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German Pages 1132 Year 1999
Dem Staate, was des Staatesder Kirche, was der Kirche ist Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag
Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Otto Depenheuer · Alexander Hollerbach · Josef Isensee Joseph List! · Wolfgang Losehelder · Hans Maier · Paul Mikat Stefan Mucke! · Christian Starck · Wolfgang Rüfner
Band 33
Dem Staate, was des Staates der Kirche, was der Kirche ist Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Josef Isensee, Wilhelm Rees
und Wolfgang Rüfner
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Dem Staate, was des Staates - der Kirche, was der Kirche ist :
Festschrift für Joseph List! zum 70. Geburtstag I hrsg. von Josef Isensee . . . - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen ; Bd. 33) ISBN 3-428-09814-5
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0720-7247 ISBN 3-428-09814-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9
Vorwort Dem Kaiser zu geben, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist, das ethische Verteilungsprinzip des Christentums, erscheint im Verhältnis von Staat und Kirche auch als Aufgabe des Rechts, sowohl des Staatsrechts als auch des Kirchenrechts. Seit zweitausend Jahren ringen Staat und Kirche um die richtige Regelung ihrer Beziehungen und darin um die Bestimmung ihrer eigenen Identität. Die Entwicklung kommt niemals endgültig zur Ruhe. Weltweite Anerkennung finden zwar heute die Prinzipien der Säkularität des Staates und der Religionsfreiheit als Menschenrecht. Doch für die institutionelle Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche gibt es kein universales Konzept. Der modus vivendi der Institutionen folgt den religiösen, kulturellen und politischen Gegebenheiten des einzelnen Landes, wie sie sich geschichtlich herausgebildet haben. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland. In seinen staatskirchenrechtlichen Regelungen lebt das Gedächtnis des Volkes, das hinter die geltende Verfassung zurückreicht, die Erfahrung der Glaubensspaltung, des konfessionellen Ausgleichs und der politischen Einung. Es verkörpert ein Stück nationaler Identität. In kunstvoller, behutsamer Weise stellt das deutsche Staatskirchenrecht die concordantia oppositorum her zwischen individualer und korporativer Religionsfreiheit, zwischen Rechtsgleichheit und Parität, Trennung und Zusammenarbeit, Weltlichkeit und Offenheit zur Religion, zwischen Unabhängigkeit der Kirchen vom Staat und ihrer Förderung durch den Staat. Die Sicht des Staatsrechts und die des katholischen Kirchenrechts stimmen nicht überein. Die Rechtsordnungen sind nicht identisch. Die eine läßt sich nicht aus der anderen ableiten. Sie stehen auf unterschiedlichen Fundamenten und haben unterschiedliche Reichweite. Doch sie überschneiden sich teilweise. Damit sind Kollisionen möglich. Diese aber sind in der Praxis durchwegs lösbar, wenn beide Seiten guten Willens sind. Ein struktureller Widerspruch besteht nicht. Der säkulare Staat beansprucht keine Kompetenz über religiöse Wahrheit, achtet die Selbstbestimmung der Kirche in ihren Angelegenheiten und respektiert ihr Selbstverständnis. Die Kirche aber bejaht die säkulare Ordnung grundrechtlicher und demokratischer Freiheit, die der Staat allen Bürgern bereitstellt, und sie ergreift die Freiheit als Chance, ihren Auftrag in der Welt zu erfüllen. In beiden Rechtsordnungen beheimatet ist Joseph Listl. Er widmet sich sowohl dem Staatskirchenrecht als integralem Bestandteil des deutschen Staatsrechts als auch seinem kirchenrechtlichen Seitenstück, dem ius publicum ecclesiasticum. Dazu ist er kraft seiner doppelten Kompetenz berufen: als Jurist und als Theologe, als Staatsrechtslehrer und als Kanonist. Eine seltene Kombination der Fächer. Eine einzigartige Figur in der Wissenschaftslandschaft Der erste katholische Priester
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Vorwort
des Jesuitenordens, der zugleich Mitglied der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer ist. Joseph Listl hat in dem zwiefachen Recht der Beziehungen von Staat und Kirche seine Lebensaufgabe gefunden, der er sich mit ganzer Hingabe und großer Wirkung widmet: die rechtlichen Beziehungen mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung zu durchdringen, zu erfassen und zu entwickeln, und so dem Staate zu geben, was des Staates, der Kirche, was der Kirche ist. Der reiche literarische Ertrag wird in der Bibliographie dieser Festschrift quantitativ registriert. Ein wenig von der Wertschätzung, welche die Qualität in der Wissenschaft wie in der Praxis genießt, spiegelt sich in den Beiträgen. Der Werdegang: Joseph Listl stammt aus einer oberpfälzischen Bauemfamilie.
In Mariaort bei Regensburg am 21. Oktober 1929 geboren, verbringt er die Schul-
zeit in seiner Heimat und legt im Juli 1948 am Alten Gymnasium in Regensburg die Reifeprüfung ab. Alsbald tritt er am 14. 9. 1948 in das Noviziat der Gesellschaft Jesu in Pullach ein. Seitdem gehört er der süddeutschen Provinz des Jesuitenordens an. Nach dem Studium der Philosphie in Pullach, einer zweijährigen Tätigkeit als Präfekt am Kolleg in St. Blasien und dem Studium der Theologie in St. Georgen in Frankfurt/Main wird er am 31. Juli 1958 zum Priester geweiht. Das Tertiatin Drongen (Belgien) schließt sich an (1959-1960). Danach beginnt im Leben des Jesuitenpaters ein neuer Abschnitt. Joseph Listl beginnt im WS 1960/61 mit dem Studium der Rechtswissenschaft an der Rechts-· und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn, das er im Februar 1966 mit der ersten juristischen Staatsprüfung abschließt. In Bonn findert er die akademischen Lehrer Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner, die in ihrem unterschiedlichen wissenschaftlichen Temperament (übrigens auch unterschiedlicher Konfessionalität) ihn prägen sollen. Ulrich Scheuner betreut die Dissertation, mit der er 1970 promoviert wird: "Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland". Im Jahre 1977 folgt die Habilitation an der Juristischen Fakultät der Universität Bochum, mit der venia legendi für die Fächer Staatsrecht und Kirchenrecht, aufgrund der von Paul Mikat betreuten Schrift "Kirche und Staat in der neueren Kirchenrechtswissenschaft". Wenige Monate später wird er zum Wintersemester 1977 /78 zum ordentlichen Professor für Kirchenrecht an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Augsburg berufen. Dort bleibt er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1998 tätig. Dem Ruf auf den Lehrstuhl für öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Juristischen Fakultät der Universität zu Köln, der ihn 1983 erreicht, folgt er nicht.
Neben dem kanonistischen Lehrstuhl in Augsburg findet Joseph Listl eine außeruniversitäre Wirkungsstätte im Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands in Bonn. Dieses Institut ist sein Werk. Er ist sein geistiger Vater, er setzt die Idee in die Wirklichkeit um, gibt die Impulse, leistet die Kärrnerarbeit, erfüllt das Institut mit Leben. Kaum promoviert, wird er am 1. Januar 1971 bei der
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Gründung des Instituts dessen Direktor und bleibt es 27 Jahre lang bis zu seiner Verabschiedung 1997. Das Institut bildet die Basis seiner wissenschaftlichen Arbeit, seiner organisatorischen und beratenden Aktivitäten in staatskirchenrechtlichen Fragen, des Wissenschaftsmanagements. Bedeutendste Früchte sind große Gemeinschaftswerke, die von ihm initiiert und (mit-)herausgegeben worden sind: vor allem das zweibändige Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (1. Aufl. 1974175,2. Aufl. 1994195), das Handbuch des katholischen Kirchenrechts (1. Aufl. 1983, 2. Aufl. 1999) sowie die Edition der Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland (1987). Der Kirche leistet er wichtige Dienste in der Beantwortung unzähliger Anfragen in Korrespondenz, kürzeren und größeren Gutachten. Das Institut wird zum Ort der Begegnung für fachlich Interessierte aus aller Welt, zum Koordinationszentrum für wissenschaftliche und didaktische Veranstaltungen, zur Anlaufstelle für staatskirchenrechtliche Fragen im Bereich der katholischen Kirche und in der Zusammenarbeit der christlichen Kirchen in Deutschland, des Informationsaustauschs über die Grenzen des eigenen Landes und Kontinents hinaus. Joseph Listl bringt die Energie, die Robustheit, die Selbstdisziplin und die Amtscourage auf, um den vielfachen Herausforderungen der Bilokalität in Augsburg und in Bonn standzuhalten. Der siebzigste Geburtstag Joseph Listls am 21. Oktober 1999 gibt den Anlaß, als Zeichen des Dankes, der Achtung und des Respekts ihm diese Festschrift zu überreichen. Bonn I Innsbruck I Köln, im August 1999 Josef /sensee
Wilhelm Rees
Wolfgang Rüfner
Inhaltsverzeichnis I. Fundamente der Beziehungen von Staat und Kirche GerdaRiedl
"So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört" (Mk 12,17). Staatsmacht und Glaubensgemeinschaft- Exemplarische Überlegungen zum Verständnishorizont frühchristlichen Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Markus Heintzen
Die Kirchen im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alexander Hollerbach
Rechts- und Staatsdenken im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit
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Josef Isensee
Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts - Gegenwärtige Legitimationsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hermann E. J. Kalinna
Plädoyer für eine nüchterne Ökumene. Anmerkungen zur Entstehung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Der säkulare Staat und die Religion Walter Leisner
Geglaubtes Recht. Säkularisierte religiöse Grundlagen der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . 115 Anton Ziegenaus
Kirchliche Feiertage in einem religiös neutralen Staat. Die anthropologische Bedeutung des Festes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Helmut Lecheier
Die wissenschaftliche Vorbildung der Geistlichen als Herausforderung an das deutsche staats-kirchen-rechtliche System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Inhaltsverzeichnis
X
Josef Kremsmair
Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche . . . .. . . . . .. . . . . .. . .. . . . .. . . . .. . . .. . . . .. . . . . . . .. 157 Bemhard Losch
Die Staatsauffassung Theodor Fontanes und seine Einstellung zur staatlichen Kirchenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
111. Religions- und Gewissensfreiheit
Gerhard Robbers
Religionsfreiheit in Europa .......................................... .. .............. 201 Winfried Kluth
Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die allgemeine Geltung der Gesetze. Überlegungen zur situativen Normdurchbrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Stefan Mucket
Religionsfreiheit für Muslime in Deutschland . . .. .. . .. . .. . . . . .. . . . .. . . .. . . . .. . . . .. . . 239 Matthias Jestaedt
Grundrechtsschutz vor staatlich aufgedrängter Ansicht. Das Kopftuch der Lehrerin als Exempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Hartmut Maurer
Ein schweizerisches Kruzifix-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Hugo Schwendenwein
Das neue Österreichische Gesetz über die religiösen Bekenntnisgemeinschaften . . . . . . 309 Piter Erdö
Religiöse Minderheiten im ungarischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
IV. Religionsunterricht und Schule
Wolfgang Losehelder
Grenzen staatlicher Wertevermittlung in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Wilhelm Rees
Katholische Schule und Religionsunterricht als Verwirklichung von Religionsfreiheit. Kirchenrechtlicher Anspruch und staatliche Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Inhaltsverzeichnis
XI
Christian Starck Religionsunterricht in Brandenburg. Art. 141 GG als Ausnahme von der Regel des Art. 7 Abs. 3 GG .................................................................... 391 Richard Puza Rechtsfragen um den Religionsunterricht und das brandenburgische Unterrichtsfach LER ................................................................................ 407
V. Kirchenorganisation und Kirchendienst Wolfgang Rüfner Die Gründung juristischer Personen des öffentlichen Rechts durch die Kirchen . . . . . . 431 Alfred Albrecht Die mittelbare Kirchenverwaltung. Rechtslehre und Staatspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Burkhard Kämper Zusammenlegung katholischer Kirchengemeinden - Gründe, rechtliche Voraussetzungen und praktische Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Reinhard Richardi Preisgabe kirchlicher Einrichtungen durch Ausgliederung in eine Kapitalgesellschaft
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Dieter Lorenz Kirchenaustritt und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Christoph Link Ruhestandsversetzung von Pfarrern wegen "nichtgedeihlichen Zusammenwirkens" mit der Gemeinde und kirchliches Selbstbestimmungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Josef Jurina Zur Entwicklung des "Dritten Weges" in der Katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Andreas Weiß Die Richtlinien über persönliche Anforderungen an Diakone und Laien im pastoralen Dienst im Hinblick auf Ehe und Familie vom 28. September 1995 . . . . . . . . . . . . . . . 543 Wilhelm Dütz Arbeitsgerichtliche Überprüfung von kollektiven kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen .................................................................................. 573
XII
Inhaltsverzeichnis
PeterAxer
Staat und Kirche im Sozialversicherungsrecht Kirchliche Betätigung zwischen Sozialversicherungspflicht und Sozialversicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
VI. Kirchengut und Kirchensteuer Dietrich Pirson
Kirchengut- Religionsfreiheit- Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Helmuth Pree
Reichnisse - ein sterbendes Rechtsinstitut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Manfred Baldus
Der Bergische Schulfonds: ehemaliges Jesuitenvermögen unter staatlicher Sonderverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Engelbert Niebier
St. Salvator und das Bundesverfassungsgericht. Bericht über eine staatskirchenrechtliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 Kar[ Eugen Schlief
Die Steuerreformen und die Kirchen. Kindergeld, Kinderfreibetrag und § 51 a EStG als Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Christian Meyer
Die Rechtsprechung zur Kirchensteuererhebung in Fällen der Lohnsteuerpauschalierung ................................................................................. 699
VII. Konkordate und Kirchenverträge Louis Carlen
Die Lateranverträge von 1929 in der Schweizer Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 GeorgMay
Listen von Bischofskandidaten in den deutschen Konkordaten und Kirchenverträgen
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Stephan Haering
Die Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und den neuen Bundesländern aus den Jahren 1994 bis 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
Inhaltsverzeichnis
XIII
VIII. Kirchenrecht
Winfried Aymans Das Problem der Defektionsklauseln im kanonischen Eherecht. Plädoyer für die Tilgung des Befreiungstatbestandes eines "actus formalis defectionis ab Ecclesia catho797 lica" in den cc. 1086 § 1, 1117 und 1124 CIC 00
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Paul Wirth Trau- und Eheverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 Bruno Primetshofer Ordinatio ad prolem. Überlegungen zu einer rechtlichen Tragweite von c. 1055 § 1 . . 823 Joachim Piegsa Das ,Paulinische Privileg' aus moraltheologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 Johann Hirnsperger Die Diözesansynode. Bemerkungen zu den einschlägigen Normen des CIC unter besonderer Berücksichtigung der Instruktion vom 19. März 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855 Heribert Schmitz Die Rechtsfigur des nichtresidierenden Domkapitulars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875 Peter von Tiling Die weltlich-rechtliche Rechtsstellung des vor einem Kirchengericht auftretenden Zeugen .............................................................................. 893 Walter Brandmüller Bischof Konrad Martin von Paderbom und die Römische Index-Kongregation im Jahre 1874 905 00
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IX. Recht und Moral
Clemens Breuer Recht und Moral. Eine Auseinandersetzung zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus .............................................................................. 935 Otto Luchterhandt Die "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" des InterAction Council und Art. 29 AEMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967
XIV
Inhaltsverzeichnis
Herben Schamheck
Zur Demokratie in der Soziallehre Papst Johannes Pauls II ........................... 1003 Anton Rauscher
Das Grundgesetz in der Rechtskultur und Politik der Bundesrepublik Deutschland ... 1023 Bernd Mathias Kremer
Der Junggeselle im Recht. Eine nicht so todernste juristische Studie ................. 1033
X. Wissenschaftliche Einrichtungen Heiner Marre
Joseph List! und die Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche ............... 1049 Günter Assenmacher 50 Jahre Offizialentagung ........................................................... 1063 Axel Frhr. von Campenhausen
Bemerkungen zum Kirchenrechtlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland ................................................................................. 1087
Wissenschaftliche Gesamtbibliographie Joseph List! ................................... 1097
Verzeichnis der Mitarbeiter ...
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I. Fundamente der Beziehungen von Staat und Kirche
"So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört" (Mk 12,17) Staatsmacht und Glaubensgemeinschaft Exemplarische Überlegungen zum Verständnishorizont frühchristlichen Rechtsdenkens Von Gerda Riedl
I. Nichtchristliche Staatsmacht und christliche Glaubensgemeinschaft in der kirchlichen Frühzeit - Ein forschungsorientierter Problemaufriß
Die Beziehung zwischen der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit (1./2. Jahrhundert) und den nachgeordnet-jüdischen, teilautark-hellenistischen oder genuin-römischen Staatsmächten erfreut sich seit langem besonderer Aufmerksamkeit der Forschung. Eine Vielzahl entsprechender Arbeiten widmet sich einschlägigen Texten unter theologisch-exegetischen, politisch-sozialen oder historisch-philologischen Gesichtspunkten. 1 Staats- oder gar kirchenrechtliche 1 Die einschlägige Forschungsliteratur ist kaum mehr überschaubar. Unter den Überblicksdarstellungen verdienen jedoch besondere Erwähnung Hugo Rahner: Kirche und Staat im frühen Christentum. Dokumente aus acht Jahrhunderten und ihre Deutung (1943). München 1961; Jakob Speigl: Der römische Staat und die Christen. Staat und Kirche von Domitian bis Commodus. Amsterdam 1970; Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum im römischen Staat (WdF 267). Darmstadt 1971; Wolfgang Schrage: Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament. Gütersloh 1971; Klaus Bringmann: Christentum und römischer Staat im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. In: GWU 29 (1978), S. I- 18; Adrian N. SherwinWhite: Roman society and Roman law in the New Testament (1963). Grand Rapids 1978; Kurt Aland: Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit. In: ANRW II.23.1. Berlin u. a. 1979, S. 60-246 (mit Überblick über die ältere Literatur); Elisabeth Herrmann: Ecclesia in Re publica. Die Entwicklung der Kirche von pseudostaatlicher zu staatlich inkorporierter Existenz (Europäisches Forum 2). Frankfurt IM. u. a. 1980; Torben Christensen: Christus oder Jupiter. Der Kampf um die geistigen Grundlagen des Römischen Reiches (dän. 1970). Göttingen 1981; Klaus Wengst: Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum. München 1986; Alexander Demandt: Christentum und Staat. In: Ders.: Der Idealstaat Die politischen Theorien der Antike. Köln u. a. 1993, S. 362- 393; Peter Guyot/Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen. Eine Dokumentation. 2 Bde. (TzF 60 I 62). Darmstadt 1993 I 94 (mit aktuellem Literaturverzeichnis); Helga Botermann: Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im I. Jahrhundert. Stuttgart 1996. Die verwendeten Abkürzungen folgen Siegfried M. Schwertner: IATG. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. 2. Aufl. Berlin u. a. 1992.
2 Festschrift List!
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Gerda Riedl
Aspekte spielen dabei allerdings kaum je eine größere Rolle. 2 Tatsächlich halten sich gerade Schriften des Neuen Testaments von eindeutigen Verhältnisbestimmungen potentiell (kirchen-) rechtlich ausdeutbaren Charakters relativ fern; infolgedessen betonen exegetische Arbeiten gerne die prinzipiell paränetische Intention rechtssetzend klingender Formulierungen aus kanonischer Brief- und Evangelienliteratur.3 Erhaltene Gemeindeordnungen im Stile der syrisch-palästinischen ,Didache' (vom Ende des 1. Jahrhunderts) wiederum schweigen sich leider über das Verhältnis der christlichen Glaubensgemeinschaft zur nichtchristliehen Staatsmacht weitgehend aus; und frühe Synodalbeschlüsse (seit dem Ende des 2. Jahrhunderts) markieren bereits die Wandlung der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit zur werdenden Großkirche. 4 Politisch-sozial oder historischphilologisch orientierte Arbeiten über die Anfänge christlichen Staatsverständnisses konzentrieren sich deshalb meist auf eine Beschreibung der Hintergründe früher Christenverfolgungen; die wichtige Rechtsthematik gerät dann lediglich von der jüdischen, hellenistischen oder römischen Staatsmacht her in den Blick. 5
2 Eine gewisse Ausnahme bilden die Arbeiten von Othmar Heggelbacher: Geschichte des frühchristlichen Kirchenrechts bis zum Konzil von Nizäa 325. Fribourg 1974 sowie Reinhold Zippelius: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart (Beck'sche Reihe 1209). München 1997. Freilich liegt in beiden Arbeiten der Schwerpunkt recht einseitig auf der Verfolgungsthematik. 3 So urteilt etwa Martin Dibelius über die bekannte Passage des paulinischen Römerbriefes zum Verhältnis der jungen Glaubensgemeinschaft zur nichtchristliehen Staatsmacht "Der Gedanke, daß jede Obrigkeit durch Gottes Ordnung existiere, ist nicht eine Theorie des Paulus, sondern jüdisch-christliches Traditionsgut Er steht in einem Zusammenhang, in dem Paulus lauter sogenannte ,Paränese' wiedergibt, d. h. überlieferte, von dem Apostel weitergegebene Regeln fiir das sittliche Leben. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Röm. 13 zur Paränese gehört." (Martin Dibelius: Rom und die Christen im ersten Jahrhundert [1942]. In: Richard Klein [Hg.]: Das frühe Christentum im römischen Staat [Anm. 1], S. 52) 4 Siehe hierzu zuletzt Joseph A. Fischer/Adolf Lumpe: Die Synoden von den Anfangen bis zum Vorabend des Nicaenums (KonGe.D). Faderborn u. a. 1997, S. 5- 107 (mit weiterführenden Literaturangaben). Ausdrückliche Beschlüsse zum Verhältnis zwischen der christlichen Glaubensgemeinschaft staatlicher Frühzeit und der nichtchristliehen Staatsmacht begegnen weder im 2. noch im 3. Jahrhundert. 5 Ein besonderes Augenmerk der Forschung liegt dabei auf dem bekannten Briefwechsel Kaiser Trajans mit Plinius Secundus, zwischen 1ll und ll3 Statthalter in Bithynien-Pontus; die einschlägigen Texte bieten Peter Guyot/Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen (Anm. 1), S. 38- 43; 320- 324. Vgl. hierzu etwa Rudolf Freudenberger: Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen im 2. Jahrhundert. Dargestellt am Brief des Plinius an Trajan und den Reskripten Trajans und Hadrians (MBPF 52). 2. Aufl. München 1969; Joachim Molthagen: Der römische Staat und die Christen im zweiten und dritten Jahrhundert (Hyp. 28). Göttingen 1970; Antonie Wlosok: Rom und die Christen. Zur Auseinandersetzung zwischen Christentum und römischem Staat (Der altsprachliche Unterricht. Beiheft 1 zu Reihe 13). Stuttgart 1970; Herbert Nesselhauf: Der Ursprung des Problems ,Staat und Kirche' (Konstanzer Universitätsreden 14). Konstanz 1975; Friedrich Vittinghoff: ,Christianus sum' - Das ,Verbrechen' von Außenseitern der römischen Gesellschaft. In: Hist. 33 (1984), S. 331 - 357. Die kirchliche Position behandeln alle genannten Arbeiten nur am Rande.
"So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört"
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Zumindest was den Verständnishorizont ihres Verhältnisses zur nichtchristliehen Staatsmacht angeht, erscheint die christliche Glaubensgemeinschaft der kirchlichen Frühzeit unter solchen Auspizien als nahezu ,rechtsfreier Raum'. Angeblich bedingten die theologische Konzeption der Naherwartung, das sozialutopische Bewußtsein einer Kontrastgesellschaft und hoher persönlicher Bekennermut gegenüber irdischen Angelegenheiten jenseits der Gemeindegrenzen eine Art sublimer Gleichgültigkeit auf höherer Warte. Wolfgang Schrage jedenfalls will besagte Haltung bereits im Neuen Testament verorten: "Für das Neue Testament ist der Staat als solcher weder eine satanische noch eine göttliche Macht, und die Stellung der Christen zu ihm ist deshalb weder prinzipielle Illoyalität und Opposition noch grundsätzliche Sanktionierung und vorbehaltlose Unterwerfung." 6 Zweifellos nuancierter und dennoch ganz im Sinne der verbreitetsten Forschungsmeinung formuliert selbst ein ausgewiesener Kenner wie Kurt Aland: ,,Zwar existieren die staatlichen Instanzen, aber sie gehen den Christen nicht nur nichts an, sondern sie befinden sich auch auf einem Niveau, das weit unter seinem und dem der Gemeinde liegt ( ... ). " 7 Solche Auffassungen mögen letztlich auf einer geläufigen Denkfigur beruhen: Ihr zufolge bedarf die dynamisch-charismatische Glaubenskraft christlicher Anfänge keiner rechtlich normierenden Bestimmungen außerhalb des eigenen Gottesverhältnisses. Für sich allein betrachtet, tragen einzelne Textbefunde dieser Auslegung anscheinend auch Rechnung: Jesu berühmte Antwort auf die Frage nach dem kaiserlichen Besteuerungsrecht (Mk 12,13- 17 parr.) etwa läßt staatsstützende Auslegungen ebenso zu wie staatskritische; selbst die Schilderung seines Prozesses vor jüdischem Synhedrion oder römischem Präfekten oszilliert zwischen besagten Polen und endet dem Johannes-Evangelium zufolge mit den Worten Jesu: ,,Mein Königtum ist nicht von dieser Welt" (Joh 18,36). 8 Stellungnahmen des Apostels Paulus wiederum reichen von weitgehender Anerkennung nichtchristlicher Staatsmächte (Röm 13,1-7) bis hin zu deren erklärter Ablehnung (1 Kor 6,1- 11); angelegentlich betont freilich auch Paulus: "Unsere Heimat aber ist im Himmel" (Phil 3,20). Ähnlich mehrdeutig präsentiert sich das Verständnis der nichtchristliehen Staatsmacht in neutestamentlichen Texten zu Ende des 1. Jahrhunderts; Joachim Molthagen entnimmt der Apostelgeschichte, dem ersten Petrushrief und der Offenbarung des Johannes gleichfalls konkurrierende Einstellungen. Ist die nichtchristliehe Staatsmacht einem Teil der christlichen Glaubensgemeinschaft unentbehrlicher ,Garant des Rechts', so dem anderen das ,apokalyptische Ungeheuer' schlechthin; immer aber gilt: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29) 9 . 6
Wolfgang Schrage: Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament (Anm. 1),
s. 77f.
Kurt Aland: Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit (Anm. I), S. 197. s Vgl. hierzu Peter Egger: ,Crucifixus sub Pontio Pilato'. Das ,Crimen' Jesu von Nazareth im Spannungsfeld römischer und jüdischer Verwaltungs- und Rechtsstrukturen (NTA 32). Münster 1997. 9 Vgl. Joachim Molthagen: Rom als Garant des Rechts und als apokalyptisches Ungeheuer. Christliche Antworten auf Anfeindungen durch Staat und Gesellschaft im späten 7
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Bischöfliche Mahnschreiben, Märtyrerakten oder theologische Abhandlungen des 2. Jahrhunderts schließlich vermitteln den nämlichen Eindruck: Das Gebet für Repräsentanten der Staatsmacht beispielsweise steht neben dem Wissen um deren dämonengewirkte Korrumpierbarkeit und über beidem die fast topische Formulierung: "Für den Kaiser beten wir, nicht zu ihm!" 10 Dabei repräsentiert die augenscheinlich fluktuierende Einstellung der frühchristlichen Glaubensgemeinschaft zur nichtchristliehen Staatsmacht entgegen der herrschenden Forschungsmeinung keineswegs die wesentliche Auffälligkeit besagter Textbefunde; sie liegt offen zutage. Weit bemerkenswerter ist eine eigentümliche Konstanz in struktureller Hinsicht: Frühchristliche Zustimmung zu oder Kritik an nichtchristliehen Staatsmächten bemißt sich offenbar am Maße der Übereinstimmung staatlicher Rechtsnormen mit den - einst am Sinai geoffenbarten, vom Offenbarungsmittler Jesus Christus nunmehr endgültig und authentisch ausgelegten - Geboten Gottes, deren unbedingte Befolgung in eschatologischer Hinsicht ebenso heilbringend anschlagen wird wie sie in politisch-sozialer Hinsicht konfliktträchtig wirken kann. Hinter dieser bezeichnenden Konstanz verbirgt sich mehr als sublime Gleichgültigkeit gegenüber der Rechtsposition nichtchristlicher Staatsmächte aus dem Geiste christlicher Erwählungs- und Jenseitsgewißheit Ein bislang allzu stark vernachlässigter Blick auf die Rezeptionszusammenhänge scheinbar disparater Textbefunde im Rahmen biblisch-frühchristlicher Rechtsgeschichte enthüllt vielmehr einheitliche Deutungsmuster, die den Verständnishorizont frühchristlichen Rechtsdenkens klar hervortreten lassen. 11 I. Jahrhundert n. Chr. In: Edwin Brandt u. a. (Hg.): Gemeinschaft am Evangelium. FS Wiard Popkes. Leipzig 1996, S. 127- 142; ähnlich lautet J. Molthagens Urteil auch in seiner Arbeit: Ders.: Die ersten Konflikte der Christen in der griechisch-römischen Welt. In: Hist. 40 (1991), S. 42- 76. Die Übersetzung der Bibeltexte folgt: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Altes und Neues Testament. Stuttgart 1980. IO In diesem prononcierten Sinn heißt es zuerst bei Theophilus von Antiochien (um 180): ,,Also werde ich den Kaiser lieber ehren, nicht indem ich ihn anbete, sondern indem ich für ihn bete." (Theophilus von Antiochien: Ad Auto!. 1,11 [SC 20, 69 f.]). Die Schreibweise der patristischen Autoren und die Abkürzung ihrer Werke folgt: Siegmar Döpp/Wilhelm Geerlings (Hg.): Lexikon der antiken christlichen Literatur. Freiburg u. a. 1998; die Übersetzungen orientieren sich- soweit nicht anders vermerkt- an: Peter Guyot/Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen (Anm. 1). II Die Beachtung des jeweiligen Rezeptionszusammenhanges bildet ein unverzichtbares methodologisches Kriterium der relativ jungen Forschungsdisziplin ,biblisch-frühchristlicher Rechtsgeschichte'; vgl. hierzu v. a. Otto Eckart: Biblische Rechtsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung. In: ThRv 91 (1995), S. 283- 292; Ders. u. a.: Art. Recht/Rechtstheologie I Rechtsphilosophie. In: TRE Bd. 28. Berlin u. a. 1997, S. 197 - 256. Eine Bibliographie einschlägiger Forschungsbeiträge bietet außerdem: lohn W. Welch: A biblicallaw bibliography (TST 51). Lewiston u. a. 1990; Ders.: A biblicallaw bibliography. 1997 Supplement. In: Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 3 (1997), S. 207-246. Die Beachtung des Rezeptionszusammenhanges erlaubt bei weitem exaktere Auskünfte über frühchristliches Rechtsverständnis als eine lediglich legitimierende Rückführung später Rechtscanones auf ihre meist dunklen Ursprünge; diese Methode benutzt etwa Othmar Heggelbacher: Geschichte des frühchristlichen Kirchenrechts bis zum Konzil von Nizäa 325 (Anm. 2).
