP 33), dann bedürfe es einer massiven, internationalen Umverteilung, um bessere Ausgangsbedingungen für einen fruchtbaren, internationalen Wettbewerb zu schaffen. Die Enzyklika prägte dafür das vielzitierte Wort: „Entwicklung ist der neue Name für Friede" 20
Darüber hinaus billigt GS jenen in äußerster Not (extrema necessitate), das Recht (ius) zu, sich vom Reichtum anderer das Benötigte zu beschaffen: das alte Recht auf Mundraub; vgl. bereits S.Th. II-II, q. 66, a. 7.
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(PP76; vgl. auch SRS 19).21 Im Hinblick darauf wird die Einschränkung des Eigentumsrechts durch seine Gemeinwohlverpflichtung besonders betont (vgl. PP23; 26). Die Entwicklungsenzyklika Sollicitudo rei socialis 22 wiederholt diesen „Appell an das Gewissen" angesichts einer wachsenden Kluft zwischen armen und reichen Ländern sowie verschiedenen Klassen in den Entwicklungsländern selbst (SRS 14; 28). In beiden Enzykliken findet sich die tragische Einsicht ausgesprochen, daß die menschliche Entfaltung nicht nur durch Mangel, sondern auch durch Überfluß gefährdet sein kann. Eine Verkehrung der Hierarchie der Werte, Habsucht (PP 19,42) und konsumistischer Mißbrauch (SRS 29) tragen so Mitschuld an einer „moralischen Unterentwicklung" des „Nordens" (PP19) und der Verelendung des „Südens". Anläßlich des 100jährigen Jubiläums von Rerum novarum greift Centesimus annus im vierten Kapitel 2 3 die wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit (Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer; ökologische Frage, vgl. C A 35; 37) auf und faßt die Entwicklungslinien der päpstlichen Lehre zusammen. Das Eigentum hat dem Menschen und seiner Würde zu dienen: Dazu gehört das Privateigentum unter den Bedingungen einer modernen Wirtschaft, ebenso wie die Achtung der naturrechtlich verankerten Widmung der Güter der Erde an alle Menschen (CA 31). Denn die äußeren Güter und ihr Besitz sind für den einzelnen und für die Menschheit nicht mehr und nicht weniger als Mittel zum Wachstum hin zu einem volleren Menschsein (CA 41). I I I . Die Entwicklung in Österreich im Überblick i. Vor dem Ersten Weltkrieg Die katholisch-soziale Bewegung Österreichs wurde in ihren Anfängen von hervorragenden Persönlichkeiten geprägt. Als Theoretiker sind vor 21 Joh. Messner geht soweit zu sagen, daß ihr „Lehrgehalt eine neue Sozialmoral enthält angesichts der die heutige Sozialsituation der Welt bestimmenden Tatsachen". Johannes Messner, Populorum Progressio: Wende in der christlichen Soziallehre: Gesellschaft und Politik, Heft 1/1968, Jahrgang 4, 16-24. Ähnlich H. Schambeck, Populorum Progressio und das Zweite Vaticanum, a.a.O., 39: „Diese Weiterentwicklung zeigt sich sehr deutlich in der Eigentumslehre der Entwicklungsenzyklika." 22
Nur erwähnt sei hier die erste Sozialenzyklika von Johannes Paul II., Laborem exercens. Da das Eigentum durch Arbeit entsteht, habe es im Dienste der Arbeit zu stehen (LE 14,3). Aus dieser Perspektive ergibt sich das „Recht auf die gemeinsame Nutzung, der Bestimmung der Güter für alle", dem das private Eigentumsrecht untergeordnet ist (LE 14,2). 23 Schasching nennt es das wichtigste Kapitel der Enzyklika, vgl. J. Schasching, a.a.O., 38.
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allem Karl Freiherr von Vogelsang und F. M. Schindler zu nennen. Als Proponenten verschiedener Wege katholischen Sozialdenkens kommt ihnen für die nachfolgende Zeit exemplarische Bedeutung zu. W i e viele der sozialen „Pioniere" Österreichs im 19. Jh. kam Vogelsang aus dem Adel. Geprägt von den Ideen der katholischen Romantik, die zu Anfang des Jahrhunderts mit dem hl. Klemens Maria Hofbauer und Fr. W. v. Schlegel ihr Zentrum in Wien hatte, standen sie der modernen, industriellen Welt und dem liberalistischen Gedankengut skeptisch bis ablehnend gegenüber. Den Maßstab der Kritik bildete — ganz im Geiste der Romantik — eine idealisierte, mittelalterlich-christliche Gesellschaftsordnung. 24 Durch das Eindringen heidnischen Gedankenguts seit der Renaissance und noch radikaler im Gefolge die Aufklärung sei diese zerstört worden. Diese Kritik an der Moderne findet ihren prägnantesten Ausdruck in der Ablehnung der bestehenden Eigentumskonzeption: Durch die Übernahme des römischen (justinianischen) Rechts sei ein römischer, d. h. heidnischer, individualistischer Eigentumsbegriff an die Stelle des christlich-germanischen getreten. Die Gemeinwohlbindung des Eigentums sei so gelöst und die Entwicklung des Kapitalismus ermöglicht worden, der seinerseits verantwortlich sei für die vielfältigen Verzerrungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens und die Schuld an der Proletarisierung und Pauperisierung ganzer Bevölkerungsschichten trage. Als letzter Grund für die ungerechten sozialen Zustände i m 19. Jahrhundert galt so ein falscher Eigentums begriff. 25 Vogelsang und seine Schüler stellten das gemeinsame Eigentumsrecht über den Rechtsanspruch des einzelnen, denn „nach dem Naturgesetz haben alle Menschen das Recht auf den Gebrauch der Dinge, welche für sie und für ihren Unterhalt geschaffen wurden." 26 Er folgerte daraus das prinzipielle Ungenügen der bestehenden Eigentumsordnung, von deren Änderung er sich die Entproletarisierung des Proletariats, d. h. seine Absorption als Klasse, erhoffte. In der Frage nach einer Alternative zur bestehenden Rechtslage blieb Vogelsang freilich romantisch-vage. 27 Die politische Umsetzung der christlich-sozialen 24
Vgl. Wiard Klopp, Die socialen Lehren des Freiherrn Karl von Vogelsang. Grundzüge einer christlichen Gesellschafts- und Volkswirtschaftslehre aus dem literarischen Nachlasse desselben, St. Pölten 1894, 86 et passim, vgl. dazu auch E. Bader, Die geistige Grundlegung der christlichen Sozialreform. Karl Freiherr v. Vogelsang, W i e n 1990, 89 ff. et passim. 25 Die Kritik entzündete sich am — im Anschluß an den Code Napoleon — liberalistisch geprägten Eigentumsbegriff des ABGB § 362, wonach Eigentum das Recht bezeichnet, „seine Sache nach Willkür zu benutzen ...". 26 Ebenda, 258. Vogelsang beruft sich dabei auf den hl. Alfons v. Liguori und stand in der Tat mit dieser Sicht ganz in der Tradition der katholischen Moraltheologie. 27 Vgl. z. B. „Wie unsere Vorfahren keine Autokratie duldeten, so wird sie auch in einer nach deutsch-christlichem Rechte reorganisierten Volksgemeinschaft nicht vorkommen; weder eine monarchische, noch eine junkerliche, noch eine industrielle, alle werden zugleich dienen und herrschen, jeder nach seiner Art, jeder an seinem Platze, jeder für sich, jeder aber auch für das Allgemeine.", zit. nach Wiard Klopp, a.a.O., 247.
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Ideen verlangte jedoch nach praktikablen Lösungen. Eine Entwicklung, die durch das Erscheinen von Rerum novarum im Jahre 1891 unterstützt wurde. Sie ist in Österreich mit dem Namen F. M. Schindler verbunden. 28 Er gehörte zu den Initiatoren der 1892 gegründeten Leo-Gesellschaft, deren sozialwissenschaftliche Sektion sich auf hohem wissenschaftlichen Niveau der sozialen Frage widmete; er organisierte die „Wiener socialen Vortragskurse", an denen vom 7. bis 10. August 1894 mehrere hundert Personen aus der ganzen Monarchie teilnahmen; er war auch maßgeblich an der Erstellung des ersten Programms der christlich-sozialen Partei 1895 beteiligt. Bei prinzipieller Akzeptanz der wirtschaftlichen Verhältnisse forderten er und seine Nachfolger die Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Hinblick auf das Gemeinwohl ein, 2 9 ebenso wie eine breite Eigentumsstreuung. 30 W i e die kurze Skizze zeigt, sind mit den Namen Vogelsang und Schindler zwei Wege christlich-sozialen Engagements verbunden, die die vergangenen hundert Jahre, wenn auch in sich wandelnder Form, wirksam geblieben sind. Verbindend war der gemeinsame Einsatz für größere soziale Gerechtigkeit, getrennt waren sie durch ein unterschiedliches Temperament, und eine dementsprechende andere Weltsicht. 3 1
2. Nach dem Ersten Weltkrieg Nach dem Zusammenbruch der Monarchie befand sich die junge österreichische Demokratie wirtschaftlich in einer äußerst prekären Lage. Dies führte zu einer Verschärfung des sozialen Kampfes und zur Polarisierung der innergesellschaftlichen, und damit auch der innerkatholischen Positionen. 28
Vgl. dazu vor allem F. Funder, Aufbruch zur christlichen Sozialreform, Wien
1953. 29
Vgl. dazu F. M. Schindler, Die soziale Frage, W i e n 41908, 72-88. Als eines unter vielen vgl. z. B. folgendes Zitat: „Communismus und Socialismus, Abschaffung des Privateigentums überhaupt oder Beraubung der Wohlhabenden und Reichen sind lauter Massregeln, welche den arbeitenden Classen weder dauernd, noch selbst vorübergehend zu helfen vermögen. Das Privateigentum muss vielmehr aufrecht bestehen bleiben, ja noch mehr es muss sich nach unten ausbreiten, den Kleinsten im Volke zugänglich und erreichbar werden als Lohn des Fleisses, als festes unverlierbares Erbteil der arbeitenden Familie. 11 , A. Liechtenstein, Die geschichtliche Entwicklung der heutigen wirtschaftlichen Lage: Sociale Vorträge gehalten bei dem Wiener socialen Vortragscurs 1894, hrsg. v. F. M. Schindler, Wien 1895, 27-39, 37. 30
31 F. Funder, a.a.O., 8, charakterisiert Schindler folgendermaßen: (f Er war kein zweiter Vogelsang, er war nicht der Mann, der leidenschaftliche Anklage gegen die sündigen Mächte der Zeit schleuderte. Er führte die Feder, nicht das Schwert. Er war gegenüber dem kranken Organismus der Gesellschaft eher wie ein sorgfältig mit geschulten Augen beobachtender und dann die Diagnose mit scharfer Erkenntnis stellender großer Arzt."
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Die theoretische Auseinandersetzung um die Eigentumsfrage spiegelt in dieser Zeit die Kontroversen zwischen den sozialen Richtungen innerhalb des katholischen Lagers insgesamt wider. Es standen einander in dieser Frage die Vertreter der „Sozialreform" und der „Sozialpolitik" gegenüber, 32 die einander heftige publizistische Gefechte lieferten. Thema der „bis zum Überdruß geführten Debatte" war: 3 3 Gibt es neben dem liberalistischen und kommunistischen einen spezifisch christlichen Eigentumsbegriff (der die Nachteile beider Ideologien aufzufangen imstande ist)? Auf der wirtschaftlich-rechtlichen Ebene hieß dies: Kann die Sozialpflichtigkeit des Eigentums an Produktionsmitteln (die wie dieses selbst von keiner der katholischen Gruppen bestritten wurde) im positiv-rechtlichen Eigentumsbegriff rechtlich verankert und so der Eigentumsmißbrauch ausgeschaltet werden? Die Vertreter der „Sozialreform" bejahten dies und verbanden damit die Hoffnung auf eine grundlegende Revision der wirtschaftlichen Gegebenheiten aus christlichem Geist. Die „Sozialpolitiker" verneinten und argumentierten für eine schrittweise Reform der vorgegebenen Wirtschaftsordnung und ihres gesetzlichen Rahmens. Die dramatische soziale Situation, in der sich diese Debatte abspielte und die ihre Härte erst verständlich macht, findet sich auch in den bischöflichen Hirtenworten von 1918 und 1925 wieder. 34 Ihre appellative Verurteilung der Ideologien 35 mag die Hoffnung auf einen „Dritten Weg" genährt haben. 36
32 Ich greife hier in Ermangelung einer besseren Terminologie auf jene von A. Diamant, Die österreichischen Katholiken und die Erste Republik. Demokratie, Kapitalismus und soziale Ordnung 1918-1934 (Princeton 1960), W i e n o. J., der ausführlichsten Studie über diese Zeit, zurück; F. Arnold spricht von den „Wiener Richtungen": Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Band 5, Freiburg 51932, 12951305. Die Vertreter der „Sozialreform", hier seien A. Orel und K. Lugmayer, A. M. Knoll und K. Kummer genannt, kamen großteils aus der christlichen Arbeiterbewegung. In der „Sozialpolitik", die in der Folge die Sozialpolitik der christlich-sozialen Partei prägte, verbanden sich solidaristische und sozialrealistische Richtungen. Ihre Vertreter waren J. Biederlack SJ und seine Schüler, später J. Messner und Ä. Schöpfer, weiters die Politiker Lueger, Richard und Hans Schmitz u. a. Vgl. dazu A. Brusatti, Österreichische Wirtschaftspolitik vom Josephinismus zum Ständestaat, W i e n 1965,196, und die Liste der sozialpolitischen Gesetze im Anhang, 156 f. 33 So Ο. v. Nell-Breuning, Die drei Eigentumsbegriffe, Das neue Reich 1926/27, 9. Jg., Nr. 21 vom 19.2.1927, 414 f. Aus der Fülle der Veröffentlichungen seien nur erwähnt: Im Neuen Reich: O. v. Nell-Breuning, Zur Eigentumsfrage. I. Begriff und Pflichten des Eigentums: 1926/27, 9. Jg., Nr. 27 vom 2.4.1927, 537-40, Zur Frage des Eigentums. II. Staat und Eigentum, Nr. 28, 17.4.1927, 560-62; Ä. Schöpfer, Zur Kontroverse über das „Eigentum": 1927/28, 10. Jg. vom 24.12.1927, 261-263 u.a.; weiters V. Cathrein, Die Eigentumslehre des Viktor Cathrein: ThPQu 81 (1928), 1626, als Verteidigung gegen einen Artikel gleichen Titels von K. Lugmayer, in: Neue Ordnung, September 1927; A. Schmitt, Eigentum und soziale Pflichten: ThPQu 82 (1929), 255-65.
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Wie J. Messner in seinem Referat auf der Katholisch-sozialen Tagung 1929 aufzeigte, war die Frage, die sich in der Eigentumsdebatte zuspitzte, jedoch von ihrem Ansatz her verfehlt. Eine Änderung des Eigentumsbegriffes konnte für sich genommen keine größere Gemeinwohlorientierung im Gebrauch des Eigentums garantieren, oder den Eigentumsmißbrauch ausschließen. Dies ging nur über gesetzliche Regelungen, vor allem auch im Bereich des Arbeitsrechts. 37 Davon ist die sittliche Forderung des rechten Eigentumsgebrauchs zu unterscheiden, die immer wieder eingemahnt werden müsse aber nicht rechtlich einklagbar sei. Im Anschluß an die Katholisch-soziale Tagung 1929, die zu keiner Einigung führte, nahmen die Bischöfe Österreichs dezidiert zugunsten der sozialpolitischen Position 38 Stellung und mit dem Erscheinen von Quadragesimo anno, das nicht zuletzt von diesen Debatten inspiriert worden war, verebbten die Auseinandersetzungen. Der Grund für die heftigen Debatten waren nicht nur und zuerst die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen, sondern — wie bei Vogelsang und Schindler — das Weltbild der Kontrahenten selbst, nur daß nun in einer Zeit verschärfter sozialer und ideologischer Spannungen die Kluft nicht mehr überbrückbar war: Der Forderung nach spezifisch christlichen Lösungen, z.B. auch in der Eigentumsfrage, lag ein tiefes Unbehagen gegenüber den „neuen Verhältnissen" der Moderne zugrunde. Die sozialpolitische Richtung hingegen stand der Gegenwart um vieles unvoreingenommener gegenüber. W i e G. Gundlach in seinem Referat auf der Katholisch-sozialen Tagung 1929 programmatisch ausführte: „Insofern christliche Sozialreform auf die Menschheit i m dynamischen Sinne zielt, also ... auf das geschichtliche Geschehen zielt, knüpft sie jeweils an die h i s t o r i sche S i t u a t i o n (Sperrung i m Original) an ... Für uns ist also immer die jeweilige historische Situation positiv zu werten und gut genug, um an sie anzuknüpfen mit christlichen Sozialbestrebungen ... W i r können die bessere Welt nur organisch aus 34 Vgl. dazu J. Schasching, Kirche und soziale Frage: Kirche in Österreich 19181965, hrsg. von F. Klostermann, H. Kriegl, O. Mauer, E. Weinzierl, I. Band, W i e n 1966, 245-48. Den Hirtenbrief von 1925 verfaßte Bischof S. Waitz, ein Schüler Biederlacks, zusammen mit J. Messner. 35
So distanziert sich der österreichische Episkopat im Rundschreiben von 1925 in scharfen Worten vom Liberalismus und der resultierenden Wirtschaftsordnung, dem „mammonistischen Kapitalismus", mit seinem „pflichtenlosen Eigentumsrecht", vgl. A. M. Knoll, Kardinal Fr. G. Piffl und der österreichische Episkopat zu sozialen und kulturellen Fragen 1913-32, W i e n 1932, 39. 36
Diese Suche nach einem kohärenten, sozialen christlichen Modell gerade in der christlichen Arbeiterbewegung erklärt sich wohl daraus, daß sie versuchen mußte, ihren Anhängern eine echte Alternative zur sozialistischen Idee zu bieten. 37
J. Messner, Eigentums- und Arbeitsrecht in der christlichen Sozialreform: Die Katholisch-Soziale Tagung in Wien, W i e n 1929, 70-88, 82 f. 38 Kundgebung des österreichischen Episkopats zur sozialen Frage, Jänner 1930, A . M . Knoll, a.a.O., 155-65.
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dem Vorhandenen, seinen guten Elementen, entwickeln. Das ist es, wenn wir als christliche Sozialreformer von „ A n p a s s u n g ' 1 an die bestehenden Verhältnisse bei unseren Reformbestrebungen sprechen." 39
Die Konzeption eines „christlichen" Eigentumsbegriffs war daher von ihrem Ansatz her zum Scheitern verurteilt. Aus der Sicht der „Nachgeborenen" 4 0 erscheint sie als ein Korrektiv, von dem wertvolle Impulse ausgingen. 41 3. Nach dem Zweiten Weltkrieg Die politische und wirtschaftliche Lage Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg war, was die äußeren Bedingungen, aber auch das Klima innenpolitischer Zusammenarbeit betraf, um vieles günstiger als nach dem Ersten. Das Recht auf Eigentum auch an Produktionsmitteln wurde von keiner der großen politischen Parteien bestritten. 42 Durch die entspanntere politische und soziale Situation verloren auch die Diskussionen innerhalb des christlich-sozialen Lagers zunächst an Schärfe. Im Zentrum standen weniger Grundsatzfragen, als das Ringen um konkrete Vorschläge zur Verwirklichung einer breiteren Eigentumsstreuung, einem Anliegen aller Gruppierungen, 43 und einer weitergehenden Mitbeteiligung der Arbeitnehmer auf Betriebsebene, zu der es unterschiedliche Standpunkte gab. Dazu kam ab Mitte der sechziger Jahre die Frage der internationalen Güterverteilung. Beides soll zum Abschluß kurz beleuchtet werden. In der Frage der innerstaatlichen Eigentumsordnung ging es um die Sinnhaftigkeit und Zweckmä39 G. Gundlach, Die christliche Sozialreform in ihrem Gegensatz zu liberalistischen und sozialistischen Lösungsversuchen der sozialen Frage: Die KatholischSoziale Tagung in Wien, W i e n 1929, 32-47, 35 f. 40 Vgl. das bedenkenswerte Gedicht von B. Brecht „ A n die Nachgeborenen", wo es heißt: „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / in der wir untergegangen sind / gedenkt / wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / auch der finsteren Zeit / der ihr entronnen seid ... / gedenkt unser mit Nachsicht." 41 Vgl. W. Ettmayer, Der Eigentumsbegriff in der katholischen Soziallehre und sein Einfluß auf die Gestaltung der politischen Wirklichkeit in Österreich: Festschrift für Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, Berlin 1976, 331-361, 356 f. 42
In der parteipolitischen Auseinandersetzung um die Eigentumsordnung ging es um Einzelthemen, vor allem um Fragen nach der Berechtigung der verstaatlichten Industrien. Zur Reprivatisierungsdebatte der letzten Jahre vgl. dazu z. B. W. Schüssel, Die Diskussion um Privatisierung und Eigentumsbildung in Österreich: Österreichisches Jahrbuch für Politik '86, hrsg. v. A. Khol / G. Ofner / A. Stimemann, W i e n 1987, 327-340. 43
Vgl. dazu z. B. M. Drenning, Vermögensbildung und die christliche Soziallehre: Gesellschaft und Politik, H. 1/1971, 7. Jg.; „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand": Gesellschaft und Politik, H. 2/1977, 13. Jg.; und die Studie E. Langer / R. Weiler, „Die gesellschaftspolitische Bedeutung der breitgestreuten Eigentums- und Vermögensbildung: Gesellschaft und Politik, H. 1, 1985, 21. Jg.
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ßigkeit einer i n n e r b e t r i e b l i c h e n M i t b e t e i l i g u n g der A r b e i t n e h m e r . 4 4 Z i e l dieses M i t e i g e n t u m s an P r o d u k t i o n s m i t t e l n w a r e n die „Entproletarisierung des Proletariats", w i e sie bereits Vogelsang gefordert h a t t e ; 4 5 die Freiheitssicherung u n d Bewußtseinsformung der Person u n d die V e r h i n d e r u n g der V e r m ö g e n s k o n z e n t r a t i o n als Gefahr für d e n gesellschaftlichen Pluralism u s . 4 6 W i s s e n s c h a f t l i c h beschäftigte sich A . Burghardt, O r d i n a r i u s für Soziologie, m i t d i e s e m A n l i e g e n . 4 7 D a sich die N e u o r d n u n g der Gesellschaft n a c h Burghardt ü b e r die E i g e n t u m s o r d n u n g v o l l z i e h t , deren letztes Z i e l die Entfaltung der F ä h i g k e i t e n des a r b e i t e n d e n M e n s c h e n ist, b i l d e n das M i t e i g e n t u m ( u n d andere B e t e i l i g u n g s f o r m e n ) 4 8 an d e n P r o d u k t i o n s m i t t e l n u n d die e n t s p r e c h e n d e n Rechtsformen d e n I n d i k a t o r für d e n Stand der sozialö k o n o m i s c h e n E n t w i c k l u n g der Gesellschaft. 4 9 A n d e r s als Burghardt äußerte sich J. Messner, der N e s t o r der k a t h o l i s c h e n Sozialethik i n Österreich, skeptisch gegenüber der ö k o n o m i s c h e n Z w e c k m ä ß i g k e i t einer innerbet r i e b l i c h e n B e t e i l i g u n g . 5 0 Für Messner ist die gesamtwirtschaftliche O r d 44
Ein Ort der Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung war das 1953 gegründete Institut für Sozialpolitik und Sozialreform, das die Tradition der christlichen Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit fortsetzte. Bereits die Zweite Wiener Soziale Woche 1956 und in der Folge eine Vielzahl von Veranstaltungen war dieser Frage gewidmet. Vgl. A. M. Knoll / K. Kummer (Hrsg.), Nicht Konzentration, sondern Streuung des Eigentums. Vorträge und Ergebnisse der Zweiten Wiener Sozialen Woche (Schriftenreihe d. Inst. f. Sozialpolitik und Sozialreform, H. 5), Wien 1956; J. Taus (Hrsg.), Das Miteigentum als Ordnungsfaktor der modernen Industriegesellschaft (Schriftenreihe d. Inst. f. Sozialpolitik und Sozialreform, H. 13), W i e n I960; N. Hovorka, Siebzig Jahre Enzyklika „Rerum novarum". Vorträge und Ergebnisse der Siebenten Wiener Sozialen Woche (Schriftenreihe d. Inst. f. Sozialpolitik und Sozialreform, H. 15), W i e n 1961. 45 Vgl. z.B. K. Kummer, Christliche Sozialidee — Erbe und Verpflichtung: N. Hovorka (Hrsg.), a.a.O., 56. 46 Vgl. K. Kummer, Diskussionsbeitrag anläßlich des Gewerkschaftskundlichen Gesprächs 1964 „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand": Gesellschaft und Politik, H. 2/1965, 1. Jg., 54. 47 Bereits seine Habilitationsschrift war diesem Thema gewidmet. A. Burghardt, Eigentumsethik und Eigentumsrevisionismus. Vom Abfindungslohn zum Miteigentum (Handbuch der Moraltheologie, Band X), München 1955. 48 Burghardt unterscheidet in aufsteigender Reihe bis hin zum vollen Miteigentum: Reallohnsteigerungen, Gewinnbeteiligung, Verlustbeteiligung sowie Mitbestimmung und Vermenschlichung der Betriebsatmosphäre (Human relations). Α. Burghardt, a.a.O., 135-180. 49
Nur am Rande sei erwähnt, daß der Sozialhirtenbrief der Bischöfe Österreichs von 1956 im Partnerschaftssystem, bzw. im Partnerschaftsbetrieb, mit Mitarbeitervertrag, Betriebsvertretung und Gewinnbeteiligung, die der „Lehre der Kirche gemäße Sozialordnung" i m Dienste des Friedens und der Vermenschlichung des Arbeitsprozesses sah: Der Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe. Im Auftrag der Bischofskonferenz, herausgegeben und mit einem Kommentar versehen von Bischof Dr. Paul Rusch, Innsbruck 1957.
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nungsfunktion des Privateigentums damit gegeben, daß es eo ipso eine Dezentralisierung wirtschaftlicher Macht bewirkt und so die Freiheit des einzelnen sichern hilft, 5 1 wobei eine breite Eigentumsstreuung das gemeinsame Interesse an den bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen „eines der stärksten Bande der Einheit der Gesellschaft" 52 stärkt. Sie soll jedoch im allgemeinen nicht über ein innerbetriebliches Miteigentum erreicht werden, da dieses zu Immobilität der Arbeitskräfte, der Entscheidungsprozesse (Betriebsegoismus) und der Kapitalallokation führt, die den Betrieb daran hindern, seine Funktion in der Gesamtwirtschaft zu erfüllen. Wiewohl das Anliegen weiterhin präsent ist, 53 verlor die Auseinandersetzung gegen Ende der sechziger Jahre an Momentum. Positive Beispiele zeigen, daß eine Umstellung der Betriebsorganisation zum Nutzen beider Partner möglich ist, aber hoher Motivation bedarf. Dies spricht gegen eine allgemeingesetzliche Regelung, 54 nicht jedoch gegen Modellversuche, die zu einem höheren Maß an Eigenverantwortung der Arbeitnehmer führen, das auch im allgemein-gesellschaftlichen Interesse liegt. 55 Zum Abschluß noch einige Anmerkungen zur internationalen Frage der Güterverteilung, der auch der Jubilar einen guten Teil seines Lebenswerkes gewidmet hat. Die Lehre, daß die Güter der Erde allen Menschen von ihrem Schöpfer her gemeinsam sind, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu 50
Messner war ab 1935 Univ. Prof. für Ethik und Sozialwissenschaften der Katholisch-theologischen Fakultät in Wien. 51 So faßt J. Messner in „Das Naturrecht", a.a.O., 1071, zusammen: „Das Privateigentum fördert und schützt die natürliche Ordnung von Gesellschaft und Staat. Denn diese Ordnung ist, weil im Dienste der menschlichen Person, wesenhaft Freiheitsordnung. " 52 Ebenda, 1079. 53
So stellt der Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe 1990: Der Mensch ist der Weg der Kirche, in Nr. 40 fest, daß die Beteiligung am eigenen Betrieb nicht durch Leistungen der Sozialversicherung oder durch überbetriebliche Mitbestimmung ersetzt werden könne. 54 Sie wäre auch politisch nicht durchsetzbar, da sowohl von Unternehmer- als auch von Gewerkschaftsseite Vorbehalte bestehen. 55 So widmet sich die 1958 von der Österreichischen Bischofskonferenz gegründete Katholische Sozialakademie Österreichs der Heranbildung von Belegschaften für Mitbestimmungsmodelle. Die Ausbildungsseminare für Unternehmen haben das Ziel, Management und die Belegschaft zur gemeinsamen Gestaltung einer partnerschaftlichen Arbeitsorganisation zu motivieren. Sie werden sowohl für den äußerkirchlichen als auch den innerkirchlichen Bereich jeweils auf betriebsindividueller Basis entwickelt. Weitergehende Beteiligungsprojekte bedürfen allerdings jahrelanger Schulung und setzen einen hohen Grad von Motivation voraus. So stellte ein Unternehmer, der seit Jahren erfolgreich seinen „Beteiligungsbetrieb" leitet, fest, daß „eine materielle Beteiligung (große Gefahr der Selbstverständlichkeit), soll sie langfristig funktionieren, eine immaterielle Beteiligung unbedingt erforderlich (macht)." Vgl. Kurzmitteilung über das Projekt von Josef Lins.
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ermöglichen, auf globaler Ebene umzusetzen, ist heute ebenso herausfordernd und politisch spannungsträchtig wie die Arbeiterfrage im 19. Jh. Die Aufgabe ist umso schwieriger, da es kein internationales Äquivalent der nationalen Eigentumsordnung gibt, und multilaterale und bilaterale vertragliche Rahmenordnungen auch dort, wo sie bestehen, äußerst labil sind. Darüber hinaus fehlt der wirksame politische Druck für tiefergreifende Änderungen, wie er für die Lösung der sozialen Frage im 19. Jh. bestand. Dennoch wird die friedliche Entwicklung der Welt wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, den Eigentumsgebrauch international entsprechend dem Gerechtigkeitsempfinden der Völker zu regeln. Diesem äußerst dringenden Anliegen der internationalen Güterverteilung wurde in Österreich bisher nicht der gebührende Stellenwert zuerkannt. 56 Den Österreichern, als Bewohnern eines Kleinstaates, der nie Kolonialmacht war, fällt es schwer, einen Zugang zur Nord-Süd-Problematik zu finden. So ist Österreich trotz diplomatischer Initiativen für und mit der Dritten Welt, was Entwicklungshilfeleistungen betrifft, sowohl quantitativ als auch qualitativ ein Schlußlicht unter den Industrienationen 57 . Gruppen, die sich mit der Nord-Südfrage beschäftigen, stellen trotz vielfältiger Initiativen in der Politik und auch in der Kirche 5 8 bis heute eine Subkultur dar. Der wiederholte Appell der Sozialenzykliken an die industrialisierten Staaten zu einem wirksamen internationalen Ausgleich in der Güterverteilung beizutragen, eine Art globaler Sozialpartnerschaft zu institutionalisieren, wäre gerade heute angesichts wachsender Partikularismen besonders notwendig. Die positiven Erfahrungen sozialen Ausgleichs i m österreichischen Binnenraum, die nicht zuletzt die Frucht katholisch-sozialen Denkens sind, müßten dafür mit verstärktem Engagement eingebracht werden. Die Eigentumslehre der Sozialenzykliken und die Entwicklung in Österreich zeigen, daß der christlich-soziale Einsatz von seinen Anfängen her geistig und politisch zwischen den Ideologien angesiedelt war. Die Impulse, die davon ausgingen, erwiesen sich als fruchtbar, wenn sie der Versuchung 56
Vgl. Bischof F. Kuntner, Österreich und die internationale Entwicklungszusammenarbeit. Festrede zum 20. Jahrestag der Veröffentlichung der Enzyklika „Populorum progressio", 27. März 1987, hrsg. v. der Koordinierungsstelle der österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission, 7 ff. 57 „Diese Leistungsschwäche ... zeugt... von einem unterentwickelten Interesse der Öffentlichkeit an weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Fragen." V. Sertie, Analyse und Bilanz eines Jahrzehnts österreichischer Entwicklungshilfepolitik: Österreichisches Jahrbuch für Politik '88, hrsg. von A. Khol / G. Ofner / A. Stirnemann, W i e n n 1988, 133-153, 133. 58 Einen Überblick über die Vielzahl von kirchlichen Projekten bietet der Jahresbericht der Koordinierungsstelle der österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission. Leistung der Mitglieder für die 3. Welt im Jahre 1987-89, W i e n 1990.
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widerstanden, sich ideologisch und politisch vereinnahmen zu lassen oder selbst systembildend sein zu wollen, d. h. wo sie in der Suche nach humanen Lösungen an der Förderung eines Mehr an sozialer Gerechtigkeit mitwirkten. Dieses „unterwegs mit den Menschen sein" kann weder durch eine Identifikation mit dem status quo noch durch — und das hat nicht zuletzt das Scheitern des Staatskommunismus gerade auch in der Eigentumslehre gezeigt — die Hoffnung auf der Wirklichkeit übergestülpte Totalmodelle ersetzt werden.
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3 Festschrift Schasching
WELCHER MARKTWIRTSCHAFT GEHÖRT DIE ZUKUNFT? Überlegungen im Anschluß an Centesimus annus* Von Walter Kerber S.J.
Die Welt ist froh über die Wende in den Ländern des Ostblocks hin zur Marktwirtschaft; sie fühlt sich von Ängsten befreit durch den Zusammenbruch des marxistischen Kommunismus — und zwar nicht nur im Westen. Auch in den Ländern des Ostblocks hatten die Menschen das sozialistische Experiment mit seinen großen Versprechungen und tiefen Enttäuschungen einfachhin satt! Führte der marxistische Kommunismus mit seiner Knebelung der wirtschaftlichen Freiheit doch mit innerer Notwendigkeit auch zur Unterdrückung der politischen, der sittlichen, der religiösen Freiheit. Um den Durchbruch dieser Freiheit zu unterstützen, erklärt sich der Westen sogar bereit, den bisherigen Feinden großzügige Wirtschaftshilfe zu gewähren unter der Bedingung, daß sie die Grundsätze der Marktwirtschaft übernehmen. Auch das offizielle Lehramt der katholischen Kirche, das dem Wettbewerb und der Marktwirtschaft lange Zeit mit Reserve gegenüberstand, 1 hat in der Enzyklika Centesimus annus ganz offenkundig Frieden mit der Marktwirtschaft geschlossen. Wie es zu dieser Akzentverschiebung in der katholischen Gesellschaftslehre kam, wird sich mit genügender Sicherheit erst dann einmal feststellen lassen, wenn die betreffenden Dokumente der vatikanischen Archive zugänglich gemacht werden. Als sicher kann aber gelten, daß bei der Vorbereitung der Enzyklika Centesimus annus auch der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, eine einflußreiche Rolle gespielt hat.
* Dieser Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser auf Einladung von Johannes Schasching i m November 1991 in kleinem Kreise an der Gregorianischen Universität in Rom gehalten hat. 1 Vgl. Walter Kerber S.J., Ordnungspolitik, Gemeinwohl und katholische Gesellschaftslehre, in: Jahrbuch für Christliche Gesellschaftswissenschaften 31, 1990, S. 11-33. 3·
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Walter Kerber S.J.
I. Die menschlichen Werte der Marktwirtschaft Was sind die menschlichen, die sittlichen Vorzüge einer Marktwirtschaft? Auf den ersten Blick scheint der Wettbewerb geradezu sittlichen Idealen zuwiderzulaufen: Die Antriebsfeder einer marktwirtschaftlichen Ordnung, so lautet der gängige Vorwurf, ist der Eigennutz, der Egoismus. Dieser muß zwar vielleicht — die Menschen sind nun halt einmal Egoisten — resignierend in Kauf genommen werden. 2 Aber darf man ihn zum tragenden Prinzip einer Wirtschaftsordnung machen? Wäre es nicht besser, das sittliche Prinzip der Solidarität, der menschlichen Verbundenheit, zu betonen? Ist nicht das Hauptgebot der christlichen Moral die Nächstenliebe? Die Enzyklika Centesimus annus rechtfertigt die Wettbewerbswirtschaft mit den folgenden Argumenten: Der „freie Markt" ist das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für beste Befriedigung der Bedürfnisse. (34, l ) 3 Die Marktmechanismen, so wird an anderer Stelle ausgeführt, — helfen dabei, besseren Gebrauch von den Ressourcen zu machen; — sie fördern den Austausch der Produkte; — sie stellen den W i l l e n und die Präferenzen des Menschen in den Mittelpunkt, die sich i m Vertrag mit denen eines anderen Menschen treffen. (40,2) 1. Der Grundgedanke ist allgemein bekannt: Auf einem freien Markt bilden sich Preise heraus, die im idealtypischen Modell den vorherrschenden Angebots- und Nachfrageverhältnissen entsprechen. Der Wettbewerb bringt in Knappheitspreisen, Gewinnen, Löhnen genau das zum Ausdruck, was an Bedürfnissen und Erwartungen, an Leistungen und Möglichkeiten in das Marktgeschehen eingeht. Er rechnet gewissermaßen wie ein Computer die Daten durch, die vorher eingegeben wurden. 4 Der Wettbewerbspreis hat insofern eine gewisse normative Funktion, als er die Kräfte widerspiegelt, die auf dem Markt zur Geltung gebracht werden. Er lenkt damit ohne planende Voraussicht einer zentralen Instanz den Produktionsprozeß im Sinne der Verbraucherwünsche. Jede Intervention in diesem Prozeß führt zu 2 So Christian Watrin, Staatslexikon 5, Freiburg 71989, Sp. 974: „Die Praxis zeigt jedoch, daß der Versuch, die Gesellschaft als Ganzes solidarisch zu verfassen, an der Eigenorientierung menschlichen Handelns und der damit verbundenen Freifahrerproblematik scheitert." 3
Die in Klammern ohne Zusatz beigegebenen Ziffern verweisen auf die deutsche Ausgabe von Centesimus annus: Vor neuen Herausforderungen der Menschheit, Freiburg / Basel / Wien 1991. Die erste Ziffer gibt den Hauptabschnitt, die zweite den Unterabschnitt an. 4 A m schärfsten hat Léon Walras diesen Gedanken formuliert und in einem statischen Gleichungssystem auszudrücken versucht.
Welcher Marktwirtschaft gehört die Zukunft?
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Verzerrungen und Effizienzverlusten. In der Fachsprache ausgedrückt: Optimale Allokation der Ressourcen, Konsumentensouveränität, Pareto-Optimum. 2. Dieses liberale Lenkungsprinzip ist deshalb für die moderne Wirtschaft so wichtig geworden, weil mit der Auflösung der geschichteten, statischen Gesellschaft der Ständeordnungen die Bestimmung eines „gerechten Preises", begründet auf einem „standesgemäßen Lebensunterhalt", nicht mehr möglich ist. Welche neuen Produkte und Produktionsverfahren in einer gegebenen Situation sich entwickeln lassen, welche Preise die Abnehmer für solche Güter zu zahlen bereit sind, läßt sich nicht vorhersagen, bevor ein „Unternehmer" es tatsächlich unternimmt, sie auf den Markt zu bringen. Die spontane Ordnung des Marktes löst Probleme, die von einem bewußten Verstand nicht überschaut werden könnten. 5 Keine staatliche Instanz, keine Behörde hat eine genügende Voraussicht, um die Wirtschaftsprozesse adäquat lenken zu können. Auf dem Markt kommt die kollektive Vernunft der vielen zum Zug. 3. Versucht statt dessen unter den heutigen Verhältnissen eine öffentliche Institution das Wirtschaftsgeschehen autoritativ zu lenken, kommt es fast mit Notwendigkeit zur ungerechtfertigten Herrschaft von Menschen über Menschen. Das heißt: Mit der Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit geraten auch die bürgerlichen Freiheiten in Gefahr. Politische Demokratie ohne Wettbewerbswirtschaft scheint sich nicht verwirklichen zu lassen. Der Markt ist ein sehr wirksames Entmachtungsinstrument. 4. Schließlich liegt ein unbestreitbarer Vorteil der Wettbewerbsordnung gerade darin, daß sie mit einem Minimum an Moral auskommt: Die Menschen müssen nicht gegen ihr Eigeninteresse handeln, sondern das Eigeninteresse der einzelnen wird selbst in den Dienst der bestmöglichen Versorgung der Bürger mit Gütern und Dienstleistungen gestellt. Moral ist ein ungemein knappes Gut. Die Wettbewerbsordnung macht davon einen sehr sparsamen, aber wirksamen Gebrauch.
II. Die Grenzen des Wettbewerbsprinzips Dabei muß man allerdings bedenken, daß sich der Wettbewerb immer innerhalb eines vorgegebenen politischen und gesellschaftlichen Rahmens abspielt, der seine Ergebnisse bestimmt. Gerade weil der Markt im Grunde nur die vorgegebenen Daten „verarbeitet", hängt alles davon ab, wie der soziale, politische und rechtliche Rahmen einer Wirtschaft gestaltet ist. 5 Vgl. Friedrich August von Hayek, Mißbrauch und Verfall der Vernunft, Frankfurt 1959.
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1. Der Markt als solcher kennt keine menschlichen Rücksichten. Beispielsweise befriedigt er nicht die sozial dringlichste Nachfrage der Armen, sondern nur die kaufkräftige Nachfrage. So weist auch die Enzyklika darauf hin: Nur solche menschlichen Bedürfnisse werden befriedigt, die bezahlbar sind. (34,1) 2. Die Wettbewerbsfreiheit hat also in einer modernen Wirtschaft hohe Bedeutung, aber sie ist nur eine notwendige und noch keineswegs eine hinreichende Bedingung für eine gerechte Ordnung. Wenn man einmal die Grundsatzentscheidung zugunsten der Marktwirtschaft und gegen die Zentralverwaltungswirtschaft getroffen hat, stehen immer noch viele Möglichkeiten offen, diese marktwirtschaftliche Ordnung auszugestalten. Das extrem liberale Konzept, das jede staatliche Lenkung des Wirtschaftsgeschehens als „Weg zur Knechtschaft" 6 verbietet, ist nur eine dieser Möglichkeiten und bedarf ebenso der politischen Rechtfertigung wie jedes andere ordnungspolitische Modell. 3. In jeder gerechten wirtschaftlichen Ordnung müssen bestimmte Menschenrechte, verstanden als soziale Grundrechte, gesichert sein, wenn die Auswirkungen des Wettbewerbs auf den einzelnen und ganze gesellschaftliche Gruppen und Klassen nicht unverantwortbare Folgen haben sollen. Die Solidarität mit den Schwachen, den Armen und Kranken, den noch nicht oder nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt Wettbewerbsfähigen ist darum eine Grundforderung an jede menschenwürdige gesellschaftliche Ordnung. 4. Darüber hinaus gibt es unzählige Formen, das wirtschaftliche Leben in rechtliche Regeln zu fassen, die den Wirtschaftsprozeß in der einen oder anderen Weise beeinflussen. Beispielsweise ist die Aktiengesellschaft kein Naturprodukt, sondern eine von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellte künstliche Form, bestimmte wirtschaftliche Vorgänge abzuwickeln. Der Wettbewerb selbst ergibt sich auf lange Sicht nicht von selbst, sondern muß durch staatliche Maßnahmen in seinem Funktionieren gesichert werden, damit sich nicht monopolistische Tendenzen durchsetzen. 5. Nicht alle Bedürfnisse, vor allem nicht die Kollektivbedürfnisse, lassen sich über den Markt und den Wettbewerb befriedigen. In zunehmendem Maße tritt der Staat selbst als Wirtschaftsunternehmen auf und bietet Güter und Dienstleistungen an, die auf dem Markt nicht angeboten würden. Bei diesen Aktivitäten des Staates im Bereich der Wirtschaft muß selbstverständlich das Subsidiaritätsprinzip beachtet werden. Das heißt: die Notwendigkeit oder der allgemeine Vorteil einer staatlichen Maßnahme muß nachgewiesen werden.
6 Vgl. Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach / Zürich 1971.
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Aus all diesen Gründen lehnt der Papst den „Kapitalismus" ab, wenn darunter ein System verstanden wird, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist. W i r d hingegen unter „Kapitalismus" „ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv". (42,2) Aus denselben Gründen ist man in den westlichen Demokratien davon abgekommen, das Modell des völlig freien Wettbewerbs zu verwirklichen, sondern in der einen oder anderen Form suchte man eigene, zum Teil recht verschiedene Wege, die Marktwirtschaft sozial auszugestalten. In der Bundesrepublik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der ökonomische Wiederaufbau ausdrücklich im Sinne einer „sozialen Marktwirtschaft" unternommen. Man war sich bewußt, daß der Wettbewerb nicht einfach eine „natürliche Ordnung" darstellt, sondern er sollte — im Gegensatz zum alten Laissez-faire-Liberalismus — gezielt als Instrument einer gemeinsamen staatlichen Wirtschaftspolitik eingesetzt werden.
I I I . „Soziale Marktwirtschaft" als Zielvorstellung Eine erste Antwort auf die Titelfrage dieses Beitrags lautet also: Nicht die klassische freie Marktwirtschaft, sondern nur eine soziale Marktwirtschaft hat Zukunft. Was aber heißt „soziale Marktwirtschaft" heute? Nach welchen Grundsätzen soll die Umgestaltung (Perestrojka) der Wirtschaft in den Ländern des bisherigen Ostblocks erfolgen? Welches sind die geistigen Fundamente, auf denen im vereinten Deutschland das neue Gebäude der gemeinsamen Wirtschaft aufgebaut werden kann? 1. In den führenden westlichen Industrieländern hat sich in den letzten Jahren ein Denken durchgesetzt, das sich wieder stärker an altliberalen Modellen orientiert: Man sieht den Markt wie eine natürliche Gegebenheit an, die gewissermaßen von selber für die richtige Ordnung sorgt. Der Wettbewerb am Markt erscheint wie eine Art natürliches Gesetz, dessen Ergebnisse hingenommen werden müssen, auch wenn sie tatsächlich auf eine Unterdrückung der Schwachen durch die Starken hinauslaufen. Der soziale Gedanke im Begriff der „sozialen Marktwirtschaft" wird immer mehr eingeschränkt auf eine Hilfe für die sozial Schwachen, während für die Wirtschaft selbst der möglichst freie Wettbewerb die Leitvorstellung bildet. Die Gedankengänge der Sozialphilosophie und Sozialethik, die dem Men-
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sehen, diesem ungeheuer komplexen und in Modellen so schwer faßbaren Wesen, gerecht zu werden versuchen, erscheinen als zu schwierig, als daß man sie für den Aufbau der Wirtschaft selbst verwenden könnte. 2. Dieses Theoriedefizit wurde deutlich bei der unerwarteten Vereinigung der DDR mit der bisherigen Bundesrepublik Deutschland. Nicht nur die verantwortlichen Politiker, auch die Sozialwissenschaftler wurden von der Aufgabe, eine neue gerechte Ordnung herzustellen, ziemlich unvorbereitet getroffen. Man predigte dann zwar — zu Recht — in den neuen Bundesländern die Botschaft von der Marktwirtschaft, die das dortige korrupte System des „real existierenden Sozialismus" überwinden würde, übersah aber, daß der Wettbewerb allein noch keine gerechte Ordnung garantiert. 3. Das sollte nicht als ein Vorwurf gegen die maßgeblichen Politiker verstanden werden, als würde in der tatsächlichen Wirtschaftspolitik nach altliberalen Vorstellungen verfahren. Das Stichwort „Treuhand" erinnert daran, wie weit die ökonomische Wirklichkeit vom rein liberalen Wettbewerbsmodell entfernt ist. Aber vielfach wird den Menschen in den neuen Bundesländern unter dem Stichwort „soziale Marktwirtschaft" die ideologische Vorstellung vorgegaukelt, als könne der Übergang zur Marktwirtschaft allein schon alle wesentlichen Wirtschaftsprobleme lösen. Für alle Deutschen dürfte es eine lehrreiche Erfahrung sein, aus nächster Nähe beobachten zu können, welche wirtschaftspolitischen Anstrengungen über eine rein liberale Politik hinaus die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes erfordert. Was der Papst über die Situation mancher Entwicklungsländer schreibt (33,1), trifft teilweise auch für die ostdeutschen Länder zu — nur mit dem Unterschied, daß hier in ganz anderer Weise geholfen wird! Es gilt in noch verstärktem Umfang für die anderen Länder des Ostblocks, die sich von den Fesseln einer Kommando Wirtschaft befreit haben und jetzt neue Wege suchen. 4. Gegen diese Mißverständnisse der Marktwirtschaft zeichnet die Enzyklika Centesimus annus klare Perspektiven. Sie läßt zwar offen, welche politischen Rahmenbedingungen zur Sicherung des Gemeinwohls erforderlich sind, aber deren Notwendigkeit und damit die staatliche Verantwortung für die Wirtschaft wird deutlich betont. Leider wird dieser Aspekt der Enzyklika in der öffentlichen Diskussion viel schwächer zur Geltung gebracht als die wettbewerbsfreundlichen Passagen. 5. Diese Auffassung läßt sich vielleicht durch einen Rückgriff auf die ursprüngliche Konzeption von der „sozialen Marktwirtschaft" noch konkretisieren, wie sie der sog. ORDO-Liberalismus der „Freiburger Schule" entwickelte. Walter Eucken, vielleicht der bedeutendste Denker dieses Kreises, unterschied zwischen „Datenkranz" und „Wirtschaftsablauf". Nach ihm hat der Staat die Rahmenbedingungen (Datenkranz) des Wirtschaftsablaufs so
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zu gestalten, daß sich der Wettbewerb zugunsten aller Beteiligten auswirkt. In den Wirtschaftsab/au/ hingegen sollte er möglichst wenig eingreifen. Genau in dieser Verteilung der Zuständigkeiten liegt die Anziehungskraft dieses Modells: Nicht anonyme Marktgesetze, sondern der politische Wille zur Gerechtigkeit und die gemeinsame Verantwortung aller sollen über den Datenkranz die Wirtschaft bestimmen, wobei der Wettbewerb als Mittel die produktiven Kräfte freisetzt und die Feinabstimmung besorgt. Der so verstandenen „sozialen Marktwirtschaft" konnte Kardinal Höffner seine Zustimmung geben, und diese ordnungspolitische Konzeption scheint auch als zentraler Kerngehalt der Enzyklika Centesimus annus zugrundezuliegen.
IV. „Soziale Marktwirtschaft" als ein „dritter Weg"? Ist eine so verstandene „soziale Marktwirtschaft" ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus? Diese in jüngster Zeit wieder lebhaft diskutierte Frage läßt keine eindeutige Antwort zu, weil der Ausdruck „dritter Weg" für vielerlei Interpretationen offen ist. 1. Man kann die „soziale Marktwirtschaft" als „dritten Weg" bezeichnen, wenn man damit zum Ausdruck bringen will: Eine idealtypisch reine freie Marktwirtschaft ist ähnlich unmenschlich und abzulehnen wie eine Zentralverwaltungswirtschaft. Es muß ein dritter Weg gefunden werden, der diese Extreme vermeidet. 7 Jeder Versuch, eine „reine" Lösung zu finden, steht unter dem Verdacht, die Wirklichkeit ideologisch zu verzerren. 2. Sicher stellt sie aber keinen „dritten Weg" im Sinne eines bloßen Kompromisses oder einer Mischung aus beiden Wirtschaftssystemen dar. Sie hat auch wenig zu t u ^ m i t jenem „dritten Weg", den der tschechische Wirtschaftspolitiker Ota Sik im „Prager Frühling" zu skizzieren und zu gehen versuchte als eine Marktwirtschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln. 8 3. Allerdings fordert die „soziale Marktwirtschaft" einen „starken Staat" 9 in dem Sinne, daß dieser bei Maßnahmen zur Sicherung des Wettbewerbs 7 So schon W i l h e l m Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, Zürich / Stuttgart 1954, S. 297: „Die Neuorientierung der Wirtschaftspolitik — in einer Richtung, die vom Verfasser als ,Dritter Weg' bezeichnet wird — besteht gerade darin, daß der sozialistische Weg als ungangbar erkannt wird, ohne daß wir deshalb auf die alte ausgefahrene Straße des ,Kapitalismus' zurückkehren." 7
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Ota Sik, Der dritte Weg. Die marxistisch-leninistische Theorie und die moderne Industriegesellschaft, Hamburg 1972. 9 Vgl. Röpke, S. 286: Zur Vermeidung von Monopolbildungen „bedarf es allerdings eines starken Staates, der unparteiisch und machtvoll über dem wirtschaftli-
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und der Chancengleichheit auf breite Zustimmung stößt, aber sie beschränkt auch den staatlichen Einfluß so weit wie nur möglich auf die Rahmenbedingungen der Wirtschaft und verbietet ihm, interventionistisch einzugreifen und die Wirtschaftsergebnisse festlegen zu wollen.
V. Verwirklichung der sozialen Marktwirtschaft Welche Maßnahmen sind im einzelnen erforderlich, um eine „soziale Marktwirtschaft" mit gerechten Rahmenbedingungen zugunsten des Gemeinwohls zu verwirklichen? Entspricht die in der Bundesrepublik Deutschland verwirklichte Wirtschaftsordnung diesem Leitbild? Es ist offenkundig, daß hier nur ein paar beispielhafte Hinweise gegeben werden können. 1. Lassen sich die Probleme der Umwelt marktwirtschaftlich lösen? Kann der Wettbewerb den Schutz der Umwelt berücksichtigen? Zumindest darf die Steuerung der Wirtschaft durch den Wettbewerb nicht verfälscht werden. Nur unter dieser Bedingung sind die marktwirtschaftlichen Unternehmergewinne moralisch gerechtfertigt. Um einen echten Leistungswettbewerb zu ermöglichen, sind darum in einer Marktwirtschaft den Unternehmen die vollen „externen Kosten" anzulasten, die bei der Produktion entstehen; denn der Wettbewerb gibt den Marktpreisen eine gewisse normative Legitimation, insofern diese die Knappheitsverhältnisse widerspiegeln bei als gerecht unterstelltem Datenkranz. Die Unternehmen müßten also vom Staat über die Gestaltung des Datenkranzes gezwungen werden, für alle Umweltschäden aufzukommen, die sie verursachen. Andernfalls wird der Verbraucher zum Kauf eines Gutes veranlaßt, das er zum vollen Marktpreis nicht erworben hätte. Das ist der Grundgedanke des „Verursacherprinzips". Ein Unternehmen, das zu vollen Kosten keinen Absatz für seine Produkte findet, hat in einer Marktwirtschaft keine Existenzberechtigung. 2. Welche sozialen Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit sich die Marktwirtschaft nicht zum Schaden der Menschen auswirkt? Die Komplexität dieses Problems wird deutlich bei den Bemühungen, eine einheitliche deutsche Wirtschaft wiederherzustellen. „Privateigentum auch an Produktionsmitteln ist die Grundlage einer freien Wirtschaft", besagt eine unbestrittene marktwirtschaftliche These. Darum wird zu Recht die Privatisierung der staatlichen Kombinate der ehemaligen DDR gefordert und vorangetrieben.
chen Interessenkampf steht, ganz im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung, daß dem »Kapitalismus' eine schwache Staatsgewalt entsprechen müsse."
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Wer aber wird Eigentümer der Produktionskapazitäten in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland? Haben die Bürger dieser neuen Bundesländer eine reale Chance, in größerem Umfang zu Privateigentum an Produktionsmitteln zu kommen, oder bleiben sie auch nach der „Expropriation der staatlichen Expropriateure" weiterhin davon ausgeschlossen, handelnde Wirtschaftssub/e/cie zu werden? Sicher: Treuhandkredite werden vermittelt besonders für mittelständische Unternehmen. Aber wie viele Unternehmer in den neuen Bundesländern können sich echte Zukunftschancen ausrechnen, wenn sie keinen Partner im Westen finden, der ihnen die notwendigen Investitionen finanzieren hilft? Wer aber Geld annimmt, macht sich abhängig. Dem steht allerdings entgegen: Zunächst geht es vordringlich darum, die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern abzubauen und die Wirtschaft in Gang zu bringen. Den westdeutschen und westeuropäischen Unternehmen kann kein Vorwurf gemacht werden; sie sind vielmehr zu loben, wenn sie sich dort engagieren und oftmals auch das Risiko nicht leicht kalkulierbarer Investitionen auf sich nehmen. Wenn trotzdem der Eindruck entstehen kann, die Privatisierung werde zu einem Ausverkauf der Produktionskapazitäten der ehemaligen DDR an westeuropäische Bieter, so hängt das schlicht mit der verschiedenen Wirtschaftlichkeit und Macht der beteiligten Unternehmen am Markt zusammen: Die heruntergewirtschafteten Unternehmen der früheren DDR waren und sind dem Konkurrenzdruck des westlichen Marktes nicht gewachsen und müssen darum erst in die Lage versetzt werden, in einer Marktwirtschaft mitzuhalten. 3. Was in den neuen Bundesländern geschieht, könnte ein besseres Verständnis für die Situation der Menschen in der Dritten Welt vermitteln. Auf der Weltebene gibt es noch keine „soziale" Marktwirtschaft, noch keine Instanz, welche die Entwicklung in eine für alle annehmbare Richtung lenken könnte. Es herrscht weitgehend noch das neo-darwinistische Gesetz des Stärkeren, etwas gemildert durch partielle Abkommen, die sich im Zweifelsfall aber auch als nicht durchsetzbar erweisen. Die auftretenden Probleme sind aber, das muß ganz klar gesehen werden, ein Ergebnis des Wettbewerbs, der in einer Marktwirtschaft die Stärkeren auf Kosten der Schwächeren begünstigt — wenn nicht gezielt ein sozialer Ausgleich erfolgt. 4. So elegant sich aus den theoretischen Modellen die Vorzugswürdigkeit der Marktwirtschaft ableiten läßt, so bleibt doch immer wieder zu überprüfen: In welchem Maße entspricht ihnen die wirtschaftliche Wirklichkeit? Wie realistisch sind sie in ihrer Anwendung? W i r d nicht immer mehr gerade in den sog. „Zukunftsindustrien" der Wettbewerb des Marktes durch politischen Druck und Machtstellungen eingeschränkt und ersetzt?
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Mit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus" ist die Entscheidung für die Marktwirtschaft gefallen — auch im gesamten Ostblock, wie es scheint. Nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis setzt sich auch die Überzeugung durch, daß nur einer sozialen Marktwirtschaft die Chance eingeräumt werden kann, als ordnungspolitisches Konzept in die Zukunft zu weisen. Damit sind aber die ordnungsethischen und wirtschaftspolitischen Probleme noch nicht gelöst, sondern sie stellen sich erst in voller Schärfe: Welche Form der Marktwirtschaft verdient es, in Wahrheit „sozial" genannt zu werden? Welche Rahmenbedingungen müssen für eine gerechte Wirtschaftsordnung erfüllt sein, damit dem Wettbewerb freier Lauf gelassen werden kann? Der Sozialismus kann erst dann als wirklich überwunden gelten, wenn die Probleme gelöst sind, um derentwillen er entwickelt wurde und lange Zeit so großen Anklang fand.
SOZIALHIRTENBRIEF ALS PRÜFSTEIN KIRCHLICHER AUTORITÄT Von Herbert Kohlmaier
Die gesamte Geschichte des Christentums berührt immer wieder das Verhältnis von Glaube und Politik. Hier finden sich ihre tragischsten Kapitel, und auch heute ist ein Ende der gegebenen Spannungssituationen weltweit keineswegs in Sicht. Gerade die Kirche Österreichs mußte bis zur Mitte dieses Jahrhunderts in dieser Beziehung schwere Probleme bewältigen. Nach der Wiederbegründung der Republik im Jahr 1945 wurde freilich mit stiller Konsequenz ein neuer Weg beschritten, der alte Gegensätze auflösen sollte. Eine höchst notwendige und mehrfache Entflechtung fand statt. Diese ging vielfach mit einem Rückzug von konfliktträchtiger Position einher, und zwar sowohl von seiten der Kirche als auch der politischen Kräfte. Nicht ganz ohne Grund hat dieses Rechnungtragen schmerzlicher Erfahrungen die Kritik ausgelöst, es finde eine Art von Privatisierung des Glaubens statt. Der Verweis auf die konziliare Klarstellung, daß die Positionen des Glaubens ihren Eingang ins politische Geschehen hauptsächlich durch das Engagement der Christen im öffentlichen Leben zu finden hätten, konnte und kann nicht immer befriedigen. Aus Gründen, die hier nicht dargelegt werden müssen, ist das Erheben der Stimme der Kirche zu prinzipiellen Fragen des Gemeinwesens stets dann und auch heute notwendig, wenn wesentliche Werte der menschlichen Existenz berührt werden. Voraussetzung dafür, daß dies wirksam erfolgen kann, ist freilich, daß die Kirche hiefür über eine entsprechende Autorität verfügt. Diese ist aber — was schmerzlich vermerkt werden muß — in der heutigen Gesellschaft nur sehr beschränkt vorhanden. Die Ursachen dafür sind vielfältig und können in diesem Rahmen nicht ausreichend untersucht werden. Eine nicht geringe Rolle spielt dabei sicher, daß sich die Kirche nach dem Eindruck vieler, vor allem jüngerer Menschen, zu sehr auf Fragen der Sexualmoral (im weitesten Sinne) konzentriert hat. Mehr interessiert im Zusammenhang unseres Themas, daß die Kirche in den vergangenen Jahren zu vielen Themen schwieg — vielmehr glaubte, schweigen zu müssen —, die scheinbar vom Risiko belastet waren, daß es neuerlich zu einer unerwünschten Involvierung in politischen Auseinandersetzungen kommen könnte. Die schmerzlichen
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Irrtümer der Vergangenheit, die bis zur Fehlbeurteilung der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1938 reichten, bewirkten eine fast ängstliche Abstinenz auch von solchen Stellungnahmen, die durchaus angebracht gewesen wären. Österreichs Kirche wurde derart — was den Zustand unseres Gemeinwesens betrifft — zu einer schweigenden. Seit eine weitgehend freie, demokratische Auseinandersetzung bei gleichzeitig zunehmender allgemeiner Wohlfahrt stattfand, erschien es ihr offenbar opportun, sich weder auf die Seite der Kritiker noch auf die der Rechtfertiger politisch zu beurteilender Tatbestände zu schlagen. Umsomehr glaubten freilich manche in der Hierarchie, sich wenigstens mit der Kritik an Fehlentwicklungen in anderen Staaten hervortun zu müssen, was erst recht wieder der Kompetenz bei der Beurteilung unserer eigenen Verhältnisse nicht förderlich war.
I. Eine kirchliche „Linke" regt sich Nicht wenigen engagierten Christen wurde die Kirche auf diese Weise zu lau, was die Auseinandersetzung mit Mißständen im staatlichen Gefüge betrifft. Sie vermißten, daß Sorgen, die uns täglich begegnen, klar beim Namen genannt werden. Sie sahen vor allem, daß auch der moderne Sozialstaat nicht nur seine Mängel hat, sondern seinerseits sogar neue Ungerechtigkeit produziert. Ein bequemes Vertrauen auf die Institutionen hat vielfach Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit bewirkt. Die Verteilungskämpfe haben nicht aufgehört, sondern sind subtiler, unübersichtlicher geworden. Als Benachteiligte werden immer mehr jene sichtbar, die im heutigen Wechselspiel der Mächte keine starken Vertreter hinter sich haben. A l l dies hätte wohl verlangt, daß sich die Katholiken in kompetenter Weise kritisch mit den Fehlerhaftigkeiten der heutigen Gesellschaft auseinandersetzen. Unbefangen von den Interessenlagen der politisch wirksamen Kräfte wäre dabei den Ursachen nachzuspüren. Diese haben als Grundtatsache gemeinsam, daß unsere Sozietät von einem zunehmenden Idealismusdefizit geprägt ist. Materialismus und Hedonismus als Motive politischen Agierens müßten gerade gläubige Menschen provozieren — weit über die sonntägliche Spende für die Dritte Welt hinaus. Für eine neue und engagierte christliche Gesellschaftskritik haben sich durch die politische Entwicklung der letzten Jahre aus einem weiteren Grund geradezu ideale Voraussetzungen ergeben. Seit den hundert Jahren ihres Bestehens war die Soziallehre der Kirche zwar abnehmend, aber doch noch immer stark von der Auseinandersetzung
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mit der sozialistischen Gesellschaftstheorie gekennzeichnet. Die Teilung der Welt in die Sphären unterschiedlicher Produktionsverhältnisse begann sich 1989 aufzulösen. Sie wurde von einem Zusammenbrechen sozialistischer Positionen auch in den politischen Landschaften der „westlichen" Staaten begleitet. Damit haben die Parteien des christlich-demokratischen Lagers zwar ideologisch „gesiegt", aber einen wesentlichen Teil ihrer Aufgabenstellung und Existenzberechtigung, nämlich Bollwerke gegen die marxistische Bedrohung zu sein, eingebüßt. Es entstand auf diese Weise ein politischideologisches Vakuum, das einerseits Gleichgültigkeit auslöste und andererseits neuen, zum Teil unausgegorenen Bestrebungen Platz machte. Welche Chance für die Christliche Soziallehre! Auch sie hat ja „recht behalten" und könnte auf diese Weise gewaltig gestärkt zu neuen Ufern aufbrechen. Vorausgesetzt freilich, daß die Bedingungen für ein jedes Voranschreiten vorlägen, nämlich ausreichende Orientierung und Zielsetzung. Als tragisch muß empfunden werden, daß es gerade daran im geistigen Wandel der letzten Jahre fehlte. Die kritischen Elemente in der Kirche erlagen mangels entsprechender Vorgaben daher oftmals der Versuchung, die politisch geänderte Situation als faulen Frieden, als von den Mächtigen bewußt herbeigeführtes Zudecken der alten Probleme zu interpretieren. A m deutlichsten wird dieses Phänomen sichtbar, wenn man die Aktivitäten der Katholischen Sozialakademie betrachtet, welche bekanntlich von der österreichischen Bischofskonferenz mit der Wahrnehmung sozialer Forschung und Bildung beauftragt wurde. Hier wurde seit Jahren der konsequente Weg beschritten, als wesentlich für die ungelösten sozialen Probleme eine grundlegende ordnungspolitische Fehlentscheidung in unserem staatlichen System zu bezeichnen. So stellte der Nachrichtendienst der genannten Institution bereits im April des Jahres 1977 mit kaum zu überbietender Deutlichkeit fest, daß Kennzeichen unserer „privatkapitalistisch organisierten Gesellschaftsordnung auf marktwirtschaftlicher Grundlage die relative Verarmung der gesellschaftlichen Mehrheit" sei. Dem Dilemma könne nur begegnet werden, wenn man „die fehlenden Mittel von dort hole, wo sie ... durch die Eigentumsordnung auch fortwährend hinfließen: von den Besitzenden und Vermögenden". Die so vorgegebene Linie wurde konsequent bis in die Gegenwart beibehalten und fand einen resümierenden Schluß in der Theorie von der „Zweidrittelgesellschaft". Danach sei es ein zwangsläufig eintretendes Ergebnis des Systems, daß der Großteil der Menschen auch in unserem Land verarme, wovon sich eine immer reicher werdende Minderheit abgrenze.
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II. Der „Grundtext 11 Angesichts dieser mangelhaften und vor allem kraß eingeengten Sicht der sozialen Probleme mußte es als wohltuend empfunden werden, daß Österreichs Bischöfe im Herbst des Jahres 1988 die konkreten Vorarbeiten für einen neuen Sozialhirtenbrief in Angriff nahmen. Der sicher richtige Weg, dabei mit großer Offenheit und Sorgfalt den tatsächlich bestehenden Problemen nachzugehen, wurde vom federführenden Linzer Diözesanbischof Maximilian Aichern so beschrieben, daß man zuerst hören wolle, „wie es den Menschen geht, was die Menschen bedrückt". Zur gewünschten breiten, für ein Jahr geplanten Diskussion der Gläubigen wurde ein 12 Kapitel umfassender „Grundtext" zur Verfügung gestellt. Es ergab sich dadurch die Chance, zwei Quellen für eine lehrende Kirche zu erschließen und gleichsam das Gewonnene zusammenfließen zu lassen: Die empfundene und unbefangen geäußerte Betroffenheit der Menschen einerseits und die Erkenntnisse einer theologisch inspirierten Sozialtheorie andererseits. Die Weichen wurden freilich anders gestellt. Im Grundtext, der die gewünschte Diskussionsarbeit ordnen und anregen sollte, fanden sich die Ergebnisse jener Systemkritik vor, wie sie oben als Gedankengut der Katholischen Sozialakademie dargelegt wurden. Es wurde so vorgegangen, daß zwar Fragen an die Interessierten formuliert wurden, daß diesen aber Analysen vorangingen, welche ebenso wie die Inhalte der gestellten Fragen eindeutig Ausfluß einer „von oben" vorgegebenen Systemkritik waren. Mit dieser wurden dem Verwender des Grundtextes — ohne jetzt nochmals auf Details einzugehen — folgende wesentliche Botschaften vermittelt: 1. Das Prinzip der Gewinnwirtschaft bzw. seine Handhabung verursachen letztlich die soziale Problematik. 2. Die Belastungen des Erwerbslebens nehmen zu und beeinflussen die gesamte Lebenssituation abträglich. 3. Aus Einsparungsgründen erfolgt ein Sozialabbau ; überhaupt wird der Sozialstaat in Frage gestellt. 4. Armut und Reichtum wachsen nebeneinander. 5. Die Gesamtentwicklung ist bedrohlich und läuft auf eine Entsolidarisierung hin. Es soll nun nicht zur (teilweisen) Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Diagnose Stellung bezogen werden, denn darüber ließe sich — auch unter Heranziehung sozialwissenschaftlicher Ergebnisse — trefflich streiten. Vielmehr kommt es darauf an, daß es auf diese Weise eindeutig nicht gelungen ist, eine neue Problemsicht anzuregen. Man verharrte vielmehr in einer ganz
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bestimmten politisierend-soziologischen Betrachtungsweise, deren Vokabular vielen Kundigen höchst abgeschmackt vorkam. Das Steckenbleiben in derartigen — sit venia verbo — „linken" Klischees zeigt sich am deutlichsten bei der Bewertung gesellschaftlicher Kräfte im „Grundtext". Während sich tatsächlich die Gewerkschaftsbewegung ebenso wie andere Organisationen und die politischen Verbände schon damals in einer deutlich sichtbaren Krisensituation befanden, wußten die Autoren sehr eindeutig ihre Wertung zu deklarieren: Die Arbeiterbewegung habe „den Sozialstaat erkämpft", während die Bauern von ihren Organisationen „abhängig" seien. Hervorzuheben ist schließlich, daß der Grundtext zur Diskussion von sozialpolitischen Fragen aufrief, über die schwere politische Auseinandersetzungen im Gange waren, wie insbesondere den EG-Beitritt und die Arbeitszeitverkürzung. Ihre religiöse Relevanz ist nicht erkennbar.
I I I . Eine Kirche, die „politisiert"? Wie unsicher und gefährlich der Boden ist, auf den man sich mit diesem Versuch, soziale Kompetenz zu erringen, begab, ergibt sich aus der Tatsache, daß die Diskussion prompt bei den Politikern losging, während sie in den Pfarren erst in Gang gesetzt werden mußte. Es war klar, daß alle jene, die sich zu den angesprochenen Fragen bereits eine Meinung gebildet hatten, mit dieser zu Felde zogen und dabei aufeinanderstießen. Zum Teil wurde die Auseinandersetzung geradezu skurril. Der damalige Sozialminister Alfred Dallinger, der stets dem ideologisch radikalen Flügel seiner Partei zugerechnet wurde, wünschte, daß so ein Text, den er geradezu enthusiastisch begrüßte, in der SPÖ zur Diskussion käme. Bei der Behandlung des Grundtextes im Bundesvorstand des ÖGB erklärte — was im Rundfunk übertragen wurde — der Vertreter der „Gewerkschaftlichen Einheit", also der ehemals kommunistischen Fraktion, daß er, der in diesem Gremium immer versucht habe, Marxismus und alternative Gedanken in Einklang zu bringen, hier radikalere und konkretere Inhalte finde, als in den gewerkschaftlichen Gremien. Es entstand somit eine eher beunruhigende Situation. Während sich — wie oben dargelegt — die Kirche früher eine deutliche Abstinenz in (sozial)politischen Fragen verordnete, korrigierte sie diese Haltung mit einem Vorstoß in Gefilde, wo politische, alte Fronten existierten und sich die einen angesprochen, die anderen befremdet zeigten. Es erschien vielen Betrachtern so, als ob politische Positionierungen geradezu durcheinandergewirbelt würden: Während man der Kirche früher vorhielt, mit konservativen Kräften im Bündnis zu sein, bezog sie scheinbar jetzt jenen Platz ganz an 4 Festschrift Schasching
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der linken Seite, der mit der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie zunehmend verwaist war. Diese kritische Situation verschärfte sich durch die Tatsache, daß ein gleichzeitiger Richtungsstreit innerhalb der Kirche wahrnehmbar wurde. Bekanntlich hatten ja bestimmte Kreise davor gewarnt, eine solche Diskussion des geplanten Dokumentes, welches Ausfluß des Lehramtes sein sollte, den Laien zu überlassen, wodurch „aus dem Hirtenbrief ein Herdenbrief" wurde. Zwangsläufig tauchte damit bei Politikern die Grundsatzfrage auf, ob es überhaupt legitim sei, daß die Kirche sich in politischen Fragen, wie sie im Grundtext aufgeworfen wurden, einmische. Zweifel, die der Autor dieser Zeilen bei einer Veranstaltung der Volkspartei zum Thema aufwarf, wurden im Gegenzug prompt als Plädoyer für den vielzitierten „Rückzug in die Sakristei" interpretiert. Die Legitimation der Bischöfe, sich zu bestimmten Themen in einem Hirtenwort zu äußern, geriet derart in eine unerquickliche und der Sache keineswegs nützliche Diskussion.
IV. Wie konkret darf die Soziallehre werden? Die Frage, wie sehr sich die Kirche bei Behandlung der sozialen Frage in politisch-konkrete Bereiche vorwagen soll, ist freilich so alt wie die Soziallehre. Sie ist stets anhand des Anlasses zu beantworten, wobei die Aussage dem zu beurteilenden Sachverhalt adäquat sein muß. Zielführend erscheint dabei jedenfalls, Fixpunkte und Grenzen zu markieren, die zu beachten sind. In diesem Zusammenhang sei auf jenes im Juni 1989 veröffentlichte Dokument der Vatikanischen Kongregation hingewiesen, in welchem Priester und Laien davor gewarnt werden, sich bei ihrem sozialen Engagement „für ideologische Zwecke und Interessen vereinnahmen zu lassen". Bei seiner Präsentation erinnerte Erzbischof Saraiva Martins abermals daran, daß die Soziallehre ein Dienst der Kirche „gemäß den Bedürfnissen von Ort und Zeit" sei, aber „kein dritter Weg zwischen liberalem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus". Es erscheint tatsächlich heute die vorrangige Aufgabe zu sein, diese Soziallehre aus den Fängen der ordnungspolitischen Dogmen zu befreien. W i e notwendig dies gerade betreffend Österreich und die Erarbeitung des Hirtenbriefes war, zeigt eine Abhandlung des ehemaligen Direktors der bereits erwähnten Katholischen Sozialakademie, Herwig Biichele, der den schließlich promulgierten Text als „Rückfall hinter den Grundtext" verurteilt. Er stellt in diesem Zusammenhang seiner Enttäuschung die Frage, ob die von ihm und seinen Gesinnungsgenossen so heftig abgelehnte Ideologie von Markt und Profit denn „weniger Leid über die Menschheit gebracht
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habe, als der Marxismus-Leninismus". Letzterer wird damit als offenbar legitime Gegenposition ausgewiesen. Es bleibe diese Frage Bücheies dahingestellt. Ihm ist nur jene Glaubenswahrheit entgegenzuhalten, die Johannes Paul II. in seiner Enzyklika des Jahres 1986 „Dominum et vivificantum" über den Heiligen Geist verkündet: Danach schließt jeder Materialismus „grundsätzlich und de facto die Gegenwart und das Wirken Gottes, der Geist ist, in der Welt und vor allem im Menschen aus". Der Materialismus sei aber „noch immer die Lebenssubstanz des Marxismus". Die Frage, die sich jedenfalls allen Sensiblen aufdrängte, was nämlich wirklich „links" an der Position des Grundtextes gewesen war, versuchte nach den ersten Emotionen der Diskussion einer seiner Mitautoren, Prälat Florian Zimmel, mit der offiziell verlautbarten Erklärung zu beantworten, nichts anderes sei hier eingeflossen, als der Aufruf, mit jenen zu teilen, die weniger haben. Dieser gehe schließlich auf Jesus zurück. Lassen wir an dieser Stelle Romano Guardini mit seinem „Herrn" zu Worte kommen. Er sieht die Neuzeit irren, wenn sie Jesus als die große karitative Natur sieht. Der Soziale wolle das Dasein recht ordnen. Dem Herrn gehe es nicht um das, dazu sehe er das Leid viel zu tief, eins mit Sünde und Gottfremdheit. „Das Heilen Jesu ist auf den Glauben bezogen — ebenso wie die Verkündigung der Botschaft". Diese Bezogenheit auf den Glauben, von der Guardini spricht, muß also Maßstab für das Urteil der Kirche sein. Sie darf niemals am System und an der Politik haften bleiben, denn damit würde die Autorität der Botschaft Christi verloren gehen. Er hat sich ja stets an die Menschen und nie an Institutionen gewandt. Er hat die Herzen berühren, uns Maßstab und Sinn der Gerechtigkeit mitgeben wollen, ohne aber Anweisungen der staatlichen Ordnung zu geben. Wer heute solches unter Berufung auf das Evangelium tut, muß also behutsam vorgehen. Es gibt zweifellos politische Dimensionen des Bösen, sie sind zu erkennen und zu verurteilen. Es gibt politische Möglichkeiten — dieses Wort sei betont — für die Entfaltung des Guten, es gibt aber zweifellos keine staatlichen Systeme, die per se „gut" sind das Heil herbeiführen. Letztlich entscheidet die Qualität des Handelns der Menschen.
V. Der Hirtenbrief Mit der geschilderten Vorgabe der Diskussion des Sozialhirtenbriefes war — was mit allem Nachdruck festgestellt werden muß — die Gefahr eines Autoritätsverlustes der Kirche verbunden. Es drohte ein Rückfall zu einer
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sozialpolitischen Intervention, die Systementscheidungen weit vor die Verantwortung der Menschen und der Christen stellt. Aber auch beim derartigen Aufwerfen der als am wichtigsten angesehenen ordnungspolitischen Fragen selbst war Einseitigkeit deutlich zu erkennen. Sie ergibt sich nicht zuletzt durch die ganz offensichtliche Vernachlässigung des Subsidiaritätsprinzips, welches die große Leitidee der Betrachtung staatlichen Handelns in der Soziallehre ist. Sieht doch die Kirche den Menschen immer in seiner persönlichen Verantwortung, aber nie als Heilsempfänger durch bloße Gesellschaftsveränderung. Rufen wir uns eine weitere Grundtatsache christlicher Gesellschaftsbetrachtung in Erinnerung. Der schlimmste Feind einer gerechten Sozialordnung ist das pauschale Verurteilen von Gruppen und Ständen. Es kommt dem bequemen Streben der Menschen entgegen, Schuldige zu finden, mit deren Bekämpfung und Ausschaltung Leiderlösung herbeigeführt wird. Genau das gleiche gilt aber auch für sogenannte „Zustände", wie sie gern angeprangert werden, denn hinter ihnen werden in der modernen Demokratie immer Sozialschädlinge gesehen, die zu eliminieren sind. Nell-Breuning schrieb einmal, nämlich im Jänner 1979, von der Gefahr, „daß ein Teil unserer katholischen Intellektuellen, nicht zuletzt unserer Priester, in unerleuchtetem Eifer zu einer Systemveränderung drängt". Er rechtfertigte damit zwar keineswegs das Bestehende, verwarf aber eben jene Leichtfertigkeit des Urteils, die uns offenbar auch heute bedroht. Der Sozialhirtenbrief, wie er schließlich im Mai 1990 veröffentlicht wurde, hat diese Gefahr — wohl endgültig — gebannt. Er stellt, wie Johannes Schasching bei der Tagung der Österreichischen Kommission „Justitia et Pax" im Oktober 1991 zum Hundertjahrjubiläum von Rerum novarum feststellte, die Kultur der Sache und der Werte, also eine neue Sozialkultur, in das Zentrum. Lassen wir den Hirtenbrief dort selbst sprechen, wo er ausdrücklich zwei Illusionen verwirft. Die eine nämlich, daß es nur auf die Strukturen ankomme und die andere, daß Gesinnungsreform genüge. „Die sittlichen Werte dürfen nicht nur in den Herzen der Menschen verankert sein. Sie müssen auch in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Geltung haben." Sosehr der Text als Ergebnis der geleisteten Vorarbeit konkret wird — was zum Beispiel bei Behandlung der Familienfragen der Fall ist —, so sehr bleibt er auf jene Verantwortung des Menschen bezogen, aus der dieser durch keine Gesellschaftsveränderung entlassen werden kann. Im Mikrokosmos Österreichs wurde also mit der Diskussion des Sozialhirtenbriefes ein Grundproblem der Soziallehre aktuell. Die Kirche, die sich an alle Menschen wenden muß, zeigte zunächst die Neigung, Partei zu ergreifen, wo gutwillige Menschen verschiedener Anschauung um die Lösung von Sachproblemen ringen, welche man unterschiedlich betrachten kann. Dabei
Sozialhirtenbrief als Prüfstein kirchlicher Autorität
drohte auch jene Sachkompetenz, die Gaudium et spes „mit dem Licht der Offenbarung verbunden" sehen will, zu kurz zu kommen. Wie sich aus den veröffentlichten Ergebnissen der breit angelegten Diskussionsarbeit in den kirchlichen Gremien ergibt, wurde die Systemkritik des „Grundtextes" freilich so gut wie gar nicht aufgegriffen. Man wendete sich praktischen Fragen zu und versuchte dort anzuknüpfen, wo gesicherter Bestand der sozialen Botschaft vorgefunden wurde. Aus dem Glauben erfließt die Erkenntnis über jene Werte, die durch politisches Handeln zu verwirklichen sind; die Soziallehre zeigt Fehlentwicklungen auf und gibt Anweisungen zur Beschreitung geeigneter Wege des Umsetzens. Es ist ein glücklicher Umstand, daß dementsprechend am Ende der Diskussion ein Hirtenwort stand, das zwar klare und auch kritische Positionen bezog, das aber doch alle akzeptieren konnten, auch wenn sie sich in unterschiedlichen politischen Positionen angesprochen fühlten. Dies berechtigt zur Hoffnung. Ein wichtiger Schritt könnte getan sein, welcher die Kirche wieder zu jener Autorität hinführt, mit der sie auch in Zukunft die Stimme des sozialen Gewissens erheben kann.
AUF DEM WEG ZUR PARTNERSCHAFT I N EUROPA Die Rolle der Religionen * Von Franz Kardinal König
Wer immer heute von der Verantwortung spricht, die die Religion und die Religionen für den Frieden unter den Menschen in Gegenwart und Zukunft haben — gerade auch nach den schrecklichen Ereignissen des Golfkrieges — muß zwei Probleme sehen: einmal die große Erwartung der Menschen in aller Welt, daß Religionen einen entscheidenden Beitrag leisten können, ja müssen, für den Frieden in der Welt und zum Aufbau einer dauernden Friedensordnung. Andererseits steht dem gegenüber die skeptische Ansicht des Historikers, des Religionshistorikers im besonderen: W i e soll das geschehen, wenn es zwischen den Religionen keinen Frieden gibt und wenn sie in der Geschichte den Frieden mehr zerstört als aufgebaut haben? Die Geschichte sei hinreichend Zeuge dafür. Aber — so füge ich hinzu — in der Vergangenheit haben nicht zuletzt auch Christen viel gelitten. Ich erinnere hier an Nikolaus von Kues, einen päpstlichen Legaten und Kardinal der katholischen Christenheit. In seiner Schrift „De pace fidei" schrieb er nach dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453, ich zitiere wörtlich: „Der Herr, König des Himmels und der Erde, hörte das Seufzen der Ermordeten und Gefesselten und der in Knechtschaft Geführten, die dies um der Verschiedenheit ihrer Religionen willen erduldeten." Wenn also von negativen Erfahrungen der Geschichte, das heißt hier der europäischen Geschichte, die Rede ist, so darf man nicht alles in diesem Lichte sehen. Heute hat sich nicht zuletzt in Europa die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Religionen den Dialog als gemeinsamen Weg akzeptieren müssen. Dort, wo man sich zum Dialog begegnet, ist die Bereitschaft vorhanden, das gemeinsame Interesse für wichtig zu halten, aufeinander zu hören und zueinander zu finden. — Der Dialog schließt das Eingeständnis ein, daß es sich lohnt, den anderen in seiner Fremdheit kennen und verstehen zu lernen. Der Dialog ist gewiß nicht einfach. W i r wissen heute besser als
* Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser auf der Europatagung der W o r l d Conference on Religion and Peace (WCRP) im Mai 1991 in Mödling bei W i e n gehalten hat.
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früher, wie schwierig es ist, Menschen in fremden Sprachen und aus fremden Kulturen zu verstehen; wir wissen, daß es nicht leicht ist, fremdes Denken nachzuvollziehen oder in einer fremden Umgebung sich so zu verhalten, daß sich der Fremde nicht verletzt fühlt. (Vgl. H. Waldenfels, Begegnung der Religionen, 1990, S. 356.) In Verbindung mit dem Dialog, aber damit nicht identisch, gibt es den Weg des Gebetes der Religionen für den Frieden in der Welt. Ich verweise als Beispiel auf das Treffen von Assisi, das als ein besonderes Zeichen der Religionen i m Dienste des Friedens gesehen werden kann. Es ist ein Beispiel für das Gebet der Religionen als eine gemeinsame Wegbereitung zum Frieden. Es war die Einladung des Papstes Johannes Paul II. an die großen Weltreligionen, nach Assisi zu kommen, um dort — jede für sich — um den Frieden zu beten. Dieses Treffen kam am 27. Oktober 1986 — also vor etwas mehr als vier Jahren — zustande. Das Treffen von Assisi hat deswegen größeres Aufsehen erregt, weil einerseits die Einladung vom römischen Bischof als Oberhaupt der katholischen Kirche ausging; und weil das einzige Tagungsthema das Gebet war. Ich wiederhole noch einmal: es war kein Gebet, das gemeinsam gesprochen wurde, sondern jeder Vertreter der verschiedenen Religionen hat ein Gebet seiner Religion ausgewählt und im Namen seiner Glaubensgemeinschaft gesprochen. In einer Schlußansprache erläuterte Johannes Paul II. die Absicht mit folgenden Worten: „Dieser Tag in Assisi hat uns geholfen, uns unserer religiösen Verpflichtung mehr bewußt zu werden. Er hat aber auch der Welt, die durch die Medien auf uns geschaut hat, die Verantwortung jeder Religion für das Problem von Krieg und Frieden bewußter gemacht." Dem fügt er dann hinzu: „Ja, es gibt die Dimension des Gebetes, die sogar in der tatsächlichen Verschiedenheit der Religionen eine Verbindung mit einer Macht über allen menschlichen Kräften auszudrücken versucht. — Der Friede hängt grundlegend von dieser Macht ab, die wir Gott nennen und die sich selbst, wie die Christen glauben, in Christus geoffenbart hat." — Nicht ohne innere Bewegung liest man heute noch die Worte, die er am Schluß sagte: „Der Friede wartet auf seine Erbauer. Laßt uns unsere Hände unseren Brüdern und Schwestern entgegenstrecken, sie ermutigen, Friede auf den vier Säulen: der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Hoffnung und der Liebe zu errichten." (Vgl. die Friedensgebete von Assisi, Herder 1987, S. 55 ff.) Das Treffen von Assisi steht indirekt in der Tradition des II. Vatikanischen Konzils und seines Dokumentes „Nostra aetate". Das daraus hervorgegangene römische Sekretariat für den interreligiösen Dialog (gegründet 1964) schlägt Brücken in diese und andere Richtungen.
Auf dem Weg zur Partnerschaft in Europa
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Franz von Assisi, eine europäische Lichtgestalt, ist ein bleibender Hinweis, daß eine Zuständereform auf internationaler Ebene allein nicht genügt, um eine Friedensordnung unter den Völkern anzustreben. Dazu gehört ebenso eine Gesinnungsreform der Menschen, wie sie durch das Gebet zum Ausdruck kommt. Von Franz von Assisi stammt der ethischmoralische Appell: Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens, daß ich liebe, wo man haßt; daß ich verzeihe, wo man beleidigt; daß ich verbinde, wo Streit ist; daß ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält; daß ich Licht anzünde, wo Finsternis regiert. Lassen Sie mich damit einen Blick auf die Geschichte Europas werfen, um zu zeigen, wie sehr religiöse Kämpfe, Spannungen, leidvolle Auseinandersetzungen sich in sein geistiges Antlitz eingeschrieben haben. Für uns ist es wichtig, daraus zu lernen, um als religiöse Menschen dem Frieden in Europa und in der Welt besser zu dienen. Kein Kontinent, so kann man wohl ohne Übertreibung sagen, hat so viel wie Europa zum geistigen Wachstum der Welt beigetragen, durch seine Ideen, seine philosophischen Systeme, seine Wissenschaft und Technik, seine Erfindungen und Forschungen, sein Christentum, aber auch seinen Atheismus, Idealismus, Materialismus. Die Kolonialreiche trugen europäisches Gepräge. Ist es europäische Überheblichkeit, heute noch von jenen Werten zu sprechen, wie sie in Verbindung mit dem christlichen Erbe aus Europa exportiert wurden? Ich meine damit auch den europäischen Unternehmungsgeist, die Liebe zur Familie, die Achtung vor dem Leben, die Wertschätzung der Arbeit, das Ringen um Toleranz, das Bemühen um Zusammenarbeit und Frieden. Dies springt umso mehr in die Augen, wenn wir die christlichen Wurzeln Europas betrachten, weil weder das Christentum selbst, noch eine der anderen großen Weltreligionen seinen Ausgangspunkt in Europa haben. In dieser Hinsicht weist alles nach Asien mit dem indischen Subkontinent. Dort haben nicht nur Buddhismus, Hinduismus, Shinto, die Religion des Judentums, der Islam, sondern auch das Christentum seinen Anfang genommen. — Laotse und Konfuzius sind dort beheimatet. Andererseits aber hat Europa durch Paulus, die Märtyrer von Rom, unter den römischen Imperatoren, bis zum Edikt von Mailand auf der Basis des alten Römerreiches das Christentum angenommen. Und i m Verlauf der Zeit wurde dieser Kontinent Europa zum dynamischen Missionszentrum des Christentums für die ganze Welt. Das heißt auch heute: das Christentum hat das Antlitz Europas geprägt, das abendländische Erbe wesentlich mitbestimmt. Das Christentum hat sich dabei als einheitsstiftende Kraft in Europa
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erwiesen. In der Form des Nestorianismus erreichte es in den ersten Jahrhunderten bereits Indien und China. Die Kelten, Germanen und Slawen nahmen nach der Völkerwanderung allmählich das Christentum an. So war es die christliche Religion, die die romanischen, germanischen, slawischen, griechischen Völkerschaften, bis zum Iran, zu einer geistigen Staatenfamilie zusammenwachsen ließ. Der heilige Benedikt als Patron Europas ist als Patriarch des Abendlandes von sehr großer Bedeutung für die christliche einheitsstiftende Formung Europas. Damit war das Christentum auch ein Weg der Völkerverständigung und half, kulturelle Gegensätze zu überbrücken. Eine solche Brücke verband sogar die Welt Roms und Byzanz miteinander; die Stämme der Völkerwanderung im Norden wurden in das etablierte Römerreich eingegliedert. Das christliche Welt- und Menschenbild war die Grundlage jener geistigen Einheit Europas. Was Cyrill und Methodius durch ihre Übersetzung der Bibel und liturgischer Texte ins Altslawische taten, würde man heute „Inkulturation" nennen, das heißt, Einheit in der Vielfalt. Diese mittelalterliche „Christianitas" Europas wurde zweimal zerbrochen, und damit zerbrachen auch der Friede und die Völkerverständigung in Europa. Ich meine den Bruch der religiösen, christlichen Einheit, wie sie zwischen Rom und Byzanz bestand. Das Jahr 1054 markiert für den Historiker das Zerbrechen dieser so lange bestehenden Einheit. Die Greueltaten, die sich bei der Eroberung von Byzanz im Jahre 1204 durch das unheilvolle Zerstörungswerk der Kreuzzugsteilnehmer abspielten, sind ein historisches Beispiel für die tragischen Auswirkungen der damals erfahrenen religiösen Gegensätze und Intoleranz auf verschiedenen Ebenen, in verschiedener Form. Die orthodoxen Kirchen, die sich im östlichen Bereich, in der oströmischen Tradition allmählich bildeten, sind die heutigen Zeugen des sogenannten morgenländischen Schismas. Aber es entstand bereits ein neuer Konfliktherd mit vielen kriegerischen Auseinandersetzungen durch das Vordringen des Islam, in Spanien 711 (bis 1492), die teilweise Besetzung des Balkans und Ungarns. Die damit verbundenen religiösen und politischen Auseinandersetzungen brachten viel Leid über die genannten Teile Europas. A n Versuchen, zu einer friedlichen Verständigung zu kommen, hat es auch in diesen Jahrhunderten nicht gefehlt, ich nenne Franz von Assisi oder einen Raimondo von Lullus, der im 13. Jahrhundert sich um die Kenntnis der arabischen Sprache bemühte, um auf diese Weise einen leichteren Zugang zum Dialog mit den Vertretern der muslimischen Religion zu haben. Nikolaus von Kues wandelte auf ähnlichen Spuren und versuchte die Vertreter der drei monotheistischen Religionen (Juden, Christen und Muslime) in einem Religionsgespräch ohne Streit und Zank zu bewegen, eine menschliche Begegnung herbeizuführen. — Nikolaus von Kues versuchte das Gespräch zwischen Vertretern der drei mono-
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theistischen Religionen in menschliche Bahnen zu lenken, durch die Anerkennung der gegenseitigen Toleranz und durch einen ehrlichen Dialog. Der zweite Bruch der religiösen Einheit Europas erfolgte in der Zeit der Reformation i m 16. Jahrhundert. Anstelle der einen christlichen Kirche Europas trat eine Vielfalt christlicher Kirchen. Die Auswirkungen auf das europäische Staatensystem waren tiefgreifend. Der Prozeß der Auflösung der religiösen Einheit fand einen vorläufigen Abschluß im 16. Jahrhundert. Die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, das Anwachsen der religiösen Intoleranz, die Errichtung neuer Staaten auf dem Boden der geteilten Kirchen wurden zu einer Quelle der Unruhe und der Friedlosigkeit — auch das ist Europa, dies ist die andere Seite Europas. Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit hatten ihre Bedeutung verloren. Die Tragik jener Jahrhunderte wurde noch erhöht durch den Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurde der religiöse Streit, der religiöse Kampf auch in jene Kolonialreiche getragen, die solche Auseinandersetzungen bisher kaum kannten. Der Streit der Konfessionen hatte im Dreißigjährigen Krieg seinen Höhepunkt erreicht. Die furchtbaren Verwüstungen nicht nur dieses Krieges hatten den Gedanken an eine Völkerverständigung und ein friedliches Zusammenleben in weite Ferne gerückt. In Deutschland zum Beispiel hatte der Dreißigjährige Krieg allein einen Bevölkerungsverlust von 35 Prozent gebracht. — Das Bemühen um eine staatliche Ordnung in dem ungeordneten Europa zwang schließlich zu einer Akzeptanz, aber nicht zu einer Anerkennung in gegenseitiger Toleranz. Eine größere Hoffnung setzte man in der Situation des 16. Jahrhunderts auf Religionsgespräche. Diese sind zu unterscheiden von den „disputationes", die innerhalb der einzelnen Kirchengemeinschaften geführt wurden. Das Religionsgespräch zwischen Katholiken und Protestanten hat man in Rom geduldet, aber nicht gerade gern gesehen. Die Teilnehmer an solchen Gesprächen waren Vertreter der bereits getrennten Kirchen, „Religionsparteien" genannt. Kaiser Karl V. hoffte auf solchen Wegen, die aus der Reformation entstandenen Kirchenspaltungen in letzter Stunde noch zu überwinden. Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Gespräche zwischen Anglikanern und Katholiken. Ihre Wortführer waren Lord Halifax und Kardinal Mercier (Mecheln). Im 20. Jahrhundert finden wir übrigens ähnliche Bemühungen i m sogenannten „ökumenischen Arbeitskreis" des Erzbischofs Jäger von Paderborn und des evangelischen Bischofs Stählin. Durch die Gründung des römischen Einheitssekretariates (Kardinal Bea) erfährt die ökumenische Bewegung auch katholischerseits einen neuen Auftrieb. Weil die religiösen Spannungen und Auseinandersetzungen nicht nur den religiösen Frieden, sondern auch Völkerverständigung und Frieden im allgemeinen behinderten, erwuchs die starke Sehnsucht, den apologeti-
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sehen Streit zurückzustellen zugunsten der Suche nach den gemeinsamen Werten einer gemeinsamen christlichen Vergangenheit. Daraus entstand das Bemühen der ökumenischen Bewegung, die verloren gegangene Einheit durch einen neuen Prozeß der gegenseitigen Verständigung anzustreben. Es war eine friedlose und unheilvolle Zeit des zerrissenen Europas. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert weiten sich Spaltungen und Kämpfe durch machtpolitische Implikationen aus. Aber in dieser fast hoffnungslosen Situation der religiösen Streitigkeiten und dauernden Kriege sind schließlich auch die heilenden Kräfte gewachsen. Der Erfolg dieser heilenden Kräfte aber ist auf zwei verschiedenen Wegen zu verbuchen: Einerseits waren es die spezifisch christlichen Friedensbewegungen; andererseits war es das Entstehen der sogenannten ökumenischen Bewegung, deren friedensstiftende Kräfte zwischen den Religionen durch das II. Vatikanische Konzil eine kräftige Förderung erfahren haben. Den Friedensbewegungen ging es zunächst darum, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen von Kriegen zu beseitigen, vor allem aber hat man sich dafür eingesetzt, die Macht des Rechtes schließlich an die Stelle der Gewalt zu setzen. Die christlichen Friedensbewegungen begannen erst um die Jahrhundertwende, Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihrer eigenständigen Arbeit: ein überkonfessioneller Versöhnungsbund war 1914 bereits in 30 Ländern tätig. Die Päpste von Leo XIII. bis hin zu Johannes Paul II. haben sich mit steigendem Engagement für den Frieden und die Friedensarbeit eingesetzt. In der Gegenwart hörten wir aus dem Munde eines Johannes Paul II., daß jeder Krieg noch mehr Unrecht und Unheil schaffe, als er zu lösen vorhatte. Organisierte kirchliche Friedensbünde entstehen in den meisten europäischen Staaten vor und besonders nach dem 1. Weltkrieg: ein „Weltfriedensbund vom weißen Kreuz" und eine „Una Sancta"-Bewegung sind mit dem Namen des später hingerichteten Priesters Metzger verbunden (1944). Ein Friedensbund deutscher Katholiken, Straatmanns „Weltkirche und Weltfrieden" zogen vor allem die Intellektuellen an. Seit 1945 gibt es eine kirchenoffizielle internationale Friedensbewegung, „Pax Christi" genannt. In die Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg gehört der bekannte Satz des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Ottaviani: Bellum omnino interdicendum esse. Von einer anderen Seite kam die „ökumenische Bewegung", die 1910 auf einer evangelischen internationalen Friedenskonferenz ihren Anfang nahm. Die Missionsarbeit der getrennten evangelischen Kirchen drängte dazu, die konfessionellen Gegensätze zurückzustellen und die verloren gegangene christliche Einheit, auch im Interesse der Missionsarbeit, mehr zu sehen und für die Zukunft wieder anzustreben. Die ökumenische Bewegung hat durch das Interesse des II. Vatikanischen Konzils einen starken Auftrieb erhalten. In beiden Fällen, das heißt, in den christlichen Friedensbewegungen und in
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der ökumenischen Bewegung, geht es um Konfliktlösung ohne Gewalt. Die Früchte dieser Bewegungen gehen in die Richtung religiöser Toleranz, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit. Auch in dieser Richtung sind seitens der katholischen Kirche wichtige Schritte nach vorne getan worden, vor allem durch die ausdrückliche Festlegung der Religionsfreiheit und der religiösen Toleranz. Ich meine die Konzilsdokumente über den Ökumenismus, das zweite zum Thema des interreligiösen Dialogs mit dem wichtigen vierten Kapitel, das die Judenfrage grundsätzlich löst und ein deutliches Zeichen setzt, daß die katholische Kirche den Antisemitismus ablehnt; dazu kommt schließlich noch das dritte Konzilsdokument über Religionsfreiheit. Wie sehr die Orientierung des II. Vatikanischen Konzils sich auch auf offizielle kirchliche Dokumente niederschlägt, zeige ich — abgesehen von dem Ereignis in Assisi — durch Hinweise auf ein vor einigen Monaten erschienenes Schreiben des Papstes zum Weltfriedenstag in der katholischen Kirche (1991). Ich halte folgende Feststellungen dieses Dokumentes hier fest: 1. Intoleranz ist nicht nur eine Ablehnung der Gewissensfreiheit, sondern außerdem eine Gefahr für den Frieden in der Welt. Intoleranz unterdrückt nicht nur nationale, sondern auch religiöse Minderheiten; dadurch bleibt kein Freiheitsraum für politische und soziale Entscheidungen. Ein Passus dieses Dokumentes verdient es, wörtlich angeführt zu werden: „Was die religiöse Intoleranz angeht, so kann man nicht leugnen, daß es trotz der feststehenden Lehre der katholischen Kirche — wonach niemand zum Glauben gezwungen werden darf — im Laufe der Jahrhunderte zu nicht wenigen Schwierigkeiten, sogar Konflikten zwischen Christen und Angehörigen anderer Religionen gekommen ist. Das II. Vatikanische Konzil hat das formell zugegeben, indem es erklärte, daß ,bisweilen im Leben des Volkes Gottes auf seiner Pilgerfahrt — im Wechsel der menschlichen Geschichte — eine Weise des Handelns vorgekommen ist, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war'. (Erklärung über die Religionsfreiheit, Nr. 12)." Soweit dieses wörtliche Zitat. 2. Das unauslöschliche Recht, seinem Gewissen zu folgen und seinen Glauben allein oder in Gemeinschaft zu bekennen, zu praktizieren — immer unter der Voraussetzung, daß dabei die Forderungen der öffentlichen Ordnung nicht verletzt werden — müsse anerkannt und garantiert werden. 3. Religionsfreiheit ist nicht bloß eines unter anderen Menschenrechten; es ist vielmehr das grundlegendste, weil es die Würde jedes Menschen in ihrer Wesensbeziehung zu Gott verwurzelt im Schöpfer und Vater, der jeden Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat.
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4. Der Reifeprozeß junger Völker wird durch die Religionsfreiheit in seiner Identität bestärkt. In den Nationen, wo die Religion behindert oder verfolgt wurde, hat es sich erneut gezeigt, welche befreiende Kraft in einer solchen Freiheit steckt. 5. Um solche grundlegenden Rechte zu schützen, bedarf es auch einer gesetzlichen Ordnung. Das heißt, der gesetzliche Schutz muß wirklich jeden religiösen Zwang als ein ernstes Hindernis für den Frieden ausschließen. Religionsfreiheit besagt vor allem, daß alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang, sowohl als Einzelne als auch als gesellschaftliche Gruppen; frei sein von jeglicher Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln. Die heutigen Massenwanderungen und Bevölkerungsbewegungen führen in verschiedenen Teilen der Welt zu einer multinationalen und multireligiösen Gesellschaft. Gerade in diesem Zusammenhang gewinnt daher auch die Achtung des Gewissens eine neue Dringlichkeit. Der Vatikan hat zur Förderung des interreligiösen Dialogs ein eigenes Sekretariat eingerichtet. Und das genannte Dokument zum „Weltfriedenstag" schließt mit der Feststellung: „Die katholische Kirche hat sich gern dafür eingesetzt, jede Form aufrichtiger Zusammenarbeit im Hinblick auf die Friedensförderung zu unterstützen. Sie wird weiterhin ihren besonderen Beitrag zu dieser Zusammenarbeit vor allem dadurch leisten, daß sie die Gewissen ihrer Mitglieder zum Offensein für die anderen, zur Achtung des Anderen, zur Toleranz, die nicht zu trennen ist von der Suche nach Wahrheit, und damit zur Solidarität erzieht." Diese Hinweise auf die Geschichte, die Religionsgeschichte Europas, mit ihren positiven und negativen Aspekten stellt uns aufs neue vor Augen, daß von einer gesunden und geordneten, einer eigenständigen und aus den eigenen Wurzeln lebenden Religions- und Glaubensgemeinschaft ein bleibender Dienst für den Frieden der Welt geleistet wird.
V O N DER FREIHEIT UND WÜRDE DES MENSCHEN I N DER ENZYKLIKA „CENTESIMUS ANNUS" PAPST JOHANNES PAUL II. Von Opilio Kardinal Rossi
Die Achtung der in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen begründeten Freiheit und Würde des Menschen im Sozialleben ist die Aufgabe jeder Sozialenzyklika. Sie ist stets der Ausdruck pastoraler Sorge des Nachfolgers Petri für die Sozialeritwicklung der Zeit, der sich verbunden weiß der „Tatkraft von Millionen von Menschen, die angeregt und geleitet vom Sozialen Lehramt der Kirche, sich dem Dienst in der Welt zur Verfügung gestellt haben. Im persönlichen Einsatz oder in Form von Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen werden sie zu einer Großbewegung zur Verteidigung und zum Schutz der Würde des Menschen. Dadurch haben sie in den Wechselfällen der Geschichte zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft beigetragen und dem Unrecht eine Grenze gesetzt."1 Für Papst Johannes Paul II. ist die Soziallehre der Kirche nicht eine A r t Gelegenheitsäußerung zur Zeitkritik; die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört vielmehr „wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit für Christus den Erlöser miteinbezieht". 2 Die Soziallehre der Kirche ist ein Beweis für die mitmenschliche Sorge des Papstes. In dieser Sicht hat Johannes Schasching anschaulich auch den Kommentar zur Enzyklika „Centesimus annus" mit „Unterwegs mit den Menschen" betitelt. 3 Klar verdeutlicht Johannes Schasching das Grundprogramm der Katholischen Soziallehre: „Der Weg der Kirche verläuft nicht über den Menschen und auch nicht über die Menschen hinweg. Er ist der Weg des Menschen 1
Centesimus annus, Nr. 3.
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Centesimus annus, Nr. 5.
3 Siehe Johannes Schasching, Unterwegs mit den Menschen, Kommentar zur Enzyklika „Centesimus annus" von Papst Johannes Paul II., Band 16 der Reihe „Soziale Brennpunkte", herausgegeben von der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Wien-Zürich 1991.
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selbst. Diese Aussage gehört zum Grundverständnis der Kirche. Neu war die A r t und Weise, wie sich eine Kirche vor hundert Jahren auf den Weg der Menschen eingelassen hat: einen Weg, der nicht mehr durch die bescheidene doch solidarische Landschaft der bäuerlich-handwerklichen Welt führt, sondern in das steinige Geröll der Industriegesellschaft einmündete — eine Gesellschaft bestimmt von der Trennung zwischen Kapital und Arbeit, von Ausbeutung und Klassenkampf, vom Schrei nach Gerechtigkeit und dem Kampf um die Menschenrechte." 4 Der Kampf um die Menschenrechte schließt den Kampf um den Schutz der Würde des Menschen auch in seiner Sozialfunktion mit ein. Die Würde des Menschen bezieht sich nämlich auch auf die Würde des arbeitenden Menschen, die schon ein Anliegen vor mehr als 100 Jahren von Papst Leo XIII. war, dem es in „Rerum novarum" um die Grundrechte der Arbeiter ging. Dieses Anliegen ist ein bleibendes der kirchlichen Lehre geworden, die sich ständig geradezu parallel zur Gefährdung des arbeitenden Menschen mit der Weiterentwicklung seines Schutzes und damit auch seiner Grundrechte beschäftigte. Dabei sieht die kirchliche Soziallehre die Arbeit nicht negativ, sondern positiv. Papst Johannes Paul II. betont es: „Die Arbeit gehört somit zur Berufung jedes Menschen; der Mensch entfaltet und verwirklicht sich in seiner Arbeit." 5 Die Arbeit wird zur Person des Menschen gehörend gesehen, auch in der Erbringung der Arbeit wird die Persönlichkeitsentfaltung des Menschen erkannt. Papst Johannes Paul II. hält die Persönlichkeitsentfaltung in seiner Enzyklika fest: nämlich, „daß das, was das Herzstück der Enzyklika ausmacht und was sowohl sie als die ganze Soziallehre der Kirche zuinnerst bestimmt, die richtige Auffassung von der menschlichen Person und ihres Wertes ist, insofern, der Mensch... auf Erden das einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Geschöpf ist". 6 In ihn hat er sein Bild und Gleichnis eingemeißelt 7 und ihm damit eine unvergleichliche Würde verliehen, auf der die Enzyklika wiederholt so eindringlich besteht. „Jenseits aller Rechte, die der Mensch durch sein Tun und Handeln erwirbt, besitzt er Rechte, die nicht im Entgelt für seine Leistung bestehen, sondern seiner wesenhaften Würde als Person entspringen". 8 Für Papst Johannes Paul II. steht die Arbeit in einem wesentlichen Zusammenhang mit der Würde und der Personhaftigkeit des Menschen; sie ist für ihn keine bloße feilzubietende Ware, deren Preis sich am Markt 4
Schasching, Kommentar, S. 9.
5
Centesimus annus, Nr. 6.
6 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 24. 7 8
Vgl. Gen 1, 26. Centesimus annus, Nr. 11.
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bestimmt und für welche nur das Gesetz von Angebot und Nachfrage ausschlaggebend ist, es soll vielmehr auf den Unterhalt des Arbeiters und auf das für seine Familie notwendige Existenzminimum Rücksicht genommen werden. 9 In dieser Sicht natürlicher sozialer Rechte weist Papst Johannes Paul II. im Anschluß an Papst Leo XIII. auf „die Grundrechte des Arbeiters" hin, als welche besonders auch das Recht auf einen menschenwürdigen Arbeitsplatz, eine menschengerechte Arbeitszeit, einen gerechten Arbeitsvertrag, gerechten Lohn, einen speziellen Arbeitsschutz für Frauen und Kinder, das Recht, Berufsvereinigungen von Unternehmen und Arbeitern oder von Arbeitern allein zu gründen sowie das Recht auf den Sonntag zu nennen sind. 10 Gleich Papst Leo XIII. zieht auch Papst Johannes Paul II. aus der Tatsache der Freiheit und Würde des Menschen Konsequenzen, die nicht allein transzendental, sondern auf die gegenwärtige Sozialordnung bezogen sind. Diese Forderungen nach den sozialen Grundrechten stehen in engem Zusammenhang mit der christlichen Auffassung von Staat und Gesellschaft -, beide haben keinen Selbstzweck, sondern sind zum Wohl des Menschen. In dieser Weise sind die schon klassisch gewordenen Grundsätze der Katholischen Soziallehre zu sehen, wie sie in der Tradition der hundert Jahre von „Rerum novarum" bis zu „Centesimus annus" entwickelt wurden, nämlich vor allem von der Solidarität, des Gemeinwohls und der Partnerschaft, welche sich besonders in der leistungsgemeinschaftlichen bzw. berufsständischen Ordnung entwickelt haben. 11 Diese obengenannten Grundsätze sind nicht nebeneinander, sondern miteinander gedacht, in ihrer wechselseitigen Ergänzung dienen sie der Freiheit und Würde des Menschen. Ohne diesen Bezug auf den Wert des Menschen, der in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen begründet ist, und sich in einer gläubigen Individualität des Menschen äußert, würde eine neue Form des Kollektivismus entstehen. Ihr soll durch ein verstehendes Miteinander der Menschen begegnet werden. Diese Solidarität beginnt mit der Ehe und Familie, der Grundform alles Sozialen. Viele Ideologien haben diese natürlichen Gegebenheiten und Rechte nicht erkannt, der Sozialismus und Liberalismus sind hervorzuheben. Papst Leo XIII. kritisierte besonders die zwei Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme: den Sozialismus und den Liberalismus, worauf Papst Johannes Paul II. hinweist. 12 Johannes Schasching hebt die Gründe für diese Ablehnung 9
Centesimus annus, Nr. 4.
10
Centesimus annus, Nr. 6, 7, 8 und 9.
11
Näher Schasching, Kommentar, S. 78 f.
12
Centesimus annus, Nr. 10.
5 Festschrift Schasching
Opilio Kardinal Rossi
hervor: „Den Sozialismus, insofern er Freiheit und Würde der Person den kollektiven Zwängen auslieferte, den Liberalismus, weil er im Glauben an die blinde Macht des Marktes das Elend der Ausgegrenzten als selbst verschuldet abtat. Gegen beide Positionen stellt Papst Leo XIII. seine Ordnungsvorstellungen: Freiheit ja, aber Einbindung in die Gemeinwohlverpflichtung; Eingreifen des Staates ja, aber unter Beachtung des Vorranges der Eigenverantwortung der gesellschaftlichen Gebilde: der Familie, der Genossenschaften und der anderen freien Vereinigungen." 13 Die Menschen haben die Unvereinbarkeit derartiger ideologischer Positionen mit ihrer Freiheit und Würde erkannt und sich gegen diese erhoben; mit besonderer Deutlichkeit die Arbeiterschaft und die Jugend gegen den realen Sozialismus, was auch die Ereignisse des Jahres 1989 erklärt und dem Papst Johannes Paul II. das III. Kapitel in „Centesimus annus" gewidmet hat. Die Menschen haben die Anerkennung der Rechte, mit welchen sie geboren worden waren, selbst durchgesetzt. Sie waren auf die Straßen und Plätze ihrer Heimat demonstrierend und agierend für die Anerkennung ihrer Freiheit und Würde gegangen. Hier zeigte sich, daß die Grundrechte, wie z.B. die Glaubens-, Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, stärker sind als alle autoritären und totalitären Regime mit ihren Zwängen. Für diese Grundrechte hat sich Papst Johannes Paul II. in all seinen Lehräußerungen eingesetzt und damit auch an Papst Pius XII. angeknüpft, welcher in seiner Weihnachtsbotschaft 1944 erklärte: „Die Kirche hat die Aufgabe, der Welt, die sich nach den besseren und vollkommeneren Formen der Freiheit sehnt, die größte und wichtigste Botschaft zu verkünden, die es nur gibt: die Würde des Menschen und seine Berufung zur Kindschaft Gottes. Es ist der mächtige Ruf, der von der Krippe von Bethlehem bis an die äußersten Grenzen der Erde in allen Ohren widerklingt, in einer Zeit, in der diese Würde in bedauerlicher Weise erniedrigt wird." 1 4 Auf diese grundsätzliche Bedeutung der Menschenrechte haben auch Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika „Pacem in terris" (1963) und Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Populorum progressio" (1967) hingewiesen. Papst Johannes Paul II. hat dieser Forderung der Anerkennung von Menschenrechten eine besondere soziale Dimension hinzugefügt. W i e Johannes Schasching mit Recht betont, bilden bei Papst Johannes Paul II. die Menschenrechte den entscheidenden Angelpunkt der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Aussagen ... die Menschenrechte werden in ihrer sozialen Bezogenheit gesehen. Sie bedürfen darum auf der einen Seite 13
Schasching, Kommentar, S. 17. Pius XII., Grundlehre über die wahre Demokratie, Radiobotschaft an die Welt: 24.12.1944, in: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., herausgegeben von A.-F. Utz O.P. und J.-F. Groner O.P., 2. Aufl., Freiburg 1962, S. 1787, Nr. 3505. 14
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Seite der Einbindung des Schutzes durch den Staat, auf der anderen Seite in das Gemeinwohl 1 '. 15 In dieser auch sozialen Sicht der Menschenrechte sind sie sowohl ein Schutz der Individualität des Menschen als auch seiner Sozialität; der Einzelne erfährt die Eigenständigkeit seiner Persönlichkeit, deren volle Entfaltung in der Sozialbezogenheit liegt, welche mit der Ich/Du-Beziehung beginnt. Papst Johannes Paul II. hebt es daher in Centesimus annus, Nr. 41, hervor: „Der Mensch als Person kann sich nur an einen anderen oder an andere Menschen und endlich an Gott hingeben, der der Urheber seines Seins und der Einzige ist, der seine Hingabe ganz anzunehmen vermag." 16 In dieser Sicht bietet das Bedenken der Freiheit und Würde des Menschen in Centesimus annus sowohl einen an den Einzelnen gerichteten Aufruf zur Selbstfindung als auch eine Einführung zur Sozialverantwortung, die in Ehe und Familie grundlegend beginnt und sich im Miteinander von Arbeit, Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft fortsetzt. So erweist sich Centesimus annus als eine Hinführung zu einer neuen Form humaner Ordnung, die unsere Zeit so dringend braucht.
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Schasching, Kommentar, S. 63.
Centesimus annus, Nr. 41; vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 24.
ZUM STAATSRECHTLICHEN GEHALT DER ENZYKLIKA „CENTESIMUS ANNUS" PAPST JOHANNES PAUL II. Von Herbert Schambeck
Das Gedenken der Sozialgestaltungsempfehlungen der Sozialenzyklika „Rerum novarum" Papst Leo XIII. in periodischen Abständen hat dem Gang durch die Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Welt einen eigenen Rhythmus gegeben Es zählt mit zu den Zeichen der Eschatologie, daß die jeweiligen päpstlichen Verlautbarungen in vielfacher zeitlicher Bezogenheit zu entscheidenden politischen Entwicklungen stehen, die sich im öffentlichen Leben ergeben, ohne immer entsprechend vorhersehbar und berechenbar zu sein; sie waren auch keine Zufälligkeiten, sondern Fügungen, die im Zeitablauf unterschiedlich, nämlich einmal negativ, einmal positiv zu beurteilen waren. Der Kapitalismus libertinistischer Prägung des 19. Jahrhunderts, der geradezu mit herausfordernd für Papst Leo XIII. zur Erlassung des ersten umfassenden Sozialrundschreibens gewesen ist, war negativ zu beurteilen; die Entwicklung zu den neuen Demokratien nach den Ereignissen des Jahres 1989 sind zum Jubiläum von „Rerum novarum" und damit auch aus dem Anlaß zur Erlassung der neuen Sozialenzyklika „Centesimus annus" Papst Johannes Paul II. hingegen positiv zu beurteilen; sie zeigen nämlich wieder in der politischen Geschichte, daß kein autoritäres und totalitäres Regime auf Dauer gegen die Anerkennung sowie des Schutzes der Freiheit wie der Würde des Menschen möglich ist. Diese letzten Jahre deuten klar auf einen vor kurzem noch undenkbar erschienenen neuen Aufbruch im politischen Leben, der auch für das Schicksal der einzelnen Menschen mitprägend ist. Dieser Aufbruch ist eine Forderung an die Sozial- und Wirtschaftsordnung, primär aber auch an die Staatsrechtsordnung, welche die Grundlage für die gesellschaftliche Entwicklung überhaupt gibt. Die katholische Kirche hat in ihrer Lehre gegenüber dem Staat\ was seine Form, d.h. ob Republik oder Monarchie, seinen Aufbau, d.h. ob 1 Dazu näher Herbert Schambeck, Kirche — Staat — Gesellschaft, Wien-Freiburg-Basel, 1967; derselbe, Der Staat in der katholischen Gesellschaftslehre, in: Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., Innsbruck 1980, Sp. 2921 ff. und derselbe, Zur Staatsordnung, in: Bleibendes und Veränderliches in der Katholischen Soziallehre, Anton Burghardt zum Gedächtnis, Berlin 1982, S. 95 ff.
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Einheits- oder Bundesstaat, oder die vorherrschende politische Ordnung betrifft, den Grundsatz der Neutralität vertreten, solange der jeweilige Staat in seiner Prägung dem Gemeinwohl dient und die Grundrechte der Menschen achtet 2 . Im Laufe der Entwicklung der katholischen Soziallehre hat besonders deutlich, beginnend mit der Weihnachtsansprache Papst Pius XII. 3 , die Anerkennung der Bedeutung der Demokratie als politisches Ordnungssystem zugenommen. Das ist deshalb kein Widerspruch zur bisherigen Lehre von der Neutralität der Kirche gegenüber dem Staat, weil die Demokratie sowohl in einer Monarchie als auch in einer Republik und sowohl in einem Einheits- als auch in einem Bundesstaat realisierbar ist. Die Bevorzugung demokratischer gegenüber autoritärer politischer Ordnungssysteme geht darauf zurück, daß die Kirche mit Recht annimmt, daß in einer Demokratie das Gemeinwohl und die Grundrechte besonders gewahrt werden 4 . Aus dieser Einstellung der Kirche zur Demokratie zeigt sich einmal mehr, daß der Staat für die Kirche nicht Selbstzweck ist, sondern eine helfende Funktion hat. Papst Johannes Paul II. hat dies in „Centesimus annus" besonders hervorgehoben: „Der Staat hat instrumentalen Charakter, da der Einzelne, die Familie und die Gesellschaft vor ihm bestehen und der Staat dazu da ist, die Rechte des einen und der anderen zu schützen, nicht aber zu unterdrücken" 5 . Die Kirche nimmt den Staat nicht mehr in einer Neutralität an Ordnungsvorstellungen hin, sondern verlangt seine sozialgestaltende Kraft; auch hier zeigt die katholische Soziallehre Stadien ihrer Entwicklung. Johannes Schasching hat es bereits betont: „In der vorindustriellen bäuerlich-handwerklich und ständisch verfaßten Gesellschaft lag in der kirchlichen Praxis der pastorale Hauptakzent auf der Betonung der Zufriedenheit mit dem vorgegebenen Lebensstandard, auf der Einschärfung der Mildtätigkeit gegenüber den Armen und auf einer Sinndeutung des Leidens im Blick auf das Jenseits. Mit ,Rerum novarum' setzt dagegen die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ein Damit ist die Soziallehre der Kirche notwendig auch gesellschaftskritisch und gesellschaftsverändemd .. ." 6 ; es 2 Dazu von Papst Leo XIII. die Enzykliken Diuturnum illud, 1881 ; Immortale Dei, 1885 und Libertas praestantissimum, 1888. 3
Papst Pius XII., Grundlehren über die wahre Demokratie, Radioansprache an die Welt, 24. Dezember 1944, in: Soziale Summe Pius XII., hg. von Arthur Fridolin Utz und Joseph-Fulko Groner, Freiburg 1954 und 1961, Nr. 3469 ff.; Dazu Herbert Schambeck, Der rechts- und staatsphilosophische Gehalt der Lehre Pius XII., in: Pius XII. zum Gedächtnis, hg. von demselben, Berlin 1977, S. 44 ff. 4 Beachte ausführlich Herbert Schambeck, Die Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche, in: Convivium utriusque iuris, Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, W i e n 1976, S. 27 ff. 5
Centesimus annus Nr. 11. Johannes Schasching, Unterwegs mit den Menschen, Kommentar zur Enzyklika „Centesimus annus" von Johannes Paul II., Wien-Zürich 1991, S. 19 f. 6
Der staatsrechtliche Gehalt von Centesimus annus
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ist das Vorherrschen der „Überzeugung, daß der Glaube nicht nur dazu hilft, gesellschaftliche Zustände zu erleiden, sondern sie zu verändern" 7 . Diese auf Sozialgestaltung im Sinne von Gesellschaftsverbesserung ausgerichtete katholische Soziallehre 8 der Kirche bekommt in „Centesimus annus" durch Papst Johannes Paul II. außerordentliche Deutlichkeit. Die Verwirklichung der auf die Sozial- und Wirtschaftsordnung bezogenen Gestaltungsempfehlungen setzt eine bestimmte Ordnung des Staates voraus. Besonders verdeutlicht sich dies in dem V. Kapital von „Centesimus annus", welches die bezeichende Überschrift trägt: „Staat und Kultur" und in dem schon einleitend Papst Johannes Paul II. in diesem staatspolitischen Kapitel von „Centesimus annus" im Anschluß an Papst Leo XIII. betont, „daß man eine gesunde Staatstheorie braucht, um eine normale Entfaltung der menschlichen Tätigkeiten zu gewährleisten, der geistigen und der materiellen, die beide unerläßlich sind" (Nr. 44)9. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Teilung der drei Gewalten des Staates, nämlich der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit genannt, deren Bedeutung an wechselseitiger Kontrolle sowie für den Schutz der Freiheit aller erkannt wird, sowie „das Prinzip des Rechtsstaates" genannt wird, „in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht" (Nr. 44). Der Staat und seine Einrichtungen sind auch in „Centesimus annus" nicht Selbstzweck, sondern stehen im Dienste des Menschen. In der Einstellung zum Menschen und seiner Würde liegt der Grund für die Beurteilung und damit der Unterscheidung der Staaten. Papst Johannes Paul II. bedauert es, daß der Mensch nur so weit respektiert wird, „als man ihn als Werkzeug für ein egoistisches Ziel benützen kann. Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt also in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist" (Nr. 44). Papst Johannes Paul II. bezeichnet den Menschen als „Subjekt von Rechten, die niemand verletzen darf: weder der Einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation oder der Staat" (Nr. 44). Papst Johannes Paul II. geht damit von absolut geltenden Grundrechten des Einzelmenschen aus, die dem Staat und seiner Gesetzesordnung vorgegeben sind und deren Außerachtlassung unzulässig ist. Papst Johannes Paul II. geht sogar so weit, diese Grundrechte zu einem starren Teil des Verfassungsrechtes zu zählen, denn er erklärt: „Auch die gesellschaftliche Mehrheit darf das nicht tun, in dem sie gegen eine Minderheit vorgeht, sie ausgrenzt, unterdrückt, aubeutet oder sie zu vernichten sucht" (Nr. 44) 10 . Papst Johannes Paul II. geht es um die Anerkennung und 7
Schasching, Kommentar S. 20.
8
Beachte Alfred Klose, Die katholische Soziallehre, Graz-Wien-Köln 1979; Rudolf Weiler, Einführung in die katholische Soziallehre, Graz-Wien-Köln 1991 und Arthur F. Utz, Zum Begriff „Katholische Soziallehre", in: Die katholische Soziallehre und die Wirtschaftsordnung, Fribourg 1991, S. 6 ff. 9 10
Vgl. Enzyklika Rerum novarum, 32-33: a.a.O., 126-128. Vgl. Papst Leo XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum, 10: a.a.O. 224-226.
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den Schutz der Stellung des Einzelmenschen, der Familie, der Gesellschaft und der Religionsgemeinschaft. Er lehnt jede Form des Totalitarismus ab und verlangt die Anerkennung der Eigenständigkeit nichtstaatlicher Gebilde. Man geht sicher nicht fehl, wenn man die in „Centesimus annus" aufgezeigten Gefahren des Totalitarismus auch auf die verschiedenen ethnischen Gruppen bezieht — findet sich doch auch in „Centesimus annus" der Begriff der Nation verwendet — und den Minderheitenschutz ins Auge faßt. Dies zeigt sich auch 1991 in dem Schlußdokument der Europäischen Bischofssynode, welches eine konkrete Warnung beinhaltet: „Nachdem aber das marxistische Herrschaftssystem zugrundegegangen ist, welches mit erzwungener Gleichförmigkeit der Völker und Unterdrückung kleiner Nationen gekoppelt war, taucht nun nicht selten die Gefahr auf, daß die Völker Europas in Ost und West wiederum zu alten nationalistischen Konstellationen zurückkehren" 1 Sehr klar wird jede Form der Uniformierung und Nivellierung und damit auch jeder Fanatismus und Fundamentalismus abgelehnt. Die Kirche verlangt vielmehr die Achtung der Freiheit und der Unterschiedlichkeit, sofern sie mit der Würde des Menschen vereinbar ist. „Der christliche Glaube, der keine Ideologie ist, maßt sich nicht an, die bunte soziopolitische Wirklichkeit in ein strenges Schema einzuzwängen" (Nr. 46). Die Anerkennung der Vielfalt gilt natürlich besonders auch für die Politik und in diesem Bereich besonders für die Demokratie. Schon das II. Vatikanische Konzil hat in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes" Nr. 36 „die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" anerkannt: „Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihr Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten muß" 12 . In „Centesimus annus" geht Papst Johannes Paul II. auf „die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung" (Nr. 47) ein. Die Hervorhebung der Demokratie gegenüber anderen politischen Systemen liegt darin, daß „die Kirche das System der Demokratie zu schätzen" weiß, „insoweit es die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierungen zu wählen und zu kontrollieren als auch dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen" (Nr. 46). 11
Schlußdokument der Europäischen 13.12.1991, deutsche Ausgabe, S. 19.
Bischofssynode,
verabschiedet
am
12 Kleines Konzilskompendium, hg. von Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, 2. Aufl., Freiburg-Basel-Wien 1966, S. 482.
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Papst Johannes Paul II. weiß um die Gefahren der Mißbilligung und des Mißbrauches der Demokratie, weshalb er in „Centesimus annus" feststellt: „Sie kann daher nicht die Bildung schmaler Führungsgruppen billigen, die aus Sonderinteressen oder aus ideologischen Absichten die Staatsmacht an sich reißen. Die wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich" (Nr. 46). Für Papst Johannes Paul II. ist diese positive Wertung der Demokratie abhängig vom Dienst der Demokratie am Gemeinwohl und den Grundrechten der Menschen. Johannes Schasching stellt schon fest, „die Kirche weiß um die Vielfalt der geschichtlich bedingten politischen Ordnungen. Was die Kirche als Beitrag zur demokratischen Ordnung der politischen Gesellschaft einbringt, ,ist die Sicht von der Würde der Person' und die sich daraus ergebenden Ordnungsprinzipien" 13 . Diese grundsätzliche Bejahung der Demokratie unter der Voraussetzung ihrer Gemeinwohl- und Grundrechtsbezogenheit verbindet Papst Johannes Paul II. insofern mit der sonstigen Neutralität der Kirche gegenüber den Formen und Systemen des Staates, als er bezüglich der Kirche feststellte: „Es steht ihr nicht zu, sich zugunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußen" (Nr. 47). Papst Johannes Paul II. weiß anscheinend um die Weite der Möglichkeiten, gemeinwohl- und grundrechtsorientiert die Demokratie in verschiedenen Einrichtungen der Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen. Klar und deutlich zeigt sich aber die Empfehlung der Verbundenheit von Demokratie und Rechtsstaat 14 . Aus den Ausführungen von „Centesimus annus" kann entnommen werden, daß Papst Johannes Paul II. nicht einem bloßen rechtspositivistischen Rechtswegestaat das Wort redete, sondern einem demokratischen Rechtsstaat, der seine Rechtswege in den Dienst von Rechtszielen stellt, die im Dienst von Werten stehen, denn: „Die Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus" (Nr. 46). Papst Johannes Paul II. sieht eine wechselseitige Bezogenheit von Werten, Freiheit und Wahrheit, denn er hebt hervor: „Die Freiheit erhält erst durch die Annahme der Wahrheit ihren vollen Wert. In einer Welt ohne Wahrheit verliert die Freiheit ihre Grundlage und der Mensch ist der Gewalt der Leidenschaften und offenen oder verborgenen Bedingtheiten ausgesetzt" (Nr. 46). Diese Wertbezogenheit der Demokratie erfährt durch die Grundrechte ihre besondere Bezogenheit und Begründung. „Centesimus annus" beinhaltet zwar keine taxative Aufzählung der Grundrechte, sondern bloß eine demonstrative, die aber eine bestimmte Rangordnung erkennen läßt: „Unter 13 14
Schasching, Kommentar, S. 66. Siehe Centesimus annus Nr. 46.
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den vorrangigsten Rechten sind zu erwähnen: das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung einer Familie und auf Empfang und Erziehung der Kinder durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben" (Nr. 47) 15 . Papst Johannes Paul II. sieht es aber nicht als Aufgabe der katholischen Soziallehre an, bloß dem Einzelmenschen Freiheit zu sichern, sondern auch zu deren Nutzung im Sinne einer Persönlichkeitsentfaltung die erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu vermitteln. Er erwartet daher vom Staat eine aktive Gesellschaftspolitik mit Sicherheit des Arbeitsplatzes, des Eigentums in seiner Sozialverantwortung sowie des Arbeitslohnes. Ausdrücklich erklärte Papst Johannes Paul II. es als Hauptaufgabe des Staates, die „Sicherheit zu garantieren, sodaß der, der arbeitet und produziert, die Früchte seiner Arbeit genießen kann und sich angespornt fühlt, seine Arbeit effizient und redlich zu vollbringen... Eine andere Aufgabe des Staates besteht darin, die Ausübung der Menschenrechte im wirtschaftlichen Bereich zu überwachen und zu leiten" (Nr. 48). In dieser Sicht sieht Papst Johannes Paul II. den Staat verantwortlich bei der Arbeitsplatzbeschaffung aktiv zu sein. Alle auch aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und des Gemeinwohles in „Centesimus annus" an den Staat gerichteten Forderungen stehen unter der Beachtung des Prinzips der Subsidiarität. Papst Johannes Paul II. weist in „Centesimus annus" besonders auf die Bedeutung aller Gebilde im intermediären Bereich zwischen dem Einzelmenschen und dem Staat hin. Johannes Schasching spricht mit Recht im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip von der „gestuften Solidarität" 16 und sieht die Gefahren für den Fall ihrer Beseitigung: „ Jedes totalitäre System ist bestrebt die Zwischenträger zwischen der Herrschaftselite und den Bürgern zu zerschlagen oder letztere zu Ausführungsorganen der Zentralmacht zu degradieren" 17 . Deshalb stellte 15
Vgl. Papst Johannes Paul IL, Botschaft zum Weltfriedenstag 1988 a.a.O., 15721580; Botschaft zum Weltfriedenstag 1991: L'Osservatore Romano, 19. Dezember 1990; II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1-2. 16 Schasching, Kommentar, S. 68. 17 Schasching, Kommentar, S. 67.
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Papst Johannes Paul II. in „Centesimus annus" fest: „Nach,Rerum novarum' und der ganzen Soziallehre der Kirche erfüllt sich die gesellschaftliche Natur des Menschen nicht im Staat, sondern verwirklicht sich in verschiedenen Zwischengruppen, angefangen von der Familie bis hin zu den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Gruppen, die in derselben menschlichen Natur ihren Ursprung haben und daher innerhalb des Gemeinwohls ihre eigene Autonomie besitzen" 18 . Papst Johannes Paul II. spricht sich in Erfüllung des Subsidiaritätsprinzips für spezifische Solidaritätsnetze aus und Johannes Schasching meint begründet hierzu: „Solche Solidaritätsnetze müssen aber ebenso über die Nachbarschaft, die Betriebsgemeinschaft, die freien Vereinigungen und auch die religiösen Gemeinschaften geknüpft werden" 19 . Papst Johannes Paul II. will mittels der Prinzipien des Gemeinwohles und der Subsidiarität verhindern, daß einerseits der Staat gleich dem libertinistischen Nachtwächterstaat seine Sozialverantwortung übersieht und anderseits ein Versorgungsstaat mit einem aufgeblähten Machtapparat entsteht. Sowohl von der Organisation des Staates als auch von den Zielen seiner Politik her erwartet Papst Johannes Paul II. eine „Kultur der Nation . Dieses Erfordernis begleitet die ganze Enzyklika „Centesimus annus", besonders aber den staatsrechtlichen Teil, nämlich Kapitel V in allen Ausführungen über Möglichkeiten und Grenzen des Staates 20 . Auch dort, wo Papst Johannes Paul II. sich gegen die Verstaatlichung der Gesellschaft ausspricht und im Sinne des Subsidiaritätsprinzipes für die Eigeninitiative des Einzelmenschen und der gesellschaftlichen Gebilde, verlangt er eine Rechtsordnung, wie Johannes Schasching hervorhebt, „die garantiert, daß das Gemeinwohl nicht den Gruppeninteressen geopfert wird" 2 1 . Auf diese Weise gibt Papst Johannes Paul II. in „Centesimus annus", ohne auch nur im geringsten bei der Pluralität der Staaten mit ihren vielfältigen Gesellschaften ein orts- und zeitgebundenes „Patentrezept" an Staats- und Gesellschaftsordnung vorstellen zu wollen, den Demokratien unserer Tage mit ihrem Instrumentarium an Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit eine an der Freiheit und Würde der Menschen orientierte Sozialgestaltungsempfehlung, welche die Rechtslehre durch eine Rechts- und Sozialethik ergänzen läßt. Wer wollte leugnen, daß dies nicht heute Staat und Gesellschaft benötigen, denn, wie Johannes Schasching schon verlangte, muß die Demokratie „auf tragfähigen Fundamenten gebaut sein: auf Menschenwürde, auf eine selbst- und mitverantwortliche Gesellschaft und auf eine öffentliche 18
Centesimus annus Nr. 13.
19
Schasching, Kommentar, S. 68.
20
Dazu Herbert Schambeck, La Responsabilité e i limiti delle Funzioni dello Stato, L'Osservatore Romano vom 15. Juni 1991, S. 1 u. 4. 21
Schasching, Kommentar, S. 70.
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Moral, die den Eigennutz dem Gemeinwohl unterordnet und politische Vorbildfunktion übernehmen kann" 2 2 . Papst Johannes Paul II. gibt auch im staatsrechtlichen Teil seiner Sozialenzyklika „Centesimus annus" zu diesem notwendigen Fundament der Demokratie unserer Zeit einen bedeutenden Beitrag, der für alle Menschen, welche die Bedeutung einer gemeinwohlgerechten Ordnung anerkennen, einsichtig und wegweisend ist.
Schasching, Kommentar, S. 7 .
HUNDERT JAHRE SOZIALENZYKLIKEN Eine wirtschaftswissenschaftliche
Analyse
Von Erich W. Streissler
I. Die Volkswirtschaftslehre ist die in sich geschlossenste und daher auch die methodisch am weitesten entwickelte Sozialwissenschaft. Sie entspringt nämlich der englischen Staats- und Gesellschaftsphilosophie des 17. Jahrhunderts und verkörpert deren wesentlichste Prämissen, die Grundlage einer damals neuen Gesellschaftsordnung waren. Die großen militärischen, politischen und ökonomischen Erfolge Englands im 18. und frühen 19. Jahrhundert führten zur Übernahme dieser neuen Staats- und Gesellschaftsphilosophie als „res novae" überall in der „westlichen" Welt; und so ziemlich gegen Ende dieser Rezeption führten sie auch zur Übernahme durch die katholische Kirche in der im englischen Sinne klassisch-wirtschaftsliberalen Enzyklika „Rerum novarum" (1891). Um gleich einem Mißverständnis vorzubeugen: „Rerum novarum" ist, wie zu zeigen sein wird, klassisch-wirtschaftsliberal im englischen und in der Volkswirtschaftslehre zutiefst verinnerlichten Sinne, obwohl spätere Enzykliken sich vom „Liberalismus" schlechthin distanzieren und Johannes Paul II. in „Centesimus annus" fälschlich behauptete, „Rerum novarum" hätte den Liberalismus „kritisiert". 1 Denn der Liberalismus, von dem sich Enzykliken 1
„Centesimus annus" sagt in 10 (1): „Rerum novarum kritisiert die zwei Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme: Den Sozialismus und den Liberalismus. Dem Sozialismus ist der erste Teil gewidmet, in dem das Recht auf Privateigentum bestätigt wird. Dem zweiten System ist kein eigener (!) Abschnitt gewidmet, sondern — und das muß angemerkt werden — der Papst behält sich seine Kritik am damaligen Liberalismus vor, bis er im zweiten Teil das Thema der Pflichten des Staates aufgreift". Während jedoch „Rerum novarum" den Sozialismus sehr wohl ausdrücklich und ausführlich kritisiert, kennt sie schon den Ausdruck Liberalismus nicht Begreiflicherweise findet dann der Papst keinen „eigenen" Abschnitt, wo „Rerum novarum" den Liberalismus kritisiert. Die Staatsaufgaben, die „Rerum novarum" anspricht, sind gerade die des klassischen Liberalismus. (Siehe Abschnitt VIII.) Identifiziert Johannes Paul II. — ähnlich wie nicht selten im Marxismus — Liberalismus etwa gar mit Anarchismus?
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distanzieren, ist ein vielfältig schillernder politischer Liberalismus in spezifisch kontinentaler Ausformung, geprägt von einem den englischen Wirtschaftsliberalismus nicht kennzeichnenden Antiklerikalismus, insbesondere natürlich dem militant-politischen italienischen Liberalismus. Der Wirtschaftsliberalismus zeigt klarere, durch wirtschaftswissenschaftliche Traditionen geformte Konturen. Hier distanzieren sich die Enzykliken, abgesehen von wenigen Ausnahmen, allenfalls vom französischen Liberalismus der Aufklärung, einem Liberalismus, der in seinem Denkansatz, wie Friedrich August von Hayek herausgearbeitet hat, 2 vor allem in seinem Konstruktivismus, grundverschieden ist vom englischen. In dieser französisch aufklärerisch-liberalen Tradition wurzelt auch der Marxismus. Oft verstehen Enzykliken unter „Liberalismus" im übrigen im Grunde Anarchismus. Mit einem Wort: Die Kritik der Enzykliken trifft meist durchaus Kritikwürdiges. Ob sie aber „den" Liberalismus trifft oder das, was „die" Liberalen denken, bleibt, zumal wenn es den klassischen Wirtschaftsliberalismus meint, oft mehr als fragwürdig. Daß aber „Rerum novarum" weitgehend wirtschaftlich liberal ist, sollte angesichts der historischen Situation nicht erstaunen: Wirtschaftlicher Liberalismus ist typische Reaktion auf einen übermächtigen Staat; und die Kirche sah sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von oft feindlicher Staatsmacht bedroht. Das 20. Jahrhundert hat in seinen ersten zwei Dritteln die Ideen des englischen Wirtschaftsliberalismus und der demokratischen englischen Gesellschaftsphilosophie mehr und mehr abgelehnt und sich konstruktivistischen Gedanken zugewandt. Mit einiger Verspätung wird diese (vor allem auf Mißverständnis beruhende) Abwendung dann in den päpstlichen Sozialenzykliken Johannes' XXIII. und Johannes Pauls II. nachvollzogen, insbesondere in „Laborem exercens" (1981), nicht jedoch charakteristischerweise in der Konzilskonstitution „Gaudium et spes" (1965). Hier in den wirtschaftssystemtheoretischen Aussagen eine Kontinuität zu „Rerum novarum" zu sehen,3 kann fundierter ideengeschichtlicher Kritik nicht stand2
Zuletzt in Friedrich August von Hayek, The Fatal Conceit — The Errors of Socialism, London, Routledge 1988, S. 49 f., insbesondere im Hinblick auf Rousseau; siehe weiters insbesondere Friedrich A. von Hayek, „Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung", in: ders., Freiburger Studien, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1969, S. 108-125; sowie ders., The Constitution of Liberty, London, Routledge 1960, Kapitel IV u. a. 3 Die Kontinuität wird von Johannes Paul II. in „Centesimus annus" schon durch die Aussagen suggeriert, die er in „Rerum novarum" hineinliest. So spricht etwa „Rerum novarum" — im folgenden RN oder RN 1891 — entgegen „Centesimus annus" 34(2) — im folgenden C A 1991 — weder von Arbeitslosigkeit noch von Sozialversicherung] Sozialvorsorge ist ihr noch vor allem kirchliche Aufgabe. Und der Wohlfahrtsstaat wird von ihr verurteilt — als Verdrängung kirchlicher „Liebestätigkeit", wenn in RN 24 anklagend betont wird: „An deren Stelle sucht man ein staatliches System des Wohltuns einzuführen"!
Hundert Jahre Sozialenzykliken
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h a l t e n . 4 Teilweise v e r w e n d e n diese E n z y k l i k e n d e m M a r x i s m u s e n t l e h n t e Begriffe,
m a r x i s t i s c h e V o r s t e l l u n g e n über das, was historisch
m a r x i s t i s c h gefärbte V o r s t e l l u n g e n v o n der Funktionsweise
passiert ist u n d moderner Indu-
striewirtschaften. 5 W i e „ m o d i s c h " geprägt die j ü n g e r e n S o z i a l e n z y k l i k e n sind, e r k e n n t m a n v i e l l e i c h t a m besten aus d e m n o c h v o r zehn Jahren geschriebenen Satz i n „Laborem
exercens":
„ D i e . . . m i t t e l b a r e n A r b e i t g e b e r . . . müssen ( ! ) . . . einen
G e s a m t p l a n (!) aufstellen für die U n t e r n e h m e n , i n d e n e n . . . n i c h t n u r das wirtschaftliche, sondern a u c h das g e s a m t k u l t u r e l l e (!) L e b e n des Landes . . . sich abspielt. D a r ü b e r hinaus müssen (!) sie h i n w i r k e n auf d e n r e c h t e n u n d e i n s i c h t i g e n (?) Einsatz der A r b e i t i n diesen U n t e r n e h m e n . L e t z t e n d l i c h obliegt die Sorge d e m Staat". 6 U n d das w i r d verpflichtend, also nicht nur für die d a m a l i g e n sozialistischen Länder, sondern für die ganze W e l t vorgeschrieben! Es ist k e i n W u n d e r , daß „Centesimus
annus",
eine meines Erachtens
k a u m h o c h genug z u schätzende E n z y k l i k a , w i e d e r eine K e h r t w e n d u n g m a c h t e u n d i n etwas n e u e r e m Gewand, aber d e n n o c h ganz u n d gar zu d e n klassisch-liberalen Positionen v o n „Rerum novarum"
zurückfand. 7
4 Als Wirtschaftswissenschafter entwickelter Industriewirtschaften gehe ich in diesem Beitrag auf die insbesondere den Problemen der „Dritten Welt" gewidmeten Enzykliken „Pacem in terris" (1963), „Populorum progressio" (1967) und „Sollicitudo rei socialis" (1987) nicht weiter ein, da ich weder die geistigen Entwicklungen noch die ökonomischen Zusammenhänge in diesen Ländern genügend fachkundig kommentieren kann. 5
Selbstverständlich ist Johannes Paul II. das gerade Gegenteil eines philosophischen Marxisten oder eines Werte-Marxisten. Hingegen ist durchaus zu fragen, ob er nicht dennoch in seinen Sachannahmen und Geschichtsdeutungen marxistische Vorstellungen übernimmt. 6
„Laborem exercens" — im folgenden LE 1981 — 18(2). Zitiert nach: Texte zur katholischen Soziallehre, mit Einführungen von Oswald von Nell-Breuning SJ und Johannes Schasching SJ, Köln, Ketteier, 7. Auflage 1989, im folgenden zitiert als TKS — Schasching, S. 614. „Centesimus annus", 48(2), freilich sagt ganz im Gegenteil: „Der Staat könnte das Recht aller Bürger auf Arbeit nicht direkt sicherstellen, ohne die gesamte Wirtschaft zu reglementieren und die freie Initiative der einzelnen abzutöten" (Kerber, S. 105). 7
„Ist die päpstliche Soziallehre jetzt,rechtslastig' geworden, nachdem Unternehmerkreise und Wirtschaftspresse gerade in Deutschland ihr immer wieder ,Linkslastigkeit' vorgeworfen haben? Ist der Papst in das Lager der liberalen Marktwirtschaft übergeschwenkt? Hat er die frühere kapitalismuskritische Position der Kirche aufgegeben, und dies in dem geschichtlichen Augenblick, da die Krise des marxistischen Systems offenkundig wurde? W i l l er vielleicht jetzt gerade noch rechtzeitig dem neuen politischen Gleichgewicht der Weltmächte Rechnung tragen? Wer Johannes Paul II. einen solchen Opportunismus zutraut, schätzt seinen Charakter völlig falsch ein". So Walter Kerber, Vor neuen Herausforderungen der Menschheit — Enzyklika „Centesimus annus" Papst Johannes' Paul II., FreiburgBasel-Wien, Herder, 1991 — i m folgenden zitiert als Kerber — S. 151. Pater Kerber verneint all diese rhetorischen Fragen. Ich würde sie vollinhaltlich bejahen, mit den
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Erich W. Streissler
Die aus dem englischen 17. Jahrhundert, einem tiefreligiösen Jahrhundert, stammende englische Gesellschaftsphilosophie und der englische Wirtschaftsliberalismus beruhen durchaus auf einem christlichen Menschenbild. Es sind letztlich fundamentale theologische Konsequenzen einerseits aus der Erbschuld, andererseits aus der Personalität des Menschen und seinem der Persönlichkeit entsprechenden eigenständigen Freiraum, die seither wirtschaftswissenschaftlichem Denken zugrundeliegen. Diesen muß ich mich nunmehr zuwenden, bevor ich auf eine wirtschaftswissenschaftliche Analyse einiger Sozialenzykliken der letzten hundert Jahre eingehen kann. II. Es mag für NichtÖkonomen erstaunlich klingen, mit welcher Selbstverständlichkeit auch in unserer säkularisierten Zeit Ökonomen in systemtheoretischen Diskussionen die Folgen der Erbschuld als allgemein akzeptierte intellektuelle Grundlage sozialwissenschaftlichen Verständnisses zitieren; wie ich dies soeben wieder auf einer Arbeitstagung der International Economic Association aus dem Munde des berühmtesten Nobelpreisträgers der mathematischen Nationalökonomie, Kenneth J. Arrow, gehört habe. Nur gibt es in der abendländischen Tradition zwei konträre Interpretationen der gesellschaftlichen Konsequenzen des Sündenfalls. Eine wird durch den neuesten Historiker spätantiker städtischer Selbstverwaltung im allgemeinen und der Geistesgeschichte von Korinth im Römerreich im besonderen, Donald Engels, dargestellt. Er sagt, einen Gegensatz herstellend zu der von ihm vornehmlich beschriebenen klassisch-antiken Periode: „By the fifth century, mankind was not only evil, but also ignorant. Man could not grasp the true nature of God, nature, or himself ... Naturally (?), under these circumstances, Man was held incapable of self-government or making laws for himself. He had to be governed by his 'betters': an emperor anointed by God as a Thirteenth Apostle, or a king who ruled through God's grace by divine right". 8 Für den Byzantinismus wird die gefallene Natur des Menschen, seine Sündhaftigkeit wie sein Unverstand, „evil and ignorance", zur Rechtfertigung der Autokratie. So wird die christliche Religion seit Konstantin dem Großen zum Herrschaftsinstrument: „Authoritarian values
beiden Ausnahmen, daß es natürlich gar kein „politisches Gleichgewicht der Weltmächte" mehr gibt, auf das man antworten könnte, und daß natürlich nicht der Charakter, sondern vielmehr der Verstand des Papstes sehr anpassungs- und lernfähig ist. Die „Kapitalismusablehnung" von C A 1991 z.B. ist nunmehr eine andere als die früherer Enzykliken geworden. (Siehe Abschnitt VIII.) 8 Donald Engels, Roman Corinth — A n Alternative Model of the Classical City, Chicago und London, University of Chicago Press 1990, S. 135.
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were quite acceptable to Constantine and his autocratic successors. They recognized that Christianity, with its hierarchical power structure, could be controlled from the top — unlike pagan religions with their rampant individualism." 9 Die katholische Kirche neigte, die ganz und gar anders geartete augustinische oder thomistische Sicht wieder beiseite schiebend, zu einer solchen autoritätsgläubigen Tradition nochmals vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Ist es nicht ein Nachklang solchen Denkens, wenn „Laborem exercens" fordert: „Vernünftige Planung und rechter Einsatz der menschlichen Arbeit i m Rahmen der einzelnen Länder und Staaten sollte dazu beitragen, die verschiedenen Arten von Beschäftigung ins rechte Verhältnis zueinander zu bringen"? Denn nach ihr obliegt ja „letztendlich ... die Sorge dem Staat!" 10 W i e aber, würde die Gegenposition, nämlich die der englischen liberalen Gesellschaftsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts mit Augustinus sagen, soll den Herrschenden „vernünftige Planung" so komplexer Phänomene überhaupt möglich sein, wenn sie doch ebenso gefallene Menschen sind wie wir alle, wenn auch ihr Verständnis, ihre Vernunft verdunkelt sind? W i r leben ja, um Augustinus „Gottesstaat" zu zitieren, in einer „Welt, in der wir Kränkungen, Verdacht, Feindseligkeiten, Krieg als unentrinnbare (!) Übel erfahren, den Frieden dagegen als ein leicht entrinnendes Gut, weil wir die Herzen derer, mit denen wir ihn halten wollen, nicht durchschauen, und wenn wir sie heute durchschauen könnten, doch nicht wüßten, wie sie morgen sind". 11 Der gefallene Mensch kann, wie auch Augustinus betont, 12 bestenfalls seine unmittelbarste und vitalste Interessensphäre einigermaßen verstehen. Es ist hingegen geradezu Beweis von „folly and presumption" (of) „the statesman", Beweis der Dummheit und Überheblichkeit der Regierenden, wenn sie glauben, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge im Detail besser als die unmittelbar Betroffenen regeln zu können; und obendrein wäre ein solcher Versuch „dangerous", also sozialschädlich, wie Adam 9 10
Engels 1990, loc. cit., S. 115. LE 1981, 18 (5); TKS-Schasching, S. 616.
11
Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat; übersetzt von Dr. Alfred Schröder, Kempten und München, Kösel 1916, III. Bd., Kapitel XXI, S. 213. 12
Loc. cit., S. 214. „Wenn also nicht einmal die Familie ... Sicherheit bietet, wie erst die Stadt, deren Gerichtsplatz, je größer (!) sie ist, um so lauter widerhallt von bürgerlichen und Strafhändeln". Kapitel XIX/6, S. 216: „Es sind Gerichte (solche) von Menschen über Menschen ... Sitzen doch da zu Gerichte Menschen, die in das Innere derer, über die sie richten, nicht hineinschauen können". Augustinus zeigt übrigens, daß die von Engels, loc. cit. in FN 8, behauptete autokratische Schlußfolgerung aus dem Sündenfall im christlichen 5. Jahrhundert keineswegs einhellig gezogen wurde, ganz i m Gegenteil!
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Smith in einem Schlüsselsatz festhält; 13 ein Satz, der freilich keineswegs so verstanden werden darf, als ob das Handeln der einzelnen nicht dennoch im festen Gefüge moralisch abgestützter und bewährter gesellschaftlicher Normen abzulaufen habe. Fundierter Glaube und bewährte Erfahrung von Generationen ist eben etwas anderes als das Gebot eines Führers! Wenn also der Staatsmann eine „anima corrupta" hat wie wir alle, wenn im Weltlichen keineswegs gesichert ist, daß Gott dem den Verstand gibt, dem er ein A m t gibt, wenn der Staat eine „societas imperfecta", ja eine „societas valde imperfecta" ist, so folgt daraus, daß jedem Menschen einerseits ein Freiraum der Entscheidung zu gewähren ist, in dem er vor unsinnigen Eingriffen unverständiger Regierender geschützt ist und andererseits, daß der Staatsmann in diese eigenständigen Bereiche auch nicht einzugreifen versuchen darf, weil er sich inkompetent wissen muß. 14 Aus dem Sündenfall auch der Regierenden folgt in dieser zweiten Interpretation somit Selbstbestimmung und nicht Cäsaropapismus und Autokratie. Der eigenständig Entscheidende heißt dabei in der englischen Staatsund Gesellschaftsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts in einer dem römischen Recht sehr nahe stehenden Formulierung der „Private" ·, und sein Freiraum der Entscheidung in einer andererseits dem römischen Recht sehr fernstehenden, außerordentlich weiten und umfassenden neuen Formulie-
13 Adam Smith, A n Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London, Strahan und Cadell 1776; Glasgow Edition, R. H. Campbell und A. S. Skinner, Hrsg., Oxford, Oxford University Press 1976 — zitiert im folgenden als Smith, WoN. Smith sagt in IV ii 10: „The statesman, who should attempt to direct private people in what manner they ought to employ their capitals would not only load himself with a most unnecessary attention, but assume an authority which could safely be trusted, not only to no single person, but to no council or senate whatever, and which would nowhere be so dangerous as in the hands of a man who had folly and presumption enough to fancy himself fit to exercise it", S. 456. (Man beachte die typisch liberale, jedoch sozialpsychologisch abgestützte Annahme, daß Gruppenentscheidungen immer sachadäquater sind als Einzelentscheidungen.) 14
Dies ist genau der Freiraum, den C A 1991,51 (1) nennt: „Zweifellos gibt es einen berechtigten Freiraum in der Wirtschaft, in den der Staat nicht eingreifen soll. Aber der Staat hat die Aufgabe, den rechtlichen Rahmen zu erstellen, innerhalb dessen sich das Wirtschaftsleben entfalten kann". Für das englische Denken sind an diesem Satz nur zwei staatstheoretische Korrekturen anzubringen, die zu dauernden Fehldeutungen am Kontinent führten und zu der ganz und gar unsinnigen Vorstellung, es würde im englischen Liberalismus eine Wirtschaft frei von Rechtsschranken gefordert. Für den ersten Gebrauch des Wortes „Staat" schreibe nämlich „die Regierung" oder „die Verwaltung" — „the souverain" bei Locke, „the statesman" bei Adam Smith; für den zweiten hingegen „die Gesellschaft". Denn das englische „Common Law" ist dem Verständnis nach gesellschaftlich gefundenes Gewohnheitsrecht, nicht staatlich gesetztes; allenfalls, für Fälle einer notwendigen Korrektur der gerichtlichen Weiterentwicklung dieses Rechtes, könnte es für Staat heißen: „die Gesetzgebung".
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rung: sein „Eigentum". M i t der Konstituierung eines solchen eigenständigen Freiraumes der Menschen entsteht im englischen 17. Jahrhundert auch die Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft: Sie ist nichts anderes als eben die Analyse der Konsequenzen der Entscheidungen in der menschlichen Privatsphäre bei der Nutzung eines sehr weit verstandenen Eigentums. 15 Daß wegen der korrupten Natur und des sehr beschränkten Verständnisses gerade auch jeder Obrigkeit den einzelnen Menschen ein Freiraum der Entscheidung, eine Privatsphäre, zu garantieren ist, ist keineswegs eine gesellschaftsphilosophische Selbstverständlichkeit. Diese Forderung wurde in Europa nicht nur vom Byzantinismus, sondern im 20. Jahrhundert insbesondere wiederum vom sowjetischen Stalinismus und weitgehend auch vom Nationalsozialismus negiert. Es war daher prophetisch, wenn „Rerum novarum" ganz allgemein diesen Freiraum gegen den Staat einfordert. 16 Ein Freiraum wird weiters in sehr vielen Sozialutopien mehr oder weniger geleugnet. 17 Und hier sehe ich ein Problem gerade der Sozialenzykliken. Ureigenste kirchliche Aufgabe ist es, an den gefallenen Menschen die Forderung heranzutragen, sich zu bemühen, so gut und klug zu sein, wie ihm möglich. „Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5, 48). Man sollte jedoch wohl in gesellschaftlichen Forderungen an den Staat nicht Gebote aufstellen wollen, die ein Staatsmann nur erfüllen könnte, wenn er bereits vollkommen wäre; oder dem einzelnen Pflichten auferlegen, die nur sinnvoll wären, wenn alle anderen Menschen die Vollkommenheit ebenfalls erreicht hätten. 18 W i r leben leider noch nicht i m 15
Siehe Joyce O. Appleby, Economic Thought and Ideology in SeventeenthCentury England, Princeton, Ν. J., Princeton University Press 1979, S. 18-23. 16 RN 29, TKS-Schasching, S. 62: „Nur soweit es zur Hebung des Übels und zur Entfernung der Gefahr nötig ist, nicht aber weiter, dürfen die staatlichen Maßnahmen in die Verhältnisse der Bürger eingreifen". RN35, TKS-Schasching, S. 68f.: „Da das Recht auf Privatbesitz nicht durch ein menschliches Gesetz, sondern durch die Natur gegeben ist, kann es der Staat nicht aufheben, sondern nur seine Handhabung regeln und mit dem allgemeinen W o h l in Einklang bringen". RN 38, TKS-Schasching, S. 70, zu „privaten Gesellschaften" : „Der Staat (besitzt) nicht schlechthin die Vollmacht, ihr Dasein zu verbieten. Sie ruhen auf der Grundlage des Naturrechts". Schließlich erinnert RN an das christlich fundierte Widerstandsrecht gegen den Staat: „Staatliche Gesetze und Anordnungen besitzen inneren Anspruch auf Gehorsam nur, insofern sie der richtigen Vernunft... entsprechen". (RN 38, TKS-Schasching, S. 71). 17 Siehe Melvin J. Lasky, Utopia and Revolution, Chicago und London, Chicago University Press, 1976; deutsch: Utopie und Revolution, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1986. Lasky hält fest „die autoritäre und patemalistische Perfektion fast sämtlicher Utopien" (S. 29) und sagt S. 20 f.: „Utopisten haben sich die Menschen kaum jemals frei und verschiedenartig vorgestellt, weil sie wohl den Eindruck hatten, daß mit dieser Freiheit boshaft, verschwenderisch und absurd umgegangen wurde". 18
Zu ersterem siehe LE 1981,18 (2) und 18(5); zu letzterem siehe M M 1961,23 und LE 1981, 14 (7). 6*
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himmlischen Jerusalem; hier muß erst noch das Wort ergehen: „Seht, ich mache alles neu" (Offb 21,5). Utopien, so schön sie wären, sind gesellschaftlich gesehen nicht harmlos. Sie sind nämlich Grundlage gefährlicher Revolutionsversuche und gefährlicher Revolutionsversuchungen. 19 Was ist die Vorstellung von der Privatsphäre, was ist der „Privatmann", der im englischen 17. und 18. Jahrhundert dauernd zitiert wird? Schlaglichtartig erhellend erscheint mir hier die Phrase in der Beschreibung einer englischen Seeschlacht aus dem 18. Jahrhundert, die von einem „private man of war" spricht. Der als solches schon merkwürdige Ausdruck „man of war" bezeichnet das Linienschiff; und „private" ist dieses Kriegsschiff nicht etwa, weil es einem anderen eignet als die anderen Schiffe der englischen Marine; „private" ist es nur deshalb, weil auf ihm kein Admiral fährt, weil von ihm also keine Befehlsgewalt auf andere Kriegsschiffe ausgeht. Grundsätzlich ist der „private man of war" eine autonome Entscheidungseinheit, die zwar selbstverständlich der allgemeinen Beistandspflicht von Kriegsschiffen unterliegt, wenn es hart auf hart geht, die sich jedoch über die laufenden Manöver der anderen Kriegsschiffe den Kopf weder zerbrechen darf noch zu zerbrechen braucht. Der „Privatmann" der klassisch-liberalen englischen Gesellschaftsphilosophie ist also erstens und vor allem einmal dadurch definiert, daß von ihm keine Befehlsgewalt auf andere ausgeht. Das war nämlich das wesentliche Neue im englischen 17. Jahrhundert: Die Gesellschaft wird nicht mehr durchorganisiert hierarchisch gesehen oder in der Feudalstruktur der Schilderordnung etwa des Sachsenspiegels. Ein Privatmann darf einem anderen Privatmann vielmehr nichts gebieten — wobei natürlich die Familienautorität unberührt bleibt. 2 0 Der Privatmann obliegt in seiner Privatsphäre zweitens auch nur einer eingeschränkten Befehlsgewalt durch die Obrigkeit. Ich betone: einer eingeschränkten Befehlsgewalt, aber auch in der Privatsphäre doch einer Befehlsgewalt. Natürlich ist die Privatsphäre als solche zuerst einmal durch ein moralisch fundiertes Gesetz abzustecken. Davon wird gar 19
Lasky, Utopie und Revolution, loc. cit., in FN 17, sagt mit Recht S. 29: „Jede Utopie i s t . . . implizit immer revolutionär". Er zitiert den Sozialphilosophen Popper aus seinem „Utopia and Violence": „Sir Karl Popper beispielsweise erklärt immer wieder, die utopische Idee als solche sei gefährlich, schädlich und obendrein eine Selbsttäuschung" (S. 57). 20
Siehe John Locke, The Second Treatise of Government, London 1690 — im folgenden zitiert als Locke, Second T. ; Ausgabe Thomas P. Peardon, Hrsg., New York, Liberal Arts Press, 1952. Locke hält im Kapitel V I („Of Paternal Power"), Nr. 55 und 58 fest, daß Kinder noch nicht frei sind, weil sie noch nicht genügend verständig, insbesondere rechtsverständig sind, daß aber dennoch die Familiengewalt keinesfalls absolut sein darf (Nr. 170). Im folgenden wird immer wieder Locke als anerkannter „Erzvater" des klassischen englischen Liberalismus zitiert, als derjenige Autor, auf den sich insbesondere dann die US-amerikanische Gesellschaftsphilosophie berief.
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nicht näher gesprochen: Gefragt wird nur, welche Eingriffe der Regierungsgewalt in diesen einmal konstituierten Freiraum dann noch zulässig sind. Selbstverständlich darf dann noch die Obrigkeit durch Befehl in die Privatsphäre eingreifen, wenn unmittelbare Gefahr besteht oder aus wichtigen Gründen des Gemeinwohls; 21 wobei dem Privatmann freilich das Recht zugesprochen wird, selbst zu beurteilen, ob solche Eingriffsgründe einer „imminent necessity" vorliegen oder ob die Obrigkeit Ermessensüberschreitung begeht. Die Gemeinwohlbindung ist also eine doppelte: erstens einmal durch allgemeines Gesetz und zweitens dann noch durch Eingriff in unvorhergesehenen dringenden Fällen. Drittens schießlich ist der Privatmann auch nicht verpflichtet, Mühe einzusetzen und materiellen Aufwand zu betreiben zur Ehre des Staates: Repräsentation und laufender persönlicher Einsatz ist vielmehr Pflicht des Amtsträgers, aber auch nur dieses. Die Privatsphäre ist also nur eine Abgrenzung der Entscheidungsrechte zwischen der administrativen Gewalt, der Regierung einerseits und dem einzelnen Staatsbürger andererseits, nicht eine Festlegung des rechten Verhaltens zwischen den einzelnen; wie wir noch heute aus der österreichischen Rechtsordnung erkennen, wenn wir die Grund- und Freiheitsrechte im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus 1867 betrachten. 22 Daß gerade auch der Privatmann in seiner Privatsphäre im Interesse der Mitmenschen, aber auch schon aus seinen Pflichten als Einzelmensch, rechtlich und moralisch gebunden ist, ist dem klassischen englischen Gesellschaftsverständnis ganz und gar selbstverständlich. Der Private unterliegt natürlich dem „common law", das nicht als obrigkeitliches Recht, sondern als Recht der gesellschaftlichen Selbstverwaltung gesehen wird. Das „common law" kennt gerade besonders viele und besonders ausgeprägte Gesellschaftsbindungen und wechselseitige Beistandspflichten, zum Beispiel dann, wenn ein anderer angegriffen oder bestohlen wird. Und gerade im common law ist man sogar Mittäter („accessory after the fact"), wenn man ein einem bekannt gewordenes Verbrechen nicht den Gerichten anzeigt.
21
Locke, Second T., Nr. 135, sagt von den gesetzgebenden Körperschaften: „Their power, in the utmost bounds of it, is limited to the public good of the society. It is a power that has no other end but preservation, and therefore can never have a right to destroy, enslave, or designedly to impoverish the subject". Näher wird dies noch in Nr. 137 begründet. 22 Locke, Second T., hält freilich en passant in Nr. 135 fest (meine Unterstreichungen): „Nobody has an absolute arbitrary power over himself or over another, to destroy his own life or take away the life or property of another". Man beachte bereits in dieser Aussage auch die ausdrückliche Beschränkung der eigenen Persönlichkeitsrechte in der Privatsphäre, auf die in den Zitaten zu den folgenden vier F N zurückzukommen sein wird.
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John Locke, der Vater des klassischen englischen Liberalismus, definiert den Naturzustand als den befehlslosen, aber nicht als den rechtlosen Zustand, wenn er sagt: „all princes and rulers of independent governments all through the world are in a state of nature", 23 in einer Zeit, als das gerade die souveränen Staaten bindende Völkerrecht in aller Munde war. Oder, wie Locke ausdrücklich betont: „Where there is no judge on earth, the appeal lies to God in heaven". 24 „A state of liberty ... is not a state of license. The state of nature has a law of nature to govern it." 2 5 Schon zum Naturzustand (!) gehört nach Locke die moralisch begründete Beistandspflicht: „Every one, as he is bound to preserve himself ... so by the like reason, when his own preservation comes not in competition, ought he, as much as he can (!), to preserve the rest of mankind". 26 Mit Selbstverständlichkeit betont Adam Smith : „Those exertions of the natural liberty of a few individuals, which might endanger the security of the whole society, are and ought to be restrained by the laws of all governments; of the most free, as well as the most despotical". 27 Wenn Smith die Staatsaufgaben in seinem Idealsystem, „the obvious and simple system of natural liberty" beschreibt, so sagt er: „Every man, as long as he does not violate the laws of justice, is left perfectly free to pursue his own interest in his own way", worauf er dann sofort die gefallene Natur der Staatsträger bemüht: „The souvereign is completely discharged from a duty ... for the proper performance of which no human wisdom or knowledge could ever be sufficient". Die Regierung habe in diesem liberalen Ideal nur drei Aufgaben: „First the duty of protecting the society from the violence and invasion of other independent societies; secondly, the duty of protecting, as far as possible (!), every member of the society from the injustice or oppression of every other member of i t , . . . and, thirdly, the duty of erecting and maintaining certain publick works and certain publick institutions, which it can never be for the interest of any individual, or small number of individuals, to erect and maintain." 28 Mit einem Wort hat sie die Aufgabe des Schutzes, der Beschränkung und der Ergänzung der Privatsphäre. 23
Locke, Second T., Nr. 14. Locke, Second T.f Nr. 21, unter Zitat von Ri 11, 27: „Der Herr soll unser Richter sein" bei Locke. 24
25 Locke, Second T., Nr. 6. (Man beachte, daß diese fundamentalen Aussagen rechtlicher Bindung der Freiheit nicht späte Nachgedanken sind, sondern alle sehr früh in dem 243 Nummern umfassenden Werk angesetzt sind.) In Nr. 87 heißt es dann als Freiheitsdefinition (meine Unterstreichung): „Man (is) born ... with a title to perfect freedom and uncontrolled enjoyment of all the rights and privileges of the law of nature ." 26 27 28
Locke, Second T., ibid., Nr. 6. Smith, W o N , II.ii.94, S. 324. Die letzten drei Zitate alle Smith, WoN, IV.ix.51, S. 687 f.
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Der Umfang dieser Privatsphäre der klassisch-liberalen englischen Gesellschaftsphilosophie deckt sich genau mit dem, was der Wirtschaftswissenschafter unter „Wirtschaft" versteht. Und er deckt sich, weil der Wirtschaftswissenschafter durch Lehre und Tradition akkulturiert ist, genau diesen in der klassischen englischen Gesellschaftsphilosophie ausgegrenzten und verselbständigten Gesellschaftsbereich zu untersuchen. Nicht Privatsache ist interessanterweise in der klassischen englischen Sicht Religion; dort bleibt Religion öffentliche Pflicht und Öffentlichkeitsaufgabe (was andererseits ganz selbstverständlich zu der Garantie der Sonntagsruhe führt, die „Rerum novarum" Ziffer 32, einfordert). Nur in Holland ist Religion ab dem 17. Jahrhundert semiprivat, und vollends zur Privatsache wird sie erst in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Wirtschaft ist somit sicherlich nur eine gesellschaftliche Teilordnung; und im klassischen englischen Liberalismus wird dies stets betont. Genauer ist der privatwirtschaftliche Bereich nur die Teilordnung eines gesellschaftlichen Teilbereiches, eine abgegrenzte Gesellschaftssphäre, bei der die autonomen Entscheidungsrechte der Privaten selbst wieder beschränkt sind. Sowohl die rechtliche Abgrenzung wie der Eingriff in Extremfällen ist Aufgabe eines anderen gesellschaftlichen Teilsystems, des politischen. Wie weit das politische System in der Lage ist, dabei seinen Gemeinwohlaufgaben auch nachzukommen, ist freilich eine andere Frage. Die englische Gesellschaftsphilosophie bezeichnet Inhalt und Umfang der Privatsphäre mit dem Begriff „property", Eigentum; nur natürlich ist dieser Eigentumsbegriff durchaus verschieden vom sehr materiell gefaßten römisch-rechtlichen. Locke nennt die Privatsphäre „freedom from absolute (!), arbitrary (!) power", 29 und nennt diesen vor der Regierungswillkür geschützten Bereich „property, that is his life, liberty and estate", 30 an anderer Stelle „life, health, liberty, or possessions" und gleich darauf folgend „the life, the liberty, health, limbs, or goods of another". 31 Nur eine geringfügige Ausdehnung dieses schon sehr weiten Eigentumsbegriffes ist es also, wenn die Verfassung der Vereinigten Staaten sogar von „life, liberty, and the pursuit of happiness" spricht. Alles, was dem Menschen eigentümlich ist, sein eigenständiger Bereich, ja seine Eigenschaften, sind also sein Eigentum. Die wichtigste Grundlage ist nach Locke dabei die Tatsache, daß „every man has a property in his own person"; und gerade diese Betonung der Persönlichkeitsrechte, nicht so sehr der Eigentumsrechte i m materiellen Sinne, ist das gedanklich Revolutionäre bei Locke. 32 Nach Adam Smith gilt in der berühmten, aber ganz anders gewendeten Urfassung des Satzes, das Eigentum sei 29
Locke, Second T., Nr. 23.
30
Locke, Second T., Nr. 87.
31
Locke, Second T., Nr. 6.
32
Locke, Second T., Nr. 27.
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heilig und unantastbar: „The property which every man has in his own labour (!), as it is the original foundation of all property, so it is the most sacred and inviolable". 33 Und dieser weite Eigentumsbegriff eignet nicht nur der hohen englischen Staatsphilosophie, sondern seit der „Glorious Revolution" von 1688 auch der englischen Staatspraxis, 34 die der große englische liberale Historiker, Lord Actori (im übrigen ein engagierter Katholik), die Verdrängung des „divine right of kings" durch das „divine right of freeholders" nannte. 35 „Eigentum ... trag(t) bei zur Selbstdarstellung der Person", wobei dieses Zitat ausnahmsweise nicht Locke, sondern vielmehr der Konzilskonstitution „Gaudium et spes" entnommen ist. 36 Die Begründung des Eigentumsschutzes beruht bei Adam Smith in bereits zitierter Weise auf der Unwissenheit und Uneinsichtigkeit der Regierenden, die gefallene Menschen sind; bei Locke hingegen auf der Sozialnützlichkeit des Privateigentums infolge seiner Effizienzsteigerung, wobei Locke die Sozialbindung des Eigentums gerade im Zusammenhang mit dem Sozialnützlichkeitsziel besonders klar macht: „God gave the world to men in common; but since he gave it them for their benefit and the greatest conveniences of life they were capable to draw from it, it cannot be supposed he meant it should remain common and uncultivated (!) 37 He gave it to the 33
Smith, WoN, I.x.c.12, S. 138. Während Smith Arbeit als ökonomische Grundlage des Eigentums sieht, ist Arbeit als moralische Grundlage des materiellen Eigentums und als Grundlage der Rechtsansprüche auf dasselbe der zentrale Rechtfertigungsgrund bei Locke. Second T., Nr. 32, sagt: „He that in obedience to this command of God (gemeint ist Gen 1,28) subdued, tilled, and sowed any part of (the earth), thereby annexed to it something that was his property, which another had no title to, nor could without injury take from him". (Locke verwendet dabei sichtlich die Gründe originären Eigentumserwerbs und die Schaffung eines Titels nach römischem Recht und stimmt überein mit Thomas von Aquin.) RN 35 sieht, ähnlich wie Smith, den Lohn der Arbeit als Quelle des möglichen Erwerbes einer „kleinen Habe". 34 Als mit zur Revolution führender, ärgerniserregender Eingriff in die Eigentumsrechte (!) galt der 1688 erfolgte Versuch des Königs Jakob IL, einen anderen als den statutenmäßig gewählten Präsidenten von Magdalen College, Oxford, diesem College als Präsidenten aufzudrängen. Der in ein A m t rechtmäßig Gewählte schien nach allgemeiner, englischer Auffassung ein „Eigentum" an diesem A m t erworben zu haben. 35
Siehe Erich W. Streissler, „Macht und Freiheit in der Sicht des Liberalismus", in: Macht oder ökonomisches Gesetz, Christian Watrin (Hrsg.), Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., Bd. 74/11, Berlin, Duncker & Humblot 1974, S. 1391-1426, hier S. 1407, FN 69 a, und die dort zitierte Literatur. 36 „Gaudium et spes" — zitiert im folgenden als GS 1965 —, Nr. 71, TK-Schasching, S. 402. 37
„Centesimus annus", 31 (2), Kerber, S. 69 f., formuliert fast wortgleich: „Gott hat die Erde dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt, ohne jemanden auszuschließen oder zu bevorzugen, auf daß sie alle seine Mitglieder ernähre. — Doch die Erde
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use of the industrious and rational — and labour was to be his title to it". 3 8 „But how far has he given it us? To enjoy. As much as any one can make use of to any advantage to life before it spoils, so much he may by his labour fix a property in; whatever is beyond this is more than his share and belongs to others. Nothing was made by God for man to spoil or destroy". 39 Eine „universale Bestimmung der Güter der Erde", die „Centesimus annus" als wesentliche Eigentumstheorie „Rerum novarum" nachrühmt, entspricht somit ganz und gar Lockel 40 Die Konstituierung eines Eigentums als persönlichen Freiraums setzt Wertepluralismus und die Akzeptanz des Pluralismus voraus. So ist ja auch die Theorie des englischen Wirtschaftsliberalismus entstanden: Als John Lockes Apologie der „glorreichen Revolution ' von 1688, die den Unterlegenen die widerstandslose Hinnahme dieser Revolution schmackhaft machen sollte, 41 weil auch ihnen nichts Fundamentales genommen, weil auch ihnen ein persönlicher Freiraum garantiert sei. Wertende Grundvoraussetzung dieser Akzeptanz des Pluralismus ist es letztlich, daß durch die individuelle Entscheidung innerhalb des abgegrenzten Freiraumes keine fundamentalen gesellschaftlichen Werte negativ betroffen werden. Daher war es logisch, daß in England Religion etwa nicht diesem Freiraum zugesprochen wurde und daß selbstverständlich Leib oder Leben anderer durch die freie Wirtschaftsentscheidung nicht berührt werden durften. Deshalb trifft es zwar manche liberale Positionen, nicht jedoch die des klassischen Wirtschaftsliberalismus, wenn „Octogesima adveniens" sagt: „Der philosophische Liberalismus (ist) in seiner Wurzel die Irrlehre von der Autonomie des einzelnen in bezug auf sein Tun, seine Motivation und in bezug auf den Gebrauch, den er von der Freiheit macht". 42 Die klassische Position leugnet keineswegs die moralische Verpflichtung des einzelnen. 43 Sie betont nur, daß die anderen seine Entscheidung innerhalb seines Freiraumes zu akzeptieren, ja zu respektieren haben. Sie ist Theorie gesellschaftlichen Zusammenlebens, nicht Aussage über individuelle menschliche Pflichten.
schenkt ihre Früchte nicht ohne eine bewußte Antwort des Menschen auf die Gabe Gottes, das heißt ohne Arbeit. Durch die Arbeit gelingt es dem Menschen, sich unter Gebrauch seines Verstandes und seiner Freiheit (!), die Erde zu unterwerfen und zu einer würdigen Wohnstatt zu machen. Auf diese Weise macht er sich einen Teil der Erde zu eigen, den er sich durch Arbeit (!) erworben hat". 38
Locke, Second T., Nr. 34.
39
Locke, Second T., Nr. 31. C A 1991,6 (2), Kerber, S. 23, RN 7, verwendet nämlich fast genau Lockes Worte.
40
41 Siehe meine Darstellung „Macht und Freiheit in der Sicht des Liberalismus", loc. cit., in FN 35. 42 43
„Octogesima adveniens" 35, TKS-Schasching, S. 517. Siehe die Zitate zu FN 22-26.
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III. Das sind also die tatsächlichen gedanklichen Grundlagen einer liberal verfaßten Unternehmerwirtschaft. Die späteren Sozialenzykliken sprechen hingegen von „Kapitalismus" oder gar „liberalistischem Kapitalismus", wobei schon der Ausdruck „Kapitalismus" marxistische Vorstellungen nahelegt; und bekanntlich war Karl Marx gerade in seinen historischen Vorstellungen am weitesten von der Wirklichkeit entfernt. „Centesimus annus", definiert „Kapitalismus" näher, verwendet dann aber eine für moderne entwickelte Industriewirtschaften empirisch nur schwer belegbare Kapitalismus· Vorstellung. 44 Manchmal, so in „Quadragesimo anno", 45 wird von einer „liberal-manchesterlichen" Theorie gesprochen; wobei der Geistesgeschichtler weiß, daß die Enzyklika hier nur dem großen Romancier und Konservativen Politiker Benjamin Disraeli gefolgt ist, der seine gedanklich durch nichts geeinten politischen Gegner, außer dadurch, daß sie sich in den Gegensatz zu seinen adeligen Auftraggebern stellten, indem sie für die Abschaffung der Kornzölle plädierten, durch den Ausdruck „ManchesterLiberale" sozial abqualifizierte. 46 Die geistesgeschichtlichen Vorstellungen der späteren Sozialenzykliken mögen gelegentlich in Interessenkonflikten geäußerte Extremvorstellungen treffen, scheinen mir hingegen nur wenig typische Positionen wiederzugeben. Als Beispiel sei „Maier et magistra", Abschnitt 11, und der Anfang von 12 zitiert, wo mir, bis auf den letzten, jeder Satz problematisch erscheint. Für die Zeit Leos XIII. wird gesagt: 47 „Die damals vorherrschende Auffassung von der Wirtschaft, der auch weithin die Praxis entsprach, ist, wie bekannt, naturalistisch. Alles ergibt sich danach zwangsläufig aus dem Wirken der Naturkräfte". Dieser Satz entspringt meines Erachtens am ehesten einem deutschen Mißverständnis des in der klassisch liberalen Theorie tatsächlich dauernd bemühten Begriffes „natural". Bei Locke ist, wie dargestellt, natürlich der Zustand freiwillig gewählter gesellschaftlicher Selbstverwaltung fern von obrigkeitlichem Befehl; und bei Adam Smith läßt sich an jeder Stelle das oft gebrauchte Adjektiv „natural" entweder als gesellschaftsspezifisch oder gesellschaftsadäquat übersetzen. Natürliche Verhältnisse sind also im Wirtschaftsliberalismus immer solche, die in einem bestimmten
44
C A 1991, 42 (2); siehe eine Besprechung unten bei FN 122 und 123. Der Ausdruck „Kapitalismus" selbst geht freilich nicht auf Karl Marx selbst zurück, sondern wohl auf Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, 1902. 45
„Quadragesimo anno" 54, TKS-Schasching, S. 121. Die Enzyklika wird im folgenden als Q A 1931 zitiert. 46 Siehe W i l l i a m D. Grampp, The Manchester School of Economics, Stanford, Cal., und London, Stanford und Oxford University Press, 1960, S. 3. 47 TKS-Schasching, S.214.
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Gesellschaltszusammenhang Vorteile bewähren.
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vorteilhaft sind und/oder sich wegen ihrer
Ich fahre im Zitieren der Enzyklika fort: „Es besteht kein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsgesetzen und Sittengesetz". W i e ich hingegen wohl mehr als klar gemacht habe, wurde im klassischen englischen Liberalismus immer angenommen, daß „Wirtschaftsgesetze" (?) sich selbstverständlich nur im Rahmen des Sittengesetzes abspielen. Im nächsten Satz sagt die Enzyklika: „Einziger Antrieb des wirtschaftlichen Schaffens ist der persönliche Eigennutz". Dieser Satz gibt die im deutschen Sprachraum leider sehr gängig gewordene Verunglimpfung von Adam Smith durch die preußischen Staatstheoretiker des frühen 19. Jahrhunderts, insbesondere seit Fichte, wieder, die in Adam Smiths fundamentaler Staatsskepsis mit Recht eine Gefahr für die preußische Staatsideologie sahen. Tatsächlich ist Adam Smith der Autor von „The Theory of Moral Sentiments", ein Werk, das ganz auf „sympathy", also der menschlichen Zuneigung, als gesellschaftskonstitutivem Prinzip aufbaut. 48 „Sympathy" als eine allgemeine Haltung gegenüber dem Mitmenschen, seine Hinnahme als gleichberechtigtes Subjekt, die Bereitschaft, den Mitmenschen nicht auszunützen oder zu hintergehen, ist Grundvoraussetzung des guten Funktionierens auch anonymer Marktprozesse. Freilich ist „sympathy" gestuft zu sehen: Intensiv wird sie nur im überschaubaren Bereich, weswegen sie das adäquate Organisationsprinzip für gesellschaftliche Kleingruppen ist. Anonyme gesellschaftliche Großsysteme bewähren sich nach Smith — in der überzeugenden Interpretation von Hayek 49 — hingegen nur, wenn sie auch bei eigennützigem Verhalten noch einigermaßen funktionsfähig bleiben; daß sie besser funktionieren würden bei altruistischem Verhalten aller, bleibt dabei selbstverständlich! Der Schlüsselsatz bei Adam Smith lautet bekanntlich: „It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect (!) our dinner, but from their regard to their own interest." 50 Guter Weise müssen wir uns als Käufer nicht auf den Altruismus des Fleischhauers, des Bierbrauers, des Bäckers verlassen; schon ihr Gewinninteresse führt sie dazu, uns zu versorgen, ja uns unseren spezifischen Wünschen entsprechend zu versorgen. Dieser Gedanke ist also keineswegs eine Glorifizierung des Eigennutzes, sondern verlangt nur, die Gesellschaftsordnung anonymer Großgesellschaften darf nicht zu hohe Anforderungen an Güte und Klugheit gefallener Menschen stellen. Anders ausgedrückt: „Der Mensch strebt zum Guten, aber ist auch des Bösen fähig; er kann (!) über sein unmittelbares Interesse hinausgehen und bleibt 48 49
A d a m Smith, The Theory of Moral Sentiments, 2 Bde, London 1759, 61790. Wiederholt und neuerdings: Hayek, Fatal Conceit, loc. cit., in FN 2, S. 14, 86,
146 f. 50
Smith, W o N I.ii.2, S. 27 (meine Hervorhebungen).
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dennoch daran (an sein unmittelbares Interesse nämlich) gebunden (!). Die Gesellschaftsordnung wird umso beständiger (!) sein, je mehr sie dieser Tatsache Rechnung trägt", womit „Centesimus annus" in 25(3) nunmehr erkannt hat, welcher Sinn in der klassisch-liberalen Sicht des Eigennutzes — oder unmittelbaren Interesses — liegt. Ich fahre fort, die Enzyklika zu zitieren: „Oberstes Gesetz, das die Beziehungen zwischen den wirtschaftlich Schaffenden regelt, ist der schrankenlose freie Wettbewerb. Kapitalzins, Preise von Waren und Dienstleistungen, die Höhe von Gewinnen und Löhnen bestimmen sich rein mechanisch nach den Marktgesetzen. Der Staat hat sich jeder Einmischung in das Wirtschaftsgeschehen zu enthalten 5 1 ... 12. In einer solchen Zeit galt die Macht des Stärkeren in der Wirtschaft grundsätzlich als gerechtfertigt." Daß gerade nach wirtschaftsliberaler Vorstellung nicht die Macht des „Stärkeren" herrschen solle, geschweige denn gerechtfertigt ist, ist aus der bisherigen Darstellung wohl hinlänglich klar geworden. Privatsphäre ist ja sicherlich auch die Sphäre der Freiheit vor dem Eingriff anderer; und Adam Smith postuliert, wie schon zitiert, als eine der drei Staatsaufgaben „the duty of protecting ... every member of the society from the injustice and oppression of every other member of it"; 5 2 während Locke noch deutlicher als seine erste Staatsaufgabe hervorhebt: „To have one rule for rich and poor, for the favorite at court and the countryman at plough", 53 ein Satz, der fast wörtlich dann in „Rerum novarum", Ziffer 32, steht. Wenn Wettbewerb herrscht, ist das gerade die Machtlosigkeit jedes beteiligten Wirtschaftstreibenden. Man mag wirtschaftsliberalen Positionen vorwarfen, daß Vermachtungen der Wirtschaft im Rahmen liberaler Rechtsordnungen tatsächlich entstanden sind; gewollt hingegen waren sie vom klassischen Wirtschaftsliberalismus keineswegs. Es entspricht daher wirtschaftsliberaler Position und widerspricht ihr nicht, wie man sich bei der Lektüre von Smith überzeugen kann, wenn M M in Nr. 105 ff. eine Vermachtung der Wirtschaft bekämpft. Die Behauptung, daß „oberstes Gesetz ... der schrankenlose freie Wettbewerb" sei und daß dies nur „die Macht des Stärkeren" sei, ist vielmehr genau Karl Marx, dem Verkünder vom „Zwangsgesetz der Konkurrenz" und von der „Zentralisation" und „Konzentration" in der Wirtschaft, 54 entsprechend, 51
Ich lasse den letzten Satz von M M 1961, 11, aus, weil er sicherlich zutrifft: „Gleichzeitig waren die Arbeiterorganisationen je nach den einzelnen Ländern entweder verboten oder genossen nur Anerkennung für den Bereich des Privatrechts." W i e unten zu FN 82 gezeigt wird, bedauerte dies etwa Adam Smith und beklagte es als Unrecht. 52
Smith, W o N , IV.ix.51, S. 687.
53
Locke, Second T., Nr. 142.
54
Karl Marx, Das Kapital — Kritik der politischen Ökonomie, 1. Bd., Hamburg, Meissner 1867, Ausgabe MEG, Bd. 23, Berlin (Ost), Dietz 1969. Zum „Zwangsgesetz der Konkurrenz", S. 286, 335, 377, 414, 618. „Konzentration" und „Zentralisation" des Kapitals, insbes. S. 653-658 und an vielen Stellen.
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nicht dem wirtschaftlichen Liberalismus. Freilich haben Liberale Wettbewerb immer befürwortet, weil sie die Vorteile wirtschaftlichen Wettbewerbes erkannten. Wettbewerb führt zur qualitätsmäßig besten und zur preisgünstigsten Versorgung der Konsumenten; er führt zu Kostenpreisen. Das Verständnis dafür, daß Wettbewerb soziale Vorteile bringt, mit anderen Worten die Letztverbrauchersicht, ist in den Sozialenzykliken offensichtlich nur gelegentlich vorhanden, obwohl es Grundlage der spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen christlichen Theorie des gerechten Preises war, eines heiligen Bernhardin von Siena oder Antonin von Florenz etwa oder eines Molina. 55 Mit diesen Sätzen paßt es schwer zusammen, daß gerade „Maier et magistra" in Nr. 51 für den „Bereich der Wirtschaft" einen „Vorrang der Privatinitiative der einzelnen" fordert. Wie kann es Privatinitiative geben, ohne daß diese, gewollt oder ungewollt, zu Wettbewerb führt? Konsequente Folgerung aus der Wettbewerbsskepsis ist hingegen in dieser Enzyklika die Forderung nach einem sogenannten dritten Weg: „Arbeiter und Arbeitgeber (sollen) ihre Beziehungen zueinander regeln nach den Grundsätzen der menschlichen Solidarität und im Sinn der christlichen Brüderlichkeit; dagegen sind sowohl ein Wettbewerb, wie ihn die sogenannten Liberalen wollen, als auch der Klassenkampf im Sinne des Marxismus ganz und gar unvereinbar mit der christlichen Lehre, ja mit der menschlichen Natur". 5 6 Diese Verurteilung trifft ausnahmsweise tatsächlich den klassischen Wirtschaftsliberalismus, der sicherlich Wettbewerb will, freilich nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck einer besseren Versorgung der Letztverbraucher. Daß Wettbewerb der menschlichen Natur widerspricht, wage ich mit etlichen hundert sozialpsychologischen Studien zu diesem Thema zu bezweifeln. Und die einzigen Systeme der gewollten dritten Art, die mir aus der Geschichte bekannt sind, sind autoritäre Regimes, in denen jedermann verpflichtet ist, den Beruf des Vaters zu übernehmen (kein Wettbewerb um Berufspositionen) — z.B. in der spätrömischen Verfallsperiode; oder noch besser ein Kastensystem, und sicherlich eines, bei dem jeder substitutive Außenhandel (auch ein Wettbewerb!) verboten ist. Ob das wirklich allein christlich ist? 57 55 Möglicherweise könnte man diesbezüglich schon auf Aristoteles und den Heiligen Thomas von A q u i n zurückgreifen. Siehe Henry W i l l i a m Spiegel, The Growth of Economic Thought, Englewood Cliffs, N.J., Prentice-Hall 1971, S.60f.; Joseph A. Schumpeter, History of Economic Analysis, London, Allen & Unwin 1954, S. 61, 98 f. 56 „Mater et magistra", TKS-Schasching, S. 217. 57 In sehr armen Ländern, und nur in diesen, mag Isolationismus und Kastenwirtschaft eine Option sein (bzw. durch diese Option würden Länder sehr rasch ganz arm werden). Befremdlich mutet es daher an, wenn nunmehr „Centesimus annus", 33 (4) (Kerber, S. 75), umgekehrt sagt: „Noch vor wenigen Jahren wurde behauptet, die Entwicklung würde von der Isolierung der ärmsten Länder vom Weltmarkt und
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Auf das Problem der einseitigen Wettbewerbssicht der Enzykliken zwischen „Rerum novarum" und „Centesimus annus" werde ich gleich noch zurückkommen. Ebenso bedarf näherer Analyse das offensichtliche rententheoretische Einkommensverständnis dieser Sozialenzykliken. Daß der Staat sich nach wirtschaftsliberaler Sicht jeder Einmischung zu enthalten hat, wie „Maier et magistra" sagt, ist nicht richtig, da der Staat ja einerseits den Umfang selbstverantwortlicher Entscheidung der einzelnen Wirtschaftstreibenden abgrenzt und andererseits im Konfliktfall wie im Krisenfall, wenn also „the security of the whole society is endangered by the exertions of the natural liberty of a few individuals", durchaus eingreifen soll. Daß das nicht erst Forderung einer „sozialen" Marktwirtschaft ist, sondern vielmehr immer Forderung des klassischen englischen Wirtschaftsliberalismus war, wurde in Deutschland zwar verdrängt, ist aber nichtsdestotrotz wahr. 58 Soweit freilich eine eigenständige wirtschaftliche Entscheidungssphäre aus Gründen sozialer Vorteilhaftigkeit garantiert ist, werden sich dann „natürlich" — ich erinnere, „natürlich" heißt gesellschaftsadäquat — die Einkommen so bestimmen, wie die betreffenden Entscheidenden wollen, nicht wie irgend ein Außenstehender aus irgendwelchen Gründen dies gern hätte. Bevor ich die Kritik dieser Passage von „Maier et magistra" beende, sei noch einem Einwand begegnet: nämlich dem, die Standardversion des wirtschaftlichen Liberalismus zur Zeit Leo XIII., also Ende des 19. Jahrhunderts, sei nicht mehr die von Smith oder Locke gewesen. Die Lektüre der grundlegenden Werke der ökonomischen Literatur dieser Zeit zeigt jedoch, daß sich an den einmal geprägten Prinzipien nichts geändert hatte. Im deutschen Sprachraum argumentieren etwa das Standardlehrbuch von Rau oder Menger in seinen Vorträgen vor dem Kronprinzen Rudolf ganz genau so. 59 Marshalls „Principles", 60 im Jahr vor „Rerum novarum" herausgekomdavon abhängen, daß sie nur auf ihre eigenen Kräfte vertrauen. Die jüngste Erfahrung aber hat bewiesen, daß die Länder, die sich ausgeschlossen haben, Stagnation und Rückgang erlitten haben; eine Entwicklung hingegen haben jene Länder durchgemacht, denen es gelungen ist, in das allgemeine Gefüge der internationalen Wirtschaftsbeziehungen einzutreten". Also als Konsequenz wohl nichts als Wettbewerb auf Weltmaßstab für die Entwicklungsländer und deren Arbeiter mit denen anderer Länder! 58
Siehe hierzu Erich W. Streissler, „Soziale Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie — Die ökonomischen Aspekte", in: Soziale Marktwirtschaft und Parlamentarische Demokratie, Symposium der Ludwig Erhard Stiftung, Stuttgart, New York, Fischer 1990, S.9-28. 59 Karl Heinrich Rau, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (Lehrbuch der politischen Ökonomie, 1. Bd.), Heidelberg, Winter 1826, und sieben weitere Auflagen. Zu Carl Menger siehe meine in FN 93 zitierte Arbeit. 60 Alfred Marshall, Principles of Economics, London, Macmillan 1890, 9. (variorum) Auflage Cambridge 1961.
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men, stellen wenn irgend die soziale Verantwortung der Eigentumsnutzung noch höher, und seine Tradition wurde, mit Recht, geradezu als „blue-print for the welfare state" 61 bezeichnet. Und der letzte große liberale klassische Autor, John Stuart Mill, erscheint modernen Anhängern von Adam Smith, wenn irgend etwas, dann schon gefährlich nahe beim Sozialismus. 62 Leo XIII. hat in seiner Zeit auch evidentermaßen gar nicht angenommen, daß die von „Mater et magistra" behaupteten Haltungen damals herrschende gesellschaftsphilosophische Wertvorstellungen waren; entgegen „Centesimus annus" 10 (2) erwähnt er den Liberalismus nicht einmal.
IV. Jeder Ökonom wird trainiert, als grundlegende Zielausrichtung der Wirtschaft das Konsumenteninteresse zu sehen. Diese Zieldefinition geht auf Adam Smith zurück, der memorabel und memorierbar definierte: „Consumption is the sole end and purpose of production". 63 (Der moderne Ökonom nennt dieses Konzept die „Pareto-Optimalität".) Insbesondere der Wettbewerb wird von Ökonomen seither als Herrschaftsinstrument von „König Konsument" gesehen. (Denn pareto-optimal ist nur die vollkommene Konkurrenz, wie der Student in jedem Lehrbuch der MikroÖkonomie eingetrichtert bekommt; und daß jedes allgemeine Konkurrenzgleichgewicht pareto-optimal ist, heißt der „erste Hauptsatz" der Wohlfahrtsökonomie.) Und wer könnte leugnen, daß es eben auch eine moralisch legitime Sicht ist, wenn es heißt: „Das Bemühen um vermehrte Erzeugung landwirtschaftlicher und industrieller Güter und um gesteigerte Darbietung von Dienstleistungen mit dem Ziel, den Bedürfnissen der wachsenden Men61
Mark Blaug, Economic Theory in Retrospect, 4. Aufl. Cambridge, Cambridge University Press 1985, S. 302. 62 John Stuart Mill, Principles of Political Economy, London, Parker 1848. 63 Smith, WoN, IV.viii.49, S. 660. Der Absatz verdient, voll zitiert zu werden: „Consumption is the sole end and purpose of all production; and the interest of the producer ought to be attended to, only so far as it may be necessary for promoting that of the consumer. The maxim is so perfectly self-evident (als entschiedenes Werturteil ist sie es natürlich nicht! E. Str.), that it would be absurd to attempt to prove it. But in the mercantile system, the interest of the consumer is almost constantly sacrificed to that of the producer; and it seems to consider production, and not consumption, as the ultimate end and object to all industry and commerce". Diese Passage gilt nicht nur vom Merkantilismus, sondern prophetisch auch von allen ehemals „real-existierenden" Sozialismen. Sie gilt aber auch von M M 1961, 23, da die solidarischen Arbeiter und Arbeitgeber eben „nur" Produzenten sind. Da das Problem im noch sehr armen 18. Jahrhundert noch nicht existierte, verherrlicht die Passage andererseits natürlich auch nicht einen „Konsumismus " (CA 1991, 36).
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schenzahl gerecht zu werden und den immer höheren Ansprüchen der Menschen Genüge zu tun, erscheint heute mehr als je gerechtfertigt... Die fundamentale Zweckbestimmung dieses Produktionsprozesses besteht ... im Dienst am Menschen", wie „Gaudium et spes"64 und nicht etwa ein ökonomisches Lehrbuch sagt. Die Konsumentenausrichtung lehrt den Ökonomen, Arbeit, ja jede Produktion, als gesellschaftsbezogenen Dienst am Menschen zu sehen. Eine berechtigte Kritik der Sozialenzykliken könnte sein, daß Ökonomen die Konsumentensicht und die wirtschaftliche Effizienz zu ausschließlich betrachten. Kritisierbar wäre etwa die Formulierung: „Sowohl auf nationaler Ebene der einzelnen Nationen wie auch auf jener der internationalen Beziehungen scheint der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage von Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein"; das freilich war wieder kein Ökonomielehrbuch, sondern ein Zitat aus „Centesimus annus". 65 Umgekehrt ist „Maier et magistra" in erheblichen Teilen und ist „Laborem exercens" ausschließlich am Produzenteninteresse ausgerichtet, am egoistischen Interesse einzelner Produzentengruppen, würde der Ökonom anmerken und hinzufügen, daß das geradezu charakteristisch für sozialkonservatives Denken sei, oder für „habituellen Merkantilismus", den Professor Kramer einmal für Österreich festzustellen glaubte. 66 Diese Enzykliken verkennen die Vorteile, die Wettbewerb eben auch hat. Ist nicht der Kern jeder Morallehre die Analyse aller Vor- und Nachteile einer Handlung und deren gegenseitige Abwägung; und wird nicht die moralische Wertung völlig schief, wenn nur ganz einseitig argumentiert wird? Die große Enzyklika zur Arbeit, „Laborem exercens", bringt es zuwege, auf den Charakter der Arbeit auch als Dienst am Mitmenschen überhaupt nicht einzugehen, bis, gewissermaßen als Nachgedanke, ganz zum Schluß kurz die Konzilskonstitution „Gaudium et spes" und ein Pauluswort aus dem Kolosserbrief zitiert werden, 67 wobei sich gerade Paulus sicherlich des Charakters der Arbeit auch als Dienst am Mitmenschen wohl bewußt war.
64
GS 1965, 64, TKS-Schasching, S.395f. Extremer noch sagt C A 1991, Kerber, S. 71, in 32 (2) : „Gerade die Fähigkeit, die Bedürfnisse der anderen Menschen und die Kombination der geeignetsten Produktionsfaktoren für ihre Befriedigung rechtzeitig zu erkennen, ist eine bedeutende Quelle des Reichtums in der modernen Gesellschaft". 65
C A 1991, 34 ( 1), Kerber, S. 76.
66
Helmut Kramer, „Wachstums-, Struktur- und Wettbewerbspolitik", in: Handbuch der österreichischen Wirtschaftspolitik, Hanns Abele u. a. (Hrsg.), 3. Auflage Wien, Manz 1989, Kapitel Β III, S. 149 ff., hier S. 161. 67
LE 1981, 25 (3), GS 1965, 34 zitierend; und LE 1981, 26 (3), Kol 3, 23-24 zitierend. Ganz anders, ja konträr zu LE 1981, sagt hingegen C A 1991, 31 (3): „Arbeiten besagt, etwas für jemanden tun" (Kerber, S. 70).
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Das zweite Problem der Sozialenzykliken, das schon seit „Quadragesimo anno" anklingt, ist ihre Rentensicht der Einkommensverteilung. Nach ökonomischer Sicht ist eine Rente das Einkommen eines Produktionsfaktors, der in der betreffenden Verwendung weder vermehr- noch verminderbar ist. Renten sind ohne Nachteil für den Wirtschaftsprozeß umverteilbar. Sie allein sind „Reichtum", möglicherweise ganz „ungerechter", weil sie ohne Leistung, sondern allein aus dem überkommenen Faktoreigenium entstanden sind, und aus ihrer Umverteilung kann man sich problemlos „Freunde" machen (Lk 16,9). Typisches Beispiel ist die Bodenrente des agrarischen Grundherrn in stationären Gesellschaftszuständen, z.B. also schon nicht mehr, wenn die Grundherren agrarische Meliorationen betreiben. Die agrarische Bodenrente kann man wegnehmen ohne eine andere Konsequenz, als daß sich das Einkommen des Grundherrn ändert und er eine andere Lebensweise suchen muß. Die agrarische Nutzung des Bodens verändert sich hingegen nicht; denn was sollte der Grundherr sonst mit seinem Boden tun? Die evidente Rentensicht der Einkommen in den Sozialenzykliken erklärt sich nun wohl daraus, daß es die Kirche durch Jahrhunderte hauptsächlich mit fast stationären agrarischen Gesellschaften zu tun hatte und agrarische Verhältnisse auch heute noch das Denken vieler Priester prägen. In modernen industriellen Gesellschaften gibt es hingegen fast keine Renten — außer natürlich politisch bedingte 68 —, sondern vielmehr fast nur sogenannte Quasirenten, das heißt kurzfristig-zeitweilige Renten, wie etwa Innovationsrenten. Quasirenten sind natürlich auch umverteilbar. Aber sie sind umverteilbar nur mit Konsequenzen, die man sich klar machen muß, wenn man nicht den Teufel mit Beelzebub austreiben will. Schon unser Grundherr kann im Extremfall der Rentenumverteilung sein Land brach liegen lassen oder nur zur Jagd verwenden, weswegen man ihn möglicherweise auch noch enteignen muß. W i l l man hingegen Kreditzinsen limitieren, so ist die Konsequenz nicht, daß Kredite billiger werden, sondern daß es (fast) keine gibt. Das Kapital sucht andere Nutzungen oder entsteht gar nicht, wird konsumiert. Werden zu hohe Löhne statuiert, so werden die zu teuren Arbeiter durch Maschinen ersetzt oder Produktionen in andere Länder verlagert oder eingestellt, oder die Lasten werden auf die Steuerzahler abgewälzt, oder schließlich, es finden sich überhaupt keine Unternehmer mehr; und so fort. Wieder sollte wohl das theologische Problem sein: eine vollständige Analyse der Konsequenzen, und dann die moralische Wertung. 68 Moderne klassische Liberale beklagen subventions- und protektionslüsterne Haltungen, die „rent seeking society" auf Kosten der Mitbürger. Adam Smith beklagte vor allem die staatlich privilegierten Monopolhandelsgesellschaften seiner Zeit.
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Und damit sind wir bei vielleicht dem wichtigsten Problem vieler Sozialenzykliken, schon seit „Quadragesimo anno", angelangt: Sie spiegeln Reminiszenzen von Verhaltensweisen, die nur in überschaubaren Kleingruppen sinnvoll wären. Passagenweise stellen sie sich Wirtschaftsbeziehungen personalisiert vor und nicht so unpersönlich, wie sie in modernen Industriegesellschaften notwendig sind. Nur überschaubare Kleingruppen, z. B. die Familie oder eine klösterliche Gemeinschaft, sind für den Menschen einigermaßen verstehbar und gehorchen daher auch einsichtigen moralischen Wertungen. (Augustinus, übrigens, würde für den gefallenen Menschen selbst das leugnen, siehe oben. 69 ) Nun könnte man zwar fordern, daß Wirtschaft aus moralischen Gründen nur in personalisierten Kleingruppen betrieben werden darf; das würde aber als Konsequenz einen gigantischen Abfall der Güterversorgung mit sich bringen, weil wir uns der Vorteile der Arbeitsteilung begeben würden. (Autos wären z. B. dann mindestens etwa 50mal so teuer als jetzt.) Wollen wir mit "Gaudium et spes" oder gar „Centesimus annus" diese Konsequenz nicht ins Auge fassen — zumal sie ja letztlich tödlich für Millionen von Menschen wäre, zitiert doch „Gaudium et spes" mit Recht den wirtschaftlichen „Fortschritt" (?) als notwendig bedingt durch die „wachsende Menschenzahl" 70 — wollen wir also diese Konsequenz nicht ziehen, so müssen wir in der anonymen Großgesellschaft moderner Industriewirtschaft handeln. Und hier ist, wie letztlich schon Adam Smith erkannte und der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek als seinen wesentlichen sozialwissenschaftlichen Beitrag immer wieder betonte, 71 im einzelnen der Gesellschaftszusammenhang undurchschaubar. W i r können nur allgemeine Regeln gesellschaftlicher Ordnung entwickeln, wobei das Wort „wir" genaugenommen auch nur einen gewachsenen kollektiven Erfahrungsprozeß kennzeichnet, nicht die Entscheidung von Einzelpersonen. Eine Angabe, was im Einzelfall „gerecht" ist, ist hingegen in anonymen Großgruppen im Regelfall unmöglich — ich schränke Hayek ein, Hayek würde sogar sagen nie möglich: und Augustinus ginge noch weiter und würde irdische Gerechtigkeit auch für Kleingruppen ausschließen. Gerechte Entscheidung ist im Regelfall unmöglich, weil wir nicht hinlänglich die relevanten Umstände und Konsequenzen verstehen können. Gerade eine einigermaßen hinlängliche Gerechtigkeit bedarf der Abgrenzungen des „Eigentums", anders ausgedrückt einer Subsidiaritätsnorm und einer Abgrenzungsnorm von Entscheidungs- und Verantwortungssphären, 72 wie Locke 73 und HayeA 74 erkannten.
69
Siehe die Zitate vor FN 11 und in FN 12. GS 1965,64, TKS-Schasching, S. 396; erst recht argumentiert so C A 1991,32 (2), Kerber, S. 71, 33 (4), S. 75 und 34 (1), S. 76. 71 Siehe neuerdings The Fatal Conceit, loc. cit., in FN 2. 70
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V. Ein nicht untypisches Beispiel für die Anwendung der Kleingruppenmoral auf Verhalten in anonymen Großgruppen und gleichzeitig der Rentensicht der Einkommen bietet Ziffer 72 in „Quadragesimo anno": „Wenn infolge Lässigkeit aus Mangel an Initiative und dadurch verschuldeter technischer oder wirtschaftlicher Rückständigkeit die Rentabilität der Unternehmen leidet,... läßt sich (daraus) keine Berechtigung herleiten, der Belegschaft die Löhne zu drücken. Steht dagegen das Unternehmen selbst unter dem Druck ungerechter Vorbelastungen oder unter dem Zwange, seine Erzeugnisse unter Preis abzugeben (gemeint ist wohl: unter dem Grenzkostenpreis bei den gegebenen Löhnen), so daß ihm zufolgedessen die Mittel zur Zahlung angemessener Löhne nicht zur Verfügung stehen, so machen diejenigen, die auf das Unternehmen diesen Druck oder Zwang ausüben, himmelschreiender Sünde sich schuldig; sind doch sie es, die dem Arbeiter, der notgedrungen zu einem Hungerlohn sich verdingt, den gerechten Lohn vorenthalten". 75 Hier wird zuerst einmal, wohl mit Recht, dem Unternehmer die Pflicht zur Initiative und zu technischer und wirtschaftlicher Fortschrittlichkeit gerade auch im Interesse seiner Belegschaft zugesprochen. Problematisch ist nur, daß die Enzyklika nicht erkennt, daß solches Verhalten identisch mit der von ihr in 107 verurteilten „zügellosen Konkurrenz" ist. 7 6 Denn Konkurrenz betreibt man am wirksamsten, indem man immer besser und billiger produziert, besser und billiger als andere Unternehmer. Wen man jedoch dadurch im weltweiten Zusammenhang industrieller Marktwirtschaft um Arbeit und Brot bringt, weiß man nicht! Man selbst sieht nur, daß man den eigenen Konsumenten besser dient und gleichzeitig auch die Arbeitsplätze der eigenen Belegschaft erhält, ja vermehrt, und besser bezahlen kann.
72
Siehe meine Charakterisierung des Eigentums als Risikotragung und Zuordnung von Verantwortung in Erich Streissler, „Privates Produktiveigentum — Stand und Entwicklungstrends der Auffassung in kapitalistischen Ländern", in: Eigentum — Wirtschaft — Fortschritt, Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, Bd. 12, Köln, Hegner 1970, S. 76-133. 73
John Locke, A n Essay Concerning Human Understanding, London 1690, Ausgabe Peter H. Nidditch, Hrsg., Oxford, Clarendon Press 1975, Book IV, ch. 4, § 18, S. 549 f. Im selben Paragraphen betont Locke nochmals: „No Government allows absolute Liberty". 74
Hayek, Fatal Conceit, loc. cit., in FN 2, S. 33 ff. Hayek zitiert freilich hier Locke nicht ganz richtig. 75 76
Q A 1931, 72, TKS-Schasching, S. 128.
Q A 1931, 107, TKS-Schasching, S. 139. Geradezu ein Hochgesang auf die Unternehmerleistung ist C A 1991, 32 (2), Kerber, S. 71 f.
τ
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Daß der „lässige" Unternehmer an seinem eigenen Vermögen — soweit er freilich eines hat! — leiden soll, und nicht die Löhne seiner Belegschaft, scheint nur gerecht. Aber leider ist das Ganze für unsere modernen Industriegesellschaften zu personalisiert gesehen — und war es auch schon 1931. Der „lässige" Unternehmer ist im Regelfall ein angestellter Manager; beziehungsweise der „Löhnedrücker" eher noch der Nachfolger seines entlassenen „lässigen" Vorgängers. Und der angestellte Manager verwaltet fremde Gelder und muß oft arbeitsbedingungsverschlechternd oder lohndrückend oder kündigend bei der Sanierung wirken, soll das Unternehmen nicht in Konkurs gehen. Nicht einmal die Aktionäre des Unternehmens können so ohne weiteres aus ihrem Vermögen die Hochhaltung der Löhne finanzieren, weil moderne Unternehmen zum guten Teil kreditfinanziert sind und es daher vor allem um die Gläubigerrechte geht. Konsequent, wenn freilich nicht unproblematisch, schreibt daher die Enzyklika in Ziffer 106, daß die „Beherrscher und Lenker des Finanzkapitals unbeschränkte Verfügung haben über den (?) Kredit und seine Verteilung nach ihrem Willen bestimmen. Mit dem (?) Kredit beherrschen sie den Blutkreislauf (!) des ganzen Wirtschaftskörpers ; das Lebenselement der Wirtschaft ist derart unter ihrer Faust, daß niemand auch nur zu atmen wagen kann". 77 Hier stand wohl der große Marxist Rudolf Hilferding und sein „Finanzkapital" 78 Pate. Aber ist sich die Enzyklika nicht bewußt, daß auch „das Finanzkapital" nur fremde Gelder verwaltet und bestmöglich anlegen muß, übrigens gerade oft in sehr harter Konkurrenz und zu geringsten Spannen, die häufig durchaus zu massenweisen Verlusten bei den Banken führen? Diese Passage bleibt im übrigen reine Anklage. Durchaus einsichtige moralische Konsequenz wäre es zum Beispiel zu gebieten, Christen dürfen nur bei solchen Kreditinstituten ihre Gelder anlegen, die vor allem Kredite an notleidende Kleinunternehmen verleihen; und nicht etwa an den Staat, der der wahre Kreditkonkurrent für die Privatwirtschaft und oft ein viel sichererer und sehr hoch zahlender ist. Aber eine solche einsichtige Moral zu ziehen, scheut sich die Enzyklika. Das tut erst, und meines Erachtens vollkommen zu Recht, gerade auch aus liberaler Sicht der menschlichen Präferenzen, „Centesimus annus", wenn hier der Papst sagt: „Ich weise darauf hin, daß eine Entscheidung, lieber an diesem als an jenem Ort, lieber in diesem und nicht in einem anderen Sektor zu investieren, immer auch eine moralische und kulturelle Entscheidung ist". 79 Und damit sind wir bei unserer „himmelschreienden Sünderin" angelangt; nämlich der Rentnerin um die Ecke, die ihren Spargroschen bei der Sparkas77 78
Q A 1931, 106, TKS-Schasching, S. 139.
Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Wien 1910. Als späterer deutscher Reichsfinanzminister war Hilferding in der Zwischenkriegszeit sehr bekannt. 79 C A 36 (4), Kerber, S. 82.
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se eingelegt hat, die wiederum den Kredit kündigt, weil unser Unternehmen in Konkurs zu gehen droht. Aber unsere „himmelschreiende Sünderin" ist eben doch keine, weil sie in anonymer Großgesellschaft von dieser Konsequenz ihrer Sparveranlagung im Regelfall gar nichts wissen kann; während der Bankmanager bei strafrechtlicher Strafandrohung zu seinem Handeln verpflichtet ist. „Himmelschreiende Sünde" kann aber der nicht begehen, der von der Konsequenz seines Handelns nichts weiß. A l l das war in Wahrheit auch von mir noch viel zu idyllisch-personalistisch geschildert. Die wahren gesellschaftlichen Probleme auf Weltmaßstab entstehen, wenn eine Änderung der US-amerikanischen Steuergesetzgebung (1981), die die Investitionen begünstigt — notabene um in den USA der Vollbeschäftigung näher zu kommen — die Kapitalanlage in den USA so lukrativ macht, daß „die ganze Welt" in den USA investieren will, so daß dadurch der Dollarkurs in die Höhe schnellt und dadurch, ohne daß dies der amerikanische Gesetzgeber oder irgend einer seiner wirtschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Berater im vorhinein geahnt hätte, die südamerikanischen Entwicklungsländer in eine Schuldenkrise gestürzt werden, weil plötzlich der in Güterkaufkraft ausgedrückte, der sogenannte reale Zinssatz ihrer Kredite nicht mehr 0 %, wie bei der Kreditaufnahme, sondern 40% (!) pro Jahr beträgt. Und obwohl der wahre Zinssatz plötzlich 40% wurde, verlangten die US-Banken aus ihrer Sicht keinen Wucherzins, weil sie nämlich nicht in realen Dollar, in Dollar in Güterkaufkraft, sondern in nominellen Dollar, in Dollar in Geldeinheiten, rechnen müssen, weil ihre Einlagen vertraglich so festgelegt sind; die US-Banken mußten versuchen, kontraktgemäß ihre Schulden zurückgezahlt zu erhalten, weil diese vor allem eine Weiterleihung der Gelder der sogenannten „Ölscheichs" waren, die leider nicht den Mahnungen der päpstlichen Sozialenzykliken gehorchen werden. Hier nun zu sagen, das sei eben alles Konsequenz der „Strukturen der Sünde", oder mit „Mater et magistra" das Ergebnis einer „bis in die Wurzeln hinein verkehrten Ordnung der gesamten Wirtschaft" 8 0 anzuklagen, ist meines Erachtens inkonsequent, weil, wie ja gerade „Quadragesimo anno" selbst erkennt, die Gefahr von Verlusten, Kündigungen und Konkursen zu jener „Initiative" und „technischen und wirtschaftlichen Fortschritten" der Unternehmer treibt, die die Enzyklika fordert. Man kann nicht die Früchte loben, aber die Sanktionen, die zum Fruchtbringen führen, jedesmal aussetzen wollen, wenn sie eintreten. Und daß es oft die Unschuldigen trifft: das ist eben auch notwendige Konsequenz des Wirtschaftens in anonymen Großgesellschaften, das, wie Hayek mit Recht betont, „a game of skill and chance" ist: Gewinne und 80
M M 1961, TKS-Schasching, S. 214.
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Verluste sind teils leistungsbedingt, teils jedoch „zufällig", wobei zufällig nur heißt, daß sie Konsequenz unverstandener Wechselwirkungen sind. Die industrielle Unternehmerwirtschaft ist voll unverstandener Konsequenzen für den Wirtschaftstreibenden wie für den Gesellschaftswissenschafter. Selbstverständlich ist gerade deswegen ein soziales Netz erforderlich für diejenigen negativ Betroffenen, die arm sind. So ein soziales Netz kann nur, den Wirtschaftsprozeß ergänzend und absichernd, das politische Subsystem bereitstellen, nicht aber das wirtschaftliche. Dieses Subsystem ist auch gefordert, eine Sozialordnung für Rechtsunfähige zu erarbeiten, die als nicht vertragsfähig am Wirtschaftsprozeß nicht vollgültig teilnehmen können. In den Evangelien kann ich ein Unverständnis anonymer wirtschaftlicher Großgesellschaften hingegen nicht finden. Ganz ungeniert wird in den Evangelien etwa davon gesprochen, man hätte doch wenigstens das Geld zinstragend auf die Bank legen können (Mt 25,27 und Lk 19,24) oder als Beispiel herangezogen die ungleiche Entlohnung gleicher Arbeiter durch den Unternehmer (Mt 20,13), der sich dann auf die freie vertragliche Einigung mit den Arbeitern in seinem Weinberg beruft. Nirgends wird in den Evangelien nach einer Änderung der ganz und gar als „liberalistischer Kapitalismus" geschilderten antiken Wirtschaftsordnung gerufen; vielleicht weil sie „dem Kaiser" und nicht „Gott" gehört? Vielmehr wird uns verheißen: „Die Armen habt ihr immer bei euch" (Mt 26,11 und schon Dtn 15,11). Meines Erachtens wird in den Evangelien das moralische Problem des Handelns in anonymen Großgesellschaften ebenfalls in richtungweisender Art angesprochen. Auf die für Großgruppenprobleme keineswegs heuchlerisch-pharisäische Frage „und wer ist mein Nächster?" (Lk 10,29), antwortet Christus keineswegs mit dem Hinweis auf die offensichtlichen Nächsten der jeweiligen Kleingruppe. Er nimmt die Frage in all ihrer Schwierigkeit in komplexen Systemen ernst und antwortet mit dem Großgruppenbeispiel des Barmherzigen Samariters, das einen ganz Fremden, einen Fernstehenden, ja einen Volksfeind betrifft. Aber erstens ist die Not des unter die Räuber Gefallenen eben nicht eine schwer verständliche wirtschaftliche ; sie ist vielmehr eine offensichtlich existentielle, eine jedem Menschen ganz und gar einsichtige: der Mann liegt halbtot und voll Wunden da. Und zweitens scheint mir das Schlüsselwort das vom „Sehen" zu sein: Der Levit und der Priester sahen den unter die Räuber Gefallenen und gingen weiter; der Samariter hingegen sah ihn und „hatte Mitleid" (Lk 10,33). Das Wesen anonymer Großgesellschaften aber ist, daß fast alle im „Dunkeln" stehen; und bekanntlich „die im Dunkel sieht man nicht", notgedrungenerweise. In anonymen Großgesellschaften sind nur ganz ausnahmsweise die Bedürfnisse einzelner grundsätzlich einsichtig; Christus bringt ja im Gleichnis des Barmherzigen Samariters als Beispiel einen seltenen Extremfall. Und selbst wenn sie einsichtig sind: Da hilft es wenig zu gebieten, wir sollen mehr Not
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sehen: W i r können dennoch fast keinen noch verstehbaren Notfall auch tatsächlich erkennen, weil in anonymen Großgesellschaften eben so viele in so vielerlei A r t betroffen sind. VI.
Deshalb hat „Rerum novarum" sehr weise daran getan, sich schlicht der klassisch-liberalen Position zur Bedeutung des Eigentums als gesellschaftsordnenden Prinzips anzuschließen. Ja „Rerum novarum" weicht ganz allgemein nicht von den Standardvorstellungen liberaler wirtschaftswissenschaftlicher Literatur ab; und das, interessanterweise, gerade zu einem Zeitpunkt, als neumodische gesellschaftliche Strömungen dabei waren, in verschiedene Richtungen gehend den Liberalismus zu verlassen. 81 Wenn die Enzyklika in Ziffer 2 die „ungezügelte Habgier der Konkurrenz" und „Monopole" verdammt, so ist das klassisch liberal. Adam Smith beklagt die Ausbeutung der Arbeiter durch Zusammenschlüsse der Arbeitgeber: 82 „Masters are always and every where in a sort of tacit, but constant and uniform combination, not to raise the wages of labour", ja „to sink the wages". „We seldom, indeed, hear of this combination, because it is the usual, and one may say the natural state of things, which nobody ever hears of", ein schönes Beispiel übrigens für den Ausdruck „natural" bei Smith, der evidentermaßen nicht die unbelebte Natur meint und obendrein auch nicht einen „guten" Gesellschaftszustand kennzeichnet. Adam Smith betont ausdrücklich die Ungerechtigkeit, daß den Arbeitern im Gegensatz zu den Unternehmern der Zusammenschluß verwehrt ist; 8 3 81 Bekanntlich war der klassische Liberalismus — im Gegensatz zum Merkantilismus — pazifistisch, wie man bei Adam Smith nachlesen kann. Es ist eine interessante, ja tiefe Einsicht von „Centesimus annus", 14(2), Kerber, S. 38, wie nahe die geistigen Wurzeln von Marxismus und Militarismus beinander liegen. Beide begannen gleichzeitig, gerade zur Zeit Leo XIII., hochzukommen. 82 83
Smith, WoN, I.viii. 13, S. 84 f.
Smith, WoN, I.viii. 12, 13, S. 83 ff. Smith, WoN, I.ix., S. 115, sagt noch krasser: „Our merchants and master-manufacturers complain much of the bad effect of high wages ... They are silent with regard to the pernicious (!) effects of their own gains. They complain only of those of other people". „Rerum novarum" ist übrigens keineswegs besonders gewerkschaftsfreundlich. Zwar sind private Gesellschaften naturrechtlich zulässig (RN 38). Ganz liberal — eher sogar exzessiv liberal, weil viele Liberale seit je einer „Gegenmachttheorie" anhingen — ortet RN bei den Gewerkschaften hingegen ein gefährliches Monopol: „Wir müssen auf die allgemeine, durch Tatsachen gestützte Meinung hinweisen, daß sie vielfach einer einheitlichen geheimen Leitung gehorchen und Einrichtungen haben, die dem Wohle des Staates (!) und der Religion nicht entsprechen; daß sie darauf ausgehen, ein gewisses Arbeitsmonopol (!) an sich zu reißen...", RN 40, TKSSchasching, S. 72.
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wie er ja bekanntlich auch ein vehementer Befürworter hoher Löhne wegen ihrer gesellschaftlichen Vorteile war. 84 Und daß die Löhne natürlich so hoch sein müssen, daß eine Familie ernährt werden kann, wird von Smith als selbstverständliche Gesellschaftsnotwendigkeit betont, wobei es bei der niedrigsten Arbeit — in seiner Gesellschaft realistischerweise — freilich der Lohn von Mann und Frau zusammen ist, der die Familie erhält, wohlgemerkt in einer stark kommerzialisierten, wenig auf Hausarbeit angewiesenen Gesellschaft, nicht, wie in der Enzyklika (Ziffer 10) bereits der des „Familienvaters". Smith sagt, eine Standarddiskussion wiedergebend: 85 „Thus far at least seems certain, that, in order to bring up a family, the labour of the husband and wife together must, even in the lowest species of common labour, be able to earn something more than what is precisely necessary for their own maintenance"; und die Familie ist klarerweise, ganz abgesehen von ihren Werten, allein schon zur Regeneration der Bevölkerung notwendig. Die Enzyklika fährt fort zu betonen, daß der Arbeiter, „indem er Kräfte und Fleiß einem anderen leiht, ... für seinen Bedarf das Nötige erringen (will)" (Ziffer 4) und deswegen ihm „freie Verwendung" des Lohnes gesichert werden müsse. Mit einem Wort: „Consumption is the sole end and purpose of production" ; und wenn die Enzyklika die Bedeutung des Sparens und das Recht auf Vermögensbildung betont (insbesondere in Ziffer 35), so könnte sie nicht näher bei Adam Smith liegen („Consumption" als Ziel beinhaltet bei Smith das Sparen, das nach ihm nur Konsumtion durch andere als den Sparenden ist). 86 Ganz den ökonomischen Klassikern entlehnt ist die materielle Wohlstandslehre der Enzykliken. Sie sieht den Boden als die Quelle der Produktivkraft (Ziffer 6) und hält den ökonomischen Standardgedanken seit Adam Smith fest: „So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne Kapital bestehen" (Ziffer 14). „Aus der Arbeit der Werktätigen entsteh(t) die Wohlhabenheit im Staate", ist Grundidee 87 der „Wealth of 84
Smith, WoN, I.viii.44, S. 99: „The liberal reward of labour, as it encourages propagation, so it increases the industry of the common people. ... A plentiful subsistence increases the bodily strength of the labourer, and the comfortable hope of bettering his condition (siehe RN 1891, 35), and of ending his days perhaps in ease and plenty, animates him to exert that strength to the utmost". WoN, I. viii.36: „No society can surely be flourishing and happy, of which the far greater part of the members are poor and miserable". 85
Smith, W o N I. viii. 15, S. 85 f. (Meine Unterstreichung). Smith, W o N II. iii. 18: „That portion which he annually saves... is consumed in the same manner ... but by a different set of people." (Smith trägt die Grundform des sogenannten Sayschen Gesetzes vor.) 86
87
Smith, W o N , intr. 1, beginnt als allerersten Satz seine Einleitung mit: „The annual labour of every nation is the fund which originally supplies it with all the necessaries and conveniences of life".
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Nations" (Ziffer 27). Ihre gesellschaftsphilosophische Eigentumsfundierung ist in Ziffer 6 und 7 eine fast wortgleiche Paraphrase von John Locke: „Denn der Mensch ist älter als der Staat", ist eine seiner Grundprämissen; „Daß aber Gott der Herr die Erde dem ganzen Menschengeschlecht zum Gebrauch und zur Nutznießung übergeben hat, dies steht durchaus nicht dem Sonderbesitz entgegen", ist wörtlich fast deckungsgleich mit dem von mir bereits zitierten Schlüsselsatz des „Second Treatise of Government". 88 Und Lockes Hauptidee 8 9 ist es gerade, wie die Enzyklika sagt: „Indem der Mensch an die Gewinnung der Güter der Natur körperlichen Fleiß und geistige Sorge setzt, macht er sich eben dadurch den bearbeiteten Teil zu eigen; es wird dem letzteren sozusagen der Stempel des Bearbeiters aufgedrückt. Also entspricht es durchaus der Gerechtigkeit, daß dieser Teil sein eigen sei und sein Recht darauf unverletzlich (!) bleibe", 90 wohl also „sacred and inviolable", möchte man ausrufen. „Es ergibt sich hieraus wieder, daß privater Besitz vollkommen eine Forderung der Natur ist", ja im „gesellschaftlichen Dasein eine Notwendigkeit", erfahren wir in Ziffer 19 unter Zitierung des Heiligen Thomas von Aquin. Hier ist festzuhalten, daß der akademisch gelehrte Locke natürlich ebenfalls scholastische Argumente und die des römischen Rechts genau kannte und extensiv heranzog, ebenso wie natürlich der „Professor of Moral Philosophy", Adam Smith. Die klassisch-wirtschaftsliberale Position wurzelt eben voll in der abendländischen Moralphilosophie. Nicht minder wirtschaftsliberal ist „Rerum novarum" in den geschilderten Staatszwecken. Zuerst einmal betont die Enzyklika (Ziffer 27): „Die Besitzlosen sind vom naturrechtlichen Standpunkt nicht minder Bürger als die Besitzenden ... es ist unzulässig, nur für einen Teil der Staatsangehörigen zu sorgen". Sie fordert also die Gleichheit vor dem Gesetz, dieses klassischliberale Hauptanliegen. (Wirklich erstaunen muß es den Kundigen dann freilich, wenn „Centesimus annus", Ziffer 10(1), in diesen und ähnlichen Formulierungen in Ziffer 29 gerade die Kritik von „Rerum novarum" am Liberalismus erblickt. Was sollte in der Gesetzgebung Liberalismus denn sonst sein als „Rechtsschutz ... für die niedere, besitzlose Masse" (RN 29)?) „Die Beihilfe also, welche von den Staatslenkern erwartet werden muß, besteht zunächst in einer derartigen allgemeinen Einrichtung der Gesetzgebung und Verwaltung, daß daraus von selbst (!) das Wohlergehen der Gemeinschaft wie der einzelnen emporblüht", sagt „Rerum novarum" (Ziffer 26), damit Adam Smiths oben zitierten 3. Staatsgrund wiedergebend. 91 Was 88
Locke, Second T., 34.
89
Locke, Second T., 27, 30, 32, 34.
90
Diese und die folgenden ausführlichen Zitate von RN 1891 nach TKS-Schasching. 91 Smith, W o N , IV.ix.51, S. 687 f., zitiert vor FN 28.
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könnte weiters mehr klassisch-wirtschaftsliberal sein als der Satz von „Rerum novarum", Ziffer 29: „Nur soweit es zur Hebung des Übels und zur Entfernung der Gefahr nötig ist, nicht aber weiter, dürfen die staatlichen Maßnahmen in die Verhältnisse der Bürger eingreifen"! Ich zitiere weiter: „Das Recht auf persönlichen Besitz (muß) unbedingt hochgehalten werden — Der Staat muß dieses Recht in seiner Gesetzgebung begünstigen (!) und nach Kräften dahinwirken, daß möglichst viele aus den Staatsangehörigen eine eigene Habe zu erwerben trachten — Obige Vorteile (nämlich die breit gestreuten Vermögens) werden jedoch offenbar dann nicht gewonnen, wenn der Staat seinen Angehörigen so hohe Steuern auferlegt, daß dadurch das Privateigentum aufgezehrt wird". 9 2 Adam Smith, was könnte dein Herz mehr begehren? Er hätte wohl auch, wie die Enzyklika (RN24), „ein staatliches System des ,Wohltuns'" verurteilt. Noch extremer liberal als Adam Smith war Carl Menger in seinen Vorträgen vor dem Kronprinzen Rudolf, fünfzehn Jahre vor „Rerum novarum". Aber das, was er ihm vortrug, gipfelt gerade und immer wieder iteriert in der Forderung, 93 es sei, wie die Enzyklika sagt, „der Ordnung entsprechend, daß staatliche Hilfeleistung für die äußerst Bedrängten eintrete" (Ziffer 11). Was aber Menger oder der Enzyklika dann hiezu einfällt, ist, daß „die tägliche Arbeitszeit ... nicht länger sein darf, als es den Kräften der Arbeiter entspricht"; und daß „die Kinderarbeit insbesondere ... die menschenfreundlichste Fürsorge" erheische, wie es die Enzyklika in Ziffer 33 festhält. Kein Wunder, war doch die Beschränkung der Kinderarbeit, die Arbeitszeitregulierung und die Einführung von Arbeitsinspektoraten die beispielgebende Leistung Englands und der Liberalen Benthamscher Prägung, eines Chadwicks etwa, schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Charakteristischerweise fällt es hingegen weder Menger noch der Enzyklika ein, die umverteilenden Maßnahmen der staatlichen Sozialversicherung, damals bereits wohl bekannt, insbesondere die Krankenversicherung und die Rentenversicherung, auch nur mit einem Wort zu erwähnen, auch wenn „Centesimus annus" 34 (2) das suggeriert. Ebenso erwähnen weder Menger noch „Rerum novarum" irgendwo, daß es das Problem der Arbeitslosigkeit gibt, was wiederum „Centesimus annus" nicht verstehen mag. 94 Menger plädiert vielmehr in etwas anderem Zusammenhang, 95 aber in genau der 92
RN 1891, 35, TKS-Schasching, S.68. Siehe hierzu meine Arbeit Erich W. Streissler, „Carl Menger on economic policy: The lectures to Crown Prince Rudolf", History of Political Economy, Bd. 22, Suppl. (1990), S. 107-130, hier insbes. S. 116 f. 94 „Centesimus annus" erweckt in 15 (2), Kerber, S. 39, und 34 (2), Kerber, S. 77, den Eindruck, schon „Rerum novarum" hätte sich mit der Arbeitslosigkeit auseinandergesetzt. 95 Menger empfahl Selbsthilfeorganisationen, nämlich Produktionsgenossenschaften, für das gefährdete Kleingewerbe, die im übrigen RN 1891, 36, in etwas 93
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gleichen Grundhaltung wie „Rerum novarum", für „private (!) Veranstaltungen zur Hilfeleistung für den Arbeiter und seine Familie bei plötzlichem Unglück, in Krankheits- und Todesfällen" (Ziffer 36). Und genau im klassisch-wirtschaftsliberalen Sinne, aber entgegen Rousseau oder der französischen Aufklärung betont „Rerum novarum" zu Selbsthilfeorganisationen: „Wenngleich ... diese privaten Gesellschaften innerhalb der staatlichen Gesellschaft bestehen ... so besitzt der Staat nicht schlechthin die Vollmacht, ihr Dasein zu verbieten. Sie ruhen auf der Grundlage des Naturrechts" (RN 1891, Ziffer 36). Zu der sozialpolitischen Haltung der Enzyklika ist zusammenfassend festzuhalten: Eine Abgrenzung rechtlich zulässigen Wirtschaftshandelns der Unternehmer durch allgemeine Gesetze entspricht durchaus der wirtschaftsliberalen Position; und die Enzyklika fordert in eindeutigen Worten nicht mehr. Ebenso werden gerade von liberalen Autoren immer wieder staatliche Erziehungsmaßnahmen und der Schutz der Moral gefordert, oder, wie die Enzyklika sagt, eine „Pflege von Rechtschaffenheit und Moral" (RN 27) oder ein „Schutz" der „Arbeiter ... zunächst in Hinsicht ihrer geistigen Güter" (RN 32). Der entscheidende Schritt über klassisch-wirtschaftsliberale Positionen hinaus ist im 19. Jahrhundert, wie man etwa aus dem Studium des maßgeblichsten deutschen Autors des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Roscher, erkennt, die Befürwortung staatlicher umverteilender Maßnahmen gegenüber zulässig entstandener Einkommen oder rechtlich geschützten privaten Vermögen, insbesondere in der Form einer Sozialversicherung; oder andererseits ein Interventionismus durch punktuelle Verwaltungseingriffe. Und hier gibt es keine Passage der Enzyklika, wo dies eindeutig gefordert wird, wo nicht auch nur der Schutz durch den Rechtsrahmen allgemeiner Gesetze angesprochen sein könnte: „Die Lohnarbeiter ... müssen vom Staat in besondere Obhut genommen werden", sie bedürfen der „Beihilfe der Gesetze (!)", es bedarf der „Autorität und Gewalt der Gesetze innerhalb gewisser Schranken (!)" (alles RN29). Allenfalls könnte man sagen, daß die Enzyklika einen sehr allgemeinen gesetzlichen Schutz der Lohnarbeiter fordert, nicht nur diesen in einzelnen krassen Fällen. Was nun aber schließlich die Argumente der Enzyklika gegen den Sozialismus betrifft, so entsprechen sie ganz und gar der wirtschaftsliberalen Argumentation etwa bei Menger 9 6 oder ausführlich bei Roscher 97. „Rerum anderem Sinne für die „Vergangenheit" (gemeint sind wohl Zünfte etc.) auch erwähnt. 96 97
Siehe Streissler 1990, loc. cit., in FN 93, insbes. S. 113.
W i l h e l m Roscher, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart, Cotta 1864, insgesamt in 26 Auflagen, hier 5. Auflage 1864, §78 („Socialismus und Communismus") bis §84, S. 140-157, insbes. §81, „Gütergemeinschaft". S. 147 sagt: „Bei Thieren und Engeln (!) ... könnte sie ohne Schaden bestehen". S. 148: „Sonst
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novarum" meint, eine allgemeine Bodenenteignung sei ungerecht (Ziffer 8), und dies zu fordern sei eine „veraltete Theorie". „Das sozialistische System, welches die elterliche Fürsorge beiseite setzt, um eine allgemeine Staatsfürsorge einzuführen, versündigt sich an der natürlichen Gerechtigkeit" (Ziffer 11). Der Sozialismus brächte „eine unerträgliche Beengung", „eine sklavische Abhängigkeit" ; und diese würden den „Wegfall des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß" bedeuten, und damit würden „die Quellen des Wohlstandes versiegen"(Ziffer 12). A b 1989/1990 beruft man sich gern auf solche Passagen. Bei der nächsten Aussage frage ich mich, ob es vielleicht „Rerum novarum" selbst sein könnte, die „Maier et magistra" (1961) in Ziffer 11 anprangert, wenn sie sagt: „Die damals vorherrschende Auffassung von der Wirtschaft, der auch weithin die Praxis entsprach, ist, wie bekannt, naturalistisch. Alles ergibt sich danach zwangsläufig (!) aus dem Wirken der Naturkräfte". Denn „Rerum novarum" sagt (Ziffer 14) : „Vor allem ist also von der einmal gegebenen unveränderlichen (!) Ordnung der Dinge auszugehen, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft eine Gleichmachung von hoch und niedrig, von arm und reich schlechthin nicht möglich ist. Es mögen die Sozialisten solche Träume (!) zu verwirklichen suchen, aber man kämpft umsonst gegen die Naturordnung (!) an". Die Enzyklika fährt fort zu erklären, Adam Smiths Grundgedanken der Arbeitsteilung noch übertreffend: „Das gesellschaftliche Dasein erfordert (!) nämlich eine Verschiedenheit von Kräften und eine gewisse Mannigfaltigkeit von Leistungen" (Ziffer 14). Und schließlich klingt die Sozialismuskritik der Enzyklika in der frappanten Feststellung aus (Ziffer 15): „Ein Grundfehler in der Behandlung der sozialen Frage ist sodann auch der, daß man das gegenseitige Verhältnis zwischen der besitzenden und der unvermögenden, arbeitenden Klasse so darstellt, als ob zwischen ihnen von Natur ein unversöhnlicher Gegensatz Platz griffe ... Ganz das Gegenteil ist wahr. Die Natur (!) hat vielmehr alles zur Eintracht, zu gegenseitiger Harmonie hingeordnet". Spricht hier der selbst den meisten klassischen Wirtschaftsliberalen überzogen erscheinende Bastiat mit seinen „Harmonies Economiques"? 98 Kann die Natur des gefallenen Menschen je ganz zur „gegenseitigen Harmonie hin geordnet" sein? So weit geht die klassische wirtschaftsliberale Grundposition nicht: sie behauptet nur, daß auch wirtschaftliche Interessengegensätze gesellschaftliche Vorteile mit sich bringen können. 99 „This, as in Musick Harmony, Made Jarrings in the main agree". 100 aber wird in der Regel jeder Theilnehmer der Gütergemeinschaft möglichst wenig arbeiten, möglichst viel genießen wollen". 98 Frédéric Bastiat, Harmonies Economiques, Paris, Guillaumin 1850. 99
Vielfach freilich entsteht nach liberaler Sicht selbst aus Interessengegensätzen eine „Harmonie" in einem umfassenderen Sinne, genauer: entstehen (auch) gesellschaftliche Vorteile. Siehe Streissler, „Macht und Freiheit ...", loc. cit., in FN 35, S. 1394.
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VII. Wenden wir uns nun von Leo XIII. ab und seinem Antipoden, dem Papst der Enzyklika „Laborem exercens", zu. Zuvor muß freilich festgehalten werden: Geistesgeschichtlich gesehen ist „Laborem exercens" in ihren Grundthesen wohl die mit Abstand bedeutendste der Sozialenzykliken, ein großes sozialphilosophisches Dokument des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Während „Rerum novarum" nur eine etwas späte Rezeption des klassischen Wirtschaftsliberalismus war, während „Centesimus annus" nun wieder ebenfalls nur eine christliche Fassung geläufiger, etwas „grüner" und antikonsumeristischer westlich-demokratischer marktwirtschaftlicher Vorstellungen ist, ist „Laborem exercens" hochoriginell. Erinnert sei: Obwohl es in der christlich-abendländischen Tradition sicherlich auch das benediktinische Arbeitsethos gibt, wird in der Hauptsache Arbeit als Last gesehen. Sie ist negativ definiert, negotium, nicht otium, und wir betten unsere lieben Toten zur ewigen Ruhe, nicht, wie ich nach „Laborem exercens" vorschlagen würde, zur ewigen Arbeit] Die klassische Ökonomie, dem englischen Puritanismus zeitlich und geistig nahe, sieht daher Arbeit als „disutility", heute als Aufgabe von Freizeit verstanden, somit keinesfalls als Selbstzweck, sondern nur als an sich wertloses Mittel zum Zweck. Denn auch das heißt Adam Smiths fundamentales Wort: „Consumption is the sole end and purpose of production". Nicht Arbeit, sondern „Eigentum und andere Formen privater Verfügung über äußere Güter tragen bei zur Selbstdarstellung der Person", wie bezeichnenderweise „Gaudium et spes", Ziffer 71, sagt. Ganz traditionell betont daher „Rerum novarum", Ziffer 14: „Die körperliche Arbeit anlangend, würde der Mensch im Stand der Unschuld freilich nicht untätig gewesen sein. Die Arbeit, nach welcher er damals wie nach einem Genüsse freiwillig verlangt hätte, sie wurde ihm nach dem Sündenfall als eine notwendige Buße (!) auferlegt, deren Last (!) er spüren muß (!): Verflucht sei die Erde in deinem Werke; mit Arbeit sollst du von ihr essen alle Tage deines Lebens." Dieses Wort aus Genesis 3,17 ist eines der meistzitierten in der Sozialphilosophie. Wenn wir aber alle nach klassisch-liberaler Tradition, nach Locke und Smith, primär einmal „Eigentum an unserer eigenen Arbeit" besitzen, dann 100
Bernard Mandeville, The Fable of the Bees: or Private Vices, Publick Benefits, London, Tonson 1714, hier 3. Aufl. 1724, S. 10. „Jarrings" sind die Dissonanzen, die sich hier zu einer höheren Harmonie fügen. „This" ist die Tatsache, daß „The worst of all the Multitude, Did something (!) for the Common Good" (S. 9). Gerade bei dem in Paradoxa argumentierenden, sehr extrem liberalen Mandeville erkennt man i m übrigen nochmals besonders deutlich die Betonung der Wichtigkeit des Rechtsrahmens in der klassisch-wirtschaftsliberalen Position. Seine Schlußfolgerung lautet: „So Vice is beneficial found, W h e n it's by Justice (!) lopt and bound" (S. 24).
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müßten wir uns doch auch in unserer Arbeit, wie in der Nutzung anderen Eigentums selbst verwirklichen? Das wurde immer von den freien Berufen behauptet. In wohlhabenden Industriegesellschaften sehen sich nun aber immer mehr Menschen diesbezüglich den freien Berufen ähnlich. Sie sprechen von den Annehmlichkeiten der Arbeitswelt. Sie verbringen einen guten Teil ihrer Zeit im Beruf und halten diesen für einen wichtigen, ja vielleicht den wichtigsten Teil ihres Lebens. Diese Erfahrung drückt „Laborem exercens" in großartiger Weise aus. Statt auf Genesis 3,17 stützt sie sich dabei auf Genesis 1,26 und 1,28: „Nach Gottes Ebenbild und Gleichnis geschaffen, als Mittelpunkt der sichtbaren Welt und in sie hineingestellt mit dem Auftrag, die Erde sich Untertan zu machen" — und nun kommt die frappante, neue Schlußfolgerung — „ist der Mensch von seinem Ursprung her zur Arbeit berufenV 01 Hier liegt aber wohl auch ein theologisches Problem: Während eine traditionelle Lehre sich vielleicht zu ausschließlich allein auf die Konsequenzen des Sündenfalls berufen hat, beruft sich Johannes Paul II. meines Erachtens zu ausschließlich auf Aussagen, die biblisch gesehen vor dem Sündenfall liegen. Vernachlässigt er dabei nicht etwas die eben doch auch gefallene Natur des Menschen? Nach Johannes Paul II. neuer und bedeutsamer Lehre ist Arbeit Herrschaft des Menschen über die Erde, schöpferisch und Schöpfungsauftrag, Arbeit ist Selbstverwirklichung, würdevoll und würdeschaffend. „Abbild Gottes ist der Mensch unter anderem deshalb, weil er von seinem Schöpfer den Auftrag empfangen hat, sich die Erde zu unterwerfen und sie zu beherrschen. Indem er diesen Auftrag erfüllt, spiegelt der Mensch und jeder Mensch das Wirken des Weltenschöpfers widerV 02 „Der Mensch verwirklicht seine Herrschaft über die Erde im Vollzug seiner Arbeit und mit seiner Arbeit". 103 „Die Arbeit ist eine Wohltat für den Menschen — für sein Menschsein —, weil er durch Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen (!) Bedürfnissen anpaßt, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermaßen „mehr Mensch wirdV 04 „Die menschliche Arbeit (ist) sozusagen ein Dreh- und Angelpunkt... sie (ist) unter der Rücksicht zu betrachten, was sie für das Wohl des Menschen bedeutet." 105 Für das W o h l des Menschen! Hier stutzt der ökonomisch gebildete Sozial Wissenschafter: Denn der Mensch ist wohl der arbeitende Mensch und nicht der Mitbruder, für den er arbeitet. Seinen Bedürfnissen paßt der Mensch die Natur an und nicht denen der wirtschaftlich mit ihm verbunde101
LE 1981, Einleitende Worte, TKS-Schasching, S. 569. (Meine Hervorhebung.)
102
LE 1981, II 4 (2), TKS-Schasching, S. 577, meine Hervorhebung.
103
LE 1981, II 5 (1), TKS-Schasching, S. 578, meine Hervorhebung. LE 1981, II 9 (3), TKS-Schasching, S. 591, meine Hervorhebung. LE 1981, II 3 (2), TKS-Schasching, S. 575.
104 105
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nen anderen Bedürftigen. „Für die Arbeit ist vor allem kennzeichnend, daß sie die Menschen eint; darin besteht ihre gesellschaftliche Kraft; sie bildet Gemeinschaft." 106 Sie bildet Gemeinschaft also nur mit den Mitproduzierenden, wiederum nicht mit denjenigen Menschen, denen Arbeit doch dienen soll. Und so heißt es dann auch ganz konsequent in „Laborem exercens": „Daß derjenige, der Gott war, in allem jedoch uns gleich geworden ist, den größten Teil seiner irdischen Lebensjahre der körperlichen Arbeit in der Werkstatt eines Zimmermanns gewidmet hat", sei als solches „das beredtestes ,Evangelium der Arbeit', das die Grundlage bildet, um die menschliche Arbeit zutreffend zu würdigen und festzustellen, daß deren Würde sich nicht so sehr nach der A r t dessen, was geleistet wird, als danach bestimmt, daß derjenige, der diese Arbeit leistet, Person ist." 1 0 7 Leider bestimmt sich die Bedeutung der Arbeit für die anderen eben doch danach, was geleistet wird. Erlauben Sie mir bitte die Frage, was es denn uns genutzt hätte, wenn Christus sich durch seine Zimmermannsarbeit zwar besonders selbst verwirklicht hätte, „gewissermaßen mehr Mensch" geworden wäre, wenn er aber nicht für uns gelehrt, für uns gelitten hätte und für uns gestorben wäre? Man versteht also, daß der Papst unter den vielen Wissenschaften, von denen „die Kirche", genauer: er selbst, gelernt hat, die Ökonomie nicht aufzählt. 108 Auch logische Probleme treten auf. Die Enzyklika sagt: „Arbeit ist eines der Merkmale, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet", definiert aber andererseits: „Hier soll Arbeit stehen für jede vom Menschen vollbrachte Leistung ohne Unterschied des Sachgehaltes und der Verumständung". 109 Daß der Mensch durch vom Menschen vollbrachte Leistungen von anderen Lebewesen unterschieden ist, weil nur der Mensch menschliche Leistungen erbringen kann, erscheint einigermaßen tautologisch. Das wesentliche Problem der Enzyklika „Laborem exercens" scheint mir freilich, daß sie als originelle denkerische Leistung einseitig ausgerichtet ist und erkennen läßt, wo der Papst seine Sachkompetenz überschreitet. Und sollte, so erlaube ich mir zu fragen, ein päpstliches Lehrschreiben diesen Charakter haben? Denn Einseitigkeit kann nur zu leicht zu moralischen Fehlurteilen verleiten. Nehmen wir an, ein Spitalsarzt in einer Klinik habe die Enzyklika eingehend studiert und insbesondere noch den Satz im Ohr, daß seine Arbeiten „unabhängig von ihrem objektiven Gehalt alle zur Verwirklichung seines Menschseins dienen, zur Erfüllung der ihm aufgrund seines Menschseins eigenen Berufung zum Personsein". 110 Kann er dann 106
LE 1981, II 20 (3), TKS-Schasching, S. 621, meine Hervorhebung.
107
LE 1981, II 4 (2), TKS-Schasching, S.583.
108
Siehe LE 1981, II 4 (1), TKS-Schasching, S. 576.
109
Die letzten beiden Zitate aus LE 1981, Einleitende Worte, TKS-Schasching,
S. 569. 110
LE 1981, II 6 (2), TKS-Schasching, S. 581 f., meine Hervorhebung.
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nicht behaupten, er handle moralisch gut, wenn er die ihm anvertrauten Patienten über seinen wissenschaftlichen Experimenten vernachlässigt, weil er meint, gerade durch seine wissenschaftlichen Arbeiten werde er mehr er selbst, wachse seine Würde als Mensch? Interessant sind die Konsequenzen, die „Laborem exercens" aus ihrer Arbeitsanthropologie zieht. Zuvorderst einmal ist Arbeitslosigkeit schon als Entzug der Möglichkeit zur Persönlichkeitswerdung zu verurteilen. Ja, „Arme" werden teilweise neu definiert „als Opfer der verletzten Würde der menschlichen Arbeit (!)", z.B. weil „es an Arbeitsgelegenheit mangelt mit der Folge zwangsweiser Arbeitslosigkeit". 111 Daß es mit der Linderung der materiellen Not der Arbeitslosen nicht getan ist, daß längerfristige Arbeitslosigkeit vielmehr volkswirtschaftliche Schäden durch Verfall des Humankapitals der Arbeitslosen mit sich bringt, ist heute ja auch zur gängigen ökonomischen Meinung geworden. 112 Daraus folgt freilich noch lange nicht, daß zur Vollbeschäftigungssicherung staatliche Planung gehört, ja Dekretierung, wer in welchem Sektor zu arbeiten habe, wie die Enzyklika ausdrücklich sagt! 113 Hier ist dem Papst von „Laborem exercens" der von „Centesimus annus" entgegenzuhalten, der in 15 (2) einen mit allen Wassern der modernen Ökonomie gewaschenen Katalog von beschäftigungspolitischen Maßnahmen bringt, welcher vor allem auch die „Politik der Umschulung" hervorhebt. Weitere Konsequenzen von LE sind erstaunlich stark durch Praxis und Denken in den vergangenen Volksdemokratien geprägt. „Arbeit und Fleiß prägen... den ganzen Verlauf der Erziehung in der Familie" 1 1 4 — wie sie der Theorie nach den der staatlichen Erziehung in Volksdemokratien, ja im Nationalsozialismus prägten. „Der Mensch muß arbeiten ... Zu arbeiten schuldet der Mensch ... auch der Gesellschaft, der er angehört; er schuldet es der Nation, deren Sohn oder Tochter er ist, als Erbe der Arbeit der früheren Generationen und zugleich Mitgestalter der Zukunft derer, die im weiteren Ablauf der Geschichte nach ihm kommen werden". 115 Man ist an 111
LE 1981, II 8 (6), TKS-Schasching, S. 589.
112
Problematischer ist es schon, wenn LE 1981 II 5 (4), TKS-Schasching S. 580 „die Technik" verurteilt, „wenn die Mechanisierung der Arbeit den Menschen verdrängt,. .. wenn sie viele Arbeitnehmer freisetzt (um ihre Beschäftigung bringt)". Hier kommt es wohl darauf an, ob diese nicht anderswo rasch Beschäftigung finden können. Fundamentaler aber noch: ist es wirklich richtig, daß in einer sich entwickelnden Wirtschaft der Mensch auf Arbeit in seinem angestammten Beruf pochen darf und nicht gerade auch die Bereitschaft zum Umlernen zur Persönlichkeitsbildung gehört? Wiederum erkennt man also das Problem der Enzyklika, daß in ihr der Wert der Arbeit in sich selbst ruht! 113 114 115
LE 1981, IV 18 (5), TKS-Schasching S. 616. LE 1981, II 10 (1), TKS-Schasching S. 592. LE 1981, IV 16 (2), TKS-Schasching S. 610.
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die Worte volksdemokratischer Verfassungen gemahnt! Ganz konsequent beklagt die Enzyklika dann für den Fall der Auswanderung (man denke nur an die Auswanderungsfeindlichkeit der Volksdemokratien) : „Somit geht ein arbeitender Mensch verloren, der mit den Leistungen seines Kopfes oder seiner Hände zur Steigerung des Gemeinwohls im eigenen Land hätte beitragen können." 1 1 6 Entspricht das nicht allzusehr marxistischem oder merkantilistischem Denken, das annimmt, gesellschaftliche Produktion sei in genauem Maße umso höher, je mehr Arbeiter es gäbe? In vielen Fällen gilt jedoch, wie die aus England nach Australien deportierten Häftlinge dichteten: „True patriots we — we leave our country for our country's good"! Bedauerlich ist eine Konsequenz, die nicht gezogen wird: Nirgendwo in der Enzyklika wird erwähnt, daß Arbeit doch sicherlich nur aus dem in irgend einem Sinne von ihr erzeugten Produkt bezahlt werden kann. Die Erwähnung jeglicher wirtschaftlichen Begrenzungen fehlt. „Laborem exercens" weist aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht eine große Zahl von Problemen auf, die hier nicht alle behandelt werden können. Auf eines muß jedoch noch eingegangen werden, nämlich den „Konflikt zwischen Arbeit und Kapital im gegenwärtigen Abschnitt der Geschichte". 1 1 7 „Das Kapital" ist ein verdinglichender Begriff der materialistischen Geschichtsphilosophie von Karl Marx; gerade ein christlicher Sozialwissenschafter sollte wissen, daß es bei gesellschaftlichen Konflikten immer um Konflikte zwischen Menschen geht, die man nicht hinter mystifizierenden Generalien, wie „das Kapital", verbergen sollte. „Das Prinzip des Vorranges der Arbeit vor dem Kapital" 1 1 8 wurde von keinem vernünftigen Ökonomen je geleugnet; Adam Smith, im übrigen, betont, daß die Interessen der Arbeiter mit denen der Gesellschaft übereinstimmen, die der Kapital eigner hingegen den Gesellschaftsinteressen entgegenlaufen. 119 Leider gibt dieses Prinzip aber auch moralisch sehr wenig her, ja führt nur zu Fehldeutungen. So wurde etwa am Anfang der Voesi-Krise in Österreich, als erstmals von Massenkündigungen bei der Voest gesprochen wurde, argumentiert, Kündigungen von Arbeitern würden dem Prinzip des Vorranges der Arbeit vor dem Kapital widersprechen. Nur leider hatte die Voest damals in zweifacher Bedeutung gar kein Kapital: Sie hatte kein Kapital im marxschen Sinne, weil sie zur Gänze dem Staat gehörte; und sie hatte kein Kapital im betriebswirtschaftlichen Sinne mehr, weil sie konkursreif war. Der Konflikt war also in Wahrheit einer zwischen den österreichischen Steuerzahlern und der VoestBelegschaft; und das sieht moralisch schon ganz anders aus! Und gelöst wurde der Konflikt durch den Widerruf rechtlich zwar nicht bindender, aber 116
LE 1981, IV 23 (1), TKS-Schasching S. 627.
117
LE 1981, Überschrift von Abschnitt III, TKS-Schasching S. 594.
118
LE 1981, III 12 (1), TKS-Schasching S. 597. Smith, W o N I.xi.p. 9, 110; S. 266.
119
8 Festschrift Schasching
114
Erich W. Streissler
allseitig erwarteter Pensionsanspriiche einer großen Zahl ehemaliger Belegschaftsmitglieder, eine meines Erachtens durchaus unmoralische Lösung zu Lasten der (rechtlich) Schwächeren, die aber durch Floskeln wie „der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital" nur verdunkelt wird.
VIII. Damit komme ich als Abschluß zu einer kurzen Würdigung der neuesten Enzyklika, „Centesimus annus", die von einem völlig gewandelten Wirtschaftsbild ausgeht und sich nunmehr erfreulich viele wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zu eigen gemacht hat. „Centesimus annus" verwendet freilich noch immer einige den Sozialenzykliken liebgewordene marxistische Begriffe, aber nunmehr weit spärlicher. Vor allem aber erkennt sie, daß unternehmerische Industriewirtschaften schon mit dem Ausdruck „Kapitalismus" fehlgedeutet werden: Auf das Kapital kommt es nämlich am wenigsten an; das meinte nur Marx, hier irregeführt durch Adam Smith und seine Animosität gegen den „Kaufmann". Vielmehr schreibt die Enzyklika unter der Überschrift „Geistiges (!) Eigentum" nunmehr, daß die Unternehmerfähigkeiten „eine bedeutende Quelle des Reichtums in der modernen Gesellschaft sind" und betont richtig, daß „heute der entscheidende Faktor immer mehr der Mensch ist, das heißt seine Erkenntnisfähigkeit (!) in Form wissenschaftlicher Einsicht, seine Fähigkeit, Organisation in Solidarität zu erstellen, und sein Vermögen, das Bedürfnis der anderen wahrzunehmen (!) und zu befriedigen". 120 Das ist so ziemlich genau das, was Carl Menger, der Gründer der österreichischen Schule, 1871, also fast zur gleichen Zeit wie Marx und sein „Das Kapital", sagte. 121 Was aber die kirchliche Systemkritik am „Kapitalismus" betrifft, so wird nun „Kehrt um — Marsch" geblasen. „Centesimus annus" sagt: „Wird mit Kapitalismus' ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, die freie Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort (sc. bezüglich des vorzuschlagenden Wirtschaftssystems) sicher (!) positiv. Vielleicht wäre es passender, von ,Unternehmenswirtschaft' oder ,Marktwirtschaft' oder einfach ,freier Wirtschaft' zu sprechen." Passender, sei angemerkt, wäre dies sicher; lediglich die Enzykliken wählten immer wieder das vorverurteilende Wort Kapitalis120
C A 1991, 32, Überschrift, sowie (2) und (4), Kerber S. 71, 73. Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien, Braumüller 1871. Nach ihm ist Wirtschaft „die Sorge der Menschen für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse" (S. 34), diese aber beruht auf Erkenntnisproblemen (S. 35) und wirtschaftlicher Fortschritt entsteht durch „die fortschreitenden Erkenntnisse des ursächlichen Zusammenhanges der Dinge mit ihrer Wohlfahrt" (S. 29). 121
Hundert Jahre Sozialenzykliken
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mus! „Centesimus annus" fährt fort: „Wird aber unter Kapitalismus 1 ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ". 1 2 2 Letzteres erscheint als ganz neue Definition von Kapitalismus. Es ist das, was geistesgeschichtlich immer Anarchismus hieß! Nur marxistische Behauptung war es, daß die Herrschaft „des Kapitals" Anarchie sei. Andererseits ist dieser neu definierte, allein „schlechte" Kapitalismus keineswegs das, was frühere Enzykliken allein verurteilten. Und im übrigen ist der von „Centesimus annus" geforderte Staatsaufgabenkatalog „die Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums sowie eine stabile Währung (!) und leistungsfähige öffentliche Dienste" fast wortwörtlich das, was in der berühmten Umschreibung durch Immanuel Kant des Begriffes „laissez faire" als Staatsaufgaben gefordert wird. 1 2 3 „Centesimus annus" ist ganz, ja möglicherweise sogar exzessiv, auf eine freie Wirtschaft und einen liberalen Rechtsstaat westlicher Prägung eingeschwenkt. Inhaltlich bringt die Enzyklika zuerst einmal eine extensive Abrechnung mit dem gestürzten „real-existierenden" Sozialismus, die in geradezu peinlichem Triumphalismus andeutet, man habe immer schon gesehen, wie sehr dieser tönerne Füße habe. Dabei hatte doch noch „Laborem exercens" evidentermaßen geträumt von sozialistischer Planung, nur freilich durch christliche, gute, solidarische Menschen. Insgesamt scheint mir die Enzyklika sehr weise und ausgewogen. Bemerkenswert und höchst zeitgemäß ist ihre Kritik am „Konsumismus", am „das Leben in Selbstgefälligkeit... konsumieren", wobei ganz richtig festgehalten wird: „Das Wirtschaftssystem besitzt in sich selber keine Kriterien, die gestatten, die neuen und höheren Formen der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse einwandfrei von den neuen, künstlich erzeugten Bedürfnissen zu unterscheiden, die die Heranbildung einer reifen Persönlichkeit verhindern. Es braucht daher dringend ein groß angelegtes erzieherisches und kulturelles Bemühen". 124 Erwartetermaßen wird der Ökologie das Wort 122
C A 1991, 42 (2), Kerber S. 92 f.
123
Auf die Frage eines französischen Ministers (J. B. Colbert?) an die „angesehensten Kaufleute", wie „dem Handel aufzuhelfen sei", soll nach Immanuel Kant nach langem H i n und Her schließlich „ein alter Kaufmann, der so lange geschwiegen hatte" gesagt haben: „Schafft gute Wege, schlagt gut Geld, gebt ein promptes Wechselrecht und dgl., übrigens aber ,laßt uns machen!'" Siehe Streissler, „Macht und Freiheit. . .", 1974, loc.cit. in FN 35, S. 402, insbes. FN 46. 124
C A 1991,36; Zitat aus (2), Kerber S. 81. Schön wäre es nur, wenn die Enzykliken aufgeben würden, den Marxisten und Freudianer Erich Fromm mit seinem Buch Haben oder Sein, Stuttgart 1976, zu zitieren (LE 1981, 20 (6) in C A 1991, 36 (4)). So
116
Erich W. Streissler
gesprochen, wobei eine schöne Formulierung die Forderung ist nach „jener uneigennützigen, selbstlosen, ästhetischen Haltung, die aus dem Staunen über das Sein und über die Schönheit entsteht". 125 Und besonders interessant, weil so ausgewogen, ist auch, was zu den Auslandsschulden gesagt wird: „Der Grundsatz, daß die Schulden gezahlt werden müssen, ist sicher richtig. Es ist jedoch nicht erlaubt, eine Zahlung einzufordern oder zu beanspruchen, die zu politischen Maßnahmen zwingt, die ganze Völker in den Hunger und in die Verzweiflung treiben würden. Man kann nicht verlangen, daß die aufgelaufenen Schulden mit unzumutbaren Opfern bezahlt werden. In diesen Fällen ist es notwendig — wie es übrigens teilweise schon geschieht —, Formen der Erleichterung (!) der Rückzahlung, der Stundung (!) oder auch der Tilgung der Schulden zu finden, Formen, die mit dem Grundrecht der Völker auf Erhaltung und Fortschritt vereinbar sind". 1 2 6 Der Kenner weiß, daß dies genau dem Brady-Plan des US-amerikanischen Finanzministers für Südamerika entspricht. Und im übrigen gebietet schon die ökonomische Vernunft — Adam Smiths „self-interest" — nichts anderes. Man kann der Enzyklika sogar vorwerfen, daß sie passagenweise zu liberal ist — manchester-liberal würde ich sagen, wüßte ich nicht, daß Manchesterliberalismus nur ein nie existenter, nur fiktiver Strohmann ist. W i e „Rerum novarum" vor ihr zeigt sie wieder Wohlfahrtsstaatskepsis, wenn dieser zum „Fürsorgestaat" wird. 1 2 7 Und folgende Passage zum Gewinn ist dem Lobpreis der natürlichen Harmonie der Wirtschaft durch „Rerum novarum" als Übertreibung an die Seite zu stellen: „Wenn ein Unternehmen mit Gewinn produziert, bedeutet (!) das, daß die Produktionsfaktoren sachgemäß eingesetzt und die menschlichen Bedürfnisse gebührend (!) erfüllt wurden". 1 2 8 Das bedeutet es keineswegs. Es könnte sich nämlich erstens auch um einen „Zufall" handeln, eine unerwartete Kostensenkung etwa, z. B. einen Ölpreissturz; es könnte sich weiters um bloße Monopolgewinne handeln; und was schließlich die „Bedürfnisse" betrifft: hier ist zu relativieren. W i l l die Enzyklika wirklich die Gewinne von Rüstungsunternehmen, Drogenhändlern und pornographischen Verlegern rechtfertigen, womit sie mit diesem uneingeschränkten Satz gleichzeitig sich selbst in der zitierten Passage zu 36 (2) widerspräche?
etwas beweist nur, daß auch Päpste dazu neigen, populäre „Reißer" zu zitieren, freilich lange, nachdem sie aus der Mode gekommen sind. 125 126 127 128
C A 1991, 37; Zitat aus (2), Kerber S. 84. C A 1991, 35 (5), Kerber, S. 79 f. C A 1991, 48 (4), Kerber S. 106; RN 1891, 24, TKS-Schasching, S. 59. C A 1991, 35 (3), Kerber, S. 78, i m Widerspruch mit 36 (2), Kerber, S. 81.
Hundert Jahre Sozialenzykliken
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IX. Ich komme zum Schluß: Die tiefste Erkenntnis von „Centesimus annus" ist wohl folgende: „Die Kirche hat keine eigenen Modelle vorzulegen. Die konkreten und erfolgreichen Modelle können nur im Rahmen der jeweils verschiedenen historischen Situationen durch das Bemühen aller Verantwortlichen gefunden werden, die sich den konkreten Problemen in allen ihren eng miteinander verflochtenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekten stellen". 129 Das ist neu, obwohl zu dieser Passage frühere Sozialenzykliken zitiert werden, wo das keineswegs so steht, nämlich nicht, daß die Kirche keine eigenen Modelle vorzulegen habe. Liberale Wirtschaftswissenschafter würden diese Erkenntnis nicht verwundern; sie entspräche zum Beispiel auch Hayek und seinem Sozialevolutionismus. 130 Inzwischen haben leider jedoch die Sozialenzykliken zwischen „Rerum novarum" und „Centesimus annus" so ziemlich alles verurteilt, was denkmöglich ist, und leider „Kanonenfutter" für so ziemlich jedes gesellschaftsphilosophische Gefecht geliefert. Eine geradlinige Entwicklung der Wertung von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen oder wirtschaftlicher Erscheinungen, etwa des Kredites, ist nicht zu sehen. Die Sozialenzykliken gehen, geistesgeschichtlich gesehen, im Kreis, sie enden, wo sie beginnen. Es gibt großartige Gedanken in ihnen, leider jedoch nicht nur diese. Die Enzykliken beschränken sich nicht auf wenige zentrale Aussagen; sie sind oft viel zu lang. Und sie sind leider auch erstaunliche Dokumente der Anfälligkeit für modische Zeitströmungen. Vielleicht wäre es also gut, wenn man sich insgesamt etwas mehr auf die skeptische Haltung des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus gegenüber weltlicher „Machbarkeit" und auf seine Einsichten zu den Grenzen weltlicher Gerechtigkeit stützen könnte?
129 130
C A 1991, 43 (1), Kerber, S. 93 f. Hayek, Fatal Conceit, loc. cit., in FN 2.
ZUR FRAGE DER RICHTUNGEN I N DER KATHOLISCHEN SOZIALLEHRE ÖSTERREICHS Von Rudolf Weiler
Die Auseinandersetzung der Kirche in ihrer Soziallehre mit den im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung in der Industriegesellschaft herrschenden Sozialsystemen war in den hundert Jahren von Rerum novarum bis Centesimus annus nach Johannes Schasching ein „mühsamer Weg". Zum Ende dieser Periode hat Johannes Paul II. in seiner neuesten Sozialenzyklika das „Scheitern des Kommunismus", als des einen Systems festgestellt. Andererseits sieht er zugleich mit Blick auf das andere diese hundert Jahre beherrschende Sozialsystem die „Gefahr, daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht". 1 Bei der Überschau dieser Jahre bis heute faßt daher der bereits eingangs aus seinem Kommentarwerk Centesimus annus 2 zitierte Schasching an derselben Stelle treffend die Kompetenz der Kirche zur Kritik an Wirtschaftssystemen zusammen, was ebenso auch für die Lehrmeinungen innerhalb der katholischen Soziallehre gelten sollte: die Kirche hat keine „konkreten Modelle vorzulegen", sonst würde sie ihre Kompetenz überschreiten. Mache sie aber „»technische' Vorschläge, muß sie wissen, daß ihre Aussagen nicht mehr gelten, als ihre Sachargumente" bewiesen. Wenn im folgenden ein bewegtes Thema der Geschichte der Entwicklung der österreichischen katholischen Soziallehre nach deren Strömungen angerissen wird, ist für Schasching vorweg ein Charakterzug seines Wesens in Verbindung mit seiner sozialwissenschaftlichen Kompetenz vor allem als Soziologe hervorzuheben: Er läßt sich in seinem Opus keiner Strömung zuordnen, vielmehr ist er im Sinne der Wirkkraft der Soziallehre der Kirche bei Zulassung einer Meinungsbreite in sozialer Kritik und Reform auf das Gemeinsame bedacht, auf den Aufbau „durch gesellschaftliche Ordnung". 3
1
C A Nr. 42.
2
Unterwegs mit den Menschen, W i e n 1991, 95.
3
C A Nr. 13. Vgl. Hinweis auf Seite 21 in o. zit. Kommentar von Johannes Schasching!
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Rudolf Weiler
I. „Wiener Richtungen" im Bereich der katholischen Soziallehre Der „Aufbruch zur christlichen Sozialreform in Österreich" — so der Titel der „Beiträge zur neueren Geschichte des christlichen Österreich" von Friedrich Funder 4 —, war von Anfang an von engagierten katholischen Sozialwissenschaftlern, Laien wie Priestern, getragen und begleitet, die aus Situation und Wissen ihrer Zeit den Weg der Reform gesucht haben. Sie waren dabei nicht frei von der Gefahr, bei der Anwendung der Ordnungsprinzipien, die damals herausgearbeitet wurden, in ihrer Gesellschaftskritik einseitig zu werden und auch auf bestimmte konkrete Wege und Modelle zu setzen, die sich nachträglich als nicht zielführend herausstellen mochten. So führt Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts unter dem Sammelnamen „Wiener Richtungen" in der 5. Auflage des Staatslexikons Franz Arnold 5 nicht weniger als sieben „in Wien zuerst geprägte, zum Teil gegensätzliche Auffassungen im Bereich der katholischen Soziallehre" an. Darauf hat auch Johannes Messner viel später hingewiesen. 6 In einem jüngst erschienenen Beitrag von Robert Kriechbaumer, 7 der durchaus verdienstvoll auch diese Etappe der katholischen Soziallehre in Österreich behandelt, stützt sich dieser bei der Nennung der „Wiener Richtungen" nur auf August Maria Knoll aus einem Vortrag, den er 1956 gehalten hat. Daraus schließt er fälschlich, es hätten alle diese Richtungen die antikapitalistische Argumentation und sozialromantische Konzeption gemeinsam. Othmar Spanns Universalismus wird unter den damaligen Richtungen von Arnold noch für eine „katholisch-soziale Einheitsfront" gegen die „individualistische Gesellschafts- und Wirtschaftslehre" angeführt. Den „neueren Solidaristen", wie Gustav Gundlach, wird von dieser Richtung daher Verzerrung des „wahren Solidarismus" vorgeworfen. 8 Anton Orels Richtung wieder ist danach gegen das herrschende System des „absoluten Eigentums- und Arbeitsbegriffs ausgerichtet". 9 Ähnlich ist Karl Lugmayers Ordnungsansatz ein laboristischer, daß nämlich „Arbeit und Natur die Urquellen der wirtschaftlichen Werte (für Orel die Arbeit allein)" sind. Auch die vierte besprochene „Richtung Eberle (Schönere Zukunft)" sieht die 4
W i e n 1953.
5
5. Bd., Freiburg 1932, 1295-1304. Christliche Sozialethik in der Zwischenkriegszeit, in: Die Kirche im Wandel der Zeit, Festgabe für Joseph Kardinal Höffner, Hrsg. von Franz Groner, Köln 1971, (383392), 383. 6
7
100 Jahre „Rerum novarum": über die Dialektik von umfassender Sinngebung und Politik in Österreich im 20. Jahrhundert, in: Wissenschaft und Glaube, Jg. 3/ 1990, (255-276), 258. 8 a.a.O., 1297. 9 Vgl. a.a.O., 1298.
Richtungen in der katholischen Soziallehre Österreichs
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Eigentumsfrage als Schlüsselfrage an und nimmt eine betont „sehr kritische Haltung gegenüber dem neueren Kapitalismus" ein. Diese Richtung vermißt in der Eigentumsfrage eine „autoritativ-kirchliche Eigentumsbegriffsbestimmung" durch das päpstliche Lehramt. 10 Arnold führt noch die vermittelnden Versuche der „Studienrunde katholischer Soziologen" an und den „Methodendualismus (Ernst Karl Winter)". Dieser „unterscheidet auf dem Gebiet der Gesellschafts- und Wirtschaftslehre zwischen »wahrer 1 und,pastoraler 1 Soziologie". Aus letzterer hätte sich die Kirche längst auch mit dem „Zinsnehmen", also dem Kapitalismus, abgefunden. August Maria Knoll, ein sich als Schüler und Vertreter dieser Richtung verstehender Soziologe an der Wiener Universität, hat dem Verfasser gegenüber in den sechziger Jahren betont: „Ihr kirchlich gebundenen Sozialethiker an einer theologischen Fakultät sollt die Sozialreform besser uns Soziologen" — er meinte die »wahren' Soziologen — „überlassen!" Schließlich nennt Arnold als letzte Richtung die „Katholische Aktion" in Österreich, die nach den Richtlinien des österreichischen Episkopates, ausgehend „von den Grundprinzipien des christlichen Solidarismus ... gegenüber den verschiedenen Richtungen eine Klärung anzubahnen... und Einheit in allem Grundsätzlichen der sozialen Frage zu schaffen" hätte. 11 Der dort namentlich als Vertreter dieser Richtung u. a. neben Gustav Gundlach SJ und Oswald v. Nell-Breuning SJ besonders hervorgehobene Johannes Meßner 12 schreibt im Rückblick auf jene Zeit: 1 3 „Während die konkrete Sozialreform das Gebot der Stunde gewesen wäre, war die Diskussion in leidenschaftlichen Auseinandersetzungen über den Eigentumsbegriff verfangen ... Ein Grund dafür bestand darin, daß eine Hauptfront im Eigentumsstreit auf die Arbeitswertlehre festgelegt war". Die Arbeit wurde als „einzige naturrechtliche Eigentumsquelle" angesehen, „die Bedürftigen seien befugt, sich,überflüssiges Eigentum' anzueignen, das sich nicht freiwillig oder nach staatlicher Anordnung in den Dienst der Bedürftigen stelle". Im engsten Zusammenhang mit dem Eigentumsstreit sieht Messner damals die Kapitalismusdiskussion: „Das Fatale war, daß die Kapitalismusgegner keine Alternative anzubieten vermochten, ... die hätte ökonomisch sachlich diskutiert werden können ... Verhängnisvoll war besonders, daß in der 10
a.a.O., 1301. a.a.O., 1304. Robert Kriechbaumer, a.a.O., 257, irrt, wenn er meint, die Enzyklika Rerum novarum hätte bereits den „Solidarismus" vertreten. Dieser Richtungsname geht vielmehr auf Heinrich Pesch SJ zurück, der nach der Jahrhundertwende wirkte. 11
12
Im Laufe seines Englandaufenthaltes nach 1938 änderte Johannes Messner die Schreibung in seinem Namen auf das doppelte S. Daher findet sich besonders für die frühe Periode immer die Schreibweise mit ß! 13
o. a. Artikel, 385 f.
122
Rudolf Weiler
ganzen Diskussion zu häufig mit ideologisch geprägten Begriffen operiert wurde, statt mit ökonomischen Sachargumenten." Wie in seiner Rückerinnerung von Messner zu Recht angedeutet, lassen sich diese insgesamt sieben, oben kurz referierten, Strömungen der katholischen Soziallehre auf zwei Grundpositionen zurückführen: 1. Auf eine von der marxistischen Arbeitswertlehre und vom Klassenbegriff beeinflußte Strömung, die ihren Antikapitalismus radikal gegenüber die kapitalistische Wirtschaftsweise richtete. Ihr Programm einer gesellschaftlichen Veränderung war sozialphilosophisch aus verschiedenen Anschauungen mitbestimmt, wie Spanns Universalismus oder bei Ernst Karl Winter von seiner Auffassung von Soziologie und Theologie bzw. Wissenschaft. Diese philosophisch-anthropologischen Positionen führten zur Voreingenommenheit gegenüber den Sozialwissenschaften, insbesondere der Nationalökonomie, und deren Sachargumenten. 2. Die Position des sozialen Realismus, die innerhalb der bestehenden Gesellschaft, allerdings auch von ihrer Grundursache her, in Verbindung mit der Gesinnungsreform, die soziale Frage auf dem Weg sozialer Reformen lösen wollte. Dieser Realismus war mit sozialwissenschaftlicher Kompetenz und Argumentation verbunden. 14 Der führende Vertreter der zweitgenannten Richtung ist Johannes Messner zeit seines langen Wirkens in der österreichischen katholischen Sozialreform. Nach seiner Priesterweihe sechs Jahre als Kooperator in Tirol tätig gewesen, war er von Prälat Aemilian Schöpfer 1920 dazu bewogen worden, 15 in München vier Jahre insbesondere Nationalökonomie und Soziologie zu studieren. Danach war er Berater seines einstigen Lehrers im Brixener Priesterseminar und nun Diözesanadministrators in Innsbruck, Bischof Dr. Sigismund Waitz. Insbesondere bei der Abfassung des Sozialhirtenbriefs der österreichischen Bischöfe von 1925 wirkte er mit. 1 6 14
Im Anschluß an Knoll macht es sich wieder Kriechbaumer zu einfach, diese zwei Grundpositionen i m Gegensatz einer „liberalen" und „konservativen" Schule zu sehen. Er folgt damit indirekt den Gegnern Messners, die ihm bis heute wegen seines sozialen Realismus eine liberale kapitalistische Position vorwerfen wollen. Er schreibt: „Der Liberalkatholizismus der Sozialpolitik akzeptierte das kapitalistische System und kritisierte lediglich dessen sozialpolitischen Auswüchse." 15 Vgl. Godehard H. Wolf, Aufbruch zu neuen Ufern?, Die katholische Wochenschrift Das neue Reich (1925-1932), unveröffentlichte Diplomarbeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität W i e n 1991, 23. Schöpfer war auch Generaldirektor der Innsbrucker Verlagsanstalt Tyrolia, wo Messners wichtigste Werke später erscheinen sollten. 16 Lehren und Weisungen der österreichischen Bischöfe über soziale Fragen der Gegenwart, vom 1. Adventsonntag 1925, Wiener Diözesanblatt, LXIII/12,67-77. Dem Verfasser erzählte Messner, er sei mit Waitz vierzehn Tage hindurch anläßlich der Textierung in Vorarlberg „zusammengesessen".
Richtungen in der katholischen Soziallehre Österreichs
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Dieser Hirtenbrief sprach nun sehr deutlich von den Auswüchsen des Kapitalismus, der sich „in neuester Zeit ... zu einem Mammonismus" entwickelt habe. In der sogenannten Kölner Erklärung kamen aus Deutschland sogar Einwände des rheinischen Episkopats gegen die scharfe antikapitalistische Sprache des Hirtenworts, die auch im Gegenzug von Österreichs Bischöfen als gemäßigt zu verstehen interpretiert worden war. Endgültige Klärung sollte die Katholisch-Soziale Tagung in W i e n 1929 bringen, die vom Volksbund der Katholiken Österreichs namens der Katholischen Aktion veranstaltet worden war. Die in Österreich 1927 geschaffene Katholische Aktion hatte als Arbeitsgebiet ausdrücklich staatsbürgerliche, soziale und wirtschaftliche Fragen in ihren Richtlinien zugewiesen erhalten. 17 Somit war auch die Sorge um die Soziallehre der Kirche und ihre Nähe zur christlichen Sozialreform von den Bischöfen stärker von den verschiedenen Richtungen weg auf eine Position hingelenkt worden. Die Lösung der sozialen Frage, wie sie die Kirche verkünde, sei ab nun stärker den Reihen der Katholischen Aktion anvertraut. 18 In der Jännerkundgebung des österreichischen Episkopates zur sozialen Frage aus 1930 19 wird diese Tagung gelobt und den Referaten Übereinstimmung mit den kirchlichen Lehrkundgebungen der Päpste und der Bischöfe aus Österreich und Deutschland attestiert. Werde der „derzeit herrschende Mammonismus auf das schärfste verurteilt..., ist nicht der Privatbesitz an Produktionsmitteln selbst verurteilt und die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ...für falsch und verwerflich erklärt worden". Die offenbar aus Messners Feder stammende Einleitung zur Publikation der Referate der Tagung bezeichnet die darauf vertretene Richtung der Soziallehre als „christlichen Solidarismus". Die „andere Seite" setze sich aus verschiedenen Gruppen eines „romantisch-konservativen Ideenkreises" zusammen, „wie u. a. Professor Othmar Spann mit seinen Schülern, der Kreis um Dr. Eberle und seine,Schönere Zukunft', die Gruppen um Dr. Winter, um Anton Orel usw.". 20 Es ging aber Messner laut dieser Einleitung um „Klärung" und „Annäherung". Die genannten Personen und ihre Richtungen reagierten darauf eher ablehnend: Besonders Joseph Eberle berichtete in seiner Zeitschrift „Schönere Zukunft" sehr kritisch von jener Tagung. „Einige Moraltheologen" würden revisionistisch alles beim derzeitigen Eigentumsbegriff belassen, „ohne wahrhafte Arbeit ergattertes Börseneigentum" verteidigen, keinen Willen zur Reformarbeit zeigen, während eine „Rechts-
17
Siehe Wiener Diözesanblatt LXV/12, 71-74.
18
Siehe Johannes Meßner in seinem Grundreferat in: Die katholisch-soziale Tagung in Wien, Katholische A k t i o n und soziale Frage, W i e n 1929, (7-31), 15. 19 Wiener Diözesanblatt LXVIII/1, 1-4. 20
a.a.O., 5.
124
Rudolf Weiler
pflicht zur Abgabe des Überflusses zu sozialen Zwecken" bestünde, das Zinswesen hingegen schrankenlos ausgeartet wäre . . . 2 1 Umfassend war auch die Kritik der Tagung in derselben Zeitschrift: Eugen M. Kogon 2 2 sieht die Katholisch-Soziale Tagung von 1929 in der Nachfolge des Wirkens des Freiherrn von Vogelsang, von Franz M. Schindler, der Sozialen Woche von 1911 und moniert, daß diesmal die andere Richtung zu wenig zu Wort gekommen wäre. „Da nun Dr. Meßner, wie wir wissen, unter Kapitalismus lediglich die Produktion von Produktionsmitteln und die Geldrechenhaftigkeit als technisches Prinzip versteht ..., so hatte er sicher recht: gegen diesen auf ein Minimum zurückgeführten Kapitalismus hat die Kirche in der Tat nichts einzuwenden." Kogon zitiert Anton Orels Gegenrede auf der Tagung, für den der konkrete heutige Kapitalismus „widernatürlich" ist. Unter Verweis auf Othmar Spann wendet er sich dann gegen P. Gundlach SJ, die Scholastische Soziallehre habe keinen „Gegenwartswert". Die Vertreter des Solidarismus seien „durch die alles beherrschende liberale Schule hindurchgegangen" und könnten nur „Randdinge sozial verbessern; die wahre Tradition, wie sie in der Soziologie der Romantik vorliege, müsse wieder aufgenommen werden. Meßners Eigentumsbegriff sei ein „abgenagter Knochen", berichtet Kogon in einem zweiten Beitrag, 23 daher müsse der begrifflichen Schrankenlosigkeit des Privateigentums eine christliche Normierung — so Orel auf der Tagung — entgegengesetzt werden oder nach Othmar Spann das Zinsverbot vor kapitalistischer Entartung bewahrt werden. Im selben Jahr noch brandmarkt Joseph Eberle in der „Schöneren Zukunft" 2 4 die „Realpolitiker", denn „ohne Ausgehen von einem Idealbild sei die Wirklichkeit überhaupt nicht zu erfassen!" Diese sozialromantische Position reicht jedenfalls bis Vogelsang zurück und findet sich programmatisch in den sogenannten Haider-Thesen. In der Österreichischen Monatsschrift für Christliche Social-Reform von Freiherr Carl von Vogelsang findet sich im fünften Band 25 der Bericht „Eine sozialpolitische Debatte" (in zwei Folgen) aus seiner Feder. Dort findet sich auch der Abdruck der „von in einem Schlosse versammelten Sozialpolitikern gefaßten Beschlüsse ... zur Handwerkerfrage und zur Arbeiterfrage": 26 Als Ideal gilt das katholische Mittelalter. Ausgangspunkt ist der Eigentumsbegriff, der
21 Joseph Eberle, Der Kampf um Revision neuerer Wirtschaftsauffassungen, Schönere Zukunft, Jg. 1929, 605-606, 691-692, 715-717. 22
Jg. 1929,820-823.
23
a.a.O., 842-845.
24
Streitfragen katholischer Sozialwissenschafter, o. a., 881-884.
25
W i e n 1883, 337-409. 343-347.
26
Richtungen in der katholischen Soziallehre Österreichs
125
als „soziales Gesammteigenthum" auf Arbeit zurückgeht, und eine Stufenleiter von sozialen Arbeitern vom Kaiser abwärts bis zum Arbeiter. Allen stehen Anteile am Eigentum zu, alle haben Pflichten. Die gesellschaftliche Organisation folgt der sittlichen Ordnung. Die Handwerkerfrage ist durch die Innungen geordnet, die Arbeiterfrage durch den Arbeitsvertrag als Lohn- und Gesellschaftsvertrag innerhalb einer „korporativen Organisation der Großindustrie mit stufenweiser Gliederung von der einzelnen Fabrik bis zum gleichen Industriezweig". Ziel ist es, die Alleinherrschaft der Unternehmer einzugrenzen, die Arbeiter zum Stand aufsteigen zu lassen und so einen Teil des in der Industrie zu investierenden Kapitals auszuscheiden und zu einem korporativ zu verwaltenden Gesellschaftsvermögen zu machen. Durch diese Verbindung von Unternehmung und Arbeit sei der Arbeiter gegen jedes Klassenelend zu sichern. Also lautet das Ziel Stand und nicht Klasse wie im Sozialismus. In derselben Zeitschrift 27 würdigt Franz M. Schindler, der Wiener Moraltheologe und Sozialethiker, im Jänner 1891, neun Jahre später, das Lebenswerk Vogelsangs, der im November des Vorjahrs verstorben war. Er geht von den Ideen Vogelsangs aus, die gesellschaftliche Ordnung mit der gewerblichen Berufsarbeit zu verbinden und so die Arbeit sozial einzugliedern. Dadurch würde eine naturgemäße Gliederung der Gesellschaft und des Gemeinwesens zu Berufsgenossenschaften entstehen. Diese würden also Glieder des Ganzen sein, die als Berufskorporationen „in ihrer Beziehung zum Ganzen autoritativ (sie!) geregelt" sind. Dadurch würde das rechte Maß von Freiheit und Gebundenheit erzielt werden. Vogelsang ging es nach Schindler bei der Neuordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse um einen „Grundgedanken, welcher der christlichen Auffassung, derselben allein, entspricht: Das Ziel der gesamten Wirtschaft ist der Mensch". Vogelsangs Idee sei weder sozialdemokratisch noch kommunistisch, weise er doch der staatlichen Autorität weitgehende Pflichten und Rechte hinsichtlich der Regelung der Arbeit zu, jedoch in Verbindung mit der Leitung der Berufsgenossenschaften. Schindler sieht Vogelsangs Ideal, wie er schreibt, 28 wesentlich verwirklicht durch „solidarische Verbindung zwischen Werk und Arbeiter", durch „allgemeine Teilnahme der Arbeiter am Ertrag des Werkes nach einem allseits gerechten Maßstab". Vogelsangs Kampf gegen den Kapitalismus und gegen den Wucher, als arbeitsloses Zinsnehmen aus Kapital verstanden, richte sich gegen einen Kapitalismus als „Erbfeind einer gesunden nationalen Wirtschaft" und trete für „Sozialreform auf dem Boden des Christentums" ein. Bei Schindler ist
27 Jännerheft 1891, der Artikel ist bei Friedrich Funder, a.a.O., 162-171, wieder abgedruckt und leichter zugänglich! 28 a.a.O., 169 ff.