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Im Einklang mit den Heiligen Schriften des Alten Testamentes, paulinischen Briefen und jesuanischen Traditionen schrieb die christliche Glaubensgemeinschaft der kirchlichen Frühzeit den nichtchristliehen Staatsmächten eine gottgewollte, von der Schöpfungsordnung ausdrücklich vorgesehene Funktion friedensstiftender Chaosbändigung zu. Darin wußte man sich mit weiten Teilen des Judentums und der antiken Staatsphilosophie gleichermaßen einig: Hinsichtlich ihrer Funktion war Staatsmacht als solche eindeutig ,natürlichen Rechts'. Ihr gegenüber schien Zustimmung nicht einfach opportunistisch angeraten; solcher Zustimmung eignete vielmehr der Charakter eines göttlichen Gebotes. Anders als um die Funktion der nichtchristliehen Staatsmacht stand es dagegen um die Person ihres jeweiligen Repräsentanten: Seine Macht endete an der je größeren Macht Gottes. Gottes, in seinem Sohn Jesus Christus endgültig geoffenbarter Wille und sein Recht auf Verehrung brach das gesatzte Recht der nichtchristliehen Staatsmächte und ihr Recht auf bloßen Gehorsam. Auch diese Rechtsvorstellung teilte das frühe Christentum mit weiten Teilen des Judentums; der antiken Staatsphilosophie blieb es immerhin nachvollziehbar, wenngleich stets verdächtig: War schon der Gehorsam gegenüber einer, dem göttlichen Willen konformen Staatsmacht Gebot, so nicht weniger die Gehorsamsverweigerung gegenüber einer, den göttlichen Willen - etwa bezüglich des Herrscherkultes - mißachtenden Staatsmacht Pflicht. Erst besagtes Rechtsdenken erklärt sowohl tendenzielle Konfliktträchtigkeit als auch grundsätzliche Loyalität der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit gegenüber der nichtchristliehen Staatsmacht Fern hielt sich die christliche Glaubensgemeinschaft jedoch von revolutionären oder staatsverneinenden Bestrebungen zelotischer, essenischer oder schlicht usurpatorischer Provenienz. Wieder gaben nicht zunehmende Kollaborationsbereitschaft oder glaubensgewiße Gleichgültigkeit innerweltlichen Verhältnissen gegenüber den Ausschlag, sondern das biblisch verbürgte Offenbarungswissen: Weil von den umfassenden Folgen des urgeschichtlichen Sündenfalls gezeichnet (Gen 3,1- 24; Röm 5,12- 21), 12 prolongierte ein Herrschaftswechsel dem Rechtsverständnis der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit zufolge lediglich die latente Korrumpierbarkeit nichtchristlicher Staatsmacht; als viertes Weltreich der Daniel-Vision (Dan 2,36 45; 7,1 - 28) gedeutet, verhinderte das Imperium Romanum seiner gottgewoll12 Der Verweis auf den urgeschichtlichen Sündenfall (Gen 3,1 - 24; Röm 5,12- 21) ist selbstverständlich nicht im Sinne eines anachronistischen Eintrags der augustinischen ,Erbsündenlehre' zu verstehen. Von den prädispositiven Wirkungen des Sündenfalls auf eine allgemeine Depravation der ,Conditio humana' waren jedoch zur Zeitenwende christliche wie jüdische Kreise gleichermaßen überzeugt; vgl. hierzu etwa Klaus Koch: ,Adam, was hast du getan?' Erkenntnis und Fall in der zwischentestamentliehen Literatur. In: Trutz Rendtorff (Hg,): Glaube und Toleranz. Göttingen 1982, S. 211 - 242; Gerard H. Baudry: Le peche originel dans !es pseudepigraphes de l'Ancien Testament. In: MSR 49 (1992), S. 163- 192; Ders.: Le peche originel dans !es ecrits de Qournrän. In: MSR 50 (1993), S. 7- 24; Maximiliano Garcia Cordero: La doctrina paulina sobre el ,,Pecado original" en el entomo de Ia teologfa judia intertestarnentaria. In: CTom 121 (1994), S. 225- 278; Rowan A. Greer: Sinned we all in Adam's fall? In: L. Michael White u. a. (Hg.): The social world of the first Christians. FS Wayne A. Meeks. Minneapolis 1995, S. 382- 394.
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ten Funktion als Chaosbändiger wegen aber andererseits das Auftreten des Antichristen. 13 Einer durch den Sündenfall beschädigten Welt konnte gültige Heilung und Erlösung - etwa aus Verfolgungen - nur von Gott her zuteil werden; mit Jesus Christus zeichenhaft erschienen, in seiner Kirche jedem zugänglich und für seine Wiederkunft unverbrüchlich verheißen, wurde ,ein neuer Himmel und eine neue Erde' (Offb 21,1) deshalb nicht zuletzt von der Offenbarung des Johannes leidenschaftlich herbeigefleht Insofern ist frühes Kirchenrecht nicht das Produkt eines zunehmend erstarrenden Kleinglaubens, sondern direkter Ausfluß christlichen Offenbarungswissens. Rechtsnormen für den Umgang mit den nichtchristliehen Staatsmächten fehlen nicht etwa, weil es ihrer keine gab, sondern weil der Verständnishorizont frühchristlichen Rechtsdenkens ihre tatsächliche (Be-)Deutung evident machte. Im Sinne der hier vertretenen These ist Jesu Antwort auf die Frage nach dem kaiserlichen Besteuerungsrecht eine von ihnen, womöglich die zentrale: "So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!" (Mk 12,17)
II. Wunschbild, Zerrbild, Schreckbild ,Staat' - Disparater Textbefund und konsistenter Rezeptionszusammenhang Das erhaltene christliche Schriftgut der beiden ersten Jahrhunderte birgt Stellungnahmen zum Problem der nichtchristlichen, gelegentlich sogar christenfeindlich gesinnten Staatsmacht im Kontext mehrerer Textsorten: Erste Gemeindeordnungen und frühe Synodalbeschlüsse beschäftigt zwar beinahe ausnahmslos die innergemeindliche Situation. 14 Evangelien- und Briefliteratur, bischöfliche Mahnschreiben, Märtyrerakten und theologische Abhandlungen aber enthalten relativ zahlreiche, wenngleich durchweg verstreute Reflexionen auf das Verhältnis der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit zu den nachgeordnetjüdischen, teilautark-hellenistischen oder genuin-römischen Staatsmächten. Der genannte, von älteren wie neueren Forschungsarbeiten wiederholt erschöpfend ausgebreitete Textbefund 15 läßt sich mit unterschiedlichem MethodeninstruVgl. Anm. 52 sowie die zugehörige Textpassage. Eine gewisse Ausnahme repräsentiert lediglich der (um 140 entstandene) ,Hirt' des Hermas: Sim 1,1- 10 (Andreas Lindemann/Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Vater. Tübingen 1992, S. 426f.): ,,Er sprach zu mir: ,Ihr wißt, ihr Knechte Gottes, daß ihr in der Fremde wohnt: Denn eure Stadt ist fern von dieser Stadt. Wenn ihr nun eure Stadt kennt', fuhr er fort, ,in der ihr wohnen sollt, warum erwerbt ihr euch hier Äcker, kostbare Einrichtungen, Häuser und vergängliche Wohnungen? ( ... )Denn der Herr dieser Stadt wird sagen: Ich will nicht, daß du in meiner Stadt wohnst; vielmehr sollst du diese Stadt verlassen, weil du nicht nach meinen Gesetzen lebst. ( ... ) Was willst du nun tun, der du doch unter dem Gesetz deiner Stadt stehst? Willst du wegen deiner Äcker und deiner andern Habe deinem Gesetz überhaupt abschwören und dein Leben nach dem Gesetz dieser Stadt führen? Gib acht, daß es dir nicht schadet, wenn du dein Gesetz verleugnest.'" 15 Umfassende Einblicke in das vorhandene Quellenmaterial bieten besonders Kurt Aland: Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit (Anm. 1) sowie Peter Guyot/Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen (Anm. 1). 13
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mentarium erschließen. Exegetische Arbeiten etwa bevorzugen meist eine traditionsgeschichtliche Fragestellung nach Herkunft und Entstehung der einschlägigen Texte, um über die wenigstens ungeflihre Rekonstruktion von Jesu ureigenen Worten und Taten Maßstäbe bezüglich der Bewertung des biblischen Endtextes und Handlungsanweisungen für das heutige Glaubensleben zu gewinnen. So erkennt etwa Klaus Wengst in Jesu zitierter Antwort auf die Frage nach dem kaiserlichen Besteuerungsrecht dessen ,ipsissima vox', interpretiert sie als Herausforderung an diejenigen, "die ihren Frieden mit den herrschenden Zuständen gemacht hatten" 16 und erschließt unter Zuhilfenahme des matthäisehen Schwertwortes (Mt 10,34 f.) die jesuanische Aussageabsicht "(E)s ist eine Metapher für die von ,unten' erfolgende Auflösung der hierarchisch strukturierten Ordnung und der auf dem Besitz gegründeten Herrschaft, für die Demaskierung und Zerstörung des Scheinfriedens. " 17 Briefliche Äußerungen des Apostels Paulus dienen ungeachtet der wenig staatskritischen Passage des Römerbriefes (Röm 13,1 - 7) der Bestätigung: "Aus der Perspektive der erwarteten Zukunft Gottes und Christi ist sie (die irdische Geschichte, Anm. der Verf.) auf ihren Abbruch zulaufende Todesgeschichte." 18 Scheinbar romfreundliche Passagen etwa der Apostelgeschichte oder des ersten Clemensbriefes geraten dann unter Kollaborationsverdacht, 19 während der Autor die Offenbarung des Johannes dem jesuanischen Anliegen treu weiß (Offb 13; 17 f. ). Ähnliche Deutungen begegnen häufig: Exegetische Arbeiten neigen zu einer kontrastierenden Betrachtungsweise zwischen nichtchristlichem (Unrechts-) Staat, verfehlten christlichen Anpassungsbemühungen und gottgefälliger "Bewährung christlicher Identität im leidenden Widerstand". 20 Die Rezeption alttestamentlicher Vorgaben, jesuanischer Traditionen oder apostolischer Weisungen innerhalb der kirchlichen Frühzeit selbst gerät dabei völlig aus dem Blick. Ein geradezu entgegengesetztes Bild bieten historisch-philologisch orientierte Forschungsansätze. Abgesehen davon, daß sich diese zuvorderst der Rückfrage nach den Hintergründen früher Christenverfolgungen verpflichtet fühlen, favorisieren sie als Interpretationsgrundlage gerne den biblischen Endtext, die Spätschriften des Neuen Testaments und staatsstützende Passagen anderer Schriften der beiden ersten Jahrhunderte. Unter solchen Umständen kehren sich die Vorzeichen beinahe um: "Aus althistorischer Sicht läßt sich das Schreckensbild, das die Offb. (OffenKlaus Wengst: Pax Romana (Anm. 1), S. 80. Ebd., S. 81 f. 1s Ebd., S. 101. 19 "Von daher ist die Wahrnehmung der Pax Romana durch Lukas und Clemens zu hinterfragen. Die Frage richtet sich aber noch viel stärker an uns selbst; denn es käme bei der Lektüre des Neuen Testaments darauf an, entlang der vom Kreuz Jesu gegebenen Perspektive in unsere Wirklichkeit hinein zu denken und zu handeln und dabei auch die eigene profitable Einbindung in den von einem Machtzentrum gesetzten Gewaltfrieden zu durchschauen. Angesichts dessen erweist sich der Einwand, man könne doch nicht 2000 Jahre überspringen, als der Versuch, radikale neutestamentliche Anfragen zu neutralisieren." (Klaus Wengst: Pax Romana [Anm. 1], S. 171) zo Klaus Wengst: Pax Romana (Anm. 1), S. 147. 16
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barung des Johannes, Anm. der Verf.) von Rom entwirft, nicht verifizieren. Totalitäre Herrschaftsansprüche waren Rom von Hause aus fremd, und eine besondere Feindschaft gegen den christlichen Glauben läßt sich als Motiv römischer Politik nicht ausmachen. Viel eher wird die Apg. (Apostelgeschichte, Anm. der Verf.) mit ihrer Betonung des hohen Stellenwertes rechtlicher Normen den Verhältnissen im römischen Reich gerecht. " 21 Die staatsfreundliche Passage im paulinischen Römerbrief (Röm 13,1 - 7), das bekannte Gebet für Kaiser und Reich am Ende des ersten Clemensbriefes 22 sowie ein Hinweis auf neutestamentliche Texte der nachapostolischen Zeit (1 Petr 2,11- 17; 1 Tim 2,1 -7; Tit 3,1) ergänzen für gewöhnlich entsprechendes BelegmateriaL Demgemäß gelangen Robert M. Grant und Hans Dieter Betz in einem neueren Handbuchartikel über das Thema ,Kirche und Staat' zu folgendem Ergebnis: "So ist unübersehbar deutlich, daß die Aussagen der nachapostolischen Zeit zum Verhältnis von Kirche und Staat die unverrückbare Loyalität gegenüber dem römischen Staat und seinen Provinzialbehörden empfehlen. ( ... ) Diese Sicht ist noch im Glaubensbekenntnis zu erkennen, wenn es dort heißt: ,Gekreuzigt unter (statt ,von') Pontius Pilatus'. Der wirkliche Zusammenstoß von Kirche und Staat war erst noch der Zukunft vorbehalten." 23 Freilich ignoriert eine solche Interpretation nicht bloß staatskritische Äußerungen des christlichen Schriftgutes der beiden ersten Jahrhunderte; auch die vereinfachende Anführung isolierter biblischer Endtextzitate führt auf falsche Fährten. Jesu bereits wiederholt zitierte Antwort auf die Frage nach dem kaiserlichen Besteuerungsrecht zeigt mit Sicherheit mehr als einen staatspolitisch lediglich uninteressierten jüdischen Rabbi. 24 Und die angeblich staatsstützenden Passagen der lukanischen Apostelgeschichte (Apg 13,12; 16,38f.; 18,12- 17; 19,37- 40; 25,8- 12; 25,13-26,32 u. a.) beschreiben keineswegs einen harmonischen Zustand der historischen Gegenwart zu Ende des ersten Jahrhunderts; sie halten vielmehr allen Vertretern der nichtchristliehen Staatsmacht in bedrängenden Zeiten den ,Fürstenspiegel' einer zusätzlich idealisierten Vergangenheit vor. 25 Christliche Wünsche nach Rechts21 Joachim Molthagen: Rom als Garant des Rechts und als apokalyptisches Ungeheuer (Anm. 9), S. 136f. 22 Vgl. etwa 1 Clem 60,4- 61,1 (Andreas Lindemann/Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Vater [Anm. 14], S. 146 f.). 23 Robert M. Grant/ Hans Dieter Betz: Art. Kirche und Staat I. Urchristentum und frühe Kirche. In: TRE Bd. 18. Berlin u. a. 1989, S. 354- 374 (hier: S. 365). Eine ganz ähnliche Auffassung vertritt Robert M. Grant bereits in: Ders.: Christen als Bürger im Römischen Reich (eng!. 1977). Göttingen 1981, S. 23- 54 (,Kirche und Staat: ... einer soll Herr sein, einer König'). 24 V gl. Robert M. Grant/ Hans Dieter Betz: Art. Kirche und Staat I. Urchristentum und frühe Kirche (Anm. 23), S. 362. 25 Die lukanische Apostelgeschichte betrachtet jüdische, hellenistische oder römische Staatsmächte gegen Ende des l. Jahrhunderts ebensowenig als zuverlässige ,Garanten des Rechts' (Joachim Molthagen) wie der häufig im selben Kontext zitierte Melito von Sardes um 170. Dessen fragmentarisch überliefertes Schreiben an Mare Aurel soll mit dem Verweis auf die bei Heiden und Christen gleichermaßen verpönten Kaiser Nero und Dornitian neue Verfolgungen nach deren Rechtsbestimmungen verhindern helfen, nicht aber die grundsätz-
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sicherheit beseelen ihre Aussageabsicht, nicht das anbiedernde Lob nichtchristlieber Rechtsstaatlichkeit. Kaum anders ist es um die übrigen Textpassagen bestellt: Sie schärfen nichts weniger ein denn "die Loyalität des Paulus dem römischen Imperium" 26 gegenüber. Von ,Staatsfrömrnigkeit' oder ,loyaler Politikferne' - so auch die übliche Deutung in politikwissenschaftlich ausgerichteten Forschungsarbeiten27 -kann keine Rede sein: Petrusbrief, Clemensbrief und Pastoralbriefe ringen vielmehr um die rechtliche Bestimmung der Befugnisse nichtchristlieber Staatsmächte innerhalb der je größeren Vorgaben ,natürlichen Rechts' und christlichen Offenbarungswissens. Wieder hätte ein Blick auf das Rezeptionsverhalten der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit andere Schlüsse nahe gelegt. Tatsächlich entbirgt besagtes Rezeptionsverhalten hinsichtlich des Verhältnisses zur nichtchristliehen Staatsmacht etliche Besonderheiten. Auffällig ist schon die Gründlichkeit der Rezeption jesuanischer und apostolischer Traditionen; ein wie auch immer geartetes Ausleseverhalten zwischen den überkommenen Texten autoritativen Charakters läßt sich dabei selbst über verschiedene Gattungsgrenzen hinweg kaum erkennen. Eine gewisse Ausnahme repräsentiert lediglich das paulinische Verbot der Inanspruchnahme zivilrechtlicher Instanzen nichtchristlicher Staatsmächte durch Gemeindemitglieder: "Wagt es einer von euch, der mit einem anderen einen Rechtsstreit hat, vor das Gericht der Ungerechten zu gehen statt zu den Heiligen? Wißt ihr denn nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? Und wenn durch euch die Welt gerichtet wird, seid ihr dann nicht zuständig, einen Rechtsstreit über Kleinigkeiten zu schlichten?" (I Kor 6,1- 8; hier: 1 Kor 6,1 f.); wenigstens in ,staatsrechtlichen' Zusammenhängen wird diese Passage während der beiden ersten Jahrhunderte nicht mehr genannt. Anders verhält es sich freilich bereits mit den zwar in apokalyptischen Bildern gehaltenen, aber eindeutig romkritischen Kapiteln über die ,große Hure Babylon' 28 aus der Offenbarung des Johanliehe Christenfreundlichkeit römischer Kaiser lobend erwähnen; vgl. das Fragment Melitos bei Eusebius von Caesarea: Hist. eccl. 4,26,7- 11 (GCS 9/1, S. 590 ff.). Tertullian ist Melito von Sardes darin gefolgt; vgl. Tertullian: Apo!. 5,4 (CChr.SL 1, 95). Die tatsächlichen Christenverfolgungen unter Mare Aurel (161 - 180) dokumentieren ausführlich Peter Guyot/ Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen (Anm. 1). Bd. 1, s. 46- 95; 326- 354. 26 Robert M. Grant/Hans Dieter Betz: Art. Kirche und Staat I. Urchristentum und frühe Kirche (Anm. 23), S. 364. 27 Vgl. etwa Alexander Demandt: Christentum und Staat (Anm. 1), S. 365; 371 u. ö. Ähnlich urteilen auch (freilich ohne dem Christentum grundsätzliche Aufmerksamkeit zu schenken): Ernst Meyer: Einführung in die antike Staatskunde. Darmstadt 1980, S. 256; 264; 270 u. ö.; Wilfried Nippel: Politische Theorien der griechisch-römischen Antike. In: Hans-Joachim Lieber (Hg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Bonn 1991, S. 17 ff.; Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. München 1997, S. 170- 174. 28 Vgl. zu dieser Chiffre und ihrer Geschichte bes.: Claus-Hunno Hunzinger: Babyion als Deckname und die Datierung des I. Petr. In: Henning Reventlow (Hg.): Gottes Wort und Gottes Land. FS Hans-Wilhelm Hertzberg. Göttingen 1965, S. 67- 77; Mathias Rissi: Die
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nes (Oftb 17,1- 18 u. ö.). Sie wurde nicht etwa ,kaum gelesen'; 29 Tertullian nimmt in der Schrift ,De resurrectione mortuorum' (entst. 211) ebenso unmißverständlich zustimmend auf sie Bezug wie Hippolyt (von Rom) in seinem Danielkommentar und dem exegetischen Traktat ,Demonstratio de Christo et antichristo' (entst. um 200). 30 Historisch greifbarer Rezeption erfreute sich gleichfalls die neutestamentliche Perikope über das Problem des kaiserlichen Besteuerungsrechtes; ausgelegt auf je umfassendere Rechte Gottes hin, findet sie sich sowohl in Tertullians Werk ,De idolatria' (entst. 196) als auch in der ersten Apologie Justins des Märtyrers (entst. um 155): "Wir bemühen uns überall in erster Linie darum, Steuern und Abgaben an die von euch eingesetzten Beamten zu entrichten, wie wir von ihm (Jesus, Anm. der Verf.) belehrt worden sind. Zu jener Zeit nämlich kamen einige Leute zu ihm und fragten ihn, ob man dem Kaiser Steuer zahlen dürfe. Und er antwortete: ,Sagt mir, wessen Bild trägt die Münze?' Sie aber sprachen: ,Das Bild des Kaisers'. Und wiederum antwortete er ihnen: ,Gebt also das, was des Kaisers ist, dem Kaiser, und das, was Gottes ist, Gott.' Daher beten wir zwar nur Gott allein an, euch aber gehorchen wir in allen anderen Dingen mit Freude, indem wir euch als Kaiser und Herrscher der Menschen anerkennen und dafür beten, daß ihr euch außer der kaiserlichen Herrschaft zugleich auch ein leidenschaftsloses Denken zu eigen macht." 31 Meist in Verbindung mit Stellungnahmen nachapostolischer Briefliteratur (1 Petr 2,13- 17; 1 Tim 2,1; Tit 3,1 u. a.) avancierte schließlich die staatsstützende Passage des paulinischen Römerbriefes (Röm 13,1 - 7) zur eigentlichen Hure Babyion und die Verführung der Heiligen. Eine Studie zur Apokalypse des Johannes (BWANT I36). Stuttgart u. a. I995; Gonzalo Aranda Pirez: EI destierro de Babilonia y las rafces de Ia apocalfptica. In: EstB 56 (I998), S. 335- 355. 29 So äußern sich, wiederum aus römischem Blickwinkel, Robert M. Grant und Hans Dieter Betz: "Nichts weist allerdings darauf hin, daß frühe Kritiker des Christentums solche Prophezeiungen gelesen hätten, und auch Justin der Märtyrer, dem die Voraussage eines tausendjährigen Reiches (in Jerusalem) bekannt ist (dial. 8I,5I), weiß nichts von einem Untergang Roms." (Robert M. Grant/Hans Dieter Betz: Art. Kirche und Staat I. Urchristentum und frühe Kirche [Anm. 23], S. 365). Der historische Befund sieht etwas anders aus; besonderer Beliebtheit erfreuten sich die zwischentestamentarisch-jüdische Apokalyptik sowie das biblische Buch Daniel; vgl. hierzu etwa den Literaturbericht von Traugott Holtz: Literatur zur Johannesapokalypse I980- I996. In: ThR 62 (1997), S. 368-413 sowie Romano Penna (Hg.): Apocalittica e origini cristiane (RStB 7/2). Bologna I995 und Ferdinand Hahn: Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung (BThSt 36). Neukirchen/ Vluyn I998. 30 Vgl. Tertullian: Resurr. 24,I7f. (CChr.SL 2, 952); Hippolyt: Comm. in Dan. 4,8- 10 (SC I4, I7I- I74). Hippolyts Schrift ,Demonstratio de Christo et antichristo' zitiert oft kapitelweise aus der Offenbarung des Johannes (vgl. 36- 42, 47 f., 60 [GCS I/2, 23 - 27; 30 f.; 40 f.]). Beide Autoren tun dies in der erklärten Absicht, den Bestand des Imperium Romanum gemäß der geschichtsmetaphysischenWeltreich-Lehre des alttestamentlichen Daniel-Buches (Dan 7, 17 u. ö.) zum Hemmnis für das Auftreten des Antichristen zu erklären und u. a. damit die Loyalität der christlichen Glaubensgemeinschaft zu begründen. 31 Justin der Märtyrer: Apo!. 1,17,1 - 3 (Miroslav Marcovich [Hg.]: Iustini Martyris Apologiae pro Christianis [PTS 38]. Berlin u. a. 1994, S. 94); vgl. auch Tertullian: De Idol. I5,3 (CChr.SL2, 11I5f.).
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Richtschnur des Verhältnisses zwischen der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit und nichtchristliehen Staatsmächten: Irenaeus von Lyon etwa zitiert in seiner Schrift ,Adversus haereses' (entst. um 180) nicht nur die entsprechende Passage des Römerbriefes; er fügt ihr auch korrespondierende Sätze alttestamentlicher Spätschriften (Spr 8,15; 21,1) ein, verweist auf Jesu entsprechende Praxis (Mt 17,24 - 27) und leitet dataus eine ,Staatstheologie' ab, die das höhere Recht Gottes sehr wohl zu wahren weiß. 32 Prägnanter noch (und mit Röm 13, 1) formuliert Tertullian in seiner apologetischen Schrift ,Ad Scapulam' (entst. 212): "Ein Christ ist niemandes Feind, schon gar nicht des Kaisers, von dem er weiß, daß er von seinem Gott eingesetzt ist; ein Christ muß den Kaiser lieben, fürchten, ehren und sein Wohl fördern zusammen mit dem Wohl des ganzen Römischen Reiches, solange die Welt besteht; denn so lange wird sie auch bestehen. ( ... ) Deshalb opfern wir auch für das Wohl des Kaisers, aber nur unserem Gott, der auch sein Gott ist, und auf solche Weise, wie Gott es uns gelehrt hat, nur durch ein reines Gebet. Denn Gott, der Schöpfer des Alls, bedarf keiner Wohlgerüche und keines Blutes. Das ist das Futter der Dämonen. ,m Denselben Gedanken aufgrund derselben Quellen äußern Hippolyt von Rom (um 200)34, das ,Martyrium Polycarpi' (um 155)35 oder Theophilus von Antiochien (um 180): "Also werde ich den Kaiser lieber ehren, nicht indem ich ihn anbete, sondern indem ich für ihn bete. ( ... ) Du wirst mich nun fragen: ,Warum betest du den Kaiser nicht an?' Weil er nicht Kaiser geworden ist, um angebetet zu werden, sondern um geehrt zu werden mit der ihm gebührenden Ehre. Ein Gott nämlich ist er nicht, sondern ein Mensch, der von Gott eingesetzt worden ist, nicht um angebetet zu werden, sondern um ein gerechter Richter zu sein. Thm ist nämlich - bildlich gesprochen - von Gott die Verwaltung des Staates anvertraut worden. " 36 Das bischöfliche Mahnschreiben Clemens' von Rom an die Gemeinde von Korinth (um 96) wiederum gilt innerhalb der Forschung ohnehin als aktualisierende Interpretation entsprechender Bestimmungen des paulinischen Römerbriefes: "Der Brief ist im Grunde eine Paraphrase und Ausdeutung von Röm 13.'.37 Und dennoch weiß jeder der genannten Texte genauso gut um das Problem der Korrumpierbarkeit nichtchristlicher Staatsmächte und die eigentliche Heimat des Christen ,im Himmel' (Phil3,20). 38 Vgl. Irenaeus von Lyon: Adv. haer. 5,24,1 - 3 (SC 153, 294- 305). Tertullian: Ad Scap. 2,6.8 (CChr.SL 2, 1128). 34 Vgl. Hippolyt von Rom: Comm. in Dan. 3,23 (SC 14, 156). 35 Martyrium Polycarpi 10,2 (Andreas Lindemann/Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Vater [Anm. 14], S. 270f.). 36 Theophilus von Antiochien: Ad Autol. 1,11 (SC 20, 69); ähnlich auch Ders.: Ad Autol. 3,14 (SC 20, 144). 37 Robert M. Grant/Hans Dieter Betz: Art. Kirche und Staat I. Urchristentum und frühe Kirche (Anm. 23), S. 365. 38 Vgl. 1 Clem 1,1; 5,2- 7 (Andreas Lindemann/Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Vater [Anm. 14], S. 80 f.; 86 f.). Eine genaue Auflistung aller Zitate und Anspielungen auf Phil 3,20 bietet: Kurt Aland: Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit (Anm. 1), S. 234- 237. 32 33
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Neben die unverkürzte Abbildung des neutestamentlichen Textbefundes durch das Rezeptionsverhalten der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit tritt ein ganz ähnlicher Umgang mit den Spätschriften des griechischsprachigen Alten Testamentes (Septuaginta) von Seiten neutestamentlicher Schriftsteller selbst. Aller Wahrscheinlichkeit nach vermittelt durch die jüdisch-hellenistische Diasporasynagoge, bewahren einschlägige Texte des Neuen Testaments alttestamentliches Offenbarungswissen hinsichtlich der Rechtsposition gottfremder Staatsmächte. Erneut gilt das bischöfliche Mahnschreiben Clemens' von Rom für diesbezüglich exemplarisch. ,,Viele der ,hellenistischen' Züge im 1. Clemensbrief wurden nicht unmittelbar aus dem Hellenismus übernommen, sondern diese Übernahme war bereits vorher durch die Synagoge erfolgt, so daß der Verfasser des Briefes nicht der heidnischen Diatribe, sondern der seiner jüdisch-christlich-hellenistischen Umwelt verpflichtet ist." 39 Infolgedessen favorisiert Clemens von Rom unter Wiederholtern Hinweis auf die alttestamentlich verbürgte ,Schöpfungsordnung'40 eine gottgewollte Chaosbändigungsfunktion der nichtchristliehen Staatsmacht: "Du (Gott, Anm. der Verf.) hast ja die ewige Ordnung der Welt durch die waltenden Kräfte geoffenbart; du, Herr, hast den Erdkreis geschaffen ( ... ) Gib Eintracht und Frieden uns und allen, die die Erde bewohnen, wie du sie gegeben hast unseren Vätern, als sie dich fromm anriefen in Glauben und Wahrheit, daß wir gehorsam werden deinem allmächtigen und herrlichen Namen, sowie unseren Herrschern und Regierenden auf Erden. Du, Herr, hast ihnen die Befugnis zur Königsherrschaft gegeben durch deine erhabene und unaussprechliche Macht, damit wir erkennen die von dir ihnen gegebene Herrlichkeit und Ehre, uns ihnen unterzuordnen, keineswegs im Widerspruch zu deinem Willen." 41 Auf das Buch der Sprichwörter rekurriert im selben Sinne die staatsfreundliche Passage des ersten Petrusbriefes (1 Petr 2,11- 17; hier: 1 Petr 2,17): ,,Fürchte den Herrn, mein Sohn, und den König; mit diesen beiden überwirf dich nicht! Denn plötzlich geht von ihnen Verderben aus und unvermutet kommt Unheil von beiden." (Spr 24,21 f.) Auffassungen der alttestamentlichen Weisheitsliteratur motivieren ferner Jesu Antwort auf die Frage nach dem kaiserlichen Besteuerungsrecht (Mk 12, 17 parr.) und das weitgehende Zugeständnis des paulinischen Römerbriefes (Röm 13,1 - 7), spricht die göttliche Weisheit doch: "Durch mich regieren die Könige und ent39 Paul Mikat: Zur Fürbitte der Christen für Kaiser und Reich im Gebet des 1. Clemensbriefes (1973). In: Joseph Listl (Hg.): Paul Mikat. Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht 2 (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 5). Berlin 1974, S. 829- 844 (hier: S. 841). Ähnlich urteilen Otto Knoch: Eigenart und Bedeutung der Eschatologie im theologischen Aufriß des ersten Clemensbriefes (Theoph. 17). Bonn 1964, S. 65 u. ö.; Andreas Lindemann: Die Clemensbriefe (HNT 17). Tübingen 1992, S. 1 - 10; 76f.; Gerhard Schneider (Hg.): Clemens von Rom. Epistula ad Corinthios. Brief an die Corinther (FC 15). Freiburg u. a. 1994, S. 31- 34; 231- 249 (mit aktuellem Literaturverzeichnis). 40 Vgl. 1 Clem 20,1- 10; 60,1 u. ö. (Andreas Lindemann/Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Vater [Anm. 14], S. 102- 105; 144- 147). 41 1 Clem 60,1.4; 61,1 (Ebd., S. 144- 147).