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also deutlich eine Interpretation Vogelsangs von einem Ordnungsdenken her zu erkennen, die keinen prinzipiellen Antikapitalismus verlangt. Auf dieser Linie finden wir Messner 1929 bei der Katholisch-Sozialen Tagung. Durch das Berufsethos in Verbindung mit den religiös-sittlichen Kräften würde der Mensch in den Mittelpunkt der Wirtschaft rücken. Dies sei nicht nur eine humanitäre Frage, sondern eine Rechtsfrage. 29 Daher gehe es bei der christlichen Sozialreform nicht nur um „sozial-karitative Wirksamkeit" der Kirche, sondern um „soziale Gerechtigkeit", jedem Stand und jeder Klasse stünde ihr Recht zu. 30 Messner sieht „in den Arbeiter-, Unternehmer- und Konsumentenverbänden wichtige Ansätze des Korporationsprinzips in Volkswirtschaft und Gesellschaft" und erinnert, daß dies auch der Sozialreform nach Vogelsang ganz entspräche. Es sei klar, daß „neben den korporativen Verbänden, in denen zunächst Selbstverantwortung und Selbsthilfe der Einzelnen wie der einzelnen Berufe und Stände zur Geltung kommen, dem Staat gegenüber den heutigen sozialen Fragen große Aufgaben" infolge seiner Gemeinwohlsorge zufielen. Er hebt die Regelung der Eigentumsordnung und den Ausbau des Arbeitsrechts weiters hervor. Der Betrieb, wo sich Eigentum und Arbeit unmittelbar berührten, sei für die soziale Befriedung durch die Schicksals- und Arbeitsverbundenheit im Ganzen der Volkswirtschaft Ausgangspunkt für Wirtschaftsdemokratie. 31 Besitz bzw. Kapital müßten so mit der Arbeit aus ihrem Trennungsverhältnis durch die christliche Sozialreform zusammengeführt werden. Das Eigentumsrecht einerseits müsse die Eigentumsverpflichtung im Eigentumsgebrauch und im Interesse des Gemeinwohls ebenso entwickeln wie die Eigentumsverteilung verbessern, das Arbeitsrecht andererseits aber ausgebaut werden. 32 Im Fastenhirtenbrief vom 1.2.193233 nehmen die österreichischen Bischöfe gegen den innerkatholischen Sozialradikalismus Stellung und treten im Bezug auf das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern für „wahre Gemeinschaften ... zwischen den Mitgliedern derselben Berufskreise und Frieden zwischen allen Berufsständen" ein. Im gleichen Monat erscheint ein Pastoralschreiben der Bischöfe zu den Aufgaben der Seelsorge und der Katholischen Aktion nach „Quadragesimo anno", 34 und kurz danach hält 29
Vgl. a.a.O., 26 ff.
30
Vgl. a.a.O., 25. a.a.O., 22-24.
31 32
Bei derselben Tagung hielt Messner ein weiteres Referat, Eigentums- und Arbeitsrecht in der christlichen Sozialreform, a.a.O., 70-88, im obigen, sehr kurz gefaßten Sinne. 33 Wiener Diözesanblatt LXX/1, 2; 1-7. 34 o. a. Diözesanblatt, 9-13.
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Kardinal Friedrich Gustav Piffl vor dem Volksbund eine Rede über die Enzyklika „Quadragesimo anno". 35 Gleicherweise für Interessenvereinigungen wie christliche Gewerkschaften und katholische Arbeitervereine oder für Organisationen des Bauernstandes und des Mittelstandes wie für Vereinigungen unter den Arbeitgebern sprechen sich die Bischöfe aus wie ebenso für Stände und die Erziehung zu berufsständischer Gesinnung (so Kardinal Piffl). Piffl sieht auf dem Weg zur berufsständischen Ordnung damals 1932 zunächst die Aufgabe, Verbände der Interessenvertretungen auf dem Arbeitsmarkt zu bilden. Ziel wäre es, daß die Klassenorganisationen mithülfen, „sich selber und andere zu berufsständischem Geiste" zu erziehen. Die Klassengegensätze würden aber noch länger andauern! Sie wären legitim, aber es bestünde auch die Gefahr klassenmäßiger Betrachtungsweise. Klerus und Sozialapostolat der Laien hätten hier eine Erziehungsaufgabe. Inzwischen ging die Polarisierung unter den Richtungen der christlichen Sozialreform in Österreich weiter. Eugen E. Kogon berichtet in der „Schöneren Zukunft" 3 6 von einer Katholisch-Sozialen Schulungstagung in Wien vom 20. bis 22. Oktober 1931, bei welcher Dr. Johannes Meßner zur „Eigentumsfrage nach Quadragesimo anno" referiert habe, wobei der überwiegende Teil seines Vortrages nur aus Polemik bestanden hätte. Ignaz Seipel, so berichtet er weiter, sehe im Parteienstaat ein „sinkendes Schiff" und setze auf eine neue Gesellschaftsordnung. Für Bischof Sigismund Waitz wäre auch der Arbeitsmarkt nicht mehr i m Mittelpunkt, sondern die Gesellschaftsordnung. Vom Berufsstand her solle nach Waitz Einheit in die Vielheit kommen. Bis zu dieser Zeit, 1932, lassen sich aber, genau betrachtet, aus den von der Position der sozial-realistischen Richtung vorgetragenen Äußerungen — betreffend die prinzipielle Sozialordnung angesichts der sozialen und politischen Verhältnisse — keine konkreten Modellvorstellungen, etwa für eine Verfassungsreform in Richtung Ständestaat, herauslesen. Vielmehr sieht man aus der Kritik, die damals gerade von den antisolidarischen Positionen christlicher Sozialreformer her kam, die fortdauernde Forderung nach tiefgreifenden Änderungen des Sozialsystems aus einem im letzten aber doch diffusen Antikapitalismus. Darin zeigt sich eine innere Nähe zur sozialdemokratischen doktrinären Klassenposition und ihrer Arbeitswertlehre im Sinne eines Paradigmenwechsels im Sozialsystem als Modellvorstellung weg vom klassischen Recht auf Privateigentum.
35
36
Reichspost vom 8. März 1932, Seite 2. Jg. 1931, 128 f.
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II. „Stand oder Klasse"? Im Vorwort zu Anton Pelinkas Buch „Stand oder Klasse?" kommt Karl R. Stadler 37 zur Behauptung, die immer wieder auch von Autoren der gegenwärtigen katholischen Soziallehre in Österreich, insbesondere solchen der Katholischen Sozialakademie nahestehenden, mehr oder minder übernommen wird: „Die Problemstellung Stand oder Klasse war ja in der Entwicklung der modernen Industriegesellschaft impliziert und wurde durch den Marxismus in der Arbeiterbewegung aktualisiert. Gegen den materialistischen Klassenbegriff zog die bürgerliche Wissenschaft zu Felde und versuchte ihre sittlich verschiedenen Konstruktionen zu »überwinden'... Vollends widerlegt' wurde der materialistische Klassenbegriff aber erst mit dem idealistisch-ganzheitlichen Standesbegriff... Die politischen Konsequenzen dieser Spekulationen — von den Vertretern oft gar nicht gewollt oder nicht so gewollt — waren der autoritäre Ständestaat oder der offene Faschismus." Man wird Stadler anerkennen müssen, daß er den Vertretern der ständischen Ordnung vielfach auch gute Absichten konzediert. 38 Daß er aber von seiner marxistischen Sozialanalyse ausgeht, steht ebenso fest durch die Antithese von materialistischem Klassenbegriff und idealistischem Standesbegriff, welch letzterer eben notwendig zum Faschismus führen mußte. Sein Sozialdeterminismus läßt für ihn eine soziale Reform auf institutioneller und geistiger Ebene nicht zu oder eine Trennung in sozialphilosophische und sozialwirtschaftliche Sicht der sozialen Frage jener Zeit. Der autoritäre Ständestaat war für ihn die logische Alternative zum demokratischen Weg zur Diktatur des Proletariats. Die sozial-realistische Richtung der christlichen Sozialreform mußte also, ob willens oder nicht, zum Faschismus führen. Ihre Kritiker aber stünden daher der Arbeiterklasse mit ihrem Antikapitalismus näher, wenn auch ihre Kapitalismuskritik zur Überwindung des Klassengegensatzes mittels eines Eigentumsbegriffs, der die Besitzenden aus ihrer „individual-kapitalistischen Herrschaftsposition" in die auf Ar37
W i e n 1977, 7. Der Begleitband zur Ausstellung „Zeit-gerecht" in Steyr, aus 1991, unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Alois Riedlsperger und Univ.-Prof. Dr. Emmerich Talos, ersterer Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs, einer Einrichtung der Österreichischen Bischofskonferenz, kommt zu einem viel härteren Urteil. In einem Offenen Brief österreichischer Historiker zur Ausstellung schreiben diese unter 3., Kirche, Nationalsozialismus und Ständestaat, u.a.: „Dem ,Austrofaschismus' wird der,Deutsche Faschismus' parallel gesetzt (Beiband, S. 130,132), statt den Nationalsozialismus gerade in seinem Kampf gegen den österreichischen Ständestaat beim Wort zu nehmen. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Ständestaates wird durch das stacheldrahtumzäunte Bettlerlager in Schlögen 1935 illustriert und bösartig diskreditiert (vgl. auch Beiband, 153)." Der offene Brief ist abgedruckt in: Gesellschaft und Politik 27. Jg. (1991) Nr. 4, 7-12. 38
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beitsleistung fundierte Wirtschaftsgesellschaft zurückgeholt hatte, ungenügend war. Dazu wäre eine fundamentale Gesellschaftsänderung nötig gewesen, das Setzen auf den Arbeiter-„Stand" statt die Arbeiter-„Klasse" wäre zu schwach. Othmar Spanns Ganzheitstheorie der Gesellschaft, sein Universalismus mit dem Staat an der Spitze, hatte gewiß eine besondere Nähe zum Nationalsozialismus bzw. Faschismus jener Periode als Gegenmodell zum marxistischen revolutionären Konzept. Aber auch der diffuse Antikapitalismus aus einer Wirtschaftsphilosophie zur Überwindung des Kapitals und seines Ausbeutungszwanges bei christlichen Sozialreformern stellte eine in der Wirkung revolutionäre Reform dar, weil sie auch die von den „Solidaristen" anerkannte kapitalistische Wirtschaftsweise ablehnten. Sie schienen aber die wahren „Reformer" zu sein. Die nunmehr von den Bischöfen geförderten „Solidaristen" der Katholischen Aktion aber hielten sich in der christlichen Sozialreform auf der Linie der Sozialenzykliken und fanden sich in ihrem Sozial-Realismus revisionistisch mit der faktischen Lage in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ab. Schließlich verstand sich die katholische Soziallehre und die Christliche Arbeiterbewegung aus Legalitätshaltung zur Regierung Dollfuß, wenn auch mit gewissen Vorbehalten, wie Anton Pelinka schreibt, 39 als Teil des Regierungslagers in der Krise von 1933 und als Stütze des folgenden Ständestaates. Für Anton Pelinka 40 existierten im christlich-sozialen Lager jener Zeit „zwei gesellschaftspolitische Traditionsströme nebeneinander: die eine 41 , die vor allem die Kapitalismuskritik Vogelsangs fortführte", wäre nach ihm mit dem Begriff der Sozialreform umrissen, lehnte sie doch „die kapitalistische Wirtschaftsordnung prinzipiell ab". Für den anderen „Traditionsstrom" stand nach Pelinka „der Begriff Sozialpolitik", weil er „die vorgegebene kapitalistische Wirtschaftsordnung" grundsätzlich akzeptierte und die „sozialen Probleme durch konkrete Maßnahmen systemimmanent lösen" wollte. Auch die Christliche Arbeiterbewegung hätte sich zur Tradition Vogelsangs bekannt, wäre „eindeutig gegen den Kapitalismus" gewesen und „gegen das herrschende »ökonomische Prinzip'". Wenn es auch nicht mit der gleichen Schärfe wie bei Anton Orel geschehen wäre, sieht Pelinka dennoch „einen ideologischen Graben offen" zwischen der Christlichen Arbeiterbewegung und der „Richtung Sozialpolitik", deren führende Vertreter die
39
a.a.O., 37.
40
a.a.O., 248 f. Vermutlich meint der Autor hier den Traditionsstrom!
41
9 Festschrift Schasching
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„Solidaristen" wie u. a. „Richard und Hans Schmitz, Messner, Biederlack und Dobretsberger" wären. 42 Die Lagertrennung in „Sozialreform" und „Sozialpolitik" aus ideologischen Gründen ist ein Fehler Pelinkas und auch derer, die ihm folgen. Sie weisen sich daher in ihrer historischen Sozialanalyse als ideologisch befangen aus. Diese ideologische Befangenheit hindert sie auch, sozialphilosophisches Ordnungsdenken mit ökonomischer Sachkenntnis zu verbinden. Sie identifizieren den Kapitalismus mit seinen Auswüchsen und setzen auf eine sozialistische Alternative, auch wenn Vertreter dieser Richtung an eine christliche Alternative zum ideologisch so verstandenen Kapitalismus glauben möchten. Die Frage ist aber — und das kommt auch bei Pelinka wie bei vielen anderen Interpreten Vogelsangs, z. B. dem oben genannten Franz M. Schindler, zum Ausdruck —, ob die christliche Kapitalismuskritik nicht wesentlich ordnungskritisch von den sozialphilosophischen Prinzipien her ist und daher in der sozialwirtschaftlichen Realität nicht gegen die Sachgesetze der Wirtschaft Reformpolitik machen kann. Es gibt dann nur den realistischen Weg zur Sozialreform durch Sozialpolitik, wohl auch im Bereich der Institutionen und deren Veränderbarkeit und der begleitenden Gesinnungsreform. Den antikapitalistischen Weg an Angebot und Nachfrage und Privateigentum vorbei gibt es allerdings nur als Utopie, Prophetie oder Anarchie, solange der Mensch ein sittliches und soziales Wesen auf Erden ist und nicht sozialer Determinismus den historischen Blick trübt.
I I I . Berufsständische Ordnung — (natürliche) Gesellschaftsordnung oder (staatliches) Sozialsystem? In der Rückblende auf diese Zeit und diese Situation damals ergibt sich die auch heute in Österreich aktuelle Frage nach dem „dritten Weg" zwischen Sozialismus und Kapitalismus als System oder Modell der sozialwirtschaftlichen Kooperation. Das sozialphilosophisch und -ethisch mitbestimmte Ordnungsdenken kann aber nicht auf der gleichen Ebene wie die Sachgesetze der Sozialwirtschaft verwendet werden. Der Markt und die kapitalistische Wirtschaftsweise sind eine soziale ökonomische Gegebenheit, die erst durch den handelnden Menschen Wirklichkeit wird, ein Rahmen, der wesentlich Ordnung durch den Menschen braucht, soll er mehr oder weniger funktionieren. Daran führt kein Weg vorbei. Alle grundsätzlich als ökonomische Alternativen gedachten Modelle haben sich auch in der Praxis falsifiziert und sind ideologisch deterministisch begründet. 42 Der hier von Pelinka genannte Jesuit Biederlack wirkte um die Jahrhundertwende und war nicht mehr Zeitgenosse!
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Die Ausrichtung am christlichen Menschenbild sollte die antikapitalistischen Strömungen in der katholischen Sozialreform in Österreich dennoch auf Abstand zum ideologisch marxistisch bestimmten Sozialismus und seinem Modell der Überwindung des Kapitalismus halten. Bis heute kommt es aber innerhalb der katholischen Soziallehre in Österreich im Bereich der Sozialreform und in der Kapitalismuskritik zu stark verschiedenen Standpunkten in konkreten ökonomischen und politischen Fragen wie auch i m Bereich sozialethischer Begründung oder sozialtheologischer Ableitungen. 43 Auch bei wohlwollender Interpretation erhebt sich allerdings neuestens die Frage an die Verantwortlichen der Katholischen Sozialakademie Österreichs, ob sie bei der Bevorzugung der antikapitalistischen Tradition der katholischen Soziallehre in Österreich nicht schon das rechte Maß verloren haben. Die oben (Anmerkung 38) bereits erwähnten Kritiker der Ausstellung zur kath. Soziallehre im Steyr, 1991, und ihres Begleittextes schreiben in ihrem Offenen Brief jedenfalls einleitend im Abschnitt 4. Standpunkte der katholischen Soziallehre: „Die Positionen der katholischen Soziallehre werden bei einem Gang durch die Ausstellung nicht herausgearbeitet bzw. sie werden in den schriftlichen Beitexten merkwürdig distanziert referiert. Das Defizit ist nicht nur ein quantitatives in dem Sinn, daß in einer Ausstellung über die katholische Soziallehre diese selbst und ihre Zeugnisse eher sekundär gezeigt werden. Daß das Prinzip des christlichen,Solidarismus 1 i m Gegensatz zur marxistisch-sozialistischen Klassenkampf 1 -Ideologie auf weite Sicht auch eine bessere Lösung für die Arbeitnehmer darstellt und nicht einfach eine Verteidigungsposition für die Arbeitgeber-Kapitalisten ist, wird solcherart nicht einmal zur Diskussion gestellt." Jedenfalls hat es auch innerkatholisch oft am Verständnis für die damals als „Sozialpolitiker 11 apostrophierten Vertreter der sozial-realistischen Richtungen bis heute gemangelt, wofür immer noch der Vorwurf an sie von fehlender Kapitalismuskritik eine Rolle spielt. Ein immer noch nicht voll geklärtes Kapitel ist dabei die Beurteilung der Verbindung vor allem der Vertreter dieser Richtung, die damals die in der Kirche führende war, mit Johannes Messner an der Spitze, in Verbindung mit dem Experiment des österreichischen Ständestaates von 1934 bis 1938. 43
Der Verfasser erinnert sich an einen Artikel, der in der Academia ein Interview mit dem damaligen Direktor der Katholischen Sozialakademie, P. Dr. Walter Riener SJ, nicht lange vor seinem Tod wiedergab, wonach Johannes Messner und auch sein Nachfolger an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität W i e n „zu konservativ" für ihn wären! Die Fortsetzung dieser Richtungszuweisung für die folgenden Direktoren sachlich zu untersuchen, sollte interessant sein. Eine weitere Frage ist, wann antikapitalistische Einstellung die ökonomischen Sachgesetzlichkeiten zu negieren beginnt und zur ideologisch-sozialistischen Position wird, die mit den Prinzipien der katholischen Soziallehre nicht mehr vereint werden könnte.
9*
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Der berufsständische Gedanke war bei Johannes Messner eingebettet in die Vorstellung eines natürlichen Pluralismus der Gesellschaft, auch im Bereich der Wirtschaft. Dies folgt eindeutig aus seinem schon zitierten Grundsatzreferat bei der Katholisch-Sozialen Tagung in W i e n 1929.44 Von diesem Grundgedanken ist Messner auch nach 1934 nicht abgegangen. Vielmehr hat er sich in seinem Werk „Die berufsständische Ordnung" 45 eingehend damit befaßt als Weg der Sozial- und Wirtschaftsreform, keineswegs als Rezept der Staats- und Verfassungsreform in Österreich. Es gibt heute viele Hinweise, daß sich diese Gedankenströme mit den Erfahrungen und Entwicklungen in Österreich während der Kriegs jähre im Untergrund und vor allem nach der erneuten staatlichen Wiedererstehung Österreichs in die sozialpartnerschaftliche wirtschaftliche Kooperation ausgewirkt haben. 46 Wie von unbefangener Sicht ein prominenter liberaler Ökonom damals Messners Ansatz unter den herrschenden politischen Verhältnisse gesehen hatte, zeigt eine Buchbesprechung zum Werk Messners über die Berufsständische Ordnung von Wilhelm Röpke, auf die einmal Messner selbst den Verfasser hingewiesen hat. Röpke schreibt damals 1937 unter dem Titel „Die Naturordnung von Gesellschaft und Wirtschaft": 47 In der (damals) beginnenden Erholung nach der Weltwirtschaftskrise würden bloße Umbauten des Wirtschaftssystems durch ausgeklügelte Kreditformen noch keine Lösung der Probleme höherer Ordnung sein. Es gelte, die „seelisch-moralischen Bruchstellen unseres Wirtschafts- und Sozialsystems" zu untersuchen, aus der „unfruchtbaren Polarität ,Laissez-faire-Planwirtschaft'" herauszukommen. Röpke sieht eine Möglichkeit zur wirklichen aktiven Mitarbeit an der Lösung dieser Probleme im »„totalitären Sektor' der Welt" damals nicht mehr gegeben, würdigt aber gerade Messners Buch als Beitrag zur Lösung: „Es ist in der Tat ein überaus wertvoller Beitrag ... geschrieben von einem der Berufensten, der tiefe philosophische und soziologische Bildung mit dem Blick des erfahrenen Sozialethikers und mit intimer Kenntnis des Wirtschaftslebens und seiner Gesetze verbindet." Er selbst könne „das Problem kaum anders... sehen als der Verfasser". Und auch Röpke bekennt sich zum Weg einer „Wiedererweckung des Berufsgedankens". Mit Messner stimmt er überein, daß es nicht um „den Schein-Ständestaat des totalen Staates" geht, sondern um den „schmalen Grat" zwischen dem „Abgrund des totalen 44 45 46
a.a.O., 22. Innsbruck 1936.
Vgl. Rudolf Weiler, Wirtschaftliche Kooperation in der pluralistischen Gesellschaft, W i e n 1964, 378 ff. Vgl. ferner Alfred Klose in vielen Publikationen, besonders in: Ein Weg zur Sozialpartnerschaft, W i e n 1970. 47 Monatsschrift für Kultur und Politik, 2. Jg. (1937), 325-332.
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Staates" und der „Wolfsschlucht der Interessenanarchie". Nicht im Detail, „nicht in allen Stücken" war Röpke mit Messner eins. Er sah die Schwierigkeit des Unterfangens, für das noch kein allgemeingültiges Rezept angegeben wäre. Es gäbe noch viele Hinweise aus Dokumenten der Christlichen Arbeiterbewegung zwischen 1934 und 1938, wie sie gezwungen war, zwischen der politischen Wirklichkeit und ihrem sozialreformerischen Streben zu unterscheiden. Das 1936 im Rahmen der Katholischen Aktion in Wien 8, Laudongasse 16, ins Leben gerufene Sozial-Wirtschaftliche Institut hält zum Beispiel in einer Denkschrift vom 15.3.1937 zur sozialen Lage mit Vorschlägen zur Behebung dringender Notstände fest: 48 Die Kirche selbst habe durch die Katholische Aktion Grundsätzliches zum Sozialaufbau in Österreich zu sagen, zur Würde und Verantwortung der Arbeit und des Berufs, zur sozialen Gerechtigkeit im Sinne der Verwirklichung des Sittengesetzes, da „Christentum, Kirche und staatliche Politik weitgehend identifiziert" würden. Der „christliche Sozialaufbau" sei „nicht Sache des Staates selbst, den christlichen Menschen zu bilden, Aufgabe der Kirche". Es wird festgestellt, daß für den „Einfluß der Arbeiterschaft auf die wirtschaftlichen und politischen Entschlüsse der Staatsführung heute praktisch äußerst wenig Raum" sei. „Was den berufsständischen Aufbau anlangt, wird die klare Aufzeigung und Durchführung der Schritte zur Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und der Entproletarisierung weitgehend vermißt." Kaum fänden sich echte Schritte, nur rechtliche Normen, aber keine organisatorischen Taten, ja keine Wendung zu neuer Gesinnung und zum Berufsethos! 49 Es verwundert daher einigermaßen, wenn bis heute zum Beispiel mittels der Ausstellung der Katholischen Sozialakademie in Steyr 50 der Anschein erweckt wird, als würde eine mit dem Begriff „Solidarismus" bezeichnete historische Richtung der katholischen Soziallehre mit dem „sozial-realistischen" Deckmantel einerseits kapitalismusfreundlich nur sozialpolitische Maßnahmen im System der Marktwirtschaft anpeilen und den „Antikapitalismus" vergessen, aber andererseits, um wieder Pelinkas Formulierungen zu zitieren, 51 mit dem Berufsgedanken sich einst für eine zwar totalitäre, aber immerhin für eine „Variante des autoritären Ständestaats" ausgesprochen haben. Ob dahinter nicht letztlich das Vorurteil steht, wer christliche Sozialreform betreibt und nicht für die (sozialistische) Klassenbildung gegen den Kapitalismus eintritt, ist in seinem Bekenntnis zu Reformen zumindest 48
Im Diözesanarchiv in W i e n aufbewahrt (Nachlaß Prälat Dr. Karl Rudolf). Der Verfasser weiß vom Leiter des damaligen Wiener Pastoralinstituts, Dr. Karl Rudolf, und von Johannes Messner selbst um das starke Engagement Messners in der damaligen Katholischen Aktion für die Arbeiterfrage! 49
50
Siehe o. a. Begleittext.
51
a.a.O., 252.
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suspekt und durch Vergangenheit belastet? Stand oder Klasse als revolutionäre Wege oder doch Reform der Sozialwirtschaft ohne Klassenkampf? Was sagt die katholische Soziallehre wirklich? Ein Zeitzeuge und großer Kenner der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, schreibt 1966 im Rückblick anläßlich einer Buchbesprechung 5 2 über den dort behaupteten verhängnisvollen „Irrtum in bezug auf die deutschen ,Solidaristen' und den berufsständischen Gedanken". Zunächst wären den „Solidaristen" und in der Folge auch der Enzyklika Quadragesimo anno „gerade von den sogenannten »Wiener Richtungen'" eine „allzu kapitalismusfreundliche Haltung" nachgesagt worden. Sie galten den Kritikern nur als „praktische Sozialpolitiker". Nun wäre, so sieht von Nell-Breuning den Widerspruch, „Ende der zwanziger Jahre im Solidarismus plötzlich die berufsständische Idee als neues Gestaltungsprinzip des gesellschaftlichen Lebens aufgetaucht". 53 Die Solidaristen würden „eine von ihnen vorher als überholt angesehene Ideologie" nun wieder hervorgeholt haben. Mindestens für die „deutschen ,Solidaristen'" und für Quadragesimo anno kompetent weist von Nell-Breuning jede Verbindung des berufsständischen Gedankens „mit dem faschistischen Korporationenstaat zurück". „Der Altmeister der katholischen Soziallehre in Österreich, Johannes Meßner", weile noch unter den Lebenden, schreibt er. Dies zu berichtigen, müsse ihm selbst überlassen bleiben. Gegen einige seiner Redewendungen aus jener Zeit könne man heute „Verschiedenes einwenden. Nicht nur ungehörig, sondern ungerecht aber ist es, sie als bedauerliches Zeugnis' dafür anzugeben, ,wie dem österreichischen Ständestaat ein katholisches Mäntelchen umgehängt wurde' (237)". 54 Zu einem ganz anderen Urteil als Pelinka kam zuletzt Kriechbaumer in seiner Untersuchung zu 100 Jahre Rerum novarum, über die Haltung der christlichen Arbeiterbewegung und führender Vertreter der katholischen Soziallehre zum Ständestaat: 55 „In der Phase der allmählichen Transformation der österreichischen Demokratie 1933/34 und des autoritären christlichen Ständestaates wurden ,Rerum novarum' und »Quadragesimo anno' zu den wichtigsten Instrumenten der christlichen Arbeiterschaft im Kampf gegen eine autoritäre Interpretation des Ständegedankens sowie das Bemühen um einen sozialpolitischen Kahlschlag durch die Vertreter von Industrie 52 Österreichs Katholiken und die Arbeiterfrage, in: Stimmen der Zeit, 178. Bd., 150-153, zu Gerhard Silberbauers Buch gleichen Titels, Graz 1966. 53
Zitiert nach Silberbauer, 229, a.a.O., 151. a.a.O., 152. (Die Seitenzahl im Zitat bezieht sich auf das Buch) 55 a.a.O., 267. Seine Beurteilung ist allerdings etwas zu vereinfacht vorgetragen und bedürfte noch mehr Quellenstudien, um jenen Personen und ihrer Zeit gerechter zu werden! 54
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und Gewerbe. In dieser doppelten Frontstellung erhielt sie von führenden Vertretern der katholischen Soziallehre wie Gustav Gundlach, Josef Pieper und Johannes Messner Unterstützung."
IV. „Unterwegs mit den Menschen" (J. Schasching) — keine „drei Wege" Besonders in unserem Fragestand ist es wichtig, mit von Nell-Breuning hervorzuheben: „die Konzeption einer gesellschaftlichen Ordnung" ist kein „sozial-ethisches Rezept" zur Sozialreform auf den Ebenen der Institutionen und der Gesinnung. 56 Der Fehler bei der Beurteilung von Richtungen der katholischen Soziallehre gestern und heute innerhalb derselben — und von außen gesehen noch mehr! — liegt an der mangelnden Unterscheidung von Ordnungsdenken im Grundsätzlichen und von Wegen in die Umsetzung. Der Versuch einer Alternative zur geschlossenen Klassenideologie des Sozialismus und zur liberalistischen Freisetzung des individuellen Wirtschaftsinteresses im kapitalistischen Modell kann nicht in einem romantischen antikapitalistischen Ideal gesehen werden. Man kann dies als Romantik an Vogelsang festmachen 57 oder auf ein funktionierendes Modell eines Laborismus in Zukunft setzen wollen. Heute kommt noch die Überlegung hinzu, ob das Problem der Entwicklung der Völker (in der Dritten Welt) oder das ökologische Problem in Verbindung mit der prognostizierten Bevölkerungslawine demokratisch und marktwirtschaftlich lösbar sein wird. Die Belastbarkeit der Volkswirtschaft mit ideologischen Rezepten hat als Tatsachenerfahrung aus der Geschichte ihre Grenze. Dem Menschen bleibt zuletzt nur seine Vernunft und Gesinnung. Das unbestreitbare Verdienst des heutigen Altmeisters der katholischen Soziallehre in Österreich, Johannes Schasching, ist es nun, die „Soziale Botschaft der Kirche" auf den Weg der Solidarität zu führen, um ein Wort zu gebrauchen, dessen modernen Klang er mitgeprägt hat, und zwischen Richtungen und Deutungen zu vermitteln. Nach seinem Kommentar 5 8 vertritt Quadragesimo anno „die sittliche Forderung, daß sich gerade im Raum der modernen Wirtschaft ... zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Formen höherer Solidarität ausbilden" als „Grundgedanke der sogenannten berufsständischen Ordnung", ohne konkrete Anweisungen zur 56
a.a.O., 153. Die Interpretation der Lehren Vogelsangs, wie sie z. B. selbst Kriechbaumer, a.a.O., 258, vornimmt, ist von ihm von späteren Epigonen zum Beispiel übernommen und, wie oben der zitierte Artikel von Franz M. Schindler beweist, aber auch anders möglich! 57
58
Die soziale Botschaft der Kirche, W i e n 21953, 46.
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Verwirklichung zu geben. Pius XII. habe hingegen nur sehr ausführlich über Berufsethik gesprochen. In seinem jetzt erschienenen Kommentar zu Centesimus annus 59 spricht Schasching anhand der Enzyklika immer wieder von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, an der dann der Markt „von den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert" werden könne. Er spricht von Gewerkschaften, der Solidarität der Nachbarschaft, in der Arbeit 6 0 und insgesamt von Gesellschaftsstrukturen zu dieser Solidarität, vom „Zwischenkörper der Sozialpartner". 61 Doch dies alles sei kein Wirtschaftssystem, sondern das seien Ordnungsvorstellungen. 62 Keineswegs seien dies konkrete Modelle! 6 3 W i e also das „Solidaritäts-Netz" nach der katholischen Soziallehre im einzelnen zu knüpfen wäre, bleibt mit Schasching offen. Ihm geht es darum — das als Mahnung an andere Fachkollegen —, dieses Netz universal und möglichst dicht und wirksam zu machen. Richtungen in der katholischen Soziallehre in Österreich gab es und wird es weiter geben, so wie es Kritik an kapitalistischen Ausbeutungserscheinungen und Auswüchsen gab und geben wird. Daher wird es auch immer eine Bandbreite von sozialreformerischer Kritik und von Optionen für Reformvorschläge geben. Ein prinzipieller „Antikapitalismus" gegen volkswirtschaftliche Vernunft als sozialistische Ideologie oder als ein Modell solcher Art zu vertreten, liegt nicht in der Kompetenz der Soziallehre der Kirche und ihrer wissenschaftlichen Mitgestalter.
59 60 61 62 63
Unterwegs mit den Menschen, 35. a.a.O., 39. a.a.O., 41. a.a.O., 60. a.a.O., 95.
II. Kirche, Staat, Gesellschaft
KATHOLISCHE RECHTSTHEOLOGIE — EIN DESIDERAT Von Klaus Demmer
Die katholische Moraltheologie hat sich im Verlauf ihrer wechselvollen Geschichte ein waches Gespür für Zeitströmungen bewahrt. Das ist sie ihrem Auftrag schuldig, denkt sie doch über das umfassende und sinnvolle Gelingen des Lebens in handlungsleitender Absicht nach. Sie ist dem Zeitgenossen zumal dort nahe, wo ihm Gefährdungen drohen und eindeutige Orientierung verlangt wird. Nun ist es noch nicht allzu lange her, daß den Moraltheologen eine unverkennbare Rechtsvergessenheit, wenn nicht gar Rechtsverdrossenheit auszeichnete. Das Wort vom Juridismus der manualistischen Tradition machte die Runde, und es hielt schwer, sich seiner verführerischen Sogwirkung zu entziehen, zumal wenn es sich mit einer globalen Verdächtigung falsch verstandener oder fehlentwickelter Kasuistik verband. Gleichwohl zeigt die Magnetnadel seit einiger Zeit in eine andere Richtung. Zwischen Moraltheologie und Rechtswissenschaft — so scheint es — schwinden die Berührungsängste, beide Parteien gehen wieder aufeinander zu, Solidarität und gemeinsame Verantwortung sind angesagt. Das hat in jüngster Zeit die Diskussion um Grundwerte und Grundrechte erwiesen. Moraltheologe und Jurist saßen auf einmal im gleichen Boot und erwarteten voneinander Hilfe. Für die Gegenwart gilt ein Gleiches, und wenn der Anschein nicht trügt, hat sich die Situation noch verschärft. Nun drängt sich eine entscheidende Frage auf: Ist der Moraltheologe als Theologe und nicht als philosophischer Ethiker für die neue Kontaktnahme genügend gerüstet? Hat er sich gar durch Unterlassung schuldig gemacht, indem er der theologischen Rechtsbegründung ein eher mäßiges Interesse entgegenbrachte? Von einem allseits überzeugenden und in sich schlüssigen Entwurf katholischer Rechtstheologie ist jedenfalls weit und breit nichts zu sehen, ganz im Unterschied zur evangelischen Theologie, die ein Vielerlei von Ansätzen beheimatet. 1 Das ist bedauerlich und zugleich Grund genug, die folgenden Ausführungen zu legitimieren. Verlorenes Terrain muß gutgemacht werden, und die Moraltheologie kann von diesem Versuch auch dort profitieren, wo sie gar nicht ausdrücklich Rechtsfragen behandelt.
1
Erinnert sei an Namen wie H. Dombois, D. Pirson, Erik Wolf und W. Pannenberg.
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I. Rechtsphilosophische Präliminarien ί. Die Rechtsordnung als Schutzordnung Der Moraltheologe überwindet zunehmend die engen Grenzen einer rein individualethischen Fragestellung samt der ihr eigenen Methodologie. Die weitgehende Vernetzung individuellen Handelns mit gesellschaftlichen Prämissen wird klarer erkannt. Das gilt zum einen für die wachsende Komplexität gesellschaftlicher Strukturen; Systeme und Subsysteme differenzieren sich aus und entwickeln eine schwer zu kontrollierende Eigendynamik. Der Funke springt aber auf die Ebene des Geistes über, auch das Denken wird unübersichtlicher, integrative Ansätze haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, dem einzelnen kommt die umfassende Orientierung abhanden. Da ist es kein Wunder, wenn das Entscheidungsrisiko zunimmt. Angesichts dessen erwacht die verständliche Neigung, sich in ein unangreifbares Nischendasein zurückzuziehen, eine Privatmoral aufzubauen, die der kritischen Nachfrage von Seiten der Öffentlichkeit entzogen ist und jeder Forderung nach Legitimation ausweicht. Moral verkommt zur Privatsache, sie steht un verbunden, ja geradezu hilflos neben einem öffentlichen Handeln, das in Systemzwänge eingelassen und von pragmatischen, utilitaristischen und technizistischen Kategorien geleitet ist. Der einzelne sieht sich außerstande, in Dimensionen einer öffentlichen Moral zu denken, die Aufgabe der Vermittlung gelingt ihm nicht. Ein solcher Zustand muß aber über kurz oder lang in einer menschlichen Katastrophe enden, denn Schizophrenien sind auf Dauer nicht lebbar. 2 Auf der anderen Seite begegnet die verhängnisvolle Tendenz, im Recht eine Zuflucht für die eigene Entscheidungsschwäche zu erblicken, Erwartungen an das Recht heranzutragen, die es weder erfüllen kann noch will. Was der einzelne zu entscheiden sich nicht zutraut, das überantwortet er dem juristischen Sachverstand. So werden Moralprobleme unterderhand zu Rechtsproblemen umstilisiert, der Richter soll einspringen, wo das Einzelgewissen sich überfordert sieht. Nicht selten ist die Rede von einem wachsenden Legalismus. Das Recht übt eine wohlfeile Entlastungsfunktion aus, wer das Recht auf seiner Seite hat, macht sich unangreifbar, ja er enthebt sich sogar der Notwendigkeit weiteren Nachdenkens. Recht bekommen ist ein ursprüngliches menschliches Verlangen, man will sich mit einer geltenden Ordnung identifizieren, und wie dies gelingt, entscheidet über die Selbstachtung. Daß es eine bleibende Spannung zwischen Recht und Moral gibt, daß es immer neuer denkerischer Vermittlungsanläufe bedarf, die dann auch i m persönlichen Lebenszeugnis eingelöst sein wollen, wird nicht mehr 2 Dazu J. P. Wils, Tugend und Strukturveränderung, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 30 (1989), S. 35-60.
Katholische Rechtstheologie — ein Desiderat
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wahrgenommen. Schließlich ist kein System so perfekt, daß es nicht flankierender und korrigierender Maßnahmen bedürfte, die moraltheologische Tradition sprach von der Tugend der Epikie. Übererwartungen an das Recht zeigen die Tendenz, sich in ein Anspruchsdenken zu kleiden, das den Bereich des öffentlichen Lebens einseitig unter das Vorzeichen der Forderung stellt, hochherziger Einsatz beschränkt sich auf den überschaubaren Raum des Privaten. Die gezeichneten Tendenzen lassen sich als Negativfolie einer Gesellschaft verstehen, die den ganz unkomplizierten Wunsch nach Identifizierung erschwert. Das gegenwärtige pluralistische Gemeinwesen mit seiner gepriesenen Toleranz kann ein tiefes Unbehagen erzeugen, viele Menschen fühlen sich dem Anspruch demokratischer Spielregeln — allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz — nicht gewachsen. W i e hoch ist die Fähigkeit zur Toleranz eigentlich einzuschätzen, nicht in der Theorie, wohl aber in der alltäglichen Praxis, sobald es hart auf hart geht? Besitzt jedermann eine solche Kraft der Abstraktion, daß er einen mitunter tiefgreifenden Dissens partnerschaftlich überbrückt? Es gibt ein unstillbares Verlangen nach einer überschaubaren Lebenswelt; sobald die Tugend der Toleranz nicht von funktionierenden Kleingruppen aufgefangen wird, entstehen Intoleranz und Radikalismen aller Art. 3 A l l das ist Grund genug, das Verhältnis von Recht und Moral neu zu überdenken. Jeder Anschein schleichender Rechtsverdrossenheit muß vermieden werden. Das Recht bietet nicht nur unverzichtbare Entlastung, es kommt dem Wunsch nach Orientierung entgegen. Eine Handlungssicherheit entsteht, ohne die Selbstverwirklichung nicht gelingen kann. So gesehen schützt Recht die Freiheit, ehe es einzelne Rechtsgüter schützt. Es reißt aus der Atomisierung der vielfach konfligierenden sozialen Rollen heraus. Es befreit von der Verteidigungshaltung des Nischendaseins und nimmt in die öffentliche Verantwortung, weil es selbst öffentliche Geste der Solidarität ist. Und zudem fordert es klar umschriebene Leistungen, hinter dieser Zumutung verbirgt sich nicht nur Weisheit, sondern auch gelebte Erfahrung mit der Freiheit, ihren Möglichkeiten und Grenzen. Der Moraltheologe wäre der letzte, diese Kultur der Präzision zu unterschätzen, allein um der Sicherheit des Zusammenlebens willen. Gewiß konnten die jüngst verflossenen Diskussionen um das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit auf den ersten Blick den Eindruck von Rückzugsgefechten erwecken, man wurde sich zusehends der begrenzten Möglichkeiten des Rechts im Hinblick auf gelebte Sittlichkeit bewußt. 4 Doch der Eindruck trügt; Recht ist nicht 3
Vgl. W. Fach, Demokratie und Effizienz, in: Archiv für Rechts- und Sozialwissenschaften 64 (1978), S. 42 f. 4 Die Diskussion wird zusammengefaßt bei J. Gründel (Hg.), Recht und Sittlichkeit, Freiburg i. Ue. 1982. — Vgl. neuerdings auch P. Inhoffen, Recht als menschlicher
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Kontrahent, sondern Partner der Moral, Möglichkeiten differenzierterer Zuordnung beider zeichnen sich ab. Der kantische Dualismus von Legalität und Moralität hat in der katholischen Moraltheologie nur ein bedingtes Heimatrecht, gründet er doch in erkenntnisanthropologischen Prämissen, die sich in die eigene scholastische Tradition, sofern man sich zu ihr bekennt, nicht vollendet integrieren lassen. Aber wo liegen die Chancen eines zu belebenden Dialogs, der die jüngste Vergangenheit nicht diskreditiert, aber doch zugleich weiterführt?
2. Das kritische Naturrecht Die katholische Moraltheologie hat bemerkenswerte Anstrengungen unternommen, um das traditionelle Theorem des Naturrechts auf einen gegenwärtig gültigen wissenschaftstheoretischen Stand zu bringen. Von einem unkritischen Gebrauch metaphysischer Kategorien kann nicht die Rede sein, es herrscht ein ausgeprägtes Bewußtsein von der Notwendigkeit geduldiger phänomenologischer Kleinarbeit. Nicht, als ob sich auf Metaphysik verzichten ließe, in der Moraltheologie kann es gar kein Zuviel an Metaphysik geben. Nur bleibt von einem objektivistischen Essenzialismus Abschied zu nehmen, der da glaubte, an die Wirklichkeit des Sittlichen und konsequenterweise auch des Rechtlichen Maßstäbe anlegen zu können, die der geschichtlichen Befindlichkeit des Menschen nicht entsprechen. Wenn hingegen von Metaphysik die Rede ist, dann im Sinne einer neuen Bescheidenheit, einer bohrenden Rückfrage auf letzte untrügliche Gewißheiten in gleichzeitiger Offenheit für innovative Kompetenz der sittlichen Vernunft. Der kritische Moraltheologe bemüht sich um ein möglichst breites Spektrum von Wirklichkeitserfassung, Sinneinsicht und Interpretation treten hinzu und erstellen das Konstrukt einer normativen menschlichen Natur. Wenn im moraltheologischen Kontext das Wort Naturrecht auftaucht, dann liegt ihm ein ganzes Bündel geistiger Tätigkeiten zugrunde, angefangen von der exakten Phänomenanalyse bis hin zur Sinneinsicht, Schlußfolgerungen und Begründungen sind in sie hinein verwoben. Gewiß wird das scholastische Erbe auf ein differenzierteres Fundament gestellt — der lange Schatten Kants läßt sich nun einmal nicht auslöschen —, allein von einem anthropologischen Dualismus kann auch nicht entfernt die Rede sein. Das empirische Phänomen sinkt nicht zu einem amorphen, beliebig interpretierbaren Rohmaterial ab, es liefert vielmehr der verstehenden, deutenden und wertenden Vernunft unverzichtbare Vorgaben. Gleichwohl bleibt es unterdeterminiert, auf Festsetzung durch den Menschen offen. 5 Selbstausdruck in sozial-sittlicher Verantwortung, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 20 (1981), S. 179-192. 5 Den Diskussionsstand zusammenfassend und differenzierend K. Demmer, Natur
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Wer mit dem Anspruch eines kritischen Naturrechtsdenkens auftritt, muß seine wahrheitstheoretischen Prämissen überprüfen. Daran mangelt es zuweilen in der Moraltheologie, so wird die Chance eines konstruktiven Dialogs über die Grenzen des Fachs hinaus und in den Bereich des Rechts hinein vertan. Schließlich betritt der Moraltheologe, sobald er naturrechtlich argumentiert, das Feld einer demokratisch verfaßten Öffentlichkeit. Man handelt nicht nur demokratisch, man denkt auch so, ob zu Recht oder zu Unrecht, sei hier dahingestellt. So kommt der Gesetzgeber um die Frage nach der Konsensfähigkeit vorpositiver Wertvorstellungen gar nicht herum, das kann den Moraltheologen nicht unempfindlich lassen. Seine Vorlagen müssen prinzipiell konsensfähig sein. Genügt sein überkommenes wahrheitstheoretisches Fundament, das von der aristotelischen Adäquationstheorie ausgeht, diesem Anspruch zur Genüge? Wachsende Sensibilität für die gegenwärtigen Konsenstheorien ist darum ein Gebot der Stunde. Einige moraltheologisch relevante Gesichtspunkte legen sich nahe. Eine erste Problematik ist erkenntnismetaphysischer Art, sie betrifft das Verständnis von Vorfindlichkeit der Wahrheit. Ist der Diskurs im Blick auf Geltung manifestativ oder konstitutiv? Und läßt sich eigentlich undifferenziert von Wahrheit sprechen, ohne zu beachten, daß der Diskurs in den Naturwissenschaften und in den Geisteswissenschaften einen unterschiedlichen Stellenwert einnimmt? Weiterhin: Wieweit trägt das Prinzip der Konsensfähigkeit im ethischen Diskurs? Gewiß läßt es Eckwerte richtigen öffentlichen Handelns entstehen. Dennoch bleibt eine nicht voll auflösbare Spannung zwischen der Dimension des Öffentlichen und jener des Privaten, beide lassen sich nur im Modell einer dynamischen Interpénétration denken. Es gibt einen unverrechenbaren Überschuß des einzelnen gegenüber jeder Form der Gemeinschaft, er hält den Konsens in Bewegung. Und es bleiben Bereiche, die sich der Konsensfähigkeit entziehen, man denke an Leidensfähigkeit oder die Kraft zur Verzeihung und Versöhnung. 6 Die Vertreter der Konsenstheorien haben Prozedurregeln erarbeitet, unter sie fällt das Offenlegen aller relevanten Voraussetzungen. Allein ein solcher Schritt deckt das geforderte Programm nicht vollendet ab, die Diskursteilnehmer müssen sich auch die Frage nach dem Grund ihrer Voraussetzungen stellen, die Plausibilität des Arguments kann darauf nicht verzichten. Kein Wunder, wenn die Demokratie institutionalisierter Dialog ist; dessen Freiheit ist rechtlich abzusichern. und Person. Brennpunkte gegenwärtiger moraltheologischer Auseinandersetzung, in: B. Fraling (Hg.), Natur i m ethischen Argument, Freiburg i. Ue. 1990, S. 55-86. 6 Chr. Kissling, Habermas et la théologie. Note pour une discussion entre la théologie et la „Théorie de l'agir communicationel", in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 38 (1991), s. 235-245. — Vgl. ebenfalls H.J. Höhn, Vernunft — Glaube — Politik. Reflexionsstufen einer christlichen Sozialethik, Paderborn-München-Wien 1990.
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Kritisches Naturrechtsdenken darf rechtssoziologische Aspekte nicht ausklammern, die Verfechter der Systemtheorien sind beachtenswerte Gesprächspartner, das schließt Vorbehalte keineswegs aus. Es sollte dem Moraltheologen wenigstens zu denken geben, wenn dem Recht die Aufgabe zugeschrieben wird, den Rechtsgenossen vor dem aggressiven Absolutheitscharakter sittlicher Wahrheit zu schützen, das Recht von Moral freizuhalten. Gewiß verbirgt sich hinter einer solchen Position ein Verständnis von Moral, das der katholische Moraltheologe nicht teilen wird, ganz abgesehen von dem naturalistischen Menschenbild, das bei den Systemtheoretikern Pate gestanden hat. 7 Gleichwohl bleibt genug Bedenkenswertes übrig. Wenn es i m vorigen Abschnitt hieß, die Rechtsordnung sei primär Schutzordnung, und dies im Blick auf das Grundgut der Freiheit, dann liegen Implikationen für das Zueinander von Recht und Moral auf der Hand: Moralvorstellungen, sofern sie Eingang in das Recht finden, dürfen nicht unter dem Vorzeichen der Macht stehen, sie lassen sich nicht hoheitlich durchsetzen, sondern in Toleranz aufweisen. Hinter dieser Einsicht verbirgt sich eine leidvoll erfahrene geschichtliche Hypothek. Moral verkommt zum Machtfaktor, sobald sie eine solche unheilige Allianz mit dem Recht eingeht. Die Konsenstheorien sind da ein heilsames Korrektiv, sofern sie nur den Schwachen aus dem Definitionsprivileg nicht eliminieren, sondern Chancengleichheit garantieren. Wenn Moral nicht als einladendes Projekt erkannt wird, ist aller geleistete Rechtsschutz vergebens. Moral läßt sich nicht auferlegen, sondern nur vorlegen, sie will in Freiheit übernommen werden. Wiederum bricht eine Spannung zwischen öffentlicher und privater Sphäre auf, der Überschuß des einzelnen muß sich befreiend auswirken können.
II. Möglichkeiten und Chancen einer Rechtstheologie 1. Das Recht — eine Grundkategorie
theologischer
Anthropologie
Die katholische Moraltheologie verwaltet eine geschichtliche Hypothek, die sie von der Manualistik übernommen hat. Ihr kennzeichnendes Merkmal ist die seit der Spätscholastik sich durchsetzende Enttheologisierung des Naturrechts. Der spätere cartesianische Einfluß tat ein übriges, Gott als Garanten einer in sich stimmigen Naturrechtsordnung zu verstehen, der Weg zum theologischen Extrinsezismus war somit geebnet. Der Rekurs auf Gott brachte keinen inhaltlichen Erkenntniszuwachs, er hatte allenfalls motivale Bedeutung. Eine solche Konzeption kann dem gegenwärtig geführten moraltheologischen Diskurs nicht genügen. Der philosophische Ethiker 7
Gefragt ist eine konstruktiv kritische Auseinandersetzung katholischer Rechtstheologie mit N. Luhmann, und dies im Licht seiner denkerischen Prämissen.
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erwartet vom Theologen, daß er das Gesamtspektrum seiner Voraussetzungen aufdeckt und so einen weiterführenden Beitrag zur universalen Kommunikation leistet. Wer inhaltlich nichts hinzubringt, ist irrelevant, man kann getrost auf ihn verzichten. Gewiß ist das Naturrecht auch dem Nichtglaubenden prinzipiell einsichtig, allein der Glaubende besitzt eine privilegierte ethische Ausgangsposition, sie muß er im universalen Dialog verantworten und als Erkenntnisvorsprung aufschließen. Freilich kann auch der Moraltheologe auf philosophisch-ethische Analyse der normativen menschlichen Natur nicht verzichten, aber das darf nicht auf Kosten jenes Überschusses gehen, der aus dem umgreifenden Interpretationshorizont des Glaubens stammt. Denkanstöße aus der evangelischen Theologie liegen, wie eingangs bemerkt, vor. Insbesondere sei an die Verbindung von Rechtfertigung und Recht durch Karl Barth gedacht, sie wurde im katholischen Lager durchgängig des Fideismus bezichtigt, und die spätere Auseinandersetzung zwischen autonomer Moral im Kontext des Glaubens und Glaubensethik tat ein übriges, diesen Vorbehalt zu bestärken. 8 Nun verbietet es die Kürze dieses Beitrags, die zugrundeliegende Problematik erneut aufzugreifen, Hinweise müssen genügen. Der gegenwärtige moraltheologische Diskussionsstand bietet dazu ausreichende Hilfen, das tut der anstehenden Thematik gut. Im Verlauf der genannten Auseinandersetzung konnte sichtbar gemacht werden, daß die christliche Offenbarung einen Sinnhorizont aufreißt, der sich in Rahmenaussagen einer christlichen Anthropologie niederschlägt. Sie lassen sich als regulative Ideen verstehen; damit sie allerdings der sittlichen Vernunft den Weg weisen können, müssen sie selbst bereits inhaltlich gefüllt sein, andernfalls greifen sie nicht. Nur am Rande sei vermerkt, daß der katholische Moraltheologe mit anderen erkenntnisanthropologischen Prämissen operiert als Kant. 9 Und des weiteren bleibt zu beachten, daß die sittliche Vernunft nicht auf das Modell einer ablesenden Vernunft gebracht werden kann, sie bringt ihren Gegenstand in transzendentaler Setzung hervor. Dies vorausgesetzt scheint es legitim, die Wirkungsgeschichte des Glaubens auf die sittliche Vernunft — es war die Rede von der kritisierenden, stimulierenden und integrierenden Funktion — im Sinne eines Paradigmas zu verstehen. Eine Matrix entsteht, sie bringt Probleme und Möglichkeiten ihrer Lösung gleicherweise, wiewohl phasen8 K. Barth, Rechtfertigung und Recht, Zürich 31948. — Eine Übersicht über die Auseinandersetzung zwischen autonomer Moral und Glaubensethik bei W. Thönissen, Das Geschenk der Freiheit. Untersuchungen zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik, Mainz 1988. 9
Im ökumenischen Gespräch wird zuwenig bedacht, daß bestimmte theologische Anliegen sich ihre eigentümliche Denkform schaffen, der Gehalt tragender Begriffe ist davon betroffen.
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verschoben, hervor. In dieser Hinsicht ist die Rede von der theonomen Autonomie berechtigt und zugleich frei von Mißverständnissen. Wenn der Moraltheologe sich auf rechtstheologische Fragen einläßt, dann besinnt er sich zunächst einmal auf diesen Hintergrund. Für das rein naturrechtliche Argument bleibt Raum genug, nur steht es unter einem theologischen Vorzeichen, das über die motivale Sphäre hinaus einen inhaltlichen Beitrag leistet. Der Glaube erzeugt ein Vorwissen, das in das naturrechtliche Argument einfließt. Basiselemente theologischer Anthropologie sind unter dem Aspekt ihrer sittlichen Relevanz inhaltlich aufzuschlüsseln, reine Glaubensaussagen hingegen sperren sich gegen eine solche Vermittlungsarbeit, es muß einen Anknüpfungspunkt im Selbstverständnis des Glaubenden geben. Auch hier ist eine neue Bescheidenheit — parallel zur Metaphysik — das Gebot der Stunde. Der Rekurs auf Gott verfängt nicht im Kontext einer pluralistischen und weitgehend säkularisierten Gesellschaft, wenn ihm kein plausibler Anknüpfungspunkt im Menschen, und dies mit dem Anspruch einer besseren Alternative, entspricht. 10 Ein Schritt aufeinander zu im ökumenischen Gespräch wäre so möglich. Entscheidend ist eine Besinnung auf die jeweils beherrschende Denkform, sie läßt schnell zur Sache kommen, ohne sich in Randproblemen zu verlieren. Der evangelische Theologe, gleich welcher Provenienz, unterstellt ganz selbstverständlich eine in existentialen Kategorien denkende Wahrheitstheorie, darüber legt er sich schon keine Rechenschaft mehr ab. Anders der katholische Theologe, er fühlt sich, ob er sich dies nun eingesteht oder nicht, im Strom seiner scholastischen Tradition sicher aufgehoben. Auseinandersetzungen mit abweichenden Wahrheitstheorien haben eher Seltenheitswert, und von einer gelungenen Integration kann kaum die Rede sein. Die Vermittlung rechtstheologischer und rechtsphilosophischer Fragestellungen leidet unter diesem Ausfall, kein Wunder darum, wenn Mißverständnisse im ökumenischen Gespräch allenthalben begegnen. So suggeriert das katholische Naturrechtsdenken beinahe zwangsläufig den Eindruck einer natürlichen Ordnung, die weder in ihrer Existenz noch in ihrer Erkennbarkeit die Spuren jener Konfliktgeschichte trägt, deren Wurzeln in die bleibend konkupiszente Verfaßtheit des Menschen, auch des Erlösten, hinabreichen. Ein solcher Satz mag vereinfachend klingen, dennoch läßt er sich nicht einfach abtun. Mut zur Differenzierung tut darum not. Der katholische Theologe kann es sich durchaus leisten, die Kategorie des Rechts unter das Vorzeichen der Rechtfertigung zu stellen, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist die wahrheitstheoretische Dimension 10 Gott wirkt über die praktische Vernunft auf die Geschichte und ihre Gestaltung ein. — Dazu J. Fischer, W i e wird Geschichte als Handeln Gottes offenbar? Zur Bedeutung der Anwesenheit Gottes i m Offenbarungsgeschehen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 88 (1991), S. 211-231, zumal S. 226 und 229.
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betroffen: Wahrheit wird unter konfliktgeschichtlichen Bedingungen erhoben und gegen Zwänge aller A r t durchgesetzt, sie ist darum bleibend riskiert. A n dieser Stelle bliebe alles das zu bedenken, was in der jüngsten Vergangenheit zum Kompromiß auf dem Feld des Ethischen erarbeitet wurde. 11 Das naturrechtliche Bemühen um Konsequenz und Systematik darf keine glatten Lösungen vortäuschen, das hat mit intellektueller Resignation nichts zu tun. Der Mut sich festzulegen, wiewohl in Korrekturbereitschaft, bleibt. Aber auch das Recht selbst erhält neue Züge. Es schützt — soweit dies mit den Mitteln einer Institution möglich ist — die Freiheit des Rechtsgenossen vor all jenen Absolutismen, die der konkupiszenten Verfaßtheit des Geistes entspringen und nichts anderes als kaschierter Machtanspruch sind. Oder so gewendet: Recht schützt Konsensfindung in allseitiger Freiheit, und die Basiselemente theologischer Anthropologie stellen dabei die unverzichtbaren Problemindikatoren dar. A n ihnen soll exemplifiziert werden, wie die Rechtfertigung aus Gnaden, die ja ein ganz bestimmtes Selbstbewußtsein erzeugt, ein Rechtsverständnis ermöglicht, das ganz auf die einmalige Personwürde des einzelnen Rechtsgenossen zugeschnitten ist. Und im übrigen wird nicht nur am zugrundeliegenden Wertekonsens, sondern auch an sozialen Systemen fortwährend gearbeitet, die Tugend der Epikie hält die geltende Rechtsordnung in Bewegung. 12
2. Recht und Sittlichkeit Die in der jüngsten Vergangenheit verlaufene Diskussion um Grundwerte und Grundrechte hat zu Klarstellungen geführt, hinter die es keinen Rückfall mehr geben darf. So wurde herausgestellt, daß es nicht Aufgabe des Rechts ist, den einzelnen Rechtsgenossen in seiner gelebten Moralität direkt und unmittelbar zu befördern. Dies käme einer offenkundigen Überforderung gleich. Dennoch ist diese Einschränkung nicht im Sinne einer totalen Trennung zu interpretieren. Dem Recht kommt eine moralische Appellfunktion zu, der einzelne Rechtsgenosse weiß sich in die öffentliche Verantwortung genommen, und sie läßt sich nur über die politischen Tugenden ableisten. Das Gemeinwohl ist auf sittlichen Einsatz des Staatsbürgers angewiesen, die Logik von Systemen, und seien sie noch so perfekt erdacht, kann dem freien Miteinander der Menschen nicht genügen. Immer bleiben Reibungsflächen übrig, die sich nur durch den selbstlosen Einsatz des einzelnen mildern lassen. 11
Die jüngst verlaufene Auseinandersetzung in der Moraltheologie wird aufgearbeitet bei H. Weber (Hg.), Der ethische Kompromiß, Freiburg i. Ue. 1984. 12 Vgl. u.a. G. Virt, Art. Epikie, in: H. Rotter / G. Virt (Hg.), Neues Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck 1990, S. 147-149.
10*
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Das kommt wohl am eindeutigsten i m Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaates zum Ausdruck, näherhin im Verfassungsprinzip. Der Gesetzgeber geht nicht nur von der prinzipiellen Wertgebundenheit des Rechts aus, sondern gleichfalls von der stillschweigenden Voraussetzung, daß der Staatsbürger die geltende Staatsform samt ihrer Rechtsordnung zumindest in den Grundzügen in seinem Gewissen bejahe. Rechtsgehorsam setzt darum freie Gefolgschaft, den Geist der Partnerschaft und der tätigen Mitverantwortung voraus. So gesehen besitzt der Staat in gelebter Moralität sein unverzichtbares Fundament, er würde sich selbst aufgeben, wollte er sein Rechtsverständnis nicht an dieser Grundkonzeption messen. So mag es einleuchtend klingen, das Recht moralisiere zwar nicht „in recto", wohl aber „in obliquo". Es legt dem Rechtsgenossesn zwar keine Gesinnung auf, aber ohne Gesinnung kann es seine Aufgabe — will es nicht den technokratischen Machtstaat der Experten begünstigen — unmöglich erfüllen. 13 Das staatliche Gemeinwesen enthält nicht nur ein hohes Konfliktpotential, das durch die Rechtsordnung einzudämmen ist. Gesetzgeber und Rechtsgenosse sind gleicherweise in die Verantwortung genommen, sobald es gilt, Konflikte zu versöhnen, einen lebbaren Ausgleich der Interessen herzustellen, der nicht nur von pragmatischen Überlegungen, vom Aufrechterhalten einer labilen Friedensordnung bestimmt ist. Gewiß wird der Gesetzgeber in manchen Lebensbereichen — man denke an Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik — mit den Interessen aller Betroffenen rechnen und sich in seiner Gesetzgebung taktisch darauf einstellen, will er nicht Gefahr laufen, chaotische Zustände und den Krieg aller gegen alle zu erzeugen. Allein dies ist nur die eine Seite der Medaille und nicht die bezeichnendste, denn Recht wäre reduziert auf Abwehrrecht, eine positive Gestaltungsfunktion des öffentlichen Lebens fiele aus. So würde gerade das gefördert, was man nicht will, nämlich eine reine Bedürfnisgesellschaft; das Anspruchsdenken gegenüber dem Staat nähme überhand. Angesichts dessen sieht sich die Rechtstheologie in die Pflicht genommen, sie leistet moralische Denkhilfe. 14 Aber wie sieht sie aus? Wohl zuerst in dem Bemühen, den bei vielen Menschen bestehenden Antagonismus von Recht und Moral zu versöhnen, ein öffentliches Bewußtsein dafür zu schaffen, daß die Welt des Rechts ein moralisches Bewährungsfeld ursprünglichster A r t ist. Rechtskultur fordert über Rechtssicherheit hinaus eine selbstverständliche Haltung partnerschaftlicher Mitverantwortung. Das aus der Manualistik bekannte A x i o m 13
E.W. Böckenförde, Kritik der Wertbegründung des Rechts. Überlegung zu einem Kapitel „Rechtsphilosophie", in: R. Low (Hg.), OIKEIOSIS, FS R. Spaemann, Weinheim 1987, S. 1-21. 14
Eine Kritik des kantischen Rechtsverständnisses bei J. Splett, Partizipation. Freiheit in Verantwortung, in: Theologie und Glaube 81 (1991), S. 177-189, zumal S. 182 f.
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„finis legis non cadit sub lege" hat im modernen demokratischen Verfassungsstaat nur eingeschränkt Geltung. W o es sinnvollerweise möglich ist, trägt der Rechtsgenosse wirksame Sorge für die Erreichung bestehender Rechtszwecke, das ist Teil seiner Gemeinwohlverantwortung. Die Ableistung isolierter Rechtspflichten genügt nicht. Der grundsätzliche Respekt des Gesetzgebers vor dem Gewissen des Bürgers ist nur solange durchzuhalten, als ihm ein Entgegenkommen von Seiten der Basis entspricht. Die Tugend der Epikie wurde schon einmal erwähnt, für gewöhnlich nimmt sie die Form einer Ausnahmeregelung von einem unvollkommen formulierten Gesetz an. Eigentlich wäre sie als die Kardinaltugend des demokratischen Rechtsgenossen anzusehen. Sie korrigiert und flankiert defizitäres Recht in eigener Verantwortung, sie streut Sand ins Getriebe, und davon hängt die Lebendigkeit eines demokratischen Gemeinwesens ab. Sie ist kritischkonstruktive Geste der Solidarität angesichts der erbarmungslosen Logik von Systemen. Epikie besitzt zugleich eine theologische Dimension. Sie läßt Recht in der Hand des Christen als Recht des Friedens und der Versöhnung gelingen. 15 Sie erinnert daran, daß es eine präferentielle Option des Rechts für den Schwachen und Schutzlosen gibt, daß Recht vornehmlich dort wirksam ist, wo der einzelne hilflos zwischen den Mühlsteinen konfligierender Interessen zerrieben wird. Reine Konfliktauflösung kann da nicht genügen, läßt sie sich doch aus pragmatischem Kalkül betreiben. Epikie verweist da auf die theologisch-anthropologischen Prämissen des Rechts, es gibt kein reines Recht, losgelöst vom prinzipiellen Selbstverständnis des Rechtsgenossen, vielmehr ist Recht eine fundamentalanthropologische Kategorie. In der Tugend der Epikie versammeln sich die leitenden Kriterien seiner Anwendung. Gewiß bleibt auch in der Hand des Christen Recht fragmentarisch, es muß oftmals schematisieren angesichts komplexer Situationen. Und auch der vollendete Konsens bleibt eine Utopie, Pluralismus gehört zur Geschichtsunterworfenheit sittlicher Einsicht, und auch der Glaube kann sie nicht kurzschlüssig überspielen. Dennoch läßt der Christ es mit der Konstatierung dieser Tatsachen nicht bewenden, er arbeitet nicht nur an ihrer Überwindung, sondern gleichzeitig auch an einer Konzeption und Ausgestaltung von Recht im Licht jener meta-rechtlichen Vorgaben, die ihm aus seinem Menschenbild zukommen.
15 S. Meurer, Das Recht im Dienst der Versöhnung und des Friedens. Studie zur Frage des Rechts nach dem Neuen Testament, Zürich 1972, S. 9, 17 und passim.
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I I I . Ausblick Die Kirche ist ein gesellschaftlicher Faktor ersten Ranges, sie würde ihrem Auftrag zuwiderhandeln, wollte sie sich von ihrer denkerischen Verantwortung für das Recht freisprechen. Gewiß steht es ihr nicht zu, die Gesetzmäßigkeiten eines demokratischen Meinungsbildungsprozesses hoheitlich zu überspielen, aber das hat sie auch gar nicht nötig. Als mitverantwortlicher Partner des Staates steht es ihr zunächst an, die Gewissen zu formen, konstruktive Mitarbeit in der Vorlage besserer Alternativen zu leisten, und dies angesichts einer skeptischen Öffentlichkeit. Einladende Sprache und stringente Argumentation müssen sich darum miteinander verbinden.
DIE DEMUT -
EINE TUGEND DES GEMEINSCHAFTSLEBENS Von Rudolf Kirchschläger
Unsere Generation hat es weitgehend verlernt, von Tugenden zu reden. Sie war lange gezeichnet vom hohlen Pathos der Dreißiger- und der ersten Vierziger jähre und hatte eine innere Hemmung, über Ideale und geistige Werte oder gar über die Gottbezogenheit des Menschen zu sprechen. Dies hatte seine Folgen. Die Tugenden als Lebensgewohnheit und als gesellschaftliches Verhaltenssoll büßten viel von ihrer, das menschliche Bewußtsein bildenden Kraft ein. Es hat schon seinen tiefen Grund, daß im Buch Deuteronomium (6, 4-7) Israel nicht nur das selbstverständliche Gebot in Erinnerung gebracht wurde, die Einzigkeit Jahwes anzuerkennen und ihn mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben; es wurde Israel gleichzeitig aufgetragen, dieses Gebot auch den Söhnen zu wiederholen und davon zu reden: zu Hause, auf der Straße, beim Schlafengehen und beim Aufstehen. Was nicht mehr im Gespräch ist, verschwindet weitgehend aus dem Bewußtsein der Menschen. Auch die Gegenprobe zeigt: Was im Gespräch ist, was in den Medien zu lesen, zu hören oder zu schauen ist, was selbst am Familientisch — soferne noch vorhanden — gesprochen wird, das bestimmt das Bewußtsein der Menschen. Vielleicht liegt der Grund für viele, der menschlichen Natur gar nicht adäquate Krankheiten des Gemeinschaftslebens darin verborgen, daß sich die Menschen in sie förmlich hineinlesen, hineinhören, hineinschauen. Es wird zuwenig vom Guten, das existiert, geredet, gehört und gelesen, und auch zu wenig vom eigentlichen Soll und Sinn des Lebens. Die Tagessensationen und manchmal wohl auch die eigenen Erfolgsmeldungen benötigen zu viel an Zeit. Es war wohl eine Konsequenz dieses immer spürbarer werdenden Tugend-Mankos, daß sich Papst Johannes Paul I. in zweien seiner insgesamt vier Ansprachen bei Generalaudienzen am 20. und 27. September 1978 mit den theologischen Tugenden Hoffnung und Liebe befaßte und — wie die hinterlassenen Aufzeichnungen zeigten — seine Ansprachen auch auf die Tugenden des Gemeinschaftslebens ausdehnen wollte. 1 Papst Johannes Paul II. widmete schließlich in Fortsetzung des Anliegens seines Amtsvor1
Johannes Paul I., Wort und Weisung im Jahr 1978, S. 20 ff.
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gängers und wohl auch aus tiefer persönlicher Überzeugung seine vier ersten Ansprachen bei den Generalaudienzen vom 25. Oktober bis 22. November 1978 wieder den Tugenden, und zwar konkret der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Selbstbeherrschung. 2 Die Demut fand dabei nicht als selbständige Tugend, sondern als Erfordernis für die Tugend der Selbstbeherrschung ihre Wertschätzung und anerkennende Würdigung. Schon vorher hatte allerdings Papst Paul VI. bei der Generalaudienz am 5. Februar 1975 im Zuge der Bemühungen um die Erneuerung des christlichen Lebens im Heiligen Jahr sich sehr tiefgehend mit der Tugend der Demut befaßt und den hohen Stellenwert der Demut im Rahmen dieser christlichen Erneuerung aufgezeigt. 3 So ist denn die Demut eine zutiefst christliche Tugend. Diese Qualifikation steht aber in keinem Gegensatz zur Betrachtung der Demut als einer menschlichen Eigenschaft, der auch im gesellschaftlichen Zusammenleben eine sehr große Bedeutung zukommt. Der christliche Glaube erschöpft sich ja nicht allein in der Mensch-Gott-Beziehung, sondern enthält kraft göttlicher Weisung auch eine sehr starke Mensch-Mensch-Beziehung. In der Tat, der christliche Glaube — wirklich gelebt! — würde das Leben für alle Menschen dieser Welt friedlicher, harmonischer und glücklicher machen. Nicht zufällig besteht doch der wesentliche Teil des ordre publique in der großen Mehrheit der Staaten aus säkularisierten Geboten Gottes, vom Dekalog bis zur Heilsbotschaft der Bibel. Die Demut zählt zweifellos nicht zu jenen Tugenden, die der menschlichen Lebenskonzeption und vor allem dem Denken der Jugend sehr leicht zugänglich sind. Zuviel Fehlinterpretationen haben sich an ihrem Rand angesiedelt, vom Demutverächter Nietzsche bis zu den gar nicht so wenigen Menschen unserer Zeit, die sich nicht mehr als Geschöpf, sondern schon weitgehend als Schöpfer fühlen. Die Demut kann in zwei grundsätzlichen Erscheinungsformen in die gesellschaftliche Wirksamkeit treten: Erstens als eine Charakterhaltung oder als das Seelenbild eines Menschen, der ohne Bezug nach außen einfach seiner Natur nach demütig ist, für den Demut also einen in sich geschlossenen selbständigen Wert darstellt, der gleichsam um der Schönheit der Tugend willen geübt wird. Es ist ein Mensch, der sich seiner Geschöpflichkeit bewußt und in dieser auch zufrieden ist, ein Mensch auch, der in personaler Wahrhaftigkeit nach der Wahrheit strebt und gleichzeitig weiß, daß sie ihm gerade aufgrund dieser 2 3
Johannes Paul II., Wort und Weisung im Jahr 1978, S. 13 ff. Paul VI., Wort und Weisung im Jahr 1975, Bd. 2, S. 19 ff.
Die Demut — eine Tugend des Gemeinschaftslebens
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Geschöpflichkeit auf dieser Welt nie ganz und vor allem nie zu persönlichem Eigen gegeben wird. Es ist ein Mensch, der in sich ruht und an dem daher Lob, Ehren und Mißachtung in gleicher Weise als zu diesem Leben nun einmal gehörige Alltagserscheinungen vorbeigehen, ohne innere Spuren zu hinterlassen. Demütige dieser Art sind keine gesellschaftliche Massenerscheinung, weder heute noch in der Vergangenheit und wohl auch nicht für die Zukunft. Aber es sind Menschen, welche die Gesellschaft braucht, um gelegentlich auch nur aus einem Teilelement deren Wesens ein Beispiel dafür vor Augen zu haben, wie sich Leben sinnvoll und lebenswert gestalten läßt. Es wäre allerdings ein Anzeichen von christlichem Kollektivstolz, wollte angenommen werden, daß Demütige dieser Art nur aufgrund des christlichen Glaubens sich formen können. Sicher wird sich dieser Glaube als stärkende Kraft und auch als Anstoß für ein solches Leben anzubieten vermögen. Tugenden aber, selbst wenn sie ihrem Wesen nach christlich erscheinen, sind dennoch nicht den Christen allein vorbehalten. Gott hat nicht allein den Christen die Möglichkeit und die Chance gegeben, gut zu sein oder Gutes zu tun. Er hat durch das Erlösungswerk Jesu Christi den Christen den Weg zum Gutsein erleichtert, aber den Nichtchristen diesen Weg nicht versperrt. Der freie Wille des Menschen ist unangetastet geblieben und ebenso auch das in die Seele des Menschen gelegte Ethos, das in Ansätzen des Gewissens immer wieder durchbricht. Zweitens als eine Demut, die in ihrem Wirksamwerden sehr stark auf einzelne oder mehrere Ziele oder Objekte ausgerichtet ist. Zielrichtungen dieser Erscheinungsform der Demut können insbesondere sein: a) Gott, b) der Mitmensch und c) die Schöpfung. Diese drei Adressaten der Demut schließen einander nicht aus, sondern sind, dem Grade der Vollkommenheit folgend, miteinander verwoben. Die Demut gegenüber Gott wird aus diesen drei Zielrichtungen den Gläubigen im Allgemeinen und den Christen im Besonderen am leichtesten fallen, denn die Demut ist ein wesentlicher Teil jeder Beziehung des Menschen zu Gott. Die Demut Christi in Verbindung mit seinem Gehorsam gegenüber Gott Vater war Voraussetzung für seine Menschwerdung. Der Christushymnus im Philipperbrief (2,6-11) zeigt die Dimension dieser göttlichen Demut wohl sehr eindrucksvoll an. Wenn es einem Menschen gelänge, sich auch nur annähernd so in die Hand Gottes fallen zu lassen wie Christus in die Hände seines Vaters, wäre Demut für ihn eine Selbstverständlichkeit. Die Menschen müssen wohl in der Regel einen langsameren und mühseligeren Weg zur Demut hin gehen. Der Ausgangspunkt des Weges liegt wohl immer wieder im Bewußtwerden der eigenen Geschöpflichkeit, also der tatsächlichen Abhängigkeit von Gott, die Wegmarkierungen aber liegen in dem
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steten Bemühen nach der wirklichkeitsoffenen, voll gelebten Wahrhaftigkeit (Johannes Messner). Schon der heilige Bernhard (De Gradibus Humilitatis 1,2) hat in der „wahrhaftesten Selbsterkenntnis" das innerste Wesen der Demut gesehen.4 Welch zentrale Funktion der Demut im Christentum zukommt, zeigt wohl die Tatsache, daß die großen Ordensgründer des Abendlandes, vom heiligen Benedikt angefangen (vgl. die zwölf Stufen des christlichen Lebens in der Regel) über den heiligen Bernhard von Clairvaux zu Franz von Assisi und Ignatius von Loyola, alle in ihren Regeln und Anweisungen für ihre Gemeinschaften der Demut einen besonders breiten Raum gewidmet haben. Auch die großen Denker und Lehrer der Kirche, beispielsweise Origenes, Augustinus, Bonaventura und Thomas von Aquin, haben sich sehr tiefschürfend und ergiebig mit der Demut als wahrhaft christlicher Tugend auseinandergesetzt. Daß sie sich dabei auch mit dem hellenistischen Demutsbegriff befaßten, ist selbstverständlich. Auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Facetten kommen alle christlichen Denker und Vorbilder schließlich immer wieder zu einer gemeinsamen Feststellung: Um die Demut als Mutter-Tugend des Christentums kommt kein Christ herum. „Es ist der unentbehrliche grundlegende Stellenwert einer Tugend, die, wie der hl. Thomas im Hinblick auf Christus (Matthäus 11,29; 18,27) sagt, nach den Tugenden und der Gerechtigkeit die herrlichste und wichtigste ist". 5 Es ist ein interessantes Phänomen, daß in den Evangelien und in den Briefen der apostolischen Zeit die Demut gegenüber Gott wesentlich seltener eingemahnt wird als die Demut gegenüber den Mitmenschen, so beispielsweise im Matthäusevangelium (11,29) die Worte des Herrn: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig ...", und die Mahnung im Jakobusbrief (4,10): „Demütigt euch vor dem Herrn, dann wird er euch erhöhen", sowie im 1. Petrusbrief (5,6): „Beugt euch also in Demut unter die mächtige Hand Gottes, damit er euch erhöht, wenn die Zeit gekommen ist". Alle anderen wesentlich zahlreicheren Belegstellen raten, empfehlen und gebieten Demut gegenüber den Mitmenschen. Die Demut gegenüber Gott war in denen, die den Herrn noch unmittelbar oder doch im Rahmen der ersten Tradition mittelbar erlebt haben, aufgrund des ihnen offenbar gewordenen Lebens Jesu kein Problem; sie bedurfte nicht allzu vieler Ermahnungen. Aber mit der Demut gegenüber den Mitmenschen, auch gegenüber den Mitchristen, gab es wohl schon immer manche Schwierigkeiten. Darum auch die Mahnung: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Jesus Christus entspricht" (Philipperbrief 2,5). „Seid demütig, friedfertig und geduldig; ertraget einander in 4 5
Johannes Messner, Kulturethik, S. 299. Paul VI., S. 21 f.
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Liebe" (Epheserbrief 4, 2). „Strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig" (Römerbrief 12,16). „Alle aber begegnet einander in Demut! Denn Gott tritt den Stolzen entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade" (1. Petrusbrief 5,5). Der Glaube an Gott, das Erahnen der Größe des Gottessohnes und seiner Liebe zu den Menschen muß, soll beides sich nicht in das Esoterische verlieren, einen realen Niederschlag im Leben des Menschen, sein Leben in der Gemeinschaft miteingeschlossen, haben. Sosehr also christliche Demut auf Gott rückgekoppelt ist, so muß sie sich doch für den Menschen, der in der Gemeinschaft lebt, vor allem auch in seinem Verhältnis zur Gemeinschaft zeigen. Dies gilt für das Verhältnis innerhalb der Kirche ebenso wie für das Verhältnis innerhalb der einzelnen weltlichen Gemeinschaften von der Familie bis zum Staat und bis zur Völkergemeinschaft. Innerhalb der Kirche geben wir derzeit so viele Beispiele einer Vernachlässigung der Liebe im Verkehr miteinander, daß ich es mir versage, konkrete Beispiele auch für das Fehlen von Demut anzuführen. Wohl aber scheint mir doch eine Erinnerung an Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils notwendig. Die Kirche, so sagt Artikel 8 der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium", ist gegründet, „um Demut und Selbstverleugnung auch durch ihr Beispiel auszubreiten". Da es aber im Hinblick darauf, daß Demut eine individuelle Tugend ist, nicht möglich erscheint, der Kirche als solche die Qualifikation der Demut zuzuerkennen oder aufzutragen, ist es wohl Auftrag an all jene, die für die Kirche und als bewußter Teil der Kirche agieren, reden und schreiben, jene Demut und Selbstverleugnung, von denen das Konzil spricht, sichtbar werden zu lassen. Auch der Heilsdialog der Kirche mit den Menschen soll sich (Artikel 13 des Dekrets über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche „Christus Dominus") „durch Demut und Sanftmut auszeichnen". Dasselbe gilt für das Streben nach Ökumene, für die wir „vom göttlichen Geiste die Gnade aufrichtiger Selbstverleugnung, der Demut und des geduldigen Dienstes sowie der brüderlichen Herzensgüte zueinander erflehen" müssen (Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio", Artikel 7). Und auch für den ökumenischen Dialog ist in Artikel 11 desselben Dekrets „Wahrheitsliebe, Liebe und Demut" angeraten. Man soll uns Christen also nicht nur an unserer Liebe zueinander, sondern auch an unserer Demut erkennen! Ein unendlich schweres Mandat, für dessen Nicht- oder allzu zaghafte Erfüllung wir den Preis gestörter Glaubwürdigkeit von seiten unserer Mitmenschen sichtbar zu zahlen haben. Aber vielleicht ist Demut im kirchlichen Bereich überhaupt nur dann beeindruckend möglich, wenn alle Christen versuchen, Demut i m gesamten Bereich des Lebens, also im Alltag, praktisch zu handhaben. Es ist nicht
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notwendig, sich dazu einen leicht gekrümmten Rücken oder einen stets gesenkten Blick anzugewöhnen. Demut darf man nicht sehen, sondern sie muß spürbar sein. Gefragt ist die Demut des Menschen, der sich immer der Tatsache bewußt bleibt, daß er, auch ausgestattet mit vielen Talenten, Geschöpf und nicht Schöpfer ist, daß ihm viele Schwächen eigen sind, und daß die Grenzen seiner Möglichkeiten oft sehr nahe den an ihn gestellten Erwartungen liegen. W e m diese Wahrhaftigkeit im Versuch, sich selbst zu erkennen, gelingt, wird die Achtung vor dem Mitmenschen, die Anerkennung von dessen Würde als Mensch und der Respekt vor dessen Rechten nicht allzu schwer möglich werden. So wird die Demut im Alltag wohl auch zu einer unverzichtbaren Wegmarke auf dem Weg zu einer ganz natürlichen Humanität. Für die manchmal recht einladenden Straßenabzweigungen zur Selbstgefälligkeit bleibt für den, der die Demut als „wirklichkeitsoffene, voll gelebte Wahrhaftigkeit" sieht, kein Raum. 6 Johannes Messner zeigt in seiner Kulturethik vier Züge, die für die Demut kennzeichnend sind: Die Sorge vor der Selbsttäuschung durch Selbstgefälligkeit, die Abwehr von Menschenlob, die Dankbarkeit für allen Neugewinn an Seins- und Wertwirklichkeit, die Dienstbereitschaft gegenüber jedem Menschen. 7 Es sind dies vier Wesenszüge menschlicher Charakterhaltung, um die sich vor allem jene bemühen müssen, die kraft ihrer gesellschaftlichen Stellung der Versuchung der Selbstgefälligkeit, dem Lobe der anderen, der Meinung, am Gipfel des Lebens zu stehen, und der Versuchung einer nur verbalen oder nur berechnenden Dienstbereitschaft am Mitmenschen ausgesetzt sind. Teilweise geben die Rechtsordnung oder auch gesellschaftlich anerkannte Verhaltensregeln eine Hilfe in der Abwehr der Gefahren der Selbsttäuschung. So kann die zeitliche Begrenzung eines Amtes zu einer großen Hilfe gegen die Versuchung der Selbstgefälligkeit werden. Sie zeigt dem Inhaber eines Amtes sehr deutlich an, daß ihm eine Aufgabe für eine bestimmte Zeit übertragen ist. Nach Ablauf dieser Zeit sind auch die Vorrechte, einschließlich des Rechtes, im Namen derer zu sprechen, die den Amtsträger in das A m t gerufen haben, zu Ende. Auch das staatliche und das kirchliche sogenannte Protokoll sind für den, der tiefer zu sehen bereit ist, nicht eine Rangliste der Eitelkeiten, sondern ein unerbittlicher Hinweis darauf, daß ein bestimmter Vorrang und ein bestimmter Platz am Tisch, in der Versammlung und in der Kirche, ja selbst 6 7
Johannes Messner, S. 299. Johannes Messner, S. 300.
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bei der Fronleichnamsprozession, nicht dem Menschen XY, sondern höchstenfalls dem temporären Inhaber eines Amtes oder einer Funktion zukommt, oder bei internationalen Begegnungen überhaupt nur dem Staat, den der einzelne — auch wieder temporär — zu vertreten hat. Es sind Bühnenauftritte auf den verschiedenen Bühnen des Lebens. Das Wissen um den sicher bevorstehenden, spätestens mit dem Tod eintretenden Rollenwechsel sollte eine Hilfe gegen die Selbsttäuschung sein. Vielleicht ist es auch aufschlußreich, an die jeweiligen Enkel eine Frage nach Menschen zu richten, die in der Jugendzeit des Fragenden noch für so groß gehalten wurden, daß ihnen ein immerwährendes Gedächtnis sicher schien. Sie existieren in der zweiten Generation schon nicht mehr. Die von Messner empfohlene Abwehr von Menschenlob wird wohl sinnvollerweise nicht in der Form erfolgen können, daß man jedem Lob widerspricht; manche Lobende meinen dann nur, sie müßten noch lauter reden und kraftvollere Worte anwenden. Die persönliche Relativierung des Lobes scheint wesentlich erfolgversprechender. Es ist aber wohl sicher nicht als Verletzung der Demut zu werten, wenn eine auf Wahrhaftigkeit und auf Übereinstimmung mit den Fakten beruhende Anerkennung entgegengenommen wird. Sie darf allerdings, auch wenn sie das Merkmal der Wahrhaftigkeit an sich trägt, nicht zu übersteigertem Selbstwertgefühl führen, sondern soll Anlaß sein zur Dankbarkeit für die sachlichen und persönlichen Gegebenheiten, die ein Werk oder auch die Erfüllung einer Aufgabe als Ganzes gelingen haben lassen. Die Dankbarkeit für alles, was gelungen ist, scheint ebenso wie die Dankbarkeit für alle Gefahren, die vorbeigegangen sind, ein Ausdruck der Erkenntnis, nicht Herr des Lebens zu sein, sondern Geschöpf, aber auch ein Ausdruck des Wissens des Eingebundenseins in das Handeln und Nichthandeln, ja überhaupt in das Leben der Mitmenschen. So ist wohl auch jeder Gewinn an Wissen ebenso wie jedes Bestehen einer charakterlichen Prüfung des Dankes wert. Sehr treffend wird im Kommentar zur 103. Frage der Summa des hl. Thomas von Aquin unter dem Gesamtthema „Die Ehrung" ausgeführt: „Demut ist die im Verhalten sich auswirkende wahre Einsicht, daß der Mensch seine Gaben und Vorzüge nicht sich allein, ja nicht einmal sich an erster Stelle, sondern vor allem Gott und zu einem großen Teil auch der Gemeinschaft zu verdanken hat, in der er lebt. Demut läßt ihn die Ehre nicht verachten und als Unwert sehen, sondern auf den hinlenken, der an erster Stelle Anspruch darauf hat. Demut ist Wahrheit, aber nicht Schwäche und niedrige Gesinnung. Kann schon jeder Mensch in der Demut ehrenhaft bleiben und in seiner Ehrenhaftigkeit demütig sein, dann kann und muß es der Christ noch viel mehr." 8 8
Thomas von Aquin, Summa theologica, Bd. 20, S. 364.
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Der vierte für die Demut kennzeichnende Zug ist die Dienstbereitschaft gegenüber jedem Menschen. Damit ist nicht nur die Barmherzigkeit oder auch die Nächstenliebe, im gesellschaftlichen Bereich meist Solidarität genannt, gemeint, sondern wohl auch die Bereitschaft zu einem ganz persönlichen Dienst. Der Bogen spannt sich weit; er könnte von einer Rücksichtnahme im Straßenverkehr, im Hintanstellen des eigenen Ich, über einen kleinen, aber konkreten Dienst in der Nachbarschaft bis letzten Endes zur Mithilfe an einer menschenwürdigen Sterbebegleitung führen. Die sehr starke Technisierung des täglichen Lebens ruft manchmal stärker nach persönlicher Dienstbereitschaft als dies in den Anfängen dieser technischen Entwicklung erwartbar gewesen ist. Wer sich zur Demut durchgerungen hat, wird auch leichter zur persönlichen Schuldeinsicht finden dort, wo er an anderen Menschen schuldig geworden ist. Aus dieser Schuldeinsicht heraus aber wird Strafe auch dann zur wirklichen Sühne werden können. Wenn zusätzlich die Schuld an jemandem begangen wurde, dem die Gnade der Demut gegeben ist, kann aus dieser Sühne auch noch eine Vergebung der Schuld entsprießen und damit wieder eine jener Brücken zu Gottes Barmherzigkeit versucht werden, für die der Versuch eines tugendhaften Lebens so notwendig ist. Auch wer Macht besitzt und Macht ausübt, ist von der Forderung nach Demut nicht befreit. Demut und Innehabung von Macht sind an sich kein Gegensatz. Für den Mächtigen aber wird die Demut leichter findbar sein, wenn er die Macht als ein Mandat erkennt, das ihm gegeben ist und für dessen Erfüllung er nicht nur dem Machtgeber, sondern auch seinem Gewissen und wohl auch Gott Antwort geben muß. Natürlich schließt die Demut Machtmißbrauch und unlauteren Vorteil aus. Natürlich verlangt sie auch, um Worte des heiligen Benedikt zu gebrauchen, eine „väterliche Ausübung der Autorität". Aber Demut ist dennoch nicht nur eine Tugend der Gehorchenden, sondern auch eine Tugend der Gebietenden. Es gibt keine geteilte Moral und auch keine geteilten Erwartungen Gottes für Menschen verschiedener Klassen oder Gruppierungen der menschlichen Gesellschaft. Wer sich zur Demut durchgerungen hat, muß sich spätestens in unserer an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden so reichen Zeit auch bewußt werden, daß er nicht nur in die menschliche Gesellschaft, sondern in die Schöpfung als Ganzes eingebettet ist. Auch gegenüber dieser Schöpfung geziemt sich Demut. Die Menschen dieses Jahrhunderts haben gleichsam einen Rausch des Machbaren erlebt mit Erkundungs-, Operations· und Beeinflussungsmöglichkeiten, die vor einem Jahrhundert noch unvorstellbar gewesen sind. Sie haben die Schöpfung als Objekt genommen, und sie- schien sich damit abzufinden. Nunmehr aber wird die Erkenntnis immer stärker, daß dem allseits Machbaren Grenzen gesetzt sind, ebenso
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wie auch dem unbegrenzt Nutzbaren. „Die Gefährdung des Humanum in unserer technologischen Zivilisation macht" — wie E. Schockenhof schreibt — „zugleich die Notwendigkeit neuer Haltungsbilder bewußt, die es dem Menschen erlauben, nicht nur defensiv, sondern auch vorauslaufend-kreativ auf die Herausforderung der technologischen Bedrohung zu antworten". Die Demut ist ein solches für die Naturwissenschaft neues, aber im gesellschaftlichen Leben zumindest seit Christi Erdendasein erprobtes Lebensbild, das sowohl die wohl noch fließenden Grenzen des Machbaren bewußt machen und den Gegensatz zwischen Mensch und Schöpfung wieder abbauen könnte. Nicht zufällig, sondern folgerichtig ist es wohl, daß dieser Gegensatz auch zur Verdünnung oder Auflösung der Mensch-Gott-Beziehung geführt und weiter zu führen droht. Zusammenfassend sei festgestellt: Die Demut ist kein Relikt einer weit vergangenen Zeit, sondern eine Grundtugend der Gegenwart. Sie ist aktuell in der Mensch-Gott-Beziehung. Es besteht kein Anlaß zu glauben, daß Gott heute ein geringeres Maß an Ehrerbietung oder eine schwächere Glaubensintensität erwartet als früher; gerade der sich vervollkommnende Wissensstand soll auch zu einer sich vervollkommnenden Erkenntnis der Größe Gottes und damit der eigenen Geschöpflichkeit führen. Die Erkenntnis des unendlichen Abstandes zwischen Gott und Mensch und gleichzeitig das Vertrauen, dennoch in seine Hand geschrieben zu sein, ist Grundlage der Demut. Diese Demut mag individuell ganz verschieden zum Ausdruck kommen. Gott bindet den Menschen nicht an Formen und läßt der menschlichen Entwicklung freien Raum. Er allein und nicht die Menschen können daher auch feststellen, wer gegenüber Gott wirklich demütig ist. ER weiß es, und das genügt. Demut ist auch aktuell in der Beziehung zum Mitmenschen; sie ist eine zutiefst christliche und auch eine gesellschaftliche Tugend. A n ihr erweist sich einmal mehr, wie sehr ein Leben aus dem Glauben heraus — den Glauben ernstgenommen — auch für die Gesellschaft von Nutzen ist und das Miteinander auf allen Ebenen der Gemeinschaft erleichtert. Wenige Tugenden sind aber so sehr von der Gefahr der Mißdeutung bedroht wie die Demut, und dies sowohl vom Demütigen als auch von den Mitmenschen her. Demut kann auch nicht von allen Menschen in einer gleichen Weise gehandhabt und gepflegt werden. Für jedes Demütig-Sein oder -Werden aber bleibt unverzichtbar die Erkenntnis, Geschöpf mit allen Abhängigkeiten vom Schöpfer zu sein und auch die Pflicht zur bedingungslosen Wahrhaftigkeit, auch sich selbst gegenüber. Aus diesen beiden Grundbedingungen erfließt die dem Leben des einzelnen angepaßte Vermeidung eines überhöhten Selbstwertgefühls und die Relativierung von Lob und äußeren Ehren sowie die Bereitschaft zum konkreten Dienst am Menschen.
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Mehr Demut würde das gesellschaftliche Leben in vielen Bereichen problemloser und reibungsfreier machen. Wenn im politischen Leben einer Diktatur für die Demut kaum Raum bleibt, ist an diesem Zustand die Gesellschaft unschuldig; wenn es den politischen Mandataren in einer Demokratie an Demut fehlt, läßt dies den Schluß darauf zu, daß auch die Wähler dem Demütigen nur zögernd das Vertrauen geben. Demut ist schließlich aktuell in der Beziehung des Menschen zur Schöpfung; aus ihr erfließt leichter die Grenze zwischen Machbarem und Erlaubtem, aus ihr erfließt auch der Respekt vor der Schöpfung, deren Teil und nicht deren Herr der Mensch ist. Die Tugend der Demut ist eine große Tugend auch in unserer Zeit. Diese Überlegungen fußen auf Erfahrung und nicht auf wissenschaftlicher Kompetenz. Warum finden sie sich dennoch in dieser Festschrift? Weil der Jubilar in jeder der ihm übertragenen vielfältigen Aufgaben Demut gelebt und damit wohltuendes und helfendes Beispiel gegeben hat.
DIE VERANTWORTUNG DER MACHT" Von Josef Klaus
Das Phänomen der Macht gehört zu den erstrangigen Themen der Menschheit. Über ihren Begriff, ihre Herkunft und ihre Rechtfertigung, über den jahrtausendealten Kampf um ihre Erringung, Festigung und Erhaltung, besonders aber über die Versuchung der Macht und das oft tragisch verlaufende Scheitern der Mächtigen, aber auch über Form, Inhalt und Ausmaß der Verantwortung der Macht gehen die Anschauungen in dem Maße auseinander, als die weltanschaulichen Standpunkte und die Charaktere der Machtträger und ihrer Kritiker verschieden sind. Wenn im folgenden Gedanken und Erfahrungen zu dem gerade jetzt — und nicht nur in Österreich — sehr aktuellen Thema der Verantwortung der Macht dargelegt werden, so soll zwar vorzugsweise die politische Macht, die vom Staat, den Parteien und Interessenverbänden ausgeübt wird, erörtert werden, ohne jedoch zu übersehen, daß auch von den Eltern, Erziehern, Lehrern, von der Kirche, der Wissenschaft, der Wirtschaft und den Massenmedien sowie von der sogenannten kritischen Intelligenz Macht in Anspruch genommen wird — legitim oder illegitim. Der Begriff der Macht wird oft mit der Politik schlechthin identifiziert. Der große deutsche Soziologe Max Weber, der ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod noch immer und mit Recht zitiert wird, definiert die Politik als
* Bei Wiederlesen dieses am 6. Juni 1981 im Klub Belvedere zu W i e n gehaltenen Vortrags empfinde ich ihn immer noch aktuell, beklemmend aktuell; zumal darin viel Wertvolles und Gültiges eingeflossen ist, das ich seit 1945 beim Studium von Pater Schaschings Schriften sowie bei vielen Begegnungen und Gesprächen mit ihm während meiner Amtszeit als Bundeskanzler im Provinzialat am Seipelplatz und in meiner Wohnung in der Rotenturmstraße wie auch später am Borgo Santo Spirito Nr. 7 von ihm an Orientierung und Rat empfangen habe. Mir gefiel neben der erstaunlichen Kompetenz in seiner Wissenschaft sofort seine klare quellfrische Sprache. Als ich ihm das sagte, lächelte er bescheiden und sagte: „Ich bin halt so ein Pinsler". Unvergeßlich blieb meiner Frau und mir ein Gespräch mit P. Schasching, einmal zu später Abendstunde vor unserem Hotel am Monte Verde Nuovo, wohin er uns in seinem Wagen gebracht hatte. Als wir an ihn zum Schluß die Frage richteten, wie in seiner Sicht die Welt um 2000 wohl aussehen werde, sagte er: „Es wird alles ganz anders sein" ...
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„Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates, zwischen den Menschengruppen, die er umschließt". Über die Herkunft der Macht ist man in unserer pluralistischen Gesellschaft naturgemäß verschiedener Meinung, je nachdem, ob man die Machtträger von „Gottes Gnaden" walten sieht oder von „Volkes Gnaden". Alain Peyrefitte sagt dazu in seinem Buch „Le Mal français": „Seit der Revolution sind wir genötigt, daran zu glauben, daß die Macht von unten kommt. Aber in unserem Gewissen stimmen wir zu, daß sie von oben kommt." Demgemäß ist auch über die Rechtfertigung der Macht seit jeher viel nachgedacht und geschrieben worden. Im Grunde ist sie schon dadurch gerechtfertigt, daß jede gesellschaftliche Institution und jeder einzelne, sobald sie Gemeinschaftsaufgaben übernommen haben, Machtmittel benötigen, diese Aufgaben auch wirksam zu erfüllen. In heiklen Situationen wird von einem Verantwortlichen geradezu nachdrücklich verlangt: „So sprich doch endlich ein Machtwort!" ... Macht ist an sich weder gut noch böse, solange sie als ein bloßes Hilfsmittel aufgefaßt wird, um Ordnung und Sicherheit, aber auch das Gemeinwohl im anvertrauten Machtbereich zu optimaler Wirkung zu bringen. Ein Verzicht auf den legitimen Gebrauch der Macht wäre mehr als ein Fehler: eine Unterlassungssünde, ein Tür-und-Tor-Öffnen für den Mißbrauch der Macht durch andere, für den „langen Marsch durch die Institutionen" gewisser anderer, für die kriminelle Unterwelt und für die Terrorszene. Wenn Francesco Cossiga einmal meinte: „Ich halte die Gleichsetzung von Politik und Macht für verfehlt. Viele Jahre habe ich Politik gemacht, ohne Macht zu besitzen", so ehrt das diesen wirklichen „Onorevole". Wahrscheinlich aber hat er damit die so oft mißbrauchte Macht, die nackte Machtpolitik, Gewaltanwendung ohne Rücksicht auf Gerechtigkeit und Gesetz oder eben nur die sogenannte Hausmacht gemeint, ohne die in Italien und auch anderswo Machtausübung kaum denkbar ist. Die zum Höchstwert erhobene und oft mißbrauchte Macht hat Jacob Burckhardt wohl zu seinem berühmten Wort veranlaßt, daß „Macht an sich böse" sei, und Lord Acton zu dem ebenso berühmten Ausspruch bewogen: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut." Ob zu Recht oder zu Unrecht, diese Auffassung von Macht und ihrer korrumpierenden Wirkung wird heute in einer verallgemeinernden und übertreibenden Form vor allem den Politikern, aber auch den Wirtschaftsmanagern, den Bürokraten und Technokraten, den Theater-, Rundfunk- und Zeitungsmachern nachgesagt. Eine Meinungsumfrage Mitte 1980 in Österreich ergab: Jeder Dritte hält „die" Politiker für korrupt, 58 Prozent meinen, die Politiker dächten nur an ihre eigenen Vorteile, und 62 Prozent, sie dächten nur an Macht. Man könnte
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freilich den Fragenformulierern und Meinungsmachern entgegenhalten: Wie man in den Wald hinein ruft, so hallt es wider. Wenn tagtäglich im Radio, auf dem Fernsehschirm und in den Zeitungen aus dem In- und Ausland vom Machtmißbrauch einzelner, von Privilegiensucht, Protektionsund Pfründenwirtschaft, von Bau-, Banken- und Parteifinanzierungsskandalen, oft mit dem Unterton der Schadenfreude und des Spottes, berichtet wird, kann man eigentlich kein anderes Ergebnis solcher Befragungen erwarten. Damit wird der „res publica" kein guter Dienst erwiesen, vielmehr wird so in der öffentlichen Meinung die Auffassung genährt, alle Politiker und hinter ihnen alle Manager und übrigen Machtträger seien Gauner, Erpresser, Lügner, Egoisten, die nur um ihres eigenen materiellen Vorteiles willen für ihre Ämter und Machtpositionen kandidierten, um — ich zitiere wieder Max Weber — „von der Politik und nicht für die Politik zu leben". Der Kampf um die Macht, das Sich-Bewerben um Führungspositionen darf nicht von vornherein und in jedem Falle schlechtgemacht werden. Wenn einer sich aus sittlichen, patriotischen, religiösen oder sozialen Gründen berufen fühlt, wenn er glaubt, sich für die Allgemeinheit mit seiner Begabung, seinen Ideen, Kenntnissen und Erfahrungen nützlich zu machen, dann soll man solches nicht mißverstehen und verurteilen. Freilich ist es noch günstiger, wenn jemand trotz bester Voraussetzungen für eine politische Laufbahn sich nicht selber anbietet, anbiedert, Protektion und Patronanzen sucht, sondern sich seine Unabhängigkeit bewahrt und warten kann, bis er gerufen wird. Ebenso darf man den Kampf um die Erhaltung und Festigung der Macht, das Ausharren in einer Machtposition trotz Anzeichen des Verschleißes nicht a priori als Sesselkleben abtun. Langjährige Erfahrung in verschiedenen Körperschaften und Ressorts, auf verschiedenen Ebenen und gereifte Menschenkenntnis können besonders in Krisenzeiten oft von größtem Wert sein. Im übrigen sind Einstieg und Aufstieg zur Macht und Ausscheiden aus ihr fast immer irrationale Vorgänge. Nichts läßt sich schwerer planen als eine politische Karriere. Beim Kommen nennen es die einen puren Zufall oder Erfüllung eines Lebenstraumes, beim Gehen empfinden es andere als bitteres Unrecht und andere wieder als eine Gnade, den Fängen der Politik gesund an Leib und Seele — „integer vitae", wie es in einem alten Kommerslied heißt — entkommen zu sein. Ein österreichischer Bundeskanzler der Ersten Republik sagte of zu seinen Freunden, er bitte Gott jeden Tag, er möge ihm sagen, wenn es Zeit sei, zu gehen. Es kam anders: Engelbert Dollfuß wurde am 25. Juli 1934 ermordet.
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I. Versuchung und Scheitern der Mächtigen Die Versuchung der Macht besteht für den einzelnen in der bewußten oder unbewußten Verwechslung mit nackter Machtpolitik — allzuoft hervorgerufen durch menschliche, allzu menschliche Schwächen wie Opportunismus, Ehrgeiz, Geld- und Besitzgier, Größenwahn, falsches Sendungsbewußtsein, Privilegien-, Ordens- und Titelsucht. Der römische Philosoph Seneca zeigt uns in seinem Werk „Von der Kürze des Lebens", daß es schon vor 2000 Jahren nicht viel anders herging: „Bevor manche sich zum Gipfel ihres Ehrgeizes emporarbeiteten, hat sie schon zum Beginn des Ringens das Leben verlassen. Manche befiel, bevor sie zur vollen Höhe ihrer Würde über tausend Würdelosigkeiten hinweg waren, der elende Gedanke, sie hätten sich nur für eine Grabinschrift abgemüht." Für die politischen Parteien und wirtschaftlich-sozialen Interessenvertretungen liegt die Versuchung der Macht vor allem in der fatalen Verwechslung der absoluten Mehrheit der Mandate in den Vertretungskörperschaften mit absoluter Machtausübung schlechthin. „Jetzt, wo wir an der Macht sind!" — wird oftmals von unten und von seitwärts den Machtträgern etwas zugeflüstert, was gesetzlich und moralisch einfach unvertretbar ist. Wer den Versuchungen der Macht nachgibt, den Anfängen nicht widersteht, landet alsbald beim Verlust jeder Moral in seinem Denken und Handeln, bei der sophistischen Auslegung seiner Grundsätze und geschworenen Eide, beim Vergessen seiner Wahlversprechen und schließlich bei fragwürdigen Methoden bei der Postenbesetzung, Vergabe öffentlicher Aufträge, bei der Parteifinanzierung und bei all den Sumpfblüten, die man in Frankreich „gratification", in Spanien „mordida", in Italien „bustarella", in Deutschland und Österreich in höheren Kreisen „Anbahnungsspesen", im Volksmund aber schlicht „Schmiergelder" nennt. Das Scheitern an der Macht ist in der Geschichte und Gegenwart fast zum Normalfall politischer Laufbahnen geworden. Es bleibt dennoch ein tiefes Geheimnis, warum das Ende der Mächtigen meist ein tragisches ist. Reinhold Schneider hat diesem Thema ein epochemachendes Buch „Macht und Gnade" gewidmet, das für viele zu einer Wende des Denkens und Lebens geführt hat. Schon der Titel des 1941 (!) im Insel-Verlag erschienenen Werkes deutet an, daß Reinhold Schneider Machtausübung „im Dienste eines Höheren, im großen Zusammenhang" sieht: „Macht kann nicht besessen, nur verwaltet werden", und in seinem Nachwort zu „Philipp II. oder Religion und Macht" sagt er: „Philipp... durchschritt als katholischer Christ die Tragödie der Konsequenz ... Er scheiterte; alle Konsequenz scheitert zuletzt." Äußerlich und oberflächlich gesehen sind heute die Ursachen des Scheiterns der Mächtigen kaum aufzählbar: Ermordung — gewaltsame Entmach-
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tung — Niederlagen — Intrigen — Unglücksfälle — natürlicher Kräfteverschleiß — schwere Krankheit... Vor allem aber sind es „Pannen", die zum Ausscheiden aus A m t und Würden, ob aus eigenem Verschulden oder im unmittelbaren Verantwortungsbereich passiert, führen. Einige Stichwörter aus der letzten Zeit mögen genügen: Watergate, Lockhead, Wiener Α Κ Η , Berliner Bauten-, Römischer P2-Logenskandal und einige Namen: Nixon — Pahlevi — Bhutto — Sato — Leone — Osswald — Filbinger — Stobbe. Von Idi Amin, Bokassa, Somoza u. a. lieber zu schweigen. In diesen Fällen wird früher oder später die Verantwortung der Macht transparent oder es muß eindringlich nach ihr gefragt werden. Sie sollte aber nicht erst von der Opposition und den Massenmedien eingemahnt werden, wenn ein „Fall" bereits zum Gegenstand heftiger öffentlicher Kritik, von Sondersitzungen und Untersuchungsausschüssen des Parlaments und von gerichtlichen Verfahren geworden ist. Viel früher, nämlich in Schulungskursen, bei Amtseinführungen, bei Vieraugengesprächen zwischen dem Chef und korrekturbedürftigen Mitarbeitern, in engsten Führungsgremien sollte die Frage gestellt werden.
II. Was heißt und wer trägt Verantwortung? Ist nämlich der Fall oder sagen wir deutlicher: der Skandal einmal eingetreten, dann erst ertönt von allen Seiten der Ruf nach der Verantwortung, ohne daß dabei grundsätzliche Klarheit darüber besteht, was sie im Grunde bedeutet und wer sie in welchem Umfang und mit welchen Konsequenzen zu tragen hat. Wenn Winston Churchill einmal sagte: „Verantwortung ist der Preis der Größe", so war damit wohl das uneingeschränkte und unerschrockene Einstehen, die persönliche Risikoübernahme für eigene Handlungen und Unterlassungen oder für solche engster Mitarbeiter, für Irrtum, Fehlentscheidungen und sonstiges Versagen ebenso gemeint wie die Verpflichtung zur Wiedergutmachung und zu anderen entsprechenden Konsequenzen. Der Hauptton wäre dabei auf Konsequenzen zu legen. Verantwortung in diesem Sinne ist von jedem gefordert, der Macht hat und sie in Form von Autorität ausübt: von den Eltern gegenüber den Kindern, vom Lehrer gegenüber den Schülern, vom Schiedsrichter gegenüber den Spielern und Zuschauern, vom Unternehmer gegenüber seinen Mitarbeitern. Die Verantwortung der Macht trifft aber in erster Linie den Politiker, weil ihm ein Höchstmaß an Macht und Machtmitteln anvertraut ist. Demokratie ohne Macht, Regierung ohne Autorität, Freiheit ohne schützende Ordnung sind undenkbar. Karl Jaspers mahnte: „Es gibt keine Freiheit zur Zerstörung der Freiheit", und Hans Kelsen sagte es noch deutlicher in seiner Abschiedsvorlesung an der Universität von Kalifornien: „Es ist das Recht jeder, auch einer demokratischen Regierung, Versuche, sie
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mit Gewalt zu beseitigen, mit Gewalt zu unterdrücken und durch geeignete Mittel zu verhindern." Die Verantwortung der Macht tragen aber auch alle übrigen „Mächte": die Parteien, Gewerkschaften und Unternehmerverbände, Wissenschaft und Technik, die Massenmedien. In zunehmendem Maße haben sich da und dort neben dem Staat mit seinen legitimen Gewalten (Gesetzgebung, Regierung, Gerichtsbarkeit) „Nebenregierungen" etabliert. Sie wollen — ohne Verantwortung zu übernehmen — Macht arrogieren und ausüben, gleichsam als Besserwisser und -könner, als Konkurrenten des Staates. Da sie im Kielwasser der demokratischen Ordnung, oft auch gegen den Strom der Demokratie, schwimmen, wurde ihnen ein Suffix angehängt, das auf „-kratie" lautet und auf ihren Drang zur Herrschaft und Machtausübung hindeutet. Versuchen wir in aller Kürze, nach der Art eines Bildwerfers, die wichtigsten Erscheinungsformen solcher Machtgebilde an uns vorüberziehen zu lassen. Partitokratie — das legitime Streben großer politischer Parteien nach Macht und Mehrheit entartet in der Gleichsetzung von absoluter Mehrheit und absoluter Macht, in der Verwechslung von Partei und Staat, Teil und Ganzem. Bürokratie — die Vielzahl der Gesetze und die wuchernde Kompliziertheit der Verwaltung zwingen zu einer fatalen Aufblähung und falschen Funktionsteilung: die verantwortlich entscheiden sollten, kennen sich nicht aus, die sich auskennen, tragen keine Verantwortung, und so entscheiden halt die „kleinen Chefs", es regiert das „Amtskappel", wie der Vizebürgermeister Heinrich Drimmel alsbald nach seinem Einzug ins Wiener Rathaus feststellen mußte. Technokratie — der rasante wissenschaftlich-technische Fortschritt, der Systeme mit zunehmender Komplexität, Unüberschaubarkeit und Unkontrollierbarkeit hervorgebracht hat und mit dem gefährlichen Slogan „alles ist machbar" auftritt, drängt den Politikern immer gigantischere Projekte auf, die weder finanzierbar noch administrierbar sind. Je größer und kostspieliger diese Projekte sind, je mehr Fehlplanungen und Umplanungen entstehen, desto höher auch die Kosten, Honorare, Provisionen und sonstigen Spesen jener, die der Sache wirklich dienen, und jener, die an ihr nur verdienen wollen. Intelligenziakratie — (Vorbemerkung: nichts gegen den Intellekt, er ist eine Geistesgabe und verhilft uns zur Unterscheidung der Geister, nichts gegen die Intellektuellen, nichts gegen Kritik, nichts gegen kritischen Rationalismus, aber alles gegen jene linksgesteuerte kritische Intelligenz, die zur" Verwirrung der Geister, der Sprache und der Werte und zur Zerstörung unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung angetreten ist).
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Die sogenannte kritische Intelligenz — zuletzt angeführt von Marcuse und Genossen — macht von den Kathedern, Rednerpulten und Schreibtischen her direkte Politik des Dreinredens, Dreinpfuschens und Aufputschens, ohne eine Verantwortung für die zerstörende Wirkung ihrer Ideen und Anstiftungen und deren Umschlag in Kriminalität und Terror zu tragen. Sie hat sich für unsere Gesellschaft nicht weniger gefährlich erwiesen als die Korruption mit Postenschacher, Freunderlwirtschaft und gelben Kuverts. Mediokratie — gewisse Meinungsmacher in gewissen Magazinen, auf gewissen Bildschirmen und Bühnen haben durch macht- und funktionsbewußte Redaktion und Regie sich zu geheimen Machthabern aufgeschwungen. Mancher Politiker wurde von ihnen zuerst gegängelt, und wenn er ihnen nicht mehr paßte, hinweggefegt. Syndikatokratie — während kritische Intelligenz und Medienmacher die Hörsaal-, Bühnen-, Gazetten- und Bildschirmszene zu erobern trachten und von dort her die Entscheidungsfähigkeit der Regierung beeinträchtigen, beherrschen die heute mächtigsten Interessengruppen, die Gewerkschaften, den Staat durch eine wachsende Zahl von Ministern und Abgeordneten aus ihren Reihen, bekommen immer mehr Schalthebel der Macht in die Hand und verstärken dies, so oft es ihnen geboten erscheint, durch Drohung mit Unruhen in den Betrieben, anderswo durch Streiks und Massendemonstrationen. Plutokratie — die Geldaristokratie, heute repräsentiert durch Monopole, Großkonzerne, Großbanken und Multinationale, strebt unter Berufung auf ihre Steuerkraft, Spendenfreudigkeit und arbeitsplatzsichernde Tätigkeit nach Macht und Einfluß auf die Regierungen und über einflußreiche „pressure groups" auf die Parlamentarier. Filzokratie — die Verflechtung politischer Interessen mit persönlicher Raffgier, amtlicher und halbamtlicher Unternehmungen mit dem hemmungslosen Spekulantentum bildet das vorläufige Schlußlicht dieser makabren Reihe. Allen diesen „Kratien" ist gemeinsam, daß sie immer mehr Macht arrogieren und diese anonym ausüben, immer mehr in die Politik dreinreden, den Staat immer unregierbarer machen, die Verantwortung aber ablehnen. Nicht weniger bedenklich scheint die bloß formale, verbale und fiktive Verantwortung der Macht auf seiten vieler Machtträger zu sein. Die formale Verantwortung, wenngleich in der Verfassung, in Gesetzen und Statuten, speziell in einzelnen Strafrechtsparagraphen festgelegt, genügt anscheinend nicht. Sie besteht im wesentlichen im Unterworfensein der Verantwortlichen unter Gesetzesregelungen, Gelöbnisformeln, Parlaments-, Rechnungshof· oder Aufsichtsratskontrolle und schließlich in der Berichts- und Fragebeantwortungspflicht von den zuständigen Gremien.
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Oft bleibt die Verantwortung aber lediglich eine verbale und erschöpft sich in Redensarten wie: „Ich sage das im vollen Bewußtsein meiner Verantwortung" oder: „Die Sache wird einer genauen Prüfung unterzogen werden" oder: „Es wird alles getan werden, um..." oder gar: „Ich übernehme hierfür die volle Verantwortung...", worauf dann meistens nichts geschieht, keine Konsequenzen gezogen werden und die ganze Affäre als Skandalisierung oder Politspektakel abzutun versucht wird. Die fiktive Verantwortung wiederum tut stets so, als ob „ohnehin alles in Ordnung" wäre und „nach bestem Wissen und Gewissen verantwortet" würde. Der zur Verantwortung Gezogene behauptet, völlig legal, d. h. im Rahmen der Gesetze, Vorschriften und vertraglichen Verpflichtungen, gehandelt zu haben, gegen ihn erhobene Vorwürfe seien von keiner rechtlichen Relevanz, man habe ihm auch keine strafrechtliche Tat nachweisen können, böswillige Anzeigen seien vom Staatsanwalt zurückgelegt worden, und er habe nichts getan, was nicht andere auch verfolgungsfrei täten. Im übrigen handle es sich um Verleumdungen, Unterstellungen und Neidkomplexe. Schließlich hätten Politik und Moral, Fortschritt und Moral, Privatund Staatsmoral nicht immer übereinzustimmen, die „Staatsräson", die „Realpolitik" gebiete o f t . . . usw. Die politischen Parteien und die durch Wahlen zustande gekommenen Organe der Interessenverbände, Kammern, Gewerkschaften ihrerseits berufen sich zu ihrer Verantwortung gerne auf das Grundgesetz der Demokratie, daß nämlich die Mehrheit, und beruhe sie auch nur auf 51 Prozent, entscheide und daher immer recht habe. Man dürfe ruhig zur Abstimmung schreiten, wenn es auf dem Diskussions- und Verhandlungswege zu keinem Konsens gekommen sei — auch wenn es sich dabei um so wesentliche Fragen wie den Schutz des Lebens, der Familie, der Neutralitäts- und Verteidigungspolitik, den Schutz und die Handlungsfähigkeit von Minderheiten sprachlicher, religiöser oder parlamentarischer Natur handelt. Lediglich fiktive Verantwortung ist es auch, wenn ein Abgeordneter sich auf das sogenannte direkte Mandat beruft: er sei und bleibe einzig und allein seinen Wählern verantwortlich. In Wirklichkeit ist er nämlich der Partei, die ihn auf die Kandidatenliste gesetzt hat und ihn über den Klubzwang auch gegen sein Gewissen und gegen den Wählerwillen zur Stimmabgabe zwingen und ihn im äußersten Falle jederzeit aus dem Verkehr ziehen kann, verantwortlich. Die Regierungsmitglieder, heißt es, könnten sich bei Gewissensentscheidungen auf ihre Ministerverantwortlichkeit berufen. Aber auch diese bleibt fast immer eine Fiktion. In Österreich hat der Regierungschef zwar keine Richtlinienkompetenz, der einzelne Minister wäre daher nur seinem Gewissen und dem Parlament verantwortlich. In Wirklichkeit ist er in erster und letzter Instanz seinem Parteivorstand oder seinem Interessenverband, durch den er nominiert worden ist, verantwortlich. Wenn er aber
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dennoch glaubt, an einer Entscheidung des kollegialen Organs der Bundesregierung nicht mitwirken zu können, müßte er die notwendige Einstimmigkeit des Ministerrates durch seine Gegenstimme verhindern — und darauf seinen Hut nehmen. Wer aber hat so viel Mut und Charakterstärke? In der Schweizer „Weltwoche" vom 20. August 1980 stand zu lesen: „Der letzte freiwillige Rücktritt eines Ministers fand 1969 statt. Seither ist die Ministerverantwortung eine leere Vokabel, mit der sich effektvoll jonglieren läßt. Wenn's dann um etwas geht, zieht keiner die Konsequenz." Der charakterstarke Unterrichtsminister Piffl Percevic zog sie. Wenn das Leben und Zusammenleben in unserem Staate glücklich, harmonisch und friedlich gestaltet werden soll, dann muß wieder über der bloß formalen Verantwortung, die oft zu einer verbalen und fiktiven heruntergespielt wird, eine höhere Verantwortung gelten, sonst werden wir der heute vielbeklagten mafiosen Umtriebe, der vielzitierten Korruptionssümpfe und sauren Wiesen, aber auch der Porno- und Drogenszene nicht Herr werden. Viel leichter und häufiger wird leider die Moral der Macht geopfert als die Macht der Moral. Und die „doppelte Moral", die sich auf die „Staatsräson" oder auf die „Realpolitik" oder auf ein dialektisches „höheres Wissen" über das beruft, was zur Befreiung der Unterdrückten, zur Herstellung der Gleichheit und klassenlosen Gesellschaft unter Außerachtlassung jeglicher Moral notwendig ist, bildet meines Erachtens den Kern des Übels, das uns nicht nur in Österreich heillose Zustände der Korruption und Filzokratie gebracht hat. Wenn ich der Auffassung bin, daß ich für die Tasche des Staates, der Gemeinde, der Partei oder der „Bewegung" lügen, betrügen, raffen darf, dann partizipiert auch bald die eigene Tasche..., wenn es sich nicht um willensstarke, unanfechtbare Charaktere handelt, die eine moralische Verantwortung der Macht bejahen. Es gibt Gott sei Dank noch diese andere, wirkliche und wirksame Verantwortung der Macht, die sich am Sittengesetz, an der Hierarchie der Werte, am persönlichen Gewissen, am Geist der Verfassung und der Gesetze und an dem ungeschriebenen Verhaltenskodex des Anstandes und der Redlichkeit orientiert. Sie macht uns verantwortlich für Charakterschwächen, fehlendes gutes Beispiel, Prinzipienlosigkeit, Arroganz und Großmannssucht, Bequemlichkeit und mangelnde Zivilcourage, Führungs- und Handlungsschwäche. Moralische Verantwortung tragen wir vor allem für Auswahlverschulden bei der Aufstellung von Kandidatenlisten und der Nominierung von Regierungsmitgliedern, bei der Bestellung von wichtigen Mitarbeitern, von Leitern nachgeordneter Dienststellen, von Aufsichtsräten und Unternehmensvorständen. Hier sind wir verantwortlich für oberflächliche Beurteilungen, Leichtgläubigkeit, mangelnde Menschenkenntnis, blinde Parteitreue und überhaupt für die Verwechslung von echter Freundschaft und schlechter Freunderlwirtschaft. Darüber hinaus gilt, was Alois Mock auf einer Klausur-
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tagung der Österreichischen Volkspartei im Sommer 1980 sagte: „Es gibt auch eine weitergehende politische Verantwortung für die gegenwärtige und die nachfolgenden Generationen. Für diese hat der Politiker ein Höchstmaß an Lebenschancen, Lebensqualitäten und Lebenssinn zu schaffen." Wer A sagt, muß auch Β sagen, wer sich zu moralischen Grundsätzen bekennt, muß sich im konkreten Fall schwerwiegenden Fragen stellen, und dies nicht nur als Politiker oder Interessenvertreter. W i r alle: Wirtschaftstreibende, Arbeitnehmer, Pensionisten, Steuerzahler und Sozialversicherte müssen unseren Handlungen neben den formalgesetzlichen auch moralische Maßstäbe anlegen: — Ist die akzessive, kumulative und egoistische Ausnützung von Steuervergünstigungen, Förderungsmaßnahmen etwa in der Spar-, Investitionsund Wohnbautätigkeit oder bei der Verschreibung unnötiger Medikamente, Krankenstände und Kuraufenthalte auf Sozialversicherungskosten — seien sie gesetzlich noch so in Ordnung — sittlich gerechtfertigt? — Ist die Forderung von Honoraren und Provisionen — tarifmäßig ganz in Ordnung — in Viele-Millionen-, bei sogenannten Jahrhundertprojekten in Hunderte-Millionen-Höhe im Hinblick auf den Steuerzahler gerechtfertigt? — Sind Briefkastenfirmen, Sub- und Schachtelgesellschaften — nach dem Handels- und Internationalen Privatrecht in Ordnung — zum Zwecke, daß ohne Gegenleistung Millionenbeträge von geheimen Konten in unbekannte Zielrichtung weiterfließen, sittlich gerechtfertigt? — Sind „namhafte" Parteispenden und Anbahnungsspesen, in der Angebotssumme bei öffentlichen Aufträgen einkalkuliert — gewohnheitsrechtlich gang und gäbe — moralisch zu verantworten? — Ist die Vergabe von gut dotierten Aufsichtsratsposten an verdiente, aber fachlich völlig ungeeignete Parteifreunde oder eifrige Spender verantwortbar? — Ist die Berufung an höchstverantwortliche Spitzenpositionen der Wirtschaft — trotz formalrechtlich einwandfreier Mehrheitsbeschlüsse — gerechtfertigt, wenn der Bewerber bisher noch keinen Tag in dieser Branche tätig war? — Darf eine Regierungs-, Parlaments- oder Gemeinderatsmehrheit sich erlauben, ein glattes Jahrfünft hindurch Dutzende Anträge der Opposition auf Überprüfung eines aufklärungsbedürftigen Sachverhalts abzulehnen? — Ist es schließlich moralisch erlaubt, die Folgen einer binnen weniger Jahre aufgehäuften riesigen Staatsschuld der nächsten Generation aufzubürden und zugleich der gegenwärtigen Generation Mittel für lebenswichtige öffentliche Aufgaben, ζ. B. Wohnungs-, Straßen- und Anstalten-
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bau, vorzuenthalten, weil der Schuldendienst einen ungebührlich hohen Anteil an den Budgetausgaben verschlingt?
I I I . Das Aul- und Abschiebespiel mit der Verantwortung Im Spiel der Mächtigen ist der Verantwortung die Rolle des Aschenbrödels zugeteilt: Sie wird allzugerne übersehen, hin- und her- und auf- und abgeschoben und dann wieder in den Winkel gestellt. Zwar sind es auch hier Übertreibungen und Verallgemeinerungen, wenn in der öffentlichen Meinung vom Politiker, Aufsichtsratspräsidenten oder Generaldirektor gesagt wird, es gehe ihnen nur um die Macht und das Geld und nicht um die Verantwortung. Das darf unsere Aufmerksamkeit aber nicht von den Karrieristen und Opportunisten, die es in nicht geringer Zahl immer und überall gibt, ablenken. Hier ist nicht nur erhöhte Sorgfalt, sondern auch eine gesunde Portion Mißtrauen empfehlenswert. Für die auf mehr oder weniger krumme Tour an die Macht Gelangten beginnt nämlich oft ein Rumpelstilzchendasein, ein glückseliges Genießen der endlich erlangten Privilegien, ein sorgfältiges Ziehen, Verfestigen und Verknüpfen aller erreichbaren Fäden der Macht, der Aufbau eines dichten Netzes von Klientelen und Clans, ein geschicktes Ausweichen vor Schwierigkeiten und Problemlösungen und ein gekonntes Auf-und-Ab-Schiebe-Spiel mit der Verantwortung. (Das gilt nicht nur für manchen errungenen Regierungs-, Abgeordneten- und Präsidentenstuhl, sondern auch für manchen auf ähnliche Weise erkämpften und „betreuten" Lehrstuhl.) — Da werden Verhandlungs- und Untersuchungstermine ungebührlich erstreckt oder vertagt, um Zeit zu gewinnen, die Sache zu zerreden und vielleicht sich selbst erledigen zu lassen. — Da werden am laufenden Band Kommissionen und Unterkommissionen eingesetzt, noch und noch Expertisen und Gutachten eingeholt, Gegengutachten veranlaßt. — Da wird eine schwierige Entscheidung am besten dem Nachfolger im A m t oder Management aufbehalten. — Da wird mit Rücksicht auf eine in Gang gekommene öffentliche Kampagne oder wegen bevorstehender Wahlen eine Sache als „derzeit politisch unmöglich" zurückgestellt. — Da wird eine schwierige oder strittige Gesetzesvorlage im Parlament durch gekonnte Verzögerungen und Vertagungen der Ausschußberatungen in der laufenden Legislaturperiode obsolet und muß — wenn überhaupt — in der neuen wieder eingebracht und von vorne behandelt werden.
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— Da wird schließlich, oft aus guten demokratischen Erwägungen, aber manchmals auch aus Scheu vor dem echten Gebrauch der Macht, eine Entscheidung von grundsätzlicher staatspolitischer Bedeutung mangels eines breiten Konsenses aufgeschoben, um später vielleicht doch eine breitere Mehrheit zu finden. (1966-1970 geschah dies z. B. mit der bereits im Parlament eingebrachten Strafrechtsreform und dem im Bundeskanzleramt ausgearbeiteten Projekt einer Österreichischen Nationalstiftung. Jedenfalls war es richtig, wenigstens die Südtirollösung Ende 1969 auch gegen die Stimmen der Soziallisten zu beschließen.) Führt so das Aufschieben verantwortlicher Entscheidungen zu oft grotesken Situationen, so wirkt das Abschiebespiel mit der Verantwortung nicht weniger peinlich. — Da wird beim Auftauchen eines „Skandals" dem Ruf nach den Verantwortlichen ein vielfältiges und verwirrendes Echo zuteil. Bald wird die Verantwortung auf die Politiker, bald auf die Unternehmer, einmal auf die „Nehmer", ein anderes Mal auf die „Geber" geschoben. — Heute übernimmt der für Auswahlverschulden oder Kontrollmängel heranzuziehende Politiker die Verantwortung, morgen heißt es, weil „man sich schließlich gut bezahlte Aufsichtsräte leiste, hätten die sich um die Kontrolle zu kümmern". — Da wird von der Kritik einmal der zuständige Politiker, Beamte, Manager für Skandale und Affären verantwortlich gemacht, ein anderes Mal das ganze System, „die Durchdringung des Staates durch die Großparteien und das parteiabhängige Wirtschaftsmanagement". — Da wird die Verantwortung auf die Wissenschaft, Experten und Technokraten abgeschoben, die zwar ihre oft überdimensionierten Projekte, ihre Gutachten und Honorarnoten abliefern, aber die Verantwortung nicht übernehmen können. — Da wird die Verantwortung mit der Feststellung, „die Wurzeln der Korruption liegen i m System der Gewinnmaximierung" auf gekonnt klassenkämpferische A r t auf die bösen Kapitalisten abgeschoben. — Da wird von einem Schweizer Nationalrat, der zugleich Universitätsprofessor für Soziologie ist, die angebliche Stellungnahme der eidgenössischen Regierung für fragwürdige Waffenexporte zitiert: „Der Staat sei eben machtlos gegen die schrankenlose Profitsucht der helvetischen Großbanken und multinationalen Gesellschaften." — Da wird auf einem Kongreß des mächtigen Österreichischen Gewerkschaftsbundes die Schaffung einer Holdinggesellschaft für die industriellen Beteiligungen von verstaatlichten Banken gefordert, wodurch eine „Konzentration der Macht abseits der Banken in einer anderen Hand erfolgt mit einer Aufgabenteilung derart, daß das Risiko auf der einen und
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die Macht auf der anderen Seite liegt" (Dr. Treichl). Übrigens ein typischer Fall von Syndikatokratie! — Da werden am laufenden Band Meinungsbefragungen als maßgebliche Entscheidungshilfe für die Politik herangezogen und die Verantwortung auf zweifelhafte A r t auf das Volk abgeschoben. — Da werden Entscheidungen für die Planung und den Bau von Großprojekten nur grundsätzlich „oben" getroffen, die Auftragsvergaben aber auf untere bürokratische Ebenen übertragen, die wiederum Planungs-, Beratungs- und Kostenrechnungsbüros aus dem In- und Ausland beauftragen, die Übersicht verlieren und so das Dazwischenschalten von Korruptionsmechanismen großen Stils ermöglichen. Der zentrale Abschnitt des schon erwähnten Buches von Alain Peyrefitte trägt den Zwischentitel „Eine Gesellschaft der totalen Unverantwortlichkeit" und beginnt mit dem Satz: „Im Hintergrund des Labyrinths verbirgt sich ein System der undurchschaubaren Macht. Ihre Mittel und Ziele zu verstehen, heißt das Französische Übel verstehen" (der Buchtitel der spanischen und italienischen Übersetzung: El — il — Malo Latino). Und einige Zeilen weiter ruft er verzweifelt aus: „Diejenigen, die etwas verstehen, entscheiden nicht, die aber entscheiden, verstehen nichts!" Dies ist der bittere Refrain auf das labyrinthische Auf-und-Ab-SchiebeSpiel mit der Verantwortung der Macht — nicht nur in den lateinischen oder levantinischen Ländern, sondern auch „bei uns in Bagdad" ...
IV. Auf der Suche nach einem Ariadnefaden stoßen wir auf einige bewährte, schon verschlissene und oft vergessene Prinzipien und Institutionen, durch welche die Verantwortung der Macht wieder ins rechte Lot gebracht werden könnte. Ihnen allen ist gemeinsam die Verteilung der Macht auf überschaubare, kontrollierbare und damit verantwortbare Bereiche: Gewaltenteilung, Rechnungskontrolle, Subsidiarität, Föderalismus, Dezentraiismus, Partizipation. Je mehr heute die Trennung der obersten Gewalten in Gesetzgebung, Regierung und Gerichtsbarkeit vielfach zum bloßen „Nimbus" und zum Opfer des überwuchernden Parteienstaates geworden ist und ihr eigentlicher Zweck, die Aufteilung der Macht auf verschiedene Bereiche zu deren gegenseitiger Kontrolle, verlorengegangen ist, desto eindringlicher gewinnt die Warnung ihres Erfinders, Montesquieu, wieder an Bedeutung: Die Mißachtung der Gewaltenteilung führt zum Staat in Unfreiheit. Die Rechnungshöfe und Kontrollämter ihrerseits versuchen nach Kräften in das „Labyrinth der Unverantwortlichkeiten" hineinzuleuchten, indem sie
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die Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit staatlicher Institutionen und Wirtschaftsunternehmungen in oft unbedankter und frustrierender Sisyphusarbeit überprüfen, Fehlentwicklungen und Korruptionsherde aufspüren und zu klaren Verantwortungsverhältnissen verhelfen. Das Subsidiaritätsprinzip und mit ihm die Dezentralisation bleiben nach wie vor der Zauberschlüssel, der es möglich macht, daß so viel Freiheit als möglich und nur so viel Autorität als notwendig herrscht, um Machtmißbrauch weitgehend zu vermeiden und Verantwortlichkeiten klarzustellen. Der Föderalismus und mit ihm der Regionalismus als die territoriale Ausdrucksform des Subsidiaritätsprinzips gewinnen unter dem Aspekt der Machtaufteilung und besseren Kontrolle erhöhte Bedeutung. Der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer, der nun einen Dezentralisierungskatalog für sein Land ausarbeiten läßt, schrieb in der „Furche" vom 25. Februar 1981: „Wenn Regierung und Parlamentsmehrheit identisch sind und der Opposition wichtige Kontrollrechte versagt werden, erkennt man deutlicher als sonst die Notwendigkeit, die klassische Gewaltenteilung durch eine zweite moderne Gewaltenteilung in Form von ausgeprägten Länderrechten zu ergänzen." Die Partizipation oder Mitbestimmung schließlich soll vorrangig Verantwortlichkeiten aus den bürokratischen Zentralen in die Bürgernähe der Wohnviertel und in die Mitarbeiternähe der Werkstätten und Filialbüros übertragen. V. Die Macht des Gewissens Auf der Suche nach einem Ausweg aus der babylonischen Verantwortungs-, Sprach- und Werteverwirrung stoßen wir auf eine neue Orientierungstafel: die Bedeutung des Gewissens als Richtschnur für die Verantwortlichen beim Umgang mit der Macht, die Erkenntnis: ich muß der Stimme meines geschärften, unverbildeten Gewissens folgen, das mir sagt, was gut und böse, was Recht und Unrecht ist. Im Gewissen besitzen wir einen „Beobachter und Wächter unserer schlechten und guten Tage" (Seneca). Es wird mir auch ein guter Ratgeber sein, wenn ich es verantwortlich und ehrlich befrage, wenn ich verfahrene Zustände in meiner Familie, in meinem A m t oder Betrieb zum Besseren wenden will; wenn ich im konkreten Fall der Versuchung der Macht widerstehen soll. Es wird aber nur dann eine wirkliche Macht bleiben, wenn ich es nicht beschwichtige oder manipuliere oder mein persönliches Gewissen dem sogenannten kollektiven Gewissen der Partei, der „Bewegung" unterwerfe, wenn ich vielmehr zur Arbeit an mir selbst, zum Umdenken und Umkehren bereit bin.
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Die deutschen Bischöfe haben am Beginn dieses Jahres angesichts der bedrohlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, der Schwierigkeiten in der Finanzierung des Sozialstaates, der ansteigenden Staatsverschuldung, der sinkenden Leistungsbereitschaft bei gleichzeitigem Ansteigen der Mentalität, alle Angebote des Sozialstaates auszuschöpfen — manchmal bis zum Mißbrauch —, ein „Umdenken von uns allen" verlangt, auch der Kirche und jedes einzelnen, der Tarif partner und nicht zuletzt der öffentlichen Hand. Gilt das nicht Wort für Wort für uns in Österreich? Ein Umdenken ist auch für uns Politiker vonnöten. Neben der heute vorherrschenden Publicity- und Imagepflege dürfen wir die Charakter- und Gewissenspflege nicht vergessen, neben dem Anspruchsdenken nicht die Leistung, neben den Privilegien nicht die Pflichten, neben der Politik mit dem Kopf nicht die Politik mit dem Herzen, neben der Kunst der Polemik nicht die Kunst der Versöhnung. W i r müssen uns zur Erkenntnis durchringen, daß politischer und wirtschaftlicher Erfolg und Ethik, pragmatisches und rationales Handeln und sittliche Verantwortung sich nicht gegenseitig ausschließen, sich vielmehr in komplementärer Form bedingen und ergänzen, daß, wer die Stimme des Gewissens überhört, sie als altmodisch belächelt und als lästigen Mahner abschaltet, auf die Dauer nichts gewinnt, wohl aber vieles verliert — nicht nur die innere Freiheit. Das Gewissen ist aber auch beim wissenschaftlichen und technischen Forschen, Begutachten und Ratgeben unverzichtbar. „Wissen ist Macht" hieß es am Beginn der Volkshochschul- und der Arbeiterbewegung. Heute müssen wir ergänzen: „Gewissen ist Macht", ist geistiges und moralisches Kapital. Heute müssen wir weiter ergänzen: „Wissen und Gewissen sind komplementär, sie bedingen und ergänzen einander." Wissen (auch im Sinne von Können, Machen) und Gewissen sind heute sogar im besonderen Maße aufeinander angewiesen. Wissenschaft ohne ethische Verantwortung führt auf wichtigen Forschungsgebieten zur Selbstgefährdung des Menschen, sobald sie an die Grenze des Machbaren und in früher unberührte Sphären der Natur eindringt. Dies stellte auf dem Salzburger Humanismus-Gespräch im September 1980 der führende Biochemiker an der Columbia University, der Altösterreicher Erwin Chargaff, fest und nennt als konkrete Beispiele die Verletzung des Zellkerns und die Verletzung des Atomkerns durch eine Wissenschaft, die alles für erlaubt hält, was machbar ist — auch die Neuschöpfung und den Umbau des Menschen aus der Retorte des biochemischen Labors. „Umdenken, ehe es zu spät ist!" verlangt ebendort auch der Freiburger Genetiker Carsten Bresch: „Wir brauchen eine wesentlich neue Denkungsart, wenn die Menschheit am Leben bleiben soll." W i r alle — Politiker und Beamte, Wissenschaftler und Lehrer, Unternehmer und leitende Angestellte — sollten das in den Eides- und Gelöbnisfor-
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mein verankerte „beste Wissen und Gewissen" viel ernster nehmen angesichts dieser Einsichten und Mahnrufe. Wieviel Macht des Gewissens vermag, sahen wir zuletzt am Beispiel der todesmutigen Vorkämpfer für die Menschenrechte in den totalitären Staaten des Ostens, an Solschenizyn, Sacharow, Amalrik und Bukowski in der Sowjetunion, an Lech Walesa in Polen. Zum Thema Christ und Macht von einem französischen Journalisten befragt, antwortete Walesa: „Wäre ich materialistisch eingestellt, hätte ich genügend Angebote gehabt. Aber ich habe mein Gewissen, und das läßt nicht zu, daß ich mich auf solche Dinge einlasse." Und ein norwegischer Beobachter schrieb in diesem Zusammenhang: „Die Wiedergeburt des Gewissens ist das Größte, was sich im Osten in unserer Zeit ereignet. Das Schlimmste, was sich im Westen ereignen könnte, wäre die Einbuße unseres Gewissens." Und so ist es: Jeder einzelne, jedes Organ und jedes System, für welches Machtausübung heute notwendig und legitim ist, braucht angesichts des rasanten Fortschritts von Wissenschaft und Technik, angesichts des wahnsinnigen Wettrüstens und der wachsenden Bedrohung unserer Sicherheit von außen wie von innen das Gewissen, um die uns anvertraute Macht richtig gebrauchen und verantworten zu können.
INTERESSENVERFOLGUNG UND GEMEINSCHAFTSBINDUNG* Von Gerhard Müller
I. Die ethische Berechtigung und Notwendigkeit der Interessenverlolgung durch den Einzelnen Die Interessenverfolgung durch den Einzelnen ist vor noch nicht allzu langer Zeit nicht wenigen ethisch suspekt erschienen, und diese Einstellung dürfte sich auch heute noch vereinzelt finden. Bewußt und mehr wohl noch unbewußt setzt man die Wahrung der eigenen Belange mit Ungebundenheit und Hemmungslosigkeit gleich. Es ist in der Tat nicht zu bestreiten, daß in der Wirklichkeit des Lebens Interessenverfolgung und ungebundene Interessenverfolgung ineinander übergehen können, nur zu oft tatsächlich auch ineinander übergegangen sind und sicher auch in Zukunft ineinander übergehen werden. Im Bereich etwa des Arbeits- und Wirtschaftslebens, also für ein äußerst wichtiges Feld unserer heutigen Gesellschaft, wird dann in der Sache Rücksichtslosigkeit als Prinzip gesehen, und der Wahrnehmung von Interessen begegnet man folglich mit Mißtrauen. Das Wort von der Ellenbogengesellschaft, früher ausschließlich angewandt auf die Unternehmerseite, heute zwar nicht verbal, aber in der Sache vielfach bezogen ebenfalls auf die Gewerkschaften, mag in gewisser Weise kennzeichnend sein. Die historisch liberale Wurzel des Koalitionswesens könnte ferner deswegen verdächtig sein, weil sie auf das engste mit dem geschichtlichen Liberalismus insgesamt zusammenhängt. Im Wirtschaftsleben wird der Liberalismus in undifferenzierter Sicht jedoch heute weithin als inhuman verdächtigt. Im katholischen Bereich wirkt die aggressive Konfrontationsstellung des allgemeinen Liberalismus des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt gegenüber der katholischen Kirche immer noch nach. Die von der katholischen Kirche vertretene Soziallehre ist nicht zuletzt u. a. in der Auseinan* Bei dem Beitrag handelt es sich um die leicht veränderte Wiedergabe eines Abschnittes aus dem im Verlag Duncker & Humblot erschienenen Buch des Verfassers: Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland. Der Verlag und der Herausgeber des Buches, Professor Dr. Anton Rauscher, Augsburg, haben der vorliegenden Veröffentlichung zugestimmt. Die rechtlichen Überlegungen stellen auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ab.
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dersetzung mit einem ungezügelten Wirtschaftsliberalismus näher entwickelt worden. Die Verfolgung seiner Interessen durch den Einzelnen ist jedoch zutiefst sachlich legitim und nicht zuletzt sachlich erforderlich. Der Selbstand des einzelnen Menschen ist im letzten begründet in der Fähigkeit zur geistigen Erkenntnis des Seienden, einschließlich des Möglichen, und der Fähigkeit, seinen Willen entsprechend der zutreffenden Erkenntnis, allerdings auch im Gegensatz zu dem Erkannten, bestimmen zu können. Hiermit ist das gegeben, was die Persönlichkeit in spezifischer Weise kennzeichnet, das, was allen Menschen gemeinsam ist und ihr Humanum ausmacht. 1 Gleichzeitig konstituieren diese Fähigkeiten wesentlich die Je-Einmaligkeit eines jeden konkreten Menschen. Dabei ist es gleich, ob sie nur als Anlage gegeben sind, aber aus irgendwelchen Gründen nicht entfaltet werden können, oder ob sie mehr oder weniger zum Ausdruck gelangen. Die Fähigkeit des Menschen zum geistigen Erfassen und die Fähigkeit, sich in einem geistigen Strebevermögen aus eigener Entscheidung, dem freien Willen, entsprechend dem Erkannten oder wegen eines Schein wertes entgegen dem Rechten zu bestimmen (Wahlfreiheit), sind der Grund für die dem Menschen eigentümliche Subjektstellung. Sie wird heute weithin entsprechend der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG als die Würde des Menschen bezeichnet. Der Subjektstellung, der Würde des Menschen, entspricht es, daß der Mensch für sich selbst sorgt, sich bemüht, seine Belange selbst zu realisieren. Der Einzelne verletzt seine Würde, wenn er sich nicht entsprechend im Rahmen und auf Grund seiner Möglichkeiten verhält, mag auf das Fehlverhalten eine formelle Sanktion der Rechtsordnung stehen oder nicht. Die Subjektstellung des eine geist-leibliche Einheit bildenden Menschen, die ihrerseits spezifisch durch einen geistigen Faktor, einschließlich seiner Wahlfreiheit, bestimmt ist, gebietet ihm die eigene Verfolgung seiner materiellen und geistigen Ziele. Anderenfalls handelt der Mensch seinem eigenen Wesen entgegen, er setzt sich in einen Widerspruch zu seiner Würde, ohne allerdings die in seinem Sein gründende Würde als eine objektive Gegebenheit zu verlieren.
1 Von dem Gemüthaften des Humanum, am besten nach wie vor mit dem Wort „Herz" bezeichnet, sei einmal abgesehen. Die Verstandes- und Willenskomponente des Menschen allein konstituieren ihn allerdings nicht im Vollsinne. Ein Mensch ohne „Herz", ein Wort, das allerdings nicht mit Gemüthaftigkeit in einem sentimentalen Sin'ne verwechselt werden darf, bei dem es vielmehr um „die Mitte der Persönlichkeit" geht, ist zutiefst keine Persönlichkeit, er ist vielmehr mit einem schweren Mangel behaftet.
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II. Der Begriff des Interesses Das volitive Moment bei der Bestimmung der Interessen Die Gefahr unethischen Verhaltens Mit dem Begriff des Interesses ist ein umfassender Sachverhalt angesprochen. Er würde erheblich verkürzt, wenn, wie es des öfteren geschieht, mit dem Wort nur höchst subjektives und dabei in nicht wenigen Fällen ungebundenes, zügelloses Begehren gemeint wäre. Das Interesse, hier des Einzelnen, umgreift alle seine Belange.2 Es steht das existentiell unerläßlich Notwendige zur Erhaltung und Entfaltung des geistigen und körperlichen menschlichen Lebens bis hin zu dem Wünschenswerten in Rede. Es geht darum, was dem Menschen im Blick auf seine menschliche Natur und insofern jedem Menschen dient, und es geht ebenso darum, was dem konkreten Menschen mit seinem konkreten Sosein einschließlich seiner konkreten Anlagen und Fähigkeiten zugute kommt. Dieserhalb geht es um objektive, wenn auch häufig nur schwer zu bestimmende Werte. Die Belange des Menschen sind, soweit es um die letzten und tiefsten Belange geht, in ihrem allgemein gefaßten Gehalt stets gleich; der Mensch ist zu allen Zeiten und in jeder Umwelt stets Mensch. Gleichwohl sind bei den objektiven Werten, jedenfalls weitgehend, immer auch die Umstände von Zeit und Raum zu sehen. Der Mensch hat nicht nur eine bleibende menschliche Natur, er ist, wegen seiner Kontingenz, auch ein geschichtliches Wesen, hineingestellt in die „Umwelt"-Gegebenheiten und in die „Umwelt"-Bedingungen. Was dann objektiv wertvolle Belange sind, läßt sich näher bestimmen, wenn, in Anlehnung an die Juristensprache, als Maßstab die Figur des objektiv und sachlichen Denkenden angelegt wird. Wegen der Subjektstellung des Menschen und der mit ihr gegebenen Selbstbestimmung liegt bei der Erfassung der eigenen Belange durchweg aber auch ein volitives Moment von u. U. erheblichem Gewicht vor. Es wird eine tatsächliche oder auch nur gedanklich gebildete, ggf. eine in erheblichem Ausmaß und sogar ausschließlich triebhaft wirkende Größe wahrgenommen, die man dann mehr oder weniger subjektiv, u. U. höchst subjektiv, als Wert und Gut, auffaßt, empfindet und schließlich anstrebt. Das kann gegenüber dem sachlich anzuerkennenden oder doch jedenfalls nicht zu verwerfenden Interesse, das selbst im Bereich des lediglich Wünschenswerten seinen Platz hat, ohne weiteres zur völligen Verzerrung im Begehren führen. Der Grund für ein derartiges Fehlverhalten liegt einmal in der Erkenntnis- und Willensschwäche, die, mehr oder weniger, jeder Mensch als Signum an sich trägt. 3 Mit dem eben Gesagten hängt ein Weiteres zusam2
Entsprechendes gilt für die Verwendung des Terminus im Blick auf Belange von Gruppierungen, Zusammenschlüssen und Gemeinschaften. 3 Die Theologie spricht von der Erbsünde. Das mit diesem Begriff erfaßte Phänomen ist, bei genügender Ehrlichkeit nicht zuletzt auch in der Selbsterkenntnis, ohne weiteres evident.
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men. Nicht zuletzt gründet das sachliche Fehlverhalten bei einer Verkennung der kontingenten und „gebrochenen" Konstitution des Menschen in der Beanspruchung einer absoluten, selbstherrlichen und bindungslosen Autonomie. Die griechische Antike nannte das Hybris, und in dem Buch Genesis ist diese Haltung mit dem Wort des Versuchers „Eritis sicut Deus" ausgesagt. Stets liegt eine UnVerhältnismäßigkeit des Begehrens, u. U. zutage tretend in einer totalen Perversion, gegenüber dem vor, was Menschen wirklich dient, ein objektiv bestehendes Fehl verhalten. Wie gesagt, ist bei der Bestimmung der Interessen, in nicht wenigen Fällen in einem wohl beachtlichen Ausmaß, ein volitives Moment mit im Spiel. Der Mensch bestimmt als Subjekt seine konkret ihn betreffenden Belange. Diese Subjektstellung läßt ein Oktroi „von außen" streng gefaßt im Sinne einer ausschließlich und allein externen Größe, als ein mit-konstitutives Moment des Menschen nicht zu, unbeschadet dessen, daß bei seiner Kontingenz die menschliche Subjektstellung niemals uneingeschränkt sein kann. Etwas anderes ist die Anerkennung und ggf. die „von außen" erzwungene Durchsetzung der mit dem Menschsein gegebenen Pflichten gegenüber sich selbst und gegenüber den anderen. Das menschliche Sein verlangt die Anerkennung und Bejahung dieser Pflichten; sie sind mit dem Menschen gegebene, ihm immanente und ihn sogar zutiefst entsprechend dem Wesen seines Menschseins mitbestimmende Gegebenheiten. Der Mensch ist eben kein schlechthin unbeschränktes und unbeschränkbares Subjekt, er ist ein „gebundenes" Subjekt, er ist wegen seiner Kontingenz nicht Gott. 4 Die Subjektstellung des Menschen trägt auch in ihrer Kontingenz sein Personsein,5 oder vielleicht besser gesagt, sein Personsein und seine Subjektstellung sind Synonyma. Im Gesamtergebnis gilt: Die Bestimmung seiner Belange durch den Menschen einschließlich des dabei bedeutsamen volitiven Momentes ist als solche ethisch voll zu bejahen. Gleichzeitig sind stets die Gefahr und weitgehend sogar die Realität eines unethischen Verhaltens gegeben.
I I I . Die Sicht der Rechtsordnung Die Rechtsordnung der Bundesrepublik sieht rechtlich die Dinge im Kern ebenso; sie ist im letzten ethisch begründet. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt mit dem Grundrecht „auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" ausdrück4 In Gott, dem Unendlichen, fallen u. a. die schlechthin absolute Freiheit des Willens mit dem schlechthin absoluten Guten zusammen. 5 Die Worte Person und Persönlichkeit sind hier in ihrem allgemein üblichen Sinne und weniger zur Kennzeichnung des Menschen als eines sozial gebundenen Subjektes gebraucht.
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lieh die Personalität und damit die Subjektstellung des einzelnen Menschen. Gleichzeitig wird die Bindung des Menschen bejaht. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit darf nicht zur Verletzung der Rechte anderer führen. Das heißt nichts anderes, als daß das Menschsein eines jeden menschlichen Wesens zu beachten ist und keines Menschen Menschsein verletzt werden darf. Sofern aufgrund einer sachgemäßen Güterabwägung die Persönlichkeit eines Menschen tangiert wird, kann nicht von einer Verletzung des Menschseins die Rede sein; es tritt die mit dem Menschen gegebene immanente Bindung in Erscheinung. 6 Die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung, also des formell verfassungsmäßig zustandegekommenen und materiell nicht gegen die Verfassung verstoßenden Rechtes, einschließlich der Verfassung selbst, unterbindet die selbstherrliche Willkür im Verhältnis der Menschen untereinander und führt damit zu einem präventiven Schutz für jeden. Nicht zuletzt ist eine Rahmenordnung für die Beziehungen und das gegenseitige Verhalten der Menschen anerkannt. Das Postulat der Rechtssicherheit im Zusammenleben der Menschen und ihrer Gruppierungen, einschließlich der Gesamtgemeinschaft des Staates, wird bejaht. Der Mensch benötigt als ein Subjekt, das nicht in sich selbst unangreifbar ruht, um seiner Personalität willen diese Sicherheit. Anderenfalls ist sein Menschsein wiederum dem Zugriff durch andere Menschen und menschliche Gruppen ausgesetzt. Das deckt sich teilweise mit dem Gedanken eines präventiven Schutzes vor Willkür, statuiert aber noch ein Mehr an Sicherheit. Von Willkür betroffen werden, jedenfalls in der herkömmlichen Bedeutung des Wortes, ist nur ein besonders extremer Fall eines Ausgeliefertseins. Die Bindung an das Sittengesetz schließlich besagt die Anerkennung einer fundamentalen Seinskomponente des Menschen, der condition humaine, so daß der Verstoß gegen das Sittengesetz nicht als ethisch und rechtmäßig anerkannt werden kann. Die mit dem Menschsein mitgegebene tiefste Bindung wird von der positiven Rechtsordnung ausdrücklich anerkannt. 7 Hier wie auch im Falle der verfassungsmäßigen Ordnung kann ebenso wie im Falle der Rechte anderer u.U. erst eine Güterabwägung Freiheit und Bindung in ihrer jeweiligen Abgrenzung erkennen lassen.
6 Wenn man diese Begriffe nur recht versteht, sind Autonomie des Menschen und eine „heteronome" Unterworfenheit keine Gegensätze. 7
Das Sittengesetz selbst ist in seinen entscheidenden, mit dem Menschen als solchen unmittelbar gegebenen Normen eine Größe unabhängig von Zeit und Raum, es gilt insoweit stets und überall. Nach Zeit und Raum können zusätzliche ethische Anforderungen auftreten und treten auch auf. Näheres siehe Abschnitt „VII Die Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG".
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IV. Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen Die Überlegungen sind in ethischer und in rechtlicher Hinsicht noch zu vertiefen. Der Mensch ist als Mensch gerade ein auf die Gemeinschaft bezogenes Wesen. Mit den Rechten anderer i. S. des Art. 2 Abs. 1 GG sind nicht nur die Rechte anderer Personen, sondern ebenso die Kompetenzen der Gesamtgemeinschaft des Staates und, im Rahmen ihrer legitimen Zuständigkeit, die Kompetenzen sonstiger Gemeinschaften und Vereinigungen angesprochen. Das Sittengesetz kennt nicht nur die Individualethik, vielmehr ebenfalls die Sozialethik. Der Mensch ist durch sich selbst, nach seinem Wesen, auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen angelegt; er bedarf dieser Gemeinschaft, um Mensch zu sein. Das gilt bereits für seine biologische Existenz. Der Mensch im Mutterschoß, der Säugling, das Kind, der junge Mensch und der alte Mensch ist es bei den meisten Krankheiten und bei jeder Pflegebedürftigkeit. Überhaupt kann kein Mensch, gleich in welchem Lebensalter und in welchem Zustand er sich befinden mag, ohne dritte Menschen existieren; er bedarf ihrer schon, um physisch bestehen zu können. Robinson ist eine erdachte Figur, angesiedelt im Lande Nirgendwo. Die geistige Befähigung kommt maßgeblich in der geistigen Kommunikation mit anderen Menschen zur Geltung, zu ihrer Entfaltung bedarf sie ihrer notwendig. Zwar kann der Einzelne auch für sich nachdenken und zu zutreffenden Ergebnissen kommen, aber seine Möglichkeiten müssen im Elternhaus, in der Schule und überhaupt durch die Erziehung, und sei es auch nur in einer rudimentären Weise, erst einmal geweckt werden. Darüber hinaus würde ohne die geistige Kommunikation mit anderen der Einzelne geistig und seelisch verkümmern, das Ergebnis wäre ein einschneidender Eingriff in seine Menschennatur. Das Aufeinander-Angewiesensein der Menschen ist mit dem Menschen selbst gegeben. Er bedarf in einem allgemeinen und alle seine Seinsschichten umfassenden Sinne schlechthin der Hilfe, der Ergänzung und des Mitwirkens durch die anderen. In einem wechselseitig Von-Einander-Abhängigsein und der Verwirklichung einer so geforderten Interdependenz kommen nicht zuletzt die Gaben und Fähigkeiten der Menschen überhaupt erst zu ihrer Realisierung. Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen läßt das, isoliert gesehen, mangelhafte Individuum erst zum Menschen im vollen Sinne des Wortes werden. Weil jeder Mensch Mensch ist, wäre zudem die Selbstabschließung und Selbstisolierung des Einzelnen gegenüber den anderen zutiefst eine Mißachtung ihres Menschseins. Der Einzelne, an Wert gleich jedem anderen Einzelnen und insofern nicht höherstehend,'tangiert sonst oder negiert ggf. sogar dessen Menschtum. Ej sieht sich sozusagen als den einzig Erhabenen.
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Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen wird deutlich in seiner geschlechtlichen Verschiedenheit, die auf die Ein-Ehe als eine feste Institution hinweist. Sonst gebraucht der Mensch in seinem Geschlechtsleben den anderen Menschen nur zu leicht als wechselndes Objekt und degradiert sich selbst zu einer Vollzugsgröße seines Geschlechtstriebs, was alles mit seiner geistigen und ihn entscheidend mitbestimmenden Komponente nicht zu vereinbaren ist. Das Sprachvermögen kennzeichnet ihn als ein auf sinnenhaft-geistige Kommunikation mit anderen Menschen angelegtes Wesen. Nicht zuletzt wäre der Mensch in einer den Einzelnen völlig erfassenden Isolation auf sich selbst zurückgeworfen und damit in des Wortes negativer Bedeutung vereinsamt. In der Verbindung mit anderen erfährt er sich wie in einer besonderen Weise als Mensch, und die Beziehung zu Seinesgleichen trägt ihn. Auch das allgemeine gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein in seinen leiblichen Bedürfnissen ist mit seiner Natur gegeben. Sie ist ihm wie seine ganze Gemeinschaftsbezogenheit als Geschöpf von Haus aus eigen. Der Mensch erfährt in der Gemeinschaft die Möglichkeit zu seiner Entfaltung, sie verhilft ihm zum vollen Menschtum im Sinne seiner irdischen Bestimmung, und zugleich wird sein Leben durch den Dienst an der Gemeinschaft reicher. 8
V. Folgerungen hinsichtlich der Rechtsordnung Die Rechtsordnung ist somit als eine wesentliche Grundvorschriften normierende Ordnung des Zusammen- und Miteinander-Lebens der Menschen zu verstehen. Wäre der Mensch ein in sich abgeschlossenes Individuum, hätte diese Ordnung im letzten keine verpflichtende Kraft. Sie ist aber um der Menschen willen notwendig. Man kann das Recht nicht als ein System von mehr oder weniger frei vereinbarten Spielregeln auffassen. Spielregeln sind nicht verpflichtend, und jeder Teilnehmer am Spiel kann sich jederzeit von und aus ihm zurückziehen. Die Setzung der Rechtsordnung mit ihrem zwingenden Charakter 9 erfordert eine hierzu legitimierte Autorität, die in einer Gemeinschaft ihre Grundlage hat. Diese Gemeinschaft vereint die Menschen aufgrund ihrer Gemeinschaftsbezogenheit und realisiert und aktualisiert des näheren diese Gemeinschaftsbezogenheit und die mit ihr gegebenen Bindungen. Die Gemeinschaft hebt den Menschen in seiner Subjektstellung nicht auf, sie hat ihn zu tragen. 8 Das weltanschauliche und religiöse Leben des Menschen ist ebenfalls gemeinschaftsbezogen. 9
Bereits diese Formulierung und erst recht das Wort vom Rechtszwang dürften in einer Zeit hemmungsloser Emanzipation Anstoß erregen. Sie zeigen aber einen unabdingbaren Aspekt der Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen auf.
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Die im Grundgesetz angesprochene verfassungsmäßige Ordnung ist daher, wie jetzt besonders deutlich ist, nicht nur ein System zur Verbürgung der Rechtssicherheit. Bei der Frage, ob im einzelnen Falle die Rechtssicherheit oder aber die materiale Gerechtigkeit den Vorrang zu beanspruchen hat, darf allerdings letztere in keinem Falle völlig außer acht gelassen werden. Materiale Ungerechtigkeit, mag sie noch so lange bestehen, erzeugt letztlich die Ablehnung einer solchen „Ordnung", und bereits die Resignation ihr gegenüber läßt sie brüchig sein. Die Gemeinschaft ist ferner in der Lage, zu Gunsten der Einzelnen oder einzelner Gruppen unterhalb der Gesamtgemeinschaft zu intervenieren. Sie hat tätig zu sein, wenn die menschliche und menschenwürdige Existenz des Einzelnen nur noch auf diese Weise zu halten ist und im Falle der Gruppen die Legitimität und gleichzeitig ihre irgendwie erforderte Notwendigkeit dies gebietet. Andernfalls wird die Natur und darüber hinaus auch das Gebrochensein des Menschen von der menschlichen Gemeinschaft (deren Glieder aber nun einmal stets „gebrochene" Menschen sind, so daß „die Gebrochenheit" in die Gemeinschaft hineinwirkt) nicht in den Blick genommen. Die Gesamtgemeinschaft umschließt jeden, und in irgendeiner Weise ist sie über ihre Repräsentanten wegen des notwendigen Miteinander der Menschen mit verantwortlich für alle, einschließlich für die in der Stufenordnung unter ihr stehenden Gruppierungen. Zutiefst gilt das alles aber auch, weil der Mensch, was mit seiner Kontingenz nichts zu tun hat, 1 0 schon von Haus aus kein in sich abgekapseltes Wesen ist. Theologisch gesprochen würde eine „nichtgebrochene" erbsündenlose Menschheit schon deswegen die in Rede stehende Ordnung verlangen, die allerdings dann von allen in der Erkenntnis, daß sie notwendig zum Menschen gehört, frei bejaht und befolgt würde. Der Mensch ist wegen der Menschen der Gemeinschaft gegenüber verpflichtet, und er muß für das Bestehen und die legitime Tätigkeit der Gemeinschaft im Interesse des Menschseins eintreten.
V I . Weder strenger Individualismus noch strenger Kollektivismus Die mit seinem Personsein gegebene Subjektstellung des Menschen sowie seine Gemeinschaftsbezogenheit sind stets zusammen zu sehen. Sowohl ein strenger Individualismus wie ein strenger Kollektivismus sind in sich verfehlt. Die menschliche Persönlichkeit darf niemals im Kern aufgehoben oder auch nur wesentlich tangiert werden. Auf der anderen Seite ist der 10
Kontingenz besagt, daß ein Seiendes nicht aus sich heraus und in sich schlechthin und unbedingt notwendig existieren muß. Das ändert jedoch nichts daran, daß der Mensch und die menschliche Gemeinschaft in sich vollgültige Werte sind.
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Mensch in Verkennung seiner Gemeinschaftsbezogenheit keineswegs eine selbstherrliche Größe; im unmittelbaren Ergebnis wäre seine Persönlichkeit ebenfalls im Kern verletzt. Das Sittengesetz und hier nicht zuletzt die Sozialethik, aber auch die auf die Person des einzelnen Menschen bezogene Ethik sagen dasselbe. Das gilt gleichfalls für das, was hinsichtlich der rechtlichen Rahmen- und Grundordnung gesagt wurde. Das Recht selbst muß, wenn es verbindlich sein soll, in der Ethik gründen. Allerdings ist stets zu bedenken, daß die positive Rechtsordnung weitgehend nur einen Grund-, wenn nicht sogar nur einen Minimalbestand an ethischen Postulaten zur Geltung bringt und mehr als einen Grundbestand dieser Normen durchweg auch nicht zur Geltung bringen kann. Die Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG, daß das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht gegen das Sittengesetz „verstoßen" darf, sieht dessen Gebote und Verbote terminologisch als Begrenzung.
V I I . Die Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG Art. 2 Abs. 1 GG ist, rechtshistorisch gesehen, formuliert worden aufgrund der Erfahrung des totalitär-kollektivistischen NS-Regimes. Heute ist eine nicht unbeträchtliche Überspitzung der Selbstentfaltung infolge einer bindungslosen emanzipatorischen Sicht und Haltung zu beobachten. Nach einem kollektivistischen System hat man den Weg von Maß und Mitte zunächst eingehalten, dann aber hat in einer bei den verschiedensten geistesgeschichtlichen Gedanken, Formen und Gestalten auch sonst oft zu beobachtenden Depravation für unsere Zeit ein Libertinismus Platz gegriffen. 11 Die „Schranken"-Bestimmung des Grundrechts steht dieser Erscheinung von der Rechtsordnung her allerdings ebenfalls so entgegen wie die Betonung der freien Entfaltung der Persönlichkeit kollektivistischer Tendenzen. Sie muß aber auch beachtet werden. Insgesamt ist festzustellen, daß eine unbeschränkte und unbeschränkbare Bestimmung seiner Belange durch den Menschen ethisch nicht nur keine Grundlage findet, sondern einfach nicht gerechtfertigt ist. Der Mensch ist personales Subjekt, aber als solches auch eingefügt in die Gemeinschaft (und ferner kontingent und darüber hinaus „gebrochen"). Er besitzt eine „gebundene" Autonomie. Von hier aus, einem vordergründig formalen, bei der näheren Erfassung des Menschen aber sofort inhaltlich gefüllten Begriff, 12 sind die ethischen Grenzen für die Bestimmung und die Verfolgung 11 12
Ein recht verstandener liberaler Gedanke ist hiermit nicht identisch.
Des näheren werden die Subjektstellung des Menschen und gleichzeitig seine Kontingenz und „Gebrochenheit", vor allem aber auch seine unabhängig von den letzteren Gegebenheiten bestehende Beziehung zu den anderen Menschen und
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der Belange zu erfassen. Z w i n g e n d e s staatliches u n d d a b e i ethisch haltbares Recht ist a u c h e t h i s c h z u beachten. Unbeschadet der l e t z t e n Prinzipien der E t h i k hat eine n i c h t geringe A n z a h l ethischer Forderungen d a b e i ihr Gew i c h t e n t s p r e c h e n d d e n U m s t ä n d e n v o n Z e i t u n d Ort. Diese U m s t ä n d e k ö n n e n i n n i c h t w e n i g e n Fällen zusätzliche Bindungen, aber auch, ohne daß die l e t z t e n V e r b o t e b e r ü h r t w ü r d e n , besondere Freiräume v e r l a n g e n . 1 3 D i e G r u n d r e c h t s n o r m b e r ü c k s i c h t i g t dies. Z e i t u n d O r t als b e d e u t s a m für die R e c h t s o r d n u n g s i n d i n d e m Begriff der verfassungsmäßigen O r d n u n g und, soweit es sich u m für das Sittengesetz bedeutsame Gegebenheiten handelt, m i t i h m ebenfalls m i t angesprochen. Des öfteren w i r d die A n s i c h t geäußert, A r t . 2 A b s . 1 GG m i t seiner A n e r k e n n u n g des a l l g e m e i n e n Persönlichkeitsrechts werde
schlechthin
u n d m i t seinen s ä m t l i c h e n A u s s a g e n verdrängt, soweit die näher formulierüberhaupt seine Gemeinschaftsbezogenheit erkannt, und diese Gesamterkenntnis führt zu dem Begriff der „gebundenen" Autonomie. 13
Insofern läßt sich von einer Bedingtheit des Sittengesetzes sprechen; siehe auch Schambeck, Ethik und Staat, der recht oft auf besondere sittliche Anforderungen je nach Zeit, Ort und Umständen hinweist. Mit der obigen Bemerkung dürfte ein Beitrag zur Erfassung des zutreffenden Inhalts des heute vielfach verwandten Wortes von der geschichtlichen Wahrheit geleistet sein. Das sozialethisch Zutreffende ist auch abhängig und damit bedingt von den konkreten näheren Sachgegebenheiten, von der geschichtlichen Situation. Der Mensch als ein kontingentes und damit in bestimmter Hinsicht veränderliches und sich veränderndes Wesen hat eine dementsprechende Dimension. Das führt zu wechselnden und auch neuen Sachverhalten, die die ethische Frage in bestimmter Hinsicht und in verschiedenen Aspekten immer wieder in anderer Weise auftreten läßt. Das jüngste Beispiel in unserem Wirtschafts- und Kulturraum ist wohl die Industrialisierung, die dazu führte, sich umfassend mit der Stellung des Arbeitnehmers als Mensch befassen zu müssen. Der Begriff der geschichtlichen Wahrheit darf andererseits nicht dazu führen, jede Wahrheit, in unserem Zusammenhang ethische Wahrheiten, als ausschließlich geschichtliche und damit als bloß relative Größe zu sehen. Der menschliche Verstand, der menschliche Wille, das menschliche Gemüt sowie die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen, aber auch seine Kontingenz und seine „Gebrochenheit", sind Größen, die zutiefst das Menschentum bestimmen und zu allen Zeiten und an allen Orten mit dem Menschen vorliegen. Die letzten und vor allem entscheidenden sozial-ethischen Wahrheiten sind unveränderlich und gründen in der bleibenden menschlichen Natur. Die Relativierung jeder Wahrheit hebt im übrigen den Gedanken der Wahrheit auf und läßt es zu, zeitigt sogar bei folgerichtigem Denken zwingend das Ergebnis, ohne weiteres die hic et nunc bestehende „geschichtliche" Wahrheit als verbindliche Größe verneinen zu dürfen. Solange die einschlägigen Gesamtumstände jedoch existieren, begründet der Sachverhalt aber notwendig das ethische Gebot. Die ethische Wahrheit liegt i m Sachverhalt und ist mit ihm gegeben. Liegt ein Sachverhalt stets vor, besteht unverändert die diesbezügliche ethische Wahrheit, und sie gilt ständig. Das Seiende, im Fall der Ethik die mit dem Seienden immanent gegebenen positiven und negativen ethischen Aussagen, ist, sofern es ist, durchdauernd wahr. Auch das möglich Seiende ist als Möglichkeit seiend.
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ten Grundrechte Platz greifen. Insbesondere die ohne den sog. Gesetzesvorbehalt formulierten Grundrechte stünden einer schrankenlosen Ausübung offen. Wichtig ist, daß das allgemeine Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht gegenüber einem inhaltlich näher umschriebenen Grundrecht zum Zuge kommt. Letzteres sichert bereits unter einem bestimmten Aspekt die Entfaltung. Es darf jedoch nicht der Standort des Art. 2 in der Verfassung übersehen werden. Sein Platz im Eingang der Verfassung und unmittelbar hinter dem Ur-Grundrecht der Würde des Menschen läßt schon mit dieser Anordnung das Gewicht seiner Aussage erkennen. Die allgemeine Gewährleistung des Persönlichkeitsverhaltens wird durch die weiteren Grundrechte und grundrechtsähnlichen Institutionen nur jeweils näher präzisiert. Damit ist jedoch nicht der Inhalt des Soweit-Satzes mit den für die Persönlichkeit wichtigen Bindungen gegenstandslos geworden. Diese Bindungen sind mit den Mensch selbst gegeben, und das gilt nicht zuletzt im Blick auf seine Gemeinschaftsbezogenheit. Der Mensch ist nun einmal ein von vornherein „gebundenes" selbständiges Wesen, die fraglichen Schranken sind ihm immanent, und sie sind überhaupt keine Schranken im strengen Sinne des Wortes. Etwas anderes ist es, in welchem Verhältnis jeweils menschliche Freiheit und menschliche Bindung bei der menschengemäßen Bestimmung des Gehaltes der einzelnen Grundrechte zueinander stehen. Eine absolute Freiheit — und ebenso eine absolute Bindung — liegen, um es abschließend noch einmal zu sagen, allerdings niemals vor. 14
14 Zu der obigen Überlegung siehe des näheren Dürig in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz / Papier, GG, Abs. 1 Art. 2 RZ 69 ff., insbesondere RZ 71 ff., 75. Soweit die Grundrechte nach Art. 19 Abs. 4 GG auch für die inländischen juristischen Personen gelten, greifen die Gedanken oben ebenfalls. Diese Gebilde sind von Menschen getragen und in die Gemeinschaft eingefügt, wie sie andererseits eigenständige Größen sind.
INDUSTRIEKULTUR ZWISCHEN TECHNIK UND ETHIK Von Edgar Nawroth OP
Zu den überraschenden Zeiterscheinungen der Gegenwart gehört in der Bundesrepublik der weitverbreitete Zweifel an der Industriekultur. Aus einer internationalen Umfrage des Jahre 1981 (Allensbach) geht hervor, daß unter allen Industrienationen die Westdeutschen mit Abstand die meisten Vorbehalte gegenüber dem technischen Fortschritt geltend machen. Wie schnell sich hier ein Bewußtseinswandel vollzogen hat, bestätigen weitere Umfragen (Allensbach). Bewerteten im Jahre 1966 rd. 72% der Befragten den technischen Fortschritt als segensreich, waren in 1972 nur noch 60 % dieser Ansicht, während in 1980 der Anteil der Befürworter auf 30 % zusammenschrumpfte. Dieser Vorgang wirkt bei nüchterner Betrachtung grotesk, wenn man bedenkt, daß die Bundesrepublik außer Kohle kaum Rohstoffquellen besitzt, daß jeder dritte Arbeitsplatz vom Export abhängt, daß wir in der internationalen Spitzengruppe der höchsten Löhne liegen und daß unsere Sozialleistungsquote ebenfalls mit in der Spitzengruppe der Industrienationen rangiert, wir also insgesamt auf Wachstum und technischen Fortschritt dringend angewiesen sind, nicht zuletzt um auch die sozialen Kosten aufbringen zu können. Das Verhalten der Bundesbürger in dieser Frage muß deswegen besonders auffallen, weil in unseren Nachbarstaaten mit gleich hohem Zivilisationsniveau, wie etwa in Frankreich, den Beneluxländern und England, von einer derartigen kritischen Einstellung der technischen Entwicklung gegenüber nicht die Rede sein kann. Pauschalurteile über die angebliche Unmenschlichkeit der modernen Großtechnologie sind jedoch deswegen ernst zu nehmen, weil sie sich nach dem Urteil von Unternehmerseite hemmend auswirken auf die wissenschaftliche Forschung und den wirtschaftlichen Aufschwung. Sie haben zudem zu unnötiger politischer Polarisierung geführt. Die Auseinandersetzung mit dieser Einstellung ist daher für uns notwendig, denn sie rührt an die Zukunft unserer Industriekultur.
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Im folgenden geht es zunächst um den Zweck und die Sinngebung der Technik, denn die zunehmende technologische Skepsis ist im Kern eine Sinnfrage. Da wir den technischen Fortschritt in seinen Auswirkungen im Blick behalten müssen, was uns inzwischen besonders die Umweltschutzproblematik drastisch klargemacht hat, befaßt sich der zweite Teil der Ausführungen mit der Ethik des technologischen Fortschritts, also mit den Bedingungen und Bindungen des kreativen technischen Schaffens im Interesse des Gemeinwohls. I. Zweck und Sinngebung der Technik Die Frage, wo die eigentlichen Wurzeln der angedeuteten negativen Einstellung zum technischen Bereich liegen, drängt sich auf. Wer die letzten dreißig Jahre mit ihren ideologisch geprägten Strömungen und Auseinandersetzungen in etwa überblickt, findet den Eindruck bestätigt, daß es sich bei diesem Widerstand im Kern um gezielte Grundlagenkritik an der Leistungsgesellschaft und Industriekultur insgesamt handelt. In Frage werden gestellt: Wachstum, Leistung, Strukturwandel und Wettbewerb als Richtwerte der Arbeitsgesellschaft. Wie tiefgreifend der sich hier abzeichnende Bewußtseinswandel ist, zeigt ein vergleichender Blick zurück. Er bestätigt, daß der technologische Fortschritt des 19. Jahrhunderts bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts von den Zeitgenossen als Erweis für die alles beherrschende menschliche Intelligenz und Vernunft gewertet wurde. Aus der engen Verbindung und wechselseitigen Befruchtung von Physik, Chemie und Technik, der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung und der industriellen Produktion erstand zwischen 1830 und 1930 das sogenannte „goldne Zeitalter" der deutschen Wissenschaft und Forschung. Unvergessen sind Forscherpersönlichkeiten wie Gaus und Fraunhofer, Siemens und Röntgen, Liebig und Pasteur, Koch und Max Planck. 1 Aus dem Bereich der Chemieforschung ist Emil Fischer (1852-1919), der erste deutsche Nobel-Preisträger für Chemie, zu erwähnen. Für die führende Rolle deutscher Industrieprodukte auf dem Weltmarkt seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zeugt das Gütesiegel „Made in Germany". Dafür spricht auch die deutsche Spitzenstellung im internationalen Patentrecht und bei der Vergabe der Nobelpreise. 2 Wie erklärt sich nun die auffallende Technologieskepsis? 1
A. Probst, Mensch und Technik, München 1984, S. 14. H. Maier, Welche Lebenserwartung hat die Industriekultur noch?, in: Deutsche Tagespost (DT), Nr. 3, 1985. 2
Industriekultur zwischen Technik und Ethik
I. Technologiekritik
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im Ideologie-Verdacht
Die Mehrheit derjenigen, die sich heute in bewußter Distanzierung zur modernen technischen Welt von der Devise „Zurück zur Natur!" faszinieren lassen, dürfte sich nicht darüber im klaren sein, daß hinter der Technikfeindlichkeit und dem Kulturpessimismus von heute eine bestimmte philosophische Richtung am Wirken ist. Sie wurde bereits in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts literarisch vorbereitet. Als einflußreichster Wegbereiter ist hier an erster Stelle der deutsche Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (1880-1936) zu nennen. Spengler sah, von einem deterministischen Geschichtsbegriff ausgehend, im Geschichtsablauf nichts anderes als die unbeeinflußbare Folge in sich unabhängiger Kulturepochen, deren Entstehung, Blüte und Verfall angeblich unter einer Lebensgesetzlichkeit stehen. Die gegenwärtige westliche Kultur habe in ihrem zivilisatorischen Spätstadium ihren Höhepunkt bereits überschritten. Für den „Untergang des Abendlandes" (erschienen zwischen 1918-1922) machte er den von ihm pessimistisch gedeuteten technologischen Menschentyp verantwortlich, der aus Machtgier und mit Hilfe ungeheuerlicher technischer Überlegenheit die Natur vergewaltige und dabei Menschlichkeit, Geist und Kultur vernichte. Es überrascht festzustellen, wie diese pessimistische Saat in der nachfolgenden Literaten-Generation und bis hin zu Orwells Prognose „1984" (1950) und schließlich in der gegenwärtigen Ablehnung des technologischen Fortschritts erneut auflebte. 3 Philosophisch unterbaut wurde diese weitgehend gefühlsmäßig gesteuerte Gedankenrichtung durch die Gesellschaftskritik und Gesellschaftstheorie des Philosophen Herbert Marcuse (1890-1979), des geistigen Vaters der Studentenrevolte der 60er Jahre. Seine Grundtendenz, die bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen kritisch zu hinterfragen und sich vom „eindimensionalen" produktionsintensiven Denken erstarrter Bürgerlichkeit abzusetzen, verdichtete sich innerhalb der studentischen Generation zur „großen Weigerung" gegenüber der gesamten Industriekultur. Für Marcuse ist die hochentwickelte Technik ein „Instrument destruktiver Politik", 4 weil sie angeblich auf ein totalitäres System sozialer Beherrschung ausgerichtet ist. 5 3 4 5
Probst, S. 14. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, S. 238. Marcuse, S. 258, 265.
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Wie total die Technik den Menschen beherrscht, erkennt man nach Marcuse daran, daß das menschliche Denken unserer Epoche einen ausgesprochen funktionalen und technischen Charakter angenommen habe. Es stehe fast nur noch im Dienste des technischen Apparates und des dazu gehörigen Establishments. Dieses enthusiastisch aufgenommene irrationale Verdammungsurteil des bestehenden Systems hat weite Kreise bis hin zu durchaus gutwilligen konservativen Denkern gezogen. Der eingeleitete „lange Marsch durch die Institutionen" bis hin zu einflußreichen Stellen der Gegenwart war auch hier erfolgreich. Heute erleben wir die letzten Wellenschläge dieses tendenziösen Umbruchs und zwar in den grün-alternativen Wertvorstellungen, die sich ebenfalls gegen die traditionellen Richtwerte der Arbeitsgesellschaft wenden. Der Freiburger Politologe Bernd Guggenberger kennzeichnet die geistige Situation der Bundesrepublik mit der Feststellung: „Wir erleben gegenwärtig das Neben-, Gegen- und Ineinander zweier Gesellschaften mit je eigenem Werthimmel, die alles andere als friedliche Koexistenz zweier Bewußtseinshorizonte, deren einer sich noch immer deutlich an den Notwendigkeiten der industriellen Arbeits- und Wachstumsgesellschaft orientiert, während der andere sich ebenso deutlich an den Bedürfnissen und Interessen der im Entstehen begriffenen Freizeitgesellschaft ausrichtet.. ." 6 Mit anderen Worten: Das aufklärerische unbedingte Vertrauen auf Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt ist auf dem besten Wege, vom „postmateriellen" Wertwandel der „nachindustriellen Gesellschaft" abgelöst zu werden. Die Weisung der 50er Jahre „Stabilität durch Wachstum" hat sich nicht durchhalten können aufgrund der Erfahrung, daß Wachstum unter bestimmten Voraussetzungen entstabilisiert und sowohl ökologisch wie gesellschaftlich rechenschaftspflichtig geworden ist. Dieser Bewußtseinswandel wurde mit vorangetrieben durch die sog. „kritische" Wissenschaft, die sich — im Unterschied zur traditionellen Wissenschaftsauffassung — nicht mehr in erster Linie auf objektiv gültige Erkenntnis gerichtet weiß, sondern als „politisch orientierte" Wissenschaft gesellschaftlich engagiert ist mit dem Ziel einer Veränderung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems. Zu den kritischen Anfragen dieser Denkrichtung gehört die nach der Sinnhaftigkeit der vorherrschenden technischen Zivilisation, die verneint wird. 6 zit. W. W i l d , Die Auswirkungen des grün-alternativen Wissenschaftsverständnisses auf die Forschung, in: Freiheit der Wissenschaft, H. 3, 1986, S. 6.
Industriekultur zwischen Technik und Ethik
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„Man fordert eine Ethik der Technik", wie Wolfgang Wild, der jetzige Wissenschaftsminister von Bayern, treffend zusammenfaßt, „und versteht darunter fast ausschließlich eine asketische Einstellung, einen weitgehenden Verzicht auf das Machbare... Nicht der Durchbruch nach vorn zu einer ressourcenschonenden, sauberen und menschenfreundlichen modernen Technik wird propagiert, sondern man fordert den Ausstieg aus der technischen Zivilisation um beinahe jeden Preis — so wörtlich Carl Amery —, die Rückkehr zu vorindustriellen Lebensformen und eine asketische Gesinnung." 7 Diese Feststellung bestätigt den Ideologieverdacht dieser Art Technologiekritik, die mit der Forderung nach Rückkehr zu natürlichen Lebensgrundlagen zugleich gesellschaftliche Grundlagenkritik verbindet. Maßgebend ist die Absicht, aus der unüberschaubar gewordenen, verunsichernden Industriegesellschaft auszusteigen. Man kann diese Schlußfolgerung nicht ohne weiteres als „Hysterie" abstempeln, denn sie ist ein Ergebnis der derzeitigen technologischen Entwicklung. Die Kernenergie-Technik wurde zum Inbegriff einer Großtechnologie, die aufgrund unüberprüfbarer Langzeitwirkungen gesundheitlicher, erbbiologischer und auch gesellschaftlicher A r t und wegen der damit verbundenen ausgeweiteten Verantwortlichkeit unkontrollierbar zu werden droht. Die neuen Möglichkeiten der Elektronik und Gentechnologie haben mit der Vision des Unheimlichen die Tendenz zum Ausbruch aus der technischen Zivilisation verstärkt. 8 Diese kulturkritische Problemsicht ist nur eine, wenn auch einflußreiche Quelle heutiger Technologie-Furcht. Aus der Sicht der Arbeitnehmerschaft wurde die Sorge, es würden durch die technologischen Neuerungen mehr Arbeitsplätze gefährdet als gesichert, zur Mitursache der TechnologieFeindlichkeit. Diese Sorge ist ernst zu nehmen. Sie zielt ab auf das Spannungsverhältnis von
2. Technologiefortschritt
und Beschäftigungslage
Tatsächlich hat der technische Fortschritt in verschiedenen Berufszweigen zu unterschiedlichen, z. T. erheblichen Umstrukturierungen geführt, die mit Arbeitsplatzverlusten verbunden sind. Das Prognos-Makintosh-Institut kommt in einer für das Bundesforschungs-Ministerium im Jahre 1980 durchgeführten Untersuchung über die 7 8
Wild, S. 11. B. Fritzsche, Die zwei Gesichter des Fortschritts, in: NZZ, 25.5.1986.
13 Festschrift Schasching
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Auswirkungen des technologischen Fortschritts auf die Beschäftigungslage zu folgenden Ergebnissen: 10 % aller Berufe werden kurzfristig und erheblich von der Technologisierungswelle betroffen; mittelfristig etwa zu 47 %, darunter nahezu alle Fertigungsberufe; kaum oder nicht davon erfaßt werden rd. 43 %, unter ihnen die Dienstleistungs- und Handwerksberufe. 9 Feststeht jedenfalls, daß von der zunehmenden Technisierung der Organisations-, Büro- und Verwaltungsberufe in erster Linie die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen betroffen werden. Man erwartet auch, daß die Informationstechnik kurz- oder mittelfristig über die Hälfte aller Beschäftigten erreichen wird. Bei der fortschreitenden Einführung der Mikro-Elektronik ist zu bedenken, daß in der Serienfertigung eingesetzte Industrieroboter im Zweischichten-Betrieb vier Arbeitnehmer freistellen können. Vorausschätzungen darüber, wann in etwa mit einem Ausgleich der technologisch bedingten Arbeitsplatzverluste durch neugeschaffene Arbeitsplätze zu rechnen ist, pendeln sich um das Jahr 1995 ein. Angesichts dieser Auswirkungen auf unsere Beschäftigungslage drängt sich die Schlußfolgerung auf, die Gefahr einer Ausuferung modernen Technologieeinsatzes zu Lasten unserer Arbeitsplätze durch drastische Einschränkung des Technologie-Imports eingrenzen zu sollen. Wer so argumentiert, ist sich freilich nicht darüber im klaren, daß der technologische Fortschritt nicht in unser Belieben gestellt ist. Die Bundesrepublik als Wirtschaftsfaktor mit verhältnismäßig wenig eigenen Rohstoffquellen ist, wie gesagt, wesentlich auf Export angewiesen, der durch Importe ausgeglichen werden muß. Das bedeutet praktisch, daß sich unsere Arbeitsprodukte auf dem Weltmarkt durchsetzen müssen, während zahlreiche andere Fertigungsbereiche auf dem Inlandmarkt mit dem Import in Leistungswettbewerb zu treten haben. Ob wir wollen oder nicht: der wirtschaftliche und technologische Leistungsstandard unserer Konkurrenten auf dem Weltmarkt ist der für uns unausweichliche Leistungsmaßstab, den wir noch zu übertreffen haben, wenn wir wirtschaftlich bestehen wollen. Eine weitere realistische Überlegung kommt hinzu, die auch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Franke, geltend macht: Der technologische Fortschritt gefährdet zwar einzelne Gruppen von Arbeitsplätzen, bringt aber der Wirtschaft insgesamt mehr Sicherheit. Erfahrungsgemäß erschließen die Produkte neuer Technologien auch neue Märkte und damit mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze. 9
F. Neubauer, Was bringt uns die schöne neue Roboterwelt?, in: DT, Nr. 99, 1985.
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Diese Feststellung wird durch die Entwicklung in der Nachkriegszeit bestätigt. In der Zeit von 1950 bis 1970 gingen bei uns aufgrund eines umfassenden Strukturwandels rd. 27 Mio. Arbeitsplätze verloren; im gleichen Zeitraum wurden aber 32 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen. Aufschlußreich ist dabei die Feststellung, daß 82 Prozent der Arbeitsplatzverluste die Branchen zu verzeichnen hatten, die keine neuen Techniken eingesetzt haben, während nur 18 Prozent der Verluste neu entstandene Produktionsbereiche betrafen. 10 Heute rechnet man damit, daß allein die Informationstechnik als größte Wachstumsbranche der 80er Jahre einen jährlichen produktiven Zuwachs bis zu 30 Prozent bringt.
3. Sinnfrage der technologischen Entwicklung Wie aus der Diskussion zu entnehmen ist, hat das Spannungsverhältnis zwischen technologischem Fortschritt und Beschäftigungslage die Sinnfrage der technologischen Entwicklung erneut in den Vordergrund gerückt. Das hat zu einer Polarisierung innerhalb der Technikdiskussion geführt, die sich zwischen „alternativen" Techniken zu entscheiden hat. Es ist die Rede von „harter" Technik, wie sie in den modernen Industrieländern mit Arbeitsteilung, Zentralisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen, Wirtschaftswachstum und Anonymität der Arbeitsleistung vorherrschend ist. In ihr hat die Großtechnologie, vertreten durch die Kernenergie und Mikro-Elektronik, ihren Platz. Der „harten" wird die „weiche" Technik „mit menschlichen Zügen", nach der Konzeption von F. F. Schumacher auch „mittlere" Technik oder „sanfte" Technologie genannt, als Wunschvorstellung gegenübergestellt. Kennzeichnend für sie sind Einschränkung der Arbeitsteilung, der Zentralisierungsmaßnahmen und Wachstumspolitik, Bevorzugung der überschaubaren mittleren Betriebsgrößen, Einsatz naturnaher Energiequellen wie Wind, Sonne und Biogas. A l l dies wird eingefügt in den Rahmen einer gesellschaftlichen Lebensordnung mit menschlichen Maßen und unter Befürwortung einer „asketischen Weltkultur" (C. F. von Weizsäcker), insgesamt also eine Idealvorstellung. Von sachkundiger Seite wird eingeräumt, daß eine dezentralisierte „mittlere" Technologie unter bestimmten wirtschaftspolitischen Systemvoraussetzungen durchaus sinnvoll sein kann, z. B. in Entwicklungsländern. Für hochentwickelte Industrienationen beginnt die Problematik dieser A r t 10 H. Riesenhuber, Neue Techniken — Chancen und Verantwortung, in: Kultur zwischen Technik und Ethik, Kirche i m Gespräch, H. 5, Essen 1986, S. 36.
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„sanfter" Technik da, wo im internationalen Wirtschaftszusammenhang ihre Wettbewerbsfähigkeit aufhört. 11 So sehr auf den ersten Blick eine derartige humanverantwortliche Technologie-Politik bestechen mag: eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Sinnerfüllung der technologischen Entwicklung unter unseren hochindustrialisierten Voraussetzungen kann sie deswegen nicht geben, weil sie wirklichkeitsfremd ist. W i r müssen also weiterfragen. Für eine nüchterne Problemsicht steht zunächst fest, daß der technologische Fortschritt keinem Selbstzweck dient, sondern auf den Menschen und die Verbesserung seiner Lebensumstände bezogen sein muß. Im Personsein des Menschen, in seinem Anspruch auf Entfaltung, Selbstverantwortung und Eigeninitiative in Freiheit liegt der eigentliche Angelpunkt der erfahrbaren Lebensumwelt und auch des technischen Bereichs. Was hat nun der technische Wandel dort, wo er zum Tragen gekommen ist, dem arbeitenden Menschen wirklich gebracht? Neue Eintönigkeit, vermehrte Hilfsarbeiterfunktionen und damit berufliche Abwertung, wie verschiedentlich verallgemeinernd behauptet wird? Bei der Bestandsaufnahme dieses Problemfeldes hat das Institut für Arbeitsmarktforschung der Bundesanstalt für Arbeit durch Fallstudien nachgewiesen, daß technische Neuerungen durchweg — über reine Bedienungs- oder Überwachungsfunktionen von Maschinen hinaus — erhöhte Qualifikationsanforderungen mit sich bringen, die eine ebenso qualifizierte Ausbildung voraussetzen. Die Einführung der Mikroprozessoren-Technik beispielsweise verlangt für die abstrakter und komplexer werdende Arbeit mehr geistige Beweglichkeit, analytisches Denken und „integrierte Sachbearbeitung", von dementsprechend erhöhter Verantwortungsbereitschaft ganz abgesehen. 12 Was die Annahme der Neuerungen seitens der Arbeitnehmer betrifft, haben die bisherigen Erfahrungen zu einer bemerkenswerten Feststellung geführt: Diejenigen Arbeitnehmer, die in Organisation, Produktion, Verwaltung und Absatz mit neuen Technologien umzugehen gelernt haben, bejahen nach anfänglichen Vorbehalten in überwiegender Mehrheit ihre Einführung als begrüßenswerten Fortschritt.
11
Wild, S. 10. W. Dostal, Technologische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Arbeitskräfte. Ref., in: Sachbachwaiden (6.3.85). 12
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Nach einer INFAS-Umfrage von 1981 bei Arbeitnehmern an technologisch veränderten Arbeitsplätzen bezeichneten 50 % ihre Arbeit als interessanter und nur 13 % als monotoner, 48 % als leichter und 15 % als schwerer. 13 Im Grunde wird durch dieses Ergebnis die Betriebserfahrung bestätigt, daß technikfeindliches Verhalten weitgehend auf Informationsmangel zurückzuführen ist. Er wird am ehesten dann abgebaut, wenn man in allgemeinverständlichen Erläuterungen den technisch-wissenschaftlichen Hintergrund umstrittener technischer Verfahren klarlegt. Schon diese begrenzte Übersicht läßt erkennen, daß technische Neuerungen der Gegenwart mit dazu beigetragen haben, die Lebensbedingungen des arbeitenden Menschen erheblich zu verbessern, was berufliche Voraussetzungen und Anforderungen, das Erfolgserlebnis am Arbeitsplatz und körperliche Arbeitsentlastung des einzelnen betrifft. Arbeitnehmer würden sich nicht mehrheitlich für den technischen Fortschritt erklären, wenn für sie nicht zugleich ein menschlich-sozialer Gewinn damit verbunden wäre. Der technische Fortschritt hat sich zweifellos vor unseren Augen nicht nur als umweltbelastender Krisenherd, sondern weit mehr noch als gestaltende Kraft in der Hand des schöpferischen Menschen erwiesen. Diese grundsätzlich positive Wertung der Technik in ihrer Kulturfunktion darf jedoch nicht außer acht lassen, daß der technische Fortschritt nach wie vor ein dynamisches Problemfeld bleibt, das sich nicht selbst bzw. seiner Eigengesetzlichkeit überlassen werden kann. Die Ausführungen über Zweck und Sinngebung der Technik sind daher zu ergänzen durch die
II. Ethik des technologischen Fortschritts Für die humanverantwortliche Gestaltung des technologischen Fortschritts sind drei Bedingungen grundlegend: — die Menschenwürde als Angelpunkt der technischen Welt; — die Sozialverträglichkeit des technologischen Fortschritts; — die ökologische Eingrenzung der technologischen Entwicklung.
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Edgar Nawroth OP 1. Menschenwürde: Angelpunkt
der technischen Welt
Hinter dieser auf den ersten Blick selbstverständlichen Feststellung steht im Einflußbereich der gegenwärtigen Hochkonjunktur eine eigenartige Bedrohung des arbeitenden Menschen unserer Tage, die mit der konjunkturellen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängt. Es wird heute viel von der Menschenwürde geredet, auch unsere Verfassung bekennt sich im Art. 1 zu ihr. Für die christliche Soziallehre ist die „unantastbare Würde der menschlichen Person" (MM 220) eine Schlußfolgerung aus der Vernunftbegabtheit, Eigenverantwortung und sittlichen Entscheidungskraft des Menschen. Diese seine Würde gilt daher als entscheidende Gestaltungsnorm für die politische Verwirklichung der Menschenrechte, für die Humanisierung der Leistungsgesellschaft und die Sinnerfüllung der Marktwirtschaft insgesamt. Große Worte, doch wie sieht es im Wirtschaftsalltag wirklich aus? Ich greife die zunehmende Flexibilisierungspraxis stimmter Branchen heraus.
im Betriebsablauf be-
Ihr Ziel ist, die Arbeitszeiten von den Betriebszeiten abzukoppeln und die zu erweiternde Betriebszeit mit flexibler Arbeitszeit aufzufüllen, um so eine bessere Kapazitätsauslastung der Maschinen zu erreichen. Es soll auch die internationale Wettbewerbsposition auf diese Weise verbessert werden. Flexibel soll auch der Arbeitskräfteeinsatz dem unterschiedlichen Arbeitsaufkommen angepaßt werden. So werden aufgrund der Vertragsform der „kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit" zu Beschäftigende nur für Zeiten zugespitzter Auftragslage und größten Kundenandrangs eingestellt. Was hat das für den Arbeitnehmer zu bedeuten? Praktisch wird dadurch von Arbeitgeberseite die übliche Schwankung des Geschäftsablaufs umgangen und das damit verbundene Unternehmerrisiko den Arbeitnehmern aufgebürdet. Diese Vertragsform wird zu 56 % im Dienstleistungssektor angewandt und betrifft 78% teilzeitbeschäftigter Frauen. Es hat sich hier eindeutig ein Sozialproblem eigener Prägung aufgetan. Betroffen sind davon die sogenannten „a-typischen" Arbeitsverhältnisse, die als „statusgemindert" gelten, weil sie sozialversicherungsmäßig nicht voll geschützt sind. Ihr Ausmaß wurde 1987 durch eine bundesweite Repräsentativbefragung offengelegt. Demnach ist ein Viertel aller Arbeitsverhältnisse nicht voll geschützt, 17% sind Teilzeitverhältnisse und 8% befristet. Noch nicht erfaßt ist die Leiharbeit. Es hat sich erwiesen, daß in den meisten Fällen diese A r t der Beschäftigung eine zusätzliche Arbeitsbelastung neben Haushaltsführung, Studium oder Schule bedeutet. Sie wird in Kauf genommen, um die monatlichen Unterhaltskosten aufbringen zu können.
Industriekultur zwischen Technik und Ethik
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Inzwischen wurden nach der Einführung der Meldepflicht durch das Gesetz über den Sozialversicherungsausweis vom 1. Jan. 1990 über fünf Millionen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse registriert, durch die weit über die Hälfte Frauen betroffen sind. Die zunehmende Entstabilisierung heutiger Beschäftigungsverhältnisse, die in diesem unerwarteten Ausmaß der Gesetzgeber angeblich nicht gewollt habe, hat viel zur Benachteiligung der Frauen in ihren Arbeits- und Lebensverhältnissen und zur Armut im Alter als typischem Frauenschicksal beigetragen. Flexibilisierungstendenzen spielen auch eine Rolle im staatlichen Deregulierungsprogramm, das durch eine 1987 berufene unabhängige Expertenkommission vorbereitet wird. Es sollen dadurch die zahlreichen marktwidrigen staatlichen und sonstigen Eingriffe tunlichst abgebaut werden. Problematisch werden Deregulierungstendenzen dort, wo sie sich auf den gesellschaftlich-sozialen Bereich erstrecken. Deregulierung bedeutet dann praktisch: Verringerung des arbeitsrechtlichen Schutzes mit dem Ziel, den einzelnen zugunsten freier Selbstentfaltung von der angeblichen „Bevormundung durch die Sozialordnung" zu befreien. Damit wird der kollektive Schutz durch die Einzelvertragsfreiheit abgebaut, insofern feste gesetzliche Regelungen durch flexible „marktgerechte" Maßnahmen ersetzt werden. Zugleich wird über diesen Weg öffentliche Verantwortung auf private Schultern verlagert. Diese Art Individualisierung trifft natürlich den Sozialschwachen, der auf ein funktionierendes solidarisches Sozialsystem angewiesen ist. Inzwischen haben sich die unsozialen Verdachtsmomente durch die Veröffentlichung des Abschlußgutachtens der Kommission weitgehend bestätigt. In Presseerklärungen seitens der KAB Westdeutschlands wird in aller Schärfe darauf hingewiesen, daß die im Gutachten aufgeführten arbeitsmarktpolitischen Vorschläge, die angeblich der „Revitalisierung der Marktwirtschaft" dienen sollen, im Grunde die Wiederbelebung eines „rücksichtslosen Kapitalismus" und „das Recht des Stärkeren" vertreten. Der erhobene Vorwurf eines „sozialpolitischen Skandals" ist berechtigt. Es werden durch das Gutachten sowohl die Tarifautonomie wie auch schwer erkämpfte Arbeitnehmer-Schutzrechte zur Disposition gestellt. Zu den fragwürdigen Überlegungen der Kommission gehören im einzelnen: — Verschlechterung der Rechtsstellung von Schwerbehinderten bei der Neueinstellung; — Zulassung von Lohnzahlungen unter Tarif; — Beschränkung der staatlichen Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen; — Verteilung der entstehenden Kosten von Sozialplänen bei Massenentlassungen auf Arbeitnehmer, Arbeitgeber und „Dritte". 14
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Edgar Nawroth OP
Grundsätzlich ist zu diesen Vorschlägen zu sagen: Wenn die angestrebte "Revitalisierung" der Marktwirtschaft nur durch den Abbau sozialer Rechte erreicht werden kann, dann ist es um die Soziale Marktwirtschaft und unsere Industriekultur insgesamt schlecht bestellt. Soll die Humanisierung der Arbeitswelt nicht zu einem billigen Schlagwort abgewertet werden, dann ist der vorherrschenden Vermarktung der Arbeitsleistung mit Entschiedenheit ein neues Verständnis menschenwürdiger Arbeit, ihrer gerechten Bewertung und sozialen Absicherung entgegenzustellen. Eine nicht weniger dringliche ethische Bedingung technologischen Denkens ist: 2. Die Sozialverträglichkeit
des technischen Fortschritts
W i e zum Beispiel die gegenwärtige erregte Diskussion um die Risiken der Gentechnologie bestätigt, ist der Fortschritt als Schlüsselbegriff der technologischen Entwicklung fragwürdig und rechenschaftspflichtig geworden. Es ist immer wieder neu zu bestimmen, was für uns und die kommende Generation echter wünschenswerter Fortschritt ist. Ausgangspunkt dafür ist die Klarstellung, daß technischer Fortschritt kein Selbstzweck ist, sondern in seiner Zielrichtung auf den Menschen als Person, auf seine Selbstentfaltung in Freiheit und seine Lebensqualität bezogen sein muß. Insofern ist echter Fortschritt immer humaner Fortschritt. Die technologische Verantwortung erhält dann eine besondere soziale Bindung, wenn technische Neuerungen die Lebensverhältnisse vieler Menschen berühren. Sie verlieren dadurch ihren privaten Charakter und sind an gesellschaftliche Mitverantwortung gebunden. Erschwerend kommt für den verantwortlich Handelnden hinzu, daß technische Neuerungen zunehmend immer auch unbeabsichtigte schädliche Nebenwirkungen nach sich ziehen, die ebenfalls zu verantworten sind. Wissenschaftler und Ingenieure befinden sich durchweg in der unbefriedigenden Situation, daß sie bezüglich der Neben- und Folgewirkungen ihrer technischen Erfindungen mehr zu verantworten haben, als sie exakt vorausberechnen können. Das hat zur Folge, daß mögliche Risiken nach bestem Wissen und Gewissen gegeneinander abzuwägen sind, wenn gehandelt werden muß. Jeglicher Fortschrittswille würde erstarren, wollte man restlose Überschaubarkeit aller Folgewirkungen, absolute Sicherheit und Irrtumslosigkeit im Entscheidungsstadium zu unverzichtbaren Handlungsbedin14
Kathol. Arbeitnehmerzeitung, Nr. 6 ( 1991.
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gungen erklären. Es gibt keine absolute Sicherheit im technischen Alltag wie es keine Risikofreiheit im menschlichen Leben gibt. Eine konfliktfreie Technologie wäre eine utopische Technologie. 15 Zu den ethischen Abwägungen gehört nicht zuletzt auch die Sozialverträglichkeit der technologischen Entwicklung. Zu ihrer Absicherung sind auch klare Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Betriebs- und Personalräte unverzichtbar. Das gilt für die Planung und Einführung elektronischer Datenverarbeitung und Mikroelektronik in der Produktion ebenso wie für die Erfassung und Verwertung aller personbezogenen Daten im Betrieb. Dabei kann es sich freilich nicht um ein lähmendes Vetorecht gegen jegliche technische Neuerungen, sondern um ein tarifvertraglich festzulegendes Mitgestaltungsrecht bei der Anwendung am Arbeitsplatz handeln. Für die Neubestimmung der technologischen Ethik ist neben der Vorrangstellung des eigenschöpferischen Menschen und der sozialethischen Einbindung des Fortschrittsdenkens eine weitere Grundforderung verbindlich: 3. Die ökologische Eingrenzung der technologischen Entwicklung Gerade am Umweltschutzproblem wird deutlich sichtbar, wie sehr in der Tat der gesellschaftlich erstrebenswerte Fortschritt rechenschaftspflichtig geworden ist. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, in seinen negativen Begleiterscheinungen nicht oder nicht ausreichend kontrolliert, führte zu einer solchen Belastung, Einengung und Gefährdung unserer Lebensvoraussetzungen, daß man seit geraumer Zeit von einer umfassenden ökologischen Krise spricht. Die Umweltexperten haben uns inzwischen klargemacht, daß wir „im Rausch eines quantitativen Wachstums" auf dem Wege sind, unser Öko-System und mit ihm unsere Ressourcen insgesamt nachhaltig zu gefährden. Die Tragweite dieser Feststellung wird deutlich, wenn man bedenkt, daß mit dem Öko-System die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Organismen und ihrer Umwelt gemeint ist. Für dieses System ist, wenn es funktioniert, ein ganz bestimmter Kreislauf kennzeichnend. Dieser ist für unsere Lebensvoraussetzungen insofern von entscheidender Bedeutung, als er mit der naturgesetzlichen Tendenz zur Selbststabilisierung des gesamten Rohstoff· und Kräfteverbrauchs der Natur identisch ist. W i r wissen heute, daß weit mehr als die gefährdeten tropischen Regenwälder die Weltmeere für unsere Lebensatmosphäre ausschlaggebend sind. 15
W. Korff, Ethik und Technik, in: A t o m und Strom, 1983, S. 8.
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Rund 70 % des gesamten Sauerstoffanteils produzieren die Meerespflanzen mit Hilfe der „Photosynthese". Das heißt, es wird durch Lichteinwirkung mit Hilfe des Chlorophylls der Stoffwechselvorgang des „Phytoplanktons", also der im Meereswasser frei schwebenden Mirkoorganismen, ermöglicht. Von ihm hängt unsere Sauerstoffversorgung wesentlich ab. 16 Trotzdem erleben wir immer wieder von neuem, daß produktionstechnische und absatzorientierte Wirtschaftsinteressen die Oberhand behalten, ganz eindeutig in England, wenn die Reinhaltung der Meere einschneidende Sofortmaßnahmen gegen kommunale Abfallbeseitigung und industrielle „Verklappung" im Meeresbereich als unverzichtbar fordert. Ist dem Christentum eine Mitschuld an der ökologischen Krise anzulasten? Wer den vielzitierten Herrschaftsauftrag der Bibel „Macht euch die Erde Untertan!" (Gen 1,28) als Legitimation für Unterwerfung, Ausbeutung und Mißbrauch der Natur deuten zu können glaubt, läßt außer acht, daß dieser Auftrag an die vorausgehende Erschaffung des Menschen nach Gottes Ebenbild gebunden ist (Gen 1, 26). Demnach erfüllt der Mensch den ihm übergebenen Herrschaftsauftrag im Sinne des Schöpfers nur dann, wenn er sich an die gleichen Prinzipien gebunden weiß, die offensichtlich den Schöpfungsakt selbst bestimmt haben, nämlich: Ja zum Leben und seiner Erhaltung, Verantwortung und Schutz für die Mitkreatur, Anerkennung des Eigenwertes der Schöpfung als immerwährendem Lobpreis des Schöpfers. 17 Die Menschenwürde als oberste Norm sittlichen Handelns schließt die Verantwortung für alles Lebendige und die Lebensumwelt insgesamt mit ein. Auf die Dauer kann kein Fortschritt eingehalten werden, der sich an der Natur versündigt. Ökologische Ethik und technischer Fortschritt sind aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen. Umweltverantwortung ist eine Voraussetzung für echten Humanismus. Der Ausweg aus den zahlreichen Problemen, die mit dem bisher nicht hinreichend kontrollierten technischen Fortschritt verbunden sind, kann nicht in der allgemeinen Wende zum „einfachen Leben" und zu einer asketischen Zivilisationskultur liegen, so wichtig die Forderung nach Konsumeinschränkung als „vergessenem Faktor" in unserer Wohlstandsgesellschaft auch ist. Jedermann weiß, daß nur eine verschwindende Minderheit zur Einschränkung des einmal erreichten Lebensstandards bereit ist. Die Lösung kann nur in einer besseren, humangeprägten Technologie liegen, die in der Lage ist, mögliche Nachteile von vornherein einzugrenzen bzw. technisch zu beseitigen. 16 17
Fritfcsche, in: N Z Z (25.5.86). N. Lohfink, Macht auch die Erde Untertan!, in: Orientierung, 1974, S. 141.
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Um Technologiefurcht und Kulturpessimismus abbauen zu können, ist mehr als bisher betriebliche und öffentliche Information über technologische und wirtschaftliche Zusammenhänge vonnöten. Nur aus mehr Sachkenntnis kann allgemein auch neue Zuversicht für die technologische Zukunft erwachsen. Intelligenz, Verantwortungsbereitschaft und Ethik in einer Weltanschauung, die den Eigenwert der Schöpfung ebenso zu achten weiß wie die Lebensinteressen der Industriegesellschaft: das sind die Garanten einer besseren Technologie. Nur in diesem ethisch gefestigten Rahmen darf der Mensch alles, was er kann.
FRAGMENTARISCHES ÜBER „HABEN UND SEIN" Anmerkungen
zu „Sollicitudo rei socialis' Nr. 28
Von Ferdinand Reisinger
I. „Haben-und-Sein" (HuS) — ein/kein (explizites) Thema der Theologie heute Man mag über diese Formulierung verwundert sein: „ . . . wenn Theologen über ,Haben und Sein1 (HuS) reden ..." Was wäre, wenn wir umgekehrt fragen würden?: Wenn (auch) Theologen nicht (mehr) über HuS reflektieren und reden ... ; wenn sie nicht in den Koordinaten von HuS beheimatet sind ... ; wenn sie der Zusammenhang von HuS gleichgültig l ä ß t . . . ; wenn sie sich durch anderweitige Vielrederei an diesen Daseinsbestimmungen vorbeistehlen ... ? Dann ist die Anfrage mehr als berechtigt, ob eine solche Theologie bei der Sache, bei ihrer Sache i s t . . . Das heißt ja keinesfalls, daß Theologen immerzu oder nur von „Sein und Haben" (SuH) reden sollten. Man darf aber doch fragen, wann und in welchen Zusammenhängen ein Thema zum Thema wird. Kurzum: Man möchte doch annehmen, daß HuS ein aktuelles, ja brisantes Thema (auch) für Theologen sei... Das ist aber — zumindest dem äußeren Augenschein und ersten Recherchen nach — nicht der Fall. In der theologischen Philosophie ist zwar viel vom „Sein des Seienden" die Rede; in der Dogmatik geht es über die zuhandene Schöpfung und über Gottes Plan zur Erlösung der Menschheit; in der Moraltheologie handelt man auch über die Tugenden der Menschen (als Habitus). Zu den Themen, die z. Z. viel diskutiert sind, gehören die nach Armut und Reichtum; und dabei wird sichtbar, wie sehr Theologietreiben stets an den jeweiligen Lebenskontext gebunden ist. Wirtschaftsfragen sind auch für Theologen nicht mehr länger tabu oder irrelevant; langsam tasten wir uns an eine Wirtschaftsethik heran. Die Frage von HuS hat aber in all den erwähnten Perspektiven noch keine zureichende und zentrale Behandlung erfahren. Macht es sich ein so globales Urteil über „die Theologen" und „die Theologie" zu leicht? Hoffentlich nicht. Man kann auch nicht behaupten, das Problembündel von HuS käme in etwaigen Theologien oder bei einzelnen Theologen nirgends vor; aber so nichtssagend ist es nun auch wieder nicht,
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Ferdinand Reisinger
wenn in den gängigen theologischen Lexika das Stichwort Habe(n) nicht existiert... Kommen Theologen heuzutage doch auf HuS zu reden, so verweisen sie wie selbstverständlich darauf, daß das Thema durch Erich Fromm und sein Buch „Haben oder Sein" (1976) ja zum „Allgemeingut" geworden sei; (viel seltener schon taucht ein Verweis auf Gabriel Marcels „Etre et avoir" auf). Gerade die Rezeption der doch sehr problematischen Fromm-Formel „Haben oder Sein" in kirchlichen Kreisen gibt interessante Aufschlüsse über gängige religiöse Denkweisen: spätbürgerliche, habens-gesättigte Wohlstandschristen lassen sich gern dazu herbei, Fromm Beifall zu spenden, indem sie meinen: „Natürlich: sein statt habenl"; in einem Anflug von neomanichäischer Manier wird dabei alles Haben sogleich schlechterdings verdächtigt (und in einem damit auch gleich alle Armut seliggepriesen). Einen derartigen Weltanschauungsluxus kann man sich allerdings nur leisten, solang das Dasein durch ein „Genug" an Habe abgepolstert ist. Ziemlich unbedacht geht man denn auch um mit dem, was wir uns mühsam als wertvolle und kostbare Errungenschaften angeeignet haben (Menschenrechte, Demokratie etc.). In solchem Zusammenhang gehört klar genug gesagt: Wer im Frust des „Über-Habens" alles irgendwie Lästige meint über Bord werfen zu sollen, hat einmal nicht ein angebliches Ausgangsparadies, sondern steht sehr leicht vor dem Nichts (zu bedenken z. B. die These Alois Huters: „Wer den Staat zerstört, hat nicht die Demokratie"). Mit den Fragen des Habens in Form von Besitz, von Eigentum, ja von Privateigentum beschäftigten sich die Sozialethiker allemal. Besitz und Eigentum sind in keiner kirchlichen Soziallehre mehr ein grenzenloses Anrecht; vielmehr ist das Besitzrecht eingespannt in den Forderungskatalog der „sozialen Gerechtigkeit", der universalen Widmung der Erdengüter an alle. Eigentlich müßte man meinen, daß die Fragen um HuS entfaltet seien in den Entwürfen der Befreiungstheologen·, im Unterschied zu uns Habensgesättigten haben sie oft kaum das Lebensnotwendige; aber auch sie reflektieren wenig bzw. kaum ausdrücklich auf HuS. Diese Theologen demonstrieren vielmehr, daß sie trotz der Situation der wirtschaftlichen Unfreiheit, der Dependenz, ja Ausbeutung gerade nicht die reinsten „HabeNichtse" sind: sie haben fürs erste einen klareren, unentfremdeten Blick auf das Gut des christlichen Glaubens, und sie haben den Mut, statt steriler philosophisch-theologischer Erörterungen konkret den Gründen nachzufragen, wie es zu den Prozessen kommt, die Verarmung, Hunger und Ausbeutung der Human- und Naturressourcen herbeiführen. So müßte man vorweg fragen, ob die Problemstellung nach HuS nicht schon ein Stück Eigentümermentalität, ja Besitzideologie b i r g t . . . Anthro-
Fragmentarisches über „Haben und Sein"
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pologische Themen bleiben also allemal auch standpunktbezogen. Dabei meinen wir doch, so selbstkritisch mit unserem Haben um-, ja ins Gericht zu gehen; wir bezichtigen uns manchesmal sogar der Habsucht und kritisieren (verbal!) unverhohlen kapitalistische und imperialistische Tendenzen. Die theoretischen Entwürfe einer theologischen Kapitalismuskritik (z. B. gegen Götzendienerei, Fetische in der Wirtschaft etc.) greifen freilich nicht allzu spürbar. Die biblische Kritik an der Habgier, „die ein Götzendienst ist" (Kol 3,5; vgl. Eph. 5,5), hört man eher beiläufig; die jesuanische Ermahnung „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?..." (Mt 16,26 par), wird eher unter der Rücksicht überlegt, was man (wie im Glücksspiel) alles verlieren könnte; in den gängigen Kommentaren zu der genannten Evangelienstelle wird nirgends auf das Beziehungsfeld HuS als solches reflektiert... Sind die Daseinskoordinaten HuS für Theologen unserer Breiten nicht relevant genug? W i r d vielleicht gar das „bürgerliche" („eigennützige") theologische Bewußtsein noch durch einen „Geist des Kapitalismus" (im Sinn Max Webers) überhöht, — in der Annahme, daß wir Christen zu den Segnungen des eigenen Mühens auch noch die absegnende Gnade (wie den Staubzucker auf den Alltagskuchen) haben? (Formelhaft so zu sehen: S + H + SH [Segen-haben]) ... Führt diese Lage dazu, daß man sich angewöhnt, das Thema HuS kokettierend zu streifen, aber im Grunde doch zu tabuisieren (gemäß dem Motto: „Vom Geld (Haben) redet man nicht, das hat man ...")? W o liegen die Gründe für solches „Interessens-vakuum"? Doch anderseits: käme ein Interesse an HuS nicht schon zu spät? Denn: Ist die Lage des Habens nicht schon am kippen? Haben allein genügt doch heute nicht mehr! (Und wahrscheinlich ist der Slogan „Haste was, dann biste was" auch schon nicht mehr „in"!) Rührt das daher, daß dem Haben allenthalben schon „ein schlechtes Gewissen" anhängt... ? Was suchen also dann die Menschen im Heute? Als Gesellschaft, die weniger im „Sein" als vielmehr in einer „Design-Welt" lebt, beginnen wir zu fragen, „was wir brauchen, wenn wir alles haben ..." (Bernd Guggenberger). Bräuchte es dafür aber nicht doch den Zug zur Mitte, ins Koordinatensystem, das nicht zuletzt durch das Verhältnis von SuH bestimmt ist... ? Gäbe es dazu nicht doch etwas zu heben aus dem Fundus von theologischen Antworten... ? Könnte dabei nicht die gängige Formel von HuS umgekehrt werden in die wohl richtigere von SuH? Könnte eine solche Umkehrung der Wortstellung nicht auch ein Ausweis sein für eine notwendige und auch mögliche Umkehr: daß wir befähigt würden, das Sein nicht allein von der Habe her zu bestimmen, sondern vom erlösten Sein (d.h. Erlöstsein) zu einem (verantwortlichen) Haben zu kommen ... ? Könnten wir angesichts der Erfahrung, daß unsere heutige Welt „den Eindruck einer gigantischen
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Ferdinand Reisinger
Fehlinvestition" macht (Iring Fetscher), nicht froh sein um jeden Funken von Erlösung, der sich in solcher Richtung bietet... ? Was im folgenden dargelegt wird, darf aber nicht allein ein frommer Umkehr-Wunsch sein. In dieser breiten Vorüberlegung sollte verdeutlicht werden, daß eine „offene Soziallehre" nicht nur Ausführungsorgan einer „hohen Theologie" zu sein hätte, daß es ihr vielmehr auch zukommt, Theologen in ihre Sache zu rufen; insofern hat „christliche Soziallehre" immer auch (!) politische Theologie zu sein, daß sie hilft, soziale Bedürfnisse auch als religiöse auszuweisen, und zu helfen, daß die theologische Begrifflichkeit nicht fremd neben den wirtschaftlich-politischen Geschehnissen herläuft. Nur moralische Impulse zu predigen und ein entsprechende Ethos zu postulieren — das kann die wirkliche Aufgabe der Soziallehre nicht sein. Allzu leicht verkäme solches Unterfangen zum puren Moralisieren (das — nach einem Wort von Joseph Ratzinger — das Gegenteil von Moral ist!). Es sind doch die Angebote der christlichen Botschaft weniger eine Notwendigkeitslehre denn ein Ermöglichungsimpuls! Daß wir (bei uns!) unsere Lebenspraxis ändern müßten, weiß unterdessen jede(r); die Christen aber sollten antworten können auf die Frage, unter welchen Bedingungen es möglich wird, anders zu denken und neu zu werden ...
II. Einiges über den Sprachklang von „Haben" Die Vokabel „haben" klingt uns eigentlich nicht mehr ganz unschuldig. Das mag für Christen mitbedingt sein davon, daß sich die offizielle Kirchenlehre dementsprechend äußert: zu denken ist dabei an die Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis" (SRS), bes. Nr. 28, und auch an das neueste Rundschreiben „Centesimus annus" (Nr. 36 und 41). Solche Passagen in den Enzykliken scheinen es wert zu sein, ernst genommen zu werden: als ein mehr oder weniger trächtiges Beispiel dafür, wie das Problemfeld HuS angegangen zu werden pflegt, was alles mitschwingt und inkludiert ist. Es müßten dafür zunächst die päpstlichen Überlegungsgänge nachskizziert werden. Die theoretische Leistung der Denkprozesse gilt es zu würdigen. Diese unsere Reflexion geht vor allem SRS 28 nach; mit einem eigenen Interpretationsmuster sollen Ansätze zum Weiterdenken gegeben werden. Abschließend soll noch an einer beispielhaften Frage — nämlich am Verhalten der Kirche selbst (konkret: am Vorschlag, nicht nur vom Überfluß, sondern auch vom Notwendigen zu teilen — und wären es auch kirchliche Gerätschaften, SRS 31) — gezeigt werden, wie gut eine entsprechende Theologie für die Praxis „zünden" kann. Bevor es an die Textanalyse geht, ist es ratsam, das Vorverständnis von Haben abzuklopfen, in der Annahme, daß uns die Sprache, zumal die
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Alltagssprache der einfachen Leute, viel zu sagen hat; (jede Wissenschaft, zumal die Sozialwissenschaft, ist gut beraten, den „Leuten aufs Maul zu schauen", bevor sie hochtheoretisch wird). Solche Befragung bringt gewiß viel persönliche Erfahrung, denn es kommt vieles von dem zur Sprache, wie man „bei uns daheim" zu reden gewohnt i s t . . . Was also kommt hervor, wenn wir die ganze Sprachmelodie abhören? — vom normalen „haben" („das will ich haben") über das „hab dich!" („halt dich!") bis zum „haben" („sich ärgern")... ? Allemal geht es um ein Fixieren bzw. ein Fixiert-sein; Haben ist ein Sich-ver-halten. Haben ist ein Ausgreifen oder Ergreifen; es ist ein In-Verfügung-bringen(-wollen), ein Ins-Eigentum-bringen. Haben ist ein Haushalts-, d.h. ein ökonomischer Terminus; das bringen wir kurz und bündig zum Ausdruck, wenn wir sagen: Habenwollen ist „Besitz-ergreifen". Der Volksmund malt diesen Prozeß sehr drastisch aus: „kriegen!" Das Imperativische „Statt-haben!" (wie es der Großvater den Ochsen zuschrie!) meint: anhalten (still-stehen); aber man kann nicht nur (ein) etwas statt-haben, sondern auch sich selber: „Hab dich (statt)" meint: halt dich fest. Das Haben hat es immer auch selber an sich: „Haben" heißt bei uns auch: haften, kleben. Was im Prozeß des haptischen Geschehens an mich kommt, gehört dann (mehr oder weniger) zu mir, wird Teil an mir, geht in mein Eigen über. So wird das Gehabte ein Stück von mir, gehört also auch zu meinem Gehabe. Wenn dies „unverdaut" oder übermäßig geschieht, wird es zur Last; es wird — in anderer Weise — zum „haben" ; dieses Wort ist wohl abgeleitet von „Harm"; der Volksmund wandelt es zum „Haben"; diese Last lenkt mich ab (von mir), nimmt meine Aufmerksamkeit in Beschlag; da läßt der Vorwurf nicht mehr lang auf sich warten: „Hat's dich?" Das Haben verändert einen Menschen; er ist nicht mehr ganz selbstverständlich befähigt, zu verfügen. Mit der ökonomischen Vokabulatur erleben die Menschen bisweilen ihr Desaster: Weil manches einfach nicht mehr stimmt; z. B. daß das, was wir besitzen, uns ge-„hört"? Hier gilt es, ein vertracktes Beispiel zu nennen: in Deutschland greift eine Sprachunsitte um sich mit den falsch gebrauchten Begriffen von „brauchen" und „gebrauchen"; immer öfter hört man: „das kann ich gut gebrauchen", wo es natürlich heißen müßte: „das kann ich gut brauchen"; aber zumeist ist beides nicht richtig; was wir so „gut zu gebrauchen" meinen, paßt wahrscheinlich nur irgendwie in den Kram, notwendig brauchen tut man es wohl nicht; vom richtigen Gebrauchen-Können kann überhaupt nicht die Rede sein! Hören wir denn noch, was wir reden? Ganz selbstverständlich machen wir aus dem Produzieren ein Herstellen; wir haben unterdessen so vieles hergestellt, daß uns das meiste im Weg steht. W i r haben pausenlos her-gestellt, ohne die Ent-sorgung zu bedenken! 14 Festschrift Schasching
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Ferdinand Reisinger
Kurzum: „Haben klingt oft unverdächtiger als es ist. W i r reden auch lieber vom Haben als vom Besitzen. (Die Übersetzer von SRS haben überall das „Haben" verwendet, wo im Lateinischen fast durchwegs possidere (von possido = in Besitz bringen) und possidére (von possideo = besitzen) steht. Überall scheint mitzuschwingen, daß das zum Besitzen / Haben Erstrebte „sedativ" wirkt. Daraus entspringt auch die Tendenz zum Verfestigen: was man hat, bekommt Form, Struktur; es ist kaum mehr in Fluß zu bringen, nicht mehr ins Nicht-Haben rückführbar; es läßt sich eigentlich nur noch auswechseln ... Noch dazu umgibt sich alles Haben mit dem Anschein des Guten; selbstverständlich heißt es: „Das ist mein Hab und Gut". Immer schwerer wird es dabei, eine offene Sicht zu wahren; anderes als das Gehabte ist zwar interessant; aber der Blick verengt sich; vor allem wird es immer schwerer, den/die anderen zu sehen. Gibt es dann noch ein „Besitzen ohne besessen zu sein" (vgl. 1 Kor 7, 29 ff.: „haben als hätte man nicht...")?
I I I . Das Problemfeld HuS im Text von SRS 28 Ist unter den eben angesprochenen Be-dingungen unser Menschsein ein Mensch-Sein gemäß der „wahren Berufung"? Diese Frage stellte der jetzige Papst voller Betroffenheit angesichts einer weltweiten Krise. SRS geht den Fragen ein Stück weit nach: Man hatte gemeint, einen „Fortschritt" herbeiführen zu können, hat sich dabei freilich hauptsächlich auf eine „reine Anhäufung von materiellen Gütern" konzentriert (28/1). W i r merken, daß die „wahre menschliche Entwicklung" ( = Fortschritt?) unter derartigen Bedingungen nicht so recht möglich wird; sie wird vielmehr zusehends be- und verhindert. „An die Stelle eines einfältigen Optimismus mechanistischer A r t ist eine begründete Sorge um das Schicksal der Menschheit getreten" (SRS 27). Unter solchen Auspizien fragt die Sozialenzyklika SRS vor allem nach den Möglichkeitsbedingungen einer besseren, menschengerechteren Entwicklung. Was seit Johannes XXIII. in der Soziallehre schon selbstverständlicher Betrachtungshorizont ist, nämlich das „bonum commune humani generis", wird hier klarerweise mitbedacht. Eine (Weiter-)Entwicklung von Menschen dürfte nicht mehr auf Kosten anderer passieren. Johannes Paul II. kreiert in SRS die Formeln „d.h. der ganze Mensch", und „jeder Mensch und alle Menschen" (z. B. SRS 44 u. o.). Das klingt utopisch, zu ideal. Was aber ist der Tatbestand? Der Papst versucht eine Skizze; und diese ist ernüchternd: Das „Bild der heutigen Welt" zeigt viele „negative Eindrücke"; das Gesamtbild der Welt ist „ent-täuschend" (SRS 14).
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W i r können hier darauf verzichten, die „Weltkrise", wie SRS sie sieht, nachzuzeichnen. Die Erfahrungen und Eindrücke, die der Papst bei seinen Reisen vor allem in den armen Ländern der Welt erfährt, finden in der Reflexion dieser Enzyklika ihren Widerhall. Im gesicherten Umfeld des Vatikans geht der Papst — schreibend — an die Sach-verhalte heran. Im IV. Abschnitt von SRS tut er es eher philosophierend, im V. Abschnitt unterzieht er die Welt einer „theologischen Analyse". Dabei wird die Erörterung der Probleme von „Sünde", von den „Strukturen der Sünde" unausweichlich. Für unseren Untersuchungsgegenstand HuS ist aus dem dortigen Kontext von gravierender Bedeutung, was (in SRS 37) über die „Gier nach Profit" („sola quaestus cupiditas") und über das „Verlangen nach Macht" („dominii sitis") angesprochen ist. Ehe der Papst zur (moral-)theologischen Qualifizierung der Zu-stände kommt, braucht er einen phänomenologischen Aufriß, und der steht notwendig im Zusammenhang mit einer ökonomischen Analyse. Derartiges geschieht in Nr. 28: schrittweise, wenn auch nicht durchgehend mit zwingender Logik. Die folgende Untersuchung müßte zuerst zur Kenntnis nehmen, wie hier — betroffen und in engagierter Denkweise — von (unserem) HuS die Rede ist. Zum Text von SRS 28: In dieser Passage sind vor allem drei Ebenen zu erkennen: 1. Eine Darstellung dessen, was man Überentwicklung („nimia progressio") nennen muß; das bedeutet zugleich: der Probleme, die die Konsumgesellschaft mit sich selbst hat (SRS 28/1-3). 2. Eine keineswegs allzu tiefschürfende Erörterung des Problemfeldes (SRS 28/4, 5 [bis zur Mitte] und 7).
HuS
3. Überlegungen über interpersonale und internationale Verflechtungen und Wechselwirkungen (ansatzweise in SRS 28/2, dann 5 [ab Mitte] und
6). Aus der Tatsache, daß diese Passage ziemlich unvermittelt in die HuSAnalyse einbricht, kann man wohl zurecht schließen, daß der Papst hier sein Engagement konzentrieren wollte: Daß das (Selber-)Haben-Müssen zu Rücksichts-losigkeit verführt, daß das Haben-Müssen das soziale Bewußtsein und das Gespür für die Widmung der Erdengüter an alle Menschen verkümmern läßt. Eine nähere Untersuchung der einzelnen Aspekte täte not, wäre interessant; dafür müßte man ohne Zweifel den lateinischen Text beiziehen. W i e schon angedeutet, ist die deutsche Übersetzung auf den Begriff des Habens eingeschworen; daß Haben nicht in jeglicher Lage gleich aussieht, wird nur an einer Stelle erkenntlich (wo das Lateinische überraschenderweise nicht 14*
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distinguiert): A n der Nabelstelle: „comparate paucos esse qui multa, multos autem qui fere nihil possideant" übersetzt man: „Nur relativ wenige sind es, die viel besitzen, und viele jene, die fast nichts haben" (SRS 28/6). Zu den drei Ebenen noch einige resümierende und interpretierende Bemerkungen: Zu 1.: Überflußgesellschaft durch:
bzw. Konsumismus
sind gekennzeichnet
— ein nicht mehr verkraftbares Überangebot von jeder Art materieller Güter; — dadurch sind die Menschen überfordert; unr\ da die Betroffenen (sc. die Reichen) nicht wirklich wirtschaften, d. h. haushalten können, werden sie zu Sklaven des Besitzens und des unmittelbaren Genießens; — die Produktion tendiert auf eine ständige Vermehrung der Güter, und wo dies an Grenzen stößt, auf einen raschen Austausch zugunsten immer perfekterer Gegenstände, die — dann rücksichtslos beiseite geschoben werden (Wegwerf-gesellschaft). — Die Rolle von Reklame und „geheimer Verführung" wird genannt; — deutlicher aber noch auf die Gefahr hingewiesen, daß die Überflußgesellschaft meint, die Probleme des Überflusses mit Antworten der Wegwerfgesellschaft lösen zu können. — Der krasse Materialismus hat offensichtlich eine innere Dynamik, deren die „Betroffenen" anscheinend nicht mehr Herr werden; sie fallen der „Macht-des-Mehr" augenscheinlich zum Opfer (ohne freilich von seiten des Papstes eines Mitleids gewürdigt zu werden ...). Zu 2.: Die Reflexion auf die Zusammenhänge von HuS: Die früher vom kirchlichen Lehramt getätigten Aussagen werden (natürlich auch mit vielsagenden Ausnahmen) als Belege herangezogen. Über das früher erreichte Reflexionsniveau gelangt man freilich (leider) kaum hinaus. Die falsche Antithese von „Haben oder Sein" wird ins rechte Licht zu rücken gesucht: Es wäre eigentlich keine Antinomie. Gleichsam in einer Rehabilitierung des Habens wird (SRS 28/7) darauf Wert gelegt, daß nicht im Haben selber das Übel liege, sondern in der Art und Weise des Habens. Aber wie sollte man richtig „haben"? Qualität und Rangordnung der besessenen Güter müßten berücksichtigt sein — so wird (fast stereotyp) gefordert. Die Orientierungs-Marche müssen das „Sein des Menschen und seine Berufung" sein und bleiben; dies wird freilich ziemlich statisch angenommen. Im Bezug auf das Sein müssen die Güter in Unterordnung und Verfügbarkeit gehalten werden. Der Verzicht auf eine Orientierung am transzendenten Unendlichen bewirkt allerdings eine gefährliche Entgrenzung; in das Vakuum stürzt sich die „unendliche Gier".
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A n diesem Punkt, an dem Sein und Berufung der Menschen ins Spiel gebracht werden, müßte wohl eine fundierte theologische Erörterung Platz greifen, z. B. eine gnadentheologische, in deren Zusammenhang auch die Fragen nach der Wertigkeit des menschlichen Arbeitens und Weltveränderns Platz greifen müßten. Dies unterbleibt leider; ziemlich abrupt bricht der Diskurs über HuS ab. Zu 3.: A m impulsivsten scheint das päpstliche Engagement dort zu werden, wo die wechselseitigen Zusammenhänge aufgedeckt werden. Die Ungerechtigkeit wird sogar von dort her definiert: Es gibt einen dreimaligen Ansatz zum Problem: — „Relativ wenige sind es, die viel besitzen und viele jene, die fast nichts haben" (SRS 28/5). Das aber ist kein natürlicher Zustand, sondern ein (zum Teil) gewordener. — „es gibt die wenigen, die viel besitzen, die (aber) nicht wirklich zu ,sein' imstande sind ... und ... diejenigen — die vielen, die wenig oder nichts besitzen —, die wegen der Entbehrung der elementaren Güter ihre grundlegende menschliche Berufung nicht zu verwirklichen vermögen" (SRS 28/7). Bei der zweiten Gruppe ist also gar nicht mehr von „Sein" die Rede, weil das Seins-Notwendigste fehlt! — Es ist eine „Rangfolge der Werte" zwischen „Haben und Sein" zu bedenken gegeben: „ . . . wenn sich das,Haben' einiger zum Schaden des,Seins' von so vielen anderen auswirken kann" (SRS 31/6). Hans Zwiefelhofer hat gleich nach Erscheinen der Enzyklika darauf hingewiesen, daß sich SRS dadurch auszeichne, daß die Betrachtungsweise der Wechselseitigkeit ständig mitschwingt. Das Erstreben und die Beurteilung einer Sache würde es erfordern, die „andere Seite" mitzubedenken: Die „traurigen Konsequenzen" („mala consectaria", SRS 28/3) kann man eigentlich nicht mehr übersehen, da sie schon „mit Händen zu greifen sind". Wohlstand aber macht blind; ja: das Weg-Sehen scheint Methode zu haben („Verdrängnis", Hans Fronius). Dagegen steht eine gläubige Hoffnung: „Da weitet sich der Blick" (SRS 31/ 2); das wäre eine erste Bedingung zu solidarisch(er)em Denken und Handeln. Eine imperialistisch-kapitalistische Denkweise verengt den Blick; hier hat das (Da-)Sein den einzigen Wert und Sinn im Gehabten, das (vermeintlich) seins-würdig macht. Das aber bewirkt ein rücksichtsloses Ver-Halten. W i e aber wäre eine Heilungs- und Heilschance aus solcher Enge noch erreichbar? Vielleicht aus dem Geist des Evangeliums? Was aber, wenn sich die „Fortschritts-Wirtschaft" auch des Evangeliums zu bemächtigen trachtet (z.B. in Gruppierungen wie den „Geschäftsleuten des vollen Evangeliums")? Kritische und zugleich konstruktive Theologie wäre hier auf den Plan gerufen.
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Der Vollständigkeit halber und um weitere Perspektiven des früheren kirchlichen Lehramtes ins Blickfeld zu bekommen, müßten nun Vergleiche angestellt werden mit den Texten, die SRS beizieht und in den Fußnoten vermerkt (bzw. verschweigt!). Es sind zunächst zwei Passagen: „Populorum progressio" Nr. 19 und „Gaudium et spes" Nr. 35. Als erstes relevant: PP 19: „Mehr haben ist also weder für die Völker noch für den einzelnen das höchste Ziel. Jedes Wachstum hat seine zwei Seiten ... Das ausschließliche Streben nach Besitz wird so ein Hindernis für das Wachsen im Sein und steht im Gegensatz zu seiner wahren Größe: Für die Nationen wie für die einzelnen ist die Habsucht das deutlichste Zeichen für moralische Unterentwicklung".
Auffällig ist hier in der deutschen Übersetzung, daß statt „mehr haben" anfangs wesentlich konkreter von der „Fülle der Güter" (copia bonorum) die Rede ist. PP redet also wesentlich unbefangener als SRS vom kollektiven Haben, ehe sie auf das „menschliche Verhalten" eingeht; die in der Fußnote 51 von SRS ausgelassene Passage wäre aber mehr als beachtenswert: „Es (sc. das Wachstum) ist unentbehrlich, damit der Mensch mehr Mensch werde, aber es sperrt ihn wie in ein Gefängnis ein, wenn es zum höchsten Wert wird, der dem Menschen den Blick nach oben versperrt. Dann verhärtet sich das Herz, der Geist verschließt sich, die Menschen kennen keine Freundschaft mehr, sondern nur noch das eigene Interesse, das sie gegeneinander aufbringt und entzweit".
Im Text von SRS (28/4) ist sodann der Hinweis auf den Unterschied zwischen „Haben" und „Sein" zu finden, „den ... schon das IL Vatikanische Konzil mit treffenden Worten ausgedrückt hatte". GS 35: „Durch sein Werk formt der Mensch ... nicht nur die Dinge und die Gesellschaft um, sondern vervollkommnet er auch sich selbst. Ein Wachstum dieser A r t ist, richtig verstanden, mehr wert als zusammengeraffter äußerer Reichtum". B ü n d i g ist d a n n zusammengefaßt: „Magis valet homo propter id quod est quam propter id quod habet".
Den offiziellen Übersetzern des deutschen Konzilstextes ist an diesem Punkt der Hl. Geist wohl nicht so recht beigestanden, wenn sie aus diesem Abschnitt den folgenden Satz machen: „Der Wert des Menschen liegt mehr in ihm selbst als in seinem Besitz".
Wollte man die Frage nach HuS in den Lehraussagen der Kirche umfassender befragen, müßte man auch manchen Rückgriff auf noch ältere Texte tätigen; auch da könnte „sich der Blick weiten"! Einer päpstlichen Enzyklika im Jahre 1987 wäre es wohl auch nicht schlecht bekommen, wenn sie ein Dokument aus den Ländern der „Kirche der Atmen" zitiert hätte. Auch wenn die Befreiungstheologen sich um wichtigere Dinge zu kümmern scheinen als um eine ausgewogene Abklä-
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rung der HuS-Frage, so hätte man doch Bezug nehmen können auf das Puebla-Dokument (von 1979). Darin wird nicht nur vieles über das Problem der Abhängigkeiten gesagt; es fände sich auch die folgende hochbrisante Passage: Puebla 497: „Der neue, von der Kirche proklamierte Humanismus, der jede A r t von Götzendienst ablehnt, wird es ,dem modernen Menschen ermöglichen, sich selbst zu finden, im Ja zu den hohen Werten der Liebe, der Freundschaft, des Gebets, der Betrachtung. Nur so kann sich die wahre Entwicklung voll und ganz erfüllen, die für den einzelnen, die für die Völker der Weg von weniger menschlichen zu menschlicheren Lebensbedingungen ist' (PP 20). Auf diese Weise wird die Wirtschaft im Dienst des Menschen geplant werden, und nicht der Mensch im Dienst der Wirtschaft verplant werden (vgl. PP34), wie es bei beiden Formen der Idolatrie, der kapitalistischen und der kollektivistischen, der Fall ist. Dies wird der einzige Ausweg dafür sein, daß das ,Besitzen' nicht das ,Sein' erstickt."
Vom „einzigen Ausweg" reden die lateinamerikanischen Bischöfe: viele Dinge beim Namen nennend, und zugleich utopisch-visionär: im Vertrauen auf ihre Kirche, wohl auch im selbstbewußten Bauen auf ihre Theologie(n); jedenfalls aber im Vertrauen auf die Botschaft, die auch uns meint. Haben die Armen, die „Habe-Nichtse" möglicherweise etwas, das uns schon ganz verloren gegangen zu sein scheint, nämlich den Glauben an einen Ausweg aus der (nicht zuletzt durch uns mitbedingten) Weltkrise ... ? SRS zeigt, daß der Papst wohl dazugelernt hat: daß das dialogische, wechselseitige Denken dem christlichen Konzept entspricht — weil Liebe ein Beziehungsverhältnis, ein wechselseitiges Verhältnis ist. Werden die Theologen der sogenannten Ersten Welt noch zureichend theologisieren können, wenn sie die andere Seite des christlichen Denkens nicht vorurteilsfrei (wenigstens) zur Kenntnis nehmen? Das würde — und wohl nicht zuletzt — für eine Abklärung der Probleme von HuS gelten!
IV. Interessante Interpretationsmuster zum Problem HuS Wenn man die andere Seite der Weltwirklichkeit nicht aus eigener Anschauung und Erfahrung kennt, sollte man besser Interpretationshilfen aus unseren Breiten zur Sprache bringen; das sei hier probiert: nämlich durch drei Leitsätze (unterschiedlicher Provenienz). Die drei Appelle sind: 1. Eine Formel aus einem Theologenkommentar zur SRS: „Der Kult des Habens muß durch eine Kultur des Habens überwunden werden" (Wilhelm Korff / Alois Baumgartner) 2. Ein Impuls eines Mediziners: "Das Haben sein lassen, um das Sein zu haben" (Heinrich Schipperges)
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3. Die Regelweisheit eines Kirchenvaters: „Wenig(er) brauchen ist besser als viel haben (wollen)" (Augustinus) Zu 1. : Die Enzyklika SRS gebraucht den Ausdruck „Kult des Habens" und kritisiert ihn. Worin aber unterscheiden sich Kult und Kultur? „Gaudium et spes" enthält in II/2 (Nr. 53-62) ein ausführliches Kapitel über die „richtige Förderung des kulturellen Fortschritts"; wieviel ist davon aber wirksam geworden? Kultur erscheint als ein Separatbereich; die Kultivierung der Alltagswirklichkeit ist uns eigentlich nicht das vordringliche Anliegen; die Aufdeckung und Überwindung quasireligiöser und ritueller Verhaltensweisen durch eine menschenfreundliche Lebenskultur haben wir keineswegs erreicht; im Gegenteil: die Unkultur scheint sich unser zu bemächtigen. Viel profunde Arbeit wäre auch in der Theorie noch zu leisten: u. a. eine saubere Reflexion des Fetischproblems. Über die „Gefahren des Reichtums" und ihre biblische Kritik schwindeln wir uns geschickt herum mit dem Verweis darauf, daß Jesus uns auch das „Leben in Fülle" vergönnt hätte. Die wenigen mutigen Ansätze zur Kritik der Habgier (die im Bibelgriechisch viel präziser benannt ist, nämlich πλβονβξϊα), etwa bei Leonhard Ragaz, sind kaum bekannt; die Auseinandersetzung mit dem „reichen Jüngling" scheint ein Spezialistenthema zu sein (ζ. B. bei Karl Barth / Peter Eicher); die Auslegung der βπίΰνμϊα, d.h. des Begehrens (im 9. und 10. Gebot) entfällt — zumeist aus Zeitmangel... Ein nötiger Schritt zu mehr „solidarischem Leben" wäre eine sozialere Sicht von Liebe. Auch da begnügen wir uns mit schnellen Formeln (etwa wenn wir das Wort Papst Pauls VI. eitel zitieren, daß „Politik der Ernstfall der Liebe" sei); aber Parolen greifen nicht vor Ort. Buchstabierübungen in Sachen sozialer Liebe täten not, wenn Liebe wirklich zur „Sehbedingung der Gerechtigkeit" (Nikolaus Monzel / Lothar Roos) werden soll. Zu 2.: „Das Haben sein lassen, um das Sein zu haben" — der Tip eines Mediziners. Gesundung und Gesundheit sind nur möglich in einem Einpendeln auf ein gesundes Maß, ohne Überstrapazierung in eine Richtung. W i r reden bisweilen auch im Wirtschaftsbereich mit medizinischen Termini: ζ. B. von einer „überhitzten Entwicklung", vom Kollaps eines Wirtschaftskörpers, von einem gestörten ökologischen Gleichgewicht usf. Woher sollen aber für diese Bereiche heilende Kräfte kommen? Wer vermag und hilft die Krankheiten ohne Panik zu diagnostizieren? Auf ein brennendes Segment möchte ich hier noch verweisen: Ein neuer medizinischer Zweig bekommt Saison: die Chrono-Biologie. Sie hat das Ziel, die Menschen besser umgehen zu lehren mit einem sehr sträflich mißachteten Gut, nämlich mit der Zeit. Die ökonomische Akzelleration treibt uns mit Rasanz auf eine Grenze zu: in die Situation, daß wir in kürzester Zeit alles zur Verfügung haben wollen. W i r haben bald alles —
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aber keine Zeit mehr. Wer hilft, wer kann Erlösung bieten aus den Abgründen der Zeitnot und des Zeittods? Wie kommen wir wenigstens einen Schritt weiter im Versuch, die erlebbaren Übel zu minimalisieren? Kann man Gelassenheit, kann man das SeinLassen nur im Sanatorium, nach dem Infarkt erlernen? Müßte man nicht über Strategien nachdenken, das Sein verantwortungsbewußt zu sichern? W i e schaffen wir überhaupt den Anfang darin, das „Haben sein zu lassen"? Möglicherweise auf Nachfolge-Wegen, dem hinterher, der an keinem Gottsein bzw. Gott-sein-müssen festhielt (Phil 2), und der in die Zeit eintauchte, um sie von den Zwängen zu erlösen ... ? Zu 3.: „Wenig(er) brauchen ist besser als viel haben (wollen)" (Melius enim est minus egere quam plus habere; Augustinus, Ordensregel III/5). Augustinus scheint das schlagendste Argument zu bieten. Freilich ist dies ein so alternatives Argument, daß es wohl nicht einmal die Grünen ernsthaft in die Diskussion bringen werden; das Propagieren von Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit, Wenig-Brauchen ist ja wirtschaftsschädigend im höchsten Grad! Liest man den Satz im Kontext der augustinischen Ordensregel, dann wird deutlich, daß es Augustinus sehr wohl um Armut geht, aber „nicht um jeden Preis"; er will zur Minderung der Ansprüche erziehen. Er empfiehlt die Anspruchs-Beschränkung für seine Kleingruppe: „Einem Diener Gottes steht es gut an, wenig zu brauchen" ; Absicht des Unternehmens ist nicht das Armsein als solches, sondern das Finden der inneren Freiheit: „Non sicut servi sub lege, sed sicut liberi sub gratia constituti" (OR VIII/1): das ist die Zielvision der Ordensregel; unter welchen Wirtschaftszwängen und -gesetzen sind wir heutzutage aber gefangen (selbst in den Klöstern!)? Augustinus, den wir in den lebensträchtigen, praktischen Erfahrungen zu wenig befragen, könnte uns zur HuS-Problematik z. B. auch zu Hilfe kommen mit seiner Unterscheidung des „frui" und „uti", des Gebrauchens und Genießens; verstehen wir noch etwas zu gebrauchen, aufzubrauchen; können wir überhaupt noch genießen — oder nur noch verzehren ... ? Wirtschaftlich ist der rasche Verbrauch, keineswegs der Gebrauch im Vordergrund. Vermögen wir noch unser Da-Sein zu genießen ... ? A m Beispiel des Augustinus könnte man sehen: Theologie muß nicht erst auf umständlichen Wegen zur Wirtschaftsethik werden, um an die Wirtschaft heranzukommen; hochkarätige Theologie muß sich nicht anbiedern; sie bleibt eo ipso und ipso facto praxisrelevant. Ein Beweis könnte m. E. erbracht werden in einem durchreflektierten Traktat über SuH.
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V. Eine Nagelprobe für die Kirche SRS erregte beim Erscheinen einiges Aufsehen; freilich nicht eigentlich wegen der Reflexionsleistung oder wegen der sprachlichen Prägnanz; vielmehr durch eine Bemerkung in Nr. 31, in der der Papst der Kirche selbst einiges zumutet: das Teilen als fundamentales Teilen, nämlich nicht nur vom Überfluß, sondern auch aus dem Notwendigen: SRS 31/6: „So gehört zur ältesten Lehre und Praxis der Kirche die Überzeugung, daß sie selbst, ihre Amtsträger und jedes ihrer Glieder durch ihre Berufung dazu angehalten sind, das Elend der Leidenden, ob nah oder fem, nicht nur aua dem ,Überfluß', sondern auch aus dem »Notwendigen' zu lindern. Angesichts von Notfällen kann man nicht einen Überfluß an Kirchenschmuck und kostbaren Geräten für die Liturgie vorziehen; im Gegenteil, es könnte verpflichtend sein, solche Güter zu veräußern, um den Bedürftigen dafür Speise und Trank, Kleidung und Wohnung zu geben" (59). W i e schon bemerkt wurde, wird uns hier — im Rahmen des Rechts auf Eigentum — eine „Rangfolge der Werte" zwischen „Haben" und „Sein" angegeben, besonders wenn sich das „Haben" einiger zum Schaden des „Seins" von so vielen anderen auswirken kann."
Bevor man diese Aussagen großspurig als „reine Utopie" abtut, darf man sie Wort für Wort befragen; manches würde sich zumindest ordnen: im Vordergrund steht „das Elend der Leidenden" und daß wir wieder ein Gespür bekommen sollten zur Unterscheidung des Überflüssigen vom Notwendigen. Dann erst käme wohl die Reflexion an die Reihe, ob wir einen Überfluß an liturgischer Gerätschaft haben (oder anschaffen). Eine „liturgische tabula rasa" ist gewiß nicht intendiert; sie würde den religiösen Gefühlen und Erwartungen des Volkes gewiß nicht Rechnung tragen; und wieviel an Überflüssigem rundum müßten wir wohl zuerst versetzen, bevor wir die liturgischen Utensilien an die Antiquitätenhändler ausliefern! Interessant wäre es allerdings doch zu erfahren, was der flehentliche Appell des Papstes fruchtet, bzw. zu erhellen, warum es so schwer ist, daß konkret etwas in Gang kommt. Praxisträchtig scheinen die drei Kirchenväterbelege in Fußnote 59 zu sein. Ich möchte diese Passagen hier ausführlich anführen als ein Beispiel dafür, wie große Theologen aus ihrer Theologie heraus fähig sind, zum Thema HuS höchst praktisch zu reden, ja zu handeln. (Vielleicht wird an solchen Beispielen auch erkennbar, daß Theologen nicht nur „NousKnacker" sein müssen (vgl. Odo Marquard), daß sie vielmehr auch etwas beizutragen in der Lage sind, um die harte Nuß der πλβονεξία zu knacken!). Das Verhalten des Augustinus wird anhand einer Passage aus Possidius (Vita S. Augustini Episcopi XXIV) dargestellt. Darin heißt es: „Ja, selbst kirchliche Gefäße ließ er zugunsten der Armen und Gefangenen zerbrechen und einschmelzen. Davon wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, hätte ich nicht gesehen, daß dieses dem fleischlichen Sinn mancher zuwider war."
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Ein anderer Verweis geht auf Johannes Chrysostomus, seine Auslegung zum Matthäusevangelium (hom 50, 3-4); darin heißt es: „Du schmückst den Fußboden, die Wände und die Kapitelle mit Säulen und hängst an silberne Ketten Lampen auf. Er aber ist i m Gefängnis angekettet, und du magst ihn nicht einmal sehen. Das sage ich jedoch nicht, um solche Ehrungen zu verhindern, sondern ich meine, wir müßten das eine und das andere tun; besser noch das eine vor dem andern."
Und aus Ambrosius kommt ein Text aus „De officiis ministrorum" (Lib. II, XXVIII, 136-140) zu bedenken, wo das Beispiel des hl. Diakons Laurentius beschrieben ist: Er wurde als Kämmerer des damaligen Papstes von den Kirchenfeinden aufgefordert, die Kirchengüter herauszugeben. Laurentius verteilte, was er vorfand, an die Armen. Als er am nächsten Tag zur Rechenschaft gezogen wurde, konnte er guten Gewissens auf die Armen verweisen und sagen: „Diese hier sind der Reichtum der Kirche." Lägen in solchen Beispielen nicht genug Impulse?: — Die überflüssigen Reichtümer an die Armen austeilen, bevor sie uns in absehbarer Zeit wohl sowieso weggenommen werden ... — „Das eine und das andere tun"; und zwar in der rechten Reihenfolge: „Besser das eine vor dem anderen" ... — Auch einmal etwas zu riskieren, „auch wenn es dem fleischlichen Sinn mancher zuwider ist" ...? Aber wahrscheinlich bräuchten wir alle, konkret: wir hier, die wohl auch zu den Mehrwert-Gierigen und Habens-Übersättigten (bald hätte ich gesagt: Habens-Übersegneten) in der Kirche gehören, die Gnade der Einsicht und der Erlösung von den Gesetzen der Profitgötzen. So könnten wir — das walte Gott, der Deus semper minor — zur Umkehrung in der Priorität: vom Haben zum Sein, kommen; nein: zur Umkehr; sodaß das Sein(-Können) den Vorrang hätte vor dem Haben(dürfen), und unser Haben seinsgemäß(er) wäre ...
MITTELPUNKT DER WIRTSCHAFT: DER MENSCH ALS KONSUMENT Und der Beitrag der Kirchen zu einer menschenwürdigen Gesellschaft Von Wolfgang Schmitz
I. Ist das Konsumverhalten ethisierbar? „Ist die durch eine materielle Überflutung und psychische Massage ausgelöste Konsumbegierde ethisierbar?" Diese Frage stellte Johannes Schasching vor mehr als 30 Jahren in der ersten Publikation der Schriftenreihe der damals neu gegründeten Katholischen Sozialakademie Wien (der späteren Katholischen Sozialakademie Österreichs) noch als Professor für Soziologie an der Universität Innsbruck. 1 Er fragte, ob der im Namen der damals dominierenden keynes'schen Sicht der ökonomischen Notwendigkeit wie auch des soziologischen Zwanges auftretende „Konsumsog noch durch ethische Normen leitbar ist, die im Bewußtsein des modernen Menschen Resonanz finden und sich zur Transparenz der Herrschaft des Geistes über den Randdruck des Materiellen verdichten?" Schasching sah dies als „neues Problem (und) die Gefahr einer Verbauung des Zuganges zu den geistigen und religiösen Wirklichkeiten, die eben nicht im dargestellten Sinne konsumierbar sind, sondern andere Haltungen im Menschen voraussetzen". Das Problem hielt er deswegen für besonders ernst, weil die gesteigerte Konsumbegierde nicht mehr das Privileg einer kleinen Schicht ist, sondern sich zum Massenklima der industriellen Gesellschaft ausgeweitet hat. Aus der Erkenntnis, daß die Menschheit erst am Anfang eines extensiven und intensiven Konsumzeitalters steht, hatte Schasching damit ein Problem angeschnitten, das sowohl eine individualethisch-pastorale wie auch eine sozialethisch-ordnungspolitische 2 Dimension hat. Es ist in Folge der rasch
1 J. Schasching SJ, Kirche und industrielle Gesellschaft, Schriftenreihe der Katholischen Sozialakademie Wien, Bd. I, Verlag Herder, W i e n 1960, S. 101 ff. 2 Unter „sozialethisch" („ordnungsethisch") sollen i m folgenden jene gesellschaftlichen Zielsetzungen verstanden werden, die nur mittels Institutionen erreicht
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wachsenden Effizienz des marktwirtschaftlichen Systems und der damit verbundenen Steigerung der Haushaltseinkommen noch um so drängender geworden, so daß es eigentlich überrascht, daß es inzwischen von den Interpreten der christlichen Soziallehre nicht noch viel entschlossener aufgegriffen worden ist.
1. Der Verbraucher
und sein Haushalt — spät wiederentdeckt
Tatsächlich wurde der Verbraucher und sein Haushalt als Institution und als Anfang und Ende des wirtschaftlichen Kreislaufes auch von der ökonomischen Theorie erst relativ spät wiederentdeckt und zum Gegenstand volkswirtschaftlicher Kalkulation und Diskussion gemacht. 3 Wahrscheinlich war die überwältigende Überlegenheit der freiheitlichen marktwirtschaftlichen Güterversorgung und der freiheitlichen politischen Meinungs- und Willensbildung, wie sie nach dem Zusammenbruch des vorher alternierenden Systems des „realen Sozialismus" in aller Welt offenkundig geworden ist, eine Voraussetzung dafür, daß die gesellschaftspolitisch und pastoral zentrale Bedeutung dieser Fragestellung heute voll erkannt werden kann. A n sich war „die Frage der Ordnung der wachsenden Konsumbegierde" (J. Schasching) in einer effizienten Wirtschaftsordnung längst positiv beantwortet. Für ein sozialethisches Ordnungsbild der Gesellschaft, das in den wesenhaften („existenziellen") Lebenszwecken des Menschen vorgezeichnet ist und das wir Johannes Messner verdanken, ist die Erstverantwortung des Konsumenten eine tragende Säule: Von den beiden Seiten des Tauschverkehrs, Angebot und Nachfrage, fällt dieser die Leitung der Sozialwirtschaft ihrer Natur nach zu. Der Konsument ist daher der Herr der ihren Zweck erfüllenden Sozialwirtschaft. Mit der Freiheit der Konsumwahl als „grundlegendes sittliches Ordnungsprinzip" der Sozialwirtschaft ist die werden können sowie die Funktionsweisen dieser Institutionen. „Individualethisch" sind die Zielsetzungen und Verhaltensweisen, die besonders der persönlichen Tugendhaftigkeit bedürfen. 3 Siehe z. B. C.-A. Andreae, Mensch und Wirtschaft. Spannungen und Lösungen, Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien-München 1966, S. 172 f. Als Beispiele für die neuere Verbraucherökonomik: Monika Streissler, Theorie des Haushalts, Gustav FischerVerlag, Stuttgart 1974, E. Egner, Der Verlust der alten Ökonomik. Seine Hintergründe und Wirkungen, Beiträge zur Ökonomik von Haushalt und Verbrauch, Heft 18, Duncker & Humblot, Berlin 1985; Gerhard Scherhorn, Gesucht: der mündige Verbraucher, Grundlagen eines verbraucherpolitischen Bildungs- und Informationssystems, Droste Verlag, Düsseldorf 1973; A. Jäger / K. Neusser, Die moderne aggregierte Theorie des Konsum- und Sparverhaltens: Eine empirische Studie für Österreich, Schriftenreihe des österreichischen Forschungsinstitutes für Sparkassenwesen, Wien, Sonderband 1988.
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Verpflichtung zu wertechter Bedarfsgestaltung und Nachfrage verbunden. Wertecht ist die Nachfrage, wenn sie sich Gütern und Dienstleistungen zuwendet zur Befriedigung der verschiedenartigen Bedürfnisse in der dem Menschen in seinen wesenhaften Lebenszwecken vorgezeichneten Ordnung. Wenn die Konsumenten mit Einsicht und Entschlossenheit handeln, müssen sich ihnen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung die Produzenten, wenn sie verdienen wollen, unterordnen: Voraussetzung ist nicht nur die für die Beurteilung der Qualität der Waren erforderliche Kenntnis, sondern auch der Wille, sich beim Einkauf danach zu richten, um sich nicht von Gewohnheit, Reklame oder Scheu leiten zu lassen." Johannes Messner hatte es schon frühzeitig erkannt, daß sich die Sozialreform in einer „rechten Wirtschaftsordnung" noch nicht erschöpft. Diese ist wesentlich auch eine Frage „der rechten Ausübung der Nachfrage und rechten Konsumwahl, also der Korisumethik". Ordnungspolitisch relevant ist, daß dabei nicht in erster Linie die Produzenten, sondern die Konsumenten deren Produkte angesprochen werden: das Alkoholkapital (z. B.) könnte nicht soviel verdienen, wenn weniger Alkohol konsumiert, und an Schundware (z. B. der Filmindustrie) könnte nicht soviel volkswirtschaftlich knappes Kapital verschwendet werden, wenn sie nicht verkauft würden. 4 Die vulgär wissenschaftliche Literatur gibt noch eine realistischere Beschreibung der Motivation der Werbung, wenn z. B. festgestellt wird, daß „die Fernsehwerbung ... den Inhalt und die Form aller Programme (beeinflußt), ... um (!) die Vorstellungen der Zuschauer zu formen, ihren Wirklichkeitssinn zu entstellen, ihre Anschauungen, ihren Geschmack und ihr Verhalten zu bestimmen". 5 Eine Sozialethik aber — um eines aus vielen Beispielen zu wählen — schießt über das Ziel hinaus, wenn sie die Folgen der Werbung schlechthin wie folgt „analysiert" : „Die Welt der ökonomischen Propaganda verstellt die wirklichen Bedürfnisse und ihre Erfüllung durch eine un-menschliche ,Öffentlichkeit', in der der Mensch in dem, was er an sich selbst ist, überhaupt nicht mehr zur Sprache kommt, sondern nur noch in der Anonymität von Produzenten und Konsumenten auftaucht. Der Mensch hat (!) nur in dem Maß Bedeutung, wie er für den Produktions- und Konsumationsprozeß nützlich ist. Er kann (!) sich nicht seinem inneren Wertmaß, seiner seinsmäßigen Grundordnung gemäß artikulieren, sondern es wird ihm durch Werbung und Propaganda vorgeschrieben (!), wie er zu sein und zu leben hat, um als Mensch zu gelten .. ." 6 4
J. Messner, Ethik, Kompendium der Gesamtethik, Innsbruck/Wien/München 1955, S. 414. 5 F. Capra, Wendezeit, Bausteine für ein neues Weltbild, Scherz Verlag, BernMünchen-Wien 1985 (engl. Original: „The Turning Point", 1982), S. 238. 6 H. Büchele SJ, Politik wider die Lüge. Zur Ethik der Öffentlichkeit, hrsg. von der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Europa Verlag, W i e n 1982, S. 66.
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Trotz prinzipieller Ablehnung des Determinismus durch alle Richtungen der katholischen Soziallehre dominiert heute eine Tendenz, das persönliche Verhalten des Menschen im Alltag des Verbrauches „der Gesellschaft" und ihren „Zwängen" zuzuschreiben. Bei der häufigen Überzeichnung des „Konsumzwanges" durch kommerzielle Werbung als „geheime Verführer" und durch „Manipulation" des potentiellen Verbrauches durch „Werbung unter der Bewußtseinsschwelle" wird der Mensch als Adressat der Werbung gerne als wehrloses Opfer der Suggestion des Werbeangebots gesehen. So wird der Freiheitsraum des einzelnen und damit der Bereich der Eigenverantwortlichkeit weit unterschätzt. Gerade bei sozialkritisch Engagierten ist die Neigung groß, die Verantwortung für Fehlentscheidungen der Nachfragenden anonymen und kollektiven Mächten zuzuschreiben. „Zählen nur Konkurrenzfähigkeit und Gewinn", so heißt es beispielsweise in der Analyse unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung im „Grundtext", mit welchem die Diskussion zum Sozialhirtenbrief 1990 im Jahre 1988 eingeleitet worden war, dann „werden (?) auch Produkte erzeugt, die wir (!) nicht brauchen, die uns selbst oder Menschen in anderen Teilen der Erde schaden".7 Der fehlende Adressat eines konsumethischen Postulates läßt eine gewisse ordnungstheoretische Ratlosigkeit erkennen. Unter den möglichen Maßnahmen wird eine außerhalb des Konsumenten liegende Institution „organisierte Gegenwerbung" zur Diskussion gestellt, die aber wenigstens ihrerseits den Konsumenten zum Adressaten hat: Für einen kritischen Konsum, für einen bewußten Gebrauch von Gütern und eine überlegene Inanspruchnahme von Diensten" (S. 11). Und zur „Sanierung des Zeitbudgets" wird die treffende Frage gestellt: „Wofür verwende ich, verwenden wir zu viel Zeit, wie kann ich frei werden für das, was mir wichtig ist?" (S. 26) Im Rahmen der Diskussion, die nach dem Willen der österreichischen Bischöfe deren Sozialhirtenbrief des Jahres 1990 vorbereiten sollte, hat ein Symposium in der Wiener Katholischen Akademie am 29./30. April 1989 die beiden sehr unterschiedlichen Adressaten ethischer Postulate in Erinnerung gerufen: Das sozialethische Postulat der ökonomischen Effizienz in der optimalen Befriedigung der individuellen und kollektiven Bedürfnisse, das an die für die Wirtschaftsordnung Verantwortlichen gerichtet ist, und das individualethische Postulat der Verantwortung des Einzelnen für die Gestaltung seines persönlichen Lebens.8 7 Sinnvoll arbeiten — solidarisch leben. Den Sozialhirtenbrief vorbereiten, Linz, September 1988, S.6. 8 Sinnvoll arbeiten — sinnvoll leben. Die fundamentale Solidarität von Konsumenten und Produzenten. — Der Vorschlag des Symposiums der Wiener Katholischen Akademie zur Vorbereitung eines Sozialhirtenbriefes der österreichischen Bischöfe, in: Wissenschaft und Glaube, Vierteljahresschrift der Wiener katholischen Akademie, Heft 4, Jg. 2, 1989, S. 234-244.
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Das Symposium hat zunächst zwischen dem Sinn der Arbeit der Anbietenden und der sinnvollen Lebensgestaltung der Verbraucher einen ordnungsethischen Zusammenhang hergestellt, der bei der häufig kasuistischen bzw. sektoralen Betrachtungsweise gerade von sozial engagierten Systemkritikern, die sich allgemein auf „die Solidarität der Arbeit" berufen, oft übersehen wird: die fundamentale Solidarität von Konsumenten und Produzenten. Dazu war zunächst eine häufige Lücke in der vulgär katholisch-sozialen Meinungsbildung zu schließen, in welcher der Sinn der Arbeit meist im individualen Sinn der Arbeit für die Selbstverwirklichung des Arbeitenden (vom Beitrag zur Selbstentfaltung bis zur Einstufung der Arbeit als bloße Quelle des Arbeitsleides), weniger aber im Dienste am Mitmenschen gesehen wird. Für den sozialen Wert der Arbeit aber kann nur der Wert maßgeblich sei, den sie für die Gesellschaft, d. h. für die Mitmenschen, hat. In einer freien Gesellschaft mit einer arbeitsteiligen Wirtschaft — wie sie eine wachsende Bevölkerung in einer komplexen Welt zur Voraussetzung hat — gibt es kaum eine andere Möglichkeit, einen objektiv-bewertbaren Bedarf festzustellen als den Markt. Der individuale Wert der Arbeit wird mit dem sozialen durch die Verbindung von persönlicher Leistung für die Gesellschaft mit dem individuellen Einkommen verbunden. Gerade die jüngsten Erfahrungen in den ehemals kommunistischen Ländern zeigen einmal mehr, welche tiefgreifenden Folgen die Versuche gezeitigt haben, das persönliche Einkommen von der persönlichen Leistung des Einzelnen abzukoppeln und wie sehr es dem Wesen des selbstverantwortlichen Menschen entspricht, beides in einen engen Zusammenhang zu bringen, für alle diejenigen, die dazu in der Lage sind. Daß es auch Menschen gibt, die dazu — aus welchen Gründen auch immer — noch nicht, vorübergehend nicht oder nicht mehr in der Lage sind, trotzdem aber das Recht zu leben und daher das Recht auf Hilfe haben, steht hier außer Diskussion.
2. Sinnvolle Arbeit durch sinnvolle
Konsumentenentscheidung
Liegt der soziale Wert der Arbeit in der Befriedigung der auf dem Markte durch monetäre Nachfrage (oder außerhalb des Marktes auf analog andere Weise) erkennbaren Bedürfnisse, dann wird diese Arbeit auch selbst zur sinnvollen Arbeit (im vollen Wortsinne), wenn auch die Nachfrage sinnvoll ist. Das sinnvolle Arbeiten der einen aufgrund des sinnvollen Lebens der anderen öffnet den Blick auf eine Solidarität, die bisher meist übersehen 15 Festschrift Schasching
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wird. Das allgemeine Sozialdenken war lange Zeit — wohl auch durch die historischen gesellschaftlichen Umstände bedingt — besonders geprägt durch die sozialen Probleme, die sich aus der Zugehörigkeit der meisten Menschen zum Produktionsprozeß aus ihrer Stellung auf dem Arbeitsmarkt als Arbeitgeber oder als Arbeitnehmer ergeben. Das aber ist nur eine Problematik in den vielseitigen sozialen Zusammenhängen. Die gleichen Menschen stehen sich aber gleichzeitig in jeweils ganz anderen Solidaritäten und mit selbst wechselnden Positionen als Konsumenten und Produzenten (im weitesten Wortsinn) gegenüber. Eine neue Kategorie der Solidarität zwischen diesen beiden Gruppen wird sichtbar, wenn wir feststellen müssen, daß erst die sinnvolle Nachfrage der Menschen als Konsumenten auch die Arbeit der Menschen als Produzenten (als Arbeitgeber, als Arbeitnehmer und als Kapitaleigentümer) letztlich erst im tieferen Sinne wirklich sinnvoll werden läßt. Diese Verbindung kann aber nur durch ein Zusammenwirken von Wirtschaftsordnung und Konsumentenverhalten Zustandekommen. Die Wirtschaftsordnung hat ihren diesbezüglichen Teil in dem Ausmaß geleistet, als sie dem Konsumenten die Steuerung des Produktionsprozesses in die Hand gelegt hat. Der soziale Wert der Arbeit ist gegeben, wenn damit nachgefragte Bedürfnisse befriedigt werden.
II. Sozialethik des Wirtschaftssystems — Individualethik des Konsumenten ί . Der Konsumismus — keine Frage des Wirtschaftssystems Das Bekenntnis zur Trennung der Sozialethik des Wirtschaftssystems von der Individualethik des Konsumenten war eine der ordnungsethischen Überraschungen der Enzyklika Centesimus annus des Papstes Johannes Paul II. am 1. Mai 1991 (CA). Sie befaßte sich mit dem Phänomen des Konsumismus als einem Mißgriff bei der Entdeckung neuer Bedürfnisse und neuer Möglichkeiten, sie zu befriedigen, ohne sich „von einem Menschenbild leiten (zu) lassen, das alle Dimensionen seines Seins berücksichtigt und die materiellen und triebhaften den inneren und geistigen unterordnet". Überläßt man sich direkt seinen Trieben, unter Verkennung der Werte des persönlichen Gewissens und der Freiheit, können Konsumgewohnheiten und Lebensweisen entstehen, die objektiv unzulässig sind und nicht selten der körperlichen und geistigen Gesundheit schaden. Und daraus schließt sich unmittelbar die ordnr.ngstheoretisch so weitreichende Erkenntnis an, daß das Wirtschaftssystem (das ein so reiches und verführerisches Angebot zustande bringt, d. Verf.) „in sich selber keine
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Kriterien (besitzt), die gestatten, die neuen und höheren Formen der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse einwandfrei von den neuen künstlich erzeugten Bedürfnissen zu unterscheiden, die die Heranbildung einer reifen Persönlichkeit verhindert". Um die sich daraus zwingend ergebenden Konsequenzen zu ziehen, braucht es „daher dringend ein groß angelegtes erzieherisches und kulturelles Bemühen (Hervorhebung im Original), das die Erziehung der Konsumenten zu einem verantwortlichen Verbraucherverhalten und bei den Trägern der Kommunikationsmittel umfaßt (CA 36,2). 9 Das ebenfalls angesprochene Verantwortungsbewußtsein bei den Produzenten und staatlichen Stellen bezieht sich — wie die dort folgenden Zeilen zeigen — z. B. auf den Drogenkonsum. Es werden daher Lebensweisen verlangt, die durch das Suchen nach dem Wahren, Schönen und Guten ausgezeichnet sind (CA 36,4). Solche Lebensweisen sind wohl nur aus der Erkenntnis eines individuellen Lebenssinnes ableitbar, wie ihn vor allem die christlichen Kirchen anzubieten haben und damit eine Alternative zur Ausfüllung der geistigen Leere, die nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus die Droge wie auch die Pornographie und andere Konsumismusformen auszufüllen versuchen (CA 36,3). Als augenfälliges Beispiel eines solchen „künstlichen" Konsums, der sich gegen die Gesundheit und Würde des Menschen richtet und gewiß nicht leicht unter Kontrolle bringen läßt, nennt C A die Droge und die Pornographie sowie „andere Konsumismusformen, die versuchen, die entstandene geistige Lehre auszufüllen, indem sie sich die Anfälligkeit der Schwachen zunutze machen" (CA 36, 3). C A macht eine wichtige Unterscheidung: „Nicht das Verlangen nach einem besseren Leben ist schlecht, sondern falsch ist ein Lebensstil, der vorgibt, dann besser zu sein, wenn er auf das Haben und nicht auf das Sein ausgerichtet" sei. Es werden daher Lebensweisen verlangt, die durch das Suchen nach dem Wahren, Schönen und Guten ausgezeichnet sind (CA 36,4). 2. Ansprüche der Konsumenten an die Wirtschaftsordnung In einer freien Gesellschaft selbstverantwortlicher Menschen ist es die subjektive Wertschätzung des einzelnen Nachfragenden, die darüber zu befinden hat, was, wann und wo und in welcher Menge zur Verfügung stehen soll. Die Institution zur Koordinierung der zahlreichen Anbieter von Waren 9
Die Belegstellen von C A folgen der Übersetzung, in welcher der Pressedienst der Deutschen Bischofskonferenz und in Österreich die Kathpress die Enzyklika veröffentlicht haben.
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und Leistungen und der Nachfrage der noch zahlreicheren Konsumenten derselben, die dies möglich macht, ist der wettbewerbsgesteuerte Markt. Es gibt nach allen Erfahrungen (in den Industrieländern, den Staatshandelsländern und in der Dritten Welt) keinen geeigneteren Weg, die individuelle Wertschätzung der einen mit den ökonomischen Möglichkeiten der anderen in Verbindung zu bringen. Wie alle Erfahrung lehrt, kann dies durch kein anderes System ersetzt werden. Die Verbindung der individuellen Bewertung des Arbeitsproduktes durch den Nachfragenden auf der einen Seite mit der sozialen Bewertung der Arbeit des Anbietenden auf der anderen Seite wird durch den Markt hergestellt. Was der Konsument von der Wirtschaftsordnung mit Recht erwarten darf, ist, daß er sich mit seiner Wertschätzung und seinen subjektiven Präferenzen anteilsmäßig wirklich durchsetzen kann. Dazu müssen die Anbieter von Waren und Leistungen durch institutionelle Signale, Anreize und Sanktionen ausreichend motiviert und ausreichend flexibel sein, um auf Nachfrageveränderungen prompt und zuverlässig zu reagieren, d. h., daß die Marktwirtschaft dafür zu sorgen hat, daß die Wertentscheidungen des Verbrauchers auf das Angebot durchschlagen. Die Forderung der Verbraucher an die Wirtschaftsordnung ist dazu auf die Sicherstellung der Markttransparenz, der wahren Beschaffenheit des Angebotes und der Angebotspreise sowie auf offene Märkte gerichtet. Nach den an die Produzenten und Händler gerichteten Postulaten wird das Wettbewerbssystem erst durch jene auf Aktionen und Reaktionen der Verbraucher bezugnehmenden Prinzipien konstituiert. 10 Diese Forderungen können die Menschen je nach der jeweils gegebenen Zuständigkeit als Konsumenten oder als Wähler zur Geltung bringen. Der sittliche Wert des wettbewerbgesteuerten Marktes liegt ordnungspolitisch in seinen sozialen Funktionen, an deren Spitze die Freiheit des Verbrauchs und der Spartätigkeit, der Arbeitsplatz- und der Berufswahl und der Wahl des Wohnortes wie gleichermaßen in der höchsten Effizienz bei der Verfügung über die knappen Ressourcen. Zur umfassend sinnvollen Ordnung, d. h. zum gesamten ordnungsethischen Anliegen wird das heute vielfach unter der Bezeichnung „Soziale Marktwirtschaft" angestrebte Ordnungssystem erst durch eine durchgängige Konsum- und Sparethik der Verbraucher. Neben der Erziehung der Verbraucher zu einer nach dem Lebenssinn orientierten Konsum-, Spar- und Freizeitverwendungsethik bleibt noch Raum für eine staatliche bzw. im staatlichen Vorfeld lokalisierte Verbraucher-Schufzpo/iii/c und vor allem Raum für Unterricht in verbraucherbewußtem rationalen Verhalten m den Schulen. 11 Die sicherste Grundlage dafür ist eine erfolgreiche Politik zur Erhaltung und Förderung des Wettbewerbes auf beiden Seiten der Märkte. 10
C.-A. Andreae, S. 180. Vgl. C.-A. Andreae, S. 178 ff., und K. Kollmann, Konsumentenschutzpolitik, Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, W i e n 1968. 11
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3. Die Werbung beschränkt die Konsumentenverantwortung
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nicht
Die volle Verantwortung des Verbrauchers für die Auswahl der Waren und Dienstleistungen, die er in Anspruch nimmt, wird durch die Werbung für diese Güter nur dann beeinträchtigt, wenn die Werbung unwahr und irreführend ist. Die oft übertriebene (oder oft gebrauchte Ausrede!), eine intensive und aggressive Werbung „zwinge" den Konsumenten, wird schon durch die einfache Tatsache entkräftet, daß es ja allein schon das Einkommensvolumen des Konsumenten (selbst vergrößert durch Konsumentenkredite) unmöglich macht, allen Werbeangeboten zu folgen. Er muß immer eine Auswahl treffen. Dennoch ist es legitim, wenn in einzelnen Kategorien der Werbung (z. B. für Produkte, die die Gesundheit schädigen) heute aufgrund vertiefter Erkenntnisse Möglichkeiten wahrgenommen werden, einschränkende (z. B. im Drogenhandel) oder zumindest zur Information zwingende (wie z. B. für die Werbung von Pharmazeutika und Rauchwaren) oder unter Umständen sogar verbietende Maßnahmen zu setzen. Es fragt sich z. B., ob manche Formen der Werbung um die Jugend zur Kreditaufnahme nicht doch bedenklich sind. Die in vielen Branchen eingeführten Regeln zur Selbstkontrolle (wie z. B. in der Markenartikelwerbung) sind zu begrüßen und unterstützenswert. Auch für einen zusätzlichen Konsumentenschutz (wie z. B. durch Konsumentenberatung, Verpflichtungen zur Deklaration des Inhaltes einer Packung, der Zusammensetzung einer Ware, eine Minderung der Verpflichtung aus dem leicht übersehbaren „Kleingedruckten" oder des Rücktrittsrechtes bei bestimmten Verkaufsangeboten und dgl.) gibt es heute zielführende Möglichkeiten, die noch besser genützt werden könnten. Grundsätzlich aber hat auch die Werbung eine volkswirtschaftlich unentbehrliche Aufgabe und damit eine beachtliche Gemeinwohlfunktion. Die Werbung ist schon in einem überschaubaren Raum (z. B. auf dem Marktplatz) ein unentbehrliches und zeit- und kostensparendes Informationsmittel. Umso mehr bedarf es solcher Instrumente angesichts einer komplexen und unübersichtlichen Fülle von Angeboten, die die Wahl zwischen den zahlreichen offerierten Waren und Leistungen überhaupt erst möglich machen. Die kommerzielle Werbung ist es auch, die erst die Versorgung großer Räume und damit auch die Massenproduktion ermöglicht, wie sie zur Versorgung einer rasch wachsenden Bevölkerung und zu einer optimalen Nutzung der knappen Ressourcen notwendig ist. In der Wirtschaft hat die Werbung nur dann auf die Dauer Erfolg und Wert, wenn der Wert des Angebotes bestätigt wird und das Angebot einem echten Bedürfnis entspricht.
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Der Umstand, daß Bedürfnisse durch Werbung vielfach erst geweckt werden, ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß neue Produkte und Leistungen zunächst angeboten werden müssen, bevor sie nachgefragt werden können. Der technische Fortschritt und die kreative Bewältigung der wirtschaftlichen Lebensprobleme ist auf andere Weise nicht möglich. Der Weg einer technischen Neuerung bis zu ihrer kaufmännischen Verwertbarkeit wäre ohne Werbung ein überaus langer. Die Möglichkeiten, die fortschreitende Technik in den Dienst des Menschen und der Gesellschaft zu stellen, wären nur sehr langsam, wenn überhaupt, gegeben. 12
4. Letztes Entscheidungskriterium:
der Sinn des Lebens
Bei der Wahl aus meist vielen, jeweils sehr unterschiedlichen Möglichkeiten, seine Bedürfnisse zu befriedigen, wird letztlich entscheidend sein, welchen Sinn der Mensch seinem Leben zugrunde legt. Dem menschlichen Grundbedürfnis nach irgendeinem Lebenssinn kommt heute auch die Psychotherapie entgegen. Der Mensch ist als ein sinnorientiertes Wesen wiederentdeckt worden. Zur Deutung des letzten Sinns des menschlichen Lebens ist die Kirche berufen. Seel-sorge wurde einmal sehr treffend als „Sinnsorge" bezeichnet. Sein Heil kann der Mensch finden, der den wahren, d. h. ihm vom Schöpfer zugedachten Sinn seines Lebens gefunden hat. So ist Seelsorge auch Hilfe für den Menschen, seinen spezifischen Lebenssinn zu erkennen, nicht nur bei wichtigen Entscheidungen an Wegkreuzungen des Lebens, sondern auch nicht minder zur Bewältigung der (scheinbaren) kleinen Probleme des Alltags. Der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit jedes Menschen entspricht so die Vielfalt der individuellen Möglichkeiten, sein Leben sinnvoll zu gestalten und damit aus der Vielfalt dessen zu wählen, was andere Menschen — um wieder ihre Bedürfnisse befriedigen zu können — an Waren und Leistungen anzubieten haben. Von einer gewissen Verantwortlichkeit für die Befähigung des Menschen, im Wirtschaftsleben auch als Konsument seine wichtige Funktion erfüllen zu können, ist sicherlich auch das öffentliche Erziehungswesen nicht freizusprechen. Mangelt es schon an einer konsequenten Durchführung des 12
Eine sehr fachkundige und branchenspezifische Behandlung und umfassende Beurteilung nicht nur aus betriebs- und volkswirtschaftlicher, sondern vielmehr aus soziologischer, psychologischer, rechtlicher und ethischer Sicht bietet Burkhardt Röper (Hrsg.), Wettbewerb und Werbung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 180, Duncker & Humblot, Berlin 1989. M i t diesem bisher von Volkswirtschaften vernachlässigten Thema befaßte sich eine Arbeitsgruppe des Vereins für Socialpolitik.
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Unterrichtsfaches „Wirtschaftskunde" in den dafür bereits vorgesehenen Schultypen, so hätte eine systematische Verbraucherpädagogik doch noch beachtliche Aufgaben, die nicht nur der Lebenstüchtigkeit der jungen Menschen, sondern auch der Leistungsfähigkeit und der Bürgerfreundlichkeit unseres Wirtschaftssystems zugute kämen. Zuallererst sind es natürlich die Eltern als Erzieher, an denen es liegt, von früh an den Sinn für bewußte Verwendung von Geld und Zeit zu wecken. 13
5.
Lebenssinn ist wieder gefragt
Die Erkenntnis, daß für diese Zeit, die reich ist an Gütern, die Knappheit am Sinn typisch ist („Wir haben viel, doch was soll das Ganze?",14 gewinnt zusehends an Boden. Der Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels des Jahres 1991 ist am 12. November an Professor Viktor E. Frankl verliehen worden. Damit sollte das Lebenswerk dieses großen österreichischen Psychologen und Logotherapeuten ausgezeichnet werden, der sich um die Wiederentdeckung des Lebenssinns zur Bewältigung von Lebenskrisen verdient gemacht hat. Sein Buch „Man's Search for Meaning" ist allein in den USA in 78 Auflagen mit 5 Millionen Exemplaren erschienen. Auch für eine bewußte Konsumaskese gibt es heute wieder viele gute und naheliegende Argumente: Von der Kosmetik bis zum gesunden Leben und — in immer größerem Nachdruck — zur Schonung der Umwelt. Die Neigung zum einfachen und bedürfnisloseren Leben, oft verbunden mit stark individualistischen Lebensweisen, läßt viel Verständnis für Konsum- und Freizeitverwendungsethik erwarten. Ein bewußtes Haushalten bei der Verwendung des eigenen Einkommens ist nicht das Anliegen einer abstrakten Kultur der Gestaltung des eigenen Lebens. Es ist für viele der natürliche Weg, mit ihrem Einkommen ihr Auskommen zu finden. Für nicht wenige ist es der Weg, eine persönliche Überschuldung rechtzeitig zu vermeiden und damit einem Übel zu steuern, welches als Uberschuldung der privaten Haushalte in einer Zeit dynamischer Entwicklungen als ein neues Problem von großer Tragweite erkannt worden ist. 13 Vgl. dazu: Schule für ein sinnerfülltes Leben. Ein Beitrag zur inneren Schulreform, hrsg. von der Österreichischen Kommission für Bildung und Erziehung und der Katholischen A k t i o n Österreichs. Dokumentation einer Enquête, die von diesen beiden Organisationen zusammen mit dem Österreichischen Laienrat als Beitrag zur Diskussion um die innere Schulreform am 3. November 1984 an der Pädagogischen Akademie der Erzdiözese W i e n durchgeführt wurde, W i e n im Mai 1985. 14 P.M. Zulehner, Das Gottesgerücht. Bausteine für eine Kirche der Zukunft, Patmos-Verlag, Düsseldorf 1989, S. 42.
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Eine Denkschrift des Diakonischen Werkes für Österreich zur Privatverschuldung in Österreich empfiehlt als Gegenmaßnahme die persönliche Verantwortung vor der Forderung nach einer gerechteren Risikoverteilung und einem gesetzlichen Schutz, zu dessen Verbesserung eine Reihe konkreter Vorschläge gemacht und konkrete Informationen über bestehende rechtliche Bestimmungen geboten werden. 15 Für viele wird ein kritischeres Konsumverhalten eine vermehrte Möglichkeit bieten, zu einer Kapitalbildung beizutragen, wie sie zur Finanzierung des Wachstums der Einkommen und der Beschäftigung in der Zukunft unverzichtbar ist. Hier ist nicht der Platz, auf die sozialen Aspekte dieser Änderungen in der Struktur der Spartätigkeit näher einzugehen, die an sich in unserem Lande ein erfreulich hohes Niveau erreicht hat. Das Sparen in realen Werten ist eine Form der Selbstversorgung für jeden, der dazu in der Lage ist, und für seine Familie. Einkommen aus dem veranlagten Vermögen auch für Arbeitnehmer trägt zur Überwindung eines engen Klassendenkens bei. Außerdem verhilft es der Volkswirtschaft zu einer verstärkten Bildung von langfristigem Kapital und auch zu der gerade aus sozialen Gründen notwendigen Bildung von Risikokapital. Kurz: Auch der Umfang und die Gestaltung der eigenen Spartätigkeit sind ein Anliegen der persönlichen Ethik jedes einzelnen und ein sozialethisches Anliegen hohen Ranges für die ganze Gesellschaft. Für viele wird eine überlegtere Disponierung über die verschiedenen Möglichkeiten, die Freizeit zu nützen, neue und wirksamere Chancen zur Erholung, zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit, zur persönlichen Weiterbildung und nicht zuletzt zur vermehrten Zuwendung zur Familie, zum Freundeskreis und zur religiösen Besinnung eröffnen, die doch den tieferen Sinn des menschlichen Lebens ausmachen. 16 Ein rationaleres Konsumverhalten und eine zielstrebigere Nutzung der Freizeit würden auch einen sparsameren Energieverbrauch und eine größere Schonung unserer natürlichen Umwelt zur Folge haben. 15 Denkschrift zur Privatverschuldung in Österreich, hrsg. vom Diakonischen Werk für Österreich, verfaßt von Mag. Michael Bubik unter Mitarbeit von Oberkirchenrat Univ. Prof. Dr. Johannes Dantine, Wien, November 1991, Diakonische Information — Sonderheft Nr. 18. 16
Folgende Publikationen in der Schriftenreihe des Instituts für Ethik und Sozialwissenschaften der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, hrsg. von Rudolf Weiler, bieten erste Ansätze für die Entwicklung einer neuen Freizeitverwendungsethik: R. Weiss, Die sozialethische Bedeutung christlicher Sinngebung und Gestaltung des Wochenendes unter Berücksichtigung des Sports als eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung, W i e n 1966; und F. Förtsch, Die ethische Verantwortung bei der Sportberichterstattung des ORF unter Berücksichtigung der möglichen Reaktionen der Schuljugend einer ausgewählten AHS auf die hauptsächlich in Frage kommenden Sendungen, W i e n 1985.