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scheiden die Machthaber, wie es Recht ist; durch mich versehen die Herrscher ihr Amt, die Vornehmen und alle Verwalter des Rechts." (Spr 8,15 f.) Denn: "Über die Herrschaft bei den Menschen gebietet der Höchste; er verleiht sie, wem er will." (Dan 4,14) Und weiter: "Für jedes Volk bestellte er (Gott, Anm. der Verf.) einen Herrscher." (Sir 17, 17)42 Noch das Gebet für den Repräsentanten der herrschenden Staatsmacht (1 Tim 2,1- 7 u. a. 43 ) hat seinen rechtsnormsetzenden Ort im Alten Testament. Angesichts des vollendeten Tempelneubaus unter den Perserkönigen Kyros und Dareios fordert das Buch Esra unmißverständlich: "So mögen sie (die jüdischen Priester, Anm. der Verf.) dem Gott des Himmels wohlgefällige Opfer darbringen und auch für das Leben des Königs (Dareios, Anm. der Verf.) und seiner Söhne beten." (Esra 6,10; vgl. Bar 1,10f.; 1 Makk 7,33) Nichtsdestoweniger endet der berechtigte Anspruch gottfremder Staatsmächte auf Gehorsam am geoffenbarten Willen Gottes und seinem Recht auf Verehrung. Auch hierin gehen Altes und Neues Testament überein: Wenn sich die Apostel etwa vor dem Synhedrion auf besagte Rechtsnorm berufen - "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen." (Apg 5,29) -, so hat ihr Verhalten seinen konkreten Anhaltspunkt in den mutigen Worten des Priesters Mattatias vor den Beamten des Seleukidenkönigs Antiochos IV. Epiphanes: "Auch wenn alle Völker im Reich des Königs ihm gehorchen und jedes von der Religion seiner Väter abfällt ( ... ). Der Himmel bewahre uns davor, das Gesetz und seine Vorschriften zu verlassen. Wir gehorchen den Befehlen des Königs nicht, und wir weichen weder nach rechts noch nach links von unserer Religion ab." (1 Makk 2,19. 21 f.) Konsequenterweise werden Mattatias und die Apostel im christlichen Schriftgut der beiden ersten Jahrhunderte gern zitiert. 44 Blenden andererseits Anmaßung und Vermessenheit die herrschenden Repräsentanten der jeweiligen Staatsmacht, stürzt sie der ,Höchste' von ihrem Thron. "(Es) sagte der König: Ist das nicht das großartige Babel, das ich durch meine gewaltige Macht als Königsstadt erbaut habe, zum Ruhm meiner Herrlichkeit? Noch hatte der König diese Worte auf den Lippen, da fiel eine Stimme vom Himmel: Dir, König Nebukadnezzar, sei gesagt: Die Herrschaft wird dir genom42 Entsprechende Traditionen prägen auch noch die Aussagen des johanneischen Jesus vor Pilatus: "Da sagte Pilatus zu ihm: Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre; ( ... )." (Joh 19,10 f.) Überhaupt finden sich staatskritische Äußerungen im Alten Testament nur selten; aber selbst diese bleiben ausdrücklich auf die ungerechte Herrschaftsausübung gottvergessener Monarchen bezogen: "Aber auch ein König - was könnte er für uns tun? Sprüche machen, Meineide schwören, Bündnisse schließen; und die Rechtssprechung wuchert wie in den Ackerfurchen das giftige Unkraut." (Hos 10,3 f.; vgl. Sir 4,27) 43 Ein Gebet für die Herrschenden fordern im Anschluß an 1 Tim 2, 1 - 7 etwa: 1 Clem 60f. (Andreas Lindemann/Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Väter [Anm. 14], S. 144- 149); Justin der Märtyrer: Apol. 1,17,1-4 (Miroslav Marcovich [Hg.]: lustini Martyris Apologiae pro Christianis [Anm. 31], S. 59); Athenagoras: Leg. 37,1- 3 (Miroslav Marcovich [Hg.]: Athenagoras. Legatio pro Christianis [PTS 31]. Berlin u. a. 1990, S. 113); Theophilus von Antiochien: Ad Autol. 1,11 (SC 20, 69); Tertullian: Apol. 31,3 (CChr.SL 1, 142). 44 Vgl. etwa Hippolyt von Rom: Comm. in Dan. 3,23,4 (SC 14, 156).
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men. Man wird dich aus der Gemeinschaft der Menschen ausstoßen. ( ... )Noch in derselben Stunde erfüllte sich dieser Spruch an Nebukadnezzar: Man verstieß ihn aus der Gemeinschaft der Menschen." (Dan 4,27- 30) Wie Nebukadnezzar verfallen Antiochos IV. Epiphanes wegen begangener Tempelschändung (2 Makk 9,129) und Herodes Agrippa aufgrund seiner Verfolgungstätigkeit gegen die christliche Glaubensgemeinschaft dem unnachsichtigen Gottesgericht: "Am festgesetzten Tag nahm Herodes im Königsgewand auf der Tribüne Platz und hielt vor ihnen eine feierliche Ansprache. Das Volk aber schrie: Die Stimme eines Gottes, nicht eines Menschen! Im selben Augenblick schlug ihn ein Engel des Herrn, weil er nicht Gott die Ehre gegeben hatte. Und von Würmern zerfressen, starb er." (Apg 12,21 - 23) 45 Letztendlich schreibt selbst die neutestamentliche Offenbarung des Johannes in Darstellungsweise und Aussageabsicht apokalyptische Visionen des alttestamentlichen Daniel-Buches fort. ,,Zu Beginn der Vision von Offb. 13 schaut der Seher, wie ein Tier mit sieben Köpfen und 10 Hörnern aus dem Meer aufsteigt, das teils einem Panther, teils einem Bären und teils einem Löwen gleicht (V 1 f.). Es erinnert an die vier nacheinander dem Meer entsteigenden Tiere der Vision von Dan. 7, die dort vier aufeinander folgende Weltreiche darstellen." 46 Wie im Buch Daniel Nebukadnezzar (Dan 3,1 - 7), so fordert auch das Tier der Offenbarung des Johannes die Anbetung seines Bildes (Offb 13,14- 18); und wie das Buch Daniel (Dan 3,8- 18), so verlangt auch die Offenbarung des Johannes Standhaftigkeit gegenüber den dämonischen Mächten (Offb 13,9 f.). Hier wie dort aber winkt die Entmächtigung der Dämonen durch den ,Menschensohn' am ersehnten Ende der Zeiten (Dan 7,13- 27; Offb 21,1- 22,5): "Er, der dies bezeugt, spricht: ( ... ) Komm, Herr Jesus!" (Offb 20,20) Eine konsistente Traditionskette zwischen Altem Testament, Neuern Testament und dem übrigen Schriftgut der beiden ersten Jahrhunderte verhindert folglich die selektive Wahrnehmung einzelner Aspekte des Verhältnisses zwischen christlicher Glaubensgemeinschaft und nichtchristliehen Staatsmächten. Deren Rechtsposition eignet aus christlicher Perspektive ein potentiell dreifacher Charakter: Dem realisierungsbedürftigen Wunschbild stehen ein korrumpierbares Zerrbild und das widergöttliche Schreckbild nichtchristlicher Staatsmacht gegenüber. Für jeden der drei Fälle weiß sich die christliche Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit mit eindeutigen Verhaltensnormen versehen; von ihrer Stimmigkeit versucht sie die jüdische wie die hellenistisch-römische Öffentlichkeit zu überzeugen. Auf der 45 Der Gedanke des ,Gottesgerichts' findet sich auch in jüdisch-apokalyptischen Aussagen; vgl. PsSal 2,28 - 30 (über Pompeius; James H. Charlesworth [Hg.]: The Old Testament Pseudepigraphia. Bd. 2. London 1985, S. 653) und Sib 5,28- 34 (über Nero; GCS 8, 104 f.). Nicht zuletzt dieser Vorgaben wegen wurde er auch in christlichen Kreisen rezipiert. Entsprechende Deutungen begegnen bereits im christlich bestimmten 8. Buch der Sibyllinischen Orakel (entst. 2. Jahrhundert); siehe etwa Sib 8,70f. (über Nero; GCS 8, 145). Eine Zusammenfassung der vorhandenen Traditionen bietet schließlich Laktanz: De mort. pers. 2,5 - 8 (CSEL 27 I 2, 174 - 176). 46 Joachim Molthagen: Rom als Garant des Rechts und als apokalyptisches Ungeheuer (Anm. 9), S. 128.
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Grundlage christlichen Offenbarungswissens entbirgt sich so ein erstaunlich systematisierter Verständnishorizont frühchristlichen Rechtsdenkens.
111. Verehrung und Zustimmung, Schöpfungsordnung und Chaosbändigung- Der Verständnishorizont frühchristlichen Rechtsdenkens
Unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet können zunächst einmal kaum Zweifel daran bestehen, daß die christliche Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit bereit scheint, der nichtchristliehen Staatsmacht als solcher eine eigenständige Rechtsposition zuzubilligen. Regelmäßig beruft man sich dabei auf den paulinischen Römerbrief: "Jeder leiste den Trägem der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. ( ... ) Sie steht im Dienst Gottes und verlangt, daß du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut. Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen" (Röm 13,1 - 5; vgl. 1 Petr 2,11- 17; Tit 3,1 u. a.). 47 Häufig finden sich diesen Grundsätzen bestätigende Abschnitte aus alttestamentlichen Schriften und jesuanischen Traditionen zur Seite 47 Die Anzahl der Forschungsarbeiten zur staatsstützenden Passage des paulinischen Römerbriefes (Röm 13, 1 - 7) ist mittlerweile unüberschaubar geworden; schon 1959 sprach Ernst Käsemann in einem vielbeachteten Literaturbericht deshalb vom sich "fast unentwirrbar verschlingenden Dickicht eines tropischen Urwaldes" (Ernst Käsemann: Röm 13,1 -7 in unserer Generation. In: ZThK 56 [1959], S. 316- 376). Siehe außerdem: Karl H. Schelkle: Staat und Kirche in der patristischen Auslegung von Röm 13,1 -7. In: ZNW 44 (1952/53), S. 223- 236; Johannes Friedrich u. a.: Zur historischen Situation und Intention von Röm 13,1 -7. In: ZThK 73 (1976), S. 131- 166; Roland Bergmeier: Die Loyalitätsparänese Röm 13,1 -7 im Rahmen von Römer 12 und 13. In: ThBeitr 27 (1996), S. 341- 357. Außer den alttestamentlichen Schriften konvergierten mit der paulinischen Auffassung auch jüdische und griechisch-römische Staatstheorien der Zeitenwende: Das ,lus gladii' (Halsgerichtsbarkeit, Recht auf Verhängung der Todesstrafe) etwa stand nach der römischen Digesten-Literatur (Dig. 2,1 ,3; Theodor Mommsenl Paul Krüger [Hg.]: Corpus luris Civilis. Bd. I: Institutiones. Digesta. 17. Aufl. Berlin 1963, S. 46) den Kaisern, Statthaltern und ihnen nachgeordneten Organen zu; Josephus Flavius wiederum belegt die herrschende jüdische Tradition mit einer Eidesverpflichtung der Essener, "stets allen die Treue zu halten, am meisten aber den Machthabern; denn ohne Gott erwachse niemandem eine Herrscherstellung." (Josephus Flavius: Bell. lud. 2,140; Benedikt Niese [Hg.]: Flavii Iosephi Opera. Bd. 6. Berlin 1955, S. 180 f.) Weitere Beispiele aus jüdischer und griechisch-römischer Umwelt bietet Willern C. van Unnik: Lob und Strafe durch die Obrigkeit. Hellenistisches zu Röm 13,3 - 4. In: Edward E. Ellis (Hg.): Jesus und Paulus. FS Werner G. Kümmel. Göttingen 1975, S. 334343; eine knappe Zusammenfassung mit dem Nachweis der einschlägigen Stellen findet sich auch bei Wolfgang Schrage: Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament (Anm. 1), s. 14- 28.
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gestellt. Irenaeus von Lyon etwa argumentiert folgendermaßen: "Wie der Teufel also am Anfang gelogen hat, so log er auch am Ende, indem er sprach: ,Dies alles ist mir übergeben worden, und wem ich will, gebe ich es.' (Lk 4,6) Denn nicht hat er die Grenzen der Königreiche dieser Welt abgesteckt, sondern Gott: ,Das Herz des Königs nämlich ist in der Hand Gottes.' (Spr 21,1) Und durch den Mund Salomons spricht das Wort: ,Durch mich regieren die Könige und üben die Herrscher Gerechtigkeit aus; durch mich werden die Fürsten erhoben und die Machthaber beherrschen durch mich die Erde.' (Spr 8,15 f.; vgl. Weish 6,20 f.) Und der Apostel Paulus sagt im gleichen Sinne: ,Seid allen obrigkeitlichen Gewalten untertan; denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott. Diese aber sind von Gott eingesetzt.' (Röm 13,1) Und weiter sagt er darüber folgendes: ,Denn nicht ohne Grund trägt die Obrigkeit das Schwert. Gottes Dieneein nämlich ist sie, eine Rächerin, die ein Zorngericht bewirkt an dem, der Böses tut.' (Röm 13,4) ... Das aber hat auch der Herr bestätigt; er tat nämlich nicht das, was ihm vom Teufel geraten wurde, sondern ließ den Steuereinnehmern für sich und für Petrus die Steuern geben (Mt 17,24 - 27), weil ,die Beamten, die in dieser Angelegenheit ständig tätig sind, Diener Gottes sind.' (Röm 13,6)"48 Entsprechende Beispiele aus verschiedensten Gattungen und Zeitabschnitten der beiden ersten Jahrhunderte ließen sich bequem vermehren. Die theologische Begründung für solch weitgehende Zugeständnisse an eine nichtchristliche Staatsmacht liefert das christliche Offenbarungswissen: Seit dem urgeschichtlichen Sündenfall (Gen 3,1- 24), anschließender ,Verwilderung' (Gen 4,1- 16; 6,1- 8) und Gottes postdiluvianischem Bund mit der Menschheit in Gestalt Noachs (Gen 9,1- 17) eignet dem Staat als solchem die Funktion gottgewollter, ebenso friedens- wie ordungsstiftender Chaosbändigung. Besagter Gedanke klingt nicht nur im Römerbrief (Röm 13,2) und der staatsfreundlichen Passage des ersten Petrusbriefes an: "Unterwerft euch (liebe Schwestern und Brüder, Anm. der Verf.) um des Herrnwillen jeder menschlichen Ordnung: dem Kaiser, weil er über allen steht, den Statthaltern, weil sie von ihm entsandt sind, um die zu bestrafen, die Böses tun, und die auszeichnen, die Gutes tun." (1 Petr 2,13 f.); sie prägt auch den gesamten Duktus des ersten Clemensbriefes.49 Wieder bringt aber Irenaeus von Lyon die vorhandenen Traditionen auf den Punkt: "Da nämlich der Mensch so sehr verwildert ist, nachdem er sich von Gott losgesagt hatte, daß er sogar seinen Blutsverwandten als Feind betrachtete (vgl. Gen 4,1- 16) und in gänzlicher Ruhelosigkeit, von Mordlust und Habgier getrieben, ohne moralische Scheu lebte (vgl. Gen 6,1- 8), pflanzte Gott den Menschen die Furcht voreinander ein - denn sie kannten die Furcht vor Gott nicht mehr, damit sie, der Gewalt der Menschen unterworfen und an ihr Gesetz gebunden, wenigstens zu einem gewissen Grade von Gerechtigkeit gelangen und sich in ihrem Umgang miteinander mäßigen aus Furcht vor dem Schwert, das ihnen sichtbar vor Augen geführt ist, wie der Irenaeus von Lyon: Adv. haer. 5,24,1 (SC 153, 294- 298). Vgl. bes. 1 C1em 20,1- 12 (Andreas Lindemann!Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Vater [Anm. 14], S. 102- 105). 48 49
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Apostel sagt: ,Denn nicht ohne Grund trägt die Obrigkeit das Schwert. Gottes Dienerin nämlich ist sie, eine Rächerin, die ein Zorngericht bewirkt an dem, der Böses tut' (Röm 13,4; vgl. 1 Petr 2,14). Deshalb werden auch die Regierungen selbst, welche die Gesetze als Kleid der Gerechtigkeit haben, keiner Prüfung und keiner Strafe im Hinblick auf all das unterzogen werden, was sie in gerechter und gesetzmäßiger Weise getan haben." 50 Jenseits dieser eher anthropologisch-staatstheoretisch gehaltenen Begründung begegnet innerhalb des Schriftgutes kirchlicher Frühzeit aber auch eine Erklärung prinzipieller Staatstreue der christlichen Glaubensgemeinschaft, die sich aus alttestamentlich-jüdischer (Dan) und neutestamentlich-christlicher Apokalyptik (Offb 18,1 - 8; 2 Thess 2,7 f. 51 ) herschreibt, eine Chaosbändigungs-Funktion der nichtchristliehen Staatsmacht als selbstverständlich voraussetzt und speziell im römischen Weltreich den erwünschten Schutzwall gegen einen baldigen Auftritt des Antichristen erblickt. Stellvertretend für viele ähnlich denkende Autoren mag Tertullian stehen, der an dieser geschichtsmetaphysischen Überlegung gleichzeitig den Wert des biblisch eingeforderten und frühchristlich geübten Gebetes für Repräsentanten nichtchristlicher Staatsmächte (Esra 6,10; I Tim 2,1 u. a.) bemißt: "(E)s heißt auch ausdrücklich und klar: ,Betet für die Könige und für die Fürsten und Mächtigen, damit alles ruhig sei für euch!' (1 Tim 2,1). Denn wenn das Reich erschüttert wird, werden mit der Erschütterung seiner 50 lrenaeus von Lyon: Adv. haer. 5,24,2 (SC 153, 298 - 302). Ebenso wie die grundsätzliche Bejahung der Staatsmacht ist auch deren Ableitung aus menschlicher Existenzangst Gemeingut der antiken Staatstheorie. Alexander Demandt: Christentum und Staat (Anm. 1), S. 77 f. etwa faßt das platonische Denken (gemäß Platon: Pol. 2, 369b-372c [Dietrich Kurz [Hg.]: Platon. Der Staat [Piaton. Werke. Bd. 4: Politeia]. Darmstadt 1971, S. 127- 139] u. a.) wie folgt zusammen: "Die Furcht ist die Mutter der Gesetzgebung." Nicht anders denken römische Kreise (vgl. Lukrez: Derer. nat. 925- 1027; Cyrill Bailey [Hg.]: De rerum natura libri sex. Oxford 1951, o. S.); noch Laktanz: De opif. 4 (CSEL 27 I 1, 14- 19) wiederholt diese Auffassung. Der jüdische Hohepriester Chananja wiederum soll noch kurz vor dem Ausbruch des jüdischen Krieges (im Jahre 66) geäußert haben: "Bete für das Wohl der Regierung (in Rom, Anm. der Verf.), denn wenn nicht die Furcht vor ihr da wäre, hätten wir schon einer den anderen lebendig verschlungen." (Mischna Aboth 3,2; Bill. 3, 304) Und selbst nach der Zerstörung des Tempels (im Jahre 70) vertrat Rabbi Jose ben Qisma die Meinung: "(W)eißt du (Chananja, Anm. der Verf.) nicht, daß man diese römische Nation vom Himmel her zur Herrseherin gemacht hat? Denn sie hat sein Haus zerstört und seinen Tempel verbrannt und seine Frommen getötet und seine Edlen vernichtet - und sie besteht noch immer!" (b Aboda Zara 18a; Bill 3, 303 f.) 51 ,Jhr (die Gläubigen von Thessalonich, Anm. der Verf.) wißt auch, was ihn (den Widersacher Christi, Anm. der Verf.) noch zurückhält, damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muß erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält" (2 Thess 2,6 f.) Jene paulinische Vorstellung vom ,Endzeithemmnis' wurde durch die christliche Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit stets auf das Römische, weilletzte der vier Weltreiche aus dem Buch Daniel gedeutet (Dan 7,1 - 27); vgl. Anm. 52. Zurneueren Diskussion siehe: Jozef Kaczewski: To katechon - ho katechon (2 Tes 2,6 - 7). Kritik der neueren Lösungen und eine eigene Proposition. In: ACra 24 (1992), S. 153- 170; Lambertus J. Peerbolte: The katechon/katechon of 2 Thess. 2:6- 7. In: NT 39 (1997), S. 138- 150; Charles E. Powell: The identity of the ,restrainer' in 2 Thessalonians 2:6- 7. In: BS 154 (1997), S. 320- 332.