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6. Konsumethik als Weg zur Dritten Einkommensverteilung Ein immer wieder neues Überdenken des eigenen Umganges mit den Gütern dieser Erde sollte nicht nur zur Erhöhung der eigenen Spartätigkeit führen. Schon in unserem Lande steht eine aufwendige Lebensführung der einen mit den Entbehrungen mancher anderer, die am Rande oder sogar unter der Armutsgrenze leben müssen, in einem oft provozierenden Kontrast. Noch viel mehr gilt diese soziale Herausforderung für das Einkommensgefälle gegenüber den Ländern der Dritten Welt, aber auch nicht minder innerhalb derselben. Sicherlich hat der Staat hier die Aufgabe (die ihm nicht abgenommen werden kann), auch solche Mitmenschen in den allgemeinen Einkommenskreislauf einzubeziehen, die selbst ohne Hilfe dazu nicht in der Lage sind. Die zu diesem Zweck ergriffenen Maßnahmen müssen immer wieder auf ihre Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit überprüft und verbessert werden. Es wäre aber weder mit der persönlichen Verantwortung des Christen noch mit der notwendigen Reserve gegenüber der Zielsicherheit staatlicher, bürokratischer Tätigkeit gerade auch auf diesem Gebiet vereinbar, wollten wir die Aufgabe, auch solche Mitmenschen in den allgemeinen Einkommenskreislauf einzubeziehen, ausschließlich dem Staat und seinen Möglichkeiten überantworten. Hier sei allen jenen gedankt, die seit langem auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht haben, solchen in Not geratenen Mitmenschen aus dem unmittelbaren persönlichen Erfahrungsbereich freiwillig und regelmäßig zu helfen. Eine besonders wirkungsvolle Hilfe besteht darin, vielleicht im Zusammenwirken mit Gleichgesinnten, Teile des eigenen Einkommens als „Bruderrente" solchen zur Verfügung zu stellen, die das Unglück haben, nicht nur in Armut leben zu müssen, sondern auch noch durch die Maschen des Netzes des Sozialstaates zu fallen, die nie so eng sein können, solches zu verhindern. Die laufende Sicherheit, mit welcher die, denen auf diese Weise geholfen wird, rechnen können, unterscheidet diesen Weg qualitativ von den anderen traditionellen Wegen spontaner Hilfsbereitschaft. Die moderne Bankorganisation stellt dazu im „Dauerauftrag" einen technisch sehr einfachen und für jedermann leicht handhabbaren Weg zur Verfügung. Neuerdings ist es auch die Idee der „Selbstbesteuerung", die erfreulichen Anklang zu finden beginnt und die mit der Entscheidung verwirklicht wird — oft durch kleine Gruppen angeregt —, freiwillig Teile des Einkommens, wenn nicht sogar bestimmten Personen, so jedenfalls bestimmten Zwecken zuzuwenden, wie z. B. für Haftentlassene und Behinderte, für die Hilfebedürftigen in den Notstandsgebieten in aller Welt. Vieles spricht dafür, daß der Staat die Grenzen einer mit dem Gemeinwohl vereinbaren Steuerquote insgesamt überschritten hat. Ebensoviel spricht dafür, daß die Zumutbarkeit
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der Selbstbesteuerung bei vielen Menschen, auch bei solchen, die ihr Leben nach christlichen Grundsätzen gestalten wollen, ihre Grenzen noch lange nicht erreicht hat. Die jährlichen so erfreulichen Ergebnisse z. B. der sogenannten „Drei-Königsaktion" der Katholischen Jungschar, der Spendentätigkeit für Partnerschaftspfarren in Entwicklungsländern, des „Familienfasttags" der Katholischen Frauenbewegung, die „Bruder in Not"-Aktion der Katholischen Männerbewegung, die so vielseitig engagierten Aktionen der Caritas u. ä. Aktionen anderer christlicher Kirchen zeigen, was auf diesem Gebiete schon alles in Bewegung gekommen ist, und daß hier noch viele Möglichkeiten liegen, die eigene Position jedes einzelnen bei der Verfügung über sein eigenes Einkommen noch stärker als bisher in den Dienst einer gerechteren Einkommensverteilung zu stellen und gleichzeitig damit seine eigenen Vorstellungen darüber zur Wirkung zu bringen, was er für eine gerechtere Verteilung ansieht. Der schöpferischen Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt! Es ist eine grundsätzlich positive Entwicklung, daß heute über die internationalen Regierungsorganisationen (die der Weltbankfamilie angehörenden Finanzinstitutionen, die regionalen Entwicklungsbanken sowie auch der Internationale Währungsfonds, die Welternährungsorganisation und die Weltgesundheitsorganisation u. a.) beachtliche Finanzströme von Land zu Land fließen wie in keiner vorausgegangenen Periode der Menschheitsgeschichte. Die vielfältigen Bemühungen um die Verbesserung ihrer sozialen Effizienz können nicht genug ermuntert werden. Immer wieder und schmerzlich müssen dabei aber gleichzeitig die Grenzen dessen gesehen werden, was die staatlichen sowohl nationalen wie auch internationalen Apparate auf diesem Gebiete leisten können. Wiederholt wurde die Anregung gegeben, die öffentlichen Mittel, die der Armutsbekämpfung im allgemeinen oder der Linderung von Katastrophenhärten im besonderen dienen sollen, über die Kanäle der privaten Hilfsorganisationen zu leiten, die in der Regel doch eine größere Sicherheit dafür garantieren, daß sie ihre Adressaten auch tatsächlich erreichen. Im Falle der internationalen karitativen Einrichtungen der christlichen Kirchen kommt noch dazu, daß sie die einzigen übernationalen Organisationen sind, die nicht nur über engagierte, fachkundige und selbstlose Mitarbeiter verfügen, sondern auch über eine verläßliche weitverzweigte und oft flächendeckende Organisation in den betreffenden Ländern. Auf diese Weise wird eine Institution, die bisher als solche in der Theorie der Einkommensverteilung noch relativ wenig Beachtung gefunden hat, in Zukunft eine rasch wachsende Bedeutung erlangen: die sogenannte „Dritte Einkommensverteilung" nach der „Ersten" Verteilung der Einkommen auf Grund des Beitrags der Leistung des Einkommensbeziehers zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung über den Markt (durch Wettbewerb und offenen
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Zutritt) und nach der „Zweiten Einkommensverteilung" im Wege unterschiedlicher Besteuerung und der Einforderung differenzierter Sozialbeiträge und der Gewährung von Transferzahlungen aufgrund des staatlichen Gewaltenmonopols. 7. Makroökonomische
Auswirkungen
einer forcierten
Konsumethik
Wenn eine forcierte Erziehung zu einem bewußten konsumethischen Verhalten Erfolg hat, dann bleiben auch makroökonomische Auswirkungen für die Produktionsstrukturen nicht aus. Sicherlich wären die modernen Volkswirtschaften mit katastrophalen Folgen konfrontiert, sollten die Konsumenten und Sparer ihr Konsum-, Spar- und Freizeitverhalten über Nacht verändern. Das aber ist realistischerweise von keiner wie immer erfolgreichen Verbrauchererziehung zu erwarten. Was bleibt, sind Anpassungsprobleme, wie sie die Wettbewerbswirtschaft mit Privateigentum besser als die anderen Wirtschaftssysteme, die wir bisher kennengelernt haben, zu lösen versuchen. Heute stehen zuverlässige Methoden zur Verfügung, Veränderungen von Konsumgewohnheiten transparent zu machen und in Wirtschaft und Politik Anpassungsmaßnahmen auszulösen.
I I I . Der Mensch — Mittelpunkt der Wirtschaft: als Konsument Die Funktion als Konsument ist jedem Menschen seiner Natur nach untrennbar eigen, damit kann jeder im Mittelpunkt allen Wirtschaftens stehen. Wäre der Mensch als arbeitender 17 der Mittelpunkt jedes gesellschaftlichen Tuns, so wären alle diejenigen davon ausgeschlossen, am Mittelpunkt-Sein teil zunehmen, die — aus welchen Gründen auch immer — zur Arbeit (auch in ihrem weitesten Sinn) nicht in der Lage sind. Das Postulat, daß der Mensch Ausgangspunkt und Ziel jedes gesellschaftlichen Geschehens sein soll, ist als solches weniger typisch christlich als es heute verstanden wird. Auch die Verfassung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 (in der Fassung vom 7. Oktober 1974) enthielt den programmatischen Satz: „Der Mensch steht i m Mittelpunkt aller Bemühungen der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates" 17 Im christlichen Pastoralbereich sind es nicht selten gerade die sozial Engagierten, die dazu tendieren, die Arbeit in den Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Tuns zu stellen. So trägt z. B. das Einleitungskapitel zu dem bereits genannten „Grundtext" den Titel: „Alles dreht sich um die Arbeit." Die Autoren berufen sich dabei auf die Sicht der Arbeit als „Dreh- und Angelpunkt" der sozialen Frage in Johannes Paul's II. Enzyklika: Über die menschliche Arbeit" (1981), Nr. 3.
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(Art. 2, 2. Satz). Ein Unterschied gegenüber dem christlichen Menschenbild liegt wohl darin, daß „der Mensch" in dieser Verfassung als „Werktätiger", als „Arbeiter und Bauer", d. h. als Angehöriger einer Klasse, definiert wird. 1 8 Wenn der Mensch als Konsument als Mittelpunkt und Ziel der Wirtschaft gesehen wird, so muß für oberflächliche Leser — und Fanatiker sind meist oberflächlich — betont werden: der Wirtschaft und nicht des ganzen gesellschaftlichen Lebens! Letzteres würde dann der Fall sein, wenn „der Mensch (nur) mehr als Produzent bzw. als Konsument von Gütern" gesehen wird, wovor C A 39,5 glaubt warnen zu müssen. Ordnungstheoretisch aber richtig und ordnungspolitisch notwendig ist die Feststellung, daß dann, wenn diese Sorge berechtigt ist, die letzte Ursache dafür „nicht so sehr im Wirtschaftssystem selbst als in der Tatsache zu suchen (ist), daß das ganze sozio-kulturelle System mit der Vernachlässigung der sittlichen und religiösen Dimension versagt hat" (CA 39,4).
IV. Pastorale Aufgabe der Kirche — Teil des Gesellschaftssystems Die von Schasching kommentierte 1 9 wie die vom Pressedienst der Deutschen Bischofskonferenz und von der (österreichischen) Kathpress verwendete Übersetzung bedienen sich der Begriffe „sozio-kulturelles", „ethischkulturelles System" syonym. Die modernen Religionssoziologen sehen das religiöse System (d. h. die konkrete Kirche zum konkreten Zeitpunkt am konkreten Ort; d. Verf.) als Teilsystem des gesellschaftlichen Gesamtsystems. 20 Es kann daher kein Zweifel darüber bestehen, daß die christlichen Kirchen im traditionell christlichen Kulturbereich im und für dieses System einen hohen Grad an Verantwortung tragen.
18
Art. I lautet:,, Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und der Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei." — Der zweite grundlegende Unterschied ist ordnungstheoretischer Natur: Aufgrund seines unrealistischen Menschenbildes erwartete sich die Verfassung der DDR die Erreichung ihrer makroökonomischen Zielsetzung des Art. 2 (Erhöhung von Lebensniveau, Produktion, Effektivität und Arbeitsproduktivität sowie wissenschaftlich-technischen Fortschritt) von dazu ungeeigneten Institutionen wie sozialistisches Eigentum an Produktionsmitteln, wissenschaftliche Planung, Trennung von Einkommen und Leistung (Art. 2, Abs. 2 und 3). 19 J. Schasching, Unterwegs mit den Menschen. Kommentar zur Enzyklika „Centesimus annus" von Johannes Paul IL, Soziale Brennpunkte, Bd. 16, hrsg. von der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Europaverlag, Wien-Zürich 1991, S. 93. 20 z. B. P. M. Zulehner, Die kirchlichen Institutionen, in: Heinz Fischer (Hrsg.), Das politische System Österreichs, Europaverlag, W i e n 1974, S. 627.
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Das ist der Beitrag der Kirche zu einer menschenwürdigen Gesellschaft, den Papst Johannes Paul II. anbietet: auf der Ebene der Erkenntnis des Lebenssinns des Menschen — „der Auffassung, die er von sich selbst und seiner Zielbestimmung hat" — liegt der spezifische und entscheidende Beitrag der Kirche für die wahre Kultur (CA 51,1 ). Den „Sinn des Menschen" empfängt die Kirche aus der göttlichen Offenbarung (CA 55,1). Die Kirche bringt als Institution ihre Anthropologie (insbesondere als Moraltheologie — CA 55,2) in das interdisziplinäre Gespräch mit sämtlichen Humanwissenschaften und der Philosophie, die dazu dienen, „die zentrale Stellung des Menschen in der Gesellschaft zu deuten und ihn in die Lage zu versetzen, sich selbst als ,soziales Wesen' besser zu begreifen" (CA 54,1). Weiters wirkt die Kirche durch die Anstrengungen, die Einzelne, Familien, im Kultur- und Sozialbereich Tätige, Politiker und Staatsmänner unternehmen, um dem christlichen Leben Gestalt und Anwendung in der Geschichte zu verleihen (CA 59,4). Dieser Beitrag der Kirchen ist nicht ein großzügiges Angebot, über das man innerhalb wie außerhalb der Kirche auch ebenso großzügig hinweggehen könnte, sondern ein Beitrag, der als institutionenspezifisch auch von jedem an der gesellschaftlichen Ordnung solidarisch Beteiligten ebenso eingefordert werden kann, wie die Kirche mit Recht auch die Leistungen der anderen Institutionen (Staat, Markt, Sozialpartner, Familie usw.) einfordern kann und immer wieder einfordert. Daß die Kirche nicht (z.B. als Kontrollinstanz) über der Gesellschaft schwebt, sondern ihren Platz in und als Teil der Gesellschaft hat, ist eine Konsequenz, die sich aus dem Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanums einer „Kirche in der W e l t " 2 1 ergibt. Die Funktionen der Kirchen hatten von Anfang an in der Ordnungstheorie ihren festen Platz. Schon Walter Eucken zählte die Kirche neben dem Staat und der Wissenschaft zu den „ordnenden Potenzen" und den „tragenden Kräften" der Ordnung von Gesellschaft und Wirtschaft: Der religiöse und sittliche Zweck der christlichen Kirchen muß sich dazu mit der Sachgesetzlichkeit der ökonomischen Interdependenz wie auch der Interdependenz der Ordnungen überhaupt verbinden. 22 Neuerdings wird die Aufgabe der christlichen Kirchen bei der Gestaltung und Funktionsfähigkeit der gesellschaftlichen Ordnung wieder deut21
Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et Spes, 1965. Die katholische Kirche ist sich der Teilung ihrer Aufgabe mit den anderen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften bewußt (Gaudium et Spes, 40,3). 22 W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. unveränderte Aufl., J. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, und Polygraphischer Verlag AG, Zürich 1955, S. 374 ff.
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lieh betont: zur Erkenntnis des ethischen Leitbildes und der Pflege des „ethischen Mindestkonsenses", das jede Ordnung braucht (Rolf Krämer) 23 und für die Vermittlung von ethischen Werten, wie sie sich aus der Sicht des Sinns des Lebens ergeben. Nach der Meinung von Werner Lachmann haben die Kirchen und das Schulsystem in unserer Gesellschaft weit mehr versagt, als Politiker und die Wirtschaft sich in ihrem eigentümlichen Aufgabenbereich nicht bewährt hätten. Lachmann, nicht nur angesehener Volkswirtschafter in Mainz, sondern selbst auch Predikant der Hessischen Landeskirche, meint sogar, daß die Kritiker an der Arbeit der Theologen in der Kirche durchwegs mehr Recht zur Kritik hätten, als die Theologen in ihrer Kritik gegenüber der Welt und Gemeinde. 24 W i e es in allen Bereichen menschlichen Handelns Versäumnisse oder Mängel gibt, kann daher nicht nur von Staatsversagen oder Marktversagen, sondern auch von Kirchenversagen (im umfassenden postkonziliaren Verständnis der Kirche als „wanderndes Volk Gottes") gesprochen werden. Die Übersetzung der praktischen Seelsorge in praktische Sinnsorge ist wahrscheinlich ein Ausweg aus der „Krise der Seelsorge", wie sie heute innerhalb der Kirche vielfach diskutiert wird. 2 5 Ist der Seelsorger, der sich der tagtäglichen und lebenslangen Konfrontation des Menschen widmet und der Frage, wie der Mensch die Ressourcen der Welt für sein Leben nützen und als Weg zum geglückten Leben (zu seinem „Heil") gebrauchen kann, nicht eine sehr anregende und fruchtbare Hilfe für den Menschen, seinen Lebenssinn zu finden und zu erfüllen? Und kann er damit nicht die Anleitung zu einem wahreren, erfüllteren Leben bieten, als es das konventionelle bürgerliche Leben darstellt? Zählt nicht auch das Lernen, in den täglichen Kleinentscheidungen die „Innensteuerung" für eine vertiefte „Selbstverwirklichung" im Dienste unseres persönlichen Lebenssinnes zu finden? Und gehört nicht auch der souveräne Umgang mit den knappen Ressourcen einschließlich der Zeit zur Lebensprobleme bewältigenden Kraft mündiger Menschen? Auch hier bedarf es nicht mehr des Anstoßes, sondern der Ermunterung. Die Wiederentdeckung und neue Aktualisierung des Tugendbegriffes als Askese und Selbstbescheidung — oft dargestellt im produktiven Spannungsfeld zur Selbstverwirklichung — findet heute in der seelsorglichen Literatur ihren weiten Niederschlag. 26 23
R. Krämer, Sozialethische Grundlagen der Ordnungspolitik, in: A. Klose / G. Merk (Hrsg.), Marktwirtschaft und Gesellschaftsordnung, Wolfgang Schmitz zum 60. Geburtstag, Duncker & Humblot, Berlin 1983, S. 43. 24 W. Lachmann, Wirtschaft und Ethik, Maßstäbe wirtschaftlichen Handelns, Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart 1987, S. 216 ff., hier insbesondere S. 222. 25 z. B. von Bernardin Schellenberger, Wider den geistlichen Notstand. Erfahrungen mit der Seelsorge. Herder, Freiburg-Basel-Wien 1991, z. B. S. 41 und S. 57.
Mittelpunkt der Wirtschaft: Der Mensch als Konsument
239
D a m i t w i r d n i c h t n u r d e m i n d i v i d u a l e t h i s c h - p a s t o r a l e n A n l i e g e n Rechn u n g getragen, sondern a u c h e i n e m d r i n g e n d e n sozialethisch-ordnungspolitischen: k e i n e a u c h n o c h so gut i n s t i t u t i o n e l l durchorganisierte Gesellschaft k a n n o h n e e i n e n a l l g e m e i n e n ethischen M i n d e s t k o n s e n s f u n k t i o n i e -
26 Von offizieller Seite beispielsweise i m programmatischen „Behelf" der Katholischen A k t i o n Österreichs „Wie heute leben?" Auf der Suche nach christlicher Lebensweise, Behelf zum Schwerpunktthema der Katholischen A k t i o n Österreichs, Wien, 1. September 1979; R Kaspar, A. Kraxner, G. Lang, Christlich leben. Wer ist ein Christ? W i e lebt ein Christ? Katholische A k t i o n Österreichs, W i e n 1983; und Gerd Hepp, Asketische Werte. Zu ihrer Bedeutung im Spannungsfeld von Selbstentfaltung und Gemeinwohl, Reihe „Kirche und Gesellschaft", Nr. 164, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Verlag J. R Bachem, Köln 1981 ; und als willkürliche Beispiele aus dem Schriftenstand: H. Zeller SJ, Von den Bedingungen unseres Glücks. Gedanken vor Ostern und vor Weihnachten, Ars Sacra, München 1974; und R. Fischer-Wollpert, Die alternative Lebensform. Christliche Askese heute, Kanisius Verlag, Freiburg (Schweiz)-Konstanz 1991. 27
Vgl. W. Schmitz (Hrsg.), Was macht den Markt sozial? Die Grundzüge der Sozialen Marktwirtschaft, Dr. Karl Kummer — Institut für Sozialpolitik und Sozialreform, Wien, 2. Aufl. 1982, S. 45 ff.
SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT — NEOLIBERALISMUS — CHRISTLICHE GESELLSCHAFTSLEHRE Historische und grundsätzliche Anmerkungen zu einer aktuellen Problematik Von Franz Josef Stegmann
In den gewaltigen Umwälzungen Mittel- und Osteuropas, deren staunende Zeugen wir seit 1989 sind, spielt das Ordnungsmodell „Soziale Marktwirtschaft" eine zentrale Rolle. Für viele ist Soziale Marktwirtschaft der Hoffnungsweg in eine nichtmarxistische Zukunft." Der folgende Beitrag skizziert zunächst, was Soziale Marktwirtschaft im Verständnis ihrer neoliberalen „Väter" besagt (I). In einem zweiten Schritt wird nach den Reformansätzen des Neoliberalismus gegenüber dem klassischen Wirtschaftsliberalismus, dem sogenannten „Manchester-Kapitalismus", gefragt (II). Ein Überblick über die wichtigsten Argumente, die Befürworter und Kritiker im sozialen Katholizismus der fünfziger und sechziger Jahre vorbrachten, schließt sich an (III). Der letzte Teil gibt Hinweise für eine grundsätzliche Beurteilung der Sozialen Marktwirtschaft im Licht der katholischen Soziallehre (IV). Das Ordnungsbild der Sozialen Marktwirtschaft bzw. des Neoliberalismus gehört ohne Zweifel zu den wirkmächtigsten Zielvorstellungen, welche die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entwicklung in der Bundesrepublik und darüber hinaus nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten. Daß das so sein würde, sahen 1945 wohl nur wenige voraus. Die gesellschaftspolitischen Leitideen — auch und gerade im katholischen Raum — zielten vielmehr in eine andere Richtung. Im Grunde prägten — zwar nicht ausschließlich, aber doch mehrheitlich — Vorstellungen, die nicht zu Unrecht die Bezeichnung „Christlicher Sozialismus" erhielten, das politische Bemühen in den ersten Nachkriegsjahren. 1 Diese Vorstellungen kamen jedoch nur in Ansätzen zum Tragen, und vor allem seit 1948 setzen sich immer * Der Aufsatz geht auf Vorträge zurück, zu denen der Verfasser nach der „Wende" 1989/90 in die damalige DDR eingeladen wurde. 1 Vgl. dazu Franz Josef Stegmann, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Die Gegenwart, München-Wien 1983,29-38 („Christlicher Sozialismus in den ersten Nachkriegs j ahren" ).
16 Festschrift Schasching
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Franz Josef Stegmann
stärker neoliberale, marktwirtschaftlich orientierte Kräfte durch. 2 Im Frühjahr 1948 wählte der Frankfurter Wirtschaftsrat mit den Stimmen von CDU/ CSU und FDP den — damals parteilosen — neoliberalen Politiker Ludwig Erhard, den späteren „Vater des Wirtschaftswunders", zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, und in ihren „Düsseldorfer Leitsätzen" vom 15. Juli 1949, dem Parteiprogramm vor der ersten Bundestagswahl, bekannte sich die CDU ausdrücklich und offiziell zu der von den Nationalökonomen Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Franz Böhm und vor allem Alfred Müller-Armack, dem langjährigen Staatssekretär Erhards, entwickelten Sozialen Marktwirtschaft 3 sowie zu dem sie tragenden Ordnungsmodell des Neoliberalismus. I. Soziale Marktwirtschaft im neoliberalen Verständnis Unter Sozialer Marktwirtschaft verstanden ihre neoliberalen „Väter" ein Wirtschaftssystem, in dem sich „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem (Prinzip) des sozialen Ausgleichs" verbinden sollte. Der Konzeption liegt die Überzeugung zugrunde, daß der Wettbewerb ein „unerläßliches Organisationsmittel von Massengesellschaften" bildet, daß er aber „nur funktionsfähig ist, wenn eine klare Rahmenordnung den Wettbewerb sichert". 4 Kernstück der Sozialen Marktwirtschaft ist der vom Staat ermöglichte und gesicherte freie „Wettbewerb der echten Leistungen", der „weder durch mächtige einzelne noch durch kollektive Zusammenschlüsse beschränkt werden" 5 darf. Diesem Ziel dient die „institutionelle Sicherung des Wettbewerbs" 6 durch „straffe gesetzliche Regelungen". Der Staat hat also „den rechtlichen Rahmen für das wirtschaftliche Geschehen, insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts im weitesten Sinne", 7 zu schaffen, 2 Eine eingehende Darstellung dieser Entwicklung bietet Gerold Ambrosius, Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945-1949, Stuttgart 1977, 182-213. 3 Der Name geht ebenfalls auf einen Vorschlag Müller-Armacks zurück; (vgl. Alfred Müller-Armack, Stil und Ordnung der sozialen Marktwirtschaft, in: Emst Lagler / Johannes Messner (Hrsg.), Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Ordnung, W i e n 1952, 27-38, 28). 4 Alfred Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956, 390-392, 390. 5
Was ist Soziale Marktwirtschaft? Aktionsprogramm der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, in: Das christliche Gewissen und die soziale Marktwirtschaft des Neoliberalismus. Sonderdruck aus „Junge Wirtschaft", Nr. 2, Februar 1960,7. — Müller-Armack verglich deshalb das „Marktsystem" mit einem „Halbautomaten", der „sinnvoller Bedienung bedarf" (vgl. Müller-Armack, Stil und Ordnung der sozialen Marktwirtschaft, a.a.O., 30). 6 Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 391. 7 Was ist Soziale Marktwirtschaft?, a.a.O., 7.
Soziale Marktwirtschaft — Neoliberalismus — christl. Gesellschaftslehre
243
„Wettbewerbsbeschränkungen unmöglich zu machen, Monopole, Oligopole und Kartelle unter Kontrolle zu nehmen, und dadurch den Wettbewerb zu größter Wirksamkeit im Interesse des Verbrauchers zu bringen". 8 Zu dem „geordneten" bzw. „veranstalteten" Leistungswettbewerb als dem Kernstück der Wirtschaft treten soziale Zielsetzungen und Auflagen. Diese sozialen Momente sahen die neoliberalen Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft auf vier Ebenen: a) in der Ausrichtung der Wirtschaft an den Bedürfnissen der Verbraucher (durch das Spiel von Angebot und Nachfrage) und nicht an einer staatlichen Zentralinstanz, b) in einer an der jeweiligen Leistung orientierten und damit „wirklich gerechten Einkommensverteilung", 9 c) in einer durch den Wettbewerb laufend erzwungenen Produktivitätssteigerung der Wirtschaft sowie d) in den dadurch wachsenden sozialpolitischen Handlungsmöglichkeiten des Staates aller Art, mit deren Hilfe er sozial negative Ergebnisse ausgleichen und notwendige wirtschaftliche Strukturveränderungen erleichtern kann. Zu a): Ausrichtung der Wirtschaft
an den Bedürfnissen
der Verbraucher:
Die durch den Preis erfolgende „Orientierung am Verbrauch bedeutet bereits eine soziale Leistung der Marktwirtschaft". 10 Der Auftrag, den der Verbraucher durch seinen Kauf erteilt, wird besser beachtet als in jedem anderen Wirtschaftssystem. Denn auch die Dispositionen sehr mächtiger Unternehmen unterliegen letztlich der Beurteilung des Verbrauchers. Seine Stärke besteht darin, daß er aus den unterschiedlichen und laufend wechselnden Angeboten der Unternehmen auswählen kann und so die unternehmerische Disposition entweder aufnimmt oder zurückweist. 11 Dem oft erhobenen Vorwurf, die Verbraucherwünsche beeinflußten zwar die Wirtschaft, würden aber schon vorher durch Werbung manipuliert, ist entgegenzuhalten, daß Aufgabe und Sinn der Werbung darin bestehen, den Verbraucher zu informieren, nicht ihn zu manipulieren. Deshalb ist es nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, über Testinstitute objektiv zu informieren, da nur dann der Verbraucher eine sachgerechte Kaufentscheidung fällen kann. 12 8
Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 391. Ludwig Erhard, Das Problem der freien Marktwirtschaft, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsordnung, 1949, 71-87, 78. 9
10
Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 391.
11
Vgl. Wolfgang Frickhöffer, Was ist Soziale Marktwirtschaft?, Sonderdruck aus „Marktwirtschaft von A-Z", München (o. J.), 14 f. 12
1*
Vgl. ebenda, 15.
244
Franz Josef Stegmann
Zu b): Leistungsorientierte
und damit gerechte Einkommensverteilung:
Leistungsorientierte Einkommensverteilung bedeutet, daß der einzelne je nach seiner Leistung greifbaren persönlichen Erfolg hat. Wilhelm Röpke faßte diese Auffassung in den Satz: „Die soziale Gerechtigkeit verlangt es, daß der Weg zu höherem Einkommen nur auf der engen Straße und durch das schmale Tor der höheren Leistung führt". 13 Zu c): Leistungs- und Produktivitätssteigerung
durch Wettbewerb:
Sozial sind die Auswirkungen von Produktivitätssteigerungen zunächst in dem Sinne, daß ein hohes Maß an Versorgung bereits eine soziale Leistung darstellt. Wenn man von der Wirtschaft verlangt, das in ihren Kräften Stehende zu tun, um allen — oder wenigstens möglichst vielen — Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ist das eine überwirtschaftliche, eine ethisch-humane Forderung. Dem gegen Produktivitätserhöhung und Leistungssteigerung nicht selten erhobenen Vorwurf des Materialismus hielt deshalb Alexander Rüstow entgegen: Solange „weder in unserem eigenen Bereich und noch viel weniger in der Welt draußen dafür gesorgt ist, daß alle Menschen das Existenzminimum gesichert haben, ist die Steigerung der Produktivität eine überwirtschaftliche Forderung, eine soziale Forderung, eine ethische Forderung, und nicht nur ein bloß materielles Mehr-haben-wollen". 14 Zu d): Eingreifen
des Staates bei negativen Ergebnissen:
Gerade durch ihre hohe Ergiebigkeit schafft die Soziale Marktwirtschaft die Möglichkeit, denen immer besser zu helfen, die sich nicht selber helfen können, sondern auf staatliche Hilfe angewiesen sind, schafft die Möglichkeit für öffentliche Investitionen (Schulen, Krankenhäuser) und staatliche Interventionen, um notwendige wirtschaftliche Strukturveränderungen sozial erträglich ablaufen zu lassen. 15 Die Ertragskraft der Wirtschaft bietet so — bei sozial negativen Ergebnissen — „der Sozialpolitik ein tragfähiges Fundament für eine staatliche Einkommensumleitung" 16 und liefert die Mittel, mit denen die Sozialleistungen finanziert werden. Alfred Müller-Armack faßte die sozialen Aspekte der Sozialen Marktwirtschaft folgendermaßen zusammen: Die durch den Preis erfolgende „Orientierung am Verbrauch bedeutet bereits eine soziale Leistung der Marktwirt13 W i l h e l m Röpke, Wirtschaft und Moral, in: Was wichtiger ist als Wirtschaft, Ludwigsburg 1960, 17-31, 27. 14
Alexander Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, in: ebenda, 7-
16, 10. 15
Vgl. Wolfgang Frickhöffer, Von der Rangordnung der Werte, in: ebenda, 72-87,
78 f. 16
Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 391.
Soziale Marktwirtschaft — Neoliberalismus — christl. Gesellschaftslehre
245
schaft. In gleicher Richtung wirkt die durch das Wettbewerbssystem gesicherte und laufend erzwungene Produktivitätserhöhung als eine soziale Verbesserung", die es ihrerseits der staatlichen Sozialpolitik ermöglicht, „in Form von Fürsorgeleistungen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen, Wohnungsbauzuschüssen, Subventionen usw. die Einkommensverteilung" 1 7 zu korrigieren. „Die Soziale Marktwirtschaft lenkt Produktion und Verteilung durch das selbsttätige System beweglicher Preise i m Wettbewerb zwischen Unternehmen ... weit produktiver, wirksamer, gerechter, billiger und zuverlässiger, als es planwirtschaftliche Eingriffe staatlicher Stellen oder privater Marktverbände vermögen". 18 Ziel der Sozialen Marktwirtschaft im neoliberalen Verständnis ist es also, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden"; 19 oder wie es die Verfasser der „Düsseldorfer Leitsätze" formulierten: Soziale Marktwirtschaft besagt eine „sozial gebundene" Wirtschaftsverfassung, in der „echter Leistungswettbewerb", das Kernstück dieser Verfassung, „durch eine Wettbewerbsordnung sichergestellt" und damit „ein Höchstmaß von wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit für alle" 2 0 erbracht wird. Abgelehnt werden sowohl das „System der Planwirtschaft" wie auch die sogenannte „,freie Wirtschaft' liberalistischer Prägung". In „der freien Wirtschaft alten Stils", in der kapitalistischen Wirtschaft, ist es durch Bildung von Kartellen und Monopolen zur Verfälschung des Wettbewerbs und oft „zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Schwachen durch die Mächtigen" gekommen. Eine „wirksame Monopolkontrolle" soll „die unsozialen Auswüchse einer solchen ,freien' Wirtschaft" unterbinden. Auf der anderen Seite kann jedoch die Planwirtschaft „weder das Problem der höchstmöglichen Produktion noch das Problem einer gerechten Verteilung der Erzeugnisse meistern", sondern muß um der unvermeidlichen Lenkung des Absatzes willen letzten Endes „den Verbraucher in der freien Bestimmung über sein Einkommen" beschränken. Bejaht wird aber „die planvolle Beeinflussung der Wirtschaft mit den organischen Mitteln einer umfassenden Wirtschaftspolitik". 21
17 18 19
Ebenda. Was ist Soziale Marktwirtschaft?, a.a.O., 7. Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 390.
20
Düsseldorfer Leitsätze vom 15. Juli 1949, in: Ossip K. Flechtheim (Hrsg.), Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, Bd. 2, Berlin 1963, 58-76, 59. 21
Ebenda, 60 f.
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Franz Josef Stegmann
II. Neoliberale Reformansätze gegenüber dem Paläoliberalismus Wirtschaftstheoretische Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft war und ist das Ordnungsmodell des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus 22 hält grundsätzlich an der Ordnung einer freien Verkehrs- bzw. Wettbewerbswirtschaft fest, erkennt aber andererseits die Fehlentwicklungen des Altoder Paläoliberalismus 23 und versucht, mit unterschiedlicher Intensität aus dessen Versagen Konsequenzen zu ziehen. 24 Hier zeigt sich übrigens, daß sich bereits innerhalb der liberalen Bewegung ein Wandel vom Paläo-, vom Alt- zum Neoliberalismus vollzogen hat. Die wohl einflußreichste Richtung innerhalb des Neoliberalismus ist in der Bundesrepublik der sogenannte Ordoliberalismus. 25 Ihn kennzeichnet vor allem der Ordo-Gedanke: die von einem starken Staat zu veranstaltende Wettbewerbsordnung der vollständigen Konkurrenz. Zum Ordoliberalismus gehören die von dem Nationalökonomen Walter Eucken (1891-1950) begründete „Freiburger Schule", die sich hauptsächlich mit der Herstellung und Sicherung der Wettbewerbsordnung beschäftigte, 26 und der sogenannte „soziologische Neoliberalismus," 27 der bewußt auch sozial- und gesellschaftspolitische Zielsetzungen in sein System einbezieht 28 und zu dem die erwähnten Nationalökonomen Röpke, Rüstow, Böhm und Müller-Armack zählen.
22
Einen informierenden Überblick über den Neoliberalismus, seine verschiedenen Richtungen und sein Verhältnis zur sozialen Marktwirtschaft bietet Helmut Paul Becker, Die soziale Frage i m Neoliberalismus. Analyse und Kritik, HeidelbergLöwen 1965, 33-49. 23 Alexander Rüstow prägte den Begriff „Paläoliberalismus", um den alten Wirtschaftsliberalismus („Manchester-Kapitalismus") vom modernen „sozial temperierten" Neoliberalismus abzuheben (vgl. Alexander Rüstow, Paläoliberalismus, Kommunismus, Neoliberalismus, in: Das christliche Gewissen und die Soziale Marktwirtschaft. Sonderdruck aus „Junge Wirtschaft", Nr. 2, Februar 1960, 3-7). 24 Vgl. etwa Alexander Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus. Bad Godesberg 2 1950; Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Hrsg. von Edith Eucken und K. Paul Hensel, Tübingen-Zürich 31960, bes. 26-55. 25 Zur Frage der Unterscheidung bzw. Abgrenzung von Ordoliberalismus, Sozialer Marktwirtschaft und Neoliberalismus, die im Grunde bei jedem Vertreter dieser Richtungen gesondert beantwortet werden muß, vgl. Reinhard Blum, Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik zwischen Neoliberalismus und Ordoliberalismus, Tübingen 1969, 38-128. 26
Vgl. etwa Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Bad Godesberg 5 1947; ders., Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung, in: Ordo 2 (1949), 1-99. 27
Becker, Die soziale Frage im Neoliberalismus, 44-47. W o h l nicht zuletzt deshalb sah Ernst-Wolfram Dürr i m Ordoliberalismus eine Richtung, die man nicht „neoliberal", sondern „sozialliberal" nennen sollte (EmstWolfram Dürr, Wesen und Ziele des Ordoliberalismus, Winterthur 1954, 7). 28
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Die Reformüberlegungen des Neoliberalismus gegenüber dem klassischen Wirtschaftsliberalismus lassen sich in vier Thesen zusammenfassen: a) Vertragsfreiheit
und freier
Wettbewerb
sind nicht identisch.
Der Paläoliberalismus hat absolute Vertragsfreiheit und freie Konkurrenz gefordert, dabei jedoch übersehen, daß durch Absprachen und Monopolbildungen die Wettbewerbsfreiheit mit Hilfe der Vertragsfreiheit aufgehoben werden kann. Nur i m Falle des vollständigen Leistungswettbewerbs dient das Verfolgen des jeweiligen Eigeninteresses dem Gemeinwohl. Mithin muß Vermachtung der Märkte durch Monopole, Teilmonopole, Kartelle und dergleichen unterbunden werden. Unvermeidbare Monopole jedoch müssen unter öffentlicher Kontrolle stehen. b) Der Leistungswettbewerb „veranstaltet" werden.
ergibt sich nicht von selbst; er muß vom Staat
Nach neoliberalem Verständnis ist der Staat kein bloßer „Nachtwächter" ; er muß vielmehr der Wirtschaft eine Verfassung geben, die den Leistungswettbewerb gewährleistet. Da aufgrund der geschichtlichen Erfahrung echter Leistungswettbewerb nicht vom freien Spiel der Kräfte erwartet werden kann, ist es eben Aufgabe des Staates, „die Grenzen der fairen Leistungskonkurrenz" zu sichern und „insbesondere die Bildung von monopolistischen Machtpositionen" 29 zu verhindern. Dabei geht es nicht nur um die unrechtmäßig zustandekommenden Monopolgewinne, sondern vor allem darum, daß Monopole schlechthin „eine Bedrohung der Freiheit... und mitten in unserem demokratischen Gefilde sozusagen Raubritterburgen" 30 sind. Deshalb hat der Staat der Wirtschaft einen gesetzlichen „Ordnungsrahmen" zu geben, der den Wettbewerb sichert. Er hat dafür zu sorgen, daß — umschrieb Oswald von Nell-Breuning diese Aufgabe — der Wettbewerb nicht aufgehoben wird, „indem die erfolgreicheren Wettbewerber die weniger erfolgreichen »schlucken'".31 Marktwirtschaft verlangt also einen „starken Staat". Zum Kern neoliberaler Wirtschaftspolitik gehört somit eine strenge Monopolkontrolle, und zwar im Sinne des Verbotsprinzips, nicht bloß des Mißbrauchsprinzips, d.h. wer die Wettbewerbsfreiheit durch Errichtung eines Kartells beschränken will, trägt die Beweislast für die volkswirtschaftliche Notwendigkeit seines Vorhabens, nicht aber muß der zum Schutz der Wettbewerbsfreiheit berufene Staat den gemeinwohlwidrigen Mißbrauch 29
Rüstow, Paläoliberalismus, Kommunismus, Neoliberalismus, a.a.O., 5.
30
Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, a.a.O., 13.
31
Osvald von Nell-Breuning, W i e „sozial" ist die „Soziale Marktwirtschaft"?, in: ders., Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft. Hrsg. von Friedhelm Hengsbach, Düsseldorf 1990, 222-238, 224.
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eines monopolistischen Zusammenschlusses nachweisen. Dieser durch die regulierende Wirtschaftspolitik des Staates zu sichernde freie Leistungswettbewerb ist nach neoliberaler Auffassung der „dritte Weg" zwischen Kapitalismus und Kollektivismus. c) Es gibt eine Reihe von Dingen, die dem Marktmechanismus unzugänglich, aber zugleich von größer Wichtigkeit für die menschlichen Belange sind. Im Unterschied zum Altliberalismus sind sich die Vertreter des Neoliberalismus auch der Tatsache bewußt, daß das marktwirtschaftliche Wettbewerbssystem allein zur Gestaltung der Wirtschaftsordnung nicht ausreicht, sondern durch sozial- und wirtschaftspolitische Interventionen des Staates ergänzt werden muß. „Denn es gibt eine große Reihe von Dingen, die dem Marktmechanismus unzugänglich, die aber von größter Wichtigkeit für die menschlichen Belange sind". So kann man „Marktpassive", die nicht, noch nicht oder nicht mehr leistungsfähig sind, „nicht auf den Markt verweisen", weil sie unfähig sind, „auf eine marktgemäße Weise für sich selbst zu sorgen, weil sie u. a. krank, schwach und alt sind". Man muß vielmehr, „wenn man verantwortungsbewußt und human ist, etwas für sie tun". 3 2 Staatliche Interventionen werden ferner gefordert, um notwendige wirtschaftliche Strukturveränderungen, die „über die Kräfte der betroffenen Menschengruppen hinausgehen", zu erleichtern. Man kann solche Entwicklungen „nicht auf paläoliberale Weise... irgendwann von selbst in Ordnung kommen" lassen, „sondern selbstverständlich muß der Staat da zum Rechten sehen", freilich „in einer Weise, die marktkonform ist und die Entwicklung nicht verhindert", aber auch so, „daß die Menschen nicht die Leidtragenden sind". 33 Zusammenfassend kann man also sagen, daß es für den Neoliberalismus eine Reihe von Bereichen gibt, die dem Marktmechanismus ganz oder teilweise, auf Zeit oder für immer unzugänglich, aber von größter Wichtigkeit für die menschlichen Belange sind. d) Die Wirtschaft und ihr Marktmechanismus dern haben eine Dienstfunktion.
sind kein Selbstzweck, son-
Der Neoliberalismus weist den Vorwurf, daß er die menschlichen Belange dem Marktmechanismus unterordne, als kränkend zurück. Dem Markt wird im Gegenteil „lediglich eine dienende Funktion" zugesprochen; er „ist ein Mittel zum Zweck, ist kein Selbstzweck", 34 sondern soll zu einer möglichst günstigen Versorgung der Menschen führen. Es gibt unendlich viele Dinge und Bereiche, „die wichtiger sind als Wirtschaft". Die Wirtschaft hat „diesen 32 33 34
Rüstow, Paläoliberalismus, Kommunismus, Neoliberalismus, a.a.O., 5. Ebenda, 6. Ebenda.
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überwirtschaftlichen Werten zu dienen" 3 5 und ihnen „im Konfliktfall... den Vorrang" 36 einzuräumen. Aus dem bisher Gesagten läßt sich das neoliberale Wirtschaftsmodell wie folgt zusammenfassen: Kernstück der Theorie bildet der „geordnete Wettbewerb": die möglichst vollkommene „Veranstaltung" der freien wirtschaftlichen Konkurrenz als Voraussetzung und Garantie höchster ökonomischer Leistungsfähigkeit. Abgelehnt werden die Forderungen nach unbeschränkter Freiheit und das Außerachtlassen sozialer Momente, wie es im paläoliberalen Manchester-Kapitalismus der Fall war. Dem unabhängigen Rechtsstaat weist der Neoliberalismus deshalb die Aufgabe zu, den Wettbewerb zu sichern, durch seine Sozialpolitik sozial negative Ergebnisse auszugleichen und durch „marktkonforme Anpassungsinterventionen" notwendige wirtschaftliche Strukturveränderungen zu erleichtern. So konnte Wilhelm Röpke den entscheidenden Unterschied zwischen A l t - und Neoliberalismus folgendermaßen kennzeichnen: „Nach der altliberalen Vorstellung war die Wettbewerbsordnung ein Naturgewächs, nach unserer neoliberalen Überzeugung ist sie eine Kulturpflanze". 37 Die Hinwendung der deutschen Katholiken zu Neoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft erfolgte in den fünfziger Jahren vor allem in der praktischen Wirtschafts- und Sozialpolitik durch die CDU/CSU als der politischen Vertretung ihrer überwiegenden Mehrheit. Im vorpolitischen Raum, innerhalb des Katholizismus i. e. S., prägte sich diese Hinwendung jedoch weniger stark aus. 38 So wurde auf dem Bochumer Katholikentag 1949 die Soziale Marktwirtschaft zwar lobend erwähnt, aber bestimmend für den Charakter dieses Treffens war das keineswegs. Heute wird das grundsätzliche Ja zur Sozialen Marktwirtschaft kaum noch in Frage gestellt. Kardinal Höffner etwa sprach sich als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz 1985 prononciert für eine „sozial ausgerichtete marktwirtschaftliche Ord-
35 Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, a.a.O., 8. Rüstow nannte u. a. Familie, Staat, das Ethische, das Religiöse, das Menschliche, das Kulturelle überhaupt und faßte all dies in dem freilich mißverständlichen Begriff „Marktrand' 1 zusammen, der „hundertmal wichtiger als der Markt selber" (Rüstow, Paläoliberalismus, Kommunismus, Neoliberalismus, a.a.O., 6) ist. 36 Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, a.a.O., 15. 37 Zitiert nach Oswald von Nell-Breuning, Trennendes und Gemeinsames in den Hauptrichtungen der Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik, in: Grundsatzfragen der Wirtschaftsordnung, Berlin 1954, 215-231, 218. 38
Eine detailreiche, den historischen Ablauf skizzierende Darstellung des Verhältnisses Katholizismus — Soziale Marktwirtschaft gibt Albrecht Langner, Wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen im deutschen Katholizismus 1945-1963, in: ders. (Hrsg.), Katholizismus, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik 1945-1963, Paderborn 1980, 27-108, bes. 51-107.
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nung" 3 9 aus, und die neue Enzyklika „Centesimus annus" Johannes Pauls II. sieht die „Unternehmenswirtschaft" oder „Marktwirtschaft", in der die wirtschaftliche Freiheit „in eine feste Rechtsordnung eingebunden i s t . . . sicher positiv" (Nr. 42,2). Diskutiert werden die inhaltliche Füllung des Sozialen, die mögliche Spannung zwischen marktwirtschaftlichen und sozialen Postulaten sowie die Frage, ob bzw. wie weit die wirtschaftliche Praxis mit dem idealtypischen Modell übereinstimmt. 40 Die Sozialdemokratische Partei hatte sich als parlamentarische Opposition der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft lange Zeit entschieden widersetzt. Etwa seit Mitte der fünfziger Jahre begann sich jedoch ein Wandel abzuzeichnen. In der SPD kam es zu einer zunehmend kritischen Diskussion des Marxismus, die ihre Anstöße nicht zuletzt aus den Erfahrungen mit dem totalitären Sozialismus des kommunistischen Machtbereichs und aus den Erfolgen des auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhenden Wiederaufbaus der Bundesrepublik erhielt. So forderte der Abgeordnete Carlo Schmid nach der Bundestagswahl von 1953, in der die SPD einen Stimmenzuwachs von einer Million, die CDU/CSU aber von fünf Millionen erreicht hatte, die Partei müsse „ideologischen Ballast" abwerfen. Diese Forderung betraf „auch den Gesamtkomplex der bewußtseinsprägenden Rolle des Marxismus". 41 Der Nationalökonom Gerhard Weisser, einer der geistigen Väter des Godesberger Programms, merkte 1956 kritisch an, daß die marxistische Theorie wohl „Geschichtsdeutung" biete, aber keine „Programmatik" für politisches Handeln, daß sie das „Institutionelle" überschätze und menschliche Haltungen als bloßen „Überbau" unterschätze; vor allem aber betonte er, daß die marxistische Theorie die „zentral geleitete Verwaltungswirtschaft" nicht als „System der Unfreiheit" erkenne; der 39 Joseph Kardinal Höffner, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik. Richtlinien der katholischen Soziallehre, Bonn 1985, 41 (Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Heft 12). 40 Vgl. etwa von Nell-Breuning, W i e „sozial" ist die „Soziale Marktwirtschaft"?, a.a.O., 222-238; Walter Kerber, Die soziale Marktwirtschaft im Licht der Sozialethik, in: Joachim Klaus/Paul Klemmer (Hrsg.), Wirtschaftliche Strukturprobleme und soziale Fragen, Berlin 1988, 15-24; ders., Ordnungspolitik, Gemeinwohl und katholische Gesellschaftslehre. Der Sozialen Marktwirtschaft zum Gedächtnis, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31 (1990), 11-33; ders., Kommentar, in: Johannes Paul II., Vor neuen Herausforderungen der Menschheit. Enzyklika „Centesimus annus", Freiburg 1991, 127-176, 148-159; W i l h e l m Dreier, Katholische Soziallehre und die Praxis der sozialen Marktwirtschaft, in·: Klaus Henning / Arno Bitzer (Hrsg.), Ethische Aspekte von Wirtschaft und Arbeit, Mannheim-Wien-Zürich 1990, 101122; Karl Homann, Wettbewerb und Moral, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31 (1990), 34-56; ders., „Die kirchliche Botschaft muß mit ökonomischer Kompetenz gepaart sein", in: Herder Korrespondenz 45 (1991), 311-317. 41
35.
Susanne Miller, Die SPD vor und nach Godesberg, Bonn-Bad Godesberg 1974,
Soziale Marktwirtschaft — Neoliberalismus — christl. Gesellschaftslehre
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„freiheitliche Sozialismus" spreche sich demgegenüber „für eine möglichst große Vielfalt der Unternehmenstypen" 42 und „für eine prinzipiell marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung" 43 aus. Ein außerordentlicher Parteitag vom 13. bis 15. November 1959 in Bad Godesberg beschloß ein neues Grundsatzprogramm. Der Wirtschaftsteil des Programms beginnt mit der Feststellung: „Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist stetig wachsender Wohlstand und eine gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft, ein Leben in Freiheit ohne unwürdige Abhängigkeit und Ausbeutung ... Freie Konsumwahl und freie Arbeitsplatzwahl sind entscheidende Grundlagen, freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente" dieser Wirtschaftspolitik. „Totalitäre Zwangswirtschaft zerstört die Freiheit. Deshalb bejaht die sozialdemokratische Partei den freien Markt, wo immer wirklich Wettbewerb herrscht... Wettbewerb so weit wie möglich — Planung so weit wie nötig". 44 In der praktischen Wirtschaftspolitik freilich ist die SPD immer wieder geneigt, im Zweifelsfalle marktwirtschaftliche Elemente zugunsten — wirklicher oder vermeintlicher — sozialer Zielsetzungen hintanzusetzen. 45
I I I . Ja und Nein im sozialen Katholizismus zu Neoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft Im deutschen Katholizismus standen sich in den fünfziger und sechziger Jahren Kritiker und Verteidiger der Sozialen Marktwirtschaft gegenüber.
1. Ja zu Neoliberalismus
und Sozialer Marktwirtschaft
Für die Befürworter wiesen die Grundaussagen der katholischen Soziallehre eine „erstaunliche ordnungspolitische Nähe und zum Teil totale konzeptionelle Übereinstimmung mit den hervorragendsten Vertretern des 42 Gerhard Weisser, Freiheitlicher Sozialismus, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956, 509-518, 512 f. 43 Ebenda, 517. 44
Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959, Bonn 1959, 13 f. 45
Dies gilt auch für das vom Berliner Parteitag i m Dezember 1989 verabschiedete neue Grundsatzprogramm (vgl. Hans Langendörfer / Peter Siebenmorgen, Zwischen Selbstverwirklichungsutopien und Solidargemeinschaft. Das neue Programm der SPD, in: Herder Korrespondenz 44 (1990), 124-129).
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Neoliberalismus" 46 auf. Sie führten — soweit ich sehe — vor allem fünf Gründe ins Feld. a) Sicherung der Freiheit Hauptargument der Befürworter war — und ist — die These, daß die Sicherung der Freiheit sowohl im Neoliberalismus wie in der katholischen Soziallehre als zentrale Aufgabe gesehen werde. Der Mensch habe „das Recht auf eigenverantwortliche Tätigkeit", auf die „Freiheit der Arbeitswahl und die Freiheit der unternehmerischen Tätigkeit als Konkretisierung des Wirtschaftens". 47 In diesem Zusammenhang verwies man auf das Rundschreiben „Pacem in terris" von 1963, in dem Johannes XXIII. aus der Natur des Menschen das Recht ableitete, „jedweden Beruf" (nr. 12) auszuüben, „seine Arbeit frei" (nr. 18) zu übernehmen und „im Bewußtsein eigener Verantwortung wirtschaftliche Unternehmungen zu betreiben" (nr. 20). Nur der in Freiheit handelnde Mensch könne ferner sittlich handeln. Die Ordnung des freien Wettbewerbs sei ein wesentlicher Garant dieser Freiheit. Die Planwirtschaft dagegen „beruht auf einer Preisgabe der Freiheit". Denn abgesehen von einer weit geringeren ökonomischen Leistungsfähigkeit gehe mit der Zwangswirtschaft „Hand in Hand ein Verlust der personalen Selbstverwirklichung im frei gewählten Dienst an der Gesellschaft". Die Zwangswirtschaft führe „mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auch zum Zwangsstaat" und „die sittlichen Leistungen des einzelnen Menschen werden überflüssig"; 48 der Mensch habe nur dem Befehl zu gehorchen. Das Befehlssystem sei die einzige „Alternative zum Organisationsprinzip Wettbewerb". 49 Daraus ergebe sich die Schlußfolgerung: „Das Postulat der Freiheit, das Zentralanliegen eines echten Liberalismus und das Fundament der christlichen Sozialethik, ruft sachlogisch nach der Wirtschaftsordnung, die die beste Gewähr für die Verwirklichung und Sicherung der Freiheit bietet. Und das ist die Wirtschaft des freien Wettbewerbs". 50
46
W i l h e l m Weber, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 258 vom 6.11.1975, 15 (Leserbrief). 47 Georg Bernhard Kripp, Wirtschaftsfreiheit und katholische Soziallehre, ZürichSt. Gallen 1967, 103; zum Folgenden vgl. ebenda, 100 f. 48 Wilfrid Schreiber, Kernfragen der Marktwirtschaft, in: Patrik M. Boarman (Hrsg.), Der Christ und die Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart-Köln 1955, 19-33, 26. 49 Manfred Hättich, Wirtschaftsordnung und katholische Soziallehre. Die subsidiäre und berufsständische Gliederung der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu den wirtschaftlichen Lenkungssystemen, Stuttgart 1957, 169. 50 Berthold Kunze, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsordnung, in: Boarman (Hrsg.), Der Christ und die Soziale Marktwirtschaft, 35-52, 48.
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b) Das Subsidiaritätsprinzip Im engen Zusammenhang mit der eben skizzierten Begründung der Sozialen Marktwirtschaft steht der Hinweis auf das von Pius XL in der Enzyklika „Quadragesimo anno" von 1931 formulierte Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, daß dem einzelnen „nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf", was er „aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann" (nr. 79). Eine am Subsidiaritätsprinzip „orientierte Entscheidung für eine Wirtschaftsordnung muß daher grundsätzlich zur Marktwirtschaft führen". 51 Ausgangspunkt dieses Arguments ist die These, daß es nur zwei Grundformen „des wirtschaftlichen Miteinanders der Menschen" gibt: „die des freien, auf individuellen Plänen und Entscheidungen (beruhenden) Verkehrs, und die des zentral geleiteten, auf zentralen Plänen und Entscheidungen beruhenden Verkehrs". 52 Das Subsidiaritätsprinzip fordere, „möglichst viel Tätigkeit, Verantwortung und Initiative bei den Einzelmenschen und den kleineren Gemeinschaften zu lassen", 53 sie aber zugleich in ein sinnvolles Ganzes einzuordnen. Diese Aufgabe leiste eine vom Staat gesetzte und gesicherte Ordnung, „die den freien Wettbewerb" und damit die freie Entscheidung des einzelnen garantiert, „das Auseinanderfallen in eine Wirtschaftsanarchie und wirtschaftliche Machtzusammenballung aber verhindert": 54 „Aus all dem ergibt sich, daß das Modell der Marktwirtschaft, in der das Ordnungsmodell des Wettbewerbs dominiert, dem gesellschaftlichen Gliederungsprinzip der Subsidiarität entspricht" 55 und daß sich die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft mit der katholischen Soziallehre „in der Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips... grundsätzlich einig" 5 6 sind.
c) Dienstcharakter der Wirtschaft ( = Überwindung des Paläoliberalismus) Die meisten Befürworter einer Hinwendung zum Neoliberalismus betonten, daß dieser durch die Aufnahme des Ordo-Gedankens nicht mehr mit dem Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts identisch und daß die Soziale Marktwirtschaft kein Manchester-Kapitalismus mehr sei, sondern 51
Hättich, Wirtschaftsordnung und katholische Soziallehre, VIII. K. Paul Hensel, Ordnungspolitische Betrachtungen zur katholischen Soziallehre, in: Ordo 2 (1949), 229-269, 236. 52
53 54 55 56
Kripp, Wirtschaftsethik und katholische Soziallehre, 111. Hättich, Wirtschaftsordnung und katholische Soziallehre, 78. Ebenda, 79.
Goetz Briefs, Liberalismus und katholische Soziallehre. Bilanz der Gemeinsamkeiten, in: Die politische Meinung 5 (Sept. 1960), 32-40, 39.
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bewußt im Dienst am Menschen stehe. Die Aufnahme des christlichmittelalterlichen Ordo-Gedankens habe es unmöglich gemacht, daß Freiheit in Willkür ausarte; denn „Ordo heißt Freiheit unter dem Gesetz". 57 Ziel dieser Ordnung sei der Dienst am Menschen. Marktwirtschaft, Wettbewerb, Wirtschaft insgesamt erscheinen „nicht mehr als autonom", 58 als „ein Zweck an sich", sondern sind immer nur Mittel, „um den Menschen zu dienen". 59 Soziale Marktwirtschaft „umschließt das Bezugssystem des Sozialen". 60 Das bedeute, daß man in wirtschaftspolitischen Interventionen des Staates zum Schutze des Gemeinwohles „keine Verstöße gegen die Marktwirtschaft" 61 sehen dürfe. Wettbewerb sei kein absoluter Wert, sondern „Ordnungsmittel, nicht Ordnungsprinzip". Sachziel dieser Ordnung stelle „das ,bonum commune', das Wohl aller" dar. „Der Mensch steht im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Er bildet auch die Mitte im wirtschaftlichen Handeln". 62 d) Neoliberalismus — ein formales Prinzip Ergänzt wird diese These durch das Argument, das neoliberale Gestaltungsprinzip sei ein vorwiegend formales Prinzip und auf verschiedene Leitbilder — wenn auch nicht auf alle — anwendbar. Es stelle ein Instrumentarium gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Handelns dar. Die Wertorientierung dieses Handelns „ergibt sich dabei nicht schon aus der Wirtschaft selbst". 63 Dem Wettbewerb und der Wirtschaft insgesamt müssen deshalb „außerökonomische Ziele gesetzt werden, auf die sie durch Gesetze und Ordnungsinstitutionen hingelenkt" 64 werden. So können sie auch den Zielvorstellungen der christlichen Soziallehre dienen. Die neoliberale Theorie zeige nur, welche „systemkonformen" Maßnahmen der Politiker treffen müsse, „um die Gesellschaftswirklichkeit dem christlichen Leitbild anzunä57
Kunze, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsordnung, a.a.O., 51.
58
Goetz Briefs, Katholische Soziallehre, Laissez-Faire-Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft, in: Was wichtiger ist als Wirtschaft, Ludwigsburg 1960, 33-44, 41. 59 Patrik M. Boarman, Christ und Soziale Marktwirtschaft, in: ders. (Hrsg.), Der Christ und die Soziale Marktwirtschaft, 11-17, 13. 60 Briefs, Katholische Soziallehre, Laissez-Faire-Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 41. 61
Entschließung der Jahrestagung des Bundes Katholischer Unternehmer in Bad Neuenahr 1959, in: Ökonomischer Humanismus. Neoliberale Theorie, Soziale Marktwirtschaft und christliche Soziallehre, Köln 1960, 94. 62
Kunze, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsordnung, a.a.O., 46. Entschließung der Jahrestagung des Bundes Katholischer Unternehmer 1959, a.a.O., 41. 64 Roland Nitsche, Mehr Soll als Haben. „Mater et Magistra" in marktwirtschaftlicher Sicht, Wien-Freiburg-Basel 1962, 178. 63
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hem und sie i m Idealfall mit ihm zur Deckung zu bringen' 1 . 65 Das Leitbild selber, „der Charakter der angestrebten sein-sollenden Ordnung kann nicht aus dem neoliberalen Prinzip abgeleitet werden". 66 Umgekehrt sei aber auch „die christliche Soziallehre keine instrumentale Theorie" und daher nicht kompetent, wirtschaftliche Daten und Methoden zur Erreichung „des SeinSollenden" anzugeben. „Neoliberale Theorie als Inbegriff des ,Gewußt wie' und christliche Soziallehre als Inbegriff des ,Gewußt was' sind also logisch aufeinander zugeordnet und fähig, einander großartig zu ergänzen". 67
e) Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Als wohl entscheidendes Motiv bestimmte die meisten Anhänger des Neoliberalismus schließlich die überlegene Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft: „die Erfahrung von der ungeheuren Produktivkraft eines entfalteten freien Wirtschaftssystems". Diese „Expolosion der produktiven Kräfte" sei nur möglich gewesen, „wo kollektivistische Experimente unterblieben". 68 Das zeige, daß allein eine liberale Wirtschaftsordnung „in der Lage ist, die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen und gleichzeitig den Forderungen der katholischen Soziallehre gerecht zu werden". 69 Das Problem war deshalb für katholische Neoliberale nicht mehr die Frage, ob Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, sondern „welche ordnenden Maßnahmen am Rande nötig sind und welche Systeme von Rahmenbedingungen" der Marktwirtschaft gesetzt werden müssen, „damit ihr Funktionieren letztlich unserem Leitbild des Sein-Sollenden immer näher kommt". 7 0
2. Kritik
an Neoliberalismus
und Sozialer Marktwirtschaft
Die offene oder stillschweigende Hinwendung eines großen Teiles der deutschen Katholiken zu Neoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft stieß indessen bei Sprechern des sozialen Katholizismus auf teilweise scharfe Kritik. Sie reichte so weit, daß — wie ein liberaler Beobachter 65
Wilfrid Schreiber, Der Standort der christlichen Soziallehre in bezug auf neoliberale Theorie und die Politik der sozialen Marktwirtschaft, in: Ökonomischer Humanismus, 27-45, 35. 66
Ebenda, 34.
67
Ebenda, 42. Briefr Katholische Soziallehre, Laissez-Faire-Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 40. 68
69 70
Boarman, Christ und Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 13. Schreiber, Kernfragen der Marktwirtschaft, a.a.O., 33.
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überspitzt formulierte — „die Mehrzahl der Theologen sowie der katholisch engagierten Sozialwissenschaftler und Politiker den Liberalismus — einschließlich des Wirtschaftsliberalismus — auch in seinen modernen Ausprägungen ablehnt oder ihm zumindest skeptisch gegenübersteht". 71 Diese Kritik setzte schon sehr früh ein. Der Sozialethiker Eberhard Welty, führendes Mitglied des „Walberberger Kreises", betonte bereits 1948: „Ich halte den Neoliberalismus der Sache nach in wesentlichen Punkten für unvereinbar mit den Grundsätzen des Naturrechts und der christlichen Ethik". 72 Die Argumente der Kritiker lassen sich — soweit ich sehe — in drei Gruppen zusammenfassen.
a) Überbetonung bzw. Verabsolutierung der Wirtschaft und des Marktgeschehens Als einen Haupteinwand erhoben die Kritiker den Vorwurf der Überbetonung bzw. der Verabsolutierung von Wettbewerb, Marktautomatik und Wirtschaft insgesamt. Die neoliberale Theorie anerkenne zwar den Einfluß der geistig-sittlichen, sozialethischen und geschichtlichen Faktoren auf das wirtschaftliche Geschehen, versetze sie jedoch in den „Datenkranz". Dieses „Ganze der außerwirtschaftlichen Faktoren" gehöre lediglich zur .„Umgebung' der Wirtschaft" und sei „nicht von konstitutiver, sondern nur von modifizierender Bedeutung". 73 Der Neoliberalismus zentriere die Wirtschaft „um den ,Markt' ; allem, was nicht Marktwirtschaft ist, steht er ratlos gegenüber". 74 Der freie Wettbewerb sei dabei nicht „nur ein ökonomisches Prinzip", sondern „auch und in erster Linie eine Frage der Gerechtigkeit", da „der im Gleichgewicht sich befindliche Markt eine gerechte Ordnung darstelle ... Das Gerechtigkeitsprinzip wird also durch die Gleichgewichtsthese ersetzt". 75 Diese Überbetonung von Markt und Wettbewerb schalte die „Möglichkeit sittlich zu verantwortender Willensentscheidungen und Handlungen gegen den Marktmechanismus" aus und reduziere die neolibe71
Gerhard Tholl, Die katholische Soziallehre — Ein Gefüge von offenen Sätzen, in: Ordo 18 (1967), 447-476, 449. 72 Eberhard Welty, Ein „Nicht" übersehen?, in: Die neue Ordnung 2 (1948), 446456, 446. Zu Eberhard Welty O. P. und zum „Walberberger Kreis", die einen „christlichen Sozialismus" vertraten, vgl. Stegmann, Kirche in der Sozialgeschichte, 33-35. 73
Egon Edgar Nawroth, Die Sozial und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg-Löwen 1961, 227; vgl. auch Fritz Ottel, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsordnung, in: Die neue Ordnung 5 (1951), 46-54, 54. 74
Hans Schmid, Neoliberalismus und Katholische Soziallehre. Eine Konfrontierung, Köln o.J. (1954), 65. 75 E. Nawroth, Die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des Neoliberalismus, Köln 1962, 20.
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rale Wirtschaftsethik faktisch auf das „Verbot, in die Eigenlogik des gesetzmäßigen Wirtschaftsablaufs lenkend eingreifen zu wollen". 76 Während die katholische Soziallehre die Einordnung allen wirtschaftlichen Handelns in das Gemeinwohl des Gemeinwesens verlange, erhielten in der neoliberalen Theorie entscheidende „Begriffe wie: Ordnung, Gemeinwohl, Leistung, Gerechtigkeit, ihren Inhalt nur von der Wirtschaft selbst her" und schlössen so die Bindung an außerwirtschaftliche Normen „als nicht marktkonform grundsätzlich" 77 aus. Damit werde der Mensch auf den „homo oeconomicus" verkürzt und „logisch zwingend das Ethos aus dem Bereich der Wirtschaft" 7 8 entfernt. b) Überbetonung bzw. Verabsolutierung der individuellen Freiheit Ein zweiter grundsätzlicher Einwand richtete sich gegen die Überbetonung bzw. Verabsolutierung der individuellen Freiheit. „Der Neoliberalismus ist in seiner Grundkonzeption konsequenter Individualismus, der sich um den Begriff der absolutierten, aber formalistisch interpretierten individuellen Freiheit zentriert". 79 Im einzelnen wendet sich dieser Vorwurf gegen die „mangelnde Wertbezogenheit der liberalen Freiheitsauffassung", die sich in einer vorwiegend negativen Interpretation — „tun können, was der einzelne in Verfolgung selbst gesetzter Ziele w i l l " 8 0 — zeige, sowie gegen die „Identifizierung von wirtschaftlicher und persönlicher Freiheit", 81 wodurch alle Freiheitsrechte „nur im Rahmen der Wettbewerbsordnung ihre Legitimation" erhielten und die Freiheit damit „ihres ethischen Innenwertes beraubt" 82 werde. Der intensive Freiheitskult des Neoliberalismus diene „einer ausgesprochen ökonomischen Zwecksetzung": „Die Sicherung der wirtschaftlichen Entschluß- und Handlungsfreiheit" solle „die Antriebskraft des uneingeschränkten Selbstinteresses" freilegen und so „maximale Produktivität" 8 3 garantieren. Der Neoliberalismus sei deshalb keinesfalls „eine ideelle Neuschöpfung", sondern im Grunde „die ,ungestüme Renaissance' altliberalen Gedankengutes". 84
76
Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie, 380.
77
Edgar Nawroth, Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft, Köln 1965, 127. Schmid, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, 10.
78 79
Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie, 425.
80
Ebenda, 81.
81
Ebenda, 78.
82
Ebenda, 83.
83
Ebenda, 124 f. ; vgl. auch Becker, Die soziale Frage im Neoliberalismus, 124. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie, 425.
84
17 Festschrift Schasching
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c) Bloße „Säkularisierung" des altliberalen Harmonieglaubens Als weiteres Argument führten die Kritiker schließlich an, daß im Neoliberalismus eine bloße „Säkularisierung" des paläoliberalen Harmonieglaubens erfolge. Der klassische Wirtschaftsliberalismus war überzeugt, daß die Wirtschaft eine ihr vom Schöpfer vorgegebene „natürliche Ordnung" besitze, eine „prästabilierte Harmonie", in der alles von selber richtig laufe, wenn man nur die einzelnen Wirtschaftssubjekte sich frei entfalten lasse. Diese These des alten Liberalismus von der „prästabilierten Harmonie" habe man fallenlassen, die entstandene Lücke werde jedoch durch die Erwartung einer neuen Harmonie aufgrund des vom Staat „veranstalteten" Wettbewerbs ausgefüllt. Dies bedeute keinen „revolutionären Wandel", sondern höchstens eine „Säkularisierung und ordnungspolitische Modifikation des Laissez-Faire-Optimismus". 85 Neu an dem neoliberalen Harmonieglauben sei der Verzicht „auf eine deistisch-religiöse Begründung". Während der Paläoliberalismus die Interessenharmonie auf dem freien Markt als eine vom allweisen Weltenbaumeister „prästabilierte Harmonie" wertete, erscheine sie nun als „Ergebnis marktimmanenter Koordinierungs- und Gleichgewichtskräfte", 86 Somit trete an die Stelle der ehemals pseudoreligiösen Begründung „die Ethisierung des Marktgleichgewichts und Wettbewerbsprinzips". Eine zweite Neuerung am neoliberalen Harmonieglauben bestehe darin, daß er im Vergleich zum alten „Laissez-Faire-Optimismus nicht absolute Geltung beansprucht, sondern ordnungspolitiscxie Voraussetzungen zur Bedingung hat": die vom Staat mit Hilfe eines gesetzlichen Ordnungsrahmens zu leistende „institutionelle Sicherung der Marktfreiheit". 87 Nach christlicher Soziallehre bedürfe der Wettbewerb jedoch „nicht nur der Rahmenordnung, sondern ebenso auch der Gemeinwohlverantwortung des Staates", die über die nur „technische Veranstaltung des Wettbewerbs" 88 hinaus seine ständige sozialethische Durchformung und gesellschaftliche Kontrolle fordere. Auch unter diesem Aspekt könne man deshalb beim Neoliberalismus „höchstens von einer ordnungspolitischen Modifizierung und Wiederbelebung altliberalen Gedankengutes" 89 sprechen.
85 N i v Toth, Die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des Neoliberalismus, 21. 86 87
Nawroth, Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft, 114.
Ebenda, 117. Nawroth, Die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des Neoliberalismus, 23. 89 Nawroth, Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft, 123. 88
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IV. Ansatzpunkte einer grundsätzlichen Beurteilung: Von der neoliberalen zur sozialen Marktwirtschaft 1. Ja zum wirtschaftlichen
Wettbewerb
Freie Leistungskonkurrenz ist grundsätzlich zu bejahen. Oswald von Nell-Breuning, der 1991 verstorbene Altmeister der katholischen Soziallehre, forderte bereits 1948, „zunächst soviel wie irgendmöglich die Marktwirtschaft in Gang zu bringen" 90 und das „völlig zusammengebrochene zwangswirtschaftliche System zu beseitigen". 91 Freie Leistungskonkurrenz ergibt sich gerade als Forderung des Gemeinwohles, „weil dadurch das wirtschaftliche Tun i m ganzen ergiebiger werden kann, so daß die Menschen größere Freiheit (Muße und geistige Kräfte) zur Entfaltung des geistigen und kulturellen Lebens erhalten". 92 Da die materiellen Mittel im Vergleich zu den materiellen Bedürfnissen der Menschen knapp sind, verlangt das Gebot der Solidarität, „viele und brauchbare materielle Güter ... möglichst billig zur Verfügung zu stellen". Dazu dient „der Leistungswettbewerb als ein unentbehrliches Mittel". 9 3 Je mehr durch Wettbewerb das Volumen lebensnotwendiger Güter vergrößert wird, desto größer wird die Möglichkeit, der immer noch anwachsenden und weithin unter dem Existenzminimum lebenden Erdbevölkerung humanere, leichtere äußere Daseinsbedingungen zu bieten und auf diese Weise auch zur Entfaltung der kulturellen, geistigen und seelischen Anlagen der Menschen beizutragen. Und je geringer der Aufwand an knappen Ressourcen, der Aufwand an knapper Energie — allgemein gesprochen: je geringer die Inanspruchnahme der natürlichen Umwelt — für die Herstellung dieser Güter gemacht werden kann, desto weniger werden die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen von uns heute belastet. Eine unwirtschaftliche Ausnützung der beschränkten wirtschaftlichen Ressourcen, eine Verschleuderung wirtschaftlicher Mittel und Möglichkeiten verstößt gegen das Prinzip der mitmenschlichen Solidarität, verstößt — theologisch gesprochen — gegen das Gebot der Nächstenliebe. Die moralische Qualität von Markt und Wettbewerb liegt daher vor allem in ihrer Fähigkeit, die knappen wirtschaftlichen Ressourcen optimal zu nut-
90 Oswald von Nell-Breuning, Aus der Ansprache auf der 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats bei der Verwaltung für Wirtschaft am 23./24. Januar 1948 in Königstein i m Taunus (stenographisches Protokoll), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft heute, Bd. 1, Freiburg 1956, 156-158, 158. 91
Oswald von Nell-Breuning, Die soziale Marktwirtschaft im Urteil der katholischen Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft heute, Bd. 3, Freiburg 1960, 99-102, 99. 92 93
17*
Nikolaus Monzel, Katholische Soziallehre, Bd. 2, Köln 1967, 370. Ebenda, 383.
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Der Leistungswettbewerb wird jedoch auch von der Tauschgerechtigkeit gefordert, damit „jeder Leistungsfähige und Leistungswillige zum Zuge kommen und für seine Leistung eine entsprechende Gegenleistung erwarten kann". 95 Schließlich hat „der Staat nur soviel Befehlsgewalt und Zwang" auszuüben, wie für ein wohlgeordnetes Gemeinschaftsleben notwendig, „und dem einzelnen soviel Freiheit (zu) lassen, wie mit dieser guten Ordnung eben vereinbar ist". 9 6 Die einzelnen sollen „selbst Wirtschaftssubjekte" sein und nicht bloß „Organe oder Funktionäre eines allein wirtschaftenden Kollektivs, heiße dieses Staat oder wie immer". 9 7 Neoliberale und katholische Soziallehre sind in diesem Punkt „völlig einer Meinung". 98 Auf der anderen Seite weiß der Neoliberalismus auch, daß absolute Marktfreiheit „bald umschlägt in Ausbeutung und brutale Vernichtungskämpfe" 99 und daß der Wettbewerb daher „einer von Menschen zu schaffenden und durch Menschen zu handhabenden Freiheitsordnung bedarf". Mit dieser Erkenntnis erhebt sich der Neoliberalismus „hoch über den uns heute kindlich anmutenden alten Laissez-Faire-Liberalismus". 100 So konnte Oswald von Nell-Breuning das Wort Röpkes, Wettbewerb sei eine Kulturpflanze und kein Naturgewächs, weiterführen: „ Wettbewerb ist eine Hochblüte der Kulturgesellschaft". 101
94 Manche gehen noch einen Schritt weiter und sprechen Markt und Wettbewerb „die moralische Qualität ausschließlich deswegen" zu, „weil sie .effizient' sind" (Homann, Wettbewerb und Moral, a.a.O., 41). 95 Nikolaus Monzel, Gerechtigkeit und Marktgeschehen, in: ders., Solidarität und Selbstverantwortung. Beiträge zur christlichen Soziallehre, München 1959, 134-139, 139. 96 97
von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft III, 99. Oswald von Nell-Breuning, Zur Wirtschaftsordnung, Freiburg 1949, 37.
98 Oswald von Nell-Breuning, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft III, 81-98, 82. 99
Monzel, Solidarität und Selbstverantwortung, 138. Zur grundsätzlichen Problematik der Kontrolle wirtschaftlicher Macht vgl. Werner Zohlnhöfer, Kontrolle von Wirtschaftsmacht in der Marktwirtschaft, in: Soziale Herausforderung der Marktwirtschaft. Hrsg. vom Katholisch-Sozialen Institut der Erzdiözese Köln, Limburg 1976, 38-77. 100 Owald von Nell-Breuning, Zur Kritik des wirtschaftlichen Liberalismus, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft I, 103-122, 117. 101 Oswald von Nell-Breuning, Formen und Deutungen der Wettbewerbsgesellschaft, in: ders., Der Mensch in der heutigen Wirtschaftsgesellschaft, MünchenW i e n 1975, 31-39, 39.
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2. Kritik am Freiheitsverständnis und am Vorrang des Ökonomischen im Neoliberalismus Was den neoliberalen Freiheitsbegriff betrifft, so trägt er weithin formalen Charakter: Der Entscheidungs- und Handlungsspielraum soll „von keiner Seite eine Einschränkung erfahren". Der christliche Freiheitsbegriff dagegen ist inhaltlich gefüllt und besagt: „Ich habe die Freiheit, mich in meinem Innern zu entscheiden, so wie es mir in meiner Verantwortung vor Gott richtig erscheint". 102 Ohne Zweifel nimmt „die Wirtschaftsfreiheit als Freiheit eines wichtigen Teilbereichs des gesellschaftlichen Lebens einen legitimen Platz im System der Werte ein. „Sie ist aber nicht der einzige und auch nicht der höchste Wert", sondern steht neben den übrigen Werten (wie soziale Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Solidarität). Ja unter Umständen „wird sie gegenüber anderen Werten, die in direkter Zuordnung zur individuellen und kollektiven Selbsterhaltung stehen, zurücktreten müssen". 103 Ein zweiter Einwand richtet sich gegen die Überbetonung des Ökonomischen gegenüber den anderen Lebensbereichen. Häufig wird in der neoliberalen Theorie „de facto Wirtschaft mit Marktgeschehen gleichgesetzt", das nach den Regeln des freien Wettbewerbs abläuft. So fehlt die Einordnung der Wirtschaft in eine von klaren Vorstellungen getragene Gesellschaftspolitik. Für die katholische Soziallehre „ist das wirtschaftliche Geschehen ein Teil des gesellschaftlichen Geschehens". Die Qualität von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik „bestimmt sich danach, wieviel oder wie wenig sie beiträgt zu einer befriedigenden, an ethisch-kulturellen Maßstäben gemessen.positiv zu bewertenden Gestaltung des sozialen Lebens". Wenn das so ist, dann können die Maßstäbe, nach denen das wirtschaftliche Verhalten des einzelnen sowie die Wirtschaftspolitik „sich auszurichten hätten, nicht aus der Wirtschaft selbst gewonnen werden", sondern sind „einem übergreifenden Bereich zu entnehmen". 104 Schließlich wird gerade in jüngster Zeit auf die Diskrepanz zwischen dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft und der wirtschaftlichen Praxis hingewiesen. Ging das ursprüngliche Konzept von einem starken Staat aus, der die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb setzen und möglichst wenig in den Wirtschaftsablauf eingreifen sollte, so verlangen heute mehr und mehr Interessenverbände von einem schwachen Staat, „den Wettbewerbsdruck zu mildern, um echte oder vermeintliche Fehlentwicklungen durch interventionistische Eingriffe abzuwenden". 105 Dazu kommt vor dem Hinter102
von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft III, 90 f.
103
Kripp, Wirtschaftsfreiheit und katholische Soziallehre, 171 f.
104
von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft III, 95 f.
105 Kerber, Ordnungspolitik, Gemeinwohl und katholische Gesellschaftslehre, a.a.O., 27; vgl. ders., Die soziale Marktwirtschaft im Licht der Sozialethik, a.a.O., 21 f.; ders., Kommentar (zu „Centesimus annus"), a.a.O., 155.
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grund der wachsenden globalen Verflechtung, daß es auf der Ebene der Weltwirtschaft noch keine Rahmenordnung gibt, die einer innerstaatlichen Rahmenordnung entsprechen würde und die für das Modell der Sozialen Marktwirtschaft wesentlich ist. Die Soziale Marktwirtschaft im neoliberalen Verständnis — so läßt sich die Kritik zusammenfassen — führt daher aus unterschiedlichen Gründen „den Beinamen »sozial1 vorerst noch auf Kredit 1 1 , 1 0 6 wenngleich dieses neoliberale Konzept einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem altliberalen Manchester-Kapitalismus darstellt.
3. Von der neoliberalen
zur sozialen Marktwirtschaft
Soziale Marktwirtschaft im neoliberalen Verständnis besagt: vom Staat gesicherter freier Leistungswettbewerb und soziale Zielsetzungen bzw. Auflagen der Wirtschaft. 1 0 7 Damit ist freilich nichts entscheidend Neues gesagt. Was hier als Ziel einer Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet wird, deckt sich voll und ganz mit den wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen des Neoliberalismus und läßt die Frage unbeantwortet, welchen Sinn es habe, das von ihm konzipierte Wirtschaftssystem als Soziale Marktwirtschaft auszugeben, obwohl inhaltlich nichts Neues gesagt wird. Die Überzeugung von der Notwendigkeit sozialpolitischer Maßnahmen des Staates jedenfalls ist schon lange im Bewußtsein der Zeit so verwurzelt, daß die generelle Bejahung der Sozialpolitik kein hinreichender Grund wäre, dem Entwurf eines Wirtschaftssystems oder einem Programm der Wirtschaftspolitik allein deshalb die Bezeichnung „sozial11 zu geben. Zutreffender und redlicher wäre es m. E. daher, die von den Neoliberalen bisher vertretene Marktwirtschaft nicht Soziale, sondern neoliberale Marktwirtschaft zu nennen, wobei diese neoliberale Marktwirtschaft — das sei nochmals in Erinnerung gerufen — einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem altliberalen Manchester-Kapitalismus darstellt. Wenn die Wortverbindung „Soziale Marktwirtschaft 11 logisch vertretbar sein soll und wenn sie sich durch einen eigenen Sinngehalt gegenüber dem neoliberalen Entwurf als etwas inhaltlich Neues ausweisen will, muß man beim Begriff „sozial" ansetzen. Von einer sozialen Marktwirtschaft kann nur gesprochen werden, wenn auch der wirtschaftliche Bereich der sozialen Gerechtigkeit unterstellt ist, und wenn das Soziale von vornherein in den Zielhorizont, von vornherein zu den Zielvorgaben jeder wirtschaftlichen 106 von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft III, 88. W o h l nicht zufällig sprach Ludwig Erhard schon 1949 prononciert von der „freien Marktwirtschaft" (vgl. Erhard, Das Problem der freien Marktwirtschaft, a.a.O., 71). 107
Siehe oben S. 242-245.
Soziale Marktwirtschaft — Neoliberalismus — christl. Gesellschaftslehre
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Aktivität gehört. Wettbewerb, Marktwirtschaft ist nur das Mittel. Diesen — auch sozialen — Zielhorizont, diesen „Datenkranz" hat der Staat der Wirtschaft vorzugeben, zu setzen. Vermutlich akzeptieren viele neoliberale „Soziale Marktwirtschaftler" diese Aufgabenstellung; aber — so lautet meine These — sie tun es häufig und sie tun es vor allem in der wirtschaftlichen Praxis in einem nur formalen, in einem ungenügenden, unzureichenden Sinn. Als Leitsatz galt und gilt diesen neoliberalen Verfechtern der Sozialen Marktwirtschaft die bekannte Formel: Eine gute Wirtschaftspolitik ist die beste Sozialpolitik. .„Sozialer 1 Fortschritt besteht in wirtschaftlichem Wachstum (der Kuchen wird größer),,Sozial 1 -Leistungen bestehen in Umverteilung (von größeren Kuchenstücken wird den allzu klein ausgefallenen Stücken etwas zugelegt)". 108 Nach dieser Auffassung ist die Erwirtschaftung eines Ertragsmaximums primäres Ziel der Wirtschaft. Es kommt darauf an, die Wirtschaft auf einen möglichst ergiebigen Produktionsausstoß hin anzulegen, den Wirtschaftsprozeß ablaufen zu lassen, sein Ergebnis abzuwarten und dann die möglicherweise notwendigen sozialen Korrekturen vorzunehmen. Primär und mit Vorrang wird die Wirtschaftspolitik besorgt, und sekundär, falls das Ergebnis „sozial korrekturbedürftig" ist, wird die Sozialpolitik nachgezogen. Dem ist Folgendes entgegenzuhalten: Es genügt nicht, nur staatlichrechtliche Sicherungen für das Funktionieren der Marktwirtschaft bereitzustellen und — wenn nötig — im nachhinein soziale Korrekturen vorzunehmen; es genügt nicht, das Kind, das am Fluß spielt, ins Wasser fallen zu lassen und es dann wieder herauszuziehen. Es kommt ebenso wesentlich darauf an, auch bereits die Voraussetzungen für eine sozialen Vollzug und für ein soziales Ergebnis des Wirtschaftsprozesses zu schaffen. Das Kind sollte nach Möglichkeit — um i m Bild zu bleiben — gar nicht ins Wasser fallen. Wettbewerb allein reicht jedoch nicht aus, um einen „sozial befriedigenden Vollzug und ein sozial gerechtes Ergebnis der Wirtschaft zu gewährleisten". 109 Eine im vollen Sinn soziale Marktwirtschaft, die „zu Recht das Attribut ,sozial1 beanspruchen" und „sich gegenüber dem neoliberalen Ordnungsgedanken als etwas Eigenständiges" ausweisen kann, stellt daher „nicht nur rechtliche Sicherungen für einen marktwirtschaftlichen Produktionsablauf" bereit, „sondern gleichzeitig auch Sicherungen für einen sozialen Vollzug und ein soziales Ergebnis des Wirtschaftens". 110 108
von Nell-Breuning, W i e „sozial" ist die „Soziale Marktwirtschaft"?, a.a.O., 228 f.
109
Ebenda, 236. Darauf machte wiederholt auch Johannes Schasching i m Blick auf die Enzyklika „Populorum progressio" aufmerksam (vgl. Johannes Schasching, In Sorge um Entwicklung und Frieden. Kommentar zur Enzyklika „Sollicitudo rei socialis" von Johannes Paul II., Wien-Düsseldorf 1988, 24, 72). 110 Franz Klüber, Neoliberale und soziale Marktwirtschaft, in: Die neue Ordnung 14 (1960), 321-334, 329 f.
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a) Sozialer Vollzug Zum „sozialen Vollzug" gehört, „daß jeder Mensch Subjekt des Sozialprozesses der Wirtschaft ist und kein bloßes Objekt". 111 Deshalb darf etwa nie „die Auswirkung auf die leibliche Gesundheit der Beteiligten unberücksichtigt bleiben" 1 1 2 oder dem Arbeiter „das physisch und technisch mögliche Maximum an Produktionsausstoß zugemutet werden", so daß er „schon im Ablauf des Produktionsprozesses ... unter die Räder kommt". 1 1 3 „Sozialer Vollzug" verlangt ferner, „daß der Arbeitsfähige und Arbeitswillige Arbeitsund Verdienstgelegenheit findet". Humanisierung der Arbeitswelt und Bereitstellung ausreichender Arbeitsmöglichkeiten also, aber auch wirtschaftliche Mitbestimmung und vor allem die Beachtung ökologischer Zielvorgaben, die Integration der ökologischen Dimension, deren Bedeutung erst in jüngster Zeit erkannt wurde und ins Bewußtsein trat, sind exemplarische Bereiche, die zu diesem sozialen Vollzug gehören. Bloßer „geordneter Wettbewerb" reicht zu all dem nicht aus; es bedarf „spezifischer Lenkung der Wirtschaft" 1 1 4 durch Setzen von Rahmenbedingungen bzw. eines „Datenkranzes" als staatlicher Aufgabe über das vom Neoliberalismus Gefordert e 1 1 5 hinaus. b) Soziales Ergebnis Das Sachziel der Wirtschaft ist nicht eine maximale, sondern eine optimale, d. h. menschenwürdige Bedarfsdeckung. Dieses Ziel kann nicht immanent ökonomisch, nicht allein „im Raum der Wirtschaft" entschieden werden; das Sachziel der Wirtschaft bestimmt sich vielmehr vom Menschen her, vom Bereich ethisch-humaner Wertungen her. Überfluß an wirtschaftlichen Gütern allein, materieller Reichtum allein ist kein erstrebenswertes Ziel, wenn dieser Reichtum ungerecht verteilt wird. „Soziales Ergebnis des Wirtschaftens" hebt deshalb darauf ab, wem die durch den Leistungswettbewerb erzielten Produktivitätssteigerungen zufließen, und verlangt „eine befriedigende Einkommens- und Vermögensschichtung", 116 die sich nicht ohne weiteres „aus dem freien Spiel der zufällig gegebenen Kräfte" 1 1 7 ergibt. 111
von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft III, 101.
112
Monzel, Katholische Soziallehre II, 384. Klüber, Neoliberale und soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 329. von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft III, 101.
113 114 115
Siehe oben S. 242-245.
116
Klüber, Neoliberale und Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., 330.
117 Oswald von Nell-Breuning, Einkommensgestaltung in der sozialen Marktwirtschaft, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft I, 403-410, 403. Zur Problematik der gerechten Verteilung vgl. auch Bernhard Külp, Gerechtigkeit in der Verteilung, in: Soziale Herausforderung, a.a.O., 99-112.
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Aufgabe einer sozialen Marktwirtschaft ist es deshalb, „sowohl die Erträge der Unternehmungen als auch deren Verteilung auf die verschiedenen beteiligten Personengruppen so zu lenken, daß eine »befriedigende Einkommens· und Vermögensverteilung' herauskommt". 118 Die Wirtschaft „,mit der leichten Hand' durch Setzen von Rahmenbedingungen oder eines Datenkranzes zu lenken" 1 1 9 ist somit unerläßlich, wenn sie leistungsstark und sozial in Vollzug und Ergebnis sein soll. Gerade die Rahmenordnung ist deshalb der systematische Ort der Moral in der Marktwirtschaft. Die einzelnen Wirtschaftssubjekte, die einzelnen Unternehmen sehen legitimerweise in der Erzielung von Gewinn ein Hauptziel. Ihr „,Motiv' zum Handeln (ist) das Eigeninteresse — ,self interest', ,own interest'". Anders verhält sich das bei der Wirtschaft insgesamt, bei der Wirtschaft als solcher. Der .„soziale Sinn' von Markt und Wettbewerb (ist) das Gemeinwohl, die Besserstellung aller". 1 2 0 Beide Ebenen, der „individuelle Handlungszusammenhang" und der „wirtschaftliche Systemzusammenhang", 1 2 1 müssen unterschieden werden. „Die Realisierung des Wohles aller durch eigeninteressiertes Handeln", die Verwirklichung des „bonum commune", erfolgt freilich „nicht von selbst, automatisch, naturwüchsig, sondern nur bei Vorliegen einer geeigneten Rahmenordnung, wozu vor allem Verfassung, Gesetze, Verfügungsrechte, Haftung, Besteuerung u.a.m. gehören"; anders formuliert: „Der Markt ist eine Teilordnung der Gesellschaft, nicht eine Gesamtordnung". 122 Aufgabe der Politik, Aufgabe des staatlichen Gesetzgebers ist es deshalb, der Wirtschaft einen Rahmen der A r t zu geben, „daß die wirtschaftenden Menschen sich aus eigenem Interesse so verhalten, wie es dem allgemeinen Interesse frommt", 1 2 3 und so „der Wettbewerb in Bahnen verläuft, die das Gemeinwohl sichern". 124 Die „Gestaltung der Wirtschaft im Sinn moralischer Ideen hat bei der Rahmenordnung anzusetzen"; 1 2 5 das „moralische Engagement" muß m. a. W. in „institutionelle Regeln" 1 2 6 umgesetzt werden. In der Anerkennung und gewissenhaften Beach118 Oswald von Nell-Breuning, Das Lohnproblem im Zusammenhang mit der Beteiligung des Arbeiters am Sozialprodukt, insbesondere an der volkswirtschaftlichen Vermögensbildung, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft I, 410-422, 421. 119
von Nell-Breuning, W i e „sozial" ist die „Soziale Marktwirtschaft"?, a.a.O., 237.
120
Homann, Wettbewerb und Moral, a.a.O., 39.
121
Homann, „Die kirchliche Botschaft muß mit ökonomischer Kompetenz gepaart sein", a.a.O., 312. 122
Homann, Wettbewerb und Moral, a.a.O., 39.
123
von Nell-Breuning, W i e „sozial" ist die „Soziale Marktwirtschaft"?, a.a.O., 223.
124 Kerber, Ordnungspolitik, Gemeinwohl und katholische Gesellschaftslehre, a.a.O., 13. 125 126
Homann, Wettbewerb und Moral, a.a.O., 41.
Homann, „Die kirchliche Botschaft muß mit ökonomischer Kompetenz gepaart sein", a.a.O., 313.
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tung dieser Regeln durch die einzelnen Marktteilnehmer vor allem liegt ihr — wirtschaftlicher und moralischer — Beitrag für das Gelingen von sozialer Marktwirtschaft. 127 Soziale Marktwirtschaft — wie die katholische Soziallehre sie versteht — besagt also nicht nur Sicherung des freien Wettbewerbs und hohe Leistungskraft der Wirtschaft, das Zustandekommen sozialer Unzuträglichkeiten aber abzuwarten, um sie nachträglich zu korrigieren; soziale Marktwirtschaft im Vollsinn des Wortes verlangt vielmehr, die Zielsetzung des Sozialen von vornherein und gleichgewichtig in die Wirtschaftspolitik einzubeziehen, um so — bereits vom Ansatz her — einen sozialen Vollzug und ein soziales Ergebnis anzustreben.
127 Zu „Möglichkeiten und Aufgaben individueller Moral" in der Marktwirtschaft vgl. auch Homann, Wettbewerb und Moral, a.a.O., 46-55.
III. Weltkirche — Weltgesellschaft
DER NEUE AUFBRUCH" Von Agostino Kardinal Casaroli
I. „Ein neuer Morgen scheint am Himmel der Geschichte anzubrechen Diese schönen Worte hat Papst Johannes Paul II. im vergangenen Mai, 1990, in Lissabon gesprochen, dem Monat, in welchem die katholische Kirche jener Erscheinung der Seligen Jungfrau Maria vor den Kindern Jacinta, Francisco und Lucia am 13. Mai 1917 gedenkt, die viel Aufmerksamkeit — und, wir können auch sagen, viel Neugier —, aber auch große Frömmigkeit und viele Hoffnungen im Volk ihrer Gläubigen geweckt hat und noch immer nährt. Bei der Gelegenheit wollte der Papst auch für den Schutz danken, den er vor zehn Jahren, am 13. Mai 1981, erfahren hatte, als sich in dem großartigen Rahmen des mit frommen und dem Papst zujubelnden Menschen überfüllten Petersplatzes die Mordwaffe eines unbekannten Meuchelmörders gegen ihn gerichtet hatte, um seine Stimme als Bote der Brüderlichkeit in Wahrheit und des Friedens in Gerechtigkeit für immer zum Schweigen zu bringen. Ein neuer Morgen ... Schöne Worte! Noch schöner aber ist die Verkündigung der Hoffnung, die sie an ein Europa und an eine Welt richteten, die erst seit kurzem aus einem langen Alptraum entlassen worden waren und noch unter den bedrückenden Erinnerungen daran und an den Wunden litten, die ihnen von einem System zugefügt worden waren, das sich weiter Teile unseres Kontinents und der Welt bemächtigt hatte und noch immer einen großen Teil der Menschheit beherrscht. Ein neuer Morgen ... Zweifellos dachte der Papst dabei vor allem an diese alten Länder Europas, denen die Botschaft von Fatima im besonderen gilt; aber sicher konnte und wollte er die übrige Welt nicht ausschließen, die zusammen mit Vortrag gehalten vor der Österreichisch-Deutschen Kulturgesellschaft in W i e n am 29. November 1991.
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Europa an dem Dunkel und an dem Licht eines menschlichen Geschehens teilhat, das jetzt mehr als in der Vergangenheit die Geschicke der Völker und der Kontinente mit engen Banden gegenseitiger Abhängigkeit verbindet.
II. Ein neuer Morgen. Wieso Morgen? Und wieso neu? Ein neuer Tag scheint sich also den Augen des Papstes anzukündigen am weiten Himmel der Geschichte, der über Jahrhunderte und Jahrtausende unter den verschiedenen Breitengraden des Erdballs — der in der Unermeßlichkeit des Universums so winzig und für uns, die wir ihn nur kurze Zeit bewohnen, so riesig ist — so viele gegensätzliche Augenblicke von Ruhm und Elend, aufregender Siege und demütigender Niederlagen erlebt hat; leuchtende Ereignisse der Zivilisation und Rückfälle in die Finsternis der Barbarei. Wie viele Morgen sind angebrochen oder schienen aufzugehen bald in diesem, bald in einem anderen Teil der Welt oder auch, wie es scheinen mochte, über der ganzen Welt (wobei die Grenzen des Universums m ; der Unkenntnis dessen, was sich jenseits von ihnen ausbreitete, verwechselt wurden!). W i e oft haben die Völker darauf gewartet und gehofft, daß nach einer langen Nacht das Licht wieder aufgeht! Und wie oft wurde so ein „neuer Morgen" vorhergesehen und angekündigt! Doch wie oft auch haben sich die Voraussagen als falsch erwiesen, und nach dem mehr oder weniger lang anhaltenden Trost der Illusion hat die Wirklichkeit die Bitterkeit der Enttäuschung mit sich gebracht. Es ist daher ein Werk der Weisheit und klugen Vorsicht, „die Zeichen der Zeit" einzuschätzen, um zu beurteilen, ob sie zuverlässig oder illusorisch sind und was sie tatsächlich ankündigen. Gewiß steht die Kälte einer solchen Annäherung i m Gegensatz zu den gefälligen Schwärmereien einer überstürzten und oberflächlichen Deutung, die mehr von den Wünschen dessen gelenkt wird, der sie vornimmt, als von einem anspruchsvollen Bemühen um Objektivität. Daher wird die Wahrheit sehr oft zurückgewiesen: nämlich immer dann, wenn die Prüfungsergebnisse den Erwartungen widersprechen. Eine solche Anstrengung ist jedoch um so nötiger, je größer die aufkeimenden Hoffnungen sind: gerade um größeren Enttäuschungen zuvorzukommen und die Völker und die für ihren Weg Verantwortlichen statt auf
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den unhaltbaren Pfaden der Träume auf dem festgefügten Weg der Wirklichkeit zu führen.
III. Durch die Verbreitung eines „Lichtes", das sich selbst zugleich als großzügig humanistisch und auf stolze Weise wissenschaftlich darstellte, schon im voraus angezeigt, hatte sich am Ende des ersten großen Weltkrieges am Himmel des ehemaligen Zarenreiches der Morgen eines wahrhaft neuen Tages angekündigt. Und er ließ seinen von Drohungen und Verheißungen geröteten Schein auch den Himmel der anderen europäischen Nationen erreichen, vor allem jenen der zerstörten Mittelmächte und der mit ihnen verbündeten und von der Niederlage gestürzten Länder. Jener „Morgen" kündigte das Ende der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, die Befreiung des Proletariats, die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Völker und die solidarische Entwicklung der Völker der Welt, die Beseitigung der sozialen Ungleichheiten, die Erhebung aller Menschen zu gleicher Würde und gleichem Wohlstand an. Eine neue Welt. Und ein neuer Mensch, hervorgebracht von den neuen Strukturen, die mit der Abschaffung des Privateigentums errichtet werden sollten. Ein Mensch, der nicht mehr vom Egoismus beherrscht, sondern von Gefühlen der Selbstlosigkeit bewegt wird und statt um das eigene Wohl um das „Gemeinwohl" besorgt ist. Dieser Wandel mit der radikalen Umgestaltung der Gesellschaftsstrukturen, die er mit sich bringen mußte, würde gewiß stärkste Widerstände hervorrufen und, um sie zu überwinden und zu besiegen, würde man notwendigerweise auch Gewalt anwenden müssen. Doch die Ergebnisse, die mit der Sicherheit eines wissenschaftlichen Lehrsatzes und mit dem Glauben einer neuen Religion vorausgesehen wurden, lohnten sich in den Augen der Marxisten und rechtfertigten sogar jede Anwendung der Geschichte zeugenden Gewalt. Mit einem Gefühl, das i m Lichte all dessen, was dann geschehen ist, kaum zu erklären möglich wäre, erinnere ich mich an ein russisches Manifest aus dem Jahr 1918: „Mit eiserner Faust werden wir die Menschheit zu ihrem Glück zwingen". Der sich ankündigende Morgen der „Sonne der Zukunft" nahm so die fahlen Farben eines gnadenlosen und unbarmherzigen Kampfes und die rote Farbe des Blutes an.
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IV. Unwillkürlich fragt man sich — wie das übrigens schon oft geschehen ist, wobei die Antworten ganz unterschiedlich und gegensätzlich ausfielen —, ob und in welchem Maße und wie lange die Ankündigung, die Vorhersagen und die Verheißungen aufrichtig gewesen sind, das heißt, ob sie einer — zweifellos — illusorischen und utopischen Überzeugung entsprachen, die aber tatsächlich vorhanden sein konnte im Bewußtsein und im Verstand, welche von einer entgleisten und zum Entgleisen bringenden Philosophie und von Reaktionen geblendet waren, die sich, von beklagenswerten Unrechtssituationen gewaltsam entfesselt, nicht um die Gefahr kümmerten, weitere, keineswegs weniger beklagenswerte, sondern noch schlimmere derartige Situationen zu verursachen. Mein Eindruck ist, daß anfangs die Theoretiker der neuen Lehre und die Führer der durch sie inspirierten Bewegung in Wirklichkeit von einer fanatischen Gewißheit getrieben und getragen wurden, die jeden intellektuellen Zweifel und jedes moralische oder humanitäre Zögern beiseite schob (muß man da nicht an Robespierre und die Gefährten seiner Schreckensherrschaft denken?). Ähnliches — für mich fast erschütternd — ließe sich im Hinblick auf die Massen sagen, die, unfähig zu philosophischen Tüfteleien, erbittert waren über das Elend und die abgrundtiefen Ungleichheiten und r,-::Mießlich angesichts des Hungers nach dem Krieg von wildem Zorn gepackt wurden. Aber wie lange und in welchem Ausmaß konnte die „Aufrichtigkeit" (in Anführungszeichen!) dieses Fanatismus angesichts der Prüfung der Wirklichkeit bei den Führern anhalten, die in der Auslegung und Anwendung des marxistischen „Wortes" untereinander oft sehr uneinig waren? Und auch — und noch mehr — bei den reichlich getäuschten und zunehmend, manchmal geradezu in tragischer Weise enttäuschten Massen? Ohne uns auf den Versuch einer vollständigen Antwort einzulassen, die zu viele Unterscheidungen und Präzisierungen erforderte, geht man nicht fehl mit der Behauptung, daß das Licht des „neuen Morgens" sehr rasch nachgelassen und sich verfinstert hat, bis es schließlich in weitem Umfang die verhaltene W u t der Enttäuschung zurückließ. Eigens einzugehen ist natürlich aus sehr verständlichen Gründen auf die Länder, denen nach dem Zweiten Weltkrieg die Einführung des Kommunismus (oder des „realen Sozialismus") bekanntlich von außen zwangsweise auferlegt wurde.
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V. Der Epilog der Jahrzehnte des „realen Sozialismus" in Mittel- und Osteuropa im Jahr 1989/1990 stellte ohne jeden Zweifel den Zusammenbruch einer Illusion dar (wenn auch noch Spuren davon zurückblieben), deren Opfer — Leiden und Unterdrückung von Menschenleben, die materielle Verarmung ganzer Länder und, noch schlimmer, die Zerstörung moralischer Werte bei ganzen Generationen — jedoch so gewaltig waren, daß diese Illusion gewiß in die tragischsten Seiten des langen Menschheitsgeschehens eingehen wird. Jenseits der Gefühle und Meinungen machte dieser Epilog, der als Frucht einer plötzlichen Ungeduld der Geschichte nach einer allzu langen Zeit der Duldung erscheint, den Eindruck, die Welt zu überrumpeln und den Verstand zu drängen, eine überzeugende rationale Erklärung für ein Ereignis von so großer Bedeutung zu finden. Und ich glaube, es war und ist der Mühe wert, diese Suche nicht nur aus einem theoretischen Interesse, sondern auch wegen der praktischen Hinweise, die sich daraus ableiten lassen, fortzusetzen und zu vertiefen. Papst Johannes Paul II. hat bekanntlich das III. Kapitel seiner jüngsten, zum hundertsten Jahrestag der Enzyklika „Rerum novarum" Leos XIII. (15. Mai 1891) veröffentlichten Enzyklika „Centesimus annus" dem „Jahr 1989" gewidmet und einige (in seinen Augen offensichtlich die bedeutendsten) Faktoren des Zusammenbruchs der Regimes Mittel- und Osteuropas angeführt. Niemand, der die historische Wende vom Ende unseres Jahrhunderts, die praktisch mit dem Übergang vom zweiten zum dritten christlichen Jahrtausend zusammenfällt, begreifen will, wird umhin können, über die glänzenden Ausführungen, die der Papst diesem Thema gewidmet hat, nachzudenken. Der entscheidende Faktor, der den Wandel in Gang gebracht hat — schreibt Johannes Paul II. —, ist zweifellos „die Verletzung der Rechte der Arbeit". Ein seltsames Erwachen für „Systeme, die vorgeben, Ausdruck der Herrschaft und der Diktatur der Arbeiter zu sein" (so wörtlich in der Enzyklika), daß es „die Massen der Arbeiter sind, die der Ideologie, die angeblich in ihrem Namen spricht, die Legitimation entziehen"! (Centesimus annus, Nr. 23). Die zweite Ursache der Krise — so der Papst weiter — war zweifellos die Untauglichkeit des Systems. Bei dieser Untauglichkeit — betont Johannes Paul II. — „geht es nicht bloß um ein technisches Problem, sondern vielmehr um die Folgen der Verletzung der menschlichen Rechte auf wirtschaftliche Initiative, auf Eigentum und auf dL· Freiheit im Bereich der Wirtschaft" (Centesimus annus, Nr. 24). 18 Festschrift Schasching
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Und „der Kampf für die Verteidigung der Rechte der Arbeit hat sich spontan mit dem Kampf für die Kultur und die Rechte der Nation verbunden" (ebd.). Als der Papst dann den „jüngsten Ereignissen" des Jahres 1989 tiefer auf den Grund geht, meint er, ihre „wahre Ursache" sei „die vom Atheismus hervorgerufene geistige Leere" gewesen. „Sie hat die jungen Generationen ohne Orientierung gelassen bei ihrer Suche „nach der eigenen Identität und dem Sinn des Lebens". „Der Marxismus hatte versprochen, das Verlangen nach Gott aus dem Herzen des Menschen zu tilgen. Die Ergebnisse aber haben bewiesen, daß dies nicht gelingen kann, ohne dieses Herz selber zu zerrütten" (vgl. ebd.). Andererseits: „Wenn Menschen meinen, sie verfügten über das Geheimnis einer vollkommenen Gesellschaftsordnung, die das Böse unmöglich macht, dann glauben sie auch, daß sie für deren Verwirklichung jedes Mittel, auch Gewalt und Lüge, einsetzen dürfen" (Centesimus annus, Nr. 25). „Dort, wo sich die Gesellschaft so organisiert, daß der legitime Raum der Freiheit willkürlich eingeschränkt oder gar zerstört wird, löst sich das gesellschaftliche Leben nach und nach auf und verfällt schließlich" (ebd.).
VI. Auflösung. Verfall. Verwirrung der Herzen, vor allem bei der Jugend. Auflehnung — wenn auch fast überall friedlich, wie der Papst mit berechtigter Befriedigung feststellt — der Arbeiter gegen eine Ideologie und ein System, die in ihrem Namen zu sprechen vorgeben, in Wirklichkeit aber ihre Rechte und Freiheiten unterdrücken. Durch ebenso viele Ursachen (aber weder ihre Aufzählung noch ihre Vertiefung erheben den Anspruch auf Vollständigkeit) versucht man, einen Zusammenbruch von Regimes zu erklären, die lange Zeit solide und gefestigt geschienen hatten (ja, jemand wagte mit einer ideologischen, zumindest aber geschichtsfeindlichen Überheblichkeit die Prophezeiung: für immer! Als endgültige, von der Geschichte in ihrer unwiderstehlichen dialektischen Bewegung erzielte Synthese!). Das Ende eines Traumes? Eher das Ende einer Nacht: einer Zeit der Träume, gewiß, aber auch der Alpträume. Und mehr einem Alptraum als einem Traum glich für die meisten, die es erlebt haben, das Experiment des „realen Sozialismus" in der Mitte und im Osten Europas zumindest zum Schluß.
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Aber auch in der übrigen Welt haben die Ereignisse von 1989 ein enormes Aufsehen ausgelöst, in dem sich Überraschung, Befriedigung und Erleichterung verbanden. W i e das fast unverhoffte Ende eines Alptraumes. Vor allem auf Grund der Hoffnung, daß nach den noch ungewissen Vorzeichen i m Zusammenhang mit der Machtergreifung Michael Gorbatschows der frontale Gegensatz zwischen zwei Welten endgültig überwunden sei, zwei Welten, die beide mit atomaren Vernichtungswaffen ausgestattet waren und sich beide vor einem unvorhergesehenen Erstschlag des Gegners fürchteten. Obwohl sich alle beide sehr wohl bewußt waren, daß die Natur dieser Waffen auch einen eventuellen „Sieg" in einen Selbstmord verwandeln würde. Dieses Bewußtsein lag übrigens der „Philosophie" der Abschreckung zugrunde: Ihr verdankt man tatsächlich eine Zeit relativer Sicherheit — der Sicherheit des gegenseitigen „Schreckens" —, in einem Gleichgewicht, das sich vor dem drohenden Abgrund einer unaufhaltsamen Zunahme an Feindseligkeit befand, sowie eines unkontrollierten Zornausbruches in einem Klima von Verdächtigung und wachsender Feindschaft, eines Rechenfehlers der Verantwortlichen oder der Computer oder einer Funktionsstörung der Anlagen. Das Ende des weltbeherrschenden Ost-West-Gegensatzes und der atomaren Bedrohung! Das genügte, um das Ende dieses Jahrhunderts in die leuchtenderen Farben des anbrechenden Morgens zu tauchen. Gewiß, der Horizont bleibt noch von vielen dunklen Wolken bedeckt. Tatsächlich braucht der Prozeß der Beseitigung — und einstweilen der schrittweisen Verringerung — der nuklearen Bedrohung in der Welt allemal viel zu lange. Zudem würde ein Einvernehmen zwischen den Vorkämpfern auf diesem Gebiet — angefangen bei den USA und der ehemaligen Sowjetunion — nicht genügen, um die Gefahr des Besitzes von Kernwaffen von Seiten kleinerer Mächte völlig zu unterbinden; in diesem Zusammenhang können auch die Komplikationen des Auseinanderbrechens der Sowjetunion in mehrere Staaten nicht unbeachtet bleiben. Die Hoffnung darf uns jedoch nicht verlassen: Es hat tatsächlich eine Epoche ihr Ende gefunden, und ein neuer Tag der Geschichte ist am Horizont angebrochen.
VII. Außer der atomaren gibt es jedoch auch die Bedrohung durch besonders grausame Todeswaffen (wie chemische, bakteriologische und ähnliche), von denen sich zu trennen der Menschheit scheinbar leider sehr schwer fällt: Die chemischen Waffen waren sogar als „die Atombombe der Armen" bezeich18*
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net worden, gleichsam um das Recht der Länder ohne Atomwaffen auf den Besitz und Gebrauch eben jener Waffen geltend zu machen, solange es in den Händen anderer eine atomare Ausrüstung gäbe. Eine Überlegung, bei der sich schwer beurteilen läßt, ob Unmenschlichkeit oder Folgewidrigkeit überwiegt. Das Licht des neuen Tages bleibt so ernsthaft getrübt von der anhaltenden Überzeugung des Menschen, daß die (wenn auch sozusagen auf die sogenannten konventionellen Waffen — je leistungsfähiger und abschreckender, desto besser! — reduzierte) Stärke der unverzichtbare Schild gegen den möglichen oder befürchteten Übergriff anderer bleibe und das Mittel, um das eigene Ansehen zu schützen und sich das Recht zu sichern, im internationalen Konzert mitzureden. A n dieser Überzeugung zerbrechen oder erlahmen der Wille und die Versuche, das Gespräch über die allgemeine Abrüstung, das Gegenstand von Sondersitzungen der Vollversammlung der Vereinten Nationen war, wirksam voranzubringen. Wer die Geschichte und auch die tatsächliche internationale Situation unserer Tage betrachtet, versteht mühelos die Gründe für die Zurückhaltung und den Widerstand der kleinen und großen Staaten, sich entschlossen auf die Suche nach einer zuverlässigen Neuordnung der internationalen Beziehungen einzulassen, die die Sicherheit aller und den würdigen Platz auch der weniger Mächtigen in der Versammlung der Nationen garantieren soll. Während die UNO die rechtliche und formale Gleichheit aller ihrer Mitglieder sicherstellt, ist sie aus Gründen, die jeder kennt oder ahnt, noch nicht in der Lage, die Respektierung der Rechte aller wirksam zu garantieren und die Krisen zu lösen, die durch die Nichtanerkennung oder Verletzung dieser Rechte hervorgerufen werden. Die Herausforderung des Friedens in Gerechtigkeit, die für alle Geschichtsepochen gilt, erhält heute eine ganz besondere Bedeutung und Dringlichkeit: wegen der verheerenden Erfahrung der Weltkriege und lokalen Konflikte, die wir erlebt haben, und wegen des Wissens um das ständig wachsende Vernichtungspotential der Waffen, die moderne Wissenschaft und Technik, auch im sogenannten konventionellen Bereich, verfügbar machen. Ohne zu vergessen, daß in der Hitze eines Konfliktes und in der möglichen Aufregung angesichts der drohenden Gefahr einer Niederlage sich die Versuchung, zu Atomwaffen zu greifen, übermächtig einstellen könnte: Die einmal erfundene Atomwaffe — so wurde nicht ohne Grund festgestellt — kann nicht mehr „unerfunden" gemacht werden. Der vernünftigste, wirksamste und humanste — und damit der würdigste, ja der einzige menschenwürdige — Weg ist daher der, zu versuchen, die Möglichkeit zu finden, den Konflikten zuvorzukommen und sie dort, wo sie auftreten, gerecht zu lösen.
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Ich bin mir bewußt, daß das utopisch klingen mag. Eine Utopie, von der alle — oder fast alle — weiter behaupten, daß sie sie teilen, an die aber niemand — oder fast niemand — wirklich glaubt: eine fast alltägliche traurige Erfahrung, leider. Aber es ist klar, daß man diese Herausforderung aufgreifen und sich mutig und entschlossen mit ihr auseinandersetzen muß. Sonst besteht die Gefahr, daß der mit den Geschehnissen von 1989 angebrochene „neue Morgen" sein Licht nur auf den für Europa und für die ganze Welt — zweifellos — wesentlichsten Bereich begrenzt sieht: die Überwindung der Ost-WestSpaltung und die energische Fortführung der atomaren Abrüstung. Und daß die Geschichte der Menschheit trotz so vieler und harter Lektionen unwiderstehlich dazu neigt, langsam wieder in alte Grundsätze und Verhaltensweisen zurückzufallen: das heißt, jene der Zeiten, als sich zwar die ideologische Spaltung der Welt noch nicht vollzogen hatte und auch die atomare Abschreckung noch nicht auf den Plan getreten war, jedoch die Welt dauernd von blutigen Konflikten heimgesucht wurde. Der Weg der Menschheit aus der langen „wilden" Periode der Herrschaft der Gewalt in jene „vernünftige" Zeit, in der das Recht vorherrscht, war — und ist leider — noch nicht abgeschlossen. Der am Himmel der Geschichte erschienene „neue Morgen" ist hier eher Ausdruck einer großen Hoffnung als Ankündigung einer Wirklichkeit. Er ist auch und vor allem eine Einladung oder, besser, ein dringend nötiger Anstoß für die heutige Welt, die ihr von einer nahen und fernen Vergangenheit hinterlassenen Lektionen zu begreifen und die „Utopie" einer neuen Art und Weise des Lebens und der Beziehungen in der internationalen Gemeinschaft — wenn auch mühevoll und vielleicht noch nicht vollständig — in die Tat umzusetzen.
VIII. Noch eine andere große Hoffnung und zugleich ein nicht minder dringender Anstoß erleuchtet wie ein neuer Morgen den Himmel der menschlichen Geschichte. Nicht weniger lebenswichtig als der Friede zwischen den Nationen ist für die Welt der soziale Friede. Sein Fehlen lag der Suche nach einer radikalen Lösung zugrunde. Das Scheitern der kommunistischen Antwort hat zu den Geschehnissen von 1989 und 1990 in den Ländern Mittel- und Osteuropas geführt. Sollte das Aufgeben der kommunistischen Lösung lediglich wieder zu der vorkommunistischen Situation führen, bestünde unter anderem die Gefahr, in der einen oder anderen Form einen richtigen Zirkelschluß hervorzubringen
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— mit Leiden und Enttäuschungen im Gefolge, die ein Großteil der Welt bereits kennengelernt hat. Eine weitere Herausforderung verpflichtet also die Menschheit in diesem ihrem neuen Lebensabschnitt, damit es tatsächlich ein neuer Abschnitt werde, der gegenüber einer in Tränen getauchten und mit soviel Blut befleckten Vergangenheit einen Fortschritt darstellt. Daran sind nicht nur die Völker der Länder interessiert, die bereits dem Regime des „realen Sozialismus" unterworfen waren und es gestürzt haben, sondern die gesamte Weltbevölkerung. Ohne einen konkreten dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus vorschlagen zu wollen, hat die Soziallehre der Kirche die Grundsätze von Gerechtigkeit und Gleichheit verkündet — und verkündet sie weiter. Allein diese Grundsätze können, wenn sie hochherzig angenommen und in den verschiedenen Situationen weise angewandt werden, die Errichtung eines Systems von Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zulassen, das den Frieden zwischen den verschiedenen Produktionskräften, der Entwicklung der Produktion selbst und ihrer gerechten Verteilung sicherstellt. Es wird Aufgabe — und Pflicht — von Forschern, Menschen, die im sozialen Leben engagiert sind, Wirtschaftsexperten, Verantwortlichen der Gewerkschaften und Regierungsvertretern sein, diese Grundsätze in die Realität der Ereignisse und Situationen umzusetzen. Eine aufregende Aufgabe, wenn auch voller Schwierigkeiten. Der Gedanke an die nach Brot hungernden, nach Gerechtigkeit und Würde dürstenden Massen in den entwickelten Ländern selbst und in den unermeßlichen, an die Grenzen der Entwicklung anstoßenden Gebieten möge Anstoß dazu sein, sich für sie in den Dienst des Friedens (dessen neuer Name nach dem berühmten Wort Papst Pauls VI. eben Entwicklung lautet) und des ordentlichen und vollständigen Fortschritts jedes Menschen, jedes Volkes, der ganzen Menschheit zu stellen.
IX. Kündigt der neue Morgen, der sich am Himmel der Geschichte gezeigt hat, als der dunkle Schleier fiel, der so lange Zeit weite Teile Europas bedeckt hatte, tatsächlich nicht nur für die europäischen Völker, sondern auch für die übrige Welt einen neuen, freundlicheren und helleren Tag an? Dunkle Wolken verdichten sich in bedrohlicher Weise infolge neuer und alter ungelöster Probleme, infolge ethnischer und politischer Konflikte, infolge sehr ernster Schwierigkeiten bei der wirtschaftlichen Erholung in der nach-kommunistischen Wirklichkeit, bis nicht nur das Gespenst der Not,
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sondern des Hungers auftaucht; und an den Grenzen des Westens haben wir den unmäßigen Druck und die Drohung einer Emigration, ohne daß die Gewähr einer entsprechenden Möglichkeit und Bereitschaft zur Aufnahme dieser Menschen bestünde. Und am Welthorizont die zunehmende Last der Probleme der Dritten W e l t . . . A l l das verlangt gründliches Nachdenken. Es darf jedoch meines Erachtens nicht zu dem entmutigten und defätistischen Pessimismus derer führen, die das Licht des neuen Tages erlöschen sehen, noch ehe es über der Erde aufgeht. Ich möchte hier eine tiefe Überzeugung wiederholen: Die Menschheit hat die Möglichkeit, die Herausforderungen zu bewältigen, die sich an diesem Jahrhundert- und Jahrtausendende auf ihrem Horizont abzeichnen. Es ist ihr wahrhaftig ein neuer Morgen geschenkt worden: Und die Überraschung über das von wenigen oder von niemandem erwartete Geschenk ist noch nicht abgeklungen. Der Tag, den die Morgenröte der Welt angekündigt hat, wird ihre Errungenschaft sein müssen. Schwierig, sehr beanspruchend, aber möglich. Es wird nicht an Enttäuschungen und Augenblicken des Mißtrauens fehlen. Aber Ausdauer und Hochherzigkeit werden die weitreichendsten und vollständigsten Ergebnisse ermöglichen, die wir nur wünschen können. Als wesentliche Voraussetzung dafür erscheint unter anderem die Vereinigung der Bemühungen. Denn obwohl sie über den Riesenraum des Erdkreises verstreut sind, tendieren die Bedürfnisse der Menschen gleichsam natürlicherweise dahin, sich zusammenzuschließen, wodurch nicht nur ihre Last und Schwierigkeit vergrößert wird, sondern aus vielfältigen getrennten Problemen ein einziges oder verschiedene größere Probleme gemacht werden, deren Lösung den einzelnen Staaten nicht möglich ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit konzentrierter, koordinierter und organisch vereinigter Forschungen und Anstrengungen, um der Zusammenarbeit aller auf Welt-, kontinentaler und regionaler Ebene größere Wirksamkeit zu verleihen. Auch hier offenbart sich also die Glaubwürdigkeit der besonders von den Päpsten unserer Zeit so oft wiederholt bekundeten Überzeugung von der Notwendigkeit einer übernationalen, ja Welt-Autorität, die mit ausreichenden Vollmachten ausgestattet ist, um Probleme von weltweiten Ausmaßen bewältigen zu können. Wenn auch hier nicht der Ort ist, um auf eine so ernste und komplexe Frage konkret einzugehen, soll es mir dennoch gestattet sein, zum Abschluß meiner Überlegungen dem glühenden Wunsch Ausdruck zu geben, daß sich die ganze Menschheitsfamilie überall auf Erden immer mehr ihrer Einheit in
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Agostino Kardinal Casaroli
den lebenswichtigsten Problemen und Bedürfnissen und daher auch der Notwendigkeit des Zusammenschlusses im Kampf um den Sieg bewußt werden möge, wenn sie nicht vor der Aussicht einer Niederlage kapitulieren will, die am Ende niemanden, weder Kleine noch Große, weder Schwache noch Starke, verschonen würde. Während die Erfahrungen der Geschichte immer stärker zur Suche nach dieser Einheit und zu ihrer Verwirklichung veranlassen, in einer Welt, die die Entwicklungen der Wissenschaft und der Technik immer kleiner und voneinander abhängig machen, hat es leider den Anschein, daß die Berücksichtigung der eigenen Sonderinteressen, mit anderen Worten, der radikale Egoismus der Menschen und der Völker diese Welt geradezu blind dazu treibt, die jahrhundertealten Irrtümer von Zwietracht und Kampf zu wiederholen, die die Menschheit so viele Schmerzen, Verzögerungen und Rückschritte gekostet haben. Immer wieder erheben die Päpste ihre Stimme — sie ist nicht die einzige, aber eindringlich und von besonderem Ansehen, weil sie sich nicht auf nur legitime und höchste Interessen, sondern auf zutiefst moralische Gründe beruft —, um an eine lebenswichtige Forderung zu erinnern und dadurch zu vermeiden, daß unser, in der Geschichte so einzigartiges Zeitalter in eine melancholische Untergangsstimmung und in die Angst vor bedrohlichen Umwälzungen abgleitet, statt sich in dem ermutigenden Licht einer schöpferischen Hoffnung mit der Gegenwart und Zukunft auseinanderzusetzen.
ZUR FRAGE N A C H DEM HEUTIGEN VERSTÄNDNIS KULTURELLER RECHTE Von Hervé Carrier S.J.
Um die komplexe Problematik kultureller Rechte zu verstehen, nehmen wir als Ausgangspunkt eine sehr konkrete Frage: Kann ein in einem afrikanischen Land geborenes Kind vom Gesetz her eine kulturelle Entfaltung beanspruchen, wie sie normalerweise einem jungen Europäer aus gut situierter Familie geboten wird? Ist die Situation dieser zwei jungen Menschen vergleichbar in bezug auf das Recht, von den Errungenschaften der Wissenschaft, der Kunst, der Zivilisation zu profitieren? Unsere heutige Auffassung über die Menschenrechte legt uns nahe, auf die eben gestellte Frage bejahend zu antworten. Aber der spezifische Charakter kultureller Rechte verlangt eine genauere Untersuchung der Grundlage des Rechtes auf Kultur und des Rechtes der Kultur, denn das Recht, an den kulturellen Gütern teilzuhaben, wirft ein Problem sui generis auf, das es zu vertiefen gilt. Durch die Beziehung zwischen Kultur und Recht entstehen neue und ständig sich verändernde Fragen, wie aus den seltenen Systematisierungsversuchen hervorgeht, die die Kulturpolitik der Staaten und die Rechtsprechung bezüglich Kultur und kultureller Güter darstellen. W i r wollen die Frage von einem doppelten Gesichtspunkt her angehen, von dem der Ethik und dem der politischen Rechte, wodurch es uns möglich wird, auf die fortschreitende Entwicklung in der sozialen Auffassung und in der Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu achen. Beginnen wir mit dem politischen Aspekt.
I. Politische Rechte Auf der politischen Ebene im eigentlichen Sinn ist das Wesentliche darin zu sehen, daß die Kultur heute als Recht der Bürger gesehen wird, dem eine Verpflichtung von Seiten des Staates entspricht. Das allgemeine Recht erkennt von früher her dem Künstler oder Schriftsteller ein unveräußerliches Recht auf sein Werk zu. Ebenso hat der Inhaber von kulturellen Gütern oder Kunstwerken ein Recht, das ihm als Besitzer durch das Gesetz zugesichert ist.
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In der heutigen Zeit ist die Problematik der kulturellen Rechte unter dem Einfluß einer doppelten Entwicklung erheblich angewachsen. Einerseits hat der Begriff Kultur, der sich früher auf die intellektuelle, humanistische oder künstlerische Dimension beschränkte, jetzt eine sozio-historische Bedeutung angenommen, die alle unterscheidenden Merkmale einer bestimmten Gruppe von Menschen und alle auf ihre kulturelle Identität sich beziehenden Rechte umfaßt. Im übrigen sah sich der moderne Staat veranlaßt, gerade im Hinblick auf die erweiterte Auffassung vom kulturellen Leben, die Kultur als Gegenstand einer eigenen Politik zu betrachten. Die Entwicklung verlief langsam, die einzelnen Stufen sind aufschlußreich. In einer ersten Etappe verpflichtet sich der Staat, „die Freiheit nicht zu behindern", sie „nicht einzuschränken". Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sagt zum Beispiel: „Die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Rechte des Menschen: Jeder Bürger kann also frei sprechen, schreiben, veröffentlichen, ausgenommen in Fällen des Mißbrauchs dieser Freiheit, die im Gesetz festgelegt sind." (Art. 11). Der diesem Artikel zugrundeliegende Liberalismus zeigt noch die Politik des Gewährenlassens auf dem Gebiet der Kultur in den Ländern, die, wie die Vereinigten Staaten, keine offizielle Politik der Kultur betreiben. Vorausgesetzt ist hierbei, daß der einzelne nach seinen Möglichkeiten und Mitteln sich frei äußern, sich weiterentwickeln und -bilden kann. Die Kultur, so meint man, ergibt sich aus der freien Initiative und dem freien Wettbewerb. Man muß dieser Auffassung ankreiden, daß sie schwerwiegende kulturelle Unterschiede in weiten Teilen der Bevölkerung bestehen läßt, dies sogar in den reichen Ländern. In Europa hingegen machte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Tendenz geltend, die den Staat zum Eingreifen auf kulturellem Gebiet veranlaßte. W i r wollen uns nicht bei den Bestrebungen der östlichen Länder aufhalten, in denen die Regierungen, vor 1989 jedenfalls, die marxistische Ideologie mit der offiziellen Kultur zu vermengen suchten. Die Staaten Westeuropas, die dem Europarat eingegliedert waren, der sich den Ländern des Ostens gegenüber allmählich öffnete, haben gemeinsam eine Theorie und eine Praxis entwickelt, die der staatlichen Autorität eine positive Verantwortung für die Verteidigung des Rechts auf Kultur und für die Förderung der kulturellen Entwicklung aller Bürger und aller Volksgruppen zuwies. Die Vereinten Nationen, insbesondere UNESCO, haben beträchtlich zur Reifung eines allgemeinen Bewußtseins auf dem Gebiet der kulturellen Rechte, der Politik der Kultur und der kulturellen Entwicklung beigetragen.
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Es sei besonders auf die Erklärung von Mexiko über die Kulturpolitik (1982) hingewiesen, auf die wir später noch zurückkommen werden.
II. Internationale Einrichtungen zu kulturellen Rechten Unter den wichtigsten internationalen Dokumenten, die sich auf die kulturellen Rechte beziehen, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu nennen, die 1948 von den Vereinten Nationen angenommen wurde und die ausdrücklich das Recht auf Erziehung und kulturelle Bildung als unabdingbar anerkennt. Es wird betont, daß die Erziehung auf „die volle Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen", auf Verständnis und friedliche Gesinnung abzielen muß (Art. 26). Insbesondere ist auf Artikel 27 hinzuweisen, der sich noch deutlicher auf die Kultur bezieht: „Jede Person hat das Recht, in Freiheit am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, sich an den Werken der Kunst zu erfreuen, vom wissenschaftlichen Fortschritt und den sich daraus ergebenden Vorteilen Nutzen zu haben. Jeder hat das Recht auf Schutz moralischer und materieller Interessen, die mit seinen Leistungen als Urheber in Wissenschaft, Literatur oder Kunst gegeben sind." Im Jahre 1966 bekannten sich die Vereinten Nationen zur Internationalen Abmachung bezüglich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Diese Abmachung stellt für die Unterzeichner-Staaten eine juristische Verpflichtung dar, sie ist nicht nur eine moralische Direktive, wie die Erklärung von 1948. Artikel 15 legt die kulturellen Rechte jeder Person fest: „Die an der vorliegenden Abmachung beteiligten Staaten gestehen jedem das Recht zu, a) am kulturellen Leben teilzunehmen, b) vom wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Anwendung zu profitieren, c) den Schutz moralischer und materieller Interessen zu beanspruchen, die mit jeder seiner Leistungen als Urheber in Wissenschaft, Literatur oder Kunst gegeben sind." Die Staaten verpflichten sich außerdem, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um „Erhaltung, Entwicklung und Verbreitung von Wissenschaft und Kultur" zu gewährleisten und „Zusammenarbeit und internationale Kontakte auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Kultur" zu ermöglichen (Art. 15). In der Erklärung über das Recht auf Entwicklung von 1986 erweiterten die Vereinten Nationen die kulturellen Rechte, indem sie sie den Rechten der „dritten Generation" gleichsetzten (die der ersten Generation sind die zivilen und politischen Rechte; die der zweiten sind die wirtschaftlichen und sozialen Rechte; die der dritten Generation beziehen sich auf ein Recht der Solidarität, auf ein kollektives Recht des Menschen und auf Rechte von Gesamtheiten). Die Erklärung führt eine A r t Solidarität zwischen den
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zivilen, den wirtschaftlichen und kulturellen Rechten ein: alle diese Rechte werden als „unteilbar" betrachtet. Artikel 6 betont dies wie folgt: „Die Verwirklichung, die Förderung und der Schutz der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte muß gleichermaßen beachtet und mit gleicher Dringlichkeit behandelt werden." Diese Erklärung beinhaltet keine zwingende Verpflichtung, und manche Fachleute wollen die Rechte größerer Einheiten nicht annehmen, denn sie sind nicht präzis genug gefaßt, juridisch schwierig einzufordern, und es besteht die Gefahr, daß sie den Rechten der Einzelperson zuwiderlaufen. W i r wollen nicht in die juridische Diskussion eingreifen, doch ist es interessant zu sehen, welch neue und umfassende Bedeutung diese Erklärung dem Recht auf ganzheitliche Entwicklung der Person und der Völker einräumt: „Das Recht auf Entfaltung ist ein unveräußerliches Recht des Menschen, kraft dessen jede menschliche Person und jedes Volk das Recht hat, an der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Rechte des Menschen und jede grundlegende Freiheit voll verwirklicht werden können, teilzuhaben und dazu beizutragen und Nutzen davon zu haben" (Art. 1). Wenn man einerseits die Unterscheidung zwischen juridischer und moralischer Ebene betrachtet, so ist es doch auch wichtig, das Prinzip universaler Solidarität angesichts der durch das Wachstum der Menschheit entstehenden Erfordernisse anzuerkennen. Als Paul VI. sich an die Internationale Organisation der Arbeit wendet, zögert er nicht, das „solidarische Recht der Völker auf ganzheitliche Entwicklung" herauszustellen (6. Juni 1969). Die gleichen Prinzipien werden von den Vereinten Nationen aufgegriffen, wenn sie ein Weltjahrzehnt der kulturellen Entwicklung ausrufen (1988-1997). Der Begriff kulturelles Recht findet, wie man sieht, ein immer ausgedehnteres Anwendungsfeld: die Personen, die Völker, die Entwicklungsländer, die Gemeinschaft der Nationen. Eine besonders bezeichnende Anwendung bezieht sich auf das Kind. Die Vereinten Nationen haben sich in der Internationalen Konvention der Rechte des Kindes von 1989 damit befaßt. Diese Konvention ist, i m Gegensatz zur 1959 formulierten und „Erklärung der Rechte des Kindes" genannten Charta ein juridisches Instrument, das Gesetzeskraft hat. Mehrere erzieherische und kulturelle Aspekte in dieser neuen Konvention sind hervorzuheben. Dem Kind wird das Recht zugesichert, nach Maßgabe seines Alters und seiner Reife (Art. 12), in beträchtlichem Umfang seine Meinung zu äußern und zur Bildung und Äußerung dieser Meinung die verschiedensten Mittel zu gebrauchen, die künstlerische Ausdrucksweise eingeschlossen (Art. 13). Die Unterzeichner-Staaten verpflichten sich, das Recht des Kindes auf Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion zu schützen (Art. 14). Sie bestätigen die Wichtigkeit der Medien als Vermittler nationaler und internationaler Kultur in der ersten Bildungsphase des Kindes. Sie ermun-
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tern zur Beschaffung von „Mitteln, die in sozialer und kultureller Hinsicht für das Kind nützlich sein können", und zum Austausch von Material, „das aus verschiedenen kulturellen, nationalen und internationalen Quellen stammt". Die Staaten ermuntern systematisch zur Herstellung von Kinderbüchern, wobei sie fordern, daß man „den sprachlichen Bedürfnissen der einheimischen und der minoritären Gruppen angehörenden Kinder Rechnung trage" (Art. 17). Die Konvention erinnert an das Recht der behinderten Kinder, eine wirkliche Erziehung zu bekommen, da als Ziel ihre „möglichst vollkommene soziale Integration und ihre persönliche Entfaltung, auch auf kulturellem und geistigem Gebiet, anzustreben ist" (Art. 23).
III. Ethische Grundlage kultureller Rechte Wie aus dem eben gebotenen Überblick hervorgeht, macht die Entwicklung des internationalen Rechts eine umfassendere Betrachtungsweise über das ethische Fundament der kulturellen Rechte erforderlich. Die ethische Voraussetzung für die kulturellen Rechte ist klar zu erkennen in dem Begriff Kultur, wie er 1982 von der UNESCO in der Erklärung von Mexiko gebraucht wird. Kultur wird in der folgenden Weise beschrieben: „Sie umfaßt außer Kunst und Wissenschaft auch die Lebensweise, die fundamentalen Rechte des Menschen, die Wertsysteme, die Tradition und die Glaubensüberzeugung". Die Kultur ist Teil „der fundamentalen Rechte des Menschen", gerade weil sie dem Menschen „die Fähigkeit zur Reflexion über sich selbst gibt, sie ist es, die aus uns spezifisch menschliche, vernünftige, kritische und ethisch engagierte Wesen macht" (vgl. Erklärung von Mexico zur Kulturpolitik, UNESCO 1982). Das Recht auf Kultur und das Recht der Kultur ist mithin an ein fundamentales menschliches Recht gebunden, das jedem positiven Gesetz vorausliegt. Wenn der Mensch sich nur durch die Kultur verwirklicht, so ist diese eine Lebensnotwendigkeit, die genau so dringend ist wie die primären Bedürfnisse im biologischen Bereich. Es handelt sich um das Recht auf ein im eigentlichen Sinn menschliches Leben. Dieses erste Recht ist konstitutiv und begründet die Vielgestaltigkeit der kulturellen Rechte. Es ist unmöglich, hier alle Varianten aufzuzählen. Nennen wir im besonderen das Recht auf die erste Ausbildung, auf Einschulung, auf Grundausbildung, auf berufliche Schulung, auf Zugang zur höheren Schule, auf Arbeit, auf Berufsausübung, auf ständige Weiterbildung, auf freie Meinungsäußerung, auf Information und Kommunikation, auf schöpferische Tätigkeit, auf guten Ruf, auf Wahl des Lebensstandes, auf Gründung einer Familie, auf Vereinsmitgliedschaft, auf Reisefreiheit. Eine ins einzelne gehende Aufzählung dieser grundlegenden Rechte findet sich in der Enzyklika „Pacem in terris" von Johannes XXIII. (1963).
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Wenn man nach der ersten Grundlage für das Recht auf Kultur fragt, so ist sie zu finden in der radikalen Freiheit des menschlichen Geistes, die sich auf die Freiheit des Gewissens gründet, die jedem einzelnen Verantwortung für sein eigenes Schicksal zuerkennt. Der Mensch kann nur wachsen in der Suche nach dem Sinn und in der Öffnung auf Transzendenz hin. Die Kultur bietet die Gewähr für diese unerläßliche Freiheit des Geistes. Das Recht auf Kultur ist wesentlich verknüpft mit der religiösen Freiheit. Johannes Paul II. sagt dazu in der Enzyklika „Centesimus annus" (1991) folgendes: „In gewisser Weise ist die Quelle und die Synthese dieser Rechte die religiöse Freiheit, verstanden als Recht des einzelnen, in der Wahrheit seines Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde seiner Person zu leben" (Nr. 47). Alle diese Rechte betreffen die Person, aber es gibt dabei auch einen sozialen Aspekt, so daß es schwierig ist, allzu genau zwischen individuellen und kollektiven Rechten zu unterscheiden. Von letzteren ist zu nennen das Recht auf nationale Identität, die durch eine adäquate staatliche Autorität gesichert ist, das Recht auf Sprache, das Recht der Minderheiten, das Recht auf kulturelle Entwicklung und für jedes Volk das Recht, die Bedingungen für diese Entwicklung zu schaffen: insbesondere die Infrastruktur eines Erziehungssystems, ein Netz freier Kommunikation, ein Rechtssystem und die Mittel für eine Politik der Kultur, des kulturellen Erbes und der Forschung.
IV. Anwendung der iustitia distributive auf die kulturellen Güter? Nach Erstellung des ethischen Prinzips, das das Recht jedes Menschen auf Kultur begründet, gilt es nun zu fragen, wie die kulturellen Güter tatsächlich den einzelnen Personen und Gruppen zugänglich gemacht werden können. Das ist die Frage nach der allgemeinen Bestimmung der kulturellen Güter. W i e soll man in einer Welt ständig wachsender gegenseitiger Abhängigkeit die Teilhabe von einzelnen und von Gruppen an den kulturellen Gütern verstehen? M i t anderen Worten: Können die Regeln der iustitia distributiva im strengen Sinn auf den Bereich der kulturellen Güter und Rechte angewendet werden? Zunächst ist eine Klärung bezüglich der Mitteilbarkeit kultureller Güter unerläßlich. Das hängt mit der Natur der Kultur, mit der Art, sie zu erwerben und weiterzugeben zusammen. Bei dieser Frage, die sowohl die Kultur wie auch die Ethik berührt, ist unser Hauptaugenmerk auf das Wohl der Person gerichtet, der Schöpferin und Nutznießerin des kulturellen Fortschritts. In einer personalistischen Betrachtungsweise ist es nun aber jeder einzelne Mensch, der sich durch Lehrzeit, durch Einübung des Intellekts, durch
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Vertiefung seiner Kenntnisse und durch die schöpferischen Tätigkeiten seines Geistes vervollkommnet. Es ist eine Eigenschaft einer Person, die man kultiviert nennt, daß sie es verstand, ihre Talente zu entfalten. Die Kultur verlangt gewiß die Weitergabe von Kenntnissen, aber sie ist von Grund auf Ergebnis eines Bemühens der persönlichen Aneignung und persönlicher Vervollkommnung. Sie ist Ergebnis einer Selbstentwicklung und -bereicherung, denn die Person formt und bildet sich selbst. Niemand sonst kann diese Stelle einnehmen. Diese Einzigartigkeit und Unmittelbarkeit sollten wir in der Kultur jeder Person anerkennen. W i r werden dessen gewahr, wenn der Tod uns einen großen Gelehrten oder bedeutenden Künstler wegnimmt. Darum auch das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes für die Kultur. Jeder unterscheidet sich durch die Kultur seiner eigenen Talente und durch die Erwerbung von Kenntnissen und Erfahrungen, die ihn menschlich haben wachsen lassen. Fügen wir aber sogleich hinzu, daß der echte Fortschritt der Person als Gegenstück einen beständigen Austausch i m Schöße der menschlichen Gemeinschaft erfordert, sonst würde eine sich selbst genügende Abkapselung zum geistigen Tod führen. Was ich weiß, ist gleichermaßen persönliche Aneignung wie auch Bereicherung, an der ich mit anderen Anteil habe. Die Wissenschaft, die Kunst, die Kultur erfordern sowohl persönliche Aneignung wie auch Austausch mit der Gesamtheit. Das Wissen, das Können, die Lebensart werden so zu einem Attribut der einzelnen Personen wie der ganzen gebildeten Gesellschaft. Dieser Wert muß als unerläßliches Gut und Recht verteidigt werden, das den einzelnen und Gruppen von Menschen charakterisiert.
V. Gemeinsame kulturelle Werte Jede menschliche Gemeinschaft wird gerade von ihrer Kultur her bestimmt, d. h. von der ihr eigentümlichen und einmaligen Weise, das Leben zu begreifen, zu urteilen, sich zu verhalten, Werke und Institutionen zu schaffen, die den materiellen und sozialen Raum vermenschlichen. Eine in dieser Weise verstandene Kultur bestimmt die Identität jeder menschlichen Gemeinschaft. Das ist der oberste Wert, das typisch kulturelle Erbe und der typische Lebensentwurf, den keine Gesellschaft darangeben kann, ohne sich selbst zu zerstören. Hierin liegt ein grundlegendes Recht. Aber die Kultur von Gruppen wie von einzelnen kann nicht überleben in der Isolierung, es besteht die Gefahr der Absonderung, der Entmenschlichung und der Unkultur. Die Förderung der kulturellen Identität verlangt mithin mit einer A r t innerer Notwendigkeit das Verständnis und den Dialog unter den Kulturen. Diese Wechselbeziehung unterstreicht die Abhängigkeit der kulturellen
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Werte jeder Person und jeder Gruppe voneinander. Man sieht, wie sehr die allumfassende Rolle der geistigen Werte durch freien Austausch und gegenseitige Bereicherung gefördert wird. Es ist in der Tat Eigenart der kulturellen Güter, daß man sie mitteilen kann, ohne dadurch ärmer zu werden. Für gewöhnlich ist eher das Gegenteil der Fall: Wenn eine Kultur sich ausbreitet, so wird sie vertieft und erlangt größere allgemeine Bedeutung. Die menschliche Solidarität wäre demnach illusorisch, wenn man nicht eine doppelte Notwendigkeit berücksichtigte: Zunächst ist es das Wachstum und die Bewahrung des kulturellen Reichtums, der jeder Person und jeder Gesellschaft eigen ist. Sodann ist es zugleich die gegenseitige Befruchtung der Einzelkulturen, was eine nicht versiegende Quelle der Bereicherung für die menschliche Kultur insgesamt darstellt. Ein gemeinsamer Kulturbesitz drängt sich heute als Forderung auf, deren sich die moderne Gesellschaft deutlicher bewußt wird. Demgegenüber besteht die Notwendigkeit der kulturellen Demokratisierung. Die Kultur konstituiert ein eigenes Recht, aber sie fordert zugleich eine gemeinsame Verpflichtung gegenüber der Kultur der Gesamtheit. Wenn man die Dringlichkeit der Entwicklung aller Menschen und aller Völker vor Augen hat, versteht man besser die Rolle der Wissenschaft, der Kunst und der Kultur im Fortschritt der menschlichen Gesellschaft. Neue ethische Probleme stellen sich dem allgemeinen Bewußtsein und dem christlichen Denken. Nennen wir einige der neueren Entwicklungen, die zusammenfassend folgendermaßen formuliert werden können: die Sozialisierung der Wissenschaft, der Aufschwung der kulturellen Entwicklung, die Politisierung der Kultur, die kulturelle Demokratisierung.
VI. Die Wissenschaft, ein sozialisierter Wert Die Wissenschaft ist nicht mehr nur Sache der Gelehrten als Einzelpersonen. Die Wissenschaft stellt jetzt eine wirkliche Institution der Gesellschaft dar. Der wissenschaftliche Sektor bedeutet eine beträchtliche Macht, die eine gemeinsame Verantwortung von in der Wissenschaft tätigen Männern und Frauen zur Förderung einer gerechten, friedlichen und brüderlichen Gesellschaft beinhaltet. Die Wissenschaft hat sich sozialisiert, und die Gruppen oder Forschungszentren sind nunmehr Normen und Verhaltensregeln unterworfen, die vom Gemeinwohl her gefordert werden. Ein neues Recht in bezug auf die Wissenschaft, für ihre Aneignung und Anwendung nimmt immer mehr Gestalt an. Der moderne Staat sieht sich so vor der Aufgabe, eine Politik der Wissenschaft zu definieren, um der Nation in den Hauptdisziplinen ein passendes Rüstzeug an die Hand zu geben, die für den Fortschritt in der
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Industrie, in der Medizin, für die Verteidigung, die Grundlagenforschung, die Lebensqualität von vitalem Interesse sind (erinnern wir nur an die wachsende Bedeutung der Humanwissenschaften). Kriterien einer gemeinsamen Teilhabe am Fortschritt der Wissenschaft gehören nunmehr zu einer aufgeklärten Politik. Die Aufgabe wird schwierig durch die einfache Tatsache, daß die Wissenschaft rasch fortschreitet, daß das Wissen sich nahezu unbegrenzt vermehrt und die Spezialisierung in den Disziplinen maßlose Formen annimmt, was oft, von Fachleuten und Eingeweihten abgesehen, eine objektive Situation mangelnden Austausches schafft. W i e kann also die Gesellschaft die Anwendung der Wissenschaft zum Nutzen aller kontrollieren? Der internationale Aspekt der Wissenschaftspolitik stellt noch verwickeitere Probleme dar, über das (vermeintliche oder wirkliche) Recht der Geheimhaltung, die Achtung für Patente und Autorenrechte hinaus. Die Politik und die Praxis der reichen Länder neigen dazu, auf dem Gebiet der Wissenschaft eine neue Situation der Abhängigkeit oder der kulturellen Kolonisierung zu schaffen. Die Mitteilung von Fortschritten in der Wissenschaft unter den Nationen erfordert viel Verständigkeit und Großzügigkeit von Seiten der wissenschaftlichen Welt und der verantwortlichen Politiker. Ihre Verantwortung ist angesichts der auf dem Spiel stehenden Entwicklung bei allen Völkern unvorstellbar groß.
V I I . Recht auf kulturelle Entwicklung Der Begriff kulturelle Entwicklung stellt heute die humanistische und ethische Dimension des Fortschritts der Völker heraus. Eine richtig verlaufende Entwicklung erfordert die Teilhabe an den wirtschaftlichen wie kulturellen Errungenschaften des menschlichen Fortschritts. Die Erfahrung hat uns in reichem Maße gelehrt, daß die Entwicklungsprojekte Enttäuschung mit sich bringen oder gar illusorisch sind, wenn sie auf die wirtschaftlichen oder technischen Aspekte beschränkt bleiben, indem sie die Identität der Völker und ihrer kulturellen Bestrebungen außer acht lassen. Keine menschliche Gemeinschaft kann Fortschritte machen, wenn der Verlust ihrer eigenen Seele und Kultur dabei zu beklagen ist. Aber um an die Vorteile der Modernisierung Anschluß zu finden, müssen sich die in der Entwicklung befindlichen Völker einer schwierigen Wahl stellen: Wenn sie die moderne Wissenschaft und Kultur einlassen, so müssen sie die Elemente herausfinden, die mit ihrer überkommenen Kultur vereinbar sind. Sie müssen sich im übrigen auch fragen, was die überkommenen Werte sind, die es in einem aufstrebenden Land, das seine nationale Identität bewahren will, zu erhalten gilt.
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Die Vorteile, die sich aus Wissenschaft und Technik ergeben, nehmen heute eine wichtige Stelle in der Entwicklung der Völker ein. Johannes Paul II. hat so formuliert: „In unserer Zeit gibt es eine andere Form von Eigentum, die der des Besitzes von Grund und Boden nicht nachsteht: das Eigentum der Bildung, der Technik und des Wissens. Der Reichtum der industrialisierten Länder gründet sich mehr auf diese A r t des Eigentums als auf jene der natürlichen Quellen" (Centesimus annus 1991, Nr. 32). Die Herausforderung an die industrialisierten Länder ist die, mit den Enwicklungsländern herauszufinden, wie diese am Fortschritt des technischen know-how teilhaben können. Es müssen auf beiden Seiten verantwortungsbewußt Entscheidungen getroffen werden. Wenn diese Entscheidungen nicht rechtzeitig erfolgen, so besteht die Gefahr, daß die Kultur der reichen Nationen jene der Entwicklungsländer auslöscht. Diese verlangen lebhaft danach, aller Errungenschaften der Wissenschaft und des kulturellen Schaffens teilhaft zu werden, und die Entwicklungsprogramme müssen gewiß diesem Bedürfnis Rechnung tragen. Aber nur im verantwortungsbewußten Dialog zwischen reichen und armen Ländern kann die Mitteilung in kulturellen Dingen der doppelten Forderung nach Anerkennung der nationalen Identität und der freien Teilhabe an den Werten der Erziehung, der Wissenschaft und der Kunst nachkommen, die im Laufe der Zeit gemeinsames Erbe der Menschheit werden sollen. Es ist auch zu sagen, daß dieses Erbe das reiche Brauchtum, das künstlerische Vermächtnis, die Weisheit und die Philosophie der traditionellen Kulturen einschließt. Diese Erfordernisse veranlassen die Staaten nunmehr, sich eine wirkliche Politik der Kultur zu eigen zu machen, worauf schon im ersten Teil hingewiesen wurde. Für das zu erreichende Ziel ist die Verteidigung und Förderung des gemeinsamen kulturellen Erbes der Nation das Minimum: Landschaft, Denkmäler, traditionelle Kunst und Volkskunst, Archive, literarische und künstlerische Werke. Eine anspruchsvollere Zweckbestimmtheit macht sich nun immer mehr geltend: sie ist ausgerichtet auf kulturelle Demokratisierung, nach der alle Bürger und alle Gruppen die Möglichkeit haben sollen, die Vorteile der Wissenschaft, der Erziehung, der Kunst, der ständigen Weiterbildung zu nutzen. Dies ist ein Recht, das ihnen vom modernen Staat ausdrücklich zuerkannt wird.
VIII. Kultur und allgemeine Gerechtigkeit Das Gleichgewicht zwischen kultureller Identität und gegenseitiger Abhängigkeit der Kulturen ist nicht leicht zu verwirklichen. W i e kann der einzelne und eine Gruppe von Personen die eigene Identität bewahren, wenn die Kultur anderer angenommen wird? Das ist ein akutes Problem für Immigranten und Minderheiten.
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Eine gewisse weltweite Verbreitung der Kultur als Folge einer größeren Abhängigkeit aller Völker voneinander ist zu bejahen, die Gerechtigkeit verlangt jedoch, daß das jeder Kultur eigene Gut geschützt und gefördert wird, anderenfalls besteht allgemein die Gefahr der Uniformität der Kulturen. Gewiß, die Errungenschaften der Wissenschaft, der Technik, der Kunst tragen zum Fortschritt der einzelnen und aller Völker bei, aber das wirkliche Mitteilen der kulturellen Güter verlangt, daß die Gesetze des freien Austausches unter den betroffenen Partnern respektiert werden. Wenn dieses grundlegende Gesetz nicht anerkannt wird, so gilt das Gesetz des Stärkeren, wie dies leider in bestimmten Situationen des kulturellen Kolonialismus und Imperialismus der Fall ist. Die tatsächliche Teilhabe aller an den Gütern der Kultur hat mit der Gerechtigkeit im allgemeinen zu tun. Heute wird das Prinzip allgemein anerkannt, auch wenn seine Anwendung sich als sehr komplex erweist, gerade wegen der Beschaffenheit der kulturellen Güter und der Art, wie sie erworben werden. Kehren wir zu unserer zentralen Frage zurück: Kann die iustitia distributiva auf die Mitteilung kultureller Güter angewendet werden? Vielleicht, aber in einer ganz besonderen Weise. Kulturelle Güter verteilt man nicht wie materielle. Es geht nicht darum, einfach die Summe aller Erkenntnisse und künstlerischen Leistungen unter allen Menschen zu verteilen, vielmehr soll jeder einzelne intellektuell befähigt werden, in aller Freiheit zu den Schätzen des Wissens, der Wissenschaft und der Kunst Zugang zu haben. Es handelt sich um eine höhere Gerechtigkeit oder um ein fundamentales Recht, das es jedem Menschen ermöglicht, sich als menschliches Wesen zu verwirklichen. Um von den kulturellen Gütern Nutzen zu haben, braucht es vorgängig eine Erziehung, dann eine allmählich weitergehende Einführung, die Aufmerksamkeit und langes Bemühen erfordert. Das ist eine Aufgabe, die nie zum Ende kommt, denn die Schätze der menschlichen Kultur sind unerschöpflich, wobei jene der theologischen Erkenntnis und der sakralen Kunst eingeschlossen sind. Ein ungeheurer ethischer Fortschritt wäre erzielt, wenn unsere Zeitgenossen überzeugt wären, daß alle Mittel der Wissenschaft und der Kunst stets mehr beitragen sollen zur intellektuellen und geistigen Vervollkommnung aller Menschen. Es ist dies eine Forderung der Gleichheit und Gerechtigkeit, die das moderne Recht jetzt zu formulieren sucht. Die internationale Gemeinschaft gibt, wie man sehen konnte, eine immer umfassendere Interpretation der Rechte und der mit ihnen verbundenen Pflichten, die die Teilhabe aller an den kulturellen Gütern betreffen. Die juridische Tragweite der offiziellen Erklärungen und Konventionen wird wohl immer genauer gefaßt werden, so daß nach und nach die Forderungen der Ethik, aufgrund deren, wie Paul VI. sagt, „die gerechte Verteilung der 19'
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Reichtümer der Natur und der Früchte der Zivilisation" zu geschehen hat (Rede zum 25. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 10. Dezember 1973), zum Tragen kommen. Die soziale Unterweisung der Kirche betont stark die enge solidarische Verbindung aller Menschen untereinander angesichts der allen geltenden Berufung, die in keines Menschen Belieben gestellt ist. Die Kirche spielt eine spezifische Rolle im kulturellen Wachstum, denn ihr Tun betrifft den innersten Kern der kulturellen Wirklichkeit, das menschliche Gewissen. Von innen her soll der Mensch nach dessen Anruf wachsen, sich solidarisch entwickeln und sich transzendieren. Johannes Paul II. hat in der Enzyklika Centesimus annus klar das Streben jedes Menschen nach kultureller Entwicklung aufgezeigt und die der Kirche eigene Weise des Dienstes an der echten Kultur dargelegt: „Damit diese Kultur sich in gebührender Weise verwirklichen könne, muß der ganze Mensch angesprochen werden, er soll seine schöpferische Fähigkeit, seine Intelligenz, seine Kenntnis der Welt und der Menschen weiterentwickeln. Außerdem soll er seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, zum persönlichen Opfer, zur Solidarität und Verfügbarkeit einbringen, um das Gemeinwohl zu fördern. Dazu wird die erste und wichtigste Aufgabe im Herzen des Menschen Wirklichkeit, und die Art, wie der Mensch sich der Gestaltung seiner Zukunft zuwendet, hängt von der Auffassung ab, die er von sich selbst und seiner Bestimmung hat. Auf dieser Ebene ist der spezifische und entscheidende Beitrag der Kirche für die wahre Kultur anzusetzen." (Nr. 51)
I X . Abschluß und Ausblick Abschließend halten wir fest, daß jede menschliche Person ein elementares Recht auf Kultur hat, das es ihr ermöglicht, ihren Talenten, Fähigkeiten und Bestrebungen entsprechend zu wachsen. Darum sind heutzutage die kulturellen Rechte als integrierender Bestandteil der Menschenrechte anerkannt. Die internationale Gemeinschaft und die Staaten sind sich dessen bewußt und versuchen, die kulturellen Rechte in verbindlichen juridischen Verlautbarungen und in Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen, die die kulturelle Entwicklung eines jeden Menschen und jeder Gruppe fördern. Die Verwirklichung dieser Ziele setzt allerdings voraus, daß die besonderen Bedingungen der wirklichen Teilhabe an den kulturellen Gütern beachtet werden. Um von den kulturellen Rechten wirklich Nutzen zu haben, sollen die Menschen angeregt und von der Institution unterstützt und so geeignet werden, auf intellektuellem, moralischem und geistigem Gebiet zu wachsen. Die Durchsetzung dieser Rechte wird eine umfassende Solidarität der einzelnen und der Staaten erforderlich machen. Die Kirche leistet ihren
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besonderen Beitrag, i n d e m sie d e n M e n s c h e n z u m Bewußtsein bringt, daß die Solidarität
eine für die ganzheitliche E n t w i c k l u n g der e i n z e l n e n u n d der
V ö l k e r w a h r h a f t v o r b i l d l i c h e u n d unerläßliche H a l t u n g ist. Johannes Paul II. hat dies i n der E n z y k l i k a Sollicitudo
rei socialis,
d i e als gewichtiges D o k u -
m e n t zur k u l t u r e l l e n E n t w i c k l u n g g e l t e n kann, d e u t l i c h z u m A u s d r u c k gebracht.
X . Literatur Carrier, Hervé: Evangélisation et développement des cultures. Pontificia Université Gregoriana, Rom 1990. — Filibeck, Giorgio (Hrsg.): Le droit au développement. Textes conciliares et pontificaux (1960-1990). Vatikan, Päpstlicher Rat „Justitia et Pax", 1991. — Pontier, J. M., Ricci, J. C. und Bourdon, J.: Droit de la culture. Paris, Dalloz 1990. — Verwilghen, M. (Hrsg.): Droits de l'homme. Recueil des documents nationaux et internationaux. Brüssel, Bruylant / Löwen, A.E.D.I. 1989. — Diritti economici, sociali e culturali nella prospettiva di un nuovo Stato sociale. (Centro di Studi e di Formazione sui Diritti dell' Uomo e dei Popoli. Universität Padua, Nr. 5) 1990. — Verwilghen, M. (Hrsg.): Culture chrétienne et droits de L'homme. Colloque international de la Fédération Internationale des Universités Catholiques. Brüssel, Bruylant / Löwen 1991.
DAS FLÜCHTLINGSPROBLEM ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE KATHOLISCHE SOZIALLEHRE Von Alfred Klose
Jede Phase der menschlichen Geschichte hat ihre Flüchtlings- und Vertriebenenprobleme; das 20. Jahrhundert zeigt eine besondere Häufung der erzwungenen Mobilität: Kriege, Revolutionen, Mißachtung der Menschenrechte und Unterdrückung von Minderheiten sind die Hauptursachen für die massenhaft auftretende Flüchtlingsbewegung. Die großen politischen Veränderungen in weiten Teilen Afrikas und Asiens, die beiden Weltkriege mit ihren Folgewirkungen, die revolutionäre Entwicklung in Osteuropa, China und den indochinesischen Ländern, die Teilung des indischen Subkontinentes haben zu derartigen Flüchtlingsmassen geführt, daß eine Verelendung eines großen Teils der Menschheit die Folge war. Die christlichen Kirchen haben sich immer wieder den Herausforderungen dieses Flüchtlingsproblems gestellt; besonders gilt dies für die Katholische Kirche und ihre karitativen Einrichtungen. Aber auch die Katholische Soziallehre hat immer wieder die damit verbundenen Fragen aufgegriffen und die Zusammenhänge mit den Forderungen der Menschenrechte aufgezeigt. Johannes Schasching, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat immer wieder die Zusammenhänge von Frieden und sozialer Gerechtigkeit aufgezeigt und dabei besonders auf die Sozialenzykliken „Pacem in terris" und „Populorum progressio" verwiesen, die sich auch eingehend mit jenen Menschen befassen, die zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen sind. 1 Die Wurzeln eines Asylrechts reichen weit zurück: Gertraud Putz hat in ihrem Standardwerk über „Christentum und Menschenrechte" die alttestamentlichen Vorschriften hervorgehoben: das Asyl- und Gastrecht war aus der Nomadenzeit entwickelt worden. 2 Jesus hat sich immer wieder der Ausgestoßenen angenommen. Letztlich ist die Bergpredigt auch die Mahnung, sich jener Menschen anzunehmen, die in der Folge ihrer Vertreibung Mangel leiden und von Trauer erfüllt sind. 1
Johannes Schasching, Die Friedensidee von Populorum progressio, in: Frieden und Gesellschaftsordnung. Festschrift für Rudolf Weiler, hrsg. von Alfred Klose, Heribert Franz Köck und Herbert Schambeck, Berlin 1988, S. 79 ff. 2 Gertraud Putz, Christentum und Menschenrechte, Innsbruck-Wien 1991, S. 37 ff.
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I. Die politischen Flüchtlinge In „Pacem in terris" bringt Johannes XXIII. seine besondere Sorge um die politischen Flüchtlinge zum Ausdruck. „Viele und unglaubliche Leiden begleiten ja ständig die große, in unserer Zeit wahrlich ungezählte Menge dieser Flüchtlinge" (103). Seit 1963 sind die Flüchtlingsmassen noch sehr angewachsen! Der Papst mahnt, daß die Einschränkung der Freiheitsrechte in jenen Staaten, aus denen die politischen Flüchtlinge kommen, „die rechte Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft völlig umstürzt" (104). Niemals können, wie in „Pacem in terris" ausgeführt wird, die Flüchtlinge die Rechte der Person verlieren; zu diesen Rechten gehöre, „sich in diejenige Staatengemeinschaft zu begeben, in der man hofft, besser für sich und die eigenen Angehörigen sorgen zu können" (105). Die Verpflichtung der Staaten, die Flüchtlinge aufzunehmen, folgt aus dieser Deutung der Menschenrechte; gewiß gibt es für die dauernde Integration der Flüchtlinge dabei am Gemeinwohl gegebene Grenzen; die Aufnahme der Verfolgten und aus politischen Gründen Vertriebenen darf aber niemals verweigert werden. Immer wieder geht es der Katholischen Soziallehre um den Abbau von Diskriminierungen innerstaatlich und weltweit. So müssen auch die Probleme der Flüchtlinge nach ihrer Aufnahme im Gastland in diesem Zusammenhang gesehen werden. Wenn etwa Kritik an der zu starken Quote von ausländischen Kindern in den Schulen des Gastlandes laut wird, zeigt sich, daß die einfachsten Vorstellungen einer Humanität nicht gegeben sind: Orientierung an christlichen Wertvorstellungen muß immer auch zur Bereitschaft führen, schwierige Situationen zu überwinden. So stellen die Klagen über die Aufnahme einer größeren Zahl von Kindern aus Kroatien in Wiener Schulen i m Jahr 1991 im Zuge der kriegerischen Ereignisse in Jugoslawien ein trauriges Zeichen dar; es wird daraus der Mangel jener Bereitschaft zum sozialen Engagement deutlich, der nicht nur für Christen, sondern für alle Menschen selbstverständlich sein sollte. Auch das Zweite Vatikanum hat den Abbau übergroßer sozialökonomischer Unterschiede sich immer wieder zum Ziel gestellt. Wenn die Pastoralkonstitution „Gaudium es spes" ganz allgemein verlangt, die für wirtschaftlichen Fortschritt unerläßliche Mobilität so zu regeln, daß das Leben der einzelnen und der Familien nicht gefährdet wird, gilt dies nicht nur für „normale" Gastarbeiter, sondern besonders für jene Menschen, die nicht freiwillig, sondern aus zwingenden politischen Gründen Arbeit und Lebensmöglichkeit i m Ausland suchen (66). Diesen Überlegungen folgt auch das Dokument der Römischen Bischofssynode 1971 „De justitia in mundo", wenn es die existentielle Unsicherheit auch jener Menschen beklagt, die wegen ihrer Rasse, ihres Volkstums oder ihrer Stammeszugehörigkeit verfolgt und vertrieben werden. Die Geschieh-
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te gibt dabei der Bischofssynode recht, wenn sie feststellt, daß sich derartige Fehlhaltungen von Regierungen einzelner Staaten bis zum Völkermord steigern können. Es wird die Verletzung der Prinzipien der Gerechtigkeit angeprangert, wenn Menschen um ihres Glaubens willen verfolgt oder von politischen Parteien oder der öffentlichen Gewalt dem Atheismus zugetrieben werden; die Verletzung der Religionsfreiheit ist eine der häufigsten Formen der Diskriminierung (21).
II. Die Friedensidee von Populorum progressio und das Flüchtlingsproblem Johannes Schasching stellt den engen geistigen Zusammenhang von „Pacem in terris" und „Populorum progressio" her: Johannes XXIII. habe in seiner Friedensenzyklika drei Wege aufgezeigt, die der Verwirklichung einer Friedensordnung dienen: die Abrüstung, die Realisierung der sozialen Gerechtigkeit und die rechtlich-politische Neuordnung der Beziehungen unter den Völkern. Paul VI. habe betont, daß man diese drei Wege gleichzeitig beschreiten müsse.3 Die soziale Gerechtigkeit muß nun in besonderer Weise gegenüber den Flüchtlingen verwirklicht werden, wenn diese nicht zur Quelle neuer politischer Fehlentwicklungen werden sollen. Die tragischen Ereignisse um die Palästina-Flüchtlinge haben gezeigt, wie groß die politischen Spannungen und die Kriegsgefahren werden können, wenn eine größere Zahl politischer Flüchtlinge nicht integriert werden. Der Abbau der internationalen Spannungen kann wiederum der beste Weg sein, das Flüchtlingsproblem zu entschärfen, insbesondere wenn er mit einer Anerkennung der Menschenrechte in den einzelnen Staaten verbunden ist. Es geht immer wieder um die Schaffung menschlicher innerstaatlicher Strukturen, aber auch um eine an der Menschenwürde orientierte geistigkulturelle Entwicklung. Heute vertreibt nicht nur das wirtschaftliche Elend viele Menschen aus ihrer angestammten Heimat, sondern auch der Mangel an geistig-kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten. Besonders in der „Dritten Welt" bringt das Aufeinanderprallen der kulturellen Einflüsse der industriellen Welt mit den alten Stammeskulturen schwerwiegende Probleme mit sich. „Popolurum progressio" verweist auf das damit vielfach verbundene Generationenproblem, das zu immer neuen Konfliktsituationen führt; traditionelle Bindungen schwächen sich ab, „ohne daß die Eingliederung in die neue Welt genügend gesichert ist" (10). Die Enzyklika Pauls VI. sieht freilich die Lösung nicht in einer Isolierung der traditionellen Kulturen, sondern vielmehr in einem „aufrichtigen Aus3
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tausch zwischen den Kulturen wie den Menschen" (73). Je freier auch die Möglichkeiten zwischenstaatlicher Kontakte und Begegnungen sind, desto eher werden auch die Menschen in ihren Heimatländern bleiben. Bei aller Kritik an den gegebenen Fehlentwicklungen weltweit ist die Enzyklika „Populorum progressio" von starkem Optimismus erfüllt; es gehe bei ihrer Grundkonzeption um keine Utopien. Es kommt die Hoffnung zum Ausdruck, daß es eine Dynamik gibt, die zu einer menschlicheren Welt hinführt, zu einer Welt, „die brüderlicher leben will"; dieser „Weg zu einer größeren Menschlichkeit" verlange allerdings Anstrengungen und Opfer (79). Die seit 1967 eingetretene Entwicklung läßt solche Hoffnungen als realistisch erscheinen, wenn auch das Anwachsen der Flüchtlingsmassen das Gegenteil zu erweisen scheint. Es geht um die Bewältigung einer gewaltigen geschichtlichen Herausforderung, die Paul VI. deutlich gesehen hat und die heute uns immer mehr bewußt ist, da das Versagen totalitärer Systeme so offensichtlich geworden ist, deren Verhöhnung der Menschenrechte zu einer Revolution der Humanität geführt hat. Dabei haben Christen aller Konfessionen entscheidend mitgewirkt, hat auch das Gedankengut der Katholischen Soziallehre einen entscheidenden Beitrag geleistet, wofür besonders Polen und Litauen eindrucksvolle Beispiele darstellen. Die Mahnung von „Populorum progressio", die Hilfe für die Schwachen zu intensivieren, gilt freilich in der Gegenwart in besonderer Weise für die zahllosen Flüchtlinge und Vertriebenen, aber auch für die Menschen in den Staaten, die um eine neue politische Ordnung im Sinne der Enzyklika bemüht sind. I I I . Flüchtlingspolitik als Gesellschaftspolitik Das Flüchtlingsproblem läßt sich in jenen Staaten, die sich einer wachsenden Zahl von Asylbewerbern gegenübersehen, nicht mit punktuellen Maßnahmen allein lösen — so wichtig gezielte Hilfen unmittelbar nach der Einwanderung sind. Es geht um eine längerfristige Konzeption, die sich vor allem auf die Möglichkeiten einer Integration jener Flüchtlinge konzentrieren muß, die eine dauerhafte Niederlassung im Gastland erreichen wollen. Hubert Pirker stellt in diesem Sinn fest, daß es Aufgabe einer geordneten Ausländerpolitik sei, konkrete Maßnahmen zu setzen, die der gegebenen Situation entsprechen; so müßte man alles tun, um Vorurteile und Ängste im Gastland abzubauen. Den Ausländern wiederum müsse man deutliche Informationen über die Möglichkeiten des Gastlandes geben. „Nur eine geordnete Ausländerpolitik ist eine humanitäre, weil transparente und kalkulierbare Politik", meint Pirker. 4 4
Hubert Pirker, Länderquoten und Einwanderungsansuchen, in: Politische Perspektiven, W i e n 3/1991, S. 8 ff.
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Die Katholische Soziallehre stellt mehr denn je das Solidaritätsprinzip in den Mittelpunkt: Rudolf Weiler stellt in diesem Sinn fest, daß das Asylrecht, das Recht auf Immigration und Emigration, das Problem der Flüchtlinge, immer auch eine Solidaritätsfrage ist und nicht von Gruppeninteressen bestimmt gesehen werden darf. Weltweit gehe es aus christlichem Geist um eine Solidarität mit allen Unterdrückten, Hungernden und Notleidenden. Nach dieser grundlegenden Solidaritätsforderung sei erst die technischorganisatorische Seite der internationalen Ordnung und Zusammenarbeit zu lösen. 5 Solche Überlegungen entsprechen auch dem ökumenischen Geist in der Kooperation christlicher Kirchen in der Flüchtlingsfrage. Der angesehene evangelische Sozialethiker Rolf Kramer weist darauf hin, daß die Kirche eine Kirche der Armen, nicht nur für die Armen oder mit den Armen sein müsse. Die Entscheidung gegen die Armut und für die Armen habe unleugbar einen politischen Sinn; es geht um ein Denken nicht in der Kategorie von Machthabern, sondern von Machtlosen! 6 W i r brauchen in diesem Sinn ein Umdenken in der Konzeption des Wohlfahrtsstaates: Dieser darf nicht allein die Wohlfahrt der Staatsbürger im Auge haben, sondern aller Menschen, die sich im Staatsgebiet aufhalten. Zumindest muß eine Basisversorgung gesichert sein, bis über die weitere Existenz eines Flüchtlings in humaner Weise entschieden ist. Die internationale Kooperation in der Flüchtlingsfrage wird immer wichtiger. Ja, es muß gesagt werden, daß Flüchtlingspolitik als Gesellschaftspolitik diese internationale Zusammenarbeit unerläßlich macht. Sonst können plötzlich auftretende Flüchtlingsmassen in einzelnen und vor allem kleineren Staaten einfach nicht bewältigt werden. So hat Österreich die große Zahl der ungarischen Flüchtlinge 1956 zunächst bestmöglich versorgt, mehr als zwei Drittel davon haben dann aber in anderen Ländern einen dauernden Aufenthalt gefunden. Papst Johannes Paul II. weist in seiner neuen Enzyklika „Centesimus annus" darauf hin, daß die Zahl der gesellschaftlichen und politischen Probleme, die von der Menschheit nur noch gemeinsam bewältigt werden können, ungemein zugenommen habe, während das entsprechende Bewußtsein hinterherhinke. Dazu sagt Walter Kerber in seinem Kommentar zu dieser Enzyklika, daß den Papst die Sorge bedränge, daß die Christen die Dringlichkeit ihrer sozialen Aufgaben und der damit verbundenen Verantwortung in der heutigen Welt noch nicht genügend erkannt hätten. 7 Es ist Aufgabe der Katholischen Soziallehre, dieses Bewußtsein in Erinnerung zu rufen und Wege aufzuzeigen, eine zukunftsweisende gesellschaftspolitische
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Rudolf Weiler, Internationale Ethik, Bd. 1, Berlin 1986, S.80.
Rolf Kramer, Umgang mit der Armut, Berlin 1990, S. 89 ff. 7 Walter Kerber, Vor neuen Herausforderungen der Menschheit — Sozialenzyklika Centesimus annus, mit einem Kommentar, Freiburg-Basel-Wien 1991, S. 130.
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Konzeption in der Flüchtlingsfrage in den einzelnen Staaten und weltweit zustandezubringen. Heute gibt es kaum verläßliche Angaben über die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen, die sich aus Furcht vor politischer Verfolgung aus ihren Heimatländern entfernt haben. UNO-Schätzungen nennen 10 bis 12 Millionen betroffene Menschen, doch schwanken die Zahlen sehr stark — je nach den politischen Ereignissen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders hohen Zahlen wurden vor allem durch die Ereignisse in Afrika in den Achtziger Jahren wieder nahezu erreicht; die Hoffnung, daß das letzte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts eine Besserung bringt, ist noch recht ungewiß: Die Ereignisse in der in der Umstrukturierung befindlichen Sowjetunion, in Osteuropa allgemein und am Balkan bringen die Gefahr neuer starker Flüchtlingsbewegungen mit sich. Flüchtlingspolitik wird so gesehen zu einer immer wichtigeren gesellschaftspolitischen Aufgabe auch der Gastländer. Wahlen in einzelnen westeuropäischen Staaten zeigen, daß sich politische Parteien, die sich dieser Verantwortung im Geist christlicher Humanität bewußt sind, vielfach in einer schwierigen Position befinden. Radikale nationalistische oder andere rechtsradikale Gruppen können mit ihrem Appell an eine restriktive Flüchtlingspolitik allzu leicht Menschen ansprechen, denen die Vertriebenen gleichgültig sind oder die in ihnen eine Gefährdung des erreichten Lebensstandards sehen. Umso deutlicher wird die Herausforderung für die christlichen Kirchen: So haben sozialdemokratische Politiker nach der Wahl zur Bürgerschaft (zum Landesparlament) in Bremen am 29.9.1991 auf diese Aufgabe der christlichen Kirchen hingewiesen, demagogischen Kräften entgegenzuwirken. Die Katholische Kirche war immer wieder mahnend in dieser Richtung tätig. So bleibt es auch eine Aufgabe nicht nur des päpstlichen Lehramtes, sondern auch der regionalen kirchlichen Autoritäten wie der Bischofskonferenzen und der Präsidien der katholischen Laienorganisationen, hier aufklärend zu wirken. Nicht immer stellen sich in unserer Zeit so harte Alternativen wie bei den Vertreibungen aus nationalen Gründen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Gotthold Rhode weist darauf hin, daß diese Zwangswanderungen — wie etwa bei der Vertreibung der Griechen aus der Türkei und der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei — den einzelnen besonders tief in seiner Gesamtexistenz getroffen haben: Er konnte nicht entscheiden, „unter Verlust seiner Sprache und nationalen Identität in der Heimat zu bleiben oder sie zu verlassen". Lediglich in Oberschlesien und SüdostPreußen habe es die Chance gegeben, der zwangsweisen Aussiedlung zu entgehen, wo im Zuge einer Verifizierungsaktion der polnischen Regierung die Möglichkeit gegeben war, sich zum polnischen Volkstum zu bekennen und damit die Ausweisung zu vermeiden. 8 Im übrigen waren die aus
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nationalistischen Gründen durchgeführten Deportationen nach dem Zweiten Weltkrieg besonders brutal und eine unfaßbar grausame Verletzung der Menschenrechte. Bei der Durchführung dieser Aktionen sind ungezählte Menschen ums Leben gekommen. Insgesamt stellt die Vertreibung so vieler Menschen aus ihrer Heimat eine Gesamtschuld der beteiligten Staaten dar, insbesondere auch der westlichen Demokratien, die mit ihrer grundsätzlichen Zustimmung zur Vertreibung eine der größten Menschenrechtsverletzungen der neueren Geschichte sanktioniert hatten. Der überspannte Nationalismus des 20. Jahrhunderts hat zu einem „Streben nach konfessioneller oder sprachnationaler Einheitlichkeit der Staatsbevölkerung sowie Fremdenfeindlichkeit gegenüber konfessionell, national und gegebenenfalls auch rassisch als ,fremd' empfundenen Gruppen" (Rhode) geführt. 9 Wenn diese Emotionen anläßlich der weitreichenden politischen Neuordnung in Ost- und Südosteuropa bzw. den asiatischen Teilen der bisherigen Sowjetunion wieder aufleben, stehen wir vor einem noch ungleich größeren Vertriebenenproblem als bisher. Die große Herausforderung für die Katholische Soziallehre besteht in der immer neu geforderten Mahnung zur Solidarität gegenüber allen Minderheiten: Joseph Höffner hat gesagt, daß das Solidaritätsprinzip bei der Personalität und Sozialität des Menschen zugleich ansetzt und wechselseitiges Verbundensein und Verpflichtetsein bedeutet. 10 Damit wird eben dieses Solidaritätsprinzip auch zur wichtigsten Maxime einer zukunftsweisenden Gesellschaftspolitik. Dies entspricht auch dem Geist des Zweiten Vatikanums, das in seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et spes" nachdrücklich darauf hinweist, daß der Abbau von Diskriminierungen ein Hauptziel der Gesellschaftspolitik sein muß. Dabei geht es um alle Formen persönlicher und sozialer Diskriminierungen (65 ff.). „Laborem exercens" betont die Notwendigkeit der Vermeidung aller Diskriminierungen besonders auch hinsichtlich der Auswanderer und Saisonarbeiter ausländischer Herkunft (23). IV. Die Mahnung von „Redemptor hominis" Die Katholische Soziallehre vertritt immer wieder einen Sozialrealismus: Sie will auf dem Boden der Wirklichkeit stehen und nicht abstrakte Theorien bieten, sondern konkrete Hinweise zur Gestaltung der Gesellschafts8
Gotthold Rhode, Art. Flucht und Vertreibung IV., in: Staatslexikon, Bd. 2, 7. Α., Freiburg-Basel- Wien 1986, Sp. 624 ff. 9 10
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Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre — Studienausgabe, 4. Α., Kevela e r 1983, S. 43.
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Ordnung geben. In diesem Sinn stellt „Redemptor hominis" auch den konkreten Einzelmenschen in den Mittelpunkt: „Es geht hier um den Menschen in seiner vollen Wahrheit, in all seinen Dimensionen"... also um den realen, den konkreten und geschichtlichen Menschen. Jeder einzelne Mensch sei gemeint, dieser Mensch in der ganzen Wirklichkeit seines Lebens! (14). Hier muß also die Gesellschaftspolitik ansetzen: Sie darf keine Menschenrechtsverletzungen, keine Diskriminierungen dulden, nicht beim einzelnen und schon gar nicht bei ganzen Gruppen der Bevölkerung. Aus dieser Grundhaltung heraus ergibt sich jene humanitäre Einstellung zu den Flüchtlingen und Vertriebenen, die immer wieder die christlichen Kirchen eingenommen haben. Diese Haltung zwingt aber auch dazu, im eigenen Staat alles zu tun, um das Entstehen eines Vertriebenenproblems zu vermeiden. V. Friedensethik und Flüchtlingsproblem Je besser die internationale Friedensordnung Wirklichkeit wird, desto mehr wird es gelingen, das Entstehen von Flüchtlingsgruppen und Massen von Vertriebenen zu vermeiden. Rudolf Weiler weist darauf hin, daß die komplexen Zusammenhänge heutiger Sicherheitspolitik sich „aus der Verflochtenheit der Außenpolitik mit den inneren Verhältnissen der Staaten und aus großräumigen Interdependenzen der Industriegesellschaft" ergeben; dabei werden immer mehr die nationalen Grenzen überschritten. 11 Es kann keine dauerhafte funktionsfähige Friedensordnung geben, wenn einzelne Staaten Minderheiten verfolgen und vertreiben und damit andere Länder belasten. Im Bereich der Weltwirtschaft geht es um die Bildung von Großräumen, um Integration und Kooperation: Auch diese ist nur möglich, wenn offene Gesellschaften eine Freiheit sicherstellen, die solche Formen von Zusammenarbeit und ökonomischer Integration ermöglicht. Valentin Zsifkovits stellt in seiner Friedensethik die immer wieder geschichtlich erwiesene Tatsache heraus, daß Ideologien Konflikte verschärfen und vielfach zu kriegerischer Auseinandersetzung führen 12 ; die ideologisch fundierte Rechtfertigung der Gewalt ist eine immer neue Begleiterscheinung des Nationalismus, wie die Ereignisse in Jugoslawien wieder so deutlich zeigen. Es sind die „emotionalisierten Feindbilder", wie Zsifkovits betont, die so sehr konfliktverschärfend wirken und zur radikalen Diskriminierung nationaler, religiöser oder rassischer Minderheiten führen. Diese Feindbilder wirken dann in jenen Gastländern nach, in welche sich die Flüchtlinge begeben haben und erschweren eine Integration in der neuen Heimat. 11 12
Rudolf Weiler, Internationale Ethik, Bd. 2, Berlin 1989, S. 54. Valentin Zsifkovits, Ethik des Friedens, Linz 1987, S. 99 ff.
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Es geht also um eine Friedenspolitik, die sich um den Abbau von Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte gegenüber den Minderheiten in den einzelnen Staaten bemüht. Die Sicherung dieser zukunftsweisenden Friedenspolitik wird immer mehr zur Aufgabe der UNO, insbesondere seit sich die Weltsituation durch die Ereignisse im Zuge des Zusammenbruchs der kommunistischen Systeme so verändert hat. Dies bedeutet freilich nicht, daß sich Großmächte aus ihrer überdurchschnittlich hohen Verantwortung für die Sicherung der internationalen Friedensordnung zurückziehen dürfen. So kommt für die zur Zeit einzige Supermacht, die USA, ein Rückzug in den Isolationismus wohl nicht in Frage. Neben dieser großen weltpolitischen Verantwortung der Großmächte muß immer wieder die Forderung herausgestellt werden, daß die einmal vorhandenen Flüchtlinge und Vertriebenen besser auf jene Länder verteilt werden müßten, welche die ökonomischen und sozialen Möglichkeiten zur Aufnahme haben. Daß die westliche Welt noch über Staaten mit überaus geringer Bevölkerung im Vergleich zur Landesgröße verfügt, sollte dabei mehr als bisher beachtet werden. W i e sehr die Katholische Kirche in jenen Staaten Einfluß auf die Bildung der öffentlichen Meinung nimmt, die wirkliche Möglichkeiten in der Friedenspolitik, aber auch in der Aufnahme von Vertriebenen haben, zeigt der amerikanische Hirtenbrief „Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle". Unter den Kategorien der Armut wird besonders auch der ethnischen Minderheiten gedacht! Damit verbindet sich die Mahnung der nordamerikanischen Bischöfe, Vorurteile und Diskriminierungen abzubauen (181 ff.). Friedhelm Hengsbach stellt in seinem Kommentar zu diesem Hirtenbrief fest, daß biblische Gerechtigkeit auch eine egalisierende Dimension in sich einschließe. 13 In diesem Sinn geht es immer um eine Option für die Armen, wie auch der österreichische Sozialhirtenbrief hervorgehoben hat. Die österreichischen Bischöfe sprechen in ihrem sozialen Hirtenwort von den vielfältigen privilegierten und benachteiligten Gruppen in der modernen Gesellschaft — ein typisches Kennzeichen der „neuen sozialen Frage" (88, 89). 14 Ähnliche Einstellungen kennzeichnen den Hirtenbrief der deutschen Bischöfe „Gerechtigkeit schafft Frieden" vom Jahr 1983: Friedensethos und christliches Verständnis vom Menschen müsse sich immer wieder verbinden! Daraus ergibt sich ein umfassender Friedensauftrag auch für die Kirche. 15 13
Friedhelm Hengsbach, Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft — Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA „Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle", mit Kommentar, Freiburg-Basel-Wien 1987, S. 249. 14
Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreichs „Der Mensch ist der Weg der Kirche", 15.5.1990, W i e n 1990. 15 Gerechtigkeit schafft Frieden. Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum Frieden vom 28.4.1983, Bonn 1983, S. 38 ff. (Kap. 4).
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Die Bedeutung des einzelnen Menschen wird auch in „Centesimus annus" hervorgehoben, wenn hier besonders die Tatsache herausgestellt wird, daß „eine wahre Demokratie" nur in einem „Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich" sei (46). Die Katholische Soziallehre vertritt bei aller Bedeutung der Solidarität immer wieder die These von der Einmaligkeit und Unvertretbarkeit des einzelnen — eine Auffassung, die keineswegs widersprüchlich ist. Seit Johann Gottfried Herder der Individualität des Einzelnen eine so große Bedeutung für die Entwicklung einer humanen Gesellschaft gegeben hat, ist uns deutlicher bewußt, daß aus einer Humanität auch Solidarität und Toleranz sich entwickeln. 1 6 Friede bedeutet nicht einfach Konfliktlosigkeit, sagt Valentin Zsifkovits: Es gehe aber um eine Friedenssicherung durch humane, also vor allem gewaltlose Konfliktaustragung. Im Interesse des Friedens müsse man versuchen, durch positive Prävention Konflikte zu verhindern und auftretende Konflikte „bereits auf möglichst niederer Stufe aufzugreifen und in positiver Weise, d. h. vor allem auf gewaltlose oder zumindest gewaltminimierende Art, zu lösen". 17 Solche Zielsetzungen bedeuten Friedenssicherung durch innerstaatlichen Konfliktausgleich in Fragen von Minderheiten, bedeuten die Vermeidung von Situationen, die zur erzwungenen Emigration oder zur Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat führen. Zukunftsweisende innerstaatliche Gesellschaftspolitik muß sich mit einer internationalen Friedenspolitik verbinden. Die Katholische Soziallehre muß die damit verbundenen Herausforderungen immer deutlicher sehen. Die bisherigen Dokumente des päpstlichen Lehramtes, des Zweiten Vaticanums und die regionalen Bischofskonferenzen haben hier bereits vieles aufgegriffen. Wichtig ist noch die Aktivität der katholischen Laienorganisationen, ebenso die ökumenische Kooperation der christlichen Kirchen.
16 Johann Gottfried von Herder, Sämtliche Werke. Bd. 4, „Ideen zur Geschichte der Menschheit", 1. Teil, Stuttgart und Tübingen (Cotta) 1827, S. 162 ff. 17 Valentin Zsifkovits, a.a.O., S. 127 ff.
DAS SELBSTBESTIMMUNGSRECHT DER VÖLKER Von Heribert Franz Köck
I. Einleitende Bemerkungen. Der aktuelle Anlaß Die jüngsten Entwicklungen in Jugoslawien 1 und in der Sowjetunion 2 haben eine neue Diskussion über das sog. Selbstbestimmungsrecht der Völker 3 ausgelöst, nachdem manche schon gemeint hatten, dasselbe habe mit dem zu Ende gehenden Kolonialzeitalter seine Aktualität verloren. Die Diskussion hat dabei eine verbreitete Unsicherheit darüber deutlich gemacht, was unter dem Selbstbestimmungsrecht der Völker eigentlich zu verstehen sei, wie weit es reiche und wie es sich mit anderen „Rechten" oder Grundsätzen — vor allem jenem auf territoriale Integrität eines Staates 4 — vereinbaren lasse. Diese Unsicherheit rührt vor allem daher, daß die meisten Autoren den Begriff des Selbstbestimmungsrechtes synthetisch aus den verschiedenen darauf bezüglichen Bestimmungen entwickeln, in denen es gerade im 20. Jahrhundert seinen Niederschlag im positiven Völkerrecht gefunden hat. Da die Entwicklung solcher Normen aber grundsätzlich situations- bzw. fallbezogen vor sich geht, 5 kann das Selbstbestimmungs1
Vgl. u. a. Heribert Franz Köck, Die Wege zur Eigenstaatlichkeit. Das Selbstbestimmungsrecht gehört zu den fundamentalen Prinzipien des Völkerrechts, in: Die Furche vom 10. Oktober 1991; ders., Opfer mangelnder Solidarität. Kroatien: Nicht das Völkerrecht, die Staatengemeinschaft hat versagt, in: Die Furche vom 26. September 1991 ; Serbien als „Drittes Jugoslawien", Der Standard von 4./5./6. Jänner 1992; Europa begrüßt zwei neue Staaten, Der Standard vom 16. Jänner 1992. 2
Vgl. Die Sowjetunion steht vor totalem Umbau — Neuer Unionsvertrag, neuer Wirtschaftspakt, Die Presse vom 3. September 1991 ; Das Baltikum ist wieder frei, Die Presse vom 7. September 1991; Was bedeutet Souveränität?, Der Standard vom 5. August 1991 ; Die Sowjetunion löst sich auf, Neue Zürcher Zeitung vom 24. Dezember 1991; Sowjetunion — Ende einer Epoche?, Neue Zürcher Zeitung vom 24./30. Dezember 1991. 3 Vgl. zusammenfassend Daniel Thürer, Self-Determination, in: Rudolf Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Instalment 8 (Amsterdam-New York-Oxford 1985), 470 ff. 4
Zu diesem vgl. Christos L. Rozakis, Territorial Integrity and Political Independence, in: ibid., Instalment 10 (Amsterdam-New York-Oxford-Tokio 1987), 481 ff. 5 Vgl. beispielsweise Boris Meissner (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Osteuropa und China (Köln 1968) ; H. von Mangoldt, Die West-Irian-Frage
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recht der V ö l k e r — w i e andere grundlegende P r i n z i p i e n des V ö l k e r r e c h t e s auch — n u r aus einer Wesensbetrachtung
g e w o n n e n werden, w e l c h e erst
das geistige B a n d liefert, m i t der die einzelnen p o s i t i v - r e c h t l i c h e n N o r m e n zu e i n e m s i n n v o l l e n Ganzen zusammengefügt w e r d e n k ö n n e n . 6 D e n V e r such h i e z u i n der Festschrift für e i n e n G e l e h r t e n zu u n t e r n e h m e n , dessen sozialwissenschaftliche A r b e i t e n selbst i m m e r d u r c h eine m a t e r i e l l e Bet r a c h t u n g s w e i s e der N a t u r des M e n s c h e n , der Gesellschaft u n d der i n t e r n a t i o n a l e n Gemeinschaft getragen waren, k a n n w o h l n i c h t u n a n g e b r a c h t sein.
I I . D i e historische D i m e n s i o n der Selbstbestimmung 1. Politisch-rechtliche
Sprengkraft
Der p o s i t i v r e c h t l i c h e N i e d e r s c h l a g des Selbstbestimmungsrechts
hat
d a r u n t e r gelitten, daß es selten emotionsfrei d i s k u t i e r t , schon frühzeitig aber für b e s t i m m t e p o l i t i s c h e Interessen i n s t r u m e n t a l i s i e r t w o r d e n ist. So w a r der Nationalstaatsgedanke
des 19. u n d frühen 20. Jahrhunderts, 7 der i n
Europa i m m e r h i n zur E n t s t e h u n g des i t a l i e n i s c h e n Staates ab 1860 u n d zur E r r i c h t u n g des D e u t s c h e n Reiches 1870/71, aber a u c h zur A u f l ö s u n g großer Reiche w i e des Russischen, des O s m a n i s c h e n u n d der Österreichischund das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 31 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1971), 197 ff. ; H.O. Schoenberg, Limits of Selfdetermination, 6 Israel Yearbook of Human Rights (1976), 91 ff.; Daniel Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Mit einem Exkurs zur Jura-Frage (Bern 1976); Theodor Veiter, Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht im 20. Jahrhundert I: Entwicklungen, Rechtsprobleme, Schlußfolgerungen (Wien-Stuttgart 1977); und E. Murlakov, Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung im israelisch-arabischen Konflikt, 31 Schweizer Studien zum internationalen Recht (hrsg. von der Schweizer Vereinigung für Internationales Recht, 1983). 6 Dies ist auch einer sog. realistischen Betrachtungsweise des Völkerrechts aufgegeben, wenn sie nicht beim bloßen Sichten und Beschreiben der internationalen Phänomene haltmachen, sondern aus ihnen Normen für zukünftiges Verhalten ableiten will. Beispielgebend hiefür ist der Begründer der Wiener Schule des Völkerrechts und der Rechtsphilosophie, Alfred Verdross, dem es die philosophische Durchdringung des Rechtsstoffes trotz seines induktiven Ansatzes erlaubte, über das bloße Sammelvölkerrecht der Digesten hinauszugehen und aus ihnen widerspruchsloses Normengebäude zu errichten. Vgl. zu ihm Heribert Franz Köck, Alfred Verdross — Ein österreichischer Rechtsgelehrter von internationaler Bedeutung (Wien 1991), auf 16. 7 Vgl. U. Dierse und H. Rath, Nation, Nationalismus, Nationalität, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie V I (Darmstadt 1984), 406 ff., bes. 411; Jürgen Domes, Nationalismus, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft III (7. Aufl. Freiburg-Basel-Wien 1987), 1272 ff. ; Alfred Klose, Nation, in: Alfred Klose, Wolfgang Mantl und Valentin Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon (2. Aufl. Innsbruck-Wien-München-Graz-Köln 1980), 1851 ff.
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Ungarischen Monarchie während und zu Ende des Ersten Weltkrieges beigetragen hat, 8 ebenso eine behauptete Anwendungsform des Selbstbestimmungsrechts wie der Entkolonialisierungsprozeß nach dem Zweiten 9 Weltkrieg. 2. Verwirklichung,
Verletzung und Verweigerung
Hinkte die theoretische Durchdringung des Begriffes in diesen Zusammenhängen seiner Anwendung hinterher, so lassen sich auch zahlreiche Beispiele anführen, wo die Verwirklichung dieses Grundsatzes hinter der proklamierten Bereitschaft, ihn fortan als maßgebliches Prinzip der internationalen Ordnung zu betrachten und zur Grundlage politischen Handelns zu machen, 10 zurückblieb. Hier kann auf die Wilson'sehen Vierzehn Punkte 11 und die zumindest recht differenzierte Anwendung des Selbstbestimmungsrechts in den Pariser Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg 1 2 ebenso verwiesen werden wie auf die Atlantik-Charta 13 und die gravierenden Verstöße gegen das Selbstbestimmungsrecht am Ende des Zweiten Weltkriegs, 14 welche für die Europäische Nachkriegsordnung eine schwerwiegende Hypothek darstellten. Nur selten — wie im Fall der nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Finnland und Schweden umstrittenen AalandInseln 15 — war es möglich, das Selbstbestimmungsrecht in einem internationalen Gremium einigermaßen emotionsfrei zu diskutieren und damit wenigstens Ansätze für objektive Kriterien seiner Anwendung zu gewinnen. 8 Vgl. Hans Herzfeld, Erster Weltkrieg und Friede von Versailles, in: Golo Mann (Hrsg.), Propyläenweltgeschichte IX (Berlin-Frankfurt-Wien I960), 75ff.; Valentin Gitermann, Die russische Revolution, in: ibid., 129 ff. 9 Zu den Anfängen vgl. Kavalam Madhava Panikka, Neue Staaten in Asien und Afrika, in: ibid. X (1961), 103ff.; allgemein Albert Bleckmann, Decoionisation, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 10 (1987), 75 ff. 10 Vgl. K. Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts. 13 Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (1974), 7 ff. 11 Vgl. Hanns Engelhardt, Wilson Vierzehn Punkte, in: Wörterbuch des Völkerrechts III (begründet von Karl Strupp, 2. Aufl., hrsg. von Hans-Jürgen Schlochauer, Berlin 1962), 849 f. 12 Vgl. allgemein Stephan Verosta, Peace Treaties after World War I, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 4 (1982), 110 ff. 13
Dazu Hans-Jürgen Schlochauer, Atlantic Charta (1941), in: Bernhardt (oben Anm. 3), 9(1986), 10 ff. 14 Vgl. Jochen Abr. Frowein, Podsdam Agreements on Germany (1945), in: Bernhardt (oben Anm. 3), 4 (1982), 141 ff.; auch Theodor Schweisfurth, Germany, Occupation after World War II, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 3 (1982), 191 ff., und Georg Ress, Germany, Legal Status after World War II, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 10 (1987), 191 ff. ; schließlich Ellinor von Puttkamer, Peace Treaties of 1947, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 4 (1982), 117 ff. 15
20*
Vgl. Tore Modeen, Aaland Islands, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 12 (1990), 1 ff.
308
Heribert Franz Köck
3. Marxismus und Selbstbestimmung Eine besondere Facette war in der Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht nach dem Zweiten Weltkrieg darin gegeben, daß die Sowjetunion zwar einerseits zur Schwächung der westlichen Großmächte Frankreich 16 und Großbritannien 17 den Prozeß der Auflösung deren Kolonialreiche vehement förderte, andererseits aber selbstverständlich jeden Gedanken der Anwendung des Entkolonialisierungsprinzips auf jene Teile der Sowjetunion, die zuerst vom Zarenreich, später auch von der Sowjetunion selbst dem euro -asiatischen Imperium eingegliedert worden waren, von sich wies. 18 Dies führte in der Praxis dazu, daß die Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes auf überseeische Völker und Gebiete beschränkt blieb, was in die völkerrechtliche Literatur unter dem Begriff der „salt-water fallacy" eingegangen ist. Daneben darf nicht übersehen werden, daß die marxistische Literatur, besonders die Schriften von Lenin und Stalin, in der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes keinen Selbstzweck sah, 19 sondern nur eine Durchgangsstufe im internationalen anti-imperialistischen Klassenkampf, 20 während nationale Ansprüche innerhalb eines sozialistischen Staates stets als bereits so weit befriedigend angesehen werden mußten, daß sich aus ihnen keine antagonistischen Widersprüche innerhalb der Gesellschaft mehr entwickeln und daher auch keine reale Grundlage für die Berufung auf und die Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes sein konnten. 21
16
Vgl. Albert Bleckmann, Decolonisation: French Territories, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 10 (1987), 89 ff. 17 Vgl. Werner Morvay, Decoionisation: British Territories, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 10 (1987), 79 ff. 18
Vgl. allgemein Boris Meißner und Theodor Veiter, Das Selbstbestimmungsrecht nach sowjetischer und westlicher Lehre (Wien-Stuttgart 1967). 19 Vgl. Thürer (oben Anm. 3), auf 470; auch Theodor Schweisfurth, Socialist Conceptions of International Law, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 7 (1984), 417 ff. 20 Vgl. nochmals Schweisfurt (oben Anm. 19), auf 423; auch Konrad Ginther, Liberation Movements, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 3 (1982), 245 ff., auf 245. 21 Vgl. Hans-Joachim Heintze und Manfred Mohr, Das Grundprinzip der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Menschenrechte. Bevölkerung, in: Edith Oeser und Walter Poeggel (Hrsg.), Völkerrecht (Berlin-Ost 1983), 96 ff.; auch G. I. Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart. Theorie und Praxis (aus der russischen, in Moskau 1962 erschienenen Originalausgabe übersetzt von Klaus Wolf, Berlin-Ost 1963), 36 ff., und bes. 248.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
309
I I I . Vorbehalte gegen die Selbstbestimmung 1. Angst vor der Sprengkraft Schließlich ist die Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht, so bald sie sich von der bloß abstrakten Ebene und rein hypothetischen Fällen der Erörterung konkreter Situationen zuwendet, von einem fast reflexartigen Zurückschrecken gekennzeichnet, das seinen Grund darin hat, daß auch heute zahlreiche Staaten größere oder kleinere Minderheiten 22 in ihren Grenzen einschließen und dadurch zu Recht oder zu Unrecht befürchten, eine allgemeine Akzeptanz des Selbstbestimmungsrechtes könnte diese Grenzen und damit die Integrität des Gebietes des betreffenden Staates in Frage stellen. So war die zaudernde Haltung, die z.B. Frankreich und Spanien in der Jugoslawien-Krise zur Frage der Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens eingenommen haben, nicht zuletzt von Überlegungen bestimmt, welche Auswirkung eine solche Anerkennung auf die Korsen-, Katalanen- und Baskenfrage haben könnte. Selbst in Österreich wurde dem Verfasser in einer Diskussion von einem Gegner des Selbstbestimmungsrechts entgegengehalten, im Falle seiner Anerkennung müsse sich Österreich gegebenenfalls auch die Sezession Vorarlbergs gefallen lassen, wie sie die Vorarlberger schon einmal, nach dem Ersten Weltkrieg, versucht hätten. 23
2. Verletzung der territorialen
Integrität
Eine solche Sezession, so wird dann oft ganz allgemein behauptet, könne daher nur unter der Bedingung zugelassen werden, daß sie einvernehmlich vollzogen werde, das Mutterland bzw. der Zentralstaat also das betreffende Volk oder die Volksgruppe mit dem von ihm bzw. ihr bewohnten Gebiet in die Unabhängigkeit entläßt. Eine darüber hinausgehende Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung würde in seiner Verwirklichung nämlich zu Konflikten führen, die meist auch die Anwendung militärischer Gewalt einschließen und die Gefahr der Verwicklung anderer Mächte in sich bergen würden. Damit stehe das Selbstbestimmungsrecht also nicht nur im Gegensatz zum Prinzip der territorialen Integrität eines Staates, 24 sondern sogar zum aller fundamentalsten Prinzip des Völkerrechts, nämlich dem der 22
Zu diesen vgl. Francesco Capotorti, Minorities, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 8 (1985), 285 ff. 23 Vgl. Gerhard Wanner, Vorarlberg, in: Erika Weinzierl und Kurt Skalnik (Hrsg.), Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik. II (Graz-Wien-Köln 1983), 1011 ff., auf 1033 f. 24
So auch Thürer (oben Anm. 3), auf 474; Rozakis (oben Anm. 4), 486 f.
310
Heribert Franz Köck
Friedenswahrung. 25 Betrachte man aber den Frieden als das höchste Gut einer Rechtsgemeinschaft — sei es der staatlichen, sei es der internationalen —, so seien ihm alle anderen Güter und diese verkörpernden Rechte von Individuen oder Gruppen unterzuordnen, weshalb es auch keine gewaltsame Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes geben dürfe. 26
3. Selbstbestimmung — nur ein Recht für Übergangsphasen? Von dieser Einstellung her ist es verständlich, wenn sich die vom Völkerbundrat zur Klärung der Aaland-Insel-Frage eingesetzte Juristenkommission zur Legitimierung ihrer Tätigkeit u. a. darauf berief, daß das nach dem Zusammenbruch des zaristischen Rußland eben erst unabhängig gewordene Finnland seine staatliche Stabilität und seine äußeren Grenzen noch nicht so weit gefestigt hätte, daß eine allfällige Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes auf einen Teil des von Finnland beanspruchten Staatsgebietes (nämlich eben die Aaland-Inseln) bereits als Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität Finnlands betrachtet werden müßte. 27 Daraufhin hat die Völkerrechtswissenschaft ganz allgemein die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts nur im Zusammenhang mit Staaten zulassen wollen, welche eben erst in Bildung begriffen wären und daher noch keine gesicherte und territorial abgerundete Existenz für sich in Anspruch nehmen könnten. 2 8 (Entsprechendes würde freilich jedenfalls auch für einen in Zerfall befindlichen Stat zutreffen müssen, wenn der Auflösungsprozeß objektiv bereits so weit fortgeschritten ist, daß von einer einheitlichen Staatsmacht und einem gesicherten Gesamtstaatsterritorium nicht mehr gesprochen werden kann. 29 ) Diese Konzentrierung auf die Phase der Staatsentstehung bzw. des Staatsunterganges ist jedoch verfehlt, weil damit die Frage nach der Zulässigkeit der Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes durch ein Volk oder eine Volksgruppe in einem Staat, dessen Zentralgewalt noch durchaus ausreichend funktioniert und dessen Staatsgebiet international unstreitig abgesteckt ist, gar nicht gestellt und so das eigentliche Problem umgangen wird.
25 Vgl. Albrecht Randelzhofer, Use of Force, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 3 (1982), 265 ff., bes. 272. 26 Vgl. W i l h e l m G. Grewe, Peaceful Change, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 7 (1984), 378 ff., bes. 380. 27 21 League of Nations Official Journal (1921/11), 699. 28 Thürer (oben Anm. 3), auf 473. 29 Vgl. allgemein Ulrich Fastenrath, States, Extinction, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 10 (1987), 465 ff.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
311
IV. Selbstbestimmung und Dekolonisation 1. Nationaler Befreiungskampf
als Notwehr
Tatsächlich hat sich die internationale Gemeinschaft auf einen so limitierten Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechtes auch niemals verständigen können. Im Gegenteil: Im Zusammenhang mit dem bisherigen Hauptanwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechtes, nämlich der Entkolonialisierung 30 nach dem Zweiten Weltkrieg, hat die Frage, ob das Mutterland noch eine effektive Herrschaft über das abhängige Volk bzw. Gebiet ausübt und ob das betreffende Territorium bisher der Souveränität des Mutterlandes unbestreitbar unterworfen war, überhaupt keine Rolle gespielt; selbst der Umstand, daß manche abhängigen überseeischen Territorien den rechtlichen Status von Teilen des Mutterlandes erhielten, 31 hat keine effektive Umgehung des Selbstbestimmungsrechtes bewirkt. Die Vorenthaltung seiner Ausübung durch die Staatsgewalt des Mutterlandes wurde vielmehr als Anwendung völkerrechtswidriger Gewalt angesehen, gegen welche selbst ein bewaffneter Freiheitskampf zulässig sei. Dieses Recht nationaler Unabhängigkeitsbewegungen 32 auf Anwendung bewaffneter Gewalt wurde so als Teil des in Art. 51 Satzung der Vereinten Nationen enthaltenen natürlichen Notwehrrechtes angesehen und bildete daher einen weiteren Tatbestand der legitimen Durchbrechung des in Art. 2 Ziff. 4 Satzung der Vereinten Nationen statuierten absoluten Gewaltverbotes. Und ebenso, wie Art. 51 Satzung der Vereinten Nationen neben der individuellen auch die kollektive Selbstverteidigung kennt, waren andere Staaten jedenfalls berechtigt, nationale Unabhängigkeitsbewegungen in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen, während es ihnen andererseits verwehrt sein sollte, dem Mutterland Hilfe bei der Unterdrückung dieser Bestrebungen zu leihen. 33 2. Verschiedene Arten verbotener Gewalt In diesem Zusammenhang zeigt sich, daß die internationale Gemeinschaft den Begriff der verbotenen Gewalt einerseits, des Friedens andererseits nicht allein darauf reduziert, ob ein Fall der verbotenen zwischenstaat30
Vgl. außer Bleckmann (oben Anm. 9), auf 76, auch dens., Fremdherrschaft und Dekolonisierung in rechtlicher Sicht (1971). 31 Vgl. Albert Bleckmann, Decolonisation: French Territories, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 10 (1987), 89 ff., bes.92; auch Michel Fromont, France: Overseas Territorial Entities, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 12 (1990), 112 ff. 32 33
Vgl. Konrad Ginther (oben Anm. 20), 245 ff.
Vgl. ibid., 248; sowie Alfred Verdross und Bruno Simma, Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis (3. Aufl. Berlin 1984), §§ 409 ff. (bes. 411).
312
Heribert Franz Köck
l i e h e n m i l i t ä r i s c h e n G e w a l t a n w e n d u n g 3 4 v o r l i e g t (zwischenstaatlicher Gewaltzustand, bes. Krieg) oder eine solche e b e n n i c h t v o r l i e g t (Friede). 3 5 V i e l m e h r b e t r a c h t e t die i n t e r n a t i o n a l e Gemeinschaft jedenfalls a u c h die strukturelle
Gewalt,
m i t der e i n abhängiges V o l k bzw. Gebiet i m Staatsver-
b a n d m i t d e m M u t t e r l a n d gehalten w e r d e n soll, als i n t e r n a t i o n a l v e r p ö n t 3 6 u n d k n ü p f t d a r a n g r u n d s ä t z l i c h dieselben K o n s e q u e n z e n w i e an einen z w i s c h e n s t a a t l i c h e n A k t der A n d r o h u n g oder A n w e n d u n g v o n G e w a l t oder einer A n g r i f f s h a n d l u n g , n ä m l i c h das Recht auf individuelle Selbstverteidigung.
37
und
kollektive
Daß es sich d a b e i u m k e i n e Inkonsequenz aus p o l i t i -
schen O p p o r t u n i t ä t s g r ü n d e n h a n d e l t , daß v i e l m e h r das i n t e r n a t i o n a l e Friedensgebot u n d der i h r z u g r u n d e liegende Friedensbegriff n o c h m a l s zu Recht eine differenzierte Betrachtungsweise erfährt, ist l e i c h t zu zeigen.
V . D i e R e c h t s o r d n u n g als F r i e d e n s o r d n u n g 1. Friede
und
Gemeinwohl
Es ist e i n G e m e i n p l a t z , daß jede Rechtsordnung Ordnung
i n erster L i n i e Friedens-
ist, also die H e r s t e l l u n g u n d E r h a l t u n g des Friedens u n t e r d e n
G l i e d e r n der betreffenden Rechtsgemeinschaft z u m Ziele hat. Dies gilt für 34 Vgl. Albrecht Randelzhofer, Use of Force, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 4 (1982), 265 ff., bes. 267 ff. 35 Der Begriff des Friedens darf freilich nicht zu eng verstanden werden. Friede bedeutet nämlich nicht bloß das Fehlen von Krieg — in diesem Sinne vgl. Krzysztof Skubiszewski, Peace and War, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 4 (1982), 74 ff. —; zumindestens setzt er, um stabil zu sein, ein gewisses Maß an internationaler Gerechtigkeit voraus, ohne welche das internationale Gemeinwohl nicht verwirklicht werden kann. Zu diesem vgl. Alfred Verdross, Der klassische Begriff des „bonum commune" und seine Entfaltung zum „bonum commune humanitatis", in: 28 Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht (1977), 143 ff. 36 Klassischer Anwendungsfall waren bisher jene Gebiete und Völker, die in kolonialer Abhängigkeit gehalten wurden und nach Selbständigkeit strebten; der Grundsatz kommt aber auch im Zusammenhang mit der Unterstützung der Bestrebungen des palästinensischen Volkes auf Errichtung eines eigenen politischen Gemeinwesens sowie des Afrikanischen Nationalkongresses in seinem Kampf um die Teilhabe an der politischen Macht für die schwarze Bevölkerung in Südafrika zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang vgl. nochmals allgemein Bleckmann, Decoionisation (oben Anm. 9); Frank L. M. van de Craen, Palestine Liberation Organisation, in: ibid., 278 ff. Weiters Jost Delbrück, Apartheid, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 8 (1985), 37ff.; auch I. Sagay, The Legal Status of Freedom Fighters in Africa, in: 6 Eastern Africa Law Review (1973), 15 ff. In diesem Sinn hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen in Res. 3103 (XXVIII) unter einem „colonial domination", „foreign occupation" and „racist regimes" verurteilt. 37
Vgl. Brun-Otto Bryde, Self-Defense, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 4 (1982), 215 ff.
313
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
die V ö l k e r r e c h t s o r d n u n g so gut w i e für die innerstaatliche R e c h t s o r d n u n g . 3 8 Eine Auffassung aber, die die A u f g a b e einer R e c h t s o r d n u n g a l l e i n d a r i n sieht, d e n F r i e d e n i m Sinne des Fehlens gewaltsamer A u s e i n a n d e r s e t z u n gen zu etablieren, greift z u kurz. Z w a r ist der Friede i n jeder Gesellschaft e i n hohes G u t ; m i t d e m Begriff des Gemeinwohles gerechter
Friede,
n u n g a u c h e i n Mindestmaß
a n Freiheit
l i c h t . 3 9 Eigentliches u n d letztes Gemeinwohl 40
d e c k t er sich aber erst als
also dann, w e n n die i h m zu G r u n d e liegende RechtsordZiel
u n d sozialer
Gerechtigkeit
verwirk-
jeder R e c h t s o r d n u n g ist also dieses
— der zentrale Begriff der klassischen Staatslehre, dessen
A n w e n d u n g auf das V ö l k e r r e c h t aber ebenso angemessen i s t 4 1 — ; es steht n o c h höher als der bloß formale
2. Gemeinwohl Innerstaatlich
Friedenswert.
als innerstaatliche
und internationale
hat die Gemeinwohlverpflichtung
42
Dimension
des Staates seit d e m
19. J a h r h u n d e r t i h r e n N i e d e r s c h l a g v o r a l l e m a u c h i n der schriftlichen F i x i e r u n g v o n Grund-
und Freiheitsrechten,
p o l i t i s c h e n , aber a u c h sozialen,
g e f u n d e n . 4 3 Eine entsprechende E n t w i c k l u n g ist a u c h i m
internationalen
38 Vgl. Alfred Verdross, Völkerrecht (5. Aufl. W i e n 1964), „Die Idee des Völkerrechts — I. Die Rechtsidee", 13 ff. 39 Daß sich diese Erkenntnis mehr und mehr durchsetzt, zeigt heute auch international einerseits der fortschreitende Schutz der klassischen Grund-und Freiheitsrechte — wie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 oder im Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 —, andererseits auch der sozialen Grundrechte — wie in der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 oder im Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966. Allen diesen Bemühungen liegt die in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zum Ausdruck gebrachte Einsicht zu Grunde, daß es wesentlich sei, „die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztes Mittel gezwungen [werde]". Res. 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, General Assembly Official Records, 3rd Sess., Res. Part I, 71 ff. 40 Vgl. dazu ausführlich Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie (2. Aufl. W i e n 1963), 268 ff. und passim. 41 Dazu vgl. nochmals Verdross (oben Anm. 35). 42 43
Vgl. Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre I (Berlin 1970), 246 ff. und passim.
Vgl. dazu Herbert Schambeck, Die Menschenrechte und das österreichische Verfassungsrecht, in: Wissenschaft und Weltbild (1969), 91 ff.; dens., Zwischen Sicherheit und Freiheit — Brauchen die Grundrechte eine Weiterentwicklung?, in: Die Furche vom 1. Jänner 1972; dens., Österreichs Verfassungsrecht und der soziale Rechtsstaat, in: Gesellschaft und Politik (1975 II), 84ff.; dens., Die Grundrechte i m
314
Heribert Franz Köck
Bereich festzustellen, wo die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 die Respektierung gewisser Freiheiten als unabdingbar dafür proklamiert hat, daß sich die Menschen nicht gezwungen sehen, gewaltsam gegen Tyrannei und Unterdrückung aufzustehen. 44 Dementsprechend wurden im Rahmen der Vereinten Nationen 1966 auch zwei Menschenrechtspakte abgeschlossen, der eine über soziale, 45 der andere über zivile und politische Rechte. 46 Daß in beiden Pakten das Selbstbestimmungsrecht der Völker an erster Stelle genannt ist, 4 7 zeigt, welch hohen Rang ihm die internationale Gemeinschaft bei der Verwirklichung des internationalen Gemeinwohls beimißt. Wenn aber das Selbstbestimmungsrecht zu jenen internationalen Grundsätzen gehört, deren Verwirklichung Frieden und internationale Sicherheit erst möglich machen, 48 so kann man die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes nicht mit Berufung auf eben diesen Frieden verwehren; im Gegenteil: die Vorenthaltung des Selbstbestimmungsrechtes in einem konkreten Fall stellt selbst eine ernste Gefährdung des internationalen Friedens dar.
V I . Das Wesen des Selbstbestimmungsrechts Der Umfang des Selbstbestimmungsrechts und die Voraussetzungen für seine Anwendung können daher nicht von außen, etwa (wie gerade gezeigt demokratischen Verfassungsstaat, in: Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler und Valentin Zsifkovits (Hrsg.), Ordnung im sozialen Wandel. Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag (Berlin 1976), 445ff.; allgemein auch dens., Menschenbild und Staatsform, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1977 (Köln 1978), 26ff.; dens., Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung in Österreich, in: Peter Oberndorfer und Herbert Schambeck (Hrsg.), Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Ludwig Fröhler zum 60. Geburtstag (Berlin 1980), 41 ff. ; schließlich dens., Ethik und Staat (Berlin 1986), bes. „V. Ethische Bezüge i m Staatsleben", 120 ff. 44 Vgl. dazu oben Anm. 39. 45 United Nations Treaty Series CMXCIII, 3 ff. ; deutscher Text in : Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz — Beck Texte im dtv (2. Aufl. 1985), 60 ff. 46 United Nations Treaty Series CMXCIX, 171 ff.; deutscher Text in: Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz — Beck Texte im dtv (2. Aufl. 1985), 22 ff. 47
Beide Pakte haben einen Teil I, der nur einen einzigen Artikel — Art. 1 — umfaßt, der in drei Absätze gegliedert ist und dessen identischer Text in Abs. 1 lautet: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung." 48 Dies bringt auch Abs. 1 der Präambel beider UN-Menschenrechtspakte zum Ausdruck, wo es i m identischen Wortlaut heißt: „ . . . daß nach den in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Grundsätzen die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und der Gleichheit und
315
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
wurde) vom allgemeinen Friedensbegriff oder einem anderen, diesem zweifellos untergeordneten Grundsatz, wie etwa jenem der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates, bestimmt werden, sondern sind aus dem Wesen des Selbstbestimmungsrechtes selbst zu ermitteln. Dies soll im folgenden unternommen werden. 1. Der Träger des Selbstbestimmungsrechtes:
die Nation
Träger des Selbstbestimmungsrechtes ist eine Nation (ein Volk) oder ein selbständiger Teil derselben (eine Volksgruppe). 49 Eine Nation wird konstituiert durch die Geistesverbundenheit ihrer Angehörigen: die Nation ist zu allererst geistigen Wesens. 50 Diese Geistesverbundenheit baut auf auf der Schicksalsverbundenheit, die zumeist unmittelbar verknüpft ist mit einer Bodenverbundenheit und einer Blutsverbundenheit, und konstituiert die Nation als Willenseinheit. 51 Da ein Volk aber seine die Nation formenden Kräfte nur vermittels seiner Organisierung in einer Willens- und Handlungseinheit zur Wirksamkeit bringen kann, deren Ziel das Verhältnis der Nation zu anderen Nationen betrifft, ist die Organisationsform des Volkes eine politische: „Alle Richtungen der Staatstheorie stimmen darin überein, daß die Idee der Nation... wesensmäßig ein politisches Element enthält und daß es sich dabei um ein Selbstbestimmungsrecht handelt mit der Folge einer eigenen politischen Organisation der Nation." 52 Unveräußerlichkeit ihrer Rechte die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet." 49
Skeptiker des Selbstbestimmungsrechtes stoßen sich schon daran, daß Art. 1 Ziff. 2 der Satzung der Vereinten Nationen, wo das Selbstbestimmungsrecht verankert ist, keine Antwort auf die Frage gibt, was unter einem „Volk" zu verstehen sei. Vgl. Thürer (oben Anm. 3), auf 472. Tatsächlich handelt es sich hier aber um ein Phänomen, welches auch dem innerstaatlichen Recht als „unbestimmter Gesetzesbegriff" bekannt ist, wo aber niemand auf den Gedanken käme, die Unanwendbarkeit eines Gesetzes, welches einen solchen unbestimmten Gesetzesbegriff enthält, zu behaupten. Der unbestimmte Gesetzesbegriff ist vielmehr von dem, welcher die betreffende Bestimmung auslegt und/oder anwendet, auf Grund der Umstände und der eigenen Erfahrung mit einem Inhalt zu füllen. Dasselbe muß auch für die Auslegung und Anwendung eines solchen unbestimmten Begriffes i m Völkerrecht gelten. Dies wird daher von uns im Nachstehenden auch für den Begriff der Nation (des Volkes) unternommen, und zwar — nicht zuletzt auf Grund des Umstandes, daß der Jubilar, welchem diese Festschrift gewidmet ist, einer der bedeutendsten Vertreter der katholischen Soziallehre des 20. Jahrhunderts ist — auf der Grundlage jenes Verständnisses, welches ihm i m Bereich der katholischen Gesellschafts- und Staatsethik beigelegt wird. 50
So Johannes Messner, Das Naturrecht — Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik (7. Aufl. Berlin 1984), 654. 51 52
Vgl. ibid., 657 ff. Ibid., 659.
316
Heribert Franz Köck
2. Die politische Organisationsform
der Nation
Eine solche politische Organisation der Nation ist gleichbedeutend mit deren politischen Autonomie (i. o. S.). Was nun deren Art und Umfang anlangt, so bestimmt sich dieselbe danach, was im Einzelfall notwendig ist, die Nation als Einheit zu organisieren und diese Einheit im Interesse ihrer Entfaltung sowie der ihrer Glieder wirksam zu machen. 53
a) Quasi-staatliche Organisation (Autonomie i. e. S.) Nach verbreiteter Auffassung genügt hiefür bereits eine quasi-staatliche Organisation. Dies setzt freilich voraus, daß allen natürlichen Rechten in jenem Staat, in dem sie mit anderen Nationen zusammenlebt, durch einen voll garantierten Minderheitenstatus und eine ausreichende Selbstverwaltung Genüge geschieht. 54 Diese Rechte schließen auch „das Recht der Nation auf Selbstentfaltung und Lebensausweitung durch wachsende Anteilnahme an den Funktionen und Früchten der internationalen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kooperation" ein. 5 5 Um dies sicherzustellen, muß auch der nicht zur Eigenstaatlichkeit gelangten Nation ein Zugang zu internationalen Instanzen gewährleistet sein, an die sie sich im Falle der behaupteten Verletzung ihrer Rechte wenden kann. Dem Erfordernis des internationalen Menschenrechtsschutzes 56 entspricht daher das Erfordernis des internationalen Schutzes der Rechte von Völkern oder Volksgruppen. 57
53
Nach Messner, ibid., 659, kommt uns „[f]ür die genauere Bestimmung der politischen Autonomie der Nation ... die Elastizität [des] Begriffes der Autonomie zustatten... Er schöpft seinen konkreten Inhalt nicht aus vorgefaßten Ideen, sondern aus der tatsächlichen Gestaltung der Funktionen, die in naturgegebenen und existentiellen Zwecken ihren Grund haben." 54
Vgl. ibid., 660. Zum Minderheitenproblem vgl. zusammenfassend Francesco Capotorti, Minorities, in: Bernhardt (oben Anm.3), 8 (1985), 385ff.; auch Heribert Franz Köck, Der Begriff der rechtlichen und faktischen Gleichheit von Minderheiten. Nachlese zu einem Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs aus 1935. Gleichzeitig ein Beitrag zur Frage der Volksgruppenförderung in Österreich, in: 12 Wiener Blätter zur Friedensforschung (1977), 13 ff. 55
Messner (oben Anm. 50), 660. Dazu vgl. allgemein Louis Henkin, Human Rights, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 8 (1985), 268ff.; auch Stephen R Marks, Human Rights, Activities of Universal Organisations, in: ibid., 274 ff. 57 Dazu vgl. Theodor Veiter (Hrsg. u. Bearb.), System eines internationalen Volksgruppenrechtes, Bd. 1-3 (Wien-Stuttgart 1970, 1972, 1978). 56
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
317
b) Eigenstaatlichkeit Ob im konkreten Fall ein abgesicherter Minderheiteristatus und entsprechende Selbstverwaltung ausreicht, um die wesenhaften Zwecke einer Nation oder eines ihrer Teile zu verwirklichen, hängt freilich von den konkreten Umständen ab. Sie reichen aber jedenfalls dann nicht aus, wenn der Staat, in dem das betreffende Volk oder die Volksgruppe zusammen mit anderen Nationen lebt, nicht bereit oder nicht in der Lage ist, eine entsprechende eigenständige Entwicklung der Nation zu gewährleisten. Eine mangelnde Bereitschaft wird sich in der Vorenthaltung eines entsprechenden Minderheitenstatus oder einer ausreichenden Selbstverwaltung zeigen, kann aber z. B. auch in Form der ökonomischen Ausbeutung einer kleineren Nation durch eine größere im Rahmen eines gemeinsamen Staates kraft politischen oder ökonomischen Übergewichts der letzteren zum Ausdruck kommen. Mangelnde Fähigkeit wiederum kann durch eine nicht ausreichende Entwicklung des betreffenden Staatswesens, seine Paralysierung, vor allem durch interne politische Konflikte, aber auch durch seine fortschreitende Desintegration bedingt sein, die es ihm nicht mehr erlaubt, die notwendigen Funktionen zu erfüllen. 58
c) Nicht abstrakte, sondern konkrete Beurteilung In beiden Fällen — ob nun der betreffende Staat, in dem ein Volk oder eine Volksgruppe lebt, nicht bereit oder bloß nicht in der Lage ist, die natürlichen Rechte dieses Volkes oder dieser Volksgruppe zu sichern — in jedem Fall hat letzteres bzw. letztere das Recht, ihre notwendige politische Autonomie unter diesen Umständen in der Eigenstaatlichkeit und damit als Glied der internationalen Gemeinschaft zu verwirklichen. Ob dabei mit den übrigen Nationen, mit denen das betreffende Volk oder die Volksgruppe 58 Es ist bemerkenswert, daß Messner hier auch ein individuelles Element, nämlich die geschichtliche Entwicklungsstufe des betreffenden Volkes, als Kriterium heranzieht, darüber hinaus aber ein Minimum an internationaler Rechtsfähigkeit in jedem Fall als unabdingbar ansieht. Dem Recht der Nation „kann daher je nach den besonderen geschichtlichen Verhältnissen ebenso Genüge geschehen in der staatlichen Einheit mit anderen Nationen wie durch Eigenstaatlichkeit in der Gemeinschaft der Nationen. Für eine in ihrer Entwicklung fortgeschrittene Nation kann möglicherweise das Minimum dieser Autonomie tatsächlich die Souveränität im Rahmen der internationalen Ordnung oder eines föderativen Staatsverbandes sein. ... Nach außen ist für die Autonomie der Nation mindestens der direkte Kontakt mit der organisierten Völkergemeinschaft sowie mit ihren Organisationen und Institutionen erforderlich zum Zwecke der Sicherung ihrer Rechte, wenn sie mit guten Gründen deren Verletzung nachweisen kann." Ibid., 660 (Hervorhebg. i m Orig.).
318
Heribert Franz Köck
bisher in einem Staat zusammengelebt hat, noch irgendeine engere Verbindung — z. B. in Form eines Staatenbundes — eingegangen wird, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, welche jede Nation für sich beurteilen muß.
3. Selbstbestimmung und territoriale der relativen Rechte
Integrität
Aus dem Vorgesagten erhellt, daß das Selbstbestimmungsrecht kein absolutes Recht ist, das einem in einem Staat lebenden Volk oder einer Volksgruppe jederzeit das Ausscheiden aus diesem Staatsverband erlaubt. Vielmehr geht dieses Recht auf Selbstbestimmung nicht weiter als das Recht auf Realisierung all dessen, was eine Nation zur Realisierung ihrer Autonomie, nochmals: zu ihrer Organisierung als einheitliche Nation und zur Wirksammachung dieser Einheit im Interesse ihrer eigenen Entfaltung sowie der Entfaltung ihrer Glieder bedarf. Ist diese Autonomie auch im Rahmen eines multinationalen Staates gewährleistet, so besteht kein Anspruch einer einzelnen Nation auf Sezession zur Erlangung der Eigenstaatlichkeit; 5 9 insoweit geht hier also der Grundsatz der territorialen Integrität des Gesamtstaates vor. Ist jedoch die genannte Autonomie im Rahmen eines multinationalen Staates nicht gewährleistet, so hat die betreffende Nation oder Volksgruppe das Recht (und ihre politische Führung unter Umständen sogar die Pflicht), sich aus diesem Verbund zu befreien und die Lebensinteressen des Volkes in Eigenstaatlichkeit zu verwirklichen zu versuchen. 60 Das Recht auf territoriale Integrität eines Staates muß also hier dem Recht auf Selbstbestimmung weichen.
4. Das Gemeinwohlprinzip
als absoluter Grundsatz
Beide Grundsätze — der Grundsatz der territorialen Integrität eines Staates und der Grundsatz der Selbstbestimmung — erweisen sich so als relativ-, welcher der beiden Grundsätze im Einzelfall zum Zug kommt, hängt 59
Nach Messner „bedarf die Nation für ihre Autonomie nach innen nur einer quasi-staatlichen Organisation. Weitergehender politischer Funktionen bedarf die Nation für ihre wesenhaften Zwecke nicht". Ibid. 60 Das ist eine unabweisbare Konsequenz aus dem Recht der Nation auf Selbstentfaltung und Lebensausweitung durch wachsende Anteilnahme an den Funktionen und Früchten der internationalen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kooperation: „Die internationale Lösung muß daher für das dynamische Element i m Wesen der Nation Raum lassen, das in der Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung der Individualität eines Volkes wirksam werden w i l l . . . " Messner, ibid., 660.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
319
von den konkreten Umständen eben dieses Einzelfalles ab. Zumindest i m Vergleich dazu stellt sich das Gemeinwohlprinzip als absoluter Grundsatz dar und begründet gleichzeitig ein Recht und eine Pflicht: das Recht, am Gemeinwohl teilzuhaben, und die Pflicht, zu diesem Gemeinwohl beizutragen. 61 Ist das Wohl eines Volkes oder einer Volksgruppe aber in einem multinationalen Staat ausreichend gewährleistet, dann hat es kein Recht, unter Verletzung des Gemeinwohls der übrigen in diesem Staat lebenden Nationen, dessen politisches Gefüge zu zerstören. 62 Ist dagegen das Wohl eines Volkes oder einer Volksgruppe innerhalb eines Staates nicht gesichert, so haben die anderen in diesem Staate lebenden Nationen kein Recht, dieses Volk oder diese Volksgruppe daran zu hindern, ihr Gemeinwohl in einem separaten politischen Körper, also in einem eigenen Staate, zu suchen.
V I I . Ergebnis und Ausblick Dieses Ergebnis ist durchaus geeignet, die bisherige praktische Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes in der internationalen Gemeinschaft zu erklären, geht aber gleichzeitig über dieselbe hinaus und ermöglicht eine systematische und widerspruchslose Einbettung des Selbstbestimmungsrechts in der heutigen internationalen Ordnung überhaupt. Vor allem macht es deutlich, daß das Selbstbestimmungsrecht kein Vorrecht bestimmter Völker oder Volksgruppen ist, selbst nicht solcher, die durch das beklagenswerte Stadium des Kolonialismus gehen mußten. Selbstbestimmungsrecht ist kein Sonderrecht für überseeische koloniale Völker bzw. Gebiete, sondern ein ganz allgemeines Recht jeden Volkes und jeder Volksgruppe, das seine (die ihre) eigenen Lebensinteressen anders nicht zu sichern vermag. Ob es im Einzelfalle platzgreift, kann freilich nur in eben diesem konkreten Einzelfall in redlicher Abwägung aller seiner Aspekte beantwortet 61 Vgl. R. Herzog et al., Gemeinwohl, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie II (Darmstadt 1974), 248 ff. 62 In diesem Sinne anerkennt Messner zwar, daß ,,[i]m Begriff der Nation ... wesenhaft ein politisches Element mitgegeben [ist], die Nation ... demnach eines Ausmaßes von politischer Autonomie für ihr Eigensein und Eigenleben und für die ihr damit gestellten Aufgaben [bedarf]", doch müsse ,,[d]iese Autonomie ... keineswegs absolute Staatssouveränität sein, wie das Prinzip absoluter nationaler Selbstbestimmung behauptet. ... Die in der Nation zu verwirklichenden existentiellen Zwecke begrenzen ... das politische Element im Wesen der Nation auf die zur Erfüllung ihrer wesenhaften Aufgaben notwendige politische Autonomie." Ibid., 661. Daher müsse man „Vorkehrungen treffen, diese Kräfte [der Nation] auf Wege zu leiten, die mit den Interessen der Gesamtheit der Nationen vereinbar sind." Ibid., 660 f.
320
Heribert Franz Köck
werden. 63 Da i m Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht jene, die es in Anspruch nehmen wollen, und jene, die die Berechtigung seiner Inanspruchnahme i m konkreten Falle leugnen, in gewissem Sinne immer auch Partei sind, ist im Bereich der Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechtes die Einschaltung einer unparteiischen Drittinstanz 64 zumindest zweckmäßig. Die internationale Entwicklung scheint auch in diese Richtung zu gehen. 65
63 Die Schwierigkeit dieses Vorganges liegt vor allem darin, daß politische Aspekte die Neigung haben, sich in den Bereich der an sich rein rechtlichen Beurteilung zu drängen, und damit eine unbefangen-objektive Betrachtung erschweren. Vgl. dazu Heribert Franz Köck, Die Wege zur Eigenstaatlichkeit. Das Selbstbestimmungsrecht gehört zu den fundamentalen Prinzipien des Völkerrechts, in: Die Furche vom 10. Oktober 1991. 64
In diesem Sinn wurde in der Vergangenheit für die Qualifikation nationaler Befreiungsbewegungen als zumindest partielle Völkerrechtssubjekte die Anerkennung derselben durch eine regionale Organisation (z. B. durch die Organisation für Afrikanische Einheit oder durch die Liga der Arabischen Staaten) gefordert, gleichzeitig aber auch (jedenfalls von den Vereinten Nationen) als ausreichend angesehen. Vgl. nochmals Ginther (oben Anm. 21), 245. Wieweit allerdings Staaten und Organe internationaler Organisationen, welche wiederum mit weisungsgebundenen Staatenvertretern besetzt sind, wegen des bei der Frage der Anerkennung stets mitspielenden Eigeninteresses als ausreichend unparteiische Drittinstanzen angesehen werden können, muß dahingestellt bleiben. Hier wäre es zweckmäßig, die Qualifizierung einem nichtweisungsgebundenen Organ, am besten einem, welches sonst mit der Rechtsprechung befaßt ist, zu übertragen. 65
So hat gerade im Jugoslawien-Konflikt die Europäische Gemeinschaft nicht nur die Beurteilung der Lage in Jugoslawien einschließlich der Festsetzung von Kriterien für die Anerkennung der einzelnen Nachfolgestaaten für sich in Anspruch genommen, sondern auch entsprechende Vorschläge zur Beilegung des Konfliktes auf der Grundlage der Umwandlung der Föderation in einen losen Bund souveräner Staaten vorgeschlagen. Freilich wird es auch hier bis zu einem effektiven internationalen drittinstanzlichen Verfahren noch ein langer Weg ein. Dies zeigt schon der Umstand, daß selbst die internationale Gerichts- und Schiedsgerichtsbarkeit, welche ja auf den engeren Bereich der Rechtsstreitigkeiten beschränkt ist, noch immer unter einem Mangel ausreichender Akzeptanz leidet. Vgl. Hans-Jürgen Schlochauer, Arbitration, in: Bernhardt (oben Anm. 3), 1 (1981), 13ff.; Helmut Steinberger, Traditional Settlement of International Disputes, in: ibid., 120ff.; sowie die Spezialartikel von HansJürgen Schlochauer über: International Court of Justice, in: ibid., 72ff.; dens., Permanent Court of International Justice, in: ibid., 163ff.; und dens., Permanent Court of Arbitration, in: ibid., 157 ff. Um wieviel schwerer wird sich die Akzeptanz einer drittinstanzlichen Entscheidung in Selbstbestimmungsfragen gestalten, wo die Konflikte nicht nur Recht-, sondern auch Interessenskonflikte sind. Zu diesem Verhältnis von Rechts- und Interessenskonflikten vgl. Peter Fischer und Heribert Franz Köck, Allgemeines Völkerrecht (3. Aufl. Eisenstadt 1991), 250 ff.
MENSCHENRECHTE I N DER ETHIK UND THEOLOGIE DES ISLAM I M SPANNUNGSFELD ZUR NATURRECHTLICHCHRISTLICHEN ANTHROPOLOGIE Wien - Helsinki 199Î Von Robert Prantner Zu den schwierigsten politischen und ideellen Fragen, welche die Völkergemeinschaft zu beantworten hat, zählen jene, die den Grenzbereich von gesellschaftlichem, staatlichem und religiösem Selbstverständnis der einzelnen Subjekte des internationalen Rechtes betreffen. Unter jenen steht augenscheinlich die mehr oder minder aneinander geschmiedete Staatengemeinschaft der islamischen Länder im mediterranen Räume im Vordergrund. Dem Verfasser war es anvertraut, zu Beginn des Jahres 1991 in der finnischen Hauptstadt Helsinki einem repräsentativen Forum aus den Unterzeichnerstaaten der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" die Beziehungen des Islam als Religion zu den „Menschenrechten" zu erläutern. Die Konferenz, die unter der Patronanz der Hanns-SeidelStiftung der CSU Bayerns gestanden war, setzte sich aus Vize-Ministerpräsidenten, Staatsministern, Parlamentariern, Professoren des Völkerrechts und der politischen Philosophie, sowie hervorragenden Publizisten aus mehreren Kontinenten, vorwiegend aber aus Europa und der Welt des Nahen Ostens zusammen. In redigierter Fassung widmet der Verfasser seine Überlegungen in respektvoller Freundschaft und Kollegialität dem hohen Jubilar, Univ. Prof. P. Dr. Dr. h. c. Johannes SCHASCHING S. J., zur Vollendung seines 75. Lebensjahres. Dies ist die dankbare Erinnerung eines Schülers an den unvergessenen akademischen Lehrer, der zum Vorbild geworden ist. Die Abhandlung des Themas wird wie folgt gegliedert: I.
Völker, Staaten, Menschenrechte — eine offene Frage an den Islam
II.
Ethos und Ethik im Islam — ein Synonym für Religion und Theologie?
III. Mensch, Gesellschaft, Staat — eine Koinzidenz mit der Religion des Islam IV. Recht und Menschenrechte im Gefüge der einen Wesenheit von Mensch und Gesellschaft im Islam Festschrift Schasching
322
V.
bert
ran
Kompromisse als „Modernismus" im islamischen Menschenrechtskonzept
VI. Menschenrechte in den islamischen Staaten des Nahen Ostens heute — das Spannungsfeld zum naturrechtlich-christlichen Erbgut der Völkergemeinschaft.
I. Völker, Staaten, Menschenrechte — eine offene Frage an die Religion des Islam Die Geschichte der Verletzung der Menschenrechte während der nun ablaufenden zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war im Bereich ihrer Verursachung eine Geschichte der Ignoranz von Menschenrechten aus machtpolitischen Überlegungen. Dies gilt aber nicht vollinhaltlich. Denn standen auch Gründe der inneren und äußeren Vorherrschaft der judiziellen Verhaltensweise islamischer Staaten Pate, so liegen die Primärmotive auf legistischem, ja auf konstitutionellem Bereich ihrer Fundamente und ihrer Staatsräson. Über „Menschenrechte" in der thematisch angesprochenen politischen Landschaft des Islam zu sprechen führt zu zwei voraussetzenden Überlegungen: 1. Ein in der Tat gemeinsamer Konsens aller Völker über Ursprung, Wesen und Gestalt von Menschenrechten scheint nur dann gegeben, wenn das Menschen- und Gesellschaftsbild der einzelnen Regionen, kulturellen Zonen und der verschiedenen Religionen ident oder nahezu flächendeckend ist. Dies ist aber heute nicht der Fall. Vielmehr akzeptiert ein Großteil der in der Organisation der Vereinten Nationen anzutreffenden Staaten ein dem religiösen Bekenntnis vorgegebenes, in die Natur des Menschen eingestiftetes Konzept von grundlegenden und zugleich allgemeinen Menschenrechten. Dieses Konzept kann durch das Licht der Vernunft, durch Instinkt und Gewissen erkannt, durch eigene Erfahrungen und die Erfahrungen anderer in der Geschichte bekräftigt werden. Ein anderer Teil der Weltbevölkerung in einigen Staaten zusammengefaßt ignoriert diese „Vorgabe" der menschlichen Natur und hält an willkürlichen, durch positives Recht gesetzten Normen fest, die nicht immer den Anforderungen der Menschenwürde in sozialer Gerechtigkeit entsprechen. Ein dritter Teil wiederum setzt das Menschen- und Gesellschaftsbild einer Offenbarungsreligion über die Natur des Menschen in Widerspruch zu Primärerkenntnissen der menschlichen Vernunft. In diesem dritten Falle stehen Ethos und Ethik nicht der Religion und ihrer Theologie voran,
Menschenrechte in der Ethik und Theologie des Islam
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sondern werden ihr untergeordnet. Dies trifft bei der monotheistischen Weltreligion des Islam zu. 2. Um der universalen politischen Ziele willen, die das Gemeinwohl (Bonum commune) der Weltgesellschaft begründen, bekennen sich die meisten Staaten der Erde zu einem gemeinsamen Verständnis der Menschenrechte i m Sinne der „Menschenrechtserklärung" der Organisation der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. In sehr differenzierter Weise kommt diesem Bekenntnis die reale Umsetzung in das innerstaatliche Recht, zuweilen aber auch nur deklamatorischer Charakter zu. Es wäre eine Verkennung und abträgliche Schmälerung der hohen sittlichen Ideale des Islam, wollte man den Staaten, in welchen er zur Staatsreligion geworden ist, in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, vor allem aber in der Ausgefeiltheit des Rechtsdenkens, nur deklamatorischen Charakter zubilligen. Menschenrechte in jenen Ländern, die in Rede stehen, lassen aber immer eine Frage offen: jene nach den Inhalten von Schlüsselbegriffen, deren Realisierung die Fundamente des Weltgemeinwohls begründen. Von „Menschenrechten" etwa i m Iran, i m Irak und in den Staaten der arabischen Halbinsel zu sprechen, bedeutet nämlich ein theologisches, nicht ein sozialethisches Gespräch zu beginnen. Dies sollte nicht verwundern. Denn wir erkennen aus der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte die Bedeutung des philosophisch-kulturellen, des religiösen, des politischen und schließlich des ideologischen Hintergrundes: Daher ist auch der Inhalt des Rechte- und Pflichtenkatalogs bestimmt durch die Auffassung vom Wesen des Menschen, seine Beziehung zu Sein und Existenz i m weltimmanenten, aber auch transzendierenden Sinn und die gesamte kulturelle Ambiente, die den Stufenbau des Rechtes profiliert. 1
II. Ethos und Ethik im Islam — ein Synonym für Religion und Theologie? Mitunter drängt sich die Überlegung auf, daß die Beschreibung der Charaktermerkmale, aber auch der Wesenseigenschaften von Mensch und Gesellschaft hinsichtlich deren sittlicher Natur — vom Ethos zur Ethik hin — im Bereiche der Religion des Islam ident sei mit einem religiösen Lebensvollzug des Muslims und der diesem zu Grunde liegenden Theologie. Welcher „Materie" entspricht i m Denken der Muslims also wirklich der griechische Bereich einer „Ethik"? Der griechischen Disziplin der Ethik 1 Vgl. dazu Robert Prantner, Mensch und Gesellschaft, Kapitel „Mensch und Gesellschaft in der Konzeption des Islam", W i e n 1982, 72 ff.
2
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Robert Prantner
entspricht i m Arabischen, wie Peter Antes festhält, 2 der ,,'ilm alahläq". Mit ,,'ahläq" wird in der Übersetzungsliteratur die griechische Ethik wiedergegeben. „Kitab al-ahläq" (wörtlich: Buch der Charaktereigenschaften) war von Anfang an der arabische Titel der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Aus der Ethik wird so der ,,'ilm al-ahläq", die „Charaktereigenschaftskunde". Was mit Sittlichkeit ( = ahläq) gemeint ist, erklärt ein zeitgenössischer Autor so: „Sittlichkeit i m Islam ist eine Ordnung, eine Ordnung, die ins einzelne geht, das Verhalten des Menschen umfaßt und das ordnet, was dahinter an Beweggründen und Absichten steht." 3 Die Akzentverschiebung von den Griechen zum Islam hin wird dadurch verdeutlicht: es geht darum, einzelne Verhaltensweisen als angemessen oder sogar ideal hinzustellen. Es geht nicht darum, eine Philosophie des Guten zu entwickeln, aus der das Verhalten des einzelnen ableitbar wäre. Dies ist nicht zuletzt aus dem islamischen Begriff der göttlichen Allmacht und der menschlichen Handlungsfreiheit zu verstehen. Gott ist der „Schöpfer von allem" (Koran 6, 102), der stets „tut, was er will" (Koran 11,107). Seine Allmacht und Freiheit wird deshalb auch nicht durch den sündigen Menschen begrenzt oder beeinträchtigt, was in der ascharitischen Schule zur Theorie der „Aneignung" der Tat durch den Täter geführt hat, wodurch der Täter selbst die alleinige Verantwortung für die Tat übernimmt. 4 Gut und Böse sind i m Konzept der islamischen Ethik keine Wesensmerkmale, die „in se" Verhaltensweisen eigen sind; sie entstammen einzig und allein Kategorien positiver Satzung, denn „Gott tut, was er will" (Koran 11, 107). Daher ist die menschliche Vernunft von sich aus nicht fähig, die gottwohlgefällige Qualifizierung nach „gut und böse" treffsicher zu erkennen und eigenständig vorzunehmen. 5 Der Mensch bedarf dazu der Mitteilung durch Gott (Offenbarung), der nach freiem Entschluß festlegt, was im einzelnen gut und böse ist, und dann das Gute befiehlt und das Böse verbietet. Gut ist demnach stets das, was Gott zu tun befiehlt, und schlecht/ böse das, was er verbietet. Über die Gründe, die Gott zu der konkreten Qualifizierung bewogen haben, kann man nur Vermutungen anstellen. Jedenfalls gilt: Gott hätte in jedem konkreten Falle auch anders qualifizieren können. Sein Entschluß ist durch keine irgendwie geartete Seinsordnung vorprogrammiert oder bedingt. Gott ist wirklich „der Schöpfer von allem". Ethische Fragestellungen als solche kennt folglich der Islam nicht. Man kann daher mit gutem Grunde sagen, daß es im Islam keine Ethik gibt. 6 2 3 4 5 6
Vgl. Peter Antes, Ethik und Politik i m Islam, 1982, 41 f. A b i d Taufiq al — Hâsîmi: Turuq tadris ad-din, Beirut 1974, 224. Peter Antes, a.a.O., 41. Peter Antes, a.a.O., 42. G.H. Bousquet, L'Éthique sexuelle de l'Islam, Paris 1966, 1 ff., 185 ff.
Menschenrechte in der Ethik und Theologie des Islam
325
Anderseits gibt es aber sehr wohl Vorschriften und Anweisungen, die zur Ethik etwa i m naturrechtlichen Sinne auch des säkularisierten Westens zu rechnen sind. Würde man diese herausgreifen und darstellen, so trägt man damit in den Islam eine Unterscheidung zu moraltheologisch begründeten sittlichen Verhaltensnormen aus der Offenbarung hinein, die es aber im Islam nicht gibt. Es wäre dies die Unterscheidung zwischen Religion und Ethik, die ihm von seinem ganzheitlichen Denkansatz her fremd ist. Würde man dennoch solche „Normen", die den einzelnen Muslim verpflichten, herauslösen und zu einem System einer islamischen „Ethik" kompilieren, so geriete diese wohl in ein gewisses schiefes Licht. Infolge dieser Überlegung versucht der Muslim in einem ethisch-religiösen Streitgespräch stets „weiter auszuholen" und ein gebündeltes Maß theologischer Belegstellen zu präsentieren. Der Muslim übt — zu Recht! — an den säkularisierten Gesellschaften des sogenannten freiheitlichen Westens Kritik. In diesen sei neben der Privatisierung und weitreichenden Zurückdrängung von Religion und Kult eine nicht minder wichtige „Privatisierung von Ethik" getreten, die solange als zulässig betrachtet werde, solange sie an den Grundwerten, die das Zusammenleben ermöglichen, nicht rüttelt. Das bedeutet, solange ihre Konsensfähigkeit noch gewährleistet ist. Der Islam lehnt eine solche Konsenstheorie ab. 7 Er hält auch die Privatisierung von Ethik für unzulässig und bekämpft sie durch die strikte Ablehnung der Privatisierung von Religion. Ethik und Religion sind eine untrennbare Einheit, wie es im Koran (2, 177) unmißverständlich heißt: „Die Frömmigkeit besteht nicht darin, daß ihr euch (beim Gebet) mit dem Gesicht nach Osten oder Westen wendet. Sie besteht vielmehr darin, daß man an Gott, den jüngsten Tag, die Engel, die Schrift und die Propheten glaubt und sein Geld — mag es einem noch so lieb sein — den Verwandten, den Waisen, den Armen, dem, der unterwegs ist, den Bettlern und für (den Loskauf von) Sklaven hergibt, das Gebet (salât) verrichtet und die Almosensteuer (zakät) bezahlt. Und (Frömmigkeit zeigen) diejenigen, die, wenn sie eine Verpflichtung eingegangen sind, sie erfüllen, und die in Not und Ungemach und in Kriegszeiten geduldig sind. Sie (allein) sind wahrhaftig und gottesfürchtig." W i e Peter Antes besonders hervorhebt, richtet sich der zitierte Koranvers an den Einzelnen und gibt Anweisungen für sein individuelles Verhalten, eine Systemveränderung gesellschaftspolitischer Art wird dadurch nicht angesprochen. 8 Welche sind die Fundstellen einer islamischen Ethik „sui generis"? 7 8
Peter Antes, a.a.O., 40. Peter Antes, a.a.O., 41.
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Robert Prantner
Vor allem hat der Koran eine durch nichts zu überhöhende Bedeutung zur Errichtung sittlicher Vorstellungen. Als „Gottes unmittelbares Diktat" im Glauben akzeptiert, enthält der Koran die unmittelbaren und praktisch anzuwendenden Aussagen über das, was Gott geboten und verboten hat. Eine weitere Quelle sind die theologischen und juristischen Sammelwerke. In diesen werden die koranischen Grundsätze im Hinblick auf konkrete Rechtsfälle und Verhaltensweisen aufgezeigt und kodifiziert. Kasuistische Regelungen sind für die medinensische Zeit besonders wichtig. Sie werden ergänzt durch theologische Handbücher, die oftmals der Adab-Literatur 9 als Gattungsbegriff entsprechen: sie gleichen Romanen, Fabeln, Anekdoten, Aphorismen und sind gewissermaßen „lehrreiche Geschichten" mit spezifischen moralischen „ergo"s. Zusammenfassend kann gesagt werden: „Alle Bereiche des Lebens, wie tägliche Sitten, Dichtung, Kunst, geistiges und kulturelles Schaffen, Handel und Gewerbe, Politik und Wirtschaft, sind mehr oder weniger eng mit der Religion verbunden gewesen, so daß keine Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen zustande gekommen ist. Selbstverständlich wird in gewisser Hinsicht zwischen diesen beiden Bereichen unterschieden. Diese Trennung bedeutet jedoch keine Trennung in zwei voneinander begrenzte Wirklichkeitsbereiche. Das Weltliche ist vielmehr dem Geistlichen untergeordnet und erhält eben dadurch seinen Sinn und seine Erfüllung. Alles wird also von der Religion umfaßt, durchdrungen oder doch zumindest gefärbt. Es ist bezeichnend, daß in keiner der islamischen Sprachen ein Wort zu finden ist, das den genauen Sinn des Wortes ,säkular' wiedergibt." 10
I I I . Mensch, Gesellschaft, Staat — eine Koinzidenz mit der Religion des Islam Mensch, Gesellschaft und Staat sind theologisch von der Religion des Islam nur bedingt, und dies auch nur in einigen wenigen Facetten, zu trennen. Denn der Islam ist nicht allein eine Offenbarungsreligion, die den Weg der Lebenserfüllung des einzelnen Menschen i m jenseitigen Glück einer ewigen Beseligung bei Gott vorzeichnet. Der Islam impliziert zugleich die Gründung eines spezifisch islamischen Staates. Er enthält also ineinander verflochten eine geistlich-religiöse und eine weltlich-politische Gestaltungsform. Die Einheit von Religion und Politik, von Einzelmensch, Gesellschaft und Staat 9
Enzyklopädie des Islam, I, 175 f. (Adab). Vgl. Hamid Algar, Zur Frage des Säkularismus in der islamischen Welt, in: Glaube an den eigenen Gott, Graz 1990, 134. 10
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zu einem untrennbaren Ganzen schafft auch die Rahmenbedingung für ein allfälliges Konzept von Menschenrechten. Der Schlüsselbegriff ist die „umma", jener islamische Staat, der die politische Organisation der Gemeinde der Bekenner, der Muslim, repräsentiert. Die rechtliche Grundlage des Zusammenlebens der Muslims aber ist das islamische Gesetz, die „sharî'a", die die Beziehungen des einzelnen Menschen zum Staat und zu Gott regelt. Sie ist der unmittelbare Ausdruck des Willens Gottes; durch sie lenkt Allah die Geschicke seiner Gemeinde. Gott selbst ist der Gesetzgeber; das Gesetz ist von ihm ein für allemal i m Koran gegeben worden. Auch die Exekutive liegt beim Legislator, nämlich Gott. Er delegiert sie an einen Mittelsmann, das heißt an den Propheten, und nach dessen Tode an den Imam oder Kalifen, den Stellvertreter des Gesandten Gottes, und so fort in der Auffächerung der islamischen Geschichte. Der islamische Staat kennt im Eigentlichen nur ein einziges Ziel: eine Gemeinde zu organisieren, in der es einer möglichst großen Anzahl von Menschen möglich ist, moralisch wie physisch in Übereinstimmung mit dem Gesetze Gottes zu leben. Um es abzurunden: der Fall eines Atheisten, eines Nichtgläubigen, eines Agnostikers, der naturrechtlich seine Menschenwürde bewahrt wissen will, ist nicht vorgesehen. Der protestantische Theologe und Islamist Ulrich Schoen skizziert in einer Studie zu dieser Frage das Ausgangsbild: „Islam" bedeutet Selbstauslieferung an Gott. Sie betrifft den „Moslem", das heißt den „einzelnen Glaubenden" und die „Umma", die Gemeinschaft der Glaubenden. Der Mensch wird auch religiös als Gemeinschaftswesen angelegt und „er hat sich als Gemeinschaft" freiwillig hinzugeben. „Adam" bedeutet ja auch „Mensch" i m kollektiven Sinn. Islamische (Religions-)Gemeinschaft aber ist allemal organisierte Gesellschaft im höchsten, faßbaren Sinn auch westlicher Soziologie, ist Gesellschaft und Staat zugleich. Einer solchen Gesellschaft kommt messianisch-eschatologischer Charakter zu. Nach dem Zeugnis des Korans ist der Islam die beste der Gemeinschaften und ein „Volk der Mitte". In einem Spruch des Korans ist davon die Rede, daß die letzte der „menschlichen Gemeinschaften" i m Verlauf des Wandels der Geschichte auch die beste sein werde, eben jene unter der Fahne des Propheten. Der Islam versteht seine Zeugenrolle als „Herausforderung an die Welt", wie sie Muhammad Hamidullah in Paris bereits 1963 formulierte: „Der Islam ist bestrebt, eine Weltgemeinschaft zu errichten, in der völlige Gleichheit zwischen den Völkern herrscht, ohne Trennung nach Rassen oder Klassen oder nach Gebieten ... Jeder einzelne Mensch ist persönlich vor Gott verantwortlich. Im Sinne des Islam ist der Auftrag dessen, der regiert, auch als ein Ort zu verstehen, an dem das Vertrauen der Gemeinschaft hinterlegt ist, als ein Dienst, bei dem die Bediensteten die Diener des Volkes sind."
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Die Einheit der Wirklichkeit, wie sie der Moslem in seiner Gottes- und Welterfahrung erlebt, kommt durch die Dialektik von individuellem und kollektivem Tun deutlich zum Ausdruck. Bekennen, Beten, Fasten, Pilgern, „Abgeben für den Armen" sind als Orthopraxie vom islamischen Gemeinschaftsverständnis, damit aber auch vom Herrschaftsanspruch über und für Gesellschaft und Staat nicht zu trennen, gibt es doch im Islam keine Trennung von geistlichem und weltlichem Bereich. Der sozialtheologische Auftrag, der islamische Führer durchwaltet, gilt in den korrespondierenden Gemeinwesen dem staatspolitischen Wirkprinzip: in der politischen Gesellschaft den „Weg", den „Pfad" („sabil") Gottes zu gehen. Und zwar ist es nach diesem Selbstverständnis Gott, der sich selbst, seiner Botschaft und seiner „Umma" den Weg bahnt. Daher gilt es, in persönlicher und gemeinschaftlicher menschlicher Anstrengung dieses Tun Gottes zu verwirklichen oder zumindest nachzuvollziehen. Um dies zu verdeutlichen, sei auf den Dialog zwischen Islam und römischkatholischer Kirche i m Jahre 1976 verwiesen; auf dem Kolloquium von Tripolis, das zwischen dem libyschen Staatschef Gaddafi und den Repräsentanten des Heiligen Stuhls geführt worden war, wurde die ganze theologische Tiefe in den für Mohammedaner keineswegs ambivalenten Räumen von „Staat und Kirche" sichtbar; der in Rede stehende Problemkreis hatte sein Zentrum in der Frage nach dem theokratischen Anspruch des Heiligen Stuhles. Es galt, auf der einen Seite zu bezeugen, daß Gott auch die Gesellschaft durch seine Gebote formt, und es galt ebenso zu bezeugen, daß Gottes Reich nicht von dieser Welt ist. Wie ist demnach eine „islamische Gesellschaftsreform" konturiert? Die Suche gilt dem „geraden Weg" (Sure 1,6), auf dem die Gesellschaft sich Gott hingibt, auf dem Gott die Gesellschaft nach seinem Willen führt. Der Islam begreift, daß er sich den sozio-ökonomischen und ethnisch-nationalen Auseinandersetzungen zu stellen hat: im Iran wie in Ägypten, in SaudiArabien wie in Algerien. Eine Gesellschaftsreform bedarf einer eindeutigen Orientierung. Zur Wahl stehen in der Linie der Zielvorstellungen die theokratische, die apokalyptische, die rationalistische und die mystische Variante: a) die theokratische, die „Umma" als feste Burg Gottes, die es religiös und politisch zu verteidigen und zu vergrößern gilt, wobei die Identifizierung von Religion und Politik Voraussetzung ist; b) die apokalyptische, die Annahme, daß die kommende, die letzte Welt, um es eschatologisch auszudrücken, auf unsere, diese konkrete Erdzeit zugeht und es daher imperativ (Gebot) sei, die Norm der Vergangenheit (den „Geist von Medina") hineinzuprojizieren;
Menschenrechte in der Ethik und Theologie des Islam
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c) die rationalistische; in dieser unserer Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Tatsächlichkeiten wird die Einheit von Glaube und Vernunft postuliert: denn „die wahre Einsicht, das wahre Wissen", ist die gläubige Einsicht, die Einsicht in die Gesetze der Welt, so wie sie Gott geschaffen hat; d) die mystische, der vierte Typ: Ausgangspunkt ist in nichtapokalyptischer Weise die „letzte Welt" unter Einbeziehung der Grunderfahrungen der Einheit der Wirklichkeit. Die andere große Grunderfahrung, jene der Diskontinuität zwischen Gott und Welt, kommt dabei jedoch nicht zu kurz, was sich in einer sogenannten „nicht-fundamentalistischen Freiheit" gegenüber den religiösen und gesellschaftlichen Formen dieser Welt ausdrückt. 11 Das Christentum einerseits sieht ausdrücklich die Trennung von Kirche und Staat vor. Die Philosophie Jesu bezüglich der Steuermünze des Kaisers ist kompromißfrei: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." (Mk 12, 17). Anderseits bedarf der Islam eines staatlichen Rahmens, will er als Religion reüssieren. Er braucht diesen in der Gesetzgebung, er benötigt eine islamisch gesinnte politische Gewalt und Staatsführung, um tatsächlich die an den Propheten Mohammed ergangene „Offenbarung" erfüllen zu können. Religion ist eben — wie recht verstanden auch im Christentum — nicht Privatsache, sondern Grundlage des Gemeinwesens. Das Spannungsfeld zwischen der Soziallehre des Islam und jener des Christentums gleicht einem solchen zwischen einer sozial durchwalteten Offenbarungstheologie und einer naturrechtlich begründbaren Sozialphilosophie mit religiösen Erhellungen und Überhöhungen. Denn Individualnatur und Sozialnatur des Menschen erfahren im anthropologischen wie im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich durch den Islam system-vorhergehende Sublimierungen in den theologischen Raum der Offenbarung, wo sie sich der rationalen Kontroverse kraft verschiedener Seinsebene entziehen. Wollte man jedoch aus dem natürlich-vernünftigen Denken über die menschliche Person und deren Mißdeutungsvarianten Analogien bemühen, so stünde der extreme „Umma"-Gedanke dem Kollektiv näher als der „Gemeinschaft der Heiligen" und die islamische Soziallehre enger angeschlossen an sozialtotalitäre Politsysteme denn an freiheitlichindividualistische Staatswesen. Dies ist auch die Ursache für die Faszination, die sozialdemokratische, ja selbst kommunistische Ideologien auf islamisch durchwaltete Völker ausüben, aber ebenso der Urgrund wie praktische Anstoß für die bittere Enttäuschung mit den Vertretern dieser marxistischen Ideologien, sobald die Gottesfrage gestellt wird. 11
Vgl. Robert Prantner, a.a.O., 73 f.
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Entsprechend anders ist auch das Verhältnis des Islam zu Recht und „Menschenrechten".
IV. Recht und Menschenrechte im Gefüge der einen Wesenheit von Mensch und Gesellschaft im Islam Das Thema „Menschenrechte" sollte niemals ohne die Frage nach dem Stellenwert des Rechtes überhaupt behandelt werden. Das ist das Recht, und welches ist sein Ort im Kontext des Islam? Das Recht im Islam ist „heiliges Recht". Shari'a, das heilige Recht des Islam, der rechte Weg oder in wörtlicher Übersetzung der „Weg zur Wasserstelle", ist die Summe aller Normen des islamischen Rechts und der islamischen Religion, die Gesamtheit von Allahs Anordnungen und Befehlen, die das Leben eines jeden gläubigen Muslim in allen seinen Teilbereichen regelt. Es enthält gleichermaßen Kult und Ritual betreffende Vorschriften wie auch politische und soziale und i m engeren Sinne juristische Anordnungen. Es ist schwer, dem islamischen Rechte die dem christlichen Europäer vertraute Systematik zu entnehmen. Denn das islamische Recht ist letztlich eine Widerspiegelung der gesamten islamischen Gedankenwelt und die „wohl ausdrücklichste Manifestation islamischer Lebensauffassung." 12 Islamisches Recht ist weitgehend Gelehrtenrecht und beruht auf immer mehr verfeinerten Einzelfallentscheidungen, denen aber keine präjudizierende Wirkung zukommt, da jeder Fall auf Grund erneuter Quellenexegese entschieden werden muß. Obwohl es den islamischen Staat als einen alle Gläubigen umfassenden einheitlichen Staat nicht gibt, existiert dennoch ein islamisches Recht. Während im abendländischen Raum normalerweise Staat und Recht eng miteinander verknüpft sind, dergestalt, daß es der Staat ist, der das Recht innerhalb seines Hoheitsgebietes normiert und auch durchsetzt, ist im Bereich der islamischen Staaten die Existenz eines supranationalen islamischen Rechtes deutlich festzustellen, eine Erscheinung, die für das Europa des 20. Jahrhunderts kaum nachvollziehbar zu sein scheint. Für den Islam gilt: Das Recht zu seiner Gänze teilt auch das Schicksal der Religion. Da die islamische Religion trotz ihrer Aufspaltung in zahlreiche, einander oftmals bekämpfende Gruppierungen und Schulen in ihrer Einheit nicht beeinträchtigt wurde, ja diese Einheit sich in letzter Zeit als immer stärker zu erweisen scheint, ist auch das Recht in der islamischen Welt in seiner Einheit erhalten geblieben. Menschenrechte, dem positiven Rechte vorgegeben, werden nicht aus der natürlichen Anlage der menschlichen Natur abgelesen, sondern ent12
Vgl. Nedim Peter Vogt, Zum islamischen Recht, Zürich 1990.
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springen wie das Recht überhaupt unmittelbar dem Wesen Gottes, wie sich dieses in Einzelmensch und Gesellschaft manifestiert. Eine Erörterung des islamisch bestimmten Konzepts der Menschenrechte geht bedingungslos von anderen Voraussetzungen aus als dies im westlichen Traditionsraum der Fall ist. Dem individualistischen Menschenbild des säkularisierten Westens wie dem Gemeinwohlmodell der naturrechtlich begründeten und christlich ausgeformten Soziallehre der christlichen Kirchen steht das kollektive Ideal der Gemeinschaft der Muslim, der Umma, gegenüber. W i e Karin Neissl in ihrer Studie über Menschen- und Minderheitenrechte im Islam bemerkt, 13 hatte die Islamisierung der tribalistischen Gesellschaften der Arabischen Halbinsel unter anderem die Herauslösung des Menschen aus seiner unmittelbaren Loyalität gegenüber dem Stamme zur Folge. Der Gläubige begab sich in ein neues Umfeld, das vom religiösen Gesetz bestimmt war. Damit bewirkte im 7. Jahrhundert nach Christus der Islam eine entscheidende soziale und wirtschaftliche Umwälzung: „Werte der Toleranz, der Würde des Menschen und gesellschaftlichen Verantwortung wurden für alle Muslim verpflichtend." Der Islam, der sich nicht bloß als Offenlegung göttlicher Weisheit versteht, sondern untrennbar mit Gesetzgebung und Staatslehre verbunden ist, steht systemimmanent jedem vorstaatlich gegebenen Grundrecht des Menschen fremd gegenüber; einem „Grundrecht", das jeder Mensch gleichermaßen „von Natur aus" mit- und in ein Gemeinwesen einbringt. Die Trennung der politischen von der religiösen Dimension ist theoretisch nicht möglich, die Separation des „Menschseins" vom „Muslimsein" unvorstellbar. Denn Muslimsein heißt, in ein einmaliges Verhältnis zu Gott, dem Schöpfer, getreten zu sein. Eine Scheidung des „Menschen an und für sich" vom „Gläubigen" i m Gefüge der Theologie des Islam ist ein Un-Sinn. Das religiöse Gesetz ist die „Sittlichkeit" schlechthin und damit Maßstab für alles Handeln der Menschen. Dem islamischen Verständnis der Menschenrechte zufolge hat Gott dem Menschen die Würde gegeben, und der Mensch hat sowohl dem Absoluten wie auch der Gemeinschaft der Gläubigen gegenüber Rechte und Pflichten. Daraus folgen einige für das Verständnis der „Menschenrechte" im Islam wesentliche Züge des islamischen Staates. Zunächst die Projektion der strengen Einheit Gottes auf die staatliche Ordnung: dem zentralen Dogma islamischer Theologie, daß Gottes Weses eines und umfassend ist, entspricht die Lehre von der Einheit und Allgewalt des Staates. Daraus ergibt sich die keineswegs erstaunliche Tatsache, daß die islamische Staats- und Gesellschaftslehre keine Instanzen kennt, deren Aufgabe es wäre, die politische Machtausübung i m Leben der Gemeinde zu kontrollieren. Ferner
13 Karin Neissl, Menschen- und Minderheitsrechte i m Islam, in: Academia 1991/ 4, 16 ff.
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folgt aus der Einheitsvorstellung, daß die islamische Staatstheorie niemals die Existenz autonomer menschlicher Institutionen im Inneren der Gemeinde der Gläubigen hat anerkennen wollen. Die Allmacht Gottes, auf Erden auf seinen Statthalter übertragen, duldet nicht die Existenz irgendeiner Gewalt, die aus einer anderen Quelle abgeleitet ist. Um die Tragweite der Problematik der Menschenrechte im Islam zu verdeutlichen: Zum einen: Die Größe und Macht Gottes im Universum und gegenüber jedwedem Geschöpf ist alles. Der einzelne Mensch ist ein Nichts. Zum anderen: Die islamische Gemeinde soll über die ganze Welt ausgebreitet und der Anspruch der Universalherrschaft Allahs verwirklicht werden. Der Wert des Einzelnen ist daher nicht in sich und aus sich bestimmt, sondern durch die übergeordnete Aufgabe der Glaubensvertretung. Nur im religiösen Räume kommt dem Individuum überhaupt Gewicht zu. Das bedeutet aber auch, daß die islamische Ordnung das Ethos an sich ist. Sie ist die Basis, der Inhalt und zugleich die Gestalt des Werthaften. Die Aufrechterhaltung der islamischen Ordnung, der Gemeinschaft, der „umma" genießt absoluten Vorrang. Denn nur in ihrem Rahmen ist die religiöse und politische Existenz des einzelnen überhaupt möglich und sinnerfüllt. Übrigens ist die „juristische Person" im Islam unbekannt. Gerichten und anderen Einrichtungen, Institutionen, Gremien kommt ein „Ein-Mann-Charakter" zu. Der Herrscher bestimmt einen Gouverneur, einen Richter, einen Befehlshaber der Streitkräfte, um einen definierten Teil jener Funktionen, die ihm selbst von Gott übertragen wurden, vollziehen zu lassen. Die Installation von Personenkörperschaften, von Kollegien, Gremien, ja auch nur von Kommissionen sind dem islamischen Rechte wesensfremd. Daher findet sich kein Gericht als „geschlossene Institution", keine Gemeindevertretung als Gremium, keine kooperative Einrichtung, die diese oder jene Funktion auf den Gebieten der Rechtspflege, vor allem der Rechtsprechung und Verwaltung, auszuüben hätte. Nach den Maßstäben der übrigen Völkergemeinschaft liegt es nahe, daß in den islamischen Staaten ein außergewöhnlich hohes Maß an Verstößen gegen die Grundrechte des Menschen anzutreffen sind. Ebenso häufen sich Verletzungen grundlegender Bestimmungen zum Minderheitenschutz wie Diskriminierungen aufgrund religiöser Merkmale. Zusammenfassend ist festzuhalten: Angesichts der Allgewalt Gottes und des von ihm durch seinen Stellvertreter regierten Staates konnte und kann vielfach der einzelne Mensch als definiertes Individuum mit Rechten außerhalb der religiösen und staatlichen Kompetenzen nicht ins Blickfeld treten. Die Interessen des Individu-
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ums müssen im Interesse des ganzen Staates aufgehen. Sein Leben, seine Macht, sein Glück dürfen nicht für sich selbst stehen. Der Einzelne muß lernen einzusehen, daß es keine eigene Existenz außerhalb des Staates geben kann. Ein Muslim gewinnt überhaupt erst seine Identität als ein Mitglied der islamischen „umma" und indem er sich für deren Erhaltung, Gedeihen und Wachstum einsetzt.
V. Kompromisse als „Modernismus" im islamischen Menschenrechte-Konzept In der fast unübersehbaren Quantität neuer islamischer Literatur über das Problem des „islamischen Staates" — kann der Islam Grundlage eines modernen Staatswesens sein? — wird der „demokratische" Charakter eines solchen apostrophiert. Dabei werden auch die Menschenrechte als der islamischen Offenbarungstheologie innewohnend angeführt: genannt werden insbesondere die Gleichheit aller Menschen ohne Unterschiede von Rasse, Hautfarbe oder religiöser Uberzeugung; die Glaubens- und Meinungsfreiheit, das Recht auf Freiheit der Person, das Recht auf Eigentum sowie das Recht auf Erhaltung und Respekt des Lebens und der Ehre. Ein Muslim ist nämlich dem anderen religiös ident, und zwar vollkommen gleich. Indem der Islam zugleich ein einheitliches Ganzes bildet, verwirklicht er völlige Gleichheit, die auf allen Ebenen des Lebens, die von ihm bestimmt werden, wirksam ist. Andersgläubige, vor allem Juden und Christen, wurden in der Tradition der islamischen politischen Gebilde nicht direkt gleich, jedoch „ähnlich" behandelt wie Anhänger des „wahren Glaubens", des Islam. Diese Analogie hatte keinen politischen, verfassungsähnlichen Charakter im Sinne einer konstitutionellen Gleichstellung mit den Muslim, sondern den von „Zugeständnissen". Diese Zugeständnisse kommen den Menschenrechten der Meinungsfreiheit und der Glaubensfreiheit nahe. Daneben werden von den „Modernisten" noch allgemeinere Argumente ins Treffen geführt, die den festen Platz der „Menschenrechte" im Islam begründen sollen. Dazu zählen die Mission des Islam von Anfang an, die Ungerechtigkeiten zu beseitigen, das Böse zu unterdrücken, den Sieg der Gerechtigkeit herbeizuführen, zum Wohle des Individuums wie zum Wohle aller Gemeinschaften ohne Unterscheidung der Rassen oder Religionen. Recht und Gerechtigkeit seien Leitmotive koranischer Sprache, und „die Anleitung zu dem, was statthaft ist, und das Abhalten von dem, was verboten ist", stelle die fundamentale Norm des religiösen Rechts und der Moral des Islam dar.
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Dagegen kann eingewandt werden: 1. Bezugssystem der Rechtsansprüche ist nicht die Menschennatur, sondern die Offenbarungsreligion des Islam. Die Überordnung des theologischen Rahmens des Islam über die Menschenrechte ist absolut. Politische und zivile Rechtsansprüche werden diffizil unterschieden: erstere waren allein Muslimen, letztere allen zugestanden. 2. Es gibt in der „umma" keinen absolut geschützten Bereich, der die „Menschenrechte" dem Individuum zusichert. Die Denaturierung des idealen Gottesstaates zu nackter Despotie kannte nur die Alternative „Bekehrung" oder Tod. 3. Die religiöse totalisierte Gleichheit aller Muslims hat die Herausbildung einer Gesellschaft mit abgestuften und differenzierten Klassen nicht verhindert, sondern vielmehr zu einer Aristokratie mit unverhältnismäßigen Privilegien vor einem sklavenähnlichen niederen Volk geführt. 4. Die Frau war dem Mann rechtlich im umfassenden Sinne unterworfen. 5. Auch das Menschenrecht der Glaubensfreiheit war nicht ein allen zustehendes Recht. So konnte ein Jude oder Christ entweder seinem Glauben treu bleiben oder zum Islam konvertieren. Umgekehrt war es dem Muslim bei Todesstrafe verwehrt, seinen Glauben zu verlassen. Im Rückblick auf das Gesagte sei festgehalten: — Es besteht die deutliche Spannung zwischen der absoluten Unterordnung des Muslim unter den Willen Gottes und seiner vollständigen Einordnung in die Interessen der konkreten „umma", des jeweiligen islamischen Staates als der zeitlichen Manifestation des Wirkens Gottes auf Erden auf der einen Seite — und, auf der anderen Seite, dem Versuch der Handhabung eines passablen „modus vivendi", der auf die persönliche Freiheit des einzelnen eingeht. Man könnte heute im Nahen Osten von einer „nüchternen Vernünftigkeit" sprechen, ohne Maßstäbe der westlich-christlich-liberalen Hemisphäre anzulegen. Der Islam nimmt den Menschen — ethisch betrachtet — wie er ist: Allah wünsche, es dem Menschen leicht zu machen, lautet ein theologisches Axiom. Aber der Islam kennt aus seinem Gesellschaftskonzept her keine subsidiären Impulse zur Unterstützung der vollen Wirklichkeit in der Entfaltung der menschlichen Natur und der Persönlichkeit des konkreten Individuums.
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V I . Menschenrechte in den islamischen Staaten des Nahen Ostens heute — das Spannungsfeld zum naturrechtlichchristlichen Erbgut der Völkergemeinschaft A b dem Ende des 19. Jahrhunderts glaubten die Führer des Islam, den Schlüssel gefunden zu haben, der die Überlegenheit des Westens verstehbar macht: nämlich westliche Staatsideen und westliche Institutionen. Diese seien es, die den stagnierenden politischen Gebilden des Nahen Ostens Dynamik verleihen würden, die ihnen neue Vitalität bescheren könnten. Aus konstitutionellen und demokratischen Instrumenten und Institutionen erhoffte man eine umfassende politische Erneuerung. Diese Entwicklung bedeutete zunächst einen mehr oder minder offenen Bruch mit der islamischen Ordnung, zuweilen auch mit dem religiösen, theokratischen Staatsprinzip und mit dem Fundament der Gesellschaft. Souveränität eines Staatswesens nicht mehr von Gott abzuleiten, sondern aus dem Volke selbst, bedeutete die Zertrümmerung der „umma". Verfassungen, Parlamente und Parteien aus dem Willen des Volkes an der Stelle eines Herrschers, der im Auftrag Allahs alle Macht konzentriert, stellte und stellt noch immer den Islam vor eine schwere Krise seiner Identität. Freilich wirkt die klassische Konzeption von der Einheit von Religion, Gesellschaft, Staat und Mensch noch immer nach, auch in den scheinbar säkularisierten und rationalisierten Staatswesen des Nahen Ostens und im Maghreb-Raum. Die in den Verfassungen eingeführten Grundrechte bleiben im allgemeinen nur unvollkommen abgesichert, wie etwa die ägyptische Konstitution vom 25.3.1964 demonstriert. Es gibt Indizien für den Fortbestand des Anspruches auf Absolutheit des islamischen Staates gegenüber dem Individuum: dies auch in den sogenannten modernen arabischen Nationalstaaten. Die „umma" lebt, der Charakter von Staatspräsidenten und Königen als „vicarius Dei", als Statthalter oder Stellvertreter Allahs, gewinnt an Leucht- und Wirkkraft. Es sind die amtlichen Charakterzüge des Kalifen im klassischen islamischen Staate, neben dem keine legitime selbständige Gewalt bestehen kann. Autoritäre Merkmale und charismatische Führungsprofilierung kennzeichnen islamische Staatsoberhäupter und/oder Regierungschefs i m Nahen Osten. In zahlreichen islamischen Staaten, man denke an Algerien, Libyen, Tunesien, Ägypten, den Sudan, dominieren Einheitsparteien; wo es eine solche nicht gibt, werden die aktiven Kräfte von einer dominierenden Partei als eine A r t „Nationale Front" geführt, wie etwa in Syrien oder dem Irak durch die Baath-Partei. Die Einheitspartei ist nicht Partei im westlichen Sinne. Sie ist unmittelbarer Ausdruck des Selbstverständnisses der Gesamtheit der politischen und gesellschaftlichen Kräfte, sie ist eine moderne Expression der klassischen arabisch-islamischen Konsensualgemeinschaft, damit letztlich der „umma".
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Der Staat ist noch immer und unverhohlen in seiner Sinngebung dem Wert des Einzellebens übergeordnet. Trotz der Bekundung der Rechte des Menschen bleibt dieser als einzelner politisch unbeachtet und gegenüber dem Ganzen von untergeordneter Bedeutung. Denn trotz der ausdrücklichen Fixierung des Gleichheitsprinzips in den Verfassungen gibt es zahlreiche, aus traditionellem islamischen Recht stammende Vorbehalte gegen dessen Verwirklichung. Religiöse und rassische, ethnische und kulturelle Minderheiten erleiden bittere Verfolgung, wie etwa die Koptenfrage in Ägypten und die genozid-ähnliche Verfolgung der Kurden im Irak dokumentieren. Der Islam als Staatsreligion in den Staaten des Nahen Ostens prägt in nahezu vollem Umfang das positive Recht und verwandelt aus Prinzip natürliche Menschenrechte in einen theologischen Anspruch an den Einzelmenschen. Eine kulturrevolutionäre Islamisierung gewinnt im Nahen, respektive Mittleren Osten immer mehr an Boden. Zwei Dokumente können für eine Interpretation des islamischen Konzepts der Menschenrechte herangezogen werden. Zum einen besteht die „Universelle islamische Erklärung der Menschenrechte" der UNESCO vom 19.9.1981, zum anderen unterzeichneten die Mitgliedstaaten der Konferenz der islamischen Staaten in Kairo am 5.8.1990 eine „Deklaration der Menschenrechte im Islam". Bei der Erstellung beider Erklärungen bemühte man sich um eine Annäherung bzw. Anlehnung an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. Maß aller Verhandlungsetappen war jedoch die Scharia, die den Geltungsbereich der wesentlichen Rechte bestimmt. Einer grundsätzlichen Bejahung des Rechts folgt eine Ausnahmebestimmung. So normiert die Kairoer Deklaration in Artikel 2 das Recht auf Leben. Es ist verboten, Leben zu nehmen, ausgenommen in jenen Fällen, die die Scharia vorschreibt. Meinungsfreiheit wird in Artikel 22 gewährt, solange sie nicht in Widerspruch zu den Prinzipien der Scharia steht. Insbesondere das Recht auf Glaubensfreiheit wird beschnitten. Artikel 10 formuliert die Sonderstellung des Islam mit den Worten: „Der Islam ist die natürliche Religion für den Menschen; deshalb darf dieser keinem Druck ausgesetzt werden oder durch Ausnützung seiner Armut oder Unwissenheit dazu gebracht werden, seine Religion zu ändern oder Atheist zu werden". Es ist daher ausdrücklich untersagt, vom Islam abzufallen. Diese Normierung überrascht nicht, zieht man den ersten Paragraphen zum Kontext heran. Während die UNO-Erklärung in ihrem ersten Artikel Freiheit, gleiche Würde und Rechte aller Menschen unterstreicht, bleiben im ersten Paragraphen der islamischen Deklaration nur die beiden letzten: „Alle Menschen bilden eine Familie, deren Mitglieder durch ihre Unterordnung unter Gott vereint sind. Als Abkömmlinge Adams sind sie alle gleich
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in Würde, Grundverpflichtungen und Verantwortung ... ohne Unterschied von Rasse, Farbe, Religion, Geschlecht, Nationalität, politischen Überzeugungen, sozialer Stellung o. ä." Ein Recht auf Freiheit folgt erst in Abschnitt
12. Die muslimischen Experten haben sich für das Recht auf Familiengründung, auf Arbeit, auf eine Nationalität, auf angemessene Lebensumstände und soziale Sicherheit, auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Mißhandlung, auf Unverletzlichkeit der Privatsphäre, auf Rechtsgleichheit und Teilnahme an Staatsangelegenheiten ausgesprochen und sich dabei weitgehend an die UNO-Erklärung gehalten. Auch das Prinzip der Unschuld des Angeklagten bis zum Beweis der Schuld in einer fairen Gerichtsverhandlung ist klar festgeschrieben. Als neues Element wird unter Ziffer 18 das Recht auf eine „saubere Umgebung" eingeführt, „frei von Laster und moralischer Korruption". Staat und Gesellschaft zusammen sollen diese Bestimmung garantieren. In Absatz 12 wird als weitere Neuerung der Kolonialismus verboten. Das ist wohl eine Frucht mehrerer Entschließungen der UNOGeneralversammlung. Es heißt: „Völker, die unter dem Kolonialismus leiden, haben das Recht auf volle Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, und alle Staaten und Völker haben die Pflicht, sie im Kampf (!) zu unterstützen." Einige Bestimmungen sind so formuliert, daß nur eine genaue Lektüre ihren einschränkenden islamischen Charakter klärt. So findet sich in Abschnitt 6 unter a): „Die Frau ist dem Manne gleich, auch gleich in menschlicher Würde; sie hat ihre eigenen Rechte und auch Pflichten wahrzunehmen ..." Unter b) folgt dann klärend: „Der Gatte hat für die Wohlfahrt der Familie zu sorgen", womit eine deutliche Rollenverteilung festgelegt ist. Die Rechte auf Erziehung, Information, Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit sind ausdrücklich den Bedürfnissen des Islam oder der Scharia unterstellt. Als Frucht der Affäre um den Schriftsteller Salman Rushdie ist es in Abschnitt 23 c ausdrücklich verboten, heilige Werte und die Würde des Propheten zu verletzen. 14 Das Dokument soll als intellektuelle Richtlinie für alle Muslims gelten. Als solche interpretiert sie den Islam sehr eindeutig als kompromißlose Rückkehr zu den Werten der Religion, „als Medizin" verschrieben, um die an ihrer Moderne krankende technologisierte Welt zu heilen. Als deren Übel wird genau das verstanden, was die UNO-Menschenrechtsdeklaration als Erfolg verteidigt, nämlich die Freiheit jedes Einzelnen, sich nach jenen Werten auszurichten, die ihm persönlich als richtig erscheinen. Für den Christen tritt ein unabdingbares Plus hinzu: an die Stelle von „richtig 14
Vgl. dazu Osman El Hajje, Mitglied der Ständigen Vertretung der Liga der Arabischen Staaten in Genf, „Die islamischen Länder und die internationalen Menschenrechtsdokumente", in: Gewissen und Freiheit, Bern 1991/1. 22 Festschrift Schasching
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erscheinen" hat das Gewissensscrutinium am Wege zur Wahrheit zu stehen. Den Christen könnte der Geist der islamischen Deklaration mit Bewunderung erfüllen, gäbe es in dieser auch nur einen Ansatz von der Freiheit als Grundkondition der Menschenwürde. Dem informierten, geläuterten, gründlichst geprüften Gewissen des Einzelmenschen kommt es zu, in Freiheit sich für das als wahr und als Wahrheit Erkannte zu entscheiden. Toleranz bringt der Christ dem Irrenden, Ablehnung dem Irrtum entgegen. Atmet die UN-Deklaration in manchen Zügen den Geist der Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings Schauspiel „Nathan der Weise", so vermag der gläubige Christ diesem Erbgut der „Alten Pflichten" des James Anderson nicht zu folgen. Mögen in diesem abschließenden Gedanken Ansätze zu einem neuen Dialog der Christen mit Muslims, der Römisch-katholischen Kirche mit dem Islam und seiner Scharia aufgezeigt sein, die den menschenverachtenden Ungeist westlicher Konsumvergötzung in Frage stellen und eine Wiederkehr der Religion promovieren, wo sie versickert scheint.
FRIEDE I M „REICH GOTTES AUF ERDEN 1 ' 1 Von Johann Reikerstorfer
I. Was sich in vielfältigen Zeugnissen der menschlichen Hoffnungsgeschichte als Letztes von Welt und Geschichte ankündigt, gelangt im Raum der biblischen Religion als alles umfassendes Reich Gottes endgültig zum Durchbruch und Vorschein. In dieser Tradition wird die Bestimmung der Menschheit sagbar, intendierbar und so zum Movens, das die Geschichte vorantreibt. 2 Als „revolutionäres Zauberwort" 3 geht der Gedanke vom Reich „identisch, wenn auch stetig brennender, in der Menschengeschichte um und sucht, wer ihn verschlinge". 4 Diese These E. Blochs gibt zu denken. 5 Es liegt schon im Universalitätsanspruch des Christentums, dieses Reich, zu dem alle berufen und gerufen sind, nicht nur zu verkündigen, sondern auch zum Thema des Denkens zu erheben und es in seiner universalen Verbindlichkeit gesamtmenschlich zu vermitteln. Doch sind die theologischen Ergebnisse in der Geschichte des Christentums eher enttäuschend. — Augustinus war der letzte große Theologe, der sich denkerisch ernsthaft mit dem Reich-Gottes-Thema in „De civitate Dei" befaßte. Von da an verlor es an Bedeutung. „Es ist, nachdem es in der Anfangszeit des Christentums doch das Hauptthema war, sozusagen ausgewandert aus der Kirche und ihrer Normaltheologie, abgewandert zunächst in politisch-theokratisch Zielsetzungen hinaus (etwa bei Karl dem Großen oder im mittelalterlichen Cäsaropapismus), abgewandert dann zu den spirituellen Randgruppen, in die apokalyptischen und chiliastischen Subkulturen, zu den Joachiten, Schwärmern, Täufern, Pektoraltheologen, Mormonen und anderen ,Reichsnarren 1, abgewandert schließlich in profane Verfremdungen hinaus, in die philoso1
Der Text bringt die etwas erweiterte Fassung eines Vortrags anläßlich der Feier des 25. Weltfriedenstages an der Universität W i e n (20. Jänner 1992). 2 Vgl. dazu M. Seckler, Reich Gottes als Thema des Denkens. Ein philosophisches und ein theologisches Modell (E. Bloch und J. S. Drey), in: H. Gauly (Hrsg.), Im Gespräch der Mensch. FS F. J. Möller, Düsseldorf 1981, 53-62. 3 E. Bloch, Philosophie der Hoffnung, Suhrkamp-Gesamtausgabe, Bd. 2, 590. 4 5
22*
E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe, Suhrkamp-Gesamtausgabe, 120. Vgl. A. Jäger, Reich ohne Gott. Zur Eschatologie Ernst Blochs, Zürich 1969.
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phischen und literarischen Sozialutopien mit ihren Traumbildern einer schlaraffia politica et oeconomica, in die Säkularisate des Fortschrittsglaubens, in die Gespinste des messianischen Marxismus; und abgewandert zuletzt sogar ins Außergöttliche hinaus, in die Vorstellung eines Reiches ohne Gott, eines endlich zu schaffenden,göttlichen 1 Reiches von Menschen ... Dieses Ergebnis ist in der Tat niederschmetternd, wenn man sich bewußt macht, was das Reich Gottes für Jesus von Nazareth, den Vielberufenen, bedeutet hat." 6 Für den Versuch einer moralischen Interpretation des biblischen ReichGottes-Motivs darf modellartig Kants Religionsschrift aus dem Jahre 1793 aufgegriffen werden. 7 In ihr entwickelt er auf dem Boden der Moralität als wesentlicher Freiheitsverwirklichung die Idee eines ethischen „Reiches Gottes auf Erden" als Gemeinschaft zur Überwindung des ethischen Naturzustandes. Es ist in moralischer Interpretation der „ethische Staat", die „allgemeine Republik nach Tugendgesetzen", kurz: das „Volk Gottes auf Erden", in dem Gott nicht mehr äußerlich-theokratisch, sondern als „moralischer Vater" einer „freiwilligen, allgemeinen und fortdauernden Herzensvereinigung" herrscht. Im Reich Gottes auf Erden gelangt das in Jesus Christus erschienene Ideal des sittlich-vollkommenen Menschen gattungsmäßig, d. h. in gemeinschaftlicher Verwirklichung des „Höchsten Guts" — soweit dies innerhalb der Geschichte möglich ist — zu seiner Verwirklichung. Wenn es auch einer sichtbaren Repräsentation dieses Reiches Gottes auf Erden in einer Kirche bedarf, so hat nach Kant diese institutionelle Erscheinung als wahre Kirche ihre Bestimmung in der Einführung und Verwirklichung des ethischen Gemeinwesens. — Immerhin ist in dieser philosophischen Transposition des biblischen Reich-Gottes-Motivs Gott noch in der Vorstellung eines „moralischen Weltherrschers" präsent, während er in der radikal vollzogenen anthropologischen Wende zu einem humanistischen Grenzbegriff herabsinkt und das Reich Gottes schließlich zum Reich des Menschen ohne Gott in atheistischer Absicht wird. 8 6
Zu diesem geschichtlichen Überblick vgl. M. Seckler, Das Reich-Gottes-Motiv in den Anfängen der Katholischen Tübinger Schule (J. S. Drey und J. B. Hirscher), in: Theologische Quartalsschrift 168 (1988), 260 f. 7
Vgl. dazu das dritte Stück der kantischen Religionsschrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", Akademie-Textausgabe, Bd. VI; zur neueren Interpretation dieser Religionsschrift vgl. A. Habichler, Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Studie zur kantischen Reich-Gottes-Idee (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie, Bd. 2), Mainz 1991. 8 Stellt auch für E. Bloch die religiöse Wirklichkeit Gottes noch ein echtes Problem dar, so heißt für ihn, den säkularisierten Reichsdenker, die Lösung des Problems — i n vollendet durchgeführter Rückholung dieser Wirklichkeit in das Menschenwesen — Reich, Heimat, Versöhnung von Mensch und Natur: vgl. E. Bloch, Philosophie der Hoffnung, Bd. 3, 1528; dazu die in Anm. 2 zitierte Arbeit.