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übrigen Glieder ja auch wir- wenn wir auch außerhalb der Unruhen zu stehen scheinen- an irgendeinem Ort von dem Unglück heimgesucht. Auch gibt es noch eine andere, höhere Notwendigkeit für uns, für die Kaiser zu beten, sogar für den Bestand des Reiches insgesamt und für das römische Gemeinwesen, da wir wissen, daß das gewaltige Unheil, das der ganzen Welt bevorsteht, und daß sogar das Ende der Welt, das mit entsetzlichem Ungemach droht, durch die dem Römischen Reich gewährte Frist aufgehalten werden (vgl. Oftb 18,1- 8; 2 Thess 2,7 f.). Deshalb wollen wir dies nicht erleben, und solange wir um Aufschub bitten, verlängern wir das Weiterbestehen des Römischen Reiches." 52 Entsprechende Überlegungen biblischen wie nichtbiblischen Schriftgutes kirchlicher Frühzeit erheben die nichtchristliche Staatsmacht zu einer prinzipiell gottgewollten und geschichtsmetaphysisch wenigstens vorübergehend notwendigen Instanz ,natürlichen Rechts'. Gleichwohl bezeichnen sie nicht mehr als eine grundsätzliche Zustimmung zur nichtchristliehen Staatsmacht als unentbehrlicher Prädisposition menschlich-irdischer Existenz. Diese Zustimmung konnte sich - wie etwa in der lukanischen Apostelgeschichte - sogar zu einem realisierungsbedürftigen Wunschbild verdichten, wenn das rechtssetzende Verhalten nichtchristlicher Staatsmacht in persona seines jeweiligen Repräsentanten und in concreto seiner jeweiligen Handlungen dem christlichen Offenbarungswissen tatsächlich entsprach; zu den alttestamentlichen Zeiten Esras setzte dies die ,Pax persica' voraus (vgl. Esra 6,10), in den Tagen kirchlicher Frühzeit war eine umfassende ,Pax romana' hierfür kaum weniger unerläßlich. Diese aber war spätestens seit den Tagen eines Nero und Domitian53 latent gefährdet; das Wunschbild nichtchristlicher Staatsmacht konnte sich jederzeit in dessen Zerrbild verwandeln, wenn statt bloßer Zustimmung zur Staatsmacht ,an sich' die göttliche Verehrung ihres jeweiligen Repräsentanten anstand. 54 Auch für den Fall einer solchen Nagelprobe setzte die christliche Traditionskette aus alttestamentlichem, neutestamentlichem und übri52 Tertullian: Apo!. 31,3-32,1 (CChr.SL I, 142f.); diese Schrift entstand wahrscheinlich im Jahre 197. Derselbe Gedanke begegnet bei Tertullian: Ad Scap. 2,6 (CChr.SL 2, 1128); De resurr. mort. 24, 17f. (CChr.SL 2, 952); Ad nat. 2,17,18 f. (CChr.SL 1, 75). Siehe außerdem Hippolyt von Rom: Comm. in Dan. 3,23,1-4 (SC 14, 156); 4,8- 10 (SC 14, 171- 174)
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53 Neuere Forschungen ergeben allerdings zumindest hinsichtlich der Herrschaft Domitians ein sehr viel gemäßigteres Bild; den momentanen Forschungsstand referiert: Jörg Ulrich: Euseb, HistEeei III,14- 20 und die Frage nach der Christenverfolgung unter Domitian. In: ZNW 87 (1996), S. 269-289. 54 Freilich oblag die Pflege des Herrscherkultes normalerweise den kommunalen Behörden und entsprang nur in Ausnahmefällen kaiserlicher Anordnung: ,,Auch der Kaiserkult war keine ,von oben' dekretierte oder gar erzwungene Loyalitätsreligion. Er entstand unter Augustus, dem ,Retter' der Welt, gewissermaßen spontan auf privater, städtischer wie provinzialer Ebene. Augustus bemühte sich, die kultische Verehrung des Herrschers in Bahnen zu lenken, die sich mit den republikanischen Zügen des Kaisertums einigermaßen vereinbaren ließen. Die ,guten' Kaiser des ersten und zweiten Jahrhunderts sind ihm darin gefolgt." (Klaus Bringmann: Christentum und römischer Staat im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. [Anm. 1], S. 13)
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gern Schriftgut der beiden ersten Jahrhunderte eindeutige Rechtsnormen. Weil im Altertum allgemein üblich, bereitete die staatstheoretische Trennung zwischen Prädisposition (Staatsmacht) und Realisation (Herrscherpersönlichkeit) der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit dabei keine Probleme; 55 mit Clemens von Rom, Justin dem Märtyrer und Tertullian konnte man der nichtchristliehen Herrscherperson weit entgegenkommen und qua seiner göttlichen Einsetzung (,a nostro deo constitutus') sogar dessen Gottesnähe (,secunda maiestas') anerkennen: "Wir verehren also auch den Kaiser, und zwar auf solche Weise, wie es uns erlaubt ist und ihm selbst nützt, nämlich als einen Menschen, der nach Gott den zweiten Rang einnimmt (a deo secundum) und dem das, was er ist, von Gott verliehen worden ist und der gleichwohl geringer ist als der eine Gott. Dies wird er auch selbst wollen. So ist er nämlich größer als alle, da er ja nur geringer ist als der eine Gott. So ist er sogar größer als die Götter selber, da sie dann nämlich selber in seiner Gewalt sind. "56 - "Aber was soll ich weiter über die christliche Ehrfurcht und das christliche Pflichtgefühl gegenüber dem Kaiser sprechen? Zu ihm müssen wir emporblicken als zu demjenigen, den unser Herr erwählt hat (quem Dominus noster elegit), so daß ich mit Recht sagen könnte: Zu uns gehört der Kaiser mehr, denn von unserem Gott ist er eingesetzt (a nostro deo constitutus)."57 Das Gebet 55 Die entsprechende Vorstellung vom Eintritt der jeweiligen Herrscherpersönlichkeit in die heilsgewiße Aura der prädispositiven Staatsmacht qua ,Erwählung' (und eines rituellen Zeichens wie etwa der Salbung) findet sich bereits im Alten Testament (1 Sam 9,1 - 10,27; 16,1 - 13; 2 Sam 7,1 - 29 u. a.); die griechisch-römische Staatstheorie faßte den Vorgang ähnlich: ,Tyche', ,genius' oder ,numen' gingen durch einen formalen Rechtsakt auf die jeweilige Herrscherpersönlichkeit über; diese avancierte damit zum ,sanctissimus imperator'. Besagter Titel wiederum war noch unter den christlichen Kaisern völlig geläufig; vgl. zum Gesamtzusammenhang: Johannes Straub: Des christlichen Kaisers ,secunda maiestas'. Tertullian und die Konstantinische Wende (1979). In: Ders.: Regeneratio imperii. Aufsätze über Roms Kaisertum und Reich im Spiegel der heidnischen und christlichen Publizistik. Bd. 2. Darmstadt 1986, S. 63- 74 (mit weiterführenden Literaturangaben). Von christlicher wie nichtchristlicher Seite wurde die geschilderte Vorstellung gelegentlich benutzt, um den Herrscherkult entweder plausibler zu machen oder ihn als mit dem christlichen Glauben vereinbar hinzustellen; beides lehnte die frühchristliche Glaubensgemeinschaft entschieden ab: ,,Bei der Tyche des Kaisers freilich schwören wir nicht ( ... ). Zwar haben einige behauptet, die Tyche sei nur ein Begriff ähnlich wie die Begriffe Meinung und Unterscheidung; nun, dann schwören wir nicht bei einem Ding, das überhaupt nicht existiert, und tun nicht so, als sei es ein Gott und existiere wirklich und sei fahig, etwas zu bewirken." (Origenes: Contra Celsum 8,65 [GCS 3, 280- 282]; vgl. auch Mart. Polyc. 10 [Andreas Lindemann!Henning Paulsen [Hg.]: Die Apostolischen Väter [Anm. 14], S. 270f.]) 56 Tertullian: Ad Scap. 2,7 (CChr.SL 2, 1128). Besagter Text wurde für die Entwicklung des spätantiken und mittelalterlichen ,Gottesgnadentums' von entscheidender Bedeutung; vgl. Johannes Straub: Des christlichen Kaisers ,secunda maiestas' (Anm. 55). Hierauf beruft sich noch Optatus von Mileve: Contra Parmen. (CSEL 26, 75); siehe hierzu bes. Joseph Listl: Der Wandel vom christenverfolgenden zum ketzerverfolgenden spätantiken römischen Staat. Kirche und Staat bei Bischof Optatus von Mileve (1994). In: Josef Isensee u. a. (Hg.): Joseph Listl: Kirche im freiheitlichen Staat. Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 25). Bd. 2. Berlin 1996, S. 1073- 1099. 57 Tertullian: Apol. 33,1 (CChr.SL 1, 143). Tertullian benutzt dabeijuristische Begrifflichkeit: ,Divinitus constitutus' ist der römische Kaiser auch nach Plinius, allerdings mit dem
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für die Repräsentanten nichtchristlicher Staatsmacht war ohnehin selbstverständlich;58 ein Gebet zu ihnen aber mindestens ebenso definitiv ausgeschlossen. Unter Hinweis auf das verbindliche Vorbild des alttestamentlichen Priesters Mattatias (l Makk 2,19- 21), der Apostel vor dem Synhedrion (Apg 5,29) und Jesu ureigenste Antwort auf die Frage nach dem kaiserlichen Besteuerungsrecht (Mk 12, 13 17) sah die christliche Glaubensgemeinschaft der kirchlichen Frühzeit in einem solchen Fall den ,status confessionis' gegeben: ",Man muß dem Kaiser geben, was des Kaisers ist.' Gut, daß der Herr hinzugefügt hat: ,Und was Gottes ist, muß man Gott geben.' Was also ist des Kaisers? Natürlich das, weswegen damals die Frage zur Sprache gebracht wurde, ob man dem Kaiser die Steuer zahlen dürfe oder nicht. Deshalb verlangte der Herr, man solle ihm eine Münze zeigen, und fragte, wer darauf abgebildet sei, und da er die Antwort erhielt, es sei der Kaiser, sagte er: ,Gebt, was des Kaisers ist, dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott', das heißt, das Bild des Kaisers, das sich auf der Münze befindet, dem Kaiser und das Bild Gottes, das im Menschen liegt (vgl. Gen 1,27), Gott, so daß du dem Kaiser dein Geld gibst, Gott aber dich selbst als Person (deo temet ipsum)."59 Eine entscheidende Einschränkung - erneut formuliert in Anlehnung an Schöpfungsordnung und bezeichnenden Unterschied ,ab Iove ipso repertus' (Plinius Secundus: Pan. Trai. 1,5; Mauritius Schuster [Hg.]: C. Plinii Caecili Secundi [ ... ] Panegyricus. Leipzig 1952, S. 368); vgl. hierzu etwa Jesse A. Fears: Princeps a diis electus. The divine election of the emperor as a political concept at Rome (PMAAR 26). Rom 1977, S. 144ff. 58 Auch das Gebet für die Repräsentanten der obersten Staatsmacht (etwa Roms) war zur Zeitenwende allgemein üblich. Im Jerusalemer Tempel etwa wurde bis kurz vor Ausbruch des Jüdischen Krieges (im Jahre 66) zweimal am Tag für Kaiser und Reich ebenso gebetet wie geopfert; vgl. Josephus Flavius: Bell. lud. 2,197; 2, 410ff. (Benedikt Niese [Hg.]: Flavii Iosephi opera. Bd. 6. Berlin 1955, S. 192; 230f.); Phiion von Alexandrien: Leg. Gai. 157. 232. 317. 356 (Andre Pelletier [Hg.]: Legatio ad Caium [Les Oevres de Phiion d' Alexandrie 32]. Paris 1972, S. 180-183; 223f.; 286f.; 310f.); Flacc. 48f. (Andre Pelletier [Hg.]: In Flaccum [Les Oevres de Phiion d' Alexandrie 31]. Paris 1967, S. 78 f.) u. a. Für die Stoa erwartbar (Epiktet: Diss. 3,24,2; Heinrich Schenk/ [Hg.]: Epicteti Dissertationes ab Arriani Digestae. Stuttgart 1965, S. 322), finden sich entsprechende Gebete noch in den hellenistischen Mysterienreligionen; vgl. Apuleius: Met. 11,17 (Rudolf Helm [Hg.]: Apulei Platonici Madaurensis Metamorphoseon libri XI. Leipzig 1968, S. 279 f.). Siehe hierzu etwa Franz Joseph Dölger: Zur antiken und frühchristlichen Auffassung der Herrschergewalt von Gottes Gnaden. In: AuC 3 (1932), S. 117- 127; Hans U. Instinsky: Die alte Kirche und das Heil des Staates. München 1963, S. 21 ff.; Peder Borgen: Moses, Jesus, and the Roman Emperor. Observations in Philo's writings and the Revelation of John. In: NT 38 (1996), S. 145 159. 59 Tertullian: De idol. 15,3 (CChr.SL 2, 1115f.); so urteilte schon Justin (vgl. Anm. 31 und die zugehörige Textpassage). Richtig gesehen wird dieser Zusammenhang auch von Peter Jansen: "Gottes Anspruch richtet sich auf die Ganzheit des Menschen, steht also nicht neben dem Anspruch des Kaisers, sondern er umfaßt diesen." (Peter Jansen: ,Mein Reich ist nicht von dieser Welt'. Das Verhältnis Staat - Kirche in Geschichte und Gegenwart. In: Leb Zeug 51 [1996], S. 121 - 136 [hier: S. 122]) Siehe außerdem: Wemer Stenger: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist ... ! Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zur Besteuerung Palästinas in neutestamentlicher Zeit (BBB 68). Frankfurt/M. 1988; Paul C. Finney: The rabbi and the coin portrait (Mark 12:15b, 16). Rigorism manque. In: JBL 112 (1993), s. 629-644.
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Gottebenbildlichk:eitsgedanken der alttestamentarischen Tradition (Gen 1,27)60 begrenzt demnach die Rechtsposition der nichtchristliehen Staatsmacht So sehr die prinzipielle Zustimmung der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit zur nichtchristliehen Staatsmacht Gottes Schöpfungsordnung und ,natürlichem Recht' entspricht, so sehr widerspricht beidem eine Bejahung widergöttlicher Ansprüche jeweiliger Repräsentanten nichtchristlicher Staatsmächte. Deren Anrecht auf staatsbürgerlichen Gehorsam endet am je größeren Recht Gottes auf gläubige Verehrung, ihre Macht an dessen, in seinem Sohn Jesus Christus endgültig geoffenbarten Willen. War Willfährigkeit der nichtchristliehen Staatsmacht gegenüber Gebot, so Gehorsamsverweigerung Pflicht, wenn einer ihrer Repräsentanten etwa in Fragen des Herrscherkultes aus Gründen bloßer Rechtsanmaßung gegen die göttliche Schöpfungsordung verstieß: Aus ,loyalen Staatsbürgern' wurden rasch ,passive Unruhestifter'. 61 Aufgrund besagter Trennung zwischen der abstrakten Staatsmacht und ihren personalen Repräsentanten opponierte die frühchristliche Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit jedenfalls niemals gegen nachgeordnet-jüdische, teilautark-hellenistische oder genuin-römische Herrschaft ,an sich'; vielmehr galten entsprechende Herrscherpersönlichkeiten wie Herodes Agrippa (Apg 12,19- 23), Nero oder Dornitian stets als Opfer dämonischer Mächte, die ihrerseits wieder dem ebenso gerechten wie erlösenden ,Gottesgericht' verfielen: "Weil aber in der menschlichen Natur nichts von Dauer ist, so mußte auch jene staatliche Ordnung (des alttestamentlichen Israel, Anm. der Verf.) in kurzer Zeit der Auflösung verfallen. Die Vorsehung jedoch machte das Ehrwürdige der jüdischen Lehre passend für alle Menschen ( ... ). Und weil Gott wollte, daß die Lehre Jesu bei den Menschen herrschend würde, so vermögen die Dämonen nichts, obwohl sie doch alle Hebel in Bewegung setzen, um die Christen auszurotten; sie hatten nämlich die Kaiser und den Senat und die Machthaber überall, ja sogar die Völker selbst, die von der unvernünftigen und bösen Tatigkeit der Dämonen nichts merkten, gegen den christlichen Glauben und seine Bekenner aufgestachelt. " 62 60 Erneut verweist das christliche Schriftgut der beiden ersten Jahrhunderte dabei auf nichtchristlich-nichtjüdische Parallelen im platonisch-stoischen Ebenbildlichkeitsdenken; vgl. Platon: Tim. 92c (Klaus Widdra [Hg.]: Platon. Timaios. Kritias. Philebos [Platon. Werke. Bd. 7]. Darmstadt 1972, S. 208f.) u. a. Die entsprechende Auffassung des Aratos von Soloi (Phaen. 5; Ernst Maass [Hg.]: Aratos. Phaenomena. Berlin 1955, S. 3) wiederum findet sich zitiert in der Inkanischen Apostelgeschichte (Apg 17,28); siehe außerdem: H. Merki: Art. Ebenbildlichkeit. In: RAC Bd. 4. Stuttgart 1959, Sp. 459-479. 61 Diese Meinung vertreten m. E. zurecht Joachim Molthagen: Rom als Garant des Rechts und als apokalyptisches Ungeheuer (Anm. 9), S. 139- 142 und Klaus Bringmann: Christentum und römischer Staat im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. (Anm. 1), S. 11. Klaus Bringmann faßt bezüglich der beiden ersten Jahrhunderte wie folgt zusammen: ,,Als Religionsfrevel und Majestätsverbrechen ist die Zugehörigkeit zum Christentum von Staats wegen nicht verfolgt worden. ( ... ) Das Ziel war, um mit Ulpian zu reden, ut pacata atque quieta provincia sit. Störende Elemente waren zu beseitigen. Im Falle der Christen bestand die Schwierigkeit nur darin, daß sie nicht Kriminelle oder aktive Staatsfeinde, sondern gewissermaßen passive Ruhestörer waren - und dies galt ( ... ) dann, wenn die heidnische Mehrheit oder einzelne Heiden in den Städten des Reiches an ihnen schweren Anstoß nal!men." (Ebd., s. 3; 11)
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Trost und Hilfe in den apokalyptischen Traditionen des Alten und Neuen Testaments (Dan; Offb) suchte die christliche Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit schließlich nicht selten angesichts plötzlicher oder langwieriger, kommunaler oder zentral gesteuerter Verfolgungen. 63 Eine üblicherweise eher latente Gefährdung innerhalb der ,Pax romana' mutierte dann zur allgegenwärtigen Bedrohung, das Zerrbild nichtchristlicher Staatsmacht endgültig zum Schreckbild endzeitlicher Bedrängnis. Aus christlicher Perspektive enthüllte die römische (Un-) Rechtsordnung ihr häßliches Antlitz: "Und ich sah eine Frau auf einem scharlachroten Tier sitzen, das über und über mit gotteslästerlichen Namen beschrieben war und sieben Köpfe und zehn Hörner hatte. Die Frau war in Purpur und Scharlach gekleidet und mit Gold, Edelsteinen und Perlen geschmückt. Sie hielt einen goldenen Becher in der Hand, der mit dem abscheulichen Schmutz ihrer Hurerei gefüllt war. Auf ihrer Stirn stand ein Name, ein geheimnisvoller Name: Babylon, die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde. Und ich sah, daß die Frau betrunken war vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu" (Offb 17,3 - 6; vgl. 1 Petr 5,13)64 • Selbst lrenaeus von Lyon, sonst ausgewiesener Zeuge einer staatsfreundlichen Haltung der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit, hilft sich angesichts blutiger Verfolgungssituationen des Jahres 177 durch apokalyptische Bildermacht und eine Gleichsetzung des römischen Weltreiches mit dem endzeitliehen ,Tier' der Offenbarung des Johannes (Offb 13; 17); 65 entsprechende Deutungen finden sich häufig und bestimmen selbst dort den Denkhorizont der kirchlichen Frühzeit, wo ein faktenorientierter Bericht literarisch-apokalyptischer Gestaltung vorgezogen wird. So heißt es in einem Brief der Gemeinden von Lyon und Vienne über die pogromartigen Verfolgungen des Jahres 177: "Denn mit gan62 Origenes: Contra Celsum 4,32 (GCS 2, 302 f.; Übs. nach: Paul Koetschau [Hg.]: Des Origenes acht Bücher gegen Celsus. Bd. 1. München 1926, S. 337 f.). Wie Origenes urteilten schon vorher Justin: Apo!. 1,5,1- 3; 2,1,2 (Miroslav Marcovich [Hg.]: lustini Martyris Apologiae pro Christianis [Anm. 31], S. 38 f.; 135 f.); lrenaeus von Lyon: Adv. haer. 5,24,2 (SC 153, 300 f.); Tertullian: Apo!. 27,3- 7 (CChr.SL I, 138 f.). Noch Laktanz greift bezüglich der domitianischen Verfolgungstätigkeit zu dieser Deutung: ,,Nachdem er (Domitian, Anm. der Verf.) sich aber zur Verfolgung des gerechten Volkes durch den Antrieb der Dämonen hatte verleiten lassen, geriet er in die Hände seiner Feinde und erlitt die verdiente Strafe. Denn es war der Rache noch nicht genug, daß er in seinem Palast ermordet wurde; es wurde auch die Erinnerung an seinen Namen ausgelöscht." (Laktanz: De mort. pers. 3,2 [CSEL 27/ 2, I 77]) Siehe dazu auch Kun Aland: Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit (Anm. 1), S. 72- 90. 63 Zur unterschiedlichen Verfolgungssituation vgl. die Dokumentation bei: Peter Guyot/ Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen (Anm. 1), S. 16191. In den beiden ersten Jahrhunderten herrschten kommunale, meist pogromartig ablaufende Aktionen vor; vgl. auch Anm. 61. 64 Vgl. zur apokalyptischen Terminologie Anm. 28 dieser Arbeit. Entsprechend alttestamentlichen Vorgaben ist der ,Hurerei'-Vorwurf hier nicht im wörtlichen Sinne gebraucht; er bezeichnet vielmehr den Tatbestand des ,Götzendienstes' (Lev 17,6f.; 20,5; Ps 106,38f.; Jer 2,23- 25; Ez 16,15- 34 u. v. a.). 65 lrenäus von Lyon: Adv. haer. 5,26,1 (SC 153, 324- 331); 5,30,3 (SC 153, 378- 385); vgl. auch Hippolyt von Rom: Comm. in Dan. 4,10 (SC 14, 174) u. v. a.
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zer Kraft stürzte sich der Widersacher auf uns und gab damit schon ein Vorspiel seiner zukünftigen, furchtbaren Ankunft, und er ließ nichts unversucht, indem er die Seinen einübte und zum Kampf gegen die Diener Gottes vorbereitete, so daß man uns nicht nur von den Häusern, Thermen und vom Forum ausschloß, sondern keinem von uns mehr erlaubte, sich überhaupt an irgendeinem Ort blicken zu lassen. " 66 Die radikal staatskritische Haltung apokalyptischer Texte und Denkstrukturen steht freilich keineswegs im Widerspruch zur prinzipiell staatsbürgerlichen Loyalität der christlichen Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit: Noch verhindert das Bestehen des Römischen Reiches wenigstens vorläufig die Ankunft des Antichristen. Außerdem wird die Verfolgungsaktivität nie einer Staatsmacht angelastet, sondern der jeweiligen Herrscherperson; und diesbezüglich atmen die apokalyptisch beeinflußten Texte eine enorme Glaubenszuversicht Über kurz oder lang ereilt das gerechte und erlösende Gottesgericht die Verfolger der ,Diener Gottes' unausweichlich. Vor allem aber eignet den apokalyptischen Schriften sämtlich ein gern übersehener Trost- und Stärkungscharakter.67 Nicht um die Aufzählung endzeitlicher Plagen ist es den Autoren zu tun, sondern um Glaubenskraft und Erlösungsgewißheit: "Wenn einer Ohren hat, so höre er. Wer zu Gefangenschaft bestimmt ist, geht in die Gefangenschaft. Wer mit dem Schwert getötet werden soll, wird mit dem Schwert getötet. Hier muß sich die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der Heiligen bewähren." (Offb 13,9 f.) Denn immer wieder zeichenhaft, zuletzt aber unwiderruflich enden die apokalyptischen Drangsale in einem ,neuen Himmel und einerneuen Erde' (Offb 21,1): ,,Es wird nichts mehr geben, was der Fluch Gottes trifft. Der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt stehen, und seine Knechte werden ihm dienen. Sie werden sein Angesicht schauen, und sein Name ist auf ihre Stirn geschrieben. Es wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit." (Offb 22,3 - 5) Verwunderlicher noch als die Abkehr von staatsverneinenden, revolutionären oder usurpatorischen Bestrebungen68 erscheint unter den geschilderten Gefährdun66 Eusebius von Caesarea: Hist. Eccl. 5,1,5 (GCS 9/1, 402). Irenaeus von Lyon diente um 177 der Lyoneser Gemeinde als Presbyter. 67 Vgl. hierzu etwa Heinz Giesen: Ermutigung zur Glaubenstreue in schwerer Zeit. Zum Zweck der Johannesoffenbarung. In: TihZ 105 (1996), S. 160- 173. 68 Dieser Unterschied zu zelotischen oder qumran-essenischen Kreisen des Judentums ist evident; vgl. hierzu etwa Wolfgang Schrage: Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament (Anm. 1), S. 14- 28. Eine Formulierung wie die der zwölften Benediktion des jüdischen Achtzehngebetes ("Die freche Regierung [Roms, Anm. der Verf.] mögest du [Gott, Anm. der Verf.] eilends ausrotten!") findet sich im christlichen Schriftgut der beiden ersten Jahrhunderte nirgends; siehe ebd., S. 22. Zudem stellen christliche Texte gerne die Differenz zu griechisch-römischem Machiavellismus heraus: "So werden wir auch in Beziehung auf die Majestät des Kaisers verleumdet; gleichwohl konnte man niemals Christen finden, die Anhänger der (Usurpatoren, Anm. der Verf.) Albinus, Niger oder Cassius gewesen wären, sondern es waren dieselben Leute, die tags zuvor noch bei deren Genius geschworen, für ihr
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gen durch nichtchristliche Staatsmächte der weitestgehende Verzicht auf politisch gestaltende Einflußnahme. Der Gedanke an ein christliches Kaisertum etwa begegnet in den beiden ersten Jahrhunderten offensichtlich nicht; selbst entsprechende Legenden über Severus Alexander oder Philippus Arabs entstammen dem späten 3. Jahrhundert. 69 Ihrer Verfolgungstätigkeit wegen verurteilt, oder ihrer Bekehrung wegen gerühmt wurden durchgängig nur die Repräsentanten der Staatsmacht; im Rahmen christlichen Rechtsverständnisses ist besagte Haltung allerdings lediglich konsequent: Weil von den umfassenden Folgen des urchristlichen Sündenfalles gezeichnet (Gen 3,1 - 24; Röm 5,12- 21), prolongierte ein wie auch immer gearteter Wechsel in der Person des Herrschers lediglich die latente Korrumpierbarkeit der Staatsmacht Einer durch den Sündenfall prädispositiv beschädigten Welt aber konnte gültige Erlösung - etwa aus Verfolgung oder ,Götzendienst' -nur von Gott und ,dem Lamm' (Offb 22,3) her zuteil werden; gleichgültig, ob in Zeiten angestrengter ,Naherwartung' oder zehrender ,Stetsbereitschaft',- um je neu zeichenhafte, einstmals aber endgültige Errettung bei Christi Wiederkunft flehte die christliche Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit. Bis dahin aber galten der nichtchristlichen Staatsmacht gegenüber Sätze ,Heiligen Rechts' (Ernst Käsemann) 70 wie jener: "So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!" (Mk 12,17) Die vorangegangenen Überlegungen sollten der Ausleuchtung des Verständnishorizontes frühchristlichen Rechtsdenkens dienen. Nicht sublime Gleichgültigkeit gegenüber nichtchristliehen Staatsmächten aus womöglich höherer Warte prägt ihnen zufolge den scheinbar disparaten Textbefund, sondern ein dem Offenbarungszusammenbang entnommenes Glaubenswissen um die chaosbändigende Funktion von Staatsmächten ,an sich', den sich daraus ableitenden Ansprüchen des jeweiligen Herrschaftsträgers und deren unüberschreitbare Grenze im Willen Gottes. Frühes ,Kirchen-Recht' erscheint von daher - jedenfalls in den beiden Wohl Opfer dargebracht und Gelübde abgelegt und die Christen oft verurteilt hatten, die sich als Feinde des Kaisers entpuppten." (Tertullian: Ad Scap. 2,5 [CChr.SL 2, 1128]) 69 "Und das bedeutet, daß die Christen sich noch lange nicht dazu aufgerufen wußten, eine eigene Konzeption von einem ,christlichen Staat', einer christlichen Gesellschaftsordnung zu entwerfen, - also die res publica in eine res publica Christiana zu verwandeln. Sie konnten sich kaum vorstellen, daß sich ein Kaiser zu ihrem Glauben bekehren werde." (Johannes Straub: Des christlichen Kaisers ,secunda maiestas' [Anm. 55], S. 69f.) Noch Origenes vermag diesen Gedanken nur im rein fiktiven Raum durchzuspielen; vgl. Origenes: Contra Celsum 8,69 f. (GCS 3, 285 f.). Zu den genannten Legenden vgl. Scriptores historiae Augustae: Severus Alexander 29,1 f.; 43,5- 7; 45,6f.; 49,6; 51,7f. (Ernst Hohl [Hg.]: Scriptores historiae Augustae. Bd. 1. Leipzig 1955, S. 272 f.; 285 f.; 287; 290; 292); über Philippus Arabs siehe Eusebius von Caesarea: Hist. eccl. 6,34 (GCS 9/2, 586f.). 70 Diesen Ausdruck prägte Ernst Käsemann; vgl. E. Käsemann: Sätze heiligen Rechtes im Neuen Testament (1954/55). In: Ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen. Bd. 2. Göttingen 1964, S. 69- 82. Er bezeichnete damit neutestamentliche Redeformen, die exakt im Stil formeller Rechtssätze gehalten sind (Mt 5,19; 6,14f.; Mk 8,38; 1 Kor 3,17; 14,38; 16,22; Gal1,9; Offb 22,18f. u. a.). Mk 12,17 parr. gehört ebenso dazu wie Teilabschnitte von Röm 13,1-7.
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ersten Jahrhunderten und hinsichtlich des Verhältnisses der Glaubensgemeinschaft kirchlicher Frühzeit zur nichtchristliehen Staatsmacht - als stimmiger Anwendungsfall christlicher Offenbarungsdeutung; bezeichnenderweise erbringt eine entsprechende Untersuchung frühchristlicher Gemeindeordnungen ganz ähnliche Ergebnisse. "Allen (frühen Gemeindeordnungen, Anm. der Verf.) ist gemeinsam, daß sie die Schrift des Alten und Neuen Testaments bzw. das Evangelium für die eigentliche Kirchenordnung ansehen. Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, daß alle wesentlichen Vollzüge des Gemeindelebens in der Schrift geregelt sind.'m Insofern gilt offensichtlich mindestens für die kirchliche Frühzeit, was der Verfasserin aus zahlreichen Gesprächen mit dem Jubilar als dessen ,kirchenrechtliches Grundbekenntnis' im Sinn bleiben wird: "Kirchenrecht ist - geronnene Dogmatik"!
71 Georg Schöllgen: Pseudapostolizität und Schriftgebrauch in den ersten Kirchenordnungen. Anmerkungen zur Begründung des frühen Kirchenrechts. In: Ders. u. a. (Hg.): Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. FS Ernst Dassmann (JAC.E 23). Münster 1996, S. 96- 121 (hier: S. 119).
Die Kirchen im Recht der Europäischen Union Von Markus Heintzen
I. Wären der Vertrag über die Europäische Union oder der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft eine europäische Verfassung 1, so wäre dies- denkt man eine Erklärung zum Amsterdamer Vertrag hinweg - eine Verfassung ohne die Kirchen und ohne Regelungen über das Verhältnis zwischen ihnen und der so verfaßten Hoheitsgewalt, den Mitgliedstaaten und den Unionsbürgem. Diesen Textbefund empfinden die christlichen Kirchen als enttäuschend, steht er doch in einem Widerspruch zu der Rolle, welche sie überall in Europa spielen, jedenfalls sehr lange Zeit gespielt haben 2 , und unterscheidet er die Kirchen etwa von politischen Parteien, Verbänden oder Sozialpartnern. Der Befund wird nicht dadurch relativiert, daß das europäische Primärrecht, wenn überhaupt, nur eine Rahmen-, nicht eine Vollverfassung see und daß es sich auf die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion konzentriere. Das trifft so nicht zu. Der Unions- wie der EG-Vertrag enthalten- vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ausgehend - umfangreiche Kataloge von Zielen, Aufgaben und Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse, deren Umfang vielleicht gerade durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung veranlaßt ist, die sich schon lange nicht mehr auf ökonomische Dinge beschränken und bei denen der wichtigste Lebensbereich, der fehlt, eben das Religiöse ist. 1 Darauf, daß das Verhältnis von Union und Gemeinschaft und die Verfassungsqualität des europäischen Primärrechts umstritten sind, sei hier nur hingewiesen. Für das Folgende hat dies keine Bedeutung. Zur Verfassungsfrage etwa Kaufmann, Der Staat, 1997, S. 521 ff.; Kpenig, DÖV, 1998, S. 268ff.; ders., NVwZ, 1996, S. 549ff.; Lecheler, GS Grabitz, 1995, S. 393 ff.; ferner die Beiträge im Beiheft 2/1998 zu der Zeitschrift Europarecht, hrsg. von von Bogdandy und Ehlermann; zum Verhältnis von Gemeinschaft und Union Pechstein!Koenig, Die Europäische Union, 2. Aufl., 1998, S. 4 ff. Im Folgenden wird der Begriff Europäische Union so verwandt, daß er die Europäische Gemeinschaft umfaßt. 2 Zu dieser Rolle Hollerbach, ZevKR, 35 (1990), S. 250f.; Starck, EssGespr, 31 (1997), S. 5ff. 3 Zu den verfassungstheoretischen Alternativen, die hinter Begriffen wie Rahmen- und Vollverfassung stehen: Böckenförde, FS Scupin, 1983, S. 321 ff.; ders., AöR 106 (1981), S. 597 ff. Der Begriff Vollverfassung setzt Kompetenz-Kompetenz voraus; da diese der EG abgeht, paßt er auf sie allemfalls eingeschränkt.