Friede im „Reich Gottes auf Erden"
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Trotz unermüdlicher exegetischer Interpretationsbemühungen um den ursprünglichen Inhalt der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung bleibt dieses Reich im Raum systematischer Denkaneignungen als universal verbindliche Daseinssinngebung höchst problematisch. Wenn es auch im Binnenraum kirchlichen Lebens immer neu zitiert und angerufen wird, scheint es doch als nur geglaubte Wirklichkeit der tatsächlichen Welt mit ihren brennenden Problemen und ungelösten Fragen sehr weit entrückt zu sein. Sein Sinn ist unbestimmt, blaß und kraftlos geworden und infolgedessen weithin nicht mehr in der Lage, als Verheißung des Glaubens die Praxis der Christen auch wirklich zu bestimmen. Ein Glaube aber, der sich nicht mehr auf den Gesamtraum der Humanität bezogen weiß, kann auch nicht mehr als Sinngebung des Daseins motivieren und wird in dieser „Abgetrenntheit" zu einer positivistischen Haltung entarten. Nicht daß die Religion des Reiches als solche obsolet geworden wäre, wohl aber scheint eine Selbstinterpretation des Christentums in Lebens- und Ausdrucksformen in eine Krise geraten zu sein, die den an sich universalen Anspruch im Raum der Freiheit um seine Wirksamkeit bringt. Doch ist die Kirche im weltgeschichtlichen Horizont auch schon wieder tiefer angefragt und herausgefordert. Hängt es nicht mit weltgeschichtlichen und auch heilsgeschichtlichen Erfahrungen zusammen, daß heute innertheologisch ein neues Interesse an Jesus spürbar wird, das ihn nicht mehr nur als Bestätigung, als Legitimation und Bekräftigung einer strukturell weltlichen Welt mit ihren Emanzipations- und Säkularisierungsprozessen erfragen läßt, sondern ursprünglicher als den Künder und Bringer einer gesamtmenschlichen Erlösung, die tiefer eingreift in die Wirklichkeit unseres freiheitlichen Daseins und die die „Erben des Reiches" zu einer größeren Gerechtigkeit anruft und verbindet? Kulturkritiker sehen in einer seltsamen „Dialektik der Aufklärung" (Adorno / Horkheimer) das „Experiment der Freiheit" neuen Bedrohungen und Gefährdungen ausgesetzt, weil sich die Prozesse der Selbstbefreiung des Menschen infolge neuer Abhängigkeiten, neuer Zwänge und Leiden auch als Prozesse der Entwirklichung und Auflösung des Menschen entpuppen. Die das Personale gefährdende „Dominanz des Strukturellen", der spürbare Rückgang an Kommunikationsfähigkeit im Zerfall der Sprache, eine seltsame Weise des „Vergessens", die verkümmernde „Wahrnehmungsfähigkeit" zusammen mit einem unverbindlicheren, „hypothetischen" Lebensstil u.a.m. scheinen einen Schwund an humaner Wirklichkeit zu signalisieren, so daß es nicht mehr verwundern kann, wenn mitten in diesen Erfahrungen schon das Wort vom „schleichenden, sanften Tod" des Menschen gefallen ist. 9 — W i r d man angesichts solcher Erfahrungen heute nicht auch wieder 9 Vgl. J. B. Metz, Wohin ist Gott, wohin denn der Mensch? Zur Zukunftsfähigkeit des abendländisch-europäischen Christentums, in: F.X. Kaufmann / J.B. Metz, Zukunftsfähigkeit, Suchbewegungen i m Christentum, Freiburg 1987, 124-147.
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hellhöriger für den Sinn einer „Erlösung", die deshalb auch mit Freiheit und Befreiung zu tun haben muß, weil sie zur Freiheit und einem Leben aus ihr ermutigt? In der Diskussion um den Sinn des Reich-Gottes-Gedankens hat M. Seckler an die Anfänge der Katholischen Tübinger Schule erinnert, deren systematische Denkmühungen — vor allem bei Johann Sebastian Drey (1777-1853) und Johann Baptist Hirscher (1788-1865) — in hohem Maße diesem Motiv verpflichtet waren. Für diese Tübinger Theologen galt Reich Gottes als die „wahre Idee von Religion" überhaupt, 10 weil sich in ihm die geglaubte Wirklichkeit Gottes selber als umfassendes Sinnziel von allem, als letzte Bestimmung der menschlichen Existenz, des ganzen Menschengeschlechtes und des Weltprozesses im ganzen begreiflich machen läßt. Es ist Reich Gottes, sein Reich, in dem er (ad extra) im anderen seiner selbst die alles bestimmende Wirklichkeit ist, aber der Bezugspunkt bleibt schon vom Schöpfungsbegriff her der Mensch, der in Gott als absoluter Seinsfülle seine innergeschichtlich uneinholbare Sinnbestimmung findet. Im Horizont der Reich-Gottes-Idee sind Gott und Mensch je schon so miteinander verbunden, daß es nicht mehr möglich ist, Gott als ein der Wirklichkeit äußerlich bleibendes „Machtprinzip", sozusagen „als in sich verschlossenen obersten Weltherrn, der sich eine Welt von Kreaturen geschaffen hat und ein Reich von Untertanen wünscht, über dem er stünde", 11 zu denken. Der christliche Glaube weiß dieses Reich im Geheimnis der innergeschichtlichen Selbstmitteilung Gottes zuletzt als endgültigen Sieg Gottes selber, um in unverhüllter Wirklichkeit das alles erfüllende Eschaton zu sein (vgl. 1 Kor 15,28). Es ist in diesem Zusammenhang aber die erstaunliche Leistung dieser Tübinger Theologen, daß sie die Verheißung des Reiches im Rückbezug auf die Daseinswirklichkeit bereits selbst schon als eine „Heilung" der Gesellschaft und somit in ihrer Wirksamkeit als „soziale Realität" zu denken vermögen. Reich Gottes bedeutet nicht nur eine dynamische Herrschaftsbeziehung Gottes zur Schöpfung, sondern auch „einen von Gott her zu prägenden und geprägten Be-reich". 12 Es wirkt sich zutiefst „in der Selbstfindung der Personen und die Durchbildung personaler Verhältnisse hinein" aus und findet so auch seine Ausstrahlung in die gesellschaftliche und natürliche Umwelt des Menschen. Hier könnte erneut angeknüpft werden. Denn nach christlichem Verständnis ist Gott als Mensch und in der Bewährung wahrer Menschlichkeit zur messianischen Reichsverheißung geworden. Was der Mensch in der Sünde immer schon verkürzt und flieht, indem er seine und nicht Gottes Ehre in der Geschöpflichkeit sucht, hat Gott selber i m Widerspruch zur Sünde gelebt, um den Sinn des Menschseins vor Gott zu 10 11 12
Vgl. die in Anm. 6 zitierte Studie. M. Seckler, a.a.O., 276 f. A.a.O., 269.
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offenbaren. Die göttliche Humanität aber, wie sie Jesus Christus bewährte, ist das Ja zum Menschen in der gottgewollten Besonderheit seines Daseins als Freiheitswesen in sich und im anderen, für das nicht mehr die natürlichen und gesellschaftlich produzierten und verfestigten Unterschiede der Menschen als einschränkende Bedingungen der Daseinsbejahung gelten und das in dieser Freiheit nur sein kann, was es ist, weil es zuletzt Gott selbst als die Erfüllung dieser Humanität hoffen darf. Darin zeigt sich die Andersartigkeit der göttlichen Gerechtigkeit gegenüber allen menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, daß sie den Menschen in seiner Freiheit zum Nachvollzug des universalen göttlichen Ja zu allem, was ist und wie es ist, in einer die Schranken bloß menschlich interpretierter Humanität durchbrechenden Annahme des Daseins befähigt. W e i l die messianische Verheißung wirklich dem Sünder — und nicht bloß dem Menschen in einer bestimmten gesellschaftlichen Interpretation des Menschseins — gilt, schärft sie Augen und Verantwortung für den gottbejahten Menschen und wird zum Stachel für die je größere Gerechtigkeit in konkreter Parteinahme und Solidarisierung mit dem Menschen unter entwürdigenden Daseinsverhältnissen. Deshalb ist Reich Gottes als die zukünftige Wirklichkeit einer die Gegenwart auch praktisch anrufenden und herausfordernden Zu-sage ganz im Gegenteil zu dem, was Kritiker daraus zu machen versuchten, keine ohnmächtige Überhöhung eines Diesseits, kein „Überbau" und keine billige Jenseitsvertröstung, in der sich der Mensch immer nur wie in einem Spiegel anblicken sollte. Wurde das christliche Verständnis von Erlösung, von Gnade und Befreiung neuzeitlich oftmals als bloße Verschlüsselung für die längst fällige Selbsterlösung, für Befreiungs- und Emanzipationsprozesse interpretiert, 13 erkennen wir heute, vielleicht am anderen Ende einer Entwicklung mit ihren Erfahrungen, daß die Verheißung des Reiches, die der menschgewordene Gott im unverkürzten Ja zum Menschen und seiner Freiheit mit ihren menschlich unüberwindlichen Grenzen geworden ist, auch eine praktische Bedeutung für die Wirklichkeit der Freiheit selber in Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden gewinnt.
II. Weil nur in einer dem Menschen entsprechenden, d. h. gerechten Ordnung unter Menschen auch Friede herrschen kann, ist dieser nach dem II. Vatikanum in einem wahren und eigentlichen Sinn ein Werk der Gerechtigkeit. 14 Deshalb muß die gläubige Erwartung des Reiches als Vollendung 13
So etwa J. Habermas, Theorie und Praxis, Suhrkamp-Taschenbuch 9 (1971),
250. 14
Vgl. Pastoralkonstitution „Über die Kirche der Welt von heute", Nr. 78, dazu auch K. Rahner, Der Friede Gottes und der Friede der Welt, in: Schriften zur Theologie, Bd. VIII, Einsiedeln 1967, 689-707.
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dieser Welt grundsätzlich auch jeden menschheitlichen Fortschritt bejahen, wenn nicht die in Christus endgültig in die Erlösungsordnung aufgenommene Schöpfung in der Praxis der Christen wieder herausfallen soll, was zur Konsequenz hätte, daß zum einen der Glaube weltlos und zum andern die Welt dazu verleitet würde, sich gegen ihre Bestimmung immanent kurzzuschließen. Das Konzil sieht diesen Zusammenhang von Reich Gottes und menschlicher Praxis: „Die Erwartung der neuen Erde (darf) die Sorge für die Gestaltung dieser Erde nicht abschwächen,... sondern muß sie ermutigen. Obwohl der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Gottes zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann." 15 Vielleicht rechnet dieses Konzil noch allzu optimistisch mit einem menschlichen Fortschritt, mit der Autonomie der Welt in ihren Sachbereichen und der Eigendynamik einer Schöpfungsvernunft, ohne den Ernst der Sünde auch als zerstörerische Macht innerhalb der Schöpfung im Verhältnis von Mensch zu Mensch und auch zur Natur wahrzunehmen. 16 Die biblische Tradition kennt jedenfalls neben ihrer weisheitlichen, universal-kosmischen Sicht der Wirklichkeit auch die „Macht" der Sünde, die nach Paulus die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhält (vgl. Rom 1,18), den Schöpfungssinn verkehrt, indem sie Gott in seinen Geschöpfen negiert und damit auch die Würde der Geschöpfe Gottes selber verletzt. So sehr sie auch das menschliche Individuum in seinem persönlichen Verhältnis zu Gott und ihm verantwortlich meint, findet sie ihre konkrete Wirklichkeit immer nur in Mitmenschlichkeit (Mitgeschöpflichkeit) und begegnet hier auch als gesellschaftliche Realität in strukturellen Ungerechtigkeiten, in überindividuellen Macht- und Verblendungszusammenhängen von Schuld, von Gewalt und Menschenverachtung. Infolgedessen stellt sich das Thema Gerech15
Vgl. Pastoralkonstitution „Kirche in der Welt von heute", Nr. 39. Vgl. dazu W. Kasper, Die Kirche als universales Sakrament des Heils, in: ders., Theologie und Kirche, 237-254, 253: „Die Heilsfinalität aller Wirklichkeit, die Karl Rahner als übernatürliches Existential bezeichnet, kann (also) auch bibeltheologisch nicht bestritten werden. Problematisch wird die Sache erst, wenn sie verabsolutiert und als die einzige Sicht der Schrift ausgegeben wird. Neben dieser weisheitlichen, universal-kosmischen Sicht kennt die Schrift nämlich auch die apokalyptische Vision, die von einem beständigen Kampf zwischen dem Reich Gottes und dem Reich der Welt ausgeht, einem Konflikt, der sich mit dem Fortschritt der Geschichte eben nicht allmählich auflöst, der sich vielmehr gegen Ende der Geschichte zuspitzt und verschärft, diese apokalyptische Sicht wurde vor allem von Augustinus in seiner Lehre von den zwei Reichen aufgegriffen. Sie entspricht durchaus einer Erfahrung des Menschen von heute und darf auch aus diesem Grund nicht einfach ausgeklammert werden. Erst wenn neben dem positiven Existential immer auch das negative Existential, die Herrschaft der sich gegen ihre Ausrichtung auf Gott und seine Gnade versperrenden Sünde, die mehr ist als die Summe einzelner Sündentaten, mitgedacht wird, wird man der ganzen Dramatik der Geschichte gerecht, innerhalb deren die Kirche das universale Sakrament des Heils ist." 16
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tigkeit und Friede aus dem Gottesverhältnis im Schöpfungshorizont auch noch in einer anderen Problemdimension, die bloß human fundierte Überlegungen, d. h. ohne Rückbezug auf die im Glauben schlechthin unabdingbare Gottesoffenbarung nicht zu erreichen vermögen. Dennoch muß es unabhängig vom Glauben einen für vernünftige Wesen verbindlichen Sinn von Frieden geben, wenn die Freiheit in Mitmenschlichkeit auch die Aufgabe einer gemeinschaftlichen Verwirklichung der Humanität in der Institutionalisierung von Rechtsverhältnissen stellt, die eine friedliche Koexistenz freier Wesen gewährleisten soll. I. Kant hat in seiner Schrift „Vom ewigen Frieden" diesen humanen Sinn des Friedens transzendentalphilosophisch aus der Einsicht in den Begriff des Menschen als Freiheitswesen entwickelt, um eine rationale Friedenspolitik in der Wahrnehmung und Realisierung konkreter Aufgaben zu begründen. Seine Friedensidee ist als regulative Idee der praktischen Vernunft selbst kein empirischer Friedenszustand, vielmehr unabdingbare Voraussetzung für Kritik und Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse auf Frieden hin, der auf die Institutionalisierung eines die Nationalstaatlichkeit umgreifenden Völkerrechts, d. h. auf die so bestimmte gemeinschaftliche Verwirklichung der Humanität abzielt. Dennoch bleibt auch einer solchen transzendentalphilosophischen Deduktion der Friedensidee gegenüber die Frage bestehen, ob die Menschheit mit wissenschaftlich-technischen Methoden einen friedlichen Zustand rational hervorzubringen und in eine immer bessere Erkenntnis der anthropologischen Mechanismen bzw. durch die zunehmende rationale Beherrschung auftretender Konfliktsituationen zu stabilisieren vermag. Erweist sich die Wirklichkeit nicht als viel zu „spröde" und widerständig, als daß auch schon in einem sicheren Gang zur Verwirklichung gelangen könnte, was eigentlich geschehen sollte? Sind es nicht ganz konkrete Erfahrungen gerade i m Versuch des Friedens, die an der Effizienz solcher Bemühungen ernsthaft Zweifel aufkommen lassen und die deshalb auch schon den praktischen Friedenseinsatz in Resignation und Verzweiflung zu ersticken drohen? Setzt man aber zur Entlastung der Freiheit selber teleologisch umgreifende Instanzen wie z. B. die Natur (mit ihrem „Antagonismus"), die Gattung, das Schicksal oder auch eine vernünftige Vorsehung an, um die Wirklichkeit des Gesollten zu sichern, so scheint dies wiederum auf eine ideologische Liquidierung der Freiheit selber in ihrer Eigenverantwortlichkeit für den Frieden hinauszulaufen. A n dieser Aporie mag sich gerade der Versuch einer vernünftigen — und nicht direkt von Glaubensaussagen abhängigen — Friedensbegründung in der Humanität und um ihrer selbst willen einer Voraussetzungsproblematik bewußt werden, die in grundsätzlicher Hinsicht auf die Sinnfrage des Daseins selber hinlenkt und zu verstehen gibt, daß nur ein theoretisch erfaßter und auch für die Praxis anerkannter Begriff des menschlichen Daseins das Wirklichwerden von Freiheit in motivierter Praxis zu fundieren vermag. Vorausgesetzt ist ein Motivationshorizont
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erschlossenen Menschseins als praktische Aufgabe, sollen — auf unsere Thematik hin gesprochen — Friedensappelle und -initiativen in ihrer Bedeutung reflektiert, akzeptiert und damit auch wirksam werden können. Dies erklärt, warum der Sinn von Friede in seiner wesentlichen Bedeutung für den Menschen in verschiedenen weltanschaulichen Kontexten auch jeweils verschiedene Implikationen aufweist und daß es infolgedessen um der Humanität des Menschen willen theoretischer Aufklärungsarbeit bedarf, um die verbindlichen Grundlagen einer rationalen Friedensarbeit im vernünftigen Diskurs zu legen. Immerhin mag es für den Zusammenhang auch von Belang sein, daß gerade auf dem Boden des Christentums ein säkularer Begriff der Humanität entwickelt werden konnte, der auch weltgeschichtlich zur Bedeutung gelangte. Nunmehr läßt sich aber das Problem erst so stellen, daß bei aller Akzeptanz eines Friedenssinns, die bei der Verschiedenheit der Motivationshorizonte auch ihre Probleme hat, die gemeinte Wirklicheit unter Voraussetzung des Gottesverhältnisses sich auch noch anders zeigen wird. Gehört nämlich zum Begriff des Menschen auch ein Gottesverhältnis, dann steht schon der Friede im zwischenmenschlichen Bereich so im Zusammenhang mit der religiös verstandenen Einheit mit Gott selbst, daß von daher in einer Verwandlung des menschlichen Selbstverständnisses auch der Friede erst seinen eigentlichen Inhalt gewinnt. In christlicher Interpretation schließt demnach der Friede über eine rechtliche Anerkennung des anderen als Wesen gleicher Freiheitswürde hinsichtlich einer friedlichen Koexistenz hinaus — aber durchaus diesen Sinn von Friede einbehaltend und bejahend — auch eine Versöhnungspraxis unter Menschen ein, deren Motivationsgrundlage zuletzt in der messianischen Verheißung des auferweckten Gekreuzigten und der in ihr vollzogenen Annahme und Offenbarung der gottebenbildlichen Würde des Menschen vor Gott liegt. Wenn der Mensch nach christlichem Verständnis auch in seiner moralischen Selbstbestimmung im Sinne von gut und böse nicht seinen eigentlichen Schöpfungssinn zu erreichen vermag, so weiß sich eine über dieses Wissen vermittelte Verbundenheit der Menschen zuletzt vor die Frage einer Daseinsbejahung aus Liebe (Agape) gebracht, die im freien Nachvollzug des göttlichen Ja zum Menschen jede bloß vernünftig projektierbare Organisation des Daseins überschreitet. Eine noch eindringlichere Sprache als das II. Vatikanum spricht in diesem Zusammenhang das Synodendokument „Unsere Hoffnung": Die Verheißungen des Reiches Gottes „sind nicht gleichgültig gegen das Grauen und den Terror irdischer Ungerechtigkeit und Unfreiheit, die das Antlitz des Menschen zerstören. Die Hoffnung auf die Verheißung weckt in uns und fordert von uns eine geseltschaftskritische Freiheit und Verantwortung, die uns vielleicht nur deswegen so blaß und unverbindlich, womöglich gar so unchristlich vor-
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kommt, weil wir sie in der Geschichte unseres kirchlichen und christlichen Lebens zu wenig praktiziert haben". 17 Jesu Hinwendung zu den Sündern und die durchgehaltene Gemeinschaft mit ihnen bis zum Kreuz ist und bleibt das unwiderrufliche Zeichen der göttlichen Gerechtigkeit in unserer Menschheitsgeschichte, das auch Friedensbemühungen in ihrer Vorläufigkeit durchschauen läßt. Nüchtern weiß der Glaube, daß Begriffe wie Friede, Gerechtigkeit und Freiheit nochmals sündhaft zur Durchsetzung eigensüchtiger Interessen gegen andere mißbraucht werden können und daß einseitig verordneter Friede zur Quelle des Unfriedens werden muß. Das Kreuz steht für die Andersartigkeit der göttlichen Gerechtigkeit inmitten unserer Welt und zeigt auch umgekehrt die Korrekturbedürftigkeit und das letztlich Unabschließbare unserer menschlichen Friedenspraxis. Ist aber Christus selbst das Symbol für diese Versöhnung des Ganzen, auf die hin unsere Welt noch unterwegs ist, dann kann auch die größere Gerechtigkeit Gottes, sein Ja zum Menschen, jenseits aller vernünftigen Kalkulationen die menschliche Freiheit herausfordern und Wirklichkeiten schaffen, die immer mehr und anderes als eine möglichst ausgewogene Bilanz des Lebens selber bedeuten. 18 Der Glaube träumt sich nicht in ein Reich spannungsloser Harmonien hinein. Sein Blick schärft sich in der Erinnerung der messianischen Reichsverheißung auch für die Schattenseiten des Lebens, für die unter unmenschlichen Verhältnissen um ein menschenwürdiges Dasein ringenden Menschen, die Opfer der menschlichen Geschichte, die in Verzweiflung und Verbitterung Getriebenen usw. und er erkennt in diesem konkreten Gegenüber Bewährungsfelder und chancen solidarischer Gerechtigkeit in praktischer Entsprechung zu der in Jesus Christus bewährten wahren Menschlichkeit. 19 Treffend wurde er 17
Unsere Hoffnung I, 6.
18
Von dem Gedanken der „schöpferischen" Liebe her meint R. Baumann in seinem Buch: „Gottes Gerechtigkeit" — Verheißung und Herausforderung für diese Welt, Freiburg 1989, 253: „Der eigentümlich christliche (und zutiefst menschliche) Beitrag zum Thema ,Gerechtigkeit' könnte heute darin liegen, Gerechtigkeit nicht nur als ,Verteilungsgerechtigkeit 1 zu denken und zu praktizieren, sondern den Gesichtspunkt der ,Ungeschuldetheit' und ,Verdanktheit' allen Lebens, meines eigenen und des anderen, bewußt und konsequent ins Spiel zu bringen, so daß eine wirklich gegenseitige Anerkennung und Solidarität entstehen kann." 19
Für unsere weltgeschichtliche Situation konkretisiert Johannes Paul II. in Centesimus annus diesen Grundgedanken folgendermaßen: „Die Kirche ist sich heute mehr denn je dessen bewußt, daß ihre soziale Botschaft mehr i m Zeugnis der Werke als in ihrer inneren Folgerichtigkeit und Logik Glaubwürdigkeit finden wird. Auch aus diesem Bewußtsein stammt ihre vorrangige Option für die Armen, die nie andere Gruppen ausschließt oder diskriminiert. Es handelt sich um eine Option, die nicht nur für die materielle Armut gilt, da bekanntlich besonders in der modernen Gesellschaft viele Formen nicht bloß wirtschaftlicher, sondern auch kultureller und religiöser A r m u t anzutreffen sind. Ihre Liebe zu den Armen, die entscheidend ist und
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daher als „Mystik der offenen Augen" (J. B. Metz) charakterisiert. Schließt auch schon i m transzendentalphilosophischen Kontext der Friedensbegründung die Idee des Friedens das kritische Bewußtsein für die Verbesserungsfähigkeit und auch Verbesserungsbedürftigkeit jeder bestehenden Welt- und Friedensordnung ein, ohne das jeweils Erreichte zu bagatellisieren, so wird die Erinnerung der messianischen Reichsverheißung für alle — als eschatologische Erfüllung ihres wahren Begriffs — zum Stachel und Movens friedensstiftender Gerechtigkeit, weil sie im Überschreiten aller bloß menschlichen Daseinssinngebungen dieses Dasein, wie es ist, als zugeschickte Aufgabe der Annahme in solidarischer Mitmenschlichkeit erkennt. III. Auffälligerweise verschob sich zu Beginn der 60-iger Jahre in der katholischen Soziallehre das Interesse von der Kriegsvermeidung auf die aktive Friedensförderung durch eine allseitige Entwicklung. 20 Ausschlaggebend für diesen Perspektivenwandel war die Wahrnehmung der weltweiten sozialen Probleme, das Interesse an kultureller Entfaltung, sozialer Solidarität und gerechter Verteilung in einem ungeahnt beschleunigten Wachstumsprozeß. Neben der Forderung nach Dialog, Kooperation, nach Toleranz und Menschenrechten usw. bestimmt seit 1963 auch eine immer entschiedenere Parteinahme für wirtschaftlich, sozial und politisch schwächere Gesellschaften den Tenor der kirchlichen Lehrdokumente in ihrer praktischen Friedensethik. Nach P. Eicher zeigt sich die offizielle katholische Lehrverkündigung nach dem Zweiten Weltkrieg „als ein eindrucksvoller Weg von der ideologischen Sicherung der westlichen Sicherheitspolitik über den moralischen Appell zur Entwicklung des sozialen Friedens bis zu einem neuen Vertrauen in die Kraft des Evangeliums, welches nicht auf die militärische Sicherung des Eigentums setzt, um gerechte Verhältnisse in und zwischen den Völkern zu ermöglichen. Dieser Weg von der Ethik des gerechten Krieges über die Friedensmoral bis zur radikalen Bezeugung des Evangeliums führt zur gegenwärtig entscheidenden Frage nach der politischen Konsequenz des Evangeliums". 21 So wird die Kirche zu jenem Evanzu ihrer festen Tradition gehört, läßt die Kirche sich der Welt zuwenden, in der trotz des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts die Armut gigantische Formen anzunehmen droht. In den westlichen Ländern haben wir die vielfältige Armut der Randgruppen, der A l t e n und Kranken, der Opfer des Konsumismus und zudem noch das Elend der zahlreichen Flüchtlinge und Emigranten. In den Entwicklungsländern zeichnen sich am Horizont dramatische Krisen ab, wenn nicht rechtzeitig international aufeinander abgestimmte Maßnahmen ergriffen werden." (Nr. 57). 20 Zu diesem Überblick vgl. P. Eicher, Er ist unser Friede, in: P. Eicher (Hrsg.), Das Evangelium des Friedens, Christen und Aufrüstung, München 1982. 21
P. Eicher, a.a.O., 70.
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gelium zurückgerufen, nach welchem der Herr des Friedens (2 Thess 3,16) am Kreuz der Geschichte „die Mächte und Gewalten entwaffnet und öffentlich an den Pranger gestellt" (Kol 2,15) hat und es damit den Menschen ermöglicht, das Risiko gegenseitigen Vertrauens einzugehen und den in sich verkrampften Willen zur Daseinssicherung gegen den anderen aufzubrechen. Den entscheidenden Durchbruch brachte nach der Enzyklika „Mater et magistra" die Friedensbotschaft „Pacem in terris". Darin gelangt der biblische Akzent der Gerechtigkeit für die Schwächeren, „für die der Herr der Geschichte bis zu der Hingabe seines Sohnes selbst eintritt,... ganz anders zum Bewußtsein als in der naturrechtlichen Gerechtigkeitsdoktrin". 22 Die Frage allerdings, wie gegenseitiges Vertrauen innerhalb des „universalen Verblendungszusammenhangs der ideologischen, wirtschaftlichen und militärischen Konkurrenz selber möglich werden kann", wird nicht aufgeworfen. Nach dem immer deutlicher werdenden Zusammenbruch der Lehre vom gerechten Krieg „setzte die katholische Hierarchie... ihre ganze Hoffnung in die Verkündigung einer Moral, welche den Gehalt der biblischen Friedensbotschaft völkerübergreifend für ,alle Menschen guten Willens' vermitteln sollte. Aber je härter die Imperative wurden, umsomehr zeigt sich auch immer die innere Grenze dieser kirchlichen Zuflucht zum moralischen Appell: das Verurteilte änderte sich nicht und das moralisch Erwünschte fand keinen sozialen Träger zu seiner Verwirklichung". 23 Offensichtlich beansprucht darin die Kirche noch zu sehr eine Vormachtstellung als ordnende und lenkende moralische Instanz der Gesellschaft, ohne sich eigentlicher in ihrer grundlegenden Funktion als Offenbarung und hörbare Verlautbarung der innergeschichtlich verborgenen, rational unerschwinglichen, im Kreuz des Auferweckten dieser Welt aber unverrückbar eingestifteten Heilsbestimmung der Menschheitsgeschichte im ganzen zu verstehen. Solange aber Sprache und Praxis der Kirche als die einer überlegenen Lehrmeisterin in moralischer Fixierung verharren, kann noch nicht der „erlösenden Sprachform des Evangeliums" Raum gegeben werden, so daß ihre Wörter hinter dem einen Wort zurückbleiben müssen, das Gott selbst in der Entäußerung als Mensch und im unverkürzten Ja der Versöhnung unseres Menschseins als Heilszusage für die Welt geworden ist. Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika „Reich an Erbarmen" („Dives in misericordia") von 1980 die Sprachform des Evangeliums selbst zur Norm der kirchlichen Verkündigung gemacht. Darin zeigt sich ein Umbruch vom kirchlichen Willen des moralischen Anspruchs zum zeugnisgebenden Sicheinlassen auf jenen Frieden, der mitten unter uns durch Gottes eigene Gewaltlosigkeit die Wurzeln der kriegerischen Aggression zu überwinden vermag. Die Kirche empfiehlt sich in dieser bedeutenden Enzyklika nicht 22 23
P. Eicher, a.a.O., 77 f. A.a.O., 79.
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mehr selber als moralische Instanz, sondern als jene Gemeinschaft der Umkehr, die „auf den Spuren der Tradition des Neuen und Alten Bundes ... für das Erbarmen Gottes Zeugnis abzulegen" 24 hat, um die Geschichte der Welt mit dem Zeugnis zu begleiten, das Jesus selber als messianische Heilsverheißung an die Menschheit geworden ist. Das heißt konkret, daß die Gerechtigkeit von daher zu verstehen, daß die Schöpfungsordnung, mag ihr dies auch noch so verborgen bleiben, unwiderruflich auf- und angenommen wurde durch die erlösende Gnade Gottes und daß dadurch auch der Weg frei wurde für ein Friedenszeugnis, das die verzweifelte Ausweglosigkeit aller bloß human fundierten Friedensethik unterbricht: „Die Erfahrung der Vergangenheit und auch unserer Zukunft lehrt, daß die Gerechtigkeit allein nicht genügt, ja, zur Verneinung und Vernichtung ihrer selbst führen kann, wenn nicht einer tieferen Kraft — der Liebe — die Möglichkeit geboten wird, das menschliche Leben in seinen verschiedenen Bereichen zu prägen." 25 In seiner diesjährigen Botschaft zum 25. Weltfriedenstag („Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens") hat Papst Johannes Paul II. diese innere Dialektik von Gerechtigkeit und Liebe im Auge, wenn er die Religionen gemeinsam aufruft, durch ihre Begegnung mit Gott auch eine wahrhaft solidarische Beziehung der Menschen untereinander zu fördern und zu unterstützen. 26 Dies liegt keinesfalls auf der Ebene einer funktionalistischen Mißdeutung der Religionen, weil nur eine von unmittelbar politischen Interessen frei gewordene Religion dem Frieden, „der nicht bloß das Ergebnis geschickter politisch-diplomatischer Verhandlungen oder eigennütziger wirtschaftlicher Kompromisse ist", zu dienen vermag. 27 Der Papst ruft das Sinnpotential der Religionen an, die auf je ihre Weise den nicht in der Immanenz bloßer Humanität aufgehenden Begriff des Menschen zum Ausdruck bringen und die deshalb aus einer ganzheitlichen Sinngebung des Daseins im Frieden mit Gott auch Friedensbemühungen im Raum der Humanität inspirieren, initiieren und fördern können. W o Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit anerkannt wird, kann auch zwischenmenschlich der Friede einer umfassenderen Solidarität als innerweltliches Zeichen des in Gott vollendeten Menschseins wirklich werden. Er gibt damit seiner — schon in „Centesimus annus" geäußerten — Überzeugung Ausdruck, „daß den Religionen heute und morgen eine herausragende Rolle für die Bewahrung des Friedens und für den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft zufallen wird". 2 8 24
Johannes Paul II., Dives in misericordia: 30.11.1980; hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1983, 38 (VII, einl.). 25 A.a.O., 37 (Nr. 12). 26 Johannes Paul II., Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens. Botschaft zur Feier des 25. Weltfriedenstages, Kathpress-Sonderpublikation 9/91, Nr. 5. 27 Johannes Paul II., Vereint i m Glauben für den Aufbau des Friedens. 28 Johannes Paul II., Centesimus annus, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1991, Nr. 60.
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W i r sehen: Das Reich Gottes ist kein leerer Horizont, nicht bloß eine abstrakte, regulative Idee gesellschaftspolitischer Friedensbemühungen. Es wirkt sich als die alles umfassende Zusage des göttlichen Heils nicht nur selbst in affirmativer Weise auf die Friedensarbeit aus, sondern läßt zudem auch alle Anstrengungen zur Förderung der göttlichen Humanität im Raum der Menschheit als Wirkung der in Jesus Christus endgültig angenommenen und versöhnten Menschheit verstehen. So ist das Reich Gottes — wenn auch verborgen und nur für den Glauben interpretierbar — in den Humanisierungs- und Befreiungsprozessen der Menschheit gegenwärtig. W o immer „gerechte Verhältnisse herrschen und der soziale Wandel sich unter den Bedingungen der Solidarität vollzieht, findet man Zeichen des Reiches Gottes, das jenseits der Grenzen der konfessionellen Kirche realisiert wird' 1 . 29 Würde man freilich dieses Sinnpotential der Freiheit aus dem „Evangelium des Friedens" selbst in ein Vernunftgesetz transformieren, dann geriete es in die Aporetik jener menschlicher Bemühungen, die in keiner auch noch so gerechten Daseinsordnung den wahren Frieden göttlicher Gerechtigkeit hervorzubringen und zu sichern vermögen. Glaube und Humanität können in dem weltgeschichtlich zum Bewußtsein gelangten Begriff des Menschen nicht einfach zusammenfallen. Sie dürfen aber auch nicht voneinander abgetrennt werden, soll nicht die aus dem Gottesverhältnis herausgelöste Humanität ins Bodenlose geraten und der den Menschen im ganzen verstehende und diese Ganzheit auch praktisch konkretisierende Glaube aus der Wirklichkeit des Daseins entschwinden.
29
L. Boff, Die Theologie der Befreiung post Ratzinger locutum, in: E. Schillebeeckx (Hrsg.), Mystik und Politik. Theologie i m Ringen um Geschichte und Gesellschaft. J. B. Metz zu Ehren, Mainz 1988, 287-311, 298 f.
DIE EREIGNISSE I N DEN OSTBLOCKLÄNDERN Von Donato Squicciarini
I. Papst Johannes Paul II. und die Ereignisse in den Ostblockländern a) Wenn ich über dieses Thema nachsinne, möchte ich folgende Episode aus meinem Leben schildern: In der Zeit, als ich der Apostolischen Nuntiatur in Bonn als Sekretär zugeteilt war, begann der Bau der Berliner Mauer: Es war der schicksalhafte 13. August des Jahres 1961, vor gut dreißig Jahren. Wie ein Damoklesschwert hing die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg über dem Haupt der Europäer. Auch in der Bundesrepublik Deutschland und in ihrer provisorischen Bundeshauptstadt Bonn lähmten die Ereignisse in Berlin nahezu den A t e m auch jener Persönlichkeiten, die Verantwortung für das öffentliche Leben trugen. Die Atmosphäre in dieser Epoche — getragen von intensiven Bemühungen des Wiederaufbaues des zerstörten Deutschlands — schien schwer bedrückt. Damals stellte ich mir persönlich einige Fragen: — Wie kann es sich eine politische Macht erlauben, eine solche Mauer der Schande und des Grauens zu errichten? — Wie kann man auf Dauer die Menschen einer großen Stadt, die zusammengehören, durch eine Mauer absolut voneinander trennen? — Wie kann sich eine Ideologie, aus der solch unmenschliche Taten entspringen, auf Dauer behaupten? — Wie kommt es, daß Menschen in den verschiedenen Teilen der Welt vom System des Marxismus dennoch begeistert sind? In den Sechziger Jahren waren tatsächlich unzählige Menschen in aller Welt der Meinung, der Marxismus wäre am besten geeignet, soziale Spannungen abzubauen, soziologische Probleme auszugleichen und die drückenden Fragen der Menschheit, vor allem auch in den Entwicklungsländern, zu klären. Von diesen meinen Fragen bewegt, suchte ich das Gespräch mit dem späteren Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl, Festschrift Schasching
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dem damaligen Leiter der europäischen Politischen Abteilung des Außenministeriums in Bonn, Joseph Jansen. Ich trug dieser großen Persönlichkeit der westdeutschen Außenpolitik meine Auffassung vor: Ich meinte, gerade die Bundesrepublik Deutschland sei dazu berufen, in friedlicher Weise die Menschen davon zu überzeugen, daß das System des Kommunismus der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit in offenkundiger Weise widerspricht. Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, so sagte ich, kennen die marxistische Theorie und die Früchte dieser Ideologie; deswegen gebe es auch kaum Marxisten, Kommunisten in der BRD. Mein Gesprächspartner antwortete mit großer Gelassenheit: „Nein, Monsignore, wir Deutschen sind zu solcher Überzeugungsaktion kaum imstande." Ich beharrte jedoch in meiner Auffassung und wollte meine Ansicht nicht leichthin aufgeben, indem ich entgegnete: „In Westeuropa gibt es aber doch keine andere Nation, die so immunisiert gegen den Kommunismus wie die deutsche ist, wie die deutschen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland?! Deutschland wurde doch von den Machthabern des MarxismusLeninismus eine schmerzhafte, große nationale Wunde beigebracht! Der Bau der Berliner Mauer ist ein Beweis für die Unfähigkeit des Kommunismus, die soziologischen Probleme zu lösen. Die Tatsache, daß sich das ostdeutsche Regime genötigt sieht, eine Mauer zu errichten, um junge, arbeitsfähige Menschen daran zu hindern, in den Westen zu flüchten, ist nicht überzeugend." Und abermals beharrte der spätere Botschafter Jansen auf seiner Gegenmeinung: „Nein, eine Ideologie wie jene des Marxismus kann nicht von unserem praktischen Materialismus entkräftet werden. Man braucht dazu Menschen, die eine tiefe moralische und seelische Kraft besitzen!" Ich wurde daraufhin begreiflicherweise neugierig und fragte: „Welche Menschen, welches Volk, welche Nation wären dazu imstande?" Auf diese meine beharrliche Frage antwortete Dr. Jansen mit großer Ruhe und Überzeugungskraft: „Der polnischen Nation, den Menschen in Polen wird diese Überzeugungsaktion gelingen. Die Polen kennen den Kommunismus von der theoretischen wie von der praktischen Seite, sie leiden darunter mehr als wir, und sie sind nicht geschwächt vom praktischen Konsummaterialismus der westlichen Länder. Diese Polen", so sagte Dr. Jansen wörtlich, "diese Polen haben einen Glauben, der die Welt überwinden wird". Seit damals blieb mir diese wohlüberlegte und entschiedene Meinung des deutschen Diplomaten in Erinnerung. b) Heute, nach drei Jahrzehnten und nach den erstaunlichen Ereignissen, die wir seit 1989 in den ehemaligen Ostblockstaaten erleben, sehe ich in den
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zitierten Worten des deutschen Diplomaten und Kenners der Weltpolitik, wie weit er in die Zukunft zu blicken vermochte! Die Lehren aus der Geschichte, die profunde, analytische Befassung mit den Komponenten der oftmals sehr komplexen europäischen Wirklichkeiten, sein tiefer katholischer Glaube, der keine Grenzen kannte und keinem schwärmerischen Nationalismus huldigte, hatten einen Botschafter den richtigen Blick zur Beurteilung der Zukunft finden lassen. Noch als Botschafter beim Heiligen Stuhl verstarb Dr. Joseph Jansen im Jahre 1965. Wäre er heute noch unter uns, würde ich ihm jetzt sagen, daß seine Worte mir damals fast wie eine Prophetie geklungen haben! Die Geschichte hat seit der Errichtung der Berliner Mauer ihre konsequente Entwicklung genommen. Was ich dabei so bemerkenswert finde, ist das Anwachsen des friedlichen Widerstandes. Besonders in Polen trat er immer stärker in das Erscheinungsbild des politischen Lebens. A m 16. Oktober 1978, 17 Jahre nach dem unseligen 13. August 1961, wählten die Kardinäle des Konklaves in Rom einen polnischen Bischof, den Kardinal und Erzbischof Prof. Dr. Karl Wojtyla, zum Oberhaupt der Universalkirche. Als Papst Johannes Paul II. trat er im Namen Gottes sein hohes und schweres A m t an, mit innigem Vertrauen auf die Fürsprache der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria. Er, der vom katholischen Geist Polens tief geprägt war, er, der die Patronin seiner Heimat, Unsere Liebe Frau von Tschenstochowa, so sehr verehrte, wurde Vicarius Christi, Nachfolger des Apostels Petrus, der das Schiff der Kirche auf und über die Meere dieser Erde steuert. Der unerschütterliche Glaube des Papstes ist in Christus verankert, der immer der Eckstein der Kirche bleibt und der gesagt hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt" (Mt 28, 20). Christus selbst hat dem Petrus und dessen Nachfolgern diesen Auftrag gegeben: Die Brüder im Glauben zu stärken (Lk 22, 32), der Fels zu sein, auf dem die Kirche gebaut ist (Mt 16, 18). Viele Menschen erblickten in der Wahl Johannes Pauls II. den Finger Gottes in der Welt- und Kirchengeschichte. Während der 13 Jahre seines nunmehrigen Pontifikats vollzog sich in den sogenannten „sozialistischen Ländern" des Ostblocks ein besonderer innerer Prozeß; es begann zu gären; es brachen verkrustete Strukturen auf; es verspürten hervorragende Persönlichkeiten mehr Mut und mehr Zuversicht, ihre Freiheitsideale auch nach außen hin zu zeigen und zu realisieren. Ein friedlicher, niemals gewaltsamer, aber stets entschiedener Widerstand begann Konturen und Formen anzunehmen. Gegen Ende des Jahres 1989 entstanden neue staatsund gesellschaftspolitische Realitäten, die heute noch das Angesicht Europas und der Welt verändern. Einzige Ausnahme blieb in gewissem Sinn 23*
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Rumänien, doch meine ich, daß auch in diesem schwer geprüften Land die Kraft der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der gegenseitigen Versöhnung immer größeren Raum haben wird. c) Nach dieser Zusammenschau des Entwicklungsprozesses der vergangenen Jahre mit einer bedeutsamen Episode meines Lebens an der Nuntiatur in Bonn, schon drei Jahrzehnte zuvor, noch einige weitere Überlegungen: In den Ländern des monolithischen Ostblocks von gestern ist das politische, soziale und religiöse Leben in eine Bewegung geraten, die niemand vorhersehen konnte. Mit dem Jahr 1989 hat eine neue Epoche in der Geschichte Europas begonnen, vor allem aber eine Wende in der Geschichte der besagten Länder. Die Hoffnung, eine neue und bessere Gesellschaftsordnung einzurichten und aufzubauen, ist tatsächlich sehr gestiegen. Das Tempo dieser Entwicklungen beurteilen allerdings viele Menschen als erstaunlich und unerwartet; sie sind daher fassungslos und mitunter auch skeptisch. d) Betrachten wir einige konkrete Fragen: Zum Ersten: Hat Papst Johannes Paul II., der Nachfolger des hl. Petrus aus Polen, der als Bischof von Rom zugleich das Oberhaupt der gesamten Kirche ist, in den oben erwähnten Ereignissen mittels der Tätigkeit des Hl. Stuhls Einfluß ausgeübt? Zum Zweiten: Haben die Entwicklungen in Osteuropa in den Aussagen, d.h. den Ansprachen, Botschaften und Adressen Seiner Heiligkeit ihre Beachtung und Resonanz gefunden? Kaum jemand wird heute die Rolle des Papstes in der Gegenwartsgeschichte Europas und der anderen Kontinente ignorieren. Johannes Paul II. baute in seinen Prinzipien auf dem Fundament seiner Vorgänger auf; sie waren vor allem das Erbe von Paul VI. und Johannes XXIII. Konkret bedeutet dies, daß wir den Blick auf die wirklichen Grundzüge der päpstlichen „Ostpolitik" zu richten haben. Ihr — um diesen schillernden Ausdruck zu gebrauchen — „Erfolgsgeheimnis" bestand in der Kontinuität einer seelsorgeorientierten oder pastoralpolitischen Grundhaltung, die sich — wie es Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli wiederholt betonte — wie ein ständiger Faden durch das Verhalten der Kirche gegenüber den Oststaaten zieht. Diese sogenannte „Pastoralpolitik" stand im Zeichen der Sorge für die Seelen, der Interessenabwägung zugunsten des Heils der Menschen. Der Kirche mußte es in ihrer Auseinandersetzung mit den Machthabern der marxistisch-leninistischen Staatsideologie um das „Überleben der Kirche" mit den Prioritätssetzungen „Kult, Lehre und Leben" gehen. Diese bewußte
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Option des Heiligen Stuhles hat sich als richtig erwiesen; das Wiederaufblühen des katholischen Lebens, vor allem auch in den Staaten außerhalb Polens, zeugt von der Richtigkeit dieser pastoralen Leitlinien der päpstlichen „Ostpolitik". Die Aussagen des Heiligen Vaters sind dafür ein beredtes Zeugnis. M i t Sorge und in enger Verbundenheit weiß sich der Papst dem Schicksal aller Nationen, Völker, Kontinente verpflichtet, und damit auch mit der ganzen Menschheitsfamilie. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute", besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst des Papstes, wie der ganzen Kirche. Von den Entwicklungen und Ereignissen in Osteuropa sprach der Heilige Vater zu wiederholten Malen und bei verschiedensten Anlässen. Im folgenden möchte ich zunächst die wichtigsten Ansprachen von Papst Johannes Paul II. erwähnen, damit jene, die sie genauer studieren wollen, diese ruhig lesen und überlegen können. 1) Weihnachtsansprache Papst Johannes Paul II. an die Kardinäle, Bischöfe, Prälaten und Mitarbeiter der Römischen Kurie am 22. Dezember 1989 (L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe vom 5.1.90). 2) Weihnachtsbotschaft des Papstes vor dem Segen „Urbi et Orbi" am 25. Dezember 1989 (O. R., deutsche Ausgabe vom 5.1.1990). 3) Ansprache an die in Rom wohnenden Polen: 23. Dezember 1989 (in italienischer Version in: La Civiltà Cattolica, N. 3351 vom 3.2.1990). 4) Ansprache Johannes Paul II. an die Teilnehmer der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Kultur, am 12. Januar 1990 (O. R., deutsche Ausgabe vom 26.1.1990). 5) Ansprache des Papstes an Prof. Dr. Herbert Schambeck, Vizepräsident des Osterreichischen Bundesrates, und an seine Begleitung, am 12. Januar 1990 (O.R., deutsche Ausgabe vom 19.1.1990). 6) Ansprache Johannes Paul II. an das Diplomatische Januar 1990 (O. R., deutsche Ausgabe vom 2.2.1990).
Corps am 13.
7) Botschaft Johannes Paul II. zum 90. Deutschen Katholikentag (O. R., deutsche Ausgabe vom 1.6.1990).
in Berlin
8) Ansprachen des Heiligen Vaters bei seiner Reise nach Polen erstmals nach dem Sturz des Kommunismus (O. R., deutsche Ausgabe vom 14.6.1991). Außerdem sei in diesem Zusammenhang auf die Ansprache des Kardinalstaatssekretärs Agostino Casaroli beim Neujahrsempfang des Diplomatischen Corps am 13. Januar 1990 hingewiesen (O. R., deutsche Ausgabe vom 2.2.1990).
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Es würde gewiß den Rahmen eines Einzelbeitrages sprengen, wollte ich hier auch nur einige ausgewählte Texte bezüglich des päpstlichen Engagements zugunsten einer friedlichen Umgestaltung in den Oststaaten zitieren. Ich wähle nur zwei Zitate Johannes Paul II. aus: eines aus der Weihnachtsansprache Johannes Paul II. an die Mitarbeiter der römischen Kurie vom 22. Dezember 1989, das zweite aus der Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Kultur am 12. Januar 1990. I. „Es gibt weder ein ideologisches System, noch ein politisches Projekt, noch ein Wirtschaftsprogramm, noch ein militärisches Bündnis, welche die Bestrebungen von Millionen Frauen und Männern auslöschen könnten". II. „Mauern sind gefallen. Grenzen haben sich geöffnet. Aber gewaltige Schranken sind noch aufgerichtet zwischen der Hoffnung auf Gerechtigkeit und deren Erfüllung, zwischen dem Überfluß und dem Elend, indessen neue Rivalitäten entstehen, sobald der Kampf um das Haben die Achtung vor dem Sein in den Hintergrund drängt. Ein irdischer Messiasglaube ist zusammengebrochen, und in der Welt steigt der Durst nach einer neuen Gerechtigkeit auf. Eine große Hoffnung hat sich erhoben, Hoffnung auf Freiheit, auf Verantwortung, auf Solidarität und geistige Werte. In dieser besonderen Stunde, in der wir leben, rufen alle nach einer neuen, vollmenschlichen Zivilisation. Diese ungeheure Hoffnung der Menschheit darf nicht enttäuscht werden; wir alle müssen auf die Erwartungen, die sich auf eine neue menschliche Kultur richten, Antwort geben. Diese Aufgabe erfordert von Ihnen Nachdenken und Vorschläge. Es fehlt nicht an neuen Risiken zu Illusion und Enttäuschung. Die diesseitige Moral hat ihre Grenzen erwiesen und hat sich machtlos gezeigt gegenüber zweifelhaften Experimenten an menschlichen Wesen, die als bloße Laboratoriumsobjekte betrachtet wurden. Der Mensch fühlt sich in radikaler Weise bedroht angesichts von Handlungsweisen, durch die willkürlich über das Recht auf Leben oder den Augenblick des Todes entschieden wird, während die Gesetze des wirtschaftlichen Systems schwer auf seinem Familienleben lasten. Die Wissenschaft offenbart ihr Unvermögen, auf die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Liebe, des gesellschaftlichen Lebens und des Todes Antwort zu geben. Und selbst die Staatsmänner scheinen unschlüssig darüber, welche Wege einzuschlagen sind, um diese Welt so brüderlich und solidarisch innerhalb der Nationen wie auch auf kontinentaler Ebene aufzubauen, wie es alle unsere Zeitgenossen durch ihre Wünsche bekunden. Frauen und Männern der Kultur kommt es zu, über diese Zukunft im Licht des christlichen Glaubens nachzudenken, der sie inspiriert. Die Gesellschaft von Morgen wird anders sein in einer Welt, die keine unmenschlichen staatlichen Strukturen mehr duldet. Von Osten nach Westen und von Süden nach Norden stellt die in Bewegung geratene Geschichte eine Ordnung in Frage, die vorwiegend auf Gewalt und Furcht beruhte. Diese Öffnung hin zu neuen Gleichgewichten verlangt weise Überlegung und kühnes Vorwärtsschauen. Ganz Europa befragt sich über die Zukunft, da der Zusammenbruch totalitärer Systeme eine gründliche Erneuerung der politischen Handlungsweisen erfordert und stark die geistigen Bestrebungen der Völker wieder auf den Plan ruft. Europa
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sucht notwendigerweise seine Identität jenseits von politischen Systemen und militärischen Bündnissen neu zu bestimmen. Und es entdeckt sich als ein Kontinent der Kultur, eine Erde, die durchtränkt ist von tausendjährigem christlichem Glauben und zugleich gespeist von einem weltlichen Humanismus, den widersprüchliche Strömungen durchziehen. In diesem Augenblick der Krise könnte Europa versucht sein, sich mit sich selbst zu beschäftigen und momentan die Bande außer acht zu lassen, die es mit der weiten Welt verbinden. Laute Stimmen aus Ost und West fordern es jedoch auf, sich in dieser dramatischen und großartigen Stunde auf die Höhe seiner geschichtlichen Berufung emporzuheben. Ihnen kommt es in Ihrer Stellung zu, ihm zu helfen, seine Wurzeln wiederzufinden und nach dem Maßstab seines Ideals und seines Edelmuts seine Zukunft aufzubauen. Die jungen Menschen, die ich mit Freude auf den Wegen nach Santiago de Compostela getroffen habe, haben gezeigt, daß dieses Ideal lebendig ist".
Die Macht der Wahrheit, die die Atmosphäre der echten Befreiung fördert, ist stärker als alle Systeme mit Zwangsherrschaft und Unterdrückung. Einmal mehr haben wir dies als Menschen und Christen in der Blickrichtung auf den europäischen Osten erfahren.
II. Die Bedeutung der Ereignisse in Osteuropa seit 1989 1. Heute können wir feststellen, daß die Europäer seit 46 Jahren keinen großen Krieg, wie in vergangenen Zeiten so oft, erlebt haben: Seit 1945 schweigen die Waffen auf dem europäischen Kontinent. W i r wollen hoffen, daß die traurigen Konflikte in Jugoslawien eine baldige Lösung unter Achtung der Rechte der Völker finden werden. 2. W i r haben in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Spannungen zwischen Ost- und Westeuropa, das wahnsinnige Wettrüsten, die Zunahme der Konflikte mit Waffengewalt in vielen Teilen der Welt erlebt. 3. Gleichzeitig haben Menschen guten Willens sich bemüht, die Menschenrechte zugunsten der einzelnen, der Nationen und der Menschheitsfamilie überall auf allen Ebenen bekanntzumachen und in die Tat umzusetzen. Diese Bemühungen haben dazu beigetragen, die Evolution einer neuen Mentalität in Gang zu bringen. Die Reaktion auf die Furcht vor einem neuerlichen Weltkrieg hat ein klareres Bewußtsein für die Menschenrechte geweckt.
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Die verschiedenen internationalen Dokumente — in denen die Völkerrechte betont werden — sind ein Ausdruck dieser Bemühungen und dieser Reaktion. 1 Der Heilige Stuhl hat dazu einen bedeutenden Beitrag geleistet. 2 4. Papst Johannes Paul II. hat in diesem Bereich die besonderen Verdienste der Vereinten Nationen hervorgehoben. Gleichzeitig ermutigt er, diesen Weg fortzusetzen, wenn er sagt: „Den Vereinten Nationen ist es bis jetzt nicht gelungen, an Stelle des Krieges ein wirksames Instrumentarium zur Lösung internationaler Konflikte auszuarbeiten. Das erscheint als das dringendste Problem, das die internationale Gemeinschaft zu lösen hat". 3
5. Die Geschehnisse des Jahres 1989 bildeten den Höhepunkt des letzten Jahrzehnts und hatten eine bedeutende Tragweite für Europa und für die ganze Welt. Die Bemühungen der Friedensstifter, die geduldige Tätigkeit der Förderer der Menschenrechte, das nicht immer anerkannte, beständige Wirken der Vereinten Nationen, die bedeutende Rolle der Kommunikationsmittel, der tiefgreifende Einfluß der Gläubigen, der Weitblick großer Persönlichkeiten, die in Gott gründende Liebe von vielen Leidenden — all das hat eine neue Epoche für die Menschheit reifen lassen. Diese neue Ära zeichnet sich in der unerwarteten und noch vielversprechenden Tragweite der Ereignisse der letzten Jahre ab. Eine neue Epoche für die Menschheitsfamilie hat begonnen. Die Kirche, die wirksam dazu beigetragen hat, hofft auch mit allen Menschen guten Willens auf eine bessere Zukunft und auf eine friedlichere Welt, die auf den Grundsätzen der Wahrheit, der echten Liebe, der Gerechtigkeit und der verantwortlichen Freiheit gründet. 6. Die unterdrückenden Regime sind zusammengebrochen. Nun kann man sich fragen: Welche sind die Hauptfaktoren, die diesen Zusammenbruch verursacht haben? Sicherlich sind diese Faktoren zahlreich und in den einzelnen Ländern von unterschiedlicher Art. Ich möchte nur einen Umstand erwähnen, der als die Wurzel vieler anderen Faktoren erscheint: die Verletzung der Rechte der Arbeiter. 1 Erklärung der Vereinten Nationen über die Menschenrechte von 1948; Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), Helsinki 1975; Schlußdokument des Wiener Treffens von 1986, aus 1989. 2 Enzyklika „Pacem in terris", vom 11. A p r i l 1963, N. 4; Enzyklika „Populorum progressio", vom 26. März 1967, N. 61-65. 3 Enzyklika „Centesimus annus", vom 1. Mai 1991, N. 21.
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Regime, die behaupteten, im Namen der Arbeiter herrschen zu wollen, haben die Rechte der Arbeiter verletzt und damit Diktaturen eingesetzt. Als Reaktion auf diese verwirrende Situation sind Bewegungen von Arbeitern entstanden, die mit den Grundsätzen der echten Solidarität, des geduldigen Dialogs, des gewaltlosen Kampfes und der tiefen Wirksamkeit des Zeugnisses der Wahrheit eine neue Wirklichkeit geschaffen haben. 7. Die bedeutendsten Folgen der Ereignisse in Mittel- und Osteuropa scheinen diese zu sein: — einerseits eine größere Bereitschaft im Eintreten für Gerechtigkeit in jeder Gemeinschaft und für den Frieden in der ganzen Welt; — andererseits der Wunsch, die internationale Struktur zu stärken und den Fortschritt, den Wohlstand, die Entwicklung in allen Ländern zu beschleunigen und die ökonomischen, finanziellen und strukturellen Weltprobleme besser zu erkennen und erfolgreicher zu lösen. Alle überlegt handelnden und weitblickenden Menschen sind heute geneigt, die These von der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen und der Völker anzuerkennen und zu verbreiten. In diesem Zusammenhang leuchtet auch ein, warum Arbeiter oder notleidende Menschen die moralische Autorität des Heiligen Stuhls anerkennen, auch wenn sie sich nicht als Christen bekennen. 8. Die obenerwähnten Überlegungen geben uns Anlaß zur Vermutung, daß die West- und die Osteuropäer, wie auch die Menschen in aller Welt, seit den letzten Ereignissen ein neues Kapitel der Geschichte schreiben könnten. Auf der Bühne dieser Welt hat jeder Mensch seine Rolle zu spielen und seine Aufgaben zu erfüllen. Vom Einsatz jedes Menschen, jedes Volkes, jeder Nation hängt es ab, ob die Evolution richtig verläuft und ob das Ergebnis gut oder schlecht ausfällt! Durch die Anerkennung ihrer gegenseitigen Pflichten und Rechte können alle Menschen eine neue Welt aufbauen, in der alle einander als Brüder und Schwestern betrachten, und in der Gott als der allmächtige Schöpfer, als der liebevolle Vater aller und als der Herr der Geschichte der Menschheit anerkannt wird. 9. W i r müssen überlegen, wie eine wirklich freie politische Ordnung in der Welt geschaffen werden kann. Diese aber kann erreicht werden: — durch ein immer erneuertes Bemühen um Zusammenarbeit und Solidarität zwischen allen Ländern und durch die Überwindung aller Formen von Totalitarismus und Autoritarismus, — durch den Tatbestand einer ausgewogenen Verteilung der Güter dieser Welt und durch den Widerstand gegen den egoistischen Genuß und die
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utilitaristischen Triebe, die in jedem Menschen und in jeder Gemeinschaft stecken. In diesem gemeinsamen und gegenseitigen Bemühen gibt es keinen Platz für religiösen Fanatismus: Allen Bürgern wird das Recht auf das persönliche Religionsbekenntnis und auf freie Ausübung ihrer religiösen und bürgerlichen Rechte zuerkannt. Der Kirche wird das Recht auf freie Verkündigung der frohen Botschaft unseres Herrn Jesus Christus zuerkannt: Er ist das wahre Gut des Menschen, frei zu entdecken und anzunehmen. 4 Abschließend sei festgehalten: Die Christen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend sind berufen, die Seele der Welt zu sein, so wie es der Autor des Briefes an Diognet über die Christen des ersten Jahrhunderts sagte. Mögen die Christen von heute — nach zwanzig Jahrhunderten der Gegenwart des Reiches Gottes auf Erden — sich dieser Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen bewußt sein und in der Erfüllung dieser Aufgabe immer erfolgreicher sein.
4
Ebd., N. 29.
WELTKIRCHE -
WELTENTWICKLUNG
Von Alois Wagner
Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem großen Dokument „Kirche in der Welt von heute" eine wichtige biblische Aussage herausgestellt, daß Gott die Welt geschaffen und aller Menschen Vater ist und daß die Kirche, eingesetzt von Jesus Christus, dem menschgewordenen Gottessohn, das Erlösungswerk Jesu Christi fortsetzen darf. Kirche und Welt sind nicht voneinander zu trennen, und die Kirche ist inmitten der Weltgesellschaft als Zeichen des Heiles Gottes da und lebt nicht für sich, sondern immer für die Menschen und deren Heil. So finden wir für diese konkreten Aufgaben den biblischen Sendungsauftrag: Gehet hin und kündet die Frohe Botschaft (vgl. M t 28,18-20). Es ist ein Auftrag, die Wahrheit zu künden, zu glauben und konkret i m Leben zu tun, was letztlich in den konkreten Werken aus christlicher Liebe i m Geiste der Gerechtigkeit und als Friedensbringer geschehen soll. Papst Paul VI. hat in zwei großen Enzykliken diese beiden Aufgaben „zu künden und soziale Taten zu tun" aufgegriffen: „Populorum progressio" (1967) mit einem tiefgreifenden und grundsätzlichen Programm für eine gerechte, soziale Entwicklung der Gesellschaft. Es geht dabei um eine alle Menschen umsorgende Aufgabe, um das menschliche Heil aller Menschen auf der Erde, für die die Güter der Erde da sind: für menschlichen Fortschritt im Geiste Jesu Christi! In der zweiten Enzyklika „Evangelii nuntiandi" (1975), die ebenso bis in unsere Tage hineinwirkt und grundsätzliche Orientierungen sowohl für die Missionierung, Evangelisierung und für soziale Dienste und Entwicklungsförderung bietet, sieht man wieder, wie sehr die Kirche beide Aufgaben als ihre Aufgaben sieht. Man könnte sagen, daß die Kirche als Evangelisierende auch immer eine tätig die Menschen Liebende und Heilbringende ist. Diese beiden Aspekte der „Weltkirche und Kirche für die Entwicklung der Welt" sind durch die großen Enzykliken „Redemptoris missio" (1990) und „Centesimus annus" (1991) herausgestellt. Papst Johannes Paul II. hat i m Geiste Jesu Christi die beiden Aufgaben der Kirche evangelisierend betont und der Kirche klare Orientierungen gegeben. Man könnte sie auch in großen Leitworten eines heiligen Benedikt sehen, der sagte: „bete und
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arbeite!" Und ähnlich könnte man auch die Worte des heiligen Franziskus von Assisi deuten, wenn er spricht „Pace e bene!" Frieden und Gutes! Hier liegt das Werk des Friedenbringens mit Gott und des Tuns der tätigen Liebe zum Wohle aller.
I. Kirche als Weltkirche und Kirche für die Welt Die Kirche ist immer Weltkirche: umfassend, allgemein, katholisch, katholische Kirche, denn der Sendungsauftrag Jesu Christi ist grenzenlos in Raum und Zeit, für alle Völker aller Erdteile dieser Erde. „Zur Völkerwelt von Gott gesandt, soll die Kirche ,das allumfassende Sakrament des Heiles 1 (LG 48) sein" (Ad gentes 1). „In der gegenwärtigen Weltlage, aus der für die Menschheit eine neue Situation entsteht, ist die Kirche, die da ist Salz der Erde und Licht der Welt (vgl. M t 5, 13-14), mit verstärkter Dringlichkeit gerufen, dem Heil und der Erneuerung aller Kreatur zu dienen, damit alles in Christus zusammengefaßt werde und in ihm die Menschen eine einzige Familie und ein einziges Gottesvolk bilden" (Ad gentes 1 ; vgl. PP 1 ff.). Die Kirche muß immer „Weltkirche 11 sein, in der alle Glaubenden als gleichwertige, wenn auch verschiedenartige Menschen für den apostolischen Sendungsauftrag berufen werden können. Diese unsere Kirche ist überall auf der Welt gleichwertig und nirgends ist jemand, der weniger wert ist. So sprechen wir bewußt von der „einen Kirche" und nie von einer ersten, zweiten oder dritten Kirche, weil dies abwertende Worte sind. Die Kirche lebt immer aus der Gnade Gottes und ist überall gleich viel wert auch dann, wenn äußere Strukturen noch sehr einfach sind. In der konkreten Welt lebt die Kirche, die sich für die Verkündigung der Frohen Botschaft und für die Verwirklichung der Taten der christlichen Liebe einsetzt. Die Kirche ist immer eine „Kirche für die Welt". Überall ist Welt und Gesellschaft in Entwicklung; es gibt kein voll entwickeltes Land oder ein total unterentwickeltes Land. Alle Länder sind voneinander abhängig. Heute erleben wir dies besonders. Niemand kann sagen, daß wir im reichen Europa voll entwickelt sind, denn eine starke materielle Anhäufung ist noch keine Entwicklung, sondern nur eine materielle Besitzhäufung, die nicht menschlich ist, sondern in sich nach gerechten Teilungsmöglichkeiten ruft. Papst Paul VI. hat bei der Gründung des Päpstlichen Rates COR UNUM (15. Juli 1971) den Auftrag bezeichnet, alles zu tun für die „Förderung des menschlichen und christlichen Fortschrittes". Darin sind der geistige und materielle Auftrag harmonisch aufgewiesen. Hier sehen wir zwei Texte von Papst Johannes Paul II.: „Die Sendung Jesu Christi, des Erlösers, die der Kirche anvertraut ist, ist noch weit davon entfernt, vollendet zu sein. Ein Blick auf die Menschheit insgesamt am Ende
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des zweiten Jahrhunderts zeigt uns, daß diese Sendung noch in den Anfängen steckt und daß wir uns mit allen Kräften für den Dienst an dieser Sendung einsetzen müssen." (RM 1) „Das Konzil hat reiche missionarische Früchte getragen. Es entstanden Ortskirchen mit eigenen Bischöfen, mit Klerus und Laienaposteln. Die christlichen Gemeinden werden immer intensiver in das Leben der Völker eingebunden. Die Verbindung der Kirchen untereinander bringt einen lebhaften Austausch geistlicher und materieller Güter mit sich. Das kirchliche Leben ist im Begriff, sich durch den Verkündigungsauftrag an die Laien zu verändern. Die Ortskirchen öffnen sich für die Begegnung, für den Dialog und für die Zusammenarbeit mit Mitgliedern anderer christlicher Kirchen und Religionen" (RM 2; vgl. Ev.N. 14). II. Kirche ist Zeichen der Gottesliebe Grundlage der Verkündigung ist die Mitteilung, daß Gottes Liebe die Welt und alle Menschen umfaßt. So ist unsere christliche Verkündigung der Botschaft Gottes ein „Liebesdienst" und alle unsere mitmenschlichen Tätigkeiten für uns und für alle anderen sind immer in erster Linie „Taten der Liebe", wenn sie wertvoll sein sollen. Die „Theologie der Liebe" ist eine grundlegende Orientierung. Die dreifältige Liebe als Leitmotiv zur wahren menschlichen und christlichen Haltung muß als „Spiritualität" in der Kirche verkündet werden: Wer Gott liebt, liebt seine Schöpfung und die Geschöpfe ohne Ausnahme und tut alles zum Wohle dieser Geschöpfe Gottes. Wer Gott liebt, nimmt auch sich selbst an und liebt sich. Wer Gott liebt, liebt den Nächsten wie sich selbst! Hier ist der „größte und wichtigste soziale Grundsatz" begründet. Aufgrund der Liebe wird man alles hinterhältige Nutzendenken ablegen und aufgrund der Liebe werden die Werke der Gerechtigkeit und des Friedens errichtet. Liebe ist ein „Grundprinzip der Menschlichkeit". Als Christen dürfen wir alle biblischen Aussagen und theologischen Erklärungen zum Thema der „Theologie der Liebe" so verstehen: W o Liebe gelebt wird, werden die Taten der Gerechtigkeit geboren, sonst bleiben alle Hilfsaktionen nur nackte materielle Aktionen. W o Liebe gelebt wird, entsteht die „wahre Geistigkeit der Solidarität", die nicht nur Schlagwort oder Motiv der Propaganda ist. Liebe zeugt die „Taten der Menschlichkeit". Liebe ist das Grundlage-Motiv für alle Taten der Entwicklungsförderung ohne Hintergedanken, ohne Unterdrückung des Nächsten, ohne Ideologien der Abhängigkeit und der Ausnutzung des Nächsten. In den Enzykliken der Päpste wurde dieses wichtige Leitmotiv der Liebe erklärt als die Grundlage aller christlichen Spiritualität für christliches Handeln. Alle Werke der Christen müssen auf
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diesem Grund der Tugend der Liebe vollzogen werden, da sonst der Horizontalismus ohne Wertorientierung nur vom momentanen pragmatischen Standpunkt aus zur Motivierung führt; diese ist aber subjektiv und kann auch parteipolitisch oder nur handelspolitisch ausgelegt werden. Diese Formen führen zur einseitigen Hilfe je nach dem Prinzip des Nutzens.
I I I . Kirche w i l l Formung des Menschen zum Mitmenschen Jesus Christus ist vom Himmel herabgestiegen, um Mensch zu werden und uns zu erlösen. Er ist das eigentliche Vorbild des Menschen und in seiner gütigen und den Menschen liebenden Lebensform der stärkste „soziale Impuls" für unsere Zeit, für uns Christen und für alle Menschen: Er ist der Heilende, Heilbringende und allen Menschen als Heiligender begegnende Gottmensch. Kirche werden die Christen in der Nachfolge dieses Jesus Christus. Entwicklungshilfe, also Tat für das Leben der Menschen, wird in dieser Geistigkeit zu einer wahren menschlichen Tat. Die Katechese der Liebe schenkt diese Bildung des Menschen zum Menschen, also zum voll aufgeschlossenen sozialen Menschen, und es ist der Wahrheit Gottes entsprechend, daß wir diese Formung ernst nehmen. Ohne menschliche Bildung wird es keine menschliche Entwicklung geben, da sonst der Mensch in den Sünden der Habsucht und der Ichsucht stecken bleibt und mehr an sich als an die anderen denkt und somit das „asoziale Ungleichgewicht" erzeugt. — Die Bildung des Menschen vom ICH-Menschen zum WIR-Menschen. Alle christlichen Gebete, angefangen vom „Vater unser", sind WIRGebete. Inmitten einer Zeit der Egoismen, wie des Kapitalismus, des Konsumismus, des Nationalismus, des Rassismus und des Fundamentalismus sowie der Klassen-Ideologien müssen wir Christen sowohl in der Kirche, als auch als Kirche für die Welt das Zeugnis des WIR-Denkens und WIR-Handelns geben. Diese geistige Bildungsarbeit, die sowohl die Neu-Evangelisierung der Kirche wie auch die Erst-Evangelisierung und das soziale Werk betrifft, muß vorrangig in das Programm christlichen Handelns einbezogen werden. Wahre Evangelisierung im Geiste Jesu, fruchtbringende Missionierung und gerechte Entwicklungshilfe haben mit der Bildung des Menschen zum WIR-Menschen zu beginnen. Dies trifft aber auch die Geistigkeit aller Organisationen in der Kirche und Gesellschaft. W i r müssen wissenschaftlich und praktisch Wege der Befreiung vom Egoismus und Subjektivismus finden. — Die Bildung des Menschen zum „TEILEN". In Apostelgeschichte 4,32 stehen die Worte einer geistigen Orientierung christlicher Gemeinden: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und
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eine Seele. Keiner nannte etwas von seiner Habe sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam." Hier ist die oberste Form des Teilens vorgestellt, die im kirchlichen Leben sinngemäß aufgegriffen und zur neuen Spiritualität der Christen werden muß: der Bischöfe, Priester, Ordensleute und apostolischen Laien. Papst Paul VI. mahnte mit den Worten, daß die Güter der Erde für alle da sind und forderte die neue gerechte Verteilung. Grundsätzlich müßte vor allem in der Kirche das vorgelebt werden, denn die Weltkirche, also die Kirche in allen Ländern, ist eben unsere Kirche, mit der wir teilen sollen. Dies trifft die missionarischen wie auch die entwicklungspolitischen Anliegen. Es muß überlegt werden, was es heißt, daß wir uns als Brüder und Schwestern ansprechen! Die Umsetzung dieser Worte in konkrete Lebenshaltungen ist eine „christliche Lebensfrage" ; ein Appell an eine neue Geisteshaltung, die nicht nur mit Worten ausgesprochen, sondern in Taten gelebt werden muß. Die Sozial-Enzykliken der Päpste laden ein; mit Recht stellt man sich die Frage nach der Umsetzung. — Die Formung der Künder für die Weltkirche. Es geht uns um die Formung in Theologie und in den Sozialwissenschaften aller jener, die dann als verantwortliche Künder in der Kirche tätig sind. Um den Menschen Orientierung bieten zu können, müssen die Wege der Bildung der Bildner gelingen. Sie sind jene Multiplikatoren, die die Texte der Päpstlichen Rundschreiben umsetzen können in die Studienorientierungen für Menschen, die sich vorbereiten. Vom Bildner wird in Zukunft viel abhängen. Es ist in der Vergangenheit nicht genug getan worden. Sachliche Kenntnisse der christlichen „Missiologie" und der „christlichen Soziallehre" sind eine wichtige Vorbedingung für eine vertiefte und fruchtbringende Verlebendigung christlicher Botschaft der Weltkirche und als Kirche für die Weltentwicklung.
IV. Konkrete Anliegen der Kirche in der Welt Das Päpstliche Rundschreiben „Redemptoris missio" gibt Anlaß über bedeutsame Zentralpunkte nachzudenken, die nicht nur die Evangelisierung und Mission, sondern auch das gesamte Programm des menschlichen Fortschrittes betreffen. Es wird hier versucht, zwei Enzykliken miteinander zu sehen, ohne diese beiden Aufgaben zu vermischen und ohne zu übersehen, daß wir die Entwicklungshilfe i m christlichen Sinne als wahre menschliche Hilfe geben für alle, die in Not sind; sie wird nie an eine Bedingung der Christianisierung gebunden. Es werden hier die Aspekte aller sozialen Rundschreiben der Päpste und besonders von „Centesimus annus" eingebunden, es werden die Chancen
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nach dem Umbruch von 1989 gesehen und vor allem das Thema „Der Mensch ist der Weg der Kirche" (CA 53 ff.). Folgend den Worten von Papst Leo XIII. sagt Papst Johannes Paul II.: „Daraus folgt, daß die Kirche den Menschen nicht verlassen darf und daß dieser Mensch der erste Weg ist, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrages beschreiten muß ..., den Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt" (CA 53).
ί. Jesus Christus, einziger Erlöser und Befreier Der Heilsauftrag durch Jesus Christus ist universell und betrifft sowohl die missionarische Sendung wie die Verpflichtung, die sozialen Taten der Liebe zu tun (RM 4 und 5; vgl. Εν. N.15). Die Botschaft Jesu, die universell verkündet werden muß, ist die Grundlage für den Glauben, und der Glaube an Jesus Christus ist ein Angebot an die Freiheit des Menschen, dies zu glauben und in den täglichen Werken zu leben. Die Gebote Gottes, die Bergpredigt und alle Inhalte der Botschaft sind ja lebensbezogen und sollen fruchtbar für die Welt sein. „In der modernen Welt neigt der Mensch dazu, sich auf die horizontale Dimension einzuengen" (RM 8), aber wir haben als Christen auch im sozialen Wirken die Vertikale und Horizontale gleichmäßig zu sehen. Die Kirche ist ein Zeichen des Heiles und Werkzeug des Heiles und sie will das Heil in Christus allen anbieten, denn „wir können nicht schweigen" (Apg 4,20) sagen die Apostel und mit ihnen die Kirche. Das „Warum Mission?" ist eine Frage an uns und kann mit dem Worte der Einladung durch Jesus Christus beantwortet werden. Die Botschaft Jesu ist die endgültige Wegweisung zum Heil in Gott, aber ist sie zugleich auch der Weg für die Aufgaben, um den Menschen Befreiung von Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Verletzung und Ausbeutung zu bringen. So wird Jesus Christus mit seiner Botschaft der Erlöser und Befreier von Sünden und deren Folgen, zum Befreier der Hilflosen und Armen. Jesu Botschaft lädt ein, daß den Trostlosen, den Menschen ohne Dach und ohne Heimat, ohne Bildung und ohne Brot Hilfe gegeben werde, damit sie frei werden von diesen Lasten (vgl. Bergpredigt). Er spricht gegen die Habsucht und Ichsucht und möchte die Menschen von diesem Grundübel befreien. 2. Das Reich Gottes und das Reich der Menschen Christus ist die Verkörperung der Barmherzigkeit Gottes, schreibt Papst Johannes Paul II. (RM 12). Christus selbst bewirkt die Anwesenheit des
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Reiches Gottes. „Jesus selbst macht offenbar, wer dieser Gott ist, dem er zutraulich den Namen ,Abba', Vater, gibt (vgl. M k l 4 , 36). Gott, wie er insbesondere in den Gleichnissen erscheint (vgl. Lk 15, 3-32; M t 20, 1-6), ist den Nöten und Leiden jedes Menschen gegenüber offen; er ist ein liebender Vater, voll Mitleid, er verzeiht. . ." (RM 13). Jesus bringt die Besonderheiten und Erfordernisse dieses Reiches zur Sicht, in dem auch die konkreten Taten der Liebe für die Entfaltung des Menschen gelebt werden sollen. Es geht nicht um ein rein irdisches Reich, sondern um das Reich Gottes. Aber ebenso um die Sichtbarmachung, daß Gott nicht neben, sondern in der Gesellschaft tätig ist. Es gibt das „besondere Band zwischen Kirche und Reich Gottes und Christi, ,das anzukündigen und in allen Völkern zu begründen sie die Sendung hat'" (RM 18). „In dieser Gesamtschau kann die Wirklichkeit des Reiches verstanden werden. Es macht gewiß die Förderung der menschlichen Güter und Werte erforderlich. ... Aber die Förderung, die auch der Kirche am Herzen liegt, soll nicht losgelöst werden von und nicht in Gegensatz gebracht werden zu ihren anderen Aufgaben, wie die Verkündigung... Paul VI., der die Existenz eines in die Tiefe reichenden Bandes zwischen Christus, Kirche und Evangelisierung feststellt, hat ebenso gesagt, daß die Kirche sich nicht selbst Ziel ist, daß sie sich aber eifrig bemüht, ganz Christus zu gehören, in ihm und für ihn zu sein, und ganz auf der Seite der Menschen zu stehen, unter ihnen und für sie dazusein" (RM 19). Die Kirche ist im Dienst für das Reich und für alle Menschen in der Gesellschaft durch die konkreten Taten der Liebe; sie ist für das Reich der Menschen eine Orientierung, ein Dienst, eine menschliche Wegweisung und eine sichtbar gewordene Liebestat Gottes. So kann man Verkündigung und Entwicklungshilfe miteinander sehen als Tätigkeiten ein- und derselben Kirche. Hier beginnt auch die Verantwortung der „Entwicklungshilfe" einsichtig zu werden, die Papst Paul VI. in Populorum progressio so eindeutig herausgestellt hat: alle Christen tragen Verantwortung für die Entwicklung und den Fortschritt der Menschen sich zu sorgen.
3. Gottes Geist ruft zur Mission und zum Dienst der Liebe Die Sendung im Heiligen Geist ist eine Sendung bis an die Grenzen der Erde (vgl. Apg 1,8). Alle Völker und alle Nationen sind anzusprechen und allen Völkern gilt unsere menschliche Sorge, auch für das irdische Wohl. Der Geist erweist die Kirche insgesamt als Missionskirche. „Es ist in der Tat eines der wichtigsten Ziele der Mission, das Volk zum Hören der Frohbotschaft, zur brüderlichen Gemeinschaft, zum Gebet und zur Eucharistie zu versammeln. »Brüderliche Gemeinschaft 1 ... leben bedeutet, ,ein Herz und 24 Festschrift Schasching
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eine Seele' haben (Apg 4, 32)... Wahrhaft christliche Gemeinde ist auch um die Teilung der irdischen Güter bemüht, damit es keine Notleidenden gebe und alle je nach Bedarf Zugang zu diesen Gütern haben ..." (RM26). Entwicklungshilfe wird hier sichtbar als ein geistiges Anliegen, das Jesus Christus als unser Anliegen uns vorstellt. In den Sozialenzykliken der Päpste sind diese Punkte klar vorgelegt. W i r müssen aber auch sagen, daß sowohl die Missionstätigkeit wie auch die Entwicklungshilfe der Kirche in den Anfängen steht (vgl. RM 30). Der soziale Dienst gilt weltweit, beginnt in der eigenen Pfarre, im eigenen Land, im eigenen Kontinent und setzt sich international fort. Dieser christliche Dienst gründet aber auch i m Künden der Frohbotschaft Gottes, die konkret umgesetzt werden muß. Papst Paul VI. hat in „Evangelii nuntiandi" (17 ff.) die Frage beantwortet: Was besagt evangelisieren? Er weist zugleich auf die soziale Verantwortung hin, auf die Worte, die Taten und das Zeugnis! Zugleich erklärt er, daß alle Evangelisierten wieder selbst etwas tun müssen: „Schließlich wird derjenige, der evangelisiert worden ist, auch seinerseits wieder evangelisieren" (EvN24).
4. Die umfassende Sendung für alle Völker Es gibt so viele Formen der Sendung zur Verkündigung und auch zum sozialen Liebesdienst. Die Sendung ist vor allem als weltweiter Dienst zu erkennen. Trotz mancher neuer theologischer Aussage bleiben „Mission und Entwicklungshilfe" in unserer religiösen mobilen Gesellschaft zwei ständig bestehende Aufgaben. Die Mission an alle Völker behält immer ihren Wert (vgl. RM 33 ff.). Trotz vieler politischer, wirtschaftlicher und kultureller, aber ebenso religiöser Schwierigkeiten müssen die beiden Dienste getan werden. Vor allem gewinnt die Weckung zur Selbstverantwortung besondere Stellung. Der Mensch muß an Ort und Stelle seine Aufgabe sehen und wahrnehmen, selbst als Empfangender zum Künder werden und als Empfangender dem Nächsten helfen. In der Sorge um den Menschen sollen alle geweckt werden, dies zu sehen und mitzuarbeiten, denn alle Vorgänge sind ja auch Begegnung zwischen den Völkern der Erde: „Alle Formen der Missionstätigkeit sind gekennzeichnet vom Bewußtsein, die Freiheit des Menschen zu fördern." (RM 39). Für die sozialen Programme bietet die Kirche für alle Welt ihre Soziallehre an, die auf Christi Botschaft aufbaut. „Die Kirche hat keine eigenen Modelle vorzulegen" (CA 43), aber diesem Bemühen entsprechend „bietet die Kirche als unerläßliche, geistige Orientierung ihre Soziallehre an" (CA 43). Die Umsetzung des Gebotes der Liebe muß vor allem in der Anerkennung des Menschen, seines Rechtes leben zu dürfen, gesehen
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werden. So spricht die Kirche vom rechten „Verhältnis zwischen dem Privateigentum und der universalen Bestimmung der Güter" (CA 49).
5. Wege der Mission und Entwicklung Für beide Aufgaben der Kirche gilt der Satz: „Missionstätigkeit ist nichts anderes und nichts weniger als Kundgabe oder Epiphanie und Erfüllung des Planes Gottes in der Welt und ihrer Geschichte, in der Gott durch die Mission die Heilsgeschichte sichtbar vollzieht." (RM 41). Das persönliche Zeugnis (vgl. RM 42), das gefordert wird, betrifft die Mission und die Entwicklung. Der Mensch von heute glaubt mehr den Zeugen als den Lehrern (RM 42) und mehr dem Leben und den Taten als den Theorien; so steht für die Entwicklungshilfe immer die konkrete Tat, die die Lehre vorlegt. Mission und Entwicklungshilfe als „Lebenszeugnis" weist auf, daß beide Aufgaben „persönliche Taten" sind und nicht in erster Linie finanzielle Hilfen sein können. Durch Mission werden Menschen in den Glauben zu Christus gerufen und durch Ausbildung werden Menschen fähig gemacht, die Strukturen der Gesellschaft mit geeigneten Methoden so zu verändern, daß menschlicher Fortschritt gelingt. Neue Strukturen an der Basis, also i m Lande, wo Kirche Jesu zu leben beginnt, sind wichtig. Die Ortskirche und die Stärkung durch einheimische Verantwortliche ist gewollt (RM 48) und die gesamte Entwicklungshilfe ist nur dann ein positiver Lebensprozeß, wenn einheimische Menschen die Verantwortung für ihr Volk übernehmen und selbst ihren Beitrag unter Beihilfe von außen leisten, also „Entwicklungshilfe als Beihilfe zur Selbsthilfe"! Ein besonderer Punkt ist die oft zitierte und notwendige „Inkulturation" (RM 52). Sie ist ein langsamer Weg, aber alle Bemühungen der Kirche für Mission und Entwicklungshilfe müssen immer mehr von den Menschen des Landes getragen, von ihrer Mentalität geprägt und von ihrer Eigenverantwortung getragen werden (vgl. Die Hinweise in PP und Ev. N.). Mission und Entwicklungshilfe müssen auch i m Dialog mit den christlichen Kirchen und den anderen Religionen gesehen und gelebt werden. W i r haben rechte Wege anzubieten und sollen unsere Ideen allen vorstellen, damit miteinander Wege der „Erlösung der Menschen" gefunden werden. Die Formung des Gewissens der Menschen ist eine Aufgabe in jeder Hinsicht: es geht um den „Einsatz für die ganzheitliche Entwicklung und die Befreiung von jeder Unterdrückung" (RM 58). Die Kirche weckt das Gewissen, macht Vorschläge, aber sie ist „nicht fähig für technische Lösungen" (RM 58; SRS 41). Konkret hilft die Kirche durch ihre Missionare für die Errichtung der Werke der Entwicklung (RM 58). 24*
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Kirche gibt Orientierung für die ganze Welt und lädt alle Länder der Erde zur Evangelisierung ein und spricht gegen Unter- und Überentwicklung (RM 59); sie tritt für die Realisierung der Tugenden der Solidarität und Subsidiarität ein. „Die Kirche in Treue zum Geist der Seligpreisungen ist auch gerufen, mit den Armen und Unterdrückten aller Art zu teilen. Ich rufe daher alle Jünger Christi und alle christlichen Gemeinschaften ... dazu auf, ihr Leben i m Sinne der Solidarität mit den Armen aufrichtig umzugestalten" (RM 60).
6. Die Leiter und Mitarbeiter in Mission und Entwicklungshilfe Alle Aktivitäten zum Wohle der Menschen müssen von Menschen getragen werden. Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden trägt Verantwortung: „Jede Ortskirche muß sich großzügig den Bedürfnissen der anderen öffnen. (RM 64). Die Kirche muß in ihren eigenen Reihen Mitarbeiter ausbilden und sorgen, daß aus allen Ländern der Erde auch Leiter für diese Aufgaben heranwachsen. Es geht um die Überwindung aller Formen falscher Abhängigkeit, denn es geht um die Zusammenarbeit und den geistigen Austausch. Die Errichtung von Instituten für Mission und Entwicklungshilfe in allen betroffenen Ländern ist notwendig (RM 66). Papst Johannes Paul II. folgt auch dem Aufruf seiner Vorgänger, seit Papst Pius XII., daß Weltpriester, Ordensgemeinschaften und Entwicklungshelfer als Freiwillige weltweit helfen sollen. Es geht um eine personelle Verteilung, die alle befähigt, Gutes zu tun (RM 67, Enzyklika Fidei donum von Papst Pius XII. als grundlegendes Dokument). Papst Johannes Paul II. erklärt, daß alle Laien kraft der Taufe „Missionare" sind (RM 71 ; Εν. Ν. 70-73 ; Christifideles laici 35).
7. Die internationale
Zusammenarbeit
Gerade für unsere Kirche ist dies ein Kennzeichen, da wir katholisch, also weltweit, umfassend nie in Nationen aufgeteilt sind. W i r sind überall die gleiche Kirche Jesu Christi. „Als Glieder der Kirche aufgrund der Taufe sind alle Christen für die Missionstätigkeit mitverantwortlich" (RM 77), und als Christen, die das gleiche Gebot der Liebe und Gerechtigkeit Christi leben, sind alle Christen für eine fruchtbare Entwicklungshilfe verantwortlich. Die Apostelgeschichte bringt sowohl für die Mission sowie für die Aufgabe des „Teilens" wichtige Punkte. Papst Paul VI. hat zusätzlich zur Kongregation für die Evangelisierung mit den Worten aus Apg 4,32 einen Päpstlichen Rat COR U N U M gegründet für
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die Obsorge der sozialen Anliegen der Weltkirche für alle Menschen in Not. Alle Päpste laden ein zur Zusammenarbeit und Koordination in den Ländern und zwischen den Ländern, da gerade dadurch eine Abstimmung entsteht, wo Hilfe not tut und wie man miteinander die Hilfen für möglichst viele fruchtbar machen kann. Es geht dabei nicht nur um Geld, sondern um den „gemeinsamen Aufbau", der nicht im Senden von Geld sich erschöpfen kann: Geld ist notwendig, aber an sich nicht wichtig, da die Weckung zur Eigenverantwortung, die Bildung der Menschen wichtig ist und erst dadurch das notwendige Geld fruchtbar wird. Mission und Entwicklungshilfe ist immer ein Geben und Empfangen, da die menschliche Öffnung für die Menschen auswärts eine neue Weltsicht mit sich bringt, eine geistige Bereicherung durch den Kontakt mit vielen anderen Menschen anderer Kulturen, Rassen, Sprachen und Religionen (vgl. RM 85). Papst Johannes Paul II. stellt eine sehr positive Sicht heraus und spricht davon, daß Gott dem Evangelium einen „neuen Frühling" bereitet (RM 86) und ruft auf, daß wir Christen nicht ruhig vor uns hinleben können, wenn wir die Lage der Welt betrachten. Immer wieder wird aber die Verantwortung aller für die ganze Welt herausgestellt, denn die Botschaft Jesu soll allen gebracht werden, und alle Menschen der Welt sind unsere Mitmenschen, denen wir heilvoll begegnen sollen.
8. Geistige Haltung im Leben der Welt Die Einladung zur missionarischen Spiritualität trifft uns und gilt für die Sorge um den ganzen Menschen. Jesus Christus hat sich um den Menschen gekümmert, hat mit seiner Botschaft endgültige Wegweisung gebracht, mit seinen Handlungen allen Notleidenden und Ratsuchenden konkrete und positive Antworten und Hilfen gegeben. Eine Einladung in diesem Sinne lautet: Die Kirche und die Menschen lieben, wie Jesus sie geliebt hat. „Der Missionar ist der ,Weltbruder', er trägt in sich den Geist der Kirche, seine Offenheit und sein Interesse für alle Menschen, besonders für die geringsten und ärmsten. Als solcher überwindet er die Grenzen und Trennungen von Rasse, Kaste, Ideologie; er ist ein Zeichen der Liebe Gottes in der Welt, einer Liebe, die weder irgend jemanden ausschließt noch bevorzugt" (RM 89). Und der Papst sagt am Schluß ein schöne Wort: „Noch nie hatte die Kirche so wie heute die Möglichkeit, das Evangelium durch das Zeugnis und das Wort allen Menschen und allen Völkern zukommen zu lassen" (RM 92).
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In der Enzyklika „Evangelii nuntiandi" spricht Papst Paul VI. (74 ff.) über den Geist der Evangelisierung, die ein Dienst am Menschen ist und umfassend vollzogen werden soll, wie Jesus es getan hat. Immer wieder kehrt bei den Päpstlichen Rundschreiben die Einladung der geistigen Bildung der Menschen für Verkündigung und Dienst der Liebe.
9. Der Mensch ist der „Weg der Kirche"/ „Die heutige Soziallehre hat besonders den Menschen im Auge, insofern er in das komplizierte Beziehungsgeflecht der modernen Gesellschaften eingebunden ist. Die Humanwissenschaften und die Philosophie dienen dazu, die zentrale Stellung des Menschen in der Gesellschaft zu deuten und ihn in die Lage zu versetzen, sich selbst als soziales Wesen besser zu begreifen" (CA 54). Erst aus der Anerkennung der Würde des Menschen ergibt sich die rechte Sicht und die Anerkennung aller Menschen als volle Glieder der Gesellschaft. Praktisch sind alle asozialen Situationen, aus denen Hunger, Not, Unterdrückung, Ausbeutung, Rassenhaß und Nationalismus sich ergeben, die Frucht einer Herabsetzung des Menschen, einer falschen Anbetung des Mammons, des Profitdenkens, der Ichsüchtigkeit. Papst Johannes Paul II. drängt mit Recht in mehreren Rundschreiben auf die Bedeutung der Anerkennung des „Wertes Mensch" ohne Ausnahme! Dieser christliche Humanismus ist der intensive Anstoß und die absolute Forderung für eine wirkliche humanistische Gesellschaft, in der der von Gott geschaffene Mensch in all seinen Rechten anerkannt und in seiner Werthaftigkeit geachtet wird. „Die Liebe zum Menschen und vor allem zum Armen, in dem die Kirche Christus sieht, nimmt in der Förderung der Gerechtigkeit ihre konkrete Gestalt an ... Es geht nicht bloß darum, vom Überfluß abzugeben, sondern ganzen Völkern den Zugang in den Kreis der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung zu eröffnen, von dem sie ausgeschlossen oder ausgegrenzt sind" (CA 58). Es liegt hier die sachlich begründete Forderung vor, daß neue Modelle der Produktion, der partnerschaftlichen Form der Wirtschaft gegangen werden müssen, da heute unhumanistische, nur auf Profit und Ichsucht aufgebaute Systeme als ausbeutende Mächte den Menschen abwerten und die Gesellschaft in die Teile der Armen und Reichen zerfallen lassen. Man darf das Wort von Papst Johannes Paul II., der sehr klar die Bedeutung der Evangelisierung im Sinne der früheren Päpste herausgestellt hat und zur sozialen Verantwortung der Kirche seine Stellung abgibt, hören: „Das »nahezu sklavische Joch', am Beginn der Industriegesellschaft nötigte meinen Vorgänger, zur Verteidigung des Menschen das Wort zu ergreifen.
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Dieser Verpflichtung ist die Kirche in diesen hundert Jahren treu geblieben! Sie hat in die stürmische Phase des Klassenkampfes nach dem Ersten Weltkrieg eingegriffen, um den Menschen vor der wirtschaftlichen Ausbeutung und vor der Tyrannei der totalitären Systeme zu verteidigen. Sie hat die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihrer sozialen Botschaften nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt, als sie auf der universalen Bestimmung der materiellen Güter, auf einer Gesellschaftsordnung ohne Unterdrückung und gegründet auf den Geist der Zusammenarbeit und der Solidarität bestand. Sie hat stets betont, daß der Mensch und die Gesellschaft nicht allein diese Güter, sondern auch geistige und religiöse Werte brauchen. Während sie sich immer klar wurde, daß zu viele Menschen nicht im Wohlstand der westlichen Welt, sondern i m Elend der Entwicklungsländer leben und eine Situation ertragen, die noch immer jene des ,nahezu sklavischen Jochs' ist, fühlte und fühlt sie sich verpflichtet, diese Tatsache mit aller Klarheit und Offenheit anzukreiden, auch wenn sie weiß, daß ihr Appell nicht immer von allen wohlwollend aufgenommen werden wird. Hundert Jahre nach der Veröffentlichung von „Rerum novarum" steht die Kirche wiederum vor ,Neuem' und vor neuen Herausforderungen. Dieses Jubiläum soll daher alle Menschen guten Willens und insbesondere die Glaubenden in ihrem Bemühen bestärken" (CA 61). W i r sind somit gerufen, auf wissenschaftlichem Gebiet die Ideen zu erklären und auf praktischen Wegen die Taten der Evangelisierung in den Werken der Liebe auch sichtbar zu machen.
IV. Pastorale und kirchenhistorische Fragen
ZUR ENZYKLIKA „ H U M A N A E VITAE" Eine (positive) Stellungnahme
aus der Sicht des Arztes (Kinderarztes)
Von Heribert Berger
Dem Theologieprofessor, Ethiker und Sozialwissenschaftler DDr. Johannes Schasching einen Beitrag für seine Festschrift zu seinem 75. Geburtstag darbieten zu dürfen, ehrt mich. Ich tue es mit vielen guten Wünschen zu seinem Festtag und aus Dank für sein großes Wirken. Als Thema habe ich eine Stellungnahme zu der breit geführten Diskussion über die päpstliche Enzyklika „Humanae vitae" von Papst Paul VI. gewählt, „Ueber die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens", die von sehr hohem sozialem Wert ist. Ich nehme hier als katholischer Arzt, als Kinderarzt, Stellung. Wegen der immer wieder zu hörenden Kritik an dieser Enzyklika habe ich diese sehr eingehend und sehr oft gelesen. Dabei kam ich immer mehr zu dem Schluß, daß die negative Kritik an diesem päpstlichen Rundschreiben, die man immer wieder zu hören oder zu lesen bekommt, unberechtigt ist und im Grunde ein trauriges Ereignis darstellt, besonders da sie auch von kirchlichen Vertretern mit besonderer Verantwortung geäußert wird. Dies ist doppelt zu bedauern, da am Ende des Kapitel 28 der Enzyklika auch der Mahnruf des Apostel Paulus zitiert wird, daß alle seine Brüder keine Spaltung aufkommen lassen sollen, sondern nur Einigkeit. Dies sollte, meiner Meinung nach, im Falle dieser Enzyklika nicht schwer sein. Das wiederholte Studium des Textes dieser Enzyklika hat mir gezeigt, daß sie eine besonders schön formulierte Aussage des Hl. Vaters über den Menschen ist, voll Güte, voll Verständnis für den Menschen und seine Nöte, voll Treue zur Wahrheit. Sie ist eine große pastorale Hilfe, getragen von Verantwortung um die rechte Ordnung, die heute so oft in Frage gestellt, ja zerstört wird. Lediglich im Kapitel 10, Ende des 3. Absatzes, steht eine Formulierung, die heute mißdeutet werden könnte. Ich weiß nicht, ob es sich um einen Übersetzungsfehler handelt — mir stand zum Studium nur die deutsche Übersetzung zur Verfügung (20). Es heißt dort, im Zusammenhang, wie verantwortliche Elternschaft ausgeübt wird: „... eine kinderreiche Familie aufzuziehen, als auch in der aus schwerwiegenden Motiven und unter Beobachtung des Sittengesetzes getroffenen Entscheidung, zeitweise oder
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auf unbegrenzte Zeit die Geburt weiterer Kinder zu vermeiden." Im „Zeitalter der Abtreibungen" wäre die Formulierung „Zeugung" statt „Geburt" unmißverständlicher. Die großen menschlichen Verpflichtungen dem Leben und dem richtigen menschlichen Verhalten gegenüber kommen in diesem Rundschreiben in wirklich großartiger Weise zur Darstellung, für die man nur dankbar sein kann, und zwar können es alle Menschen sein, auch wenn sie unter verschiedenen Bedingungen leben oder leben müssen. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Voraussetzung ist freilich ein Offensein diesen Wahrheiten gegenüber und das Bewußtsein, daß Alltagsrealitäten nicht mit der Wahrheit identisch sein müssen. Die Kritiker von „Humanae vitae" wenden sich vorwiegend gegen das „Nein" gegenüber Methoden der künstlichen Geburtenregelung bzw. der künstlichen Schwangerschaftsverhütung, indem sie in den neuen Methoden, wie die Hormonpillen, das Intrauterinpessar und andere, einen Fortschritt zu sehen meinen, dem man sich heute nicht entgegenstellen dürfe. Man geht so weit, der Kirche vorzuwerfen, ein Nein zu diesen Methoden sei wie einst das Nein der Kirche gegen die Entdeckungen Galileo Galileis. Tatsache ist, daß das Ja zu diesen Methoden Folgen zu zeitigen imstande ist, die man nicht verantworten kann und daher nicht billigen darf. In der 1968 veröffentlichten Enzyklika ist ja schon von solchen Folgen der Anwendung dieser künstlichen Schwangerschaftsverhütung die Rede, wie die Gefährdung der ehelichen Treue, die Gefahr der allgemeinen Verflachung der Sittlichkeit, deren negative Auswirkungen, auch auf den jungen Menschen, besonders im geschlechtlichen Verhalten, eine negative Auswirkung auf die richtige Achtung von Frau und Mann, die Förderung der Rücksichtslosigkeit. Diese Methoden bieten eine gefährliche Handhabe für staatliche Behörden mit Eingriffen von dieser Seite in die persönlichste und intimste Sphäre ehelicher Liebe. Alle diese Folgen, diese negativen Folgen, sind in großem Umfang als Auswirkung dieser künstlichen Schwangerschaftsverhütungsmethoden längst eingetroffen und noch Vieles dazu. Ärztliche Aspekte: Als Arzt ist man auch für die körperlichen Schädigungen, die solche Methoden verursachen, verantwortlich, die Papst Paul VI. im Jahre 1968 noch gar nicht wissen konnte, weil sie erst durch den Gebrauch solcher Methoden bekannt wurden. Sie werden aber vielfach in der Öffentlichkeit bewußt bagatellisiert. Einige dieser möglichen Gesundheitsschäden stehen zwar heute sogar in den Beipackzetteln und Packungsprospekten solcher Mittel, den „Pillen", wie: Gewichtszunahme, Libidoverminderung, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, depressive Verstimmung, Übelkeit, Kopfschmerzen, Migräne, Sehstörungen, die sogar ein Anfangsstadium einer Hirndurchblutungsstörung sein könnten. Dann heißt es weiter, diese Pillen dürfen nicht verwendet werden bei bestehenden schweren Leberfunktions-
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Störungen, bei vorausgegangenen oder bestehenden Venenverschlüssen (Thrombemboliegefahr), bei Sichelzellanämie, bei bestehendem oder behandeltem Brustkrebs oder bei Krebs der Gebärmutterschleimhaut, bei Fettstoffwechselstörungen, starkem Blutdruckanstieg u. a. Warum wohl gibt es diese Warnhinweise?! Es ist daher im Grunde unglaublich, daß solche Mittel empfohlen und von der Frau überhaupt eingenommen werden. Man muß dem Frauenarzt R. Ehmann (11) zustimmen, wenn er sagt „ . . . noch nie wurde ein Pharmakon mit so vielen Unbekannten ohne medizinische Indikation gesunden Menschen verabreicht, noch nie wurde ein Pharmakon nach Bekanntwerden so vieler und so schwerwiegender Nebenwirkungen solange i m Handel belassen wie die Ovulationshemmer". In der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich erhielten zwar die Ärzte (nach fast 30 Jahren) ein Rundschreiben der Gesundheitsministerien (50), worin auf die zahlreichen Nebenwirkungen der Kontrazeptiva für die Frau, allerdings nur für die Frau, hingewiesen wird, aber man hat den Eindruck, daß dies nur pro forma geschah. Auf die psychosozialen Störungen, die die oralen Kontrazeptiva verursachen, wie sie etwa Petersen (35) beschreibt, will ich hier gar nicht näher eingehen, auch nicht auf die durchaus wichtige Tatsache, daß die Verwendung künstlicher Mittel zur Schwangerschaftsverhütung die Bereitschaft zur Abtreibung in gegebenen Fällen verstärkt. Was mich als Kinderarzt seit Jahren bedrückt, ist die mit der Antibaby Pille aufgeflammte und zunehmend gewachsene Einstellung unserer Frauen und Männer, unserer Gesellschaft gegen das Kind. Nicht nur hat sich die Zahl der Lebendgeburten seit Anwendung der künstlichen Kontrazeptiva und der Legalisierung der Abtreibung in vielen Ländern auf rund die Hälfte reduziert, wir erleben auch mehr Frühgeburten mit allen ihren Problemen, Mangelernährung der Kinder im Mutterleib durch vorgeschädigte Gebärorgane, Plazentainsuffizienz, und die Zunahme einer unärztlichen Einstellung gegenüber geschädigten Kindern im Mutterleib, wie man sie nie erwarten konnte (6), (39), (40). Es gibt aber auch direkte Schädigungen des ungeborenen Kindes durch Kontrazeptiva, also durch die künstlichen Schwangerschaftsverhütungsmittel selbst, nur sind sie noch viel zu wenig erforscht. Immerhin gibt es eine Reihe wissenschaftlicher Publikationen, die darauf hinweisen (3), (4), (7), (8), (9), (14), (15), (16), (21), (22), (36), (44), (48), (49), (50), ferner (1), (2), (14), (18), (23), (24), (27), (32), (37), (40), (41), (43). Auch tierexperimentelle Studien zeigen die Möglichkeit einer Schädigung des Nachwuchses durch hormonale Kontrazeptiva (19), (26), (40). Es sei nicht verschwiegen, daß es auch wissenschaftliche Publikationen gibt, die eine negative Wirkung der oralen Kontrazeptiva auf das Kind bestreiten (II/1-14).
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Wenn man von einer direkten Schädigung des Kindes durch künstliche Schwangerschaftsverhütungsmittel und -methoden spricht, so scheint das eine unlogische Behauptung zu sein, da diese Mittel und Methoden ja vorgeben, immer eine Befruchtung, d. h. eine Vereinigung der väterlichen Samenzelle mit der mütterlichen Eizelle und damit die Zeugung eines Kindes zu verhindern. W i r wissen aber, daß praktisch alle oralen Kontrazeptiva auch eine Versagerquote aufweisen (44) und andere eine Wirkung entfalten, wenn die Zeugung des Kindes schon erfolgt ist. Dies führt oft zum Absterben des eben gezeugten Kindes noch im Eileiter oder zur Verhinderung seiner Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut seiner Mutter, was einer Frühabtreibung gleich kommt (11), (31). Der Tubenfaktor der „Pille" besagt, daß diese Hormone der „Antibabypillen", durch Herabsetzung der Eileiterbeweglichkeit, die Wanderung des befruchteten Eies im Eileiter so verlangsamt, daß es dadurch Schaden nimmt und zugrunde geht. Die Frauenärztin M. Mall-Haefeli sagt: „Die Wirkung der Pille ist multifaktoriell, der verzögerte Tubentransport allein führt zu einer Überalterung des Eies und zu einer Verhinderung der Entwicklung eines lebensfähigen Embryos, wie wir dies auch bei der In vitro Fertilisation gesehen hatten" (31), (42). Eine Nidationshemmung entsteht bei längerer Einnahme ovulationshemmender Kombinationspräparate auch dadurch, daß die Gebärmutterschleimhaut atrophisch werden und damit ihre volle Funktion nicht mehr erfüllen kann (11), (15), (17), (34). Die Abtreibungspille RU486 basiert auf einem ähnlichen Hormoneffekt, das Antiprogesteron führt praktisch zum Hungertod des Embryos durch negative Beeinflussung der Plazenta (blutige Abstoßung). Mißbildungen: 1984 publizierten Kabarity & Mazrooei (22) Ergebnisse über zellteilungshemmende Einflüsse gewisser Ovulationshemmer, wodurch abnorme Biophasen und eine beträchtliche Anzahl von Mikronuklei entstehen, vor allem in Abhängigkeit der verwendeten Gestagene. Pinto (36) beschrieb 1986 das Auftreten von Chromosomenbrüchen in Lymphozyten mit einem deutlichen Anstieg von Chromosomenaberrationen, wenn orale Kontrazeptiva eingenommen wurden. Kochhar (26) und auch Liu & Ping (30) konnten bei Ratten nach Verabreichung von Ovulationshemmern in der Frühzeit der Trächtigkeitsperiode ebenfalls Chromosomenveränderungen feststellen, und die Autoren meinen, daß bei Versagen des befruchtungsverhütenden Effektes solcher Ovulationshemmer dies eine potentielle Gefahr für das Kind auf Grund dieser mutagenen Effekte darstellt. Muentefering & Dallenbach-Hellwig (33) fanden im „Abortmaterial" von Frauen, die während der Pilleneinnahme oder innerhalb der nach Absetzen der Pille folgenden sechs Monate schwanger wurden, doppelt bis sechsmal soviel Chromosomenanomalien (Triploiden und Monosomien X) bzw. Polyploiden als bei
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Frauen, die angaben, keine Ovulationshemmer eingenommen zu haben. Fuellgraf & Palm (14) führen in ihrem Pharmakotherapie Lehrbuch Geschlechtsanomalien, Gliedmaßenanomalien, Herzfehlbildungen, Nierenfehlbildungen, Mißbildungen der Speiseröhre und der Luftröhre an, die unter Einnahme oraler Kontrazeptiva vermehrt beobachtet wurden. Ehmann (11) gibt an, daß Nonosinol-9-haltige Spermizidpräparate, die zur Schwangerschaftsverhütung verwendet werden, im Falle einer trotzdem stattgehabten Befruchtung zu Zygotenfehlbildungen und wahrscheinlich auch zu Frühaborten Anlaß sind. Infektionen werden nach verschiedenen Autoren (10), (12), (45), (46), (48), (49) durch Ovulationshemmereinnahme und auch durch Verwendung anderer Kontrazeptiva ebenfalls gefördert, insbesondere das Angehen und die Verbreitung von Chlamydieninfektionen. Diese können zu Eileitererkrankungen und zu Beckenentzündungen führen, die 10 mal häufiger eine gefährliche Eileiterschwangerschaft und viermal häufiger eine Eierstockschwangerschaft bedingen, gefährlich also für Mutter und Kind. Auch die Frühgeburtenrate wird dadurch erhöht mit all den möglichen schweren Folgen für das Kind. Frech (12) in den USA hält sogar eine Schwächung der Immunabwehr bei Frauen, die Ovulationshemmer einnehmen, für wahrscheinlich und damit eine Häufung von Genitalinfektionen einschließlich der AIDS-Infektion, die auch auf das Kind übertragen werden können. Indirekte Schädigungen des Kindes durch künstliche Kontrazeptiva sind ebenfalls wahrscheinlich, und zwar durch Schädigung der Fortpflanzungsorgane der Frau, des mütterlichen „Biotops". Es gibt Hinweise dafür, daß diese Organe durch solche Kontrazeptiva, die ja oft lange eingenommen werden, ihre normale natürliche Funktion teilweise einbüßen und so Anlaß einer abnorm verlaufenden Schwangerschaft werden können. Der Kinderarzt steht unter dem Eindruck, daß er eine Zunahme von Frühgeburten und „small for date babies" als Folge ζ. Β. einer Plazentainsuffizienz erlebt. Auch cystische Veränderungen der Eierstöcke kommen vor (11). Immer wieder erleben wir als Kinderärzte die Probleme mit Mehrlingskindern von Frauen, die nach längerer Pilleneinnahme und dann nach Absetzen derselben keine normalen Menstruationen mehr haben, die sich aber wegen jetzt bestehendem Kinderwunsch die Ei- und Follikelreifung hormonell stimulieren lassen, was gehäuft zu solchen Mehrlingsschwangerschaften führen kann mit den Folgen des Absterbens mancher Kinder im Mutterleib oder der Frühgeburtlichkeit. Ähnliches erleben wir Kinderärzte gehäuft ja auch nach In vitro Fertilisationen, was dann heute bei Mehrlingsschwangerschaften gar nicht mehr selten zu einem Fetozid führt, d. h. die als zu viel empfundenen Kinder werden noch im Mutterleib durch gezielte Tötung beseitigt! Die Situation ist bedrückend. Die Verwendung künstlicher Kontrazeptiva ist viel ernster als man meint bzw. zugibt. Wenn der angestrebte Erfolg auch
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oft erreicht wird, so ist eine mögliche schädliche Wirkung für Mutter und Kind nicht vorauszusehen, aber latent immer gegeben und ärztlich und menschlich so gut wie nicht zu verantworten. Dazu kommt es bei Verwendung künstlicher schwangerschaftsverhütender Mittel doch auch wegen der dadurch geförderten sexuellen Fehlhaltung zu schweren psychosozialen Störungen. Viele Autoren verweisen in ihren Arbeiten auf die durch die künstlichen Kontrazeptiva geförderte Partneruntreue, die Promiskuität, den Hedonismus, die zerbrechenden Ehen, die Kinder zu Sozialwaisen machen, eben das, was Papst Paul VI. vorausgesehen hat. Auch die Verantwortung der Ärzte dem menschlichen Leben gegenüber ist durch diese Mentalität in einem Ausmaß abgebaut worden, die erschreckend und gefährlich ist (47). Die auf diese Weise sich vollziehende Altersumschichtung in unserer Gesellschaft mit ihren äußerst ernsten Folgen beginnen nun zwar einige Politiker zu begreifen, sie zeigen aber nicht den Mut zur Umkehr (38). Man überbietet sich in Parolen und Aktivitäten für den „Umweltschutz", was im rechten Maß durchaus zu begrüßen ist, aber von einem für unsere Gesellschaft so wichtigen Kinderschutz hört man viel zu wenig, eher mehr das Gegenteil. Noch ein seelsorglicher Aspekt : Die Befürworter der künstlichen Schwangerschaftsverhütung, darunter auch gläubige Katholiken, argumentieren oft so, als wäre es heute gar nicht mehr vermeidbar, auch für Gläubige nicht, diesen Weg zu gehen, deshalb lehnen sie die Enzyklika „Humanae vitae" ab, jedenfalls in diesem Punkt. Sie können nicht einsehen, daß sie mit einer solchen Verhütungsmethode gegen menschlich richtiges Verhalten verstoßen und dies trotz aller Negativa, die diese Methoden nach sich ziehen und von denen immer mehr bekannt wurden und noch werden. Warum wird dies nicht gesehen? Oder nicht zugegeben? Offenbar weil der Mensch, besonders der heutige Mensch, so schwer zugeben kann, etwas falsch gemacht zu haben, schuldig geworden zu sein. Kaum kann er sich das selbst eingestehen, geschweige denn gegenüber einer Öffentlichkeit. Lieber kämpft man für die Unwahrheit, die man als die Wahrheit deklariert, wobei man oft feststellen muß, daß dies auch aus Unkenntnis der Fakten geschieht. Und selbst wenn man etwas falsch gemacht hat, auch auf dem Gebiet der Schwangerschaftsverhütung, was ja nicht immer vermeidbar ist, hat gerade der Christ die große Möglichkeit, von seiner Schuld wieder befreit zu werden. Und auch da zeigt „Humanane vitae" den großen möglichen Weg, wenn es im Punkt 25 heißt: „Und wenn sie sich wieder in Sünden verstricken sollten, so seien sie nicht entmutigt, sondern mögen in Demut und Beharrlichkeit ihre Zuflucht zur Barmherzigkeit Gottes nehmen, die sich ihnen im Bußsakrament öffnet". Und ferner heißt es im Punkt 23, in dem der Heilige Vater auch seinen Vorgänger Papst Johannes XXIII. zitiert: „Diese Schwierigkeiten werden nicht dadurch überwunden, daß man auf Methoden und Mittel zurückgreift, die des Menschen unwürdig sind und ihre Erklärung nur
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in einer rein materialistischen Auffassung vom Menschen selbst und seinem Leben finden." Den Menschen diese Wirklichkeit so zu zeigen, wäre eine ganz bedeutsame seelsorgliche Aufgabe. Hier müßte viel mehr geschehen. In einer Welt, in der so viele Menschen den falschen (leichteren) Weg als den richtigen ansehen, ist es sicher schwer, den effektiv richtigen zu gehen, daher müßte seelsorgliche Hilfe hier einsetzen. Gewiß ist in der Intention die künstliche Schwangerschaftsverhütung nicht identisch mit der Abtreibung, aber sie ist in vielfacher Hinsicht auch ein falscher, schädlicher Weg. Man wirft der Kirche oft, besonders heute, vor, sie sei so moralisierend, sie gehe am wirklichen Leben vorbei. Das stimmt einfach nicht. Sie ist für das Leben, wie es sein soll, und sie ist für die Lust und die Sexualität des Menschen, wie sei sein soll, sie ist allerdings gegen ihren Mißbrauch, weil der sich gegen den Menschen richtet, und solches Unglück möchte sie verhüten helfen. Auch die Enzyklika „Humanae vitae". Sie ist ein großherziges seelsorgliches Angebot Papst Paul VI. der Hilfe in der Frage zum verantworteten Menschsein, zur verantworteten Geschlechtlichkeit, zur verantworteten Ehe, zur verantworteten Elternschaft. Man muß nur sein Herz auftun und man wird dieses liebevolle Helfenwollen erkennen. Auch was unsere grundsätzliche Einstellung zum Kind betrifft (28), (29). Menschenwürdig ist ein „Ja" zum Kind oder der bewußte Verzicht auf die Zeugung eines Kindes, wenn diese nicht verantwortet werden kann, wobei nie Methoden zur Anwendung kommen dürfen, die Mutter oder Kind oder gar beide schädigen oder gar töten! Das individuelle Leben unserer Kinder beginnt eben mit der Befruchtung der mütterlichen Eizelle durch die väterliche Samenzelle, ein Tatbestand, der heute auch ausreichend naturwissenschaftlich belegt ist und den man nicht unwürdigerweise aus Opportunismus immer leugnen soll (5).
Bibliographie Teil I ( 1)
Albermann, E. / Pharoah, P. / Chamberlain, G. / Roman Ε. & Evans, S. : Outcome of pregnancy following the use of oral contraceptives. Int. J. Epidemiol. 9: 207213, 1980.
(2)
Ambani, L. M. / Joshi, N. J. / Vaida, R. A. & Devi, P. K. : Are hormonal contraceptives teratogenic? Fertil-Steril 28: 791-797, 1977.
(3)
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(4)
Beral, V. / Hannaford, D. & Kay, C.: Oral contraceptive use and malignancies of the genital tract: Result from the Royal College of General Practitioners oral contraception study. Obstetrical & Gynecological Survey 44: 465, 1989.
25 Festschrift Schasching
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Heribert Berger
(5)
Berger, H.: „Die Heimlosigkeit des Menschen" — Rektorinaugurationsrede. Veröffentlichungen der Universität Innsbruck Nr. 83/VIII, 1974.
(6)
Bressers, W. M. / Eriksson, A. W. / Kostense, P. J. & Parisi, P. : Increasing trend in monocygotic twinning rate. Acta Genet. Med. Gemelloc., Roma, 36: 397-408, 1987.
(7)
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(8)
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DER STREITLOSE KAMPF FÜR DIE GERECHTIGKEIT" Von Franco Biffi „Mögen die Menschen lernen, gewaltlos für die Gerechtigkeit zu kämpfen": dies der Wunsch der Enzyklika Centesimus Annus (1. Mai 1991)
Es überrascht, welches Gewicht dem Kampf im Namen der Gerechtigkeit in der Enzyklika Centesimus annus beigemessen wird, die von Johannes Paul II. am 1. Mai 1991 herausgegeben wurde, um den hundertsten Jahrestag der Enzyklika Leos XIII. Rerum novarum hervorzuheben. Schon gleich in der Einleitung drückt der regierende Papst seinem Vorgänger die Dankbarkeit der ganzen Kirche aus, daß er sie — gerade mit dieser ersten Sozialenzyklika — hineingeführt hat in die „Großbewegung (d. h. in den denkwürdigen Kampf) zur Verteidigung und zum Schutz der Würde des Menschen, um zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft beizutragen und dem Unrecht eine Grenze zu setzen" (Nr. 3).
I. Soziallehre: „Handbuch" des guten Kriegers für den Frieden in wahrer Gerechtigkeit Im ersten Kapitel hebt Johannes Paul II. die charakteristischen Züge der Enzyklika Rerum novarum hervor und zeigt uns Papst Leo XIII., wie er sich, vom Gewissen des päpstlichen Amtes getrieben („Uns könnte das Stillschweigen eine Verletzung Unserer Pflicht scheinen"), mitten in den Konflikt stürzt, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Kapitalisten und Proletariat „fast wie Wölfe" gegenüberstellte. „Seine Absicht war es, den Frieden wiederherzustellen, der vom Klassenkampf aufs Spiel gesetzt wurde. Aber er war sich sehr wohl dessen bewußt, daß sich der Friede nur auf dem Fundament der Gerechtigkeit aufbauen läßt. Darum bildeten die Aussagen über die Grundlagen der Gerechtigkeit in der damaligen Wirtschaft und Gesellschaft den Hauptinhalt der Enzyklika.
* Übersetzung aus dem Italienischen von Prof. Dr. Heinz-Meinholf Stamm.
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Auf diese Weise setzte Leo XIII., dem Vorbild seiner Vorgänger folgend, ein bleibendes Beispiel für die Kirche. Sie muß in bestimmten menschlichen Situationen, sei es auf individueller und sozialer, nationaler und internationaler Ebene, das Wort ergreifen. Dafür hat sie eine eigene Lehre, ein Lehrgebäude aufgestellt, das es ihr ermöglicht, die soziale Wirklichkeit zu analysieren, sie zu beurteilen und Richtlinien für eine gerechte Lösung der daraus entstehenden Probleme anzugeben" (Nr. 5). Kurz: Mit der Enzyklika Rerum novarum nahm die Soziallehre der Kirche ihren Anfang, und sie hat die grundlegenden Forderungen der Gerechtigkeit zum Inhalt. Die Hierarchie gibt den Christen die Soziallehre in die Hand fast wie das „Handbuch des guten Kriegers" für den täglichen Kampf um die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Doch was am meisten beeindruckt, ist die Kraft, mit der Johannes Paul II. vorbehaltlos unterstreicht, daß „die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche und zur christlichen Botschaft gehört, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus den Erlöser miteinbezieht" (Nr. 5). Und er scheint die Dosis noch zu verschärfen, wenn er darauf hinweist, daß die »„Neuevangelisierung 1, die die moderne Welt dringend nötig hat, zu ihren wesentlichen Bestandteilen die Verkündigung der Soziallehre der Kirche zählen muß. Diese Lehre ist so, wie zur Zeit Leos XIII., geeignet, den Weg zu weisen, um auf die großen Herausforderungen der Gegenwart nach der Krise der Ideologien Antwort zu geben" (Nr. 5).
II. Verkündigung, die durch das Zeugnis der Werke der Gerechtigkeit unterstützt werden muß Die Enzyklika Centesimus annus greift das Thema noch einmal im Schlußkapitel auf und bekräftigt, daß „der Soziallehre die Bedeutung eines Instrumentes der Glaubensverkündigung zukommt: Als solches verkündet sie jedem Menschen Gott und das Heilsmysterium in Christus und enthüllt dadurch dem Menschen den Menschen selbst. In diesem und nur in diesem Licht befaßt sie sich mit den anderen Fragen: mit den Menschenrechten jedes einzelnen, insbesondere des »Proletariats 1, mit Familie und Erziehung, mit den Aufgaben des Staates, mit der nationalen und internationalen Ordnung, mit dem Wirtschaftsleben, der Kultur, mit Krieg und Frieden, mit der Achtung des Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zum Tod" (Nr. 54).
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Eins muß klar sein, unterstreicht die Enzyklika in der Nr. 57: Die soziale Botschaft des Evangeliums darf nicht als eine Theorie angesehen werden, sondern vor allem als eine Grundlage und als eine Motivierung zum Handeln. „Die Kirche ist sich heute mehr denn je dessen bewußt, daß ihre soziale Botschaft mehr im Zeugnis der Werke als in ihrer inneren Folgerichtigkeit und Logik Glaubwürdigkeit finden wird. Auch aus diesem Bewußtsein stammt ihre vorrangige Option für die Armen, die nie andere Gruppen ausschließt oder diskriminiert. Es handelt sich um eine Option, die nicht nur für die materielle Armut gilt, da bekanntlich besonders in der modernen Gesellschaft viele Formen nicht bloß wirtschaftlicher, sondern auch kultureller und religiöser Armut anzutreffen sind. Ihre Liebe zu den Armen, die entscheidend ist und zu ihrer festen Tradition gehört, läßt die Kirche sich der Welt zuwenden, in der trotz des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts die Armut gigantische Formen anzunehmen droht" (Nr. 57). „Die Liebe zum Menschen und vor allem zum Armen, in dem die Kirche Christus sieht, nimmt in der Förderung der Gerechtigkeit ihre konkrete Gestalt an. Sie wird sich nie voll verwirklichen lassen, wenn die Menschen im Bedürftigen, der um eine Hilfe für sein Leben bittet, einen ungelegenen Aufdringling oder eine Last sehen, statt die Gelegenheit zum Guten an sich, die Möglichkeit zu einem größeren Reichtum. Erst dieses Bewußtsein wird ihnen den Mut geben, sich dem Risiko und dem Wandel zu stellen, die in jedem glaubwürdigen Versuch, dem anderen Menschen zu helfen, inbegriffen sind. Es geht ja nicht bloß darum, vom Überfluß abzugeben, sondern ganzen Völkern den Zugang in den Kreis der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung zu eröffnen, von dem sie ausgeschlossen oder ausgegrenzt sind. Dafür genügt es nicht, aus dem Überfluß zu geben, den unsere Welt reichlich produziert. Dazu müssen sich vor allem die Lebensweisen, die Modelle von Produktion und Konsum und die verfestigten Machtstrukturen ändern, die heute die Gesellschaften beherrschen" (Nr. 58). Die Christen dürfen sich nicht der Illusion hingeben, als genügten sie allein, um die Gerechtigkeit zu verwirklichen oder wenigstens die Ungerechtigkeit einzudämmen. W i e schon die Enzyklika Rerum novarum lehrte, ist für ein so schwieriges Unterfangen die wirksame Zusammenarbeit aller Menschen guten Willens notwendig. Zum Unterschied von der Zeit Leos XIII., als der Liberalismus und der Marxismus seine Einladung zur Zusammenarbeit ablehnten, gelangt die heutige Welt immer mehr zu der Überzeugung, daß die Lösung der großen nationalen und internationalen Probleme nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Produktion oder der rechtlichen oder sozialen Organisation ist, sondern klare ethisch-religiöse Werte erfordert sowie einen Mentalitäts-, Aktivitäts- und Strukturenwandel. Die Kirche fühlt sich besonders dafür in der Verantwortung, diesen Beitrag anzubieten, und es besteht berechtigte Hoffnung, daß auch die große Gruppe, die sich zu
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keiner Religion bekennt, dazu beitragen kann, das notwendige ethische Fundament zur sozialen Frage zu geben. Johannes Paul II. erneuert den Appell an die christlichen Kirchen und an alle großen Religionen der Welt und lädt sie ein, ein einmütiges Zeugnis zu geben für die gemeinsamen Überzeugungen hinsichtlich der Würde des von Gott geschaffenen Menschen: Heute und morgen kommt den Religionen eine vorrangige Rolle zu bei der Erhaltung des Friedens und beim Aufbau einer dem Menschen würdigen Gesellschaft.
I I I . Der friedliche Kampf der Arbeiter hat den Lauf der Geschichte verändert Unter dem sinnbildhaften Titel „Das Jahr 1989" bietet das dritte Kapitel der Enzyklika Centesimus annus eine erhellende Interpretation, die Johannes Paul II. von den unerwarteten und vielversprechenden Ereignissen gibt, die im Laufe des Jahres 1989 in den Ländern Mittel- und Ost-Europas ihren Höhepunkt fanden. Johannes Paul II. beginnt damit aufzuzeigen, daß im Einsatz der Kirche (in Wahrheit könnte man auch von Kirchen im Plural sprechen: Man denke nur an die bestimmende Rolle des Protestantismus in Ostdeutschland) für die Verteidigung der Würde des Menschen der entscheidende Beitrag zum Sturz des „Realsozialismus" zu sehen ist: mit der schlichten und feierlichen, in Demut vorgetragenen und mit Energie wiederholten Bekräftigung, daß jeder Mensch in sich das Bild Gottes trägt und deshalb Respekt verdient, ist die Mehrheit des Volkes vorangeschritten und hat sich immer mehr selbst erkannt; und das hat zur Suche nach Formen des Kampfes und der politischen Lösungen geführt, die mehr die Würde der menschlichen Person respektieren (vgl. Nr. 22). A n zweiter Stelle erinnert der Papst daran, daß die unheilbare Krise der Diktatur des Proletariats mit den großen Bewegungen begann, die in Polen i m Namen der Solidarität (und zwar i m August 1980 in den Lenin werften von Danzig) stattfanden: „Es sind die Massen der Arbeiter, die der Ideologie, die angeblich in ihrem Namen spricht, die Legitimation entziehen" (Nr. 23). Noch weit bezeichnender im Hinblick auf unsere Aufgabe ist der dritte Hinweis, daß man nämlich fast überall zum Sturz eines derartigen Machtblockes durch einen friedlichen Kampf gelangte, der nur die Waffen der Wahrheit und der Gerechtigkeit anwandte. Bestimmend zeigte sich die friedliche Waffe der Verhandlung: „Der Marxismus war der Meinung, daß es erst nach Radikalisierung der sozialen Gegensätze möglich wäre, durch eine gewaltsame Auseinandersetzung zu einer Lösung zu gelangen. Die Kämpfe hingegen, die zum Zusammenbruch des Marxismus führten, bemühten sich
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mit Zähigkeit, alle Wege der Verhandlung, des Dialogs und des Zeugnisses der Wahrheit zu gehen. Man appellierte an das Gewissen des Gegners und man war bemüht, in ihm das Bewußtsein der gemeinsamen Menschenwürde zu wecken" (Nr. 23). Ohne auf das Mittel der Gewalt zurückzugreifen, wird das Reich der Lüge entlarvt: „Man konnte den Eindruck haben, daß die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene und vom Abkommen von Jalta festgelegte Ordnung Europas nur durch einen neuerlichen Krieg erschüttert werden könnte. Statt dessen ist sie von dem gewaltlosen Engagement von Menschen überwunden worden, die sich stets geweigert hatten, der Macht der Gewalt zu weichen, und Schritt für Schritt wirksame Mittel zu finden wußten, um von der Wahrheit Zeugnis abzulegen. Das hat den Gegner entwaffnet. Denn die Gewalt muß sich immer mit der Lüge rechtfertigen. Sie gibt vor, auch wenn der Anschein trügt, die Verteidigung eines Rechts oder die Abwehr einer Bedrohung im Auge zu haben" (Nr. 23). Daher die gewichtige und väterliche Ermahnung des Papstes: „Mögen die Menschen lernen, gewaltlos für die Gerechtigkeit zu kämpfen, in den internen Auseinandersetzungen auf den Klassenkampf zu verzichten und in internationalen Konflikten auf den Krieg" (Nr. 23).
IV. Kampf für die Verteidigung der nationalen Kultur Viertens hat das Jahr 1989 gezeigt, daß sich der Kampf für die Verteidigung der Arbeit notgedrungen in einen Kampf für die Verteidigung der nationalen Kultur umwandeln mußte. Daher eine neue Lektion für den Einsatz des Christen bei der Förderung der Gerechtigkeit: Diese erfordert, daß man der natürlichen Tatsache Rechnung trägt, daß der Mensch am umfassendsten erfaßt wird, wenn er betrachtet wird i m Kontext der Kultur, der sein Volk oder seine Nation verpflichtet ist. Ja, für den Einsatz des Christen ist bestimmend, daß er sich vor Augen hält, daß „im Mittelpunkt jeder Kultur die Haltung steht, die der Mensch dem größten Geheimnis gegenüber einnimmt: dem Geheimnis Gottes. Die Kulturen der einzelnen Nationen sind im Grunde nur verschiedene Weisen, sich der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz zu stellen; wird diese Frage ausgeklammert, entarten die Kultur und die Moral der Völker" (Nr. 24). Fünftens muß man sich, wie Johannes Paul II. abschließend feststellt, ins Gedächtnis rufen, daß die Krise des Marxismus nicht die Situation der Ungerechtigkeit und Unterdrückung in der Welt beseitigt hat, die eben der Marxismus ausnutzte und aus denen er seine Rechtfertigung und Nahrung zog. Der Einsatz des Christen für eine echte Theorie und Praxis der gesamtmenschlichen Befreiung ist mehr denn je notwendig (dazu stellt man
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mit Genugtuung fest, daß sich Johannes Paul II. auch in der Enzyklika Centesimus annus, wie schon in der Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis, in positiven Worten über eine echte „Theologie der Befreiung" äußert (vgl. Nr. 26).
V. Die positive Rolle des Konfliktes Schon i m zweiten Kapitel der Enzyklika Centesimus annus („Auf dem Weg zum,Neuen' von heute") ermahnt Johannes Paul IL, unter Hinweis auf die ausdrückliche Verurteilung des Klassenkampfes durch die Enzyklika Rerum novarum, den Christen, sich nicht durch den Papst von der Pflicht dispensiert zu fühlen, für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Mit Aussagen, wie sie klarer nicht sein könnten, und in raschen Schritten das ganze Jahrhundert mit seiner Lehrentwicklung durchgehend, legt die neue Enzyklika dar: „Der Papst hat keineswegs die Absicht, jegliche Form sozialer Konflikte zu verurteilen. Die Kirche weiß nur zu gut, daß in der Geschichte unvermeidlich Interessenkonflikte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen auftreten und daß der Christ dazu oft entschieden und konsequent Stellung beziehen muß. Die Enzyklika Laborem exercens hat mit aller Deutlichkeit die positive Rolle des Konfliktes anerkannt, wenn dieser als ,Kampf für die soziale Gerechtigkeit' angesehen wird. In der Enzyklika Quadragesimo anno heißt es: ,Wenn sich der Klassenkampf der Aktionen der Gewalt und des gegenseitigen Hasses enthält, verwandelt er sich nach und nach in eine ehrliche Diskussion, die auf der Suche nach der Gerechtigkeit gegründet ist'. Was am Klassenkampf verurteilt wird, ist die Auffassung eines Konfliktes, der sich von keiner Erwägung ethischer oder rechtlicher Art leiten läßt; der sich weigert, die Personenwürde im anderen (und damit die eigene) anzuerkennen; der daher einen angemessenen Vergleich ausschließt und nicht mehr das Gesamtwohl der Gesellschaft, vielmehr ausschließlich das Sonderinteresse einer Gruppe i m Auge hat, das sich an die Stelle des Gemeinwohls setzt und daher vernichten will, was sich ihm entgegenstellt" (Nr. 14).
V I . Weit weg von den ideologischen Nebeln und nahe bei den Bedürfnissen der Menschen Nicht trügerische Revolution also, aber auch kein saumseliges Abseitsstehen. Die Christen müssen sich in Pioniere für dringende und mutige Reformen verwandeln und müssen einschneidende Umwandlungen durchsetzen, und zwar sowohl auf staatlich / politischer Ebene als auch durch Gewerkschaftskampf. In beiden Rollen ist es wichtig, daß die Christen sich
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weit entfernt halten von den Nebeln der Ideologie (marxistische) und nahe bei den täglichen Bedürfnissen der Menschen, der Arbeiter insbesondere, stehen (vgl. Nr. 16). Hinsichtlich des Einflusses der Ideologie (die Soziallehre zielt nicht ausschließlich auf die marxistische Ideologie; man denke nur an die Angriffe Pius1 XI. gegen den Faschismus und den Nazismus) verdienen die folgenden Zeilen aus der Nr. 17 der Enzyklika Centesimus annus eine besondere Betrachtung: „Haß und Ungerechtigkeit bemächtigen sich immer noch ganzer Nationen. Sie lassen sich nur dann zum Handeln bewegen, wenn sie von Ideologien legitimiert und organisiert werden, die sich mehr auf die eigene Ahnung als auf die Wahrheit über den Menschen gründen. Die Enzyklika Rerum novarum hat sich gegen die Ideologien des Hasses zur Wehr gesetzt und Wege der Gerechtigkeit zur Überwindung von Gewalt und Feindschaft aufgezeigt."
V I I . Kampf gegen das unmenschliche kapitalistische System Die Enzyklika Centesimus annus läuft Gefahr, vorschnell mit dem Etikett versehen zu werden, die Enzyklika zu sein, die ein Begräbnis erster Klasse für den Kommunismus begeht und die feierliche Heiligsprechung des Kapitalismus zelebriert. Es ist hier nicht der geeignete Zeitpunkt und Ort zu zeigen, wie falsch ein solches Etikett wäre. Es mag genügen, daran zu erinnern, daß die Enzyklika, nachdem sie klar in der sozialen Marktwirtschaft „das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse" (Nr. 34) aufgezeigt hat, nicht zögert, eine ganze Serie von „menschlichen Defiziten des Kapitalismus" aufzuzählen „mit der daraus sich ergebenden Herrschaft der Dinge über die Menschen" (Nr. 33), und mit der Feststellung schließt, daß sich hier „ein großes und fruchtbares Feld des Einsatzes und des Kampfes i m Namen der Gerechtigkeit für die Gewerkschaften und für die anderen Organisationen der Arbeiter auftut, die ihre Rechte verteidigen und ihre Subjektivität schützen" (35). In diesem Sinne, so erläutert Johannes Paul II., „kann man mit Recht von einem Kampf gegen ein Wirtschaftssystem sprechen, hier verstanden als Methode, die die absolute Vorherrschaft des Kapitals, des Besitzes der Produktionsmittel und des Bodens über die freie Subjektivität der Arbeit des Menschen festhalten will. Für diesen Kampf gegen ein solches System eignet sich als Alternativmodell nicht das sozialistische System, das tatsächlich nichts anderes als einen Staatskapitalismus darstellt. Es geht
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vielmehr um eine Gesellschaftsordnung der freien Arbeit, der Unternehmen und der Beteiligung. Sie stellt sich keineswegs gegen den Markt, sondern verlangt, daß er von den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werde, um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu gewährleisten" (Nr. 35). Sollen diese Ziele erreicht werden, so „braucht es noch einen großen gemeinsamen Einsatz der Arbeiter, dessen Ziel die Befreiung und die umfassende Förderung des Menschen ist" (Nr. 43). Mit anderen Worten: Nachdem der Kommunismus zusammengebrochen ist, bleibt ein weites Feld offen für alle, die eine echte menschliche Wirtschafts- und Sozial- sowie politische Ordnung errichten wollen: Die Christen müssen ihre Kräfte vereinigen und sie in vorsichtigem, aber fruchtbarem Dialog mit denen zusammenlegen, die vielleicht nicht dieselben religiösen Überzeugungen teilen, aber von der gleichen Leidenschaft für den Menschen beseelt sind. Die Christen dürfen sich von niemandem übertreffen lassen im Einsatz und im Kampf für die Gerechtigkeit, einem Kampf, dessen Sauerteig die soziale Liebe ist.
DIE ÖSTERREICHISCHE MILITÄRSEELSORGE UND DER HEILIGE STUHL Von Alfred Kostelecky
Schon seit dem Jahre 1534 findet man Spuren, daß jederzeit während der Kriegs-Operationen einige geistliche Vorsteher aufgestellt wurden, welche die Seelsorge und alle geistlichen Verrichtungen in der Armee zu besorgen und den Gottesdienst zu versehen hatten, die unter verschiedenen Namen eines Armee-Generalvicars, Feld-Superiors, General-Stabscapellans der Armee die geistliche Jurisdiction als Delegaten des apostolischen Stuhles in der kaiserlichen Armee ausübten, welches A m t aber mit dem Eintritte des Friedens wieder erlosch. 1 Als erster Versuch, i m Heer eine geistliche Hierarchie zu schaffen und den Feldkaplänen eine geistliche Obrigkeit zu geben, muß die Delegierung hoher Geistlicher seitens des päpstlichen Stuhles betrachtet werden, die ab 15512 als „Generalvikare" bei den kaiserlichen Heeren erscheinen. Aber erst mit der Ernennung des Bischofs von Arbe im Jahr 1623 zum Generalvikar des kaiserlichen Heeres durch Kaiser Ferdinand II. beginnt die Reihe der ständigen Generalvikare, deren Sitz jedoch in W i e n war. Um mehr Stetigkeit in die Seelsorge bei der Armee im Felde zu bringen, wandte sich Kaiser Ferdinand III. an den Heiligen Vater und bat, den Jesuitenorden, dem auch die jeweiligen kaiserlichen Beichtväter angehörten und dessen ganze Organisation nach militärischem Vorbild geschaffen war, mit der Militärseelsorge zu betrauen. Papst Urban VIII. übertrug mittels Breve vom 18. September 1643 dem Beichtvater des Kaisers die Jurisdiktion über die kaiserliche Armee für die Dauer des Krieges. 1
Joh. M. Leonhard, Verfassung der Militär-Seelsorge in den k. k. österreichischen Staaten, mit Rücksicht auf die Rechte und Pflichten des Civil-Clerus in militärgeistlichen Angelegenheiten, W i e n 1842, S. 5. — Rauter spricht — ebenfalls unter Berufung auf Leonhard — vom Jahr 1543. Es handelt sich hier offensichtlich um einen Abschreibfehler. Vgl. Gerhard Rauter, Die österreichische Wehrgesetzgebung, Motive — Entwicklungslinien — Zielsetzungen. Wehrrechtsindex 1868-1989, W i e n 1989, S. 67, Anm. 136. 2 H. Kerchnawe, Die Geschichte der Militärseelsorge i m alten Heere, in: Österreich-Ungarns katholische Militärseelsorge i m Weltkriege, bearbeitet von Feldkurat a. D. V. Lipusch, hrsg. unter dem Protektorate Sr. Exzellenz des hwst. Herrn Fürstbischofs von Seckau und Militärvikars Dr. F. Pawlikowski, Graz, A p r i l 1938.
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Da die kaiserlichen Beichtväter naturgemäß um die Person des Monarchen blieben, die nur ganz ausnahmsweise zu Felde zogen, so war ihre Tätigkeit mehr oder minder auf Ratschläge beschränkt. Für die Armee im Felde wurden Stellvertreter, „Superiore" 3 (später auch Generalstabsvikare oder Obriste Feldkapläne genannt), bestellt. Diesen Superioren waren aber nicht nur alle Geistlichen der Armee im Feld anvertraut, ihnen oblag auch die Oberaufsicht über die Pflege der kranken und verwundeten Soldaten bei der Armee. Eines der ersten Anliegen des mit der Leitung der obersten Militärseelsorge betrauten kaiserlichen Beichtvaters von Ferdinand III. war die Errichtung einer „Feldmission", um auf diesem Wege der eingerissenen Verwilderung des Heeres entgegenzutreten. Kaiser Leopold I. entwickelte die Militärseelsorge um einen Schritt weiter: Die Differenzen mit den zivilen Diözesen bei der Ausübung des praktischen Seelsorgedienstes bewogen den Kaiser, beim Papst für seinen Beichtvater 1689 um die Erweiterung der geistlichen Jurisdiktion bei der Armee, und zwar auch für die Teile in der Heimat bzw. für den Friedensstand, anzusuchen. Diesem Ansuchen wurde entsprochen. Das Jahr 1689, in welchem die kaiserlichen Heere tief i m Balkan, in Piémont und am Rhein standen, ist demnach als das Geburtsjahr der Militärseelsorge der gesamten Armee in der Folgezeit anzusehen. Der Heilige Stuhl übertrug dem jeweiligen Nuntius am kaiserlichen Hof in W i e n die bischöfliche Jurisdiktion über die gesamte kaiserliche Armee und alle ihre Teile und gleichzeitig die Vollmacht, diese Jurisdiktion an den kaiserlichen Beichtvater mit dem Titel 3 Vgl. dazu Leonhard, a.a.O., S. 27 f.: Verschiedene Arten des Militär-Clerus: „Der apostolische Feld-Vicar übet die ihm zustehende geistliche Jurisdiction über die zur militia vaga gehörigen Personen durch den bei derselben angestellten Feld-Clerus aus. Der sämtliche Feld-Clerus zerfällt in die Feld-Superioren und in die FeldCapläne. Die Feld-Superioren haben nach den verschiedenen Ländern und Provinzen der gesamten Monarchie ihre bestimmten Bezirke zur Ausübung ihrer geistlichen Jurisdiction zugewiesen, und ihren Standpunkt an jenen Orten, wo sich die General-Commanden befinden. Sie sind die Stellvertreter des apostolischen FeldVicars in ihren Districten, überwachen alle in ihrem Superiorats-Bezirke befindlichen Militär-Geistlichen, und sind ad latus der General-Commanden, um in allen militär-geistlichen Angelegenheiten an dieselben ihr Gutachten und ihre Anträge erstatten zu können. Die Feld-Capläne zerfallen wieder in mehrere Classen, je nachdem sie bei den kk Garden, in Militär-Instituten und Akademien, in Festungen, bei der Marine, bei Regimentern, bei Spitälern, in Invalidenhäusern, bei Monturs-Oekonomien, oder bei andern Militär-Anstalten oder Körpern die Seelsorge ausüben. Nach dieser besonderen Anstellung und Verwendung heißen die Militär-Geistlichen Garde-Capläne, Religions-Lehrer oder Seelsorger der kk Militär-Akademie, Festungs- oder Garnison-Capläne, Marine-Capläne, Regiments-Capläne, Spitals-Capläne, Seelsorger in den Invalidenhäusern, in den Monturs-Oekonomien, usw."