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Markus Heintzen
Der Befund wird etwas dadurch relativiert, daß die Europäische Union auf dem Gebiet des Staatskirchenrechts über keine unmittelbar einschlägigen Rechtsetzungskompetenzen verfügt und daß europäisches Gemeinschaftsrecht auf reine Inlandssachverhalte grundsätzlich keine Anwendung findet. Doch ist hier Vorsicht geboten. Zahlreiche EG-Rechtsetzungskompetenzen können die Bereiche Religion und Kirche mittelbar betreffen4 ; wenn Kirche und Religion vom primären Gemeinschaftsrecht nicht registriert werden, ist ein religionsindifferenter europäischer Rechtsetzer sich dessen möglicherweise noch nicht einmal bewußt. Und die Rechtsprechungskompetenz des EuGH reicht weit in die Mitgliedstaaten hinein. 5 Insbesondere begreift das Luxemburger Gericht inzwischen alle Grundfreiheiten des EG-Vertrags nicht mehr nur als Diskriminierungsverbote, sondern auch als Beschränkungsverbote6 ; dies bewirkt, daß jede nationale Regelung, welche die Ausübung einer Grundfreiheit mittelbar-faktisch erschwert, auch wenn sie keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält, einer gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle anheimfällt. Auf der Regierungskonferenz von Amsterdam ist die Aufnahme eines Religionsartikels in den Unionsvertrag vorgeschlagen worden, um den staatskirchenrechtlichen Negativbefund zu überwinden. Der Vorschlag lautete: "Die Europäische Union achtet die verfassungsrechtliche Stellung der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten als Ausdruck der Identität der Mitgliedstaaten und ihrer Kulturen sowie als Teil des gemeinsamen kulturellen Erbes." Er konnte nicht ver4 Beispiel: der Ausschluß von Unternehmen, die Sekten nahestehen, von der Vergabe öffentlicher Aufträge und seine Vereinbarkeil mit den EG-Vergaberichtlinien; dazu etwa Brenner, Der Ausschluß von Wettbewerbern als Sanktion im öffentlichen Auftragswesen vor dem Hintergrund der EG-Richtlinien, 1997, S. 26ff. (dazu jetzt § 97 Abs. 4 2. Alt. GWB). Allgemein zu den Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts für die Kirchen: Hollerbach, ZevKR, 35 (1990), S. 277ff.; Link, ZevKR, 42 (1997), S. 137ff.; Robbers, EssGespr, 27 (1993), S. 82, 88 ff., der zu Recht das Ämter-, Dienst- und Arbeitsrecht hervorhebt (S. 91); ders., in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auf!., Bd. I, 1994, S. 326ff.; Streinz, EssGespr, 31 (1997), S. 71 ff. Vgl."auch die Gemeinsame Stellungnahme des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen des europäischen Einigungsprozesses, abgedruckt u. a. in EssGespr, 31 (1997), S. 153 (158 ff.). Zur kirchlichen Sicht ferner Rißmann, europablätter, Nr. 3/1997 (Beilage zum Bundesanzeiger), S. 53ff.; Schätz/er, Die europäische Einigung und die Kirchen, Kirche und Gesellschaft, Heft 255/ 1998; Turowski, Kirche und Recht, 1195, S. 13 ff. und 3/95, S. 13 ff. 5 Übersicht über die EuGH-Rechtsprechung, die für die Kirchen relevant ist, bei Robbers, EssGespr, 27 (1993), S. 82ff.; Streinz, EssGespr, 31 (1997), S. 63ff.- Ein Beispiel für ein Ausgreifen der EG in Bereiche, in denen sie - vorbehaltlich des nicht genutzten Art. 100 EGV - keine Rechtsetzungskompetenzen hat, ist das Recht der direkten Steuern, das von Art. 99 EGV nicht erfaßt wird: dazu EuGH Slg. 1992, S. 249 (Bachmann), 1993, S. 4017 (Commerzbank), 1995 I, S. 225 (Schumacker), 1995 I, S. 2493 (Wielockx), 1996 I, S. 3089 (Asscher), 1997 I, S. 2471 (Futura). 6 Dazu- statt vieler- Herdegen, Europarecht, 1997, Rn. 278f.; Streinz, EssGespr, 31 (1997), S. 74f. Zum Innovationspotential dieser Rechtsprechung Brenner, in: HoffmannRiem/ Schneider (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, 1998, S. 370.
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wirklicht werden. 7 Die Kirchen, die religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften und die weltanschaulichen Gemeinschaften8 finden sich statt dessen in einer Erklärung wieder, die von der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten angenommen und der Amsterdamer Schlußakte beigefügt worden ist, der elften von insgesamt 51 solcher Erklärungen, eingerahmt von Aussagen über die Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungsverfahren in den Bereichen polizeiliche undjustitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Erklärung Nr. 10) und über Umweltverträglichkeitsprüfungen (Erklärung Nr. 12).9 Die Erklärung hat folgenden Wortlaut: "Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise." Diese Erklärung wirft eine Reihe von Fragen auf, von denen zwei hier behandelt werden sollen 10 : erstens die Frage nach dem juristischen Wert einer "Erklärung" und zweitens die Frage, in welchem Verhältnis der Inhalt der Erklärung zu Art. 6, früher Art. F des Unionsvertrags, steht, dessen ,,Rückendeckung" ihr Gewicht deutlich steigern würde. Nach Art. 6 Abs. 3 EUV achtet die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, und in Art. 6 Abs. 2 bekennt sie sich, mit Blick auf die Grundrechte, zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts - Formulierungen, an die sich der gescheiterte Vorschlag eines Religionsartikels anlehnt und in die sich die christlichen Traditionen Europas einbringen lassen. 11
II. Der Amsterdamer Vertrag ist umgeben von Anhängen, Erklärungen, Protokollen und einer Schlußakte, die zusammengenommen länger sind als der eigentliche Vertragstext. 12 Von diesen Texten hat eine Erklärung an der Verbindlichkeit des Ver7 Hierzu Ehnes, Kirche und Recht 1997, S. 223; Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, 1998, S. 26; Link, ZevKR, 42 (1997), S. 152 ff. s Im weiteren wird hier vereinfachend von den Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften gesprochen, um den persönlichen Schutzbereich der Kirchenerklärung zum Amsterdamer Vertrag zu umschreiben. Zu den Gründen für die kompliziertere Umschreibung des Begünstigtenkreises in der Erklärung Robbers, in: Stimmen der Zeit, 123 (1998), S. 152. 9 Vgl. auch die 23. Erklärung zum Maastrichter Vertrag, in der es- ohne ausdrückliche Nennung kirchlicher Einrichtungen - um die Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden geht; diese Erklärung bezieht sich auf Art. 117, heute in geänderter Form Art. 136 EGV. Zu Art. 117 EGV ferner Hollerbach, ZevKR, 35 (1990), S. 265 f. 10 Zur Kirchenerklärung der Europäischen Unions. auch Ehnes, Kirche und Recht, 1997, S. 223 ff.; Robbers, Herder-Korrespondenz, 1997, S. 622ff.; ders., in: Stimmen der Zeit, 123 (1998), s. 147ff. II Zu letzterem P. Kirchhof, JZ, 1998, S. 965. 12 Zahlen bei Hilf/Pache, NJW, 1998, S. 706.
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trages nicht teil, im Unterschied insbesondere zu einem Protokoll. 13 Eine Erklärung bedarf darum nicht der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten. Das alles ist unstreitig, mag es auch noch keine Rechtsprechung des EuGH dazu geben. 14 Die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften hat keine rechtliche Verbindlichkeit. Allein die Erklärung bewirkt darum nicht, daß sich die Frage nach einem Rechtsbegriff von Kirche oder einem Begriff von Staatskirchenrecht auf EU-Ebene stellt. Die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften läßt sich weiter nicht als eine Selbstverpflichtung der Europäischen Union auffassen. Die Europäische Union ist nämlich nach überwiegender Ansicht nicht rechtsfähig, mithin nicht verpflichtungsfähig. Eine Selbstverpflichtung der Europäischen Gemeinschaft scheidet ebenfalls aus. Sie ist zwar Rechtssubjekt, hat die Erklärung aber nicht abgegeben. 15 Die Urheberschaft liegt vielmehr bei den Mitgliedstaaten. Ihnen fehlte ein Verpflichtungswille, was daran deutlich wird, daß sie den Inhalt der Erklärung nicht zum Bestandteil des Amsterdamer Vertrages gemacht haben. Die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften kann darum schließlich nicht als ein Akt authentischer Vertragsinterpretation begriffen werden. Andererseits kann nicht schon aus der hohen Zahl von Erklärungen zum Amsterdamer Vertrag gefolgert werden, es handele sich um ein politisches Instrument, das entsprechend seinem inflationären Gebrauch ohne juristische Substanz sein müsse. 16 Solche Pauschalurteile verbieten sich. Jede Erklärung muß für sich betrachtet werden. Erklärungen sind gemäß Art. 31 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge Texte, die bei der systematischen Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags, hier des Amsterdamer Vertrags, zu berücksichtigen sind. Dies gilt uneingeschränkt für Erklärungen, die, wie die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften, von allen Vertragsstaaten angenommen und nicht bloß von einzelnen dieser Staaten vorgebracht und von den übrigen zur Kenntnis genommen worden sind. 17 13 Vgl. Art. 239 EGVa.F. (=Art. 311 EGV n.F.). Dazu Herdegen, ZHR, 155 (1991), S. 56; Vedder, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand: Mai 1998, Art. 239 EWGV Rn. 3. Grundlegend Everling, in: ders., Das Europäische Gemeinschaftsrecht im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft, 1985, S. 105 ff. 14 Hinweis bei Robbers, Herder-Korrespondenz, 1997, S. 624. 15 Gegenbeispiel: die Grundrechtserklärungen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission von 1977 (Nachweise bei Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Auf!., 1996, Rn. 807). 16 Hierzu auch Lecheler, JuS, 1998, S. 397 mit Fn. 67. 17 Die Alternative von Erklärungen, die alle Vertragsstaaten angenommen haben, und Erklärungen einzelner Vertragsstaaten, die von den übrigen zur Kenntnis genommen werden, ist zu ergänzen um Erklärungen einzelner Vertragsstaaten zu Erklärungen aller Vertragsstaaten zu einem Vertrag. Ein Beispiel für diese etwas verstiegen klingende Konstruktion ist die
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Eine Erklärung zum Amsterdamer Vertrag hat nicht aus sich heraus juristische Bedeutung. Sie ist abhängig von einer Norm dieses Vertragswerks, zu der sie im Rahmen systematischer Auslegung in eine Beziehung gesetzt werden muß. Ohne die Verbindung zu einer Rechtsnorm des Primärrechts ist eine solche Erklärung juristisch nicht lebensfähig, so imperativisch ihre Formulierungen auch sein mögen. Ihr Erfolg hängt davon ab, ob ihr eine sinnvolle Funktion bei der Vertragsauslegung zugewiesen werden kann 18 , was z. B. der Fall ist, wenn sie zu einem Meinungsstreit Stellung nimmt, Unklarheiten ausräumt oder Gesichtspunkte des Normprogramms hervorhebt. Dagegen ist die juristische Relevanz einer Erklärung von vornherein zweifelhaft, wenn sie in einem Spannungsverhältnis zu ihrer Bezugsnorm steht; dies trifft z. B. zu auf die Erklärung zu öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten in Deutschland, bei denen die Vereinbarkeil von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung mit Art. 92 EGV im Streit ist und der deutsche Vorschlag einer Ausnahme von dieser Bestimmung im Vertrag angesichts massiver Widerstände nicht verwirklicht werden konnte; eine solche Erklärung ist eher als ein diplomatisches Trostpflaster zu begreifen. 19
111. Die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften ist zwar auch das Produkt eines Scheiteros bei den Verhandlungen, die zum Amsterdamer Vertrag geführt haben. Gleichwohl hat sie normative Kraft und EntwicklungspotentiaL Um dies zu belegen, muß zunächst die Vorschrift des Amsterdamer Vertrages ermittelt werden, zu deren Auslegung die genannte Erklärung einen Beitrag leisten soll. Dies ist Art. 6 Abs. 1 bis 3 EUV, früher Art. F Abs. 1 und 2 EUV, dessen Wortlaut im Kern mit demjenigen von Art. 6 Abs. 1 bis 3 übereinstimmt. Die Vorschrift lautet: "(1) Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. (2) Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des GemeinErklärung Griechenlands zur Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften, in der an die Gemeinsame Erklärung betreffend den Berg Athos im Anhang zur Schlußakte des Vertrags über den EG-Beitritt Griechenlands erinnert wird. Vgl. dazu das Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 291/1979, S. 186, wo auf Art. 105 der griechischen Verfassung weiterverwiesen wird. Diese Erklärung betrifft ein Sonderproblem und kann im Folgenden vernachlässigt werden. Vgl. im übrigen Herdegen, ZHR, 155 (1991), S. 56 ff.; Karl, JZ, 1991, S. 596. 18 Im Ergebnis ebenso Herdegen, ZHR, 155 (1991), S. 59f. 19 Zu dem Beispiel etwa Koenig, FAZ vom 27. Juni 1997, S. 18; ders., WM, 1997, S. 1279f. Zum Problem auch noch Herdegen, WM, 1997, S. 1130ff.
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schaftsrechts ergeben. (3) Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten." Art. 6 EUV ist eine für das Selbstverständnis der Europäischen Union als Gemeinschaft von Verfassungsstaaten grundlegende Vorschrift. "Grundlegend" meint dabei nicht höherrangig, weil es innerhalb des Primärrechts der Europäischen Union keine Abschiebtungen wie unter dem Grundgesetz mit seinem Art. 79 Abs. 3 gibt20 ; gleichwohl hat Art. 6 EUV für das Primärrecht der Union der Sache nach keine andere Bedeutung als für das Grundgesetz die von Art. 79 Abs. 3 besonders hervorgehobenen Grundsätze, die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegt sind. 21 Sollte sich eine Brücke von dieser Vorschrift zu der Kirchenerklärung schlagen lassen, würde dies die Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften dem von ihnen erstrebten unionsrechtlichen Status ein gutes Stück näher bringen und könnte die Erklärung in der Tat als Vorstufe zur vollen Aufnahme dieses Anliegens in den Unionsvertrag gewertet werden. 22 Hier tut sich freilich ein Problem auf. Die Kirchenerklärung gehört zu den wenigen Erklärungen zum Amsterdamer Vertrag, die nicht in Titel oder Text ausdrücklich einer bestimmten Vorschrift des Primärrechts zugeordnet wird. Sie wirkt so isoliert, wie ein Fremdkörper, ohne juristischen Sinnbezug. Eine Verbindung zu Art. 6 EUV ergibt sich auch nicht daraus, daß der Erklärung der Versuch vorausgegangen ist, in den Unionsvertrag eine Bestimmung aufzunehmen, deren Formulierungen Art. 6 in manchem entsprochen hätten. Denn der genetischen Interpretationsmethode kommt in bezugauf EU- und EG-Vertrag nur eine geringe Bedeutung zu, werden doch Materialien nicht veröffentlicht23 ; in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dominiert die objektiv-teleologische Interpretationsmethode. Um die Kirchenerklärung Art. 6 Abs. 1 bis 3 EUV zuzuordnen und so mit juristischem Sinn zu erfüllen, ist der Nachweis erforderlich, daß sie zu dieser Vorschrift dem Inhalte nach die stärkste Beziehung hat. In Betracht kommen drei Anknüpfungen: bei der nationalen Identität im Sinne von Art. 6 Abs. 3 (vormals Art. F Abs. 1) EUV, bei den Grundrechten als Teil gemeineuropäischer Verfassungstradition, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention, und bei gemeineuropäischem Verfassungsrecht24 im übrigen. Hierzu Heintzen, Europarecht, 1994, S. 35 ff. Vgl. Beutler, in: Groeben/Thiesing/Eh1errnann (Hrsg.), Kommentar zum EU-lEGVertrag, 5. Aufl., Bd. I, 1997, Art. F, Rn. 1- 8, mit der Abschnittsüberschrift ,,Artikel F als ,Verfassungsfragment"'. 22 So Robbers, Herder-Korrespondenz, 1997, S. 625. Zu der allmählichen Verdichtung von soft law zu geltendem Recht im EG-Bereich grundsätzlich J. H. Kaiser, Europarecht, 1980, s. 97ff. 23 Dazu Oppermann, Europarecht, 1991, Rn. 584; Pemice, in: Grabitz/Hilf (N 13), Art. 164, Rn. 33. Vgl. ferner Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention, der travaux preparatoires nur zu den ergänzenden Auslegungsmitteln rechnet. 24 Zu diesem Begriff grundlegend Häberle, EuGRZ, 1991, S. 261 ff.; ders., KritV, 1995, S. 307 ff.; ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht Basler Schriften zur europäischen Integration, Nr. 31, 1997. Vgl. schon dens., JZ 1966, S. 384ff. 2o 21
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Eine Beziehung zwischen der Kirchenerklärung und dem Subsidiaritätsprinzip läßt sich dagegen kaum herstellen. Das Subsidiaritätsprinzip wirkt als Kompetenzausübungsregulativ im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft. Es geht nicht spezifisch auf die Kirchen ein, mögen diese von ihm auch indirekt begünstigt werden. Gleiches gilt für die Kulturkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft; zudem liegt Art. 151 Abs. 1, früher Art. 128 Abs. 1 EGVein enger Kulturbegriff zugrunde 25 . Eine mögliche Bezugsnorm wäre der neu geschaffene Art. 13 EGV. Darin wird der Rat im Rahmen der vorhandenen Zuständigkeiten der EG zu Maßnahmen ermächtigt, die Diskriminierungen, unter anderem aus Gründen der Religion und der Weltanschauung, bekämpfen. Die Kirchenerklärung kann insoweit gewährleisten, daß Antidiskriminierungsmaßnahmen der EG die Vielfalt der staatskirchenrechtlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten achten. Doch steht diese Funktion, wenn sie praktisch überhaupt relevant werden sollte, nicht im Vordergrund der Kirchenerklärung. Diese ist als grundsätzliche Positionierung gemeint, ebenso wie die Aussagen von Art. 6, früher Art. F EUV.
IV. Was immer "nationale Identität" im Sinne von Art. 6 Abs. 3, früher Art. F Abs. 1 EUV bedeutet26 : der Begriff zielt auf Besonderheiten einzelner Mitgliedstaaten, die nicht vergemeinschaftet werden sollen. Er ist kein Ansatz für die Entwicklung eines gemeineuropäischen Standards. Das indes schließt eine Verknüpfung mit der Kirchenerklärung von Amsterdam nicht aus. Denn die Erklärung verweist auf die Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten und verspricht die Achtung des sich daraus ergebenden Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften. Es ist durchaus möglich, daß nationale Identität durch Staatskirchenrecht geprägt wird. 27 Allgemein ist für nationales Verfassungsrecht dem Grunde nach anerkannt, daß es identitätsbildend sein kann.Z 8 Die Entscheidung im Einzelfall liegt bei dem jeweiligen Mitgliedstaat. Eine Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs wird von Art. 46, früher Art. L EUV, ausdrücklich ausgeschlossen. 25 Dazu allgemein Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf (N 13), Art. 128 Rn. 13; mit Blick auf die Kirchen Robbers, in: ders. (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995, s. 360. 26 Hierzu Hilf in: Grabitz/Hilf (N 13), Art. F EUV Rn. 5ff.; Lerche, FS Schippe!, 1996, S. 919 ff.; A. Schmitt Glaeser; Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, S. 190 ff. 27 Vgl. Robbers, EssGespr, 27 (1993), S. 88; ders., HStKirchR (N 4), S. 323; Starck, EssGespr, 31 (1997), S. 21 ff.; Streinz, ebd., S. 83. 28 Siehe nur Beutler (N 21), Rn. 16; E. Klein, in: Hailbronner u. a., Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union, Art. F Rn. 4 (Stand: Aprill995).
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Wenn ein Mitgliedstaat geltend macht, die Europäische Union beeinträchtige seine nationale Identität, löst dies für die Union eine Unterlassungspflicht aus. 29 Damit hat Deutschland die Befugnis, sein Staatskirchenrecht als "ein Unikat aus autochthonen und gemeineuropäischen Elementen" 30 vor Eingriffen in seine Substanz zu schützen. Pflicht und Befugnis werden von der Kirchenerklärung nicht begründet. Sie ergeben sich schon aus Art. 6 Abs. 3 (Art. F Abs. 1) EUV, wenn sie nicht auch dort vorausgesetzt werden. Die Kirchenerklärung hebt diesen Gesichtspunkt aus dessen Regelungsinhalt nur besonders hervor. Der Einwand der Beeinträchtigung nationaler Identität muß als Maßnahme mitgliedstaatlicher Selbsthilfe auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben, in denen eine schwere Beeinträchtigung droht und andere Abhilfe nicht möglich ist. Insoweit paßt er in den Kontext des Amsterdamer Vertrages, der an zwei Stellen, in den Art. 23 Abs. 2 und 40 Abs. 2 EUV, Vorbehalte zugunsten der Mitgliedstaaten enthält, die Kommentatoren an die Luxemburger Vereinbarung von 1966 erinnern?' Die praktische Bedeutung dieser aus der Sicht der Mitgliedstaaten defensiven Komponente der Kirchenerklärung wird voraussichtlich gering bleiben. Allein ihre Existenz setzt aber schon ein Zeichen. Eine Bereichsausnahme für Staatskirchenreche2 als Gegenstand von EG-Kompetenzen ist auf diese Weise nicht zu konstruieren. Denn erstens geht es nur mittelbar um Staatskirchenrecht - soweit es Teil nationaler Identität ist - und zweitens ist die Kirchenerklärung für die Europäische Gemeinschaft keine negative Kompetenzvorschrift33, sondern Kompetenzausübungsmaxime.
V. Während der Europäische Gerichtshof (EuGH) sich nur marginal mit der Religionsfreiheit zu befassen brauchte34 , gibt es eine reichhaltige Spruchpraxis der 29 Zur Rechtsfolgenseite des Art. F Abs. I EUV, Bleckmann in: ders., Europarecht, 6. Auf!., 1997, § 2 Rn. 82 ff. 30 Zitat: Isensee I Rüfner in: J oseph List!, Kirche im freiheitlichen Staat, hrsg. von lsensee und Rüfner, Bd. I, 1996, S. XXVIII. 31 Pechstein/ Koenig (N 1), Rn. 323, 391. 32 Formulierung nach Link, ZevKR, 42 (1997), S. 134f. Skeptisch insoweit auch Streinz, EssGespr, 31 (1997), S. 69 ff. 33 Was nicht generell ausgeschlossen wäre, weil das primäre Gemeinschaftsrecht, im Unterschied zu bundesstaatliehen Verfassungen, zahlreiche Vorschriften ent!Jält, welche der Gemeinschaft nicht eine Zuständigkeit zuweisen, sondern ihre Unzuständigkeit ausdrücklich festschreiben, z. B. die Art. 126 Abs. 4, 127 Abs. 4, 128 Abs. 5 und 129 Abs. 4 EGV a.F. ("unter Ausschluß ... ") - in der neuen Fassung, zum Teil geändert: Art. 149 Abs. 4, 150 Abs. 4, 151 Abs. 5 und 152 Abs. 4. Zu "Unzuständigkeiten" siehe auch E. Küchenhoff, AöR, 82 (1957), S. 420 Fn. 13 und S. 427 f. 34 Nachweise bei Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S. 130. Ferner Pemice, JZ 1977, S. 777 ff. und Rengeling, DÖV, 1977, S. 409 f. (beide zu EuGH Slg. 1976, S. 1589) sowie Streinz, EssGespr, 31 (1997), S. 82.
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Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu der Gewährleistung der Religionsfreiheit in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auf diese Konvention wird in Art. 6 Abs. 2 EUV, vormals Art. F Abs. 2, pauschal verwiesen. Die Kirchenerklärung könnte die Funktion haben, Art. 9 EMRK im Rahmen dieser Verweisung hervorzuheben. Ähnlich wie in Deutschland das Staatskirchenrecht auch auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gestützt wird 35 , könnte dessen gemeinschaftsrechtliche Grundlage aus einem Zusammenwirken von Kirchenerklärung, Art. 6 Abs. 2 EUV und Art. 9 EMRK entwickelt werden. Diese Konstruktion steht und fallt zunächst mit dem Vorhandensein einer kollektiven Gewährleistungsdimension bei Art. 9 EMRK, mit der Möglichkeit, ihn als Doppelgrundreche6 zu deuten. Das richtet sich nach der EMRK, auf die Art. 6 Abs. 2 (Art. F Abs. 2) EUV verweist? 7 Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive. Zwar fehlt eine allgemeine Bestimmung wie Art. 19 Abs. 3 GG, doch kann man, neben Einzelgewährleistungen wie Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des 1. Zusatzprotokolls, dies Ergebnis vor allem an Art. 25 Abs. 1 Satz 1 EMRK ablesen, der nichtstaatlichen Organisationen und Personenvereinigungen das Recht gibt, Beschwerden wegen einer Konventionsverletzung einzulegen. 38 Die Vorschrift enthebt indes nicht der Prüfung, ob eine bestimmte materiell-rechtliche Gewährleistung der Konvention juristische Personen (in einem weiteren, ähnlich bei Art. 19 Abs. 3 GG zugrunde gelegten Sinne39 ) schützt; sie ist nicht dahin zu verstehen, daß alle Konventionsgewährleistungen auch juristischen Personen zugute kommen.40 Andererseits sind die Kirchen nicht ausgeschlossen, weil und soweit sie Körperschaften des öffentlichen Rechts sind41 ; insoweit gilt im Ergebnis nichts anderes als nach deutschem Verfassungsrecht Für die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK ist inzwischen anerkannt, daß sich Kirchen, religiöse und weltanschauliche Vereinigungen darauf berufen können. 42 Aus der korporativen Gewährleistungsdimension folgt ein Selbstverwaltungsrecht 35 Grundlegend List!, EssGespr, 3 (1969), S. 34ff. Zu Art. 4 GG zuletzt Kästner, AöR, 123 (1998), S. 408 ff.; ders., JZ, 1998, S. 974ff. 36 Zu dieser Lehre und ihrem nicht unproblematischen Verhältnis zu Art. 19 Abs. 3 GG Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 178 ff. 37 Zu dem Verhältnis von Gemeinschaftsrechtsordnung und EMRK EuGH Slg. 1996 S. I1759. 38 Vgl. Heintzen (N 36), S. 81 ff. 39 Dazu von Mutius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 Rn. 38ff. (Stand: April1975). 40 Vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 1985, Art. 25 Rn. 14; Rogge in: Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Loseblatt, Art. 25 Rn. 137 f. 41 Vgl. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1990, S. 172; Robbers, in: HStKirchR (N 4), S. 317. 42 Vgl. Blum (N 41), S. l70ff.; Frowein, EssGespr, 27 (1993), S. 49, 55.
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der Religionsgemeinschaften. 43 Inhalt und Umfang dieses Rechts werden von den Straßburger Menschenrechtsorganen kasuistisch entfaltet, etwa in Richtung auf einen arbeitsrechtlichen Tendenzschutz. Aussagen, die über bereits entschiedene Fälle hinausgehen, sind zuverlässig kaum möglich. Ein gemeineuropäischer Standard ist auf dieser mittelbar individualrechtliehen Grundlage nicht in Sicht. Insbesondere ist nicht anzunehmen, daß Art. 9 EMRK je an die staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes und der Landesverfassungen heranreichen wird. 44 Gegen die Verknüpfung der Kirchenerklärung zum Amsterdamer Vertrag mit Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention spricht neben diesen materiell-rechtlichen Erwägungen ein kompetentieller Gesichtspunkt. Die EMRK bildet einen eigenständigen Rechtskreis, auf den Art. 6 Abs. 2 (Art. F Abs. 2) EUV nur verweist. Es kann nicht angehen, daß die Vertragsparteien des Unionsvertrages über die Brücke dieser Verweisung mit einer Erklärung Einfluß auf die Auslegung der EMRK nehmen. Auch der EuGH, dessen Gerichtsbarkeit sich auf Art. 6 Abs. 2 - im Unterschied zu Art. 6 Abs. 3 - gemäß Art. 46 lit. d) EUV nunmehr erstreckt, wird sich bei der Auslegung der EMRK an der Praxis der EMRK-Organe, nicht an einer Erklärung der EU-Staaten orientieren.
VI. Der dritte mögliche Bezug der Kirchenerklärung ist zugleich ihr wichtigster: die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Von ihnen ist in Art. 6 EUV - deutlicher als in der Vorgängervorschrift - zweifach ausdrücklich die Rede, in Absatz 2 mit Blick auf Grundrechte, in Absatz 1 mit Blick auf freiheitlich-demokratische Verfassungsprinzipien, deren Beachtung und Verwirklichung gemäß den Artikeln 7 Abs. 1 und 49 Abs. 1 EUV in der Europäischen Union Bedingung für Beitritt und Mitgliedschaft ist. 45 Hinzu kommt das Merkmal der nationalen Identität in Art. 6 Abs. 3 EUV, das zu einem Teil durch nationales Verfassungsrecht konkretisiert wird. 46 Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten werden von der Europäischen Union in ihrer ganzen thematischen Breite registriert. In einer Statt vieler Robbers, in: HStKirchR (N 4), S. 317; Streinz, EssGespr, 31 (1997), S. 62. Ebenso Blum (N 41), S. 177f.; Frowein (N 42), S. 70; Hollerbach, ZevKR, 35 (1990}, S. 257 ff., 273. In der Tendenz anders Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Ansätze zu einem europäischen Staatskirchenrecht, 1995. 45 Zu europarechtlichen Hornogenitätsstandards, von deren Beachtung Beitritt und Mitgliedschaft in der Union abhängen: H. P. lpsen, FS Dürig, 1990, S. 167 ff.; Pechstein, in: Stern (Hrsg.), Zukunftsproblerne der Europäischen Union, 1998, S. 168 ff. 46 Beutler (N 21), Rn. 7, spricht von einem Ensemble unterschiedlicher Anknüpfungen für die Unionsverfassung. 43
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Rechtsgemeinschaft kann dies nicht anders sein. Es ist unschädlich, daß Staatskirchenrecht sich weder Grundrechten47 noch freiheitlich-demokratischen Homogenitätsstandards uneingeschränkt und vollständig zuordnen läßt. Dies schließt eine Verknüpfung der Kirchenerklärung mit Art. 6 EUV nicht aus. Weiterhin emanzipiert sich das so rezipierte Verfassungsrecht von konkreten rechtlichen Funktionen: Voraussetzung zu sein für Beitritt und Mitgliedschaft, Grundlage für Grundrechtsbindung oder Verpflichtung der Union, Identitätseingriffe zu unterlassen. Durch die Verknüpfung würde nationales Staatskirchenrecht zum Bestandteil gemeineuropäischen Verfassungsrechts und gewönne so Einfluß auf das Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft, so im Sinne einer Berücksichtigung kirchlicher Belange bei der Betriebsrats-, der Datenschutz- oder der Fernsehrichtlinie. 48 Art. 6, früher Art. F EUV schöpft seinem Wortlaut nach nicht alle Dimensionen gemeineuropäischen Verfassungsrechtes aus. 49 Dies gilt insbesondere für dessen Ausstrahlungswirkungen in das Sekundärrecht Vor diesem Hintergrund läßt sich vielleicht erklären, warum die Kirchenerklärung nicht ausdrücklich auf Art. 6 EUV verweist, obwohl sie mit dieser Norm am stärksten verbunden ist und obwohl die Mehrzahl der anderen Erklärungen zum Amsterdamer Vertrag eine Bezugsnorm nennen. Die Verknüpfung von Kirchenerklärung und Art. 6 (Art. F EUV) als Grundnorm des gemeineuropäischen Verfassungsrechts setzt voraus, daß staatskirchenrechtliche Regelungen, also Regelungen über das Verhältnis von Staat und Kirchen, nicht nur in Deutschland, sondern in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union anzutreffen sind. Im folgenden wird anhand des Wortlauts der mitgliedstaatliehen Verfassungen 50 dargelegt, daß dies in der Tat zutrifft: Die Verfassungen aller Mitgliedstaaten äußern sich mit der einen Ausnahme der Niederlande zum Verhältnis von Staat und Kirche. Um dies zu verdeutlichen, ist die Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten zu referieren 51 und werden anschließend die Ergebnisse systematisch zusammengefaßt. Das Augenmerk gilt dabei Vorschriften, die Kirchen und anderen Religions- sowie Weltanschauungsgemeinschaften ihre Freiheit besonders gewährleisten, sodann Vorschriften, die über den status negaEbenso Robbers, in: ders. (N 25), S. 359: " ... jenseits der Grundrechtsfragen ... " Beispiele bei Streinz, EssGespr, 31 (1997), S. 81. 49 Zu den Funktionen dieser Kategorie für die Europäische Union Heintzen, Europarecht, 1997, S. I ff.; sie müssen von ihrer Bedeutung für die (Verfassungs-)Rechtsvergleichung unterschieden werden. 50 Für Großbritannien wird mangels einer geschriebenen Verfassung das materielle Verfassungsrecht zugrundegelegt 51 Vgl. hierzu vor allem die Landesberichte in dem von Robbers 1995 herausgegebenen Band "Staat und Kirche in der Europäischen Union" und in dem seit 1994 jährlich erscheinenden ,,European Journal for Church and State Research". Zu den EU-Beitrittskandidaten Polen, Tschechien und Ungarn siehe die Referate von Orszulik, Lobkowicz und Erdö, in EssGespr, 29 (1995), S. 90ff., 122ff., 134ff. sowie das Generalreferat von Luchterhandt, ebd., s. 5ff. 47 48
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tivus hinausgehen, indem siez. B. Leistungen des Staates an die Kirchen oder in umgekehrter Richtung vorsehen oder die Kirchen in die Staatlichkeit einbeziehen, schließlich Bezugnahmen auf Gott. 52 Ein solcher Überblick ist gewiß eine verfassungspositivistische Vergröberung, weil er Verfassungstexte isoliert und aus dem Kontext der jeweiligen Rechtsordnungen mit ihren Vorverständnissen herausnimmt und weil er faktische Unterschiede, etwa hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Kirchen in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ausblendet. Trotz der Vorbehalte wirft der Überblick juristische Erträge ab. Erstens wird deutlich, daß - bei allen Unterschieden im einzelnen -die Regelungen jedes EU-Mitgliedstaates einem von drei Systemtypen zugeordnet werden können: Staatskirchentum, Kooperationsmodell, TrennungsmodelL 53 Er macht weiter deutlich, daß Deutschland mit seinem Staatskirchenrecht in der Europäischen Union nicht isoliert ist und sich nicht in eine Defensivposition gedrängt fühlen muß, ja daß eher Frankreich mit seiner betont laizistischen Verfassung 54 eine Randposition einnimmt. Er macht schließlich deutlich, daß für die Kirchenerklärung zum Amsterdamer Vertrag in den Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten ein Fundament vorhanden ist, daß bei ihrer Auslegung und Anwendung aber die Balance zwischen staatskirchenrechtlichen Kooperationssystemen und Trennsystemen gewahrt werden muß. 55
VII. Die belgisehe Verfassung gewährleistet die Freiheit der Kulte und ihrer öffentlichen Ausübung sowie die darauf bezogene Freiheit, zu allem seine AnsiCht kundzutun. Weiterhin werden einzelne Aspekte der Selbstverwaltung der Kulte gewährleistet. Weiters haben, bei grundsätzlicher Neutralität des Schulunterrichts, alle Schulpflichtigen ein Recht auf eine moralische oder religiöse Erziehung und wird 52 Zu einer invocatio dei in einer möglichen EU-Verfassung vgl. einen Bericht in derBerliner Zeitung vom 31. 1. 1998. 53 So in der Zusammenfassung rechtsvergleichender Überblicke schon Robbers in: ders. (N 25), S. 352 ff., der einerseits gegenüber einem Denken in verfassungsrechtlichen Typen verständliche Skepsis anmeldet (Robbers, ZevKR, 42 [1997], S. 125ff.), der andererseits bei einer Zentralthese, der These der Konvergenz (ebd., S. 127), die drei Typen aber doch voraussetzen muß, denn gemeint ist eine Konvergenz dieser Typen. - Kooperationsmodell meint, daß Staat und Kirche trotz organisatorischer Trennung auf verfassungsrechtlicher Grundlage in vielfältiger Weise kooperieren und sonst miteinander verknüpft sind. Trennungsmodell (oder Trennsystem) meint, daß Staat und Kirche nicht nur organisatorisch getrennt sind, sondern auch nicht auf verfassungsrechtlicher Grundlage miteinander kooperieren. 54 Vgl. Art. 1 Satz 1 der Verfassung der Republik Frankreich: "Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik." Zum verfassungsrechtlichen Begriff des Laizismus Koubi, RDP, 1997, S. 1301 ff. Zu den Auswirkungen dieser Bestimmung für das Schulwesen Dubourg-Lavroff, RFDC, 1997, S. 269ff.; Gromitsaris, AöR, 121 (1996), S. 359ff.; Rädler, ZaöRV, 56 (1996), S. 353 ff. 55 Hierzu Robbers, ZevKR, 42 (1997), S. 122 ff.
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die Wahl zwischen dem Unterricht in einer der anerkannten Religionen und demjenigen in nichtkonfessioneller Sittenlehre gegeben. Schließlich gehen die Gehälter und Pensionen der Diener eines Kultes oder einer nichtkonfessionellen Weltanschauung zu Lasten des Staates. 56 Belgien kennt damit keine strikte Trennung von Kirche und Staat. Beide kooperieren vielmehr bei gegenseitiger Unabhängigkeit. Von den drei grundsätzlichen Typen - Trennsystem, Kooperationssystem, Staatskirche - wird in Belgien der zweite verwirklicht. In Dänemark dagegen gibt es bei individueller Religionsfreiheit und Unabhängigkeit der bürgerlichen und politischen Rechte von der religiösen Überzeugung eine Staatskirche. 57 Gemäß § 4 der Verfassung des Königreiches Dänemark vom 5. Juni 1953 ist dies die als solche vom Staat unterstützte evangelisch-lutherische Kirche, welcher der König angehören soll(§ 6) und deren Verfassung durch Gesetz geregelt wird (§ 66). Auch die Verhältnisse der von der Volkskirche abweichenden Glaubensgemeinschaften werden des Näheren durch Gesetz geregelt (§ 69). Die Volkskirche läßt sich als zentrale staatliche Verwaltungseinrichtung charakterisieren, ihre Pastoren sind Staatsbedienstete. 58 Ähnlich ist die Rechtslage in Finnland. Dort sind die evangelisch-lutherische und die orthodoxe Kirche selbstbestimmte öffentlich-rechtliche Einrichtungen. Ihre Kirchenämter sind öffentliche Ämter. Über das Besetzungsverfahren bestehen besondere Vorschriften. Erzbischof und Bischöfe werden vom Präsidenten der Republik ernannt und vom Staat besoldet. Die Verfassung widmet den Religionsgemeinschaften einen besonderen Artikel, in dem sie zwischen der evangelischlutherische Kirche, den übrigen, bereits bestehenden Religionsgemeinschaften und neuen Religionsgemeinschaften differenziert und hinsichtlich des Näheren auf Kirchenrecht und Gesetze verweist. 59 Frankreich ist eine laizistische Republik, in der es öffentlich anerkannte Religionsgemeinschaften grundsätzlich nicht gibt. Die Präambel der französischen Verfassung verweist auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (Religionsfreiheit) und auf die Präambel der Verfassung von 1946 (staatsbürgerliche Gleichheit, keine Unterschiede aufgrund der Religion). 60 Ein Gesetz vom Dezember 1905, das nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl ergangen ist, hat das Institut der anerkannten Religionsgesellschaf56 Vgl. Art. 19, 21 S. 1, 24 § 1 Abs. 3 und 4 und § 3 Abs. 2 sowie 181 § 1 und 2 der koordinierten Verfassung Belgiens vom 17. Februar 1994. Dazu Torfs, in: Robbers (N 25), S. 15 ff.; ferner Leisching, Kirche und Staat in den Rechtsordnungen Europas, 1973, S. 109 f. 57 V gl. Dübeck, in: Robbers (N 25), S. 39 ff. 58 Vgl. Aden, NVwZ, 1994, S. 774; Dübeck (N 57), S. 43. 59 §§ 83, 87 Nr. 2 und 90 der finnischen Regierungsform vom 17. Juli 1919. Dazu Aden, NVwZ, 1994, S. 776; Heikkiläl Knuutila/Scheinin, in: Robbers (N 25), S. 303 ff. 60 Vgl. die Präambel und Art. 1 der Verfassung vom 22. Februar 1958 sowie BasdevantGaudemet, in: Robbers (N 25), S. 127 ff. Zu versteckten Transzendenzbezügen der Verweisung Häberle, FS Zeidler, Bd. I, 1987, S. 6 mit Fn. 13.
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ten abgeschafft und die Trennung von Kirchen und Staat eingeführt. Bis heute gilt dieses Gesetz nicht in den drei ostfranzösischen Departments, die zur Zeit seiner Verkündung zum Deutschen Reich gehört haben; dort gilt vielmehr das Napoleonische Konkordat weiter, das etwa eine Besoldung der Geistlichen aus der Staatskasse vorsieht. Griechenland hat eine Staatskirche. Nach Art. 3 Abs. 1 der Verfassung vom 9. Juni 1975 ist vorherrschende Religion die der Östlich-orthodoxen Kirche Christi. Diese Kirche ist Körperschaft des öffentlichen Rechts mit dem Recht der Selbstverwaltung; sie genießt eine Sonderstellung im Verhältnis zum Staat. Die anderen Religionen sind grundrechtlich geschützt; ihre Geistlichen unterliegen aber derselben Staatsaufsicht und haben dieselben Pflichten wie die Geistlichen der vorherrschenden Religion. 61 Die griechische Verfassung unterstreicht ihren staatskirchlichen Charakter durch eine invocatio dei in der Präambel; eine solche ist weiterhin in der Präambel der deutschen und der irischen Verfassung zu finden. 62 Großbritannien63 hat mehrere Staatskirchen: die Kirche von England, die Kirche von Schottland und die anglikanische Kirche von Schottland. 64 Die britische Krone ist Staatsoberhaupt und zugleich Oberhaupt der Kirche von England. Sie leistet bei der Thronbesteigung den Schwur, die Rechte der Kirche von England zu schützen. Krone und Regierung haben Einfluß auf die Besetzung der Bischofsämter. Die zwei Erzbischöfe und zahlreiche Bischöfe haben einen Sitz im britischen Oberhaus. Das Parlament hat Einfluß auf die Rechtsetzung der Kirche von England. Deren Rechtsordnung ist, im Gegensatz zu den Regelungen der nichtstaatlichen Kirchen, Teil der britischen Rechtsordnung. Fragen, die ausschließlich Andacht und Glaubenslehre betreffen, beschließt die Synode allein. Bei darüber hinausgehenden Angelegenheiten wird der Gesetzentwurf der Synode von einem Komitee überprüft, das von den beiden Häusern des Parlamentes beschickt wird. Die Kirche von Schottland ist dagegen im wesentlichen frei von staatlicher Kontrolle; sie hat in eigenen Angelegenheiten ein Selbstverwaltungsrecht 65 Im übrigen herrscht für alle Glaubensrichtungen Religionsfreiheit. Die Kirchen, ob staatlich oder nicht, werden nicht aus öffentlichen Haushalten finanziert, auch wenn sie mitunter staatliche Aufgaben wahrnehmen, z. B. Eheschließungen. 61 Vgl. Art. 3 Abs. 1, Art. 13, insbesondere Abs. 3, und der schon erwähnte (N 17) Art. 105 der Verfassung. Dazu Kondinaris, ÖArchKiR, 40 (1991), S. 131 ff.; Papastathis, in: Robbers (N 25), S. 79 ff. 62 Dazu Häberle (N 60), S. 3 ff. 63 Überblick über die komplizierten, über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen bei McClean, in: Robbers (N 25), S. 333 ff. Eine Arabeske: Wegen des staatskirchlichen Systems entfachte die private Teilnahme des Premierministers an katholischen Messen eine öffentliche Debatte; so die Berliner Zeitung vom 10. März 1998, S. 11. 64 Zu den teilweise älteren Regelungen des Kirchenorganisationsrechts SchlosshauerSelbach, Staat und Kirche in England, 1976. 65 Zu ihr: Lyall, Of Presbyters and Kings: Church and State in the Law of Scotland, Aberdeen 1994.
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Die Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937 nimmt an mehreren Stellen mit zum Teil pathetischen Formulierungen Bezug auf Gott: in der Präambel, in der Feststellung, daß alle Regierungsgewalt nächst Gott vom Volke ausgehe (Art. 6 Abs. 1), und in dem Anerkenntnis, daß dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher Verehrung gebühre, und der Verpflichtung des Staates, seinem Namen Ehre zu erweisen und die Religion zu achten und zu ehren (beides in Art. 44 Abs. 1). Trotzdem gibt es in Irland keine Staatskirche. Der Staat garantiert, keine Religion finanziell zu unterstützen (Art. 44 Abs. 2 Nr. 2), und gewährt staatsbürgerliche Gleichheit und religiöse Freiheit (Art. 44 Abs. 2 Nr. 1 und 3). Jede Konfession hat ein Selbstverwaltungsrecht und genießt einen besonderen Eigentumsschutz (Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 und 6). Der Staat trägt Verantwortung für die religiöse Bildung an den Schulen (Art. 42 Abs. 4) und fördert ein kirchliches Privatschulwesen (Art. 44 Abs. 2 Nr. 4). Insgesamt ist Irland deshalb der Gruppe der Staaten zuzurechnen, in denen Staat und Kirchen bei organisatorischer Trennung auf verfassungsrechtlicher Grundlage zusammenarbeiten. 66 Die italienische Verfassung vom 27. Dezember 1947 hebt im Rahmen staatsbürgerlicher Gleichheit, religiöser Freiheit und Nichtdiskriminierung67 die katholische Kirche besonders hervor. Der Staat und die katholische Kirche seien, so Art. 7 Satz 1, jeder im eigenen Bereich, unabhängig und souverän. Hinsichtlich des Näheren wird auf die Lateranverträge verwiesen, deren einvernehmliche Änderung nicht des für Verfassungsänderungen vorgesehenen Verfahrens bedürfe; diese Verträge sind 1984 durch das Abkommen von Villa Madama ersetzt worden. Auch die von der katholischen Konfession abweichenden Bekenntnisse haben nach Art. 8 Satz 2 der Verfassung das Recht, sich nach eigenen Statuten zu organisieren. Diese Bekenntnisse lassen sich in zwei Gruppen einteilen: solche, die nach Art. 8 Satz 3 Vereinbarungen mit dem Staat geschlossen haben, und solche, die keine Vereinbarungen geschlossen haben und denen Begünstigungen, z. B. bei Finanzierung, Unterricht und Seelsorge, vorenthalten bleiben. 68 Italien gehört damit zu den Staaten mit einem Kooperationssystem; die Vereinbarung als wichtiges Rechtsinstrument für die Kooperation wird von der Verfassung ausdrücklich anerkannt. In diese Staatengruppe gehört auch Luxemburg. 69 Art. 22 der Verfassung des Großherzogtums vom 17. Oktober 1868 gilt als erste Regelung, welche das Prinzip der vertraglichen Koordination von Staat und (katholischer) Kirche als einen Grundsatz des Verfassungsrechts anerkannt hat. 70 Weiterhin gehen nach Art. 106 der Verfassung die Gehälter und Pensionen der Geistlichen zu Lasten des Staates; 66 Weitere Informationen bei Casey, in: Robbers (N 25), S. 159 ff.; Hogan, American Journal ofComparative Law XXXV (1987), S. 47ff. 67 V gl. Art. 3 Satz 1, Art. 8 Satz 1 und die Artikel 19 und 20 dieser Verfassung. 68 Vgl. Ferrari, in: Robbers (N 25), S. 185 ff.; Hollerbach, JöR, 17 (1968), S. 131 f.; Reis, JöR, 17 (1968), S. 267 ff. 69 Vgl. hierzu auch Pauly, in: Robbers (N 25), S. 211 ff. 70 Hierzu Reis, JöR, 17 (1968), S. 205 ff.
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sie werden durch Gesetz geregelt. Schließlich ist in Luxemburg, wie in Dänemark, Großbritannien, Schweden und Spanien71 , die monarchische Staatsform Quelle für staatskirchenrechtliche Regelungen: Gemäß Art. 4 der Verfassung ist die Person des Großherzogs heilig und unverletzlich. In der niederländischen Verfassung vom 17. Februar 1983 finden die Kirchen als Organisationen keine Erwähnung mehr. 72 Daraus wird aber nicht gefolgert, daß die Verfassung für das Staat-Kirche-Verhältnis keine Bedeutung habe. 73 Die Freiheit kirchlicher Organisation und kirchlicher Betätigung im öffentlichen Raum ist im Gegenteil ein wesentliches Element der Gewährleistung der Religionsfreiheit in Art. 6 Abs. 1 der Verfassung. Diese bietet damit einen Rahmen für zulässige Kooperation zwischen Staat und Kirchen, die tatsächlich stattfindet. Die zentralen Normen des Österreichischen Staatskirchenrechts stehen nicht im Bundes-Verfassungsgesetz der Republik Österreich vom 10. November 1920, sondern im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, welches gemäß Art. 149 Abs. 1 Nr. 1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt. Nach Art. 15 StGG hat jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgemeinschaft das Recht der gemeinsamen Religionsausübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonde, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. Anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften sind Körperschaften des öffentlichen Rechts sui generis. In Österreich besteht damit keine Staatskirche; der Staat verhält sich gegenüber Religionen (und Weltanschauungen) neutral. Es besteht aber auch keine Trennung von Staat und Kirche; der Staat akzeptiert das Wirken der Kirchen in der Öffentlichkeit und kooperiert. 74 In Portugal ist die Trennung von Staat und Kirche dagegen Verfassungsprinzip, das sogar durch Verfassungsänderung nicht berührt werden darf. 75 Zwar gewährleistet die Verfassung auch die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrer Organisation, in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und in der Ausübung ihrer Religion, weiters die Freiheit der religiösen Lehre und den Einsatz eigener Massenkommunikationsmittel. Dies ist immerhin eine Anerkennung des öffentlichen Auftrags der Kirchen, wenn auch keine Hervorhebung, weil die portugie71 Neutral insoweit Belgien und die Niederlande. Eine Ausnahme sind, in der niederländischen Verfassung, Eidesformeln, die aber auch ohne religiösen Zusatz geleistet werden können (vgl. die vorläufig in Kraft bleibenden Art. 44, 53, 54 und 86 Abs. 5 und 6 der Verfassung von 1972). 72 Zu der Verfassung von 1815 insoweit Leisehing (N 56), S. 112. 73 Näheres bei van Bijsterveld, in: Robbers (N 25), S. 229 ff. 74 So die Zusammenfassung von Potz, in: Robbers (N 25), S. 257; ferner Hollerbach, JöR, 17 (1968), S. 145 ff.; Reis, JöR, 17 (1968), S. 245 ff. 75 Art. 41 Abs. 4 und Art. 288 lit. c) der Verfassung der Republik Portugal vom 2. April 1976.
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sische Verfassung sich zu den meisten gesellschaftlich relevanten Gruppen äußert. Der Trennungsgedanke wird unterstrichen durch die Anordnung, daß das staatliche Schulwesen konfessionsfrei sei, und durch die ausdrückliche Garantie von Aspekten negativer Religionsfreiheit. 76 Gegenwärtig herrscht ein Trennsystem, das de facto und einfachgesetzlich, z. B. steuerrechtlich, durch einen besonderen Status der katholischen Kirche eingeschränkt ist. 77 Stellt man nur auf die Verfassungslage ab, was durch den Ansatz eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts vorgegeben ist, so bildet Portugal mit Frankreich und, eingeschränkt, den Niederlanden innerhalb der Europäischen Union die Gruppe der Staaten, in denen das Trennsystem verwirklicht ist. Das schwedische System unterscheidet sich grundlegend vom portugiesischen. Wie in den drei anderen skandinavischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt es hier eine Staatskirche, die evangelisch-lutherische Kirche. Grundlegende Vorschriften über die Schwedische Kirche in ihrer Eigenschaft als Glaubensgemeinschaft sowie über die Generalsynode als Versammlung der gewählten Vertreter der Schwedischen Kirche werden durch Gesetz erlassen, wobei dasselbe Verfahren anzuwenden ist wie bei der Verabschiedung der Hauptbestimmungen der Geschäftsordnung des Reichstages. 78 Nach § 4 der Sukzessionsordnung zum Thronfolgegesetz, das gemäß Kapitel 1 § 3 der Verfassung eines der Grundgesetze des Reiches ist, hat der König stets von der reinen evangelischen Lehre zu sein und sollen auch Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses in derselben Lehre erzogen werden. Im übrigen gilt Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten vom religiösen Bekenntnis und ein Schutz religiöser Minderheiten. Eine Parlamentskommission hat eine Neugestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Schwedischer Kirche vorgeschlagen. 79 Der Leser der spanischen Verfassung vom 29. Dezember 1978 findet in Art. 16 Abs. 3 eine klare Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche. Danach gibt es keine Staatsreligion, berücksichtigt aber die öffentliche Gewalt die religiösen Anschauungen der spanischen Gesellschaft und unterhält die entsprechenden kooperativen Beziehungen zur katholischen Kirche und den anderen Konfessionen. Das entspricht dem KooperationsmodelL Die Regelung wird flankiert durch die korporative Religionsfreiheit (Art. 16 Abs. 1) und das Recht der Eltern auf eine mit ihren eigenen Überzeugungen übereinstimmende religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder, das in einem Verfassungsartikel über das Schulwesen gewährleistet wird (Art. 27 Abs. 3). 80 Art. 35 Abs. 3, 41 Abs. 3, 43 Abs. 3 der Verfassung. So die Gesamtbeurteilung durch Casas, in: Robbers (N 25), S. 300. 78 Vgl. Nr. 9 der Übergangsbestimmungen der Verfassung des Königreiches Schweden vom 1. Januar 1975; Konkretisierung der staatskirchlichen Verhältnisse in den folgenden Nummern. 79 Überblick bei Schött, in: Robbers (N 25), S. 319ff. 80 Überblicke bei Corral, EssGespr, 18 (1984), S. 156ff.; lban in: Robbers (N 25), S. 99ff. 76
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VIII. Die Kirchenerklärung zum Amsterdamer Vertrag ist auf ein solides Fundament im Verfassungsrecht der EU-Mitgliedstaaten gegründet. 81 Vorstehender Überblick genügt, um das deutlich zu machen. Die Kirchenerklärung ist wertende Rechtsvergleichung durch die Mitgliedstaaten, mit der die Länder, die sich für ein Trennsystem entschieden haben, einverstanden sein können, weil die Realität der StaatKirche-Beziehungen auch dort nicht von der Erklärung abweicht. Diese hebt gemeineuropäische Standards in das Bewußtsein vor allem der Rechtsetzungs- und der Rechtsprechungsorgane der Europäischen Gemeinschaft. Von ihnen ist sie zwar nicht zu beachten, wohl aber zu berücksichtigen, etwa in dem Sinne, daß europäisches Datenschutzrecht nicht nationale Systeme der Kirchenfinanzierung in Frage stellen d~ 2 oder daß in europäischem Betriebsverfassungs- oder Medienrecht der Auftrag der Kirchen seinen Platz finden muß. Die Gefahr unbedachter Nebenwirkungen von EG-Sekundärrecht für die Kirchen wird so eingedämmt. Eine solche europarechtliche Berücksichtigungspflicht bringt die Mitgliedstaaten mit Trennsystem nicht in verfassungsrechtliche Schwierigkeiten. 83 Denn Trennung und Berücksichtigung schließen einander nicht aus. Überdies haben diese Staaten keinerlei Anspruch darauf, daß ihr Modell auf europäischer Ebene originalgetreu reproduziert wird, daß etwa der französische Kulturkampf des ausgehenden 19. Jahrhunderts heute zum Maßstab der europäischen Rechtsentwicklung gemacht wird. Angleichung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ist rechtlich nicht geboten, im Gegenteil. Bei der Berücksichtigungspflicht handelt es sich nicht um soft law, sondern um eine echte Rechtspflicht des EU-Primärrechts. Rechtsakte des Sekundärrechts, die dagegen verstoßen, sind nichtig. Dies festzustellen, wäre Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs, der gemäß Art. 220, früher Art. 164 EGV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages zu sichern hat. Die Beschränkungen seiner Gerichtsbarkeit in Art. 46, früher Art. L EUV erfassen nicht Verletzungen gemeineuropäischen Verfassungsrechts. Diese These läßt sich zwar nicht mit Rechtsprechung belegen, doch wäre nicht einsichtig, warum für gemeineuropäische Menschenrechte, die vom EuGH prätorisch entfaltet worden sind und für welche Art. 46 lit. d) EUV seine Gerichtsbarkeit anerkennt, etwas anderes gelten soll als für sonstiges gemeineuropäisches Verfassungsrecht 84
81 Eine gemeineuropäische Verfassungsüberlieferung jenseits von Grundrechtsfragen bejaht auch Robbers, in: ders. (N 25), S. 359. 82 Zu diesem Beispiel Starck, FS Everling, 1995, S. 1427 ff. 83 Zur Verfassungskontrolle der europäischen Integration in Frankreich Gundel, Europarecht, 1998, S. 371 ff.; Hecker, Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich, 1998. 84 Im Ergebnis wohl übereinstimmend Robbers, in: Stimmen der Zeit, 123 (1998), S. 155.
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IX. Damit ergeben sich folgende Ergebnisse: Die dem Amsterdamer Vertrag beigefügte Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften ist nicht verbindliches Recht der Europäischen Union, sondern grundsätzlich soft law. Ihre Bedeutung erschließt sich aus der Verbindung zu Art. 6, vormals Art. F EUV. In ihren Grundzügen sind die verfassungsrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten über die Beziehungen zwischen Staat und Kirche Ausdruck nationaler Identität. Vor allem lassen diese Regelungen sich als Teil gemeineuropäischen Verfassungsrechts begreifen. Da sie weder grundrechtlicher noch rechtsstaatlicher Natur sind, bereitet es zwar Schwierigkeiten, sie mit Art. 6 EUV zu erfassen. Doch eine Union, die sich als Rechtsgemeinschaft versteht, darf nationales Verfassungsrecht nicht selektiv berücksichtigen. Da es in fast allen Mitgliedstaaten staatskirchenrechtliche und überall religionsverfassungsrechtliche Regelungen gibt, ist die Union auch bei supranationalem Handeln verpflichtet, deren Aussagen zu berücksichtigen. Diese Pflicht ist eine Rechtspflicht, kein soft law. Sie ist der juristische Kern der Kirchenerklärung.
Rechts- und Staatsdenken im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit Von Alexander Hollerbach
I. Es ist gewiß ungewöhnlich, ja vielleicht sogar unschicklich, als Beitrag zu einer Festschrift ein Alt-Manuskript sozusagen aus der Schublade zu ziehen, handelt es sich doch im folgenden um den Text eines Vortrags, der am 3. Dezember 1985 in Wien auf Einladung der dortigen Rechtswissenschaftlichen Fakultät gehalten worden ist. Aber eine gewisse Rechtfertigung liegt wohl darin, daß damit ein Stück des gemeinsamen Unterwegsseins dokumentiert und Respekt vor der großen Leistung Joseph Listls gezeigt werden kann, die sich ja nicht nur auf das geltende Staatskirchenrecht in allen seinen Verästelungen bezieht, sondern auch auf die dahinter und darunter liegenden Dimensionen der Theorie und der Geschichte. So darf denn in besonderer Weise an seine Habilitationsschrift über "Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft" (1978), an den großen Aufsatz "Staat und Kirche in Deutschland. Vom Preußischen Allgemeinen Landrecht zum Bonner Grundgesetz" (1967) und an die beiden "Geschichtlichen Exempel" erinnert werden, die in Listls Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht enthalten sind 1. In solchen Arbeiten kommt nicht nur wissenschaftliches Erkenntnisinteresse zum Ausdruck, sondern auch ein Stück Leben mit der Kirche, ja, wenn man so will, ein Stück "sentire cum ecclesia". Das ist die gemeinsame Basis, die es mich als langjährigen Weggefährten wagen läßt, den nachfolgenden Text in die Festgabe für Joseph Listl einzubringen. Die Diskussion zu der hier behandelten Thematik ist mittlerweile natürlich weitergegangen. Um indes den Duktus des Vortrags und die Nachweise nach dem damaligen Stand nicht zu stören, werden weiterführende Hinweise in einem Annex (unten III.) gegeben.
I Der Wandel vorn christenverfolgenden zum ketzerverfolgenden spätantiken römischen Staat. Kirche und Staat bei Bischof Optatus von Mileve (1994), in: Joseph Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, hrsg. v. Josef Isensee und Wolfgang Rüfner in Verbindung mit Wilhelm Rees, Berlin 1996, S. 1073- 1099; Leben und Werk des Kirchenrechtslehrers und Zentrumspolitikers Prälat Ludwig Kaas (1985), ebd. S. 1100- 1122. Im übrigen verweise ich auf die ebd. S. 1123 ff. veröffentlichte wissenschaftliche Gesamtbibliographie Joseph Listls und hier insbesondere auf die Ziffern 22, 34, 68,78 und 105.
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II.