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eines „Capellanus major castrensis" (Großkaplan der Armee) weiter zu übertragen. Dem entsprechend wurde der Beichtvater Großkaplan, wobei ihm ein Koadjutor zur Seite stand. Diese „Feldkaplanei" ist demnach der Vorläufer des Apostolischen Feldvikariates in der alten Wehrmacht. Mit Unterstützung der Nuntiatur gelang es dem Beichtvater von Kaiser Karl VI., Kompetenzstreitigkeiten mit den zivilen Diözesen beizulegen. Ein Breve Clemens XI. 4 vom 20. Juni 1720 entzog die kaiserliche Armee im Felde für immer der geistlichen Jurisdiktion der Diözesanbischöfe. „Die kaiserliche Armee wurde unmittelbar der päpstlichen Obergewalt mit dem Beisatze unterstellt, daß in Zukunft nur der von Seiner Majestät zum Großkapelan Ernannte als delegierter apostolischer Feldvikar die bischöfliche Jurisdiktion auszuüben habe. Diese Vollmacht hat eine Geltungsdauer von sieben Jahren, wonach beim päpstlichen Stuhl um Erneuerung anzusuchen war." 5 Gleichzeitig wurde für die Winterquartiere und die Garnisonen eine Gottesdienstordnung eingeführt. Für die Armee im Felde hat diese bereits bestanden. Ebenso erließ Papst Innozenz XIII. in einem Breve vom 25. September 1722 an den damaligen apostolischen Nuntius in Wien, Hieronymus, Weisung und Vollmacht, die bischöfliche Jurisdiktion über die gesamte kaiserliche Armee und ihre Hilfstruppen demjenigen zu übertragen, den der Kaiser zu diesem A m t ernennen würde. Ein ähnliches Breve erging von Papst Benedikt XIV. am 10. März 1741 an seinen Nuntius in Wien, Camillus, Erzbischof von Iconium, worin er diesen ermächtigt, dem von Ihrer Majestät Kaiserin Maria Theresia bestimmten Oberkapellan der kaiserlichen Armee die bischöfliche Jurisdiktion samt all jenen Fakultäten zu erteilen, welche zu seinem A m t erforderlich sind, und die auch in dem Breve einzeln genannt und angeführt werden. Die Aufhebung des Jesuitenordens durch Papst Clemens XIV. im Jahre 1773, dem die Leitung der Militärseelsorge bis dahin in Österreich oblag, machte eine Neuorganisation notwendig. Nachdem Kaiserin Maria Theresia die ersten Reorganisationsvorschläge ihres Hofkriegsrates abgelehnt 4 Bei Kerchnawe, a.a.O., wird das Breve vom 20. Juni 1720 Papst Innozenz XI. zugeschrieben, was insofern einem Irrtum zugrundeliegt, als Papst Clemens XI. vom 8.12.1700 bis 19.3.1721 regierte. Pawlikowski erwähnt das Breve mit Datum 28. Juni 1720 in einem Brief an Ministerialrat Dr. Hefel vom 13. Februar 1935. 5
Kriegsarchiv in der Stiftskaserne, Wien. Hofkriegsrätl. Kanzleiarchiv, IV 11 v. 1720 (Päpstl. Breve für den Apostol. Feldvikar bei der kaiserlichen Armee nebst Ursprung der Feldmission und deren Privilegien, 28. Juni 1720). Das Hofkriegsrätl. Kanzleiarchiv ist voraussichtlich wieder zugänglich ab Anfang 1993 i m Österr. Staatsarchiv, 1030 Wien, Nottendorferg. 2.
26 Festschrift Schasching
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und den ehemaligen Rektor der Wiener Universität, Domherrn und Domkapitular von St. Stephan, Adam Dwertitsch, der gleichzeitig vom Papst zum Titularbischof ernannt wurde, mit der obersten Führung der Militärseelsorge provisorisch betraut hatte, gab sie im März 1773 dem Hofkriegsrat bekannt, daß sie es für das beste halten würde, für die Leitung der Militärseelsorge einen Diözesanbischof zu ernennen. Damit hoffte sie, die fortwährenden Reibungen mit dem Diözesanklerus aus der Welt zu schaffen, wobei sie meinte, daß der Wiener Neustädter Bischof mit seiner relativ kleinen Diözese und geringen Entfernung von W i e n sich für dieses A m t am besten eignen würde. Der Hofkriegsrat stimmte der Monarchin in jedem Vorschlag zu und fügte an, daß sich solcherart die Sache auch relativ billig gestalten würde. Das Einkommen des Bischofs von Wiener Neustadt entspreche hinreichend der Würde eines Armeebischofs, wobei er eine Funktionszulage in der Höhe von 2000 bis 6000 Gulden jährlich erhalten sollte, um damit die Geschäftsauslagen wie Reisen und dergleichen zu bestreiten. Zugleich beantragte der Hofkriegsrat die Errichtung von fünf Generalvikariaten für die wichtigsten Armeebezirke. So hat Kaiserin Maria Theresia „ein eigenes, selbständiges apostolisches Feld-Vikariat zu errichten beschlossen, und laut Décrétés der kaiserlichen böhmisch-österreichischen Hofkanzlei vom 4. Dezember 1773 angeordnet, daß die oberste Feld-Kaplanei-Stelle dem Bistume Wiener Neustadt einverleibet, der bisherige Bischof von Ruremonde, Heinrich Johann Kerens, jetzt Bischof von Wiener Neustadt, zum apostolischen Feld-Vikar ernannt, und zur Führung der militärgeistlichen Geschäfte zugleich ein eigenes FeldConsistorium unter der Leitung des Bischofes Kerens errichtet werde". 6 Gleichzeitig erhielt er eine Dienstwohnung in W i e n und die Leitung der Geschäfte der Militärseelsorge. Damit stand also ein wirklicher Diözesanbischof an der Spitze der Militärseelsorge, für welchen sich bald die Bezeichnung „Feldbischof" einbürgerte. Papst Clemens XIV. erließ am 22. Dezember 1773 ein Breve an den apostolischen Nuntius in Wien, Anton Eugen, um dem damaligen Bischof von Wiener Neustadt, Heinrich Johann Kerens, die geistliche Jurisdiktion über die kaiserliche Armee in Kriegs- und Friedenszeiten zu übertragen. Bischof Kerens hatte neun Feldsuperioren und 94 Feldkapläne übernommen, wobei von den 94 Feldkaplänen je einer auf jedes Regiment der Infanterie und Kavallerie entfiel; dazu kam der Feldkaplan der Artillerie, des obersten Schiffsamtes udgl. In den folgenden Jahren wurde diese Zahl maßgeblich vergrößert. 6
Vgl. dazu Leonhard, S. 6 f.
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Papst Pius VI. hatte mittels Breve vom 12. Oktober 1778 die Verfügungen von Kaiserin Maria Theresia bestätigt und zugleich festgesetzt, daß der jeweilige Feldvikar, der nicht selbst die bischöfliche Würde bekleide, mit allen für sein hohes A m t notwendigen apostolischen Vollmachten ausgestattet werde. 7 Infolge Neueinteilung der Diözesen unter Kaiser Josef II. wurden 1785 Bischofssitz und Domkapitel von Wiener Neustadt aufgehoben und das Territorium der Wiener Diözese inkorporiert. Bischof Kerens 8 wird erster Bischof von St. Pölten. Er und seine Nachfolger als Apostolische Feldvikare erhielten daher ihren Amtssitz im neuen Bistum St. Pölten. A b 1826 war Wien Sitz des Apostolischen Feldvikariates, und mit dieser Verlegung war die Verbindung des Feldvikariates mit dem Bistum St. Pölten aufgehoben. Ein sehr wichtiger Beitrag zur rechtlichen Regelung der Militärseelsorge in der Republik Österreich war das Konkordat vom 5. Juni 1933 zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich, insbesondere Artikel VIII. Darin wird in § 1 festgestellt: „Die kirchliche Bestellung des Militärvikars erfolgt durch den Heiligen Stuhl, nachdem dieser sich bei der Bundesregierung in vertraulicher Form unterrichtet hat, ob gegen die in Aussicht genommene Persönlichkeit allgemein politische Bedenken vorliegen. Der Militärvikar wird die bischöfliche Würde bekleiden." 9 Paragraph 2 lautet: „Die kirchliche Bestellung der Militärkapläne erfolgt durch den Militärvikar nach vorherigem Einvernehmen mit dem Bundesminister für Heereswesen." 10 Mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 und dem Neutralitätsgesetz bestand die Verpflichtung zur militärischen Landesver7
Vgl. dazu Leonhard, S. 7: Erweiterung der geistlichen Jurisdiction des apostolischen Feld-Vicariates: „Da die bisher durch die apostolischen Nuntien in W i e n dem jeweiligen apostolischen Feld-Vicar erteilte geistliche Jurisdiction in manchen Fällen zu beschränkt und abhängig war, hat die höchst selige Kaiserin Maria Theresia den römischen Stuhl um Erweiterung dieser Jurisdiction und um Vermehrung der päpstlichen Facultäten ersuchet, und in Folge dessen hat Papst Pius der Sechste am 12. Oktober 1778 ein eigenes Breve an den Bischof von Wiener-Neustadt Heinrich Johann Kerens, und an alle seine Nachfolger im Amte eines apostolischen Feld-Vicars erlassen,... da es die Grundlage der militär-geistlichen Jurisdiction für alle folgenden apostolischen Feld-Vicäre enthält, und noch in seiner Kraft besteht." 8
In „Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder" wird das Sterbedatum von Bischof Kerens mit 26.11.1792 angegeben. Das Jahr 1794 bei Lipusch ist unrichtig. Siehe: E. Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 373 ff. 9 Laut Apostolischer Konstitution „Spirituali militum curae" vom 21. A p r i l 1986 nicht mehr Militärvikar, sondern Militärordinarius. 10 Zit. nach H. Klecatsky / H. Weiler (Hrsg.), Österreichisches Staatskirchenrecht, nach dem Stand vom 1. August 1957, W i e n 1958, S. 249 f. Lt. Österr. Amtskalender nunmehr Bundesminister für Landesverteidigung.
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teidigung und damit zur Aufstellung des Bundesheeres. Nun stellte sich auch die Frage nach einer katholischen und einer evangelischen Militärseelsorge in diesem Bundesheer. Im Zusammenhang mit der Errichtung einer Militärseelsorge wurde aber die Konkordatsfrage von entscheidender Bedeutung. Für den Fall der Aufstellung eines Bundesheeres beabsichtigten die österreichischen Bischöfe i m März 1956 einen verantwortlichen Priester in der Person des Domkapitulars von Salzburg, Johann Innerhofer, namhaft zu machen. Dies wurde durch das Sekretariat der Bischofskonferenz am 11. Juli sowohl dem inzwischen bestellten Bundesminister für Landesverteidigung als auch dem Staatssekretär i m Landesverteidigungsministerium mitgeteilt. Vom Staatssekretär im Bundesministerium für Landesverteidigung wurde am 27. Juli 1956 dem damaligen geschäftsführenden Sekretär 11 der Bischofskonferenz (seit 1986 Militärbischof) folgende Antwort gegeben: „Ich beehre mich in Beantwortung Ihres Briefes vom 11.7.1956 mitzuteilen, daß ich Herrn Kanonikus Innerhofer in bewußter Angelegenheit empfangen und mit ihm ein sehr ausführliches Gespräch geführt habe. Ich habe dem Herrn Kanonikus mitgeteilt, daß ich seine Auffassung den Herren meiner Partei unterbreiten werde. Die Herren meiner Partei stehen auf dem Standpunkt, daß die Frage der Militärseelsorge eng mit der Konkordatsfrage zusammenhängt und auch mit dieser gelöst werden muß. Ich habe diese Auffassung meiner Partei auch dem Herrn Bundesminister für Landesverteidigung, Ferdinand Graf, mitgeteilt. W i r sind übereingekommen, bis zur Klärung dieser grundsätzlichen Konkordatsfrage eine abwartende Stellung einzunehmen. Herr Kanonikus Innerhofer wurde auch in diesem Sinne vom Herrn Bundesminister unterrichtet". Daraufhin konnte der geschäftsführende Sekretär der Bischofskonferenz dem Staatsekretär jedoch klarstellen, daß die Einrichtung einer Militärseelsorge in der Republik Österreich durch den seinerzeitigen Staatssekretär Julius Deutsch 12 1920 erfolgte und zur Zeit des Abschlusses des Konkorda11 A. Kostelecky, Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates vom 5. Juni 1933 durch die Zusatzverträge mit dem Hl. Stuhl in den Jahren 1960 bis 1981. Diplomarbeit an der Kath.-theol. Fakultät der Universität Wien, 1984. 12 Nach Ausrufung der Republik am 12. November 1918 wurde das Staatsamt für Heereswesen von dem sozialdemokratischen Staatssekretär Dr. Julius Deutsch zusammen mit dem christlichsozialen Unterstaatssekretär Dr. Erwin Waihs verwaltet. Julius Deutsch schreibt in seinem autobiographischen Buch „Ein weiter Weg": „Einer Vereinbarung der Regierungsparteien entsprechend wurde i m Heer eine Militärseelsorge errichtet. Unterstaatssekretär Waihs schlug vor, zum Leiter dieses Dienstzweiges den bisherigen Feldkuraten Ferdinand Pawlikowski zu ernennen, den er als einen überzeugten Demokraten pries. Pawlikowski stellte sich bei mir vor. Ich hatte den Eindruck, daß dieser Bewerber tatsächlich die Eigenschaft aufwies, derentwegen ihn Dr. Waihs vorgeschlagen hatte, und unterschrieb die Ernennung." Damit
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tes eine gegebene Voraussetzung war für die Regelung des Artikels VIII bezüglich der Bestellung der Militärseelsorgefunktionäre. Die folgenden Aussprachen i m Landesverteidigungsministerium ergaben, daß bis zum Herbst eine bescheidene Militärseelsorge zunächst bei den Gruppenkommanden Wien, Graz und Salzburg mit einem hauptamtlichen Seelsorger und eine Stelle im Landesverteidigungsministerium für Militärseelsorge errichtet wird. A m 5. Oktober teilte der Bundesminister für Landesverteidigung mit Schreiben vom 5. Oktober 1956, ZI. 242.530-Wpol/56, dem Sekretär der Bischofskonferenz mit, daß der Ministerrat in seiner Sitzung vom 4. Oktober 1956 der Errichtung einer katholischen Militärseelsorge zugestimmt hat und den vom Sekretariat der Bischofskonferenz vorgeschlagenen Militärseelsorgern Vertragsbedienstetenposten zugewiesen hat. Die katholische Militärseelsorge war also am 15. Oktober 1956 beim ersten Einrückungstermin für das neue österreichische Bundesheer gewährleistet und auch die Einrichtung einer evangelischen Militärseelsorge ermöglicht. Damit war nun auch der Weg frei für die Lösung der Konkordatsfrage durch die Anerkennung des Konkordates seitens der Bundesregierung am 21. Dezember 1957 und durch den Bundesgesetzgeber. Letztere erfolgte am 12. Juli 1960 gemäß Art. 50 der Bundesverfassung mit den Verträgen der Errichtung einer Diözese Eisenstadt und dem Vermögensvertrag, die bereits am 23. Juni 1960 abgeschlossen wurden. Durch ein Dekret der Heiligen Konsistorialkongregation vom 21. Februar 1959 wurde der Erzbischof von Wien, Kardinal DDr. Franz König, von Papst Johannes XXIII. zum „ Vicarius Castrensis" des österreichischen Bundesheeres ( = Militärvikar bzw. Militärbischof) ernannt. Eine Woche später wurde die Bundesregierung der Republik Österreich von dieser Ernennung offiziell in Kenntnis gesetzt. Damit war eine weitere wesentliche Voraussetzung für eine geordnete und kontinuierliche Entwicklung der Militärseelsorge erfüllt. Eine Folge der Ernennung Kardinal Königs zum Militärvikar war die Errichtung eines Militärvikariates als eine dem Bundesministerium für Landesverteidigung untergeordnete Dienststelle mit Erlaß des BMLV. ZI. war die Militärseelsorge am Beginn unserer Republik in der Volkswehr errichtet, ohne weiteren Schwierigkeiten zu begegnen. Durch Gesetz vom 18. März 1920 wurde ein Söldnerheer errichtet und für dieses am 31. August 1920 vom Apostolischen Nuntius Dr. Pawlikowski zum Heerespropst mit besonderen Vollmachten bestellt. Bald darauf wurde die Heerespropstei in Militärvikariat umbenannt und am 1. Oktober 1924 der bisherige Heerespropst zum Militärvikar ernannt. A m 25. Februar 1927 wurde Pawlikowski Titularbischof von Dadima und Weihbischof von Seckau. Nach dem Tode von Bischof Schuster von Seckau am 18. März 1927 wurde Pawlikowski am 24. März zum Apostolischen Administrator von Seckau und am 27. März von Kardinal Piffl in W i e n konsekriert.
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11.856-Präs/I vom 5. April 1960. Gleichzeitig wurde Militärdekan Johann Innerhofer jetzt offiziell zum Leiter des Militärvikariates bestellt und vom Militärbischof zum Militärprovikar 1 3 ernannt. W i e bereits erwähnt, wurde 1785 das Bistum Wiener Neustadt aufgehoben und Bischof Kerens erster Bischof des durch Teilung der Diözese Passau geschaffenen neuen Bistums St. Pölten (vgl. Anm. 8). Die Bevölkerung von Wiener Neustadt konnte sich mit der Tatsache, nicht mehr Bischofsstadt zu sein, nur schwer abfinden. M i t Freude registrierte die Bevölkerung am 14. Dezember 1963, daß der Erzbischof von Wien, Kardinal Franz König, in seiner Eigenschaft als Militärvikar für Österreich die Erhebung der St. Georgskirche der Militärakademie zur Bischofskirche des Vicarius castrensis machte. Der Militärhistoriker Dr. Allmayer-Beck stellte am Vortag dieser Erhebung wörtlich folgendes fest: „Damit wird die ehrwürdige Burg, die durch über zwei Jahrhunderte, von kürzeren Unterbrechungen abgesehen, ein Zentrum der geistigen Bildung des österreichischen Heeres war und heute noch ist, zugleich auch, zumindest in kirchlich-liturgischer Hinsicht, zum Sitz der obersten geistlichen Instanz des Bundesheeres. Es ist dies eine bedeutsame Entscheidung, die keineswegs von ungefähr getroffen wurde, sondern für die es hier, an Ort und Stelle, zahlreiche geschichtliche Vorgegebenheiten gibt. W i r wissen ja, daß Wiener Neustadt schon einmal eine Bischofskirche in seinen Mauern beherbergte. Es war sogar ein Papst mit dem Namen Paul, nämlich Paul IL, gewesen, der vor nun bald 500 Jahren, genau am 18. Jänner 1469 (neun Jahre nach der Fertigstellung der Georgskirche), auf Betreiben Kaiser Friedrichs III., das Gebiet der Stadt Wiener Neustadt aus der bisherigen Jurisdiktion der Diözese Passau herausnahm und einem eigenen Bistum unterstellte. Die Kollegiatskirche zu „Unserer lieben Frau" wurde hiebei zur Domkirche erhoben." 14 Einen weiteren Schritt setzte Kardinal Hans Hermann Groer. Auf seine Empfehlung und im Einvernehmen mit ihm faßte daraufhin der Gemeinderat von Wiener Neustadt am 30. November 1988 nachstehenden Beschluß: „Seine Eminenz Kardinal Erzbischof Dr. Hans Hermann Groer wird im Hinblick auf die erfolgten Gespräche mit den Vertretern der Stadt Wiener 13 Im staatlichen Bereich ist durch Erlaß des Bundesministeriums für Landesverteidigung am 15. A p r i l 1987 die Umbenennung in Militärordinariat vollzogen. Durch Bundesgesetz vom 19. Juni 1987, BGBl Nr. 237, Art. V, erhält der Generalvikar auch den Amtstitel Militärgeneralvikar. 14
Vgl. Ansprache des ΟAss Dr. Allmayer-Beck, gehalten anläßlich der Festakademie der Militär-Akademie am 13.12.1963 zur Erhebung der St. Georgskirche zur Bischofskirche des Vicarius castrensis, in: Alma Mater Theresiana, Jahrbuch 1964.
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Neustadt gebeten, der Stadt Wiener Neustadt aufgrund ihrer kirchlichen, historischen, regionalen und wirtschaftlichen Bedeutung seine Unterstützung angedeihen zu lassen, in die Liste der Titularbistümer aufgenommen zu werden." 15 Aufgrund des daraufhin gestellten Ansuchens des Erzbischofs von W i e n hat am 1. Dezember 1989 Papst Johannes Paul II. das Bistum Wiener Neustadt als Titularsitz wiedererrichtet. A m 10. Februar 1990 ernannte er Dr. Alfred Kostelecky, der am 12. November 1986 zum Militärbischof von Österreich und zunächst zum Titularbischof von Aggar ernannt war, zum Titularbischof von Wiener Neustadt. Gemäß der Konstitution „Spirituali militum curae" XIII Nr. 1, erfolgte bereits am 1. Juli 1987 die Besitzergreifung von seiner Bischofskirche in der Theresianischen Militärakademie in der Burg zu Wiener Neustadt. Die Absicht, mit der Kaiserin Maria Theresia im Jahre 1752 die Theresianische Militärakademie in Wiener Neustadt gründete und den Diözesanbischof dieser Stadt als ersten Apostolischen Feldvikar dem Heiligen Stuhl vorschlug, hat Papst Johannes Paul II. sowohl durch die Apostolische Konstitution „Spirituali militum curae" vom 21. April 1986, durch die dem Militärbischof die Rechte eines Diözesanbischofs zukommen, als auch durch die Ernennung des Militärbischofs für Österreich zum Titularbischof von Wiener Neustadt nach einer Unterbrechung von 205 Jahren wieder Wirklichkeit werden lassen.
15 Gemeinderatsbeschluß vom 30. November 1988 an die Magistratsdirektion der Stadt Wiener Neustadt.
„COMPELLE INTRARE" (Lk 14, 23) Von Josef Lenzenweger
Die Aufforderung des Herrn i m Gleichnis vom Gastmahl „et να^καοον tiotXdeiv" führte im Laufe der Kirchengeschichte zu verhängnisvollen Anwendungen. So kam sogar ein so großer Kirchenlehrer wie Augustinus dazu, den „weltlichen Arm" aufzufordern, er möge gegen die Donatisten (Compellanten) eingreifen. 1 Die Feststellung „extra ecclesiam nulla salus" 2 führte zur Überzeugung, man dürfe die Menschen zu ihrem Heile zwingen. So entwickelten die Nachfolger der Apostel, Bischöfe und Priester, die Tendenz, in die Strukturen der Kirchenverwaltung und der Seelsorge entsprechende Maßnahmen einzubauen. In den Gebieten nördlich der Alpen wurden die Grundherren dazu veranlaßt, für ihre Untertanen entsprechende kirchliche Institutionen zu errichten. Pfarreien und Bistümer wurden gestiftet. Die dort im Dienst befindlichen Geistlichen wurden zu Angestellten der Grundherren und von diesen auch für weltliche Funktionen als Mitarbeiter herangezogen. Dies vor allem auch deswegen, weil sie normalerweise lesen und schreiben konnten. So fanden sie Verwendung in den Kanzleien, mußten aber auch Feldarbeit leisten, was den Nachkommen bäuerlicher Abstammung nicht schwer fiel. Schon seit dem Altertum hatte das Mönchtum — später wurden die Mitglieder dieser Gemeinschaften Religiösen genannt — bedeutenden Einfluß auf die Haltung der Weltkleriker, die sich immer wieder in Klöster zur Erneuerung ihres Eifers zurückziehen konnten. Freilich hatte diese Entwicklung auch zur Folge, daß nunmehr sogar Regularkleriker zur Seelsorge herangezogen wurden. Der Einfluß der Mönche wurde umso größer und nachhaltiger, als seit Beginn des 2. Jahrtausends durch die Päpste die Unabhängigkeit der Mönche von den Bischöfen gefördert wurde. So entstand das Institut der Exemption. Diese stellte eine Möglichkeit dar, in Gegenden einzugreifen, wo die Pfründeninhaber sich allzusehr nur als Nutznießer ihrer Einkünfte denn als Seelsorger betrachteten. Die Versu1
Contra Gaudentium Donatistarum episcopum I 25 (Corpus criptorum ecclesiasticorum Latinorum [CSEL], vol. 53, ed. M. Petschenig, 228 f. 2 Diese Meinung vertrat ζ. Β. B. Cyprian, Bischof von Karthago, in: „De uni ta te ecclesiae" 6 (CSEL 3/1, ed. Guilelmus Härtel, 214 f.).
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chung, ihre in der Bibel erwähnte Vollmacht, z. B. „zu heilen", 3 verstanden sie nur allzuoft als solche zur Machtausübung. Infolge menschlicher Gebrechlichkeit wurde diese Entwicklung dann auch bei den Orden bemerkbar. Dabei wurde immer mehr das Bestreben erkenntlich, die Weltkleriker zu Mönchen zu machen, wie das der „Dictatus papae" Gregors VII. verrät. 4 So zeigt auch die Geschichte der Ordensgemeinschaften, daß diese, von der Aufforderung „compelle intrare" nicht unberührt blieben. W i r können dies, um besonders klare Beispiele herauszugreifen, an zwei sehr verschiedenen „Orden" deutlich machen: bei den Benediktinern (die ursprünglich gar nicht als Gesamtorden konzipiert waren) und bei der „Kompanie Jesu". Als der heilige Benedikt von Nursia (Norcia) seiner Klostergemeinschaft in Monte Cassino seine berühmte „Regula" 5 gab, hatte er keine Ahnung, welche Wirkung von ihr auf das gesamte Abendland ausgehen würde. Seine kluge und maßvolle Anleitung wurde ja zunächst nur für seine eigenen Mönche zusammengestellt. In ihr war eine große Zielstrebigkeit erkennbar, die aber auch jedem einzelnen Selbständigkeit garantierte. Zunächst war in dieser noch die Autorität des Ortsbischofs gewahrt. Als die Bischöfe immer mehr durch die Zuteilung von Reichslehen weltliche Aufgaben im Sinne des Eigenkirchenrechts übernahmen, kam es gar nicht so selten vor, daß sich die Inhaber einer solchen Würde mehr ihren irdischen Herrschaftsaufgaben zuwandten statt denen der Seelsorge. Die Klöster des heiligen Benedikt entzogen sich daher mit Billigung des Nachfolgers Petri der oberhirtlichen Jurisdiktion. Dies umso mehr, als sie selber wiederholt der Gefahr der Verweltlichung ausgesetzt waren. Jene Reform, die Benedikt von Aniane (nördl. v. Montpellier) im 8. Jh. einleitete und die besonders dann im Ostfrankenreich, von Kornelimünster ( = Inden) bei Aachen ihren Ausgangspunkt nahm, bedeutete einen neuen Ansatzpunkt monastischer Frömmigkeit. Aber schon im 9. Jh. war deren Schlagkraft wieder versandet. So bedurfte es einer Neuauflage, der sich besonders das Kloster Cluny in Burgund widmete. Die großen Äbte, wie Oddo, Majolus, und schließlich Hugo (übrigens Taufpate des späteren Kaisers Heinrich IV.) gründeten bereits einen ganzen Klosterverband mit einem System von abhängigen Abteien und Prioriaten. Es gelang ihnen, zahlreiche Konvente ihrer Obödienz einzuverleiben. Sehr lange dauerte aber auch die Wirksamkeit dieser Bewegung in ihrer ursprünglichen Form nicht. Die Gründer von Cîteaux betrachteten sich bald 3
Vgl. M k 3, 15 u. 6, 7 sowie Lk 9, 1. SATZ X I I (Carl Mirbi / Kurt Aland, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Tübingen 61967, 282). 5 CSEL 75, rec. Rudolphus Hanslik, W i e n 21977. 4
„Compelle Intrare" (Lk 14, 23)
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als Vertreter der besseren Form benediktinischer Lebensweise und gaben ihrem Orden eine zentrale Leitung durch einen Generalabt. Während des Spätmittelalters wurden die Benediktiner in unseren Gebieten durch die von Subiaco beeinflußte Melker-Reform, ein halbes Jahrhundert vor dem Ausbruch der Reformation, noch einmal zu einer gewissen Blüte geführt, die auch die Resignation etlicher Äbte zur Folge hatte. Doch es dauerte nicht lange, da wurden viele Konvente durch die Verbreitung des „reinen Evangeliums" entleert oder verfremdet. Die alten Orden faßten erst wieder langsam im Zuge der innerkirchlichen Erneuerung festen Tritt. Neben den Kapuzinern, die die so idealistische, aber in ihrem Wortlauf kaum durchführbare Regel des unvergleichlichen Franz von Assisi wieder besonders genau einhalten wollten, waren es die Jesuiten, die für eine innere Wiederbelebung der katholischen Kirche Sorge trugen. Sie fühlten sich dazu, besonders was die höheren Schichten der Bevölkerung betraf, geradezu prädestiniert. Nicht wenige ihrer Mitglieder waren von der Überzeugung erfüllt, daß die durch Ifiigo von Loyola gegründete Compania di Jesüs, die Rettung der Kirche zur damaligen Zeit gewesen sei, wie sich zumeist jugendliche Enthusiasten in der Festschrift der flandrisch-belgischen Provinz anläßlich des 100-jährigen Bestehens der Gesellschaft rühmten. 6 Andere Orden empfanden diese Selbsteinschätzung als „superbia", deren Vorliegen sogar der berühmte Historiograph der Gesellschaft Jesu P. Giulio Cesare Cordara in einer aufrichtigen Reflexion einräumte. 7 Gewiß aber muß man zugeben, daß die langjährige Ausbildung der Mitglieder in Philosophie, Theologie, aber auch Rhetorik, die aller anderen Kleriker übertraf; dazu kam die stramme Beobachtung der abgelegten Gelübde: Gehorsam und Armut der einzelnen wurde groß geschrieben; in den Häusern der Jesuiten gab es z. B. 1569 keine Konkubinen oder Ehefrauen, wie sie selbst bei den Kartäusern vorhanden waren. 8 Als sich die Benediktiner anschickten, in Salzburg unter tatkräftiger Mitwirkung des damaligen Erzbischofs Paris Lodron eine Universität einzurichten, wurden sie angeblich belehrt, das sei nicht ihre Aufgabe, sondern „monachorum esse flere non docere". 9 6 Imago primi saeculi Societatis Jesu, Antwerpen 1640 (verfaßt von Jean Bollandus mit Unterstützung u. a. von Sidronius Hosschius ( = De Hossche), Jacques Wallies und anderen; vgl. Carlos Sonmervogel, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus, I, 1624-1626, u. IV, 473, Brüssel-Paris 1890 bzw. 1893. 7
„peculiare illud Vitium ... nihil sane Deo odiosius superbis" (in: De oppressione S. J., verfaßt 1779, hrsg. von Johannes Joseph Ignatius V. Döllinger, in: Beiträge zur politischen, kirchlichen und Culturgeschichte, III, W i e n 1882, 71. 8
s. die aufschlußreiche Zusammenstellung von Irmtraut Koller-Neuman, in: Historische Blickpunkte, Festschrift für Johann Rainer, Innsbruck 1988, 335-340. 9 Diesen Ausspruch habe ein Grazer Jesuitenprofessor getan, berichtet — allerdings ohne Quellenangabe — Virgil Redlich in seinem Aufsatz: Die Salzburger
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Die Gesellschaft Jesu war auch nicht zimperlich, wenn es sich um die Wiederbesiedlung oder gar die Übernahme herabgekommener oder verschuldeter, ja auch verlassener Konvente von Chorherren oder der alten Mönchsorden nach der Regel des heiligen Benedikt oder entleerter Mendikantenklöster handelte. So erhielten sie in W i e n die durch Herzog Rudolf IV. für die Karmeliten gestiftete „Kirche am Hof". 10 Für diese wurde im 15. Jh. der bekannte Albrechts-Altar geschaffen, der heute im Stift Klosterneuburg aufbewahrt wird. Auf diesem war unter anderem die legendäre Gründungsgeschichte der durch Berthold von Kalabrien in Jerusalem gegründeten Karmelitergemeinschaft dargestellt. Flugs ersetzten die Väter der Gesellschaft nach Übernahme des Gotteshauses diese Bilder durch solche, die die Gründung ihres Ordens darstellten. 11 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dieser selbstbewußten Darstellung bietet u.a. die Kirche zu St. Bernhard bei Horn, 1 2 und die Piaristenkirche in Krems, wo wieder Jesuitenheilige auf den Altären 1 3 zum Zug kamen. Im Vergleich dazu waren die Veränderungen, die in der 2. Hälfte des 19. Jh. in der ehemaligen Dominikanerkirche „Maria vom Sieg" in Steyr 14 erfolgten, wirklich bescheiden. 15 Die vollständige Eroberung der Universität W i e n durch die Jesuiten ist zwar nicht gelungen. Es muß aber das Verdienst der Gesellschaft um die Wiederbelebung der Theologischen Fakultät dankbar erwähnt werden. 16 Sie gründete z. B. auch „Höhere Studien" in Linz, um den Kandidaten der Theologie aus den alten Stiften und den Söhnen des landsässigen Adels eine standesgemäße Ausbildung im eigenen Lande zu sichern. 17 Benediktineruniversität als Kulturerscheinung, in: Benediktinisches Mönchstum in Österreich, hrsg. von Hildebert Tausch, W i e n 1949, 52. 10 Erlaubnis zur Stiftung dieses Klosters ( 1360 XII12) : Or. Urkunde im Haus-, Hofund Staatsarchiv Wien; Abschrift im Vatikanischen Archiv, Registrum Avenionense t. 144, f. 550r-v (Ed. geplant als Nr. 436 in Acta pataviensia Austriaca II, hsg. Josef Lenzenweger u. a.), Regest: Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Wien 1/3, 226, Nr. 3198; vgl. Richard Perger / Walter Brauneis, Die mittelalterlichen Kirchen und Klöster Wiens ( = Wiener Geschichtsbücher 19/20, hrsg. von Peter Pötscher), Wien-Hamburg 1977, 126-128. 11
Ebd., 132, bzw. Ingrid Karl, Restaurierbericht, in: Der Albrechtsaltar und sein Meister, hrsg. von Floridus Röhrig, W i e n 1981, 152-154. 12 Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler Niederösterreichs nördlich der Donau, W i e n 1990, 1013-1015. 13
Ebd., 565-567. Unter allen heute von den Jesuiten betreuten Kirchen der öst. Provinz hat diese den höchsten Gottesdienstbesuch. 14
15 16
Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler Oberösterreichs, Wien 61977, 329 f.
A n t o n Wappler, Geschichte der Theologischen Fakultät der k. k. Universität zu Wien, W i e n 1884, 102-106 sowie 110-112. 17 Josef Lenzenweger, Der Kampf um eine Hochschule für Linz, in: Schriftenreihe des Institutes für Landeskunde von Oberösterreich 15, Linz 1963, 13-17.
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Besonders bedeutungsvoll wurde die Errichtung der Grazer Universität durch Erzherzog Ferdinand II. Dort wurde Philosophie, Theologie und Jus doziert. 18 Peter Pazmanyi, der später so verdienstvolle Erzbischof von Gran und Wiedererneuerer der katholischen Religion in Ungarn, war auch dort tätig gewesen (er hatte sich auch ein Lehrzuchtverfahren zugezogen). 19 Zur Sustentation dieser Universität wurde unter anderem das tief verschuldete Chorherrenstift Eberndorf, südöstlich von Klagenfurt, herangezogen. Allerdings ging die Übernahme durchaus nicht so harmonisch vor sich, wie es uns eine heute noch vorhandene Inschrift in dieser schönen Kirche glaubhaft machen will; es bedurfte einer päpstlichen Intervention. 20 So dauerte die dankbare Ergebenheit der alten Orden gegenüber der Gesellschaft nicht allzu lange. Es ist z. B. bezeichnend, daß bei der am 29. September 1693 erfolgten Weihe des Berthold-Al tares in der herrlichen Barockkirche der Benediktiner in Garsten zwar die Gründer der größeren Orden als Kon-Patrone erwähnt waren, so Benedikt und Bernhard sowie Franz von Assisi und Dominik, ja auch Philipp Neri. Es fehlt aber der gleichzeitig mit dem zuletzt Genannten kanonisierte Ignatius von Loyola. 21 Selbstverständlich ist es nicht die Absicht dieser Zeilen, einem Mitglied der 1773 aufgehobenen und 1814 wieder zugelassenen Gesellschaft ein manchen allzu stark hervorstechendes Selbstbewußtsein vorzuhalten, sondern es ist der Wunsch, darauf hinzuweisen, daß das Bibelzitat „Compelle intrare" von anderen Orden noch intensiver gehandhabt wurde. Die Cluniazenser zeigten zum Beispiel keine Scheu, wenn es sich darum handelte, ihre „Consuetudo" durchzusetzen. Im 900. Todesjahr des Bischofs Altmann von Passau (f 1091) wurde die Erinnerung an ihn wieder besonders wachgerufen. Die Benediktiner in Göttweig veranstalteten am 8. September eine eigene Feier. Der genannte verdienstvolle Passauer Bischof war zwar selbst auf Grund des Eigenkirchenrechtes zu seiner Würde gekommen, nahm sich aber sehr um die 18
Vgl. dazu Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten ( = Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, Neue Folge, Heft 2), Paderborn 1981, 78 f. 19
Laszlo Lukacs / Ferenc Szabo, Autour de la nomination de Peter Pàzmàny au Siège Primatial d'Estergon (1614-1616), in: Archivum Historicum Societatis Jesu, vol. 54 (1985), bes. 79. 20 Vgl. Urkunden-Regesten des Augustiner-Chorherren-Stiftes Eberndorf i m Jauntal, bearb. von Beda Schroll, Klagenfurt 1870,203-207, Nr. 302-310 (bes. Nr. 310); vgl. bes. den Aufsatz Aufhebung des Chorherrenstiftes und Übergabe an die Jesuiten 1604-1773, in: Stephan Singer, Kultur- und Kirchengeschichte des Jauntales, Dekanat Eberndorf, Kappel 1938, 74-77; für entsprechende Hinweise bin ich Herrn Diözesanarchivar Dr. Peter G. Tropper besonders Verpflichtet. 21 Josef Lenzenweger, Die Altarpatrozinien in den Kirchen von Garsten, ein Beitrag zur Frömmigkeitsgeschichte, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 95 (1964), 157.
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Einführung der „Vita apostolica" bei seinen Klerikern an. Um ihnen diese zu erleichtern, förderte er die Augustiner Chorherren. Auf die Einhaltung von deren Regel legte er Nachdruck im Kloster St. Florian, während in St. Pölten eine ähnliche Maßnahme nicht durchgesetzt werden konnte. Doch die Gründung des Klosters St. Nikola vor den Toren von Passau (heute ist darin die Universität untergebracht) und die von Göttweig sind sein Verdienst. Warum begünstigte Altmann gerade diese klerikale Lebensform? Die Chorherren waren damals noch der bischöflichen Jurisdiktion unterworfen. Doch zwei Jahre nach dem Tode Altmanns eroberten die von der bischöflichen Gewalt exempten Cluniazenser auch den „heiligen Berg", wie uns die Vita Altmanni erzählt, die wohl zur Rechtfertigung der Einführung der Benediktiner geschrieben wurde. W i r können darin folgendes lesen: Die Disziplin der Chorherren habe nach dem Tode Altmanns Schaden gelitten. Es gab nach dem Bericht der Vita nur noch einen fromm gebliebenen Inklusen mit Namen Johannes, der aus Schottland stammte. Diesem erschien im Traum der Gründer Altmann und ermahnte ihn, den Stamm des Bösen auf dem Gottesberg Göttweig auszurotten. Daraufhin riet Johannes seinen Mitbrüdem im Kloster, also den Augustiner-Chorherren — so erzählt die Vita —, das Ordenskleid zu wechseln und die Benediktusregel anzunehmen. Propst Konrad wurde zum Papst geschickt — bemerkenswert: nicht zum Bischof von Passau, sondern gleich zum Papst —, damit man „auf Nummer sicher" gehe; damals stand Urban II., ein Benediktiner (1088-1099)21a, an der Spitze der Kirche. Gerne bestätigte er die Umwandlung in ein Benediktinerkloster. In päpstlichem Auftrag ging dann der Propst von Göttweig freudig zum neuen Bischof Udalrich von Passau (1092-1121) und erwirkte dessen Zustimmung. Jetzt ereignete sich etwas wenig Glaubwürdiges: Alle Chorherren, von denen man bisher nur hörte, „daß sie der Gestank der Hölle umgeben habe", nahmen freudig das Kleid des hl. Benedikt und führten von diesem Zeitpunkt an ein vorbildliches Ordensleben. Meiner Meinung ist hier in den Kapiteln 37 und 38 der Vita Altmanni, 2 2 die diese Vorgänge schildern, der Schlüsselpunkt zum Verständnis der ganzen Lebensbeschreibung. Die Abfassung der Vita Altmanni diente in erster Linie der Verteidigung des Umstandes, daß hier in Göttweig Benediktiner angesiedelt wurden. Wenn man in Erinnerung behält, daß der Vita Altmanni neben der Verherrlichung ihres Heros Altmann die Tendenz innewohnt, die Anwesen21a
Er war zuvor Mönch und ab 1076 Prior in Cluny gewesen (Alfons Becker, Papst Urban II. [1088-1099], bes. I, [ = Schriften der Monumenta Germaniae historica 19/1] Stuttgart 1964, bes. 41-44). 22
Die Vita ist 1980 wieder in lateinischer Fassung als maschinengeschriebenes Manuskript am Institut für Österreichische Geschichte durch Christine Fleck und innerhalb der von Ildefons Fux 1983 herausgegebenen Festschrift, Geschichte des Klostërs Göttweig 1083-1983, 129-146, in deutscher Übersetzung von Josef Oswald veröffentlicht worden.
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heit der Benediktiner in Göttweig zu rechtfertigen, dann waren vielleicht auch die Priester in Passau gar nicht so „schlecht" und sicher auch nicht die Insassen des Klosters Göttweig, die sich sofort für die Benediktusregel gewinnen ließen. W i e der weitere Vorgang war, ist uns allen bekannt und aus anderen Quellen eruierbar. Die Göttweiger erbaten auf Grund der päpstlichen und bischöflichen Erlaubnis nun von St. Blasien eine Mönchskolonie, sozusagen zur Aufbesserung der eigenen Obödienz. Prior Hartmann von St. Blasien wurde als erster A b t nach Göttweig geschickt und bewirkte den Aufschwung des Klosters. So berichtet die „Vita Altmanni". 2 3 Diese Lebensbeschreibung kann für sich also nicht den Wert einer reinen Geschichtsquelle beanspruchen. W i r kommen damit zur Frage, ob nach dem Dank an Altmann und dem Dank an die Laien, der Dank an die Benediktiner, die diese Gottesburg durch die Jahrhunderte erhalten haben, zu einem richtigen Zeitpunkt dargebracht wurde. Die erste Fassung der Vita Altmanni ist, wenigstens in ihrem ersten Teil bis zum Kapitel 43 (sie umfaßt insgesamt 65 Kapitel), etwa in der Zeit vor 1141 verfaßt worden. Bei der Suche nach dem Autor der Vita kommen Adalbert Fuchs, 24 Hans Hirsch, 25 Josef Oswald 2 6 und der jüngst verstorbene Kassius Hallinger 2 7 überein: Ein Benediktinermönch des Klosters Göttweig hat sie geschrieben, und ein weiterer fortgesetzt und ergänzt. Daher die Verteidigung seiner Mitbrüder aus der Observanz von Cluny. Es handelte sich um ein Werk, dessen Entstehung etwa 40 Jahre nach dem Tode Altmanns anzusetzen ist. Wenn wir darüber nachdenken, was wir selber aus der Zeit vor 40 Jahren noch präzise wissen, so werden wir mit unserem Vertrauen auf genaue Einzelheiten und Daten etwas zurückhaltend sein dürfen. Die Anwendung des Grundsatzes „Compelle intrare" wurde kurz darauf auch in Garsten sichtbar. Dort hatte Markgraf Otakar II. von Steyr in der Nähe seiner Residenz zunächst ein Kollegiatstift gegründet. Er war jedoch mit dem Treiben dieser „Herren" nicht zufrieden. Noch dazu waren Kanoniker während des Badens in der Enns ertrunken. Er teilte daher an einem 23
Kap. 39 f. Das Benediktinerstift Göttweig. Seine Gründung und Rechtsverhältnisse i m Mittelalter, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Jg. 6 bzw. 37 (1916), 302-306 und 510-590. 24
25
Die Vita Altmanni Episcopi Pataviensis, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, NF 15/16 (1916/17), 349-366. 26 St. Altmanns Leben und Wirken nach der Göttweiger Überlieferung. Vita Altmanni, in: Festschrift 142-166. 27
Kassius Hallinger, Gorze-Kluny. Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen i m Hochmittelalter, Bd. I-II ( = Studia Anselmiana XXII-XXIII), Rom 1950-1951 (unveränderter Nachdruck 1971), bes. I, 361 und 445.
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Jahrtag für seine verstorbene Gattin Elisabeth den Kanonikern, die seine Hörigen waren, den Entschluß mit, das Kollegiatstift in ein Kloster der Benediktiner umzuwandeln. Die Kanoniker zeigten keine große Lust, sich diesem Wunsche zu beugen. Ihr Propst Eberhard leistete offenen Widerstand. Er wurde an eine Säule gebunden und so lange geschlagen, bis er nachgab. Dann kam eine neue Mönchsmannschaft aus Göttweig unter der Führung des Priors Wirnto ( = Bernhard) nach Garsten, und binnen kurzem war die Vorherrschaft der Benediktiner gesichert. Der erste A b t Berthold war so klug, den widerspenstigen Eberhard zu seinem besonderen Vertrauten zu machen und hatte sogar den Wunsch, er möge sein Nachfolger werden, was dieser aber konsequent ablehnte. 28 Wenn wir das Vorgehen der Cluniazenser im 12. Jahrhundert mit dem der Jesuiten zur Zeit der innerkirchlichen Erneuerung vergleichen, so müssen wir zwar feststellen, daß beide Gemeinschaften nach dem Grundsatz „Compelle intrare" gehandelt haben, aber die Jesuiten doch humaner vorgegangen sind. Ob der Grundsatz „Compelle intrare" in der Seelsorge Verwendung finden dürfe, wird der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, sicher als emeritierter Professor für Sozialwissenschaft sehr gut beurteilen können. Darum sind diese Zeilen Herrn Dr. Dr. h. c. P. Johannes Schasching SJ, gewidmet, der nunmehr wieder in seine Heimat zurückgekehrt ist. Er hat es immer verstanden, „nova et vetera" liebenswürdig in seiner Gesellschaft zu verkörpern. W i r wünschen ihm, daß er seiner Gemeinschaft noch viele Jahre zielstrebig, aber auch freundlich und aufrichtig zu dienen vermöge.
28 Vita Bertholdi, Kap. I- III, in: Josef Lenzenweger, Berthold, A b t von Garsten, 11142, Graz-Köln 1958 ( Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 5), 226-231.
SORGE U M DEN MENSCHEN I N GESELLSCHAFTLICHEM KONTEXT Von Julius Morel S.J.
I. Krisen und ihre Ursachen In seinem Drama „Die Eingeschlossenen" läßt Jean-Paul Sartre seine Hauptfigur die zukünftigen Jahrhunderte — außergewöhnlich optimistisch — ansprechen: „Schöne Enkel, ihr gingt aus uns hervor, unsere Schmerzen haben euch geschaffen. Dieses Jahrhundert ist eine Frau, es gebiert, würdet ihr eure Mutter verdammen?" 1 Tatsächlich erlebt unsere Zeit ganz andere krisenhafte Erschütterungen, als frühere Jahrhunderte. Um nur einige Stichworte in Erinnerung zu rufen: Die Zeichen tiefgehender Krisen mehren sich in den Bereichen Politik (Politikverdrossenheit, „neue Weltordnung"), Wirtschaft (Weltwirtschaft, Marktwirtschaft und Gerechtigkeit), Familie (Lebensgemeinschaften, Scheidungen), Religion (Säkularisierung, innerkirchliche Frontbildung). Noch nie war — wenigstens im Bewußtsein vieler — die These so lebendig wie heute: „Jede gesellschaftliche Wirklichkeit ist gefährdet und jede Gesellschaft eine Konstruktion am Rande des Chaos." 2 Vieles spricht für die Hypothese, daß einer der entscheidensten gemeinsamen Gründe dieser Krisen darin zu finden ist, daß wir (in konzentrischen Kreisen: Mitglieder der Gesellschaften der Ersten Welt, Intellektuelle dieser Gesellschaften und zur Aufarbeitung dieser Frage verpflichteten Soziologen dieser Kategorie) noch nicht realisiert, geschweige denn für Lösungsvorschläge aufbereitet haben, daß in der Menschheitsgeschichte vor rund 200 Jahren ein qualitativer Sprung eingetreten ist, der die Vorbedingungen menschlichen Zusammenlebens grundlegend verändert hat. Die wichtigsten Elemente dieser Zäsur sind die Aufklärung, d. h. die Einführung vorbehaltlos kritischen Denkens und die Befreiung menschlicher Vernunft und
1 J.-P. Sartre, Die Eingeschlossenen, rororo Taschenbuch, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1960, S. 144. 2 P. Berger und Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 111.
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menschlichen Verstandes aus nicht begründbaren Einschränkungen, die französische Revolution, d.h. die Festlegung der Kriterien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im politischen Zusammenleben der Menschen, und schließlich die Industrialisierung, die die bislang herrschende Lebensform radikal verändert und zu einem atemberaubenden technischen Fortschritt und zu einer sprunghaften Hebung des Wohlstandes für breite Bevölkerungsschichten geführt hat. Ereignisse, die miteinander stark zusammenhängen und weitere Entwicklungen (Urbanisierung, Wissenschaftsboom, Informationsexplosion, geographische und Massenkommunikation, usw.) erzeugt haben. — Betrachtet man diesen ungeheuren Wandel von einer kollektiv-psychologischen und soziologischen Perspektive, ist es verständlich, daß dadurch auch neue Bedürfnisse, neue Erwartungen und neue Perspektiven für den modernen Menschen entstanden sind, wie z. B. ein Verlangen nach Demokratie oder nach Emanzipation, aber auch, daß das Zusammenleben der Menschen außerordentlich komplex geworden ist, und daß viele Menschen unter dem „Verlust der Mitte" (H. Sedlmayr) leiden. Die Radikalität der angedeuteten Zäsur kann nicht genug betont werden. Darauf verwies J. Schasching schon vor 30 Jahren, als er darauf aufmerksam machte, „daß das technische Wissen und Können der abendländischen Völker fast 3000 Jahre im wesentlichen gleich geblieben ist. Der Pflug und der Wagen, der Feuerstein und die Öllampe, das Ruderboot und das Segel waren im 18. Jahrhundert im Prinzip noch dieselben, wie zur Zeit der alten Pharaonen. Dann aber bricht plötzlich eine Welle von Erfindungen und Entdeckungen ein. In einer Zeitspanne von 100 bis 150 Jahren jagt eine Erfindung die andere". 3
II. Krise der Kirche und ihrer Sendung Für die soziologische Betrachtung ist es keine Überraschung, daß auch die katholische Kirche den grundlegenden Wandel in der Menschheitsgeschichte nicht ausreichend verstanden, in ihrer Selbstdeutung und in ihrer Tätigkeit nicht genügend eingearbeitet hat. Es ist aber eine Tatsache, daß die oben skizzierten Veränderungen in den Lebensumständen und im Bewußtsein der Menschen in der ersten Welt (und in der Folge auch in anderen Regionen der Welt) auch in den Erwartungen der gläubigen Menschen gegenüber der Religion einen tiefgreifenden Wandel hervorgerufen haben. Die Menschen früherer Epochen der Zeitgeschichte (wie schwer auch die Abgrenzung und die Differenzierung dieser Begriffe sein mag), haben in der 3
J. Schasching, Kirche und industrielle Gesellschaft. Herder, W i e n 1960, S. 225 f.
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Religion vor allem das Numinose, das Geheimnisvolle, das Ganz-Andere gesucht (und auch nur suchen können). Die angedeuteten Veränderungen führten dazu, daß der heutige Mensch — auch wenn er bereit ist, letzte Geheimnisse, wie die Liebe oder den Sinn des Lebens usw. zu akzeptieren — für alles, was vernünftig erklärt werden kann, auch eine vernünftige Vermittlung und Erklärung haben will. (Diese Behauptung gilt nur für die Religionen der westlichen Welt. Buddhismus, Konfuzianismus und andere Weltreligionen scheinen nicht den selben Weg zu gehen; auch in der islamischen Religion ist es unklar, wie in den verschiedenen Ländern die Differenzierung und Weiterentwicklung vor sich gehen wird.) 4 — Man darf nicht außer Acht lassen — trotz darauffolgender wesentlicher Differenzierungen und Einschränkungen —, was Max Weber für den modernen Menschen festgestellt hat: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge — im Prinzip — durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt." 5 So entstand eine gemeinsame Erwartung der Rationalität auch religiösen Aussagen und Riten gegenüber. In unserer pluralistischen Gesellschaft kann man nicht mehr erwarten, daß ein mehr oder weniger Außenstehender zwischen unseren nicht ausreichend tief verstandenen religiösen Vollzügen einerseits und parareligiösen oder magisch-abergläubischen Praktiken (z. B. Horoskop) unterscheiden kann. Viele Texte des 2. Vatikanischen Konzils haben sowohl dem Inhalt als auch der Ausdrucksweise nach Schritte in die Richtung der neuen Erwartungen getan. Der Weg bleibt aber noch lang, bis man ähnlich wichtige Kommunikationsinhalte so formulieren können wird, daß sie auch außerhalb der „inneren kirchlichen Kreise" empfangen werden können. Da diese weite Kreise der Adressaten nicht erreichen, içt ihre Wirksamkeit ähnlich gering, wie die gut begründeten Mahnungen der Zukunftsforscher, der Wertewandel- und Umwelttheoretiker oder der weitblickenden Fachleute der Theologie und der Religionssoziologie. — Es scheint mir übrigens für die konkreten Problemlösungen unmittelbar nicht sehr hilfreich zu sein, die Diskussion über die „Hauptursache" der seit Jahrzehnten fast linear negativ
4
Vgl. P. Valadier, L'Église en procès. Catholicisme et société moderne. CalmannLévy, 1987, S. 22. 5 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1968 (3. Auflage), S. 593 f.
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verlaufenden Entwicklungen der allermeisten Parameter kirchlicher Lebenskraft weiterzuführen (obwohl sie prinzipiell und längerfristig sehr wichtig ist): war sie das Konzil oder die Unvollendetheit des Konzils? Kam das „aggiornamento" zu spät, zu unvorbereitet, wirkte es wie ein Dammbruch nach einem Stau mit zerstörerischen Folgen — oder blieb es auf dem halben Weg stecken, so daß das Kirchenvolk (am Beispiel der Liturgiereformen) erst jetzt, in der eigenen (Mutter-)Sprache versteht, daß ihm die Kommunikationsinhalte unverständlich sind? Vielleicht wäre es entscheidend wichtig, (auch) einen anderen Weg einzuschlagen, sich auf eine andere Aufgabe zu konzentrieren. — Als Ausgangspunkt dazu könnte eine nüchterne, realistische Bestandsaufnahme über die Lage der Kirche dienen. Die Tatsache ist bekannt, daß immer weniger Personen das Priesteramt ausüben, daß sie immer weniger Zuhörer in den Kirchen und Schulen haben, ganz allgemein: daß der Umfang religiöser Kommunikation immer geringer wird. Gleichzeitig wissen wir aber auch, daß die Kirche auch heute noch über weltweit einmalige Möglichkeiten verfügt, Menschen anzusprechen. Um nur einige besonders augenfällige Daten zu zitieren: Welche Organisation kann sich rühmen, in fast allen Ländern der Erde über 400 000 hauptamtliche und größtenteils außerordentlich motivierte und engagierte Mitarbeiter zu haben, wie die Priester der katholischen Kirche, die in über 200 000 Pfarreien mit vielen Menschen in Kommunikation stehen und in rund 50 000 Kindergärten, 80 000 Volksschulen und 30 000 Mittelschulen mehr als 40 Millionen Kinder und Jugendliche Tag für Tag beeinflussen? 6 Die Sorge um den Menschen (und nicht nur um seine Seele) verlangt von der Kirche, daß diese immer noch einzigartigen Kommunikationsmöglichkeiten nicht verschwendet, sondern optimal ausgeschöpft werden, daß diese Chancen, die — trotz Säkularisierungsvorgängen in den Köpfen, in den Herzen und in den Verhaltensweisen — immer noch bestehen, aber ohne radikale Änderungen sich weiter verringern, genützt werden. — Sich auf die Heilswirkung der Kirche zu berufen, hinter die Allmacht der Vorsehung zu verstecken, ist so lange unglaubwürdig, solange jene Reformen nicht in Angriff genommen werden, die heute schon in manchen Bereichen kirchlichen Lebens und kirchlicher Verkündigung möglich wären. — Beispielhaft sollen i m folgenden zwei zentrale, miteinander eng verflochtene Bereiche menschlicher Kommunikation kurz beschrieben werden, in denen meiner Ansicht nach grundlegende Veränderungen notwendig und realisierbar sind, ohne auf die Ergebnisse der großen Auseinandersetzungen warten zu müssen, wie sie vor rund 40 Jahren auf dem Gebiet der Bibelinterpretation zu einem radikalen Durchbruch geführt haben, wie sie jetzt in der Morallehre der Kirche voll i m Gange sind, und wie sie in absehbarer Zeit in der 6
Annuarium statisticum ecclesiae 1989. Vatikan 1991.
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Umdeutung der Dogmenauffassung im Lichte einer wissenssoziologischen Betrachtung zu erwarten sind.
III. Inhalte der Verkündigung In einer Grundsatzentscheidung hat die Kirche im 2. Vatikanischen Konzil in Zusammenhang mit dem Ökumenismus eine wichtige Unterscheidung festgehalten: „Beim Vergleich der Lehren miteinander soll man nicht vergessen, daß es eine Rangordnung oder »Hierarchie 1 der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens" (Punkt 11). — Analog zu dieser Einsicht sollte eine pastoral-praktische Hierarchie der Kommunikationsinhalte erarbeitet, in der Priesterausbildung eingeübt und in allen Bereichen der Verkündigung (vor allem in den Homilien und in der Katechese) ständig berücksichtigt werden. Ganz bewußt sollte einer psychologisch verständlichen Versuchung entgegengewirkt werden. Im Laufe einer guten theologischen Ausbildung werden den Studenten serienweise „Aha-Erlebnisse" vermittelt — die Entdeckung systematischer Zusammenhänge, einleuchtender wissenschaftlicher Erklärungen und treffender fachlicher Definitionen führt normalerweise zum Wunsch, diese geistige Freude und Genugtuung auch anderen mitzuteilen. Ein solches Vorhaben kann allerdings nur in einem langen, systematischen Lernprozeß erfolgreich sein, in allen anderen Fällen führt es zu Halbbildung, Mißverständnissen und Verwirrung, oder aber zu einer Kommunikation, die eigentlich keine ist, da sie den Gesprächspartner nicht wie beabsichtigt anspricht: „Wie ich nicht sage, daß der entzückende Morgentau, der nach einer Sommernacht auf den Blumen liegt, H2O sei (obwohl das durchaus richtig ist), so kann ich auch nicht die Menschenherzen mit der Tatsache hinreißen, daß die heiligmachende Gnade ein accidens physicum sei."7 — A n diesem Beispiel wird es wohl deutlich, daß der Inhalt der religiösen Kommunikation nicht die Theologie als wissenschaftliches Fach, auch nicht die Ortsbestimmung einer Aussage im thomistisch-scholastischen Denksystem, sondern die die konkrete menschliche Existenz zutiefst berührenden Themen des Glaubens sein sollten. — Es ist eine Entscheidung mit großer Tragweite: W i l l man durch die Verkündigung verschiedenster Art „kleine Theologen" züchten (was in der wissenschaftlichen Ausbildung voll berechtigt ist und auch zur Entstehung „großer Theologen" führen kann), und damit die Kommunikation auf einen immer kleineren, exklusiven Kreis beschränken — oder möglichst viele Menschen für die Aufnahme der befreienden Botschaft des Evangeliums vorbereiten und 7
H. Rahner, Eine Theologie der Verkündigung. Darmstadt 1970, S. 10.
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ihnen die wesentlichen Inhalte christlichen Glaubens und christlicher Weltanschauung vermitteln? Es ist außerordentlich kontraproduktiv gegen Ende des 20. Jahrhunderts, wenn ein neuernannter Bischof, mit guten intellektuellen Fähigkeiten, bereit ist, in seinem ersten Rundfunkinterview als Amtsträger ausführlich auf die Frage einzugehen, weshalb Mädchen bei der Eucharistiefeier nicht ministrieren dürfen, dann noch einiges gegen die sogenannte „künstliche" Empfängnisverhütung und die Emanzipation der Frau in der Kirche vorzubringen — aber kein einziges Wort über die großen bzw. anderen großen Themen der heutigen Menschheit, über den Frieden, über den Hunger in der Dritten Welt, über die Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems, über die weltweite Verdemütigung und Ausbeutung vor allem von Frauen und Ausländern zu sagen. — Solche Erscheinungen verweisen auf abgrundtiefe Fehler in der religiösen und theologischen Sozialisation in Hinblick auf die „Hierarchie der Wahrheiten" unter kommunikationstheoretischem Aspekt. Eine gründliche Überlegung wert wäre die Verwendung alttestamentlicher Texte als Lesung in der Eucharistiefeier und im Religionsunterricht. Von ihrer theologischen Bedeutung abgesehen, bilden diese Texte zweifellos die Vorgeschichte und die historische Grundlage christlichen Glaubens. Ist es aber vernünftig und richtig, die immer weniger werdenden, aber immer noch viele Millionen Kirchenbesucher jeden Sonntag oder an größeren Feiertagen mit Geschichten zu bedienen, in denen Personen und Völker mit (für die meisten) fremdklingenden und unbekannten Namen bizarre und oft unchristliche Taten vollbringen, um dann diese Geschichten mit Mühe und Not als Ausdruck eines christlichen und aktuellen Inhalts darzulegen — sind die wenigen zur Verfügung stehenden Minuten auf diese Weise optimal genützt? Stellen wir uns — sit venia exemplo — einen Managerkurs vor, der wöchentlich eine gute halbe Stunde lang Millionen von Teilnehmern ausbildet, und dabei 10-20 Minuten lang Texte von Aristoteles — die ziemlich eindeutig nicht den kulturellen Hintergrund jener geistigen Kultur bilden, in denen Manager wirken sollen — vorlesen und auf die heutigen Verhältnisse anwenden läßt. ... Selbst das Neue Testament, Fundament und Quelle christlichen Glaubens, kann nicht ohne sorgfältige Überlegung für die unmittelbare, alltägliche Kommunikation verwendet werden. Jeder, der Theologie studiert hat, weiß, wieviele Stunden (nach langer und ausführlicher Einführung in die Grundprobleme der Exegese) dafür verwendet werden müssen, bestimmte Aussagen etwa der Paulusbriefe einigermaßen sachgerecht zu verstehen — nur eine A r t „vermessentliches Vertrauen" kann dazu führen, daß solche Texte theologisch nicht gebildeten Leuten vorgelesen und eventuell kurz erörtert werden. — Die Entscheidung ist fällig. Die erste Möglichkeit ist die Fortsetzung der bisherigen Praxis unter veränderten Erwartungen und
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Voraussetzungen bei einem wachsenden Anteil der immer weniger werdenden „Hörer des Wortes". Dies bedeutet, auch solche Texte in der gewöhnlichen Verkündigungspraxis vorzutragen und mühsam zu erörtern, die (um nur einige Beispiele aus den bei Matthäus festgehaltenen Parabeln zu erwähnen, wie 6,22 - 23 über Licht und Dunkel, 8,28 - 34 über die Vernichtung der bösen Geister durch Ertrinken der Schweine, oder 12,34 - 45 über die unreinen Geister) zwar die ursprünglichen Formulierungen der „Frohen Botschaft" immer wieder in Erinnerung rufen, dafür aber für relativ leichte und schnelle Kommunikation wesentlicher Inhalte des Glaubens ungeeignet sind. Die zweite Möglichkeit besteht in einer weitergehenden Selektion im Sinne des abschließenden Teiles dieses Artikels: Mitteilung bedeutet die Abstimmung des mitzuteilenden Inhalts auf die „Wellenlänge" des Empfängers. Charakteristisch für die Unzufriedenheit der im Heute lebenden, aufgeschlossenen und im ständigen Kontakt mit modernen Menschen lebenden Priester mit den in liturgischen Texten ausgedrückten Inhalten ist die Praxis, bestimmte Formeln wegzulassen, andere zu verändern (z. B. statt der mit Dir lebt und herrscht" „ . . . der mit Dir lebt und für uns da ist", oder statt „ . . . durch unseren Herrn" „durch unseren Herrn und Bruder"). — Wer von uns, für die der sinngebende Glaube und sein christlicher Ausdruck ein Anliegen ist, das uns „unbedingt angeht", 8 spürt nicht ein tiefes Unbehagen, wenn in den Nachrichtensendungen der Massenkommunikationsmittel zwischen einem Bericht über Hungerkatastrophen und einem über kriegerische Auseinandersetzungen von Franz von Assisi als Schutzpatron der Tiere die Rede ist? — Wer von uns kann sich damit abfinden, daß in unseren Kirchen alte Liedertexte als Gebet gesungen werden, die vom Denken und Fühlen vieler heutiger Menschen meilenweit entfernt sind und alle, die sich nicht mühsam in eine vergangene Kultur oder in eine spezifisch meditativmonachale Denk- und Ausdrucksweise versetzen können (oder die diese Texte völlig gedankenlos „absingen"), eher abschrecken oder in dem Sinne irreführen, daß sie meinen, diese wären der heutige Ausdruck unseres Glaubens, unserer heutigen christlichen Kultur? Es wäre falsch, diese Probleme zu bagatellisieren. Mögen die einzelnen angeführten Beispiele tatsächlich Kleinigkeiten sein, in ihrer Summe ergeben diese und viele andere ähnliche Phänomene ein Alarmsignal für die gesamte kirchliche Kommunikation. W i r wollten über die Tiefe dieser Kommunikationskrise nachdenken, etwa in Anwendung der dem Ernst des Problems adäquaten Formulierung von E. Drewermann: „Atheismus ist in meinen Augen die Zerstörung von Zerrformen der Göttlichkeit, eine notwendige Reaktion darauf, daß man Gott identifiziert mit bestimmten Amts8 P. Tillich, Die Frage nach dem Unbedingten. Gesammelte Werke, Bd. V. Stuttgart 1964, S. 136 und passim.
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strukturen, mit bestimmten Herrschaftsverhältnissen in und außerhalb der Kirche, mit bestimmten Moralvorstellungen, die obsolet geworden sind, mit bestimmten Tabu-Bildungen, die den Menschen verdummen, statt ihm leben zu helfen. Dann wird Atheismus eine notwendige Form der Selbstbehauptung des Menschen und dann ist er zweifellos nicht schädlich, sondern ein großartiges Gelächter über den vergangenen Aberglauben, ein Schritt nach v o m in der Selbstbewegung religiöser Entfaltung." 9
IV. Sprache der Verkündigung Nicht nur bestimmte Inhalte in verschiedenen Ausdrucksformen, sondern auch bestimmte Ausdrucksformen verschiedener Inhalte sind in der kirchlichen Kommunikation äußerst problematisch und in vielen Fällen eindeutig kontraproduktiv. — Auch auf diesem Gebiet ist der Hintergrund klar und deutlich. Die Verkündigung bedient sich oft einer Sprache (im weitesten Sinn des Wortes), die nicht mehr die Sprache derer ist, die angesprochen werden sollten. Die mitteilende Kirche hat die Tatsache noch nicht richtig realisiert, geschweige denn in die Praxis umgesetzt, daß sich in der modernen Zeit eine neue Sprachverwirrung, wie in der Geschichte des Turmbaus von Babel, ereignet hat, so daß die Anzahl der für die Tradition und für die modernen Menschen einerseits, aber auch unter den modernen Menschen gemeinsame Begriffe geringer geworden ist. Was ist die erste Assoziation junger Theologiestudenten, wenn sie von Gott als „actus primus" hören, was bedeuten die Begriffe „Herr" und „Diener" für Menschen der Epoche nach dem Durchbruch der großen emanzipatorischen Bewegungen, was versteht unter „Liebe" der eine und was der andere? — Man könnte sehr viele weitere Beispiele anführen. Nun aber bedeutet Botschaft und Verkündigung (auch) menschliche Kommunikation, die nach teils sehr einfachen, teils recht komplizierten „Spielregeln" abläuft. Ganz einfach ist die Notwendigkeit der Adäquatheit zu verstehen. Es ist allgemein bekannt, wie vergeblich die Liebesmühe ist, Kindern irgendetwas in der Sprache der Erwachsenen mitteilen zu wollen und wie verfehlt es wäre, Erwachsene i m Stil der Kinder anzusprechen. Es ist genauso einsichtig, daß Analphabeten und Akademiker aus der jeweils auf die andere Kategorie abgestimmten Kommunikation wenig oder gar nichts profitieren. — Es ist ein verhängnisvoller Fehler, dieses einfache Gesetz dort nicht anzuwenden, wo wir uns mit je nach religiös-theologischer Vorbildung sehr verschiedenen Kategorien von Menschen verständigen wollen. Die richtige Anpassung geschieht nur in seltenen Fällen der kategorialen Seel9 E. Drewermann und J. Jeziorowski, Gespräche über die Angst. Gütersloh 1991, S. 51 f.
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sorge. Es genügt nämlich nicht, einzelne soziale Kategorien (Frauen, Jugendliche, Arbeiter usw.) spezifisch als solche anzusprechen, da innerhalb dieser die obengenannten Kategorien nach religiösen Kenntnissen und nach Kirchennähe genauso vorkommen können, wie etwa unter den gemischten sozialen Kategorien der Kirchenbesucher. Das erleichtert nicht die Aufgabe der „Verkünder des Wortes". Aber es hilft nichts: eine Sprache, die vom Gesprächspartner nicht (richtig) verstanden wird, muß übersetzt werden. Das Problem der Sprache, wie sie hier verstanden wird, hat verschiedene Tiefendimensionen. Ein Beispiel für die zentralsten, allgemeinsten Fragen kirchlicher Kommunikation ist die Tatsache, daß der künstlerische Ausdruck sich weitgehend aus dem Religiösen zurückgezogen hat 1 0 und daß der Stil innerhalb der Kirche den Humor, das Geistreiche weitgehend vermissen läßt 11 — eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen ist das soeben erschienene Buch von Bischof R. Stecher. 12 Ein zweites Beispiel auf einem ganz anderen Gebiet, aber auch die tieferen Regionen zwischenmenschlicher Mitteilungen betreffend, ist die häufige Vermengung grundverschiedener Dimensionen in Gesprächen und kritischen Auseinandersetzungen. Es ist unehrlich und unlauter (und das merken immer mehr denkende Menschen), vorgebrachten Problemen kirchensoziologischer A r t mit dem Jesuswort „Ich bin bei euch alle Tage" entgegenzutreten, die Kritik an Fehlern der Amtskirche mit dem Spruch zu entkräften: „Wir sind ja zugegebenermaßen eine Kirche von Sündern", Ergebnisse von Analysen auf der Ebene der kirchlichen Organisation mit dem Vorwurf ekklesiologischen Monophysitismus abzutun. — Die Unglaubwürdigkeit einer solchen Rhetorik, die anerkannte bzw. anerkennungswürdige Wahrheiten in einer fremden Dimension anwendet, wächst in positiver Korrelation mit der Anzahl unterscheidungsfähiger Zuhörer. Zahlreich sind die sinnwidrigen oder anachronistischen Ausdrücke und Bezeichnungen, die die kirchliche Terminologie — diesmal eher an der Oberfläche verbaler Kommunikation — charakterisieren. W i r haben die Anreden „Eminenz" und „Exzellenz" für Kardinäle und Bischöfe knapp hinter uns gelassen (welche Aberration in der Kirche des Jesus von Nazareth!), verwenden aber immer noch Bezeichnungen, die für einen aufgeklärten Christen als komisch, bizarr, museal oder im Widerspruch zum Evange10
E. Busek, Nur noch ein Problem. Auf der Suche nach dem Geist — auch in der Kirche, G. Rombold: Die Angst vor der Nacktheit. Ist die Kirche die einzige Instanz für Sinnvermittlung?, in: Th. Chorherr (Hg.), Heiliger Zorn. Der Streit in der Kirche. W i e n 1989, S. 82-94, 201-216. 11
G. Nenning, Ich bin Fundamentalist. Religion modernisieren heißt sie zerstören, in: Th. Chorherr, S. 97-112. 12 R. Stecher, Heiter-besinnlich rund um den Krummstab. Innsbruck 1991.
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lium stehend erscheinen müssen: „Hochwürden" für die Amtsträger der Kirche des Gekreuzigten, „Heiliger Vater" und „Heiliger Stuhl" für die Nachfolger und für das A m t des seinen Meister dreimal verleugnenden Petrus, „Pater Magister" für die Novizenmeister, die den Novizen die bedeutungsvolle Forderung Jesu näherbringen sollen: „Nennt niemanden Meister ... Nennt niemanden Vater .. Λ 1 3 Einer ähnlichen Überprüfung sollte die nonverbale Kommunikation der Kirche unterworfen werden. Die für die meisten unverständlichen Gesten (wie z. B. die Handauflegung während der Eucharistiefeier) oder aus praktischen Gründen verfremdeten Symbole (wie z. B. Hostie statt Brot) sind in pastoraler Hinsicht eher Erschwernisse für die bezweckte Verständigung. Ganz allgemein sollte folgende Feststellung gründlich überlegt werden: „ . . . es genügt schon ein flüchtiges Hineinhorchen in das Sprachbild der industriellen Gesellschaft, um die Veränderungen festzustellen und die Wirkungen zu erahnen, die von dort aus auf die geistige Landschaft des Menschen ausgehen. Es braucht in diesem Zusammenhang nur darauf hingewiesen zu werden, daß es für eine Religion, an deren Anfang das ,Wort' und die Botschaft stehen, sehr entscheidend darauf ankommt, in welches Sprachklima dieses Wort hineinfällt und über welche Kanäle es zum geistigen Besitze der Menschen wird." 1 4 W i e entscheidend dieses Nachdenken über die kirchliche Kommunikation ist, läßt die krasse, durchaus mit Belegen versehene und berechtigte Formulierung erahnen, wonach „es nicht nur eine Symbolik gibt, die der Botschaft dient, sondern auch eine Diabolik, die der Vernehmbarkeit und Wahrnehmbarkeit der Botschaft im Wege steht". 15 — Die Pflege einer esoterischen Sprache (verbal oder nonverbal) ist für die (immer weniger) Eingeweihten die beste, für alle anderen die ineffizienteste Kommunikation.
V. Schlußbemerkungen Die Krise der Kirche in unserer krisenhaften Gesellschaft beschränkt sich nicht auf die hier kurz angedeuteten Probleme der inhaltlichen und der sprachlichen Kommunikation. Es ist nicht von ungefähr, daß das Angebot der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart", den in ihr erschienenen Artikel „Leiden an der Kirche" als Sonderdruck zu bestellen, 150000 (hundertfünfzigtausend) mal in Anspruch genommen wurde. 16 Vielleicht wäre es aber der richtige Weg zur Lösung der aktuellen Schwierigkeiten und die richtige 13 14 15 16
M t 23, 8-10. J. Schasching, S. 63 f. H. Stenger, Verwirklichung unter den Augen Gottes. Salzburg 1985, S. 106. H.'Fries, Leiden an der Kirche. Freiburg 1989, S. 5.
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Antwort auf die Säkularisierungserscheinungen, bei der Basis zu beginnen und den Dialog mit den Menschen neu zu gestalten. Die bisherige Praxis kirchlicher Kommunikation erreicht drei Kategorien von Menschen. — Die erste, bestehend vor allem aus jungen Menschen und aus Intellektuellen, kann mit der esoterischen Mitteilung nichts anfangen oder findet sie sogar skandalös oder unwürdig. — Die zweite, in der unkritische, nur das Numinosum suchende, mit den Traditionen der letzten Jahrzehnte stark verbundene Gläubige angesiedelt sind, faßt das ihr angebotene Religiöse mehr oder weniger abergläubisch-fetischistisch auf. — Der dritte, „innere" Kreis der religiös-theologisch gebildeten und intensiv praktizierenden Christen profitiert davon und erhält die wesentliche, unverzichtbare Tradition der Kirche lebendig. W i l l man die Kommunikation mit der dritten Gruppe weiter pflegen, was unabdingbar ist, die ersten zwei Kategorien aber von den schädlichen Auswirkungen dieser Praxis verschonen und ihnen wenigstens teilweise den Zugang zu „inneren" Kreis ermöglichen, so soll man — unter Verzicht auf die Vorteile der bisherigen Praxis, z. B. der Verpflichtung zum Kirchenbesuch jeden Sonntag — das Angebot der Kirche so weit wie möglich differenzieren. Das Wenigere, aber Angepaßtere und Angemessenere würde auch hier, wie in vielen anderen Bereichen menschlichen Zusammenlebens, ein Mehr an Ertrag bedeuten. — Wäre das nicht die berechtigte Anwendung der vierfachen paulinischen Aufforderung zur Anpassung? 17
17
l.Kor. 9, 20.
DER POLITISCHE ASPEKT I M WIRKEN DES LINZER BISCHOFS FRANZ JOSEPH RUDIGIER (1853-1884) Von Rudolf Zinnhobler
P. Schasching stammt aus dem Bistum Linz und ist Soziologe. Ein Thema über einen Linzer Bischof, der nicht nur wegen seiner Aufbauleistung bekannt geworden ist, sondern auch als „politischer Bischof" in die Geschichte eingegangen ist, scheint mir daher dem Jubilar gemäß zu sein, haben doch Politik und Soziologie viel miteinander zu tun.
In jüngster Zeit wurde wiederholt vom „Skandal eines unpolitischen Christentums" und einer „unpolitischen Kirche" gesprochen (Kurt Koch). Politische Abstinenz reduziert das Wirken der Kirche eben nur allzu leicht auf Kirchenraum und Sakristei und läßt damit ihren ursprünglichen Auftrag verkümmern. In dieser Sicht könnte das politische Engagement Rudigiers, 1 auch wenn dieses selbstverständlich zeitbedingte Formen annahm, heute eine neue Wertschätzung erhalten. Die Weite des gestellten Themas läßt selbstverständlich nur eine aufrißartige Darstellung zu.
I. Rudigier wird Bischof Der Linzer Bischof Gregorius Thomas Ziegler (1827-1852) hatte klar erkannt, daß die Revolution von 1848 der Kirche nicht nur Schaden zugefügt hatte. Er hatte es verstanden, die neuen Freiheiten (Rede-, Presse-, Vereinsfreiheit) geschickt zu nützen und in seiner Diözese der Abkehr vom josephinischen Staatskirchentum zum Durchbruch zu verhelfen. Darüber hinaus leistete er einen maßgeblichen Beitrag zur Liquidation des Josephinismus für die ganze Monarchie. 2
1
Zu Rudigier ist wegen seines Materialreichtums immer noch von großer Bedeutung das Werk von Konrad Meindl: Leben und Wirken des Bischofes Franz Joseph Rudigier von Linz, 2 Bde, Linz 1891 u. 1892. Vgl. jetzt ergänzend Rudolf Zinnhobler (Hg.), Bischof Franz Joseph Rudigier und seine Zeit, Linz 1987. 2 Eduard Hosp, Bischof Gregorius Thomas Ziegler. Ein Vorkämpfer gegen den Josephinismus, Linz 1956.
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A m 15. April 1852 starb der greise Bischof. In dem Bemühen, für ihn einen geeigneten Nachfolger zu finden, welcher in der Diözese Linz „staatliche wie kirchliche Anliegen gleichermaßen glaubwürdig vertreten" werde, 3 scheinen die Blicke Kaiser Franz Josephs I. bald auf Franz Joseph Rudigier, den er von dessen Tätigkeit als Hofkaplan und als Spiritualdirektor am höheren Priesterbildungsinstitut St. Augustin in W i e n (1845-1848) her bereits kannte, gelenkt worden zu sein. Der am 7. April 1811 in Partenen (Vorarlberg) als Sohn armer Eltern geborene Franz Joseph Rudigier hatte nach seinen, mit glänzendem Erfolg absolvierten Studien und seiner Priesterweihe in Brixen (1835) zunächst als Seelsorger in Vandans und Bürs (1835-1838), dann als Theologieprofessor in Brixen (1839-1845), als Spiritualdirektor in Wien (1845-1848) und schließlich als Propstpfarrer in Innichen (1848-1850) gewirkt, bevor er Regens des Priesterseminars und Domherr in Brixen wurde (1850-1853). Bei der Kandidatensuche für das verwaiste Bistum Linz wurde dem Kaiser in einem mit 8. Juli 1852 datierten Schreiben des Wiener Erzbischofs Vinzenz Eduard Milde (1832-1853), welcher geistig noch ganz im Josephinismus beheimatet war, 4 Rudigier in besonderer Weise empfohlen. Dieser sei der „vorzüglichste und am meisten geeignete" Kandidat; er sei „nicht nur ein äußerst fähiger, wissenschaftlich gebildeter, frommer, eifriger, sondern auch zugleich ein kluger Mann", der sicherlich imstande sei, „sein Ansehen zu behaupten und andere mit Weisheit und Mäßigung zu leiten". 5 Unterrichtsminister Leo Graf Thun-Hohenstein schloß sich nach einigem Zögern diesem Urteil an. Er schilderte Rudigier dem Kaiser am 5. Dezember 1852 nochmals als einen Mann „von unzweifelhafter Loyalität" und mit einem „ruhigen, besonnenen Charakter ..., von welchem nicht zu besorgen stehe, daß er Streitigkeiten über Prinzipienfragen anzuregen geneigt und sein Verhältnis zu der Regierung ... mit unpraktischer Einseitigkeit zum Nachteile von Kirche und Staat auffassen werde". 6 Tatsächlich wurde Rudigier von Kaiser Franz Joseph am 19. Dezember 1852 zum Bischof von Linz ernannt. A m 10. März 1853 erfolgte die päpstliche Bestätigung, am 5. Juni die Bischofsweihe in Wien und am 12. Juni die Amtsübernahme in Linz. 3 Gottfried Mayer, Österreich als katholische Großmacht. Ein Traum zwischen Revolution und liberaler Ära, W i e n 1989, S. 176. 4
Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 508-511. 5
Mayer, S. 177. Mayer, S. 180. Das Zögern Graf Thuns war bedingt durch Konflikte, die Rudigier in Innichen i m Zuge der Grundentlastung mit staatlichen Stellen gehabt hatte. Vgl. Walter Goldinger, Auf dem Weg zum Bischofsamt, in: Zinnhobler, Rudigier, S. 40-46, hier 45 f. 6
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Milde und Thun sollten mit ihrer Charakterisierung Rudigiers für die Dauer der neoabsolutistischen Ära Recht behalten, das heißt für die Jahre von 1849 bis 1861. Dann aber traten Umstände ein, die aus dem Bischof den „Vertreter eines neuen, kämpferisch orientierten Katholizismus" machten. 7
II. Das österreichische Konkordat von 1855 — Rudigier bezieht Stellung Der Josephinismus hatte die Kirche zur Dienerin des Staates gemacht. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Kirche in der Folge nach Unabhängigkeit strebte. Die Revolution von 1848 brachte zwar neue Freiheiten, freilich auch nicht ungefährliche Umwälzungen. Nach der Überwindung der Revolution bahnte sich eine neue Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche an. 1849 lud das Ministerium des Inneren die österreichischen Bischöfe zu einer Versammlung nach W i e n ein. 8 Bei dieser wurden Forderungen erhoben, die praktisch auf eine Beseitigung des Josephinismus hinausliefen. 9 Bereits 1850 kam dann das bis dahin geltende placetum regium für die Bekanntgabe kirchlicher Erlässe in Wegfall, der freie Verkehr der Bischöfe mit Rom wurde wieder erlaubt, die theologischen Lehranstalten in den einzelnen Diözesen kamen in kirchliche Hände und die staatliche Reglementierung des Gottesdienstes wurde abgeschafft. 10 1849 hatten sich die Vertreter der katholischen Kirche aber auch gewissermaßen dem Staat als Ordnungsmacht angeboten. 11 Die Folge war eine Ehe von Thron und Altar, welche die Rückkehr zum Absolutismus begünstigte und längerfristig zum Abschluß eines Konkordates zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl führte. 12 Dieses Vertragswerk wurde — nach langen Verhandlungen — am 18. August 1855, dem 25. Geburtstag des Kaisers Franz Joseph I., unterzeichnet. 13 Neben den schon 1850 gewährleisteten Freiheiten garantierte es der katholischen Kirche u. a. bedeutende Rechte über die Schule, die freilich kaum wirkliche Neuerungen darstellten, sonderft bereits vorhandene, in der 7
Mayer, S. 181. Mayer, S. 149; Peter Leisching, Die römisch-katholische Kirche in Cisleithanien, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 18481918, Bd. 4, W i e n 1985, S. 1-247, hier 22. 9 Leisching, S. 23 f. 8
10
Leisching, S. 24 f.
11
Mayer, S. 206.
12
Leisching, S. 29.
13
Erika Weinzierl-Fischer, Die österreichischen Konkordate von 1855 und 1933, W i e n 1960. Vertragstext ebd., S. 250-258.
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Schulwirklichkeit aber teilweise „aufgeweichte Positionen der Kirche" festschrieben. 14 Aufgrund des Vertrages von 1855 sollte der gesamte Unterricht der katholischen Jugend in öffentlichen wie nicht öffentlichen Schulen so dargeboten werden, daß er „der katholischen Religion angemessen" war, was die Bischöfe überwachen sollten; die „missio canonica" für Religionslehrer und Theologieprofessoren wurde eingeführt; an den für die katholische Jugend bestimmten Gymnasien und mittleren Schulen durften nur mehr Katholiken als Lehrer angestellt werden, die Volksschulen sollten unter „kirchlicher Beaufsichtigung" stehen, was auch die profanen Fächer betraf; der „Schul-Oberaufseher" eines Kronlandes war vom Kaiser „aus den vom Bischöfe vorgeschlagenen Männern" zu ernennen (Artikel 5-8). 15 Die Liberalen bezeichneten die Schule aufgrund der angeführten Bestimmungen später als „Konkordatsschule" und schilderten sie in den dunkelsten Farben. Darüber hinaus wurde der Kirche die Bücherzensur zugestanden (Artikel 9) und die Jurisdiktion über Ehesachen den kirchlichen Gerichten übertragen (Artikel 10). Umgekehrt blieb dem Kaiser neben anderen Vorrechten das Privileg der Auswahl der Bischöfe für die österreichischen Diözesen erhalten (Artikel 19). In den Augen der Liberalen waren die durch das Konkordat vertraglich abgesicherten Vorrechte der katholischen Kirche in Österreich so groß, daß sie darin eine Umkehr vom ehemals josephinischen Staatskirchentum zu einem Kirchenstaatstum erblickten. Das Konkordat war ohne Mitwirkung von Franz Joseph Rudigier zustandegekommen, dieser wurde aber in der Folge zu dessen eifrigstem Verteidiger im österreichischen Episkopat. Er begrüßte den Vertragsabschluß geradezu überschwenglich und glaubte Zusammenhänge feststellen zu können mit der Dogmatisierung von 1854 (Unbefleckte Empfängnis) : „Es ist mehr als wahrscheinlich, daß zwischen der Dogmatisierung und der unbefleckten Empfängnis und dem Abschlüsse des Concordâtes ein sehr naher innerer Zusammenhang bestehe, daß nämlich Maria, von der Kirche feierlich als makellos anerkannt, und deswegen noch mehr verehrt, diese Ehre durch vermehrte Fürsprache erwiderte, infolge deren die Kirche von der weltlichen Gewalt auch als die Makellose (Immaculata — Eph. 5, 27), als die heilige Gottesbraut anerkannt, und an ihren Rechten durch einen feierlichen Vertrag vor den Augen der staunenden Welt geehret wurde .. ." 1 6
Rudigier hielt das Konkordat auch für ein Dokument des „Kirchenfriedens", der durch den Josephinismus gebrochen worden sei. 17 Es sollte sich 14 Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 4: Von 1848 bis zum Ende der Monarchie, W i e n 1986, S. 109. 15
Leisching, S. 30 f. Franz Maria Doppelbauer (Hg.), Bischof Rudigiers kirchenpolitische Aktenstücke, Linz 1890, S.89f. 16
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freilich auch bald als ein Dokument des Unfriedens erweisen, da die liberalen Kräfte in Österreich Sturm dagegen liefen.
III. Der Bischof wird Politiker Es ist nicht ausgemacht, daß Rudigier schon anlagemäßig ein politischer Mensch war. Manches spricht dagegen. So floh er das Wien der Revolution von 1848 und wurde Propstpfarrer von Innichen. Um diesen Posten, der sozial gesehen für Rudigier keinen Aufstieg bedeutete, hatte er sich als einzigen selbst beworben. Das ruhige Klima in Tirol sagte ihm mehr zu als der Aufruhr in der Hauptstadt, auf den er später bei Predigten und Reden immer wieder Bezug nahm. 1 8 Es ist freilich auch bekannt, daß Rudigier schon „als Wahlmann i m Revolutions jähr 1848 vor einer großen Wählerversammlung in Wien" eine politische Rede hielt, die zwar nicht überliefert ist, voti der aber der spätere Erzbischof Josef Sembratowicz 19 berichtete: „So patriotisch, so begeisternd, so edel und so vornehm war seine hinreißende Beredsamkeit in jenen so gefährlichen Tagen, daß er schon damals die Aufmerksamkeit der Gutgesinnten auf sich zog." 20 In diesem Zusammenhang steht auch ein anonymer Schmähbrief, den Rudigier kurz vor seiner Abreise aus W i e n erhielt (23. August 1848), und der ihm den Abschied leicht gemacht haben dürfte. Darin heißt es u. a.: „Entfernen Sie sich daher baldigst aus dem freiheitsliebenden W i e n und kehren Sie zurück in Ihr finsteres Land, in welchem noch fanatische Priester ihre Herrschaft üben. Da ist Ihr Platz. Sie sind unwürdig, von der Sonne der jungen Freiheit beschienen zu werden". 21
Während Rudigiers Freunde Joseph Feßler und Vinzenz Gasser, die späteren Bischöfe von St. Pölten bzw. Brixen, als Abgeordnete zum deutschen Reichstag in Frankfurt eine Rolle gespielt hatten, war er selbst politisch ziemlich abstinent geblieben. 22 Als junger Bischof widmete sich Rudigier zunächst ganz dem pastoralen Aufbauwerk, 23 für das der neue Dom, zu dessen Errichtung er 1855 aufrief, 17
Doppelbauer, Kirchenpolit. Aktenstücke, S. 91.
18
Harry Slapnicka, Christlichsoziale in Oberösterreich. Vom Katholikenverein 1848 bis zum Ende der Christlichsozialen 1934, Linz 1984, S. 62. 19 Erzbischof von Lemberg 1870-1882; Remigius Ritzler / Pirmin Sefrin, Hierarchia catholica medii et recentioris aevi, Bd. 8, Padua 1978, S. 340. 20
Franz Doppelbauer, Bischof Rudigiers politische Reden, Linz 1889, S.V.
21
Meindl, Bd. 1, S. 182 f.
22
Meindl, Bd. 1, S. 181. Harry Slapnicka, 32 Jahre Diözesanbischof, in: Zinnhobler, Rudigier, S. 60-71.
23
28 Festschrift Schasching
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als Symbol stehen mag. Dann aber traten Ereignisse ein, die aus Rudigier auch einen politischen Bischof machten. Die Niederlagen von Solferino (1859) und vor allem von Königgrätz (1866) wurden in liberalen Kreisen als Niederlagen des „Konkordatsstaates" gewertet und trugen dazu bei, daß Österreich in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt wurde (1861).24 Dem Kaiser stand nun als Organ der Gesetzgebung der Reichsrat (Abgeordnetenhaus und Herrenhaus) zur Seite, die Kronländer erhielten ihre Landtage. Ein kompliziertes Kurienwahlrecht (Kurien des Großgrundbesitzes, des Handels, der Städte und der Landgemeinden), das zudem von der Höhe der Steuerleistung abhing (Zensuswahlrecht) und es nur ca. 5 % der oberösterreichischen Bevölkerung erlaubte, zu den Wahlurnen zu gehen, begünstigte die Liberalen in ungewöhnlichem Maße. Die Verfassung sah jedoch auch sogenannte Virilstimmen für Bischöfe und Universitätsrektoren vor, die somit den Landtagen angehörten, ohne hierfür gewählt worden zu sein. Davon war in Oberösterreich nur der Bischof betroffen. Obwohl Rudigier, bedingt durch Herkunft und Bildungsweg, persönlich ein Anhänger des absolutistischen Systems war, stellte er sich auf den Boden der Realität. So schrieb er 1878 in einem Hirtenbrief: „Es hat im Jahre 1861 Viele gegeben, und es gibt, meine ich, jetzt nach 17 Jahren noch ungleich Mehrere, welche wünschten und wünschen, daß der Kaiser ein absoluter Regent geblieben wäre; allein dergleichen Wünsche, gleichviel ob berechtigt oder nicht berechtigt, sind nun einmal vergeblich; der Kaiser hat selbst im Jahre 1867 in einem aus Anlaß einer Adresse der Bischöfe erlassenen Handschreiben erklärt, man müsse gedenken seiner Pflichten als constitutioneller Regent: in gleicher Weise müssen wir, da die Constitution besteht, gedenken unserer Pflichten als constitutionelle Unterthanen". 25
Als Hauptpflicht der damals noch kleinen Zahl der Wahlberechtigten sah es der Bischof an, daß diese von ihrem Recht auch tatsächlich Gebrauch machten. Fanden Wahlen statt, rief er die Katholiken immer wieder dazu auf, die dadurch gegebenen Chancen zu nützen. Er wendete sich diesbezüglich auch wiederholt an die Seelsorger und führte 1867 u. a. aus: „Wenn es unter den Gläubigen auch solche gibt, die von der Wahl deswegen sich fern halten wollen, weil sie im Andenken an die gute alte Zeit überhaupt von Volksvertretungen nichts wissen wollen, so wird ihnen der Seelsorger, indem er ihre Ansicht über die beste Regierungsform auf sich beruhen läßt, begreiflich machen, daß die Constitution durch ihre Theilnahmlosigkeit nicht aufhört, wohl aber, wenn die braven Leute überhaupt so handelten, einzig und allein von den Uebelgesinnten ausgebeutet würde, und sonach verderbenbringend werden müßte." 26
24
Leisching, S. 35-37.
25
Franz Doppelbauer (Hg.), Bischof Rudigiers Hirtenschreiben, Linz 1888, S. 337. Doppelbauer, Kirchenpolit. Aktenstücke, S. 280.
26
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Rudigier war auch durchaus bereit, Geistliche in die Politik zu entsenden. Das war damals deswegen nötig, weil die politische Intelligenz auf Seiten der Liberalen stand. Ohne den Klerus wäre die katholisch-konservative Gruppe führerlos dagestanden. 27 Als 1861 der oberösterreichische Landtag zum ersten Mal zusammentrat, sah sich der Bischof unter den insgesamt 50 Abgeordneten einer überwältigenden liberalen Mehrheit gegenüber. 28 Fünf, sechs Abgeordnete stimmten mit ihm, alle anderen gegen ihn. Durch den Einzug in den Landtag war Rudigier zum Politiker geworden. „Er hat es sich also nicht ausgesucht und nicht aussuchen können, politisch tätig zu sein; die Verfassung zwingt ihn dazu. Und er nimmt diese neue, zum Teil sehr anstrengende Funktion, so wie alle seine anderen, sehr ernst". 29 Aufgrund der Verfassung hatte Rudigier die Möglichkeit erhalten, i m oberösterreichischen Landtag die Anliegen der Kirche zu vertreten. Zunächst stand er, wie schon angedeutet, fast auf verlorenem Posten. Das entmutigte ihn aber nicht. Er trat entschieden auf, zugleich aber auch maßvoll, wie ihm z.B. 1867 der ehemalige Statthalter Eduard von Bach 30 brieflich bestätigte: „Die Landtagsverhandlungen ... zeigen Sie immer als den einsichtsvollen, muthigen Kämpfer für Kirche und Staat, dessen Beredsamkeit und Consequenz auch den Gegnern imponiert". 31 Und der katholisch-konservative Landesbeamte Karl v. Billau, 32 der in Begleitung des Statthalters meist auch den Landtagssitzungen beiwohnte, nannte Rudigier den „hervoragendste(n) Redner auf dem oberösterreichischen Landtage", dessen Leitsterne stets „Wahrheit und Gerechtigkeit" gewesen seien, von denen er „bei seinem edlen unbeugsamen Charakter ..." auch niemals abgewichen sei; gleichzeitig sei aufgefallen, „mit welcher Achtung und Schonung er sich stets gegenüber seinen Gegnern benommen" hatte. 33 Seine Gegner mögen seine langen, akademisch aufgebauten Reden mit den immer wiederkehrenden gleichen Argumenten freilich schon in der ersten Phase der Tätigkeit des Bischofs i m Landtag anders empfunden 27
Harry Slapnicka, Die Frage des „Klerikalismus" in der oberösterreichischen Landespolitik zwischen 1861 und 1938, in: Für Kirche und Heimat. Festschrift Franz Loidl zum 80. Geburtstag, S. 381-392, hier 384. 28
Harry Slapnicka, Oberösterreich unter Kaiser Franz Joseph (1861 bis 1918), Linz 1982, S.78. 29
Slapnicka, Christlichsoziale, S. 62.
30
Zu ihm vgl. Harry Slapnicka, Oberösterreich — Die politische Führungsschicht 1861 bis 1918, Linz 1983, S. 31-36. 31
Slapnicka, Christlichsoziale, S. 63.
32
Slapnicka, Führungsschicht, S. 41 f. Doppelbauer, Politische Reden, S. V I f.
33
28*
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haben. Noch stärker gingen sie ihnen auf die Nerven, als mit der Promulgation des Staatsgrundgesetzes (1867) und der sogenannten Maigesetze (1868) Rudigiers Tonart schärfer wurde.
IV. Der Kampf für das Konkordat und gegen die Maigesetze Den Liberalen war das Konkordat von Anfang an ein Dorn im Auge. A m markantesten formulierte seine Abneigung der Dichter Anastasius Grün, mit seinem eigentlichen Namen Anton Graf Auersperg, der das Vertragswerk bezeichnete als ein „gedrucktes Canossa", „in welchem das Österreich des 19. Jahrhunderts für den Josephinismus des 18. Jahrhunderts zu büßen hatte". 34 Hingegen erklärte Rudigier in seinem Hirtenbrief vom 16. Februar 1862 den Kampf gegen das Konkordat zu einem „Kampf gegen das Gesetz Gottes und den wohlverstandenen Vortheil der österreichischen Monarchie", zu einem „Kampf, der die Zerstörung der katholischen Kirche und den Sturz des österreichischen Thrones zum Ziele" habe. 35 Der Sturm gegen das Konkordat nahm zu, als die Liberalen, in ziemlich irrationaler Weise, den Vertrag von 1855 für die verlorenen Schlachten von Solferino (1859) und Königgrätz (1866) verantwortlich machten. Selbst Kaiser Franz Joseph war nun nicht mehr „abgeneigt, gewissen Änderungen des Konkordates zuzustimmen", wobei er freilich die Auffassung vertrat, daß diese auf dem Verhandlungsweg erreicht werden sollten. 36 Doch es kam anders. Schon die Staatsgrundgesetze von 1867 bedeuteten eine Abkehr vom Konkordat. Der nun im Artikel 15 vertretene Grundsatz der Parität der Konfessionen widersprach z. B. der im Artikel 1 des Konkordats abgesicherten Sonderstellung der katholischen Kirche; deren Vorrechte über die Schule (Art. 5-8 des Konkordates) aber waren durch Art. 17 des Staatsgrundgesetzes gefährdet, worin dem Staat „rücksichtlich des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens das Recht der obersten Leitung und Aufsicht" zugestanden wurde. 37 Noch glaubten die Bischöfe, die Staatsgrundgesetze zur Not im Sinne des Konkordates interpretieren zu können. 38 Auch Rudigier verwahrte sich nur 34 Zitiert nach Jean Paul Bled, Franz Joseph. Der letzte Monarch der alten Schule, W i e n 1988, 146. 35 36
Doppelbauer, Hirtenschreiben, S. 116. Bled, S. 279.
37
Leisching, S. 41; Bled, S. 281. Text des Staatsgrundgesetzes zitiert nach Inge Gampl / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Österreichisches Staatskirchenrecht, Bd. 1, W i e n 1990, S. 17-52. 38
Doppelbauer, Kirchenpolit. Aktenstücke, S. 34, 124.
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gegen „die antikirchliche Auslegung der Grundgesetze". 39 Er verwies darauf, daß Jesus Christus das eigentliche Grundgesetz des Christen sei gemäß l K o r 3 : „Einen anderen Grund kann niemand legen, als der gelegt ist, welcher ist Christus Jesus". Dann fuhr er fort: „Wir werden die österreichischen Grund- und andern Gesetze befolgen und befolgen machen, so lange sie nicht entweder an sich, oder in der Auslegung, die man ihnen etwa zu geben beliebt, mit diesem wahren Grundgesetze in unläugbaren Widerspruch treten; sollte sich aber je ein solcher Widerspruch ergeben, so kann die Entscheidung, die wir zu treffen haben, nicht zweifelhaft sein: man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen". 40
Die Liberalen hielten diese Stellungnahme bereits für eine „Kriegserklärung des [Linzer] Ordinariates gegen die Verfassung" und verstanden sie als einen „Appell an den Klerus, Stellung gegen die Verfassung zu nehmen". 41 Im Rückblick wird man mit J. R Bled sicherlich sagen müssen, daß mit dem Staatsgrundgesetz „die Revision des Konkordates nur mehr eine Frage der Zeit" war. 42 Sie erfolgte dann tatsächlich mit den drei Maigesetzen von 1868, also auf dem Gesetzeswege, wozu den Liberalen aufgrund des sie begünstigenden Wahlrechts, durch welches sie die Mehrheit im Reichsrat stellten, die Möglichkeit geboten war. Mit den neuen Gesetzen wurden „die Gerichtsbarkeit in Ehesachen der Katholiken den weltlichen Gerichtsbehörden überwiesen", und „Bestimmungen über die bedingte Zulässigkeit der Eheschließungen vor weltlichen Behörden erlassen" (Notzivilehe); „das gesamte Unterrichts- und Erziehungswesen wurde der obersten Leitung und Aufsicht des Staates unterstellt"; die interkonfessionellen Verhältnisse erfuhren eine Regelung nach dem Gleichheitsgrundsatz. 43 Selbst wenn man das Konkordat von 1855 mit H. E. Feine für reaktionär hält 4 4 und der Auffassung huldigt, daß die Maigesetze nur Grundsätze vertreten, die sich längerfristig sowieso durchgesetzt hätten, so bleibt anderseits doch das Faktum bestehen, daß man damit auf dem Gesetzesweg (!) einen völkerrechtlichen Vertrag zu Fall gebracht hat. Von daher wird man die weitere Vorgangsweise Rudigiers beurteilen müssen. Schon als die Gesetzesentwürfe bekannt geworden waren, hatte der Bischof scharf gegen sie Stellung bezogen: „Diese Gesetzesentwürfe zum Gesetze erheben hieße ..., eine Christenverfolgung beschließen". 45 39
Doppelbauer, Kirchenpolit. Aktenstücke, S. 124.
40
Doppelbauer, Kirchenpolit. Aktenstücke, S. 125. W i l h e l m Habison, Die politische Haltung des Bischofs von Linz Franz Joseph Rudigier seit dem Jahre 1853 bis in die Gegenwart, Linz 1870, S. 16. 41
42 43
Bled, S. 281.
Leisching, S. 43-46. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 4. Aufl. W i e n 1964, S.646. 44
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Rudolf Zinnhobler
Nach dem Vorliegen der Gesetze selbst vertrat Rudigier in vielen Schriftstücken und Reden die Auffassung, daß das Konkordat nach wie vor gelte, weil es sich bei ihm um einen zweiseitig bindenden Vertrag handle, der nicht einseitig gelöst werden könne. 46 A n diesem Standpunkt hielt er auch noch nach der 1870 erfolgten Kündigung des Konkordates durch Österreich fest. Ein kämpferischer Hirtenbrief vom 7. September 1868 führte zum Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen dem Bischof und den Liberalen. 47 Rudigier hat dieses Pastoralschreiben jedoch erst nach der Allokution Papst Pius IX. vom 22. Juni 1868 verfaßt, worin dieser die Maigesetze zurückgewiesen, verurteilt und für ungültig erklärt hatte („... auctoritate Nostra apostolica reprobamus, damnamus et décréta ipsa cum omnibus inde consecutis eadem auctoritate Nostra irrita prorsus, nulliusque roboris fuisse, ac fore declaramus"). 48 Was dem Hirtenbrief folgte, ist so bekannt, daß wir uns mit Andeutungen begnügen können. 49 Die Justiz sah in dem Schreiben das „Verbrechen der Störung der öffentlichen Ruhe" gegeben, das Schreiben wurde eingezogen und vernichtet, 50 der Bischof am 5. Juni 1869 vor Gericht gebracht und schließlich zu zwei Wochen Kerker verurteilt, wovon ihn jedoch der Kaiser sofort begnadigte. Man hatte mit dem Vorgehen gegen den Bischof offenbar ein Exempel statuieren wollen, sich dabei aber verrechnet. Das Ereignis machte Rudigier über Nacht zum Volksbischof und hatte ungeahnte Folgen. Als bleibendes Ergebnis der Konfrontation zeichnete sich die Sammlung der katholischen Kräfte und der Aufbau eines aktiven Vereins- und Pressewesens ab, wodurch das katholische Selbstbewußtsein gehoben und dem noch jungen Bistum Linz Identität vermittelt wurde. Seit 1869 begann sich aber auch ein politischer Umschwung abzuzeichnen, der mit der Gründung des katholischen Volksvereins zusammenhing. Ein großer Durchbruch gelang bereits 1870, als die Katholisch-Konservativen von den insgesamt 19 Mandaten der Landgemeinden 18 erobern konnten. 51 Die langdauernde Auseinandersetzung des Bischofs mit den liberalen Kräften soll nun noch an zwei Beispielen veranschaulicht werden, an der Ehefrage und an der Schulfrage. 45 46
Doppelbauer, Hirtenschreiben, S. 205. Doppelbauer, Kirchenpolit. Aktenstücke, S. 129 f.
47 Gerhart Marckhgott, Der Kampf für das Konkordat und gegen die Maigesetze, in: Zinnhobler, Rudigier, S. 119-131. 48 Zitiert nach Karl Vocelka, Verfassung oder Konkordat. Der publizistische und politische Kampf der österreichischen Liberalen um die Religionsgesetze des Jahres 1868, W i e n 1978, S. 163, Anm. 5. 49 Zum Ganzen vgl. immer noch Meindl, Bd. 1, S. 725-825, und jetzt Marckhgott. 50
Erhalten sind nur die zwei für das Gerichtsverfahren benötigten Exemplare, beide i m Panzerschrank des OÖ. Landesarchivs. Eine Neuausgabe wäre dringend. 51 Slapnicka, Klerikalismus, S. 384.
Der Linzer Bischof Franz Joseph Rudigier (1853-1884)
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V. Der Kampf gegen die Ehe- und Schulgesetzgebung Hinsichtlich der Ehe lagen die Dinge für Rudigier sehr einfach: da sie ein Sakrament sei, komme eine Ehe eben nur zustande, wenn auch das Sakrament zustande komme; eine Zivilehe sei daher keine Ehe und widerspreche außerdem dem Konkordat. Im Landtag stellte der Bischof 1871 die Frage: „ . . . wenn der Staat eine Verbindung Ehe nennt, die in den Augen der Kirche nicht eine Ehe ist und nicht eine Ehe sein kann, und wenn der Staat einer Verbindung die Rechte der Ehe gibt, welche die Kirche verurtheilen muß als Concubinat, ist das recht, ist das nicht eine Verfolgung der Kirche?" 52
Weil Sakrament und Ehe voneinander untrennbar seien, gebe es auch keine „Notzivilehe", d. h. eine staatliche Ehe solcher Katholiken, die wegen eines kirchlichen Ehehindernisses kirchlich nicht getraut werden konnten. Rudigier formulierte seine Sicht der Dinge in seinem Hirtenbrief vom 9. Februar 1868 zum Thema „Wer ist katholisch?" folgendermaßen: „Der Ausdruck: Nothcivilehe — hat gerade so viel Berechtigung, als wenn man sagen würde: Nothverbrechen. Es gibt keine Noth, in der man ein Verbrechen begehen darf, und keine, in der man eine Civilehe eingehen darf". 53
Damit stand er in schroffem Gegensatz zu den Liberalen, die das neue Gesetz für eine Befreiung vom Gewissenszwang hielten. 54 Noch viel stärker als die Ehegesetzgebung beschäftigte den Bischof die Schulfrage. 55 Rudigier hatte es während seiner Amtszeit mit zwei Schulen zu tun, der zu Unrecht als „Konkordatsschule" bezeichneten Institution (sie geht ja i m wesentlichen auf die Schulverfassung von 1805 zurück und wurde einschließlich der kirchlichen Schulaufsicht vom Konkordat bestätigt) und der „Neuschule", die das Resultat des Staatsgrundgesetzes von 1867 (Art. 17) war sowie des betreffenden Maigesetzes von 1868 und des Reichsvolksschulgesetzes von 1869.56 Diese Gesetze schufen die interkonfessionelle Volksschule und führten die Trennung von Kirche und Schule herbei. Die Lage hatte sich in dieser Angelegenheit schon durch das Protestantenpatent vom 8. April 1861 zugespitzt. Mit Papst Pius IX. schien es auch Rudigier, daß eine Erweiterung der Rechte der Protestanten einer Einschrän52
Doppelbauer, Politische Reden, 215.
53
Doppelbauer, Hirtenschreiben, 205.
54
Habison, S. 17.
55
Vgl. hierzu die gründliche Arbeit von Franz Mairinger, Bischof Rudigier und das Reichsvolksschulgesetz, in: Oberösterreichische Schulblätter. Zeitschrift des christlichen Lehrervereins für Oberösterreich 70 (Heft 5, Juni 1969), S. 5-8; 71 (Heft 1, Sept. 1969), S. 5-8; 71 (Heft 2, Dez. 1969), S. 7-10; 71 (Heft 4, Mai 1970), S. 9-11; 71 (Heft 5, Juli 1970), S. 7-10; 72 (Heft 3, März 1971), S. 9-12; 73 (Heft 4, März 1972), S. 9-12; 73 (Heft 5, Mai 1972), S. 5-6; 74 (Heft 1, Okt./Nov. 1972), S.9-10. 56
Mairinger, Schulblätter 70 (Heft 5, Juni 1969), S. 6.
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kung der Rechte der Katholiken gleichkäme. Darum wollte er den ausschließlich katholischen Charakter des Volksschulwesens demonstrieren und verlegte in diesem Jahr die Lehrerprüfungen in den Bischofshof; auch ließ er zwei evangelische Kandidaten, die dazu antreten wollten, zurückweisen. 57 Die Statthalterei erhob dagegen Einspruch. Das Schulgesetz von 1868 hielt Rudigier nicht nur für einen Konkordatsbruch, er meinte, daß damit auch ein Weg zur Entchristlichung der Schule beschritten worden sei. Diese Angst war nicht ganz unbegründet. Immerhin deklarierten die oberösterreichischen Liberalen 1874 auf ihrem Parteitag die Absicht, den Religionsunterricht in den Volksschulen abzuschaffen. 58 Der Bischof bekämpfte die neuen Gesetze nicht nur verbal, er lehnte auch jede Beteiligung an ihrer Ausführung ab, würde doch sonst die Kirche selbst an einem Konkordatsbruch mitwirken. Daher kam es für ihn auch nicht in Frage, in die neu geschaffenen Landes-, Bezirks- und Ortsschulräte Geistliche zu entsenden, wie dies die Gesetze vorsahen. 59 Diese extreme Position bezog Rudigier, obwohl eine Bischofskonferenz in W i e n (2.-9. März 1869) und eine Stellungnahme des Papstes Ende März 1869 den Bischöfen diesbezüglich freie Hand gegeben hatten und andere Bischöfe die gegebenen Möglichkeiten ergriffen. 60 Rudigier berief sich dagegen auf eine Dechantenkonferenz in Linz vom 15. April 1869, bei der einstimmig beschlossen worden sei, man solle sich an den Schulräten nicht beteiligen. 61 Anderen Bischöfen wurde jedoch das Recht nicht bestritten, sich anders zu verhalten. Der Minister für Kultus und Unterricht, Karl v. Stremayr, wandte sich in einem persönlichen Schreiben vom 14. Mai 1869 an Rudigier und erinnerte ihn daran, daß die Bestimmungen über die Schulräte u. a. „den kirchlichen Organen den Boden für ein nachdrückliches und erfolgreiches Wirken sichern" sollten; er teilte auch mit, daß der Statthalter des Landes ob der Enns zwei Priester in den Landesschulrat nominiert habe, Josef Vogel, Domherr und Stadtpfarrer von Linz, sowie Josef Voraberger, Pfarrprovisor von Linz-St. Josef. 62 Der Bischof blieb jedoch hart und stimmte der Entsendung der Genannten aus den schon angeführten Gründen nicht zu. Ebenso verhielt er sich, als es um die Nominierung von Bezirksschulräten ging. In einem Schreiben vom 2. April 1870 an den betreffenden Landesausschuß argumentierte er so: Der Unterrichtsminister habe ihn seinerzeit auf die 57
Mairinger, Schulblätter 70 (Heft 5, Juni 1969), S. 8.
58
Kurt Wimmer, Liberalismus in Oberösterreich. A m Beispiel des liberal-politischen Vereins für Oberösterreich in Linz (1869-1909), Linz 1979, S. 72. 59 Leisching, S. 50. 60 61 62
Leisching, S. 50 f. Doppelbauer, Politische Reden, 337. Mairinger, Schulblätter 71 (Heft 5, Juli 1970), S. 8.
Der Linzer Bischof Franz Joseph Rudigier (1853-1884)
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Möglichkeit hingewiesen, daß mit der Beschickung der Schulräte der religiösen und sittlichen Erziehung durch die Kirche Rechnung getragen werde. Dazu meinte der Bischof jedoch: „Solange mir daher nicht die offizielle Versicherung gegeben wird, daß es katholischen Männern erlaubt werde, nur zu dem eben genannten Zwecke und nicht zur Ausführung des Schulaufsichtsgesetzes überhaupt in den Bezirksschulrat einzutreten, bin ich, wie der Hochlöbliche Landesausschuß gewiß selbst anerkennt, nicht in der Lage, den eingangs erwähnten verehrlichen Ansinnen zu entsprechen". 63
In der Folge bemühte sich Rudigier immer wieder um Abschaffung der neuen Gesetze. Seine Position hatte sich verhärtet und er vermochte die Chancen der kirchlichen Wirkungsmöglichkeiten auch innerhalb des nun gegebenen Rahmens nicht zu sehen. Ein Schreiben an den Statthalter vom 4. Juni 1873 beschloß er mit den Worten: „Wie glücklich werde ich sein, wenn ich am Abend meines Lebens, nachdem ich stets die Schule wie meinen Augapfel geliebt habe, wieder mit der Staatsgewalt zu einer gedeihlichen Schulbildung unserer lieben Jugend zusammenwirken könnte, während ich jetzt in jedem Schulhause ein verlorenes Paradies sehe". 64
Die letzten Tage Rudigiers verbitterte der Fall Rohrweck. 65 Ein Lehrer in Leonfelden namens Franz Rohrweck war angezeigt worden, daß er im Geschichtsunterricht Luther „verherrlicht" habe. Der Bischof leitete eine Untersuchung ein. Rohrweck verteidigte sich brieflich, er habe nur auf die geschichtliche Größe Luthers hingewiesen, auf seine Verdienste um die deutsche Sprache sowie darauf, daß die Protestanten nicht weniger vollkommen seien als die Katholiken; im übrigen habe er sich an das Lehrbuch gehalten. Die Gemeindevertretung von Leonfelden schrieb dem Bischof, daß ihrer Auffassung nach die erfolgte Anzeige Rohrwecks „auf unbegründeten, von persönlicher Feindschaft und religiösem Übereifer diktierten Informationen" beruhe und daher „vollkommen unbegründet" sei. Auch der Landesschulrat hatte gegen Rohrweck „nichts einzuwenden". Rudigier gab sich damit aber nicht zufrieden, er wollte sich an das Ministerium wenden und notfalls auch eine Kirchenstrafe verhängen. In seiner letzten Rede vor der Generalversammlung des katholischen Volksvereins am 21. Oktober 1884 nahm er nochmals ausführlich zur Schulfrage sowie zum Fall Rohrweck Stellung. Die Rede gipfelt in dem Satz: „Meine Männer! Was steht uns bevor, wenn dieses Schulwesen sein Unwesen noch treiben kann durch Jahre und Jahre!" 66 und endete mit dem Appell: 63
Zitiert nach Mairinger, Schulblätter 71 (Heft 5, Juli 1970), S. 9.
64
Zitiert nach Mairinger, Schulblätter 73 (Heft 4, März 1972), S. 11.
65
Ich folge in der Darstellung i m wesentlichen Johann Berndorfer, Franz Josef Rudigier, Bischof von Linz. Phil. Diss. (Maschinenschrift), W i e n 1939, S. 62-64; viel ausführlicher Meindl, Bd. 2, S. 465-486. 66
Doppelbauer, Politische Reden, S. 551.
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„Kämpfen wir für eine echt katholische Schule.. ." 6 7 Wenige Wochen später, am 29. November 1884, starb der Bischof, ohne in der Causa Rohrweck etwas erreicht zu haben. Im Abstand der Zeit erscheint uns der Fall Rohrweck als nicht sehr bedeutsam. Rudigier sah das anders. Für ihn schien die Religion auf dem Spiel zu stehen. Das erklärt sein heftiges Vorgehen.
VI. Versuch einer Bilanz 1848 hatte der 37jährige Rudigier das revolutionäre Wien verlassen, 1852 hatte ihn der Kaiser zum Bischof ernannt, 1861 war er aufgrund der neuen Verfassung zum Landtagsabgeordneten und damit zum Politiker geworden. Damals gelang es Rudigier durchaus noch, sich auf den Boden der Realität zu stellen und seine Chancen wahrzunehmen. Er benützte seine Position vor allem dazu, gegen die liberale Mehrheit im Landtag die Rechte der Kirche zu verteidigen, so wie diese im Konkordat von 1855 verbrieft worden waren. Dann kam der Schock der liberalen Maigesetze von 1868. Im Kampf gegen sie gewann der Bischof zwar Profil und wurde zum Volksbischof, er konnte auch die katholischen Kräfte sammeln, gleichzeitig begann sich jedoch bei ihm auch eine zunehmende Erstarrung abzuzeichnen. Daß die neuen Gesetze auch Verbesserungen für das Schulwesen brachten und der Kirche durchaus Wirkungsmöglichkeiten boten, vermochte er nicht mehr zu sehen. Freilich haben das gewaltsame Vorgehen gegen ihn und der gehässige Ton der liberalen Presse 68 eine positive Sicht der Dinge auch nicht gerade erleichtert. Unverständlich bleibt selbst in damaliger Sicht, warum Rudigier die Beteiligung der Kirche an den Schulräten ablehnte. Er war damit zwar nicht allein, aber immerhin haben sich die Kardinäle Othmar v. Rauscher (Wien) und Friedrich v. Schwarzenberg (Prag) sowie die Nachbarbischöfe Johann B. Zwerger (Graz-Seckau) und Maximilian v. Tarnocy (Salzburg) anders verhalten. 69 Dieser erklärte sich z. B. schon 1869 zur Mitarbeit bereit, was bald zu einer friedlichen Zusammenarbeit zwischen den kirchlichen und weltlichen Mitgliedern der Schulräte führte. 70 In der Diözese Linz vollzog Rudigiers Nachfolger Ernest Maria Müller sofort eine Wende. Als ihm vom Statthaltereipräsidium die Domherren Johann B. Spanlang und Jakob Schmidinger als Vertreter der Kirche für den Landesschulrat vorgeschlagen 67 68 69 70
Doppelbauer, Politische Reden, S. 554. Vocelka, passim; Wimmer, S. 151 f. Mairinger, Schulblätter 71 (Heft 5, Juli 1970), S. 8-9. Leisching, S. 51.
Der Linzer Bischof Franz Joseph Rudigier (1853-1884)
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wurden, teilte das Ordinariat mit, daß es „ganz einverstanden sei", was der Bischof i m Konzept dahin ausbesserte, daß es (das Ordinariat) „mit Vergnügen seine Zustimmung gebe". 71 Rudigier, der in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus große Erfolge für seine Diözese erzielt hatte und es 1884 noch erleben durfte, daß die Katholisch-Konservativen eine solide absolute Mehrheit i m Landtag erreichten, 72 war vor allem ab der zweiten Hälfte seiner Amtszeit nicht mehr flexibel genug, um die Zeichen der Zeit stets richtig zu deuten. Selbst als der politische Liberalismus längst aufgehört hatte, eine entscheidende politische Kraft zu sein, hielt der Bischof an seinem kämpferischen Kurs fest. Doch „Rudigiers Anschauungen entsprangen einer heiligen und unerschütterlichen Überzeugung", die er auch dann vertrat, wenn es Nachteile brachte. Er war geradlinig und kannte keine Winkelzüge. „Darin ... liegt seine Achtung gebietende Größe, die ihm niemand streitig machen kann". 73 Selbst die liberale Linzer Tagespost würdigte den Bischof nach seinem Tod als einen „großangelegten Mann, dem, wenn wir auch auf politischem Gebiet oft gezwungen waren, unsere Wege mit den seinen zu kreuzen, wir doch als Kirchenfürsten, als Mann und Charakter stets unsere aufrichtigste Achtung und Verehrung zollten". 74 A m besten aber wurde Rudigier von Kaiser Franz Joseph charakterisiert, der nach dem Ableben des Bischofs meinte: „Er war ein tüchtiger Bischof, aber kein kommoder." 75 Damit hat er eine „summa vitae" gezogen.
71
Maringer, Schulblätter 73 (Heft 4, März 1972), S. 9.
72
Slapnicka, OÖ. unter Kaiser Franz Joseph, S. 164.
73
Berndorfer, S. 84.
74
Slapnicka, Christlichsoziale, S. 74.
75
Balthasar Schemdl, Der Ehrwürdige Diener Gottes Franz Joseph Rudigier, Bischof von Linz, Linz 1913, S. 408.
V. Anhang
BIOGRAPHIE V O N P. JOHANNES SCHASCHING S.J.
Geboren am 1 O.März 1917 in St. Roman, Bezirk Schärding, Oberösterreich. Matura 1937 am Linzer Freinberg. Eingetreten in den Jesuitenorden im selben Jahr. Philosophisch-theologische Studien in München, W i e n und Innsbruck, sozialwissenschaftliche Studien in Innsbruck, Chicago, New York und Löwen. 1946 Priesterweihe. 1947 Doktor der Staatswissenschaften an der Universität Innsbruck. 1952 Habilitation für das Fachgebiet Spezielle Ethik und Soziologie an der Universität Innsbruck. 1957 Ernennung zum Außerordentlichen Universitätsprofessor für Christliche Philosophie. 1961 Vorstand des Instituts für Moraltheologie und Gesellschaftslehre, 1960/61 Senator an der Universität Innsbruck. 1961 Provinzial der österreichischen Ordensprovinz der Gesellschaft Jesu. 1966 Ausscheiden aus dem Bundesdienst als Außerordentlicher Universitätsprofessor für Christliche Philosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. 1966 Berufung als Professor an die Päpstliche Universität Gregoriana und Rektor des Germanicum-Hungaricum in Rom, 1969 Regionalassistent in der Generalkurie des Jesuitenordens. 1988 Consultor des päpstlichen Rates Iustitia et Pax, 1982 bis 1989 Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana, 1989 Consultor i m Uffico del Lavoro della Sede Apostolica (ULSA). 1991 Rückkehr nach Österreich, Mitarbeit in der Katholischen Sozialakademie Österreichs. Ehrendoktorat der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Linz; Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, Großes Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, Goldenes Ehrenzeichen des Bundeslandes Oberösterreich und Goldenes Komturkreuz des Bundeslandes Niederösterreich.
VERÖFFENTLICHUNGEN V O N P. JOHANNES SCHASCHING S.J.
Selbständige Veröffentlichungen Staatsbildung und Finanzentwicklung. In: Philosophie u. Grenzwissenschaften VIII (1954), H. 3/4, 114 S. Katholische Soziallehre und modernes Apostolat. Innsbruck 1956, Tyrolia, 186 S. Seelsorge, Volk und Staat. Innsbruck 1958, Tyrolia, 59 S. Kirche und industrielle Gesellschaft. W i e n 1960, Herder, 274 S. Nachtgedanken der Politiker, Manager und Prälaten. Innsbruck 1961, Tyrolia, 196 S. Röntgenbild der industriellen Gesellschaft. W i e n 1962, Verlag d. Oesterr. Gewerkschaftsbundes, 58 S. Die soziale Botschaft der Kirche von Leo XIII. bis Johannes XXIII. Innsbruck 1963, Tyrolia, 351 S. La chiesa e la société industriale, Roma 1963, Ed. Paoline, 293 S. In Sorge um Entwicklung und Frieden. Kommentar zur Enzyklika „Sollicitudo rei socialis" Johannes Pauls II., W i e n 1988, Europaverlag, 192 S. Unterwegs mit den Menschen, W i e n 1991, Europaverlag, 193 S.
Mitarbeit an Sammelwerken Soziologie der Pfarre. In: Hugo Rahner, Die Pfarre, Freiburg 1956, Herder, S. 97-124 Soziologie und Philosophie. In: Aufgaben der Philosophie, hrsg. von E. Coreth / O. Muck / J. Schasching. In: Philosophie und Grenzwissenschaften IX (1958), H. 2, S. 159-199 Volk und Staat im Licht des Naturrechtes und der katholischen Soziallehre. In: Der Weg. Bozen 1958, 16 S. Mitarbeit am Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3 u. 6, Freiburg 1959 u. 1961, Herder Die Freizeit als Problem der Freiheit. In: Das dritte Milieu und seine Bewältigung, Innsbruck 1961, Tyrolia, S. 9-14 Soziologischer und sozialphilosophischer Pluralismus. In: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft. Festschrift f. Prof. J. Messner, W i e n 1961, Tyrolia, S. 207217 Recht und Gesellschaft. In: Staatslexikon, Bd. 6, Freiburg 61961, Herder, Sp. 635638 29 Festschrift Schasching
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Veröffentlichungen von P. Johannes Schasching S.J.
Der Begriff des Religiösen in der Religionssoziologie. In: Festschrift für Gustav Gundlach (Jahrbuch des Institutes für christliche Sozialwissenschaften), Münster 1962, S. 93-107 Universalismus. In: Staatslexikon, Bd. 7, Freiburg 61962, Herder, Sp. 1141-1144 Die gesellschaftliche Situation. In: Missionarische Kirche — Missionarische Seelsorge, W i e n 1963, Herder, S. 24-34 Das Verhältnis der Kirche zur sozialen Dynamik der Gegenwart. In: Handbuch der Pastoraltheologie, Bd. U/2, Freiburg 1966, Herder, S. 319-336 Die Ethik der zwischenstaatlichen Beziehungen. In: Seminarium 28 (1988), S. 69-77 Für eine menschengerechte Arbeitsordnung. Von Rerum Novarum zu Laborem Exercens: Klein W./Krämer W. (ed.), Sinn und Zukunft der Arbeit, Konsequenzen aus Laborem exercens, Düsseldorf 1982, Patmos, S. 27-35 Texte zur katholischen Soziallehre, Hrsg. Nell-Breuning/Schasching, Kevelaer 1989, Ketteler Verlag, 768 S. Centesimus annus, una nueva cultura del trabajo. In: Tened en cuenta . . . Valencia 1991, EDICEP. S. 101-116 Aufsätze und Abhandlungen Das Schweigen um Quadragesimo anno. In: Wort und Wahrheit 9 (1954), S. 73-76 Die gesellschaftliche Verantwortung der Christen. In: Großer Entschluß 10 (1955), S. 266-268 u. 309-312 Der Christ und die Gewerkschaft. Ebd., S. 363-366 Arbeiterapostolat — Arbeiterbewegung. Ebd., S. 404-407 Der Kampf um die Freizeit. Ebd., S. 520-522 Der Gruppeneffekt. In: Großer Entschluß 11 (1956), S. 24-26 Die Verantwortung für den Staat. Ebd., S. 64-65 Soziologische Gedanken zur Fastenzeit. Ebd., S. 215-217 Die Kirche in der Gesellschaft am Fließband. Ebd., S. 305-307 Das neue Fest der Arbeit. Ebd., S. 337-338 Die Soziale Frage von heute. In: Großer Entschluß 12 (1957), S. 13-16 Demonstrativer Konsum. Ebd., S. 73-75 Soziologie der Pfarre. Ebd., S. 118-121 u. 164-166 Die gleitende Arbeitswoche. Ebd., S. 235-238. Von der Last und Würde der Arbeit. Ebd., S. 207-209 Soziologie der Pendler. Ebd., S. 313-316 Haben wir noch eine Klassengesellschaft? Ebd., S. 403-407 Die seelisch-religiöse Lage der österreichischen Arbeiterschaft. In: Die Kirche und die W e l t des Arbeiters, W i e n 1957, Herder, S. 57-70 25 Jahre später? In: Arbeit und Wirtschaft 11 (1957), S. 35-36 Die soziale Verantwortung der Frau. In: Führungsblatt 5 (1957), S. 12-15 Die industrielle Arbeitswelt. In: Welt in Christus (1957), S. 9-13
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Josef Biederlack und die Soziale Frage. In: Zs. f. kath. Theologie 80 (1958), S. 211-225 Sozialprobleme des Vorderen Orients. In: Orientierung 22 (1958), S. 66-69 Seelsorge und gesellschaftliche Wirklichkeit. In: Anima 13 (1958), S. 271-278 W o liegt der Rubikon? In: Großer Entschluß 13 (1958), S. 337-339 Das Recht der völkischen Minderheit. Ebd., S. 459-460 Gesetz und Schlichtung der wirtschaftlichen Großgruppen und ihre theoretische Begründung. In: Schriftenreihe d. Inst. f. Sozialpolitik und Sozialreform, H. 10 (1958), S. 7-14 Sozialismus und Weltanschauung. In: Großer Entschluß 14 (1959, S. 165-168 Kirche und demokratischer Sozialismus. Ebd., S. 207-209 Die Frage der Weltanschauung. In: Kirche und Sozialismus. Innsbruck 1959, Tyrolia, S. 34-59 Freizeit der Frau in der industriellen Gesellschaft. In: Führungsblatt 7 (1959), S. 6-7 Die Diskussion geht weiter. In: Großer Entschluß 15 (1960), S. 304-309 Der österreichische Sozialismus. In: Orientierung 24 (1960), S. 77-79 70 Jahre katholische Soziallehre. In: Welt in Christus, 1960, S. 1-6 Der geistesgeschichtliche und ideologiekritische Standort des Mittelalters. In: W i r t schaftspol. Blätter 7 (1960), S. 260-261 Das gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Ordnungsbild der Sozialenzykliken. In: Schriftenreihe d. Inst. f. Sozialpolitik und Sozialreform 1961, S. 19-28 Rechtsnorm und soziale Kontrolle. In: Archiv f. Rechts- u. Sozialphil. 1961 N. Folge 1 (Beiheft 38), S. 87-100 Sociologie de la paroisse. Paroisse 1961 Le socialisme en Autriche. In: Choisir 2 (1961), S. 18-21 Die Struktur der österreichischen Gesellschaft. In: Laie in der Kirche 1961, S. 111-131 70 Jahre katholische Soziallehre. In: Großer Entschluß 16 (1961), S. 356-361 Die gesellschaftlichen Probleme der freien Welt. Ebd., S. 461-465 u. 514-516 Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnungsbild der Sozialenzykliken. In: Civitas 16(1961), S. 383-391 Die gesellschaftliche Wirklichkeit in Oesterreich. In: Großer Entschluß 17 (1962), S.521-527 Die soziologische Situation der Freiheit. Ebd. 18 (1963), S. 78-82 Die gesellschaftliche Situation. In: Kirche i m Osten. Stuttgart 1963, S. 24-34 Soziologische Aspekte der Jungfräulichkeit.. In: Seelsorger 34 (1964), S. 69-75 Die gesellschaftliche Wirklichkeit in Oesterreich. In: Löscht den Geist nicht aus, Innsbruck 1963, Tyrolia, S. 56-65 Der Christ im Industriebetrieb. In: Missionarische Kirche — missionarische Seelsorge, W i e n 1963, Herder, S. 314-325 Das Versagen der Kirche i m Sozialen. In: Vitamine 19 (1964), Grenzach-Baden 1964, S. 421-424 u. 446-448 Die heutige Jugend in Arbeit und Beruf. In: Jugend und Kirche, W i e n 1962, Herold, S. 55-66 29*
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Veröffentlichungen von P. Johannes Schasching S.J.
Die Stellung des Arbeiters und Angestellten in der heutigen Gesellschaft. In: Seelsorger 32 (1962), S. 215-219 Vom Primat der Liebe zum Primat der Aktie? In: Gedanken zu Hochhuths Schauspiel „Der Stellvertreter", W i e n 1964, Herold, S. 33-40 Soziologie und Sozialethik. In: Soziologie und Soziologiestudium, Wien-New York 1966, Springer, S. 97-104 Kirche und Soziale Frage. In: Kirche in Oesterreich 1918-1965, W i e n 1966, Herold, S. 241-257 Gesetz und Gewissen. In: Männer, Bürger, Christen, Innsbruck 1967, Tyrolia, S. 13-18 Standort von Populorum progressio in der christlichen Soziallehre. In: Populorum progressio und wir, W i e n 1968, K. Wedl, S. 2-29 Gesellschaftlicher Wandel und katholische Verbände. In: Verbandskatholizismus, Kevelaer 1968, Butzen und Bercker, S. 43-57 Wirtschaft und Gesellschaft: Arbeit gestaltet die Welt. In: Mitten in dieser Welt (82. Deutscher Katholikentag), Paderborn 1968, Bonifacius-Druckerei, S. 373-383 Im Spannungsfeld von Wirtschaft und Ethik. In: Contact 10 (1970), S. 81-90 Die Frau in der Krise und Verantwortung der Gesellschaft. In: Bundestagung der 17. Generalversammlung des kath. Frauenbundes, Köln 1970, Eigenverlag, S. 10-20 Mensch bleiben in Beruf und Wirtschaft. In: Menschlicher Fortschritt — wohin?, Düsseldorf 1969, Haus Altenberg, S. 35-43 Gemeinde Gottes in der Gesellschaft. In: Gemeinde des Herrn (83. Deutscher Katholikentag), Paderborn 1970, Bonifacius-Druckerei, S. 151-166 Entscheidung i m Spannungsfeld von Wirtschaft und Ethik. In: Menschen im Entscheidungsprozeß, W i e n 1971, Herder, S. 277-288 Soziologische Aspekte in der Katholizismusforschung. In: A. Rauscher, Entwicklungslinien des deutschen Katholizismus, München 1973, Schöningh, S. 50-55 Ausbildung für die kirchliche Sozialhilfe. In: Seminarium 1972, S. 834-848 Einberufung und Vorbereitung der Generalkongregation des Jesuitenordens. In: Geist und Leben 46 (1973), S. 383-391 Gerechtigkeit und Evangelisierung. In: Theol.-prakt. Quartalschr. 122 (1974), S. 143149 Konflikt als Herausforderung und Aufgabe. In: Arbeit und Gemeinschaft, Mai 1975, S. 1-4 Condicionamiento y dinamica de la doctrina social catôlica. In: Tierra nuova 1975, S. 30-40 Gesellschaftliche Konflikte und christliche Versöhnung. In: Versöhnung — Herausforderung an den Menschen von heute, Augsburg 1975, Katholische Akademie, S. 102-109 Der Sozialkatholizismus. In: Gesellschaft und Politik (Festschrift f. Joh. Messner), W i e n 1976, Inst. f. Sozialpolitik und Sozialreform, S. 96-101 II futuro della religione. In: Pensare il futuro, Roma 1977, Ed. Paoline, S. 215-225 Geschichtliche Bedingtheit und inner Dynamik der Katholischen Soziallehre. In: Freiheit und Christliche Soziallehre, Köln 1977, Hanstein Verlag, S. 29-42
Veröffentlichungen von P. Johannes Schasching S.J. Toleranz als Achtung des Anderen aus eigener Überzeugung. In: Staatsethik, Köln 1977, Hanstein Verlag Die Zukunft der Religion. In: Hat der Mensch noch eine Zukunft?, Augsburg 1977, Katholische Akademie, S. 52-64 Projekt Gemeinschaft. In: Ordensnachrichten 104 (1977), S. 559-567 Die Soziologie in der pastoreilen Ausbildung der Theologen. In: Seminarium 1978, S. 425-437 Die weltanschaulichen Grundströmungen und ihre Zukunftsperspektiven. In: Konferenzblatt 89 (1978), S. 1-7 Ist der italienische Katholizismus europareif? Ebd., S. 8-12 Soziologie der Gesellschaft Jesu. In: Zeitschr. f. Kath. Theol. 101 (1979), S. 275-289 Aspetti sociologici della terza età. In: La Terza Età, Roma 1979, Centrum Ignatianum Spiritualitatis, S. 9-21 Wohlstandsgesellschaft und soziale Randschichten. In: Entschluß 34 (1979), S. 23-24 Inculturazione nel mondo occidentale. In: Inculturazione, Roma 1979, Centrum Ignatianum Spiritualitatis, S. 54-66 Vaterlose Gesellschaft? In: Vaterlose Gesellschaft, Schriftenreihe des Katholischen Familienverbandes 7, W i e n 1979, Eigenverlag, S. 7-18 Sinnfrage in einer sinnwidrigen Gesellschaft. In: Gottesfrage als Sinnfrage, Augsburg 1979, Katholische Akademie, S. 99-103 Die Soziologie in der pastoralen Ausbildung des Theologen. In: Seminarium 18 (1978), S. 425-437 Soziallehre der Kirche unter Papst Johannes Paul II. In: Apostolat und Familie, Festschrift für Opilio Rossi, Berlin 1980, Duncker & Humblot, S. 129-134 Vaterlose Gesellschaft? Ebd., S. 437-450 Rerum Novarum: das SOS Programm Leos' XIII. In: Dokumente, St. Poelten, Pressehaus, 1980, S. 149-153 Gesellschaftspolitik heute. In: Erfahrungsbezogene Ethik, Berlin 1981, Duncker & Humblot, S. 345-353 Ist die Gottesfrage noch eine Realität in der kommenden Gesellschaft? In: Der eine Gott und die vielen Religionen, Augsburg 1981, Katholische Akademie, S. 84-89 Die gesellschaftspolitischen Impulse und Imperative des Papstes Johannes Pauls II. In: Gesellschaft und Politik 1 (1981), S. 26-31 L'uomo e il lavoro. Dalla „Rerum Novarum" alla „Laborem exercens". — Ras Teol 23 (1982), S. 1-9 Zur Entstehungsgeschichte von Laborem exercens. In: Wirtschafts-Politische Blätter 2 (1982), S. 11-13 Für eine menschengerechte Arbeitsordnung. In: Sinn und Zukunft der Arbeit, Mainz 1982, Matthias-Grünewald-Verlag, S. 27-35 The Originality and Importance of Laborem Exercens. In: Rerum Novarum — Laborem Exercens — 2000, Roma 1982, Pontificia Commissio Iustitia et Pax, S. 137-146
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Veröffentlichungen von P. Johannes Schasching S.J.
Die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche in Österreich. In: Humanes und Urbanes, St. Poelten 1982, Niederösterreichisches Pressehaus, S. 43-52 La Chiesa e la cultura industriale. In: The common Christian Roots of the European Nations, Florence 1982, Le Monnier, S. 1159-1164 L'homme et le travail. In: Didaskalia X I I (1982), S. 233-242 Fortschritt und Entwicklung der ländlichen und bäuerlichen Welt. In: I.C.R.A., Rom 1983, S. 2-20 L'educazione ai diritti dell'uomo nei seminari. In: Seminarium 35 (1983), S. 406-414 Inculturazione nel mondo occidentale. In: Inculturazione, C.I.S., Roma 1983, S. 54-66 Die Frage der Umverteilung. In: Gesellschaft und Politik, 1983/3, Wien, S. 6-13 Intentionen und Interpretationen von „Laborem exercens". In: Arbeit, Mainz 1984, S. 17-24 Vom Klassenkampf zur Kultur der Solidarität. In: Pro Fide et Iustitia, Berlin 1984, S. 817-829 Die soziale Frage. In: Das neue Naturrecht, Gedächtnisschrift für Joh. Messner, Berlin 1985, S. 161-180 La Famiglia e la Comunità. In: Vogliamo educare i nostri figli, Milano 1985, S. 140-147 Secolarizzazione e evangelizzazione nell'Europa d'oggi. — CivCatt 136 (1985), S. 429-436 La Dottrina sociale della Chiesa di fronte alla sfida dei problemi economici attuali. In: II problemo del nuovo nella teologia morale, Roma 1986, S. 159-262 Wert und Würde der menschlichen Arbeit. In: The spirit of Competition (16. Internationales Gespräch), St. Gallen 1986, S. 161-165 Intuition und Wirklichkeit. In: Agrarische Rundschau 1986/1, S. 26-29 Verantwortliche Gesellschaft und ökonomische Rationalität. In: Gesellschaft und Politik 1986/2, S. 14-21 Etica e transformazioni tecnologiche. In: Vita e Pensiero, Milano 1987, S. 232-240 Etica e sviluppo dei popoli. In: Orientamenti 6/7, Milano 1987, S. 27-36 Dalla lotta di classe alla cultura della solidarietà. In: Vaticano II. (Bilancio e Prospettive), Assisi 1987, S. 1454-1467 Ο Futuro do Trabalho. In: Broteria 125/6, Lisboa 1987, S. 556-561 Das Subsidiaritätsprinzip. In: Gregorianum 69/2, Rom 1988, S. 413-433 Die Ethik der zwischenstaatlichen Beziehungen. In: Seminarium 28 (1988), S. 69-77 Europa zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Imperativen. In: Verantwortung in unserer Zeit, Festschrift für Rudolf Kirchschläger, W i e n 1990, Österr. Staatsdruckerei, S. 201-210 Die Sozialenzykliken der Päpste. In: Theologisch-praktische Quartalschrift 138 (1990), S. 3-15 25 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil. In: Internationale katholische Zeitschrift 19 (1990), S. 497-505
VERZEICHNIS DER HERAUSGEBER UND AUTOREN
Prof. Dr. Heribert Berger, (Innsbruck) Dekan Prälat Prof. Dr. Franco Biffi,
(Vatikanstadt)
Dr. Erhard Busek, Vizekanzler und Bundesminister für Wissenschaft und Forschung (Wien) Prof. P. Dr. Hervé Carrier S.J., Sekretär des Päpstlichen Rates für Kultur, (Vatikanstadt) DDr. Dr. h. c. mult. Agostino Heiligkeit (Vatikanstadt)
Kardinal
Casaroli, em. Staatssekretär Sr.
Prof. P. Dr. Klaus Demmer MSC., (Rom) Prof. Dr. Irene Dyk, Abg. zum oberösterreichischen Landtag, (Linz) Ass. Dr. Ingeborg Gabriel, (Wien) Prof. DDr. Walter Kerber SJ., (München) Dr. Dr. h. c. mult. Rudolf Kirchschläger,
Bundespräsident a. D., (Wien)
Dr. Josef Klaus, Bundeskanzler a. D., (Wien) Prof. DDDr. Alfred Klose, (Wien) Dekan Prof. Dr. Heribert Franz Köck, M.C.L., (Linz) Volksanwalt Dr. Herbert Kohlmaier, (Wien) DDr. Dr. h. c. mult. Franz Kardinal König, Alterzbischof von Wien, (Wien) Bischof Dr. Alfred Kostelecky, konferenz, (Wien)
Sekretär der Österreichischen Bischofs-
Prälat Prof. DDr. Dr. h. c. Josef Lenzenweger, (Wien) Prof. P. Dr. Julius Morel SJ., (Innsbruck) Prof. Dr. Gerhard Müller, Präsident des Bundesarbeitsgerichts a. D., (Kassel) Prof. P. Dr. Edgar Nawroth OP (Vechta) Prof. DDr. Dr. h. c. Robert Prantner, Ao. Gesandter und Bev. Minister, (Wien) Prodekan Prof. DDr. Johann Reikerstorfer,
(Wien)
Prof. Dr. Ferdinand Reisinger, (Linz/St. Florian)
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Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
DDr. Opilio Kardinal Rossi, früherer Apostolischer Nuntius in Österreich, (Vatikanstadt) Prof. Dr. Herbert Schambeck, Vizepräsident des Bundesrates, (Linz) Dr. Wolfgang Schmitz, Bundesminister für Finanzen a. D. und Präsident a. D. der Oesterreichischen Nationalbank, (Wien) DDr. Donato Squicciarini, Apostolischer Nuntius in Österreich, TitularErzbischof von Tiburnia, (Wien) Prof. Dr. Franz Josef Stegmann, (Bochum) Prof. Dr. Erich Streissler,
(Wien)
Bischof Dr. Alois Wagner, Vizepräsident des Päpstlichen Rates Cor Unum, (Vatikanstadt) Prälat Prof. DDr. Rudolf Weiler,
(Wien)
Prof. Dr. Rudolf Zinnhobler, (Linz)