1. Historische Vergewisserungen gehören zu den Tagesaufgaben jeder Wissenschaft. Denn nur aus begriffener Geschichte kann Gegenwart verstanden und kann für Zukunft Orientierung gegeben werden. Das gilt ganz besonders dann, wenn wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen eng mit politischen Ereignissen verknüpft sind. Und so liegt für unser Thema schon bei einem ersten Blick auf der Hand, daß sich entscheidende Fragen aus dem politischen Rahmen und Kontext ergeben, aus dem Davor und Danach. 1918 fand in Deutschland die Ära der konstitutionellen Monarchie ihr Ende1933 wurde dem Versuch, eine republikanisch-rechtsstaatliche Demokratie zu etablieren und heimisch werden zu lassen, der Garaus gemacht. Wie hat katholisches Rechts- und Staatsdenken auf den Umbruch von 1918 reagiert? Welche Rolle spielte es auf das Jahr 1933 hin? Gehörte es gar zu den Wegbereitem des Verrats an der Demokratie? In einigen meiner eigenen Studien ist dieser Fragenkreis schon mehrfach berührt worden2 • Aber ich will gerne bekennen, daß zwei Ereignisse des Jahres 1985 von außen einen Anstoß gegeben haben, mich erneut dieser Thematik zuzuwenden. Es ist einerseits der Tod von Carl Schmitt (7. April), andererseits das Gedenken an den Geburtstag von Romano Guardini vor 100 Jahren (12. Februar). Eine wohl überhaupt und erst recht in dieser Zusammenstellung seltsame und befremdliche Motivation! Denn, diese Fragen drängen sich natürlich auf: Was hat Carl Schmitt mit katholischem Rechts- und Staatsdenken zu tun, und was Romano Guardini mit katholischem Rechts- und Staatsdenken? Natürlich kann ich weder zu diesen speziellen Fragen noch zu der Generalthematik eine umfassende oder abschließende Antwort bieten. Es sind nur vorläufige Erörterungen und ein paar Streiflichter, die zur weiteren Diskussion anregen sollen. 2. Den Ausgangspunkt mag ein geradezu klassisches Urteil von Rudolf Smend bilden, das die Probleme rasch auf den Punkt bringt. In seiner Schrift "Protestantismus und Demokratie" aus dem Jahre 1932 lesen wir: "Der Katholizismus hat der deutschen Demokratie den Dienst getan, ihr aus seiner naturrechtliehen Grundhaltung zum Staat heraus in ihrem Geburtsstadium auf die Bahn der verfassungs2 Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: Naturrecht in der Kritik, hrsg. v. Franz Böckle und Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mainz 1973, S. 9- 38; Katholizismus und Jurisprudenz in Deutschland 1876- 1976, in: Gestalten und Probleme katholischer Rechts- und Soziallehre. Beiträge von Clemens Bauer I Alexander Hollerbach I Adolf Laufs, Faderborn 1977, S. 55- 90 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 29); Katholische Kirche und Katholizismus vor dem Problem der Verfassungsstaatlichkeit, in: Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803 - 1963, hrsg. v. Anton Rauscher; Bd. I, München, Wien 1981, S. 46-71 (Geschichte und Staat, 247- 249).
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mäßigen Konsolidierung zu helfen, und er ist seitdem eine der stärksten und zuverlässigsten Stützen dieser Konsolidierung. Er hat ihr nicht geben können das Maß geistiger Homogenität, das die Voraussetzung einer innerlich angeeigneten Demokratie in einem entwickelten Kulturvolke ist und ebensowenig die letzte Legitimität, die auch eine demokratische Verfassung in ihrer Weise bedarf 43 • Deutlich sind hier Anerkennung und Lob für die Leistung beim Aufbau des demokratischen Verfassungsstaates von Weimar mit der skeptischen Frage nach der vollen inneren Aneignung der Demokratie und ihrer Legitimierung durch den Katholizismus verbunden. Smend bringt im Anschluß daran die Hoffnung zum Ausdruck, daß das Ziel, nämlich hinreichende Homogenität und volle Legitimität zu erlangen, "auf dem Weg geistig-sittlicher Überwindung der Kultur- und Staatskrise erreicht werden wird", und er sagt dann: "Die geistige Macht in Deutschland, von der diese Überwindung nach menschlichem Ermessen allein zu erwarten ist, ist der deutsche Protestantismus. Von ihm hat die deutsche Demokratie für diese ihr noch bevorstehende Aufgabe mehr zu hoffen, als von irgendeiner der Mächte, auf die sie heute als ihre eigentlichen Stützen und Bundesgenossen zu zählen pflegt". Diese Hoffnung hat getrogen. Wenn es zunächst noch ein Bollwerk im Prozeß des Scheiteros der Weimarer Republik gegeben hat, dann war es der ,,Zentrumsturm" und waren es die Bischöfe mit ihrer Frontstellung gegen den Nationalsozialismus4. Der politisch ohnehin diffuse Protestantismus hatte dem nichts an die Seite zu setzen. Das Zentrum hielt mit 11,2% seinen traditionellen Stimmenanteil bis zur März-Wahl 1933. Erst der 23. März 1933 wurde zum "dies ater", als das Zentrum dem Ermächtigungsgesetz zustimmte. Dies war der Kardinalfehler des deutschen politischen Katholizismus im Jahre 19335 . Für die Zeit davor aber hat das Urteils Smends über den Katholizismus eine starke Vermutung der Richtigkeit für sich. Wie läßt es sich im einzelnen verifizieren? Diese Frage soll nun auf einige Aspekte der Entwicklung des Rechts- und Staatsdenkens im deutschen Katholizismus zwischen 1918 und 1933 hinlenken 6 • 3. Zu beginnen ist mit der Dominante: Mit der in der Neuscholastik erneuerten Naturrechtslehre hatte sich die katholische Kirche für die Positionsbestimmung gegenüber dem Staat und seinem Recht eine tragfähige Operationsbasis geschaffen und ein ausgefeiltes Instrumentarium erarbeitet. Damit stand man nach 1918 vor einer erneuten Bewährungsprobe, insofern es nun vor allem um die Anwendung 3 Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S. 296 - 308; die Zitate S. 308. 4 Überblick über die Haltung des Zentrums und die Geschehnisse in der Endphase der Weimarer Republik bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI (1981), S. 194- 204 und Bd. VII (1984), S. 1203- 1266. s So Konrad Repgen, Hitlers Machtergreifung und der deutsche Katholizismus (1967), in: ders., Historische Klopfsignale für die Gegenwart, Münster 1974, S. 143. 6 Für das folgende Einzelnachweise in meinen oben Anm. 2 angeführten Studien.
5 Festschrift List!
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auf neue Rechts- und Staatsverhältnisse ging. In der deutschen Moraltheologie aus der sich noch nicht die spätere Disziplin der Christlichen Gesellschafts- oder Soziallehre herausgelöst hatte - ist diese Aufgabe mit Energie in Angriff genommen worden. Alte Kämpen wie Victor Cathrein und Joseph Mausbach haben mitgeholfen, die Augen für die neuen Herausforderungen zu öffnen. Es ist dann aber vor allem Peter Tischleder gewesen, der die eigentliche Fundamentierungsarbeit geleistet hat und der sich zum durchaus selbstbewußten Anwalt naturrechtliehen Denkens in Republik und Demokratie gemacht hat. Schon die Titel seiner Hauptwerke sind bezeichnend genug: "Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule" (1923), "Die Staatslehre Leos XIII." ( 1925), "Staatsgewalt und katholisches Gewissen" ( 1927), zuletzt "Der katholische Klerus und der deutsche Gegenwartsstaat" (1928). Damit hatte man so etwas wie einen Katechismus in der Hand, der die überkommenen Positionen mit der Gegenwart zu vermitteln suchte. Leitbild war der "organische Volksstaat". Dabei war es ein besonders wichtiges Anliegen, Grund und Grenzen der Lehre von der Volkssouveränität ins rechte, d. h. naturrechtliche Licht zu rücken. Das gelang denn auch unter Rückgriff auf die Tradition. Naturrechtlicher Träger der Staatsgewalt, so wurde aus den Quellen entwickelt, ist das Volksganze, das corpus rei publicae. Ihm kommt "Selbstbestimmungsmacht" zu - nicht in dem Sinne, daß es der Wurzelgrund für die Staatsgewalt in ihrem Innersten wäre (das ist allein Gott), wohl aber in dem Sinne, daß, gewissermaßen von Gott ermächtigt, das Volk konkret über die Form seiner politischen Existenz und die Bestimmung derer, die Staatsgewalt ausüben, entscheidet. Auf dieser Grundlage hat Tischleder für die innere und nicht bloß äußerliche "Annahme" von Republik und Demokratie geworben und dabei ganz besonders den Klerus angesprochen und dessen Rolle als Stütze des politischen Katholizismus bekräftigt. 4. Ganz auf den Spuren Tischleders und seiner Interpretations- und Vermittlungsarbeit sehen wir einen Juristen aus der Zunft der Öffentlichrechtler, nämlich Godehard Josef Ebers7 . Es sei zunächst an ein äußeres Faktum angeknüpft. Ebers stellte sich dem 1926 in Köln unter seiner Mitwirkung gegründeten "Görres-Ring" zur Verfügung, der sich als "überkorporativer Bund katholischer Jungakademiker zur nationalen und staatspolitischen Erziehung auf der Grundlage der katholischen Weltanschauung" verstand und der versuchte, als Gegengewicht zu dem völkischen "Hochschulring Deutscher Art" aufzutreten. "Aktive Mitarbeit am öffentlichen Geschehen ist die Zeitaufgabe des deutschen Katholizismus; die schöpferischen Gesellschaftsideen, die in seiner Weltanschauung liegen, gilt es zum besten von Volk und Staat lebendig zu machen". Mit diesem programmatischen Aufruf beginnt das Vorwort zu 7 Im folgenden übernehme ich eine Passage aus meinem Aufsatz: Über Godehard Josef Ebers (1880- 1958). Zur Rolle katholischer Gelehrter inderneueren publizistischen Wissenschaftsgeschichte, in: Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 143 162; dort auch die jeweiligen Einzelnachweise.
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dem von Ebers im Auftrag des Görres-Rings herausgegebenen Sammelband unter dem Titel "Katholische Staatslehre und volksdeutsehe Politik. Beiträge zur Gestaltung von Staat, Volk und Völkergemeinschaft" (1929). Bekannte Namen sind unter den Mitarbeitern: Konrad Beyerle, Alois Dempf, Hermann Platz, Wilhelm Schwer und eben nicht zuletzt Peter Tischleder. Alle Beiträge sind aus Referaten hervorgegangen, die auf Schulungswochen des Görres-Rings gehalten wurden. Ihr gemeinsamer Nenner ist die naturrechtlich-organische Staats- und Gesellschaftslehre in der Gestalt, die sie durch Leo XIII. gewonnen hat, ferner die anti-etatistische Betonung des Volksgedankens. Im Ganzen ist der Sammelband ein bemerkenswertes Dokument für das redliche Bemühen eines vornehmlich auf das Prinzipielle ausgerichteten Denkens, das jenseits von idealistischer Staatsvergottung, individualistischem Liberalismus, marxistisch-leninistischem oder faschistischem Kollektivismus, aber auch frei von einer theokratisch-mystischen Reichsideologie, von einem theologisch-religiösen Integralismus und nicht zuletzt frei von einer antidemokratischen Tendenz sich auf dem Wege befand zu einer positiven, inneren Annahme der republikanischen, rechtsstaatliehen Demokratie. Am 29. Juli 1929 hatte Ebers die Festrede bei der Verfassungsfeier der Kölner Universität zu halten. Sie ist durchwaltet von einer warmen Bejahung von Verfassung und Staat, wie sie in jenen Jahren, zumal bei den Staatsrechtslehrern, jedenfalls in dieser Form alles andere als selbstverständlich gewesen ist. Ebers unterstreicht vor allem das Bekenntnis der Verfassung zu Einheit und Freiheit und deutet sie als Grundlage für "die neue Lebensform: Volksgemeinschaft und Demokratie". Diese neue Lebensform sucht aus "sozialem Geist" Klassen und Stände miteinander zu versöhnen; sie beruht auf der Teilhabe eines jeden an der Verantwortung für das Ganze. In spezifischer Weise greift er die Legitimitätsfrage auf. Er löst sie mit der These, daß die Rechtmäßigkeit nicht wesentliches Element bei der Entstehung von Staatsgewalt ist, daß aber revolutionär erworbene Herrschaft der Anerkennung seitens des Volkes bedarf. Ihm kommt das "natürliche Urrecht" auf nationale Existenz, auf Ordnung und Sicherheit, Verwirklichung des Staatszweckes, Sicherung des Gemeinwohls zu. Es ist eine Norm der "natürlichen Rechtsordnung, daß das Gesamtleben und Gesamtwohl des Volkes heiliger ist als das Recht einer einzelnen Person oder Familie, und erst recht höher steht als eine selbst durch Jahrhunderte geheiligte Staatsform". Das deutsche Volk hat mit der Weimarer Reichsverfassung "das rechtlich einwandfrei zustandegekommene Grundgesetz erhalten, das als bestehendes verbindliches Recht vorbehaltlos anzuerkennen, sittliche Pflicht eines jeden deutschen Bürgers ist". Und so ist es "das Gebot der Stunde", den Staat als republikanischen demokratischen Volksstaat zu bejahen. Ebers ist hier ganz auf der Linie seines Lehrers und väterlichen Freundes Konrad Beyerle 8 , der in seiner fast gleichzeitigen Festrede zur Münchener Verlass Über ihn Adolf Laufs, Konrad Beyerle: Leben und Werk, in: Gestalten und Probleme katholischer Rechts- und Soziallehre (vgl. oben Anm. 2), S. 21 -54. 5*
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sungsfeier der Reichsbehörden am 11. August 1929 ebenfalls - weniger freilich prinzipiell deduzierend als aus der Sicht des Historikers und politisch Mithandelnden - den Grundgedanken verfochten hat, "daß der freie Volksstaat der Gegenwart, den uns die Verfassung von Weimar geschenkt hat, eine höhere Form staatlicher Gemeinschaft darstellt als die Formen der Vergangenheit". Was Ebers in Köln vorgetragen hat, wurde alsbald in ausführlicherer und sein rechts- und staatsphilosophisches Credo noch stärker offenlegender Form in einem Hochland-Aufsatz vom September 1929 in den Raum des Katholizismus hineingesprochen, und zwar unter dem Titel "Reichsverfassung und christliche Staatslehre". Er ist ein Beitrag zum sog. "Verfassungsstreit" im deutschen Katholizismus, in dem er auf der Grundlage der, wie schon erwähnt, vor allem von Peter Tischleder wieder freigelegten und bewußtgemachten scholastisch-naturrechtliehen Volkssouveränitätslehre eindeutig gegen die monarchisch gesinnten ,,Legitimisten" Heinrich Schroers und Franz Xaver Kiejl Position bezog. Naturrechtlicher Träger der Staatsgewalt ist das Volk; es muß sie auf bestimmte Personen zur Ausübung übertragen. So ist das Volk auch die Quelle für die Legitimation revolutionär erworbener Herrschaft - "nicht die sog. normative Kraft des Faktischen (Jellinek), nicht die vollendete Tatsache, welche neue Rechtsverhältnisse und als deren Ausdruck neues Staatsrecht schafft (Anschütz)". Schon in diesen beiden Veröffentlichungen aus dem Jahre 1929 hat Ebers für die Zentralfrage nach der Volkssouveränität und für das Verhältnis von Recht und Revolution seine Konzeption klar entwickelt. Sie ist dann - unter Präzisierung der einen oder anderen Formulierung - im Artikel "Staatsgewalt" der fünften Auflage des Staatslexikons erneut und mit großer Entschiedenheit vorgetragen worden. Die neue Staatsform der demokratischen Republik erhält ihre Legitimierung aus der "Überordnung des naturrechtlich gegebenen Staatszweckes, des Gemeinwohls, über die bloß geschichtlich bedingte Staatsform". Die Verfassung des Reichs und der Länder sind das Grundgesetz, die Republik die Staatsform, "die, mögen ihnen auch Schwächen anhaften, anzuerkennen sittliche Pflicht eines jeden Bürgers ist", - und so fügt Ebers jetzt verschärfend hinzu - "die durch Gewalttat beseitigen zu wollen, sitttlich und rechtlich ein Verbrechen wäre". Mit großem Recht hat Clemens Bauer9 einmal auf die Schlüsselstellung gerade dieses Artikels hingewiesen; er ist in der Tat ein hervorragendes Exempel für die "ausgleichende Funktion des Staatslexikons und sein Bemühen, die politische Wendung der Katholiken zum Staat von Weimar zu begründen und die Stellungnahme des Zentrums innerhalb der Revolution und zur Revolution zu rechtfertigen". Man hat Ebers in der fünften Auflage des Staatslexikons ein weiteres Stichwort anvertraut, das in diesem Werk einen Eckpfeiler bildet, nämlich "Staat". Es ist offenkundig, daß Ebers in den Grundriß einer "Allgemeinen Staatslehre", den er hier darbietet, das Ergebnis jahrelanger Reflexionen und Auseinandersetzungen 9
Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a. M., 1964, S. 83 f.
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mit überkommenen bzw. zeitgenössischen Konzeptionen einbringt und daß hier nun in reifer Form die Alleignung der neuscholastischen Naturrechtslehre zum Tragen kam. Gleichwohl ist es nicht zutreffend, in ihm den eigentlichen Begründer der katholischen Staatslehre zu sehen 10, eine so wichtige Rolle er für ihre Konsolidierung und ihre Vertretung in der allgemeinen Diskussion gespielt hat. Die eigentliche Fundamentierungsarbeit hat vielmehr, so ist zu wiederholen, in Fortführung der Ansätze bei Cathrein und Mausbach Peter Tischleder geleistet. Ebers hat denn auch selber allenthalben auf dessen Forschungen aufmerksam und kenntlich gemacht, daß er wesentlich auf ihm fußt. Allerdings ist Ebers' aktive Teilnahme an der Entwicklung einer naturrechtlich-organischen Staats- und Gesellschaftslehre wissenschaftsgeschichtlich schon um deswillen bemerkenswert und bedeutsam, weil er unter den Akteuren der einzige Hochschuljurist aus der öffentlichrechtlichen Zunft gewesen ist. Das konnte dazu beitragen, insbesondere der Auseinandersetzung mit den Konzeptionen, die mit den Namen Georg Jellinek, Otto von Gierke, Hans Kelsen, Rudolf Smend und Carl Schmitt verbunden sind, größeres Gewicht zu verleihen und so die Diskussion zu bereichern. Diese Diskussion hat dann allerdings im Zeichen zunehmenden Verfalls der Weimarer Ordnung und nach der Staatsumwälzung von 1933 praktisch nicht mehr stattgefunden. Dabei hätte es aber diese Konzeption gerade auch im Blick auf die politische Entwicklung verdient, beachtet zu werden. Gewiß konnte eine "organische" Staatslehre, die den Staat zur "wahren Volksgemeinschaft" macht und ihn als ,,immanent teleologisch bestimmte Lebenseinheit" verstehen will, mißdeutet werden. Aber die deutliche Hervorhebung der Selbstzweckliehkeil des Menschen auch dem Staat gegenüber, die klare Frontstellung gegen den Faschismus und der fundamentale Einspruch gegen den etatistischen Rechtspositivismus erweisen sich als Elemente eines Denkens, das gegenüber den Herausforderungen der Zeit richtige GrundMarkierungen zu zeigen imstande war. Es befand sich freilich erst am Anfang in der Erkenntnis der Aufgabe, die konkreten Vermittlungen für die Probleme der unmittelbaren politisch-rechtlichen Umwelt zu leisten. Am 12. November 1932 hielt Ebers bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Köln eine Rede über das ewige Menschheitsthema "Autorität und Freiheit". Sie ist alles andere als "akademisch" oder ,,kontemplativ", wie man heute gelegentlich zu sagen beliebt. Sogleich in den ersten Sätzen macht der Redner die Schwere und Abgründigkeil der Krisensituation jener Monate bewußt. "Vom Vertreter des Staatsrechts verlangt man in einer solchen Zeit Stellungnahme zu den Problemen der Gegenwart, vom Professor das ,profiteri ', nicht nur Erkenntnis, sondern auch Bekenntnis". Das Grundaxiom dieses "Bekenntnisses" lautet: Nicht "Wende", sondern ,,Reform", nicht ein neuer Staat, sondern ,,Erneuerung des Staates von Weimar". Diese Erneuerung soll, nachdem "der Weimarer Parlamentarismus sich zum Parlamentsabsolutismus, die Demokratie zur Formaldemokratie überspitzte", durch Stärkung der Autorität des Staates erreicht werden. Aber Ebers 10
So aber Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1970, S. 85.
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grenzt sich ausdrücklich von dem Schlagwort des "autoritären Staates" ab, er wendet sich betont gegen die "modische Verketzerung des Liberalismus" und stellt klipp und klar fest: "Eine Einpartei-Demokratie [ ... ] wäre Einpartei-Absolutismus, Diktatur in Permanenz". Deshalb kann nach seiner Überzeugung "das Leitmotiv der kommenden Verfassungsreform nur eine sinnvolle Verbindung wahrer Demokratie mit starker Regierung, nicht Autorität statt Freiheit, sondern Autorität und Freiheit in einer Staatsform sein, die man vielleicht als autoritäre Demokratie bezeichnen könnte", als Demokratie mit einem arbeitsfähigen Parlament und einer starken einheitlichen Staatsführung. Auf dieser Grundlage werden konkrete Reformvorschläge erörtert, so zum Wahlrecht eine Modifizierung des Verhältniswahlsystems mit dem Ziel, die Bildung von Splitterparteien zu erschweren. Was die Struktur der Reichsorgane anbelangt, so plädiert Ebers für eine Ergänzung des Reichsrats durch berufsständische Elemente nach dem Leitbild der "organischen Demokratie", um so ein Korrektiv gegenüber dem Reichstag zu schaffen. Zur Stellung der Regierung favorisiert er eine Art Präsidialsystem, wobei er sich aber ausdrücklich gegen Carl Schmitts These vom Reichspräsidenten als dem "Hüter der Verfassung" wendet. Schließlich plädiert er insbesondere für eine klare einschränkende Umgrenzung der präsidialen Rechte aus Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung. Natürlich stehen diese Vorschläge jetzt hier im einzelnen nicht zur Debatte. Sie lassen aber keinen Zweifel an der Verfassungstreue eines katholischen Demokraten, der vernünftige Wege zur Stabilisierung des republikanisch-demokratischen Systems erwägt, um so zur Gewährleistung von "Einigkeit und Recht und Freiheit" beizutragen. 5. Wenn man diese Zeugnisse als repäsentativ und paradigmatisch nimmt, darf man dann vielleicht von einer durchweg positiven Bilanz sprechen? Lesen sie sich nicht wie ein unmittelbarer Beleg zu dem eingangs zitierten Urteil von Rudolf Smend? Man wird zunächst deutlich festzuhalten haben: Eine Bedeutung und Wirkung über den Kreis des politischen Katholizismus hinaus kam diesem naturrechtlich begründeten Rechts- und Staatsdenken nicht zu. Insoweit darf man sich, wenn man dieses Phänomen zum Ganzen der damaligen Kräfte und Bewegungen in Beziehung setzt, keinen Illusionen hingeben. Zudem war für viele, darunter auch für zahlreiche Juristen, diese Lehre als kirchenamtlich verfügte kirchliche Lehre abgestempelt und damit von vornherein suspekt oder gar abgetan. Auch darf man innerhalb des Katholizismus die Resistenz konservativ-monarchistischen Denkens nicht unterschätzen 11 . Sodann gibt es eine grundlegende strukturelle Schwierigkeit. Sie liegt in der mangelnden Vermittlung von abstraktem Prinzip und konkretem Imperativ, zwischen übergeschichtlichem Wesen und geschichtlichem Auftrag in einer gegebenen politischen Situation. Man war, so Ernst-Wolfgang Böckenfördes be11 Zu diesen Zusammenhängen und Problemen nach wie vor sehr erhellend Heinrich Lutz, Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914- 1925, München 1963.
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kannte Formel, weithin auf naturrechtliche "bona particularia" in Gestalt bestimmter kirchen- und kulturpolitischer Postulate fixiert und war in der Gefahr, um der Sicherung solcher "Werte" willen, die grundlegende politische Freiheit aufs Spiel zu setzen 12 . Man hat an diesem Problem gearbeitet, übrigens wohl mehr als es manchen Kritikern an der Haltung des Katholizismus im Jahre 1933 erscheinen mag. Aber eine konkrete Handlungsorientierung hat sich in der Tat nicht daraus ergeben. Bei allem Bemühen und bei aller Loyalität war man an eine Grenze gekommen. Demokratisches Bewußtsein war noch nicht eingewurzelt. Innere Vorbehalte machten sich immer wieder geltend, insbesondere in der Zeit der Krise. Es bedurfte erst der späteren bitteren Erfahrungen, um die Überzeugung zu befestigen, daß die volle Gewährleistung von Religions- und Kirchenfreiheit oder von Gewissensfreiheit (etwa in bezug auf die Schule) abhängig ist von der Grundgewährleistung politischer Freiheit überhaupt und damit, wenn man so will, von der "Fundamentaldemokratisierung des Staates". Und doch darf man nicht ungerecht sein und darf nicht übersehen, daß das katholische Rechts- und Staatsdenken mit seinem Beharren auf naturrechtlicher Begründung und Begrenzung staatlicher Gewalt, mit seinem Insistieren auf der Gewährleistung bestimmter Freiräume dem Prinzip Freiheit insgesamt einen großen Dienst getan hat. So sind etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, auf lange Sicht gesehen die Schlachten um das Elternrecht keineswegs vergeblich geschlagen worden 13 . 6. Bislang war von der Dominante die Rede. Aber es gab auch noch Nebentöne, ja Dissonanzen. Das Rechts- und Staatsdenken im Katholizismus der Weimarer Zeit stellt sich nicht nur als naturrechtlicher Eintopf dar. Das wird besonders deutlich an der Figur von Carl Schmitt, die hier notwendigerweise ins Visier geraten muß 14 . Carl Schmitt kommt aus der katholischen Lebenswelt Als er seine glänzende akademische und schriftstellerische Karriere begann, war es in Anbetracht der Minoritätssituation katholischer Gelehrter an Universitäten nur allzu verständlich, wenn manche ihn als Repräsentanten einer neuen katholischen Staatslehre für den deutschen Katholizismus zu reklamieren suchten. Repräsentative katholische Zeitschriften öffneten sich ihm, so "Hochland" und "Abendland". In einem der katholischen Rechtsphilosophie gewidmeten Heft des Archivs für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie von 1922/23 war er mit einer Abhandlung über "Die Staatsphilosophie der Gegenrevolution" beteiligt, d. h. einem Kapitel aus der "Politischen Theologie". War das schon bezeichnend genug, so muß man in der Tat deutlich festhalten, daß Carl Schmitt, beginnend mit seinen Frühschriften über "Gesetz und Urteil" sowie "Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen" von der sich erneuernden katholischen Naturrechtslehre keine Notiz genommen hat. Zwar 12 Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961), in: ders., Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg 1973, S. 57. 13 Vgl. dazu Josef Isensee, Art. Elternrecht, in: Staatslexikon, 7. Auf!., Bd. II (1986), Sp. 222 - 233, bes. Sp. 224 f. 14 Die folgenden Bemerkungen nach meiner oben Anm. 2 angeführten Arbeit über "Katholizismus und Jurisprudenz in Deutschland 1876- 1976", S. 74f., 78 f.
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spricht er einmal von der Notwendigkeit eines "Naturrechts ohne Naturalismus". Aber das von ihm angezielte ,,Element originären nicht-staatlichen Rechts" darf einerseits, so hebt er in scharfer Diastase hervor, mit Ethik nichts zu tun haben, andererseits wird es völlig in eine sekundäre Rolle verwiesen gegenüber der staatlichen Entscheidung in Normsetzung und Normverwirklichung. Der Dezisionismus ist hier grundgelegt In dieser Perspektive ist die Absage an die neuaufkommende Lehre überdeutlich. Qua Naturrecht hatte der deutsche Katholizismus, für den diese Doktrin ein Element seiner geistigen Selbsttindung war, in Carl Schmitt keinen Bundesgenossen. Das wird auch durch ein späteres Zeugnis belegt. In der berühmten Schrift "Über die drei Arten des rechtswissenschaftliehen Denkens" von 1934 hat sich Carl Schmitt für sein ,,konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken" 15 , wie bekannt, vornehmlich auf Maurice Hauriou als geistigen Ahnherrn berufen. Mit Befremden aber muß er feststellen, daß Haurious Lehre von der Institution bei dessen Schüler Georges Renard "ganz in einen Neothomismus einmündet, wodurch sie als typisch römisch-katholische Theorie erscheint". Gegen solche "Mißverständnisse und Verengungen" grenzt er sich ausdrücklich ab und erteilt damit erneut naturrechtlichem Denken im Stile der katholischen Tradition eine Absage. Nun käme es allerdings in der Tat einer Blasphemie nahe, wollte man den hl. Thomas für ein Denken bemühen, in dem die ,,konkreten Ordnungen" letztlich zur Disposition des ,,Führers" und der "Bewegung" stehen. Doch zurück in die Weimarer Zeit. 1923 hat Carl Schmitt seine berühmten Betrachtungen über "Römischer Katholizismus und politische Form" vorgelegt. 1925 sind sie, mit kirchlichem Imprimatur versehen, in 2. Auflage in der Reihe "Der Katholische Gedanke" als Veröffentlichung des "Verbandes der Vereine katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung" erschienen. Dieser geistvolle Essay mit seinen zahlreichen blendenden Formeln hat, schon früher geäußerte Gedanken aufgreifend und fortführend, mit großem Scharfblick politisch relevante Züge der Katholischen Kirche nachgezeichnet. Sie liefen auf das Bild eines, wie Hans Maier treffend gesagt hat, positivistischen Ordnungskatholizismus16 hinaus. Aber, ganz abgesehen von der ästhetisierend-distanzierenden Art der Darbietung der Gedanken: es bleiben ausgeklammert die theologisch-ekklesiologischen Grundfragen, es bleibt ausgeklammert - erneut - die naturrechtliche Soziallehre der Kirche, es fehlt schließlich jeder Ertrag für eine Lösung der konkreten Zuordnungsprobleme von Staat und Kirche in einem demokratischen Gemeinwesen. Das bringt die Schrift, die große Resonanz gefunden hat, in ein eigentümliches Zwielicht. Das kritische Echo, das sich ebenfalls deutlich artikuliert hat, beweist es. Mit der einseitigen Betonung der "Kunstform", der "Machtform" und der ,,Rechtsform" der Katholischen Kirche hat sie eher verfälschend gewirkt 17. 15 Zu dieser Problematik vgl. Ernst- Wolfgang Böckenförde, Art. Ordnungsdenken, konkretes, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6 (1984), Sp. 1312- 1350. 16 Kritik der politischen Theologie, Einsiedeln 1970, S. 14.
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Mit anderen Schriften zusammen hat Carl Schmitt vor allem antiliberale Grundstimmungen im deutschen Katholizismus zum Schwingen gebracht. Aber man sollte darüber nicht vergessen, daß man auch hier mehr und mehr gelernt hat, sich seiner Faszination zu entziehen und seine Theoreme und insbesondere seine Lehre vom Politischen kritisch unter die Lupe zu nehmen. Auf Waldemar Gurian 18 etwa ist zu verweisen oder auf Theodor Haecker 19 • Bei ihm z. B. ist zu lesen: "Das Freund-Feind-Verhältnis ist eine ebenso primitive, schiefe, geistig rudimentäre Naturbestimmung wie etwa der ,Kampf ums Dasein'. Aus diesem Milieu und dieser Ideologie mag sie ja auch letztlich stammen [ ... ] Wird das Wesen des Politischen im Freund-Feind-Verhältnis gesehen, dann ist es sehr schwierig, die Bestimmung zu vermeiden, daß das Ziel des Politischen nicht mehr der Friede ist, sondern der Krieg"20 . Aus Gründen des sachlichen Zusammenhangs darf hier auch eine Reminiszenz von Josef Pieper eingeblendet werden. 1943, im zerbombten Berlin, traf er mehrfach mit Carl Schmitt zusammen und erzählt: "Am ersten Abend schon fragte ich ihn, warum er eigentlich in seiner Schrift ,Begriff des Politischen' mit keiner Silbe vom bonum commune spreche, in dessen Verwirklichung doch wohl der Sinn der Politik bestehe, worauf er scharf erwiderte: ,Wer bonum commune sagt, will betrügen'. Das war zwar keine Antwort; aber man war zunächst einmal außer Gefecht gesetzt" 21 • Auf die Sache blickend wird damit erneut klar, daß man Carl Schmitt für entscheidende propriakatholischen Rechts- und Staatsdenkens nicht reklamieren kann. Nun ist gesagt worden, man müsse die "zentralen Antriebe" berücksichtigen, die das Werk von Carl Schmitt seiner Herkunft "aus dem katholischen Volksteil der Kulturkampfzeit und seinem geistigen Erbe verdankt, einem Erbe, dessen Wurzeln weit hinter die Restaurierung der Scholastik und einer auf sie gegründeten Naturrechtslehre zurückgreifen'm. Aber was ist dieses Erbe konkret? Gewiß die irrever17 Deutliche Vorbehalte trotz starker Sympathie etwa bei Kar[ Neundörfer; Religiöser Glaube und politische Form, in: ders., Zwischen Kirche und Welt, Mainz 1927, S. 35: "Die politische Form der Kirche erscheint [ ... ] eher als kultureller denn als religiöser Wert. Und die religiöse Einstellung Schrnitts ist von einer einseitigen Betonung des ,Amtes' gegenüber dem Charisma nicht ganz frei. Demgegenüber kann das Wesen der Katholischen Kirche nur im Religiösen, und muß das Wesen dieses Religiösen ebenso von der Seite der lebendigen Fülle wie von jener der geordneten Form erfaßt werden. Das Charisma ist der Kirche ebenso notwendig wie das Amt". 18 Vgl. dazu Heinz Hürten, Waldemar Gurian, Eine Zeuge der Krise unserer Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Mainz 1972. 19 Über sein Wirken vgl. insbesondere Konrad Ackermann, Die geistige Opposition der Monatsschrift Hochland gegen die nationalsozialistische Ideologie, München 1965. 2o Zitiert nach: Was ist der Mensch?, 6. Aufl., München 1949, S. 71. 21 Noch wußte es niemand. Autobiographische Aufzeichnungen 1904- 1945, München 1976, s. 197. 22 So Ernst-Wolfgang Böckenförde aus Anlaß der Rezension von Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität (1964), in: Die Öffentliche Verwaltung 1967, S. 690.
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sible Entscheidung für die Unterscheidung von geistlich und weltlich, die Schrankenziehung gegenüber einer "politischen Theologie", vielleicht auch die Anerkennung der Katholischen Kirche als Ordnungsmacht und des Katholizismus als stabilisiemde Kraft im Kampf gegen Zerstörerischen Pluralismus. Aber Schmitts entschiedene Distanzierung gegenüber Weimar, ja sein Kampf dagegen, seine aktive Rolle bei der Etablierung des Führerstaates, sein engagierter Antisemitismus, sein Eintreten für den totalitären Weltanschauungsstaat mit einem plenipotenten Diktator an der Spitze: Was soll das mit katholischem Erbe zu tun haben, mögen auch katholische Versuchungen dabei eine Rolle spielen? Aber vielleicht entzieht sich Carl Schmitt mit seiner "gnostischen Geschichtsphilosophie"23 und der daraus entspringenden Haltung der Ambivalenz von vornherein einem solchen Versuch der klaren Positionsbestimmung. Im Zusammenhang dieser Skizze muß es genügen, gezeigt, zumindest angedeutet zu haben, wie dringlieb es ist, das Thema "Carl Schmitt und der Katholizismus" zu diskutieren und zu bearbeiten 24 •
7. Entgegen dem ersten Anschein ist es kein weiter Weg von diesen Erörterungen über Carl Schmitt zu den Beobachtungen, die es nunmehr über Romano Guardini anzustellen gilt25 • Dabei können die späteren persönlichen Begegnungen in Berlin, so etwa im Hause Sombart, hier außer Betracht bleiben 26 . Wichtiger ist dies: "Die Schildgenossen", das Organ der Quickborn-Bewegung, haben zweimal Carl Schmitt das Wort gegeben. 1926 erschien dort die Betrachtung "Um das Schicksal des Politischen'm. 1928 brachten sie eine von WemerBecker angefertigte Niederschrift eines Vortrags von Carl Schmitt über das Thema "Bürgerlicher Rechtsstaat" 28 • Damit ist übrigens auch ein Name genannt, der für diese Kontakte nicht ohne Einfluß gewesen ist. Wemer Becker, der spätere Newman-Forscher und 23 Vgl. dazu Jacob Taubes (Hrsg.), Religionstheorie und politische Theologie, Paderbom 1983. 24 Eine Schlüsselrolle spielt dabei auch der Kanonist Hans Barion. Vgl. dazu Wemer Bökkenförde, Der korrekte Kanonist. Einführung in das kanonistische Denken Barions, in: Hans Barion, Kirche und Kirchenrecht. Gesammelte Aufsätze, Paderbom 1984, S. 1 - 24. In diesem Sammelband erhellend vor allem der Aufsatz "Kirche oder Partei? Der Katholizismus im neuen Reich" (1933), wo etwa gegen das überkommene Naturrecht Front gemacht und plädiert wird für "das echte Naturrecht, wie es für das staatliche Leben, die deutsche Revolution zu entdecken und fruchtbar zu machen sich anschickt", ein Naturrecht, das nicht "beziehungslos über der Wirklichkeit von Volk und Partei schwebt, aus der es allein verpflichtende Kraft gewinnen könnte" (S. 455). 2s Heinrich Lutz, vgl. oben Anm. 11, hat wohl zum ersten Mal inderneueren Diskussion nachdrücklich "auf die Bewegung und Bildung junger Katholiken im schöpferischen Umkreis Romano Guardinis" (S. 110) aufmerksam gemacht und zu der politischen Fragestellung in Beziehung gebracht. 26 Siehe Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin 1933- 1943. Ein Bericht, München 1984, s. 148 ff. 27 Die Schildgenossen 5 (1926), S. 313- 322. 2s Die Schildgenossen· 8 (1928), S. 127 f.
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nach dem Kriege Studentenpfarrer in Leipzig, war von Hause aus Jurist und wurde unter der Ägide von Carl Schmitt in Bonn mit einer bemerkenswerten Arbeit über Thomas Hobbes promoviert29 . Das Carl-Schmitt-Seminar in Bonn war in der Tat nicht ohne Anziehungskraft und Wirkung auf junge Katholiken. Hanna-Barbara Gerl schreibt in ihrer Guardini-Biographie30 : ,,Zunehmend kamen in den Schildgenossen Stimmen zu Wort, in denen Mißtrauen gegen den Parlamentarismus und damit gegen die zugegebenermaßen unfertige Demokratie zum Ausdruck kamen. Zudem werden diese Stimmen verstärkt durch den katholischen Staatsrechtslehrer Carl Schmitt. Aber Schmitt hätte seinen antiliberalen und antiparlamentarischen Grundgedanken auch in den Schildgenossen nicht so offen aussprechen können, wenn er nicht auf ein analoges Denken in dieser neuen katholischen Jugend gestoßen wäre. Grundlage dieses Denkens war die klassische Übergewichtung der Ordnung gegenüber der Freiheit, worin die Begriffe von Autorität und Hierarchie gottgewollter Art eine tragende Rolle spielten". Auch in den Schildgenossen lasse sich, wird hier weiter festgestellt, "ein mangelndes Grundempfinden für die Demokratie mit all ihren ausgeprägten Schwächen erkennen, der ein völkisches Bewußtsein oder besser der Neuaufbau des Volkes entgegengehalten werden sollte". Aber da gibt es ein Gegengewicht in Gestalt eines Textes von Romano Guardini selbst, der in unseren thematischen Zusammenhang hineingehört. Ich halte ihn für einen Schlüsseltext 1925 und dann wieder 1930 erschienen "Briefe über Selbstbildung". Von den Briefen spricht der erste von der "Freudigkeit des Herzens", der zweite von der "Wahrhaftigkeit des Wortes", und so geht es weiter. Natürlich ist auch vom Beten und der Seele die Rede. Eigentlich ganz unerwarteterweise handelt schließlich der letzte, zugleich der längste dieser Briefe "Vom Staat in uns". Es lohnt sich, mit Betonung daran zu erinnern. Guardini schreibt naturgemäß keinen abstrakten Traktat über den Staat aus der Sicht der katholischen Rechts- und Staatstheorie. Sein eigentliches Anliegen besteht in einem Beitrag zur politischen Bildung, einem geradezu leidenschaftlichen, engagierten Aufruf dazu. Dabei meint politische Bildung nicht nur soviel wie staatsbürgerliche Bildung im Sinne des Wissens, wie der Staat funktioniert. Politische Bildung zielt vielmehr auf politische Haltung, die etwas von Wesen, Sinn und Zweck versteht, die weiß, worauf es letztlich ankommt. Und was ist das, worauf es ankommt? Es ist politische Tugend, die den Staat als Rechtsgemeinschaft des Volkes trägt. Das Ganze ist ein einziger Appell an die Verantwortungsbereitschaft und das aktive Engagement des einzelnen. "Tua res agitur" - das zieht sich durch diesen Text hindurch. Er liest sich wie eine Paraphrase zu dem bekannten definito29 Die Dissertation ist ungedruckt. Ihre Quintessenz ist aber vom Autor dargeboten im Artikel "Hobbes" in der 5. Aufl. des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft: Bd. II (1927), Sp. 1221 - 1227. 30 Romano Guardini, 1885- 1968. Leben und Werk, 2. Aufl., Mainz 1985, S. 201.
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rischen Satz des Cicero: "Est autem res publica res populi". Maßgebende Grundkategorie ist die Personalität; sie ist zu vermitteln mit den Gestalten überpersönlicher Ordnung. Aber bewegt sich das alles vielleicht in einer idealisierenden Abstraktheit? Mitnichten! Es ist aus der Zeit in die Zeit hineingeschrieben. Es geht nicht darum "eine der rauhen Wirklichkeit entzogene, schöne Abseitswelt zu bauen" (S. 177). Es geht auch nicht darum, etwa gemäß der These von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Staatsformen die Position des Christen zu bestimmen. Nein, das Bemühen geht auf die "wahre Demokratie" (S. 179). Sie ist es, die hic et nunc die Aufgabe hat, ,,in den irdischen Dingen die Hoheit des höchsten Herrn" zu vertreten. Sie ist gottgewollt als "lebendige Form des Volkes", als Gemeinschaft, die auf dem "freien Gehorsam des freien Bürgers" (S. 178) beruht und darauf aufbaut. Guardini hält nicht mit Kritik zurück; aber Kritik und Nein haben ihren Grund in einem prinzipiellen Ja, einem "Willen zum Staat" (S. 158). Im Hinblick auf den zeitgenössischen Kontext wird man einige Einzelpunkte noch hervorzuheben haben: Der Guardini-Text ist ein Plädoyer für die Gemeinwohl-Verpflichtung aller, der einzelnen wie der Parteien. Und so zieht sich wie ein roter Faden durch diese Erörterungen hindurch das Problem der Grenzen des legitimen Pluralismus, das Problem des notwendigen Grundkonsenses. Hat er damit für damals (wie für heute) nicht den Nagel auf den Kopf getroffen? Guardini hält sich ganz zurück mit Anleihen bei der kirchlichen Doktrin. Selbstverständlich ist ihm allerdings die Sachaussage des Subsidiaritätsprinzips. Aber im übrigen äußert er sich weder zur Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche noch zur Frage einer christlichen Politik oder einer christlich-kirchlichen Partei. Bemerkenswert ist auch, daß er sich ganz frei hält von einem Umgang mit dem Begriff ,,Reich", der damals auch in kirchlichen Kreisen nicht immer eine glückliche Rolle gespielt hat31 , oder von einem Schwärmen für das "Abendland" (auch dieses Wort kommt nicht vor). Guardini hat demgegenüber selbst das rechte Stichwort gegeben: "Daß man die klare Sachlichkeit behalte, die Nüchternheit des Geistes und besonnen bleibe. Auch das ist politische Haltung" (S. 181). Nicht zuletzt sind zwei Passagen hervorzuheben, in denen wie in einer Vorausschau Künftiges anklingt und fast prophetische Warnungen ausgesprochen werden. In einer Fußnote -der einzigen -, wo er sich bezeichnenderweise mit dem Vorwurf des "Demokratismus" auseinandersetzt, heißt es: "Wir wollen nicht dem Rausch des Genie-Kultes verfallen. Es ist einfach nicht wahr, daß nur der große Einzelne schafft, sondern jeder einzelne. Freilich jeder nach seinem Können. Und von diesem jeden einzelnen, von dir also und von mir, rede ich. Ist ein Großer da, so trete er vor und zeige was er kann! Wir wollen uns nicht durch die Berufung auf den 31 Dazu Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929- 1934), München 1969, bes. 89f.
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Großen unsere kleine Leistung verächtlich machen; und auch nicht unsere kleine, aber für unsere bescheidene Kraft schwere Pflicht durch Genie-Gerede wegtäuschen lassen!" (S. 168). Und an einer anderen Stelle heißt es: "[ ... ] dann haben wir vom Öffentlichen gesprochen und vom Wort. Hierzu gehört noch manches: So daß man frei sei vom Bann des Öffentlichen: dem Rausch des gesprochenen Wortes, dem Schwindel der öffentlichen Gebärde, dem Se1bstgenuß des öffentlichen Schauspie1ertums, der Gewalt des Marktes, der Aufregung der großen Aktionen, der Äußerlichkeit des Etwas-Vorstellensund so vieles andere noch" (S. 180 f.). Walter Dirks meint, man könne den Brief "Vom Staat in uns" auch "basisdemokratisch"32 deuten. Ja und nein! Ja in dem Sinne von Verwurzelung der Demokratie im einzelnen und ihrer Hinordnung auf den einzelnen, im Sinne ihrer Abhängigkeit vom Engagement der Bürger. Man müßte aber ein entschiedenes Nein sagen, wenn man daraus ein Plädoyer für eine plebiszitäre oder rätedemokratische Auffassung ableiten wollte. Radikaldemokratischer Rousseauismus oder verantwortungsloser Funktionalismus wären das letzte, was Guardini befürworten würde. "Wahre Demokratie" ist nicht ohne überpersönliche Hoheit von Staat und Recht möglich.
Mit alledem soll Guardini natürlich nicht zu einem Rechts- und Staatsdenker hochstilisiert werden. Sein Profil und sein Verdienst liegen anderswo. Aber im Konzert der Stimmen darf die seine mehr Beachtung fordern als ihr bislang zuteil geworden ist. Dies übrigens auch aus einem praktischen Grund: Guardini hat vielen, vor allem jungen Menschen Orientierung gegeben. Wer sich konkret von dem hat beeinflussen lassen, was in den "Briefen über Selbstbildung" zu lesen war, der konnte sich nicht in eine demokratiefeindliche "Ohne-mich-Haltung" flüchten, der mußte vom unverfügbaren Eigenwert der menschlichen Person überzeugt und damit gegen ein Denken in den Kategorien des totalen Weltanschauungsstaates gefeit sein. Die Frage bleibt zu stellen, ob das alles aus Guardini selbst kam, oder ob er bestimmten Einflüssen unterlag, vielleicht anderwärts vertretenen Tendenzen Raum gegeben hat. Walter Dirks betont, Guardini habe sich über die Selbstbildungsbriefe mit ihm beraten. Aber ganz gewiß ist für die Grundeinstellung eine andere Persönlichkeit wirklich maßgebend und wegweisend geworden, die es verdient, in diesem Zusammenhang der Vergessenheit entrissen zu werden: Karl Neundörfer, gelernter Jurist, Pfarrer und Caritas-Direktor in Mainz, ein intimer Freund Guardinis, der freilich schon 1926 in den Bergen den Tod gefunden hat33 . 32 Romano Guardini, Der Blick auf das Ganze. Ausgewählte Texte zu Fragen der Zeit, hrsg. u. erläutert von Walter Dirks, München 1985, S. 50. 33 Kar[ Neundörfer (5. Mai 1885- 13. August 1926) studierte zunächst Jurisprudenz, dann Theologie. Mit der Arbeit "Der ältere deutsche Liberalismus und die Forderung der Trennung von Staat und Kirche" wurde er 1908 in Gießen zum Dr. jur. promoviert. Auf der Dissertation baut seine Schrift auf: Die Frage der Trennung von Kirche und Staat nach ihrem gegenwärtigen Stande, München und Mergentheim 1913. Spätere Schriften zu kirchenrechtlichen sowie
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"Noch selten habe ich", so sagt Guardini selbst, "ein solches Gefühl für das Eigenwesen und die Eigengesetzlichkeit der öffentlichen Dinge gespürt wie bei ihm". Und an anderer Stelle heißt es: "Durch ihn habe ich das Ressentiment gegen Recht, Gesetz und öffentliche Form des Religiösen überwinden gelernt. In stets erneuerten Unterredungen hat er mich sehen gelehrt, wie eng jene scheinbar so religiöse Haltung ist, wonach rechtes religiöses Leben nur das Innerliche, Individuelle oder Erlebnis- und Gemeinschaftsmäßige ist, dagegen Recht und Gesetz nichts damit zu tun haben" 34 . Solche Sicht hat Guardini auch die Dimension des Politischen von Recht und Staat erschlossen. 8. Rechts- und Staatsdenken im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit: Nach diesen Streiflichtem ist das Thema mitnichten erschöpft. Man müßte weiterfragen und auch Personen und Positionen einbeziehen, die hier gar nicht zur Geltung kamen. Man denke in der Philosophie an Max Sehe/er, Edith Stein und Peter Wust; in der Jurisprudenz an Emil Erich Hölscher und Kar[ PetrascheP 5 • Nicht zuletzt wäre der außerakademische Bereich einzubeziehen, vor allem die katholische Publizistik sowie die Arbeit des Zentrums und des Volksvereins 36• Und natürlich hätte schließlich Österreich und hätten andere Katholizismen der Periode nach dem Ersten Weltkrieg eine eigene Untersuchung verdient. Dann erst wird sich im Hinblick auf Theorie und Praxis, auf Idee und Wirklichkeit ein Gesamtbild ohne perspektivische Verengung und mit hinreichender Differenzierung zeichnen lassen. Dieser Vortrag konnte dazu nur eine bescheidene Vorarbeit leisten.
III.
Soweit ersichtlich ist in der Diskussion der letzten Jahre nicht der Versuch einer zusammenfassenden Erörterung der hier behandelten Thematik gemacht worden37 • Für das Verständnis der Gesamtentwicklung von Katholischer Kirche und Kathozu kirchen- und staatspolitischen Fragen sind gesammelt in dem oben Anm. 17 erwähnten Band ,,Zwischen Kirche und Welt" hrsg. v. Walter Dirks und Ludwig Neundörfer, Mainz 1927. 34 Kar! Neundörfer zum Gedächtnis. Von seinen Freunden, Mainz 1926, S. 19 u. S. 20f. 35 Dazu vgl. die von mir angeregte Dissertation von Dieter Petrig, Emil Erich Hölscher (1880- 1935) und Kar! Otto Fetraschek (1876- 1950) im Zusammenhang des katholischen Rechtsdenkens. Ein Beitrag zur Geschichte der juridischen Neuscholastik und der Rechtsphilosophie in Deutschland, Faderborn 1981. 36 Dazu Alois Baumgartner, Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik, München 1977. 37 In bezug auf die bibliographische Orientierung freue ich mich über die Gelegenheit, nachdrücklich auf die beiden Bände der großen Katholizismus-Bibliographie in der Reihe der Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte hinweisen zu können: Ulrich von Hehl/Heinz Hürten (Hrsg.), Der Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland 19451980, Mainz 1983; Karlies Ahmeier I Kar/ Joseph Hummel (Hrsg.), Der Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland 1980- 1993, Faderborn 1997.
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lizismus in der Weimarer Zeit ist indes das große Buch von Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918- 1945 (Paderbom 1992), weiterführend und unentbehrlich. Zu einer Reihe von Personen, die in meiner Skizze eine Rolle spielen, findet man jetzt auf neuestem Stand Grundorientierungen in der dritten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche, so zu Wemer Becker38 , Viktor Cathrein 39 , Walter Dirks40 , Theodor Haecker41 , Franz Xaver Kiejt 2 und Joseph Mausbach 43 , während andere, etwa Godehard Josef Ebers und Karl Neundörfer dort keine Berücksichtigung gefunden haben. Was Romano Guardini anlangt, so kann - seit der grundlegenden Monographie von Hanna-Barbara Gerl - auf die einführenden Artikel von Eva-Maria Faber44 und Helmut Kuhn 45 verwiesen werden, insbesondere aber auf die anregende Arbeit von Ludwig Watzal, Das Politische bei Romano Guardini (Percha 1987). In den thematischen Zusammenhang gehört neuerdings auch Bruno Kurth, Das ethische Denken Romano Guardinis (Paderbom 1998). Im Falle von Carl Schmitt müßte man wohl ganz neu "einsteigen". Seit seinem Tode ist das Schrifttum über ihn nahezu unübersehbar geworden46 • Dabei hat sein Verhältnis zu Kirche und Katholizismus zunehmend Beachtung gefunden. Klaus Kröger hat, als der Carl Schmitt-Boom einsetzte, wohl als erster die Aufmerksamkeit darauf gelenkt47 • Wichtige Aspekte der Thematik kommen sodann bei Reinhard Mehring zur Sprache48 • Anregend und weiterführend sind die Beiträge in dem von Bemd Wacker herausgegebenen Sammelband, dessen Titel schon auf einen wesentlichen Gesichtspunkt aufmerksam machen soll49 • Die ebenso fundaLothar Ullrich, LThK 3 I (1994), Sp. 11 f. Markwart Herzog, LThK3 11 (1994), Sp. 979. 40 Ulrich Bröckling, LThK3 II1 (1995), Sp. 258. 41 Wolfgang Frühwald, LThK3 IV (1995), Sp. 1138. 42 Herman H. Schwedt, LThK3 V (1996), Sp. 1423. 43 Stephan Feldhaus, LThK3 VI (1997), Sp. 1504 f. 44 LThK3 IV (1995), Sp. 1087f. 4s StC II (1986), Sp. 1144- 1146. 46 Zeitlich als erstem nach Carl Schmitts Tod kam Hasso Hofmann in seinem mustergültigen Artikel "Schmitt" in Band IV der 7. Auflage des Staatslexikons (1988, Sp. 1051- 1055) die Aufgabe einer ersten Erfassung und Sichtung zu. Später dann ein hilfreicher Überblick zu dem hier speziell interessierenden Thema bei Ansgar Hense, Verschärfung und Verzeichnung. Neuere Veröffentlichungen zum Katholischen bei Carl Schmitt, in: Herder-Korrespondenz 49 (1995) S. 486- 490. 47 Bemerkungen zu Carl Schmitts "Römischer Katholizismus und politische Form", in: Complexio oppositorum. Über Carl Schmitt, hrsg. v. Helmut Quaritsch, Berlin 1988, S. 159166. 48 Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkwege am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelsttategie, Berlin 1989. 49 Die eigentlich katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994. 38 39
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mentale wie umfassende Arbeit von Andreas Koenen widmet dieser, der sozusagen katholischen Perspektive die gebührende Beachtung 50 . Ich kann zu meiner Freude jetzt aber auch auf eine Publikation verweisen, die auf meine Anregung hin entstanden ist, nämlich die Freiburger Dissertation von Manfred Dahlheimer, Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888- 1936 (Paderbom 1998)51 . Hier ist über die genaue Bestimmung von "Positionen und Begriffen" bei Carl Schmitt selbst im Kontext der Entwicklung des deutschen Katholizismus hinaus insbesondere das Beziehungsgeflecht mit maßgebenden Personen offengelegt, in dem Carl Schmitt stand. Von den in meiner Skizze behandelten darf in Dahlheimers Buch insbesondere auf die Abschnitte über Romano Guardini (S. 500 - 506), Wemer Becker (S. 511 - 515) und Theodor Haecker (S. 539 - 545) hingewiesen werden. Ein letzter Hinweis darf einer weiteren Freiburger Dissertation gelten: lose Rafael Hemandez Arias, Donoso Cortes und Carl Schmitt. Eine Untersuchung über die staats- und rechtsphilosophische Bedeutung von Donoso Cortes im Werk Carl Schmitts, Paderbom 199852 • Sie erörtert erstmals in der nötigen Ausführlichkeit einen Komplex, der für das Verständnis dessen, worin für Carl Schmitt Donoso Cortes sozusagen katholischer Gewährsmann war, zentral ist. Durch alle diese neueren Arbeiten ist in den "Diskurs" über das Thema "Rechtsund Staatsdenken im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit" eine erhebliche Differenzierung (und Komplizierung!) hineingetragen worden. Ob meine einführende Skizze von 1985 als erster Versuch trotzdem noch bestehen kann?
50 Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum "Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995. Erhellend dazu Heinz Hürten, Der katholische Carl Schmitt, in: Historisches Jahrbuch 116 (1996), S. 496- 502. 51 Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B, Band 83. 52 Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F., Band 83.
Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts Gegenwärtige Legitimationsprobleme Von Josef Isensee
"Auch das beste Recht, wenn es sich sträubt, einem neuen Platz zu machen, muß den Beweis erbringen, daß es mehr ist als ein toter Buchstabe, als eine Last und ein Hemmnis. Es bleibt ,Recht' auch ohne diesen Beweis, aber ein Recht, dem jeder wünscht, daß es demformellen Unrecht unterliegen möge." Theodor Fontane "In 50 Jahren gehört der Dom uns." Eine Gruppe jugendlicher Türken, skandierend, mit gereckten Fäusten, vor dem Kölner Dom, auf der mitternächtlich stillen Domplatte, in der Nacht des 16. August 1998, 750 Jahre nach der Grundsteinlegung der gotischen Kathedrale.
I. Legitimationsbedarf in Permanenz
Wie alles positive Recht ist das Staatskirchenrecht angewiesen auf Akzeptanz. Davon befreit keine Rechtsgarantie, noch nicht einmal die Inkorporation in die Verfassung oder die Absicherung durch Konkordat. Das Recht vermag nicht, aus sich heraus die reale Grundlage seiner Wirksamkeit und Dauer zu gewährleisten. Diese aber liegt in der Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft Zu ihr gehören nicht allein die unmittelbar Normbetroffenen, also die Kirchen und ihre Mitglieder, sondern auch die kirchenfernen Gruppen der Gesellschaft, die niemals mit Religion und Kirche in Berührung kommen. Betroffen oder nicht, jedermann ist in der Demokratie dazu berufen, auf Wahrung und Wandel des Rechts, auf Schaffung oder Abschaffung der Normen hinzuwirken. Akzeptanz ist eine rechtssoziologische Kategorie, keine juristische und keine moralische. Akzeptanz meint nicht Überzeugung von der Richtigkeit der Normen, auch nicht Identifikation mit deren Inhalt. In der Praxis besagt sie zumeist nicht viel mehr als das Ausbleiben eines politisch erheblichen Widerstandes. Unter normalen Bedingungen genügt es, daß die Rechtsgenossen die Normen praktisch befolgen und konkludent hinnehmen. 6 Festschrift List!
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Hergebrachte Rechtseinrichtungen werden unter günstigen Umständen durch bloße Rechtsgewöhnung getragen. Sie reicht aber nicht aus, wenn Zweifel am Hergebrachten aufkommt und die Tradition fragwürdig wird. In der Akzeptanzkrise zeigt sich, ob die Kräfte der Zustimmung denen der Ablehnung standhalten. Mit der Intensität und dem Ausmaß der Ablehnung steigt der Legitimationszwang: die bestehenden Normen müssen sich als sinnhaft und zustimmungswürdig erweisen. Doch besteht gerade heute Grund, einen besonderen Legitimationsbedarf anzunehmen? Auf den ersten Blick bietet der des deutschen Staatskirchenrechts keinen Anlaß. Es hat sich im Laufe der Zeiten als zählebig und im Wechsel der Verfassungen als anpassungsf). " pcl'l·ib chiamalc in quel pacsc h• h·yyi di 11myyio (~laigt·stzc). Egli ineomineia il suo SlTitlo diccndo, come apJWlla pt·mnnlgale tali leggi. sot·sct•o